Protest als Ereignis: Zur medialen Inszenierung von Bürgerpartizipation [1. Aufl.] 9783839430675

The medial representation of protests is both a symbol of the equity of democratic participation and a manifestation of

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German Pages 372 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Proteste zwischen medialer Kriminalisierung und Euphorie
»The Protester« im ruhmreichen Rampenlicht
Partizipation mit strategischer Protest-Inszenierung
Case Studies: Protestfälle im medialen Echo
Ziel und zentrale Fragen
Methodische Herangehensweise
I. Konzeptioneller Bezugsrahmen
II. Forschungsinteresse
III. Empirische Erhebung: Case Studies
IV. Leitende Fragen
V. Angewandte Analysemethoden
Reproduktion von Machtverhältnissen. Erzeugung von Hegemonie über Sprache und Medien
1. Sprachliche Übernahme ideologischer Inhalte
2. Öffentlichkeit als Forum politischer Partizipation
3. Einflussfaktoren auf die Etablierung von Nachrichten
4. Framing als Instrument zur Deutungsbeeinflussung
Graswurzel- und Astroturf-Protest in ihrer medialen Realisierung. Die beiden Protestformen und ihre spezifischen Merkmale
1. Protest: Motiv und diskursive Zielformulierung
2. Astroturf-Protest: Finanzierter Widerstand
3. Vermarktung von Protest
4. Formen der Protestberichterstattung
Das kollektive Entsetzen über die London Riots. Die Proteste im Spiegel österreichischer Printmedien
1. Einleitende Bemerkungen
2. Auslöser und Protestaktionen
3. InitiatorInnen
4. TeilnehmerInnen
5. Organisation
6. Motive und Ziele
7. Finanzierung
8. Analyse
Das mediale Spektakel der protestierenden Bürgermeister. Die (fast) erfolgreiche Inszenierung einer Autobahnblockade
1. Einleitende Bemerkungen
2. Auslöser und Aktionen
3. InitiatorInnen
4. TeilnehmerInnen
5. Organisation
6. Motive und Ziele
7. Finanzierung
8. Analyse
Das massenmediale Ignorieren von Widerstand. Ein griechischer Umweltprotest im Ringen um Aufmerksamkeit
1. Einleitende Bemerkungen
2. Edelmetallförderung in Nordgriechenland
3. Media Ownership in Griechenland
4. Gründe des Widerstands
5. Aktionen und Medienreaktion: Ignorieren von Protest
6. Datenerhebung
7. Analyse
Gesamtanalyse
1. Framing und Darstellung der Proteste
2. Wirksamkeit der Einflussfaktoren
3. Astroturfproteste im Vergleich mit Graswurzelprotesten
4. Protest als Partizipationsmöglichkeit
5. Ideologie und Hegemonie in der Protestberichterstattung
Schlusswort
Konklusion
Konsequenzen, Alternativen und Auswege
Nachwort
Literatur
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Protest als Ereignis: Zur medialen Inszenierung von Bürgerpartizipation [1. Aufl.]
 9783839430675

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Sarah Ertl Protest als Ereignis

Edition Medienwissenschaft

Sarah Ertl (Dr. phil.), Politik-, Sprach- und Medienwissenschaftlerin, lebt und forscht in Innsbruck und Brüssel. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Frame-, Diskurs- und Medienanalyse sowie Partizipationsforschung.

Sarah Ertl

Protest als Ereignis Zur medialen Inszenierung von Bürgerpartizipation

Das Forschungsprojekt wurde gefördert mit Forschungsförderungsmitteln des Tiroler Wissenschaftsfonds und der Nachwuchsförderung der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Der Druck dieser Publikation wurde durch das Vizerektorat für Forschung der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, durch den Bereich Sprachwissenschaft/Institut für Sprachen und Literaturen der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck sowie durch das Amt der Tiroler Landesregierung, Abteilung Kultur finanziell unterstützt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: fotolia.com, Autor: wellphoto https://de.fotolia.com/id/57137666 Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3067-1 PDF-ISBN 978-3-8394-3067-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 7 Einleitung | 11

Proteste zwischen medialer Kriminalisierung und Euphorie | 11 »The Protester« im ruhmreichen Rampenlicht | 12 Partizipation mit strategischer Protest-Inszenierung | 15 Case Studies: Protestfälle im medialen Echo | 16 Ziel und zentrale Fragen | 18 Methodische Herangehensweise | 23

I. Konzeptioneller Bezugsrahmen | 23 II. Forschungsinteresse | 24 III. Empirische Erhebung: Case Studies | 26 IV. Leitende Fragen | 26 V. Angewandte Analysemethoden | 28 Reproduktion von Machtverhältnissen Erzeugung von Hegemonie über Sprache und Medien | 35

1. Sprachliche Übernahme ideologischer Inhalte | 35 2. Öffentlichkeit als Forum politischer Partizipation | 45 3. Einflussfaktoren auf die Etablierung von Nachrichten | 59 4. Framing als Instrument zur Deutungsbeeinflussung | 82 Graswurzel- und Astroturf-Protest in ihrer medialen Realisierung Die beiden Protestformen und ihre spezifischen Merkmale | 93

1. Protest: Motiv und diskursive Zielformulierung | 93 2. Astroturf-Protest: Finanzierter Widerstand | 112 3. Vermarktung von Protest | 127 4. Formen der Protestberichterstattung | 142 Das kollektive Entsetzen über die London Riots Die Proteste im Spiegel österreichischer Printmedien | 159

1. Einleitende Bemerkungen | 159 2. Auslöser und Protestaktionen | 162 3. InitiatorInnen | 169 4. TeilnehmerInnen | 170 5. Organisation | 176

6. Motive und Ziele | 176 7. Finanzierung | 180 8. Analyse | 181 Das mediale Spektakel der protestierenden Bürgermeister Die (fast) erfolgreiche Inszenierung einer Autobahnblockade | 189

1. Einleitende Bemerkungen | 189 2. Auslöser und Aktionen | 190 3. InitiatorInnen | 193 4. TeilnehmerInnen | 193 5. Organisation | 195 6. Motive und Ziele | 196 7. Finanzierung | 203 8. Analyse | 206 Das massenmediale Ignorieren von Widerstand Ein griechischer Umweltprotest im Ringen um Aufmerksamkeit | 211

1. Einleitende Bemerkungen | 211 2. Edelmetallförderung in Nordgriechenland | 213 3. Media Ownership in Griechenland | 217 4. Gründe des Widerstands | 225 5. Aktionen und Medienreaktion: Ignorieren von Protest | 228 6. Datenerhebung | 230 7. Analyse | 281 Gesamtanalyse | 289

1. Framing und Darstellung der Proteste | 287 2. Wirksamkeit der Einflussfaktoren | 290 3. Astroturfproteste im Vergleich mit Graswurzelprotesten | 303 4. Protest als Partizipationsmöglichkeit | 312 5. Ideologie und Hegemonie in der Protestberichterstattung | 316 Schlusswort | 323 Konklusion | 323 Konsequenzen, Alternativen und Auswege | 335 Nachwort | 341 Literatur | 345

Vorwort

Ohne die wohlwollende Unterstützung einzelner Personen während meiner Forschungsarbeiten wäre diese Arbeit wohl nie in dieser Form entstanden, ich möchte Euch für die zahlreichen Hilfestellungen danken: Meinem Hauptbetreuer PROF. IVO HAJNAL, der mich immer wieder mit wertvollen versierten und präzisen Hinweisen und fundierten Ratschlägen in zahlreichen ausführlichen Diskussionen herausforderte und unter gleichzeitig äußerst großzügigen Rahmenbedingungen mit seinem Scharfsinn und seiner Weitsichtigkeit maßgeblich für das Gelingen der Arbeit sorgte, gilt mein besonderer Dank für die stetige Unterstützung und das Vertrauen in meine Forschungsarbeiten von Beginn an. Meinem Zweitbetreuer PROF. MANFRED KIENPOINTNER möchte ich für das große entgegengebrachte Vertrauen, für die zahlreichen fachkundigen konstruktiven Literaturempfehlungen, für die wohldurchdachten inhaltlichen Anregungen aus seinem breiten Wissen und für die gewinnbringenden Ideen rund um die Projektorganisation danken. Mein Dank gilt besonders auch PROF. JÖRG BECKER für die vielen spontanen Hilfestellungen in verschiedenen Phasen meiner Forschungsarbeiten sowie für das Teilen der Begeisterung für ideologiekritische Theorien. Bei DR. ELISABETH MAIRHOFER möchte ich mich für ihre bemerkenswert erhellenden, radikalen philosophischen Einwände, ihr stetiges Interesse und die aufmunternde Betreuung während der gesamten Forschungsarbeit bedanken. Ich schulde meinen Dank vor allem auch DR. CLAUDIA POSCH, die mich mit ihrer außergewöhnlichen Expertise in Forschung, Projektorganisation, Technik und verschiedensten Bereichen mit bemerkenswerter Hilfsbereitschaft immer wieder unterstützte. Vielen Dank für die Bemühungen beim Entwirren der Vielschichtigkeit des Forschungsvorhabens mit kritischen aber zielführenden Diskussionen! Ganz besonders bin ich jenen mehr als siebenhundert Frauen und Männer zu Dank verpflichtet, die sich mit allen oder einigen Fragestellungen der qualitativen und quantitativen Umfrage auseinandersetzten. Besonderer Dank geht an jede Einzelne und jeden Einzelnen der 389 Personen, die mit der ausführlichen Beschreibung ihrer Erfahrungen mit dem Protest und der Medienberichterstattung über die

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Proteste in Nordgriechenland essentiell zur Forschungsarbeit beitrugen. Hervorzuheben ist der Mut der AktivistInnen, ihre – teilweise widrigste Bedingungen widerspiegelnde – Protesterfahrungen zu teilen. Die unerwartet hohe Rücklaufquote zeigt die Brisanz des Themas. Ich möchte mich vor allem auch bei der Wissenschaftlerin und Aktivistin JENNY GKIOUGKI bedanken, die mir Einblick in die griechischen Protestprozesse gab, meine Forschungen mit eigenen bewundernswerten Kenntnissen unterstützte und mir zudem half, den Fragebogen auf griechischen Portalen zu distribuieren. Ich möchte mich ganz besonders bei meiner Familie und meinen Freundinnen und Freunden bedanken, die mir ideell und materiell in den während verschiedener Phasen der Arbeit zur Seite standen: DR. FLORIAN MAST, der mit großer Motivation meine Begeisterung teilte, in zahlreichen Gesprächen wertvolle Aspekte einbrachte und mich unermüdlich unterstützte, möchte ich für sein konsequentes Interesse und seine unzähligen Hilfestellungen entlang des Forschungsprozesses danken. ANNA IRMISCH gilt mein Dank für unsere gemeinsame Feldforschungszeit in Brüssel, wo aus gemeinsamen Gesprächen, zu denen sie nicht nur ihr breites Fachwissen beisteuerte, sondern die sie auch mit eigenen gewinnbringenden Ideen ergänzte, viele neue Erkenntnisse erwachsen konnten. Herzlichen Dank besonders auch an STEFAN HEBENSTREIT für das Lektorat der vorliegenden Arbeit und für die vielen geistreichen, wissenschaftlich fundierten Gespräche und die erheiternden und motivierenden gemeinsamen Projektpläne und Konferenzbesuche. Vor allem bei KRISTINA KIENPOINTNER und PATRICK PLONER als auch bei SIGRID ANDERSEN, GABRIELE KIENPOINTNER und LISA HARING möchte ich mich von ganzen Herzen für die Sorgfalt beim Korrekturlesen, für die vielen gewinnbringenden Erörterungen vorliegender Probleme und für die stetig motivierenden, inhaltlich versierten und freundschaftlichen Gespräche und Ergänzungen aus Sichtweise ihrer jeweiligen Disziplin während des gesamten Forschungsprozesses bedanken. Ich möchte mich ganz besonders bei MARIA UND ROLAND DE ROUCK-TINZL für ihre außergewöhnliche familiäre Aufnahme während meiner Forschungszeit in Belgien bedanken: ihre Freundschaft und Wertschätzung, die vielen klugen Gespräche und auch die gemeinsamen Unternehmungen trugen direkt und indirekt sehr stark zur Entwicklung meiner Forschungen bei. ANNA SEYWALD, CHRISTIAN, CHRISTINE UND GERALD UND HERWIG ERTL gebührt mein großer Dank für die großzügigen materiellen Hilfestellungen und den immer wieder erfolgenden Zuspruch und das in mich gesetzte Vertrauen während des Forschungsprozesses. HILDEGARD UND KARLHEINZ PIRKER möchte ich für ihr konsequentes Interesse und ihr Zur-SeiteStehen vor allem durch gute Worte trotz geographischer Ferne danken. Mein größter Dank gebührt meinen Eltern, GERALD UND EVA-MARIA ERTL, für ihre wohlwollende Unterstützung auf verschiedenste Art und Weise, für ihre viel-

V ORWORT

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schichtigen Bemühungen, meine Forschungen zu fördern, und für ihr unermüdliches Vertrauen in mich. Vielen herzlichen Dank auch an JÖRG BURKHARD, dem Projektbetreuer von transcript, für die ausgezeichnete Betreuung seitens des Verlags und die überaus angenehme Zusammenarbeit. Mir ist es zudem ein Anliegen, allen Mitgliedern der SPRACHWISSENSCHAFT INNSBRUCK, für die offene, anerkennende und unterstützende Atmosphäre, zu der jedeR einzelne beiträgt und in der sich Forschungen mit größter Motivation durchführen lassen, meinen Dank auszudrücken. Ich danke ebenso herzlich für den Druckkostenzuschuss des BEREICHS SPRACHWISSENSCHAFT DER LEOPOLD-FRANZENS-UNIVERSITÄT INNSBRUCK. Das Forschungsprojekt wurde durchgeführt mit Mitteln des TIROLER WISSENSCHAFTSFONDS und der NACHWUCHSFÖRDERUNG DER LEOPOLD-FRANZENS-UNIVERSITÄT INNSBRUCK. Ihnen gilt genauso wie dem VIZEREKTORAT FÜR FORSCHUNG sowie dem LAND TIROL, ABTEILUNG KULTUR für die Förderungen der Druckkosten, mein besonderer Dank. Sarah Ertl

Einleitung »No one could have known that when a Tunisian fruit vendor set himself on fire in a public square, it would incite protests that would topple dictators and start a global wave of dissent. In 2011, protesters didn't just voice their complaints; they changed the world.« KURT ANDERSEN/TIME

P ROTESTE ZWISCHEN MEDIALER K RIMINALISIERUNG UND E UPHORIE Zertrümmerte Scheiben, ausufernde Gewalt, ein Bus steht in Flammen, Plünderer streunen mit gestohlenen Fernsehern durch die Straßen Tottenhams. Bei den »London Riots«, den Krawallen in Großbritannien im August 2011, randalierten Jugendliche ohne politischen Grund und richteten aus Zerstörungswut und Langeweile einen enormen Sachschaden an. Szenenwechsel. Wasserwerfer, Pfefferspray, Gasnebel am »Euro-Maidan-Platz« in Kiew 2004: Bewaffnete Polizisten drängen die friedlichen Protestierenden zurück, die sich zur Verteidigung demokratischer Werte gegen die autoritäre Polizeigewalt zur Wehr setzen. Dritte Szene: Nicht ganz zwanzig Bürgermeister aus einem Tal in Österreich demonstrieren auf der Autobahn. Die Bürgermeister poltern wütend Richtung Bundeshauptstadt Wien, um von der Regierung eine schnellere Entscheidung über eine Finanzierungszusage für einen Tunnelbau zu erlangen. Durch regionale und nationale Medien hallen die Protestforderungen mit starkem Echo. In der vierten Szene ziehen acht- bis zehntausend Demonstrierende friedlich durch die zweitgrößte Stadt Griechenlands, Thessaloniki, um gegen entstehende massive Umwelteingriffe bei der Förderung von Bodenschätzen in Nordgriechenland zu protestieren. Die meisten griechischen Massenmedien ignorieren diesen Protest völlig.

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Die hier zugespitzt dargestellt journalistische Inszenierung von Protest und die damit einhergehende medial transportierte Bewertung oszilliert zwischen Kriminalisierung und euphorischer Unterstützung, zwischen Ignoranz und spektakulärer Inszenierung, zwischen Abwertung und Jubel über die ›undemokratische‹ oder ›äußerst demokratische‹ Bürgerbeteiligung. Das Framing und die Deutung, in die Protest gegossen wird, übertragen sich auf die Rezeption und die Weiterverbreitung von Protest und seinen Forderungen, denn bereits »lexikalische Strukturen und grammatische Kategorien sind (...) Instrument, Wahrnehmungen effizient zu strukturieren und bei der Konstruktion von Wirklichkeit einzusetzen«1. Die Grenzen der massenmedialen Verhandlung von Protest werden also zu jenen Grenzen, innert derer BürgerInnen Protest, seine Akteure und seine Forderungen bewerten. Was massenmedial als zentral oder als Mehrheitsmeinung präsentiert wird, wird eher leitend in den Fragestellungen und der Evaluation der Rezipierenden und eher dominierend in der politischen Deliberation.

»T HE P ROTESTER « IM RUHMREICHEN R AMPENLICHT Zwanzig Jahre lang schienen Proteste nicht nur selten, sondern vergebens, unwirksam und gegenstandslos zu sein, bereits 1989 rief Francis Fukuyama das Ende der ideologischen Fortentwicklung aus. Im zweiten Jahrzehnt der Nullerjahre kam es schlagartig zur Wende. Auf den Straßen Ägyptens, Tunesiens und Syriens, in Madrid, Athen und London, in New York, Tel Aviv und Moskau, in Mexiko, Indien und Chile wurde Widerstand laut gemacht: Am Cover des TIME Magazine prangte als Person of the Year eine mit Kappe und Schal vermummte Frau mit starken Augenbrauen und fordernd ernstem Blick. Zwischen Papst Franziskus (2013), Barack Obama (2008 und 2012) und Mark Zuckerberg (2010) symbolisiert sie die Person des Jahres 2011: »The Protester«. 2 TIME feiert die zurückgewonnene Bedeutung von aktivistischem Engagement in globalen Protesten,3 die ausgelöst durch einen tunesischen Obsthändler, der sich selbst in Brand setzte, im 21. Jahrhundert wie ein Flächenbrand von Nation zu Nation übersprangen. Massenmedien, wie es die TIME in den USA oder Al Jazeera im Mittleren Osten sind, nahmen zeitgleich mit den Protesten eine neue Rolle in der Protestberichterstattung ein, indem sie sowohl die Proteste detailhaft beleuchteten als auch den

1

Hajnal, Ivo (2009): »Sprache – Denken – Wirklichkeit«. In: Academia.edu, S. 18. http:// www.academia.edu/1822408/Sprache_-_Denken_-_Wirklichkeit

2

Andersen, Kurt (2011): »Person of the Year 2011. The Protester«. In: Time, 14.11.2011. http://content.time.com/time/person-of-the-year/2011/ vom 5.5.2014.

3

Andersen 2011.

E INLEITUNG

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AktivistInnen über Interviews und selbstgedrehte Onlinevideos nicht erst retrospektiv Platz einräumten, und so eine Glorifizierung der Protestierenden teils nur knapp vermieden. Besonders mit einer Beobachtung behält die TIME Recht: Die Proteste der Jahre zuvor waren relativ selten und relativ gegenstandslos4 – in ihrer medialen Repräsentation. Nun ist Protest zurück in den Zwanziguhrnachrichten und auf den Titelblättern renommierter Zeitungen. So sehr allerdings einige Proteste aber von westlichen Massenmedien im 21. Jahrhundert gefeiert werden, so sehr – und noch viel häufiger – werden bei anderen Motive und Forderungen verschwiegen, Protestierende diffamiert oder auf spektakularisierte Gewaltaktionen reduziert. Am häufigsten ist die Berichterstattung über Protest schlichtweg nicht vorhanden. Wenn Protest in die Medienagenda aufgenommen wird, vollzieht sich dies mitunter in extremen Gegensätzen: Sind Aktivisten einmal mutige, widerständische Helden, so sind sie zu einem anderen Zeitpunkt Rebellen, Randalierer und Terroristen. Ist die Polizei einmal staatliche Ordnungshüterin gegen gewaltvolle Protestaktionen, so stellt sie im nächsten Protest die gewalttätige Gefahr für jene Aktivistinnen dar, die sich beherzt und kämpferisch für ein besseres Staatssystem einsetzen. Dass Massenmedien sich AktivistInnen gegenüber aber beinahe affirmativ verhalten, könnte demokratisch-partizipatorisch argumentiert positiv hervorgestrichen werden. Mediale Protestaffirmation ist jedoch rare Ausnahme und ruft daher bei Beobachtenden Skepsis hervor. Warum werden manche Proteste detailgenau, nahezu affirmativ beleuchtet, und andere kriminalisiert? Worauf ist dieses scheinbar widersprüchliche Verhalten von Massenmedien zu Protest zurückzuführen? Das von Komplexität geprägte Verhältnis wird in der vorliegenden Dissertation reflektiert. Dabei geht es nicht nur um eine abgetrennte Beobachtung der Protestberichterstattung, sondern auch um ihre kontextuelle Einbettung in die deliberative Öffentlichkeit 5 und in die daraus hervorgehende ideologische Bedeutung. Protest wird hinsichtlich seiner Funktion bzw. seiner Zweckmäßigkeit als Partizipationsinstrument in der demokratischen, medial gewährleisteten Öffentlichkeit6, in der alle gleichermaßen partizipieren können sollen, untersucht. Maßstab ist dabei das Korrelieren der Eigeninterpretation von Protestkollektiven mit der (Fremdinterpretation der) Berichterstattung – ein solches wird als erfolgreiche Protestberichterstattung kategorisiert. Werden die Protestforderungen adäquat und zumindest sinngemäß 4 5

Ebenda. Imhof, Kurt (2008): »Theorie der Öffentlichkeit als Theorie der Moderne«. In: Winter/ Hepp/Krotz 2008: 65-89.

6

Habermas, Jürgen (1990) [1962]: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Suhrkamp, Frankfurt am Main, S. 156.

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wiedergegeben oder müssen Protestinhalte zugunsten z.B. einer Spektakularisierung der Protestaktionen zur Auflagenmaximierung weichen? Wird Protest medial erfolgreich dargestellt, so kann im politischen Diskurs an kommunikativer Macht7 gewonnen und politische Aktivität evoziert werden. Das nicht-institutionalisierte Partizipationsinstrument Protest würde dann als Akteur der Öffentlichkeit agieren und in seiner Funktion zur Geltung kommen. Der mediale Erfolg von Protestkollektiven gemäß der Eigenwahrnehmung ihrer TeilnehmerInnen dargestellt zu werden, ist nicht allein der Originalität ihrer Forderungen, dem Zufall oder der Vorliebe einzelner JournalistInnen geschuldet. Verschiedengelagerte strukturelle und protestereignisgebundene Einflussfaktoren, die in der Dissertation zum Teil neu identifiziert und erstmals zusammengetragen werden, wirken auf das Agenda Setting und die Gestaltung der Nachrichten ein. So bringt die ökonomische Positionierung der Medien als marktwirtschaftlich eigenverantwortliche Akteure Zwänge und Dilemmata mit sich: Neben dem Publikum sollen auch Stakeholder und Anzeigenkundschaft zufriedengestellt werden; inhaltliche Richtlinien von Verlag oder Redaktion können ebenso daran geknüpft sein wie die Kürzung des journalistischen Personals, das dennoch innerhalb kürzester Zeit unter potenziellem Ressourcenmangel exklusiv mittels spektakulärer Inszenierungen publizieren und die Auflage maximieren soll. Das Ereignis »Protest« hat es besonders schwer, sich erfolgreich zwischen externen und internen Einflussfaktoren wie Ownership, Advertising, Sourcing8, Medieninterna und etablierten zeitgenössischen Mediennormen als Thema auf der Agenda durchzusetzen: Gefährden Proteste etwa einen politischen oder ökonomischen Status quo, werden sie mit hoher Wahrscheinlichkeit inhaltlich ignoriert9 oder abgewertet10; sind Proteste in einem Konflikt hingegen einem spezifischen (geo-) politischen Ziel zuträglich, werden sie zunächst eher aufmerksam beachtet, findet

7

Arendt, Hannah (1972): »On Violence«. In: Crisis of the Republic. Harcourt Brace and Company, San Diego, New York, London.

8

Herman, Edward S./Chomsky, Noam (1988): Manufacturing Consent. The political economy of the mass media. Pantheon Books, New York.

9

Smith, Jackie/McCarthy, John D./McPhail, Clark/Augustyn, Boguslaw (2011): »From Protest to Agenda Building. Description Bias in Media Coverage of Protest Events in Washington D.C.«. In: Social Forces 79:4, Juni 2011, S. 1397-1423, hier: 1419.

10 Boyle, Michael P./McLeod, Douglas M./Armstrong, Cory (2012): »Adherence to the Protest Paradigm: The Influence of Protest Goals and Tactics on News Coverage in U.S. and International Newspapers«. In: The International Journal of Press/Politics, Februar 2012, S. 127-144, hier: 138ff.

E INLEITUNG

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eher ein interessengeleitetes Framing statt – werden also erfolgreich wiedergegeben.11 Die Form medialer Protestkonstruktion kann Herrschaft reproduzieren, ideologische Wertsetzungen festigen, und eine von Protestierenden geforderte Veränderung der Handlungswelt verhindern – oder aber auch Zugang zu Öffentlichkeiten gewähren, Bewusstsein schaffen und das Tor zur politischen Deliberation aufstoßen.

P ARTIZIPATION MIT STRATEGISCHER P ROTEST -I NSZENIERUNG Die Bedeutung von Partizipation und die sich (zumindest scheinbar) etablierende Anerkennung von Protesten als Instrument der Bürgerbeteiligung rufen neben »traditionellem« Protest in Europa vermehrt die Anwendung einer Lobbying-Methode auf den Plan, welche in den USA bereits länger bekannt ist: Astroturf-Protest. Der häufig von profit-orientierten Organisationen lancierte Top-Down-Protest versucht, mit meist bezahlten AktivistInnen breites Bürgerengagement für ein organisationsspezifisches Partikulärinteresse 12 vorzugeben, um politische Aktivität zu erzielen. Die vermeintlichen Graswurzelorganisationen streben danach, über mediale Öffentlichkeit Aufmerksamkeit und Hegemonie im themenrelevanten Diskurs zu gewinnen. Aufgrund seiner Gestalt wird Astroturf-Protest in dieser Arbeit als Sonderform von Protest behandelt, um ihn aber hinsichtlich der Analyse der Protestberichterstattung gleichzeitig vergleichend und merkmalsbezogen abzugrenzen. Da die beiden Protestformen Graswurzelprotest und Astroturf-Protest zur Etablierung ihrer Inhalte und zur Erzielung politischer Aktivität auf Öffentlichkeit angewiesen sind, wird untersucht, ob und inwiefern sich deren mediale Resonanz unterscheidet. Davon ausgehend wird ein wichtiges unterscheidungsrelevantes Protestmerkmal geprüft, das die Berichterstattung essentiell zu beeinflussen scheint und das in der Forschung bisher weitgehend unberücksichtigt blieb: das Kapital der Protestgruppe. Die Möglichkeit, die Selbstdarstellung der Protestgruppe über eine Public-Relations-Agentur zu professionalisieren und in Medien über Werbeschaltungen oder über das Netzwerk zum Ownership zu ›intervenieren‹, scheint eng mit

11 Wittebols, James H. (1996): »News from the noninstitutional world: U.S. and Canadian television news coverage of social protest.« In: Political Communication 13, S. 345-361, hier: 359. 12 Irmisch, Anna (2011): Astroturf. Eine neue Lobbyingstrategie in Deutschland?. VS Verlag, Wiesbaden.

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dem verfügbaren ökonomischen, sozialen oder kulturellen Kapital 13 verknüpft zu sein. Zu prüfen ist, ob der bekannte Vorteil stark werbender Unternehmen, eher in die Berichterstattung aufgenommen zu werden14, sich auch auf kapitalstarke Protestgruppen umlegen lässt. Astroturf-Protestgruppen verfügen ihrem Charakter nach tendenziell über mehr Kapital als Graswurzelproteste, daher soll validiert werden, ob sie eher eine erfolgreiche Protestberichterstattung erzielen können. Die mediale Resonanz von Graswurzel- und Astroturf-Protesten soll beleuchtet und möglicherweise ein Unterschied festgestellt bzw. ein unterscheidungsrelevantes Merkmal erhoben werden.

C ASE S TUDIES : P ROTESTFÄLLE IM MEDIALEN E CHO Drei Proteste mit regionaler, nationaler und europäischer Relevanz werden im empirischen Teil analysiert, um Beobachtungen über die Protestberichterstattung und das Verhältnis von Medien zu Protest anzustellen und über diesen Weg strukturelle Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Die Proteste divergieren nicht nur in Inhalt und Form völlig, sondern auch in der Form der Berichterstattung. Das kollektive Entsetzen über die London Riots Die »London Riots«, jene Proteste, die im August 2011 von Londons Stadtteil Tottenham ausgehend auf mehrere Städte Großbritanniens übersprangen, erreichten ein hohes Maß an Aufmerksamkeit in den österreichischen Medien. Die übermäßige Akzentuierung gewalttätiger und krimineller Handlungen von protestierenden Männern und Frauen schuf einen Diskurs, in dem nahezu vergessen wurde, mit den Protestierenden selbst zu sprechen. Auch aufgrund mangelnder Interviews mit den Hauptakteuren blieb das interessierte Publikum über die Gründe des Protests verwundert zurück. In einer ausführlichen Case Study soll geprüft werden, in welcher Form die London Riots in den österreichischen Medien, die relativ losgelöst von direkten britischen ökonomischen oder politischen Dependenzen agieren können, repräsentiert wurden.

13 Bourdieu, Pierre (1983): »Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital«. In: Kreckel 1983: 183-198. 14 Andresen, Nils (2008) »Der Einfluss von Anzeigenkunden auf die redaktionelle Berichterstattung in der Qualitätspresse. Alles Lüge oder offenes Geheimnis?«. In: Fachjournalist, Heft 4/2008, S.21-26, hier: 25.

E INLEITUNG

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Das mediale Spektakel der protestierenden Bürgermeister Die Bürgermeisterproteste bilden aufgrund ihres starken regionalen, nationalen und übernationalen Medieninteresses ein besonders erfolgreiches Beispiel der Protestberichterstattung. Die Protestaktivisten – zwölf polternde österreichische Bürgermeister mit Unterstützung von sechs Kollegen aus dem Nachbarstaat – sind wilde, fordernde Rebellen, ihr Motiv wird zeitnah in die Medienagenda aufgenommen und breit im politischen Diskurs reflektiert. Die professionelle Top-Down-Organisation des Protests wurde erst Wochen nach dem Ereignis entlarvt. Inwiefern vom Erfolg der Bürgermeister hinsichtlich der Berichterstattung gesprochen werden kann und wie der Protest geframet wurde, wird in der zweiten Case Study erhoben. Von Bedeutung in dieser Case Study ist auch die Beleuchtung des Merkmals Kapital der Protestgruppe, das jedenfalls durch seine Top-Down-Organisation eine in Relation betrachtet größere Rolle spielt als bei den beiden anderen Case Studies. Massenmediales Ignorieren großer griechischer Umweltproteste Die in Nordgriechenland bereits zur sozialen Bewegung angewachsenen Umweltproteste gegen einen breit angelegten Ausbau der Förderung eines Edelmetalls werden in griechischen Massenmedien verschwiegen oder diffamiert, so die Auskunft eines Aktivisten nach seinem Vortrag im Europäischen Parlament in Brüssel.15 Tausende demonstrieren in Nordgriechenland, internationale Medien verbreiten die Protestmotive – der friedliche Protest bleibt aber in der griechischen massenmedialen Öffentlichkeit als auch in internationalen Medien teilweise unsichtbar oder wird stark diffamiert. Grund dafür könnten die stark verwobenen Besitzverhältnisse von Mine und Leitmedien sein. Zur empirischen Erforschung eines Protests, der möglicherweise zum Teil verschwiegen wird, wurden neben einer literaturbasierten Untersuchung der medialen und politischen Sachlage 755 Personen, größtenteils griechische BürgerInnen, mit einem standardisierten Fragebogen qualitativ und quantitativ befragt. Mit einer unerwartet enormen Rücklaufquote und mehreren hundert Datensätzen handelt es sich bei dieser Case Study um eine der (wenn nicht um die) umfangreichsten wissenschaftlichen Aufarbeitungen der Medienberichterstattung über diese griechischen Umweltproteste. Die Analyse aller fallbezogenen Daten erfolgt zunächst jeweils anschließend an die Datenauswertung der einzelnen Case Studies: Basierend auf den entlang der Untersuchungsdimensionen erhobenen Daten (a) über das Framing von AktivistInnen,

15 Europäisches Parlament: »Gold Mining in [Greece]: not such a clean business!«. Initiiert von MEP Nikos Chrysogelos, Brüssel, am 24.1.2013.

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Auslöser und Aktionen, Organisation, Motiven und Zielen sowie der Finanzierung wird (b) der Protestfall im Hinblick auf die Protestform eingeordnet, wobei zwischen Graswurzelprotest und Astroturf-Protest bzw. möglichen Hybridformen distinguiert wird. Anschließend werden (c) mögliche einflussnehmenden Protestmerkmale auf die Berichterstattung herausgearbeitet.

Z IEL UND ZENTRALE F RAGEN Ziel der vorliegenden Forschungsarbeit ist die Evaluation der Möglichkeit, über das nicht-institutionalisierte Partizipationsinstrument Protest in der medial bereitgestellten demokratischen Öffentlichkeit und somit an der politischen Deliberation teilzuhaben. Der Fokus liegt auf der Protestberichterstattung, die nach der Gewährleistung von Partizipation und nach ihrer normativen Aufgabe, politischen Diskurs unter Beteiligung aller Akteure bereitzustellen, evaluiert wird. Die Zielstellung wird von folgenden leitenden Fragen, die hier vom Konkreten ins Allgemeine angeführt werden, begleitet: •









Wie werden konkrete Proteste unter Beachtung der Selbstdarstellung durch die ProtestinitiatorInnen im Hinblick auf das Framing und auf mögliche paradigmatische Berichterstattungsformen medial dargestellt? Welche strukturellen und protestereignisgebundenen Einflussfaktoren wirken auf die Etablierung von Protesten im politischen Diskurs und beeinflussen, ob und wie Berichterstattung stattfindet? Ist ein Unterschied zwischen der Berichterstattung über Bottom-Up-Protest (Graswurzelprotest) bzw. über Top-Down-Protest (Astroturf-Protest) zu beobachten? Wenn ja, welches Merkmal könnte diesen Unterschied bedingen? Spielt das Merkmal Kapital der Protestgruppe eine herausragende Rolle in der Beeinflussung des Unterschieds in der Berichterstattung? Inwiefern wird für Protestkollektive in der medial bereitgestellten Öffentlichkeit in der Transnationalisierung, Globalisierung und Medialisierung der politischen und ökonomischen Handlungswelt die Möglichkeit zur gleichberechtigten Partizipation gewährleistet? Welche ideologie- bzw. hegemoniestabilisierenden Tendenzen in der Berichterstattung über Protest lassen sich beobachten?

Das theoretische Fundament der Dissertation bildet DAS ERSTE KAPITEL der Arbeit, das sich mit den themenrelevanten Aspekten theoretischer Ideologie- und Hegemonie-Konzepte im Hinblick auf Sprache und Medien in ihrer potentiell herrschaftsreproduzierenden Funktion auseinandersetzt. Proteste wollen Öffentlichkeiten gewin-

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nen, gleichzeitig stellen sie inhaltlich mitunter Aspekte der herrschenden Ideologie infrage. Die Erlangung kommunikativer Macht16 gibt Protestkollektiven, aber auch anderen, möglicherweise opponierenden Akteuren der Öffentlichkeit die Möglichkeit, zu partizipieren und über Kommunikationsakte politische Aktivität zu evozieren. Nach dem Verständnis von Habermas, welches anknüpfend diskutiert wird, ist die gleichberechtigte Teilhabe aller Gesellschaftsmitglieder in der Öffentlichkeit für eine Umsetzung einer funktionierenden Öffentlichkeit vorausgesetzt. Das Konzept Habermas‘ wird mit Blick auf die Medien in ihrer Funktion als Gewährleistende der Partizipation und als Marktplatz divergierender Meinungen im nichtbestehenden ideologiefreien Raum ausgebreitet. Die Globalisierung der politischen und ökonomischen Handlungswelt führt zu einem Wandel der Partizipationsmöglichkeiten sowie zu Veränderungen der Medienstrukturen und der damit einhergehenden Gewährleistung funktionierender Öffentlichkeit. Ökonomische Zwänge, denen Medien auf nationaler und globaler Ebene ausgesetzt sind, bedingen inhaltliche Verschiebungen in der Berichterstattung zugunsten ökonomischer Maxime. 17 Die sowohl ökonomischen als auch inhaltlichen Veränderungen medialer Realitäten veranlassen mitunter innergesellschaftliche Veränderungen in der Kommunikation über Protest. 18 Die potenzielle, normative, gegenwärtige und künftige Rolle von Medien wird vor diesem Hintergrund entlang relevanter theoretischer Überlegungen von Gramsci, Habermas, Arendt, Noelle-Neumann, der Frankfurter Schule und deren Vorläufer sowie gegenwärtig von Imhof, Brand, Demirovic, Crouch u.a. verhandelt. Daran anschließend wird erarbeitet, wie die Etablierung einer Nachricht im politischen Diskurs zustande kommt. Dabei werden sowohl Nachrichtenwertfaktoren als auch weitere Einflussfaktoren struktureller Natur eingegangen. In Anlehnung an das Modell von Herman und Chomsky wurden politisch-ökonomische Filter ausgearbeitet, des Weiteren wurden medieninterne Einflüsse aus der Journalismusforschung zusammengetragen und drittens die Spektakularisierung der Nachrichtenwertfaktoren als Trend des gegenwärtigen Journalismus angeführt. Mit dem Framing, also mit der Gestaltung der Nachrichten nach ihrer Aufnahme in die Agenda, setzt sich der letzte Abschnitt des ersten Kapitels auseinander: Als implizite Deutung der Inhalte tragen Frames zur Ideologiebildung bei, daher können sie zur umfassenden Bearbeitung der Problemstellung aus einer theoretischen Annäherung nicht ausgeschlossen werden. Basierend auf dem theoretischen Fundament konnte im Rahmen der Gesamtanalyse ein Modell entworfen werden, das unter Zusammenführung der vorgestell16 Arendt 1972. 17 Imhof 2008. 18 Dandanell, Anja/Dall, Casper/Steel Nielsen, Jørgen (2013): »Krisebevidsthed og liberale hjerner forhindrer oprør« (»Krisenbewusstsein und liberaler Diskurs verhindern Aufruhr«). In: Information, 27.3.2013. http://www.information.dk/455728 vom 27.3.2013.

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ten Theorien den Wirkungsmechanismus der Etablierung einer Nachricht darstellt. Das Modell beschreibt die Nachrichtenkonstruktion eines Ereignisses in der Öffentlichkeit und beachtet die strukturellen und protestgebundenen Einflüsse auf die journalistische Selektion, die journalistische Dependenz als auch die Einflüsse auf das Framing und stellt schließlich wieder eine Verbindung zurück zum politischen Diskurs in der Öffentlichkeit her. IM ZWEITEN KAPITEL werden die genannten Ausarbeitungen zur Erzeugung und Reproduktion von Machtverhältnissen und Hegemonie über Sprache und Medien mit Fokus auf Protest und die massenmediale Protestberichterstattung konkretisiert. Einführend werden die Begriffe Protest und soziale Bewegungen eingegrenzt, um anschließend auf die aktuell häufigsten Aktionen, Ziele und Motive europäischer und internationaler Proteste einzugehen. Darauf aufbauend wird das Phänomen Astroturf-Protest vorgestellt. Die Sichtung verschiedenster Fallbeispiele und relevanter vorhandener Literatur erlaubt eine mögliche wissenschaftliche Abgrenzung und Klassifizierung des in Europa kaum erforschten Phänomens, das in dieser Arbeit als Sonderform von Protest behandelt wird. Anknüpfend wird die Legitimation von Astroturf-Protest als LobbyingStrategie in Demokratien diskutiert. Zur Veranschaulichung des Phänomens werden zudem Fälle von vermeintlichen Graswurzelprotesten angeführt. Unter Beachtung der Medienberichterstattung über Astroturf- und GraswurzelProteste werden drittens Protestmerkmale erarbeitet, die die Form der Protestberichterstattung maßgeblich beeinflussen. Solche Protestmerkmale, wie etwa die Protestgröße, werden mittels empirischer und literaturbasierter Forschungen erhoben, teilweise neu identifiziert bzw. erstmals zusammengetragen. In diesem Zusammenhang wird eruiert, ob das Merkmal Kapital der Protestgruppe als bisher unbeachtetes, für die Protestberichterstattung allerdings maßgeblich entscheidendes Protestmerkmal belegt werden kann. Aus dem Framing und der Gestaltung der Protestberichte gehen paradigmatische Tendenzen in der Berichterstattung hervor, die in der Forschung zum Teil bereits belegt sind. In der einschlägigen Literatur bekannte Formen der Protestberichterstattung, wie das am häufigsten auftretende Ignorieren des Protests, das Protestparadigma und die Rekuperation, werden erstmals zusammengetragen und systematisiert. Daten- und literaturbasiert wird versucht, neue Formen der Protestberichterstattung zu identifizieren und die bekannten mit neuen Kategorien zu ergänzen. Kursorisch behandelte Fallbeispiele, wie die professionell oben organisierte Demonstration zum Ausbau des Frankfurter Flughafens, die Tea Party in ihrem Anfangsstadium als »Graswurzel-Protest« und andere liefern Erkenntnisse und veranschaulichen zugleich die Kategorien.

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IM DRITTEN KAPITEL, DEM EMPIRISCHEN TEIL der Forschungsarbeit wird in drei Case Studies die Berichterstattung über die London Riots, den Bürgermeisterprotest in Österreich und den Umweltprotest in Griechenland analysiert. Entlang der entworfenen und im methodischen Teil geschilderten Untersuchungsdimensionen Auslöser und Aktionen, InitiatorInnen, TeilnehmerInnen, Organisation, Motive und Ziele sowie Finanzierung wird die Berichterstattung deskriptiv im Hinblick auf das Framing untersucht und forschungsrelevante Analysen zur Klassifizierung der Protestform und zu einflussnehmenden Protestmerkmalen durchgeführt. DAS VIERTE KAPITEL der Forschungsarbeit bildet eine Gesamtanalyse, die von den zentralen Fragestellungen geleitet ist und die Ergebnisse vor dem theoretischen Hintergrund beleuchtet.

Methodische Herangehensweise

I. K ONZEPTIONELLER B EZUGSRAHMEN Die vorliegende Arbeit will das widersprüchliche, komplexe Verhältnis von Massenmedien und sozialem Protest in ihrem Zusammenspiel auf der Deliberationsebene ergründen. Dies erfordert sowohl eine Beschäftigung mit der medialen Inszenierung und Vermarktung von Protest als auch eine Suche nach den Gründen der medialen Darstellung von Protest sowie ein Fragen nach den Konsequenzen für die demokratische Partizipation in der Öffentlichkeit und den Implikationen für die möglicherweise transportierte Hegemonie. Mögliche Antworten liegen an den Schnittpunkten zwischen Soziologie, Politik-, Medien- und Sprachwissenschaft. Die mehrdimensionale Fragestellung impliziert die Beschäftigung mit einer Reihe angrenzender Forschungskontexte, welche Protest-(Bewegungen) sowie Medienstrukturen innerhalb politischer Machtverhältnisse fassen, bzw. sich mit der journalistischen Berichterstattung und der sprachlichen Realisierung von Medientexten auseinandersetzen. Ferner verlangt das Forschungsvorhaben eine Verhandlung der Möglichkeit zur (diskursiven) Partizipation in der Öffentlichkeit. Die Überlegungen finden vor dem Hintergrund von Ideologieund Hegemonietheorien statt. Bei der Bearbeitung des Forschungsvorhabens sind verschiedene Prozesse des Wandels zu beachten, die auf ökonomischer und politscher Ebene die Medien als auch Proteste in ihrer gesellschaftlichen Einbettung betreffen. Ökonomische Zwänge, denen Medien auf seit ihrer gewonnenen Unabhängigkeit von parteigebundenem politischen Einfluss ausgesetzt sind, bedingen inhaltliche Verschiebungen in der Berichterstattung zugunsten ökonomischer Maxime. 1 Die ökonomischen und auch inhaltlichen Veränderungen medialer Realitäten, die mit ökonomischen Abhängigkeiten von potenzieller Anzeigenkundschaft, Marktbedingungen und Share-

1

Imhof 2008; Habermas 1990.

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holdern im Zusammenhang stehen, bringen Veränderungen in der Kommunikation über Protest mit sich.2 Politisch verändern sich mit der häufiger auftretenden transnationalen Multilevel Governance die Partizipationsmöglichkeiten: Agieren übernationale politische Entscheidungsebenen (noch) ohne (direkte) Mitbestimmung der betroffenen und vertretenen Bevölkerung, so formieren sich zugleich Protestkollektive, die diese Mitbestimmung einfordern. Im Vordergrund dieser Entwicklungen wird die Berichterstattung über Protest und den hier als Sonderform von Protest gehandelten »Astroturf-Protest« in der medial bereitgestellten Deliberation untersucht. Die Fragen wie über Protest berichtet wird und warum ebendiese Berichterstattungsform auftritt sind zentral. Zur Erhebung wird im empirischen Teil die Berichterstattung von in Form und Inhalt völlig divergierenden Protestfällen anhand entworfener Untersuchungsdimensionen quantifizierbar gemacht und anschließend einer Analyse unterzogen.

II. F ORSCHUNGSINTERESSE Die Forschungsarbeit verfolgt sechs gleichrangige, zusammenhängende Zielkomplexe, die auf folgenden Vorannahmen gründen und deren Bearbeitung von den zentralen Fragestellungen geleitet wird. Die Zielkomplexe werden in vier Arbeitsteilen behandelt: DAS ERSTE KAPITEL beschäftigt sich mit den sprachlich realisierten Ereignissen als journalistisch aufbereitete Nachrichten in der deliberativen Öffentlichkeit und mit ihrer Rolle als Hegemonieträger, DAS ZWEITE KAPITEL fokussiert anschließend an die Ausarbeitungen zur Machtreproduktion durch Sprache und Medien auf Graswurzel- und Astroturf-Proteste als Nachrichtenereignisse. DAS DRITTE KAPITEL hat als EMPIRISCHER TEIL die Case Studies zum Inhalt. Daran anschließend werden im VIERTEN ANALYSE-TEIL die zentralen Fragestellungen behandelt. Protest als Partizipationsinstrument Erstes Ziel ist die Untersuchung von Protest in seiner Rolle als Partizipationsinstrument in der medial bereitgestellten demokratischen Öffentlichkeit. Protest wird eingesetzt, um in der deliberativen Dimension Widerspruch oder Kritik auszudrü-

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Dandanell/Dall/Steel 2013.

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cken und/oder soziale oder politische Forderungen vorzubringen 3 , er kann mit kommunikativer Macht4 Druck auf Verantwortliche ausüben. Um politische Aktivität zu evozieren, sind die gesellschaftliche Kommunikation und der öffentliche politische Diskurs über die Protestinhalte notwendig, die gegenwärtig hauptsächlich über Medien mit der normativen Funktion, die Interessen der einzelnen Akteure der Öffentlichkeit5 abzubilden, gewährleistet werden. Protest vor dem ideologischen Hintergrund Die Aufnahme des Partizipationsinstruments Protest in die Medienagenda erfolgt mit seiner politischen Bedeutung nicht ohne ideologischer6 Implikation, wenn von der Nicht-Existenz eines idelogiefreien Raums ausgegangen wird. Dies geschieht über die sprachliche Realisierung in Wortwahl, Framing, Inhaltsgewichtung und Themenwahl. Astroturf- und Graswurzel-Protest in der medialen Resonanz Neben besorgten BürgerInnen versuchen auch profitorientierte Unternehmen und politische oder andere Organisationen Protest zu nutzen, um Interessen zu lobbyieren und durchzusetzen. Consultancies und Public-Relations-Agenturen (im Folgenden: PR-Agenturen) spezialisieren sich darauf, die für PolitikerInnen scheinbar immer wichtiger werdende BürgerInnenbeteiligung für sich zu verwenden. Das Phänomen Astroturf-Protest wird in der vorliegenden Arbeit aufgrund seiner realen Ausgestaltung zunächst als eine Sonderform des Protests behandelt, um es aber aufgrund distinguierender Merkmale von Protest abzugrenzen. Einflussfaktoren auf die Berichterstattung Erhoben werden Faktoren, die Wirkung auf die Protestberichterstattung haben, unter Berücksichtigung struktureller und protestereignisgebundener Einflussfaktoren, die die Wahrscheinlichkeit der Berichterstattung erhöhen/senken bzw. die Inhalte prägen könnten. Die Untersuchung erfolgt unter Heranziehung verschiedener Fallbeispiele sowie basierend auf vorhandenen Erkenntnissen der relevanten Literatur.

3

Rucht, Dieter/Hocke, Peter/Ohlemacher, Thomas (1992): Dokumentation und Analyse von Protestereignissen in der Bundesrepublik Deutschland (Prodat). Codebuch. Discussion Paper FS III 92-103, Wissenschaftszentrum für Sozialforschung, Berlin, S. 4.

4

Arendt 1972.

5

Imhof 2008.

6

Ideologiebegriff nach Marx, Karl/Engels, Friedrich (1845/46): Die Deutsche Ideologie. In: Marx, Karl/Engels Friedrich: Werke (Fortan: MEW). Band 3, Dietz Verlag, Berlin/ DDR (1969), S.5-530.

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Framing als potenziell ideologiestützende Inhaltsdeutung Die mediale Resonanz von Protest ist zunächst Voraussetzung für die Beeinflussung des Deliberationsprozesses. Protestkollektive sind zudem auf die adäquate Darstellung ihrer Forderungen angewiesen, wobei das Framing – die sprachliche Deutung – als Element des Diskurses eine essentielle Rolle spielt. Die Untersuchung des Framings erfolgt mit einer theoretischen Einbettung des Framings in den forschungsrelevanten Kontext sowie anhand der Datenerhebung dreier Fallbeispiele im empirischen Teil. Daraus geht die Erarbeitung von Formen der Protestberichterstattung hervor.

III. E MPIRISCHE E RHEBUNG : C ASE S TUDIES Protestberichterstattung kann verschiedene, teils extreme Ausprägungen annehmen. Drei dieser Formen sind Ignoranz, Kriminalisierung sowie eine differenzierte Haltung gegenüber dem konkreten Protest – diesen drei Formen wurde jeweils eine Case Study gewidmet. Die drei Protestfälle sind voneinander unabhängig, in Inhalt, Form und medialer Inszenierung divergierend und betreffen die regionale, die nationale als auch die europäische bzw. internationale Ebene. Die Kriminalisierung von AktivistInnen zeigt sich in der ersten Studie, der Berichterstattung über die London Riots. Die zweite Studie beschäftigt sich mit der differenzierten Berichterstattung über einen Bürgermeisterprotest aus einem Tal in Österreich. Die Umweltproteste von NordGriechenland wurden drittens teils medial ignoriert oder diffamiert. Die Fallbeispiele werden anhand von Untersuchungsdimensionen (Tabelle 1) quantifiziert und analysiert. Ziel der Auswahl so unterschiedlicher Fallbeispiele ist, ein breites Spektrum der möglichen Formen des medialen Umgangs mit Protest zu umfassen.

IV. L EITENDE F RAGEN Entlang der Arbeitsteile werden die zentralen Forschungsfragen, nämlich wie über Protest berichtet wird und aus welchen Gründen dies geschieht (warum?), beantwortet. Zur Rahmensetzung werden diese breit angelegten themenleitenden Fragen in fünf Unterfragen konkretisiert. Ihre Anordnung erfolgt wie die Forschungsmethode induktiv, von der Mikro- zur Makroebene, vom Konkreten zum Abstrakteren. 1) Wie werden Proteste medial dargestellt? Wie gestaltet sich das Framing in den drei Fallbeispielen? Wie werden AktivistInnen, Aktionen, Motive und Ziele, die OrganisatorInnen und die Finanzierung von Protest dargestellt? Wird Protest aus Sicht der ProtestinitiatorInnen »kor-

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rekt« bzw. »erfolgreich« dargestellt? Gibt es ausgehend vom Framing einzelner Proteste paradigmatische Tendenzen in der Protestberichtung? Lassen sich paradigmatische Formen der Protestberichterstattung distinguieren? 2) Welche Einflussfaktoren wirken auf die Etablierung von Protesten im politischen Diskurs und beeinflussen, ob und in welcher Form Berichterstattung stattfindet? Welche konkreten Protestmerkmale beeinflussen die Berichterstattung? Welche strukturellen, nicht-protestereignisgebundenen Einflussfaktoren hemmen/begünstigen die Etablierung bzw. das Framing von Protest im politischen Diskurs bzw. in der medialen Agenda? 3) Ist in der Berichterstattung über Bottom-Up-Proteste ein Unterschied zu der Berichterstattung über Top-Down-Astroturf-Proteste zu beobachten? Wenn ja, welche(s) Merkmal(e) könnte(n) den Unterschied bedingen? Was kennzeichnet das Verhältnis zwischen Graswurzel- bzw. Astroturf-Protesten und den Medien? Folgende Hypothese soll in diesem Zusammenhang geprüft werden: Eine unterschiedliche Berichterstattung ist beobachtbar. Den OrganisatorInnen von Astroturf-Protesten gelingt es eher, Öffentlichkeit zu erreichen. Dies ist dem Protestmerkmal zur Verfügung stehendes Kapital zuzuschreiben. 4) Wird für Protestkollektive in der medial bereitgestellten Öffentlichkeit die Möglichkeit zur Partizipation gewährleistet? Wie gestaltet sich Partizipation in der medial bereitgestellten Öffentlichkeit normativ? Inwieweit kann ein Protestkollektiv als öffentlicher Akteur gleichberechtigt in der medial bereitgestellten Öffentlichkeit partizipieren? Welche strukturellen Veränderungen treten seit der zunehmenden Transnationalisierung und Globalisierung (Stichwort Multi Level Governance) der Handlungswelt hinsichtlich der Partizipation und der die Öffentlichkeit gewährleistenden Medien auf? Wie wirken sich ökonomische Veränderungen wie Globalisierung und Transnationalisierung bzw. der Strukturwandel der Öffentlichkeit (Habermas) und der Medialisierungseffekt (Imhof) auf das Verhältnis zwischen Protest und Medien aus? 5) Lassen sich ideologie- bzw. hegemoniestabilisierende Tendenzen in der Berichterstattung über Protest beobachten? Wenn ja, welche sind es? Inwieweit kann Vernunft im Agenda-Setting- und Framing-Prozess der Protestberichterstattung gegen Kulturindustrie, Partikulärinteressen und herrschende Ideologie zur Geltung kommen?

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V. ANGEWANDTE ANALYSEMETHODEN Aufgrund der Stellung des Forschungsinteresses im Schnittbereich von Medien-, Sprach-, Politik- und Sozialwissenschaft sowie Bewegungsforschung kann auf ein großes Spektrum an methodischen Zugängen zurückgegriffen werden. Folgende wurden ausgewählt: • • • • •

Beobachtung, Literaturrecherche und -auswertung, Dokumentenauswertung Teilnahme an Vorträgen, Informationsveranstaltungen, Diskussionsrunden und Arbeitsgruppentreffen im Europäischen Parlament in Brüssel persönliche Gespräche mit AktivistInnen und involvierten WissenschaftlerInnen bei den Protesten in Griechenland quantitative und qualitative Befragung (Case Study Griechenland) inhaltliche Medienanalyse (Case Studies Bürgermeisterprotest, London Riots).

Die Methodentriangulation7 (auch: Mehrmethodenkombination8), der Rückgriff auf mehrere Methoden, ermöglicht in der Sozialwissenschaft die Betrachtung eines Phänomens aus verschiedenen Blickwinkeln und dient dem Ausgleich instrumentenspezifischer Verzerrungen. Die vier grundlegenden Untersuchungsmethoden Feldforschung, Umfragen, Experimente und nichtreaktive Studien9 wurden einzeln und »unterschiedlich und in allen Phasen des Forschungsprozesses«10 angewendet. Sie wurden für das Projektvorhaben als sinnvoll erachtet, um etwa Perspektiven, die in der Framing-Analyse nicht zutage treten, zu ergänzen und mithilfe mehrerer methodischer Zugänge und Ergebnissen abzugleichen und zu sichern.11 Gleichermaßen wurden verschiedene Theorien aus den relevanten Wissenschaftsbereichen im Rahmen einer Theorientriangulation eingebunden. Basal bei der gesamten Forschungsarbeit waren die ständige Beobachtung, Literatur- und Dokumentenauswertung, sowie die Auswertung und Analyse der Daten.

7 8

Flick, Uwe (2008): Triangulation. Eine Einführung. 2. Aufl., VS Verlag, Wiesbaden. Loosen, Wiebke/Scholl, Armin (2011): »Validierung oder Ergänzung? Zur Praxis von Methodenkombinationen in der Journalismusforschung«. In: Jandura/Quandt/Vogelgesang, 2011: 109-121, 109.

9

Brewer, J./Hunter, A. (2008): Foundations of Multimethod Research. Synthesizing Styles. Sage, Thousand Oaks, London, New Delhi, S. 1.

10 Loosen /Scholl 2011: 109 f. 11 Kromrey, H. (2002): Empirische Sozialforschung. Modelle und Methoden der standardisierten Datenerhebung und Datenauswertung. 10. Aufl., Leske+Budrich, Opladen, S. 524.

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Zur Erhebung empirischer Daten wird die Multiple Case Study Analysis als Untersuchungsmethode angewendet. Diese methodische Herangehensweise eignet sich am besten zur Beantwortung der Fragen Wie und Warum, denn Form und Grund des medialen Umgangs mit Protest kann so mehr als bei anderen sozialwissenschaftlichen Methoden ins Zentrum der Forschungsinteresses gerückt werden.12 Der Analyse zugrunde liegt das Bewusstsein über das Mikro-Makro-Problem13. Auf Mikroebene, der sozialen Handlungsebene, agieren JournalistInnen und ProtestaktivistInnen. Auf dieser »am ehesten empirisch zugänglich[en Ebene]« dienen Case Studies zur Erhebung des forschungsrelevanten medialens Verhaltens. Auf Mesoebene, der »Bezugsebene von Organisationen und Institutionen«, werden Medien und Protestkollektive als Organisationen untersucht, die sich aus den sozialen Handlungen ergeben. Auf Makroebene ist die Gesellschaft die Bezugsebene, in deren Vordergrund Medien und Protestkollektive im Allgemeinen betrachtet werden. Dem akteurtheoretischen Ansatz14 folgend, wird in der vorliegend Arbeit versucht, system- und handlungstheoretische Ansätze miteinander zu verknüpfen und Mikro-, Meso- und Makroebene in die Analyse einzubinden. Mikroebene: Einzelanalysen der Case Studies Die Datenanalyse auf Mikroebene erfolgt in einem ersten Schritt jeweils anschließend an die Datenauswertung der Case Studies: Die empirischen Daten der Untersuchungsdimensionen werden ausgewertet und der Protestfall im Hinblick auf die Protestform eingeordnet, wobei die Distinktion zwischen Graswurzelprotest und Astroturf-Protest bzw. möglichen Hybridformen verläuft. Anschließend werden die beeinflussenden Protestmerkmale diskutiert. In den Case-Study-Analysen erfolgt eine Kategorisierung der Form der Berichterstattung, die auf den vorhergehenden theoretischen Ausarbeitungen gründet. Dabei wird festgestellt, ob es sich um eine im Sinne der Protestgruppe »erfolgreiche« Berichterstattung handelt. Meso- und Makroebene: Gesamtanalyse In einem zweiten Schritt werden anknüpfend an die Case Studies die gewonnen Daten mit den bereits vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnissen auf Mesobzw. Makroebene vor dem Hintergrund der theoretischen Annahmen entlang der

12 Yin, Robert K. (2010): Case Study Research: Design and Methods. Applied Social Research Methods, Sage, Thousand Oaks et al. 13 Jarren, Otfried/Donges, Patrick (2011): »Sozialwissenschaftliche Basistheorien zur Analyse politischer Kommunikation«. In: Dies. 2011: 31-59, hier: S.31ff. 14 Ebenda: 53f.

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leitenden Fragen analysiert. Die Fallstudien tragen zu einer Verifikation oder Falsifikation der Thesen bzw. zu einer Beantwortung der Forschungsfragen bei. Die Protestfälle wurden gewählt, um drei Formen der Protestberichterstattung zu beleuchten: •





Die mediale Diffamierung, Abwertung und Spektakularisierung von Protest bei den »London Riots«, bei denen die Vorgänge in den britischen Städten z.T. nicht als »Protest«, sondern als »Krawall«, »Randale« oder »Chaos« bezeichnet wurden. Anhand einer synchronen und intermedialen Frame-Analyse wurde die österreichische Berichterstattung über die Proteste untersucht. Die erfolgreiche, differenzierte Form der Berichterstattung über Protest bei einem kleinen Bürgermeisterprotest mit einem Protestkollektiv von zwölf Bürgermeistern aus einem Tal in Österreich, dem zahlreiche Medien mit großer Aufmerksamkeit begegneten. Die Protestmotive und -ziele wurden von den Medien nahezu wortwörtlich übernommen und die Aktivisten in der breiten Medienberichterstattung ausführlich zitiert. Die online distribuierten Berichte des gesamten deutschen Sprachraums wurde synchron und intermedial mittels Frame-Analyse untersucht. Das Ignorieren von Protest bei Umweltprotesten in Nord-Griechenland, das neben der protestparadigmatischen Berichterstattung teilweise auftritt, wie sich während des Forschungsverlaufs herausstellte, denn nicht alle Protestaktionen, aber einzelne besonders gut besuchte Demonstrationen, die für das Evozieren politischer Aktivität und die Repräsentanz der Protestgruppe (nach innen und außen), von besonderer Bedeutung gewesen wären, wurden von wichtigen griechischen Fernsehsendern und Zeitungen ignoriert. Die meisten anderen Protestaktionen wurden diffamiert, eine für die Forschungsarbeit durchgeführte quantitative Erhebung mit mehr als 700 Befragten belegt dies. Bei der Teilnahme an Konferenzen über diese Proteste im Europäischen Parlament in Brüssel konnten Gespräche mit AktivistInnen geführt werden, die in die Ausführungen indirekt einfließen.

Untersuchungsdimensionen der Case Studies Zur empirischen Erhebung der Case Studies wurden Untersuchungsdimensionen entworfen, die die Protestberichterstattung mit Blick auf deren sprachliche Realisierung der Proteste quantifizierbar machen. Die mediale Inszenierung verläuft über significants, die Protestierende und Protestaktionen als signifiés in Betrachtungsund Bewertungsschemata pressen. Nach einer deskriptiven Darstellung der aktivistischen Sichtweise basierend auf gewonnen Daten von Bannern, Blogeinträgen und/oder Interviews wird die Berichterstattung im Rahmen folgender Untersu-

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chungsdimensionen erhoben. In Tabelle 1 werden die Untersuchungsdimensionen mit ihren jeweils auftretenden Merkmalsvarianzen im Überblick veranschaulicht. a) Auslöser und Aktionen Im Gegensatz zu oft diffusen oder breit gestreuten Ursachen eines Protests ist der Auslöser ein konkreter Fall, der medial zunächst als erste Erklärung und somit als erste Legitimierung der Protestaktionen herangezogen wird. Unterschieden wird zwischen (1) spontanem und (2) geplantem Auslöser, (3) mögliche Hybridformen können auftreten. Die Protestaktionen werden hinsichtlich der Zeit (1) als spontan und (2) zumindest mittelfristig geplant eingeordnet. (3) Hybridformen sind möglich. b) InitiatorInnen Die Initiative für Protest wird u.a. von Einzelnen oder von mehreren Subjekten im Kollektiv, zivilgesellschaftlichen und kulturellen Organisationen, staatlichen Institutionen wie Parteien und Gewerkschaften, sowie ökonomischen Entitäten wie profitorientierten Unternehmen ergriffen. Da die Organisation mitunter intransparent ist und die Motive eines Protestkollektivs entweder nur ein partikuläres aber auch mehrere Themen umfassen können, ist nicht immer deutlich, wer Protest – aus welchen Gründen – (mit)organisiert hat und daran teilnimmt. Als Merkmalsausprägung wird daher in dieser Dimension die initiative Organisationsgruppe untersucht, die zeigen soll, ob der Protest wie Graswurzelprotest von unten nach oben, bottom up, oder wie Astroturf-Protest von oben nach unten, top down, gegründet worden ist. Beleuchtet wird, ob es sich bei den InitiatorInnen um eine der folgenden Gruppen handelt: (a) ein Auftraggeber samt einer PR-Agentur o.ä., welcher die Gründung von Protest als strategische Maßnahme zur Erfüllung eigener Interessen einsetzt. Die Protestgründung erfolgt in diesem Fall top down; (b) zivilgesellschaftliche Gruppen oder (ein Kollektiv von) Subjekte(n), die von unten nach oben, bottom up, Protest organisieren; (c) eine Hybridform von (a) und (b), wie etwa Graswurzelproteste, die ökonomisch unterwandert werden. c) TeilnehmerInnen Protestaktionen entstehen aus einer Dynamik von Kommunikation und kollektivem Handeln, in der sich InitiatorInnen, TeilnehmerInnen und Organisatorinnen oft überschneiden. Bei Top-Down-Protesten tritt meist eine deutliche Trennung der Dimensionen Initiative und Teilnahme auf, daher ist für das Forschungsinteresse die Abgrenzung der beiden Dimensionen von hoher Bedeutung. Hauptaugenmerk wird in dieser Dimension auf das mediale Framing der ProtestteilnehmerInnen gelegt. Die Skala der begriffliche Kategorisierung ist zwischen dem negativen Extrempol des gewaltsamen, unpolitischen und nicht ernstzuneh-

32 | P ROTEST ALS EREIGNIS

menden Personenframings und dem positiven Pol des seriösen, politisch ernst zu nehmenden Personenframings angelegt. d) Organisation Die Organisation eines Protests wird nach den Merkmalsausprägungen (1) der spontanen bzw. der (2) mittel- oder langfristigen Planung und nach seiner (3) Transparenz untersucht. Spontan auftretender Protest setzt nach einem Auslöser ein, der eine Gruppe von Menschen mobilisiert und ad hoc zum gemeinsamen Protesthandeln bewegt. Zumindest teilweise mittelfristig organisierter Protest blickt auf die Planung von Aktion, Zeitpunkt oder Ort o.ä. zurück. In Realität scheint die Grenze zwischen spontan und geplant verschwommen, da unter potenziellen ProtestinitiatorInnen und -teilnehmerInnen ein Austausch zumindest über die Unzufriedenheit bzw. gar die Möglichkeit einer Zurwehrsetzung bereits langfristig vor dem aktiven Protesthandeln stattgefunden haben kann. Unter Kenntnisnahme der Hybridformen sowie der Schwierigkeit einer klärenden Definition (ab welcher Zeitdauer kann von »Spontaneität« bzw. von »kurzfristiger Planung« gesprochen werden?) kann, wird dennoch versucht, die Protestfälle der einen oder anderen Kategorie zuzuordnen. Die Transparenz der strategischen Organisation ist entweder (1) klar ersichtlich, (2) (journalistisch) mutmaßlich oder (2) nicht vorhanden. Bei allen Protesten kann (zunächst) nicht deutlich werden, wer den Protest organisiert hat. Besonders bei Astroturf-Protesten scheint das Verheimlichen der Organisation strategisches Mittel zu sein, um einen durch BürgerInnen organisierten Protest zur Aufmerksamkeitsgewinnung und zur Druckausübung vorzugeben. e) Motive und Ziele Protestmotive sind bei einigen Fällen breitgefächert und betreffen ein Sammelsurium an einzelnen Missständen, bei anderen gibt ein konkretes Ereignis Anlass, sich zusammenzuschließen und zu protestieren. Motive beziehen sich auf Erfahrungen in der Vergangenheit und referieren auf Möglichkeiten in Gegenwart und Zukunft und sind daher stark mit Forderungen und Zielen verschränkt. Sie werden hinsichtlich ihrer (1) inhaltlichen und (2) zeitlichen Ausrichtung untersucht. Inhaltlich variieren Proteste zwischen den Polen eines thematisch (a) klar definierten Motivs bzw. eines deutlichen Ziels und (b) eines breiten Felds von Motiven und wenig konkret formulierten Forderungen und Zielen. Dabei kann die inhaltliche Ausrichtung innerhalb eines Protestes zwischen mehreren Ebenen variieren, wie z.B. in der Haltung gegenüber dem politisch-ökonomischen System (teils systemimmanent, teils radikal), genauso können Proteste über ein leitendes Thema verfügen, aus dem andere Themen hervorgehen. Laut medialer Darstellung treten ebenso Proteste auf, die (c) ohne politische, ökonomische, soziale o.a. inhaltliche Motiven (und Zielen) stattfänden (Siehe London Riots).

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Zeitlich unterscheiden sich Motive sowie Ziele in der Dauer und dem Anspruch. Die Dauer kann über Jahre hinweg reichen oder akut sein. Motive und Ziele sind auf kurzfristige Veränderungen oder langfristige Entwicklungen ausgerichtet und variieren in ihrem zeitlichen kurz-, mittel- oder langfristigen Anspruch, was Erwartungen, Status quo und die Vergangenheit umfassen kann. Außerdem unterscheiden sie sich in der Haltung gegenüber dem System, systemimmanente ebenso wie radikale und systemnegierende Kritik sind möglich. Ziele sind für Medien und Außenstehende nicht geklärt, wenn Proteste ohne Banner, Plakate, öffentliche Statements und ohne offensichtliche Kommunikation stattfinden. f) Finanzierung Protest wird (1) finanziell unterstützt oder (2) nicht finanziell unterstützt. Dies erfolgt unabhängig von originärer oder künstlicher Organisation. Außerdem bestehen (3) Hybridformen, wenn etwa Protest während seiner Existenz finanziell unterlaufen wird und Interessenten mittels finanzieller Mittel versuchen, den Protest für sich zu instrumentalisieren. Die Finanzierung ist hinsichtlich ihrer Transparenz (4) öffentlich ersichtlich, (5) journalistisch aufgedeckt und offengelegt oder (6) verdeckt. Tabelle 1: Untersuchungsdimensionen und Merkmalsvarianzen Untersuchungsdimension AUSLÖSER UND AKTIONEN Auslöser

Aktionen

INITIATORINNEN Ausrichtung

Merkmalsvarianz Spontan Geplant Hybridform Spontan Geplant Hybridform bottom up top down Hybridform

Abgrenzung zu TeilnehmerInnen

TEILNEHMERINNEN Bewertung

vorhanden nicht vorhanden unklar Gewaltvoll, unpolitisch, nicht ernstzunehmend neutral, seriös, politisch wichtig, ernstzunehmend Hybridform

34 | P ROTEST ALS EREIGNIS ORGANISATION Zeitlich Transparenz

MOTIVE UND ZIELE Inhaltlich

Zeitlich FINANZIERUNG Geldflüsse

Transparenz

Spontan Mittel- oder langfristig geplant Vorhanden Journalistisch mutmaßlich vorhanden Nicht vorhanden Partikularinteresse mehrdimensional Konkret Nicht geklärt Systemimmanent Radikal Keine Langfristig Kurzfristig Vorhanden Keine Hybridform Öffentlich ersichtlich Journalistisch aufgedeckte Finanzierung Verdeckte Finanzierung Keine

Reproduktion von Machtverhältnissen Erzeugung von Hegemonie über Sprache und Medien

»Hegemonie [bezeichnet] die Fähigkeit herrschender Gruppen und Klassen, ihre Interessen durchzusetzen, so dass sie von subalternen Gruppen und Klassen als Allgemeininteresse angesehen werden und es weitgehend gemeinsame gesellschaftliche Vorstellungen über die Verhältnisse und ihre Entwicklung gibt. Insofern erzeugt Hegemonie einen ›Konsens der Regierten‹.« ULRICH BRAND/GEGEN-HEGEMONIE

1. S PRACHLICHE Ü BERNAHME IDEOLOGISCHER I NHALTE Die Möglichkeit, Interessen einer spezifischen Gruppe zu transportieren, zu Allgemeininteressen zu transformieren und schließlich politisch durchzusetzen, basiert auf subtiler Macht. Zum Allgemeininteresse geworden geben diese hegemonialen Ideen den Rahmen und die Richtung vor, in welche sich die Gesellschaft entwickeln soll. Die Transformation vom spezifisch ins allgemein Gewollte geschieht in Demokratien kaum durch Zwang, sondern mit Kompromissen und Konsensen. 1 Wenn einzig eine spezifische, sich möglicherweise in der Minderheit befindliche Gruppe Nutzen aus der durchgesetzten gesamtgesellschaftlichen Richtung zieht, wird die Transformation zum sozialen Problem der Mehrheit. Der italienische Soziologe Antonio Gramsci analysiert aufbauend auf dem marxschen Ideologiebegriff die Dialektik zwischen Sein und Bewusstsein, die Wechselbeziehung zwischen dem Denken von Individuen oder Klassen und den gesellschaftlichen Verhältnissen, und entwirft aufbauend ein Konzept über Hegemo1

Brand, Ulrich/Christoph, Scherrer (2003): »Contested Global Governance: Konkurrierende Formen und Inhalte globaler Regulierung«. In: Kurswechsel, Zeitschrift für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen, Heft 1, S. 90-103, hier: 93.

36 | P ROTEST ALS EREIGNIS

nie, das den Ausgang dieser Arbeit bildet. Ideologie als transportiertes »falsches Bewusstsein« stellt die »Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obsucura auf den Kopf«2 und schafft eine deutliche Divergenz zwischen der »ökonomischen Realität« und dem »wirklichen Leben«. Subjekte werden über ihre Lebensverhältnisse betrogen und leben in entfremdetem Bewusstsein, mit dem Zweck, die politische Kraft der Massen zu lähmen und Interessen und somit die Herrschaft der herrschenden Klasse zu reproduzieren.3 Dabei sind bei der Entstehung von Hegemonie besonders zwei gesellschaftliche Superstrukturen zu beobachten: »(...) diejenige, die man die Ebene der ›Zivilgesellschaft‹ nennen kann, d.h. des Ensembles der gemeinhin ›privat‹ genannten Organismen, und diejenige der ›politischen Gesellschaft oder des Staates‹, die der Funktion der ›Hegemonie‹, welche die herrschende Gruppe in der gesamten Gesellschaft ausübt, und der Funktion der ›direkten Herrschaft‹ oder des Kommandos, die sich im Staat und in der ›formellen‹ Regierung ausdrückt«4.

Sprache gilt als Trägerin von hegemonialem Konsens, Diskurs verbreitet Ideologie. Hier gilt die Ebene der Norm der vier von Eugenio Coseriu unterschiedenen Ebenen der Sprache (»Typus, System, Norm und Rede«5) als substanziell: Die Norm, als »nicht hinterfragtes Hintergrundwissen« und als Fixierung der inhaltlich möglichen Unterscheidungen in Diskursen des Systems, »ist nämlich die sprachliche Ebene par excellence, in der sich dominante Ideologien gleichsam ›verfestigen‹ bzw. ›sedimentieren‹.«6 Manfred Kienpointner zeichnet nach, wie sich auf Wortebene Ideologie sprachlich festsetzen und bereits eine Benennung für einen Zusammenhang Herrschaftsverhältnisse implizieren kann. Bei Versuchen, Hegemonie zu gewinnen und Interessen zur vorherrschenden Norm zu transformieren, gilt es, einen Kampf um die Semantik zu durchlaufen. »[Dabei] wird fixiert, welcher der konkurrierenden Ausdrücke die ›korrekte‹ Benennung ist (Sozialabbau oder soziale Treffsicherheit für bestimmte politische Maßnahmen) und wie die Bedeutung eines Ausdrucks bezüglich der mit ihm verbundenen Wertung (Konnotation) zu

2

Marx, Karl (1848/53): Die Frühschriften; Alfred Kröner Verlag; Stuttgart, S. 22.

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MEW 3: 5-530.

4

Gramsci, Antonio (1991 ff.) [1929-1935]: Gefängnishefte (fortan: GH) - Kritische Gesamtausgabe. Herausgegeben von Bochmann, Klaus/Haug, Wolfgang Fritz, Argument, Hamburg, Heft 12, Paragr. 1, S. 1502.

5

Coseriu, Eugenio (1988): Einführung in die Allgemeine Sprachwissenschaft. Francke Verlag, Tübingen, S. 297ff.

6

Kienpointner, Manfred (2012): »Macht und Sprache« In: Knoblach/Oltmanns/Hajnal/ Fink 2012: 305-323, hier: 306.

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verstehen ist (z.B. Terroristen als scharf abzulehnende ›Kriminelle‹ oder als heroische ›Freiheitskämpfer‹)«.7

Setzt sich eine Benennung als sprachliche Norm durch, so kann sich zugleich ein Herrschaftsverhältnis forttragen. Nachdem vor allem herrschende bzw. der politischen, ökonomischen u.a. Elite angehörigen Gruppen ihrem Wesen nach Zugang zur Interessenkommunikation haben und in ihr erfolgreich sind, reproduzieren sich tendenziell die Interessen dieser Elite. Besteht innerhalb der Elite Konsens, was in Fragen des Selbsterhalts der (elitären) Gruppe/Klasse wahrscheinlich ist, so wird dieser Konsens verstärkt transportiert und reproduziert. Medien nehmen dabei die Rolle der Mittler zwischen (politischer, ökonomischer u.a.) Elite und Öffentlichkeit ein, und verbreiten und reproduzieren – mit Ausnahmen – gleichzeitig den Konsens 8 der Elite über Sprache und Diskurse. Edward S. Herman und Noam Chomsky weisen darauf hin, dass »(…) the elite consensus is likely to be strong when fundamental class interests are at stake. This is the case with the (…) external projections of power of the imperial state, and the demands of the military-industrial complex with which it is closely associated (…). ›Free trade› (i.e. mainly investor rights) issues are also important to elite interests, and this is reflected in vigorous and close-to-unanimous mass media support of ›free trade‹ agreements and opposition to ›protectionism‹. Labour organization and labour power are also of elite class interest, and associated issues frequently produce elite solidarity and mainstream media uniformity in the elite interest.«9

Zentral und beachtenswert ist bei allgemein als geltend durchgesetzten Konsensen die ideologische Komponente, der Blick auf ein möglicherweise transportiertes falsches Bewusstsein über die Verhältnisse, das nicht der ökonomischen Realität entspricht, sondern über sie intentional und interessengeleitet hinwegschwindelt. Unter dem Konzept der Ideologie subsumiert Marx, wie er in den Frühschriften10 und in der Deutschen Ideologie 11 näher ausführt, »dogmatische Gedankenkomplexe als

7 8

Kienpointner 2012: 307. Herman/Chomsky (2009): »The Propaganda Model after 20 Years: Interview with Edward S. Herman and Noam Chomsky«. Interview mit Andrew Mullen, Westminster Papers in Communication and Culture, November 2009. http://www.chomsky.info/ interviews/200911--.htm

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Herman/Chomsky 2009.

10 Marx, Karl 1848/53. 11 Marx/Engels 1845/46.

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Weltdeutungen mit umfassenden Anspruch und begrenztem Horizont sowie [das] 12 interessengebundene, polit. instrumentalisierte ›falsche Bewusstsein‹« . Die politischen, ökonomischen, philosophischen, soziokulturellen u.a. Vorstellungen bilden den »Überbau«, der das Bewusstsein bedingt. Das falsche Bewusstsein ist ein verfälschtes Bild über die Lebensverhältnisse der BürgerInnen, es lähmt ihre politische Kraft, um ihren Widerspruch und ihren Protest vorweg zu verhindern. Die herrschende Klasse und ihre Interessen werden dabei gestützt.13 Indessen sind ideologische und hegemoniale theoretische Vorstellungen eng mit der alltäglichen Praxis verstrickt. Gramsci unterstreicht wie Marx im Hinblick auf den Zusammenhang von Sein und Bewusstsein die »gelebte, habituelle gesellschaftliche Praxis«14: »Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewusstseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Thätigkeit und den materiellen Verkehr 15 der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens.« In seiner Analyse der Hegemonie legt Gramsci den Fokus besonders auf die Sprechakte der BürgerInnen, die im politischen Diskurs den Konsens der Regierten (potenziell) weitertragen. In der vorliegenden Arbeit wird der Hegemonie-Begriff in Anlehnung an das Konzept Gramscis eingegrenzt. Da es sich bei Gramscis Gefängnisheften 16 »weniger [um] eine geschlossene Theoriebildung« als vielmehr um »eine Sammlung verstreuter Aufzeichnungen und fragmentarischer Abhandlungen«17 handelt, wird diesbezüglich vor allem auf Analysen von Ulrich Brand, Alex Demirovic und Mario Candeias zurückgegriffen. 1.1 Historisch-theoretische Einbettung des Hegemoniebegriffs Die Gefängnishefte Gramscis (GH) entstehen während der für zwanzig Jahre angesetzten Haftzeit des Autors, die er 1928 aufgrund der oppositionellen Tätigkeit gegen den einsetzenden Faschismus antreten muss. Gramscis theoretische Betrachtungen bilden sich zunächst vor dem Hintergrund der politischen Umbrüche der 1920er Jahre in Italien und Mitteleuropa. Sie entstehen aber auch in Auseinander-

12 Weiß, Ulrich (2004): »Ideologie/Ideologiekritik«. In: Nohlen, Dieter/Schultze, RainerOlaf (Hg.) (2004b): Lexikon der Politikwissenschaft; Bd. 2 (N-Z); Beck’sche Reihe; München; S. 333-334. 13 Euchner, Walter (1995): »Ideologie«. In: Nohlen 2004a: 192. 14 Eagleton, Terry (2000): Ideologie. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar, S. 136. 15 Marx 1948: 22. 16 Gramsci GH. 17 Merkens, Andreas/Diaz, Victor (Hg.) (2007): »Vorwort der Herausgeber«. In: Dies.: Mit Gramsci arbeiten. Texte zur politisch-praktischen Aneignung Antonio Gramscis. Argument Verlag, Hamburg, S.7-14, hier: 7.

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setzung mit der einsetzenden »passiven Revolution«18, der »Entstehung einer komplett neuen Produktions- und Lebensweise« im Zusammenhang mit dem aufkommenden Amerikanismus und der Massenproduktion des Fordismus.19 Die neue Produktionsweise flicht sich großteils unwidersprochen in das Leben der Menschen ein, es kommt zu einer allgemeinen Akzeptanz der veränderten Verhältnisse20, weshalb Gramsci die sogenannte ›Revolution‹ als »passiv« analysiert. Die passive Revolution ist zugleich aber auch »Restauration«, »bewahrt [sie doch] die bürgerliche Herrschaft nicht nur, sondern entwickelt«21 diese zugleich fort. Während der »Revolution ohne Revolution«22 widmet sich Gramsci der Frage, wie sich eine stille Neuordnung der Arbeits- und somit ebenso der zentralen Lebensverhältnisse der Menschen in der Gesellschaft vollziehen kann. Dies schließt freilich die Untersuchung der sich gegebenenfalls neu konstituierenden Macht, ihrer Akteure und Institutionen mit ein. Der Begriff Hegemonie geht zurück auf griechisch ἡγεµονία (hēgemonía) und trägt die Ursprungsbedeutung Heerführung, Oberbefehl, aber auch voran sein, führen und vorangehen. In der soziologischen, politologischen und philosophischen Literatur tritt der Begriff in unterschiedlicher Auslegung auf. Ausgehend von einem breiten Begriffsverständnis ist unter Hegemonie die Vorrangstellung, Dominanz bzw. Vorherrschaft einer Größe über eine oder mehrere andere Größen gemeint.23 Die Internationale Politikforschung24 versteht unter dem Begriff »die (militärische, wirtschaftliche, kulturelle etc.) Vorrangstellung oder Vorherrschaft eines Staates gegenüber einem anderen Staat oder mehreren anderen Staaten« 25 (Politlexikon). Die variable Fokuslegung des Begriffs lässt neben dem Staat auch Akteure, Institutionen oder eine Denkweise an Stelle der Vorherrschaft zu. Zunächst wird eine Ein-

18 Gramsci: GH 1: 102. 19 Der geschichtlichen Einbettung der Analyse Gramscis in die Zeit des Übergangs zur fordistischen Periode bewusst, ist die Anwendung des gramscischen Hegemonie-Begriffs aufgrund seiner »Fragestellungen, Verknüpfungen [und] Analyseweise« für die Analyse von Aspekten der zeitgenössischen Hegemonie »haltbar« (F.Haug 1998: 82). 20 Brand, Ulrich (2004): »Was ist eigentlich Hegemonie?«. In: Lexikon der Globalisierung. taz, 20.09.2004. http://www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig=2004/09/20/a0182 21 Candeias, Mario (2007): »Gramscianische Konstellationen. Hegemonie und die Durchsetzung neuer Produktions- und Lebensweisen«. In: Merkens/Diaz 2007:15-32, 17ff. 22 Candeias 2007: 17. 23 Duden (2014): »Hegemonie«. Onlinelexikon. http://www.duden.de/rechtschreibung/ Hegemonie 24 Link, Werner (2002): »Hegemonie und Gleichgewicht der Macht«. In: Ferdowsi, Mir A. (Hrsg.) (2002): Internationale Politik im 21. Jahrhundert. UTB, München, S. 33-57, 33. 25 Schubert, Klaus/Martina Klein (2006): Das Politiklexikon. 4. Aufl., Dietz, Bonn.

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schränkung auf eine »bestimmte Art von der politischen Vorherrschaft, die sich diskursiv konstituiert«26 vorgenommen. Drei Aspekte treten dabei hervor: das Politische, die Vorherrschaft und das Diskursive. Um also Vorherrschaft im Politischen zu erlangen, zu gestalten, oder zu durchbrechen, ist dem Abhängigkeitsverhältnis zum Diskursiven Rechnung zu tragen.27 Dieses diskursive Element des Hegemonieansatzes unterstreicht optimistisch die Verantwortlichkeit und Möglichkeit des Einzelnen in der gesellschaftlichen Machtveränderung mittels veränderter, ideologiekritischer, herrschaftsdestabilisierender oder aber auch herrschaftsreproduzierender Sprechakte. Zum diskursiven Aspekt entwerfen Ernesto Laclau und Chantal Mouffe28 einen Ansatz, der kulturelle Dominanz und ihr Gegenteil, die Schwächung von Dominanz im Hinblick auf ihr Verhältnis zu diskursiven Prozessen wie Schließung und Öffnung, erklärt. Der Fokus des Ansatzes liegt gemäß seiner poststrukturalistischen Verortung auf der Einsicht, dass Machtverhältnisse durch Diskurs konstruiert aber auch veränderbar sind. Die Durchbrechung der diskursiven Elemente wie die alternative Gestaltung und Kritik an Sprechakten und dahinterstehenden Denkweisen können emanzipatorischen Charakter verleihen.29 Hegemonie ist mit dem Diskursiven unmittelbar verknüpft, was nicht nur die wesentliche Rolle der Kommunikation im Allgemeinen sondern in heutigen Demokratien auch der medialen Öffentlichkeit im Speziellen miteinschließt. 1.2 Herrschaftsstabilisierung im Diskurs Veränderungen in der supraindividuellen, gesamtgesellschaftlichen Strukturierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse geschehen aufgrund ökonomisch-politischer Prozesse, die gestärkt, aufrechterhalten oder durchbrochen werden können durch die weitgehende allgemeine Akzeptanz oder Nicht-Akzeptanz der betroffenen, arbeitenden BürgerInnen. Im Hinblick auf die von Gramsci betonte passive Hinnahme von Positionen in der Revolution ohne Revolution bildet das von NoelleNeumann geschilderte Phänomen der »Schweigespirale« 30 ein wesentliches Ele-

26 Nonhoff, Martin (2006): Politischer Diskurs und Hegemonie. Das Projekt »soziale Marktwirtschaft«. Transcript, Erlangen-Nürnberg, 137. 27 Nonhoff 2006: 137 f. 28 Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal (Hg.) (2001): Hegemony and socialist strategy. Towards a radical democratic politics. Verso, London/New York. 29 Laclau /Mouffe 2001. Mouffe, Chantal (2005): The return of the political. Verso, London/New York. 30 Noelle-Neumann, Elisabeth (1980): Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung – unsere soziale Haut. Langen Müller, München.

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ment. Die passive Hinnahme kann durch das massenmedial verbreitete Bild einer konsensualen bzw. Mehrheitsmeinung gestärkt werden. Der vom Publikum rezipierte Konsens der Mehrheit kann zu einem Konformitätsdruck führen, der nach Noelle-Neumann tendenziell die Anpassung des Publikums an die vermeintliche Mehrheitsmeinung zur Folge hat. Durch die Schaffung von (vermeintlichem) Konsens in der Öffentlichkeit werden Machtverhältnisse etabliert/reproduziert und Interessen durchgesetzt: »Hinsichtlich der Konsenselemente wird Hegemonie verstanden als Fähigkeit der herrschenden Gruppen und Klassen, ihre Interessen dahin gehend durchzusetzen, dass sie von den zu beherrschenden Gruppen und Klassen als ihre eigenen (...) angesehen werden. Dabei erfolgt eine allgemeine Zustimmung nicht nur zu politischen Verhältnissen (Staat, Parteien, Öffentlichkeit), sondern wird zu einer umfassenden und alltäglichen materiellen Praxis in Betrieb, Schule oder Familie. Die bestehenden Verhältnisse werden weitgehend akzeptiert und damit gefestigt.«31

Die Einbeziehung der Konsenselemente ist im Hegemonie-Konzept Gramscis fundamental. Nicht nur gelingt es, die Interessen der zwar herrschenden aber sich oft auch in der Minderheit befindenden Gruppe als Interessen der (Mehrheit der) Allgemeinheit darzustellen. Zusätzlich werden die Interessen der Elite der Allgemeinheit als durchaus gewinnbringend und für alle erstrebenswert vermittelt. »Die subalternen Gruppen entwickeln [dann] ein echtes Interesse, erwarten reale Vorteile, die sich keineswegs auf eine Art Selbsttäuschung reduzieren lassen – sonst wäre die Hegemonie nicht stabil.«32 In der demokratischen Staatsform werden alle Konflikte, die in einer Gesellschaft ausverhandelt werden müssen – wie Klassen-, ethnische oder Wertekonflikte33, »über Kompromisse und gesellschaftliche Konsense im Sinne allseits geteilter Auffassungen über die grundlegende Entwicklungsrichtung der Gesellschaft«34 gelöst. »Das Staatsleben [ist dabei] (...) ein andauerndes Formieren und Überwinden von instabilen Gleichgewichten«35 und wird von der Politik und den »gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen in der Zivilgesellschaft und im Bereich privatkapitalistischer Produktion«36 gestaltet. Austragungsort dieses Kompromissfindungs- sowie gleicherweise Hegemonie-Bildungs-Prozesses ist die (mediale) Öffentlichkeit.

31 Brand 2004. 32 Candeias 2007: 19. 33 Brand 2004. 34 Brand/Scherrer 2003: 93. 35 Gramsci, GH 7: 1584. 36 Brand 2005: 10.

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1.3 Gesellschaftliches Forttragen herrschender Ideen Die Verortung von »Öffentlichkeit« ist komplex. Im »Netzwerk für Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen«37 werden divergierende Meinungen ständig ausverhandelt und stehen im »Aufmerksamkeitswettbewerb«38, in den Arenen der Öffentlichkeit39 werden Möglichkeitsspielräume von individuellen und kollektiven Akteuren, wie den politischen Organisationen, kommerziell orientierten Unternehmen, öffentlich-rechtlichen und privaten Medienorganisationen, zivilgesellschaftlichen Gruppen, der Multitude 40 und Wissenschaft, Religion und Kunst mittels Kommunikationsereignissen verhandelt. Alle Beteiligten sind in Anlehnung an Gramsci in zwei nicht-antagonistische sondern vielmehr verstrickte Blöcke zu teilen: den politischen und den geschichtlichen Block. Unter dem politischen Block werden »politisch herrschende Fraktionen und Klassen«41 verstanden, zu welchen »einflussreiche Kapitalgruppen, die Spitzen von Gewerkschaften und Verbänden sowie aus Medien und Wissenschaft als organische Intellektuelle und Populisatoren«42 zählen. Als »geschichtlicher Block« werden alle Träger von Hegemonie umfasst. Der Begriff weist darauf hin, dass potenziell alle an der Reproduktion von Herrschaft teilnehmen und jeweils beide Seiten der Gegensatzpaare »Herrschende – Beherrschte«, »Führende – Geführte«, »Repräsentanten – Repräsentierte« Teil des geschichtlichen Blocks sein können. Herrschaft konstituiert sich in dieser Logik im Wechselspiel von aktiver Machtausübung und deren Reproduktion sowie innerhalb der statischen Machtstrukturen und innerhalb der prozesshaften Elemente der stetigen Verhandlung von herrschaftsbildenden Elementen. Herrschaft wird so auch durch Unterlassung von Widerstand reproduziert – und geschichtlich manifestiert.43 Beispiel für das Fortragen eines Machtverhältnisses bildet die hegemoniale Verbreitung der Vorstellung, der Neoliberalismus sei die alternativlose, ökonomisch einzig effiziente politische Handlungsweise. Neoliberalismus wird verschie-

37 Habermas 1992a: 436 38 Donges, Patrick /Imhof, Kurt (2001): »Öffentlichkeit im Wandel«. In: Jarren/Bonfadelli, 2001: 101-133, hier: 126. 39 Imhof, Kurt (2006): »Medien und Öffentlichkeit«. fög discussion paper. fögForschungsbereich Öffentlichkeit und Gesellschaft, Zürich. 40 Hardt, Michael/Negri, Antonio (2004): Multitude. Krieg und Demokratie im Empire. Campus, Frankfurt/New York. 41 Candeias 2007: 20. 42 Ebenda. 43 Ebd.

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dentlich definiert, wie eine vortreffliche Studie von Boas/Gans-Morse 44 aufzeigt. Den verschiedenen Definitionen gemeinsam sind die Aspekte der Privatisierung staatlicher Zuständigkeiten, der Deregulierung des Markts/Kapitalverkehrs sowie der Rückgliederung der Staatsquote. Häufig synonym verwendet wird etwa Margret Thatchers Politik in Großbritannien oder das Programm des Washington Consensus.45 Gerald Sussmann, der in einer bemerkenswerten Analyse die hegemoniale Verbreitung der Idee der neoliberalen Demokratie nachzeichnet, versteht den Begriff Neoliberalismus diskursiv und definiert ihn als »top-down, supply-side discourse about generating wealth through networked centers and flows of capital and dismantling the New Deal social welfare orientation of the state.«46 Die neoliberale Politik, die Margret Thatcher ausübte, wurde als alternativlos gekennzeichnet und verbreitete sich hegemonial.47 Bezugnehmend auf die Politik Thatchers entstand das geflügelte Wort des There-is-no-Alternative-Prinzips 48 (»TINA-Prinzip«), das die Alternativlosigkeit einer Handlungsweise konstatiert und offenbar von Pierre Bourdieu polemisch geprägt wurde.49 Im Jahr 2011 wurde übrigens der Begriff »alternativlos« wohl in Anlehnung an die Anwendung des TINA-Prinzips zum Unwort des Jahres in Deutschland gewählt.50

44 Boas, Taylor C./Gans-Morse, Jordan (2009): »Neoliberalism: From New Liberal Philosophy to Anti-Liberal Slogan«. In: Studies in Comparative International Development. 44, Nr. 2, S. 137–161. 45 Ingham, Geoffrey (2006): »Neoliberalism«. In: Turner, Bryan (Hrsg.): Cambridge Dictionary of Sociology. Cambridge University Press, Cambridge. 46 Sussmann, Gerald (2010): Branding Democracy. U.S. Regime Change in Post-Soviet Eastern Europe. Peter Lang, New York, S. 7. 47 Nordmann, Jürgen (2005): Der lange Marsch zum Neoliberalismus. VSA, Hamburg, S. 17. 48 Nachtwey, Oliver (2002): »Die globalisierte Revolte.« In: Buchholz /Karrass /Nachtwey 2002: 1–10. 49 Bourdieu zitiert nach: Brand, Ulrich/Lösch, Bettina/Thimmel, Stefan (2007): »Vorwort«. In: Dies. (Hrsg): ABC der Alternativen. In Kooperation mit Attac, der Rosa Luxemburg Stiftung und der tageszeitung. VSA, Onlineausgabe: http://www.rosalux.de/publication/ 24499/abc-der-alternativen.html 50 SpiegelOnline (2011a): Sprachkritik: «Alternativlos« ist das Unwort des Jahres. O.A. 18.11.2011.

http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/sprachkritik-alternativlos-ist-das-

unwort-des-jahres-a-740096.html [14.12.2014]

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1.4 Einbeziehung widerständischer Forderungen Zur Konsensfindung werden in Demokratien oppositionelle und alternative Interessen miteinbezogen. Ausschlaggebend zur Evaluation des Kompromisses ist allerdings der Grad der Einbeziehung von Forderungen von Zivilgesellschaft, Subalternen oder durch mangelndes soziales Kapital nicht im Diskurs einbezogenen Gruppen und unorganisierten Einzelpersonen. 51 Zwar werden elitenferne Forderungen beachtet, der Anteil ist aber tendenziell marginal, denn obwohl herrschende Ideen häufig einen Anteil ihrer Verhandlungsposition zugunsten der kompromisshaften Einbeziehung abweichender Vorstellungen opfern müssen, »besteht« nach Grasmsci »auch kein Zweifel, dass solche Opfer und ein solcher Kompromiss nicht das Wesentliche betreffen können.«52 Die graduell unterschiedliche Einbeziehung widerständischer Forderungen lässt je nach Fall eine Interpretation zwischen Kompromiss und Usurpation des Widerstandes zu. Das Kapitel der Rekuperation von Protest beschäftigt sich näher mit einer Seite dieses Phänomen. Zusammenfassend kann vor dem Hintergrund Gramscis Beobachtungen die potenzielle Mitbeteiligung aller Mitglieder der Gesellschaft an der Herrschaftsreproduktion angenommen werden, denn diese geschieht über Sprechakte, welche ihrerseits Träger der (ideologischen) Interpretation einer Sachlage sind. Die herrschenden Kräfte innerhalb einer Gesellschaft geben das Terrain der Auseinandersetzung um Hegemonie vor, wobei der politische Block über institutionelle und diskursive Einflussmöglichkeiten verfügt, die den Verhandlungen um einen Kompromiss in der Öffentlichkeit53 mit der Zivilgesellschaft zumindest eine Richtung vorgeben können.54 Liegt ein Konsens der Elite vor, übernimmt ihn die Berichterstattung tendenziell. Die mediale Berichterstattung kann zur Hegemoniereproduktion beitragen, indem Diskurse eröffnet oder einzelne Aspekte unter (strategischem) Einsetzen der Schweigespirale verschwiegen und Diskurse verhindert bzw. die Schwerpunktsetzung betreffend umgelenkt werden. Die Wortwahl und das mediale Framing beeinflussen Deutung und Bewertung einer Sachlage.

51 Brand 2007 18-22. 52 Gramsci, GH 7: 1567. 53 Imhof 2008. 54 Brand 2005: 10.

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2. Ö FFENTLICHKEIT ALS F ORUM POLITISCHER P ARTIZIPATION »Eine Öffentlichkeit, von der angebbare Gruppen eo ipso ausgeschlossen wären, ist nicht etwa nur unvollständig, sie ist vielmehr gar keine Öffentlichkeit.« JÜRGEN HABERMAS/STRUKTURWANDEL DER ÖFFENTLICHKEIT

In seiner Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit entfaltet Jürgen Habermas in der Tradition der Frankfurter Schule ein kritisch-normatives 55 Modell der modernen Öffentlichkeit mit realhistorisch-theoriegeschichtlicher Orientierung. Zentral ist dabei die emanzipatorische und der Aufklärung verpflichtete »Verwirklichung des guten Lebens, das für alle neben der Garantie der materiellen Existenz die Möglichkeit einer freien Persönlichkeitsentfaltung verbürgt«56. Im Fokus steht Sprache als Mittel der Verständigung und als Ausdruck der Realitätserfahrung. Mit transportierten Mustern und Strukturen nimmt sie Einfluss auf die Realitätserfahrung der sozialen und historischen Wirklichkeit, denn nur mit der gemeinsamen sprachlichen Verständigung ist die Beurteilung derselben möglich. Sprache eröffnet einen gemeinsamen Raum, in welchem Ängste, Hoffnungen und Ansprüche im Miteinander geteilt werden können und der einen Ausgangspunkt zu deren Verwirklichung bildet. Der Raum der Sprache, der Diskurs, gilt als Voraussetzung, um der Wahrheit näher zu kommen – sofern dies in »unverzerrter, ›herrschaftsfreier‹ Kommunikation« 57 geschieht. In seiner Öffentlichkeitstheorie beschreibt, erklärt und misst Habermas historisch gewachsene Prozesse an ihren (oft verpassten) Möglichkeiten. Das Ideal ist »das geglückte, gute Leben, das immer wieder versprochen und erstrebt, [allerdings aber] noch nie erreicht wurde.«58 Eine ideale Kommunikationsgemeinschaft wäre eine, die sich der »kooperativen Wahrheitssuche« verpflichtet, keinem Zwang unterliegt und sich von ideologischen Verzerrungen frei gemacht hat, denn sie kann im »Konsensus einen ›vernünftigen Willen‹«59 entwickeln. Der vernünftige Wille

55 Schicha, Christian (2003): »Kritische Medientheorien.« In: Weber, Stefan (Hrsg.): Theorien der Medien. Von der Kulturkritik bis zum Konstruktivismus, Konstanz, S. 109-127, 118. 56 Braun, Eberhard/Heine, Felix/Opolka, Uwe (2002): »Jürgen Habermas: Theorie und Praxis«. In: Dies. (Hrsg): 329 – 342, hier: 329. 57 Preglau, Max (1993): »Kritische Theorie: Jürgen Habermas». In: Morel et al.1993: 195 – 214, hier: S. 200. 58 Ebenda: 330. 59 Habermas, Jürgen (1973): Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Suhrkamp, Frankfurt am Main, S. 148.

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ist täuschungsfrei und vertritt ein gemeinsames Interesse, in dem sich die Einzelnen wiedererkennen. Als Konsens sollen nur gemeinsame »verallgemeinerungsfähige Interessen« ermöglicht werden, die aus den »Bedürfnissen, die kommunikativ geteilt [werden]«60, hervorgehen. Auf dieser Grundlage analysiert Habermas die Entstehung und den Zerfall der »liberalen Öffentlichkeit«61. In seiner Untersuchung des geschichtlichen, soziologischen und philosophischen Entwicklungsprozesses in England, Frankreich und Deutschland betont Habermas den Widerspruch zwischen einerseits der »Fiktion einer Herrschaft auflösenden diskursiven Willensbildung[, die] zum ersten Mal im politischen System des bürgerlichen Rechtsstaates wirksam institutionalisiert worden« ist, und andererseits der »Unvereinbarkeit der Imperative des kapitalistischen Wirtschaftssystems mit Forderungen eines demokratisierten Willensprozess«62. 2.1 Historische Entwicklung Ab dem 15. Jahrhundert zeichnet sich eine tendenzielle Loslösung von der repräsentativen Öffentlichkeit ab, in welcher die staatliche Sphäre sich in Verwaltung und Heer manifestierte und das adressierte Publikum der öffentlichen Gewalt aus betroffenen Untertanen bestand. In den folgenden drei Jahrhunderten etablierte sich eine literarische öffentliche Sphäre: In Salons und Kaffeehäusern begannen Privatleute über Musik, Literatur, Kunst und alles, was seit dem 16. Jahrhundert in der Druckpresse veröffentlicht wurde, zu diskutieren. Der Zugang zu dieser neuen sozialen Interaktion gestaltete sich offen, die Beteiligten verstanden sich als ebenbürtig: »Die diskutablen Fragen werden allgemein nicht nur im Sinne ihrer Bedeutsamkeit, sondern auch der Zugänglichkeit: alle müssen dazugehören können«63. Die kritische Beleuchtung ästhetischer Fragen hatte die Ausweitung der Kritik zu der Infragestellung der gesellschaftlichen Organisation zur Folge, Argumente und Normen wurden fortan der diskursiven Prüfung unterzogen. In diesem Moment findet sich der bei Habermas ausschlaggebende Schritt für die Liberalisierung der Öffentlichkeit: Das Publikum erlangte durch die Diskussionen und Lesezirkel der Kaffeehäuser jenes Selbstbewusstsein, das sie zur Einforderung von Mitgestaltung bei rechtlichen und politischen Entscheidungen veranlasste. Die »Ideen …, die auf

60 Habermas 1973: 148 f. 61 Habermas (1982): Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien. 3. Aufl., Frankfurt am Main, S. 11ff. 62 Habermas 1982: 11ff. 63 Habermas 1990: 98.

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dem Boden kleinfamiliärer Identität gewachsen sind«64, werden in den neugestalteten Institutionen und Diskussionsforen der literarischen Öffentlichkeit debattiert. Der Staat wurde als rechtmäßiger Ausführer der öffentlichen Meinung begriffen, die königliche Macht kritisiert und in Frage gestellt. Hervor ging die Erkenntnis, die Legitimität der Macht solle fortan nicht mehr der königlichen Autorität zustehen, sondern aus der öffentlichen Meinung hervorgehen. Im 19. Jahrhundert übersiedelt der Ort des Diskurses über gesellschaftliche Fragen von der persönlichen in die mediale Kommunikation, in gedruckte Zeitschriften. 65 Habermas befürchtet darin zunächst einen Qualitätsverlust der politischen Diskussion aufgrund von medialer Vereinfachung und Inszenierung – eine Diagnose, die auch von der Kritischen Theorie, insbesondere in den von Horkheimer und Adorno erörterten Entwicklungen der Kulturindustrie66, gestellt wird. Seine pessimistische Sichtweise revidierte Habermas später, als er doch auf das kritische Potenzial und das differenzierte Denken der BürgerInnen hinweist.67 2.2 Kommunikative Macht zur Bildung des gemeinsamen Willens Die historisch entstandene Notwendigkeit öffentlicher Diskurse »für die Erzeugung legitimen Rechts« 68 und des Rechtsstaates in der politischen Praxis ist Kernpunkt des Habermas’schen Öffentlichkeitsmodells. Öffentlichkeit lässt sich dabei »am ehesten als ein Netzwerk für die Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen, also von Meinungen beschreiben; dabei werden die Kommunikationsflüsse so gefiltert und synthetisiert, dass sie sich zu themenspezifisch gebündelten öffentlichen 69 Meinungen verdichten.« Das beste Argument gilt als entscheidend, wozu grundlegend »die kommunikativen Freiheiten der Bürger mobilisiert werden«70 müssen. Das auf Hannah Arendt beruhende Konzept »kommunikativer Macht« 71 versteht Habermas als »das Potenzial eines in zwangloser Kommunikation gebildeten

64 Habermas 1990: 116. 65 Habermas 1990: 118 – 121. 66 Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W. (2006): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. 16. Aufl., Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 67 Habermas 1990: Vorwort der Neuauflage. 68 Habermas, Jürgen (1992): Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, S. 182. (Im Folgenden: FG) 69 Habermas, Jürgen (1992a): »Zur Rolle von Zivilgesellschaft und politischer Öffentlichkeit«. In: Ders., FG: 399-468, hier: 436. 70 Habermas, FG: 182. 71 Høibraaten, Helge (2001): »Kommunikative und sanktionsgestüzte Macht bei Jürgen Habermas, mit einem Seitenblick auf Hannah Arendt». In: Neumann 2001.

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gemeinsamen Willens«72, denn nach Arendt ist Macht nicht statisch, sondern ergibt sich dynamisch aus dem Zusammenschluss von Menschen, die dem »consent of the governed«73 zustimmen. Der Konsens der Regierten »verdank[t] sich ausschließlich einer Macht, die nur in ihrem öffentlichen Gebrauch besteh[t] und der eine revolutionäre Kraft zur Neubegründung des politischen Gemeinwesens innewohn[t].«74 Macht, die einst im Zusammenschluss von Subjekten in ein Kollektiv entstanden ist, schwindet demnach im Zerbröckeln desselben.75 Die politischen Institutionen als »Manifestationen und Materialisationen der Macht (...) erstarren und verfallen, sobald die lebendige Macht des Volkes nicht mehr hinter ihnen steht und sie stützt.«76 Inwieweit ist es allerdings Protestkollektiven und der Zivilgesellschaft möglich, über die Öffentlichkeit den Gesetzgebungsprozess zu beeinflussen? Dazu wird das politische System an Arendts Konzept anknüpfend als Zusammenspiel von Zentrum und Peripherie betrachtet, wobei im Zentrum Verwaltung, Regierung, Gerichtswesen und die Parlamentarischen Institutionen sowie an sie angeschlossen Institutionen wie Universitäten, Kammern u.a. stehen, und die Peripherie die Öffentlichkeit und die Zivilgesellschaft bilden. Die Zivilgesellschaft ist als Netzwerk verbandsförmig organisiert und bildet sich aus »Vereinigungen, Organisationen und Bewegungen (…), welche die Resonanz, die die gesellschaftlichen Problemlagen in den privaten Lebensbereichen finden, aufnehmen, kondensieren, und lautverstärkend an die Öffentlichkeit weiterleiten.«77 Ihre Hauptaufgabe ist das Führen von Diskursen mittels veranstalteter Öffentlichkeiten, die zur Problemlösung von »Fragen allgemeinen Interesses« 78 beitragen. Öffentlichkeit orientiert sich in diesem Bedeutungszusammenhang am allgemeinen Interesse, dem Gemeinwohl. So ist Öffentlichkeit ist nicht ohne Einschränkungen verstehbar, besonders aufgrund zweier Aspekte: (1) Dem freien Meinungsaustausch liegt das Modell des Waren- und Geldtauschs zugrunde, das in der bürgerlichen Gesellschaft bisher ein Ungleichgewicht der Argumente impliziert, außerdem schränken (2) »Mittel uneingeschränkter Kommunikation die Entwicklung kritischer, vernünftiger Argumentation ein [und machen sie] zunehmend un-

72 Habermas, FG: 183. 73 Arendt 1972: 140. 74 Brunkhorst, Hauke (2007): »Macht und Verfassung im Werk Hannah Arendts«. HannahArendt.net. Zeitschrift für politisches Denken, Ausg. 1, Band 3, Mai 2007. http://www. hannaharendt.net/index.php/han/article/view/110/186 75 Habermas, FG, 182. 76 Arendt 1972: 140. 77 Braun et al. 2002: 332. 78 Ebenda.

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möglich (...), da sie über indirekte Bewusstseinsformung kommerziell produzierter Information kritische Inhalte einschränken und in ihrer Wirksamkeit blockieren.«79 2.3 Ausgestaltung in der Moderne Öffentlichkeit ist in ihrem Idealtypus ein Marktplatz divergierender Meinungen.80 In einem modern und demokratisch strukturierten Gesellschaftssystem sind im Sinne Kants die BürgerInnen AutorInnen der Gesetze und ArchitektInnen der Institutionen. Dies verlangt den stetigen Austausch und die Verhandlung über Geltungsbereiche. Innerhalb des gesetzten Rahmens arbeitet das Handlungssystem Politik und soll in der Lage sein, anfallende Probleme zu ordnen und zu lösen. In seiner Theorie der Öffentlichkeit als Theorie der Moderne81 misst Kurt Imhof nach einer deskriptiven Aufschlüsselung aufbauend auf dem Öffentlichkeitsverständnis Habermas‹ den politischen Entscheidungsprozess an den Normen, welche das politische System gemäß seinem demokratischen Selbstanspruch erfüllen könnte. Essentiell sind dabei die Öffentlichkeit und die die Mittlerfunktion ausfüllenden Medien, die allerdings gegenwärtig einem Strukturwandel (Habermas) und einen Medialisierungseffekt (Imhof) durchleben. »Im Kern handelt es sich bei[m gegenwärtig auftretenden Strukturwandel] um die Deregulation der keynesianisch orientierten, neokorporativen Integration von Politik und Wirtschaft hin zu einem ökonomisch argumentierenden Antietatisms im Steuer- und Standortwettbewerb und in diesem Kontext um die Deregulation der Medien von ihren politischen und sozialen Bindungen.«82

Die Aushandlung der Entscheidungen bzw. – mit Habermas – der Diskurs geschieht auf Mikroebene im permanenten Ausgestalten der sozialen Strukturen mittels Kommunikationsakten, auf Makroebene ist dieser Handelsplatz der Kommunikationsakte in einer sich stetig wandelnden globalisierten Welt anzusiedeln, wo dauernde Reaktionen auf Entwicklungen aufblitzen und notwendig sind. Zur Ausverhandlung des Politischen sowohl auf Mikro- als auch auf Makroebene ist Öffentlichkeit notwendig. Dabei ist von drei Dimensionen der Öffentlichkeit, welche auf den Menschen- und BürgerInnenrechten als Grundlage der modernen Gesellschaft aufbauen, zu sprechen: (1) die deliberative Dimension erfüllt den Rationalitätsanspruch demokratischer Systeme und bildet den Entdeckungs- und Validierungszu-

79 Braun et al. 2002: 332. 80 Imhof 2008. 81 Imhof 2008: 65-89. 82 Imhof 2008: 83.

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sammenhang von Problematisierungen, (2) die politisch-rechtliche Dimension erfüllt den Legitimitätsanspruch von Demokratien und umfasst die Legitimation politischer Macht, die auf verfahrensregulierter politischer Entscheidungsfindung basiert, und (3) die sozialintegrative Dimension, die den Integrationsanspruch demokratischer Systeme erfüllt und Konstitution des Souveräns sowie die Etablierung von Checks and Balances miteinbezieht. Als solche ist die sozialintegrative Dimension zuständig für die Erhaltung von für Demokratien unumgängliche Loyalitätsdispositionen.83 Wird der politische Entscheidungsfindungsprozess unter Berücksichtigung der drei Dimensionen mithilfe des systemtheoretischen Black-Box-Modells betrachtet und der Fokus auf Öffentlichkeit und Medien gelegt, so lässt sich für die Prozesse der Entscheidungsfindung folgendes festhalten: Zunächst wird die gezielte kausale Beeinflussung ausgeschlossen, denn die internen Prozesse werden als sich selbst organisierende Komplexität angenommen.84 Im Input können unter Einbeziehung der Normen und Werte der Aufklärung und ausgehend vom menschenrechtlichen Gleichheitsprinzip die drei Dimension der Öffentlichkeit konsequenterweise nur dann zu ihrem Recht kommen, wenn die Gestaltung der Öffentlichkeit alle Gesellschaftsmitglieder inkludiert, und ihnen das gleiche Recht zu partizipieren gegeben ist. Auf der Throughput-Ebene werden Abhängigkeitsverhältnisse von Zivilgesellschaft, Medien und Politik und die Durchlässigkeit von Kommunikationsflüssen geprüft. Der Kommunikationsweg muss sowohl auf seine Funktionstüchtigkeit im Bottom-Up- als auch im Top-Down-Verfahren validiert werden. Ausschlaggebend ist die Durchlässigkeit von Ideen, Kritikpunkten oder Assoziationen, die von den zivilgesellschaftlichen Gruppen bzw. der Multidude85 geäußert werden, welche bestenfalls unverändert über die medienvermittelte Kommunikation in den deliberativen Kern des politischen Systems, das Parlament gelangen. Die Output-Ebene muss gewährleisten, dass die Problemlösungen, die aus Deliberation des Parlaments und aus Öffentlichkeit und Medien erwachsen, möglichst nahe der öffentlichen Meinung ausfallen, wobei die öffentliche Meinung verstanden wird als Ergebnis freier Meinungsbildung, an der sich potenziell alle StaatsbürgerInnen beteiligen können. Bedeutsam ist, dass der Zivilgesellschaft die Möglichkeit offensteht, die Deliberation des politischen Systems etwa über mediale Resonanz unterbrechen und diese bspw. zu reevaluieren zu können.

83 Imhof 2008. 84 Luhmann, Niklas (2006): Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. 12. Aufl., Suhrkamp, Frankfurt am Main. 85 Hardt/Negri 2004.

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Protestgruppen aktivieren die Kommunikation im besten Fall soweit, dass die Input-Schwelle zum politischen System überwunden wird. Innerhalb der Kommunikationsflüsse der Deliberation gibt es verschiedene Ansichten von gutem und gerechtem Leben, die Öffentlichkeit nimmt zur Disposition gestellte Konflikte auf und reflektiert sie. Die Gewinnung von Aufmerksamkeit ist dabei entscheidend, denn Problematisierungen mit viel Aufmerksamkeit bilden eine Einflussnahme auf die politische Entscheidungsebene, die ihrerseits die Prozessroutinen unterbricht und sich mit dem neuen Konflikt auseinandersetzt. Dieser Prozess kann die Umwandlung von Aufmerksamkeit in Definitionsmacht, und von Definitionsmacht in politische Macht bedeuten. Die Anliegen der Zivilgesellschaft als auch die Deliberation im Parlament unterliegen erhöhter Aufmerksamkeit – die Medien als Mittler zwischen Politik und Gesellschaft widmen sich insbesondere der parlamentarischen Auseinandersetzung. Medien nehmen als vierte Säule im politischen System eine Mittler- und Kontrollfunktion ein, gleichzeitig zeigen sie (zivilgesellschaftliche) Meinungslandschaften auf, welche sich zum vorliegenden Konflikt konstituiert haben und fungieren also auch Bottom-Up-Lieferanten. 2.4 Strukturwandel von Gesellschaft, Öffentlichkeit und Medien »[In der Postdemokratie werden] zwar nach wie vor Wahlen abgehalten, Wahlen, die sogar dazu führen, dass Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben.« COLIN CROUCH/POSTDEMOKRATIE

Öffentlichkeit setzt sich als das Netzwerk von Kommunikationsflüssen aus verschiedenen Arenen zusammen, die die Möglichkeitsspielräume von individuellen und kollektiven Akteuren wie Parteien, Verbänden, Nichtregierungsorganisationen vorgeben. Das Netzwerk wird von etablierten Kommunikationszentren der zentralen Handlungssysteme Politik, Ökonomie und Medien, sowie der nicht-etablierten Organisationen wie den zivilgesellschaftlichen Akteuren u.a. generiert, die mit stetig eintretenden Kommunikationsereignissen um Aufmerksamkeit buhlen. Einzelne Teilsysteme des Netzwerks lancieren bewusstes Agenda-Setting bzw. AgendaBuilding, was unter stetiger systemischer Reflexion und Selbstreflexion stattfindet, und mit provozierter Anschlusskommunikation das Netzwerk dynamisch hält.

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An der öffentlichen Kommunikation sind v.a. folgende Akteure beteiligt: (a) politische Organisationen, die sich mit ihren Kommunikationsflüsse an die (national begrenzte) potenzielle Wählerschaft richten; (b) kommerziell orientierte Unternehmen, die meist mit gewinnorientierten Vorsätzen auf Teilsysteme wie KapitaleignerInnen, AnalystInnen, MitarbeiterInnen, KonsumentInnen und PolitikerInnen abzielen; (c) öffentlich-rechtliche und private Medienorganisation, die sich nach Ablösung von der parteigebundenen Presse der Nachkriegsjahre gegenwärtig an das Publikum und potenzielle Anzeigenkundschaft wendet.86 Von zentraler Bedeutung für Perioden der Aktivierung der öffentlichen Kommunikation sind auch (d) zivilgesellschaftliche Akteure, denn sie tragen zur Problematisierung im öffentlichen Diskurs bei und überschreiten die Schwelle des Inputs. Die Einflüsse von (e) Wissenschaft, Religion und Kunst äußern sich in dispersen Weltsichten, sie bilden, reflektieren und evaluieren Normen und Werte. Die theoretische Betrachtung nicht organisierter BürgerInnen und ihre Rolle in (den Arenen) der Öffentlichkeit erfordert weitere wissenschaftliche Aufarbeitung. Gesellschaft, Öffentlichkeit und Medien durchleben einen Strukturwandel, der sich in der »Auflösung des Vermachtungszusammenhangs von Staat, Parteien und organisierten Privatinteressen im neuen neoliberalen Wirtschaft- und Gesellschaftmo87 dell« manifestiert, und wovon alle die Arenen und Akteure der Öffentlichkeit betroffen sind. Eines der prägenden Kennzeichen ist die Medialisierung (auch: Mediatisierung), die alle beteiligten Sphären des politischen Prozesses betreffen, Medien und Öffentlichkeit genauso wie Zivilgesellschaft, Politik, Wirtschaft etc.88 Die Medialisierung meint die Anpassung der Handlungen an eine medienkonforme, telewirksame Praxis, die sich in der Ausrichtung in Zeitraum und Ort von politischen Veranstaltungen, in der Dauer politischer Reden oder in der strategischen Auswahl telewirksamer extremer Protestaktionen äußert.89 Im Folgenden wird (1) nach einer Betrachtung der durch die Globalisierung induzierten gesamtgesellschaftlichen Veränderungen (2) auf demokratietheoretischer Ebene der Übergang von der Demokratie in die »Postdemokratie« mit Referenz auf

86 Ebenda. 87 Imhof 2008: 78 ff. 88 Kepplinger, Hans Mathias/Maurer, Marcus (2005): Abschied vom rationalen Wähler. Warum Wahlen im Fernsehen entschieden werden. Freiburg/München. 89 Krotz, Friedrich (2001): Die Mediatisierung des kommunikativen Handelns. Der Wandel von Alltag und sozialen Beziehungen, Kultur und Gesellschaft durch die Medien. Westdeutscher Verlag, Opladen. Sarcinelli, Ulrich (2002): »Mediatisierung«. In: Jarren et al. 2002: 678.

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Colin Crouch besprochen, um darauf aufbauend (3) die von Imhof postulierte Medialisierung zu diskutieren. 2.4.1 Globalisierung der Handlungswelt Während der vergangenen Jahre wurden im Zuge der Globalisierung die traditionellen Grenzen der Nationalstaaten in ökonomischer, sozialer, kultureller und politischer Hinsicht durchbrochen.90 Politisch und wirtschaftlich geschieht dies mit der fortschreitenden Bündnisbildung, wie der Europäischen Union oder dem General Agreement on Tariffs and Trade (GATT). Resultat dieser supranationalen Zusammenschlüsse ist eine bereichsgebundene Kompetenzverschiebung weg vom Nationalstaat hin zum Staaten- oder Wirtschafts-Bündnis. Folgende Globalisierungsentwicklungen sind zu beobachten: •

• • •





Die internationale Zusammenarbeit auf verschiedenen Feldern ist mitunter begründet mit dem Einbruch politischer und ideologischer Grenzen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Unternehmen agieren multinational und heben somit die Wirtschaft auf eine überstaatliche Ebene. Die globale ökonomische Verknüpfung fördert die Kooperation der Nationalstaaten im internationalen Handlungsraum – fernab von nationalen Territorien. Lokaler und globaler Raum werden immer häufiger zu Teilen einer Verflechtung, durch gegenseitige Abhängigkeiten ist ein isoliertes Agieren kaum mehr möglich. Kommunikationstechnologien wie Internet oder Mobilfunk schaffen ein Netz weltweiten Informationsaustausches und ermöglichen die globale Kommunikation über lokale, nationale oder internationale Problemlagen. Die zwischenmenschliche Distanz verringert sich nicht nur durch neue Kommunikationsmöglichkeiten, sondern auch durch die wachsende Mobilität der Menschen. Die Aufrechterhaltung von Wechselbeziehungen zwischen unterschiedlichen Kulturkreisen wird vereinfacht.91

Im Zusammenspiel mit den durch die Globalisierung herbeigeführten Entwicklungen tritt im institutionellen Bereich ein Transnationalismus auf, d.h. »Zugehörigkeitsgefühle, kulturelle Gemeinsamkeiten, Kommunikationsverflechtungen, Arbeitszusammenhänge und alltägliche Lebenspraxis sowie die hierauf bezogenen gesellschaftlichen Ordnungen und Regulierungen, die [überschreiten nun] die 90 Pries, Ludger (2002): »Transnationalisierung der sozialen Welt?« In: Berliner Journal für Soziologie; Heft 2; S. 263-272; 266. 91 Roth, Roland (2001): »NGO und transnationale soziale Bewegungen. Akteure einer ›Weltzivilgesellschaft‹?« In: Brand/Demirovic/Görg 2001: 43-63, 45.

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Grenzen von Nationalstaaten.« 92 Während der Nationalstaat immer mehr in den Hintergrund gedrängt wird, werden nun zwei Handlungsebenen in ihrer Bedeutung aufgewertet: das Übernationale und das Lokale.93 Regierungen sind genauso wie ökonomische Akteure und nationale BürgerInnen auf verschiedene Arten mit Veränderungen im ökonomischen und politischen Handeln konfrontiert, die aus der Etablierung von transnationalen Institutionen hervorgehen oder in die Errichtung ebensolcher transnationalen Institutionen münden. So sucht das transnationale Abkommen GATT neben dem Güter- auch den Dienstleistungshandel und die ökonomischen Anteile der geistigen Eigentumsrechte zu regulieren, zusätzlich regelt es Aspekte des Agrar- und Textilhandels u.a. 94 Die Welthandelsorganisation WTO, die aus dem GATT hervorging, nimmt als multilaterales Handelssystem den Nationalstaaten Kompetenzen ab, und kann so einzelne nationalstaatliche Regierungen dazu bringen, ihre »Handelspolitik im Rahmen der vereinbarten Grenzen zu entwickeln.«95 Die demokratische Partizipation betreffend sind übernationale Abkommen zu bedenken, die über mehrere Legislaturperioden hinausgehen und nicht potenziell nach einer Regierungsneuwahl reevaluiert oder außer Kraft gesetzt werden können. 2.4.2 Postdemokratische Tendenzen Die Konsequenzen der Transnationalisierung manifestieren sich auf der Entscheidungsebene in Verflechtungen von nationalen, supranationalen, intergouvernementalen und subnationalen Akteuren, die ein verstricktes Netzwerk funktionaler Differenzierung bilden, das als Multilevel-Governance-System bezeichnet wird. Die Europäische Union gilt als Vorzeigemodell der Multilevel Governance. Kennzeichen ist eine Umschichtung und Verlagerung der Kompetenzen des Nationalstaats in Richtung überstaatlicher Instanz. Transnationalisierung und Multilevel Governance bringen für Demokratien folgende Entwicklungen mit sich: Überstaatliche Instanzen, seien sie politisch oder ökonomisch, liegen oft (noch) außerhalb der (direkten) politischen Partizipation; mit dem Einflussverlust des Nationalstaats kann ein Demokratiedefizit zutage gefördert werden. 96 So docken ökonomisch-politische Institutionen wie WTO und 92 Pries 2002: 266. 93 Ebenda. 94 Lal Das, Bhagirath (2004): The WTO and the Multilateral Trading System: Past, Present and Future. Zed Books Ltd; o.O. 95 Socialinfo (2012): Wörterbuch der Sozialpolitik: http://www.socialinfo.ch/cgi-bin/ dicopossode/show.cfm?id=731 am 18.8.2014. 96 Schade, Juliette (2002): »›Zivilgesellschaft‹ – eine vielschichtige Debatte«; INEF-Report; Institut für Entwicklung und Frieden der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg; Heft 59/2002; S. 31-45, 31ff.

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GATT auf globaler oder quasi-globaler Ebene mit ihren Entscheidungen direkt im lokalen Lebensraum an. Diese »sehr dauerhafte[n], massive[n] und strukturierte[n] bzw. Institutionalisierte[n] Beziehungen« existieren »pluri-lokal über nationalgesellschaftliche Grenzen hinweg«97, gibt Pries zu bedenken. Einige Abkommen werden fern der direkten Mitbestimmung der Betroffenen vereinabrt und sind in ihrem Bestand über eine Legislaturperiode hinaus angelegt. Die Vermengung des Globalen und Lokalen in Form transnationaler Abkommen ohne ausgereifte Partizipationsmöglichkeiten ermöglicht Eingriffe in lokale Verhältnisse ohne Mitentscheidung der lokalen Bevölkerung. Dass dies problematisch ist, scheint teilweise auf der Entscheidungsebene angekommen zu sein, so wurde etwa im Lissabon-Vertrag der Europäischen Union vermehrt auf Partizipation fokussiert und erstmals der Austritt für Mitgliedstaaten aus der EU möglich gemacht. Vor dem Hintergrund der globalen Verschiebungen der politischen Entscheidungsebenen weist der britische Soziologe Colin Crouch auf das Auftreten der Postdemokratie, als neues, gegenwärtiges Phänomen hin. Das zentrale Moment des Gemeinwesens Postdemokratie bildet der Widerspruch zwischen funktionierenden demokratischen Institutionen und nicht-funktionierender demokratischer Öffentlichkeit. Die politische Agenda verliert an Kraft und wird durch Manipulationen des demokratischen Politikprozesses von ökonomischen Interessen kontrolliert, welche von professionellen PR-Experten als Spektakel präsentiert werden. 98 Wenngleich die Forderung nach einer Ausweitung demokratischer Checks and Balances in transnationalen Bündnissen bestehen bleibt, so betont Crouch eine augenfällige Entwicklung innerhalb existierender demokratischer (etwa nationaler) Bündnisse: »Die Mehrheit der Bürger spielt [in der Postdemokraite] eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.«99

Die Abweichung zum bisher zwar nie real in Erscheinung getretenen Idealtypus der Demokratie ist der Postdemokratie noch größer als in bereits real bestehenden Demokratien. Zwar wird gerade die Ermangelung des Auftretens einer fehlerlosen realen Demokratie als Hauptkritikpunkt gegen das Konzept der Postdemokratie einge-

97 Pries 2002: 267. 98 Crouch, Colin (2012): Interview mit Martin Eiermann. In: Eiermann, Martin (2012): »We are the classic free riders«. In: The European Magazine, 26.3.2012. http://www. theeuropean-magazine.com/613-crouch-colin/614-post-democracy vom 1.1.2015. 99 Crouch, Colin (2008): Postdemokratie, Suhrkamp, Frankfurt am Main, S. 10

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wandt.100 Dem entgegenzuhalten ist aber der normative Anspruch für Demokratien, den Crouch als Maßstab für seine Analyse setzt. Als Eckpfeiler der Demokratie werden angenommen: • • • • • •

die Existenz eines politischen Prozesses, der in die Durchsetzung und Ratifizierung von Vorschlägen mündet; die Gestaltung des politischen Prozesses durch eine große Anzahl von Personen; die Führung inhaltlich offener politischer Diskurse, in die von allen Beteiligten aktiv Bedürfnisse eingebracht werden sollen; das politische Interesse und die politische Bildung aller Beteiligten und 101 die Reflexion und Evaluation der gefällten Entscheidungen.

Staatliche Institutionen sind funktionstüchtig, Wahlen, Gewaltenteilung und Parteien als konkurrierende Interessensvertreterinnen sind etabliert, checks and balances ist gesichert, all dies hebt sich nicht von denen der herkömmlichen Demokratien ab. Öffentliche Debatten werden geführt und die Partizipation der BürgerInnen wird etwa in institutionalisierten Meinungsumfragen gewährleistet. Für die derzeitige Periode sind sogar »zahlreiche demokratische Institutionen stärker (...) als in der Vergangenheit; [wie] Transparenz, Verantwortlichkeit oder der Schutz der Grundrechte.« 102 Institutionell funktioniert die Postdemokratie. Öffentlichkeit und Teilhabe funktionieren hingegen kaum: Die Kanalisierung der Bedürfnisse der BürgerInnen an die Politik ist nicht intakt, Parteien und PolitikerInnen erkennen nur schwer die Bedürfnisse der vertretenen Bevölkerung. Als einen Grund sieht Crouch das immer mehr »isoliert[e] und selbstreferenziell[e]« 103 Handeln der Politik, wobei PolitikerInnen anstelle direkter Kommunikation mit den BürgerInnen über ihre Bedürfnisse professionellen politischen Beratungsunternehmen vertrauen. Diese Consultancies sind ihrem Charakter nach stetig auf das durch Umfragen quantifizierte Verstehen potentieller Märkte aus. Als Konsequenz wird Marktforschung zum zentralen Moment in der politischen Kommunikation. Crouch kritisiert dies im Vordergrund des gegenwärtigen Neoliberalismus:

100 Kaube, Jürgen (2008): »Fragwürdige Therapievorschläge. Colin Crouch: Postdemokratie«. Deutschlandradio Kultur, Radiofeuilleton Kritik, 10.7.2008. http://www.dradio.de/ dkultur/sendungen/kritik/815383/ . 101 Crouch 2008: 9. 102 Crouch 2012. 103 Ebenda.

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»Je mehr sich der Staat aus der Fürsorge für das Leben der normalen Menschen zurückzieht und zulässt, dass diese in politische Apathie versinken, desto leichter können Wirtschaftsverbände ihn - mehr oder minder unbemerkt - zu einem Selbstbedienungsladen machen. In der Unfähigkeit, dies zu erkennen, liegt die fundamentale Naivität des neoliberalen Denkens.«104

Weiterer Grund der selbstreferenziellen und isolierten Politik sei die mangelhafte Kompetenz teils apathischer BürgerInnen postindustrieller Gesellschaften, ihre Bedürfnisse und Meinungen adäquat zu artikulieren – eine sicherlich pessimistische, aber interessante These ist, die in weiteren Forschungen behandelt werden könnte. Ob nun die BürgerInnen selbst nicht mehr adäquat ihre Bedürfnisse zu artikulieren vermögen, oder ob ihnen die Bedürfnisartikulation als profitables Geschäft bewusst aus der Hand genommen wird, bleibt Frage des Blickwinkels. Die nach Crouch immer häufiger werdenden Marktforschungen bringen jedenfalls folgende Probleme mit sich: (a) Die Sinnhaftigkeit von einigen herkömmlichen Marktforschungsinstrumenten ist fragwürdig, weil etwa Meinungsumfragen von Erhebungsmethode und Fragestellung der Consultingunternehmen geprägt sind. (b) Der Fragebogen über die Bedürfnisse ist außerdem meist nur im Rahmen einer Stufenskala zu beantworten. (c) In Ermangelung qualitativer Fragemethoden bleibt die Antwort des Einzelnen im vorgegebenen Fragerahmen in der Reaktion verhaftet. 2.4.3 Medialisierungseffekt Beanstandet Crouch den Wandel des öffentlichen Diskurses mit Blick auf den Zuwachs von Beratungsunternehmen, so weist Habermas bereits Jahre zuvor auf den Strukturwandel der Öffentlichkeit mit Fokus auf PR, Medien, die Kapitalisierung von Kommunikation. Becker, Flatz und von Olenhusen arbeiten Habermas’ wichtigste Argumente hinsichtlich des Strukturwandels heraus: »Massenmedien dienen der Affirmation und der Herrschaftsstabilisierung. Herrschaftsrelevante Kommunikation findet unter Ausschluss des Publikums statt. In öffentlicher Kommunikation dient das Publikum dem Zweck der Akklamation. Publizität entfaltet sich von oben. Kritische wird durch manipulative Publizität verdrängt. Öffentlichkeit wird zur Werbung. PR erschafft planmäßig Neuigkeiten. PR kaschiert geschäftliche Interessen mit Appellen an das vermeintlich öffentliche Wohl. PR verleiht ihrem Objekt die Autorität eines Gegenstandes öffentlichen Interesses.« 105

104 Crouch 2008: 29ff. 105 Becker, Jörg/Flatz, Christian/von Olenhusen, Albrecht Götz (2007): Europäische Medienpolitik und ihre Alternativen. Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin, S.2.

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Öffentlichkeit unterliegt einem Medialisierungseffekt, der mit einem Strukturwandel einhergeht, welcher sich in einem Antietatismus und der Deregulierung politischer und sozialer Bindungen äußert. »[Der Strukturwandel] (…) führt zur Entbettung der Medienorganisationen, d.h. zur sozialen und ökonomischen Ablösung der Medien von ihren herkömmlichen (...) Trägern (Parteien, Verbände, Kirchen), zur Abkoppelung des Verlagswesens von den sozialmoralisch verankerten Netzwerken, (…) zur Umstellung familien- und sozialräumlich gebundener Kapitalversorgung privatrechtlicher Medienunternehmen auf beliebiges Investitionskapital mitsamt den damit verbundenen Konzentrationsprozessen.«106

Innerhalb einer systemtheoretischen Kategorisierung der funktionalen, stratifikatorischen und segmentalen Differenzierung107 zeichnet sich der Medialisierungseffekt 108 durch folgende Merkmale aus: •





In der Dimension funktionaler Differenzierung treten vermehrt (1) entbettete Medienorganisationen, (2) eine neue Ausformung der Selektion, Interpretation und Inszenierung, (3) eine starken Tendenz hin zu Visualität und Featuring und (4) eine Abnahme des Verlautbarungsjournalismus zugunsten ökonomischer Prinzipien auf. In der Dimension stratifikatorischer Differenzierung zeigt sich der Effekt (1) in (supra-)staatlichen Konzentrationsvorgängen von Medien, (2) in einer internationalen Hierarchisierung der Leitmedien, (3) im Ersatz der gewohnten Sozialisierungsagenturen durch szenenspezifische Medien, sowie (4) in der Ausrichtung des medialen Angebots nach dem Kapital des Publikums. (5) Der Medialisierungseffekt lässt sich innerhalb von sozialen Gruppen, beispielsweise Jugendkulturen, ablesen, die sich in Arenen der Kommunikation abgrenzen und einen veränderten Zugang zu Wissen und zu politischer Öffentlichkeit haben, was Einschränkungen in der Chancengleichheit mit sich bringt. In der Dimension segmentaler Differenzierung zeigt sich (1) das zunehmendeAuseinanderklaffen des politischen Territoriums und des medial erschlossenen Raums. Gleichzeitig tritt eine Entöffentlichung auf, denn durch die Ökonomisierung der Medien werden lokal wirtschaftlich schwache Räume nicht (mehr) erschlossen. Um die Partizipation aller am politischen Prozess zu gewährleisten, ist es demokratiepolitisch unbedingt notwendig, der Entöffentlichung entgegen-

106 Imhof 2008: 78 ff. 107 Luhmann, Niklas (1977): Differentiation of Society. Canadian Journal of Sociology 2:1, S. 29-53. Parsons, Talcott (1969a): »Theoretical Orientations on Modern Societies«. In: Ders. 1969: 34-57. 108 Imhof 2008.

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zuwirken. (2) Die ständig fortschreitenden Globalisierung von Ökonomie und Politik wird von der Öffentlichkeit nicht ausreichend verfolgt. (3) Außerdem wird durch die Divergenz des Politischen und des Öffentlichen das Prinzip des Gemeinsamkeitsglaubens gebrochen. Dieser bürgt für die Akzeptanz von Mehrheits- und Minderheitsentscheidungen. Um sich in ihrem demokratischen Anspruch und in der realen Umsetzung selbst zu evaluieren, sollten Demokratien folgende Fragen stetig neu verhandeln: Inwieweit kann Vernunft im Entscheidungsfindungsprozess gegen Kulturindustrie, Partikulärinteressen und ›Ideologie der Herrschenden‹ zur Geltung kommen? Inwieweit können politisch Gleiche tatsächlich gleichberechtigt partizipieren? Inwieweit sichert Öffentlichkeit die Selbstbestimmung einer Gesellschaft? Inwieweit ist die demokratische Selbstbestimmung nicht ein Diktat der Mehrheit auf Kosten marginalisierter Minderheiten?109

3. E INFLUSSFAKTOREN AUF DIE E TABLIERUNG VON N ACHRICHTEN 3.1 Beeinflussung des Agenda Settings »Wer die Wahrnehmung der Wirklichkeit unter Kontrolle hat, der kann sämtliche Zensurvorwürfe 110

schon im Vorfeld abwiegeln.«

RUDI RENGER/JOURNALISMUS ALS MITTEL ZUM ZWECK

Wird Hegemonie als die »Fähigkeit herrschender Gruppen und Klassen« verstanden, »eigene Interessen als Allgemeininteressen (…) durchzusetzen«111, so ist die Frage zu stellen, welche Mittel und Instrumente den »herrschenden Gruppen und Klassen« zur Verfügung stehen, die diese »Fähigkeit« bedingen. Das folgende Kapitel widmet sich dem erfolgreichen Transport von Interessen in die Medienberichterstattung, wobei der Fokus auf die strategische Beeinflussung der journalistischen Nachrichtenselektion gelegt wird.

109 Imhof 2008. 110 Renger, Rudi (2004): »Journalismus als Mittel zum Zweck. Aktuelle Trends der Entgrenzung und Instrumentalisierung des Journalismus«. In: Duve/Haller 2004: 65 – 81, 77. 111 Brand 2005: 9.

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Normative Funktion von Medien ist die Mittlerfunktion zwischen Öffentlichkeit und politischer, ökonomischer Elite und das Angebot von Raum zum politischen Diskurs. Die Medienagenda besteht aus jenen Themen, die von den JournalistInnen als Gatekeeper112 als für die Öffentlichkeit relevant entschieden und an letztere weitergereicht werden. Im Umkehrschluss wurden Themen, die nicht Teil der Medienagenda sind, als für die Öffentlichkeit und den politischen Diskurs nicht relevant beschlossen und gelangen in Demokratien, deren Bevölkerung sich durch hohes Vertrauen in die traditionellen Medien auszeichnet, eher selten in den Modus erhöhter Aufmerksamkeit und somit in die Deliberation. Zur Verhinderung oder Förderung von (politischen) Diskursen ist die Verhinderung oder Förderung des Thementransports bzw. Kommunikationsflusses logische Konsequenz und probates Mittel. Dem liegen zwei Prämissen zugrunde: •



Das demokratische Prinzip kommunikativer Macht (Arendt) impliziert die Durchsetzung des auf dem politischen Diskurs gründenden gemeinsamen Willens. Profitorientierte ökonomische und politische als auch andere Organisationen wollen den politischen Prozess so weit wie möglich in ihrem Interesse beeinflussen.

Wenn in Demokratien politische Entscheidungen nach dem Prinzip der kommunikativen Macht getroffen werden, so ist zur Herbeiführung politischer Aktivität der Eingriff bereits bei der Herausbildung des gemeinsamen Willens sinnvoll. Dies soll fortan als primäre Einflussnahme bezeichnet werden. Wie in Abbildung 1 veranschaulicht, setzt der Versuch der strategischen Einflussnahme auf politische Aktivität beim gemeinsamen Willen an, aus welchem sich kommunikative Macht konstituiert. Kommunikative Macht regt politische Aktivitäten wie etwa Entscheidungsprozesse an. Eine primäre Einflussnahme ist dann erfolgreich, wenn eine politische Aktivität zugunsten der Einflussnehmenden Größe ausfällt. Die Einflussnahme auf den gemeinsamen Willen kann einer politischen Aktivität auch nachgeschickt werden, wenn zur Legitimierung derselben nachträglich versucht wird, über den politischen Diskurs nachträglich einen gemeinsamen Willen herzustellen. In der Bildung des gemeinsamen Willens ist die Arbeit der Massenmedien essentiell, da die Einflussnahme auf die Öffentlichkeit über den medial bereitgestellten politischen Diskurs stattfindet. Die Einflussnahme auf den gemeinsamen Willen, zum Beispiel in Form der Bewerbung einer gewünschten Meinung, kann medial über zwei Formen erfolgen:

112 Lippmann 1922.

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über das Framing bzw. die inhaltliche Steuerung einer Themendeutung über die Steuerung der journalistischen Themensetzung, bzw. die formale Steuerung vor dem oder beim Agenda Setting von Massenmedien.

Basierend auf der Prämisse, die mediale Themensetzung habe einen erfolgsversprechenden Nutzen, findet deren Beeinflussung strategisch, intendiert und professionell statt. Funktion der bereits vor dem Agenda Setting vollzogenen Beeinflussung ist, Zensurvorwürfe a priori aus dem Weg zu räumen. In der Wahrnehmung des Publikums treten die ggf. verschwiegenen Themen oder Themenaspekte nicht auf. Die Beeinflussung des politischen Diskurses über das Framing und das Agenda Setting passiert nicht immer transparent. Jean Ziegler113 typisiert die Einflussnahme auf den politischen Diskurs und die Wahrnehmung des Publikums als strukturell und subsumiert sie unter dem Begriff »reality perception control«: »[Reality perception control wird] durch die suggestive Beeinflussung journalistischer Multiplikatoren, durch gezielte Desinformation und Irreführung wie auch durch unverhohlene Drohungen gegenüber Journalisten [ausgeübt]. Ein Zustand, der in früheren Zeiten nicht nur abgewehrt, sondern öffentlich gemacht und skandalisiert worden wäre. Doch nichts dergleichen. Im Gegenteil.« 114

Im folgenden Unterkapitel wird die möglicherweise strukturelle Beeinflussung des Agenda Settings und des Framings unter Beachtung der im Gemeinschaftswerk Manufacturing Consent vorgebrachten Thesen von Edward S. Herman und Noam Chomsky beleuchtet. 115 Ergänzend zu der die inhaltlichen Merkmale einer Nachricht gewichtenden Nachrichtenwert-Theorie, fokussieren Herman und Chomsky auf strukturelle Bedingungen in einem »marktorientierten«116 Zusammenhang. Gezielte interessengeleitete Einflussnahme auf die Berichterstattung erfolgt durch ökonomische Bedingungen und Strukturen, so die Hauptargumentation des Propagandamodells. Die primäre Einflussnahme auf die Nachrichtenagenda gelingt so 113 Ziegler, Jean (2004): »Vorwort zur deutschsprachigen Ausgabe«. In: Borjesson 2004: 3-12. 114 Ziegler 2004: 9. 115 Stehen zwar manche theoretische und empirische Aussagen Chomskys in der Kritik einiger SozialwissenschaftlerInnen (z.B. Auseinandersetzung mit Slavoj Žižek über die Analyse zu Khmer Rouge), so wird die mit Herman ausgearbeitete operative Kategoriensetzung des Propagandamodells dennoch als probater, empirisch nachvollziehbarer Rahmen erachtet. (Thompson, Peter (2013): »The Slavoj Žižek v Noam Chomsky spat is worth a ringside seat«. The Guardian, 19.7.2013. http://www.theguardian.com/ commentisfree/2013/jul/19/noam-chomsky-slavoj-zizek-ding-dong vom 19.7.2013. 116 Herman/Chomsky 2009.

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vornehmlich finanzstarken Interessensgruppen bzw. politischen Machthabenden, deren Ziel die Steuerung des gemeinsamen Willens und die Erzeugung von Konsens im Publikum ist. Innerhalb der »politischen Ökonomie der Massenmedien« könne also von einer »Manufaktur des Konsenses«117 gesprochen werden, so Herman und Chomsky. Abbildung 1: Einflussnahme von kommunikativer Macht auf politische Aktivität und Anschlusskommunikation im politischen Diskurs

Kommunikative Macht

Gemeinsamer Wille

Politische Aktivität

Politischer Diskurs in der ÖffentBeeinflussung

lichkeit

Die Einflussnahme auf die politische Aktivität erfolgt über die Stärkung des gemeinsamen Willens und die hervorgehende Mobilisierung der kommunikativen Macht; die Legitimierung einer politischen Entscheidung kann über eine nachträgliche Beeinflussung des Diskurses in der Öffentlichkeit bzw. die indirekte Beeinflussung des gemeinsamen Willens erfolgen.

3.2 Politisch-Ökonomische Filter In zentralistischen Staaten mit monopolistischer Kontrolle werden Medien mitunter als Machtinstrument der dominierenden Elite installiert. In Staaten, die über ein pluralistisches, teilweise privatisiertes Mediensystem ohne offensichtliche ideologische Zensurmaßnahmen verfügen, können Hinweise auf zensierte oder ideologische Berichte unterwartet erscheinen. Überraschend sind Beeinflussung und Zensur vor allem, »where the media actively compete, periodically attack and expose corporate

117 Herman/Chomsy 1988.

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and governmental malfeasance, and aggressively portray themselves as spokesmen for free speech and the general community interest.«118 Herman und Chomsky zeichnen das Auftreten solcher Strukturen nach: »[The propaganda model] traces the routes by which money and power are able to filter out the news fit to print, marginalize dissent, and allow the government and domi119 nant private interests to get their messages across the public.« Sie untersuchen drei Hypothesen auf ihren Wahrheitsgehalt belegen diese letztlich: • •



Gibt es innerhalb der Elite Konsens, verfolgen die meisten Massenmedien diesen Konsens ohne Kompromiss. Sind die Massenmedien unter korporatistischer und nicht unter staatlicher Kontrolle, wird die Berichterstattung von einem »gelenkten Marktsystem« geprägt und dabei von fünf Filtern, den operativen Prinzipien des Propagandamodells, durchzogen sein. Das Propagandamodell, das in ihm beobachtete Verhalten von Medien (insbesondere von jenen, die Eliteninteressen folgen) und dementsprechende Studien werden ignoriert oder marginalisiert.120

Fünf operative Prinzipien des Propagandamodells sind als Filter bestimmend für die (Nicht-) Publikation von Nachrichten. Diese strukturell wirksamen Filter werden fortan als externe Einflussfaktoren auf die Berichterstattung bezeichnet: • • • • •

Ownership, worunter die Eigentümerschaft, Konzentration und Profitorientierung der dominanten Massenmedien verstanden wird, Advertising, Werbung als primäre Einkommensquelle der Massenmedien, Sourcing, die Mediendependenz von externen Quellen, Disziplinierung der Medien und Verbreitung von Antiideologie.121

3.2.1 Medieneigentum Dem normativen Anspruch, Medien könnten – nun abgelöst von der Parteienfinanzierung – autonom handeln, können diese in der Realität kaum gerecht werden. Wirtschaftliche und politische Einflüsse bestehen weiter, eine Dependenzverlagerung hin zu ökonomischen Einflussnahmen ist beobachtbar. Anschließend an die USA werden auch in Europa privatwirtschaftliche Medienstrukturen durch die fortschreitende Deregulierung der Märkte gestärkt und führen zu »tendenziell globali118 Herman/Chomsky 1988: 1. 119 Ebenda: 2. 120 Herman/Chomsky 2009. 121 Ebenda.

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sierenden Multimedia-Netzwerken und entsprechenden Kommunikationsinfrastrukturen«122. Hier bestehen einige in westlichen Ländern beobachtbare Trends: (a) Medien werden tendenziell von Großindustriellen oder Medienkonzernen besessen, (b) die Etablierung neuer, kleiner Medien ist selten, (c) kleine bereits existierende Medienunternehmen werden von ökonomisch gewichtigeren Medienunternehmen aufgekauft und (d) die Medienkonzentration steigt.123 Die europäische Medienkonzentration mit den Wachsen der Konglomerate kann Probleme für die Berichterstattung in sich bergen. So ist etwa eine Einflussnahme der Medienbesitzer auf die Berichterstattung durch ökonomische Verquickungen nicht auszuschließen. In Frankreich besitzen beispielsweise die beiden Rüstungskonzerne Dassault (Militärjet Mirage) und Lagardère (Eurofighter-Produzent EADS) mehr als zwei Drittel der Printmedien, in Italien und der Türkei haben Rüstungshersteller Anteile oder vollständigen Besitz von Fernsehsendern und Presseagenturen, wie Becker et al. aufzeigen. Der europäischen Kommission fehlt die Kompetenz, die Fusionen zu verhindern, u.a. weil sie nur auf Regelungen zum Funktionieren des Binnenmarkts ausgerichtet ist.124 Von aufkommenden Problemen durch die fortschreitende Verschmelzung von Medien mit anderen Privatkonzernen ist die Protestberichterstattung besonders betroffen. Sie macht eine nicht-interessengeleitete Berichterstattung schwierig. In der Case Study über die Anti-Minen-Proteste in Chalkidiki wird die Problematik interessenbeeinflusster Protestberichterstattung deutlich. »Infrastrukturen der Verschleierung«125 nennt Peter Ludes die interne Einflussnahme der Medienunternehmen auf die Distribution von Information. Mit Berufung auf Forschungsarbeiten von Herman 1999, Thussu 2006, Norris und Norris/ Inglehardt 2009 schildert er das Phänomen, nach dem direkte Zensur in westlichen Medien nicht vorhanden ist. Die Monopolbildung der Medienunternehmen führt den Prinzipien der Profitmaximierung folgend auf subtile Art und Weise aber zur Kontrolle der Information.126 3.2.2 Werbung Die Medienfinanzierung gestaltet sich zu einem großen Teil über Werbeanzeigen, dem Advertising. Dies bedingt eine »neue« Form der Abhängigkeit, nämlich von fi-

122 Becker et al. 2007: 43. 123 Herman/Chomsky 1988: 3 -14. 124 Becker et al. 2007. 125 Ludes 2011: 136. 126 Ebenda.

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nanzstarker Kundschaft.127 Diese sind meist privatwirtschaftlich agierende Unternehmen, aber auch politische Parteien sind Kundinnen für Medien, was ein durchaus interessantes Verhältnisse zwischen Kundschaft, Verlag und der Berichterstattung mit sich bringen kann. Bei zu negativer Berichterstattung über die Anzeigenkundschaft könnte das Medienunternehmen Gefahr laufen, diese an die Konkurrenz zu verlieren – eine potenzielle ökonomische Zwangslage mit möglichen Implikationen für die Inhalte. Basierend auf disem Abhängigkeitsverhältnis könnte so auch Kritik mit hochdotierten Werbeanzeigen indirekt ausgeschaltet oder zumindest gelindert werden. »With Advertising, the free market does not yield a neutral system in which a final buyer choice decides. The advertisers’ choices influence media prosperity and survival. (…) In short, the mass media are interested in attracting audiences with buying power, not audiences per se.«128

Jedenfalls impliziert der Wandel in der Medienfinanzierung einen komplex gestalteten Wandel in der Ausrichtung der Medien; Inhalte haben nicht (mehr) die Bildung und Aufklärung des Publikums zum Ziel, sondern versuchen (auch) den Interessen der Anzeigenkundschaft zu entsprechen und richten sich gezielt an konsumierende Publikumsmärkte. Hinsichtlich der Berichterstattung haben einzelne werbende Unternehmen auf der anderen Seite Interessen, (a) das Produkt/die Marke des Unternehmens in der redaktionellen Berichterstattung sowie (b) keine Berichterstattung gegen die etablierten, unternehmensförderlichen ökonomischen Strukturen wiederzufinden. Das Unternehmen ist (c) als werbender Anzeigenkunde gleichzeitig abhängig von den Medien, denn diese garantieren die Aufmerksamkeit bestimmter Publikumsmärkte.

127 Herman/Chomsky 1988: 14-16. 128 Ebenda: 15.

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Exkurs: Medienkonglomerate Die international größten Presseagenturen und einflussreichen TV-Nachrichtendienste sind die Agenturen Associated Press AP mit Hauptsitz in New York und Reuters (Großbritannien). Reuters ist die größte Nachrichtenagentur in Europa und ist neunt-größter europäischer Medienkonzern.129 Die größten europäischen Medienkonzerne sind Bertelsmann (Gütersloh) mit dem weitaus höchsten Umsatz von 17 Mrd., Vivendi Universal (Paris) (9 Mrd.), Groupe Lagardère (Paris) (8,6 Mrd.), Reed-Elsevier (London) (7 Mrd.) und ARD (Frankfurt) (5,6 Mrd.). Die weiteren 15 größten Konzerne kommen bis auf einzelne Ausnahmen aus britischen oder deutschen Städten.130 Die Medienkonzerne wie Bertelsmann verfügen u.a. über Verlage, Musik, Fernsehen bzw. über Zeitungen, Telekommunikation, Markt- und Medienforschung, und Nachrichtenagenturen. BBC London etwa ist mit dem Besitz von Radio- und Fernsehstationen an 8. Stelle der größten europäischen Medienkonzerne, Reuters ist als die größte Nachrichtenagentur an 9. Stelle der Konzerne (beide mit Sitz in London).131 Als Europas führender Medienkonzern gehören der Bertelsmann AG neben den Subunternehmen RTL, VOX, u.v.a. in Deutschland außerdem Tochterfirmen mit bis zu 100-prozentigen Anteilen in »rund 50 Ländern«132 aller Kontinente, wie Argentinien, Brasilien, Belgien, Niederlande, Österreich, Frankreich, Australien, China, den Britischen Jungferninseln u.a. Die konzerneigene Auflistung aller Tochterfirmen erstreckt sich über eine Excel-Tabelle mit nahezu 17 Seiten mit zum Teil 80 Firmen pro Seite.133 Bertelsmann ist doppelt so groß wie der europäische listenzweite Medienkonzern und erlangt damit den Stellenwert eines Globalplayers.

129 Ludes, Peter (2011): Elemente internationaler Medienwissenschaften. Eine Einführung in innovative Konzepte. VS Verlag, Wiesbaden, S. 136. 130 Hachmeister, Lutz/Rager, Günther (Hrsg.) (2005): Wer beherrscht die Medien? Die 50 größten Medienkonzerne der Welt. Jahrbuch 2005, Beck-Verlag, München. 131 Becker et al. 2007. 132 Bertelsmann

AG

(2013):

»Zahlen

und

Fakten«.

http://www.bertelsmann.de/

Bertelsmann/Zahlen-%2526-Fakten.html vom 19.9.2013. 133 Bertelsmann AG (2012): »Wesentliche Tochtergesellschaften und Beteiligungen zum 31. Dezember 2012«. http://www.bertelsmann.de/bertelsmann_corp/wms41/customers/ bmir/pdf/Anteile_Bertelsmann_31_Dezember_2012_GESAMT.pdf

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Zur Beibehaltung der Rentabilität des Medienhauses am »freien Markt« ist eine kundschaftsfokussierte redaktionelle Berichterstattung dienlich und kann nach Herman und Chomsky auch nachgewiesen werden.134 Abbildung 2 veranschaulicht das ökonomische Abhängigkeitsverhältnis privatwirtschaftlich agierender Medienhäuser zu ihrer Anzeigenkundschaft. Um die Anzeigenkunden zu behalten, werden Firmen namentlich genannt und auf Produkte in teils themenspezifischen, nach dem Publikumsmarkt orientierten Beilagen redaktionell hingewiesen. In einer Studie untersucht Andresen den Einfluss der Werbeeinschaltungen von Ford, Axel Springer, UBS und der Hypovereinsbank auf die Berichterstattung in den beiden Printmedien Süddeutsche Zeitung und Spiegel. Er weist »einen Zusammenhang von Produktnennung und Anzeigenhäufigkeit«135 nach. Dabei lautet eines der Erkenntnisse, dass »bei den untersuchten Titeln (…) tatsächlich umso häufiger über Wirtschaftsunternehmen berichtet [wird], je mehr Anzeigen sie schalten.«136 Zudem wird demnach »ein Unternehmen, das viel wirbt, (…) auch in der redaktionellen Berichterstattung als Ganzes besser dargestellt – ebenso wie seine Hauptakteure.«137 Das Publikum und Awareness werberelevanter Zielgruppen: Das Publikum spielt innerhalb des geschilderten Prozesses als potenzieller Konsument der beworbenen Produkte eine bedeutende Rolle als werberelevante Zielgruppe. Unternehmen platzieren ihre Produkte gezielt dort, wo am meisten SeherInnen der Zielgruppe zu erwarten sind, also Awareness erregt werden kann. Werbeschaltungen erfolgen häufig aufgrund statistischer Publikumsanalyse, so haben einzelne Unternehmen etwa Interesse daran, Werbung zielgerichtet zur Sendezeit mit dem höchsten Marktanteil von Jugendlichen zu schalten. Profitorientiert arbeitetende TV-Kanäle gestalten in Reaktion darauf ihre Sendungen mit der Prämisse, möglichst viele konsumfreudige ZuseherInnen in ebenjener Altersklasse zu erhalten. Die Qualität der Sendung richtet sich nach einem quantitativen Maßstab, der bestenfalls eine größtmögliche Anzahl an konsumorientierten Menschen umfasst. Qualitativ hochwertige intellektuelle, kulturelle o.a. Sendungen, die aufgrund der distribuierten Inhalte und dem Marktanteil nicht profitabel sind, finden sich aus diesem Grund immer seltener im Programm profitorientierter Sender. Im deutschen Sprachraum kann das Phänomen deutlich bei den Sendern PRO7, RTL, RTL II oder VOX beobachtet werden, wo mit Model-Castingshows (Germany’s Next Topmodel), Kleidungs-DesignerInnenShows (Fashion Hero), Schönheitsoperations-Übertragungen (Extrem schön!) und Einrichtungssendungen (Das Einrichtungskommando) neben anderen teils bedenklichen ideologischen Implikationen eine starke Konsumaffinität propagiert wird.138 134 Ebd. 135 Andresen 2008: 26 136 Ebenda: 25. 137 Ebd. 138 Siehe dazu: RTL2.de; prosieben.at; rtl.de; vox.de

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Das Publikum wechselt dabei die Rolle vom über seine eigenen Lebensrealitäten informierten Citoyen, der am politischen Diskurs evaluierend teilhaben möchte, in die Rolle des potenziellen Konsumenten. Abbildung 2: Die ökonomische Beeinflussung der Medienagenda im Vordergrund des Dependenzverhältnisses Interessen auf Mikro- und Makroebene

Finanzstarke Organisationen, Unternehmen, Politik

Werbeanzeigen

Medienhaus als ökonomische Institution Ökonom. Abhängigkeit

Vorgaben aus Verlag, Chefredaktion, AnzeigenVerkauf-Abteilung, journalistische Selbstzensur Redaktionelles/Journalistisches Auswahlprozedere Agenda und Framing in Zeitung, Radio, TV, Onlinemedium

Das Verhältnis zwischen den Medien und finanzstarken werbenden Unternehmen und Organisationen, die gleichzeitig Anzeigenkundschaft sind, ist geprägt von Abhängigkeiten.

In einer Reflexion über Entwicklungen seit der Publikation des Propagandamodells verweisen Herman und Chomsky auf die zunehmende Bedeutung der externen Einflussfaktoren Advertising und Ownership in den letzten zwanzig Jahren: »Advertising is a more important force in 2008 than in 1988, because of greater competition among traditional media outlets and between those outlets and the internet. Right-wing political forces have also pushed public radio and television into greater dependence on Advertising. The result of all this (including Ownership concentration) has been a more intense bottom-line focus, a greater integration of editorial and business operations, more product placements, cutbacks in investigative reporting and analysis, more controversy-avoidance, and greater manageability by governments and other power centres.«139

139 Herman/Chomsky 2009.

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3.2.3 Sourcing Mit Sourcing wird das Speisen der Medien mit Information aus redaktionsexternen Quellen bezeichnet, das grundlegend von den meisten Akteuren der Öffentlichkeit, wie der Regierung, Wirtschaft und anderen, je nach verfügbaren Kapital, stattfindet. Die tägliche Abhängigkeit von exklusiven Nachrichten und die ökonomisch bedingte Unmöglichkeit einzelner Redaktionen, an allen Orten AuslandskorrespondentInnen zu installieren, lässt Medien auf Meldungen von Nachrichtenagenturen, von PR-Agenturen, Think Tanks, Wirtschaftsunternehmen und politischen Interessengruppen zurückgreifen. Sourcing wird aufgrund des Dependenzverhältnisses von Medien und Informationslieferanten auch strategisch eingesetzt: «[L]arge bureaucracies of the powerful subsidize the mass media, and gain special access [to the news], by their contribution to reducing the media’s costs of acquiring the raw materials of, and producing, news. The large entities that provide this subsidy become ‹routine› news sources and have privileged access to the gates. Non-routine sources must struggle for access, and may be ignored by the arbritary decision of the gatekeepers.«140

Kritische Aussendungen externer Quellen bzw. von traditionellen Presseaussendungen abweichenden Meldungen werden häufig von den Medien ignoriert: »[This is] because of their lesser availability and higher cost of establishing credibility, but also because the primary sources may be offended and may even threaten the media using them.«141 Zeit- und Ressourcenmangel hindern einige JournalistInnen daran, alle von externen Quellen gelieferten Fakten sowie die mitgelieferte Auslegung der Fakten bzw. das Framing genau zu überprüfen. Renger beschreibt den Fall der Redakteurin der New York Times, Judith Miller, die Information aus dem Weißen Haus übernahm und ungeprüft publizierte. Inhalt war u.a. die Behauptung, der Irak stelle Atomwaffen her, was zu diesem Zeitpunkt bloße Spekulation der US-Regierung war und wesentlich zur Meinungsbildung der Abgeordneten als auch der USamerikanischen Öffentlichkeit beitrug.142 Nicht zu unterschätzen ist zudem die Rolle von Nachrichtenagenturen als semiexterne Informationsquelle. Sie gelten als Gatekeeper; RedakteurInnen greifen auf deren Information häufig in einem Copy-Paste-Verfahren zurück. Für Proteste ist dies besonders entscheidend, denn wie Ludes aufzeigt, nehmen große Nachrichtenagenturen tendenziell weder dissidente Aktivitäten noch alternative Ideen in die Agenda auf.143 140 Herman/Chomsky 1988: 22. 141 Ebenda. 142 Renger 2004: 58-60. 143 Ludes 2011: 136.

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Strategisches Sourcing wird über Presseaussendungen, Agenturen und mit Personal in Form von »ExpertInnen« betrieben. Think Tanks und andere politische oder ökonomischen Organisationen bieten »sachkundige Personen« als Informationsquelle an, die eine Sachlage gemäß den Organisationsinteressen nach den Medienregeln interpretieren.144 3.2.4 Mediendisziplinierung »The ability to produce flak, and especially flak that is costly and threatening, is related to power.« ERWARD S. HERMAN, NOAM CHOMSKY/ MANUFACTURING CONSENT

Mit Flak, dem aus dem militärischen Vokabular entlehnten Begriff, wird das Entgegnen eines Medienstatements oder -programms mit negativen Reaktionen umfasst. Das Disziplinierungsinstrument für Medien soll helfen, Hegemonie im politischen Diskurs zu gewinnen und zu stabilisieren. Gegenwärtig geschieht dies in mannigfaltiger Form, etwa durch Beschwerdebriefe, Shitstorms (Massen-Online-Beschwerden in Foren), legislative Prozesse, Drohungen oder Strafverfahren bzw. durch das Erstellen oder die finanzielle Unterstützung von Think-Tank-Operationen zum Angriff von Medien.145 In den USA nimmt die Disziplinierungsmethode Flak zu: »Government has become even more aggressive in favouring and punishing media deviations from the official line. Furthermore, flak from within the media, including the numerous right-wing talk shows and from blogs – constituting a right-wing attack machine and echo-chamber – has become more important in recent decades.«146 3.2.5 Antiideologie Das Konzept der ideologischen Verbreitung von Antiideologie gründet auf der ideologischen Verbreitung des »Antikommunismus«. Herman und Chomsky weißen 1988 auf die Konstruktion des Kommunismus als das Böse hin, wobei die »kommunistische Lebensführung« in Opposition zur US-amerikanischen/westlichen inszeniert und umfassend negativ bewertet wird. Zwar ist der Antikommunismus seit Zerfall des Ost-West-Konflikts seltener geworden, aber »the Black Book of Communism can be featured periodically to warn against socialism and wrongheaded state intervention.«147

144 Herman/Chomsky 1988: 18-25. 145 Herman/Chomsky 1988: 27. 146 Herman/Chomsky 2009. 147 Ebenda.

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Heutige Ideologie folgt im Kostüm der Antiideologie noch immer ein dem Westen gegenübergestelltes Feindbild erzeugenden Prinzipien, allerdings in abgeänderter, angepasster Form. Die einstige Dichotomie wird abgelöst durch westlicher Lebensstil versus Antiterrorismus, wo der begrifflich geführte War on Terror u.a. die Feindbilder Terrorist und Islamist schafft,148 dazu erhält die Ideologie des »freien Markts« Aufschwung: »Also, the antithesis of communism, the ›free market‹, has been elevated to more prominent ideological status, and has proven to be a strong co-replacement for anti-communism and the basis for the new world order of neoliberalism now in some disarray but without an ideological rival resting on any 149 kind of power base.« Antikapitalistische Kritik wird in die Medien kaum aufgenommen, so Foltin, der ab 9/11 überhaupt jede Chance auf einen öffentlichen Diskurs über antikapitalistische Gesellschafts- bzw. Wirtschaftskonzepte zerstört sieht, weil fortan nur noch in den Dichotomien pro oder kontra Terror bzw. pro oder kontra USA gedacht wird.150 Das Sozialsystem wird dabei immer öfter als unfinanzierbar argumentiert; Pensions-, Gesundheits- und andere Sozialleistungen sollen fortan nicht mehr ›frei‹ zur Verfügung stehen. Dabei handelt es sich bei der Begründung mit der »Unfinanzierbarkeit« nur um ein ideologiestützendes Argument, weil Arbeit zunehmend produktiver wurde, also mit weniger Arbeit mehr Reichtum erzeugt wurde. In Abgrenzung zum »realen Sozialismus« wird die Behauptung vorgetragen, ein kapitalistisches Wirtschaftssystem könne die Vielfalt des Lebens gewährleisten, dennoch bleibt die Frage bestehen, wo die Vielfalt am Fließband, in der bürokratischen Fabrik oder den Wohnsilos der 50er Jahre zu finden ist. »Die heutige Vielfalt der Einkaufsstraßen ist nur für jene da, die einkaufen können, die im Verwertungssystem integriert sind. Alle anderen werden vertrieben, unsichtbar gemacht. Selbst das Leben wird eingeschränkt, wenn es nicht kommerziell ist.«151 Die herrschende Ideologie sieht Ziegler152 als vierte und letzte Stufe der chronologischen Entwicklung von den »vier Herrschaftsperioden der Unterdrückung«153. Die erste Periode ist rund die Eroberungen um 1492 anzusetzen, daran schließen die SklavInnenverschleppungen und der Menschenhandel an, das 19. Jahrhundert ist 148 Mahssarrat, Mohssen (1992): »Der 11. September: Neues Feindbild Islam? Anmerkungen über tiefgreifende Konfliktstrukturen«. In: Bundeszentrale für politische Bildung 1992. 149 Herman/Chomsky 2008. 150 Foltin, Robert (2004): Und wir bewegen uns doch. Soziale Bewegungen in Österreich. Edition Grundrisse, Wien, S. 271 - 277. 151 Foltin 2004: 277. 152 Ziegler, Jean (2009): Der Hass auf den Westen. Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren. Bertelsmann, München, S. 82 – 85. 153 Ziegler 2009: 83.

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drittens die Hochzeit der christlichen Unterdrückung und Ausbeutung. Heute befinden sich Europa und die USA in jener Periode, in der das westliche Finanzkapital mit der Weltbank als eine Ausformung die Monopolisierung des Reichtums vorantreiben wolle. Die »Herrschaft des Westens« 154 bedeutet insofern aber die Herrschaft der Unternehmen, denn die Interessen der ArbeiterInnen und BäurInnen im sogenannten Westen werden hintangestellt. Mit Blick auf heutige Medien bemerken Imhof und Eisenegger zwar, diese würden »offener und ideologisch flexibler« werden. Dabei wird aber ein anderer Ideologie-Begriff als der marxistische verwendet, was zu Missverständnissen führen könne; eher wird von den beiden die Parteiideologie gemeint, denn im Weiteren wird angeführt, dass die Argumentation von offeneren und ideologisch flexibleren Medien nicht im Widerspruch zur These der auf Marktwerte ausgerichteten Medienberichterstattung stehe.155 Die Autoren halten zudem fest, dass die Medien „in der Sachdimension (...) Produkte und Inhalte auf der Basis von Zielgruppen- und Produktmärkten [generieren]; [und sie sich] in der Zeitdimension am wettbewerbs156 bedingten Aktualitätstempus [orientieren].« Beispiel für den Protest gegen eine Ideologie bilden die Proteste gegen den G8Gipfel in Heiligendamm 2007. Die mehrdimensionalen Ziele richteten sich u.a. gegen die neoliberale Hegemonie und deren Konsequenzen, gegen den Gipfel selbst, gegen den »Krieg als kapitalistischen Dauer- und Normalzustand«157 des kapitalistischen Systems, die Landwirtschaftspolitik der G8, das neoliberal organisierte Wirtschaftssystem u.a.158 3.2.6 Medieninterna Bedeutender Einflussfaktor auf die Auswahl der Nachrichten sind medieninterne Vorgaben, die zunächst von externen Einflussfaktoren geprägt sind, indem sie die Wirkung der externen Rahmenbedingungen entfalten. So sind medieninterne Entscheidungen Reaktion auf ökonomische, politische u.a. Bedingungen, aber auch den medieninternen Gepflogenheiten, der Blattlinie, den sozialen, persönlichen o.a. Dispositionen und Vorlieben zuzuschreiben. Da sie direkt innerhalb einer Redak-

154 Ebenda. 155 Eine Sichtung weiterer Publikationen zeigt, dass auch die beiden Autoren Hinweise auf mögliche neoliberale Tendenzen in Medien und Berichterstattung geben. 156 Imhof, Kurt/Eisenegger, Mark (1999): »Poltische Öffentlichkeit als Inszenierung. Resonanz von ›Events‹ in den Medien«. In: Szyszka 1999: 195-218, hier: 196 ff. 157 Haselwanter, Martin (2009): »›Make Capitalism History!‹ Die Proteste gegen den G8Gipfel (Heiligendamm 2007): Auf dem Weg in eine ›andere Welt‹«. In: Werlhof 2009: 377-436, 382. 158 Ebenda.

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tion, eines Verlags, eines Medienhauses oder einer anderen medialen Institution stattfinden, werden sie fortan als interne Einflussfaktoren bezeichnet. Als struktureller (externer) Einflussfaktor, der für interne Einflussfaktoren prägend ist, gilt die »Finanzkrise« westlicher Staaten. Sich auch an europäischen Medienhäusern manifestierend159, sorgte die »Wirtschaftskrise« dafür, dass Redaktionen »durchrationalisiert« 160 wurden und Medien als Konsequenz der Verlustgeschäfte krisengeschüttelter Anzeigenkunden von finanziellen Einbußen betroffen waren. Der Journalist Tom Schimmeck weist auf das daraus hervorgehende Erstarken des Abhängigkeitsverhältnisses der Medien von ihren Anzeigenkunden hin, das seinen Niederschlag bei den JournalistInnen findet: »Absatzschwierigkeiten und Anzeigenprobleme der Verlage und Sender [dienen] seit Jahren als Vorwand, Journalismus auszudünnen.«161 JournalistInnen werden gekündigt oder nicht mehr angestellt. Jene, die nicht gekündigt werden, werden mit Arbeit überhäuft, die Honorare der freien JournalistInnen sind »miserabel«162, so dass sie ohne Zeit zum sorgfältigen Recherchieren in Eile Artikel verfassen müssen. Ereignisse, die über Nachrichtenwert verfügen, werden mehrheitlich vorab von der Chefredaktion top down ausgewählt und an JournalistInnen weiterverteilt. Konsequenz sind JournalistInnen, die »dem Publikum nur noch appetitlicher angerichtete Info-Häppchen [servieren], die die PR-Köche zubereitet haben.«163 Mit der Rationalisierung gehe die spektakuläre Aufbereitung von Ereignissen einher, denn sie verspricht ökonomischem Nutzen und höhere Verkaufszahlen für Boulevardblätter und das öffentlich-rechtliche Fernsehen: »Das Erregungspotenzial zählt mehr denn je. Es allein sichert und steigert den Absatz.«164 Komplexe politische Sachverhalte lassen sich kaum in 1:30 Minuten erklären, auf spektakuläre Inszenierung reduzierte Nachrichten eher schon.165 Die teilweise prekären Arbeitsbedingungen der JournalistInnen wirken sich als interne Einflussfaktoren auf die Gestaltung der Berichte aus. Auch die medieninterne bewusst oder unbewusst verlaufende Vorgabe, mit Berichten ökonomischen Gewinn (Anzeigenkunden) hervorzurufen, sowie die Spektakularisierung von Er-

159 Siegert, Gabriele/Brecheis, Dieter (2010): Werbung in der Medien- und Informationsgesellschaft. 2. Aufl., VS Verlag, Wiesbaden, S. 85. 160 Schimmeck, Tom (2008): »Kopfwäsche inbegriffen, Macht macht Meinung, die Medien liefern aus«. In: MainzerMedienDisput 2008: 85-93, hier: 85. 161 Ebenda: 92. 162 Schimmek 2008: 90. 163 Ebenda. 164 Schimmek 2008: 85. 165 Ebd.: 85f.

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eignissen zur Erhöhung des Absatzes sind interne Einflussgrößen auf die Auswahl und die Gestaltung von Berichten. Exkurs: Griechenland-Berichterstattung in der Finanzkrise Beispiel für eine komplexitätsreduzierte, ideologisierte, ein Herrschaftsverhältnis auf polit-ökonomischer Ebene implizierende Berichterstattung, stellt nach Beobachtenden und JournalistInnen die deutsche Berichterstattung über den EUMitgliedstaat Griechenland während der Finanzkrise dar. »Was wurde den Griechen nicht schon angetragen an Ratschlägen zur Sanierung ihrer Kassen. Verkauft eure Sonne, riet der deutsche Wirtschaftsminister, verscherbelt eure Inseln, forderte die Hinterbank der CSU.«166 Kritik an der ideologischen Berichterstattung übten vor allem JournalistInnen des ZAPP (Medienmagazin des Norddeutschen Rundfunks NDR), der Rosa Luxemburg Stiftung (hier besonders Sinje Stadtlich167, Nils Casjens und Boris Rosenkranz168, Kai Strittmacher169 und Stefan Kaufmann170) und der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ). »In den Köpfen der Menschen führen die Griechen ein unbeschwertes, rauschhaftes Leben auf Pump der Eurozone, deren Untergang sie in Kauf nehmen. Um eine Gruppe von Menschen derart zu stigmatisieren, wurden Phrasen gezielt in die Köpfe gestanzt.«171 Strittmacher zeigt auf, dass benevolente Lösungsvorschläge für die Krise Griechenlands sowohl in der deutschen Politik als auch in der Medienlandschaft zur Norm wurden. Vornehmlich wurde das Bild gezeichnet, nach dem Griechenland an der Krise selbst schuld sei, die korrupten PolitikerInnen zu viel ausgegeben hätten und zudem die griechischen StaatsbürgerInnen faul seien. Diese »latent nationalistische[n] Deutungsmuster« 172 werden von BeobachterInnen als ideologisch entlarvt zu berichtigen versucht. Dabei werden Vorurteile wie »Wir zahlen den Griechen Luxusrenten«, »Die Griechen haben über ihre Verhältnisse 166 Strittmatter, Kai (2012): »Polizist zu vermieten«. Süddeutsche Zeitung, 10.4.2012. http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/schuldenkrise-in-griechenland-polizist-zuvermieten-1.1328597 vom 1.6.2014. 167 Stadtlich, Sinje (2010): »Feindliche Berichte über Griechenland«. In: NDR, ZAPP Medienmagazin, am 19.3.2010. 168 Casjens, Nils/Rosenkranz, Boris (2012): »Medien machen Griechen zu Idioten«. In: NDR, ZAPP Medienmagazin. 169 Strittmatter 2012. 170 Kaufmann, Stephan (2012): »›Schummel-Griechen machen unseren Euro kaputt‹. Beliebte Irrtümer in der Schuldenkrise«. Rosa Luxemburg Stiftung, Berlin. 171 Bickes, Hans: zit. in: Pressetext (2012): »›Pleite-Griechen‹-Debatte kommt Deutsche teuer«. Pressetext Nachrichtenagentur. 172 Kaufmann 2012.

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gelebt« oder »Griechenland hat sich mit gefälschten Bilanzen in die Währungsunion gemogelt« aufgelöst. Auch vermeintliche politische oder medial vorgebrachte Lösungsvorschläge wie »Die Griechen sollten erst einmal selbst sparen, bevor wir ihnen nochmals helfen« oder »Man sollte Freunden helfen – aber nicht für sie bürgen« wurden differenzierter dargestellt. In einer Reflexion über die Diffamierung Griechenlands arbeiten die JournalistInnen Casjens, Rosenkranz und Stadtlich die Griechenlandberichterstattung mit Beiträgen wie »Medien machen Griechen zu Idioten«173 und »Griechenland als Feindbild«174 oder »Ihr Griecht nix von uns« auf. Journalist Michalis Pantelouris resümiert, »die deutschen Medien haben komplett versagt«, die Probleme Griechenlands, deren Gründe und Auswirkungen umfassend zu beschreiben. Stadtlichs Resumé lautet, dass »Deutsche Politiker und Journalisten einen neuen Prügelknaben [haben]: Das krisengeschüttelte Griechenland. Hohn, Spott und Häme statt Fakten und Recherche«175. Die Journalistin zeigt in ihrer Dokumentation Beispiele derBerichterstattung auf: »›Party auf Pump vorbei‹, spottet der Focus. (08.03.10). Die Bild titelt hämisch ›Ihr griecht nix von uns‹ (05.03.10) und fragt polemisch: ›Reißt Griechenland die deutschen Banken in die Pleite?‹ (15.02.10). ›Tricksen und Täuschen hat Tradition‹ behauptet dreist die Welt. Pauschalurteile statt Fakten. (27.02.10). (…) Panikmache quer durch die deutschen Medien. Die Zeit warnt vor einer griechischen Insolvenz, der Focus zitiert einen Ökonomie-Professor: ›Gefährlich für die Weltwirtschaft‹. Und Bild (...) titelt reißerisch 176

›Deutschland darf nicht für die Zocker bluten.‹ (05.03.10).«

»Während einige der deutschen Medien schnell das kollektive Bild eines Landes von (...) Betrügern heraufbeschworen, personifizierten viele griechische Medien das Feindbild in der Person der deutschen Bundeskanzlerin (...) und des Finanzministers (...).«177 Die deutsche Berichterstattung wurde entweder von griechischen Medien ignoriert,178 oder aber sie reagierten179 mit einer »grobschlächtigen Retourkutsche, die Deutschland den Geist Hitlers und eine Tendenz zum Diskriminieren, Abspalten und zur Propaganda zuschrieb«180. 173 Casjens /Rosenkranz 2012. 174 Stadtlich 2010. 175 Ebenda. 176 Stadtlich 2010. 177 NZZ 2012: a.a.O. 178 Pressetext 2012: a.a.O. 179 NZZ 2012: a.a.O. 180 Bickes in: Pressetext 2012: a.a.O.

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3.3 Spektakularisierbarkeit der Nachrichtenwertfaktoren 3.3.1 Nachrichtenwert »Aber freilich (...) diese Zeit, welche das Bild der Sache, die Kopie dem Original, die Vorstellung der Wirklichkeit, den Schein dem Wesen vorzieht (...); denn heilig ist ihr nur die Illusion, profan aber die Wahrheit. Ja die Heiligkeit steigt in ihren Augen in demselben Maße, als die Wahrheit ab- und die Illusion zunimmt, so daß der höchste Grad der Illusion für sie auch der höchste Grad der Heiligkeit ist. LUDWIG FEUERBACH/DAS WESEN DES CHRISTENTUMS

Neben polit-ökonomischen Einflüssen auf die Medienagenda fußt das Agenda Setting zusätzlich auf journalistischen Selektionskriterien, die die journalistische Auswahl von Sachverhalten mit bestimmten Ereignismerkmalen nahelegen. Die Nachrichtenwert-Theorie von Lippmann181 bzw. Galtung und Ruge182 geht wie auch die konstruktivistische Weiterentwicklung von Schulz183 methodisch von der Analyse der Artikelmerkmale aus. Dabei unterscheiden sich die Merkmale je nach Ressorts, nach Mediengattung sowie nach gesellschaftlicher und kultureller Prägung.184 Lippmann nennt als einer der BegründerInnen der Nachrichtenwert-Forschung in seiner wegweisenden Theorie 1921 als wichtigste Merkmale Nähe, Prominenz, Überraschung und Konflikt eines Ereignisses.185 Davon ausgehend erarbeiten Galtung und Ruge eine auf der Wahrnehmungspsychologie begründeten Nachrichtentheorie, die sich aus kulturunabhängigen und kulturabhängigen Nachrichtenfaktoren zusammensetzt. Zu diesen zählen Frequenz, Schwellenfaktor, Eindeutigkeit, Be-

181 Lippmann, Walter (1921): Public Opinion. Wading River, Long Island. 182 Galtung, Johan/Ruge, Marie Holmboe (1965): »The Structure of Foreign News. The Presentation of the Congo, Cuba and Cyprus Crisis in Four Norwegian Newspapers«. In: Journal of Peace Research 2 (1965), S. 64-91. 183 Schulz, Winfried (1976): Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien. Analyse der aktuellen Berichterstattung. Karl Alber, Freiburg /München. 184 Staab, Joachim Friedrich (1998): Faktoren aktueller Berichterstattung – Die Nachrichtenwert-Theorie und ihre Anwendung auf das Fernsehen. In: Kamps/Meckel 1998: 4964. 185 Lippmann 1921.

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deutsamkeit, Konsonanz, Überraschung, Kontinuität und Variation ebenso wie der Bezug zur Elite-Nation und zur Elite-Person, Personalisierung und Negativität.186 In einer theoretischen Weiterentwicklung betont Schulz die Relativität von Nachrichtenfaktoren, die, konstruktivistisch betrachtet, journalistische Hypothesen von Realität sind. JournalistInnen schreiben demnach einem Ereignis jene Merkmale zu, die von Lippmann, Galtung o.a. als Nachrichtenfaktoren herausgearbeitet wurden – das Ereignis besitzt diese Merkmale nicht notwendigerweise selbst.187 Im Jahr 2000 führt darauf aufbauend Bonfadelli folgende Merkmale als ausschlaggebend an: (1) Anlass, womit die Überraschung, Neuartigkeit und Ungewöhnlichkeit eines Ereignisses gemeint ist, (2) Ablauf, bzw. konkreter die Kurzfristigkeit, die abgeschlossene Entwicklung oder der konkrete Ort eines Ereignisses, (3) Ereignismodalität, d.h. Konflikt, Regelwidrigkeit, Drama, Skandal oder Krise, (4) Ereignisrelevanz, d.h. Konsequenzen, Schaden, Negativität bzw. Erfolg eines Ereignisses, (5) Ereignisnähe auf geografischer und kultureller Ebene und schließlich (6) Status der Akteure (Elite, Personalisierung).188 Relativierend gibt Staab zu bedenken, dass Nachrichtenmerkmale nur zu etwa 40% die Platzierung und den Umfang der Nachricht (im Fernsehen) beeinflussen; Staab spricht daher von einer »moderaten Erklärungskraft des NachrichtenfaktorenKonzepts«189, die auch auf die o.g. kulturellen, sozialen, ressort- und medienbedingten u.a. Unterschiede der Merkmalsbedeutung zurückgeführt werden müssen. 190 Eine Relativierung hinsichtlich der ressortbedingten Gewichtung gibt auch Kamps zu bedenken. Er weist darauf hin, dass bei Fernsehnachrichten 70% aus den Ressorts Wirtschaft und Politik stammen191 – hier wird der Filter »verfügbarer Platz« noch vor den Nachrichtenwertfaktoren wirksam.

186 Galtung/Ruge 1965. 187 Schulz 1976. 188 Bonfadelli, Heinz (2000): Medienwirkungsforschung II : Anwendungen in Politik, Wirtschaft und Kultur. UVK, Konstanz. 189 Staab 1998: 53. 190 Staab 1998. 191 Kamps, Klaus (1999): Politik in Fernsehnachrichten. Struktur und Präsentation internationaler Ereignisse – Ein Vergleich. Nomos, Baden-Baden.

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3.3.2 Inszenierung und Spektakularisierbarkeit »[Tragödien sind] rituelle journalistische Themen, sie sind spektakulär, und vor allem können sie ohne große Kosten behandelt werden, und die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Opfer Solidarität oder wirklichen politischen Widerstand auslösen, ist genauso gering wie bei einer Zugentgleisung oder einem sonstigen Unfall. PIERRE BOURDIEU/GEGENFEUER

Gegenwärtig gewinnt ein Nachrichtenwertfaktor an Bedeutung, der die genannten verschiedengelagerten Merkmale umfasst: die Spektakularisierbarkeit von Ereignismerkmalen. Um nachdrücklich die Möglichkeit, Ereignisse spektakulär zu inszenieren hervorzuheben, möchte ich den Begriff »Spektakularisierbarkeit« für das Phänomen einführen. Die Spektakularisierbarkeit ist an beides gebunden, an das Ereignis selbst als auch an die JournalistIn, die gewillt ist, ein Merkmal aus einem Ganzen zu entheben, besonderes Augenmerk darauf zu legen und mit Übertreibungskraft zu spektakularisieren. Das Merkmal selbst ist inszenierbar, ohne die Phantasie und des Autors erlangte das Merkmal aber keiner Inszenierung, sondern würde Teil eines Ganzen sein. Ein Spektakel, eine Inszenierung ist demnach als sozial konstruiert zu verstehen. Die Spektakularisierung ist einer der beiden Trends, die den zeitgenössischen Journalismus prägen: •

Jede Neuigkeit wird als »Enthüllung« 192 dargestellt, dabei sind aber nur die Schlussfolgerungen von Interesse und nicht die historisch eingebettete Argumentationsführung. Auf die zunehmende journalistische Gestaltung von Ereignissen als »Spektakel«193 weisen Medien- und GesellschaftsforscherInnen wie Baringhorst194, Beaudrillard, Beck/Schrenk, Bourdieu, Cohen, Débord, Enzensberger u.a. hin.

192 Bourdieu, Pierre (1998a): »Fernsehen, Journalismus und Politik«. In: Ders. (1998): 7785, 77. 193 Beaudrillard, Jean (1978a): »Unser Theater der Grausamkeit«. In: Ders. (Hg.) (1978): 7-18. 194 Baringhorst, Sigrid (1996): »Das Spektakel als Politikon. Massenmediale Inszenierungen von Protest und Hilfsaktionen«. In: Forschungsjournal NSB, Jg. 9, Heft 1, S. 15-24, 15; Beaudrillard 1978a; Beck/Schrenk 2007: 248; Bourdieu 1998a; Cohen, Stanley (2002): Folk devils and moral panics. The Creation of Mods and Rockers. Dritte Aufl., Routledge, London; Débord, Guy (1967): Die Gesellschaft des Spektakels. 1. Kapitel,

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Außerdem gilt seit der Erfindung des Fernsehens das »Primat des Sicht baren« 195 , das Sigrid Baringhorst als »Visualisierungszwang massenmedialer Kommunikation«196 bezeichnet.

Sie beeinflussen das Verhältnis des Politischen zu seiner medialen Vermittlung: »Die generelle Transformation des Politischen von der Realpolitik zum Politmarketing – Reaktion auf gesellschaftliche Komplexitätssteigerung und daraus resultierende politische Steuerungsprobleme – hat über den Bereich von Herrschaftssicherung und parteipolitischen Stimmenfang hinaus auch die Politik von unten, d.h. den Charakter partizipatorischer Eingriffsmöglichkeiten der Bürger, verändert.«197

Die Hervorhebung der journalistischen Spektakularisierbarkeit eigener Ereignismerkmale ist zentrales Moment in der Vermittlung aller politischer Interessen, auf Seiten der politischen Elite ebenso wie auf Seiten der Graswurzelbewegungen und Zivilgesellschaft.198 »Medienspektakel sind (…) auf visuelle Wahrnehmung abzielende Kommunikationsereignisse, wobei die spektakulären Seherlebnisse schauspielerische und rituelle Ästhetisierung miteinander verknüpfen.«199 Vermittelt wird das eigene Erleben des Außeralltäglichen im eigenen Alltag des Sehers, authentisch lebt er im Präsentierten mit. Im Spektakel schimmert das Artifizielle durch, ist also zudem ästhetisches Kunstwerk oder wird zumindest als solches inszeniert.200 Die Repräsentation des Ereignisses ist zwar verbunden mit dem Ereignis, denn es bildet die Basis zur Inszenierung, allerdings außerhalb seiner zeitlich-räumlichen Einbettung begriffen – gerade dies macht eine Spektakularisierung möglich. »Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure Ansammlung von Spektakeln. Alles, was unmittelbar erlebt wurde, ist in eine Vorstellung entwichen«201, knüpft Guy Débord an Feuerbach an. In Anlehnung an Hegel, Marx und Lukács schrieb Débord als Mitglied der Situationists Die Gesellschaft des Spektakels als ein wegweisendes Werk, das die moderne kapitalistisch oder realsozialistisch organisierte Edition Nautilus. Hamburg; Enzensberger, Hans Magnus (1997): »Das Nullmedium oder Warum alle Klagen über das Fernsehen gegenstandslos sind«. In: Glotz 1997. 195 Ebenda. 196 Baringhorst 1996: 15. 197 Ebenda. 198 Ebd. 199 Ebd. 200 Chaney, David (1993): Fictions of Collective Life. Public Drama in Late Modern Culture. Routledge, London/New York, S. 22. 201 Débord 1967: a.a.O.

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Industriegesellschaft bis an die Wurzeln anklagt. Das Spektakel umfasst Warenwelt, Politik und Gesellschaft, es stellt nicht Zusammenhänge dar, sondern löst sie auseinander, es »ist nicht ein Ganzes von Bildern, sondern ein durch Bilder vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen Personen.«202 Das real Erlebte ist als solches nicht mehr existent sondern gibt dem Surrogat, seiner Repräsentation in Propaganda, Werbung und Inszenierung, Platz. Die Repräsentation steht vor allem: »Die Gesellschaft, die auf der modernen Industrie beruht, ist nicht zufällig oder oberflächlich spektakulär, sie ist zutiefst spektakularistisch. Im Spektakel, dem Bild der herrschenden Wirtschaft, ist das Endziel nichts, die Entwicklung alles. Das Spektakel will es zu nichts anderem bringen als zu sich selbst. (…) [Das Spektakel als] hauptsächliche Produktion der heutigen Gesellschaft (…) unterjocht sich die lebendigen Menschen, insofern die Wirtschaft sie gänzlich unterjocht hat. Es ist nichts als die sich für sich selbst entwickelnde Wirtschaft. Es ist der getreue Widerschein der Produktion der Dinge und die ungetreue Vergegenständlichung der Produzenten.«203

Implikation ist nach Pierre Bourdieu der Schwund alles nicht bildhaft Repräsentierbarem als vermeintlich zu komplexe Materie, denn diese würde Verständnis evozieren und nicht verurteilen – und den Nachrichtenfaktor des Konflikts mildern. Einzelpersonen werden als sichtbare Ausformung der gesellschaftlichen Welt an den Pranger gestellt, Strukturen tendenziell vergessen. Das Primat des Sichtbaren gründet auch auf der panischen Furcht zu langweilen, denn das zeitgenössische Medium möchte jedenfalls unterhalten, JournalistInnen werden zu »Unterhaltungs-Animateuren«.204 Diese mediale »Politik der demagogischen Vereinfachung«205 bildet das Gegenteil des demokratisch normativen Anspruchs von Medien, Information mit Bildungsanspruch zu liefern. Die demagogische Vereinfachung zieht einen Depolitisierungseffekt bzw. die politische Desilluisionierung nach sich: Komplexe, aber essentielle Fragen sind scheinbar langweilig und werden durch das Spektakuläre verdrängt. Gleichzeitig wirkt sich die mediale Vereinfachung auf politische AkteurInnen aus, denn sie werden darin bestärkt, sich auf kurzfristige, inszenierte, enthistorisierte und atomisierte Events mit »Ankündigungseffekt«206 zu konzentrieren, anstatt ihre Ideen historisch und ganzheitlich in einen (politischen) Kontext zu setzen.

202 Ebenda. 203 Ebd. 204 Bourdieu 1998: 77. 205 Ebenda: 79. 206 Bourdieu 1998: 83.

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»[Fernsehnachrichten sind] eine Abfolge scheinbar absurder Geschichten, die sich letztendlich alle irgendwie ähneln, ein ununterbrochener Aufmarsch bedauernswerter Völker, eine Folge von Ereignissen, die ohne jede Lösung wieder im Dunkel verschwinden werden – heute Zaire, gestern Biafra, und morgen der Kongo. Jeder politische Zwangsläufigkeit beraubt, können solche Ereignisse allenfalls noch ein vages humanitäres Interesse wecken.«207

Nachrichten werden so eine Reihe zusammenhangloser Tragödien, bei der sich politische Katastrophen nicht mehr von Natur-Katastrophen unterscheiden. Aus dem Zusammenhang gerissene Fakten verhindern Aufklärung und langfristiges Interesse für Politik und in Folge für die aktive politische Partizipation. Das Fernsehen schlägt die Resignation vor, anstatt zu mobilisieren und zu politisieren. Die Kraft des Widerstands und alternativer Ideen wird nicht gestützt sondern gehemmt.208 Die Zwänge der medialen Konkurrenz und die berufliche Routine tragen zur fortschreitenden zusammenhanglosen Spektakularisierung bei. Vermittelt werden Bilder einer von Gewalt und Verbrechen geprägten Umwelt, die für das Publikum nicht verstehbar sind. In seinem Essay »Unser Theater der Grausamkeit« kreidet Jean Beaudrillard die Überlegenheit des Schockjournalismus gegenüber dem kritischen Ideenjournalismus an. Dieser positioniert sich außerhalb der traditionellen moralischen und politischen Sphäre während er vorgibt, kein Teil davon zu sein. Zur Spektakularisierung gesellt sich erschwerend die Tatsache, dass die Medien selbst Teil der Maschinerie des Spektakels sind. Ein Widerspruch, den Beaudrillard als »obszön« 209 bezeichnet. Der kritische Journalismus wird dabei auch obszön, versucht dieser doch, das »Spektakel zugunsten des Sinns zu resorbieren, irgendeines Sinns, wo keiner ist.«210 »Die Medien sind terroristisch auf ihre Weise: pausenlos sind sie tätig, um (rechten) Sinn, bon sens, zu produzieren, den sie gleichzeitig gewaltsam wieder zerstören, indem sie überall skrupellose Faszination erzeugen, Lähmung des Sinns also, denn allein das Szenario 211

zählt.«

Spricht Beaudrillard pessimistisch von der Unmöglichkeit kritischer Massenmedien, vertreten Bertolt Brecht (»Radiotheorie«, 1932)212 und Hans-Magnus Enzens207 Ebenda. 208 Ebd. 209 Beaudrillard 1978a: 8. 210 Ebenda. 211 Ebenda. 212 Brecht, Bertolt (1932a): »Der Rundfunk als Kommunikationsapparat«. In: Ders. 1932: 127-134.

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berger (»Medienbaukasten«, 1970) eine optimistischere Position, die auf die emanzipatorischen Möglichkeiten der Medien hinweist.213

4. F RAMING ALS I NSTRUMENT ZUR D EUTUNGSBEEINFLUSSUNG Aufbauend auf den besprochenen Strukturen, die auf das Agenda Setting einwirken, wird in diesem Kapitel die Gestaltung der (Artikel-)Inhalte ins Zentrum gerückt, die ebenso Implikationen für Partizipation bzw. Ideologie. Grundlage bildet dabei das Framing-Konzept, mit welchem argumentiert wird, dass bereits auf Wortebene eine ideologisch geprägte Deutung der Realität festgemacht werden kann. Massenmedien haben konstruktivistisch betrachtet im Hinblick auf die Realitätskonstitution ihres Publikums gleichzeitig große und beschränkte Wirkung: Sie spielen zwar eine starke Rolle in der aktiven Bildung von Frames. Sie bestimmen, wie eine Mediengeschichte erzählt wird, welche ihrer Aspekte beleuchtet, wie sie bewertet und wo Schwerpunkte gelegt werden, um eine Interpretation (bewusst oder unbewusst) in eine bestimmte Richtung zu lenken. Die Einflussnahme der Massenmedien auf den Informationsaufnahmeprozess und die Rezeption der LeserInnen ist hingegen begrenzt.214 Die Vertreter der Frankfurter Schule, Theodor Adorno und Max Horkheimer, weisen in den Ausführungen zur »Kulturindustrie« auf die massive Einflussnahme der Massenmedien auf das Publikum hin, die durch Inszenierung, Vereinfachung oder Fälschung der Tatsachen zu einer Verblendung und zur Verschleierung der Verhältnisse führt. 215 Habermas schließt sich dieser pessimistischen Haltung zunächst an, distanziert sich in seinen späteren Schriften aber insoweit, als dass er den BürgerInnen die kritische Reflexion und das Auflösen von medialen Manipulationen zutraut. Als vornehmlich prägend im politischen Diskurs sind Frames zu nennen, die nach Definition Goffmans als »schemata of interpretations that enable individuals to locate, perceive, identify and label occurences within their life space and the world at large«216 zu verstehen sind. Die durch Wortwahl herbeigeführte inhaltliche

213 Ertl, Sarah (2010): Medienpolitik und Bürgerpartizipation in Russland von 1917 bis heute. Diplomarbeit, Innsbruck, S. 11-37. 214 Scheufele, Dietram (1999): »Framing as a Theory of Media Effects«. In: Journal of Communications, Vol. 49, Issue 1, S. 103 – 122, S. 105. 215 Ertl 2010. 216 Goffman, Erving (1974): Frame Analysis. An Essay on the Organization of Experience. Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts, S. 21.

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Interpretation eines Sachverhalts beeinflusst das durch Medien gezeichnete Bild von Realität für den Diskurs. 4.1 Begriffliche Eingrenzung: Framing Framing findet als analytisches und deskriptives Instrument Anwendung in den Sozialwissenschaften. Benford und Snow217 geben einen Überblick über Forschungsleistungen in kognitiver Psychologie (Bateson 1972, Tversky/Kahnemann 1981), Linguistik und Diskursanalyse (Tannen 1993, Van Dijk 1977), Kommunikation und Diskursanalyse (Pan/Kosicki 1993, Scheufele 1999) sowie in Politikwissenschaften (Schon/Rein 1994, Triandafyllidou & Fotiou 1998) und in der analytischen und empirischen Soziologie (Goffman 1974 u.a.). Die verschiedenen Modelle innerhalb der Framing-Forschung unterscheiden sich in ihrer Schwerpunktsetzung. Einigkeit besteht in der Betrachtung der beiden Akteursseiten, den aktiven Frame-GestalterInnen einerseits und den FrameRezipientInnen andererseits.218 Aktive Frame-GestalterInnen sind z.B. JournalistInnen, PolitikerInnen oder PR-Verantwortliche, und im Hinblick auf das Gramscianische Hegemonie-Konzept konsequenterweise ebenso alle Mitglieder der Gesellschaft, die sich am politischen Diskurs beteiligen und durch Kommunikationsakte mit beeinflussen. Zu den Frame-RezipientInnen zählt das Medienpublikum genauso wie alle Zugehörigen des durch Kommunikation verbundenen Gesellschaftssystems. Für die vorliegende Arbeit sind insbesondere die Analysen und Modelle mit medienwissenschaftlichem Fokus von Bedeutung. Ferner fließen, die Framing in Zusammenhang mit sozialen Bewegungen setzen, sowie Ergebnisse aus der Rezeptionsforschung in die Betrachtungen von Medienframes mit ein. 4.2 Begriffliche Eingrenzung: Medienframes Grundlegend arbeitet Scheufele219 sowie daran anknüpfend Gerth und Siegert220 u.a. die Existenz von media frames, Medienframes, heraus: Damit sind jene Interpreta217 Benford, Robert D./Snow, Daniel A. (2000): »Framing Processes and Social Movements: An Overview and Assessment«. In: Annual Review of Sociology Vol. 26 2000, S. 611 – 639, S.611 ff. 218 Scheufele 1999: 106-110. Scheufele, Bertram (2004): »Kommunikationstheorien und Modelle«. In: Gemeinschaftswerk der Ev. Publizistik 2004: 125-166. 219 Ebenda. 220 Gerth, Matthias/Siegert, Gabriele (2012): »Patterns of consistence and constriction— How news media frame the coverage of direct democratic campaigns«. In: American Behavioral Scientist, 56 (3), 279-299.

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tionsschemata gemeint, die in Medien auftreten und von ihnen distribuiert werden. Vorerst unternimmt Scheufele mit Berufung auf Entmann221 eine Zweiteilung in individuelle Frames und Medienframes.222 Erstere sind kognitive Einrichtungen beim Menschen selbst, unter denen »mental stored clusters of ideas that guide individuals‹ processing of information«223 verstanden werden. Zweitere treten in Medien auf und werden von (mehr oder minder beeinflussten) Frame-GestalterInnen publiziert. Mit Blick auf unterschiedliche, sich teilweise überschneidende Definitionen erfüllen Medienframes nach Scheufele drei Aufgaben: •





Darstellung eines zentralen Konzepts oder einer Storyline mit der Aufgabe, einer Abfolge von Geschehnissen Bedeutung beizumessen und sie als geschlossenen Zusammenhang zu organisieren. Der Frame bestimmt dabei, was die vordergründige Kontroverse eines Themas ist. Arbeitsroutinen für JournalistInnen, um Information unverzüglich zu identifizieren und klassifizieren. Framing bedeutet, eine spezielle Sichtweise eines Problem zu fördern, sei dies, indem eine bestimmte kausale Interpretation oder indem moralische Evaluation vorgelegt und/oder Handlungsvorschläge vorgegeben werden. Systematische Einflussnahme auf die Rezeption des Publikums. 224

Umstritten ist hinsichtlich der kommunikationswissenschaftlichen Begriffsklassifizierung, ob Framing als ein Teil des Agenda Settings zu betrachten ist (Second Level Agenda Setting225), oder ob es sich bei Framing um ein eigenständiges Phänomen handelt.226 Das Konzept des Agenda Settings entwickelt sich aus der These von Cohen, nach der Medien zwar nicht die Form der Informationsrezeption beeinflussen können, allerdings Einfluss darauf haben, worüber nachgedacht wird. McCombs und Shaw führen erst später den Begriff des Agenda Settings ein, wie Bonfadelli und Marr in einem vortrefflichen Aufsatz mitunter die Entwicklung des Ansatzes aufzeigen.227 Der Agenda-Setting-Ansatz setzt sich aus drei Modellen 221 Entman, Robert M. (1993): »Framing: Toward Clarification of a Fractured Paradigm«. In: Journal of Communication, 43, 51-58, 53. 222 Scheufele 1999: 106ff. 223 Entman 1993: 53ff. 224 Scheufele 1999: 106-110; Scheufele 2004; Price/Tewksbury/Powers 1995: 4. 225 Kunczik, Michael/Zipfel, Astrid (2005): Publizistik. Ein Studienhandbuch. 2. Aufl., UTB, Köln, S. 370. 226 Schenk, Michael (2007): Medienwirkungsforschung. 3.Aufl., Mohr Siebeck, Tübingen, besonders S.433-509. 227 Bonfadelli, Heinz/Marr, Mirko (2008): »Kognitive Medienwirkungen«. In: Batinic/ Appel 2008: 127-147, 131.

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zusammen 228 : Das Awareness-Modell geht davon aus, dass Medien bestimmte Themen in das Blickfeld/die Wahrnehmung der RezipientInnen rücken. Das Salience-Modell nimmt an, dass das unterschiedliche Beimessen von thematischer Relevanz auch zu einer unterschiedlichen Gewichtung von Relevanz im Publikum führt. Das Priority-Modell meint, dass das Publikum die Themenrangfolge der Medien für sich übernimmt. In diesem Zusammenhang wird der Begriff des Agenda Buildings bedeutend, der nach Lang und Lang229 das aktive vorsätzliche Beeinflussen der Medienagenda von politischen, wirtschaftlichen u.a. Interessensgruppen meint. Agenda Building wird angewandt, um die Agenda des Publikums gezielt zu beeinflussen. Unter Agenda Building wird zudem der doppelseitig abhängige Prozess der Themensetzung zwischen Medien und Politik verstanden, der auf die Agenda der RezipientInnen einwirkt. Frame Building230 meint in Abgrenzung zum Agenda Building nicht die Beeinflussung der thematischen Reihung, sondern die Beeinflussung der Deutung der Inhalte in der Agenda und die Gewinnung an Deutungshoheit. Frame Building ist der Schritt der politischen o.a. Akteure der Öffentlichkeit zu den Medien. 231 Frame Building ist an kulturelle Wurzeln gebunden.232 Diese kontextuelle Dependenz wird von Gamsonals »kulturelle Resonanz«233 oder von Benford und Snow als »narrative Fidelität«234 bezeichnet. Politische, ökonomische oder andere Interessensgruppen verfolgen beim Frame Building das Ziel, den Deutungsrahmen in eine ihnen dienliche Richtung zu lenken. Regula Hänggli arbeitet in einer Studie über die Art und Weise des Framings der Medienberichterstattung durch politische Akteure zumindest drei bedeutende Einflussfaktoren im Frame-Building-Prozess heraus: (1) die Macht der (politischen) Organisation, die einen Frame bewirbt, (2) die Salienz der Frames im MedienOutput, das heißt die Häufigkeit mit der Frames in den Medien genannt werden, 228 Bonfadelli, Heinz (2004): Medienwirkungsforschung I. Grundlagen und theoretische Perspektiven. 3. Aufl., UVK, Konstanz. Rössler, Patrick (1997): Agenda-Setting. Theoretische Annahmen und empirische Evidenzen einer Medienwirkungshypothese. Westd. Verlag, Opladen. 229 Lang, Gladis E./Lang, Kurt (1981): »Watergate: An Exploration of the AgendaBuilding Process«. In: Wilhoit/De Bock 1981. 230 Fortan kurz als Verb »framen«, oder engl. »framing« verwendet. 231 Scheufele 1999. 232 Goffman 1974. 233 Gamson, William A./Modigliani, André (1987): »The changing culture of affirmative action«. In: Research in Political Sociology, 3, 137-177. 234 Snow, David A./Benford, Robert D. (1988): »Ideology, frame resonance, and participant mobilization«. In: Klandermans/Kriesi/Tarrow 1988: 197-217.

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und (3) der Multiplikatoreffekt von MinisterInnen, PräsidentInnen o.a. Autoritäten. 235 Frame Building steht also mitten im doppelseitig abhängigen Prozess der Bedeutungskonstruktion zwischen Medien und Politik und beeinflusst so die Wahrnehmung des Publikums über die Bedeutungskonstruktion. 4.3 Interdependenzen im Framingprozess Ein bipolares Verhältnis von Frame-Rezipierenden und Frame-GestalterInnen ist in Realität nicht existent, zumal etwa JournalistInnen als Letztentscheidende im Framegestaltungsprozess als individuelle Subjekte im Rahmen ihres Erkenntnis- und Wahrnehmungsapparat geprägt durch ihre Sozialisation (Frames) rezipieren und anschließend gestalten. Wie bei allen Kommunikationsprozessen treten Reflexivität, Konstruktivität und Selektivität ebenso bei Framing-Prozessen in Interessenskonflikten auf, wie Hajnal veranschaulicht, indem er Mertens pentamodales Wirkungsmodell236 mit dem Faktor Macht in Beziehung setzt.237 Macht liegt zunächst auf Seiten der KommunikatorInnen, welche in der Auswahl, Strukturierung und Fokussierung der Themen ein Kommunikationsfeld eröffnen. Die Machtausübung wechselt anschließend zu den RezipientInnen, die eine Vorselektion aus einer Themenauswahl treffen. In diese Selektionsprozesse können KommunikatorInnen mittels Feedback eingreifen. Ähnlich verhält es sich mit der Sinnkonstruktion, die RezipientInnen zunächst selbstständig gestalten, durch Fortführung des Kommunikationsprozesses aber von KommunikatorInnen beeinflusst werden kann. 238 Die Machtausübung im Rahmen der Reflexivität setzt durch die Entscheidung der RezipientInnen ein, ein Feedback zu geben: KommunikatorInnen können auf diese Rückkopplung ihrerseits mit einer Rückkopplung reagieren und die FeedbackSchleife fortführen oder nicht.239 Der Zusammenhang zwischen Medienkommunikation und Individualkommunikation ist Inhalt der Wirkungs- und Rezeptionsfor-

235 Hänggli, Regula (2012): »Key Factors in Frame Building: How Strategic Political Actors Shape News Media Coverage«. In: American Behavioral Scientist, Vol. 56, S. 300317, besonders: 302-305. 236 Merten, Klaus (1995): »Konstruktivismus in der Wirkungsforschung«. In: Schmidt 1995: 72-86, 80. 237 Hajnal, Ivo (2012): »Macht und Kommunikation«. In: Knoblach/Oltmanns/Hajnal/Fink: 291-304, hier besonders: 292-296. 238 Hajnal 2012: 295 bzw. 298ff.; Merten 2005: 111f.; Luhmann 2006: 191-241. 239 Hajnal 2012: 299.

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schung, die die »Beziehung zwischen dem Mediensystem und der Alltagswelt der Teilnehmer«240 beleuchtet. Konkret auf den Framing-Prozess bezogen, entwickelt Lengauer ein Modell, das auf die Interdependenzverhältnisse aller am Framing-Prozess Beteiligten hinweist.241 Wie in Abbildung 3 veranschaulicht, wird dabei eine Unterscheidung zwischen drei Frame-Dimensionen, Media Frame, Public Frame und Policy Frame, vorgenommen. Die Akteure der einzelnen Dimensionen sind zunächst jeweils von ihrem eigenen beruflichen, sozialisierten und ideologischen Rahmen geprägt. Die Journalistin gehorcht den Vorgaben von Darstellungsmuster, Nachrichtenwerten, Selektionskriterien, Blattlinie, Rollenverständnis etc. Sie richtet die Formulierung der Storyline nach dem angenommenen Wissensstand und der politischen Ausrichtung ihres Publikums und nach den Erwartungshaltungen der Anzeigenkunden. Der Leser rezipiert gemäß seiner politischen Sozialisation, was Bildung, Einstellung, Interessen u.a. miteinschließt. Dies wirkt sich einerseits auf die Medien aus, die er konsumiert (oder eben nicht), denn diese versuchen aufgrund ökonomischer Interessen (Auflage) bis zu einem gewissen Grad, dem Leser gerecht zu werden. Außerdem hat der Leser auch auf die Akteure der dritten Dimension Einfluss: die Policy-Maker. Zu dieser Dimension werden Parteien ebenso wie andere Interessensgruppen gezählt. Sie verfolgen in ihren Kommunikationsakten ihre politische, ökonomische Strategie, die jeweils abgestimmt auf die Interessen des Publikums und der Logik der MedienAkteure gewählt wird. Drei Inter-Kommunikator-Relationen bestimmen den Framing-Prozess maßgeblich: • •



das Media Framing (durch Medien) wirkt auf das Publikum und auf die politischen Akteure ein und legt ihnen Themen und Deutungen vor, das Public Framing (durch LeserInnen/RezipientInnen) nimmt Einfluss (a) auf die politischen Akteure z.B. im Zuge von Zustimmung bei Wahlen, und (b) auf die Medien selbst z.B. in Form von Leserbriefen oder Reaktionen in OnlineForen und Konsumverhalten, das Policy Framing (durch politische Akteure) wirkt auf die Medien und auf das Publikum ein.242

240 Charlton, Michal (1997): »Rezeptionsforschung als Aufgabe einer interdisziplinären Medienwissenschaft«. In: Charlton/Schneider 1997: 16-22, 16. 241 Lengauer, Günther (2007): Postmoderne Nachrichtenlogik. Redaktionelle Politikvermittlung in medienzentrierten Demokratien. VS Verlag, Wiesbaden, S. 101. 242 Lengauer 2007: 101.

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Abbildung 3: Interkommunikator-Dependenzen im Framing-Prozess

Medien

Politische Akteure

Public Framing

Publikum

Policy Framing

4.4 Verortung von Frames Liefert das Modell von Lengauer243 eine Übersicht über die Interdependenzen der Dimensionen Media Frame, Public Frame und Policy Frame, so bezieht sich Scheufeles Modell244 auf die Verortung der Frames und macht die prozessualen Unterschiede in der Bildung von Frames deutlich. Scheufele zeigt zwei Ebenen, die aufeinander einwirken: Horizontal siedelt er als Urheber von Frames eine Auswahl an (System-) Bereichen an, die neben anderen (1) bei JournalistInnen und im Mediensystem, (2) bei RezipientInnen und der Bevölkerung und (3) bei ökonomischen, politischen u.a. Akteuren, Gruppen und Organisationen liegen. Frames sind auch von jenen Gruppen beeinflusst, die auf die Etablierung von Nachrichten strukturell einwirken. Die Beeinflussung der Frames durch RezipientInnen rekurriert auf die Hegemonie-Theorie, die die Mitgestaltung aller am (herrschaftsreproduzierenden, ideologiekritischen, oder anders gestalteten) Diskurs unterstreicht.

243 Lengauer 2007. 244 Scheufele 2004.

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Vertikal wird unterschieden zwischen dem Auftreten von Frames (a) auf kognitiver Ebene, wo kognitive Schemata beim einzelnen Menschen zum Einsatz kommen, (b) auf diskursiver Ebene, womit die Veränderung der Haltung zu einem Thema im Rahmen von Kommunikation mit anderen gemeint ist, und (c) als Diskurs-Produkt, also in Form der Manifestation der Frames, die vorher prozessual gebildet wurden.245 4.4.1 Beeinflussung von Frames durch JournalistInnen Gemäß ihrem Rollenverständnis stellen JournalistInnen im Rahmen journalistischer Regeln umfassend Sachlagen sowie Sichtweisen und Werthaltungen des politischen Diskurses dar. Dabei können sie weder völlig außerhalb ihrer eigenen Prägung von Normen und Werten, politischer Einstellung und kognitiven Schemata wahrnehmen noch schildern. Zur eigenen Rezeption des Sachverhalts gesellen sich häufig Vorgaben seitens der Medienorganisation und/oder Druck von Interessensgruppen, die das Diskursprodukt mit beeinflussen.246 Die interessensgebundene Beeinflussung ist keine Rarität, machten doch in Deutschland mindestens zwei Drittel aller JournalistInnen entweder selbst (48%) oder als Beobachtende bei KollegInnen (66%) die Erfahrung, einen redaktionellen Text als »Gefallen für einen Anzeigenkunden« 247 zu schreiben, wie Buckow in einer Studie aufzeigt. Teils werden Themen oder Darstellungen der Interessensgruppe als journalistische Texte ausgegeben. Buckow weist daraufhin, dass der Anteil bei Lokalzeitungen tendenziell (noch) höher ist als bei Zeitungen mit größerer Reichweite.248 4.4.2 Beeinflussung der Frames durch Interessensgruppen Das Framing seitens ökonomischer, politischer, zivilgesellschaftlicher u.a. Gruppen geschieht mit intentionaler Berechnung, wie Lies 249 , Edelmann 250 u.a. festhalten. Pressure groups und Autoritäten, wie etwa Militärkommandoführer im Golf Krieg 1991, gestalten ihre Presseaussendungen nach eigenen Interessen und benützen Massenmedien, um die Realität in einer Art darzustellen, die ihren Zielen am ehes245 Scheufele, Bertram (2004b): »Framing-Effekte auf dem Prüfstand. Eine theoretische, methodische und empirische Auseinandersetzung mit der Wirkungsperspektive des Framing-Ansatzes«. In: M&K 52, 1/2004, S. 30-53, S. 30ff. 246 Entmann 1993: 109. 247 Buckow, Isabelle (2011): Freie Journalisten und ihre berufliche Identität. VS, Wiesbaden, S. 83. 248 Buckow 2011: 83ff. 249 Lies, Jan (2012): Public Relations als Machtmanagement. Springer-Gabler, Wiesbaden. 250 Edelmann, Murray (1993): »Contestable categories and public opinion«. In: Political Communication, 10, S. 231–242.

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ten dient. Sie evozieren mit der Wahl des Framings die Bildung von Realitätskonzeptionen. Interessensgruppen konstruieren mithilfe einschlägiger Begriffe, Darstellungsart, Kontextualisierung und Konflikt- und Fokusauswahl ein (Welt) Bild, das ihren Zwecken am besten entspricht.251 Kalliauer und Flassbeck provozieren im deutschsprachigen Raum im Jahr 2010, als sie für ökonomisch motivierte private Interessengruppen und den Finanzmarkt einen Anstieg an Einfluss auf soziopolitische Entscheidungsprozesse in Europa konstatieren, während nationalstaatliche »Regierungen bedingungslos der Logik der Finanzmärkte folgen« und ihrerseits »kaum noch Handlungsspielraum«252 in Entscheidungsprozessen haben würden. Ähnliches lässt sich im Mediensektor beobachten: Neben dem Trend der Monopolbildung hat die Maxime der Gewinnsteigerung bei großen Medienunternehmen ebenso Fuß gefasst. Dies hat nicht zuletzt Auswirkungen auf die Publikation kritischer Nachrichten. Medienunternehmen laufen bei Berichterstattung gegen die Interessen wichtiger Anzeigenkundschaft Gefahr, ebenjene zu verlieren und erhebliche finanzielle Einbußen davon zu tragen. So wird nicht nur konkrete Kritik als schädlich für die Anzeigenkundschaft und somit indirekt für das Medienunternehmen gewertet. Auch abstrakte Zusammenhänge, die sich ökonomisch nachteilig auf die Kundschaft auswirken könnten, werden vermieden. Norris und Inglehardt wiesen darauf hin, dass Konsumkritik, politischer Aktivismus und das Beharren auf soziale Gerechtigkeit im Sinne von BürgerInnenwerten kaum noch Eingang in die Medien finden, ja sogar verharmlost oder verspottet werden. Hingegen liegt der Trend in den Massenmedien in der Förderung von Ideen, die Individualismus, soziale Disparität und Konsum propagieren. 253 Im von Kristina Borjesson herausgegeben Sammelband Zensor USA – Wie die amerikanische Presse zum Schweigen gebracht wird zeigen investigative JournalistInnen Fälle von Zensur in der – gemeinsam mit der Mittel- und Westeuropäischen als zensurfrei begriffenen – US-amerikanische Presselandschaft auf. Die (subtileren) Methoden der Beeinflussung in den USA reichen von Embedded Journalism bis zu Drohungen, die zur »freiwilligen« Selbstzensur des Journalisten, der Verlegerin oder der Redakteurin führen, von Diffamierungskampagnen über Verfolgung und in einigen Fällen bis zur Tötung von AufdeckungsjournalistInnen. Die Bandbreite der Themen, die in der US-Presse nicht auftauchen sollten, ist wie jene der Beeinflussungsmethoden groß: investigative Berichte über Bodenschätze und Umweltverbrechen, Wahlfälschung, Armeekritik oder verschwiegene Verbrechen im 251 Edelmann, Murray (1977): Political language. Academic Press, New York, S. 51. 252 Kalliauer, Johann/Flassbeck, Heiner (2011): »Neue Wege zur Lösung der Krise in Europa«. Verschriftlichter Vortrag auf der Pressekonferenz der Arbeiterkammer Linz am 7. Dezember 2011, Linz. 253 Norris, Pippa/Ronald Inglehart (2009): Cosmopolitan Communications. Cultural Diversity in a Globalized World. Cambridge University Press, Cambridge.

R EPRODUKTION

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Zusammenhang mit Drogen. Um die Fälle der Zensur und den undemokratischen Umgang mit JournalistInnen zu vertuschen oder zu verharmlosen, gab die BushRegierung den Zensurmethoden den Namen »reality perception control« 254. Jean Ziegler bezeichnet diese Verschleierung als »gesamtamerikanische Maschinerie der Informationsverhinderung, Präventivzensur und Ausschaltung unbotmäßiger Journalisten. Die bezahlten Söldner der Großkonzerne und der staatlichen Exekutivgewalt verhindern mit allen – wörtlich: mit allen – Mitteln das Erscheinen kritischer Berichte über die gelebte Wirklichkeit der Bürger.«255 Medienwissenschafter Peter Ludes stellt nach Analyse der Medienberichterstattung und Aufzeigen von »Verschleierungsinfrastrukturen« desillusioniert die Frage, »ob es möglich ist, dass die westlichen Medien Schaubühnen und Sprachrohre für die Anpreisung westlichen Konsumdenkens und der freien Marktwirtschaft werden.«256 Die Perzeptionskontrolle erstreckt sich nicht nur auf den Sozialstaat und die sozioökonomische Konstruktion von Wirklichkeit, sondern nun auch auf ökologische Themen, seitdem diese ökonomischen Interessen gefährlich sein können. Ein Bericht von Reporter ohne Grenzen zeigt die starke Beeinflussung der massenmedialen Berichterstattung über Umwelt- und Naturkatastrophen. Zahlreiche JournallistInnen werden demnach von ihren investigativen Forschungen und den folgenden Veröffentlichungen abgehalten.257 4.4.3 Beeinflussung von Frames durch RezipientInnen Zum umfassenderen Verständnis der diskursiven Hegemonie-Bildung ist trotz Fokus auf die Medienframes auch die Rezeption der individuellen Frames mit zu beachten. Sie wird im Folgenden kursorisch beleuchtet. Die Ausformung der Informationswahrnehmung von RezipientInnen pendelt nach Kosicki und McLeod zwischen drei Prototypen.258 (1) Aktive MedienrezipientInnen betrachten Informationen aus den Massenmedien generell als unvollständig und von den Intentionen der politischen KommunikatorInnen gefärbt. Sie beschaffen sich daher in anderen Medien zusätzliche alternative Darstellungen. (2) Reflektierte LeserInnen überdenken die Information aus den Massenmedien und besprechen sie mit anderen Personen, um sie besser zu verstehen. Im Unterschied zu den aktiven LeserInnen bleibt diese zweite Gruppe systemimmanent, da sie die gebotene Storyline in ihren Details verstehen will, die Geschichte per se aber nicht in Fra254 Ziegler 2004: 8. 255 Ebenda. 256 Ludes 2011: 136. 257 Brossel, Vincent/Reporter ohne Grenzen (2010): »High-Risk Subjects Deforestation and Pollution«. Report in Zusammenarbeit mit ROG, Juni 2010, Report Environment, Reporter ohne Grenzen. 258 Kosicki/McLeod 1990.

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ge stellt. (3) Das selektive Publikum entnimmt den Medien nur Information, die für sie selbst relevant ist, unwichtig oder uninteressant empfundene Beiträge werden übersprungen. Der konstruktivistische Ansatz geht von einer Mischung des Publikums aus den drei Prototypen aus, die LeserInnen glauben an eine Version der Realität, die ein Konglomerat aus persönlicher Erfahrung, Informationsgewinn durch Interaktion mit anderen und interpretierter Selektion aus den Massenmedien ist.259 Neben der Reflexion der Information gibt das Publikum ebenfalls ein Feedback über die empfangene Information zurück. Die Reaktion der Bevölkerung drückt sich im Wahlverhalten ebenso wie in der Kaufentscheidung von verschiedenen Medien aus, wie der Uses-and-Gratifications-Approach argumentiert. 260 JournalistInnen gelangen an dieses Feedback durch persönliche Gespräche, Stellungnahmen zivilgesellschaftlicher Gruppen, Beobachtung der Online-Kommunikation etc.

259 Neumann et al 1992: 120. 260 Palmgreen, Philip (1984): »Der ›Uses and Gratifications Approach‹. Theoretische Perspektiven und praktische Relevanz«. In: Merten/Schmidt/Wieschenberg 1994: 297-328, 317ff.

Graswurzel- und Astroturf-Protest in ihrer medialen Realisierung Die beiden Protestformen und ihre spezifischen Merkmale

»We want to create a different world. We protest, of course we protest. We protest against the war, we protest against the growing use of torture in the world, we protest against the turning of all life into a commodity to be bought and sold, we protest against the inhuman treatment of migrants, we protest against the destruction of the world in the interests of profit.«1 JOHN HOLLOWAY

1. P ROTEST : M OTIV UND DISKURSIVE Z IELFORMULIERUNG Arbeitsstreiks, Lebensmittel-Boykotte, ein Kind, das nicht mehr in die Schule gehen will, lokale solidarische Demonstrationen gegen die Abschiebung von AsylwerberInnen, offensichtlich vorgetragene Selbstzerstörung, Widerstand gegen die aufgewendeten öffentlichen Gelder für ein Sportereignis bei gleichzeitig sinkenden Sozialleistungen, der Rückgriff auf Gewalt als Mittel, wo Sprache nicht gehört oder als nicht ausreichend begriffen wird – Protest hat zahlreiche Gesichter. Er wird individuell oder kollektiv ausgeführt, richtet sich gegen Einzelne, Organisationen oder gegen Strukturen. Proteste, die sich in ihren konkreten Forderungen unterscheiden, können sich gleichzeitig im Angriff der gleichen strukturellen Bedingungen ähneln. Die (massen-)mediale Resonanz auf Protest hat ebenso viele Formen wie Protest selbst: Protest wird ignoriert oder verurteilt, die AktivistInnen kriminalisiert oder unterstützt, Protestaktionen werden spektakulär aufbereitet, Protestinhalte vernachlässigt, Motive ausführlich vorgestellt oder Forderungen massenmedial 1

Holloway 2012.

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affirmiert. Dieses ZWEITE KAPITEL beleuchtet das komplexe Verhältnis von Protest und Massenmedien. Zugrunde liegt die Schwierigkeit, aufgrund des breiten Spektrums auftretender Protestformen einen Prototyp des dynamischen Phänomens auszumachen, daher versucht die einführende Definition, sich Protest im Hinblick auf seinen Auslöser, seine OrganisatorInnen, seine kommunikativen Handlungen und seine Ziele von verschiedenen Seiten zu nähern, erhebt aber nicht Anspruch auf Vollständigkeit. Die Besprechung von Gemeinsamkeiten aktueller europäischer und internationaler Proteste schließt das erste Unterkapitel ab. In den vergangenen Jahren kommt es vermehrt zum Auftreten eines Phänomens, das zugleich Sonderform von und Gegenstück zu Protest ist. Sogenannter Astroturf-Protest, dem sich das zweite Unterkapitel widmet, wird von einer vermeintlichen Graswurzelorganisation durchgeführt, um für organisationspezifische Partikularinteressen zu lobbyieren. Er wird von Fachpersonal wie PR-Firmen organisiert und will über die Einbeziehung von protestierenden BürgerInnen den Diskurs verändern, Hegemonie gewinnen, politische Aktivität erzielen und ein Interesse durchsetzen. Drittens wird das Spannungsfeld, in dem Massenmedien zwischen Öffentlichkeit und Protest, zwischen politischen Verantwortlichen und protestierenden BürgerInnen agieren, untersucht. Aufbauend auf den ERSTEN TEIL DER ARBEIT wird die Berichterstattung über Protest vor dem Hintergrund struktureller Einflüsse auf die Berichterstattung untersucht. Hierbei wird die Kategorie der protestereignisspezifische Merkmale identifiziert und ausführlich beleuchtet, und dahingehend geprüft, ob und inwiefern die protestereignisspezifischen Merkmale Einfluss auf die Berichterstattung nehmen. Auf der Analyse und den vorliegenden Erkenntnissen aus der Literatur basierend wurden prototypische Formen der Protestberichterstattung erarbeitet, die am Ende dieses ZWEITEN KAPITELS dargelegt werden. 1.1 Ausgangslage: Schrei und Hoffnung »Am Anfang ist der Schrei. Wir schreien. (...) [E]in Schrei der Trauer, ein Schrei des Entsetzens, ein Schrei des Zorns, ein Schrei der Verweigerung: NEIN.« 2 John Holloway stellt die Wut an den Beginn des Protests. Unzufriedenheit, Nicht-Übereinstimmen, Dissonanz, Ablehnung, Negation, Widerstand stehen am Anfang der theoretischen Reflexion. Die Wut ist ein »undeutliches Murmeln der Unzufriedenheit, Tränen der Frustration, ein wütender Schrei, ein selbstbewusstes Brüllen, ein

2

Holloway, John (2002): Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernenhmen. Westfälisches Dampfboot, Münster, S. 10.

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Unbehagen, eine Verwirrung, ein Sehnen, eine kritische Stimmung.«3 Der mexikanische Sozialwissenschafter John Holloway lokalisiert den Ausgangspunkt von Protest im Schrei als Ausdruck des Erschreckens und der Wut über die herrschenden Bedingungen. »Break. We want to break. We want to break the world as it is. A world of injustice, of war, of violence, of discrimination, of Gaza and Guantanamo. A world of billionaires and a billion people who live and die in hunger. A world in which humanity is annihilating itself, massacring non-human forms of life, destroying the conditions of its own existence. A world ruled by money, ruled by capital. A world of frustration, of wasted potential.«4

Die existierenden wirtschaftlichen und politischen Bedingungen sind für das Subjekt fühlbar und erfahrbar durch im Alltag auftretende persönliche Erlebnisse: Diskriminierung, Unterdrückung im Haushalt, Druck im Büro, die prekäre Wohnsituation, die Arbeitsbedingungen in der Fabrik. Dazu gesellt sich die subjektive Aufnahme von in Nachrichten transportierten Widersprüchen gesellschaftlichen Zusammenlebens, wo eine Elite einflussreicher Personen über bessere Lebensbedingungen und Reichtum verfügt, während ein großer Teil der (Welt-) Bevölkerung in Armut lebt. Holloway hält fest, dass »unsere Wut sich nicht nur gegen einzelne Geschehnisse [richtet], sondern gegen ein allgemeineres Unrecht, ein Gefühl, dass die Welt schief ist, dass die Welt in gewisser Weise nicht wahrhaftig ist.«5 Den lokalen, plurilokalen, nationalen und globalen Protesten gemeinsam ist die Dissonanz, die Gegensätzlichkeit zwischen dem »Jetzt«, dem »was ist«, und dem »Noch-Nicht«, die Ernst Bloch beschreibt, diese Dissonanz bedingt das Unbehagen. Protest hat eine »doppelte Signatur«6, denn ist einerseits Ausdruck der Unzufriedenheit mit gegebenen Umständen und andererseits die Hoffnung auf eine bessere Alternative. 7 Der Protestforscher Dieter Rucht betont das Auftreten der Dissonanz bereits in der Wortbedeutung selbst: »Wer protestiert, stellt sich gegen etwas. Protest, so die Auskunft von Wörterbüchern in mehreren Sprachen, ist ein Ausdruck des Widerspruchs, der Zurückweisung. Wer protestiert, ist aber zugleich für etwas. Das lateinische testari bedeutet, für etwas Zeugnis ablegen, für etwas einstehen. Protest bringt zumindest indirekt Maßstäbe, von Gerechtigkeit, Fairness, Zumut3 4

Ebenda. Holloway, John (2012): »Holloway: Crack Capitalism – we want to break«. In: RoarMag.org,

4.12.2012.

want-to-break/ 5

Holloway 2002: 11.

6

Ebenda.

7

Ebd.

http://roarmag.org/2012/12/john-holloway-crack-capitalism-we-

96 | P ROTEST ALS EREIGNIS barkeit oder Würde zur Geltung. Er ist somit nie blanke Abwehr, sondern verweist zumindest 8

implizit auf die Möglichkeit und Wünschbarkeit anderer und besserer Zustände.«

Im gleichen Moment sehnt sich der Schrei der Unzufriedenheit nach anderen, besseren Bedingungen und bündelt die Hoffnungen auf eine alternative Welt, die in der Vorstellung bereits vorhanden ist. Die Dissonanz zwischen dem Ist und dem Möglichen ist Ausgangspunkt und zugleich Zentrum des Verständnisses von Protest. Der (versinnbildlichte) Schrei intendiert, Aufmerksamkeit von und eine Reaktion der Verantwortlichen zu erlangen. Ein Diskurs über die Probleme soll entweder eröffnet oder von den Forderungen der Protestierenden beeinflusst werden, um zumindest teilweise Deutungshoheit zu gewinnen oder Hegemonie zu durchbrechen. 1.2 Begriffliche Eingrenzung: Protest Der Begriff »Protest« geht zurück auf lateinisch »pro testare«, »für etwas Zeugnis ablegen«. Der Duden führt Protest als »meist spontane und temperamentvolle Bekundung des Missfallens, der Ablehnung«9. Die Protestforscher Rucht, Hocke und Ohlemacher definieren Protest als »eine kollektive, öffentliche Aktion nicht-staatlicher Träger, die Kritik oder Widerspruch zum Ausdruck bringt und mit der Formulierung eines gesellschaftlichen oder politischen Anliegens verbunden ist.«10 Neben dem Wählen und dem Lobbyieren gilt Protest als je nach nationalen Standards als unkonventionelles, alternatives, nicht-institutionelles Instrument zur politischen Beeinflussung. Mit Protest wird versucht, Aufmerksamkeit zu gewinnen, Widerstand zu leisten, zu drohen, Forderungen einer breiteren Öffentlichkeit deutlich zu machen und »eventuell Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft zu haben« 11, so Koopmoos und Rucht. Proteste sind Kommunikationsakte bzw. Nachrichten, die an den politischen Gegenpart, Sympathisierende, Entscheidungstragende und die Öffentlichkeit gerichtet werden. Tadzio Müller und Ben Trott, die sich dem Begriff im Wörterbuch ABC der Alternativen aus neoliberalismuskritischer Perspektive nähern, unterscheiden zwischen »defensiv[en] oder offensiv[en](…), individuell[en] oder kollektiv[en], legal[en] oder illegal[en]« Protesten, die »medial aufgeplustert oder ignoriert wer-

8

Rucht, Dieter (2001a): »Protest und Protestereignisanalyse: Einleitende Bermerkungen«. In: Rucht 2001: 7-25, 9.

9

Duden 2014.

10 Rucht/Hocke/Ohlemacher 1992: 4. 11 Koopmons, Ruud/Rucht, Dieter (2003): »Protest Event Analysis«. In: Klandermans/ Staggenborg 2002: 231-259.

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den«12 können. Protestaktionen treten in Ausformungen wie Sabotagen, Leserbriefen, Blockaden, Besetzungen, Online-Protesten in Sozialen Medien als sogenannte Shitstorms, Straßendemonstrationen oder Selbstverbrennungen auf.13 Protest ist dynamisches Zwischenprodukt eines bestehenden oder bereits geführten Diskurses über eingetroffene oder erwartete Eingriffe in die Lebensrealitäten von Subjekten. Ihm gehen Kommunikationsakte über Missstände voraus, die sich in oft wenig sichtbaren Gärungsprozessen zwischen potentiellen ProtestteilnehmerInnen zutragen und zumindest aus kleinen inhaltlichen Gemeinsamkeiten bestehen. Die Protestteilnehmenden interagieren nicht in Form von »Einwegkommunikation«, sondern mit »Interaktionen innerhalb eines vielgliedrigen Gefüges«14 werden gemeinsam Informationen über die Sachlage eingeholt. Bei langfristig geplanten Protesten wird versucht, von außen Ressourcen einzuwerben und die Öffentlichkeit und potentielle UnterstützerInnen über die Medien zu erreichen.15 Aufgrund der zahlreichen Erscheinungsformen von Protest ist weniger die Definition, was Protest »ist, sondern vielmehr, was er tut, welche Wirkung er entfaltet« 16 , bedeutsam. Ziel ist, die (politische/ökonomische/kulturelle o.a.) Praxis zu verändern, nämlich entweder auf Mikroebene die Alltagspraxis oder die Alltagskultur, oder auf Makroebene legislative Veränderungen bis hin zu Systemumstürzen.17 Mit Bezugnahme auf die Ausführungen Holloways ist zum Verstehen von Protest zunächst die Betrachtung des Ausgangspunktes von Protest wichtig – woher die Wut rührt und ein Schrei notwendig wurde. 1.3 Begriffliche Eingrenzung: Soziale Bewegungen Proteste werden meist von neuen sozialen Bewegungen ausgeführt, die im politischen System innerhalb eines Staates bzw. eines Staatenbundes nicht institutionalisiert sind. Bei sozialen Bewegungen handelt es sich um »ein auf gewisse Dauer gestelltes und durch kollektives Identität abgestütztes Handlungssystem mobilisierter Netzwerke von Gruppen und Organisationen, welche sozialen Wandel mittels öffentlicher Proteste herbeiführen, verhindern oder rückgängig machen wollen. [...] Die Mobilisierung von Bewegungsanhängern sowie die Erlangung öffentlicher Aufmerksamkeit

12 Müller, Tadzio/Trott, Ben (2012): »Protest«. In: Brand/Lösch/Opratko/Thimmel 2012: 226-227, hier: 226. 13 Ebenda. 14 Rucht 2001a: 9. 15 Rucht 2001a: 8-11. 16 Müller/Trott 2012: 226. 17 Ebenda.

98 | P ROTEST ALS EREIGNIS und Zustimmung sind mangels anderer Mittel die zentralen Ressourcen, die Bewegungen unter günstigen Bedingungen aufbieten können. Erst damit kann es ihnen gelingen, über eine Randerscheinung hinauszuwachsen und letztlich auch ihren Zielen näher zu kommen.«18

Soziale Bewegungen sind komplexe »protestierende und kritisierende, sich organisierende und vernetzende, lernende und mitunter streitende Kollektive«19, fasst Ulrich Brand zusammen. »›Bewegung‹ [ist hierbei] mehr als ein beobachtbares und öffentlich agierendes globalisierungskritisches Kollektiv oder Netzwerk. ›Bewegung‹ ist darüber hinaus ein komplexer Prozess, in dem Menschen gesellschaftliche Verhältnisse verändern bzw. verändern wollen.«20 Brand ergänzt Ruchts Definition um den Aspekt der ökonomisch-politischen Inhalte: Vordergründig würden diese Kollektive »den neoliberalen Zuständen in emanzipativer Absicht entgegen treten.«21 »Aktuelle[r] Bewegungen« werden als »enorm heterogen« wahrgenommen, Brand sieht aber einen gemeinsamen inhaltlichen Überbau, weshalb »einige von der ›Bewegung der Bewegungen‹ sprechen«22. Neil Stammers, der sozialen Bewegungen optimistisch eine sehr starke Rolle im Vorantreiben oder im Verzögern soziohistorischer Veränderungen zuschreibt, betont das stetige Engagement sozialer Bewegungen für Historizität über grundlegende Werte, Orientierungen und Gesellschaftsstrukturen. Grundlegend arbeitet Stammers »dual and dialectical faces« von sozialen Bewegungen heraus. Dabei wird in der Dimension, im Verhalten zu existierenden Machtakteuren, -objekten oder -strukturen und in der zugrunde liegenden Machtkonzeption zwischen der Richtung nach Steven Lukes oder nach Michel Foucault unterschieden.23 In der Dimension unterscheiden sich soziale Bewegungen anknüpfend an die älteren Interessens- und Identitäts-Konzepte in ihrer instrumentellen oder expressiven Ausrichtung. Erstere verfolgen politische, ökonomische und soziale demands, die auch altruistisch und nicht notwendigerweise primär Bedürfnisse der AktivistInnen sein können. Zweitere orientieren sich an Normen, Werten, Identitäten oder Lifestyles, und reichen über die Konstruktion einzelner Identitäten hinaus. In Protestaktionen lässt sich nicht ausschließlich die Erscheinungsform, sondern vielmehr die Dialektik der expressiven und instrumentellen Dimension beobachten. Der instrumentelle Anspruch der Mobilisierung wird mit der Solidarität unter den Protestmit18 Rucht, Dieter (1994): Modernisierung und neue soziale Bewegungen. Deutschland, Frankreich und USA im Vergleich. Campus, Frankfurt/New York, S. 338ff. 19 Brand 2005: 8. 20 Ebenda. 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Stammers Neil (1999): »Social Movements and the Chalenge to Power«. In: Shaw 1999: 73-88.

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gliedern verknüpft, d.h. innerhalb der aktivistischen Gruppe besteht eine andere soziale Norm als gegenüber dem herausgeforderten Gegenpart.24 Die zugrundeliegende Machtkonzeption steht in engem Zusammenhang mit dem Verhalten sozialer Bewegungen zu diversen Machtformen. Stammers diskutiert das Machttheorem Foucaults, dessen besondere Stärke in der Betonung des relationalen und zirkulierenden Charakters von Macht liegt. Macht ist in das alltägliche Leben eingebettet und trägt sich diskursiv fort. Diese Machtkonzeption negiert allerdings die Möglichkeit, mittels Protestaktionen den Machteffekten Widerstand zu leisten und die materiellen Grundlagen zu ergreifen. Problematisch ist hier »the extent to which power is seen as constructed solely through discourse and discourse practices, and the degree to which discourse can be said to entirely constitute the subject (of power).«25 Das Konzept beachtet die außerhalb des Diskurses stehenden Faktoren (wie etwa aktives aktivistisches Handeln/agency), die Handeln ermöglichen oder verhindern, zu wenig. Die Rolle des Diskurses in der (Re-) Produktion, in der Ausübung und im Herausfordern von Macht wird nicht bestritten, allerdings lässt sich der Reduktionismus auf den Diskurs durchaus bezweifeln. Alternativ bringt Stammers das Machtkonzept von Lukes vor, das Foucaults Konzept mit der vorgebrachten Kritik verknüpft. Lukes sieht Macht nicht nur strukturalistisch oder subjektzentriert, sondern vereint beides: Macht wird diskursiv konstituiert, aber auch materiell oder soziokulturell hervorgebracht.26 Hajnal zeigt auf, dass sowohl KommunikatorIn als auch RezipientIn im Kommunikationsprozess Macht ausüben.27 Allerdings gelangt der Sprachwissenschaftler zu dem Schluss, dass Macht ebenso über physischen oder ökonomischen Ressourcen materiell konstituiert.28 Soziale Bewegungen durchlaufen drei Entwicklungsphasen: • •



Äußerung von Betroffenheit, Appell an die Moral und Engagement: In diese Phase fallen etwa neu formierte Grassroots; Interne Ausdifferenzierung und Professionalisierung der Gruppe sowie Repräsentation nach außen: Beispiel ist die Organisation Greenpeace, die intern ausdifferenziert ist und sich professionell nach außen repräsentiert; Politischer Zusammenschluss, Zentralisierung und Institutionenbildung: Die Grüne Partei in Österreich und Deutschland ist mittlerweile aus dem Status

24 Stammers 1999. 25 Stammers 1999: 81. 26 Stammers 1999: 81ff. 27 Hajnal 2012 293-301. 28 Hajnal 2012: 292.

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eines zivilgesellschaftlichen Protestkollektivs getreten und als Partei institutionalisiert worden.29 Bei der Betrachtung der Partizipation und Öffentlichkeitsrückbindung von Protestorganisationen lässt sich ab der zweiten Phase eine professionalisierte Repräsentation und ein vom direkten Bürgerengagement abgelöstes Agieren festhalten. Die Abwendung von einer politischen Beteiligung von unten kann auch kritisiert werden, denn die Beteiligung von unten bildet die Wurzel sozialer Bewegungen. Konsequenz der Ausdifferenzierung und Professionalisierung ist der geringer werdende Unterschied ehemaliger sozialer Bewegungen von zivilgesellschaftlich engagierten kapitalorientierten Unternehmen, so Sarcinelli und Hoffmann.30 »Insofern gibt es – zumindest aus organisationssoziologischer und kommunikationswissenschaftlicher Sicht – durchaus eine strukturelle Verwandtschaft zwischen Solidaritätskampagnen gemeinnütziger Organisationen und moralisch argumentierenden Kampagnen kommerzieller Unternehmen.«31 1.4 Frames kollektiven Handelns Soziale Bewegungen erfüllen in der Öffentlichkeit zwei Funktionen, die auch für spontane Protestgruppen gelten (die nicht als Bewegung definiert werden): Sie sind Trägerinnen von Meinungen aus Kollektiven, gleichzeitig nehmen sie eine aktive Rolle im Prägen von Bedeutung im politischen öffentlichen Diskurs ein. Sozialpsychologische, politologische und soziologische Theorien beschäftigen sich mit collective action, dem Kollektiven Handeln, deren dominierende vorlaufende Bedingung nach van Zomeren, Postmes und Spears auf sozialpsychologischer Ebene die Wahrnehmung von drei Perspektiven ist: des Unrechts, der Wirksamkeit und der Identität.32 Der von Holloway postulierte Schrei am Anfang von Protest vereint alle drei: Das wahrgenommene Unrecht wird als Kommunikationsakt veräußerlicht, gleichzeitig besteht durch die aktive Betätigung des Schreis die Hoff-

29 Himmelmann, Gerhard (1996): »Chancen und Grenzen politischer Beteiligung und »Handlungsorientierung‹ in der Politischen Bildung«. In: Politische Bildung 29, 2. S.8196. 30 Sarcinelli, Ulrich/Hofmann, Jochen (2006): »Öffentlichkeitsarbeit zwischen Ideal und Ideologie. Wie viel Moral verträgt die PR und wie viel PR verträgt die Moral?«. In: Röttger 2006: 231-246, 235. 31 Ebenda. 32 Van Zomeren, Martijn/Postmes, Tom/Spears, Russell (2008): »Toward an integrative social identity model of collective action: A quantitative research synthesis of three sociopsychological perspectives«. In: Psychological Bulletin 134 (4), S. 504-535.

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nung auf dessen Wirksamkeit. Der Schrei ist zudem Kommunikationsakt mit Referenz auf die Identität des Selbst, das wahrgenommen werden will, oder auf die Bedürfnisse und Forderungen eines Kollektivs. Als Mittel zur Durchsetzung der Forderungen auf politischer Ebene dient Kommunikation der Aufmerksamkeitsgewinnung. Zum Vorantreiben der Forderungen sind Protestgruppen auf die Einigung und Formulierung der Bedürfnisse und Ziele, die Zieläußerung, und deren Publikmachen angewiesen. Jens Ilse, der als langjähriger Landesgeschäftsführer der Deutschen Friedensgesellschaft der Vereinigten KriegsdienstgegnerInnen an Kampagnen und Protesten der Friedensbewegung beteiligt war, betont die Notwendigkeit für Protestgruppen, sich über eigene Stärken, Gegenspieler und gegnerischen Strategien bewusst zu werden. Zur Zielformulierung ist der Blick auf die Zielgruppe zu richten, was ihre Medienpräferenz und die sprachlich adäquate und effiziente Formulierung betrifft, aufbauend sollte ein »Sprachcode« generiert werden.33 Gamson34 bezeichnet die Sprachcodes, die sich in den Reden und Schriftstücken sozialer Bewegungen wiederfinden, wegweisend als Frames des kollektiven Handelns. Anknüpfend definieren Benford und Snow »collective action frames« als »action-oriented sets of beliefs and meanings that inspire and legitimate the activities and campaigns of a social movement organization«35. Collective action frames sind so nicht die Summe zahlreicher Einzelmeinungen, sondern das Produkt der Verhandlungen innerhalb dieser Meinungen.36 Die Frames kollektiven Handelns bestehen nach Gamson37 aus drei Komponenten: injustice, agency und identity – Unrecht, Handlungskraft und Identität. Sie ähneln damit sehr stark den Erkenntnissen, die van Zomeren, Postmes und Spears aus sozialpsychologischer Sicht für Kollektives Handeln beschreiben. Die Frames heben die Wahrnehmungen auf die sprachlich-kommunikative Ebene. Der Unrechts-Frame unterstreicht die Klage der Protestgruppe mit einer moralischen Empörung über empfundenes Unrecht, das auch von der Öffentlichkeit als solches empfunden werden soll. Dieser Frame kann emotionsgeladen sein, und umfasst die Bewertung der Frage, was gerecht ist. Sie bestärkt die AktivistInnen darin, gegen die erfahrene Ungerechtigkeit und das Leid anzutreten. Zweitens soll der AgencyFrame ausdrücken, dass die Betroffenen im gemeinsamen Handeln in der Lage 33 Ilse, Jens: »Gezielte Aktions- und Informationskampagnen für Initiativen«. Vortrag/ Workshop, 8. Akademie für Journalismus, Bürgermedien, Öffentlichkeitsarbeit & Medienkompetenz LIMA, Berlin, 13.3.2011. 34 Gamson, William A. (2002): Talking Politics. 5. Aufl., Cambridge University Press, Cambridge, S. 8. 35 Benford/Snow 2000: 614. 36 Gamson 2002: 111. 37 Gamson 2002: 6-8.

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sind, einen Umbruch oder eine Veränderung zu bewirken. Agency-Frames setzen die Handlungskompetenz und Wirksamkeit in den Mittelpunkt, sie betonen nicht nur, dass etwas getan werden kann, sondern dass wir etwas aktiv tun können. Der Identitäts-Frame umfasst den Zusammenschluss der Einzelnen zu einem Kollektiv, zu einem handelnden Wir, das gegen die anderen opponiert. Ohne dieses dritte Frame verharrt die collective action in der Abstraktion. Mit dem Kommunikationsprozess von in Frames verpackten Ideen sozialer Bewegungen beschäftigen sich ebenfalls Benford und Snow, indem sie das FramingKonzept im Hinblick auf Mobilisierungsmöglichkeiten sozialer Bewegungen verfolgen.38 Soziale Bewegungen werden hier grundlegend verstanden als »signifying agents actively engaged in the production and maintenance of meaning for constitu39 ents, antagonists, and bystanders or observers« . Sie und Protestgruppen sind demnach genauso wie Medien, lokale Regierungen und der Staat in die Bildung von Bedeutung und somit in die Konstruktion von Realität involviert. Benford und Snow widersprechen der These Gamsons, indem sie bestreiten, in allen sozialen Bewegungen den Unrecht-Frame anzutreffen. 40 Sie schlagen eine Dreiteilung des Framings in seine drei Aufgaben vor, nämlich in diagnostisches, prognostisches und motivierendes Framing. Die Diagnose identifiziert zunächst Probleme, hierin liegt auch die Unterscheidung zu Gamsons Unrecht-Frame – die Definition als Problemdiagnose ist bei Benford/Snow etwas schwächer angelegt. Das prognostische Framing umfasst anschließend die Artikulation einer vorgeschlagenen Lösung für ein Problem, oder zumindest eine Strategie zur Umsetzung. Das motivierende Framing bringt Menschen »auf die Barrikaden«41, es spornt an, adäquate Sprachcodes zu entwerfen und kollektiv zu handeln.42 Bewegungen sind nach Benford und Snow43 dann erfolgreich, wenn die individuellen Frames44 jenen der sozialen Bewegung entsprechen, also einerseits »individuelle Interessen, Werte und Meinungen« und andererseits »Aktivitäten, Ziele und Ideologie (…) kongruent und komplementär«45 werden. Decken sich letztlich die Vorstellungen beider Sei38 Snow/Benford 1988. 39 Snow/Benford 1988: 198. 40 Snow/Benford: 2000: 615. 41 Snow/Benford 2000: 617. 42 Ebenda. 43 Snow, David A./Rochford, E. Burke Jr./Worden, Steven K./Benford, Robert D. (1986): »Frame Alignment Processes, Micromobilization, and Movement Participation«. In: American Sociological Review, Vol. 51, No. 4, Aug. 1986, S. 464-481, S. 464. 44 Bei der Begriffsdefinition der Frames stützen sich Benford und Snow auf die Begriffsdefinition bei Goffman (1974). 45 Snow/Benford 1988.

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ten, wird von dem in Folge auftretenden Prozess der gemeinsam durchgeführten Frame-Transition von frame alignment gesprochen. Diese erwirkt anschließend »Frame-Resonanz«46. Mit Gamson bzw. Benford und Snow kann ferner zur Diskussion gestellt werden, ob Bewegungen und Protestkollektive dann als erfolgreich bezeichnet werden, so sie ihr eigenes Framing im politischen Diskurs, in den Massenmedien, der Deliberation und letztlich in der Black Box (bis zum Throughput) durchsetzen. 1.5 Zielobjekte Protest zielt auf die Umsetzung von Forderungen ab. Essentiell ist dabei die Aufmerksamkeitsgewinnung konkreter Verantwortlicher, die Protestforderungen umsetzen können, wobei häufig die Druckausübung durch Unterstützung diverser Öffentlichkeiten als Mittel eingesetzt wird. Mit ansteigender Unterstützung für die (Forderungen der) Protestgruppe sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass Protest ignoriert wird. Zur Etablierung der Forderungen und Ziele47 in der Deliberation werden targets/Zielobjekte des Protests anvisiert, die vornehmlich aus folgenden vier Gruppen bestehen, wie Lipset (1968) wegweisend postuliert: •

• • •

die Protestierenden selbst: Zum Zweck des Protestwachstums sollen weitere SympathisantInnen und potenzielle Protesteilnehmende gewonnen werden. Dies bringt das wachsende Bewusstsein in der Öffentlichkeit mit sich sowie die potentielle weitere Veränderung der Machtverhältnisse im Diskurs und den folgenden Gewinn demokratischer Einflussnahme. Medien: Sie sollen Protestziele bzw. -aktionen kommunizieren. Verantwortliche Öffentlichkeiten: dabei sollen die verantwortlichen Personengruppen angesprochen bzw. unter Druck gesetzt werden. PolitikerInnen: Bei den adressierten politisch Verantwortlichen für eine Veränderung des kritisierten Sachverhalts handelt es sich meistens um eine Regierung oder eine andere politische Einheit.48

46 Snow/Rochford/Worden/Benford 1986: 464. 47 Der Begriff »Ziel« ist im Deutschen mit einer Mehrfachbedeutung belegt (Duden 2013), die Ausweichung in den englischen Sprachgebrauch schafft Abhilfe: target meint das Zielobjekt, aims/goals sind inhaltliche Ziele. Im Detschen würde das in etwa symbolhaft dem »Bestimmungsort« bzw. dem »Bestreben« entsprechen. 48 Lipset, Seymore (1968): Revolution and Counterrevolution. Change and Persistence in Social Structure. Basic Books, New York.

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1.5.1 Aktuelle europäische Proteste In einer von Isabel Ortiz, Sara Burke, Mohamed Berrada und Hernán Cortés Ortiz durchgeführten globalen Studie World Protests 2006 – 201349 werden alle 843 einzelne Protestfälle, die in den Jahren 2006 bis 2013 auftraten, im Hinblick auf die Forderungen und Protestzielobjekte und auf die Häufigkeit ihres Auftretens evaluiert (Stand: Juli 2013). Folgende Protestzielobjekte, die in Tabelle 1 mit den prozentuellen Werten angeführt werden, sind besonders häufig: •







• •

Regierungen: Der Großteil aller Proteste richtet sich gegen nationale Regierungen und fordert, »that governments take responsibility for economic, social and environmental policies so that they benefit all, instead of the few.«50 Politisches oder ökonomisches System: Nicht ganz die Hälfte aller Proteste zwischen 2006 und 2013 beanstandet »[the] inadequate political and economic system«. Unternehmen: Nahezu ein Drittel aller Proteste richtet sich gegen Unternehmen und Arbeitgeber, erstens aufgrund deren Einflussnahme auf die nationale oder supranationale Politik, zweitens aufgrund schlechter Arbeitsbedingungen und niedriger Bezahlung, drittens aufgrund privater Interessen, die Naturressourcen ausbeuten und schließlich viertens aufgrund von Unternehmen neu errichteter Infrastruktur, die ökologische und sozial negative Auswirkungen hat. Internationaler Währungsfonds (IMF/IWF): Überraschenderweise richtet sich ein bemerkenswertes Fünftel aller Proteste gegen den IWF. Sie treten gleichermaßen häufig in Staaten mit hohem und niedrigen Einkommen auf, in beiden stößt der »New Washington Consensus«, der den Interessen von Unternehmen, Investoren und dem Finanzsektor Vorrang gibt, auf Widerstand. Die Weltbank ist dagegen in nur 2% aller Proteste target. Eliten: Die Privilegien von Eliten sind Inhalt von 17% der globalen Proteste. Europäische Union und Europäische Zentralbank (EZB/ECB): Die Union ist Zielobjekt von 16% aller globalen Proteste. Hier ist aufgrund des geographisch eingeschränkten Einflussbereichs der EU besondere Aufmerksamkeit walten zu lassen. Eine Konkretisierung der Zahlen zeigt: Mehr als ein Drittel aller global organisierten Proteste richten sich gegen die EU. 30% aller Proteste in Europa und Zentralasien kritisieren die EU. Zu dieser Kategorie zählen ferner auch Proteste gegen die EZB und Proteste, die vor dem Abschluss eines Freihandelsabkommens mit Europa stattfinden (9% aller globalen Proteste, etwa in Kolumbien, Mali, Senegal etc.)

49 Ortiz, Isabel/Burke, Sara/Berrada, Mohamed/Cortés, Hernan (2013): »World Protests 2006-2013«. Initiative for Policy Dialogue and Friedrich-Ebert-Stiftung New York Working Paper 2013, September 2013. 50 Ebenda: 34.

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Militär und Polizei: Sie bilden die siebthäufigste Motiv für Widerstand, hauptsächlich richten sich diese Proteste gegen die US-Militärbasen. In Asien haben die antiimperialistischen Proteste China im Visier. Politische Parteien: Sie sind die kleinste Gruppe, gegen die sich Widerstand richtet, dennoch wenden sich sieben Prozent aller Proteste gegen sie. Religiöse Proteste stehen mit zwei Prozent am Ende der Liste der Zielobjekte.

Tabelle 1: Protestmotive in den Jahren 2006 bis Juli 2013 TARGET/PROTESTZIELOBJEKT

ANZAHL

PROZENT

Regierung

672

80%

Politisches/ökonomisches System

366

44%

Unternehmen/Arbeitgeber

241

29%

IMF

168

20%

Eliten

141

17%

EU

135

16%

Finanzsektor

134

16%

EZB

84

10%

Militär/Polizei

75

9%

Free Trade/Freier Handel

74

9%

Politische Parteien/ Gruppierungen

62

7%

USA

59

7%

Regierungen (lokal)

47

6%

China

31

4%

G20

25

3%

Soziale Gruppen

20

2%

Weltbank

19

2%

Religiöse Autoritäten

13

2%

Quelle: Ortiz/Burke/Berrad/Cortés, Juli 2013

1.5.2 Gemeinsamkeiten aktueller Proteste »In 2011, when protests were erupting across Europe and the Middle East, many insisted that they shouldn’t be treated as instances of a single global movement. In-

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stead, they argued, each was a response to a specific situation.«51 Die London Riots, die brennenden Autos in den Banlieus von Paris, die Gezi-Park-Proteste in Istanbul, die massiven Proteste in Athen, die Universitätsbesetzungen ausgehend von Wien in den Städten Europas, die G8-Proteste in Heiligendamm, der Widerstand gegen Minen in Spanien, Rumänien und Griechenland – sie alle sprachen vordergründig unterschiedliche, konkrete Themen an. Diverse großangelegte Analysen aus der Bewegungsforschung, Soziologie und Politologie betonen trotzdem den Zusammenhang der einzelnen Proteste, wie u.a. die Soziologen und Protestforscher Žižek, Holloway, Brand und Hierlmeier festhalten.52 Trotz ihrer Diversität in Aktionsform und konkreten Forderungen gleichen sie sich, wie von verschiedenen AutorInnen durchgeführte Studien zeigen – in mindestens zwei Motiven und Zielen: (1) im Beklagen der negativen Auswirkungen ökonomischer Bedingungen, die von der angeprangerten Ineffizienz des global agierenden Kapitalismus rühren, sowie (2) in der Forderung nach mehr Demokratie und Mitbestimmung.53 Die Hauptmotive von globalen Protesten werden im Folgenden besprochen. Ökonomische Kritik und Forderungen vom Wirtschaftssystem: Weit mehr als die Hälfte aller Protestmotive und Forderungen betreffen die Auswirkungen des Wirtschaftssystems. Vordergründig sind die ungerecht empfundenen Konsequenzen der Austeritätspolitik Inhalt der Kritik – die Protestierenden pochen auf ökonomische Gerechtigkeit. 488 von 843 Proteste verlangen Reformen der «public services, tax/ fiscal justice, jobs/higher wages/labor conditions, inequality, poverty/low living standards, agrarian/land reform, pension reform, high fuel and energy prices, high food prices, and housing«. 54 Als die globale Wirtschaftskrise im Jahr 2007 ausbricht, steigen vor allem die Proteste gegen ökonomische Maßnahmen und Sparprogramme rapide an. Partizipationsanforderungen an das politische System: Mehr als die Hälfte, nämlich 376 Proteste, beanstanden vehement das Fehlen realer Demokratie im Zusammen51 Žižek, Slavoj (2013a): »Trouble in Paradise«. In: London Review of Books, Vol. 35/14, 18.7.2013, S. 11-12. http://www.lrb.co.uk/v35/n14/slavoj-zizek/trouble-in-paradise 52 Holloway 2002; Brand 2005; Hierlmeier, Josef (2006): Internationalismus. Eine Einführung in die Ideengeschichte des Internationalismus. 2. Aufl., Schmetterling Verlag, Stuttgart, S.6-8. 53 Žižek 2013; Stratulat, Corina/Dhéret, Claire (2012): »A tale of modern-day capitalism and democracy: In View of the European protests«. Policy Brief, 8.10.2012, European Policy Center; Beck, Ulrich (2012): »Für einen europäischen Frühling!«. In: taz.de, 23.11.2013. http://www.taz.de/!106117/ 54 Ortiz/Burke/Berrada/Cortes 2013: 14ff.

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hang mit »corporate influence, deregulation and privatization; corruption; failure to receive justice from the legal system; transparency and accountability; surveillance of citizens; and anti-war/military industrial complex.«55 Als sich die Austeritätsmaßnahmen in den Jahren 2010/2011 global ausbreiteten, gab es nach 2007 abermals einen starken Anstieg an Protesten gegen die von den BürgerInnen abgekoppelte Politik der Regierungen und den Mangel an Partizipationsmöglichkeiten. Globale Gerechtigkeit: Mehr als ein Drittel (311 von 843) der Proteste richten sich gegen den Internationalen Währungsfond (IWF/IMF) und andere internationale Finanzinstitutionen, außerdem treten sie ein »for environmental justice and the global commons, and against imperialism, free trade and the G20.«56 Rechte der Menschen und Völker: 302 Proteste beinhalten Forderungen zur Verbesserung der Rechte von Menschengruppen und Völker. Sie verlangen »ethnic/ indigenous/racial rights; right to the Commons (digital, land, cultural, atmospheric); labor rights; women’s rights; right to freedom of assembly/speech/press; religious issues; rights of lesbian/gay/bisexual/transgendered people (LGBT); immigrants’ rights; and prisoners’ rights. A lesser number of protests focus on denying rights to specific groups (eg. immigrants, homosexuals).«57 Die sieben häufigsten Protestaktionsmethoden reichen von Protestmärschen (nahezu 450), Versammlungen (rund 350), Besetzungen, zivilen Ungehorsam und direkten Aktionen, Streiks bis zu Blockaden. Im oberen Mittelfeld der Protestformen lagen Vandalismus und Brandschatzungen sowie Internet-Aktivismus, Hacking und Whistleblowing eher im unteren Mittelfeld. Straßentheater, Petitionen, Boykotte und Selbstverletzungen zählen zu den weniger häufigen aber auch angewandten Methoden. Žižek betont den übernationalen Zusammenhang der global auftretenden Einzelproteste, obwohl sich der globale Kapitalismus als komplexer Prozess auf verschiedene Länder unterschiedlich auswirkt: »What unites the protests, for all their multifariousness, is that they are all reactions against different facets of capitalist globalisation. The general tendency of today’s global capitalism is towards further expansion of the market, creeping enclosure of public space, reduction of public services (healthcare, education, culture), and increasingly authoritarian political power. It is in this context that Greeks are protesting against the rule of international financial capital 55 Ortiz/Burke/Berrada/Cortes 2013: 14. 56 Ebenda. 57 Ortiz/Burke/Berrada/Cortes 2013: 15.

108 | P ROTEST ALS EREIGNIS and their own corrupt and inefficient state, which is less and less able to provide basic social services. It is in this context too that Turks are protesting against the commercialisation of public space and against religious authoritarianism; that Egyptians are protesting against a regime supported by the Western powers; that Iranians are protesting against corruption and religious fundamentalism, and so on. None of these protests can be reduced to a single issue. They all deal with a specific combination of at least two issues, one economic (from corruption to inefficiency to capitalism itself), the other politico-ideological (from the demand for democracy to the demand that conventional multi-party democracy be overthrown). The same holds for the Occupy movement. Beneath the profusion of (often confused) statements, the movement had two basic features: first, discontent with capitalism as a system, not just with its particular local corruptions; second, an awareness that the institutionalised form of representative multi-party democracy is not equipped to fight capitalist excess, i.e. democracy has to be reinvented.« 58

Brand spricht von der »Bewegung der Bewegungen«59, unter der er heterogene Einzelbewegungen und Proteste subsumiert, die glokal (global und lokal) eine neue Bewegung bilden. »Im Weltsozialforum von Porto Alegre, im Widerstand der Zapatistas in Mexiko, in der internationalen Kleinbauernbewegung Via Campesina, bei Peoples Global Action, bei den Euromärschen, beim BUKO und auch bei ATTAC ist das Neue schon sichtbar. Ihre ersten Kristallisationspunkte fand diese neue Bewegung in ›Seattle‹ und ›Genua‹«60, zeigt auch Josef Hierlmeier einer internationalistischen Theorie Zustimmung. In der Analyse der Welle europäischer Proteste im 21. Jahrhundert kommt eine vom European Policy Centre (EPC) durchgeführte Studie zu deutlich ähnlichen Ergebnissen. Die europäischen Proteste teilen mit den Protesten des »Arabischen Frühlings«, in den USA und im Fernen Osten weitere gemeinsame Merkmale, so Corina Stratulat und Claire Dhéret61, die die Untersuchung des EPC durchführten: Sie alle sind vornehmlich von jungen Individuellen geführt, die das Internet und die mediale Aufmerksameit zur Artikulation, zum Austausch und zur Bewerbung politischer Forderungen verwenden. Über das Internet organisieren sie zum Teil grenzüberschreitend und über institutionelle Traditionen hinausgehend Proteste. Trotz ihrer lokalen Ausrichtung gleichen sich die Motive, zu denen die »Netz- Bürger Innen« aufrufen: »[T]heir protest is framed everywhere as a general critique of existing governing structures and doctrines.«62

58 Žižek 2013a. 59 Brand 2005: 8. 60 Hierlmeier 2006: 6. 61 Stratulat/Dhéret 2012. 62 Stratulat/Dhéret 2012: 1.

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In Europa konzentriert sich diese Kritik der Regierungsstrukturen auf die widersprüchliche Co-Existenz einerseits (1) eines kapitalistischen Ökonomiesystems und andererseits (2) der demokratischen Ansprüche des Staates.63 Anders ausgedrückt könnte formuliert werden: Der demokratische Anspruch wird durch ökonomische staatliche Vorgaben ad absurdum geführt. Der Widerspruch der beiden Kategorien spiegelt sich häufig lokal in Einzelprotesten wieder, oder aber die Protestmotive sind einer der beiden Kategorien zuordenbar. 64 Die Kritik an dieser Dichotomie lässt sich auf drei Ebenen festmachen: ökonomisch, ideologisch und (demokratie-) politisch. •





Ökonomisch motiviert protestier(t)en europäische BürgerInnen gegen wirtschaftliche Eingriffe oder Schwierigkeiten, die sich durch die globale Finanzkrise und die damit argumentierte Sparpolitik in Europa (»Austeritätspolitik«) ergaben. Europäische Regierungen behaupten im Konsens, die Austeritätspolitik inklusive Steuererhöhungen und/oder Einsparungen im Sozialstaat sei die einzige Maßnahme mit Wirksamkeit. Negativ betroffen sind besonders junge sowie sozioökonomisch schlechtgestellte BürgerInnen. Protestierende stellen sich gegen den Konsens der Europäischen Elite. Ideologisch ist den Protesten in Europa die Kritik am Kapitalismus (bzw. Neoliberalismus) gemein. Innerhalb der kapitalistischen Ordnung profitiert eine kleine Elite, der Großteil der BürgerInnen aber nicht. Verantwortlich dafür werden unregulierte aber mächtige Finanzmärkte mit einem nicht-funktionierenden und unverantwortlich agierenden Bankensystem gemacht. Sie sind demnach auch Grund für die steigende Arbeitslosigkeit, steigende soziale Ungleichheiten und die ungleichmäßige globale Reichtumsverteilung. (Demokratie-)Politisch verlieren die BürgerInnen in Europa immer mehr das Vertauen in die EU-Politik, 2012 verzeichnete der EU-Vertrauensindex historische Tiefstwerte – was im Hinblick auf demokratische Prämissen jedenfalls Fragen aufwirft. Auf nationaler Ebene wird BürgerInnen bewusst, dass nationale und regionale Regierungen Kompetenzen verlieren und ihre Wahlversprechen nicht mehr einhalten können, da die Kompetenzen an Verträge mit der EU, dem IMF oder der Weltbank gebunden sind: allesamt Institutionen, die nicht flächendeckend demokratisch legitimiert worden sind.

Nationale Regierungen richten sich nach Gemeinschaftsaktionen auf europäischer Ebene und nach globalen Märkten. Die Konsequenzen dieser Tatsachen brachten die Massen auf die Straßen in den europäischen Städten der Nettozahler- genauso wie in Empfängerstaaten: 63 Stratulat/Dhéret 2012: 1f.. 64 Ebenda.

110 | P ROTEST ALS EREIGNIS »Public awareness of massive sovereign debt levels in some EU countries sent shockwaves throughout the population, reinforcing people’s already well-documented opinion of politicians as untrustworthy or corrupt. But it was the tacit agreement of ‘bancrupt’ European countries’ governments to accept drastic austerity and reform programs insisted on by their EU partners and the [IMF] in exchange for loans, as well as stronger EU economies’ decision to pour substantial loans and payments into bailout funds for struggling countries and banks – none of which were expressly ‘authorized’ by the people – that really fired up the masses.«65

Stratulat und Dhéret führen entfernte politsche Eliten ins Treffen, die von den Lebensrealitäten der WählerInnen weit entfernt stehen und diese somit auch nicht repräsentieren können. Die Proteste rufen nach der Möglichkeit mitzubestimmen, um repräsentiert zu werden, und nach einer erweiterten partizipatorischen, lokalen Demokratie. Die Instrumente zur Miteinbeziehung sind potenziell durch Soziale Medien gegeben. »Unfettered access to new information and communication technologies in the Internet age stands to encourage and facilitate popular demand for political participation and deliberation in the years ahead. Current democratic practices 66 must adapt to these new realities«. Der Analyse des EPC ähneln die Beobachtungen Becks im Hinblick auf die (Krise der) Europäischen Union. Nationalstaaten treiben Kürzungen in der Sozialpolitik voran, die seitens der EU oktroyierten Sparmaßnahmen für Schuldnerstaaten werden immer tiefgreifender, um Banken zu retten und »[nun] sollen Mittelklasse, Arbeiter, Rentner und vor allem junge Menschen in der baren Münze ihrer Existenz bezahlen.« Dieser neue Klassenkonflikt, der die Rechte der zahlenden Menschen beschneidet, spaltet mittlerweile den Kontinent, so Beck. Er sieht wie viele andere ein Wachsen des Protests und ein Zusammenarbeiten der Protestgruppen: »Natürlich haben wir in den vergangenen zwei, drei Jahren erlebt, wie junge Leute in Madrid, Tottenham oder Athen gegen die Auswirkungen der neoliberalen Sparpolitik protestierten und auf ihr Schicksal als verlorene Generation aufmerksam machten. Aber diese Demonstrationen waren noch dem Dogma des Nationalstaats verhaftet. Die Menschen wehrten sich in einzelnen Ländern gegen eine deutsch-europäische Sparpolitik, die von ihren Regierungen umgesetzt wird. Doch was [nun] geschah, ist neu: 40 Gewerkschaften in 23 europäischen Ländern riefen gemeinsam zum ›Tag der Aktion und Solidarität‹ auf.« 67

Ein deutlicher Unterschied zwischen den Protesten des 21. Jahrhunderts und den früheren liegt in den technischen Möglichkeiten zur Kommunikation. Soziale Medien eröffnen über das Internet vor allem die interaktive, kostengünstige und breit65 Stratulat/Dhéret 2012: 1-2. 66 Stratulat/Dhéret 2012: 3. 67 Beck 2012.

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gestreute Kommunikation von vielen mit vielen, deren Potenzial bereits Bertold Brecht in seiner Radiotheorie und Hans Magnus Enzensberger in der Ausarbeitung betonten. Die Initiierung, Organisation und kurzfristige Planung von Protesten mit vielen TeilnehmerInnen wird so immens erleichtert. Bei den Protesten von Tottenham beispielsweise wurde über Blackberry-Handys (Smartphones) kommuniziert, im Mittleren Osten in den Protesten des sogenannten »Arabischen Frühlings« wurden die sozialen Netzwerke Facebook und Twitter zum vorrangigen Kommunikationsmedium, das Antigold-Protestkollektiv Griechenland nutzt Blogs als selbst verwaltete Informationszentren. Die Sozialen Medien wurden auch von ProtestaktivistInnen in den USA und im Fernen Osten68 zum Austausch genutzt, aber auch die Uni-Brennt-Bewegung in Österreich und anderen europäischen Staaten kommunizierte z.T. über Social Media. In einem Ausblick auf die kommenden Jahre betont das EPC die notwendige Einbeziehung der BürgerInnen in den politischen Prozess und eine Demokratisierung der europäischen Enscheidung(sfindung)en – wenn nicht, wird die Politik auch weiterhin von den BürgerInnen durch Proteste herausgefordert werden.69 Dies ist auch eine Prognose, die die International Labour Organisation (ILO), eine Unterorganisation der Vereinten Nationen, stellt.70 Vorsicht ist allerdings vor der allzu pauschalisierenden Euphorie über ein erstarkendes zivilgesellschaftliches Engagement und über häufiger werdende Proteste geboten. Der teils erfolgreiche Aufmerksamkeitsgewinn durch Protest der engagierten Zivilgesellschaft hat Organisationen auf den Plan gerufen, die zivilgesellschaftliches Engagement zum Durchbringen von organisationseigenen, möglicherweise Eigenprofit steigernden Partikularinteressen für sich entdeckt haben und als strategisches Mittel einsetzen. Einige Proteste werden von externen Organisationen lanciert, um zur Förderung einer interessengeleiteten Politik beizutragen. Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit diesem Spezialfall des Protests, dem Astroturf-Protest, und beleuchtet jenen Widerstand, der vorgibt, ein Graswurzelprotest zu sein.

68 Stratulat /Dhéret 2012. 69 Stratulat/Dhéret 2012: 3. 70 Spiegel (2013a): »Internationale Arbeitsorganisation warnt vor wachsender Gefahr sozialer Unruhen in der EU«. Spiegel Online, Vorabmeldungen, 7.4.2013. http://www.spiegel. de/spiegel/vorab/warnung-wachsende-gefahr-sozialer-unruhen-in-der-eu-a-892890.html.

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2. ASTROTURF -P ROTEST : F INANZIERTER W IDERSTAND 2.1 Wissenschaftliche Klassifizierung »Traditional lobbying is no longer enough. Today numbers count. To win in the hearing room, you must reach out to create grassroots support. To outnumber your opponents, call the leading grassroots 71

public affairs communications specialists.« DAVIS COMMUNICATIONS/PR-AGENTUR

Astroturf-Lobbying, kurz Astroturfing oder Astroturf, meint die Herstellung künstlicher Graswurzel-Kampagnen durch Public-Relations-Agenturen mit dem Ziel, ein Interesse durchzubringen (»Lobbying«).72 Die Begriffswahl geht auf Lloyd Benson zurück73, der einen Brückenschlag zwischen Originärem und Künstlichem herstellen wollte: Astroturf war der Name eines US-amerikanischen Kunstrasen-Unternehmens, originär gewachsene Graswurzeln sollten dem Kunstrasen, bzw. Grassroots den künstlich hergestellten Protestgruppen gegenübergestellt werden. Astroturf gilt als eine Methode, um ökonomische oder politische Interessen in der Politik über den Weg der Öffentlichkeit mit Rückgriff auf vermeintliches Bürgerengagement durchzusetzen und wird meist von für Public Relations (PR) zuständigen Entitäten betrieben. Unter PR wird im medien- und kommunikationswissenschaftlichen Gebrauch das Management der Kommunikations- und Informationsflüsse von Unternehmen subsumiert und wird »von einer hoch spezialisierten Industrie arbeitsteilig umgesetzt«74. PR bildet einen Teil der Public Affairs (PA), was alle kommunikativen Anstrengungen eines ökonomischen, politischen oder anderen gesellschaftlichen Akteurs bezeichnet, mit der Intention, Politik zu beeinflussen.75 Ziel der unternehmenseigenen bzw. für Unternehmen arbeitenden PR und PA ist der direkte oder indirekte Beitrag zur Profitmaximierung des Unternehmens. Die intendierte politische

71 Stauber/Rampton 1995: 90. Zit in: Lyon/Maxwell 2004: 563. 72 Stauber/Rampton 1995: 70 zit. In: Lyon/Maxwell 2002: 1 und 9. 73 Lyon/Maxwell 2004: 563. 74 Bussemer, Thymian (2008): »Die Macht der Propaganda«. In: MainzerMedienDisput 2008: 130-141, 130. 75 Bentele, Günter (2007): Legitimität der politischen Kommunikation? In: Rieksmeier 2007: 5-14.

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Einflussnahme erfolgt transparent oder intransparent, formell oder informell. Lobbying als ein Teilbereich der PA wird meist intransparent und informell betrieben.76 Eine Sonderform von Lobbyings ist das Grassroots-Lobbying: Graswurzelbewegungen werden strategisch in die Argumentationsführung zur Durchsetzung eines Interesses einbezogen, denn diese aus der Zivilgesellschaft kommenden Grassroots sind von der Problematik betroffen und vertreten einen Teil der öffentlichen Meinung (und wollen auch mobilisieren). PolitikerInnen stehen in Abhängigkeit von WählerInnen und der öffentlichen Meinung; über Grassroots wird von Unternehmen eine Rückkopplung zur politischen Ebene erwirkt.77 Grassroots Lobbying verknüpft tatsächlich vorhandene BürgerInnen-Interessen mit eigenen LobbyInteressen, die Verknüpfung erfolgt innerhalb der Zusammenarbeit als »Dialogprozess, (...) um Interessensaustausch zwischen Repräsentanten und Repräsentiertem zu gewährleisten«78. Lyon und Maxwell beschreiben Fälle von Astroturf, bei welchen die Finanzierungsfirmen eine bereits bestehende, in der Öffentlichkeit anerkannte Grassroots-Kampagne, die den gewünschten Interessen gleicht, unterstützen und so die Interessen der Kampagne (um)lenken. Die Unterstützung erfolgt finanziell oder mit Gütern.79 Dies findet unter dem Vorzeichen politischer Responsivität statt. Diese Responsivität wird mit hoher Wahrscheinlichkeit geringer, umso mehr Astroturf-Aktivitäten in das Verhältnis zwischen den Dialogpartnern einfließen.80 Astroturf- und Grassroot-Lobbying werden auch gemeinsam angewendet, sie besitzen Ähnlichkeiten und Überschneidungen, eine klare Trennung der beiden Strategien steht noch aus. Weitere Strategien im interessengeleiteten Umgang mit ähnlichen Graswurzel-PR-Strategien wie der Bear Hug81 werden hier nicht weiter behandelt. 2.2 Begriffliche Eingrenzung: Astroturf Über die genaue Begriffsdefinition des Phänomens Astroturf besteht keine Einigkeit. Aufgrund seines Wortursprungs in der angewandten PR, ertönt von szientistischen Seiten ein Monieren über die mangelnde Wissenschaftlichkeit des Begriffs,

76 Wehrmann, Iris (2007): »Lobbying in Deutschland« In: Kleinfeld/Zimmer/Willems: 3664, 40. 77 Showalter, Amy/Fleisher, Craig S. (2005): »The Tools and Techniques of Public Affairs«. In: Harris/Fleisher 2005: 109-122, hier: 210. 78 Irmisch 2011: 93. 79 Lyon/Maxwell 2002: 15-18. 80 Ebenda. 81 Ebd.

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wie Irmisch festhält.82 Sie definiert »Astroturf« unter Verhandlung des Begriffsverständnisses von Wissenschaft, PR und Nichtregierungsorganisationen (NGOs/ NRO). Ihre Ergebnisse erlauben letztlich eine Definition des Konzepts Astroturf, welche in den folgenden Ausführungen berücksichtigt wird: »Astroturf Lobbying [bezeichnet] eine neue Dimension und Qualität politischer Interessenvertretungspraxis (...), deren Besonderheit darin besteht, jenseits korporatistisch formalisierter Verfahren politischer Interessenvertretung gegenüber politischen Entscheidungsträgern und der Öffentlichkeit ein organisationsspezifisches Partikularinteresse als Gemeinwohlinteresse erscheinen zu lassen, indem dieses Interesse durch organisationsaffiliierte Gruppen vermeintlich unabhängiger Dritter zum Ausdruck gebracht wird.«83

Eine nicht-wissenschaftliche Definition liefert eine der gegenwärtig global größten sozialen Bewegungen, die selbst mit dem Vorwurf des Astroturfings konfrontiert war: das Occupy Wall Street Movement (OWS). In einer Entgegnung grenzt sich das OWS scharf davon ab und präsentiert Merkmale, die diese Vorwürfe entkräften und Beweis für das Gegenteil sein sollen: «(…) 2) (...) OWS supporters' actions do not conspicuously benefit a certain single industry, group of companies or political candidate. OWS advocates for a broad section of the population, namely the 99 percent of U.S. citizens who are having an increasingly difficult time with the economy and getting their needs represented in Washington. 3) No focus-grouped talking points. Astroturf messages are boiled down to a tight, limited set of talking points or a professionally-designed motivating slogan (…) 5) No PR operatives are organizing OWS activities. 6) OWS protesters do not spend time insisting to journalists that the movement is ‘independent’, and its spokespeople are ‘esteemed’ or ‘credible’. […O]ne problem that law enforcement agencies (…) have cited repeatedly is that the OWS movement lacks spokespeople. 7) No backing from a ‘non-profit’ group that refuses to disclose its donors. (…) 9) OWS does not have a webpage featuring IStockPhoto pictures of pleasant-looking, multiethnic groups of people smiling at viewers. 10) Significant numbers of non-violent OWS protesters have gotten pepper-sprayed. Astroturf participants are usually not dedicated or passionate enough that they would risk or tolerate getting pepper-sprayed for their cause.«84 82 Irmisch, Anna: »Astroturf as a strategic instrumentalisation of civic engagement«. In: Imhof/Welz/Fleck/Vobruba (in Druck), Seite 5. 83 Irmisch 2011: 95. 84 Landman, Anne (2011): »OWS: Real Grassroots vs. Astroturf«. PRWatch.org, 6.12.2011. http://www.prwatch.org/news/2011/12/11172/ows-real-grassroots-vs-astroturf 1.6.2014.

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Merkmale von Astroturf-Protest In einem Abgleich der genannten impliziten Definition des Occupy Wallstreet Movements und der vorliegenden Erkenntnisse der relevanten Literatur können folgende Merkmale für Astroturf-Proteste festgelegt werden: 1) Bei Astroturf-Protesten handelt es sich um gesellschaftlich erweitertes Lobbying.85 2) Diese Form des Lobbyings wird fernab der herkömmlichen Interessensvertretungsverfahren wirksam. 3) Konfliktlösungsversuche sollen von der politischen Ebene auf die zivilgesellschaftliche Ebene transferiert werden.86 4) Gegenüber der Öffentlichkeit und Verantwortlichen in der Politik wird ein organisationsspezifisches partikulares Interesse als allgemeines BürgerInneninteresse vermittelt, das es potenziell auch sein kann, aber primär nicht als solches vertreten wird. 5) Astroturf-Protest unterscheidet sich von originärem Protest in seiner TopDown-Ausrichtung. Die Herstellung von Astroturf-Protest wird von externen SpezialistInnen vorgenommen. Originärer Protest hingegen wird von unten nach oben, Bottom-Up, organisiert. 6) Astroturf-Protest ist tendenziell professioneller organisiert als originärer Protest im Hinblick auf seine medial und politisch angepasste Außenrepräsentation. 7) Interessen, die an die politischen EntscheidungsträgerInnen gerichtet sind, werden durch vermeintlich engagierte, protestierende BürgerInnen legitimiert. Diese vermeintliche Legitimation wird in der Öffentlichkeit als tatsächliche Legitimation wahrgenommen. Dabei kann eine Vorspiegelung falscher Tatsachen argumentiert werden. 8) »Vermeintlich unabhängige Dritte« engagieren sich für das organisationsspezifische Partikularinteresse. Die Geschäftstaktik third party technique, das Heranziehen einer vermeintlich unabhängigen dritten Partei, wird angewendet.87 »›In the third party technique‹, instead of using a company representative from the (...) company (who would have low credibility) as spokesperson, an apparently independent messenger with a higher credibility rating in the eyes of the target audience is used«88. Burton und Rowell weisen 85 Irmisch 2011: 91. 86 Irmisch 2011. 87 Burton, Bob/Rowell, Andy (2003): »Unhealthy Spin«. In: BMJ – British Medical Journal, Vol. 326, Nr. 7400, 31.5.2003, S. 1205-1207, 1205. 88 Ebenda.

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darauf hin, dass vielen JournalistInnen diese Strategie unbekannt ist bzw. sie aufgrund prekärer Arbeitsumstände zu wenig Zeit haben, um den vermeintlich unabhängigen Dritten genauer zu überprüfen. In einer Werbung für Astroturfing verdeutlicht eine PR-Agentur das Ziel der Anwendung von Astroturf-Protest, nämlich die Aufmerksamkeitsgewinnung (politisch) Verantwortlicher und die politische Druckausübung über das Lancieren einer 89 Graswurzelprotestkampagne. Astroturf-Protest kann dabei verschiedene Gestalt annehmen: Davis Communications bietet beispielsweise »telephone banks« an – quasi als vorlaufende Methode der Stimmenakquise in Form von »Facebook-Likes« – bei denen Protest durch Telefonfirmen, honorierte Teilnahme an Demonstrationen, »fake letters« 90 , gefälschte Profile in Onlinenetzwerken o.a. Aktionen veranstaltet wird. Lyon und Maxwell betonen aber, Astroturf käme nur als Alternativstrategie zum Einsatz, wenn es Unternehmen zwecklos erscheint, auf gewöhnlichem Wege zu lobbyieren. 91 Hybridformen von realem und künstlichem Protest zeigen die Schwierigkeit einer klaren Trennung zwischen Protest und Astroturf-Protest auf. Von Hybridformen ist zu sprechen, wenn Freiwillige sich den bezahlten DemonstrantInnen anschließen, bereits existierende Graswurzelorganisation mittels finanzieller oder struktureller Hilfestellungen unterlaufen werden (Bear Hug92) oder die von externen AusbildnerInnen (möglicherweise interessengeleitet und langfristig) herbeigeführt werden. Diese Protestformen, die wissenschaftlich noch nicht umfassend erforscht sind, sollen fortan unter dem Begriff Hybridproteste subsumiert werden. Ihre ausführliche Besprechung würde aber den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Die mediale Berichterstattung spielt bei Astroturf-Protesten eine essentielle Rolle, denn fällt die Berichterstattung detailliert und nicht abwertend aus, können (Sympathien und Solidarisierungen verschiedener) Öffentlichkeiten gewonnen werden, mit denen der Druck verstärkt und potenziell politische Responsivität und Aktivität erwirkt werden kann.

89 Stauber/Rampton 1995: 90. Zit in: Lyon/Maxwell 2004: 563. 90 Baker, Melinda (2010): »Grassroots, grasstops, and... Astroturf?«. In: Bulletin of the American College of Surgeons, Vol. 95, Number 6, Juni 2010, S.35-36, hier: 35. 91 Lyon/Maxwell 2002: 15-18. 92 Ebenda.

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2.3 Stand der Forschung »Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Astroturf ist in der wissenschaftlichen Debatte in Deutschland noch nicht angekommen und beschränkt sich derzeit auf Zeitungsartikel (...) oder Berichte von Watchdog-NGOs«93, so Irmisch im Jahr 2011. Das Gleiche gilt für Österreich, auch 2014 noch, denn länderbezogene theorie- und empiriebasierte Studien über die Anwendung von Astroturf, insbesondere in Österreich und Deutschland bzw. Europa, stehen noch aus. Irmisch untersucht Astroturf hinsichtlich den Unterschieden und Konsequenzen, die sich aufgrund des Korporatismus ergeben. Der in Deutschland herrschende Fraktionszwang lässt die Responsivität zwischen Abgeordneten und Bevölkerung geringer sein als bspw. in den USA, wo eine engere Verbindung zwischen gewählten Abgeordneten und ihrem Wahlkreis besteht. So kann Grassroots-Lobbying in den USA eine viel höhere Wirksamkeit erzielen als in Deutschland.94 Dies dürfte ebenso für Österreich gelten, zur starken korporatistischen Prägung kommt der beachtliche Einfluss der Sozialpartner auf politische Entscheidungen. Hinsichtlich sonstiger länderspezifischer Einflussfaktoren bedarf es aber weiterer politologischer Untersuchungen; etwa im Hinblick auf den nationalen Anteil von großen Unternehmen und Industrien (Österreich besteht nahezu nur aus Kleinen und Mittleren Unternehmen) u.a. Zudem mangelt es an Untersuchungen des soziokulturellen Einflusses von Astroturf auf die BürgerInnen und die Öffentlichkeit. Sie sind in der wissenschaftlichen Literatur nur vereinzelt – und meist als Fallbeispiele – zu finden oder überhaupt »nicht vorhanden«. 95 Sophie Boulay weist in ihrem Artikel zwar auf Orla O‘Donnovan 96 hin, die ansatzweise eine theoretische Analyse vorlegt, allerdings auch eher in Fallbeispielen verhaftet bleibt. Dieser Mangel an Forschungsarbeit ist bemerkenswert, da die Debatte über Astroturf in den USA vor allem seit der gestiegenen Bedeutung des Internets an Aktu-

93 Irmisch 2011: 23. 94 Irmisch 2011: 92. 95 Boulay, Sophie (2008): »L’usurpation des astroturfs. Une menace au ›vivre ensemble‹: Actes du colloque ›Comment vivre ensemble? La rencontre des subjectivités dans l’espace Public‹«. Unter der Aufsicht von Charles Perraton, Fabien Dumais und Gabrielle Trépanier-Jobin; Montreal/Quebec. http://www.er.uqam.ca/nobel/gerse/groupe/pdf/actes_ 5e_colloque/boulay.pdf 96 O’Donovan, Orla (2005): »Time to weed out the astroturf from the grassroots? Conceptualizing the implications of pharmaceutifcal industry funding of health advocacy Organizations«. Zit. in: Boulay 2008.

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alität gewinnt.97 Brisant sind dabei Themen mit langfristiger Relevanz, hinter denen finanzstarke Unternehmen Interessen vertreten und den BürgerInnenaktivismus zu ihren Gunsten finanzieren können. Beispiel ist der Diskurs über den Klimawandel, bei dem die strategische Beeinflussung von Medien und PR über »BürgerInnen« untersucht werden sollte, wie Boyce/Lewis 2009 98 , Hoggan/Littlemoore 2010 99 , Newell/Bukeley 2010100, Newel/Peterson 2010101 fordern. Althaus weist darauf hin, dass Astroturf in der Europäischen Union immer mehr zu einer bedeutsamen, aber umstrittenen Thematik werden wird.102 2.4 Bewertung der Lobbying-Strategie Astroturf wird im Hinblick auf seine Funktion zwischen zwei Extremen evaluiert: Eine zugegebenermaßen sehr kleine Gruppe sieht Astroturfing als eine zulässige Lobbying-Strategie mit dem Instrument Protest, welche zur Erreichung von Zielen der ausführenden Organisation eingesetzt wird. Die gegenüberliegende, von einem Großteil vertretene Position begreift Astroturf als Vorspiegeln falscher Tatsachen zur Durchsetzung organisationsspezifischer Interessen mit der Ausnutzung von BürgerInnenengagement, das noch dazu nur vermeintlich besteht. Im wissenschaftlichen Diskurs wird Astroturfing mehrheitlich negativ evaluiert, bemerkenswert kritisch beurteilt und als Vortäuschung von politischen Engagement charakterisiert. »Generell erweist sich die Bezeichnung Astroturf als negativ konnotiert und normativ aufgeladen, weil sie eine dualistische Gegenüberstellung von authentischem Bürgerengagement und künstlicher Bürgerinstrumentalisierung im Hinblick auf Lobbying evoziert«, fasst Irmisch zusammen.103

97

Althaus, Marco (2007) (Hg.): Kampagne! 3. Neue Strategien im Grassroots Lobbying

98

Boyce, Tammy/Lewis, Justin (Hg.) (2009): Climate Change and the Media. Peter Lang,

99

Hoggan, James/Littlemore,Richard (2010): Climate cover-up: the crusade to deny glob-

für Unternehmen und Verbände. LIT Verlag, Berlin; S. 19. New York. al warming. Greystone Books, Vancouver. 100 Newell, Peter/Bulkeley, Harriet (2010): Governing Climate Change. Routledge, New York. 101 Ebenda. 102 Althaus 2007. 103 Irmisch 2011: 96.

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Auch zahlreiche Akteure aus Journalismus, Zivilgesellschaft, aus sozialen Bewegungen u.a. verurteilen Astroturf mit Vehemenz.104 Seitens Non Governmental Organisations (NGO/NRO) wird Astroturf als eine manipulative Strategie klassifiziert, die das Ziel verfolgt, die Unterstützung der BürgerInnen vorzugaukeln. Diese Vortäuschung passiert aus Sicht der NGO mit dem Ziel, Legitimität zu gewinnen, die faktisch nicht vorhanden ist.105 Bei Betrachtung der Instrumentalisierung des Engagements von BürgerInnen bei Astroturf-Protesten vor dem Hintergrund des Framing-Ansatzes von Benford und Snow106 lässt sich der Bestandsgrund von Protestgruppen im Protestthema und der Kern der Legitimität im selbst auferlegten gemeinsamen Deutungsrahmen und in den gemeinsam vertretenen Inhalten festmachen. Das Framing der Inhalte gilt für Protestgruppen als essentiell. 107 Mit der Setzung des Deutungsrahmens und der Interpretationskonstruktion wird mit Astroturfing hingegen der Zweck verfolgt, »gegenüber politischen Entscheidungsträgern und der Öffentlichkeit ein organisationsspezifisches Partikularinteresse als Gemeinwohlinteresse« 108 zu framen. Daraus lässt sich schlussfolgern, so Irmisch, dass es sich bei Astroturfing und Astroturf-Protest um ein Täuschungsmanöver handle.109 Vereinzelt treten wissenschaftliche Positionen auf, die Astroturf nicht notwendigerweise nur als Instrumentalisierung von politischem Aktivismus betrachten. Die einmalige Einbindung der BürgerInnen in politisches Engagement könnte als positive Folge das langfristige politische Engagement mit sich bringen.110 Die Definitionsbreite sowie die impliziten Bewertungsmaßstäbe des Astroturf-Begriffs und Konzepts zur Disposition stellend führt Melinda Baker111 ins Treffen, die Grenze zwischen Grassroots und Astroturf-Protesten sei nicht eindeutig zu ziehen. Denn Astroturf-Lobbying sei zwar generell nicht ethisch und illegitim, dennoch sei jener Bereich einzugrenzen, der Protest als Astroturf-Protest definiert. Den Fall der »fake letters«, der gefälschten Briefe an den US-Congress, welche statt von AktivistInnen von einer Consultancy geschrieben wurden, um die Durchsetzung einer Gesetzes104 Landmann 2011; Dobusch, Leonhard (2013): »Für wen lobbyiert eigentlich Kunst hat Recht«, Sektion Acht, 11.1.2013. http://blog.sektionacht.at/2013/01/fur-wen-lobbyierteigentlich-kunst-hat-recht/ 105 Irmisch 2011: 90f. 106 Irmisch (in Druck): a.a.O. 107 Benford/Snow 2000. 108 Irmisch 2011: 91. 109 Ebenda. 110 Irmisch (in Druck): a.a.O. 111 Baker 2010. Wichtig für die LeserInnen könnte die Information sein, dass Baker Astroturf in ihrer Funktion als Senior Associate, State Affairs, Division of Advocacy and Health Policy im American College of Surgeons, USA beurteilt.

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stelle zu erzielen, bezeichnet Baker als »unethisch«112. Allerdings argumentiert sie: Wer den Protest organisiert, soll in die ethische Evaluation nicht einfließen. Alle möglichen Ressourcen dürften durch eine Organisation angewandt werden, »um den Kontakt zwischen der Öffentlichkeit und einer Gesetzgebung zu erleichtern.«113 Nach der Position Bakers gilt, die Organisation von Protest durch PR-Firmen sei ethisch vertretbar und falle nicht in den unethischen Bereich.114 Bei der Evaluation von Astroturf-Lobbying ist zu bedenken, dass es sich um die als top down ausgeführte Bemächtigung eines Bottom-Up-Phänomens handelt. Graswurzelbewegungen zeichnen sich durch ihr Entspringen aus dem sprichwörtlichen Boden der Gesellschaft aus. Das Wachsen des Bottom-Up-Phänomens durch Gewinnung von Öffentlichkeiten und deren Unterstützung vergrößert seine kommunikative Macht, je höher die Anzahl der Anhänger eines gemeinsamen Willens, desto ertragreicher könnte die kommunikative Macht zum Evozieren politischer Aktivität ausfallen. Gemeinsam mit einer demokratietheoretischen bzw. moralischen Legitimierung von Astroturf als politisches Lobbying-Instrument müsste zumindest die Doppelbödigkeit und die in die Irre führende Verwendung von Begriff und Konzept der top down erstellten »Graswurzelproteste« aufgezeigt werden. So müsste auch Bewusstsein für die Existenz von Astroturf geschaffen werden, denn seiner Definition nach von unten nach oben organisiert, wird Graswurzelprotest auch von diversen Akteuren der Öffentlichkeiten (Politik, Zivilgesellschaft etc.) als solcher wahrgenommen. Zusätzlich stellt sich bei die Frage, ob von Consultancies und PR-Firmen erstellte Proteste tatsächlich wie von ihnen selbst angegeben BürgerInneninteressen vertreten können, wenn sie ihrem eigentlichen Selbstverständnis gemäß danach streben, die Interessen ihrer Auftrag gebenden Organisationen zu vertreten. Als wahrscheinlicher könnte sich eine eher zufällige Überschneidung mit BürgerInneninteressen erweisen. Ebenso wahrscheinlich ist in dieser Logik der Versuch von PR-Firmen, im Framing der Protestziele Interessen der BürgerInnen miteinzubinden. Hiermit könnte auf die Unterstützungsgewinnung gewöhnlicher BürgerInnen abgezielt werden, die sich zu den bezahlten Astroturf-ProtestaktivistInnen für die Protestziele einsetzen sollen. Zur politischen und moralischen Legitimation für ihr Handeln durch BürgerInnen nehmen Unternehmen »spezifische Erwartungen des Publikums wahr und strukturieren darauf aufbauend verkaufsfördernde bzw. legitimationssichernde PR112 Ebenda. 113 Sager, Ryan zit. In Baker 2010: 35. 114 Interessantes Detail: Im selben Artikel macht Baker Werbung für zwei staatliche »grassroot programs«, bei denen die geneigte Leserschaft bei Interesse Engagement zeigen kann: für das US-amerikanische »State Advocacy Representative program«, das sich in staatliche Belange einbringt und das ACS Federal »Grassroots network«, das sich für Ziele zur Unionsvertretung einsetzt.

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Angebote« 115 , wie es etwa die verdeckte Protest-Inszenierung mit engagierten BürgerInnen sein könnte. Sarcinelli und Hoffmann charakterisieren das Verständnis von Politikvermittlung bei politischen PR-Kampagnen – zu denen Astroturf gezählt werden kann – vor allem als eine »Inszenierung von Politik«116. »Dem Bürger werde gemeinsam von Politik und Medien ein an Nachrichtenfaktoren orientiertes Schauspiel vorgeführt, das mit der politischen Realität nur begrenzt zu tun habe. Diese (…) Sichtweise versteht inszenierte Politik eher als vorgebliche Kommunikation, die sich dem Diskurs entziehe, indem sie auf die Beweiskraft der Sinne setze statt zu argumentieren.«117

So wird Protest auf der Straße als unermüdliches Engagement wütender BürgerInnen wahrgenommen. Wird dieser Symbolwert von Protestaktionen auch von PRFirmen mit einer bezahlten oder strategisch eingesetzten Protestgruppe top down und verdeckt hergestellt, so deuten die Sinne auf originären, Bottom-Up-Graswurzelprotest hin. Die Bewertung bzw. Legitimierung der Strategie obliegt dem gesetzten theoretischen Maßstab. Demokratietheoretisch ist Astroturf aus den genannten Gründen bedenklich. Aus Sicht profitorientierter Unternehmen könnte Astroturf im Sinne einer Gewinnmaximierung innerhalb des im eigenen Unternehmen geltenden Maßstabs als legitim verhandelt werden. Zwei massiv voneinander abweichende Bewertungen von Astroturf weisen auch zivilgesellschaftliche Einrichtungen und PRAgenturen auf, was jedenfalls auf das organisatorische Selbstverständnis der beiden Institutionen zurückzuführen ist. 2.5 Verhältnis zu den Medien Unternehmen und andere Organisationen gehen mit Astroturfing das Risiko ein, eine von drei Anschlusshandlungen zu provozieren: 1) Wirksamkeit von Astroturf-Lobbying: Der Protest erreicht sein Ziel und wird in der medialen Öffentlichkeit positiv rezipiert. Die differenzierte oder sogar affirmative Berichterstattung der Medien gilt als eine Zwischenstufe, über welche auf politische Verantwortliche mit kommunikativer Macht Druck ausgeübt werden soll. Dazu wird das Partikularinteresse als Allgemeininteresse geframet, was von möglichst vielen BürgerInnen als solches wahrgenommen werden soll – ebenfalls als Mittel zur Erzeugung politischen Drucks. Astroturf-Protest zielt 115 Sarcinelli/Hoffmann 2006: 235. 116 Ebenda: 236. 117 Ebenda.

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wie originärer Protest auch darauf ab, die Deutungshoheit und die Hegemonie im Diskurs zu beeinflussen und zumindest teilweise zu erlangen. 2) Risiko des Protestparadigmas: Mit Astroturf-Protest riskieren OrganisatorInnen auch das Risiko ein, medial wie originärer Protest behandelt zu werden. Tritt dieser Fall ein, könnte selbst Astroturf-Protest ignoriert werden, oder dem Protestparadigma anheimfallen. 3) Risiko der Entlarvung: Astroturf anwendende Organisationen riskieren die Identifizierung des bezahlten Astroturf-Protests, was tendenziell weder von Medien noch von der Zivilgesellschaft goutiert wird und eine politische Reaktion implizieren könnte. Um in die Massenmedien zu gelangen, versucht Astroturf-Protest Merkmale zu erfüllen, die der positiven Berichterstattung über Protest zuträglich sind: •







Protestgröße: Mit der Anwerbung zahlreicher Protestteilnehmenden soll die Größe des Protests angehoben werden, um eher von den Massenmedien aufgenommen zu werden.118 Die Anzahl der ›engagierten‹ Menschen soll für Aufmerksamkeit sorgen.119 Autoritäten: Personen von öffentlichem Interesse sorgen für die Inszenierung des Protests als ein berichtenswertes Spektakel. Strategisch eingesetzte Prominente schaffen zusätzliche Brisanz des Themas und können gegebenenfalls die Glaubwürdigkeit der Protestgruppe mit kulturellem Kapital erhöhen. Third Party Technique: Das Framing der »engagierten BürgerInnen« als »third party«120, der vermeintlich unabhängigen dritten Partei, stützt die Interessen der Astroturf lancierenden Organisation. Spektakel: Wenn Astroturf-Protest Eventcharakter hat, ist nach den o.a. Erkenntnissen gilt der Sprung auf die Seiten der Massenmedien als wahrscheinlicher.

Dazu gesellt sich die bewusste Umgehung des Protestparadigmas, indem die von Herman und Chomsky ausgearbeiteten Filter bewusst genutzt werden.

118 Veneti, Ansatasia/Poulakidakos, Stamatis/Theologou, Kostas (2012): »The Greek Indignants through the domestic TV news bulletins«. In: Estudos em Comunicação nº 12, S. 107-134, hier: 112. 119 Rucht 2012: 3. 120 Burton/Rowell 2003.

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Das strategische Framing des Protests als konsensuales Interesse einer Eiteeinheit, die den Protest im Hintergrund finanziert/herstellt, kann die Glaubwürdigkeit stärken. Die vermehrte Schaltung von Werbung gilt als probates Mittel, die Berichterstattung zu beeinflussen. Je mehr ein Unternehmen/eine Organisation Werbung inseriert, umso eher wird über ihre Tätigkeiten und Produkte berichtet.121 Astroturf-Organisatoren könnten dieses Wissen nutzen, indem mittels Anzeigeund Werbeschaltungen Berichterstattung zumindest indirekt erkauft wird. Tendenziell könnte dann die Nennung des Protestthemas steigen, wenngleich die Wertung nicht notwendigerweise positiv ausfällt. Diese Hypothese sollte aber noch weiter empirisch geprüft werden. Mittels Sourcing kann die Berichterstattung über (Astroturf-)Proteste auf professionelle Art und Weise beeinflusst werden. Organisatoren von AstroturfProtesten sind meist professionelle PR-Agenturen, die über nötige Mittel, Kanäle und Wissen verfügen, Medien mit fertigen »Berichten« und dem zweckdienlichen Framing zu speisen. Auf indirektem Wege wird so Agenda Building122 betrieben. Von besonderer Bedeutung ist der Versuch, Leitmedien und Agenturen zu beeinflussen. Sie haben mit Nachrichtenagenturen größeren Einfluss auf die Agenda anderer Massenmedien als kleine zivilgesellschaftliche Akteure und Protestkollektive.123 Kommentare in Onlineforen, die den Protest in negatives Licht rücken oder Top-Down-Protest vermuten, können von PR-Firmen dank Web 2.0 mit Leichtigkeit öffentlich entkräftet werden. Sie werden mit anderen Kommentaren überlaufen, denunziert, ins Lächerliche gezogen oder mit (anti-)ideologische Argumentation oder Falschargumenten die Wirksamkeit entzogen. Dies würde dem Disziplinierungsmittel Flak entsprechen, das über diese Foren auch direkt Zugriff auf den öffentlichen Diskurs hat und ihn beeinflussen kann.

2.6 Fälle von Astroturf-Protest Der Aufarbeitung von konkreten Astroturf-Fällen widmen sich PR-Unternehmen ebenso wie PR- und Wirtschaftsforschung, Kommunikaktions- als auch die ITWissenschaft sowie Journalismus und Nichtregierungsorganisationen. Das bessere Verständnis von Astroturf als Lobbying-Strategie ist doppelschneidig, hat es einer-

121 Andresen 2008: 25. 122 McCombs, Maxwell/Reynolds, Amy (2002): »News influence on our pictures of the world«. In: Bryant/Oliver 2002: 2-18. 123 Kepplinger, Hans M. zit. in: Theile, Merlind (2013): »Die Herde ist stärker. Viele Journalisten sind grün. Nützt das den Grünen?«. In: Die Zeit, Nr. 39, 19.9.2013, S.7.

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seits doch die Verbesserung von Astroturfing selbst zur Folge und versucht andererseits, die verdeckte Technik vor dem Hintergrund demokratietheoretischer Maßstäbe zu evaluieren. Die Liste von Astroturf-Fällen ist lang, zur Veranschaulichung der inhaltlichen Bandbreite werden einige beispielhaft angeführt. In Österreich versuchte sich Anfang 2013 die Astroturf-Organisation »Kunst hat Recht.«124 für die Vorratsdatenspeicherung sowie für die Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen im Internet einzusetzen. Die Forderungen von »Kunst hat Recht.« standen im Widerspruch zum Tenor im österreichischen Feuilleton sowie zu den Inhalten von zivilgesellschaftlichen »Anti-ACTA«-Demonstrationen in Österreichs Großstädten wie Wien oder Innsbruck. Dies führte »zur Gründung der Gegeninitiative ›Kunst gegen Überwachung‹ und schließlich zur Abschwächung diesbezüglicher Forderungen im Zuge der Anti-ACTA-Proteste.«125 Leonhard Dobusch entlarvt »Kunst hat Recht.« als Astroturf-Organisation: »Auffällig war von Anfang an, dass eine Forderung, die für die Einkommen der Kunstschaffenden von besonderer Bedeutung ist, nämlich jene nach der Einführung eines Urhebervertragsrechts in Österreich, überhaupt nicht im Forderungskatalog auftauchte. Ziel eines Urhebervertragsrechts ist es, dem strukturellen Machtungleichgewicht zwischen Kunstschaffenden und Verwertern entgegenzutreten.«126

Ziel der vermeintlichen Graswurzelinitiative »Kunst hat Recht.« war, »mit zweifelhaften Initiativen (…) Meinungsmache«127 zu betreiben, also die Beeinflussung des politischen Diskurses durch Einwürfe von Forderungen neu zu gewichten und teilweise Hegemonie zu gewinnen. Die Journalistin Claudia Peter und der Reporter Hans-Joachim Kursawa-Stucke halten bereits 1995 eine Reihe von »Tarnorganisationen der Industrie« in Deutschland und Europa fest, die »das Umweltbewußtsein der Bürger missbrauchen.«128 Die Transportpolitik war im Jahr 2012 in Deutschland Ziel von Astroturf-Bemühungen: Die Astroturf-Protestgruppe »Ja zu FRA!« demonstrierte groß angelegt vor dem Frankfurter Flughafen, um den Ausbau des Frankfurter Flughafens zu erreichen. In der Frankfurter und hessischen Bevölkerung gab es viele GegnerInnen für den Ausbau; der Demonstration ging monatelange meinungsbildende PR-Arbeit vo124 Kunst hat Recht (2013): Deklaration. http://www.kunsthatrecht.at/initiative/unseredeklaration/ 125 Dobusch 2013. 126 Ebenda. 127 Ebd. 128 Peter, Claudia/Kursawa-Stucke, Hans-Joachim (1995): Deckmantel Ökologie – Tarnorganisationen der Industrie mißbrauchen das Umweltbewußtsein der Bürger. Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München.

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ran. Ein deutscher Energiekonzern plante und finanzierte im Jahr 1995 »eine politische Demonstration seiner Mitarbeiter und Gewerkschaftsmitglieder gegen die RotGrüne-Regierung vor dem Landtag in Düsseldorf, indem er die Kosten für den Druck der Flugblätter, die Herstellung der Transparente und die Fahrtkosten für Busse übernahm«129, wie Beham und Becker schildern. 2010 betrieb der Verband der Deutschen Biokraftstoffindustrie e.V. ebenfalls in Deutschland Astroturf, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen bzw. den Einsatz der BürgerInnen für Biosprit verdeckt für ein Unternehmensinteresse zu nutzen.130 Zahlreiche weitere Fälle treten in den USA auf: Lyon und Maxwell zeigen den von Sanchez beschriebenen Fall der Astroturf-Organisation »People for the West!« (PFW!) auf, die als »grassroots campaign supporting western communities« agiert, aber eigentlich von NERCO Minerals, Cyprus Minerals, Chevron und Hecla Mining finanziert wird. Dabei setzt sich diese Astroturf-Organisation für die Beibehaltung des General Mining Acts 1872 ein, der den Erwerb von Minenland um 5 Dollar pro Acre beinhaltet. Nicht nur finanziell, sondern auch personell ist die künstliche Graswurzelbewegung mit den Minenunternehmen verquickt.131 Greenpeace deckte in den USA den Aufsehen erregenden Astroturf-Fall des American Petroleum Institutes auf. 132 Eveline Lubbers133 und George Monbiots134 zählen eine Reihe von Beispielen auf, bei denen Astroturf, Greenwash, Infiltration und andere Strategien zum Einsatz kamen, um Meinungen zu lenken und die Öffentlichkeit zu manipulieren. Astroturfing erfolgt nicht nur im realen, sondern auch im virtuellen Raum. Über soziale Netzwerke können besonders leicht Stimmen von vermeintlichen realen UnterstützerInnen gesammelt und andererseits Meinungen distribuiert werden. Yashaf Boshmaf, Ildar Muslukhov, Konstantin Breznosov und Matei Ripeanu zeigen die Gefahr der Infiltration in Sozialen Onlinenetzwerken auf und weisen auf deren Astroturf-Anfälligkeit hin. Facebook, Twitter u.a. werden als Pool genutzt, in welchem zunächst über fiktive Charaktere Missinformation und Propaganda gestreut 129 Becker, Jörg/Beham,Mira (2006): Operation Balkan. Werbung für Krieg und Tod. Nomos Verlag, Baden-Baden, S. 60. 130 LobbyControl (2010): »Erneut verdeckte Meinungsmache – heute Biosprit«. LobbyControl

10.7.2010,

o.A.

http://www.lobbycontrol.de/2009/07/erneut-verdeckte-

meinungsmache-heute-biosprit/ vom 1.1.2015 131 Sanchez 1996 zit. In: Lyon/Maxwell 2004: 563. 132 Backlagon, Chuck (2009): »Exposed! Big oil's dirty tricks«. Greenpeace Blog, 20.8.2009.

http://www.greenpeace.org/seasia/ph/News/greenpeace-philippine-blog/

exposed-big-oils-dirty-tricks/blog/13204/ vom 1.1.2015 133 Lubbers, Eveline (2002): Battling big business. Countering greenwash, infiltration, and other forms of corporate bullying. Common Courage Press; o.O. 134 Monbiot, Georges (2010): »Nieder mit dem Kunstrasen«. Der Freitag, 15.12.2010. https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/nieder-mit-dem-kunstrasen vom 1.1.2015

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wird. Sogenannte Socialbots agieren als virtuelle Personen in Sozialen Netzwerken, hinter denen jedoch keine existierenden Menschen stehen, sondern eine automatische Software. Socialbots sind in der Lage, einen Status zu veröffentlichen oder Freundschaftsanfragen zu versenden, das heißt, sich auf den ersten Blick wie eine real existierende Person zu verhalten. Das ›Freundschaftsverhältnis‹ innerhalb der Netzwerke nutzt (1) zur Streuung falscher Informationen oder tendenziöser Haltungen, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Dazu werden über Statusmeldungen Informationen distribuiert, zudem werden Socialbots für (2) fishing campaigns verwendet. Außerdem wird je nach Privacy-Einstellungen (3) Zugriff zu persönlichen Daten wie Wohnort, Telefonnummer u.a. erlangt. Diese Daten können (4) als ökonomische Gewinne der Socialbots-BetreiberInnen oder (5) zur geheimdienstlichen Profilerstellung nutzbar gemacht werden. Da mit Socialbots die öffentliche Meinung zumindest beeinflusst werden kann, werden am Online-Schwarzmarkt Socialbots um 29 Dollar verkauft.135 Hauptziele der BetreiberInnen der Socialbots sind nach Boshmaf et al. zum einen, eine groß angelegte Infiltrationskampagne in einem bestimmten Sozialen Onlinenetzwerk durchzuführen, um über Statusmeldungen den öffentlichen Diskurs zu lenken. Die Erfolgsquote der Infiltation liegt bei bis zu 80%, so die Autoren der Studie. Zum zweiten werden private Userdaten gesammelt, die finanziellen Gewinn versprechen. »[T]his data can be then used to craft personalized messages for subsequent spam, phishing , or astroturf campaigns.«136 Die Strategie wurde breitflächig angewendet, um bei den Midterm-Wahlen in den USA 2010 über die Socialbots auf Twitter Astroturf zu betreiben, so Ratkiewitz et al.137 Um diesen Socialbots und Astroturfing in Sozialen Netzwerken entgegenzuwirken, wurden verschiedene Softwares entworfen. Eine davon ist das Truthy Project, eine «web application originally motivated by the need to detect astroturf, or false grassroots campaigns, in micro-blogging streams«138. Vor allem JournalistInnen und kritische Online-Portale von NGOs entdecken und arbeiten Astroturf-Fälle auf. Sie beobachten Neuerungen in der Zivilgesellschaft und Organisationen, die in ihr aufpoppen. Auf Seiten der unabhängigen Organisationen Lobbycontrol139, Spinwatch140 oder The New PR141 u.a. werden einzelne Astroturf-Fälle gesammelt. 135 Boshmaf, Yazan/Muslukhov, Ildar/Beznosov, Konstantin/Ripeanu (2011): »The Socialbot Network: When Bots Socialize for Fame and Money«. University of British Columbia, Vancouver. http://lersse-dl.ece.ubc.ca/record/258/files/258.pdf 136 Boshmaf et al. 2011: 4. 137 Ratkiewicz et al. (2011): »Truthy: mapping the spread of astroturf in microblog streams«. Zit. In: Boshmaf 2011. 138 Ebenda. 139 Lobbycontrol: http://www.lobbycontrol.de/

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3. V ERMARKTUNG VON P ROTEST »Stereotypisierung, Freund-Feind-Polarisierung, Trivialisierung, Ritualisierung, Personalisierung, Simplifizierung, Dramatisierung, Emotionalisierung und eine einseitige Orientierung an staatlichen Informationsquellen des eigenen Landes« ANNA PASCHKE/MEDIEN UND INTERNATIONALE KONFLIKTE

Protestberichterstattung soll nicht (nur) die spektakulären Protestaktionen, sondern auch die Protestinhalte reflektieren – dies stellt eine der größten Schwierigkeiten für Proteste in der medialen Öffentlichkeit dar. Sollte die Beschreibung des Widerstands normativ dem ähneln, was der Realitätskonzeption und der kommunikativen Ausformulierung der protestierenden Männer und Frauen entspricht, so verlieren AktivistInnen realiter größtenteils die eigene Kontrolle über die massenmediale Berichterstattung. Dem komplexen Verhältnis zwischen Protest und Massenmedien widmet sich das folgende Kapitel: Nach einer Besprechung der Rolle von Protest als Manifestation latenter Konflikte werden zweitens normative Aufgaben der Medien aus dem Blick von Protestkollektiven und Zivilgesellschaft vorgestellt. Ferner werden spezifische, an das Protestereignis gebundene Merkmale erarbeitet, die die Berichterstattung maßgeblich beeinflussen können. Darauf aufbauend werden paradigmatische Formen der Protestberichterstattung präzisiert und veranschaulicht. 3.1 Konflikte in der Öffentlichkeit Die von Paschke142 o.g. erhobenen Tendenzen sind besonders in der Kriegsberichterstattung häufig. Proteste als innergesellschaftlich eröffnete Konfliktfelder weisen hinsichtlich ihrer medialen Darstellung eine deutliche Ähnlichkeit mit Kriegen als Extremform von Konflikten auf.143 Wie auch bei Kriegen und Konflikten werden auch bei Protesten tendenziell »Hintergründe und Ursachen (…) ungenügend be-

140 Spinwatch: http://www.spinwatch.org/ 141 The New PR: http://www.thenewpr.com/ 142 Paschke, Anne (2005): Medien und internationale Konflikte: Eine vergleichende Analyse der Berichterstattung über die Krisen in Somalia, Ruanda und Darfur in den deutschen Medien. Kölner Arbeitspapiere zur internationalen Politik, Nr.51, S.2. 143 Hay 1999, S. 18f. zit. In: Becker, Jörg (2002): Beitrag der Medien zur Krisenpräventioin und Konfliktbearbeitung. gtz, Sektorberatungsvorhaben Krisenprävention und Konfliktbearbeitung, Arbeitspapier Nr. 1, April 2002, S. 6 f.

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leuchtet«144. Patriotismus, Zensur, Negativdarstellungen des Gegners und das Verschweigen divergierender unliebsamer Meinungen verstärken sich.145 Protestgruppen eröffnen Konflikte. Latent vorhandene Widersprüche innergesellschaftlicher Interessen werden von Betroffenen kommuniziert und anschließend versucht, in die Öffentlichkeit zu leiten. Auch wenn es sich um gesellschaftsrelevante Konflikte handelt, werden die Anliegen von Protestgruppen und sozialen Bewegungen oft im Untergrund des politischen Diskurses als ferne Konflikte/distant conflicts146 ausgetragen. Von Bedeutung für ferne Konflikte ist es, zunächst als signifikant wahrgenommen und anschließend als signifikant repräsentiert zu werden,147 um in die Deliberation und in die politische Black Box aufgenommen zu werden. Informationen über die Vorstellungen der betroffenen (Protest-)Gruppen, die politische Relevanz des Konflikts, des Kämpfens und des Leids der Betroffenen »müssen den anderen Mitgliedern der Weltgesellschaft gezeigt werden.« 148 Die Vertretung der Anliegen soll global und plurilokal, gemeinsam und unterstützend stattfinden, so Shaw, der in seiner Theoriebildung den politischen Einfluss sozialer Bewegungen bzw. von Protest auf die Deliberation optimistisch hervorhebt. Problematisch bei der Repräsentation der Interessen der Protestgruppen ist häufig der fehlende Zugang zu Öffentlichkeiten, wodurch Abhängigkeiten von dritten Parteien/Institutionen entstehen, die sie weder gegründet haben noch deren Auslegung sie kontrollieren können.149 Zwei Formen der Repräsentation, die in gegenseitiger Abhängigkeit stehen, sind notwendig: die Repräsentation in Form von Wissen und die politische Repräsentation. Die Repräsentationsformen korrespondieren vornehmlich mit zwei institutionellen Kontexten. Dies ist zum einen die Zivilgesellschaft als der Sphäre der breiten kulturellen, ideologischen und politischen Repräsentation von Gesellschaft. Zweitens stellen die Medien die Hauptarena der informativen Repräsentation dar, in welcher Bilder und Symbole produziert, übertragen und konsumiert werden.150

144 Paschke 2005: 2ff. 145 Hay 1999: a.a.O. 146 Shaw, Martin (1996): Civil Society and Media in Global Crises. Representing Distant Violence. Pinter, London/New York, S. 11. 147 Shaw 1996: 10-14. 148 Ebenda. 149 Shaw 1996: 11ff. 150 Ebenda: 13ff.

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Abbildung 4: Interdependenz von Repräsentationsformen

Repräsentation in Form von Wissen: braucht politische Repräsentation, um effektiv zu werden

Politische Repräsentation: braucht Information, Wissen und Bilder um zu informieren

3.2 Mediennormen und zivilgesellschaftliche Ansprüche Normativ haben Medien die Rolle, den politischen Diskurs zu ermöglichen. Das bedeutet die Gewährleistung • der Aufnahme von Input aller Akteure der Öffentlichkeit, • der Beschreibung des Throughputs und des Outputs, sowie • der Evaluierung aller Stadien des Deliberationsprozesses.

Als Funktionen der Massenmedien gelten (1) die Informations-Funktion, (2) die Watch-Dog-Funktion und (3) die Agenda-Setting-Funktion, wie auch seit Beginn der massenmedialen Produktion (4) die Unterhaltungsfunktion.151 Für Protestkollektive gelten Medien als Forum zur Präsentation ihrer Interessen, die im politischen Diskurs zu den Verantwortlichen kanalisiert werden sollen. Potenziell nutzen Medien nach Gamson und Wolfsfeld allen sozialen Bewegungen und spontanen Protestkollektiven in dreifacher Hinsicht: • die Mobilisierung von politischer Unterstützung, • die Legitimierung bzw. die Validierung im Mainstream-Diskurs und 152 • die Ausweitung des Rahmens, in dem Konflikte besprochen werden.

151 Rhomberg, Markus (2008): Mediendemokratie. Die Agenda-Setting-Funktion der Massenmedien. Wilhelm Fink Verlag, München, S. 53ff. 152 Gamson/Wolfsfeld 1993.

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Entgegen dem normativen Anspruch des demokratischen Systems an die Medien betreten Protestgruppen bei Kontaktaufnahme mit Massenmedien keineswegs neutrales Land.153 Vielmehr geraten Protestgruppen dabei tendenziell in ein Dilemma: »[Sie] fokussieren entweder auf Massenmedien und verlieren die Kontrolle über ihre Repräsentation, oder auf Alternativmedien, aber versagen dafür darin, ihre Message an eine breite Öffentlichkeit zu bringen.«154 Medien verfügen mit Mitteln wie Fokuslegung, Framing, Ignoranz oder Skandalisierung über die Möglichkeit, politischen Themen eine ideologische Färbung zu verleihen, Proteste zu kriminalisieren oder zu skandalisieren, sie in positives Licht zu rücken, sie als beiläufig zu übergehen oder gänzlich zu ignorieren. Die jeweilige Färbung kann sowohl die öffentliche Meinung als auch politische Aktivität und den demokratischen Prozess beeinflussen, wie in den vorhergehenden Kapiteln verdeutlicht wurde. 3.3 Protestmerkmale als Einfluss auf die Berichterstattung »Regular news bulletins do not focus on social movements, unless these movements stage big public events.«155 VENETI, POULAFIDADOS, THEOLOGOU/THE GREEK INDIGNANTS

Zu den strukturell auftretenden Einflüssen, die im ERSTEN KAPITEL der Arbeit illustriert wurden, gesellen sich protesteigene Merkmale, die die Berichterstattung zusätzlich fördern, verhindern oder das angewandte Framing prägen können. Obwohl eine Parallelität zu den Nachrichtenwertfaktoren besteht, unterscheiden sich Protestmerkmale darin, dass sie konkret protestereignisgebunden sind. Die Protestmerkmale wirken sich als (protest-)ereignisgebundene Einflussfaktoren auf die Berichterstattung aus. Dazu zählen u.a. (1) die Protestgröße156, (2) das Spektaktel157 und das Ausmaß an Extremem bzw. Spektakulärem in Aktion und Taktik158, (3) die

153 Oliver, Pamela E./Maney, Gregory M. (2000): »Political Processes and Local Newspapers Coverage of News Events: From Selection Bias to Triadic Interactions«. In: American Journal of Sociology, Vol. 106, No. 2, September 2000, S. 463-505, 464. 154 Owens, Lynn/Palmer, Kendall L. (2003): »Making the News. Anarchist Counter-Public Relations on the World Wide Web«. In: Critical Studies in Media Communication 20, 4, S. 335-361, 335. 155 Veneti/Poulakidakos /Theologou 2012: 112. 156 Veneti /Poulakidakos/Theologou 2012. 157 Baringhorst 1996: 15-18. 158 Boyle/McLeod/Armstrong 2012: 137.

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geopolitischen Implikationen des Protests159 und (4) das Ausmaß der Radikalität der Protestinhalte160. Die folgenden Ausführungen geben Hinweis auf Korrelationen zwischen den einzelnen Protestmerkmalen und der Form der medialen Berichterstattung. 3.3.1 Protestgröße Je größer die Protestgruppe, desto wahrscheinlicher wird Protestberichterstattung, wenn auch keine Garantie über die Inhalte, die Bewertung und die Fokuslegung besteht.161 Rucht hebt die »Masse« als essentielles Merkmal hervor: »[W]enn Menschenmassen zusammenkommen, rückt dieser Vorgang unweigerlich in den Blickpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit. Massen lassen sich schwerlich übersehen. Sie beeindrucken durch ihre schiere Präsenz – unabhängig davon, ob sie als bedrohlich oder willkommen gelten.«162 Veneti, Poulakidakos und Theologou untersuchten das Protestmerkmal Protestgröße als Einflussfaktor auf die Aufnahme in die Medienagenda anhand der Analyse der griechischen »Indignados«-Proteste. National angelegt, analysiert die Untersuchung die Berichterstattung in griechischen Fernsehsendern. Das Ergebnis der Untersuchung zeigt: 1) Je größer ein Protest, desto weniger kann er medial ignoriert werden.163 2) Die Zunahme des Merkmals Protestgröße bedeutet nicht kausal die Einflussnahme auf das Framing der Protestinhalte bzw. auf die Form der Berichterstattung. 3.3.2 Extreme und spektakuläre Aktion und Taktik Protestgruppen und NGOs greifen zum Mittel der Inszenierung und Spektakularisierung von Protestaktionen. Sie setzen zum Aufmerksamkeitsgewinn auf den Event-Charakter der Aktionen, auf extreme Aktionen oder spektakuläre Taktik. Sie tun dies in Reaktion auf die Politik- und Medienlogik, und geraten dabei in ein Dilemma, so Sigrid Baringhorst: »Moralische Empörung muss telewirksam inszeniert werden. Die Dramatisierungsregeln geben die Strukturen der Medien, nicht die In159 McCluskey et al. 2009 und Wolfsfeld/Avraham/Aburaiya 2000 zit. in: Boyle 2012: 130. 160 Boyle/McLeod/Armstrong 2012: 138ff. McLeod, Douglas/Hertog, James (1999): »Social control and the mass media’s role in the regulation of protest groups: The Communicative Acts perspective«. In: Demers/Viswanath 1999: 305-30. Shoemaker, Pamela (1984): »Media treatment of deviant political groups«. In: Journalism Quarterly 61, S. 66-75, hier: 82. 161 De Nardo, James (2005): Power in Numbers. Princeton University Press, Princeton. 162 Rucht, Dieter (2012): »Massen mobilisieren«. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Protest und Beteiligung. Nr. 25-26/2012, S. 3-9, 3. 163 Veneti/Poulakidakos /Theologou 2012: 112.

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tentionen der Akteure vor.«164 Die Ereignisdramaturgie sollte journalistisch gemäß den Nachrichtenwertfaktoren inszeniert werden, um auf die redaktionelle Agenda gesetzt zu werden. Problematisch wird dabei die Fokussierung auf Inszenierung, Spektakel und extreme Aktion zur Aufmerksamkeitsgewinnung bei gleichzeitiger Marginalisierung der Inhalte. »Im Ringen um die ›prime time‹, werden die Aktionen zunehmend an den gängigen Nachrichtenwertfaktoren, den zentralen Selektionsfiltern, die der Medienberichterstattung vorgeschaltet sind, ausgerichtet. Dazu zählen z.B. die auffällige ›Prominenz‹ von Akteuren, die Personalisierung der Politik, d.h. die Konzentration auf das Handeln von Personen statt auf abstrakte Zusammenhänge, die ausschließliche Orientierung an einzelnen, sorgfältig inszenierten Aktionen statt an komplexen Prozessen und ein ständiger Originalitäts- und Innova165

tionszwang.«

Bei der Untersuchung der Hypothese, der Protesttypus beeinflusse die Berichterstattung, fanden Boyle, McLeod und Armstrong heraus, dass die Taktik des Protests einen besonders großen Einflussfaktor auf die Berichterstattung darstellt: »Group tactics were the driving force behind news coverage. Specifically, tactics exert greater influence than a group’s goal«.166 Beispiel für ein hohes Ausmaß an extremer Aktion und Taktik stellen die Greenpeace-AktivistInnen dar, die im Herbst 2013 versuchten, ein Schiff eines Erdgasförderunternehmens in der Arktis zu entern, das dort anstrebte, mit potenziell weitreichenden umweltgefährdenden Konsequenzen Gas zu fördern. Die AktivistInnen wurden als »PiratInnen« festgenommen, die erhöhte Aufmerksamkeit der Medien und des Publikums war gesichert.167 3.3.3 Radikalität der Inhalte und Gefährdung des Status quo Proteste, die Kritik am politischen Status quo üben oder radikal umwälzen wollen, führen tendenziell zu einer Negativberichterstattung. Dies liegt im tendenziell herrschaftstabilisierenden Handeln von Massenmedien begründet. Stellen die Proteste wichtige Elemente der Regierungspolitik oder gar die Regierung selbst in Frage bzw. wollen sie ein etabliertes System umwerfen, gelten sie als radikal. Je radikaler die Inhalte eines Protests sind, desto eher wird negativ-kritisch über den Protest berichtet und desto wahrscheinlicher wird das Protestparadigma, unterschiedliche 164 Baringhorst 1996: 16. 165 Ebenda. 166 Boyle/McLeod/Armstrong 2012: 137. 167 Seidler, Christof (2013): »Protest gegen Ölplattform: Russische Grenzschützer entern Greenpeace-Schiff«. In: Spiegel Online, 19.9.2013. http://www.spiegel.de/wissenschaft/ mensch/arktis-greenpeace-protestiert-gegen-russische-oel-plattform-a-923352.html vom 1.1.2015.

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Studien von McLeod/Hertog, Shoemaker und Boyle, McLeod und Armstrongzeigen.168 3.3.4 Geopolitische Implikationen Die Protestberichterstattung steht in enger Korrelation mit den geopolitischen Implikationen des Protests. Hier spielen der Protestort, die geopolitische Zugehörigkeit der targets sowie die geopolitische Zugehörigkeit der nachrichtenerzeugenden Institution (z.B. Agentur) eine wesentliche Rolle. Die Einflussnahme des Merkmals Protestort erfolgt tendenziell indirekt: »Utimately, though, factors such as the location of the protest, the country of origin of the newspaper, and the type of protest appear not to have direct effects on how groups were treated [by media]. However, it is likely they do have an indirect effect by influencing the particular goals groups will have and tactics groups will use, which, in turn, influence how groups are treated.«169

Wittebols fand heraus, dass US-Medien jene Protestgruppen besser behandeln, die gegen eine Regierung protestierten, die der US-amerikanischen Regierung feindlich gegenübersteht.170 McCluskey et al. zeigen außerdem auf, dass Protest in Nationen mit schwach ausgeprägtem Pluralismus Protest medial negativer bewertet wird.171 3.3.5 Kapital der Protestgruppe Bei der Aufnahme von Protest in die Medien Agenda scheint das Merkmal verfügbares Kapital keine unerhebliche Rolle zu spielen. Aufgrund des Ungleichgewichts des vorhandenen Kapitals bei kleinen Protestgruppen im Gegensatz zu AstroturfProtestorganisationen soll sein potenzieller Einfluss beleuchtet werden. Zwar sind privatwirtschaftlich agierende Medien abhängig von ökonomischen Kapital, zumindest aber auch das soziale Kapital, das sich in Form von Netzwerken, Kontakten und dem damit verbundenen Exklusivitätszugang ausdrückt, ist von hoher Bedeutung für die Informationsbeschaffung und indirekt für den Wert des Mediums. Das Kapital als Merkmal der Protestgruppe bekommt, sobald Medien und Protest als ›Handelspartner‹ aufeinandertreffen, einen bedeutenden Stellenwert, wie im Folgenden geschildert wird. Kapital, verstanden als akkumulierte Arbeit, tritt materiell oder inkorporiert auf. Die Aneignung von Kapital durch Einzelakteure oder Gruppen ermöglicht auch die 168 McLeod/Hertog1999; Shoemaker 1984: 82; Boyle/McLeod/Armstrong 2012: 138ff. 169 Boyle/McLeod/Armstrong 2012: 138. 170 Wittebols 1996: 359. 171 McCluskey et al. (2009) und Wolfsfeld/Avraham/Aburaiya (2000) zit. in: Boyle/ McLeod/Armstrong 2012: 130.

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»Aneignung sozialer Energie in Form von verdinglichter oder lebendiger Arbeit«172. Basierend auf einer Differenzierung der Kapitalsorten nach Bourdieu173 wird folgende These validiert: Ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital der Protestgruppe könnte das (Re-) Agieren der Medien beeinflussen. Die These wird anhand der ausführlichen Besprechung des sozialen Kapitals mit Fokus auf die Netzwerkkompetenz der Protestkollektiv-Mitglieder untersucht. Neben der Möglichkeit, mit ökonomischem Kapital die Berichterstattung über die Protestgruppe zu beeinflussen, soll auch die weniger offensichtliche Wirkung des sozialen Kapitals besprochen werden. Am Erfolg von drei (Protest-)Initiativen wird zudem die Bedeutung von ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital für das mediale Distribuieren und für das erfolgreiche Framing untersucht: (1) die erste erfolgreiche Europäische Bürgerinitiative »Right2Water«/»Wasser ist ein Menschenrecht«, (2) eine der erfolgreichsten deutschen Initiativen, die »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft«, und (3) die Frankfurter Initiative »Ja zu FRA!«, die sich mit vorhandenen ökonomischen Kapital mit Protest für den Ausbau des Flughafens einsetzt. Netzwerkkompetenz Mit ihrer beruflichen Stellung und Erfahrung bringen etablierte Personen aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und anderen Handlungsfeldern eine Fähigkeit mit, die fortan unter dem Begriff Netzwerkkompetenz subsumiert wird. Mit Bezugnahme auf das soziale Kapital bei Bourdieu wird damit das Vermögen der aktiven Nutzung des sozialen Kapitals durch Einzelne gemeint. Die »aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind«174, werden eingesetzt, allerdings mit der Besonderheit, dass Einzelne mit gleichwertiger ökonomischer oder kultureller Kapitaldisposition zu unterschiedlichen Ergebnissen in der Mobilisierung vorhandener Ressourcen kommen können. Die Möglichkeit zur Aktivierung des sozialen Kapitals wird unter Berücksichtigung des EurokratInnen-Jargons der sogenannten »Brussels Bubble«175 als Netzwerkkompetenz bezeichnet.176

172 Bourdieu, Pierre (1983): »Ökonomisches Kapital, kulturelles kapital, soziales Kapital«. In: Kreckel, Reinhard (Hg.): Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt, Sonderband 2, Göttingen, S. 183-189. 173 Bourdieu 1983. 174 Bourdieu 1983: 191. 175 »Networking, networking, networking«. Siehe dazu etwa PubAffairs Bruxelles (2013): The importance of networking – Useful tip. PubAffairs Bruxelles, Blog, 22.1.2013. http://www.pubaffairsbruxelles.eu/importance-of-networking/

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Der Begriff »Networking« wird zwar häufig gemeinsam mit dem ähnlichen »Lobbying« gebraucht, allerdings steht beim Netzwerken zunächst die Kontakterstellung, -organisation und -aufrechterhaltung im Vordergrund. 177 Im Gegensatz zu Lobbying geht es bei Networking nur indirekt und zunächst nicht primär um die Beeinflussung von (Gesetzes-)Entscheidungen, das gepflegte Netzwerk sollte potenziell im Ernstfall aber eingesetzt werden können. 1) Fallbeispiel »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« In einer Evaluationsstudie zeichnet Nuernbergk den Erfolg der »am besten ausgestattete[n] und schlagfertigste[n] Organisation unter den Reforminitiativen« 178 Deutschlands nach. Die »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« (INSM) ist ihrem institutionellen Charakter nach am ehesten eine von den Arbeitgeberverbänden aus der deutschen Metall- und Elektroindustrie finanzierte Denkfabrik.179 Die PR-Kampagne der INSM gilt als »teilweise sehr erfolgreich«180, die Hans-BöcklerStiftung nennt die INSM einen »wichtigen Akteur und Themensetzer« 181 in Deutschland. Sie setzt sich aus Vereinigungen, Bewegungen und Konventen zusammen und zeichnet sich durch Bestrebungen nach einer möglichst weiten Reduktion des sozialstaatlichen Überbaus in Deutschland aus. Dabei spielt die Beeinflussung des politischen Diskurses und die hegemoniale Durchsetzung von Themen und Sichtweisen eine große Rolle. Zu verdanken ist der Erfolg im interessengeleiteten Einstreuen von Ideen in politische Diskurse der »ökonomischen und sozialen Organisationsstruktur und ihrer finanziellen Möglichkeiten«182, also dem ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapital:

176 European Forum Alpbach (2011): Lobbying and Networking in the European Union. http://www.alpbach.org/de/unterveranstaltung/lobbying-and-networking-in-theeuropean-union-3/ 177 Wiwo.de (2013): »Kontakte knüpfen. Netzwerktipps für Networkinghasser«. 25.7.2013, wiwo.de.

http://www.wiwo.de/erfolg/beruf/kontakte-knuepfen-netzwerktipps-fuer-

networkinghasser/8540720.html 178 Nuernbergk, Christian (2009): »Die PR-Kampagne der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft und ihr Erfolg in den Medien«. In: Röttger 2009: 168-183. 179 Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) (2014): »Alles über die INSM«. http:// www.insm.de/insm/ueber-die-insm/FAQ.html 180 Ebenda. 181 Speth, Rudolf (2004): Die politischen Strategien der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Arbeitspapier Nr. 96 der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf, S. 46. 182 Nuernbergk 2009: 167.

136 | P ROTEST ALS EREIGNIS »Für den Aufmerksamkeitsgewinn spielen Geld, Macht und Wissen eine wichtige Rolle. Die gute finanzielle Ressourcenausstattung und ihr weitreichendes Reservoir an wichtigen Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Politik bedingen die Effektivität der Initiative in besonderer Weise.«183

Im Hintergrund agierende Geldgeber aus Wirtschaft und Politik mit den verschiedensten politischen Parteipräferenzen geben den sozialstaatlichen Überbau abbauende und den »freien Markt« fördernde Interessen vor und sorgen für das ökonomische Kapital der Initiative. Ende 2003 wurde der INSM-Botschafter Paul Kirchhof von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zum »Reformer des Jahres« gekürt, nachdem er bereits von Angela Merkel als solcher gelobt wurde. Das eingeworbene kulturelle Kapital hebt die Glaub- und Vertrauenswürdigkeit der Initiative an. Die involvierten Personen aus Wissenschaft und Politik sind selbst bzw. verfügen über soziales Kapital. Netzwerkkompetenz und sozialen Kapitals tragen maßgeblich zum Erfolg der INSM bei: »Der Netzwerkcharakter der INSM und ihre finanziellen Ressourcen helfen ihr, ›Produktionsgemeinschaften‹ einzugehen und exklusives Material im Rahmen von Medienkooperationen zu liefern.«184 Die zunehmend erschwerten Arbeitsbedingungen von Journalistinnen und Redakteuren erleichtern die strategische Nutzung der Medien. Zeit- und RessourcenKnappheit ermöglichen die Einflussnahme auf die Berichterstattung von außen durch Netzwerkkompetenz und anschließendem Sourcing in Form von Agenda Building: »Aufgrund der personellen, zeitlichen und materiellen Ressourcenknappheit in vielen Medienbetrieben können sich Redaktionen kosten- und zeitintensive Eigenrecherchen nur vermindert leisten, was die Erfolgschancen des Zustandekommens einer Medienpartnerschaft im Sinne der INSM erhöht.«185 Die INSM füttert Medienhäuser zudem strategisch mit der »Imitation von ›Protest-Strategien‹ sozialer Bewegungen«186. Ähnlich der angewendeten Spektakularisierung von Protestkollektiven, »werden Nachrichtenwertfaktoren strategisch hervorgehoben und inszeniert, Pseudoereignisse mit expressiven Charakter herbeigeführt«187 und das Verlangen der Medien nach Spektakulärem befriedigt. Die Evaluationsstudie von Nuernbergk zeigt, dass im Fall der INSM die Netzwerkkompetenz effizient genutzt werden konnte und die Berichterstattung im Hinblick auf das Framing für die INSM erfolgreich ausfiel. Die Medien spiegelten zum Großteil die Interpretationen und Sichtweisen der INSM wieder. Die Belieferung

183 Nuernbergk 2009: 168. 184 Nuernbergk 2009: 175. 185 Ebenda. 186 Nuernbergk 2009: 174. 187 Ebenda.

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mit spektakulären »Ereignissen« scheint so zur Win-Win-Situation zu werden. Der Markt fordert Exklusivität, die durch enge Netzwerke zwischen INSM und JournalistInnen versprochen werden kann. Zugute kommt der strategischen Einflussnahme von außen der steigende zeitliche und finanzielle Druck, dem nicht nur einzelne JournalistInnen, sondern ganze Redaktionen ausgeliefert sind.188 2) »Wasser ist ein Menschenrecht« Die Bedeutung von Kapital sticht ebenso beim Erfolg der ersten Initiative, die auf europäischer Ebene nahezu zwei Millionen Unterstützungserklärungen (1.884.790 Unterschriften bzw. mehr als 1,6 Millionen gültige Stimmen)189 sammeln konnte, deutlich ins Auge. Als Europäische Bürgerinitiative (EBI) eingereicht, setzte sich die Kampagne »Right2Water« für das Grundrecht aller EU-BürgerInnen auf Wasser und sanitäre Grundversorgung, für den Ausschluss der Unterordnung der Trinkwasserversorgung und der Wasserressourcen-Bewirtschaftung unter die Liberalisierungsagenda und Binnenmarktregeln und für die Verstärkung der Europäischen Bestrebung, sich weltweit für Wassergrundversorgung zu engagieren, ein.190 Die im deutschen Sprachraum als »Wasser ist ein Menschenrecht« firmierende EBI entstand als Reaktion auf einen Gesetzesentwurf der Europäischen Kommission, wobei sich das Organisationskommittee aus Vertretern aus mehr als 20 Mitgliedstaaten der EU zusammen zusammensetzte.191 Der Erfolg der Kampagne gründet nicht nur auf dem notwendigen und offensichtlich vorhandenen finanziellen Kapital, das für die Organisation einer EBI notwendig ist. Er ist zudem stark mit dem sozialen Kapital der Kampagnenbetreibenden und dem Einsatz der über das Netzwerk erreichten Persönlichkeiten zu verdanken. Dazu zählt die massive Bewusstseinsschaffung in Brüssel über die Vertretungen der Regionen und Kommunen, welche zuvorderst von dem von der EK geplanten neuen Gesetz betroffen gewesen wären. Vor allem in Österreich und Deutschland wurde »eine Hysterie ausgelöst« 192, berichtet die FAZ mit Bezug auf Insiderwissen aus der Kommission. Diese Hysterie dürfte auf die stark föderalistische Aus188 Nuernbergk 2009: 181ff. 189 Right2Water (2014): »Pressreview«. Homepage der Europäischen Bürgerinitiative. http://www.right2water.eu/press-review vom 3.3.2014. 190 Right2Water 2014: »Wasser und Sanitäre Grundversorgung sind ein Menschenrecht« http://www.right2water.eu/de/node/5 vom 3.3.2014. 191 Right2Water 2014: »Citizens‘ Committee – confirmed members«. http://www.right2 water.eu/sites/—water/files/—citizens%20committee%20table_5.pdf 192 Kafsack, Hendrik (2013): »Markt im Wasserwerk«. In: Frankurter Allgemeine Zeitung, 13.2.2013. http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/europaeische-wasser versorgung-markt-im-wasserwerk-12060659.html vom 3.3.2014.

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richtung in den beiden Mitgliedstaaten zurückzuführen sein. Der engagiert werbende Einsatz für die EBI erfolgte nicht nur von regionaler, sondern von quasi allen politischen Ebenen und einem Spektrum von Parteien, genauso wie von nichtpolitischen UnterstützerInnen und NGOs – und den Medien, die dies distribuierten. Die ZEIT zeigt die Breite der mitwirkenden Kräfte beim Erfolg der Kampagne beispielhaft für Deutschland auf: Die EU-Parlamentarierin Sabine Verheyen (CDU) forderte »Wasser darf keine Handelsware werden«, der Deutsche Gewerkschaftsbund warnt vor der »Liberalisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge«193, der Journalist der Süddeutschen Zeitung, Heribert Prantl, lehnte sich in einem Kommentar vehement gegen eine aufgezwungene Wasserprivatisierung auf. Ein bemerkenswertes Detail zeigen dennoch die Journalisten Claas Tatje und Hendrick Kafsack in der Reflexion über das ausgelöste gemeinsame politische Protestieren auf: Im bekämpften EK-Vorschlag war von der Wasserprivatisierung nicht die Rede. Eine Sichtung der Richtlinie zeigt: Die Wasserprivatisierung ist nicht direkt angeführt, allerdings könnte ein Worst-Case-Szenario die »Privatisierung kommunaler Wasserwerke«194 fördern. Zur Gewinnung von Aufmerksamkeit wurde die Spektakularisierung des EK-Vorschlags als Worst-Case-Szenario vorangetrieben. Politische VertreterInnen betroffener Regionen und Mitgliedstaaten setzten zur Mobilisierung auf ihr soziales Kapital und sorgten bei KollegInnen und als Autoritätspersonen in Vorbildfunktion bei den BürgerInnen für die Bewerbung der Kampagne. Auch wenn offenbar Österreichs und Deutschlands politische Elite vorrangig die Kampagne vorangetrieben hatten, mussten dennoch in weiteren fünf Mitgliedstaaten mehrere Tausend Menschen zur Erreichung der erforderlichen Mindestanzahl pro Mitgliedstaat bei der EBI zur Unterstützung mobilisiert werden. Mit der Mobilisierung über die politische Ebene, Social Media u.a. konnte in verschiedenen Öffentlichkeiten Bewusstsein geschaffen und 1,5 Millionen Unterstützungserklärungen gesammelt werden. Jedenfalls scheint die Spektakularisierung und Aufmerksamkeitsgewinnung für mehr als 1 Million UnterzeichnerInnen europaweit unbedingt notwendig, denn die Union verfügt nicht oder kaum über eine gemeinsame Öffentlichkeit. Dabei hatten deutsche und österreichische Medien sehr stark mitgeholfen, so Kafsack von der FAZ.195

193 Tatje, Claas (2013): »Die Wasserlüge«. Die ZEIT, 21.2.2013. http://www.zeit.de/ wirtschaft/2013-02/wasser-stadtwerke-privatisierung-eu-kommission vom 3.3.2014. 194 Krupa, Matthias (2013): »Stoppt eine Bürgerinitiative die EU-Kommission?« In: Die Zeit,

20/2013,

3.3.2014. 195 Kafsack 2013.

8.5.2013.

http://www.zeit.de/2013/20/analyse-liquid-europa

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3) Flughafeninitiative »Ja zu FRA!« Drittes Fallbeispiel bilden die Proteste der Initiative »Ja zu FRA!«. Auf monatelange, zahlreiche Demonstrationen gegen den Ausbau des Flughafens folgte am 1. März 2012 eine Demonstration für den den Ausbau des Flughafens in Frankfurt. Bei dieser Demonstration mit dem Motto »Ja zu FRA!« nahmen 10.000 Menschen teil, wie die FAZ bereits am gleichen Tag berichtete.196 Die gleichnamige Initiative wurde nach Auskunft der organisationseigenen Homepage ebenfalls am 1. März 2012 gegründet.197 »Ja zu FRA!« nennt auf ihrer Homepage das Ziel, »den positiven Aspekten des Luftverkehrsstandorts Frankfurt in der Kommunikation ein stärkeres Gewicht zu verleihen. Die Initiative möchte einen Beitrag für eine differenzierte und sachliche Diskussion in der Öffentlichkeit leisten.«198 Dabei wendet »Ja zu FRA!« gezielt Strategien an, um den öffentlichen Diskurs zu beeinflussen und Hegemonie zu gewinnen. Hinter der Demonstration wie auch der Initiative stehen der Flughafenbetreiber Fraport sowie die Fluggesellschaften Lufthansa und Condor199, die gemeinsam mit den DemonstrantInnen ein Partikularinteresse, nämlich die Vergrößerung des Flughafens, forderten. Die Demonstration und weitere Aktionen erfolgten nicht ohne offensichtliche Eigennützigkeit der finanzierenden Unternehmen: Der Vorstand von Fraport, Stefan Schulte, wies sogar völlig transparent auf die Durchführung von Demonstration und Kampagnen im unternehmerischen Interesse hin 200 , die das langfristige Kampagnisieren und weitere PR-Aktionen umfassen.201 Die »Ja zu FRA!«-Demonstration 1. März 2012 wurde top down initiiert. Sie wurde von der Flughafengesellschaft und Fluglinien finanziert, was von Beginn an transparent gemacht wurde. Als umstritten gilt die Höhe der Finanzierung, die von OpponentInnen höher eingeschätzt wurde. Ungeklärt ist auch die Entlohnung der »AktivistInnen«. Der Großteil der DemonstrationsteilnehmerInnen setzte sich aus MitarbeiterInnen des Flughafen Frankfurts zusammen, wobei Mutmaßungen über deren Motivation durch finanzielle Begünstigungen oder durch Zwang angestellt 196 FAZ (2012): »›Ja zu Fra‹. Tausende demonstrieren für Flughafenausbau«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.3.2012, o.A. http://www.faz.net/aktuell/rhein-main/ja-zu-fratausende-demonstrieren-fuer-flughafenausbau-11669171.html vom 1.6.2014. 197 Ja zu FRA! (2012): »Frage und Antworten«. Homepage der Initiative, Copyright 2013, Deutsche Lufthansa AG, Fraport AG, Condor Flugdienst GmbH. In: http://www.ja-zufra.org/fragen-und-antworten/ vom 1.6.2014. 198 Ebenda. 199 Ebd. 200 FAZ 2012. 201 JA zu FRA (2012): »Aktionen zu ›Ja zu FRA!‹«. In: http://www.ja-zu-fra.org/aktionen/ am 31.7.2012.

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wurden. Der Fraport-Chef schloss in der FAZ Bezahlung oder Bevorteilung der von den Initiatoren auf 10.000 geschätzten AktivistInnen kategorisch aus: »›Wer auch immer hier teilnimmt, nimmt freiwillig teil. Das ist keine Arbeitszeit‹ (...). Zu den Kosten der Veranstaltung, für die umfangreich geworben worden war, machten sie [Fraport- und Lufthansa-Chef, Anm.] nur die Angabe, dass sie weit unter einer Million Euro lägen.«202 Der Protest war eine erste »zivilgesellschaftliche« Reaktion auf den GrassrootsProtest von AnrainerInnen des Frankfurter Flughafens, die gegen den Ausbau protestierten. Vorwürfe, die MitarbeiterInnen des Frankfurter Flughafens und der beteiligten Fluglinien seien zum »Ja zu FRA!«-Protest »verdonnert«203 worden, wurden von den InitiatorInnen des Protests heftig dementiert.204 Die grüne Landtagsfraktion schätzte die Kosten der Demonstration samt Kampagne auf rund 1 Million Euro. »Die Kosten seien nicht der Rede wert, meinten die Vorstände, wollten aber auch keine konkrete Summe nennen« 205 , so Journalistin Friederike Tinnappel in der Frankfurter Rundschau. Bemerkenswert bei dem Protestfall sind die vornehmlich durch finanzielles aber auch soziales Kapital hergestellten Möglichkeiten zur Aufmerksamkeitsgewinnung und zur Einwirkung auf den politischen Diskurs. Zunächst konnte durch das ökonomische Netzwerk bzw. durch das hierarchisch geordnete Arbeitsverhältnis die Größe der protestierenden Gruppe hergestellt werden, denn eine beachtliche Anzahl von acht bis zehntausend Menschen, die sich nach Tienappel fast zur Gänze aus MitarbeiterInnen von drei Fluglinien zusammensetzte, versammelte sich demonstrierend am Frankfurter Römerberg. Mit der Professionalität der PR-Agentur wurde ein gut organisierter Protest mit geladenen lokalen Autoritäten206, eine relativ umfangreiche Homepage, monatliche Postwürfe u.v.a. hergestellt. Die Berichterstattung war für die Initiative zumindest dahingehend erfolgreiche, als den Inhalten differenzierte mediale Aufmerksamkeit geschenkt wurde, auch wenn Hinweise auf die Top-Down-Organisation des Protests nicht immer positiv geframet wurden. Durch aufwendige PR-Arbeit wurden in den anschließenden Monaten weitere Events geschaffen, die »Ja zu FRA!« und den Ausbau des Flughafens in ein positives Licht rücken sollte. Beispielsweise entwickelte »Ja zu FRA!« einen Kinospot mit Hinweis auf die umfassende Notwendigkeit des Flughafens Frankfurt, der in der Bild positiv besprochen wurde. Neben dem redaktionellen Artikel war 202 FAZ 2012. 203 Tinnappel, Friederike (2012): »Ja zu FRA«. In: Frankfurter Rundschau, 1.3.2012. http://www.fr-online.de/flughafen-frankfurt/frankfurter-flughafen-ja-zu-fra,2641734,11 746028.html . 204 Tinnappel 2012; Ja zu FRA (2012): Frage und Antworten. Eingesehen am 31.7.2012. 205 Tinnappel 2012. 206 Ebd.

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eine Werbeeinschaltung von »Ja zu FRA!« platziert. 207 In den österreichischen Standard Online schaffte es die Initiative mit einem Video »im Tilt-Shift-Stil«, das von der Initiative »Ja zu FRA!« entworfen wurde. Der letzte Satz des Berichts über das aufwändige Timelapse-Video überbrachte jene Botschaft, die von der Initiative eigentlich hegemonial durchgesetzt werden wollte und implizit den Ausbau des Flughafens mitschickt: »Der Flughafen Frankfurt beschäftigt 78.000 Menschen und ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für die Rhein-Main-Region. (ham, derStandard.at, 19.7.2013)«208. Die drei Fälle zeigen, dass mit dem Einsatz von Netzwerkkompetenz und ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital Aufmerksamkeit erregt und eine erfolgreiche Berichterstattung erreicht werden konnte. Nach Validierung relevanter Fallbeispiele und Auswertung themenbezogener Literatur gilt als Fazit festzuhalten: Kapital, das in Form von ökonomischem, sozialem oder kulturellem Kapital in Erscheinung tritt, kann als Einflussfaktor auf die Berichterstattung über Protest belegt werden. Mit ökonomischem Kapital kann eine Protestgruppe die Arbeit zur Aufmerksamkeitsgewinnung auf externe, professionelle MedienspezialistInnen verlagern und soziales und kulturelles Kapital ›kaufen‹, indem beispielsweise einflussreiche Autoritätspersonen zur Unterstützung des (Protest-)Kampagneninhalts bezahlt werden. PR-Agenturen verfügen über immenses soziales Kapital und professionalisierte Netzwerkkompetenz – sie stehen in engen Kontakt mit Medien und verstehen es, Ereignisse nach den Nachrichtenwertfaktoren spektakulär und medienwirksam zu inszenieren und die Medienbeeinflussung strategisch einzusetzen. Für die kapitalstarke Protestgruppe zuträglich, für den (normativ) differenziert und unbeeinflusst handeln wollenden Journalismus problematisch ist dabei die ökonomische Abhängigkeit der Medien. Kapitalstarke Gruppen werden eher aufgenommen, sofern sie als (potenzielle) Kundschaft Werbung schalten. Proteste, die von PR-Firmen organisiert und finanzstarken Organisationen finanziert werden, profitieren davon. Die zunehmende Prekarisierung des Journalismus erschwert die langwierige eigene Recherche, Ressourcenmangel und Zeitdruck verhindern häufig, selbst Motive und Financiers von Protest en détail zu recherchieren. Das vorgelegte Framing wird aus diesen Gründen häufig übernommen, umgekehrt gilt Sourcing durch die Protestgruppe als bewährtes strategisches Instrument, um Berichterstattung gezielt zu beeinflussen.

207 Bild.de (2013): »›Ja zu FRA!‹ zeigt irreale Szenen«. Bild Online. http://www.bild.de/ partner/regional/anzeige/ja-zu-fra-27750082.bild.html vom 1.8.2013. 208 Der Standard (2013): Flughafen Frankfurt im Tilt-Shift-Stil, 19.7.2013. http:// derstandard.at/1373513180978/Flughafen-Frankfurt-im-Zeitraffer vom 1.6.2014.

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4. F ORMEN DER P ROTESTBERICHTERSTATTUNG Eine weiterführende Kategorisierung der Protestberichterstattung wird in Anlehnung an Benford und Snow in erfolgreich und nicht erfolgreich vorgenommen. Sie ist nur zum Teil als Erfolg der Protestkollektive selbst zu werten, da sie häufig außerhalb deren Einflussbereichs liegt. Als Maßstab dient das Ausmaß der Überschneidung der medialen Resonanz mit der Selbstdarstellung des Protestkollektivs, wobei als Erfolg der Transport der Protestinhalte (Motive, Forderungen, Ziele) in den öffentlichen Diskurs gilt.209 Als erfolgreich wird Protestberichterstattung dann bezeichnet, wenn sie Protest (1) als agierenden Akteur samt (2) seinen Inhalten und eigenen Protestwahrnehmungen ernstnimmt und (3) seine Inhalte im öffentlichen Diskurs darstellt bzw. reflektiert. Als nicht-erfolgreich gilt Protestberichterstattung, wenn Protestaktionen ignoriert, AktivistInnen diffamiert, Inhalte nicht dargestellt, umgedeutet und verfälscht werden oder eine differenzierte inhaltliche Bertrachtung zugunsten einer negativen Spektakularisierung der Aktionen ausfällt. Aufgrund des strukturellen Auftretens der Merkmale der Protestdarstellung lassen sich paradigmatische Formen der Protestberichterstattung identifizieren. Die Formen der Protestberichterstattung pendeln sich zwischen zwei Extremen ein: dem absoluten Ignorieren von Protest und dem positiven, unterstützenden, affirmativen Berichten über Protest. Folgende Tendenzen und Formen der Protestberichterstattung, die in Abbildung 5 veranschaulicht werden, treten auf: (1) Am ehesten wird über Protest nicht berichtet (Ignorieren von Protest). (2) Falls über Protest berichtet wird, wird er am ehesten diffamiert, abgewertet und marginalisiert (sog. »Protestparadigma«). (3) Von einigen Protestfällen werden Protestinhalte verfälscht und umgedeutet (Rekuperation). (4) Protest wird auch differenziert, unter Vorstellung der Inhalte (Motive, Forderungen und Ziele) und abwägender Kritik derselben dargestellt. (5) In vereinzelten Fällen wird Protest mit einer unterstützenden Haltung dargestellt und affirmiert. Der Typus der affirmativen Berichterstattung wird überprüft und eingeführt. Das Ignorieren von Protest, das Protestparadigma und die Rekuperation sind nicht-erfolgreiche Formen der Berichterstattung. Die differenzierte als auch die affirmative Form sind erfolgreiche Berichterstattungsformen, wie Tabelle 2 veranschaulicht.

209 Erfolg könnte auch zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt des wünschenswerten Protestentwicklungsprozesses bemessen werden: etwa bereits bei der erfolgreichen gemeinsamen Zielformulierung der Teilhabenden des Protestkollektivs (Benford/Snow), oder erst bei der Umsetzung der Forderung und Ziele als Output der politischen Black Box.

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Nach Sichtung zahlreicher Fallbeispiele muss von der Vorstellung einer prototypischen Protestberichterstattungsform zumindest ein wenig Abstand genommen werden. Häufig handelt es sich um dynamische Prozesse, wie ein zunehmend differenziertes Framing mit fortgeschrittener Protestdauer, oder eine nicht alle Aspekte umfassende protestparadigmatische Behandlung von Protest o.a. Das Spektrum der Abbildung 5: Prototypische Formen der Protestberichterstattung

Ignorieren •Verschweigen von Protestaktionen •Verschweigen von Daten und Fakten

Protestparadigma •Diffamierung •Kriminalisierung

Rekuperation •Umdeutung der Protestinhalte •Aneignung der Protestinhalte

Differenzierte Berichterstattung • Darstellung aller Konfliktakeure • Darstellung aller Argumentationen

Affirmative Berichterstattung • unterstützende Haltung • erfolgreiche Berichterstattung für Protestkollektiv im Sinne Benford/Snows

Formen der Protestberichterstattung ist facettenreich, in dieser Arbeit werden fünf Prototypen exemplarisch angeführt, was die Existenz weiterer Formen keinesfalls ausschließt. In den drei Case Studies des empirischen Teils wird vornehmlich auf

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die Formen Ignorieren, Protestparadigma und differenziert-neutrale Protestberichterstattung eingegangen. Tabelle 2: Protesterfolg bemessen an seiner medialen Resonanz Nicht-erfolgreiche Proteste

Mediales Ignorieren Mediale Anwendung des Protestparadigmas Mediale Rekuperation

Erfolgreiche Proteste

Medial differenziert-neutrale Darstellung Mediale Unterstützung des Protests

4.1 Ignorieren von Protest Die meisten aller Proteste finden nie in die Zeilen von Zeitungen oder in die Bilder der Fernsehkanäle.210 Protest, der von den Medien ignoriert wird, hat kaum politische Relevanz, die Gatekeeper verwehren dem Protestkollektiv mit seinen Forderungen den Eingang in den politischen Diskurs. Ignorierte Proteste haben im politischen Deliberationsprozess kaum bis keine Wirksamkeit. Protest erreicht dann nämlich über die traditionellen Medien keine der vier von Lipset definierten Gruppen: Weder wird (1) die Solidarität Gleichgesinnter hervorgerufen, gelangen Protestinhalte (2) an (weitere) distribuierende Medien, noch (3) an Öffentlichkeiten, die die angegriffene Zielobjekte des Protests sind. Auch (4) die politischen Verantwortlichen werden ohne Berichterstattung nicht erreicht. Dabei ist weniger die Kenntnisnahme des Protests durch politische Verantwortliche und angegriffene Zielgruppen von Bedeutung – es ist naiv zu glauben, viele der betroffenen Verantwortlichen würden nicht über andere Informationskanäle als öffentlichen Medien verfügen – vielmehr kann aber von den politischen Verantwortlichen o.a. so agiert werden, als würden sie über den Protest nicht Bescheid wissen. Die Solidarität Gleichgesinnter kann zwar nun über Soziale Medien erreicht werden. Dennoch scheint nach wie vor zu gelten: Wird in den öffentlichen Massenmedien nicht über einen Protest berichtet, ist es, als hätte er nie stattgefunden. Nach dieser Logik sprechen Massenmedien Ereignissen Relevanz zu – und diese Relevanz erzeugt Druck. Ohne mediale

210 Smith /McCarthy/McPhail/Augustyn 2001: 1419.

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Druckausübung steht Politik nicht unter offizieller Beobachtung der Öffentlichkeit und nicht in Zugzwang, muss also der Responsivitätspflicht nicht gehorchen.211 In einem länderbezogenen Überblick über zahlreiche Studien aus Europa und den USA über die jeweilige Protestberichterstattung über Protest vergleichen Smith, McCarthy, McPhail und Augustyn Medienberichte über Protest mit Daten über Protestanmeldungen aus Polizeistationen. 212 Ergebnisse aus Frankreich zeigen, dass weniger als fünf Prozent aller Proteste in die Medienagenda aufgenommen wurden. Eine Studie aus der Schweiz weist einen ähnlich niedrigen Prozentsatz auf. In den US-Bundesstaaten ist der Anteil nicht viel höher, in Washington, D.C. beispielsweise wurde über 15 Prozent aller polizeilich genehmigten Proteste berichtet. Der Prozentsatz der erfolgten Berichterstattung erhöht sich unter Betrachtung kleinerer Städte und lokaler Medien. Im deutschen Freiberg wurden etwa 38 Prozent der Proteste von lokalen Medien aufgenommen (41.000 EinwohnerInnen). In der US-Stadt Madison in Wisconsin wurden 44 Prozent aller offiziellen Berichte medial verwertet (237.000 EinwohnerInnen). Das könnte u.a. der Tatsache zu verdanken sein, dass sich die Suche nach relevanten Themen in kleineren Ortschaften schwieriger gestaltet und JournalistInnen dankbar für jedes Ereignis sind, wie die Studienautoren ins Treffen führen.213 Ein weiterer Grund dürfte im Verlust der Glaubwürdigkeit im Publikum liegen, denn die geographische Nähe macht die Berichterstattung direkt überprüfbar. Das Ignorieren von Protest enthebt die politisch Verantwortlichen vom Responsivitätsgebot. Bemerkenswert sind in dem Zusammenhang Proteste, die zwar nicht medial, aber politisch ignoriert werden. Bekanntes Fallbeispiel ist der von Ishaan Tharoor als »Biggest Protest in World History« betitelte Protest am 15. Februar 2003: 10 bis 15 Millionen Menschen demonstrierten in US-amerikanischen und europäischen Städten gegen den Einmarsch der USA in den Irak – dennoch wurde der gemeinsame Wille von mehr als 10 Millionen Menschen von der Politik ignoriert. Tharoor, Herausgeber von TIME World und Senior Editor vom Time Magazin, stellt zehn Jahre später die Frage: »Why Was the Biggest Protest in World History Ignored?«214 Trotz der enormen Größe konnte der Protest politisch den Krieg nicht verhindern. Proteste würden heutzutage mehr zählen, so Tharoor optimistisch, sie 211 McCarthy, John D./McPhail, Clark/Smith, Jackie (1996): »Selektionskriterien in der Berichterstattung von Fernsehen und Zeitungen. Eine vergleichende Fallstudie anhand von Demonstrationen in Washington D.C. in den Jahren 1982 und 1991.« In: Forschungsjournal NSB, Jg. 9, Heft 1, S. 26-38. 212 Smith /McCarthy/McPhail/Augustyn 2001: 1419. 213 Ebenda. 214 Tharoor, Ishaan (2013): »Why Was the Biggest Protest in World History Ignored?«. Time World, Onlineausgabe, 15.2.2013. http://world.time.com/2013/02/15/viewpointwhy-was-the-biggest-protest-in-world-history-ignored/

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seien durch Soziale Medien teilweise effektiver und »Public spaces — from Cairo’s Tahrir Square to Madrid’s Puerta del Sol to New York’s tiny Zuccotti Park — became sites of a renewed democratic vitality.« 215 Tharoor vergleicht zehn Jahre später den Anti-Irakkrieg-Protest mit dem Occupy-Wall-Street-Protest mit bei weitem weniger TeilnehmerInnen. Erfolge der Occupy-Bewegung sind in der Veränderung des Diskurses und in einzelnen politischen Bestrebungen zur Einschränkung der Großbanken zu finden. Aber, so Marth C. White, »[a] year later, big, powerful banks remain big, powerful banks. Unemployment is still high, Americans’ home equity and personal savings are depleted, and total student-loan debt tops a record $1 trillion.«216 Die Proteste gegen den Irakkrieg und die zeitgenössischen OccupyProteste sind Fallbeispiele für große Protestbewegungen, die zwar in die mediale Agenda aufgenommen wurden, aber politisch wenig Aktivität erzeugten. 4.2 Protestparadigma «[P]rotesters across the world are more likely to receive critical treatment if they pose a threat to the Status quo—particularly if their tactics are more extreme.«217 BOYLE, MCLEOD, ARMSTRONG/ ADHERENCE TO THE PROTEST PARADIGM

4.2.1 Marginalisierung und Diskreditierung ›Extreme‹ und ›radikale‹ Protestkollektive, die am Status quo rütteln, rufen eher eine negative, marginalisierende Medienreflexion bzw. Berichterstattung hervor.218 In einer breit angelegten Untersuchung von verschiedenen Protesten konnte eine gemeinhin kritischere Beleuchtung und ein tendenzielles Ignorieren von AktivistInnen bei Anti-Krieg-Protesten im Vergleich mit allen anderen Protesten festgestellt werden. Anti-Krieg-Proteste richten sich gegen den politischen Konsens, gegen den Status quo, sie sind in diesem Hinblick auch radikal in den Zielen und tendenziell extrem in ihrer Taktik, so Boyle et al. 219

215 Ebenda. 216 White, Martha C. (2012): »Occupy Wall Street, One Year Later: Did It Make a Difference?«. Time Business, Onlineausgabe 17.9.2012. http://business.time.com/2012/ 09/17/occupy-wall-street-one-year-later-did-it-make-a-difference/ vom 3.3.2014. 217 Ebenda. 218 Boyle/McLeod/Armstrong 2012: 138ff.; McLeod /Hertog1999; Shoemaker 1984: 82. 219 Boyle, Michael P./McCluskey, Michael R./Devanathan, Narayan/Stein, Susan/McLeod, Douglas M. (2004): »The influence of level of deviance and protest type on coverage of

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In einer Studie über die Protestberichterstattung zwischen 1967 und 2007 von den fünf US-amerikanischen Zeitungen New York Times, Los Angeles Times, Seattle Times, The Washington Post und San Francisco Chronicles (Sample: 840 Berichte) konnte Di Cicco konnte beobachten, dass Proteste im Laufe der Jahre zunehmend als Ärgernis geframet werden. Zur Untersuchung wurde das Framing, das er als »critical characterization« bezeichnet, hinsichtlich der Protestbewertung dreigeteilt kodiert: als »(1) being ineffective, (2) unpatriotic, or (3) bothersome«220. Vor allem das Framing als »bothersome« – deutsch: lästig, störend, nervig – steigt in den Jahren von 1967 bis 1999 mit zwei Abweichungen (1986 und 1990) enorm an. Die Häufigkeit der »bothersome«-Aussagen nehmen von 1967 bis 2004 um weit mehr als 250 Prozent zu (0,17 bzw. 0,44 »bothersome«-Aussagen pro Artikel). Als nervig, störend wird Protest in den Artikeln bezeichnet, da er das alltägliche Leben laut Berichterstattung negativ beeinflusst. Di Cicco führt als Beispiel die Studierendenproteste an, die in das Framing »Verkehrsbehindernd auf der Straße vor der Uni« gelegt wurden.221 Ab Mitte der 70er Jahre ist der signifikante Anstieg der Negativberichterstattung über Protest nachweisbar. Die Hypothese wird im Vordergrund der zeitlichen Korrelation mit der eintretenden Neoliberalisierung der US-amerikanischen Wirtschaft unter republikanischer Regierung entworfen. Die Negativberichterstattung über Protest liegt in der Einflussnahme US-amerikanischer Think Tanks begründet, die Medien offenbar erfolgreich in eine konservative Richtung zu steuern. Die Think Tanks hatten Erfolg darin, die Medien tendenziell öfter als Plattform für republikanische Interessen, die das (neo-)liberale Wirtschaftssystem propagierten, zu nutzen. Seit 2001 nimmt Fox News Channel den ersten Platz der populärsten Medien in den USA ein, sein Nachrichtenframing ist tendenziell konservativ, unterstützt republikanische PräsidentschaftskandidatInnen und verhält sich eher spöttisch gegenüber politisch abweichenden Meinungen.222 Um dem Protestparadigma und somit einer diffamierenden Berichterstattung zu entgehen, konzentrieren sich Protestgruppen auf Alternativmedien oder gründen eigene Medien wie Blogs und Online-Foren, wie u.a. in der Case Study über die griechischen Antigold-ProtestaktivistInnen gezeigt wird.

social protest in Wisconsin from 1960 to 1999«. In: Mass Communication & Society 7, S. 43-60. 220 Di Cicco, Damon T. (2010): »The Public Nuisance Paradigm: Changes in Mass Media Coverage of Political Protest since the 1960s«. In: Journalism & Mass Communication Quaterly Vol. 87, No. 1, Washington, S.135-153, 142. 221 Di Cicco 2010: 137. 222 Ebenda.

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4.2.2 Negative Spektakularisierung In der Protestberichterstattungsforschung besteht quasi Konsens darüber, dass Inhalte häufig zugunsten anderer Merkmale in den Hintergrund gerückt werden: Vielmehr als die Forderungen des und die Gründe für den Protest zu erheben, werden Taktik223, Spektakel und dramatische Aktionen medial veröffentlicht.224 In einer Analyse von 200 internationalen Zeitungen weisen Boyle, McLeod und Armstrong225 der Taktik der Protestgruppen eine weitaus substantiellere Rolle zu als den Protestzielen. Je höher das Ausmaß an Extremem bei den Aktionen, umso eher werden Proteste nicht ignoriert. Das Ausmaß an Extremem wirkt sich zugleich aber auch auf die Anwendung des Protestparadigmas aus: Die negative Berichterstattung ist tendenziell höher. Bemerkenswert ist die mediale Ausschlachtung extremer Aktionen, sie erhöhen die Spektakularisierbarkeit der Proteste mit der häufig gemeinsam auftretenden Auswirkung der Negativ-Berichterstattung. Die Anwendung extremer Taktik bereitet für Protestgruppen also den Weg in ein Dilemma vor: Extreme soziale Protestgruppen können zwar eher Aufmerksamkeit erlangen und schaffen es auf die Medienagenda; die Berichterstattung fällt als Folge allerdings tendenziell negativ gegenüber der Protestgruppe aus.226 Ein Fallbeispiel für den Einsatz des Protestparadigmas bilden die London Riots, deren Protestberichterstattung in der Case Study im empirischen Teil detailliert beleuchtet wird. 4.3 Rekuperation »The powerful can either divert attention from radical ideas by shifting ground, creating dazzling alternatives – or by embracing the threat, making it safe 227

and then selling it back to us.«

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Rekuperation zielt auf Verharmlosung, Umdeutung und Neutralisierung radikaler Ideen ab, und führt letztlich zur Minimalisierung ihres Einflusses. Radikale Ideen

223 Boyle/ McLeod/Armstrong 2012: 127-144. 224 Harlow, Summer/Johnson, Thomas J. (2011): »Overthrowing the Protest Paradigm? How The New York Times , Global Voices and Twitter Covered the Egyptian Revolution«. In: International Journal of Communication 5, S. 1359-1374. 225 Boyle/McLeod/Armstrong 2012: 127-144. 226 Gitlin, Todd (1980): The whole world is watching: Mass media and the making and unmaking of the new left. University of California Press, Berkeley. 227 Waltz, Mizzi (2005): Alternative and Activist Media. Edinburgh University Press, Edinburgh, S. 110.

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verlieren so nicht nur an Macht und Überraschungskraft, sondern auch an ihrer ureigentlichen Bedeutung. 228 Der Begriff tammt von lateinisch recuperare ab, das sich aus dem Präfix re- (wieder) und cupere (wünschen wollen, begehren) zusammensetzt und »wiedererlangen«, »wiedergewinnen« bedeutet. Beispiel für den erfolgreichen Rekuperationsprozess von radikalen sozioökonomischen Ideen ist die Umwandlung von Punk-, Hippie- und marxistischen Lebensentwürfen hin zu der Reduktion auf Musik und Kleidung als in Kapital umsetzbare Produkte. Losgelöst von ihren Inhalten werden alternative kapitalismuskritische Strömungen als konforme Che Guevara T-Shirts massentauglich gemacht. Der massenmedialen »Entradikalisierung« von radikalen, alternativen, widerständischen Ideen läuft eine Aneignung dieser Ideen durch Politik oder Ökonomie vor. Nicht nur wandeln Massenmedien radikale Inhalte in massentaugliche um, sondern sehr häufig politische oder ökonomische Akteure. Medien nehmen die Inhalte auf und passen sie an, spektakularisieren und distribuieren sie. Beispiel für Rekuperation ist die Umweltpolitik. Beck schildert Veränderungen in der Umweltpolitik, die teilweise auf eine inhaltliche Rekuperation hinweisen:229 »In den achtziger Jahren sind grüne Aktivisten für ihr Engagement noch kriminalisiert worden. Vor einigen Wochen war ich auf einer Konferenz in Paris zum Thema Umweltschutz. Jacques Chirac hielt dort eine Rede (…). Ich saß dort neben dem Chef von Greenpeace, der über die Rede mindestens so überrascht war wie ich. Irgendwann (…) sagte [er]: ›Der redet, als ob er bei uns Mitglied wäre. Der redet ja genauso wie ich.‹«230

Die Umweltbewegung wurde nahezu »unnötig«, denn »in der transnationalen Wirtschaft startet ein Wettlauf um die Märkte für Umwelttechnologie und erneuerbare Energien.«231 Forderten KlimaschützerInnen zunächst allerdings radikale Veränderung der Wirtschaftspolitik und eine Abwendung von der massiven Produktion, so gingen gerade produzierende Wirtschaftszweige als Profiteure des Klimaschutzes hervor, denn sie produzieren nun klimafreundliche Produkte. Als Erfolg der Umweltbewegung gilt die Bewusstseinsschaffung für Umweltschutz in nahezu allen Sparten der Politik und Wirtschaft festzuhalten, gleichwohl ein radikales ökologisches, politisches und ökonomisches Umdenken sehr selten stattfindet, sondern radikale Ideen teils rekuperiert werden.

228 Waltz 2005: 111. 229 Beck/Schrenk 2007: 232-233. 230 Ebenda. 231 Ebd.

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4.4 Differenzierte Berichterstattung Neutrale Berichterstattung ist nicht existent, denn weder Konnotationen, Framing noch Gewichtung und Auslassungen aufgrund des vorhandenen Raums und der verfügbaren Recherchezeit, der Komplexität der Motivlage und des Analyserahmens, innerhalb dessen Ereignisse betrachtet werden, können gänzlich vermieden werden. Ein Kategorisierungsbegriff, der allerdings den Versuch neutraler Berichterstattung nahe kommt, ist dennoch notwendig, da diese Form zwischen der negativen protestparadigmatischen und der überaus protestaffirmativen Sichtweise steht. Aus diesem Grund wurde die Kategorie der differenzierten (Form der) Berichterstattung über Protest eingeführt. Für die differenzierte Form der Protestberichterstattung wurde festgelegt, dass • • • • • •

alle vom Konflikt betroffenen Akteure präsentiert werden, das Protestkollektiv als handelnder nicht-institutionalisierter Akteur beschrieben wird, AktivistInnen samt ihren Positionen selbst zu Wort kommen, aufgeworfene Forderungen und Ziele des Protestkollektivs zunächst sprachlich soweit wie möglich ohne Bewertung behandelt, die Motive der Protestgruppe entsprechend den Formulierungen und Darstellungen des Protestkollektivs betrachtet und die Argumentationen des Protestkollektivs in Abwägung mit anderen Argumenten kritisch beleuchtet werden.

Die Erfüllung aller Bedingungen würde dem erstrebenswerten, aber kaum zu erreichbaren Idealfall entsprechen, dennoch wurde festgelegt, dass eine Anwendung von mindestens vier Merkmalen auf eine differenzierte Berichterstattung hinweist. Zwei Fallbeispiele der zumindest teils differenzierten Berichterstattung werden im Folgenden aufgerollt: die Berichterstattung über die US-amerikanische Tea Party und die Berichterstattung über den österreichischen Bürgermeisterprotest, der ausführlich in der Case Study des empirischen Teils behandelt wird. In der Berichterstattung über die Bürgermeister als auch über die Tea Party werden Aktionen und Akteure umfassend dargestellt, Motive und Interessen aufgezeigt und Protestargumentationen unter reichlicher Zitation von AktivistInnen zur Disposition gestellt. Beim Bürgermeisterprotest ist kaum von einer affirmativen Haltung der Medien zu sprechen, bei der Tea Party verhalten sich die Medien divergierend. 4.4.1 Der Hybridfall Tea Party Die journalistische oder wissenschaftliche Aufarbeitung von Astroturf-Einzelfällen ist bei weitem häufiger als die Analyse der Berichterstattung über diese Fälle. Im

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Folgenden wird die Berichterstattung über die Tea Party exemplarisch und auszugsweise beleuchtet. Zur Vollständigkeit bedarf es weiterer Untersuchungen, der Fall wird hier nur zur Vermittlung forschungsrelevanter Aspekte im Überblick beschrieben und kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Bei der Tea Party handelt es sich um eine Protestorganisation, die in Reaktion auf die Politik des USDemokraten Barack Obama entstand. Die mediale Resonanz auf die Tea-Party oszilliert zwischen der differenzierten, affirmativen und protestparadigmatischen Form der Berichterstattung. Die Organisation Tea Party genoss von den US-amerikanischen Medien bereits ab der Ankündigung ihrer Gründung große Aufmerksamkeit, womit bereits eines ihrer Hauptinteressen erreicht wurde. Die Popularität des damals neu gewählten US-Präsidenten Barack Obama und seines Regierungsprogramms sollte strategisch vermindert werden. Bei der Tea Party handelte es sich vermeintlich um eine Graswurzelorganisation, die später zumindest partiell als Astroturf-Organisation entlarvt wurde. Hinsichtlich der medialen Repräsentanz erlangte die Tea Party mit neoliberalen, antistaatlichen, promilitärischen und wertkonservativen 232 Ansichten viel (Zugang zu) Öffentlichkeit, dennoch war sie teilweise – gleich vielen linken Protestorganisationen – dem Protestparadigma ausgesetzt, wie Weaver und Scacco233 in einer Studie festhalten. Besonders folgende Eckpunkte sind im Hinblick der Tea Party bemerkenswert: (a) Die Tea Party erlangt als (vermeintliche Bottom-Up-)Graswurzelbewegung bereits vor ihrem Bestehen besonders viel Medienaufmerksamkeit. (b) Das Protestparadigma wird stellenweise angewendet, was dem Erfolg der Tea Party als »Protestorganisation« keinen Abbruch tut. (c) Trotz partieller Anwendung des Protestparadigmas gelingt es der Tea Party, ihre Inhalte (Motive Forderungen, Ziele) über die Medien öffentlich zu machen. (d) Es gelingt, bei einzelnen Themen Deutungshoheit im Diskurs über Barack Obama und die Democrats zu gewinnen bzw. den Diskurs zu beeinflussen. (e) Ihre Akteure und Aktionen werden nicht ignoriert – im Gegenteil, sie erlangen übernationale Popularität. Vor diesem Hintergrund sollen folgende vier Aspekte untersucht werden: das partielle Astroturfing, die Aufmerksamkeitsgenerierung im Diskurs, der Gewinn von Deutungshoheit und Hegemonie und schließlich das Protestparadigma und mediale Hinweise auf Astroturfing.

232 Tea Party (2013): »About us. 15 Non-negotiable Core Beliefs«. Homepage der Tea Party. http://www.teaparty.org/about-us/ vom 5.12.2013. 233 Weaver, David A./Scacco, Joshua M. (2013): »Revisiting the Protest Paradigm: The Tea Party as Filtered through Prime-Time Cable News«. In: The International Journal of Press/Politics 18(1), S. 61–84.

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(1) Partielles Astroturfing In den ersten Monaten Barack Obamas als US-Präsident in den USA entstanden, ist die Tea Party im Unterschied zu vielen Protestgruppen der letzten Dekaden eine rechts-gerichtete Bewegung. Die Tea Party wurde von zwei US-amerikanischen ÖlMilliardären und Brüdern [K] ins Leben gerufen und startfinanziert, gab sich aber als Graswurzelorganisation aus. 234 Die Klassifizierung der Protestform bereitet Schwierigkeiten, wird doch ihre künstliche Erstellung (Astroturf) explizit betont, aber gleichzeitig auch explizit abgestritten. Deutlich hervor geht, dass es sich zumindest partiell um eine top down gegründete Organisation handelt, die von außen finanziert worden ist. Zur Feststellung, ob es sich bei der Tea Party um eine klassische Astroturf-Organisation oder um eine Hybridform handelt, müssten weitere Forschungsbemühungen erfolgen, diese würden allerdings den Rahmen dieser Arbeit sprengen und stehen nicht im primären Forschungsinteresse. Journalistische und wissenschaftliche Positionen werden aber überblicksartig dargelegt. Mark Ames und Yasha Levine wiesen bereits Ende Februar 2009 in einem Artikel darauf hin, dass es sich bei der Tea Party um keine Graswurzelbewegung, sondern um eine Astroturf-Organisation handle.235 Die Massenmedien ignorierten dies aber großflächig: »Ames and Levine published this report on their own news site, because no major ›news‹ medium would publish it.« Der investigative Historiker Eric Zuesse verifiziert das von Ames und Levine konstatierte Astroturfing im Oktober 2013 und veröffentlicht die Erkenntnisse in der Huffington Post. 236 Belegt wird hier unter anderem die Zusammensetzung der Tea Party aus maßgeblich zwei Bewegungen, den ›NGO‹ FreedomWorks und Americans For Prosperity. Beide gehen aus der Organisation »Citizens for a Sound Economy« hervor, die von den Gebrüdern [K] gegründet wurde. 237 Suzanne Goldberg, US-Umweltkorrespondentin für den britischen Guardian, hielt im März 2011 fest, dass die Brüder die Tea Party finanzierten und damit beispielsweise die Umweltdebatte sehr beeinflussten: »The[y] bankrolled the Tea Party group, Americans for Prosperity, which has said it spent $40m in the elections. [K] Industries and its employees donated $2.2m to candidates in last year's elections (…) according to the Centre for Responsive Poli-

234 Zuesse, Eric (2013): »Final Proof The Tea Party Was Founded As A Bogus AstroTurf Movement«. In: Huffington Post, Onlineausgabe, 22.10.2013. http://www.huffington post.com/eric-zuesse/final-proof-the-tea-party_b_4136722.html vom 1.6.2014. 235 Ames, Mark/Levine, Yasha (2009): »Exposing the Rightwing PR Machine: Is CNBC’S Rick Santelli sucking Koch?«. In: The Exiled Online, 27.2.2009. http://exiledonline. com/exposing-the-familiar-rightwing-pr-machine-is-cnbcs-rick-santelli-sucking-koch/ vom1.6.2014. 236 Ebenda. 237 Zuesse 2013.

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tics.«238 Weaver und Scacco untersuchen die Berichterstattung über die Tea Party, legen sich dabei aber nicht fest, ob es sich bei der Tea Party tatsächlich um eine Astroturf-Organisation handelt, sondern verweisen auf finanzielle und ideologische Einflüsse, die möglicherweise mit echten Grassroots verwoben sind.239 (2) Aufmerksamkeitsgewinn im Diskurs Der Bedarf eines Gegenstücks zur Regierung Obamas wurde medial vorangekündigt. Eine Wut-Rede, die im Sender CNBS im Februar 2009 ausgestrahlt und von zahlreichen US-Medien distribuiert wurde, stand am Beginn der Tea Party, wie Vanessa Williamson et al. festhalten.240 Ein prominenter Finanzkommentator wütete in CNBS: Aufgrund der Wirtschaftsvorschläge der Obama-Regierung würden sich die Gründungsväter Amerikas wörtlich im Grabe umdrehen – daher benötige es eine »Chicago Tea Party«. 241 Mit der Bezeichnung Tea Party wird im US-amerikanischen Sprachgebrauch eine Bewegung umfasst, die sich gegen Steuern und Staatsausgaben wendet, wobei hier die im 18. Jahrhundert tätige Boston Tea Party als Referenz gilt.242 Nur wenige Stunden nach der öffentlichen Tirade in CNBS wurde eine Webseite mit der Adresse ChicagoTeaParty.com aktiviert. Die Domain dafür wurde bereits mehr als ein halbes Jahr vorher gesichert von einem bekannten rechtslastigen Radio-Produzenten.243 Ames und Levine beschreiben die Wut-Rede in CNBS als weder zufällig noch spontan. Sie war als PR-Methode strategisch geplant, um die Obama-Regierung zu schwächen: »What we discovered is that [the commentator]’s ›rant‹ was not at all spontaneous as his alleged fans claim, but rather it was a carefully-planned trigger for the anti-Obama campaign. In PR terms, his February 19th call for a ›Chicago Tea Party‹ was the launch event of a carefully organized and sophisticated PR campaign, one in which [the commentator] served as a frontman, using the CNBC airwaves for publicity (…).«244

238 Goldberg, Susanne (2013): »Republicans attack Obama's environmental protection from all sides«. In: The Guardian, 4.3.2013. http://www.theguardian.com/world/2011/ mar/04/republicans-attack-obamas-environmental-protection vom 1.6.2014. 239 Weaver/Scacco 2013: 66. 240 Williamson, Vanessa/Skocpol, Theda/Coggin, John (2011): »The Tea Party and the Remaking of Republican Conservatism.«. In: Perspectives on Politics 9 (1): 25–43. 241 Williamson/Skocpol/Coggin 2011. 242 Dictionary.com (2014): »Tea Party«. 243 Ames/Levine 2009. 244 Ebd.

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(3) Deutungshoheit und Hegemoniegewinn Entstanden in den ersten Monaten der Obama-Regierung, bildet die Tea Party zunächst ein starkes Gegengewicht zur Regierung Obamas im Hinblick auf die Aufmerksamkeitsgewinnung in der medialen Berichterstattung. 245 Genau darin liegt eines der Ziele der im April 2009 erstmals aktiv werdenden Tea Party: der offene Protest gegen die und die Konfrontation mit der Democrats-Regierung, der Einsatz für Steuersenkungen sowie die Diskreditierung der Obama-Agenda.246 Die Mitglieder der Tea-Party-Bewegung griffen Obama zum Teil auch öffentlich rassistisch an,247 etwa als eine Radiomoderatorin und designierte Tea Party Präsidentschaftskandidatin auf einem Parteikonvent im Frühjahr 2011 dem Präsidenten Obama medienwirksam die adäquaten Merkmale für einen US-Bürger absprach. 248 Er sei vielmehr ein »kommunistischer Moslem« 249 , womit sie in einer Formulierung gleich zwei gegenwärtige rassistisch-ideologische US-Feindbilder anwendete. Die wirtschaftliche Sichtweise der Tea Party ist deutlich marktliberal und in Sozialfragen zum Teil nationalistisch und antiegalitär ausgerichtet. Sie setzt sich tendenziell aus Republicans bzw. -nahestehenden Personen zusammen. Von der Gegnerschaft der Obama-Regierung wurden die Democrats und ihr Präsident vor allem zu Beginn ihrer Regierungsperiode mit einer inhaltlichen Trendwende der USA zum Sozialismus pejorativ attribuiert, womit die Gründung eines starken ideologischen Gegengewichts legitimiert wurde. Die Tea Party wurde von ihren Mitgliedern als ein politisch-ökononomisch-sozialer Gegenpart zu den Democrats inszeniert und erfüllte mit ihrem Programm auch die Inszenierung. (4) Protestparadigma und mediale Hinweise auf Astroturfing Die Tea Party wurde in den US-Sendern MSNBC, CNN, FOX, und der Nachrichtenagentur Associated Press (AP) u.a. in verschiedenem Ausmaß als »AstroturfOrganisation« bezeichnet, wie David Weaver und Joshua Scacco (trotz hoher Aufmerksamkeitsgewinnung) eine Diffamierung der Massenmedien gegenüber der Tea Party belegen. Gleichzeitig wurde von ideologischen als auch traditionellen TVSendern eine nach Weaver/Scacco sonst eher für linksgerichtete Bewegungen typische protestparadigmatische Marginalisierung der Gruppe vorangetrieben. Die An245 Weaver/Scacco 2013: 4. 246 Weaver/Scacco 2013: 66. 247 The Spokesman-Review (2012): »Roth considering independent run for president«. 24.4.2012. http://www.spokesman.com/blogs/spincontrol/2012/apr/24/roth-consideringindependent-run-president/ vom 1.1.2015. 248 Roth, Laurie: »Laurie Roth The People's President«. In: Tea Party 2013: http:// teapartyorg.ning.com/group/laurie-roth-the-people-s-president vom 1.6.2014. 249 Parker, Christopher S./Barreto, Matt A. (2013): Change They Can’t Believe In: The Tea Party and Reactionary Politics in America. Princeton University Press, Princeton, S.2.

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wendung des Protestparadigmas auf die von ihnen als Protestorganisation klassifizierte Tea Party untersuchten Weaver/Scacco in den Nachrichten der Sender MSNBC, CNN, FOX und der AP. Das Protestparadigma wird nach verschiedenen Merkmalen analysiert, darunter fallen die Diskreditierung der geistigen Leistung sowie des optischen Auftretens der Organisationsmitglieder und die Negativbewertung der Faktionsbildung innerhalb der Tea Party. Außerdem wird die Bezeichnung »Astroturf« für die Tea Party, das kurz als »representation of fake public opinion«250 definiert wird, als Merkmal des Protestparadigmas negativ konnotiert. Die Autoren stellen die Anwendung des Protestparadigmas bezogen auf die untersuchten Sender in unterschiedlichem Schweregrad fest. Allen voran marginalisiert der Sender MSNBC die Tea Party, und zwar vornehmlich aufgrund der geistigen Leistung der Mitglieder (in 38 Artikeln wird impliziert, dass diese »idiots« seien) und der Faktionsbildung innerhalb der Organisation (in 30 Artikeln). MSNBC bezeichnete die Mitglieder als »rassistisch«, was diese wiederum dementierten. Die Daten zeigen außerdem, dass MSNBC am häufigsten davon spricht, dass es sich bei der Tea Party um eine Astroturf-Organisation handelt (in 22 Artikeln). Die AP wendet das Protestparadigma etwas weniger häufig an. Die AP diffamiert die Mitglieder in 35 Artikeln und beanstandet die interne Faktionierung der Tea Party in 25 Artikeln. Die AP spricht im Vergleich dazu in sechs Artikeln von Astroturf – mehr als viermal seltener als MSNBC. CNN und FOX diffamieren Mitglieder (24/20 Artikel) und Faktionierung (18/13) seltener, aber auch sie bezeichnen die Tea Party als Astroturf-Organisation (CNN in drei und FOX in zwei Artikeln). Der Diskurs, der während des aktiven Handelns der Tea Party in den US-Massenmedien über die Tea Party stattfand, umfasst beides: Astroturf-Mutmaßungen auf der einen Seite, Hinweise auf Vermischungen und finanzielle Unterwanderung einer aktivistischen Grassroots-Organisation auf der anderen. Ebenso sind die wissenschaftlichen Kategorisierungen nicht ganz eindeutig. Während Ames, Levine und Zuesse eindeutig von Astroturf sprechen, legen sich Weaver und Scacco nicht ganz fest. Zusammenfassend ist also festzuhalten, dass es sich bei der Tea Party um einen Hybridprotest handelt, der nach den genannten Quellen zumindest teilweise Astroturf-Merkmale aufweist. Die Berichterstattung über die Tea Party scheint mit der ideologischen Ausrichtung des jeweiligen Mediums einherzugehen, je freundlicher das Medium einer neoliberalen und/oder einer republikanischen Haltung gesinnt zu sein scheint, desto weniger wird die Tea Party (als Astroturf) diffamiert. Obwohl das Protestparadigma in einigen Aspekten angewendet wird, werden dennoch Akteure und Inhalte dargestellt, AktivistInnen zitiert und Argumente der Protestgruppe vorgebracht. Der Tea Party gelingt es bereits vor der Gründung, große Medienreso250 Weaver/Scacco 2013.

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nanz zu erwirken. Es gelingt ferner, den hegemonialen Diskurs zu beeinflussen und bei einigen Aspekten Deutungshoheit zu erlangen, wie z.B. bei der Diffamierung des Präsidenten als »kommunistischen Moslem«. Die Protestberichterstattung über die Tea Party ist als erfolgreich einzustufen, weil die Tea Party nicht nur stetig Aufmerksamkeit bekam, sondern diese anstieg; die Tea Party bereits beim Vorschlag ihrer Gründung mediale Unterstützung erhielt, indem von wichtigen Massenmedien die Notwendigkeit ihrer Gründung medial distribuiert wurde; ihre AktivistInnen und Protestmitglieder interviewt und nicht ignoriert wurden; die Forderungen, Ziele und Motive der Mitglieder als auch der Tea Party deutlich dargestellt wurden, und zwar trotz Mutmaßungen und vorgebrachten Beweisen für Astroturf-Aktivitäten. Die Berichterstattung oszilliert zwischen der differenzierten, protestparadigmatischen und affirmativen Berichterstattungsform. Nicht nur die Protestform, sondern auch die Protestberichterstattung ist somit als hybrid einzustufen. 4.5 Affirmative Berichterstattung Als weitere Form der Berichterstattung konnte die affirmative Protestberichterstattung identifiziert werden. Die affirmative grenzt sich zur differenzierten Berichterstattung mit der impliziten oder direkten Parteinahme für die Protestmotive und/ oder die Protestakteure ab. Sie zeichnet sich durch folgende Merkmale aus: • implizite oder direkte Bevorteilung oder Parteinahme für die Protestmotive, • implizite oder direkte Bevorteilung oder Parteinahme für die ProtestaktivistInnen, • implizite oder direkte Bevorteilung oder Parteinahme für die Protestaktionen.

Das Auftreten von zumindest einem der drei Merkmale wird als Hinweis für die affirmative Berichterstattung festgelegt. In einer Untersuchung der Berichterstattung über die griechischen IndignadosProteste konnten Veneti, Poulakidakos und Theologou das überraschende Fehlen des Protestparadigmas im Bezug auf diesen Protest feststellen. Griechische Medien bewerteten den Protest zu einem bemerkenswert großen Anteil nicht als »illegal«, der Sender NET bezeichnete die Indignados-Proteste zu 94,9 Prozent, MEGA zu 87,5%, ANT1 zu 78,7%nicht als illegal. Vielmehr sticht dagegen das ausdrücklich positive Unterstreichen des legalen Charakters des Protests und der AktivistInnen hervor: »[T]here is a significant percentage of cases – especially in ANT1, whose percentage reaches a 21,3% - when the protests are characterized as legal, a rather supportive stance towards the indignados.«251

251 Veneti/Poulakidakos/Theologou: 8.

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Der griechische Mega Channel bezeichnete die AktivistInnen als »independent, non-partisan, kind-hearted«. Sie hätten, so Mega Channel, »a lack of trust not only toward politicians but also us journalists«. Der Protest entstand nach Angaben des Senders aus einer Reaktion von Menschen »who feel that the future of their children is being undermined«252. Das positive Bild der Indignados blieb sogar während einigen Angriffen auf Parlamentsmitglieder und deren Angehörige erhalten.253 Die Indignados in Griechenland wurden in den griechischen Medien nahezu positivunterstützend, affirmativ aufgenommen. Insbesondere die Reaktion des MegaChannels ist bemerkenswert, zeigt er sich doch bei der Protestberichterstattung über die Antigold-Proteste von einer deutlich anderen Seite (Case Study). Ein weiteres Beispiel bildet der Protest, der in Form einer Europäische Bürgerinitiative (EBI) auftrat: Die Wasser-ist-ein-Menschenrecht-Kampagne wurde inhaltlich von deutschen und österreichischen Medien Großteils affirmativ behandelt, mitunter, indem unterstützende PolitikerInnen und andere BefürworterInnen mit deutlichem Schwergewicht präsentiert wurden. Als typische Kennzeichen der affirmativen Berichterstattung gelten: (a) Die Inhalte des Protests werden medial besonders hervorgehoben, um Aufmerksamkeit diverser Öffentlichkeiten zu erlangen. Häufig auf einen Konsens der politischen o.a. Elite aufnehmend, spektakularisieren Medien die Inhalte um Betroffenheit hervorzurufen. Dadurch wird für den Protest öffentliche Unterstützung hervorgerufen. (b) Die affirmative Form heroisiert z.T. die AktivistInnen und stellt Aktionen mit Berufung auf (demokratische, menschenrechtliche o.a.) Werte als unausweichlich und als notwendigen Widerstand gegen eine Ungerechtigkeit/ein Unterdrückungsregime dar. Inhaltlich wird der Protest als Kampf für das »Gute« geframet. (c) Möglicherweise könnte die affirmative Form auf ideologische oder geopolitische Interessen der Elite, des Mediums bzw. der Nation, in welcher sich das Medium befindet, zurückgeführt werden. Dies sollte in weiteren Forschungsbemühungen untersucht werden.

252 Voulgarakis, Evangelos (2013): »Divided We Stand: legitimating mutually exclusive interests and ideologies through non-partisan, popular, anti-capitalist protest milieus«. Academia.edu, S.4. http://www.academia.edu/3047862/Divided_We_Stand_--_The_ Greek_Indignados_phenomenon_Legitimizing_mutually_exclusive_interests_and_ideol ogies_through_non-partisan_popular_anti-capitalist_protest_milieus . 253 Voulgarakis 2013: 3.

Das kollektive Entsetzen über die London Riots Die Proteste im Spiegel österreichischer Printmedien

»The people who do will be waking up this week in the sure and certain knowledge that after decades of being ignored and marginalised and harassed by the police, after months of seeing any conceivable hope of a better future confiscated, they are finally on the news.« BLOGGERIN LAURIE PENNY/ALJAZEERA

1. E INLEITENDE B EMERKUNGEN Am 4. August 2011 wurde der Familienvater Mark Duggan in London auf offener Straße erschossen. 1 Duggan war farbig, in die Protestmotive involvierte Klagen über rassistisch motivierte Konfrontationen machen die Betonung dieses Merkmals notwendig. Die Erschießung war Anlass für eine friedliche Demonstration im Viertel Tottenham2 und gilt als Auslöser für die in den folgenden Tagen einsetzenden Proteste in weiteren Vierteln Londons sowie in anderen britischen Städten. Die Berichterstattung über die »London Riots«, jenen Protesten, die im Londoner Viertel Tottenham im August 2011 ausbrachen, sich auf andere Viertel ausbreiteten und

1

SpiegelOnline (2011b): »London erlebt zweite Krawallnacht», 8.8.2011. http://www. spiegel.de/panorama/0,1518,778891,00.html

2

BBC News (2011): »Tottenham police shooting: Dead man was minicab passenger«. 5.8.2011, o.V. http://www.bbc.co.uk/news/uk-england-london-14423942; The Guardian (2011a): »Tottenham in flames as protesters riot«. 6.8.2011. http://www.theguardian. com/world/2011/aug/06/police-cars-attacked-tottenham-mark-duggan;

Channel4.com

(2011): »Police out in force after Tottenham riots«. 7.8.2011, o.V. http://www.channel4. com/news/police-patrol-tottenham-after-riots vom 3.3.2013.

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schließlich auf weitere britische Städten übersprangen, ist Inhalt der vorliegenden Case Study. Die Motive der London Riots stellten JournalistInnen und KommentatorInnen vor scheinbar unlösbare Fragen und waren Anlass für zahlreiche mediale Debatten. Bereits während des Protests gibt The Week einen Überblick über die fünf im medialen Diskurs genannten Hauptgründe: (1) soziale und ökonomische Ungleichheit, (2) schwache polizeiliche Responsivität, (3) hohe Jugendarbeitslosigkeit, (4) wuchernder Opportunismus und (5) Racial Profiling.3 Die britischen Soziologen Hugo Gorringe und Michael Rosie reflektieren in ihrer Studie die verzweifelte Suche nach Motiven von »journalists and academics, politicians and other commentators [that] struggled to make sense of the social unrest across England« vor dem Hintergrund von Theorien und Beobachtungen des kollektiven Handelns in Großbritannien.4 Nicht immer waren die medial vorgebrachten Erklärungen fundiert, wie der Wissenschaftsjournalist Taylor Burns auch auftretende Pseudowissenschaftlichkeit kritisiert: »Proximal and distal explanations have been conflated, old textbooks used, and there seems to be confusion over what constitutes an explanation versus a mere description. The rigour that is normally a hallmark of good science journalism falls short.«5 Hingewiesen sei zudem auf das Projekt Reading the Riots, das die britische Zeitung The Guardian in Zusammenarbeit mit der London School of Economics mit thematisch unterschiedlichen Einzelanalysen zu den London Riots erstellte.6 Die Eigen- und Fremdbezeichnungen aufgreifend werden die sogenannten »London Riots« als Proteste betrachtet, sie sind »kollektive Geste oder Zurschaustellung des Nichteinverstandenseins« 7 . Žižek verhandelt die »England riots« in

3

The Week Staff (2011): »What caused the London riots? 5 theories«. The Week, 10.8. 2011. http://theweek.com/article/index/218125/what-caused-the-london-riots-5-theories# axzz33CFYERTc vom 3.3.2013.

4

Gorringe, Hugo/Rosie, Michael (2011): »King Mob: Perceptions, Prescriptions and Presumptions About the Policing of England's Riots«. In: Sociological Research Online, Vol. 16, Issue 4, November 2011.

5

Burns, Taylor (2011): »Peudoscience and the London Riots: Folk Psychology Run Amok«. Scientific American, Commentary, Guest Blog, 16.8.2011. http://blogs.scientific american.com/guest-blog/2011/08/16/pseudoscience-and-the-london-riots-folkpsychology-run-amok/

6

The Guardian/London School of Economics (2012): »Reading the Riots. Investigating Englands’s summer of of disorder«. http://www.theguardian.com/uk/series/reading-theriots?INTCMP=SRCH

7

American Heritage Dictionary (2014): »protest«.

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seinem 2013 erschienen Film A PERVERT’S GUIDE TO IDEOLOGY8 sowie im Essay Shoplifters of the World Unite9 als Aktionen kollektiven Handelns bzw. als »ein blinder, großflächiger politischer Protest«10. »Although the riots in the UK were triggered by the suspicious shooting of Mark Duggan, everyone agrees that they express a deeper unease – but of what kind? As with the car burnings in the Paris banlieues in 2005, the UK rioters had no message to deliver. (…) This is why it is difficult to conceive of the UK rioters in Marxist terms, as an instance of the emergence of the revolutionary subject; they fit much better the Hegelian notion of the ›rabble‹, those outside organised social space, who can express their discontent only through ›irrational‹ out11

bursts of destructive violence – what Hegel called ›abstract negativity‹.«

1.1 Methode Der Untersuchungszeitraum setzt mit der Berichterstattung über die Proteste ein, die der Erschießung von Mark Duggan am 4. August 2011 im Londoner Viertel Tottenham12 folgten, und endet eine Woche später. Der erste Tag der Medienberichterstattung ist der 7. August, an dem die erste zunächst friedliche, aber bald es13 kalierende Demonstration für Mark Duggan in den Medien reflektiert wird. Mit der Wahl des synchronen Analysezeitraums und des Berichterstattungsortes Österreich wird intendiert, die interessengeleitete externe (in)direkte Einflussnahme auf die Berichterstattung etwa durch britische Anzeigenkundschaft möglichst gering zu halten. Als Untersuchungsobjekte wurden die beiden österreichischen Printmedien mit der höchsten Reichweite, Die Kronen Zeitung und Kleine Zeitung, sowie die beiden vornehmlich von AkademikerInnen gelesenen Zeitungen, Die Presse und Der Standard, herangezogen. Insgesamt decken die vier Printmedien zum Protestzeitpunkt

8

Žižek, Slavoj (2006): THE PERVERT’S GUIDE TO IDEOLOGY. Dokumentarfilm, prod. v. Sophie Fiennes, Großbritannien/Österreich/Niederlande, Minute 29:33 bis 31:30.

9

Žižek, Slavoj (2011): »Shoplifters of the World Unite«. London Review of Books, 19.8.2011.

http://www.lrb.co.uk/2011/08/19/slavoj-zizek/shoplifters-of-the-world-unite

vom 1.1.2015. 10 Žižek, Slavoj/Miller, Alex (2013): »Slavoj Zizek über Filme, Revolution und Pünktlichkeit«. Interview mit Alex Miller, Vice Magazine, Video, 21.10.2013. http://www.vice. com/de/vice-meets/slavoj-zizek vom 1.3.2014. 11 Žižek 2011. 12 Spiegel Online 2011b. 13 BBC 2011; The Guardian 2011a; Channel4.com 2011.

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eine Reichweite von 58,2 Prozent ab.14 Die Betrachtung des Boulevardblatts Kronen Zeitung ist für den Fokus der Arbeit interessant, da es sich bei ihr um die national reichweitenstärkste Zeitung (37,9%) in Europa handelt. Die mediale Distribution von Frames kann somit in einem Land mehr als bei anderen europäischen Zeitungen vorangetrieben werden, was auch vor dem Hintergrund des theoretischen Rahmens (Öffentlichkeit und Hegemonie) relevant ist. Mit der Auswahl der vier Zeitungen kann gegebenenfalls eine Gegenüberstellung zwischen Boulevard-, gemäßigten und/oder Qualitätsjournalismus innerhalb der österreichischen Berichterstattung ermöglicht und möglicherweise Unterschiede in der Form der Protestberichterstattung erhoben werden. Das Datenset setzt sich zusammen aus allen veröffentlichten Artikeln mit thematischer Bezugnahme, die im veranschlagten Untersuchungszeitraum in den vier österreichischen Printmedien online und gedruckt erschienen sind, insgesamt wurde auf ein Datensetz von 58 Artikeln zurückgegriffen. Die Untersuchung erfolgt synchron und intermedial entlang der Untersuchungsdimensionen. Um das Funktionieren der Öffentlichkeit und der Partizipation zu evaluieren, wird auch die Quantifizierung der zitierten Personen Teil der Datenerhebung sein.

2. AUSLÖSER UND P ROTESTAKTIONEN 2.1 Auslöser Zwei Tage nach der Erschießung Mark Duggans demonstrierten Verwandte und FreundInnen Duggans vor der Polizeistation in Tottenham, denn sie klagten, die Erschießung Duggans sei durch einen Polizisten vollzogen worden15 – obwohl Duggan selbst zuvor keinen Schuss gelöst hatte.16 Der Protest richtete sich gegen das unverhältnismäßig gewaltvolle Handeln der Polizei, welches die Demonstrierenden

14 Media-Analyse (2011): Tageszeitungen Total. http://www.media-analyse.at/studienPublic PresseTageszeitungTotal.do?year=2011&title=Tageszeitungen&subtitle=Total

vom

1.5.2014. 15 Huffington Post (2011): »Riot In Tottenham After Protest At Mark Duggan's Killing By Police«. 6.8.2011. http://www.huffingtonpost.co.uk/2011/08/06/tottenham-protest-turnsn_n_920271.html vom 3.3.2013. 16 Harrow Observer (2011): »Eight officers hurt as riots erupt«, 7.8.2011. http://www. harrowobserver.co.uk/west-london-news/world-uk-news/2011/08/07/eight-officers-hurtas-riots-erupt-116451-29192283/ vom 3.3.2013.

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auf Rassismus zurückführten.17 Ballisitische Tests gaben den Vorwürfen der FreundInnen und Verwandten Duggans später Recht:18 Duggan hatte selbst keinen Schuss gelöst, er wurde aber von einer Kugel aus einer Polizeiwaffe getötet.19 Die friedliche Demonstration vor der Polizeistation artete in handgreifliche Zusammenstöße zwischen der Polizei und den DemonstrantInnen aus. Wer die erste Handgreiflichkeit unternommen hatte, wurde nicht bis ins Detail geklärt.20 In den darauffolgenden Tagen zu einer Welle bezugnehmender Demonstrationen in Tottenham und anderen Vierteln Londons, sowie in weiteren britischen Städten.21 Dabei wurden auch Waren aus Elektronik- und Kleidungsshops unter kollektivem Handeln entwendet, der britische Sender BBC berichtete zudem von vereinzelten gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Aktionsteilnehmenden22 und die britische Zeitung The Guardian von brennenden Autobussen, Geschäften und Wohnhäusern.23 Über den auslösenden Fall besteht innerhalb der österreichischen Medienberichte, den Blogs der britischen Involvierten, britischen zivilgesellschaftlichen Einrichtungen, Massen- und Alternativmedien Einigkeit: Als »Trigger« wird von Bloggern sowie in gesichteten Alternativ- und Mainstreammedien die Erschießung von Mark Duggan genannt.24 Die österreichischen Medien bezeichnen die Erschießung Duggans zwar geschlossen als Initiativfall, mit zunehmender Dauer wird allerdings Verwunderung über die Unverhältnismäßigkeit im Ausmaß der Proteste ausgedrückt.

17 Orr, Judith (2011): »Rage at the police hits the streets of north London«. Socialist Worker online, 7.8.2011. http://www.socialistwork-er.co.uk/art.php?id=25638 18 Vasagar, Jeevan (2011): »Mark Duggan did not shoot at police, says IPCC«. The Guardian, 9.9.2011. http://www.guardian.co.uk/uk/2011/aug/09/mark-duggan-police-ipcc 19 Independent Police Complaints Comission IPCC (2011): »Update on Mark Duggan investigation including details of ballistic tests«. 9.8.2011. http://www.ipcc.gov.uk/news/ Pages/pr_090811_dugganupdate.aspx 20 Channel4.com 2011; Lewis, Paul (2011): »Tottenham riots: a peaceful protest, then suddenly all hell broke loose«. The Guardian, 7.8.2011. http://www.guardian.co.uk/uk/20 11/aug/07/tottenham-riots-peaceful-Protest 21 Jackson, Peter (2011): »London riots: Tensions behind unrest revealed«. BBC, 7.8.2011. http://www.bbc.co.uk/news/uk-14436529 22 BBC 2011. 23 Meikle, James (2011): »Families made homeless by riots will be compensated«. The Guardian, 11.8.2011. http://www.guardian.co.uk/uk/2011/aug/11/families-homeless-riotscompensated 24 Defend the Right to Protest (2011): »Reflection on Riots«. 9.8.2011. http://www.defend therighttoprotest.org/reflections-on-riots/ vom 3.3.2013.

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Für das Protestkollektiv gilt hinsichtlich des collective action framings die Erschießung Duggans nach Benford und Snow als auslösendes bedeutungstragendes Ereignis, auf das sich die Protestieren beziehen und die anschließenden Aktionen legitimieren.25 Der Auslöser für die Proteste ist als spontan einzustufen. 2.2 Protestaktionen 2.2.1 Einwirkung der Einflussgröße Datum Die Schlagworte Protest, Demonstration, später Ausschreitungen in Tottenham, London, Großbritannien finden sich ab 7. August in der Agenda der analysierten Zeitungen. In den ersten beiden Tagen der Berichterstattung wird auf die erste eskalierende Demonstration und Folgeprotestaktionen fokussiert, die mit dem Tod von Mark Duggan begründet und teilweise legitimiert werden. Zentral sind zu diesem Zeitpunkt die Fragen, ob Duggan erschossen wurde und ob es willkürlich oder aus rassistischen Gründen zur Tat kam. Als die Protestaktionen aber nicht anhalten, setzt das Protestparadigma ein: Die Aktionen wird enetwa ab Mitte des zweiten Tages der Protestberichterstattung diffamiert und mit Blick auf Gewaltanwendung und kriminelle Handlungen beschrieben. 2.2.2 Beispiele medialer Realisierung Aus allen Begriffen zur Bezeichnung der Aktionen gingen 18 Kategorien hervor. Allerdings finden sich in nur drei Kategorien drei Viertel aller Begriffe wieder, wie Abbildung 1 mit einer Übersicht über die Häufigkeitsverteilung zeigt. Drei Beispiele veranschaulichen exemplarisch die sprachliche Realisierung sowie die mediale Inszenierung der Protestaktionen: 1) »Es werden Flaschen geworfen, dann brennende Mülleimer. Ein Polizeiwagen steht in Flammen, dann ein Doppeldeckerbus. Ein McDonald‘s wird gestürmt. Das Gebäude einer Notarfirma brennt, der Aldiladen, die alte Bingo-Halle. Bei Barclay‘s Bank wird der Geldautomat aus der Wand gestemmt.«26

Die Beschreibung der Aktionen ist in den ersten Protesttagen in allen vier untersuchten Zeitungen besonders detailreich und dramaturgisch gestaltet. Die Passivkonstruktion, mit geringer Nennung der Protestierenden in der Täterrolle tritt in zahlreichen Berichten der Kleinen Zeitung auf, und steht für das Anliegen, mehr als in den anderen untersuchten Medien Vorsicht in der Benennung der TeilnehmerInnen in Form einer Kriminalisierung oder Vorveruteilung walten zu lassen.

25 Benford/Snow 2000. 26 Kleine Zeitung, 8.8.2011.

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2) »Doch die entfesselte Gier der Plünderer, die Markenschuhe und Plasmafernseher wegschleppten, nennt auch er [Alistair Thompson, Sprecher eines zitierten Thinktanks, Anm.] ›shocking‹.«27

Die moralische Verwerflichkeit der Proteste wird nicht nur durch die Auswahl von Benennungen impliziert, sondern auch durch direkte moralische Bewertungen in journalistische Berichte eingestreut. 3) »Traurige Bilanz des Krawalls: ein Sachschaden, der in die Millionen geht, und 26 verwundete Polizisten, darunter einer mit ernsten Kopfverletzungen.«28

Argumentativ werden die rechtliche, die moralische und die ökonomische Ebene angeführt. Besonders häufig treten Aktionsbeschreibungen auf, die »die gewaltvolle Zerstörung von Eigentum« und »Verletzungen von Polizisten« ins Zentrum rücken, was rechtlich und moralisch im Hinblick auf Sachbeschädigungen und Gewaltanwendung gegen Polizisten als verwerflich dargestellt wird. Im gesamten Sample scheint keine einzige Erwähnung von verletzten ProtestteilnehmerInnen auf, nur einmal wird in der Kleinen Zeitung von »Polizeigewalt« gegen Protestierende gesprochen. Mit Blick auf hervorgehende Kosten für die vom Protest Betroffenen wird das ökonomische Argument angeführt, um zudem die Verhältnismäßigkeit, Sinnlosigkeit und Kriminalität der Protesten hervorzustreichen. 2.2.3 Häufigkeitsberechnungen In drei Vierteln aller Fälle wurden die Proteste als Krawalle, Ausschreitungen, 29 Brandschatzungen , Gewalttaten und Plünderungen bezeichnet. (72,5 Prozent). Die Verteilung aller Kategorien sowie das Top-Five-Ranking zeigen die Abbildungen 10 und 11. Geht es nach den österreichischen Medien, so waren die Ereignisse in London größtenteils Krawalle. Nach dem Duden ist Krawall ein »Tumult mit Tätlichkeiten, Aufruhr« bzw. bedeutet auch das »äußerst lebhafte oder erregte Lärmen und Treiben (besonders einer größeren Anzahl von Menschen)«30. Das Universal Lexikon definiert Krawall nahezu überschneidend als »heftiger, tumultartiger Aufruhr« 31. In den Lexika besteht keine Einigkeit darüber, ob Krawall notwendigerweise in allen

27 Die Presse, 13.8.2011. 28 Der Standard, 8.8.2011. 29 Anzünden, Flammen, in Brand setzen (wurde als Substantiv gewertet), Inferno. 30 Duden (2012): »Krawall«. 31 Universal Lexikon (2012): »Krawall«.

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Abbildung 1: Aktionsbenennungen für die »London Riots«

Krawalle, Ausschreitungen, Brand, Gewalt, Plünderung (1-5) Unruhen Randale Verwüstung, Zerstörung Sachschaden Protest Einbruch von Geschäftsauslagenscheiben Krieg Straßenkämpfe Kriminalität Geschehnisse Attacken Auseinandersetzungen Terrorisieren Schock Gier Ekel Angst

Die fünf häufigsten Begriffe (Krawalle, Ausschreitungen, Brand, Gewalt, Plünderung) wurden in einer Kategorie zusammengefasst, sie ergeben zusammen 72,5 Prozent aller Aktionsbenennungen.

Auslegungen Gewalttaten mit meint, Einigkeit besteht allerdings in der Implikation von Gewalt als mögliche Auslegung.32 Der zweithäufigste Begriff Ausschreitungen weist direkt auf Gewaltanwendung hin. So beschreibt der Duden die Primärbedeutung als »Übergriff, Gewalttätigkeit«. Als Synonyme werden »Aufruhr, Gewalttätigkeit, Krawall, Pogrom, Tumult, Über-

32 Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache DWDS 2012: »Krawall«; Wortschatz Lexikon Universität Leipzig 2012: »Krawall«.

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griff, Unruhen; (umgangssprachlich) Randale« angegeben; für die sekundäre Bedeutung »Auswüchse, Maßlosigkeit, Übersteigerung, Unmäßigkeit; (gehoben) Ausschweifung; (bildungssprachlich) Exzess«. Im Sprachgebrauch typische Verbindungen treten mit dem Adjektiven »gewalttätig« und mit Substantiva »Protest«, »Plünderung«, »Demonstration« auf. Das Woxikon gibt für »Ausschreitungen« »Gewalttat, Ausschweifung« an. 33 The Free Dictionary führt die Bedeutungen »gewalttätige Handlungen (einer Menge)« bzw. »unkontrollierte und gewalttätige Handlungen« und »gewalttätige Handlungen bei Veranstaltungen mit vielen Menschen«34. Die Bedeutung für Plünderung im Duden ist »Plündern, das Geplündertwerden«35, die Bedeutung für etwas plündern »(unter Ausnutzung einer Notstandssituation) sich fremdes Eigentum aneignen, 2. ausplündern«36. Synonyme sind »Brandschatzung, Raub; (umgangssprachlich) Ausräumung; (Rechtssprache) Eigentumsdelikt, Eigentumsvergehen, widerrechtliche Aneignung«37. The Free Dictionary beschreibt die Bedeutung des Verbs als »aus Geschäften und Häusern Dinge stehlen (besonders im Krieg od. während einer Katastrophe)«38. Aus den Begriffskategorien für die Protestaktionen gehen drei Frame-Gruppen hervor, nahezu drei Viertel aller Aktionsbenennungen abdecken. Ihnen sind auch die fünf häufigsten Benennungen zugehörig: • (potenziell) Gewalt implizierender Frame (Gewalt implizierend), • auf Gewaltanwendung direkt hinweisender Frame (Gewalt) und • auf Kriminalität hinweisender Frame (Kriminalität).

Für die vertretenen Frames der fünf häufigsten Kategorien, die gemeinsam mehr als 70 Prozent aller Aktionsbenennungen abdecken, gilt mit Verweis auf die Kreisdiagramme in Abbildung 1 und 2 festzuhalten: Mehr als die Hälfte (51,5%) implizieren die Gewaltanwendung der Protestierenden, mehr als zehn Prozent (12,8%) weisen direkt auf Gewaltanwendung hin und mehr als ein Drittel (35,3%) stellen die Kriminalität der AktivistInnen in den Vordergrund.

33 Woxikon (2012): »Ausschreitung«. 34 The Free Dictionary (2012): »Ausschreitung«. 35 Duden 2012: »Plünderung«. 36 Duden 2012: »plündern«. 37 Duden 2012: »Plünderung«. 38 The Free Dictionary 2012: »Plünderung«.

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Abbildung 2: Top Five der Aktionsbenennungen

13%

31%

Krawalle

Ausschreitungen

17%

Bezugnahme zu Anzünden, Brand und Flammen Plünderung 18% 21% Gewalt

2.2.4 Auftretende Frames in den Aktionsbenennungen Folgende Frames, deren anteilsmäßige Verteilung im Kreisdiagramm von Abbildung 12 veranschaulicht wird, treten nach einer Kategorisierung aller angewendeten Aktionsbenennungen auf: • •







Gewalt implizierender Frame: Dazu zählen die Begriffe Krawall, Ausschreitung und Verwüstung/Zerstörung. Auf Gewaltanwendung hinweisender Frame: Darunter fallen die Begriffe (sowie die subsumierten Unterbegriffe) Gewalt, Randale, Krieg, Straßenkämpfe, Attacken, Terrorisieren. Auf Kriminalität hinweisender Frame: Dies umfasst die Begriffe, die unter Bezugnahme zu Anzünden, Brand und Flammen subsumiert werden, Plünderung, Einbruch von Geschäftsauslagenscheiben, Kriminalität und Sachschaden. Frame negativer Emotionen: Darunter fallen Schock, Gier, Ekel und Angst. Diese Frames rufen beim Publikum entweder negative Emotionen hervor oder spielen damit, auf emotionaler Ebene eine Negativbewertung herbeizuführen. Frame politischer Ambitionen: Zu diesem Frame besteht in diesem Fallbeispiel aus dem Begriff »Protest«.

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Weitere Bezeichnungen, die zu keinem der oben genannten Frames zuordenbar sind, und als neutrale, Auskunft gebende, nicht sofort auf eine Gewalttat oder Kriminalität hinweisende Kategorie gelten. Das sind u.a. »Unruhen«, »Geschehnisse« und »Auseinandersetzungen«.

Dabei ist festzuhalten: •



• • •

Der Großteil aller Aktionsbezeichnungen (89%) ist Teil von Frames, die entweder Gewalt implizieren, Gewaltanwendung direkt beschreiben oder auf Kriminalität hinweisen. Neun von zehn Aktionsbeschreibungen nehmen nicht den (möglichen) politischen Gehalt der Proteste in den Fokus, sondern lenken die Aufmerksamkeit auf gewalttätige und/oder kriminelle Akte. 2% fallen auf Frames, die auf emotionaler Ebene eine Negativbewertung hervorrufen. Weitere 2% der Nennungen sind dem Frame zuordenbar, der (sozio-)politische Motive als Aktionsbeschreibung ins Zentrum rückt. 7% sind Bezeichnungen, die nicht vordergründig auf Gewalttätigkeit oder Kriminalität, aber auch nicht auf politische Motive und Ambitionen hinweisen.

Zusammenfassend gilt die mediale Interpretation der Erschießung Mark Duggans als spontaner Auslöser für die Demonstration und die nachfolgenden Protestaktionen festzuhalten. Im Gegensatz zu den ersten, bezugnehmenden Demonstrationen, die mit der Erschießung Mark Duggans teils medial legitimiert oder zumindest erklärt werden, werden die späteren Aktionen größtenteils mit Frames beschrieben, die auf Gewalt und Kriminalität hinweisen. Bei der medialen Aktionsschilderung ist der Verweis auf Gewaltanwendung implizit und explizit zentral.

3. I NITIATOR I NNEN Die Proteste in Großbritannien waren und wurden von den Medien als Bottom-UpProteste bezeichnet, bei denen sich zunächst die Verwandten und FreundInnen Duggans vor der Polizeistation in Tottenham versammelten, um gegen das Vorgehen der Exekutive zu demonstrieren. Die weiteren Protestaktionen wurden als Reaktion von solidarischen Dritten initiiert, anschließend schlossen sich unbekannte, nicht unbedingt in Beziehung stehenden Personen aus Tottenham und anderen Vierteln Londons den Protesten an, so die analysierten Zeitungsberichte. Dies konnte zu

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einem späteren Zeitpunkt bestätigt werden. 39 InitiatorInnen und TeilnehmerInnen des ersten Protests vor der Polizeistation Tottenhams sowie der weiteren Proteste werden von den untersuchten Medien als ident beschrieben. Abbildung 3: Anteilsmäßige Verteilung der häufigsten Frames

7% 2%

2%

Gewalt implizierender Frame Auf Gewaltanwendung hinweisender Frame 41%

31%

Auf Kriminalität hinweisender Frame Frame negativer Emotionen Frame politischer Motiviertheit

17%

Weitere Bezeichnungen

4. T EILNEHMER I NNEN 4.1 Beispiele medialer Realisierung Für die ProtestteilnehmerInnen traten 188 verschiedene Benennungen auf, die anhand folgender Zeitungsexzerpte exemplarisch mit Hinweis auf häufig verwendete Frames dargestellt werden: »Die vermummten Randalierer, die seit Tagen englische Städte terrorisieren, bekommen nun Gesichter: Es handelt sich keineswegs nur um arbeitslose Jugendliche.«40

Die Charakterisierung der ProtestteilnehmerInnen findet hier unter Verwendung von vier ausschlaggebenden Begriffen und den zugehörigen Konnotationen statt:

39 Žižek 2006. 40 Die Presse, 11.8.

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Randalierer, Vermummung, Terror, Arbeitslosigkeit. Sollte in einem Bericht nach journalistischem Anspruch größtmögliche Objektivität angestrebt werden, verleiht die Verwendung dieser Begriffe der Satzaussage eine deutliche Färbung. Der Ausdruck Randalierer bezeichnet Personen, die nach verschiedenen Wörterbüchern »heftigen und lautstarken Protest«41 ausführen bzw. »stören und Sachen mit Absicht beschädigen«42. Die Vermummung deutet auf die Anonymität der Randalierer hin. In diesem Kontext tritt das Wort mit negativer Konnotation auf, die in Konfliktsituationen als das Unbekannte jene Projektionsfläche bietet, auf die Ängste abgeladen werden könnten und zudem Vermummung seit Juli 200243 in Österreich, am Erscheinungsort der analysierten Artikel, als Straftat gewertet wird. Terror weist als ideologisches Signalwort44 auf eine teils nicht-fassbare Gefahr hin. Mit der Formulierung keineswegs nur arbeitslose Jugendliche werden vier Aspekte gleichzeitig angesprochen: (a) Arbeitslosigkeit hat in Alltagsdiskussionen oft mit Vorurteilen über die mangelnde Disziplin, Selbstverschuldung und die hervorgehende Nutzlosigkeit der Arbeitslosen zu kämpfen. Mit der Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen ist als Vorurteil ebenso die gesteigerte Zerstörungslust vornehmlich männlicher Jugendlicher aus Langeweile konnotiert. (b) Die Ergänzung der Verbindung »arbeitslose[n] Jugendlichen« mit dem Adverb und der nachgestellten Konjunktion »keineswegs nur« öffnet einen Blickwinkel, welcher für die Argumentation später ebenfalls von tragender Bedeutung sein wird: Durch diese Satzkonstruktion wird zunächst Widerspruch gegen die (u.a. über die Medien transportierte) Vorannahme erhoben, es handle sich bei den AktivistInnen um »arbeitslose Jugendliche«. (c) In einem weiteren Schritt könnte durch die Verwendung des einschränkenden Bindeworts »nur« eine Marginalisierung der AktivistInnen impliziert werden – dann wären die AktivistInnen quasi ein Bündel arbeitsloser Jugendlicher, die in ihrem Tun (ohnehin) nicht ernst genommen werden hätten müssen. (d) Dies impliziert ebenso, dass Proteste – würden sie »nur von arbeitslosen Jugendlichen« ausgeführt werden – weder als politisch motiviert noch als gesellschaftspolitisch relevant zu betrachten seien. In dieser Formulierung wird zusätzlich das Adverb keineswegs eingestreut, um die Zusammensetzung des Protests eben nicht (nur) aus möglicherweise nicht ernstzunehmenden Personen zu unterstreichen. Die Teilnahme arbeitender, älterer, möglicherweise ernstzunehmender und politisch motivierter Personen an den Protestaktionen findet quasi überraschenderweise statt.

41 Duden 2013: »Randale«. 42 TheFreeDictionary 2013: »randalieren«. 43 Vgl. § 9 des Österreichischen Versammlungsgesetzes. 44 Herman/Chomsky 2009.

172 | P ROTEST ALS EREIGNIS »Der Mob, der dort Autos und Häuser anzündete, Polizisten Straßenschlachten lieferte, Schaufenster einschlug und hemmungslos ganze Einkaufszentren plünderte, hatte aber gar keine Slogans.«45

Die AktivistInnen werden überwiegend als ein undurchschaubarer, unpolitischer Mob beschrieben, denn er hatte, so die argumentative Stütze, keine protestlegitimierenden Messages und Slogans. Die kontextuelle Einbettung erfolgt in diesem Textausschnitt durch den in Gegenposition gestellten Vergleich mit den positiven, politisch motivierten und sozial legitimierten Protesten von 1968. Impliziert wird, dass die Proteste weder goutiert noch legitimiert werden können, sofern keine traditionellen Protestsymbole eingesetzt werden, um politische Motive vorzubringen. 4.2 Datenberechnungen 4.2.1 Häufigkeitsberechnung Die fünf häufigsten Bezeichnungen für die Protestteilnehmenden sind Randalierer, Plünderer, Jugendliche, junge Personen unter 20 Jahren und Vermummte, wie auch in Abbildung 4 veranschaulicht wird: • •



»Randalierer« und »Plünderer« sind mit insgesamt 35,6 Prozent aller Benennungen die häufigsten Termini für die Protestteilnehmenden. Darauf folgen die Bezeichnungen »Jugendliche« und »Junge Personen unter 20« (wobei Nennungen mit expliziter Bezugnahme auf das Alter unter 20 Jahren miteingeschlossen sind) mit gemeinsamen 14,9 Prozent. »Vermummte« als fünftgereihte Bezeichnung scheint zwölf Mal in den Berichten auf, hat also eine Häufigkeit von 6,4 Prozent.

Alle Bezeichnungen für die ProtestteilnehmerInnen wurden in einer Zusammenführung semantisch ähnlicher Termini in folgende Begriffsgruppen kategorisiert, die mit der in Klammer genannten Häufigkeit auftreten: Gewalttätige unpolitische UnruhestifterInnen (37,8%), Jugendliche (17%), Vermummte (6,9%), Personen (6,4%), Kriminalisierte oder anderweitig abgewertete Personen (6,4%), Mutmaßliche TäterInnen (5,3%), Explizit Kriminelle (5,3%), Diverse Protetteilnehmende unter Berücksichtigung des sozialen Hintergrunds (3,7%), Gesellschaftsgruppen (3,2%), Porträtierte Einzelpersonen (3,2%), Menschen mit eingeschränkter Intelli genz (2,7%), Politische UnruhestifterInnen (1,1%) und BewohnerInnen (1,1%).46

45 Kronen Zeitung, 14.8.2011. 46 Folgende Einzelbezeichnungen wurden genannt: [1] Bewohner, Beteiligte; [2] Terroristen, Demonstranten; [3] Idioten, Chaoten; [4] entfremdete Rangruppen, Gruppen, Mit-

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Abbildung 4: Die häufigsten fünf Benennungen der TeilnehmerInnen (in %). 25 20 15

19,1 16,5

10 8,5

5

6,4

6,4

Junge Personen unter 20 Jahren

Vermummte

0 Randalierer

Plünderer

Jugendliche

4.2.2 Auftretende Frames bei den ProtestteilnehmerInnen Aus den zusammengeführten Bezeichnungen der Protestteilnehmenden in Begriffsgruppen ergibt sich im Hinblick auf deren Bedeutung und Konnotation eine Klassifikation in drei Arten des Framings, deren prozentuale Häufigkeit in Abbildung 5 veranschaulicht wird: •



Neutrales Framing: Die Bezeichnungen dieser Kategorie implizieren keine oder kaum kriminelle Intentionen der Protestteilnehmenden bzw. wird für die Rezeption keine negative Konnotation mitgegeben. Dazu gehören Verweise auf Alter, Wohnort oder Gruppenzugehörigkeit und die Begriffskategorien Gruppen der Gesellschaft, Junge Personen und BewohnerInnen. Pejoratives Framing: Die Bezeichnungen, die auf dieses Framing hinweisen, sind negativ konnotiert. Dabei deuten sie z.B. auf kriminelle Absichten oder Aktionen der Protestierenden hin oder implizieren moralische Verwerflichkeit. Dazu zählen Begriffskategorien wie Vermummte, Gewaltvolle unpolitische Un-

bürger (Mitbürger von Parlamentsabgeordneten David Lammy, der aus Tottenham entstammt), Teile der Gesellschaft, Trittbrettfahrer; [5] Aufschlüsselung des Protestkollektivs unter Diskussion ihrer Interessen und ihrer sozialen Probleme; [6] Straftäter, Täter, Verurteilte, Kriminelle; [7] Angeklagte, Tatverdächtige, in U-Haft befindliche, Festgenommene, mutmaßliche Täter, Verhaftete; [8] Angreifer, Einbrecher, Gangster, Mob; [9] Erwachsene, Leute, Menschen, Männer, Frauen, Personen; [10] Maskierte, Vermummte; [11] Jugendliche, junge Personen unter 20, Kinder; [12] Plünderer, Randalierer; Brandstifter, Gewalttäter, Chaoten.

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ruhestifterInnen, Gewaltvolle politische UnruhestifterInnen, Menschen mit eingeschränkter Intelligenz, Mutmaßliche Täter und Kriminelle. Aufschlußgebendes Framing: Die Bezeichnungen der dritten Framing-Kategorie entschlüsseln die Intentionen und Interessen der AktivistInnen und liefern Hintergrundinformation zur hauptsächlich als abstrakte Masse geschilderten Gruppe der Protestierenden. Dazu gehören Porträtierte Einzelpersonen und Diverse Protestteilnehmende unter Berücksichtigung ihres sozialen Hintergrunds.

Abbildung 5: Auftretende Frame-Kategorien für die ProtestteilnehmerInnen

7% Neutrale Benennungen 28% Pejorative und kriminell konnotierte Benennungen Aufschluss gebende Benennungen 65%

Die Kategorisierung der Begriffsgruppen nach der Art des Framings zeigt eine Zwei-Drittel-Mehrheit der pejorativen Benennungen. Mehrheitlich sind die Benennungen also negativ konnotiert, weisen auf potenzielle Kriminalität hin, negieren Seriosität oder politische Intentionen oder kategorisieren die Protestierenden als Personen mit eingeschränkter Intelligenz. Einzig die Wortwahl für die ProtestteilnehmerInnen selbst kann diese in ein negatives, kriminelles Eck rücken – noch ohne zusätzliche Storyline. Das Framing der Protestierenden weist demnach zum Großteil Kennzeichen der protestparadigmatischen Berichterstattung auf. 4.2.3 Einwirkung der Einflussgröße Datum Die Darstellung der Protestierenden ist deutlich zweigeteilt: (1) die Darstellung der Protestierenden als (abstraktes) Kollektiv und (2) die Darstellung von Einzelpersonen, die am Protest teilnehmen:

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Die ProtestteilnehmerInnen werden viel häufiger als Kollektiv gezeichnet. Eine mögliche Hetero- oder Homogenität der Gruppe kommt nicht zur Sprache, da sie als solche nicht in ihre Einzelteile (Einzelpersonen) entflechtet wird. Die Protestierenden werden sehr selten als Gruppe von kollektiv handelnden Einzelpersonen geschildert. Ist dies der Fall, werden neben dem Verweis auf die Gruppenzugehörigkeit Hintergrundinformationen zu einzelnen AktivistInnen angeführt.

Scheint die Darstellung der Protestierenden als ein undurchsichtiges, abstraktes Kollektiv zum Großteil während des gesamten Untersuchungszeitraums in allen vier analysierten Zeitungen auf, so lässt sich ab dem vierten und fünften Berichterstattungstag die Tendenz einer einsetzenden differenzierteren, auf Einzelporträts setzenden Schilderung des Protestkollektivs erkennen. Dies geschieht vorerst wie geschildert mit Verwunderung, dass es bei den Protestierenden sich nicht »nur« um ein Bündel »arbeitsloser Jugendlicher«47 handle. Zusammenfassend ist festzuhalten: Die Protestierenden wurden bei Einsetzen der Proteste als Angehörige und FreundInnen des erschossenen Mak Duggans charakterisiert, deren Empörung über die (mögliche) Erschießung in allen untersuchten Medien zunächst als Legitimation für die Reaktion mit Proteste angeführt wird. Nach den ersten beiden Protesttagen wendet sich dieses Bild, die ProtestteilnehmerInnen werden als unverhältnismäßig gewalttätig, kriminell, unpolitisch, nicht ernstzunehmend und als politisch unwichtig gezeichnet und diffamiert. Zwei Drittel der Personenbenennungen sind pejorativ, zentral sind kriminalisierende und Gewalttätigkeit hervorhebende Frames. Nach der anfänglichen Charakterisierung über das Verwandtschafts- oder Freundschaftsverhältnis zum getöteten Mark Duggan werden die ProtestteilnehmerInnen bei fortschreitender Dauer und Vergrößerung der Gruppe kollektiviert und abstrakt dargestellt, deren soziale Herkunft, ökonomische oder soziale Probleme und Motive nicht hinterfragt werden. Nur in Einzelfällen, und hier besonders in der Kleinen Zeitung, wurde gegen Ende des Untersuchungszeitraums das Kollektiv aufgelöst und z.T. Einzelpersonen porträtiert. Auch bei der medialen Aktionsschilderung ist der Fokus auf Gewaltanwendung und extreme Handlungen zentral – wobei zu beachten ist, dass die Schilderungen nicht notwendigerweise den realen Gegebenheiten widersprechen.

47 Die Presse, 11.8.2011.

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5. O RGANISATION Die Organisation der Aktionen erfolgte spontan über Blackberry-Handys. In den Medien herrschte Verwunderung über die Planung, die Aktionen wurden als spontan, unberechenbar und teilweise chaotisch beschrieben. Während des Protests konnte die britische Regierung das Unternehmen Blackberry dafür gewinnen, die Handys der Protestteilnehmenden zu überwachen.48

6. M OTIVE UND Z IELE 6.1 Aktivistische Sichtweise Kurz nach Beginn der Protestaktionen bloggten britische Involvierte, zivilgesellschaftliche Einrichtungen und alternative OnlinejournalistInnen über die Protestaktionen und -motive. Die Erklärungen divergieren im Vergleich mit den österreichischen Printmedien besonders bei den synchron angegebenen Motiven. Was lang- und mittelfristige Motivlage und Ursachen betrifft, werden von der Blog-Szene, in Alternativmedien und -foren hauptsächlich zwei Gründe genannt: das rassistisch motivierte Verhalten staatlicher Institutionen und die Entmachtung ganzer Gesellschaftsgruppen in der britischen Gesellschaft. Dabei sind schwere Übergriffe auf farbige oder finanziell arme Personen durch die Polizei vor allem im Viertel Tottenham häufig.49 Die Londoner Kampagne Defend the Right to Protest beschreibt die Proteste als Zusammenhang von brutaler Politik und gesellschaftlicher Reaktion: »The anger visible on our streets is a product of many years of brutal and oppressive policing.«50 Hinzu gesellt sich die Tatsache, dass diese Vorkommnisse nicht öffentlich reflektiert und teilweise ignoriert51 werden. Die Bloggerin Laurie Penny nennt als Antrieb für die Aufstände zusammenfassend die Arbeitslosigkeit, die fehlende soziale Durchlässigkeit für sozial schlecht gestellte junge Erwachsene zu Institutionen und Öffentlichkeit und den Mangel an Perspektiven. Die langfristige Marginalisierung

48 The Guardian (2011b): »London riots: how BlackBerry Messenger played a key role«. 8.8.2011. http://www.theguardian.com/media/2011/aug/08/london-riots-facebook-twitterblackberry 49 Orr 2011 50 Defend the Right to Protest 2011. 51 Shilson, Keith (2011): »Condemn the police's violence and racism in Tottenham«. Left Turn,

Blog,

8.8.2011.

http://makealeftturn.blogspot.com/2011/08/condemn-polices-

violence-and-racism-in.html vom 3.3.2013.

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und Ignoranz ganzer Gesellschaftsgruppen sowie die Polizeigewalt gegen diese Gruppen führte genauso wie die bestehende Hoffnungslosigkeit auf eine bessere Zukunft zu den Protesten. Die Proteste würden endlich die notwendige Aufmerk52 samkeit der Öffentlichkeit verschaffen. Die teilweise aktivistischen Mitglieder der britischen Kampagne Islington Hands Of Our Public Services nennen als Ursachen verschiedene Ausformungen struktureller Benachteiligung: »Our communities have been blighted by high levels of deprivation, poverty and lack of opportunity for decades. Inequality is growing and recent funding cuts to local services, particularly youth facilities, along with rising unemployment, and cuts to EMA [Education Maintenance Allowance] and benefits have exacerbated the conditions in which sections of frustrated young people turned to rioting, which unfortunately has resulted in people losing their homes and small/family businesses losing their livelihoods.«53

6.2 Politische Sichtweise Die Politik zeichnete in ihrer Reaktion auf die Proteste ein von den BloggerInnen, AktivistInnen und Alternativmedien stark divergierenes Bild der Situation: Nick Clegg, stellvertretender Premierminister, bezeichnete die Vorgänge als »needless opportunistic theft«, bei dem sich »thieves and troublemakers« der »mindless destruction« hingegeben haben.54 Premier David Cameron bezeichnete die Aktionen als »criminality, pure and simple«55 und wird mit der Forderung nach strengerem Vorgehen der Polizei gegen diese Aktionen zitiert. Interessantes Detail ist übrigens die bemerkenswert häufige Betonung in zahlreichen britischen aber auch österreichischen Medien, dass der Premier sich während den ersten beiden Protesttagen im Sommerurlaub befand. David Lammy, zuständiges Parlamentsmitglied für Tottenham, sprach sich für die Beruhigung der Lage und die Klärung der »unakzeptablen«

52 Penny, Laurie: »Panic on the Streets of London«. Opinion/Blog, AlJazeera, 9.8.2011. http://www.aljazeera.com/indepth/opinion/2011/08/201189105816840954.html 53 Islington Hands Of Our Public Services (IHOOPS) (2011): »Give our kids a future!«. 12.8.2011.

http://islingtonhandsoffourpublicser-vices.wordpress.com/page/3/

vom

3.3.2013. 54 Deputy Prime Minister (2011): »›London violence: ›needless opportunistic theft‹«. 8.8.2011. http://www.dpm.cabinetoffice.gov.uk/news/london-violence-needless-opportunistic-theft vom 1.1.2015. 55 Porter, Andrew (2011): »London riots: David Cameron says police must be more ›robust‹«.

The

Telegraph,

9.8.2011.

http://www.telegraph.co.uk/news/uknews/crime/

8690819/London-riots-David-Cameron-says-police-must-be-more-robust.html

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Vorfälle aus und betonte, dass es für die Aggression gegen Polizei und Öffentlichkeit und die Zerstörung von Eigentum keine Rechtfertigung gäbe.56 Vor allem am zweiten und dritten Tag der Berichterstattung zeichnete sich ein schwindendes Verständnis für die Aktionen ab und wurde medial die von der politischen Ebene vertretene Interpretation der Unverhältnismäßigkeit der Proteste im Hinblick auf die Erschießung Duggans häufig übernommen. Die Diskrepanz der aktivistischen und der politische Interpretation lässt sich mit dem unterschiedlichen historischen Bezugsrahmen der Motive und Ursachen erklären. Während die Regierung Camerons die Proteste als aktuelles Ereignis ohne historischen Kontextualisierung begreift, scheinen die Motive der ProtestteilnehmerInnen doch langfristig verwurzelt zu sein. Die Politik sieht als die einzigen Grund und Legitimation die Erschießung Mark Duggans, wodurch die Bewertung mit der Unverhältnismäßigkeit in den Aktionen entsteht. Die Protestierenden hingegen kritisieren über ihre eignen Kanäle den jahrelangen Rassismus der Polizei, die institutionelle Ignoranz und die politische Entmachtung der eigenen Gesellschaftsgruppe und die Ignoranz der Medien, die ihrer Meinung nach gerade nicht als Sprachrohr der Öffentlichkeit fungieren. Mit den Aktionen konnten die ProtestteilnehmerInnen nun die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, der Politik und der Medien gewinnen. 6.3 Häufigkeit der Zitate Mit Enden der zumindest teilweise vorhandenen Legitimierung des Protests mit der Wut über die Erschießung Mark Duggans setzte Ratlosigkeit über die Motive ein. Allerdings ging die Suche nach Motiven aber neben der ausufernden, spektakularisiernden Berichterstattung über das Protestereignis teilweise unter. Eine Beleuchtung der zitierten Personen, die gegebenenfalls Motive, Aktionen und die Proteste im Allgemeinen erklären konnten, sollte Aufschluss darüber geben, wie der deliberative Diskurs verläuft und ob die ProtestaktivistInnen selbst zur Offenlegung ihrer Motive befragt wurden. Die Auswertung aller Zitationen zeigt das Vorkommen folgender Personen: ProtestaktivistInnen, Angehörige von Mark Duggan, Personen von staatlichen Institutionen (Regierung, Justiz, Polizei, Scotland Yard), AnwohnerInnen und AugenzeugInnen, (KommentatorInnen) andere(r) Medien und andere Autoritäten (KriminologInnen, WissenschaftlerInnen u.a.). Ein Subjekt, z.B. »Premierminister Cameron«, wurde dabei innerhalb eines Artikels zu einem Thema trotz mehrmaliger Nennung einmal gezählt, das Auftreten des Premierministers zu einem anderen

56 Rickman, Dina (2011): »David Lammy Appeals For Calm After Tottenham Riots«. Huffington

Post,

7.8.2011.

http://www.huffington-post.co.uk/2011/08/07/david-lammy-

appeals-for-c_n_920360.html vom 3.3.2013.

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Thema innerhalb desselben Artikels ein zweites Mal gewertet usw. Insgesamt wurden 188 Personen (Quellen) zitiert. Abbildung 6: Zitierte Gruppen im medialen deliberativen Diskurs über die London Riots

4% 4% 4% 16%

59%

Public (state) instituions/ Staatliche Institutionen Neighbours, Residents & Eye witnesses Other (quoted as authorities - criminologe, deacon,..) Critical voices on police (Too harmless acting of police) Other Media’s Commentaries, judgments Activists (2,1) and Duggan family (2,1)

13%

Family of Mark Duggan

Zur anteilsmäßigen Verteilung, die in Abbildung 6 veranschaulicht wird, ist festzuhalten: •



Vier Prozent aller Zitate stammen von ProtestteilnehmerInnen (activists) (2,1%) oder Angehörigen von Mark Duggan (2,1,%). Letztere treten vor allem in den ersten beidenProtesttagen auf. 96% aller zitierten Stellungnahmen stammen von Personen, die selber am Protest nicht teilnehmen. Diese 96% der zu Wort kommenden Personen in der Berichterstattung über die Proteste in Tottenham, London und anderen Städten in Großbritannien teilen sich in – Personen der Öffentlichkeit (staatliche Beamte, Polizei), die sich hauptsächlich über die Protestierenden und ihre Aktionen wundern oder ärgern,

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Negativ betroffene Gruppen (Nachbarn, Supermarkt-Besitzer oder Mitarbeiter), in deren Nachbarschaft sich die Aktionen zutragen, oder aus deren Geschäften Artikel entwendet werden, und schließlich Großteils negativ affektierte Augenzeugen, die den Medien über die Geschehnisse Bericht erstatten.

Würde basierend auf den herangezogenen Quellen der österreichischen Zeitungen ein Bild über die Akteure des vorliegenden Konflikts gezeichnet werden, so wären die ProtestaktivistInnen nur minimal involviert (Abbildung 7). Zusätzlich zu dem zum Großteil pejorativen Framing gestattet es die (verschwindend geringe) Häufigkeit der Zitation nicht, die Protestierenden im Konflikt als gleichwertig partizipierende Konfliktparteien zu erfassen. Gleichzeitig zeigen die Daten deutlich, dass die große Mehrheit der zitierten Quellen in Opposition gegenüber den Protestierenden gestellt ist, so sind beispielsweise nahezu zwei Drittel aller zitierten Quellen (59%) MitarbeiterInnen staatlicher Institutionen (Regierung, Polizei, Scotland Yard und Feuerwehr) und stehen den Leitpositionen des Premiers sehr nahe. Der Premier verurteilte sowohl Proteste als auch Protestierende und bemühte sich seinen Wortmeldungen zufolge nicht um ein Verstehen der Protestmotive. Weitere 13% der zitierten Quellen sind besorgte BewohnerInnen und GeschäftsbesitzerInnen von Tottenham bzw. anderen betroffenen Bezirken, die trotz ihrer durch die eigene (potentielle) Angst und Betroffenheit verständlichen abwertenden Ansichten die Sichtweise der staatlichen Institutionen stützen. Es lässt sich zusammenfassend eine Oppositionsbildung zwischen den Tätern, den Protestierenden, und den allen anderen gegenübergestellten Personen/Opfern gesthalten. Die Motivklärung gestaltet sich wenig komplex und kaum dialektisch, was sich auch in den verwendeten Frames für Aktionen und Protestierende manifestiert. 96% jener Personen, die im Zusammenhang mit dem Protest zu Wort kommen, nehmen selber nicht am Protest teil, 4% der zitierten Personen sind selbst aktiver Teil des Protests. In anderen Worten ausgedrückt repräsentierte die Berichterstattung in einem extremen Maße jene Personen, die über den Protest und seine TeilnehmerInnen sprachen, anstatt sich auch mit jenen Personen auseinanderzusetzen, die selbst aktiv am Protest teilnahmen und für ihn verantwortlich zeichneten.

7. F INANZIERUNG Die Proteste in London wurden mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht von externen Quellen finanziert, was die Untersuchung der Transparenz der Finanzierung obsolet macht.

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8. ANALYSE 8.1 Protestform Bei den London Riots handelt es sich um einen originären Protest, der in Londons Viertel Tottenham in Reaktion auf die Erschießung eines farbigen Viertelbewohners einsetzte und sich über weitere Viertel und britische Städte ausbreitete. Die Sichtung relevanter Quellen lässt den Schluss zu, dass die Proteste bottom up organisiert wurden und es keinerlei externe Finanzierung oder organisatorische Einflussnahme gab. 8.2 Einflussfaktoren auf die Berichterstattung Nach Dekaden der politischen Ignoranz, der Marginalisierung und der Misshandlungen durch die Polizei, und nach einem langen Zeitraum ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft, hatten es die Protestierenden nun endlich auf die Medienagenda geschafft.57 Als Vertreterin einer zivilgesellschaftlichen Einrichtung betont Penny das, worauf die ProtestteilnehmerInnen neben anderen Motiven gehofft hatten: Aufmerksamkeit und Wahrnehmung. Nun platzierten sie britische und andere europäische Medien zwar prominent, sie hatten aber keine Kontrolle über die mediale Berichterstattung. Besonders zwei protestgebundene Einflussfaktoren prägen die Form der Berichterstattung: (1) das hohe Ausmaß an extremen bzw. spektakulären Aktionen sowie (2) die deutliche Spektakularisierbarkeit der Nachrichtenwertfaktoren. Kollektive Shop-Entleerungen und Brand-Schatzungen ließen sich als extreme Aktionen medienwirksam inszenieren. 8.3 Form der Berichterstattung »Ich setze voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen.« MICHEL FOUCAULT/DIE ORDNUNG DES DISKURSES

57 Penny 2011.

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Die Form der Berichterstattung entspricht dem Protestparadigma. Folgende Merkmale weisen darauf hin: •





Marginalisierung – Kaum bis keine Aufnahme der Protestierenden als Konflikthauptakteure in die Berichterstattung als ernstzunehmende Akteure der Öffentlichkeit – Exmanente Erklärung der Protestmotive Soziale Exklusion – Ausschluss der Protestgruppe aus dem öffentlichen Diskurs – Ignoranz bzw. Negation der Protestinhalte Kriminalisierung – Kriminalisierung der ProtestteilnehmerInnen und Aktionen – Negative Spektakularisierung.

Wichtige österreichische Zeitungen haben über die Dauer von einer Woche über ein Protestereignis nur unter minimaler Beachtung der ProtestteilnehmerInnen berichtet, wie die Daten zeigen. Der Ausschluss findet in drei Ausprägungen statt, die im folgenden Abschnitt detailliert besprochen werden: in Form einer Marginalisierung, einer Kriminalisierung und in Form der sozialen Exklusion der aktivistischen Subjekte. 8.3.1 Marginalisierung Mangelhafte mediale Einbeziehung der Hauptakteure Unter Betrachtung der deliberativen Dimension gilt zunächst die Frage zu beantworten, wer am Entdeckungszusammenhang und der Validierung der Sachlage diskursiv teilnimmt bzw. wem die Teilnahme durch die Medien ermöglicht wird. Der journalistisch bereitgestellte Deliberationsprozess muss gemäß seinem Selbstverständnis und seiner Einbettung in ein Staatssystem, das den Werten der Aufklärung verpflichtet ist, den demokratischen Prinzipien der Konsensfindung und dem Rationalitätsanspruch58 gehorchen. Zur demokratischen Verhandlung einer gesellschaftlich relevanten Causa in der Öffentlichkeit ist es demnach schlüssig, die Teilnahme aller zum Gesellschaftssystem zugehörigen Menschen am Kommunikationsprozess zu ermöglichen, um »keine systematischen Ausschlüsse zu produzieren« 59 . Beim der vorliegenden Case Study scheint genau dieses demokratische Selbstverständnis außer Kraft gesetzt zu sein, denn die Berichterstattung, die die divergierenden Stimmen der Öffentlichkeit wiederspiegeln könnte, verhält sich keineswegs paritätisch zu den auftretenden Akteuren und Meinungen im stattfindenden Konflikt. 58 Imhof 2006a: 199. 59 Ebenda.

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Die Protestierenden initiieren und tragen den Protest als Manifestierung eines latenten Konflikts fort, ohne sie würde der Protest nicht stattfinden, sie bilden daher einen besonders relevanten Konfliktakteur. Die Daten zeigen ein Verhältnis von 96:4 bei den zitierten Subjekten, wobei vier die Protestierenden sind und 96 Prozent Personen, die über die (Aktionen der) Protestierenden sprechen. Die Deliberation findet somit beinahe ohne die Gruppe der für das Ereignis und den Protest verantwortlichen Personen statt. Die Durchlässigkeit der Kommunikation der AktivistInnen war nur minimal gegeben, was nicht zuletzt auf die mangelnden trafitionellen Protestkommunikationsmittel wie Bannern zurückgeführt wird. Nichtsdestotrotz scheitern die demokratischen Ansprüche des Journalismus auf den Ebenen des Inputs und des Throughputs. Exmanente Erklärung der Protestmotive Die Ausschreitungen sind Hinweis auf Missstände im sozialen, politischen und institutionellen System, wie Stanley Lieberson und Arnold Silverman60 in ihrer Studie festhalten: »Riots seem most likely to occur in communities where institutional mal-functioning, cross-pressures, or other inadequacies are such that the city is unable to resolve racial problems.«61 Solomos fordert eine nähere Beschäftigung mit dem Zusammenhang politischer Institutionen und gesellschaftlicher Ausschreitungen, denn ein solcher ist vorhanden und äußert sich als institutionelle Exklusion gesellschaftlicher Gruppen und in hervorgehenden Ausschreitungen, so Solomos.62 Die fundierte Analyse des Zusammenhangs wurde von den untersuchten Medien kaum vorangetrieben. Vielmehr deuten die Daten auf teils hilflose britische Beamte und PolitikerInnen hin, die über die Ereignisse in Erklärungsnot gerieten und sie (möglicherweise auch deshalb) abwerteten. Österreichische Zeitungen spiegelten durch Zitation der Beamten diese Auslegung wieder und verfielen selbst wie die meisten Medien anderer Länder in Ratlosigkeit. »If anything was more ›spontaneous, contagious and uncontrollable‹ than the social unrest in many of the larger cities in England in August 2011, it was the rash of responses, explanations and solutions it prompted as journalists, academics, politicians and other commentators struggled to make sense of what was happening.”63 60 Lieberman, Stanley/Silverman, Arnold R. (1965): »The Precipitants and underlying Conditions of Race Riots«. In: American Sociological Review, Vol. 30, No. 6, S. 887-898. 61 Ebenda. 62 Solomos, John (2011): »Race, Rumours and Riots: Past, Present and Future«. In: Sociological Research Online, Vol. 16, Issue 4, November 2011. 63 Gorringe, Hugo/Rosie, Michael (2011): »King Mob: Perceptions, Prescriptions and Presumptions About the Policing of England's Riots«. In: Sociological Research Online, Vol. 16, Issue 4, November 2011.

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Nach der ersten Protestwoche kommentierte der Journalist Taylor Burns in einer Analyse der Berichterstattung der britischen Proteste, diese sei »außer Kontrolle geraten«64. Nach Burns taten sich KommentatorInnen »schwer, Sinn aus dem hervorzuholen, was passierte«. Die Erklärungen und Lösungen glichen in ihrer »Pseudowissenschaftlichkeit« einer »amoklaufenden Volkspsychologie« und die journalistische Aufgabe einer ersten kritischen Reflexion, Abwägung und Einordnung der Ereignisse misslang. Sich als wissenschaftlich ausgebende Erklärungen und Lösungen erfolgten bereits zu einem Zeitpunkt, wo diese noch gar nicht vorhanden waren, reflektiert Burns mit Blick auf englischsprachige Medien.65 Ergänzend ist für die österreichischen Medien die mangelhafte Suche nach Motivserklärungen anzuführen. 8.3.2 Kriminalisierung Am ehesten werden die protestierenden Personen – meist mit dem Verzicht auf eine Konjunktivsetzung – kriminalisiert. Die Kriminalisierung wird wie auch die Marginalisierung und die soziale Exklusion vornehmlich über drei teils bereits auf Wortebene festzumachende Stränge herbeigeführt: (1) mit dem Framing der TeilnehmerInnen, (2) mit dem Framing der Aktionen und (3) mit der Auswahl der zitierten Quellen. Mit der Übernahme des Framings der professionell angebotenen und einfach zugänglichen Quellen (Presseaussendungen der staatlichen/RegierungsEinrichtungen) spiegeln die österreichischen Zeitungen die offizielle Haltung der britischen Regierung. Framing der TeilnehmerInnen: Der am häufigsten auftretende Frame charakterisiert die Protestteilnehmenden direkt als kriminell oder mit kriminellen Motiven und fällt vor der juristischen Prüfung bereits vorab ein zumindest sprachliches Urteil. Zwei Drittel der gewählten Termini für Protestierende sind pejorativ und diffamierend, davon weisen 95,9% auf Kriminalität oder kriminelle Intentionen hin. Innerhalb der pejorativen, diffamierenden Begriffe lassen sich vor allem drei sich zum Teil überschneidenden Frames klassifizieren, die AktivistInnen als Kriminelle, als GewalttäterInnen oder als implizite GewalttäterInnen darstellen. Framing der Protestaktionen: Die allermeisten Aktionsbezeichnungen kriminalisieren, implizieren Gewalttätigkeit oder weisen auf Gewalt hin. Mehr als ein Drittel aller Aktionsbenennungen verweist deutlich auf eine kriminelle Tat. Es werden vornehmlich die Ereignisse Einbruch von Geschäftsauslagenscheiben, Kriminalität, Attacken und Terror angeführt bzw. Gewaltanwendung oder kriminelle Absichten und Taten impliziert.

64 Burns 2011. 65 Burns 2011.

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8.3.3 Soziale Exklusion Ausschluss der Protestgruppe aus der Gesellschaft »Die soziale Frage in Europa hat einen neuen Namen: Exklusion.«66 Exklusion ist eine der zentralen Probleme der sozialen Sphäre in der Europäischen Union.67 Der Gegensatz zwischen Exklusion aus dem und Integration in das Arbeitsleben wird in Europa oft gravierender begriffen als der Unterschied zwischen Arm und Reich.68 Das Phänomen durchzieht neben der Exklusion aus dem Erwerbsleben auch andere Bereiche, so weisen etwa stadt-soziologische Untersuchungen auf ausschließende Stadtkonstruktionen in Form von gated communities oder Ghetto-Bildungen hin.69 Die EK macht in einem Green Paper bereits 1993 Armut und soziale Exklusion aus ökonomischen und sozialen Möglichkeiten an der schlechten Entwicklung des Arbeitsmarktes und an den Veränderungen in Demographie und Familienstruktur fest. Das Problem betrifft neben den schlecht und weniger gut gestellten sozialen Klassen ebenso jene, die einen marginalisierten Platz in der Gesellschaft haben oder bereits ausgeschlossen sind.70 »Social exclusion does not only mean insufficient income. It even goes beyond participation in working life; it is manifest in fields such as housing, education, health and access to services. It affects not only individuals who have suffered serious set-backs but social groups, particularly in urban and rural areas, who are subject to discrimination, segregation or the weakening of the traditional forms of social relations. More generally, by highlighting the flaws in the social fabric, it suggests something more than social inequality and, concomitant71

ly, carries with it the risk of a dual or fragmented society.”

Der Macht ist eine Ausschlussstruktur immanent. Foucault zeichnet in Überwachen und Strafen und in Wahnsinn und Gesellschaft ihre Ausformungen nach und zeigt die disziplinierend und vergesellschaftend Wirkung der Ausschließungt.72 In seiner 66 Kronauer, Martin (2010): Exklusion: Die Gefährdung des Sozialen im hochentwickelten Kapitalismus. 2. Auflage, Campus Verlag, Frankfurt am Main, S. 11. 67 Room, Graham (2004a): »Poverty and social exclusion: The New European Agenda for Policy Research.” In: Room 2004: 1-9. 68 Kronauer 2010: 11f. 69 Krasmann, Susanne/Opitz, Sven (2007): »Regierung und Exklusion. Zur Konzeption des Politischen im Feld der Gouvernementalität«. In: Krasmann/Volkmer 2007: 127-155. 70 European Commission (EC) (1993): Green Paper European Social Policy. Options for the Union. Consultative document, COM(93) 551, 17.11.1993, Brussels/Luxembourg, S. 19. http://ec.europa.eu/green-papers/pdf/social_policy_options_gp_com_93_551.pdf 71 EC 1993: 20ff. 72 Foucault, Michel (1991) [1972]: Die Ordnung des Diskurses. Fischer, Frankfurt am Main, S. 10ff.

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Genealogie der Macht führt er in Anlehnung an Nietzsche zwei weitere Repressionspraktiken an, die normative Integration, die als »innere Einschließung« des Menschen in den (gewünschten) Moralstatus des sozialen Systems durch dessen Normalisierung und Disziplinierung erfolgt, und die produktive Disziplin, die den Körper als ökonomisches Produktivitätsmittel begreift.73 Whitley unterscheidet zwischen räumlicher und zeitlicher Exklusion, NetzwerkExklusion, sozioökonomischer und struktureller/institutioneller Exklusion.74 Bei der Berichterstattung über die britischen Proteste kann zumindest von einer NetzwerkExklusion aus dem Deliberations-/diskursgestaltenden Netzwerkes festgestellt werden. Selbst von struktureller und institutioneller Exklusion betroffen, haben viele der Protestierenden keinen Zugang zu Öffentlichkeit oder zu politischen Funktionen, durch die sie eine bessere Stellung erwarten. Ignorieren der Motive und Ziele: Motive der kollektiven Handlungen werden in den untersuchten Artikeln zum Großteil nicht erwähnt, nicht anerkannt oder mittels Zitation abwertender Aussagen aktiv aberkannt, nachdem die Ausgangssituation mit dem Anprangern der mutmaßlich rassistisch motivierten Erschießung von Mark Duggan eine deutliche politische Aussagekraft hatte und diese auch medial als politische Protestlegitimation angenommen wurde.75 Eine semantische Bezugnahme zu politischen Motiven scheint in den Benennungen der ProtestteilnehmerInnen nur in Einzelfällen auf, wie etwa bei Begriffen wie »Demonstranten«, »entfremdete Randgruppen« und dem (wenn auch nur kurzem) Porträtieren von Einzelpersonen und ihres sozialen Hintergrunds. Insgesamt erreichen diese Begriffe die Zehn-Prozent-Grenze aller angewendeten Benennungen für die TeilnehmerInnen nicht. Ähnliche Tendenzen treten bei der Erklärung der Protestaktionen auf, hier ist das Fehlen der politischen Komponente in der begrifflichen Motivzuschreibung für die Aktionen noch offensichtlicher. Außer bei den Bezeichnungen »Protest« und »Demonstration«, die vornehmlich mit der ersten Duggan-Demonstration in auftreten, ist quasi keine semantische Bezugnahme auf politische Motive zu finden. Als die Proteste unverhältnismäßig lange andauerten und sich die Wahl der Mittel von Demonstrationszügen in kollektive Aktionen wie Warenentwendungen ausweiteten, hätte die deskriptive Schilderung der Aktionen

73 Fink-Eitel, Heinrich: Foucault zur Einführung. 4.Aufl., Junius Verlag, Hamburg, S. 7079. 74 Whitley, Rob (2005): »Stigma and the Social Dynamics of Exclusion«. In: Research and Practice in Social Sciences, Vol.1, No.1, August 2005, S. 90-95, 94. 75 Taylor, Diane/Muir, Hugh (2011): »Protest march on Downing Street to highlight deaths of black detainees.« The Guardian, 28.10.2011. http://www.guardian.co.uk/uk/2011/ oct/28/protest-march-black-deaths-custody

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mit der analytischen Suche nach lang- und mittelfristigen Gründen ergänzt werden können. Eine Sichtung der Medien in Deutschland zeigt ähnliche Tendenzen wie in jenen in Österreich. Die Zeit hatte am Nachmittag des zweiten Protesttages selbst noch keine KorrespondentIn vor Ort, sondern übernahm für ihren Online-Bericht Textbausteine aus der AFP und der dpa. Als Auslöser nannte sie den Tod Duggans, stellte gleichzeitig aber nicht Frage nach weiteren Ursachen für den Protest.76 Die deutsche Alternativzeitung taz lieferte zu diesem Zeitpunkt bereits einen ausführlichen analytischen Bericht von ihrem Korrespondenten Johannes Himmelreich mit möglichen kurz- und langfristigen Gründen, der in seiner Quellenwahl auf Gespräche mit mehreren BewohnerInnen Tottenhams referierte. In einem Interview mit Himmelreich beklagt ein Bewohner, »dass man der Polizei nicht vertraue und Gerechtigkeit verlange. Die Menge applaudiert, manche schreien ›Gerechtigkeit‹. 77 Weitere BewohnerInnen schildern Ähnliches, etwa dass der »Frust in dem Stadtteil groß sei, vor allem gegen die Polizei«. Neben den Problemen mit der Polizei wird die Perspektivenlosigkeit der Kinder und Jugendlichen als langfristige Ursache angeführt, eine Frau meint: »›Wenn ich mich in anderen Stadtteilen umschaue, frage ich mich: Wieso können es die Kinder in Tottenham nicht so haben? Unsere Kinder sitzen hier und langweilen sich.‹«78 Diese mediale Handhabung der Proteste erinnert an die Ausführungen Foucaults zum Mechanismus der Exklusion, den er als die »Entgegensetzung von Vernunft und Wahnsinn«79 beschreibt. Als Wahnsinnige gelten seit dem Mittelalter jene Personen, deren Meinungen und Ideen nicht in jener ausgeprägten Form kursieren können, wie jene die Vernünftigen, das Wort der wahnsinnigen Person »gilt für null und nichtig, es hat weder Wahrheit noch Bedeutung«80. Die Daten weisen auf Protestierende, die zum Teil teils aus den Normen der politischen Vernunft vermeintlich ohne politische Bedeutung ausscheren. Zum einen sind sie in der Öffentlichkeit agierende Objekte, über die die Öffentlichkeit sich unterhält – eine Objektivierung, die keine aktive Beteiligung der Protestierenden an der Öffentlichkeit zulässt. Zum zweiten werden die Ausscherenden der ›Vernunft‹ gegenübergestellt, indem ihre eigenen Unvernunft in den Bezeichnungen impliziert wird. Auch wenn einzelne Aktionen der Männer und Frauen als ›unvernünftig‹ angesehen werden wollten, so 76 Zeit Online (2011): »Gewaltsame Proteste in London«. Die Zeit, Onlineausgabe, 7.8.2011, 15:09 Uhr. http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2011-08/protestelondon 77 Himmelreich, Johann (2011): »Protest, Gewalt und Plünderungen«. taz. die tageszeitung, 7.8.2011. http://www.taz.de/!75841/ vom 3.3.2013. 78 Ebenda. 79 Foucault 1991: 11ff. 80 Ebenda.

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gilt dennoch mit Foucault die diskursive Rückbindung der Vernunft zu bedenken. Vernunft wird im Diskurs definiert, so das von Foucault beschriebene Dilemma, denn was in der Öffentlichkeit gültig erachtet wird, gilt als vernünftig. Die Subjekte, die nicht an der Öffentlichkeit partizipieren können, können über die Charakteristika der Vernunft nicht mitverhandeln. Unter primärer und vorrangiger Zitation von Regierungsangehörigen, PolizistInnen und Anrainerinnen und deren Beurteilungen der Proteste wird diesen Personen implizit die Rolle juristischer Autoritäten zugespielt. Die Involviertheit und emotionale Betroffenheit macht die verärgerten Statements und das schnelle Urteil von einigen Personen durchaus nachvollziehbar. Bemerkenswert ist allerdings die mediale Reproduktion nahezu nur dieser Ansichten, wie mit dem Zitationsverhältnis von 96:4 belegt wird, die schließlich in einer Schweigespirale mündet. Die mediale Reproduktion lässt sich nicht nur an den vorzugsweise zitierten staatlichen Beamten und den argumentationsstützenden weiteren Quellen ablesen, sondern zudem wird mit der Auswahl von Bergriffen und Frames subtil jene Beurteilung der Situation übernommen, die die britischen Regierung in Presseaussendungen der Öffentlichkeit vorgelegt hatte. So kommt es zur Reproduktion der hegemonialen Interpretation und zu deren Transport über die Medien zum Publikum. Das Publikum rezipiert Berichte teils mit der Annahme, sie seien nach den Regeln ›journalistischer Distanz und Objektivität‹ gestaltet. Die Situationsinterpretation der britischen Regierung wird zur herrschenden Meinung, unter Heranziehung verschiedener weiterer bekräftigender Statements wird diese hegemonial gewordene Meinung ständig verifizieren und immer deutlicher belegt. Einer Falsifikation der Ausgangsthese wird entgegengewirkt, indem jene Personen, die sie falsifizieren könnten, mit verschwindend geringem Anteil in die Beweisführung aufgenommen werden. Festzuhalten ist, dass die Übernahme des herrschaftsreproduzierenden Framings auch im Zusammenhang mit dem professionellen Sourcing durch die Regierungsinstitutionen des breiten Netzwerks und mit den griffbereiten Pressetexten auf den institutionellen Homepages und in den Agenturmeldungen (rezitierten Meldungen). Gerade dieses Fallbeispiel zeigt den Einfluss des zunehmenden Zeitdrucks im Journalismus und die hervorgehenden Probleme in Konfliktsituationen auf: die Installation von KorrespondetInnen, der Zugang zu diversen Ansprechpersonen und die Konzeptualisierung und Interpretation neuer Situation müssen erst realisiert werden. Offen bleibt nichtsdestotrotz die Frage, wie nahezu eine Woche lang Berichte über die kollektiven Handlungen in Großbritannien veröffentlicht werden können, ohne die Positionen der protestierenden Männer und Frauen selbst darzustellen.

Das mediale Spektakel der protestierenden Bürgermeister Die (fast) erfolgreiche Inszenierung einer Autobahnblockade

1. E INLEITENDE B EMERKUNGEN 18 Bürgermeister blockierten tobend eine länderverbindende Autobahn und trugen eine Woche später ein weiteres Mal ihre Protestforderung am Platz vor dem österreichischen Verkehrsministerium vor. Beim Bürgermeisterprotest, dem Fall, mit dem sich folgende Case Study beschäftigt, protestierten federführend Bürgermeister aus zwölf Gemeinden eines österreichischen Tals mit Unterstützung von sechs Amtskollegen aus dem angrenzenden Nachbarland, um eine angekündigte Vertagung der Entscheidung über die Finanzierung eines länderverbindenden Tunnelprojekts zu verhindern. Über den Protest wurde ausführlich in den wichtigsten regionalen, nationalen sowie auch in einzelnen deutschsprachigen Medien angrenzender Nachbarländer berichtet. Synchron und intermedial wird die online zugängliche Medienberichterstattung im deutschen Sprachraum über die beiden Protestaktionen untersucht. Außerdem wird kursorisch die mediale Resonanz auf das nachträgliche Aufdecken der externen Finanzierung des Protests beleuchtet. 1.1 Methode Aufgrund der enormen medialen Aufmerksamkeit, die die Autobahnblockade auf sich zog, liegt der Fokus der Untersuchung auf der Berichterstattung über die erste Protestaktion. Der Untersuchungszeitraum beschränkt sich auf die relevante Woche, in der beide Proteste stattfanden; die meisten Berichte wurden am 14./15. bzw. am 18./19. Mai veröffentlicht. Das Datenset setzt sich zusammen aus allen erschienenen und online zugänglichen thematisch relevanten Artikeln aus basics., Die Presse, Der Standard, ECHO, Kleine Zeitung, Kronen Zeitung, NEWS, Ö24, ORF Tirol, Tiroler Tageszeitung und einzelnen regionalen Formaten der benachbarten Länder. Die Auswertung der Untersuchungsobjekte erfolgt entlang der genannten Untersuchungsdimensionen (Aus-

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löser, Aktion, InitiatorInnen, TeilnehmerInnen, Organisation, Motiven und Zielen und Finanzierung). Aufgrund der Ähnlichkeit aller Artikel – die meisten drucken die Meldung der Österreichischen Presseagentur APA ab – ist qualitativer Vergleich der einzelnen Medien kaum möglich, auf Ausnahmen wird explizit hingewiesen.

2. AUSLÖSER UND AKTIONEN 2.1 Auslöser Nicht wie sonst üblich hatten regionale AktivistInnen und BürgerInneninitiativen die Autobahn durch das Alpenland blockiert, um gegen den zunehmenden Transitverkehr Widerstand zu leisten und sich für den Umweltschutz und Lebensqualität einzusetzen. Am Freitag, den 14. Mai, waren es die Bürgermeister eines österreichischen Tals, die auf der Autobahn protestierten. Zwölf österreichische Bürgermeister trafen sich mit sechs Amtskollegen aus der benachbarten nichtösterreichischen Region und einigen RegionalpolitikerInnen auf der Autobahn etwa eine Stunde lang zum Protest. Als die österreichische Verkehrsministerin Anfang Mai ankündigte, die Entscheidung über die Finanzierung des Tunnels für einige Monate auf Herbst des gleichen Jahres zu vertagen, war dies Anlass für die Bürgermeister diesseits und jenseits des geplanten Tunnels, Widerstand zu leisten.1 Die Ankündigung der Ministerin als Auslöser des Protests erfolgte spontan und nicht absehbar. Die Autobahn führt durch das Tal, durch welches künftig der länderverbindende Tunnel durchführen soll. Der Bau des Tunnels stellt eine Teilstrecke eines Europäischen Schienenprojekts dar, seine Fertigstellung ist für 2025 angesetzt. Die Finanzierung ist zwischen der Europäischen Union, der betroffenen Europaregion sowie dem österreichischen Bund gesplittet. 2.2 Aktionen auf der Autobahn und in Wien Die Autobahnblockade der Bürgermeister dauerte kaum mehr als eine Stunde.2 Um elf Uhr Vormittag, nach eineinhalb Stunden Protest, rollte der Verkehr wieder über

1

News (2010): »Brenner-Blockade wegen Basistunnel: Protestkundgebung für rasche Umsetzung«. News, 14.5.2010. Autor: apa/red. http://www.news.at/articles/1019/10/268701/ brenner-blockade-basistunnel-protestkundgebung-umsetzung

2

Ö24 (2010): »Streit um Tunnel. Bürgermeister blockieren den Brenner«. 14.5.2010. http://www.oe24.at/oesterreich/chronik/tirol/Brenner-Blockade-Buergermeister-Basistunnel/ 838136

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die Autobahn Richtung Süden. 3 Zuvor hatten die Bürgermeister eine Seite der Autobahn gesperrt und blockiert, um vor geladenen PressevertreterInnen ihre Anliegen vorzutragen. Die Demonstration verlief gewaltfrei. In ihrer Erscheinung glich die Veranstaltung aufgrund des Settings einer Mischung aus Protestblockade und Pressekonferenz. Laut Kronen Zeitung wurde der Protest, der an einem verregneten Freitag den Verkehr der Autobahn lahmlegte, seiner Bezeichnung allerdings kaum gerecht, sie framte den Protest als wenig ernstzunehmende Blockade von einer »Handvoll Politiker«: »Die [A]utobahn hat schon andere Blockaden gesehen. Damals waren ja auch die Bürger auf die Straße gegangen. Am Freitag musste man schon genau hinsehen, um eine Versammlung zu erkennen. Ein paar Politiker, und viele Medienleute – das war's. Ein ›Blockaderl‹, mehr nicht.«4 Dennoch erwirkte der Protest ein enormes Echo in der medialen Öffentlichkeit. Regionale Medien genauso wie die größten nationalen Blätter berichteten über die protestierenden Bürgermeister. Auch Medien aus den Nachbarländern nahmen den Protest teilweise ausführlich in ihrer Agenda auf. Die zweite Protestaktion unternahmen die Bürgermeister vier Tage später am 18. Mai, diesmal in der Bundeshauptstadt. Der Protest in Wien wurde bereits am ersten Protesttag auf der Autobahn mit einer österreichweiten Presseaussendung angekündigt. MedienvertreterInnen wurden zu »Fototermin und Statements« 5 am Wiener Ballhausplatz geladen. Bei der Kundgebung sollte mit Appell an die Verkehrsministerin abermals deutlich gemacht werden, dass »[f]ür die Bürgermeister (…) die Zeit des Vertrauens vorbei [ist] – [das] Projekt (...) muss jetzt umgesetzt werden!« Besonders die Autobahnblockade sorgte für Aufsehen, über die Nachfolgeaktion wurde zwar berichtet, ihr wurde aber weit weniger Platz eingeräumt. Die Benennungen der Aktionen gestalteten sich durchwegs differenziert und ohne abwertende Konnotation, mit Ausnahme der Kronen Zeitung, die für die Aktion das Diminuitiv »Blockaderl« einsetzte. Neben der häufigen Anwebdung der Bezeichnungen »Bürgermeister-Demonstration«, »Protest«, »Blockade« für die Autobahnblo3

Tiroler Tageszeitung (TT) (2010): »Blockade beendet: Wipptaler fordern Finanzierungszusage«. 14.5.2010. http://www.tt.com/Tirol/716214-2/blockade-am-brenner-beendetwipptaler-fordern-finanzierungszusage.csp vom 1.6.2014.

4

Ruef, Stefan (2010): »Mini-Demo am Brenner. Bürgermeister aus Wipptal blockierten A13 für 2 Stunden«. Tiroler Kronen Zeitung, 14.5.2010. http://www.krone.at/Tirol/Buerger meister_aus_Wipptal_blockierten_A13_fuer_2_Stunden-Mini-Demo_am_Brenner-Story199805

5

Gemeindeverband-Planungsverband Wipptal (2010b): »Einladung zum Mediengespräch & Fototermin«. OTS Presseaussendung, 14.5.2010. http://www.ots.at/presseaussendung/ OTS_20100514_OTS0169/einladung-zum-mediengespraech-fototermin

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ckade und »Kundgebung« oder »Protest« für den Protest in Wien, frameten lokale nationale Zeitungen sowie Medien aus den benachbarten Ländern die Protestierenden als rebellische Bürgermeister. Der Großteil der Medien übernahm die Aussendung der österreichischen Presseagentur APA nahezu wortwörtlich.6 Die Schweizer Online-Zeitung blick.ch übernahm den Text von der Schweizer Nachrichtenagentur SDA, welcher sich zumindest in der Formulierung von dem Text der österreichischen APA unterschied.7 Davon hoben sich selbst recherchierte Artikel ab, wie etwa jene in der Tiroler Tageszeitung (TT), in ORF Tirol8 und im Tiroler Wochenblatt basics. Die Bürgermeister und etwa zwanzig bis dreißig ProtestteilnehmerInnen hatten auf der Autobahn hinter Stehtischen mehrere bedruckte Plakate und eine stabile Plakatwand aufgestellt, auf der die an die Verkehrsministerin gerichtete Forderung schriftlich festgehalten war. Ein Gruppenfoto wurde erstellt, das etwas später von einem neu gegründeten und aus den Bürgermeistern bestehenden Verein als Presseaussendung distribuiert wurde.9 Mit Mikrofonen wurde das Anliegen vorgetragen. Eine Video-Aufzeichnung mit Sequenzen einzelner Bürgermeister wurde durch eine regionale Public-Relations-Firma aufgenommen und online gestellt. Im Untertitel des Videos wurde die Forderung an das Bundesverkehrsministerium platziert: »Die Zeit des Wartens und Vertrauens ist für die Bürgermeister (...) vorbei. Die am Montag vo[m] Bundeskanzler (…) gegenüber [dem föderalen] Landeshauptmann (…) angekündigte weitere Verzögerung des Projektes ist nicht mehr hinnehmbar. Dieser Schachzug der österreichischen Bundesregierung verhindert den Bau des (...) [T]unnels für Jahre. Am Freitag (...) 10

haben 18 Bürgermeister (...)[die A]utobahn blockiert und so ihren Unmut geäußert.«

6

Stol.it – Südtirol Online (2010a): »Pröll: BBT muss »Evaluierung unterzogen werden«. 14.5.2010, Verfasser: apa. http://www.stol.it/Artikel/Chronik-im-Ueberblick/Chronik/ Proell-BBT-muss-Evaluierung-unterzogen-werden

7

Blick.ch: »Tiroler Bürgermeister blockieren Grenze«. Verfasser: SDA, gca. http://www. blick.ch/news/ausland/aus-protest-gegen-verzoegerten-bau-des-brenner-basistunneltiroler-buergermeister-blockieren-grenze-id49825.html

8

ORF Tirol (2010a): »Protest. Bürgermeister blockierten Brennerautobahn«. ORF Tirol Online, 14.5.2010. http://tirv1.orf.at/stories/442684

9

Verein Lebensraum für Generationen (2010a): »Sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger«. Aussendung

an

die

BürgerInnen.

http://web134.alex.cmshoster.info/jo/images/

aussendung_lebensraum.pdf vom 1.6.2014. 10 P8Hofherr: »Wipptaler Bürgermeister für Bau des Brenner Basistunnels«. 25.07.2011. vom 16.12.2013.

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Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Protest spontan, in Reaktion auf eine Wortmeldung der Verkehrsministerin, die Entscheidung für die Ausfinanzierung des Tunnels zu vertagen, ausgelöst wurde. Die Aktionen wurden differenziert und ausführlich beschrieben, und wurden mit der Ausnahme einer Diminuierung ohne kriminalisierendes oder anderweitig abwertendes Framing sprachlich realisiert.

3. I NITIATOR I NNEN Wie sich Wochen nach dem Protest herausstellte, organisierte eine PublicRelations-Agentur den Protest. Die Bürgermeister selbst wollten Widerstand leisten und auf das Verkehrsministerium Druck ausüben, wer sich allerdings für die Wahl des Instruments Protest einsetzte, kann aufgrund der mangelnden Quellenlage nicht nachgezeichnet werden. Jedenfalls wurde eine PR-Agentur engagiert, die mit der professionellen Organisation des Protests auf der Brennerautobahn und in Wien betraut wurde. Festzuhalten ist, dass die Bürgermeister in Funktion ihres politischen Amtes und nicht als Privatpersonen auf die Straße gingen. Die MitarbeiterInnen der PR-Agentur nahmen nicht aktiv am Protest teil. Es wurde darauf verzichtet, Gruppen der Bevölkerung für die Blockade einzuwerben. Des Weiteren wurde die Reise nach Wien zur Kundgebung, Fototermin und Pressestunde auf den Ballhausplatz medienwirksam von der PR-Agentur organisatorisch begleitet, wobei unklar bleibt, ob die PR-Agentur nur die Organisation übernahm und ob die Bürgermeister die initiativen Ideen zu den Protestaktionen hatten. Dass Bürgermeister in Amtsfunktion ihres Amtes und nicht als Privatpersonen auftraten, sorgte nach Aufdeckung der Protestfinanzierung für den Unmut zahlreicher Medien und politisch Tätiger.

4. T EILNEHMER I NNEN Bei der Protestblockade der Autobahn nahmen zwölf Bürgermeister eines österreichischen Tals und sechs Bürgermeister aus der Region jenseits des geplanten Tunnels teil. Vereinzelt solidarisierten sich Parteimitglieder, die Landeshauptmänner waren nicht anwesend. Bürgermeister der Gemeinden von beiden Enden des geplanten Tunnels ergriffen das Wort.11 Besonders beachtenswert ist die differenzierte Benennung der Aktivisten, die nicht wertend, sondern über namentliche Nennung oder der von ihnen bekleideten Position »Bürgermeister«, »Ortschefs« erfolgte. Die Bürgermeister hatten sich kurz vor dem zu einem anlassbezogen ins Leben gerufenen Verein mit dem Hauptziel der Interessenvertretung hinsichtlich des Tun11 Ö24 2010; ORF Tirol 2010.

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nelprojekts zusammengeschlossen.12 Dabei ist die Vereinsgründung ist Bedingung für das Ansuchen für finanzielle Unterstützung durch das Land bzw. Vorbedingung für den Erhalt von Subventionen. »Der Zweck des Vereines«, so wird in einer Vereinsaussendung angegeben, besteht in der »Förderung aller Belange unseres Lebensraumes. Der Verein ist ausschließlich gemeinnützig, seine Tätigkeit ist nicht 13 auf Gewinn ausgerichtet.« Die Erreichung des gemeinnützigen Ziels soll durch »umfassende Bewusstseinsbildung in der Bevölkerung, umfassendes Informationsangebot für alle Interessierten, Veranstaltung von Vorträgen, Unterstützung von Veranstaltungen, Förde14

rung der grenzüberschreitenden, regionalen Kooperation«

herbeigeführt werden. Der Verein, der »sich aus den Bürgermeistern des [T]als« zusammensetzt und mit einem »einstimmigen Beschluss«15 gegründet wurde, war federführend in die Autobahnblockade involviert. Die »Kerntätigkeit« des Vereins besteht »in geeigneten Maßnahmen zu einer möglichst raschen Realisierung des [T]unnels, für eine spürbare Verkehrsentlastung unseres Lebensraumes.« Der Verein besteht zum »Zweck«, die »Bewusstseinsbildung in der Bevölkerung, (…) [das] Informationsangebot für alle Interessierten, Veranstaltung von Vorträgen, Unterstützung von Veranstaltungen [und die] Förderung der grenzüberschreitenden, regionalen Kooperation«16 zu gestalten und voranzutreiben. Dem Schreiben über Ziel und Zweck des Vereins ist ein mitgliederwerbendes Anmeldeformular beigefügt, über welches BürgerInnen mit einem Beitrag von 10 Euro Mitglied werden können – allerdings ohne Stimmrecht.17 Am Protestort Autobahn war neben den BefürworterInnen auch die Gegnerschaft des Tunnelprojekts zugegen, worauf Journalist Christoph Mair von der Tiroler Tageszeitung (TT) hinweist. Die anwesende Gegendemonstration, die vor allem aus einer Bürgerinitiative aus dem Nachbarland bestand, forderte anstelle »eines viel zu teuren Tunnels (…) Maßnahmen wie eine Mautanhebung (...), um dem

12 Verein Lebensraum für Generationen 2010a. 13 Gemeinde Griess am Brenner (2010): »Verein Lebensraum für Generationen«. Amtliche Mitteilung, 26.8.2010 http://www.griesambrenner.tirol.gv.at/gemeindeamt/html/221359741 _1.pdf 14 Ebenda. 15 Verein Lebensraum für Generationen (2010b): »Verein Lebensraum für Generationen«. 26.8.2010.http://www.ellboegen.at/index.php/gemeindeverwaltung/downloads/item/leben sraum-fuer-generationen-aussendung vom 16.12.2013. 16 Ebenda. 17 Ebenda.

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Umwegverkehr Herr zu werden.«18 Die Bürgerinitiative forderte auf Transparenten das Ende des Tunnelbaus.19 Die Kritik der Gegendemonstration am Tunnelprojekt wurde in der APAAussendung über die Autobahnblockade ebenso wie der Bürgermeisterprotest vorgebracht, wenngleich die Gewichtung im Artikel stark zugunsten der letzteren ausfällt. Die Aufmerksamkeit für die Tunnelgegnerschaft ist weitaus geringer, was dazu führte, dass sie in einigen von zahlreichen Medien übernommenen APA-Textkopien fehlt. Mediale Aufmerksamkeit wurde viel eher von den Bürgermeistern gewonnen, aber auch von prominenten regionalen PolitikerInnen und TunnelprojektgegnerInnen. Mitglieder der »Grünen« sowie der Chef eines Landtagsklubs, zu dessen primären Zielen der Rückgang des Transits zählt, kritisierten den Tunnelbau.20 Auch der Artikel von ORF Tirol präsentierte die Kritikpunkte der Oppositionsparteien im Landtag und des Gegenprotests mit verhältnismäßig mehr Gewichtung.21

5. O RGANISATION Der Protest auf der Autobahn wurde vorab behördlich gemeldet und genehmigt. Die Autobahn musste teilweise gesperrt werden. Die Anmeldung der Blockade reichte der Verband der Gemeinden des betroffenen Tals mit einem Schriftsatz mit der Ankündigung der Protestaktion am 6. Mai ein und langte, wie die Bezirkshauptmannschaft mitteilte, am 10. Mai bei der Behörde ein. In diesem Schriftsatz wurde verlautbart, »dass am 14.05. (...) in der Zeit zwischen 10.00 Uhr und 11.00 Uhr auf der (...) Autobahn (...) durch den (...) [neu gegründeten Verband] vertreten durch Herrn Bgm. (...), eine Versammlung abgehalten werden soll.«22 Die Bezirkshauptmannschaft genehmigte nach »Interessensabwägung und Verhältnismäßigkeitsprüfung«

18 Mair, Christoph (2010a): »Blockade am Brenner: ›Haben Vertrauen verloren‹«. Tiroler Tageszeitung,15.5.2010, S.9. 19 Tiroler Tageszeitung 2010a. 20 Ö24 2010; Stol.it (2010b): »Wipptaler Bürgermeister mahnten BBT-Start an«. http:// www.stol.it/Artikel/Politik-im-Ueberblick/Lokal/Wipptaler-Buergermeister-mahntenBBT-Start-an 21 ORF Tirol 2010a. 22 Amt der Tiroler Landesregierung (2010): »Blockade der Brennerautobahn durch den Planungsverband Wipptal«. Verkehrsrecht, Geschäftszahl IIb2-2-1-12-1/827, 11.5.2010. http://www.wkw.at/docextern/G%C3%BCtertransporteure/Strassenverkehr/pa-9090.pdf

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die Sperrung der Autobahn »in Richtung Süden«23. Die Sparte für Transport und Verkehr der Wirtschaftskammer warnte vorab vor »erheblichen Verkehrsproblemen« als Resultat der Blockade.24 Der Protest erfolgte nicht spontan, sondern zahlreiche administrative sowie bürokratische Vorbereitungsarbeiten weisen auf eine längerfristige Organisation hin. Die Planung inkludierte auf administrativer Ebene die behördliche Anmeldung der Blockade, außerdem wurden Presseaussendungen mit Einladungen für regionale und nationale Medien verschickt. Hinzu kamen der Druck der Plakate und die Organisation von Plakatwand und Stehtischen. Wer allerdings die Organisation der Plakate übernahm, war zunächst nicht vollständig geklärt. Einer der beteiligten Bürgermeister meinte auf eine kritische Medienfrage zwar, dass die Finanzierung vom Verband und Unterstützern des Tunnels ausgehe.25 Ob diese beiden allerdings auch für die Organisation verantwortlich zeichneten, war zum Protestzeitpunkt nicht geklärt und wurde bis auf diese eine Ausnahme nicht thematisiert. 26 Zwar wurde etwas ungenau, aber dennoch Auskunft über die Finanzierung des Protests gegeben, diese stellte sich aber später als unrichtig heraus; die Finanzierung der organisatorischen Maßnahmen war nicht klar nachvollziehbar. Erst einige Zeit nach den Protestaktionen stellte sich heraus, dass die Bürgermeister nicht selbst die Protestorganisation vornahmen, sondern eine regionale PR-Agentur mit der Organisation betrauten. Somit ist bei der Organisation des Protests von einem Top-DownVorgehen auszugehen.

6. M OTIVE UND Z IELE 6.1 Partikularziel Ziel der beiden Bürgermeisterproteste am Brenner und in Wien war es, Druck auf die Bundesregierung auszuüben, um eine für die Durchführung notwendige Finanzierungszusage für den Tunnelbau zu erhalten. Das Ziel ist kurzfristig angelegt, die geforderte Entscheidung der Verkehrsministerin sollte so rasch als möglich erfolgen, wenngleich die Entscheidung in ihrer finanziellen Tragweite langfristige Konsequenzen mit sich bringt.

23 Amt der Tiroler Landesregierung 2010; WKO Wirtschaftskammer Tirol (2010): »Am 14. Mai findet auf der A13 Brennerautobahn/Brennerpass eine Versammlung statt«. http:// portal.wko.at/wk/format_detail.wk?AngID=1&StID=551392&DstID=684 24 WKO 2010. 25 Mair, Christoph 2010a. 26 Mair 2010a.

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Mit einer Vertagung der Entscheidung des Verkehrsministeriums auf Herbst hätte die Unfinanzierbarkeit des langjährigen und aufwändigen Projekts riskiert werden können, denn seitens anderer Kooperationspartner wurde eine fristgerechte Zusage der finanziellen Unterstützung erwartet. Mit ihrem Protest stemmten sich die Bürgermeister vehement gegen die Vertagung, ein Bürgermeister forderte stellvertretend die Beschlussfassung bereits im Juni.27 Das Motiv für den Protest wurde in allen relevanten größeren Österreichischen Medien wiedergegeben, und zwar am Tag des Protests oder spätestens am darauffolgenden Tag, wie eine Auswertung aller online zugänglichen Quellen ergibt. Darunter die Tiroler Tageszeitung, ORF Tirol, Ö24, Stol.it, Die Presse, News und Kleine Zeitung.28 Auch protestunterstützende Reaktionen aus der Politik wurden in Medien teils direkt wiedergegeben, wie am Beispiel des Finanzministers (ÖVP) gezeigt wird. In einer Presseaussendung der ÖVP-Bundespartei, die auf der Homepage der APA publiziert wurde und öffentlich zugänglich ist, hält der Finanzminister fest, »dass er angesichts der Umweltbelastung (...) [den Tunnel] für ‚ein ökologisch und verkehrspolitisch sinnvolles und nachhaltiges europäisches Projekt› hält (...). ›Dementsprechend habe ich volles Verständnis für die Anliegen der betroffenen (...) Gemeinden‹.«

Erfolgreich erreichten die Bürgermeister ihr erstes Ziel, denn mit dem Protest konnte Aufmerksamkeit erzeugt und teilweise Vorrangstellung im Diskurs gewonnen werden. Das Finanzministerium zeigte sich verständnisvoll und wies auf eine folgende Reflexion der Forderungen der Bürgermeister hin. Zur Bewerbung der Kundgebung am 18. Mai in Wien wurde eine Presseaussendung an die Austria Presseagentur APA gesendet, bei der als Verfasser der neu gegründete Verband der Gemeinden angeführt wird. Über OTS-Meldung wurde die Presseaussendung auf der Seite der APA öffentlich zugänglich gemacht: »›Sehr geehrte Frau Verkehrsministerin! Wir fordern Sie auf, Ihr Versprechen einzulösen! Für die Bürgermeister (...) ist die Zeit des Vertrauens vorbei - Projekt [Tunnel] muss jetzt umgesetzt werden! (…) Die von Seiten der Österreichischen Bundesregierung formulierten Zusagen scheinen sich aktuell in Luft aufzulösen. Dies ist für die Bürgermeister (...) nicht hinnehmbar. Anschließend an das Pressefoyer nach dem Ministerrat fordern sie die Österreichische Bundesregierung im Rahmen eines Mediengespräches auf dem Ballhausplatz auf, ihr 27 News 2010. 28 Mair 2010a; ORF Tirol 2010a; Ö24 2010; Stol.it 2010a; News 2010; Die Presse (2010a): »Brenner-Blockade: ›Auf Kosten Tirols sparen‹«. Verfasser: APA, 14.5.2010; Kleine Zeitung (2010): »Bürgermeister sperren Brennerautobahn«. 14.5.2010. http://www. kleinezeitung.at/nachrichten/wirtschaft/2353319/buergermeister-sperren-brenner autobahn.story vom 3.3.2013.

198 | P ROTEST ALS EREIGNIS Versprechen einzuhalten und die notwendigen Finanzierungszusagen für den Bau zu geben. Wir freuen uns auf Ihr Kommen. Für Fragen stehen wir Ihnen jederzeit zur Verfügung.«29

Das Tunnelprojekt, welches auf Kosten im zweistelligen Milliardenbereich geschätzt wurde, geriet über Jahre hinweg immer wieder in die Kritik von BewohnerInnen der Region, der Zivilgesellschaft und Oppositionsparteien.30 Michaela Seiser weist in der FAZ bereits drei Jahre vorher auf Zweifel am Projekt hin: »Gegner kritisieren neben den hohen Kosten die lange Bauzeit und die damit verbundene Umweltbelastung. Das aktuelle Konzept eines [T]unnels widerspricht aus Sicht (…) eines für seine visionären Projekte bekannten (...) Architekten (…) dem Ziel, schnellstmöglich eine ökonomisch am besten umsetzbare und nachhaltige Verkehrs- und Umweltentlastung der Nord-SüdVerbindung (...) zu erreichen: Der [Tunnel] wird frühestens in fünfzehn Jahren eine erste mögliche Verkehrsentlastung bringen. Bis dahin steigt der Straßenverkehr weiter an. Ungeachtet dessen ist weder die Personenverkehrs- noch die Güterverkehrskapazität auf der Bahn ausgelastet. Mit einer Erstschätzung von 6 Milliarden Euro Kosten wird der Tunnel nie wirtschaftlich betreibbar sein. Dazu kommen ungewisse Mehr- und Finanzierungskosten. Der Bau führt zu extremer Umweltbelastung: Millionen Kubikmeter Gestein werden bewegt, ganze Täler sollen zum 31

Teil zugeschüttet werden. Die geologische Machbarkeit sei ungeklärt, heißt es.«

Neben der Kritik an der Sinnhaftigkeit des Baus und den ökologischen Konsequenzen (die Jahre später in einem Bericht im Mai 2014 verifiziert wurden32), ließ das Verkehrsministerium kurz vor den Protesten mit der angekündigten Entscheidungsvertagung und einer neuen finanziellen Evaluation33 Unsicherheiten über den Bau aufkommen.34 Die Vertagung der Beschlussfassung über die endgültige Finanzierung, die zum Großteil vom Bund getragen werden sollte, implizierte nicht nur die Frage nach dem Zeitpunkt der Finanzierung, sondern stellte den Tunnelbau selbst infrage. Die Sorge über die Einstellung des Projekts BBT sickerte bei den Reden der Bürgermeister durch. Ein Bürgermeister forderte zwingend die entsprechende 29 Gemeinde-Planungsverband Wipptal 2010. 30 Die Presse (ju) (2010b): »Brennerbasistunnel: Startschuss im Sommer«. 26.4.2010. http://diepresse.com/home/wirtschaft/economist/560989/Brennerbasistunnel_Startschussim-Sommer 31 Seiser, Michaela (2007): »Am Brenner-Tunnel scheiden sich die Geister«. FAZ, 28.8.2007.

http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/verkehr-am-brenner-

tunnel-scheiden-sich-die-geister-1459239.html 32 ORF Tirol (2014): »›Geheime‹ Anti-BBT-Studie aufgetaucht«. 5.5.2014, o.V. http://tirol. orf.at/news/stories/2645491/ 33 Blick.ch 2010. 34 Die Presse 2010b.

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Beschlussfassung noch im Juni, ein anderer schilderte besorgt, dass ein Ende des Tunnelbaus eine Verschwendung von zwei Milliarden Euro bedeute, die für die Zulaufstrecken bereits verwendet wurden.35 Die Forderung nach einer Finanzierungszusage wurde auch auf ein Plakat gedruckt und hinter die sprechenden Bürgermeister medienwirksam platziert: »Sehr geehrte Frau Verkehrsministerin! Sie haben uns im Oktober [letzten Jahres] versprochen, dass die Finanzierung des [T]unnels gesichert ist und alle Genehmigungen für den Bau vorliegen. Wir fordern Sie auf, Ihr Versprechen einzuhalten!«

Die Verkehrsministerin zeigte für das Protestziel, das am Brenner und in Wien vorgebracht wurde, »viel Verständnis« und sprach sich ebenfalls »für den Ausbau und für die Verlagerung auf die Schiene«36 aus, wobei sie aber die Problematik der Finanzierungssicherstellung andeutete. 37 Auf den Kritikpunkt des zugleich staatlich subventionierten und laut Bürgermeister bevorzugt behandelten Ausbaus des Wiener Hauptbahnhofs reagierte die Ministerin abweisend. Die Bürgermeister und unterstützende Parteimitglieder argumentierten mit dem Zeitdruck, der aufgrund der offenstehenden und in Verbindung stehenden Geldzusage anderer Kooperationspartner bestehe. Eine Nationalratsabgeordnete aus der Region der Bürgermeister betonte, dass sie es nicht einsehe, dass Wien auf Kosten des Bundeslands zu Sparmaßnahmen greife. Diese Emotionalisierung auf geographisch-ökonomischer Ebene war argumentative Taktik der Bürgermeister.38 6.2 Argumentative Strategien Beim Ziel der ProtestaktivistInnen handelt es sich um ein Partikularinteresse, nämlich die Druckausübung auf die Bundesregierung zur Durchsetzung der Tunnelfinanzierung, basierend auf der zugrundeliegenden Forderung, den Tunnelbau überhaupt zu fixieren, was zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollends geklärt war. Dazu wurden folgende argumentative Strategien angewandt, die im Folgenden unter Anführung verschiedener Typen von Argumenten beleuchtet werden: • die Emotionalisierung des Protestinhalts, • der Solidarisierungsversuch mit anderen Protestierenden und • der Einsatz des Bürgerbeteiligung implizierenden Lobbying-Instruments Protest.

35 News 2010. 36 ORF Tirol (2010b): »Transit« 18.5.2010. http://tirv1.orf.at/stories/443547 37 Ebenda. 38 Ebd.

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6.2.1 Emotionalisierung des Protestinhalts Die Inszenierung war gelungen: »Empört, enttäuscht, aber kampfbereit«39 waren die Bürgermeister nach Angaben der TT. Die Emotionalisierung des Protests wurde über die zentrale Positionierung der Wut über die Benachteiligung des Bundeslands durch die Bundeshauptstadt Wien herbeigeführt. Mit einer emotionalisierten Argumentationsstrategie und starkem Einsatz des Argumentum ad Populum, mit welchem die Benachteiligung durch die Bundeshauptstadt und die Wut der Betrogenen im Bundesland hervorgestrichen wurde, wurde das Aufbegehren gegen Wien kommuniziert und eine in der Region gerne angewandte populistische Methode bemüht. Bei der Gegenüberstellung entlang der Konfliktlinie Bevor- und Benachteiligung wird »Wien« wird als Symbol für eine mit zahlreichen finanziellen Vorteilen ausgestattete Bundeshauptstadt inszeniert und in die Position des Feindbilds gerückt, das betroffene Bundesland findet sich in der Opferrolle wieder. Ein Bürgermeister setzte in seiner Rede die Oppositionsbildung als strategisch emotionales Mittel ein, als er der Bundesregierung vorwarf, eine »Verzögerungstaktik« zu fahren, die »wir« (impliziert wird »wir im Benachteiligten Bundesland«) »nicht mehr akzeptieren, denn Wien will auf unsere Kosten sparen«40. Der Bürgermeister beklagte, sich »im Stich gelassen« zu fühlen, denn »[d]ie vielen Aussagen der vergangenen Jahre – alles ist Schall und Rauch. Man hat uns belogen und betrogen«41. Er referierte auf das Bild des Rebellen, ein historisch stark verwurzeltes regionales Symbol, als welchen er sich selbst zu inszenieren versuchte, um »dafür [zu] kämpfen, dass die Regierung ihre Versprechen einlöse.«42 Die Emotionalisierung wurde auch beim zweiten Protest am Wiener Ballhausplatz als Argumentationsmittel angewandt, indem bereits in der offiziellen Einladung das Vertrauensverhältnis zur Österreichischen Bundesregierung in Frage gestellt und die Verkehrsministerin und die verantwortlichen PolitkerInnen unter Anwendung des Referenzarguments mit Verweis auf ihre alten Versprechungen abgemahnt wurden. »Die von Seiten der Österreichischen Bundesregierung formulierten Zusagen scheinen sich aktuell in Luft aufzulösen. Dies ist für die Bürgermeister (...) nicht hinnehmbar.«43 Die Presseaussendungen zum Protest in Wien enthalten eine Sammlung von Zitaten zuständiger FunktionärInnen, die den Tunnelbau bereits in der Vergangenheit guthießen. In der Liste der »Versprechen österreichischer Politiker zum [Tunnel]« werden unter Autoritätsverweis PolitikerInnen mit von ihnen getätigten themenrelevanten Aussagen namentlich angeführt, wie u.a. die Verkehrs-

39 Mair 2010. 40 Ruef 2010. 41 Ebenda. 42 Ebd. 43 Gemeindeverband-Planungsverband Wipptal (2010a)

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ministerin, der Bundeskanzler, andere ehemalige (Vize-)Kanzler der Regierungsparteien, und andere nationale und Europäische PolitikerInnen.44 Neben der Emotionalisierung mit dem Rückgriff auf die Oppositionsbildung wurde ebenso der Vertrauensbruch angeführt. In einer Onlinezeitschrift der involvierten PR-Agentur erschien zwei Monate nach dem Protest ein Artikel, der mit zahlreichen Signalwörtern eine emotionale Parteinahme für die protestierenden Bürgermeister vornimmt: »Die Zeit des Vertrauens ist vorbei – die (...) Bürgermeister akzeptieren die Verzögerungsund Verhinderungstaktik der Österreichischen Bundesregierung nicht mehr und setzen mit der Blockade der [A]utobahn am 14. Mai ein erstes Zeichen. ›Die Belastung der Bevölkerung ist untragbar, wir fordern die Verkehrsministerin auf ihre Versprechen für den Bau des BBT einzulösen‹[, so ein Bürgermeister]. Die (...) Landesregierung unterstützt die Forderungen.«45

Bereits in der Einleitung wird mit Gewohntem gebrochen und festgehalten, dass das Vertrauensverhältnis stark beeinträchtigt wurde. Der erste Satz gleicht wörtlich dem Text der Presseaussendung zur Kundgebung am Wiener Ballhausplatz, was Hinweis auf die Formulierung der Presseaussendung durch die PR-Agentur sein dürfte. Der zweite Satz personalisiert die Forderung und präsentiert sie als wörtliches Zitat. Im abschließenden Satz wird mit dem Argumentum ad Verecundiam die stützende Autorität der Landesregierung angeführt. Die Zeitschrift erfüllt in diesem Fall kaum journalistische Standards, sondern fungiert als Sprachrohr für die Bürgermeister. Da das Magazin von der PR-Agentur herausgegeben wird, kann der übernommene Text als Werbetext für den eigenen Werbeerfolg (erfolgreicher Protest) angesehen werden. 6.2.2 Solidarisierungsversuch Neben der Emotionalisierung der Forderungen und der Hervorhebung der Konfliktlinie Bundesland – Wien versuchten die Bürgermeister, eine Solidarisierung mit BürgerInnen und anderen regionalen Protestgruppen herzustellen. Ein Bürgermeister verwies auf die Beteiligung der Bürgermeister bei zahlreichen Autobahnblockadeaktionen gegen den Transit in den vergangenen zwanzig Jahren. »[D]er Auf-

44 Gemeindeverband-Planungsverband Wipptal (2010b): »Versprechen österreichischer Politiker zum BBT«. Presseaussendung, OTS/APA. http://www.ots.at/anhang/OTS_ 20100518_OTS0247.pdf 45 unikat. Zeitschrift für Public Relation & Lobbying (2010): »Blockade für Brenner Basistunnel«. Nr. 2/2010, Juli 2010, S. 1. http://issuu.com/hofherr_communikation/docs/ unikat_2_2010 vom 1.1.2015.

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marsch der Bürgermeister auf der Autobahn ist keine Premiere«46, so ein Bürgermeister mit dem Versuch, eine Solidarisierung der anderen BlockadeaktivistInnen herzustellen. Durch die Hervorhebung einer gemeinsamen Vergangenheit werden das Wir-Gefühl und die Abgrenzung nach außen weiter gestärkt. Der Landeshauptmann, der sein »großes Verständnis für den Ärger der Bürgermeister [und] der Bevölkerung im [T]al« ausdrückte, unterstrich die und rief in einer rhetorischen Oppositionsbildung zu einer weiteren Solidarisierung der BürgerInnen auf: »Wir in [diesem Bundesland] kämpfen jedenfalls Seite an Seite, dass die getroffenen Versprechen auch eingehalten werden.«47 Die Bevölkerung aus dem betroffenen Tal war bei der Demonstration nicht anwesend. 6.2.3 Wahl des Lobbying-Instruments Protest Die Wahl des Lobbying-Instruments »Protest« ist die argumentative Strategie der Bürgermeister, sich als engagierte BürgerInnen-Vertretung zu präsentieren und das vertretene Partikularinteresse als allgemeines BürgerInnen-Interesse darzustellen. Der Einsatz für den Tunnelbau durch die Bürgermeister ist jedenfalls als eine Interessensvertretung jener BürgerInnen zu sehen, die den Tunnelbau befürworten und daher ihre politischen Vertreter gewählt hatten. Bemerkenswert ist zur Verwendung des Instruments Protest folgendes: Erstens nahmen die Bürgermeister am Protest in Ausübung ihres Amtes und somit während ihrer Arbeitszeit teil, zweitens wurde deutlich auf die Einbindung und Vertretung der BürgerInnen verwiesen, ohne dass diese aber beim Protest anwesend waren. Dies wurde in den Wortmeldungen deutlich, die der ORF folgendermaßen zitiert: »Der Obmann des [neu gegründeten Verbands] und Bürgermeister (...) befürchtet, dass auf Kosten der betroffenen Bevölkerung gespart werde. Die Bürgermeister fordern ein, dass die Politik zu den Aussagen stehe, die sie der Bevölkerung gegenüber gemacht habe. Es könne nicht sein, dass kurzfristig von oberer Stelle gestrichen werde, wenn es eine schwierige Situation gebe«48.

Der Verzicht auf die Anwesenheit der BürgerInnen beim Protest stellt die grundsätzliche Legitimität des Vorgehens der Bürgermeister selbstverständlich nicht in Frage.

46 TT 2010a. 47 ORF Tirol 2010a. 48 ORF Tirol 2010 a.

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7. F INANZIERUNG Der Aspekt der Finanzierung spielt vor allem bei der Klassifizierung des Protests als Graswurzelprotest oder als Astroturf-Protest eine besondere Rolle. Der Autobahnprotest und die darauffolgende Protestaktion in Wien bedurften offensichtlich der Finanzierung, denn zumindest die Kosten für die Materialien wie professionell bedruckte Plakate, Stehtische sowie die Fahrt nach Wien mussten berappt werden. In einem protestbegleitenden Interview zur Autobahnblockade und der darauffolgenden Kundgebung in Wien bestätigt ein Bürgermeister, dass »die Kosten für die Aktion [auf der Autobahn] aus der Kasse des [Gemeindeverbands] und von Unterstützern des [Tunnels]« bezahlt worden waren.49 Die Aussage des Bürgermeisters ist nicht als absolut falsch zu werten, denn über den Gemeindeverband konnten Subventionen durch das Land bezogen und der Protest finanziert werden, wie sich später herausstellte. Allerdings kann von manipulativem Argumentieren gesprochen werden, denn weder die Subventionen an den Verband wurden offengelegt, noch die Frage geklärt, um wen es sich bei den »Unterstützer[n] des [Tunnels]« handelt. Einige Monate nach dem Protest wurde öffentlich, dass die Protestierenden zum Zweck der Partikularinteressensvertretung mit einem neu gegründeten Verein in Form eines Protests mit einer Subvention finanziell unterstützt wurden. Wie sich herausstellte, wurde der Protest über einen neu gegründeten Bürgermeisterverein, der am Tag der Autobahnblockade gegründet wurde (und nicht über den bestehenden Gemeindeverband)50, mit föderalen Mitteln finanziert. Wie unter anderem ein politisch führendes Oppositionsmitglied schildert, bezahlten beide Protest weder der Gemeindeverband, noch die einzelnen Mitglieder des neuen Bürgermeistervereins, vielmehr wurde der Verein mit 100.000 Euro zur Protestorganisation und zur Durchführung gefördert.51 Die Aufdeckung dieser Subvention rief vehemente Kritik der politischen Oppositionsparteien und zivilgesellschaftlichen Einrichtungen auf den Plan. Die Medien inszenierten den durch Steuergelder mitfinanzierten Protest als Skandal und ließen zahlreiche KritikerInnen zu Wort kommen. Die Tiroler Tageszeitung publizierte einen Leitartikel, in dem Mair, der medienintern hauptverantwortlich für den Bürgermeisterprotest und die aufgedeckte politische Finanzierung zeichnete, den Pro-

49 Mair 2010a. 50 Ruef 2010. 51 DerStandard: »Tiroler Regierung zahlte für Demo«, 24.11.2010. http://derstandard.at/ 1289608663719/Tiroler-Regierung-zahlte-fuer-Demo

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test in einer demokratietheoretischen Reflexion stark verurteilte. Der Artikel wurde auch über OTS/APA als Presseaussendung distribuiert.52 In diesem schreibt Mair: »Es gibt keine Rechtfertigung für eine hochsubventionierte Demonstration - auch nicht für den [T]unnel. Wenn [ein regionaler Oppositionspolitiker mit Spezialisierung Transit] vom Tiefpunkt in der (...) Anti-Transitbewegung spricht, so hat er Recht. 100.000 Euro aus dem Landesbudget für einen Bürgermeisterverein, der für den Bau des [T]unnels die [A]utobahn blockiert, gleichen einer politischen Bankrotterklärung: Skeptiker, die seit Jahren verkehrslenkende Maßnahmen verlangen, damit der Steuerzahler kein Milliardengrab finanziert, werden von der Tunnellobby mit Hohn und Spott bedacht, die Regierung sponsert hingegen den 53

wohlgelittenen Bürger(meister)-protest. Da stimmt etwas nicht [in dem Bundesland].«

Mair betont dabei die Arbeit, mit der »Umwelt- und Bürgerinitiativen (…) in den vergangenen 20 Jahren [das Bundesland] positiv mitverändert [haben]: nicht nur durch ihren Widerstand, sondern mit engagierter und ehrenamtlicher Grundlagenarbeit.«54 Gerade dies mache den bezahlten Protest der Bürgermeister zu einem Affront, denn es gehe dabei weniger um das Aufrechnen von Subventionen, sondern um die Transparenz von Geldflüssen sowie um ehrliche Politik. »Gegen Lobbying ist nichts einzuwenden, gegen politisches Söldnertum sehr wohl«55, wie Mair den Protest nach Aufdeckung der Finanzierung bezeichnete. Zahlreiche »umweltpolitischer Argumente« könnten für den Tunnelbau sprechen und »eine Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene garantieren«56. Dies rechtfertige aber den intransparenten, finanzierten Protest nicht. Der Standard zeigt die Kritik am finanzierten Protest in einem Artikel mit dem Titel »(...) Regierung zahlte für Demo« auf: »[Der Grüne Oppositionspoliker] sah [den] Landeshauptmann (...)in dessen größter Glaubwürdigkeitskrise, [die auf Transit und Umweltschutz spezialisierte Partei] sprach von Amtsmissbrauch und [eine 57 weitere Partei] von einem ‚Skandal›.« Der Grüne Oppositionspolitiker wird ausführlich direkt zitiert: »›Die (...) Landesregierung hat dem Bürgermeisterverein (...) 52 Mair, Christoph (2010b): »›Leitartikel‹ von Christoph Mair: Will das Land nicht seine Glaubwürdigkeit verspielen, muss es die Förderung zurücknehmen.« In: OTS/APA, gedruckt in der TT, 25.11.2010. http://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20101125_ OTS0014/leitartikel-von-christoph-mair-will-das-land-nicht-seine-glaubwuerdigkeitverspielen-muss-es-die-foerderung-zuruecknehmen 53 Mair 2010b. 54 Ebenda. 55 Ebd. 56 Ebd. 57 Der Standard (2010): »Tiroler Regierung zahlte für Demo«. 24.10.2010, Verfasser: APA. http://derstandard.at/1289608663719/Tiroler-Regierung-zahlte-fuer-Demo

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eine 100.000 Euro-Subvention gegeben. Mit diesem Geld wurden [zwei] Demonstrationen (…) finanziert‹«58. Mit Zitations weiterer politischer Kritik wird nicht gespart, so wird eine Partei angeführt, die verdeutlicht: »›Es ehrt die Bürgermeister der (...) Gemeinden, die versuchen, das Beste für die Bevölkerung zu erreichen; wenngleich dies die ureigenste Aufgabe eines Bürgermeisters ist. Einen Bürgermeister-Verein zu gründen und dann Gelder des Landes für diese Demofahrt nach 59 Wien zu lukrieren, ist ein Skandal der Sonderklasse›« . ORF Tirol titelte mit »Heftige Diskussion um [Tunnel]-Vereins-Förderung« und gab Einblick in die politische Ebene: »Eine Förderung für den (…) Bürgermeisterverein in Höhe von 100.000 Euro lässt am Mittwoch die politischen Wogen hoch gehen. Der Verein organisierte mit dem Geld unter anderem eine Demo für den Bau des [Tunnels] in Wien. (…) Organisiert wurden die Veranstaltungen von der [regionalen] Kommunikations60 agentur (…).« Auch der Wochenanzeiger basics. gestaltete den Fall als Skandal: »[Ein] Großteil davon (die Rede ist von mehr als 50.000 Euro) [wurde für] eine Werbeagentur [aufgewendet], die für Aussendungen und Plakate sorgte.«61 ORF Tirol veröffentlichte zudem eine Aussage des Vereinsobmanns und Bürgermeisters, der verteidigend meinte, »[m]it dem vereinseigenen Geld werde man die Rechnung der Agentur nicht begleichen können«62. Die regional stärkste Regierungspartei sandte in einer Reaktion auf die Veröffentlichung und Kritik ein Bekenntnis zum Verein der Bürgermeister aus, was von der APA in die Redaktionen aller österreichischen Medien distribuiert wurde. Der betreffende Absatz aus dem Text der APA, in welchem die Wortmeldung übernommen wurde, lautet: »Der [T]unnel sei das wichtigste Umweltprojekt in [der Region] zur Entlastung der Menschen (...), reagierte die [Partei] in einer Aussendung auf die Vorwürfe. ›Die [Partei] bekennt sich uneingeschränkt zum Projekt und freut sich über jegliche Unterstützung. Wenn sich die direkt gewählten Vertreter der Bürgerinnen und Bürger im [Tal], die Bürgermeister aller [Tal]Gemeinden zusammenschließen, um den Druck auf die (...) Ministerin in Wien zu erhöhen, dann ist das legitim und zu unterstützen‹, teilte [der] Hauptgeschäftsführer [der Partei] mit. (APA)«63 58 Der Standard 2010. 59 Basics [pia] (2010): »Land zahlt BBT-Lobbying mit Steuergeldern«. 3.12.2010. http://www.basics-media.at/news/tirol/politik/politik-detail/datum/land-zahlt-bbtlobbying-mit-steuergeldern.html. 60 ORF Tirol (2010c): »Heftige Diskussion um BBT-Vereins-Förderung«. 24.11.2010, o.V. http://tirv1.orf.at/stories/483562 61 Basics 2010. 62 ORF Tirol 2010c. 63 Krone.at (2010): »Mit 100.000 Euro: Land bezahlte Pro-BBT-Demo«. Kronen Zeitung, Onlineausgabe, 24.11.2010, Autor: APA. http://www.krone.at/Nachrichten/Mit_100. 000_Euro_Land_bezahlte_Pro-BBT-Demo-SP_und_Gruene_empoert-Story-232186

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Die Finanzierung betreffend lässt sich festhalten, dass eine detaillierte Klärung der Finanzierung während des Protests nicht erfolgt war. Dazu gehörten nicht nur die Plakate, die Presseaussendungen, die Stehtische, die Mikrofone und das Besucherzelt, sondern auch die Arbeitszeit der »Aktivisten«. Monate nach dem Protest wurde die externe Finanzierung aufgedeckt, die – wie schon der Bürgermeisterprotest selbst – ein enormes mediales Echo nach sich zog. Diesmal allerdings als medialer Skandals, bei dem vor allem abwertende, stark kritisierende Statements zulasten der Bürgermeister zitiert wurden.

8. ANALYSE 8.1 Protestform Intention der Bürgermeister war mit Protest politische Aktivität zu evozieren. Zwei Protestaktionen, eine Autobahnblockade und eine Protestkundgebung in der Bundeshauptstadt, wurden als Partizipationsinstrumente eingesetzt, um im öffentlichen Diskurs Aufmerksamkeit zu erlangen. Werden die mit den Bürgermeisterprotesten zeitlich einhergehenden Medienberichten ausgewertet, so handelt es sich bei dem Protest um einen originären Bürgermeisterprotest. Die Bürgermeister haben sich der medialen Darstellung zufolge als neu gegründeter Bürgermeisterverein zusammengerauft, um gemeinsam gegen das perzipierte unfaire Vorgehen der Bundesregierung anzukämpfen – im Interesse der BürgerInnen des betroffenen Tals. Wochen nach dem Protest wurde allerdings die Manipulation beim Merkmal Graswurzelprotest trotz der Ausführung durch die Bürgermeister aufgedeckt, denn der Protest wurde extern finanziert und von einer PR-Agentur organisiert. Im Vergleich zu anderen PolitikerInnen wurde der Protest also nicht unentgeltlich und ehrenamtlich bzw. im Rahmen der üblichen Bezahlung ausgeführt. Bezugnehmend auf die Merkmale der Bürgermeisterprotestaktionen soll daher anhand der im Theorieteil ausgeführten Merkmale für Astroturf-Proteste eine mögliche Klassifikation als solcher geprüft werden: 1/2) Beim vorliegenden Protest handelt es sich um gesellschaftlich erweitertes Lobbying beim Ministerium, das über die Medien in die deliberative Öffentlichkeit gelangt. 3) Durch die Selbstdarstellung der Bürgermeister als engagierte Vertreter der BürgerInnen nehmen sie die Rolle quasi-zivilgesellschaftlicher Akteure ein. 4) Bei der Forderung nach einer Verhinderung der Vertagung der Entscheidung der Bundesministerin für die Finanzierung des Tunnels handelt es sich um ein Partikularinteresse. Der Transitverkehr, die Verkehrsverlagerung auf die

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Schiene, die Umweltschädigung durch Autoverkehr oder ähnliche Motive wären breiter angelegt bzw. als weniger partikulär zu bezeichnen. 5) Die Ausrichtung und Organisation des Protests ist als Hybridform von top down und bottom up einzustufen. Einerseits sind die Bürgermeister von der Entscheidung des Ministeriums empört und (lancieren vermutlich bis zu einem gewissen Grad bzw.) nehmen selbst bottom up am Protest teil. Die professionelle Organisation und Begleitung der Aktionen übernahm eine PR-Agentur, was Kennzeichen der Top-Down-Ausrichtung ist. 6) Eine besonders professionelle Organisation des Protests samt Medienarbeit und medienwirksamem Auftreten ist zu vermerken. 7/8) Bei den Bürgermeistern handelte es sich zwar nicht wie bei AstroturfProtesten häufig um »unabhängige Dritte«, die sich für das organisationsspezifische Protestinteresse einsetzen. Die Implikation des Berufsverständnisses eines Bürgermeisters und das angewandte Argumentatum ad Populum, in Vertretung für betroffene BewohnerInnen zu protestieren, bezieht unabhängige Dritte aber in die Argumentation mit ein und stärkt so die Legitimation des Protests. Als entlarvt wird, dass es sich beim Protest um einen finanzierten Protest handelt, wird gerade diese Einbeziehung und Legitimation aber von Opposition, Zivilgesellschaft und Medien in Frage gestellt. Aufgrund der Erfüllung zahlreicher, als Kennzeichen für Astroturf-Proteste definierter Merkmale sind starke Tendenzen zur Kategorisierung als Astroturf-Protest festzuhalten. 8.2 Einflussfaktoren auf die Berichterstattung Trotz der Größe des Protests im niedrigen zweistelligen Bericht wurde in den wichtigsten regionalen, nationalen und in den Medien der umliegenden Nationalstaaten über ihn berichtet. Die Protestaktionen waren zwar nicht extrem, aber spektakulär: Das Ereignis, bei dem sich 18 Bürgermeister für einen Protest auf der Autobahn zusammenschlossen, ist eine eher ungewöhnliche Form der politischen Kommunikation und des politischen Lobbyings, die betreffend die Aufmerksamkeitsgewinnung strategisch gut gewählt wurde. Hätten sich die Bürgermeister im Bürgermeisterbüro einer Gemeinde getroffen und die Presse geladen, so hätte wohl bedeutend weniger Aufmerksamkeit evoziert werden können. Mit diesem Auftritt wurde das Framing vorgegeben, das die Bürgermeister sowohl in die Rolle der engagierten Bürger als auch gleichzeitig der engagierten BürgerInnen-Vertreter präsentierte. Den »Dramatisierungsregeln«64 der Medien folgend wurde telewirksam Aufsehen erzeugt. Die

64 Baringhorst 1996: 16.

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Logik der Medien brachte es mit sich, dass die Intention, die Autobahnblockade spektakulär zu inszenieren, erfüllt wurde. Geopolitische Implikationen spielen insoweit eine Rolle, als dass bei der von den Bürgermeistern vorgetragenen Argumentationsstrategie die Betonung Konfliktlinie Bundeshauptstadt – Bundesland deutlich hervorgestrichen wurde, indem argumentiert wurde, Wien würde im Gegensatz zum peripheren Bundesland mit Förderungen bevorteilt. Dieser politische Konflikt wurde von den regionalen Medien übernommen, auch die restlichen österreichischen Medien schließen sich der Darstellung dieser motivierenden Konfliktlinie an. Die Protestmotive waren nicht radikal, sie griffen inhaltlich weder das ökonomische System, die Infrastrukturpolitik oder die Sinnhaftigkeit der Regierung an. Vertreten wurde ein sehr spezifisches Partikularinteresse, nämlich die Rücknahme der Entscheidung, die Frage der Beteiligung an der Tunnelfinanzierung zu vertagen. 8.3 Form der Berichterstattung Die synchrone mediale Berichterstattung war erfolgreich. Wie die Daten verdeutlichen, wurden die vertretenen Inhalte in differenzierter Form an die anvisierten Öffentlichkeiten, die politische Ebene, soldarisierende BürgerInnen und die Bevölkerung, die als argumentative Legitimation eingesetzt wurde, transportiert. Alle untersuchten Medien bezogen Aussagen und Framing der Protestierenden in die Berichterstattung ein. Vor allem der Protest der wütenden Bürgermeister auf der Autobahn wurde nach Medienlogik als Spektakel gestaltet, die Aktivisten medial derart empört über die Entscheidung der Verkehrsministerin gezeichnet, dass sie genügend Grund hatten, auf der Autobahn und in der Bundeshauptstadt auf die sprichwörtlichen Barrikaden zu gehen. Wie Monate nach den Protesten bekannt wurde, wurden die spektakulären Aktionen von einer PR-Agentur professionell geplant und strategisch eingesetzt. Die Wahl fiel auf Protest als Lobbying-Instrument und die Autobahn als Austragungsort, um neben dem Bürgermeister-Engagement mit dem Argumentum ad Populum die zivilgesellschaftliche Unterstützung zu implizieren. Den Medien wurde durch die für politisches Lobbying relativ spektakuläre Aktion auf der Autobahn ein wirksamer Rahmen für ihre Berichterstattung geliefert. Gleichzeitig wurde die Medienlogik zur strategischen Kommunikation und Druckausübung auf die Verantwortlichen in der Bundesregierung professionell ausgereizt und erfolgreich genutzt. Die Protestaktionen wurden weder gewaltsam, noch unpolitisch geframet und als politisches Instrument nicht hinterfragt, im Gegenteil, im Hinblick auf den Auslöser (Entscheidungsvertagung und Empörung) wurden die Proteste als solche in ihrer Legitimität nicht angezweifelt. Einzige Ausnahme bildet eine Zeitung, die die Autobahnblockade im Vergleich mit anderen regionalen Autobahnblockaden gleich

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am Beginn der Berichterstattung mit dem Diminuitiv »Blockaderl« etwas abwertete. Ebenso wurden die Protestierenden wurden unter Nennung ihrer Amtsfunktion oder unter Verweis auf ihren Einsatz im Namen der BürgerInnen als ernstzunehmender Konfliktakteur geframet. Die Bürgermeister selbst galten zum Protestzeitpunkt in Form des Gemeindeverbands bzw. des neu gegründeten Bürgermeistervereins als Organisatoren des Protests. Vermutlich in Anlehnung an andere ehrenamtliche und nicht extern finanzierte ehemalige Proteste wurde die Protestfinanzierung zum Zeitpunkt des Protests medial kaum hinterfragt. Motiv und Ziel wurden von allen untersuchten Medien wiedergegeben, und zwar inhaltlich nahezu ident mit jenem Motiv und jenem Ziel, welches die Bürgermeister in der Presseaussendung kommuniziert hatten. Ebenso glich das mediale Framing dem Sourcing der Bürgermeister bzw. der PR-Agentur: die wütenden Bürgermeister des Bundeslands in wehrhafter, rebellischer Oppositionshaltung gegen die Entscheidung der Ministerin auf nationaler Ebene. Positive politische Reaktionen auf den Protest wurden zum Teil wörtlich wiedergegeben und stärkten so den Protest. Die Finanzierung des Protests war wie veranschaulicht relativ nebensächliches Thema und wurde, aller Wahrscheinlichkeit nach aufgrund zahlreicher ehrenamtlicher Autobahnblockaden gegen den Transit in der Vergangenheit, kaum hinterfragt. Während der Erstberichterstattung wurde offenbar von allen Medien angenommen, der Protest sei ehrenamtlich bzw. im Rahmen der Bürgermeisterfunktion durchgeführt und weder von einer PR-Agentur organisiert noch mit Subventionen finanziert worden. Die Inszenierung des Protestereignisses für die Medien gelang der PR-Agentur mit zumindest sieben von zehn von Lippmann identifizierten Nachrichtenwertfaktoren65, die sich deutlich als spektakularisierbar erwiesen und dadurch Erfolg in der Durchsetzung in der Medienagenda zeitigten: Überraschung, Sensationismus, Etablierung (politische Autoritäten), Relevanz, Nutzen, Prominenz sowie geographische Nähe. Ergänzen ließen sich diese Faktoren um die beiden von Warren (1934) postulierten Faktoren Dramatik und Konflikt. Augenscheinlich wird bei Betrachtung der vorliegenden Daten zum Protestfall: •



Das Protestparadigma ist außer Kraft gesetzt, der Protest wird weder marginalisiert, kriminalisiert, noch ignoriert, vielmehr wird über ihn trotz geringer Protestgröße ausführlich Bericht erstattet. Die Protestmerkmale, v.a. jene der Autobahnblockade, werden medial zwar spektakularisiert, aber keineswegs diffamierend geframet. Die mediale Inszenierung als Spektakel erfüllt genau das Interesse der Auftraggeber des Protests, mit

65 Lippmann 1921.

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einem professionell organisierten Protestereignis Aufmerksamkeit zu evozieren und das mediale Verlangen nach einem Spektakel zu befriedigen. Trotz oder gerade wegen der Wahl des Lobying-Instruments Protest konnte erwirkt werden, dass neben dem Spektakel auch die über Inhalte berichtet wurde. Motive und Inhalte gingen nicht verloren, vielmehr wurden sie teils nahezu wortwörtlich wiedergeben. Die Meldung der wichtigsten österreichischen Presseagentur APA, welche von den meisten Medien nahezu deckungsgleich übernommen wurde, beinhaltete die wichtigsten Ausdrücke, Inhalte und das Framing der Presseaussendung der Bürgermeister. Das Engagieren einer PR-Agentur garantierte das professionell organisierte, medienwirksame Auftreten mit dem Partizipationsinstrument Protest. Die PRAgentur verfügt über Erfahrung mit den Spielregeln der Medienlogik, was strategisches Formulieren und Verschicken von Presseaussendungen genauso wie die Kontaktherstellung mit MedienvertreterInnen und Presseagenturen inkludierte.

Mit dem kulturellen, finanziellen und sozialen Kapital der Bürgermeister konnte Professionalität in der Inszenierung des Protestereignisses hergestellt werden, was bei diesem Protestfall als ausschlaggebender Faktor für die Aufmerksamkeitsgewinnung der Medien gilt. Das Bürgermeisteramt und das soziale Netzwerk der eigenen Partei brachten die ›natürliche‹’ Relevanz für die regionalen Medien mit sich. Aufgrund dieses kulturellen und sozialen Kapitals berichten die Medien zunächst eher über die Protestierenden, allerdings wurde mit strategischem Einsetzen der polternden Bürgermeister bei der Autobahnblockade ein Rahmen geschaffen, in welchem die Nachrichtenwertfaktoren Prominenz und regionale politische Autorität verstärkt spektakularisiert werden konnten und wurden. Dank finanzieller Subvention eröffnete sich den Bürgermeistern die Möglichkeit, eine PR-Agentur mit der Ereignisorganisation zu betrauen, welche nicht nur die Inhaltsinszenierung gemäß der Medienlogik, sondern auch die Kontaktaufnahme mit den Medien übernahm. Die PR-Agentur konnte das Erstframing des Protestinhalts und der Aktionen in den Aussendungen kontrollieren, sie setzte dabei massiv auf die Spektakularisierung der Nachrichtenwertfaktoren. Die strategische Wahl des Lobbying-Instruments Protest und der Einsatz des Protestortes Autobahn konnten Medienwirksamkeit erzielen. Aus dem für Graswurzelproteste eher spezifischen Partikularinteresse wurde ein spektakuläres Ereignis geschaffen. Die Medien reagierten und schenkten dem Protest, von dem sie zunächst dachten, er sei von den empörten Bürgermeistern selbst organisiert worden, große Aufmerksamkeit.

Das massenmediale Ignorieren von Widerstand Ein griechischer Umweltprotest im Ringen um Aufmerksamkeit

1. E INLEITENDE B EMERKUNGEN Mittlerweile zu einem Protestkollektiv mit weit mehr als zehntausend Beteiligten herangewachsen, entstanden die Umweltproteste in Nordgriechenland in Reaktion auf Pläne, die Förderung eines Edelmetalls großflächig auszubauen. Protestierende Männer und Frauen richten sich seit Jahren gegen die mit dem Bau von Förderanlagen verbundenen Eingriffe in die Landschaft und gegen die befürchteten weitreichenden gesundheitlichen, ökologischen und ökonomischen Konsequenzen. Trotz fortschreitendem Bau der Förderanlagen und einem gleichzeitig stetig wachsenden Protestkollektiv fallen die Massenmedien bei der Protestberichterstattung tendenziell in zwei Extremformen: Sie ignorieren Proteste mit mehreren tausend Beteiligten oder sie berichten protestparadigmatisch unter Minimierung, Marginalisierung und Tatsachenverzerrungen der Protesten. So berichten Alternativmedien von einer der größten ignorierten Demonstration mit acht- bis zehntausend Beteiligten in Thessaloniki, die von den Massenmedien nachträglich mit dem bezeichnenden Titel Invisible March versehen wurde.1 Ein Aktivist aus Nordgriechenland beklagt bei einem Vortrag im Europäischen Parlament in Brüssel stellvertretend für das Protestkollektiv eine teils nicht vorhandene und teils stark interessensgeleitete, tendenziöse nationale Protestberichterstattung.2 Seine Klage fügt sich in einen all1

Gkiougki, Jenny (2012): ›Welcome to Bananistan‹. In: ISSUU. Urbanstylemag. Nr. 28. http://issuu.com/urbanstylemag/docs/usm28/1

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European Parliament Conference (2013a): »Environmental, political and financial dimensions of gold mining in Greece«. Konferenz von EP/European Greens, 22.1.2013. http://greenmediabox.eu/archive/2013/01/24/pressconference/; European Greens (2013): »Greece chases a fool’s golden rescue to their crisis«. 6.2.2013. http://europeangreens.eu/ news/greece-chases-fools-golden-rescue-their-crisis; Antigold Greece (2013): »Gold Mining in [the North of Greece]: not such a clean business!«. http://antigoldgr.org/ blog/2013/01/24/

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gemeinen Trend in Griechenland ein: Das Vertrauen in die griechischen Informationsquellen liegt seit Jahren auf einem Europäischen Tiefwert.3 Die GriechInnen weichen deshalb auf eigene Informationsportale und Soziale Medien aus. Methodisch eröffnet das Fallbeispiel ein wissenschaftstheoretisches Problem: Wie soll jene Extremform der Protestberichterstattung untersucht werden, die sich nach Aussagen von AktivistInnen dadurch auszeichnet, im öffentlichen Diskurs gar nicht vorhanden zu sein? Wie soll in einer medienwissenschaftlichen Untersuchung methodisch mit einem Protest umgegangen werden, der von den Medien möglicherweise bis zum hohen Grad ignoriert wird? 1.1 Methodische Herangehensweise Zur Untersuchung der Medienberichterstattung über die griechischen Umweltproteste wurden die Protestierenden des Protestkollektivs selbst sowie BeobachterInnen der Proteste und/oder der griechischen Berichterstattung befragt. Eine massive Rücklaufquote überraschte selbst die Autorin dieser Arbeit: Nahezu vierhundert (389) Personen beantworteten den Fragebogen vollständig, insgesamt nahmen 755 Personen teil. Unter Anpassung der methodischen Herangehensweise an das Fallbeispiel wurden folgende Schritte unternommen: Unter Sichtung unterschiedlicher Quellen wie journalistische Recherchen, aktivistische Veröffentlichungen, Dokumente und vorhandene Forschungsarbeiten wurde zunächst die politisch-ökonomische Situation beleuchtet. So konnte ein Überblick über die Besitzverhältnisse des Förderungsunternehmens und über einen kürzlich vorgebrachten Investitionsplan und seine zu erwartenden Konsequenzen, die Anlass für massive Proteste waren, geschaffen werden. Mit Rückgriff auf Mediendaten wurde eine Übersicht über die Entwicklungen der griechischen Medienlandschaft erarbeitet. Zudem wird der für das Fallbeispiel äußerst wichtige Zusammenhang zwischen dem Förderunternehmen und den wichtigsten nationalen Medien aufgearbeitet. An die Beschreibung (medien-)politischer und ökonomischer Strukturen anschließend wird der Widerstand gegen die teils bereits in Bau befindlichen Förderanlagen abgebildet. Zunächst werden unter Auswertung von Blogs und Facebook-

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Eurobarometer 76 (2011): Die öffentliche Meinung in Europa. Herausgegeben von der Europäischen Kommission, Herbst 2011, S.25. http://ec.europa.eu/public_opinion/ archives/eb/eb76/eb76_agreport_de.pdf; Eurobarometer 78 (2012): Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union. EK, Herbst 2012, S. 30. http://ec.europa.eu/public_ opinion/archives/eb/eb78/eb78_at _at_ nat.pdf .

I GNORIERTER P ROTEST IN G RIECHENLAND

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Portalen des Protestkollektivs 4 , persönlichen Gesprächen mit AktivistInnen und WissenschaftlerInnen, wissenschaftlichen Unterlagen und mit Rückgriff auf Dokumente und Veröffentlichungen von Vorträgen zweier Konferenzen im Europäischen Parlament/Brüssel (EP)5 deskriptiv die Ursachen und Gründe des Protests geschildert. Daran anknüpfend werden die anhand einer Befragung gewonnenen empirischen Daten über die Berichterstattung mit 755 Befragten präsentiert, die auf den Antworten von ProtestaktivistInnen als auch mit der Sachlage vertrauten Personen beruhen. Qualitative und quantitative Fragen sollten Informationen zur Protestberichterstattung liefern und zudem die aus den Hypothesen hervorgehenden Fragen prüfen, ob und inwiefern die Proteste von der Berichterstattung ignoriert bzw. protestparadigmatisch behandelt werden. Ziel der Befragung war die Evaluation der Medienberichterstattung durch Personen, die gleichzeitig über Kenntnis des Protestgeschehens und der griechischen Massenmedien verfügen. Ihre Antworten sind von besonderem Wert, da der mittlerweile mehrere tausend Personen zählende Protest nach den griechischen Massenmedien kaum vorhanden sei oder anderweitig verfälscht werde. Mit der Ermittlung der perzipierten Divergenz zwischen der massenmedialen Berichterstattung und dem selbst wahrgenommenen Protest können Rückschlüsse auf Tendenzen in der Berichterstattung gezogen werden. In der abschließenden Analyse werden die Daten der Untersuchungsdimensionen vor dem Hintergrund der theoretischen Vorannahmen reflektiert. Einen Schwerpunkt bildet dabei der Einflussfaktor Ownership (Herman/Chomsky) bzw. die Beschreibung des Besitzverhältnisses von Medien und Förderunternehmen. Ein Zusammenhang von Ownership und dem daraus resultierenden interessengeleiteten Agenda Setting in der Protestberichterstattung, auf den bereits in anderen Quellen mehrfach verwiesen wird, wird basierend auf den Daten verifiziert.

2. E DELMETALLFÖRDERUNG IN N ORDGRIECHENLAND 2.1 Historische Besitzverhältnisse der Minen Im Bergland in Nordgriechenland liegt ein Waldgebiet, das mit seinen 317 km2 Fläche eine vielfältige Tierwelt und Heilpflanzen beherbergt und Hauptquelle für die Wasserversorgung der regionalen Bevölkerung ist.6 Auch der mineralische Reich4

SOS Chalkidiki (2013): »Social, economic and environmental impacts of gold mining«. Wissenschaftliches Paper zum Vortrag im Europäischen Parlament im Jänner 2013. http://sosChalkidiki.files.wordpress.com/2012/11/impacts-of-gold-mining.pdf .

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European Parliament Conference (2013b): »Social movements against big mining projects«. 15.5.2013. http://antigoldgr.files.wordpress.com/2013/05/green-left.jpg

6

Triantafyllidis 2012 zit. in: SOS Chalkidiki 2013.

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tum in diesem Gebirge ist außergewöhnlich, die beiden wertvollsten Minerale Gold und Kupfer treten in den sogenannten Kassandra-Minen auf – gemessen in heutigen Kursen beläuft sich deren finanzieller Wert auf 30 Milliarden Euro.7 Der Goldabbau in den Kassandra-Minen blickt auf eine jahrhundertelange Tradition zurück. Bereits 350 bis 300 v. Chr. wurde während der Herrschaft Alexander des Großen und Philipp II. bei Stratoni das Auftreten von Gold bekannt, seit den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts wird unter dem Besitz von griechischen und türkischen Unternehmen Gold professionell gefördert. Ab Mitte des Jahrhunderts werden die Minen bis Anfang der neunziger Jahre von einem griechischen Insitut betrieben, aufgrund finanzieller Schwierigkeiten wurden dann Anteile von 51 Prozent an die griechische Nationalbank verkauft. Mit der Eigentümerschaft der Nationalbank gelang allerdings ebenso kein bedeutender finanzieller Fortschritt, was schließlich zur Auktionsversteigerung der Minen führte. Höchstbietend war das Unternehmen F (im Folgenden wird das Förderunternehmen mit der Abkürzung F gekennzeichnet), das ihr Gebot mit der Bedingung abgab, ein Drittel der Arbeitskräfte zu kündigen. Es folgten zahlreiche Proteste der ArbeiterInnen, die von der lokalen Gemeinschaft unterstützt wurden. Nichtsdestotrotz wurden die Minen drei Jahre später an das Unternehmen F übergeben. 8 Anfang des neuen Jahrtausends wurde eine Transaktion der Minen über den Staat Griechenland an ein neu gegründetes Unternehmen durchgeführt, die finanzielle Vorteile für das neue Unternehmen und starke Verluste für den Staat Griechenland barg: Legislativ bewilligt und ratifiziert durch das Griechische Parlament, wurden die Minen im Jahr für den Symbolwert von 1 Euro an den griechischen Staat übertragen, die Vermögensmasse der Minen, die das Unternehmen F für die Übergabe erhielt, betrug 11 Mio. Euro. Kurz nach dieser Transaktion wurden die Minen an die neu ins Leben gerufene und nur zum Zwecke der Transaktion gegründete Firma Y verkauft, denn wie die Europäische Kommission festhält wurde die Firma Y einzig »for the purpose of acquiring the mines«9 gegründet. Das ist insoweit relevant, als der Verkauf an die Firma Y um den gleichen Preis wie der vorangegangene Ankauf um 11 Mio. € getätigt wurde und somit jedenfalls unter dem realen Marktwert lag.10 Zudem wurden weder Transaktionssteuern bezahlt, noch ein »assessment of the assets«11, eine Einschät7 8

European Parliament Conference 2013a. Stamati, Anda (2004): »Controversy over closure of mines [in N of Greece]«. In: european industrial relations observatory online, 6.1.2004. http://www.eurofound.europa.eu/ eiro/2003/12/feature/gr0312104f.htm

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Europäische Kommission (EK) (2011): »State aid: Greek mining company (...) needs to repay around €15 million in illegal subsidies«. Press Release, Referenz: IP/11/216, date: 23.2.2011. http://europa.eu/rapid/press-release_IP-11-216_en.htm

10 EK 2011. 11 Ebenda.

I GNORIERTER P ROTEST IN G RIECHENLAND

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zung der Vermögensmasse, durchgeführt. Die Veröffentlichung am offenen Wettbewerbsmarkt sowie die Suche nach höchstbietenden Interessenten wurden unterlassen.12 Erschwerend gesellte sich die Tatsache hinzu, dass die Kosten der Mine von 11 Mio. € nicht an den griechischen Staat, sondern an den vorherigen Minenbesitzer ausbezahlt wurden. In einer Verfügung befand die EK, dass es sich bei der Transaktion um einen Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln der Europäischen Union handelte. Aus diesem Grund wurde Griechenland angewiesen, die Summe von 15,3 Millionen Euro von der Firma Y zurückzufordern. »After an in-depth investigation, the European Commission has concluded that the sale of the (…) Mines, in 2003, to [Y] was carried out below its real market value and, therefore, involved subsidies in breach of EU state aid rules. The subsidy was calculated at €14 million. As the company also did not pay transaction taxes, the total amount to be recovered from the beneficiary to the State's coffers is €15.3 million, plus interest. (...) The Commission has (...) concluded that [Y] benefitted from illegal state aid, which Greece needs to recover, including interest.«

13

Griechenland verweigerte, die Geldsumme zu reklamieren, und legte stattdessen Einspruch gegen die Validität des Entscheids der EK beim Europäischen Gerichtshof ein. Sofort nach der Ratifizierung im Griechischen Parlament die Firma Y, die Anteile der Minen zu verkaufen. Der Verkauf der Anteile bedeutete nach Angaben der ProtestaktivistInnen einerseits »a huge profit for shareholders« und andererseits »no benefit for the state«14. Die Vermögensmasse beinhaltet Minen- und Abbaukonzessionen mit dem Wert von »317 square kilometers, 310 homes, 11,000 square meters of urban land, 2.5 square kilometers of land, 30,000 square meters of offices and industrial buildings, 2 underground mines with shafts and underground tunnels, pumping systems, two ore- treatment plants, vehicles and mine machinery.«15 Seit dem Verkauf der Vermögensmasse im Jahr 2007 teilen sich zwei Eigentümer das Vermögen bis heute: 95 Prozent der Minen gehören einem nichteuropäischen Förderungsunternehmen Z 16 und 5 Prozent einem griechischen Konstruktionsunternehmen K.17

12 Law N 3220/2004zit. in: SOS Chalkidiki 2013. 13 EK 2011. 14 Ebenda. 15 SOS Chalkidiki 2013. 16 EK 2011. 17 European Parliament Conference 2013a.

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2.2 Investitionsplan für die künftige Förderung Der nichteuropäische 95%-ige Teilhaber Z des Förderunternehmens F legte für die Minen einen Investmentplan vor, der den großflächigen Bau einer Förderungsanlange auf einer Fläche von 38 km2 vorsieht. Die Konzessionen für das Projekt wurden im April 2004 vom Griechischen Staat genehmigt, sie haben mit einer zweifachen Möglichkeit zur 25-Jahre währenden Projektverlängerung bis zum Jahr 2026 Gültigkeit und überdauern somit mehrere Regierungsperioden. Zur Eigentümerschaft der Minen gesellt sich das Eigentum der Landfläche, die die mit der Mine in Zusammenhang stehende gesamte Oberflächeninfrastruktur beinhaltet.18 Zu Beginn des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts legte das Unternehmen Y als neuer 95%-iger Mineneigentümer dem griechischen Staat einen »Investmentplan« vor. Dieser beinhaltet die Errichtung von notwendigen Bauten zur Förderung von Mineralien, sieht die Entwässerung des betroffenen Berges mit einer Senkung der Wasseroberfläche um 300 bis 400 Meter vor und umfasst zwei Untergrundminen (eine open pit/Untergrundmine und eine Copper Metallurgy Plant). Die einzelnen Phasen des Förderungsprojekts, so der Investitionsplan, beginnen bei der grundlegenden Abholzung von Wald auf einer Fläche von 2500 Hektar, um einen offenen Krater mit einem vorveranschlagten Durchmesser von 750 Metern und einer Tiefe von 250 Metern zu bauen.19 Außerdem werden neun Bohrlöcher, Dämme, Minengebäude und Behilfsanlagen benötigt. Dazu werden Ableitungen rund um den Krater bis zu einer Tiefe von 750 Metern vorgenommen, diese reichen 140 Meter unter den Meeresspiegel. Im geplanten Oberflächenminen-Prozedere sollen schließlich 24.000 Tonnen Rohstoffe pro Tag gefördert werden. Als Methoden werden Aushöhlungen und Sprengungen mit der täglichen Verwendung von 6 Tonnen Explosivmaterialien genannt.20 Die Förderung von Erzen, die für beide Teilhaber des Förderunternehmens F von Wert sind, beträgt 2 Prozent der geförderten Menge an Material. Die restlichen 98 Prozent sind »waste«21, unbrauchbare Nebenprodukte. Für den Transport von Erzen werden u.a. zwei neue Dämme gebaut, die zwischen 140 und 120 Meter Höhe betragen, hinzu kommen Behältnisse für die anfallenden 98 Prozent Abfallprodukte. Nach der Umweltstudie des Förderunternehmens F sind von der open pit Mine mehr als 2 Tonnen Staubausstöße pro Stunde zu erwarten; der Experte Pana-

18 Ebenda. 19 SOS Chalkidiki 2013. 20 Ebenda. 21 Panagiotopoulos, Kiriakis (2013): Vortrag zu Umweltverschmutzung durch Goldabbau. Professor für Agronomie, Aristotle University Thessaloniki. European Parliament Conference 2013b.

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giotopoulus schätzt die Ausstöße auf das Doppelte.22 Die Chemie- und Umweltexpertin Paniaoto hält die Studie für »a big lie, backed by Greek government« 23 . Außerdem wird von aktivistischer Seite mit einer besonders hohen Konzentration von Schwermetallen bei der Förderung gerechnet.24

3. M EDIA O WNERSHIP IN G RIECHENLAND Als der griechische Finanzminister und Vorstand der sozialistischen Partei PASOK Evangelos Venizelos Ende 2011 vorschlug, eine neue Steuer auf Eigentum einzuführen, um »eine gemeinsame nationale Anstrengung« zu unternehmen, damit »wir alle die Bürde [der ökonomisch misslichen Lage Griechenlands] gemeinsam tragen müssen«, war die Öffentlichkeit schockiert. Sogar der Ministerpräsident George Papandreou, Vorsitzender der Sozialistischen Internationale, machte sich über den Vorschlag lustig. Die griechischen Medien schlossen sich an, berichteten über die Unsinnigkeit und zitierten zahlreich die KritikerInnen des Vorschlags. Als sich ein Jahr später im Herbst 2012 ein Gewerkschaftsführer darüber beklagte, dass »einige der größten Unternehmen im Land, inklusive der Mediengruppen, weniger als die Hälfte der vollen Beträge oder überhaupt keine Steuern bezahlen«25, berichteten die Medien kaum darüber , und wenn, dann spielten sie es herunter, wie die Nachrichtenagentur Reuters die doppelbödige Arbeit griechischer Medien in einer Case Study festhält. Das Leak über die Steuervorteile griechischer Medien und Unternehmen war der Gewerkschaftsführer Nikos Fotopoulos, der bei der Energieunternehmen PPC arbeitete. »Die Geschichte wurde von den Medien nicht aufgegriffen (...), weil Medienbesitzer unter den Bevorzugten waren«26, so Fotopoulus über die tendenziöse mediale Handhabung von Berichten über Steuerzahlungen. Politisch und massenmedial wird der Vorschlag der Einführung einer Eigentumssteuer möglicherweise interessengeleitet ins Lächerliche gezogen, ein Jahr später die (partielle) Unterlassung der Steuerzahlungen weder angesprochen noch sanktioniert, sondern (Regierungs-) politisch als auch massenmedial ignoriert.

22 Ebd. 23 Paniaoto, Ahina (2013): Vortrag. Chemical Environmentalist, Chalkidiki. European Parliament Conference 2013b. 24 SOS Chalkidiki 2013. 25 Grey, Stephen/Kyriakidou, Dina (2012): »Special Report: Greece's triangle of power«. Reuters, 17.12.2012. http://uk.reuters.com/article/2012/12/17/us-greece-media-idUKB RE8BG0CF20121217 26 Ebenda.

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Reuters zeigt in einer detaillierten Case Study die Machtverhältnisse in Griechenland am genannten Beispiel auf und bezeichnet sie nach einer Analyse als ein »triangle of power«27, wie in Abbildung 1 veranschaulicht. »[T]he interplay between politics, big business and powerful media owners« führt zu Skeptizismus auch in den EU-Institutionen, des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Europäischen Zentralbank (EZB), die die Beziehungen als »inzestuös«28 charakterisieren und für die ökonomischen Schwächen Griechenlands verantwortlich machen. Abbildung 1: Reuters’ »Triangle of Power« Politische Elite

Ökonomische Elite

Medieneigentümer

Das Dreieck der Macht, in Anlehnung an die Beschreibung der Machtverhältnisse in Griechenland von Stephen Grey und Dina Kyriakidou (Reuters).

3.1 Medienquantität Im Verhältnis zu den elf Millionen EinwohnerInnen ist die Anzahl griechischer Medienoutlets beachtlich. Nach den Jahren der staatlichen Medienkontrolle war in den 1980ern ein erheblicher Anstieg privater Fernseh- und Radiostationen zu vermerken,29 bis dahin hatte ERT als öffentliche Dienstleister in der Informationsweitergabe das staatliche Monopol inne.30 Das nahm mit dem Aufkommen von industriellem und marktwirtschaftlichem Kapital und durch die Deregulierung (in) der Medienlandschaft ein Ende.31 Medien waren fortan nicht mehr nur im Besitz tradi-

27 Ebd. 28 Ebd. 29 Grey/Kyriakidou 2012. 30 Leandros, Nikos (2010): »Media Concentration and Systemic Failures in Greece«. In: International Journal of Communication 4 (2010), S. 886-905, 889. 31 Ebenda.

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tioneller VerlegerInnen, sondern gingen in den Besitz traditioneller Industrie- oder Wirtschaftstreibender über: »The entry of industrialists, ship-owners and other business interests into the media scene was an important way for these interests to try to influence public opinion and to exert pressure in the political arena to the benefit of their business interests.«32 Cross Ownership, Medienkonzentration und die Inkorporation von kleinen durch größere Medienoutlets waren resultierende Entwicklungen. Medienhäuser begannen, strategische Produkte für ein diversifiziertes Publikum anzubieten.33 Leandros konstatiert die Dominanz nur relativ weniger Spieler in der Medienlandschaft trotz einer großen Anzahl an Medien.34 Presse: Die Eröffnung immer neuer Outlets nach der Deregulierung im Jahr 1989 führte zu einer höheren Anzahl der Zeitungen pro Person als im ökonomisch erfolgreicheren Deutschland.35 Die Daten des European Journalism Center (EJC) geben in Tabelle 1 beispielhaft Einblick in die steigende Quantität von Printmedien allein in den Jahren 2009/2010. Im Jahr 2009 zählte die EK 76 landesweit erscheinende Zeitungen36, ein Jahr später registrierte das EJC 82 landesweite Zeitungen, sechs davon fokussieren hauptsächlich auf Finanzen und 13 auf Sportnachrichten. Zusätzlich zur landesweiten Presse zirkulieren 607 Zeitungen auf lokaler oder regionaler Ebene (die 65 lokalen Zeitungen von Attica miteinbezogen).37 Tabelle 1: Entwicklung der griechischen Print-Outlets 2009/2010 JAHR

2009

2010

Presse gesamt (landesweit)

76

82

Nationale Tageszeitungen

39

44

Nationale Sonntagszeitungen

23

22

Nationale Wochenzeitungen

14

16

Lokale oder regionale Zeitungen

-

607

Quellen: European Journalism Center/Kontochristou/Mentzi 2010

32 Leandros 2010: 890. 33 Leandros 2010: 899. 34 Ebenda. 35 Grey/Kyriakidou 2012. 36 Eurobarometer 2009. 37 European Journalism Centre EJC/Kontochristou, Maria/Mentzi, Nagia (2010): »Media Landscapes. Greece«. http://www.ejc.net/media_landscape/article/greece/

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Television: Die Televisionslandschaft ist geprägt von einem Konglomerat einer Handvoll Kanäle. Tabelle 2 bildet die Publikumszahlen der führenden Kanäle ab und zeigt die Entwicklung von 2000 bis 2008. Dominierend sind »five private channels that belong to conglomerates with activities in many sectors of the economy (…) : Mega, Ant1, Alpha, Star, and Alter.«38 Die Sender Mega und Alter sind mit ihrer jeweiligen Reichweite von mehr als 20 Prozent die wichtigsten Kanäle zur Meinungsdistribution. Tabelle 2: Entwicklung der Televisionsstationen und Publikumszahlen in den Jahren 2000-2008 -CHANNELS

2007–

06–07

05–06

08

04–

03–04

05

02–

01–02

00–01

03

ET 1

3.7

3.8

4.2

4.2

5.3

5.9

5.6

6.1

NET

10.4

9.6

10.0

8.7

8.7

6.0

4.5

4.2

ET 3

3.1

2.5

2.4

2.0

2.0

1.6

----

----

MEGA

17.6

19.0

18.6

18.4

16.7

18.2

20.0

22.1

ANT1

15.1

17.1

18.2

20.6

20.9

22.8

22.5

21.9

ALPHA

14.2

14.1

16.0

13.1

12.9

13.1

13.4

15.3

STAR

10.6

10.5

10.8

11.6

11.6

12.1

11.0

13.4

ALTER

11.0

9.8

8.8

10.8

11.5

9.9

7.4

2.2

Others

14.3

13.6

11.0

10.6

10.4

10.4

15.6

14.8

Quelle: AGB Nielsen Media Research, TV Yearbook 2000–2008. Zit. in: Leandros 2010: 892.

3.2 Medienbesitz und ökonomisch-politische Interessen Die hohe Anzahl von Medien-Outlets täuscht über deren Besitz von einer nur sehr kleinen Anzahl von (Familien-)Unternehmen hinweg. Leandros erhebt die Besitzverhältnisse der relativ neuen Medienoutlets: Sie stehen im Besitz einer »powerful oligopoly around a small number of media corporations that own national dailies, radio and TV stations, many magazines, and book publishing houses, and extend their activities to the new media, telecommunications, and culture.«39 Die Vermengung von Geschäftsleuten aus Industrie und Medien führt zur Vermengung von diversen Interessen. Traditionelle Schifffahrts-, Konstruktions- oder Manufaktur-UnternehmerInnen kauften über ihre Subunternehmen Medien direkt 38 Leandros 2010. 39 Ebenda.

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oder indirekt auf. Drei Familien sind im Zuge der Inkorporation von Medienunternehmen von besonderer Bedeutung, sie werden fortan mit A, B und C abgekürzt. Die in Griechenland gut situierte und bekannte Familie A besitzt verschiedene Manufaktur- und Konstruktionsunternehmen und ist zusätzlich eine der führenden Eigentümerinnen in der griechischen Medienlandschaft. Ein Vertreter der Familie A eröffnete gemeinsam mit zwei Kollegen den heute meistrezipierten Kanal im griechischen Fernsehen, den mit mehr als 20 Prozent Reichweite besonders einflussreichen Sender MEGA Channel (Tab. 2).40 Ein Mitglied der Familie A ist heute der größte Shareholder von Mega Channel (Pegasus Publishing).41 Die Familie A handelt traditionell mit Schifffahrt und Konstruktion, aber zusätzlich kontrollieren sie nun die Zeitung Kathimerini, den TV-Sender Skai (on air seit April 2006) und vier Radiostationen. »The group of companies controlled by the A and B families can be characterized as general conglomerates that incorporate media enterprises in wider economic empires. Under these conditions the related problems of media concentration, cross Ownership and instrumentalization of the media have become extremely important and in certain periods they have dominated the public debate and even the political life of the country.«

42

Das Verhältnis zwischen Medien, Politik und Ökonomie ist in Griechenland sehr eng. So nutzen Medien ihrerseits die Möglichkeit über ihr breites Publikum, Druck auf die Politik auszuüben, indem nur selektiv Korruptionsaufdeckung einzelner politischer Figuren betrieben wird und unliebsame Missstände einflussreicher Parteien verschwiegen werden.43 PolitikerInnen versuchen, Kontrolle über die potentielle Macht der Medien zu erlangen und vergeben nur selektiv Medien-, Manufaktur-, Schifffahrts- o.a. Unternehmenslizenzen an Medienbesitzende und manchmal werden »staatliche Dienstleistungen und spezieller Zugang zu lukrativen Staatsverträgen«44 gewährleistet. Die für Demokratien charakteristische gegenseitige Kontrolle über das System der Checks and Balances kann durch die verstrickten Besitzverhältnisse leicht Gefahr laufen ausgehebelt zu werden.

40 Leandros 2010: 895f. 41 Grey/Kyriakidou 2012. 42 Leandros 2010: 895. 43 Ebenda. 44 Ebenda.

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3.3 Auftretende Probleme in Medien und Journalismus 3.3.1 Medienunabhängigkeit Gewährt und fördert die griechische Medienpolitik Medienfreiheit und journalistische Unabhängigkeit? Dieser Fragestellung widmet sich eine Case Study des wissenschaftlichen Projekts Mediadem im Auftrag der EU. Die Antwort fällt deutlich negativ aus, der Report aus dem Jahr 2011 kritisiert die »extrem zentralisierten« Medien. Während diese »in den Händen der Regierung«45 liegen, kommt es zur Beeinflussung durch informelle ökonomische Interessen. »Greek media policy-making has remained highly centralised in the hands of the government of the day. This cabinet-centred model of media policy-making has been thoroughly influenced, albeit in opaque and informal ways, by powerful economic and business interests who have sought to gain power, profit, or both, at the expense of the normative functions that the media is expected to perform in the public interest. The limited involvement of independent bodies in policy-making, the absence of journalistic professionalism, and the lack of a strong civil society that is able and willing to defend media freedom and independence have all reinforced such trends.«46

Die Unabhängigkeit griechischer Medien wird auch von griechischen OppositionspolitikerInnen sowohl von rechten als auch von linken Parteien wie Unabhängiges Griechenland und Syriza angezweifelt, denn sie gehen in der Ansicht konform, dass »Medien den Staat kontrollieren und der Staat die Medien kontrolliert«47, wie Panos Kamenos, Führer der rechten Partei Unabhängiges Griechenland vorbringt. Dies geschieht innerhalb eines »corrupt political system and the corrupt mass media in coordination with the banks«, so Alexis Tsipras, Vorstand der Syriza, der größten griechischen Oppsitionspartei.48 3.3.2 Pressefreiheit Im Vergleich zum Jahr 2011 ist Griechenland um 14 Plätze von Platz 70 auf Platz 84 auf der Rangliste der Pressefreiheit 2013 von Reporter ohne Grenzen abge-

45 Psychogiopoulou, Evangelia/Anagnostou, Dia/Kandyla, Anna (2011): »Does media policy promote media freedom and independence? The case of Greece«. Hellenic Foundation for European and Foreign Policy, S. 5. http://www.mediadem.eliamep.gr/wp-content/ uploads/2012/01/Greece.pdf . 46 Ebenda. 47 Panos Kamenos, Führer der rechten Partei Unabhängige Griechen, zit in: Grey/ Kyriakidou 2012. 48 Grey/Kyriakidou 2012.

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rutscht. Griechenlands JournalistInnen arbeiten »nicht nur unter prekären Bedingungen, sondern sind bei Recherchen oft Gewalt durch die Polizei oder extremisti49 sche Gruppen ausgesetzt« , so der Bericht von Reporter ohne Grenzen (RoG). Dabei fällt Griechenland fast auf den letzten (87.) Platz zurück.50 RoG weist auf polizeiliche Übergriffe auf JournalistInnen besonders bei Protestdemonstrationen hin.51 Die Süddeutsche Zeitung (SZ) berichtet Mitte April 2012, griechische PolizistInnen könnten um 30 Euro gekauft werden. Kurz vor Erscheinen des Artikels in der SZ hatten JournalistInnen »gegen Polizeigewalt [demonstriert], nachdem ein Fotograf durch den Schlagstock eines Polizisten schwer verletzt worden war. Gleichzeitig sind die Polizisten schlecht ausgebildet und miserabel bezahlt, viele klagen, die Politik verheize sie.«52 Probleme mit griechischen Medienunternehmen sind in den vergangen Jahren häufig geworden, so wurde etwa im Juni 2013 der nationale TV-Sender ERT über Nacht mit der Begründung geschlossen, auf diese Weise geforderte Sparmaßnahmen erfüllen zu können. JournalistInnen protestierten dagegen und strahlten über Wochen ehrenamtlich online aus. 53 Ein Jahr zuvor war die zweitgrößte Zeitung Griechenlands Eleftherotypia finanziell in Not geraten, MitarbeiterInnen bezahlten sechs Ausgaben aus eigener Tasche. Yannis Bogiopoulos, Co-Herausgeber des Politikteils, erzählt von Streiks der JournalistInnen, die kein Gehalt ausbezahlt bekamen. »The closure of Eleftherotypia is a big loss for Greece. (…) It was unlike most media here, which is owned by people with other interests.«54 Auch die TVStation Alter geriet in wirtschaftliche Turbulenzen, sie wurde von JournalistInnen besetzt. Dabei stehe Alter exemplarisch für alles was in Griechenland und seinen Medien falsch laufe, so Nikos Spyreas, ehemaliger Techniker bei Alter: Die Besitzer waren »tycoons«, die übergroße Summen dafür aufwendeten, ein Medienimperium aus Zeitungen, Radiostationen und Fernsehsendern aufzubauen. »Alter was a 49 Reporter ohne Grenzen (2013): »Nahaufnahme: Europa und GUS-Raum». http://www. reporter-ohne-grenzen.de/fileadmin/rte/docs/2013/130130_Nahaufnahme_EuropaGUS.pdf 50 Ebenda. 51 Reporter ohne Grenzen (2011): »Bericht zur Lage der Pressefreiheit: ROG beklagt Übergriffe auf Journalisten bei Demonstrationen«. O.A., 16.9.2011. http://www.reporter-ohnegrenzen.de/presse/pressemitteilungen/meldung-im-detail/artikel/bericht-zur-lage-derpressefreiheit-rog-beklagt-uebergriffe-auf-journalisten-bei-demonstrationen/ 52 Strittmatter 2012. 53 O’Carroll, Lisa (2013): »Greek journalists defy government order to close state broadcaster«. The Guardian, 12.6.2013.

http://www.theguardian.com/media/2013/jun/12/

greek-journalists-close-state-broadcaster-ert 54 Lowen, Mark (2012): »Greece's media buckles under strain of financial crisis«. BBC, 23.8.2012. http://www.bbc.co.uk/news/world-europe-19342961

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microcosm of everything that was rotten in Greece«, so Spyreas, »[g]oing mad with money that it didn't have.«55 3.3.3 Ownership-Konglomerate Das enge Verhältnis zwischen Medien und Regierung manifestiert sich im Fall einer der einflussreichsten griechischen Medienunternehmensfamilien 56 . Sie ist nicht nur größte Shareholderin des publikumsstarken Mega Channels und verfügt über die griechischen Anteile der Mine. Das doppelte Ownership könnte sich als Einflussfaktor auf die Berichterstattung über die Situation in Nordgriechenland auswirken, wie eine Case Study von Reuters mit einem Überblick über die wichtigsten Funktionen der Familie deutlich aufzeigt: »The biggest collective stake in the TV station is owned by members of the family [A]. One of [the] sons (…) is a director of Teletypos, the channel's holding company. Another son (…) is chief executive and a major shareholder of (…) a construction giant founded by his father that has participated in multi-billion euro contracts with the state. [He] has no stake in Teletypos. The [A] family also controls Ethnos, a popular daily and Sunday newspaper, other print media and websites. From the large, grey headquarters of their publishing company (…) the extent of the family interests is evident. Nearby is the Athens ring-road, built by an international consortium that included [their construction company]. Alongside the road is a new 57

railway line to the airport, also built with [A’s] involvement.«

Weitere Einflussmöglichkeiten auf Politik und Medien entstehen durch persönliche Verbindungen etwa in der Führungsebene von Mega Channel und anderen Unternehmen. Reuters führt privatwirtschaftliche Verbindungen zur Familie C an, deren Sohn im Board des Mega Channels arbeitet und außerdem die kleinere Station Star Channel besitzt. Familie C handelt mit Schifffahrt und ist wichtigster Shareholder von einer Raffinieriefirma. Allerdings streitet die Familie C Abhängigkeiten von der Regierung oder von staatlichen Verträgen vehement ab, diese seien durch große Exportorientierung nicht notwendig. Enge bekannte Kontakte der Familie A bestehen zudem mit D, der das DOL-Medienunternehmen führt, bedeutende Zeitungen herausgibt, Chairman von Mega Channel ist und über staatliche Lizenzen in Bildung, Kultur, Reisen und Druckerei verfügt, so Grey und Kyriakidou von Reuters über die Verquickungen.58

55 Ebenda. 56 Da der Name der Familie nicht primär ausschlaggebend für das Forschungsinteresse ist, wird sie fortan als »Familie A« bezeichnet. 57 Grey/Kyriakidou 2012. 58 Ebenda.

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4. G RÜNDE DES W IDERSTANDS »You ask me, why I am protesting in my age? If you have to fight for your life or the life of your family, you have to be strong.«

AKTIVIST AUS NORDGRIECHENLAND (75) Der vom Unternehmen vorgebrachte »Investmentplan« für die Förderanlage ist aufgrund des »fehlenden Nutzens für die ansässige Bevölkerung und die Umwelt« der Begrifflichkeit eines »Investments«59 nicht würdig, fasst der griechische Chemieingenieur Nikolaos Maskudis zusammen. Damit bringt er nur einen Teil dessen vor, was Anlass für den Protest tausender griechischer Männer und Frauen ist. Die Protestmotive betreffen drei Ebenen: (1) auf ökologischer Ebene werden Auswirkungen des geplanten Minenprojekts auf die Gesundheit von Mensch, Tier, Pflanzen und Lebensraum erwartet, (2) auf ökonomischer Ebene werden schwerwiegende negative Auswirkungen auf die lokale als auch auf die nationale Wirtschaft befürchtet und (3) auf politisch-legislativer Ebene wird das Funktionieren des Rechtsstaats mitsamt seiner demokratischen Legitimierung in Frage gestellt. In ihrer zeitlichen Ausrichtung sind die Motive aufgrund der Dringlichkeit der Durchsetzung kurzfristig angelegt, allerdings verfolgen sie langfristige Ziele im Zusammenhang mit dem nachhaltigen Umgang mit der Natur. 4.1 Ökologische Auswirkungen Die Angst vor der Zerstörung von Ökosystem und natürlichem Lebensraum der Menschen und anderen Lebewesen ist der basale Grund des Widerstands, alle weiteren Protestmotive gehen auf ihn zurück. Die Zerstörung von Ökosystemen wird durch die Verschmutzung von Wasser, Luft und Umwelt sowie durch Abholzung von Wald und den Bau eines Industriehafens zutage gefördert. Ökosystem: Das Projekt wird über eine hohe Konzentration von Schwermetallen sowie über die im europäischen Vergleich höchsten Raten von Arsen mit sich bringen, denn sie sind u.a. Teil der 182 Millionen Kubikmeter umfassenden Abfallprodukte der Extraktion. Aufgrund der hohen Arsen- und Schwermetallwerte steigt der pH-Wert der Erde, was das Wachsen von Organismen und Pflanzen verhindern kann. »Bioaccumulation of heavy metals in various levels of the food chain is extremely dangerous to the functioning of ecosystems, agro-pastoral products and ul-

59 Maskudis, Nikolaos in: European Parliament Conference 2013b.

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timately to human health.«60 Die bereits in Gang gebrachte Abholzung von Wald verändert die Ökosysteme innerhalb eines kilometerweiten Radius rund um die Grube. Dazu kommt die Gefährdung von Ökosystemen im anliegenden Meereswasser durch Minen-Verschmutzung und durch den Bau und den Betrieb eines großzügig angelegten Industriehafens. Dies führt zu einer Zerstörung der Wasserqualität des Meeres und betrifft den natürlichen Lebensort von Meeresorganismen als auch Naherholungsgebiete für Menschen. Wasser: Im betroffenem Gebirge sind die wichtigsten Quellen für die Region angesiedelt, die Wasserversorgung ist allerdings gefährdet, weil die angewandten Pumpmethoden zur Förderung bis in eine Tiefe von 663 Metern unter das Meeresniveau reichen. Mit geplanten Wiedereinleitungen von gepumptem Wasser zurück in den Aquifer besteht ein hohes Risiko des Eindringens von Salzwasser in das Grundwasser. Dadurch wird eine permanente Verschmutzung des Grundwassers durch die Infiltration von Schadstoffen erwartet. Befürchtet wird des Weiteren ein Austrocknen des Aquifers wegen der Abholzung.61 Luft: Eine hohe Luftverschmutzung wird aufgrund des Minenstaubs erwartet, die Staubausstöße könnten die festgesetzten Grenzen für Gas- und Partikelausstöße weit überschreiten. Die Verschmutzung des Wassers und der Luft und somit des Ökosystems und der anwohnenden Menschen mit Schwermetallen kann Gesundheitsprobleme wie Anämie, Krebs, Störungen der kindlichen Nervensysteme, Leberzirrhose u.a. hervorrufen. Die gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Schäden betreffen zuvorderst die Arbeitskräfte in den Minen, die eine niedrigere Lebenserwartung haben und einem höheren Risiko für »many kinds of cancer (trachea and bronchi, lung, stomach and liver), pulmonary tuberculosis, silicosis«62 ausgeliefert sind. 4.2 Ökonomische Konsequenzen Die erwarteten ökonomischen Auswirkungen der Minen stehen in enger Verbindung mit den ökologischen Implikationen. So befürchten regionale Kleine und Mittlere Unternehmen bzw. landwirtschaftliche und touristische Betriebe auf lokaler Ebene negative Auswirkungen durch die Verschmutzung von Luft, Wassers und Ökosystem mit Schwermetallen und Staub. Davon betroffen sind Bauernhöfe, Fi-

60 European Parliament Conference 2013a. 61 Ebenda. 62 SOS Chalkidiki (2013a): »Health«. SOS Chalkidiki Magazine, Issue 1, March 2013, o.V. S.15. http://issuu.com/sosChalkidikisintfor/docs/sosChalkidiki_01_en/15

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schereien, Hotels, Forstwirtschaften, Bienenzucht u.a. Vornehmlich die VertreterInnen dieser Berufsgruppen sind Teil des Widerstands gegen das Projekt. Auf den 108.900 Acre bäuerlich genutztem Land und den 276.000 Acre Weidefläche arbeiten 814 BienenzüchterInnen mit 152.385 Bienenstämmen, was 9.7% des gesamten nationalen Bienenbestands ausmacht. Außerdem sind Betriebe der organischen Landwirtschaft, Fischereien und Aquakulturen betroffen. In der lokalen Wirtschaft spielen auch Holzarbeit, Waldfrüchte, Beutetiere und Kräuter eine wichtige Rolle, sie werden aufgrund der erwarteten Schwermetalle ebenfalls als gefährdet betrachtet. Tourismusbetriebe sehen starke Einbußen aufgrund der lokalen Landschaftsveränderungen, der (Bade-)Wasserverschmutzung und der Gesundheitsgefährdung, welche Gäste vor Reisen in die Region abhalten. Nordgriechenland ist als touristisches Domizil aufgrund der Mischung von Wald und Meer beliebt. Zusätzlich wird von dem Protestkollektiv problematisiert, dass auch alle anderen angesiedelten, nicht direkt vom Ökosystem abhängigen Betriebe potenziell den Interessen der Mine untergeordnet und übergangen werden können. Das Land ist nämlich gesetzliches Eigentum der Minenbesitzer und die Arbeit an der Mine vorrangig geschützt: »According to the Greek Mining Regulation, any activity that disturbs mining is prohibited in designated mining areas, private land can be expropriated, and any protection status for areas designated as protected by national and international conventions does not hold.« 63 Zudem ist die Eigentümerschaft der Minen bedeutendes ökonomisches Protestmotiv mit übernationalem Charakter, denn die Minen gehören zu 95 Prozent einer nicht-europäischen Firma, die Verwaltung der Rohstoffe obliegt somit nahezu zur Gänze einem nicht-griechischen Unternehmen. Die ausgehandelten Verträge machen es möglich, dass weder die BewohnerInnen der Region noch der Staat über Tantiemen an der Förderung mitverdient. Dies ist in den Verkaufsverträgen verankert: »[T]he mining company has full possession of the contents and there are no royalties, meaning zero profits for the State.«64 Allerdings kann der Staat von den Minen auf zwei Arten ökonomisch profitieren, erstens über die dort beschäftigten Minenarbeitskräfte, das sind derzeit 1500 Personen und werden bei Fertigstellung insgesamt 3000 Personen sein,65 und zweitens von den Steuern der Arbeitskräfte. Maskudis bringt sich überschneidende Resultate verschiedener wissenschaftlicher Evaluierungen der Konsequenzen des Minenbaus vor: »The scientific community says that there will be a huge damage by the planned project.«66 Er fügt hinzu, 63 Ebenda. 64 Triantafyllidis A. und Dimitriadis S. zit. in: SOS Chalkidiki 2013. 65 ARD Europamagazin (2012): »Streit um Goldabbau. Die Minen von Chalkidiki«. 14.7.2012. http://www.youtube.com/watch?v=oLWFCtl8tUI 66 Maskudis, Nikos in: European Parliament Conference 2013b.

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»[the] so-called investment, in which the state gets peanuts and the investing company gets a lot of money«, bringe weder einen ökonomischen noch einen sozialen Vorteil für die Region. Das »sogenannte Investment« schaffe keine Arbeitsplätze, sondern habe die Zerstörung historischer und ökologisch wichtiger Gebiete zur Konsequenz – ohne die Einwilligung der EinwohnerInnen und Unterstützung der wissenschaftlichen Gemeinschaft. »It is no longer about [the region], but it is a national topic and it seems there is an interest that is further than local. The suspicion arises that there is a national or even further interest.« 67 4.3 Politisch-legale Einwände Neun Monate Land weigerte sich die griechische Umweltministerin, eine geforderte und offenbar dringend notwendige Zusage für den Minenausbau zu unterzeichnen. Die Ministerin war für insgesamt elf Monate im Amt, bevor sie suspendiert und von dem früheren Wirtschaftsminister ersetzt wurde. Der neue Umweltminister unterzeichnete die für den Minenausbau notwendige Zusage in den ersten zehn Tagen seiner Amtsperiode.68 Diese Zusage sowie die Inhalte des Umweltberichts werden vom Protestkollektiv auf ihre Richtigkeit angezweifelt.

5. AKTIONEN UND M EDIENREAKTION : I GNORIEREN VON P ROTEST Im Januar 2013 organisierte der griechische EU-Parlamentsabgeordnete (MEP) Nikos Chrysogelos (European Greens, GR) eine Konferenz zu Environmental, political and financial dimensions of gold mining in Greece 69 im Europaparlament in Brüssel. Die Einladung zur Konferenz fand zu einer Zeit statt, in der innerhalb Europas ein breiter Diskurs über die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf Griechenland in Form von massiven Protesten, Arbeitslosen u.a. geführt wurde, und wurde an Dutzende JournalistInnen, RepräsentantInnen von Regionen und Nationen und andere relevante Büros in Brüssel versandt. Bei der Konferenz fanden sich schließlich nur zwei Personen im Publikum ein: eine Praktikantin der veranstaltenden Partei und die Autorin dieser Arbeit. Trotz massiver medialer Präsenz Griechenlands schienen Hintergrundreflexionen kaum Interesse erzeugen zu können. Bei einer zweiten Konferenz Monate später hatten die VeranstalterInnen strategisch ›dazugelernt‹: Um Aufmerksamkeit zu gewinnen, wurden die Nachrichtenwertfaktoren Autoritäten und Protestgröße strategisch(er) eingesetzt und eine Kon-

67 Ebenda. 68 Panagiotopoulos in: European Parliament Conference 2013b. 69 European Parliament Conference 2013a.

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ferenz gemeinsam mit mehreren MEPs und AktivistInnen weiterer betroffener Mitgliedstaaten (Rumänien und Spanien) angesetzt. Eine deutlich höhere Besucherzahl konnte so verzeichnet werden.70 The Invisible March: Ein weitaus extremeres Szenario des Ignorierens des Antigold-Protests trug sich in Griechenlands zweitgrößter Stadt Thessaloniki im Herbst 2012 zu: Obwohl es sich um die bis zu diesem Zeitpunkt größte AntigoldProtestaktion handelte, berichtete kein griechisches Massenmedium über die Demonstration mit rund 10.000 Beteiligten, wie Alternativmedien festhalten71 und mit den gewonnen Daten belegt werden konnte. In einem friedlichen Protestzug zogen tausende MinengegnerInnen aus den nordgriechischen Gebieten, in denen Minenprojekte in Planung oder bereits in Betrieb sind, durch die Straßen der Stadt zum Konsulat des Landes, aus dem das Förderungsunternehmen stammt. Ziel war die Übergabe eines verfassten Briefs an den Konsul.72 Der Brief schilderte die erwarteten Konsequenzen der Mine und den breiten Widerstand der anwohnenden Bevölkerung und beinhaltete die Bitte um das Einlenken des Konsuls. Das Konsulat wurde von zahlreichen polizeilichen Einsatzkräften bewacht. Obwohl mehrere Personen das Konsulat besuchen wollten, wurde nur einigen AktivistInnen Zutritt gewährt, um dem Konsul den Brief zu übergeben. Da dieser nicht erschien, wurde der Brief an die Tür des Konsulats geheftet. Am gleichen Tag fanden Solidaritätsaktionen in der Hauptstadt Athen statt, bei denen Protestierende Plakate mit der Aufschrift »[Mining company F] go home« aufstellten und Hölzer mit dem Banner »the remains of a forest« vor den Hauptquartieren des Unternehmens platzierten.73 AktivistInnen gaben der Demonstration im Anschluss den Namen »The Invisible March« 74, der unsichtbare Marsch, »because it was not covered by any of the mainstream media«75, kritisiert die Journalistin Maria Kadoglu. Kadoglus Artikel wurde von zahlreichen Online-Alternativmedien, Blogs und Webseiten von Organisationen und sozialen Bewegungen aufgenommen und distribuiert.76 Auch Gkiougki spricht in ihrem Artikel über die Demonstration, die von Massenmedien völlig

70 European Parliament Conference 2013a/2013b. 71 Gkiougki 2012. Kadoglu, Maria (2012): »Greece: The ›Invisible March‹ against Gold Mining«. Hellenic Mining Watch – Resistance to destructive mining in Greece. 27.11.2012 72 Ebenda. 73 Kadoglu 2012. 74 Ebenda. 75 Ebd. 76 http://londonminingnetwork.org/2012/11/greece-the-invisible-march-against-gold-mining/ und http://antigoldgreece.wordpress.com/2012/11/27/invisiblemarch-mediacoop/

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ignoriert wurde.77 Neben dem Invisible March wurden weitere Protestmärsche verschwiegen, wie ein führender Aktivist festhält: »[N]ewspapers controlled by the [A] family failed to report large demonstrations opposing the mine.«78 Das Ignorieren von Demonstrationen den medialen Prozess der »Bottom-UpInformation« eben nicht in Gang, wodurch das Einsetzen des an die politisch Verantwortlichen gerichteten Kommunikationsprozesses und deren Anschlusskommunikation verhindert wird. Die Input-Schwelle in die Black Box politischer Deliberation wird vom Protestkollektiv nicht erreicht, es stellt selbst Aufmerksamkeit über soziale (Online-)Netzwerke her, was sich in einer zunehmenden Zahl sich solidarisierender Frauen und Männer manifestiert. Dennoch nehmen die Medien die Mittlerfunktion nicht ein und verhindern somit die Kommunikation mit den und die resultierende Responsivität(spflicht) der beiden von Imhof definierten Öffentlichkeiten: der politisch und der ökonomisch Verantwortlichen (Unternehmen),79 die eine essentielle Funktion im Entscheidungsprozess einnehmen. Andere Öffentlichkeiten wie Wissenschaft, Religion und Zivilgesellschaft konnten durch das Protestkollektiv selbst erreicht werden, sie können allerdings als informierte solidarisierte Akteure der Öffentlichkeit aber (noch) zu wenig Druck ausüben, um Responsivität zu fordern, wie das Fallbeispiel zeigt. Durch die teilweise Ausschaltung der medialen Kontrolle wird der Politik und Ökonomie ermöglicht, abgelöst und autark zu agieren. Der griechische Anteil des Förderunternehmens gehört einem griechischen Medientycoon, der sich in seiner Doppelrolle als Medien- und Minenshareholder in einem Dilemma zwischen demokratischem (differenzierte Berichterstattung) und eigennützigem Handeln (Ignorieren oder Diffamieren der Proteste) wiederfindet.

6. D ATENERHEBUNG 6.1 TeilnehmerInnen der Studie An der Befragung nahmen 755 Personen (=N1/Grundmenge 1) teil, von denen 389 den Fragebogen bis zur letzten Frage ausfüllten. Bei den Datenberechnungen wurden – sofern nicht anders angegeben – die Daten auf jene Personenanzahl bezogen, die die jeweilige Frage beantworteten (=N). Inhaltlich ermöglichen das die ersten Fragen, die Personencharakterisierung vornehmen, und somit bei Erreichung der weiteren Fragen die notwendigen grundlegenden Charakterisierungsmerkmale be-

77 Gkiougki 2012. 78 Grey/Kyriakidou 2012. 79 Imhof 2008.

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reits abgedeckt sind. Der Fragebogen wurde online über relevante Foren, Blogs, Twitter und Facebook in englischer Sprache distribuiert. Eingangs wurde als einzige Teilnahmeeinschränkung angegeben, den Fragebogen nur auszufüllen, wenn die Interessierten selbst aus Griechenland sind, die griechische Berichterstattung verfolgen und/oder über die AntiMinen-Proteste informiert sind. Der Fragebogen gliedert sich in drei Teile: Der erste Teil des Fragebogens erhebt, ob und in welchem Maße die Berichterstattung über die Minen und die Proteste stattfindet. Außerdem wird einführend die Charakterisierung der StudienteilnehmerInnen betreffend die Herkunft, die Haltung zu den Protesten und das Lese- und Informationsgewinnungsverhalten vorgenommen. Im zweiten Drittel werden die Gestaltung der Berichterstattung sowie mediale Abweichungen von der perzipierten (eigenen) Realität der Befragten erhoben. Der dritte Teil ist zum Großteil qualitativer Natur und bietet mit offenen Fragen Raum, um eine möglicherweise bestehende Divergenz zwischen der von der Berichterstattung erzeugten Realität und dem eigenem Selbsterleben bzw. der eigenen anderweitigen Recherche zu beschreiben. Ein Teil der Fragen nach persönlichen Daten (Wohnort, Alter) wurden an das Ende des Fragebogens gereiht, um nicht Gefahr zu laufen, mit Fragen, die möglicherweise Rückschlüsse auf konkrete Personen zulassen könnten, Skepsis aufgrund einer potenziellen Datensammlung bzw. einen vorzeitigen Fragebogen-Abbruch hervorzurufen. Die Fragen beziehen sich teilweise auf das sensible Thema des eigenen Protests und Widerstands, sie könnten als Gutheißen von Protestaktionen interpretiert werden und somit Angst vor Kriminalisierung bei nicht gewährter Anonymität hervorrufen. Um dem entgegenzuwirken wurde zudem die Möglichkeit eingeräumt, einzelne Fragen unbeantwortet zu lassen. 6.1.1 Herkunft und Alter 96 Prozent aller befragten Personen geben Griechenland als Wohnort an, ein Viertel spezifiziert die Herkunft und nennt die betroffene Region als Heimat. Der Rest sieht sich einem anderen europäischen Land zugehörig. Die geographische Herkunft gibt Auskunft über eine mögliche persönliche Betroffenheit vom Ausbau der Förderung, aufgrund der potenziellen Einwirkungen der Minenarbeiten auf ökologische, ökonomische u.a. persönliche Lebensbereiche kann mit der geographischen Einordnung ein vergrößertes Interesse für die Thematik angenommen werden. Die teilnehmenden Personen sind zwischen 19 und 67 Jahre alt. Den Hauptanteil der Befragten bildet die Gruppe der 30- bis 39-Jährigen mit mehr als 40 Prozent (40,69%). Etwa ein Drittel ist weniger als dreißig Jahre alt (28,37%). Etwas mehr als ein Fünftel sind zwischen vierzig und 49 Jahre alt (20,63%). Weitere zehn Prozent sind fünfzig Jahre oder älter (10,32%). Den Befragten stand es frei, ihr Alter anzugeben; 349 Personen verrieten es.

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Bei all jenen Personen, die den Fragebogen bis zur letzten Seite ausgefüllt und Wohnort und Alter angegeben haben, handelt es sich also zusammenfassend mehrheitlich um griechische StaatsbürgerInnen, die zwischen 19 und 49 Jahre alt sind. 6.1.2 Verhältnis zu den Protesten Unter der Möglichkeit zur Mehrfachnennung wurde bei dieser Charakterisierungsfrage das Verhältnis der Befragten zu den Antigold-Protesten ermittelt, um die Evaluations-Perspektive einzugrenzen. BloggerInnen und AktivistInnen pflegen häufig ein besonderes Naheverhältnis zu den Protesten, da sie zum Teil selbst am Protest beteiligt sind und verfügen so über einen größeren Einblick in die Protestvorgänge. 70 Personen gaben sich als »BloggerInnen« aus, 175 bezeichnen sich selbst als »AktivistInnen«. Dreißig Personen sind im »Journalistmus« tätig, ihnen kann ihres Berufes wegen ein aufmerksamerer Blick für die Medienberichterstattung unterstellt werden. Alle drei Gruppen sind tendenziell aufmerksamer im Beobachten als passive Beobachtende – sie bilden insgesamt eine Gruppe von 275 Personen. Als Kollektiv zusammengefasst bilden die drei knapp die zweitgrößte Gruppe. Die größte Gruppe, nämlich 292 Personen, stellen die »Unabhängigen Beobachtenden« der Antigold-Protestberichterstattung dar. Weitere 148 Personen hatten »von FreundInnen« von den Protesten erfahren, von ihnen kann angenommen werden, dass sie nicht direkt von den Auswirkungen der Förderung betroffen sind und wahrscheinlich selbst nicht aktiv in die Proteste involviert sind. Eine kleine Gruppe von 18 Personen hat vor der Teilnahme an der Befragung noch nie von den Protesten gehört. Die realitätsgetreue Ermittlung des Verhältnisses von Einzelpersonen zu den Protesten gestaltet sich schwierig, denn die Selbstbezeichnung als »activist« kann die Angst vor möglichen Implikationen von kriminellen Taten mit sich bringen. Zwar wurde der Fragebogen völlig anonymisiert und die Daten lassen keinen Rückschluss auf teilnehmende Personen zu – die Sorge wäre also unbegründet; dennoch enthebt dies die TeilnehmerInnen nicht von ihrem gerechtfertigten Misstrauen gegenüber Datenüberwachung. Nicht zuletzt darauf ist die große Anzahl der Gruppe der Unabhängigen Beobachtenden zurückzuführen. Das »monitoring« verrät keine aktivistische Tätigkeit und signalisiert Distanz, die dennoch die Kenntnis der Sachlage miteinschließt. Vor diesem Hintergrund ist allerdings die hohe Anzahl an Personen (175), die sich selbst als activists bezeichnen, bemerkenswert. 6.1.3 Einstellung zu den Protesten Mehr als 90% der Befragten sind der Meinung, dass die Proteste ganz (86%) bzw. zum Teil (6%) gerechtfertigt sind. Ein beachtlicher Großteil der GriechInnen findet die Proteste gegen die Mine legitim und notwendig. Diese letzte Frage des ersten Drittels des Fragebogens schließt an Fragen zur allgemeinen Lesegewohnheit und zum Informationsgewinn zu Minen und Protesten

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sowie an einführende Fragen über die Berichterstattung über Minen und Proteste an. Die Befragten haben sich also bis zur siebten Frage mit dem Thema auseinandergesetzt und sich an die Berichterstattung und die Proteste erinnert, bis sie entscheiden, ob sie die Proteste legitmieren. 482 Personen (=N) beantworteten die Frage, 48 ließen die Frage unbeantwortet, der Rest von N1 hatte den Fragebogen abgebrochen. Abbildung 2: Rechtfertigung der Proteste

Do you think the protests are justified? 5%

1%

2% 6%

Yes Yes, partly No, only critique, but not protests No I don't know 86%

Trotz äußerst hoher Protestlegitimierung und -unterstützung liefert eine gruppenspezifische Auswertung insbesondere bei den JournalistInnen interessante Ergebnisse. Ein Vergleich der JournalistInnen mit der größten Gruppe, den Unabhängigen Beobachtenden, zeigt: Vier Fünftel der JournalistInnen finden die Proteste teils oder ganz gerechtfertigt. Von ihnen gaben 14 an, dass sie die Proteste gänzlich gerechtfertigt sehen – das sind 70 Prozent aller JournalistInnen. Zehn Prozent (zwei Personen) finden Kritik zwar angebracht, Proteste aber nicht. EinE JournalistIn findet die Proteste nicht gerechtfertigt. Eine Person beantwortete die Frage nicht. Von den ursprünglich 29 JournalistInnen waren bei der siebten Frage noch zwanzig anwesend. Der Großteil der Unabhängigen Beobachtenden (87,3%) findet die Proteste eindeutig gerechtfertigt. Fünf Prozent sind der Meinung, nur Kritik aber kein Protest dürfe stattfinden, sechs lehnen den Protest völlig ab und finden ihn nicht gerechtfertigt. Eine Person beantwortete die Frage nicht. (N=229)

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Deutlich zeigen sich ähnliche Tendenzen bei JournalistInnen und Unabhängigen Beobachtenden, wenn auch die Gruppe der JournalistInnen etwas gemäßigter in ihren Beurteilungen ist. So sind 70% der JournalistInnen der Meinung, die Proteste seien auf jeden Fall gerechtfertigt, bei der Vergleichsgruppe sind es knapp 90%. Abbildung 3: Vergleich von JournalistInnen und Unabhängigen Beobachtenden: Sind die Antigold-Proteste gerechtfertigt? 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0

independent ly monitoring protests journalists

yes

yes no, only partly critique but not protests

no

don't know

other

6.1.4 Informationsverhalten und Lesegewohnheiten Im Allgemeinen informieren sich die Befragten hauptsächlich über Soziale und Alternativmedien. Twitter, Facebook und andere Social Media stellen für 455 Personen eine besonders wichtige Informationsquelle dar. Alternative Plattformen wie unabhängige Blogs, Indymedia und ähnliches sind unter Mehrfachnennung für 415 Personen wichtiges Informationsmedium. An dritter Stelle werden Onlinemedien genannt, wie Abbildung 4 veranschaulicht. Die Befragten vertrauen den europäischen und internationalen Medien noch vor den griechischen Mainstreammedien. Diese »common most read Greek newspapers and TV-stations on national or local level« bilden die unbeliebteste Quelle zur Informationsgewinnung. Neben dem allgemeinen wurde das konkrete Informationsverhalten in Bezug auf die Antigold-Proteste erhoben. Hier sticht noch intensiver die Bedeutung von Alternativmedien und Sozialen Medien ins Auge, welche beide weitaus mehr als andere Medien zur Information herangezogen werden. Wie in Abbildung 4 veranschaulicht, generieren 457 bzw. 451 Personen ihr Wissen über Alternative und Soziale Medien.

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Abbildung 4: Allgemeines Lese- und Informationsverhalten

In general I inform myself via... 500 450 400 350 300 250 200 150 100 50 0

Darstellung in absoluten Zahlen mit Möglichkeit der Mehrfachnennung.

Der Vergleich der allgemeinen und der konkreten Informationsgewinnung (Abbildung 6) zeigt eindeutig parallele Graphen, allerdings mit bemerkenswert extremeren Ausprägungen bei der Informationsgewinnung über die Antigold-Proteste. Alle Medien fahren Verluste ein – zugunsten der selbst-erstellten Informationsportale auf Blogs, Twitter, Facebook und andere Soziale Medien und Plattformen. Das wichtigste Medium zur Information über die Antigold-Proteste sind alternative Plattformen, die, wie eine Sichtung zeigt, von den AktivistInnen zu einem hohen Grad professionalisiert worden sind wurden. Dabei sind vorrangig die eigenen Seiten von Protestgruppen und deren Auftritte in Sozialen Medien zu nennen. Sie stellen mehrsprachig Information zu aktuellen Entwicklungen, politischen Beschlüssen, wissenschaftliche Analysen und Veranstaltungen bereit. Dazu findet sich Hintergrundmaterial zu den Minenorten und ein ausführlicher Medienspiegel mit Berichten aus mehreren Nationen und Sprachen. Soziale Medien stellen durch ihre Vernetzungsfunktion das automatische Zuspielen von neuer Information an Einzelpersonen sicher.

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Abbildung 5: Das Informationsverhalten im Hinblick auf die Antigold-Proteste

Concerning the Antigold protests I get information via... 500 450 400 350 300 250 200 150 100 50 0

Darstellung in absoluten Zahlen mit Möglichkeit der Mehrfachnennung.

Deutliche Verlierer bei der Informationsgewinnung sind drei Gruppen: europäische und internationale Medien, griechische Online-Medien und griechische TV- und Print-Mainstreammedien. Das Vertrauen ist im intermedialen Vergleich der allgemeinen Lesegewohnheiten zu Alternativmedien mehr als zweieinhalbmal so hoch als das Vertrauen zu griechischen Mainstreammedien. Bei der konkreten Informationsgewinnung über die Antigold-Proteste informieren sich 91 Personen weniger über internationale Medien. 53 Personen weniger vertrauen den griechischen Online-Medien und 49 weniger den Mainstreammedien. Der Abstand zwischen Mainstreammedien und alternativen Plattformen vergrößert sich fast um das Doppelte, 4,2-mal höher ist das Vertrauen in alternative Plattformen.

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Persons

Abbildung 6: Vergleich der allgemeinen Informations- und der konkreten ProtestInformationsgewinnung 500 450 400 350 300 250 200 150 100 50 0

General Reading Behavior Anti-Gold Protests Informatio n behavior

Information Behavior

6.2 Kenntnisnahme der Proteste 6.2.1 Form Bemerkenswert sind die Antworten auf die Frage How did you find out about the Antigold protests? Alternativmedien, Blogs und Sozialen Medien liegen mit weitem Vorsprung (407 Nennungen) an erster Stelle, sie erreichen mehr als doppelt so viele Nennungen wie das zweitplatzierte »friends« (191 Personen). Die Face-to-Faceund Peer-to-Peer-Kommunikation über Soziale Netzwerke und Blogs zeigen sich also um ein Vielfaches wirksamer als die massenmediale Distribution. Dazu gesellen sich 172 Personen, die in der Region wohnen, und 82, die von den Auswirkungen der Minen direkt betroffen sind. Die gewöhnlichen Mainstreammedien werden am seltensten als primäre Informationsquelle. Knappe zehn Prozent, das sind 102 von insgesamt 984 Nennungen fielen auf die traditionellen griechischen Medien, und das unter Möglichkeit von Mehrfachnennungen. Im Umkehrschluss bedeutet das: Die Befragten sehen die griechischen Mainstreammedien nicht als zuverlässige Informationsquelle, wenn es um die Berichterstattung über die Antigold-Proteste geht. 6.2.2 Zeitpunkt Der Vergleich der ersten Kenntnisnahme von (konkreten) dem Minenprojekt in Nordgriechenland, (2) weiteren Minen in Griechenland und (3) den Protesten, die gegen diese Minen Widerstand leisten, zeigt: Die meisten Befragten wissen seit

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schon seit langem über das konkrete nordgriechische Minenprojekt Bescheid – nicht aber über die opponierenden Proteste. Die meisten erfuhren vor ein bis fünf Jahren (134 Personen) bzw. noch früher (115 P.) von dem Minenprojekt. Zeitlich anknüpfend an die Kenntnis des Minenprojekts steigt auch das Bewusstsein über bzw. das Interesse für die Proteste: Vor allem in der kürzeren Vergangenheit bzw. in den letzten fünf Jahren wuchs das Bewusstsein über die Antigold-Protest (113/107 P.). Das Wissen über die Minen nahm in den letzten Jahren stetig zu, die Kenntnis über die Proteste vor allem in der jüngeren Vergangenheit. Zwei Gründe sind wahrscheinlich: (1) Medien berichten zwar schon seit mehr als fünf Jahren über das Minenprojekt, haben dabei allerdings den Widerstand, wie von AktivistInnen und Befragten angegeben, lange ausgespart. (2) Die vorliegenden und literaturbasierten Daten zeigen ein bemerkenswertes Anwachsen der Nutzung alternativer Onlineportale und Sozialer Medien, das dem Protestkollektiv in den vergangen Jahren in die Hände gespielt hat. Die Gruppe der Menschen, die mit Information über die Probleme des Minenbaus und über den Widerstand gespeist werden sollte, konnte einfacher erreicht und vergrößert werden. Abbildung 7: Vergleich des Zeitpunkts der ersten Kenntnisnahme des konkreten Projekts, der Proteste und der anderen Minen in Griechenland 160 the gold mining project in Halkidiki

140 120 100 80

the anti-gold protests in Halkidiki and Greece

60 40 20 0 in the last in the last in the last 1 to 5 more month half year year years ago than 5 years ago

other gold mines in Greece

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6.3 Intensivierung der Berichterstattung 6.3.1 Allgemeine Minenberichterstattung Mit fortschreitenden Bauarbeiten, der Rodung von Waldstücken und der Installation von Minen-Infrastruktur gewinnt auch der Protest an Relevanz. Die Befragten sollten daher anhand einer fünfstufigen Bewertungsskala beurteilen, ob die Berichterstattung über das konkrete nordgriechische Minenprojekt zugenommen hat. Mehr als die Hälfte ist sich einig (56,9%), dass die Berichterstattung »gar nicht« oder »nahezu nicht intensiviert« wurde. Ein Drittel (36,2) sagt, die Berichterstattung habe sich überhaupt nicht intensiviert. Demgegenüber steht rund ein Zehntel (11,0%), das eine starke Intensivierung, und ein weiteres Zehntel, das eher eine starke Intensivierung wahrgenommen hat (12,8%). 74 Personen ließen die Frage unbeantwortet. In einer Konkretisierung der Frage wurde ermittelt, wie die Berichterstattung über die Proteste gestaltet wurde. Ein Vergleich80 (1) der Berichterstattung über die Minen im Allgemeinen mit (2) der minenunterstützenden Berichterstattung und (3) der Negativberichterstattung über die Minen in den letzten Monaten wurde angestellt und in Abbildung 8 veranschaulicht. Mit einer deutlich ähnlichen Tendenz stechen zwei der drei verglichenen Variablen in Auge: Weder die allgemeine Berichterstattung über die Minen (»mines in general«) noch die Negativberichterstattung über die Minen (»anti-mining news«) intensivierte sich in den letzten Monaten. Eine leichte, aber dennoch bemerkenswert extremere Ausprägung ist bei der Intensivierung der Negativberichterstattung festzuhalten. Tendenziell nahmen die unterstützenden, positiven Berichte über die Minen zu: Etwas mehr als 20% gaben zwar an, die minenunterstützende Berichterstattung intensivierte sich überhaupt nicht, allerdings meinen beinahe 25%, die Minenunterstützung der Medien nahm eher zu. Weitere 26% gaben an, die minenunterstützende Berichterstattung intensivierte sich sehr. Bei Betrachtung der jeweiligen zwei Pole zeigt sich eine deutliche Tendenz: 43,1% geben an, dass sich die minenunterstützende Berichte sehr bzw. eher häuften, hingegen gaben nur 33,6% an, dass diese Berichte sehr bzw. eher abnahmen. Die negative Berichterstattung über die Minen hat dagegen »überhaupt nicht« bzw. »nahezu nicht« zugenommen, so der Großteil der Befragten (64,7%). Weit mehr als ein Drittel (37,5%) sind der Ansicht, dass die kritisch-negative Berichterstattung

80 Der Vergleich wurde mittels einer anteilsmäßigen Berechnung (prozentuale Werte, auf eine Kommastelle gerundet) angestellt. Die erste Frage zu der generellen Intensivierung der Berichterstattung beantworteten 290, die zweite 309 und die dritte 304 Personen.

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Abbildung 8: Intensivierung der Positiv-, Negativ- und allgemeinen Berichterstattung über die Minen im Vergleich (in Prozent) 40 35 30 gold mines in general anti-mining news pro-mining news

25 20 15 10 5 0 intensified not at all

intensified a lot

über die Minen überhaupt nicht zugenommen hat. Ein knappes Zehntel gibt an, die negativen Berichte über die Minen seien häufiger geworden. Zusammenfassend ist im Vordergrund der Ausgangsfrage die stagnierende bzw. nicht oder kaum zunehmende Berichterstattung über die Minen im Allgemeinen festzuhalten. Das trifft auch auf die minenunterstützende Berichterstattung zu – sie wurde ebenso nicht häufiger. Wenn aber über Minen berichtet wurde, dann nicht negativ und kritisch, sondern positiv und minenunterstützend. 6.3.2 Protestberichterstattung Auch die Berichterstattung über die Proteste hat sich in den Mainstreammedien nicht intensiviert, wie ein großer Teil der Befragten angibt. Zwei von fünf Personen sagen, die Berichte haben nicht (17,5%) oder kaum (23,5%) zugenommen. Ein Viertel (27,9%) ist der Ansicht, die Berichterstattung über Proteste sei gleich geblieben. Dass sich die Zahl der Berichte über die Proteste ein wenig erhöhte, gaben 30,7% der Befragten an. Nur etwa jedeR Zehnte (13,6%) kann dagegen eine sehr starke Intensivierung der Protestberichterstattung erkennen. Zur Erhebung der Form der Protestberichterstattung und von möglichen häufigen Formen wurde die Frage nach (1) der allgemeinen Berichterstattung spezifiert und nach (2) der intensivierten positiven und (3) der intensivierten negativen Protestberichterstattung gefragt. Im Hinblick auf ihre Varianz sollten die Fragen auf einer fünfteiligen Skala beantwortet werden. Die Auswertung erfolgte in Prozent (N=280/281/270).

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Abbildung 9: Intensivierung der Positiv-, Negativ- und allgemeinen Berichterstattung über den Protest im Vergleich (in Prozent) 45 40 news about protest in general

35 30

negativ news about protest

25 20

positive news about protest

15 10 5 0 intensified not at all

intensified a lot

Der Vergleich der positiven und die negativen Protestberichterstattung zeigt deutlich zwei konträr verlaufende Tendenzen, wie in Abbildung 9 vergleichend dargestellt wird: Die Negativberichterstattung hat sehr stark zugenommen, die Positivberichterstattung überhaupt nicht. Die beiden Extrempole verzeichnen jeweils sehr hohe Zustimmung: 35,6% sehen eine klare Intensivierung der negativen Schlagzeilen über die Proteste, 38,1% erkennen überhaupt keine Zunahme der positiven Berichte. Die beiden Graphen bestätigen sich gegenseitig; die Zunahme der negativen Protestberichte kann innerhalb eines gleichbleibenden Samples nicht zugleich die Zunahme der positiven bedeuten. Die starke negative Berichterstattung kann als Hinweis gebend für das Protestparadigma gewertet werden. Der erste Graph gibt den Datensatz der generellen Berichterstattung über die Proteste wieder. Wie bereits oben ausgeführt, ist ein beträchtlicher Teil der Befragten der Meinung, dass die Berichterstattung gleich blieb, wenn auch zehn Prozent mehr der Meinung sind, die Berichterstattung habe sich in den vergangen Monaten (eher/gar) nicht intensiviert. Zusammenfassend ist festzuhalten: Die Protestberichterstattung hat sich eher nicht intensiviert. Die gilt für die positive und negative Berichterstattung über die Antigold-Proteste. Wird allerdings über die Proteste berichtet, so werden die Proteste mit hoher Wahrscheinlichkeit negativ dargestellt.

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6.4 Mediale Repräsentation der Konfliktakteure Zur Erhebung der Gestaltung der Protestberichterstattung wurde in einzelnen Fragen die mediale Darstellung der Konfliktakteure untersucht, dazu zählen: (a) das Minenprojekt befürwortende und unterstützende PolitikerInnen, (b) das Minenprojekt ablehnende PolitikerInnen, (c) die EinwohnerInnen der betroffenen Region, (d) die Verantwortlichen für die Minen und (e) die Polizei. In einem ersten Untersuchungsschritt wurde zur Disposition gestellt, ob die angeführten Konfliktakteure überhaupt erwähnt wurden. Dies lässt zweitens einen Vergleich der verschiedenen Konfliktakteure zu. In einem weiteren Schritt wurde im Hinblick auf die Untersuchungsdimensionen auf die Darstellung der ProtestaktivistInnen geachtet. 6.4.1 Minenunterstützende PolitikerInnen Bei der Untersuchung der medialen Darstellung der politischen Akteure wurde vorab zur Präzision in der Erfassung der Strukturen der Berichterstattung eine Unterscheidung zwischen (a) das Minenprojekt befürwortenden und (b) das Minenprojekt ablehnenden PolitikerInnen getroffen. Die Einstellung der minenbefürwortenden PolitikerInnen zu den Protesten wurde in den Medien explizit erklärt, 176 von gesamt 404 Personen (=N) sagen, sie sei medial äußerst detailreich erklärt worden. 104 weitere Personen stimmen dem mit Hinweis auf Einschränkungen in der Detailgenauigkeit der medialen Darstellung ebenso zu. Die Mehrheit der Befragten, nämlich 280 Männer und Frauen, gibt an, über die befürwortenden PolitikerInnen des Minenprojekts sei zumindest oberflächlich berichtet worden. Zehn Prozent (40 Personen) sind der Meinung, dass Medien nur sehr ungenau wiedergeben, wie Pro-Minenprojekt-PolitikerInnen die Proteste beurteilen. Eine Minderheit von etwas mehr als einem Zehntel (13,6%) sagt entschieden, griechische Massenmedien würden die Ansicht der minenunterstützenden PolitikerInnen nicht wiedergeben.

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Abbildung 10: Mediale Repräsentation der Einstellung der minenbefürwortenden PolitikerInnen (in absoluten Zahlen)

number

Do you know from mainstream Greek media how PRO-MINE POLITICIANS see the Antigold protests? 200 180 160 140 120 100 80 60 40 20 0

evaluation

No, commo No, they n Greek Yes, just media they Yes, but rudime No, they docume not ntarily did not did not I cannot nted mention present present present answer ing all their their ed how their this views, views in clarifyin politicia views but I great g details ns see read it detail the in other protests altern… 176

104

40

19

36

29

6.4.2 Minenkritische PolitikerInnen Ein Fünftel aller Befragten (20,3%) gibt an, (N=414) die PolitikerInnen, die das Minenprojekt ablehnen, würden detailgenau oder zumindest oberflächlich dargestellt. Ein knappes weiteres Fünftel spricht von »nur rudimentären« medialen Darstellungen der Einstellungen jener PolitikerInnen, die die Minen ebenso wie die AktivistInnen ablehnen. Die Mehrheit (51,9%) ist eindeutig der Ansicht, dass die Minengegnerschaft in der politischen Elite nicht dargestellt werden. 86% der Befragten informieren sich daher über alternative Portale und Soziale Medien. Bemerkenswert ist die Umkehrung jener Tendenz, die sich bei den minenbefürwortenden PolitikerInnen abzeichnet, bei den minenablehnenden PolitikerInnen (Abb. 11): Die minenunterstützenden PolitikerInnen werden viel wahrscheinlicher detailgenau präsentiert, während die Sichtweise der minengegnerischen PolitikerInnen nicht bzw. kaum dargestellt wurde.

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Abbildung 11: Repräsentation der minenbefürwortenden und der minenkritischen PolitikerInnen im Vergleich (in Prozent)

Presentation of politicians 60 50 40 30 20 10

Views of pro-mine politicians Views of anti-mine politicians

0

6.4.3 Regionale EinwohnerInnen Eine ungleiche Verteilung weisen die Daten über die Darstellung der BewohnerInnen der Region auf. 6,9 Prozent der Befragten gaben an, dass die regionalen BewohnerInnen ausreichend medial präsentiert wurden (N=375). Demgegenüber steht nahezu die Hälfte aller teilnehmenden Personen (45,6%), die deutlich auf das Ignorieren der Einstellungen der regionalen Bevölkerung durch die Mainstreammedien hinweist. 138 dieser 171 Personen geben zudem (unter Nutzung der Möglichkeit der Mehrfachnennung) an, sich aus diesem Grund anderweitig zu informieren. 31 Personen gaben an, diese Frage nicht beantworten zu können. Eine Gegenüberstellung der medialen Gestaltung der beiden Konfliktakteuren (a) regionale BewohnerInnen und (b) minenunterstützende PolitikerInnen zeigt besonders ungleiche, geradezu konträre Tendenzen, wie in Abbildung 12 ersichtlich. Die Gegenüberstellung ergibt zwei sich gegensätzlich verhaltende Kurven: Die PolitikerInnen werden, wie nahezu 40% der Befragten angeben, sehr häufig zitiert. Die Einheimischen hingegen werden fast nicht dargestellt, so mehr als 45% der Befragten. Die Frage nach der Möglichkeit zur Partizipation von verschiedenen Akteuren in der Öffentlichkeit drängt sich hier auf.

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Abbildung 12: Repräsentation der minenunterstützenden PolitikerInnen und der BewohnerInnen der Region im Vergleich

Prozent

Presentation in news of pro-mine politicians and inhabitants 50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0

Pro-mine Politicians Inhabitant s

1

2

3

4

Häufigkeit (1=sehr häufig, 4=nie)

Vor allem drei Beobachtungen sind bemerkenswert: Mehr als drei Viertel aller Befragten geben an, die Sichtweisen der BewohnerInnen seien nicht oder nur rudimentär präsentiert worden. Weniger als zehn Prozent (8,8%/33 Personen) weisen auf eine zumindest rudimentäre Berichterstattung über die Haltung der BewohnerInnen hin. Es werde zweitens allerdings auffällig oft über »pro-mine inhabitants«, also über minenunterstützende BewohnerInnen berichtet, so 12,8% der Befragten (eine Beobachtung, die auch in den qualitativen Fragen auffallend oft angeführt wird). Spannende Ergebnisse liefert drittens die Gegenüberstellung der regionalen BewohnerInnen und der minenunterstützenden PolitikerInnen, die sich geradezu konträr zueinander verhalten und es scheint, je häufiger minenunterstützende PolitikerInnen dargestellt werden, desto seltener werden BewohnerInnen gezeigt. 6.4.4 Ökonomische Verantwortliche Zur Erhebung, ob die Ansichten und Einstellungen der ökonomischen MinenVerantwortlichen zu den Protestaktionen medial abgebildet werden, sollte auf einer fünfteiligen Skala evaluiert werden. Ein knappes Viertel führt eindeutig an, die Ansichten würden nicht abgebildet werden, viele von ihnen sehen sich daher veranlasst, andere Medien heranzuziehen (23,3% [9,9%/13,4%]). Gegenüber steht eine weitaus größere Gruppe, nämlich mehr als die Hälfte der Befragten (53,7%), die angibt, die Ansichten der Minen-Verantwortlichen zu den Protesten würden jedenfalls dargestellt werden. Ein Drittel aller 424 Antworten (=N) ist sogar der Mei-

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nung, die Ansichten werden detailgenau geschildert (32,9%), ein weiteres Fünftel bestätigt, dies sei zumindest oberflächlich der Fall (20,9%). Etwas mehr als ein Zehntel (12,3%) tendiert eher zu einem Nein, schränkt aber ein, dass zumindest rudimentär über die Haltung der Minen-Verantwortlichen berichtet wurde. 6.4.5 Polizei Besonders zwei Hauptfunktionen haben die Aktionen der Polizei nach den griechischen Mainstreammedien: Die PolizistInnen »führen« zuvorderst »das Griechische Gesetz durch und verteidigen die Staatsintegrität« (43,5%) und zweitens »verteidigen und schützen [sie] die Minen« (37,2%). Eine weitere, im Vergleich aber kleine Gruppe ist der Auffassung, Mainstreammedien würden gar nicht über die Polizei berichten: 8% sagen, die Massenmedien hätten Ansichten der Polizei überhaupt nicht präsentiert (7,7%/29 Personen) und eine Person klickte, sie hätte nichts in den Medien über die Polizei gehört (0,3%). Vier Personen geben an, aus den Mainstreammedien zu entnehmen, die Polizei mache gar nichts. Acht Personen (2,1%) gaben an wahrzunehmen, die Polizei würde DemonstrantInnen verteidigen. Unter dem Wahlpunkt »other« konnten eigene, abweichende Bemerkungen angegeben werden. Zwölf Personen nutzten diese Möglichkeit, um ihre Angaben zu spezifizieren, sie konnten den Kategorien zugeordnet werden. 379 Personen gaben dazu Auskunft. 19 Personen gaben an, die Frage nicht beantworten zu können. 6.5 Framing der ProtestteilnehmerInnen Zur Erhebung des angewandten Framings für die Aktivistinnen und Demonstranten wurden die Befragten zunächst gebeten, 17 verschiedene Items nach der Häufigkeit in der Berichterstattung einzustufen. Bei den Items handelt es sich um Attribute bzw. mögliche auftretende Charaktermerkmale von ProtestteilnehmerInnen. Jedes Item ist mit einer fünfteiligen Skalierung von »not very often« über »sometimes« als Mittelwert bis zu »very often« versehen. Die möglichen Attribute und Charaktermerkmale entsprechen •



der Selbstbeschreibung der AktivistInnen mit den Items »scared for their health«, »economically concerned«, »workers (fishers, tourism workers) in area of gold-mines« und »concerned inhabitants of [region]« dem Protestparadigma erstens im Sinne einer Kriminalisierung mit den Items »criminals«, »troublemakers«, »violent«, »rebels, rioters« und zweitens im Sinne einer Diffamierung und der Absprache von Intelligenz mit den Items »economically irrational«, »ecological dreamers« und »groups with weird, irrational ideas«

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• •

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geben Hinweis auf nicht ernstzunehmende Personen bzw. Aktionen mit den Items »bored«, »jobless« und Charakterisierung aufgrund des Alters (»young«) oder bedienen sich einer politischen Klassifizierung erstens mit dem Hinweis auf Extremismus mit den Items »extremely left« oder »extremely right«, oder zweitens mit dem Hinweis auf eine andere politische Einstellung »persons that want a different ecological policy in [region]/Greece« und »concerned inhabitants«.

6.5.1 Der Selbstbeschreibung entsprechendes Framing »Die Protestierenden sind als FischerInnen, im Tourismus Beschäftigte und als ArbeiterInnen in der Umgebung der Minen um ihre eigene wirtschaftliche Zukunft besorgt. Außerdem sorgen sie sich als BewohnerInnen der Region um ihre eigene Gesundheit.« SELBSTBESCHREIBUNG DER PROTESTIERENDEN

So oder so ähnlich könnte eine (verkürzte) Selbstbeschreibung des Protestkollektivs lauten. Ein solches bzw. entsprechend ähnliches mediales Framing wäre als »erfolgreich« zu bezeichnen, denn der Erfolg definiert sich durch die Ähnlichkeit des medialen Framings mit jenem Framing, das sich die AktivistInnen selbst geben bzw. mit dem sie selbst wahrgenommen werden wollen. In Abbildung 13 werden vier Merkmale, die der Selbstschreibung der ProtestteilnehmerInnen entsprechen, im Hinblick auf die mediale Darstellung untersucht. Zur Vergleichbarkeit der Einzelwerte wurde das Diagramm anhand der prozentuellen Werte gezeichnet. Abbildung 13: Mediales Framing gemäß der Selbstbeschreibung in Prozent

Framing via self-description 35,0 30,0 25,0 20,0 15,0 10,0 5,0 0,0

scared for their health economically concerned workers in area of goldmines concerned inhabitants of Halkidiki

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Im Folgenden wird die Häufigkeit jener vier Items81 untersucht, die der Selbstbeschreibung der Protestierenden am ehesten entsprechen. Bei Betrachtung der vier Merkmale Beunruhigte aufgrund der eigenen Gesundheit, ökonomisch Besorgte, ArbeiterInnen und besorgte regionale BewohnerInnen zeigt sich ein Trend: • •



Eine Charakterisierung mit den genannten Attributen würde überhaupt nicht oder kaum in Medien aufscheinen, so etwa die Hälfte aller Befragten. Alle vier untersuchten Merkmale liegen am positiven Pol beinahe gleichauf. Am öftesten wurden die AktivistInnen mit jeweils etwas mehr als zehn Prozent mit ihrer Berufsbezeichnung attribuiert (»workers«, 15,3%) oder als »economically concerned« (13,3%) bezeichnet. Der Extremwert des Merkmals »scared for their health« sticht etwas heraus: Am wenigsten Menschen sagen, dieses Merkmal würde überhaupt nie in den Medien als Framing herangezogen (17,6%). Etwas höher als der Durchschnitt ist dafür der Anteil jener Personen, die angeben, diese Charakterisierung finde kaum Anwendung (29,4%). Gemeinsam betragen die beiden negativen Beurteilungen zwar fast 50% (47,0). Mit einem in Relation gesehenen besonders hohen Anteil an Personen, die sometimes als Beurteilung vergaben, ist das Merkmal »scared for their health« aber jenes Charakteristikum, das als adäquate Darstellung der Protestierenden gemäß ihrer Selbstdarstellung am häufigsten aufscheint.

Zusammenfassend ist hinsichtlich der Merkmale, die das collective action framing bzw. die Selbstdarstellung der Protestierenden am ehesten beschreiben, festzuhalten: Die Medien nehmen dieses Framing nicht bzw. kaum auf. Die Protestierenden werden weder häufig in ihrer Funktion als FischerInnen, im Tourismus Beschäftigte u.a. ArbeiterInnen in der Umgebung der Mine noch als ökonomisch Besorgte dargestellt. Auch werden sie nicht als besorgte regionale BewohnerInnen, also als direkt betroffene und daher beunruhigte AnrainerInnen gezeichnet. Am ehesten, aber auch nicht allzu häufig, werden die ProtestaktivistInnen als besorgt aufgrund der Gesundheit beschrieben.

81 In absoluten Zahlen beträgt die Gesamtsumme der Antworten (=N) bei der Einschätzung des Framings als (1) Beunruhigte aufgrund der eigenen Gesundheit 415 (N₁), als (2) ökonomisch Besorgte 442 (N₂), als (3) ArbeiterInnen 444 (N₃) und als (4) besorgte BewohnerInnen 442 (N₄). Die Fragen nicht beantwortet haben zwischen 67 und 80 Personen (72/67/83/80/79).

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6.5.2 Kriminalisierung Die Untersuchung von vier Merkmalen, die kriminelle Taten direkt aufzeigen (»criminals«), implizieren (»violent«, »rebels, rioters«) oder gemäßigter andeuten (»troublemakers«), zeigt ein spannendes Ergebnis, das in Abbildung 14 veranschaulicht wird: Am seltensten wurden die AktivistInnen direkt als Kriminelle bezeichnet. Zwar geben mehr als die Hälfte aller Befragten (52,0%) an, die Bezeichnung »kriminell« tauche sehr oft (30,9%) bzw. zumindest oft (21,1%) in den griechischen Mainstreammedien auf. Allerdings ist bei diesem Charakteristikum auch der höchste Anteil jener Personen zu finden, die sagen, dass dieses Merkmal nur manchmal (19,8%) synonym für die protestierenden Männer und Frauen verwendet wird. Und nicht ganz ein Drittel (28,2%) aller Befragten gibt an, die Beschreibung »kriminell« finde keine (15,6) oder nur selten (12,7%) Anwendung in medialen Berichten. Sehr häufig sind die Berichte hingegen gefüllt mit Charakterisierungen, die die Protestierenden als »gewalttätig», »Randalierer« oder »Störenfriede« beschreiben. Nahezu zwei Drittel der Befragten stimmten bei all diesen Begriffen dem Extremwert zu und bestätigen, diese Charakterisierungen werden »sehr oft« in den Medien verwendet (62%). Dicht gefolgt wird diese Darstellung von der Charakterisierung »rebels, rioters«, den Randalieren, mit einer ebenso hohen Häufigkeit von 60,5%. Mit 58,9% liegt auch der Extremwert der Charakterisierung »violent« gleichauf mit den beiden anderen. Bei der Einstufung der vier Merkmale, die kriminelle Taten direkt oder indirekt aufzeigen (criminals, troublemakers, violent bzw. rebels, rioters) nahmen jeweils 379, 404, 377 bzw. 377 Personen teil. Abbildung 14: Kriminalisierende Bezeichnungen für die Protestierenden (%)

Criminalising items 70,0 60,0 50,0 40,0 30,0 20,0 10,0 0,0

criminals troublemakers violent rebels, rioters

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Zusammenfassend ist festzuhalten: Der Begriff »criminals» wird eher häufig erwähnt, wie eine ansteigende Kurve bis zum Extremwert von mehr als 30% Zustimmung beweist. Allerdings wird die direkte Kriminalisierung über die Charakterisierung »kriminell« viel seltener bemüht, als die drei anderen Charakterisierungen, Kriminalität implizieren. Demonstranten und Aktivistinnen werden häufiger implizit als gewalttätig bzw. implizit als Kriminelle charakterisiert. Dazu tragen Begriffe wie Unruhestifter, Rebellen und Randalierer bei. Daraus lässt sich schließen, dass zwar eine Kriminalisierung der ProtestteilnehmerInnen in den Mainstreammedien stattfindet. Diese geschieht allerdings vornehmlich nicht direkt, sondern in Form einer impliziten, durch Konnotation und Framing herbeigeführten Kriminalisierung. Somit muss das kriminalisierende Framing jedenfalls festgehalten werden, auch wenn dies bemerkenswerterweise über ein mehr oder minder subtiles Vorgehen geschieht. 6.5.3 Diffamierung und Absprache von Intelligenz Die Vorannahme der Studienautorin, dass eine Parallelität zwischen den drei Merkmalen, die diffamierend und Intelligenz absprechend sind, nämlich (1) economically irrational, (2) ecological dreamers bzw. (3) groups with weird, irrational ideas, bestehen könnte, konnte nicht verifiziert werden. Die Entwicklung des Merkmals »ökologische TräumerInnen« verläuft nahezu konträr zu den »Gruppen mit seltsamen, irrationalen Ideen« und den »ökonomisch irrational Handelnden«, wie die Graphen in Abbildung 15 deutlich zeigen. Bei der Einstufung dreier Merkmale, nahmen 378, 379 bzw. 368 Personen teil. Abbildung 15: Herabsetzung der Intelligenz und Rationalität 35,0 30,0

economical ly irrational

25,0 20,0

ecological dreamers

15,0 10,0 5,0 0,0

groups with weird, irrational ideas

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Bemerkenswert ist, dass die AktivistInnen werden eher nicht negativ als Personen mit ökologischen Wunschträumen (ecological dreamers) gezeichnet werden. Zwar werden die ökologischen Vorstellungen erwähnt, wie rund 60% der Befragten angeben. Es zeigt sich aber, dass diese Bezeichnung nicht das primäre Argument zur Diffamierung der Protestierenden in den griechischen Mainstreammedien ist. Weit mehr als die Hälfte aller Befragten (57,7%) gibt hingegen an, die Protestierenden würden häufig oder sehr häufig als »economically irrational« charakterisiert. In absoluten Zahlen sind dieser Auffassung 218 (115 bzw. 103) Personen aller 378 Antwortenden. Gestützt wird die ökonomische Irrationalität mit der Bezeichnung als »groups with weird, irrational ideas«. Die Bezeichnung in Form eines Kollektivs, das seltsame und irrationale Ansichten vertritt, weist eine ähnliche Entwicklung wie das Merkmal »economically irrational« auf. Augenscheinlich wird hier, dass mit »weird« und vor allem »irrational« auf eine Herabsetzung der Intelligenz und Rationalität aufgrund ökonomischer Maßstäbe abgezielt wird. Zusammenfassend ist festzuhalten: Die ProtestteilnehmerInnen werden überraschenderweise nicht besonders häufig als ökologische WunschträumerInnen geframet. Das könnte bedeuten, dass sie in ihrer ökologischen Sorge von den Medien durchaus ernstgenommen werden – oder anders formuliert: Eine Diffamierung der AktivistInnen erfolgt nicht primär aufgrund der ökologischen Sorge. Die Abwertung der Protestierenden erfolgt stark über die Absprache von (1) Intelligenz und (2) ökonomischer Rationalität. Das Framing beinhaltet die Aussage, die AktivistInnen seinen irrational und seltsam, und zwar vornehmlich im Zusammenhang mit ökonomischen Maßstäben, die argumentativ schwerer wiegen als ökologische Werte. Die mangelnde Intelligenz im Allgemeinen und in wirtschaftlichen Belangen im Konkreten ist bildet Grundlage der persönlichen Diffamierung. Sie bildet Teil eines Framings, das stark auf das Protestparadigma hinweist. 6.5.4 Politische Einstellung und Extremismus Zur Erhebung der politischen Einstellung der Protestierenden wurden drei Items bereitgestellt: (1) extreme Rechte, (2) extreme Linke und (3) Personen, die eine alternative ökologische Politik in der Region/Griechenland fordern. Alle drei sollten von den Befragten auf einer fünfteiligen Skala evaluiert werden. Entgegen der Vorannahme, AktivistInnen würden medial generell als unpolitisch geframet werden, zeigt sich deutlich: Sie werden sehr häufig bzw. zumindest häufig als »extreme Linke« bezeichnet, wie zwei Drittel der Befragten angeben. Kaum aber werden die AktivistInnen als »extreme Rechte« bezeichnet, so drei Viertel aller 383 Befragten. Abbildung 16 zeigt einen Vergleich der beiden Frametypen.

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Ein Zusammenhang könnte zwischen der Betitelung als extreme Linke und dem oben erhobenen Merkmal ökonomisch irrational bestehen. Extreme Linke zeichnen sich tendenziell weniger dadurch aus, internationale Konzerne, wie das Protestzielobjekt, das nicht-europäische Förderunternehmen F, zu unterstützen. Die Bezeichnung »extreme Linke« kann von Personen mit anderen Wirtschaftsvorstellungen durchaus zur Diffamierung verwendet werden. Unter Betrachtung des Framings der politischen Einordnung wird auch die Häufigkeit jener Bezeichnung ermittelt, die die AktivistInnen als »Personen, die eine alternative ökologische Politik in [der Region]/Griechenland fordern« darstellt. Zwei Drittel der Befragten führen an, diese Charakterisierung finde gar nicht bzw. fast nicht statt (36,3 bzw. 31,7%). Nur jeder Siebte (14,9%) kreuzt das Gegenteil an und sagt, die AktivistInnen und deren Forderungen nach ökologischen Politikveränderungen würden häufig bzw. sehr häufig präsentiert (7,9 und 7,0%). Ein Vergleich der politischen Einordnungen mit den Merkmalen »extrem links«, »extrem rechts« wird in Abbildung 16 graphisch dargestellt. Abbildung 16: Politische Einstellung der ProtestteilnehmerInnen nach der Darstellung der Massenmedien 80 70 60 50 40 30

extremly left extremly right

20 10 0

Die Merkmale »extrem rechts« und das Merkmal »ökologisch-politisch alternativ orientiert« weisen eine ähnliche Tendenz auf, sie scheinen beide kaum bis gar nicht in den Medien auf. Eine bemerkenswert hohe Übereinstimmung besteht darin, dass die Protestierenden quasi überhaupt nicht als extreme Rechte bezeichnet werden (nahezu 75%).

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6.5.5 Weitere negative Konnotation Um Hinweise auf ein protestparadigmatisches Framing zu erheben, wurde eruiert, ob die Proteste laut medialer Beschreibung »aufgrund von Langeweile«, »Arbeitslosigkeit«, oder des »jungen Alters der Protestierenden« durchgeführt wurden. Alle drei Bezeichnungen können in der Protestberichterstattung mit negativer Konnotation angewendet werden (ähnlich dem Framing bei den London Riots), um die mangelnde Achtung der ProtestteilnehmerInnen zu unterstreichen. Die beiden letztgenannten Items können allerdings auch als differenzierte Charakterisierung angewendet werden. Auffällig ist die eher geringe und jedenfalls nicht erstrangige Anwendung aller drei Merkmale in der griechischen Protestberichterstattung, um Diffamierungen zu implizieren. Abbildung 17: Bezeichnungen der Protestierenden als (eher) nicht ernstzunehmend 45 40 35 30 25

bored

20

jobless

15

young

10 5 0 not at all

not very often

sometimes

often

very often

Zwei Drittel der Befragten gaben an, die Proteste werden medial nicht (40%) oder kaum (24,7%) als Akt der Langweile dargestellt. Mehr als die Hälfte ist sich also einig, dass Langeweile als Aktionsmotiv im Framing der Antigold-Proteste relativ unwichtig ist. Etwas weniger ausgeprägt an den Extremwerten, aber mit ähnlicher Tendenz ist das Framing als Protest von Arbeitslosen. Ein knappes Viertel gibt zwar an, diese Deutung trete oft oder sehr oft auf (gesamt 24,3%), allerdings steht dem mehr als die Hälfte (53,0%) der Befragten mit der gegenteiligen Aussage gegenüber. Weitere 22,7 Prozent geben an, dass diese Charakterisierung manchmal vorgenommen werde. Die Beteiligung bei den beiden Fragen betrug 238 bzw. 366 Personen. Die Charakterisierung als young wird vorgenommen, allerdings nicht extrem oft (12,3%) aber auch nicht extrem selten (22,3%). Den größten Anteil von etwa einem Drittel (27,6%) verzeichnet die mittlere Einstufung sometimes. Somit ist auch die Charakterisierung der AktivistInnen anhand des Alters nicht primär.

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6.5.6 Differenzierte Darstellung Bemerkenswert ist der Abwärtstrend bei der Betrachtung der relativ differenzierten Charakterisierung, nach der die regionalen BewohnerInnen adäquat der Selbstdarstellung als besorgt beschrieben werden. Jeweils nahezu dreißig Prozent geben an, die ProtestteilnehmerInnen werden nicht oder kaum als besorgte BewohnerInnen der Region dargestellt (28,7 und 29,8%). Jeweils rund zehn Prozent nehmen das Gegenteil wahr; diese Charakterisierung werde sehr häufig angewendet (7,4 und 10,2%). Ein knappes Viertel (24,0%) findet diese Bezeichnung manchmal in den Massenmedien. 6.6 Motive und Ziele Bemerkenswerterweise ist sich mehr als die Hälfte aller Befragten (53,5%) darin einig, Motive, Forderungen und Ziele in den griechischen Mainstreammedien überhaupt nicht zu finden. Mehr als ein weiteres Drittel (36,1%) meint etwas abgeschwächt, Forderungen werden nicht wirklich gut ausgeführt, denn »nicht alle Seiten werden ausführlich dargestellt«. Dahingehend (zumindest nahezu) Zufrieden mit der Berichterstattung sind weniger als zehn Prozent aller Befragten, wie das Kreisdiagramm in Abbildung 18 veranschaulicht. Die Ziele werden nach Ansicht von 3% vollständig und umfassend bzw. werden zumindest so dargestellt, dass »die Ziele verstanden werden können« (5%). In absoluten Zahlen zählen die Zufriedenen zwölf bzw. zwanzig Personen. Ihnen stehen 345 Unzufriedene entgegen. Zwei Personen wählten die Variante »other«, in der sie eigene Bemerkungen angeben konnten. Eine Person weist auf die Bestechlichkeit der Medien aus der Sicht eines Befragten hin: »The media always write what they want as they want it and if you want the appropriate envelope (money)«. Zwei Prozent sagten, sie konnten die Frage nicht beantworten, insgesamt 385 (=N) Personen beantworteten sie. Festzuhalten sind 90% aller Befragten, die der Ansicht sind, dass die Protestziele und Forderungen nicht oder nur ungenügend medial wiedergegeben werden. 3% zeigen sich vollkommen zufrieden mit der medialen Darstellung der Motive, Forderungen und Ziele des Protests, 5% zumindest teilweise zufrieden. 6.7 Aktionen Um das Framing der Aktionen zu spezifizieren, wurden zwölf Charakteristika zur Evaluation gewählt. Bei den Items handelt es sich jeweils um Gegensatzpaare (z.B. »sinnlos« – »sinnhaft«), mit einem Schieberegler sollten die Befragten die insgesamt sechs Gegensatzpaare einstufen. Es wurden dabei jeweils zwei Extremausprägungen gegenübergestellt (z.B. »violent riots, randals« – »peaceful manifastions«),

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wobei es sich beim erstgenannten Charakteristikum jeweils um das negativ konnotierte handelt, beim zweitgenannten um das positive. Die Befragten sollten, wie beschrieben, den Schieberegler zwischen die beiden Extrempole auf die für sie adäquaten Wert ziehen. Die Gegensatzpaare setzen sich aus den in Tabelle 3 aufgezeigten zwölf Aktionsmerkmalen zusammen. Abbildung 18: Motive, Forderungen und Ziele in der medialen Darstellung

Are the aims and goals of the Antigold protests described correctly? 2% 3% 5%

Yes, to the fullest extent

54%

Yes, not in all details, but one understands the aims of the demonstrators Not really good, they do not present all sides properly

No not at all

36% I don't know.

Tabelle 3: Evaluation des Aktions-Framings anhand von Gegensatzpaaren 1

Gewalttätige Randale

2

Sinnlos

3

Negativ und zerstörerisch für die wirtschaftliche Zukunft Griechenlands

4

Übertreibung der ökologischen Kon-

Friedliche Demonstrationen Wichtig Verständlich und gerechtfertigt im Hinblick auf die wirtschaftliche Zukunft Griechenlands Gerechtfertigt aus ökologischer Perspektive

sequenzen 5

Kein Einfluss auf die Politik

6

Unverantwortlich und irrational

Wichtig zur Einflussnahme auf die Politik Aufklärung über die Interessen der BewohnerInnen der Region

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6.7.1 Gewalttätigkeit Werden die Protestaktionen als gewaltvolle Randale gezeichnet oder sprechen die Mainstreammedien von friedlichen Demonstrationen? Das erste Gegensatzpaar, das die Darstellung der Gewalttätigkeit bei den Aktionen erhebt, zeigt bei der Auswertung der Extrempole: Nahezu hundert Personen halten ausdrücklich fest, dass die Aktionen medial als »gewaltvolle Randale« beschrieben werden, während nur 13 ausdrücklich finden, dass es sich bei den Protesten um »friedliche Demonstrationen« handle.82 Das Streudiagramm in Abbildung 19 veranschaulicht die Verteilung der 364 Antworten.83 Abbildung 19: Streuung der Antworten zur Gewalttätigkeit in den Protesten

Violent Riots, Randals or Peaceful Manifestations? 120

100

80

60

40

20

0 0

100

200

300

400

500

600

700

800

Je weiter die Verteilung auf der y-Achse bei 1 (eins) liegt, desto eher wurden die Protestaktionen als violent riots, randals präsentiert. Je weiter der Einzelwert bei hundert liegt, desto eher wurden die Aktionen als peaceful manifestations dargestellt. 82 94 Personen den Pol 1 wählten und 13 den Pol 100 (N=364). 83 Die Y-Achse beschreibt die vorgenommene Einstufung, wobei der Maximalwert 100 die Aussage peaceful manifestations und der Minimalwert 1 die Aussage violent manifestations meint. Die X-Achse sind die teilnehmenden Personen, jeder Punkt ist ein Wert (eine Person). Die X-Achse verfügt über 755 Einheiten, da die Daten nach der Reihenfolge des Ausfüllens bei der Gesamt-Grundmenge (N1=755) herangezogen wurden, die Graphik zeigt aber nur die 364 Ergebnisse an, die diese Frage beantworteten.

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Eine Berechnung der anteilsmäßigen Verteilung aller einzelnen Evaluierungen wurde durch eine Gliederung in vier inhaltliche Quartale vorgenommen: (1) violent riots and randals, (2) more or less violent riots and randals, (3) more or less peaceful manifestations und (4) peaceful manifestations. Die Quartalsverteilung zeigt, dass sich nahezu zwei Drittel aller Befragten im ersten Quartal einfinden und angeben, die Berichterstattung schildere die Proteste als »gewaltvoll« (266 von 364 Personen). Demgegenüber steht das vierte Quartal mit weniger als zehn Prozent (7,7%), die genau das Gegenteil wahrnehmen: Medien zeichnen die Proteste nach Ansicht dieser Befragten als »friedliche Demonstrationen«. Ebenso ist der Unterschied zwischen den beiden mittleren groß, vier mal häufiger geben die Befragten (56 Personen, 15,4%) an, die Proteste werden eher gewaltvoll gezeichnet, anstatt friedlich geschildert zu werden. Die Personen, die die mediale Protestbezeichnung eher als »peaceful manifestations« rezipieren, erreichen die Fünf-Prozent-Hürde nicht (3,8%). Abbildung 20: Gewalttätige/friedliche Aktionen in der Quartalsberechnung 80 70

Prozent

60 50 40 30 20 10 0 1. Exaggerating the 2. More or less 3. More or less 4. Understandable ecological problems exaggerating the understandable and justifiable seen that might occur ecological from ecological from ecological (Werte 1-25) problems(26-50) perspective (51-75) perspective (76100)

Inhaltliche Varianz in Quartalen

6.7.2 Sinnhaftigkeit Zur eindeutigen Ermittlung, ob die Aktionen protestparadigmatisch »sinnlos« oder »irrational« dargestellt werden, wurden zwei ähnliche Gegensatzpaare zur Disposition gestellt, eines davon wurde als Kontroll-Item eingesetzt. Die Trends der beiden Gegensatzpaare sinnlos vs. sinnhaft und sich selbst erklärend vs. irrational und unverantwortlich ähneln sich deutlich.

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Gegensatzpaar sinnlos vs. sinnhaft: Mehr als die Hälfte gibt an, die Protestaktionen würden als sinnlos dargestellt (56,5%). Gemeinsam mit den Befragten, die den Schieberegler ins Quartal eher sinnlos (23,2%) schoben, bilden sie mit achtzig Prozent die Mehrheit aller Antworten. Vier Fünftel der Befragten sind sich somit einig, dass Medien die Aktionen als sinnlos oder nahezu sinnlos framen. Jene Personen, die wahrnehmen, die Protestaktionen würden medial sinnhaft bzw. eher sinnhaft dargestellt, kommen gemeinsam auf ein Fünftel aller Beteiligten (12,1 und 8,2%). Bei diesem Gegensatzpaar wurden die Extrempole weniger häufig angeklickt (47/25 Personen). 340 Personen nahmen an der Einstufung teil. Gegensatzpaar irrational und unverantwortlich vs. aufklärend und verantwortlich: Beim zweiten Gegensatzpaar sollten die Befragten eine Einstufung zwischen »irresponsable and irrational« und »making clear the interests of the inhabitants of [the region]« vornehmen. Mit 351 der 403 Antworten unterstützen herausragend viele Befragte das negative Item völlig oder nahezu völlig. Beinahe neunzig Prozent (87,1%) finden sich in den zwei ersten Quartalen, die entweder Unverantwortlichkeit und Irrationalität deutlich unterstützen oder nahe kommen (284/67 P.). Demgegenüber stehen 52 Personen, die der Ansicht sind, die Medien stellen die Protestaktionen als selbsterklärend und verantwortlich, in Form einer Interessensvertretung der BewohnerInnen der Region dar. Das sind etwas mehr als ein Zehntel aller Antworten (12,9%). 6.7.3 Ökonomische Rationalität Die mediale ökonomische Einordnung der Protestierenden wurde mit dem Gegensatzpaar »negative and destructive for the Greek economic future« versus »understandable and justifiable for Greek economic future« erhoben. Der Schieberegler konnte dazu auf Werte zwischen 1 und 100 gezogen werden. Das Streudiagramm in Abbildung 21 weist auf ein starkes Ungleichgewicht hin. Herausragend hoch ist die Zustimmung zu einem Extrempol: 133 Personen sagen aus, die Protestaktionen werden medial als negativ und zerstörerisch für die Griechische wirtschaftliche Entwicklung dargestellt. Dabei handelt es sich um nahezu 40% aller Befragten (37,5%). Bei den Extrempositionen ist dies die höchste Zustimmung, die innerhalb der sechs Gegensatzpaare auftritt. Besonders hoch ist des Weiteren die Zustimmung zu dieser Position in der Quartalswertung. Das erste Quartal wählte eine Mehrheit von 76,9% aller Befragten (273 von 355 (=N) Personen). Sie alle bestätigen, die mediale Darstellung der Proteste zeichne die Proteste als äußerst zerstörerisch für die ökonomische Entwicklung Griechenlands. Etwas mehr als zehn Prozent schließen sich mit der Wahl des zweiten Quartals in abgeschwächter Form dieser Position an (35 Personen, 9,9%). Die Extremposition, nach der griechische Massenmedien die Proteste als understandable and justifiable for Greek economic future darstellen, nehmen 22 Per-

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sonen (6,2%) ein. Zehn Prozent (10,1%) der Stimmen pflichten diesem Extremwert sehr stark bei, indem sie ihre Meinung im vierten Quartal einordnen. Drei Prozent schließen sich mit der Wahl des dritten Quartals abgeschwächt dieser Position an (11 Personen, 3,1%). Abbildung 21: Medial transportierte ökonomische Bewertung der Proteste 120

100

80

60

40

20

0 0

100

200

300

400

500

600

700

800

"Negative and destructive for the Greek economic future" OR "understandable and justifiable for Greek economic future"?

Auf der Y-Achse steht der Wert 1 für »Negative and destructive for the Greek economic future« und der Wert 100 für »understandable and justifiable for Greek economic future«. Die xAchse zeigt die einzelnen Befragten an.

6.7.4 Ökologische Rechtfertigbarkeit Das mediale Framing der Protestaktionen hinsichtlich seiner ökologischen Inhalte wurde mit einem weiteren Gegensatzpaar, der Gegenüberstellung der Pole »exaggerating the ecological problems that might occur« und »understandable and justifiable seen from ecological perspective« erhoben.

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Abbildung 22: Die ökologischen Legitimierung der Proteste in der Quartalsverteilung 80 70 60

Prozent

50 40 30 20 10 0 1. Exaggerating the 2. More or less ecological exaggerating the problems that ecological might occur problems(26-50) (Werte 1-25)

3. More or less 4. Understandable understandable and justifiable seen from ecological from ecological perspective (51- perspective (7675) 100)

Inhaltliche Varianz in Quartalen

Hervorstechend sind weit mehr als vier Fünftel aller Befragten (86,4%), die der Ansicht sind, die mediale Darstellung würde die Protestaktionen als »übertrieben« bzw. »eher übertrieben« im Hinblick auf die erwarteten ökologischen Konsequenzen zeichnen. Das sind 348 von 403 Antworten (403=N). Demgegenüber stehen knappe 10% bzw. 3,7%, die das Gegenteil wahrnehmen und finden, die Medien würden die Proteste als »aus ökologischer Perspektive verständlich« bzw. »eher verständlich« abbilden.

6.7.5 Politischer Einfluss Um zu erheben, inwiefern Medien das Protestkollektiv als politischen Akteur ernst nehmen und seine potenzielle Einflussmacht honorieren, wurde das Gegensatzpaar »have no influence on policy« versus »necessary to influence the policy« untersucht. Bei der Auswertung ist eine klare Tendenz zu verzeichnen. Vier Fünftel bzw. 80,2% der 403 (=N) Antworten sind eher oder ganz der Meinung, die Medien framen die Aktionen »ohne Einfluss auf die Politik zu haben«. Gegenteiliger Ansicht ist der Rest, der sagt, die Protestberichterstattung honoriere die Proteste als »eher« oder »sehr bedeutsam, um eine Beeinflussung der Politik

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herbeizuführen«. Die beiden Quartale kommen gemeinsam auf nicht ganz ein Fünftel aller Antworten (7,2 und 10,7%). 6.7.6 Aktionscharakterisierungen im Überblick Die Ergebnisse aller sechs Gegensatzpaare wurden verglichen, um Abweichungen festzustellen oder gemeinsame Tendenzen zu erkennen. Das Ergebnis, das in Abbildung 23 veranschaulicht wird, ist bemerkenswert: Alle sechs Gegensatzpaare weisen eine deutliche Parallelität auf. Zusammenfassend ist zu bemerken: Besonders häufig wird bei allen sechs der negative Pol angeklickt, was Zeichen für ein breitgefächertes Negativ-Framing ist und die Diffamierung der Proteste über mehrere Merkmale transportiert wird. Nicht nur werden die Aktionen medial als gewalttätig, sinnlos, wirtschaftlich zerstörerisch und ökologisch übertrieben dargestellt, auch sind sie unverantwortlich und irrational und haben generell keinerlei Einfluss auf die Politik, wenn es nach dem Framing der Medien geht. Im Gegensatz dazu befinden sich die positiven Merkmale des Protests nach Einschätzung der Befragten bei rund 10% der Medienberichte über die Antigold-Proteste. Aufgrund dieses Ergebnisses kann auf ein besonders negatives Framing der Proteste geschlossen werden, das als Indikator für das Protestparadigma betrachtet werden kann.

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Abbildung 23: Vergleich aller Gegensatzpaare für Aktionsbeschreibungen 90 violent riots, randals // peaceful manifestations

80 70

senseless // important

60 50 Negative and destructive for the Greek economic future // understandable and justifiable for Greek economic future exaggerating the ecological problems // justifiable seen from ecological perspective

40 30 20 10

no influence on policy // necessary to influence the policy

0 1. Quartal

2.Quartal

3.Quartal

4.Quartal

Im ersten Quartal befinden sich die Merkmale, die die Protestaktionen negativ konnotieren, im vierten Quartal jene Merkmale, die die Aktionen in positivem Licht darstellen (Berechnung in Prozent).

6.8 Korrektheit der Protestberichterstattung 6.8.1 Graduelle Einstufung Anknüpfend an die Evaluation der Gegensatzpaare, mit der nicht nur die Berichterstattung merkmalsbezogen ausgewertet, sondern bei den Befragten auch die Reflexion über die konkreten Ausformungen der Berichterstattung eingeleitet werden konnte, wurden die Befragten angehalten, sich mit folgender Frage zu befassen: Does common Greek media describe the actions of the Antigold protests correctly? Die vorlaufende Reflexion sollte zu einer fundierten Einstufung dieser allgemeinen Frage führen, zu der ebenso der Schieberegler als Bewertungsinstrument zur Verfügung gestellt wurde. Der Regler sollte zu den Extrempolen »yes« bzw. »no« oder in deren Nähe gezogen werden.

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Bemerkenswert ist das eindeutige Ergebnis in der Evaluation, das die Befragten bezüglich der ›Korrektheit‹ der Protestdarstellung in den griechischen Massenmedien liefern. Mehr als die Hälfte aller Befragten wählte den Extrempol »no«. (51,5% von 367[=N]). Drei Personen wählten den Extrempol »yes«, in prozentuellen Zahlen erreicht der Wert die 1-Prozent-Hürde nicht (0,8%). Die Extremwerte stehen sich also in einem Verhältnis von 63 zu 1 gegenüber. Das Streudiagramm veranschaulicht die gewonnenen Daten (Abbildung 24). Abbildung 24: Korrekte Beschreibung der Proteste (N=367).

Does common Greek media describe the actions of the Antigold protests correctly?

120 100 80 60

No=1, Yes=100

40 20 0 0

200

400

600

800

Werden alle hundert möglichen Werte in Quartale geteilt, ergeben sich jeweils 25 Einzelwerte pro Quartal: Wert 1 bis Wert 25 bilden somit das erste Quartal, das dem Extrempol »Nein, die griechischen Medien beschreiben die AntigoldProtestaktionen nicht korrekt« besonders nahesteht, die Werte 26 bis 50 bilden das zweite Quartal usw. Das vierte Quartal sind jene 25 Werte, die aussagen: »Ja, die griechischen Medien beschreiben die Proteste richtig«. Die Quartals-Auswertung ergibt: •

Neun von zehn der Antworten liegen im ersten Quartal, knapp neunzig Prozent der 367 Befragten gaben an, die Aktionen werden überhaupt nicht richtig in den griechischen Medien dargestellt. Dieser hohe Anteil wird von den ebenso pessimistischen Personen gestützt, die den Regler im zweiten Quartal positionierten (5,7%).

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Dem gegenüber steht ein optimistischerer Anteil, der die Berichterstattung für richtig hält – allerdings die Fünf-Prozent-Hürde nicht erreicht: 2,7% sagen deutlich »Ja, die Medien stellen die Protestaktionen richtig dar«, 1,9% tendieren eher zu einem Ja. Das Gesamtverhältnis der optimistischen Personen, die Berichterstattung als korrekt einstufen, zu den pessimistischen Personen, die die Berichterstattung als (eher) nicht korrekt beurteilen, beträgt somit gerundet 5:95.

6.8.2 Qualitative Begründungen Wut, Empörung, Verärgerung, Kampfgeist: Die Gründe für die Bewertung nichtkorrekte Berichterstattung wurden mit einer daraus abgeleiteten qualitativen Frage erhoben. Bemerkenswert ist die unerwartet hohe Rücklaufquote, 309 (!) Personen füllten diese offene Frage aus und gaben teilweise besonders ausführliche Begründungen. Die Emotionen der Befragten spiegeln sich im Stil ihrer Aussagen wider. Aufgrund des Aufwands, den die Befragten mit der Beantwortung auf sich genommen haben, werden im Folgenden zahlreiche Beispiele angeführt. Den national marginalisierten, ungehörten Protestierenden soll auf diesem Wege verliehen werden. Stellvertretend für die zahlreichen angeführten Begründungen werden Aussagen wiedergegeben, die im emotionalen Stil exemplarisch für den Großteil der Aussagen stehen. Mit einer zusammenfassenden Inhaltsanalyse nach Mayring84 werden die qualitativen Ergebnisse des Fragebogens untersucht. Eine Paraphrasierung aller 309 Antworten erlaubt nach einer ersten Reduktion die Erstellung von 29 verschiedenen Subkategorien. Eine zweite Reduktion dieser Kategorien unter Zusammenfassen thematisch ähnlicher Inhalte ermöglicht die Erstellung von insgesamt sieben Hauptkategorien: (1) media ownership, (2) media dependency, (3) tight social network. (4) corruption, (5) ideology distribution, (6) negative image of protest und (7) concealment of facts. Dabei ergeben sich aus den Begründungen für die mediale Falschdarstellung der Proteste zwei Argumentationsstränge: Inhaltlich werden Mängel in der Berichterstattung angekreidet. Diese Aussagen schildern die Abweichungen der medialen Darstellung von der rezipierten Realität und versuchen teilweise, die Zusammenhänge korrekter darzustellen. Als strukturelle Missstände werden politische und ökonomische Zusammenhänge genannt, die laut Befragten Grund für die verzerrten Medienberichte sind. Unter den meistgenannten Gründen liegt die politische und ökonomische Ideologie weit vorne, gefolgt von dem Verschweigen von Demonstrationen und Fakten, 84 Mayring, Philipp (2003): Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. 8. Auflage, Weinheim.

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sowie an den dritten und vierten Plätzen nahezu gleichauf das Media Ownership und das negative Protestimage. Das Säulendiagramm in Abbildung 25 zeigt die anteilsmäßige Verteilung der Zustimmung zu den sieben Hauptkategorien. Beispielhaft werden in den folgenden Kapiteln Aussagen unbearbeitet und wörtlich angeführt. Die Autorin behielt sich vor, in Ausnahmefällen Kürzungen, Veränderung der Groß- und Kleinschreibung und Anonymisierungen bei angegeben Personen und Unternehmen vorzunehmen. Dies wurde mit »(…)« oder eckigen Klammern ([]) signalisiert. Abbildung 25: Begründungskategorien struktureller oder inhaltlicher Natur für eine nicht-korrekte Berichterstattung

Reasons for wrong media coverage of protest actions 50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0

46,6 34,3 22,3

20,7 11,4

12,3

14,6

If media does not describe the actions of the protests correctly, what is the reason for it?

6.8.3 Inhaltliche Mängel Eine reduzierte Zusammenfassung aller Aussagen, die auf inhaltlicher Ebene die laut Eigenwahrnehmung verzerrte Berichterstattung zu erklären versuchen, könnte folgendermaßen oder ähnlich lauten: »Die Medien berichten nicht korrekt. Sie verschweigen Fakten, zeichnen ein negatives Bild der Proteste und AktivistInnen und arbeiten politisch und ökonomisch ideologisch. Das ›Investitionsprojekt‹ der Minen wird deutlich gestützt, die befürwortende Regierungshaltung reproduziert. Als Hauptargument wird der ökonomische Fortschritt der Region und des Landes Griechenland bemüht, der aufgrund der Minen zu erwarten sei. Die Protestierenden werden als irrational dargestellt, denn sie würden ökonomische Zusammenhänge nicht begreifen.«

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Vornehmlich drei Begründungen werden auf inhaltlicher Ebene vorgebracht, die im Folgenden näher erläutert werden: (a) Verschweigen von Fakten, (b) Verbreitung politischer und/oder ökonomischer Ideologie und (c) Zeichnen eines negativen Protestimages. (a) Verschweigen von Fakten: Fakten werden verschwiegen, die Polizeigewalt nicht angesprochen: Mehr als ein Drittel aller Befragten (34,3%) führt das Verschweigen von Fakten, Aktionen oder Zusammenhängen an. Dabei ist die Bandbreite der geschilderten ignorierten Themen erheblich: relevante wissenschaftliche Daten, die etwa von WissenschaftlerInnen bereitgestellt werden; die Katastrophe, die in der Luft, im Gebirge, im Grundwasser und im Meer zu erwarten ist; Kritik am Minenprojekt; Meinungen der Antigold-Protestierenden. Die Befragten beklagen, nur die Seite der Minen-BefürworterInnen werde präsentiert. Manche schreiben »the truth must not be known by all Greeks« und ähnliches. Exemplarisch stehen folgende Aussagen, die die mediale Ignoranz von Protestdemonstrationen und wissenschaftliche Fakten thematisieren: »All the info provided are filtered by political and economic biases. As a matter of fact mass media started being interested in the matter only when things were getting worse and they tend to focus only on violent incidents an d hide a considerable number of peaceful protests.« »[T]hey represent ONLY the views of the company and never the huge oppositions from scientists, universities (...), and the people of the area. Media hide the huge movement, and also all the open conferences and other meetings with various scientists to explore in depth the consequences of the mines in [the region]. They also hide the incorrect and illegal things done from the police or [t]he company, and with the exception of one newspaper, always represent the people like some left wing young activists, which is not true, people are from all political views, and all ages. With one incident, that no one knows from whom it was done, they represent all protesters as terrorists, even if the movement has declared that this sort of actions are not supported by the protesters.« »Common Greek media fail to describe in details the reasons and motives of the people involved in Antigold protests. Moreover, they reproduce the false claims made by [the] mining company, without any reference to scientific reports (eg from the Aristotle University of Thessaloniki) about the deleterious effects of the mining process to the surroundding environment. The peaceful protests in which thousands of people took part were never or rarely covered. In the contrary, the only information mentioned was about arrests and clashes, without clarifying the exact events that took place. There is also no coverage about the abuse of power made by policemen towards protesters and inhabitants.«

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Der Ausschluss der Wissenschaft wird häufig thematisiert. Eine Person merkt an: »Even in the few occasions that they present Antigold protestors in their shows,as soon as the Antigold people start to present the scientific points of view,they turn the discussion on violence,presenting them as irresponsible-economy killing anarchists«.

(b) Verbreitung von Ideologie: Sowohl eine politische und eine ökonomische Realitätsdeutung konnten Hegemonie gewinnen und sich massenmedial verbreiten. Zum einen berichten Medien regierungstreu und zum zweiten unterstützen sie den Bau der Minen stark, wie nahezu die Hälfte aller Befragten angibt. Die Medien verhalten sich entweder politisch oder ökonomisch ideologisch bzw. beides gleichzeitig, so der Tenor der Befragten. Politisch verhalten sich die griechischen Massenmedien affirmativ gegenüber den Regierungsmitgliedern. Die affirmative mediale Reproduktion findet durch die häufige Abbildung und Zitation von RegierungspolitikerInnen und durch regierungsstützende Kommentare statt. Die Regierung unterstützt den Ausbau der Minen, daher geht die Regierungspolitik im Hinblick auf die Proteste mit der minenunterstützenden Haltung einher. Die folgenden Aussagen stehen exemplarisch für jene Antworten, in denen auf eine ideologische Berichterstattung hingewiesen wird: »Most of greek media (especially private channels such as MegaTv which is belongs to a major shareholder) describe the protesters as violent people who do not want development in their country. In addition, [t]he media is driven by political interests. For this reason, it's natural to SUPPORT the opinion of the government which wants the mines.« »Because common Greek media like TV support the views of politicians who are involved in th[e] gold mining project because of their personal benefits (it is a clear colaboration between them) even if they are little in number although obviously they have greater influence and power.«

Auf politischer Ebene wird medial nicht von der Linie der Regierung abgewichen, wie 53 Personen explizit ausführen. Die Regierung befürwortet den Ausbau der Minen nach dem vorgebrachten Investitionsplan. »(…) [T]he impression I have formed is that most of the big Greek media (…) are in principle advocating pro-governmental positions. The argue for the need of ‘development’, ‘growth’, ‘investments’. In that sense, the Antigold protesters are presented as irrational people who don't allow Greece to ‘develop’.«

Auf ökonomischer Ebene werden nach Ansicht der Befragten der Bau der Minen, das Minenunternehmen, der Investitionsplan und die Unterstützung der Minen pro-

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pagiert. Die Minen würden eine ökonomische Entwicklung und Wachstum für die Region bzw. für gesamt Griechenland bedeuten, die Schlagworte »development« und »growth« wurden 14 mal genannt (9/5). »(…)[T]hey describe the Antigold protesters as they are irresponsible, irrational people who want to destroy instead of caring for their health, their jobs and the future of their children. This is quite clear from the discourse and the multimedia (photos, videos etc.) they use, as well as from their views on 'newsworthiness' (over-covering the arson of [the] company vehicles in [the region], but not mentioning or trying to fool people about the huge manifestations against mines in Thessaloniki).«

Als zweites ökonomisches Argument wird die Schaffung von Arbeitsplätzen angeführt, sieben Personen weisen auf den medial-ideologischen Tenor hin, der verspreche, die Minen würden Jobs verschaffen (create jobs). »Because all they are interested in at the moment is the sellout of Greece and especially Macedonia and Thrace. They try to convince the world that it makes sense to create 1000 jobs and destroy tens of occupations related to tourism, agriculture, animal husbandry, fisheries, beekeeping. If we add the terminal destruction of the environment and on the other put only the economic benefit of a [non European] company and a Greek tycoon, everyone can understand what is happening today in [the region].«

Drei Personen weisen mit den Begriffen »capitalist« (2) und »neoliberal policies« (1) auf die Ideologie hin, die die Medien in Unterstützung der Regierung und der Minen ihrer Meinung nach vertreten würden. »[They] themselves have no interest in finding out the truth about the emviromental costs of gold minning . Instead they are more concerned in helping the government to develop its EUdriven plans for unregulated economical growth through foreign investments and unstainable explotation of Greece's natural resources«.

(c) Zeichnen eines negativen Protestimages: Ein Fünftel (20,7%) aller Befragten beklagt noch einmal explizit die Abweichung der Berichterstattung vom realen Protest. Folgende fünf Argumentationsstrategien werden angewendet, um den Protest zu diffamieren, so geht aus den Daten der qualitativen Frage: die Falschdarstellung der Protestierenden, die Kriminalisierung, die Unterstellung ökonomischer Irrationalität, die Darstellung als jung, gewalttätig und linksradikal und die Unterstützung von Pro-Minen-Protest. Die Falschdarstellung der Protestierenden weicht von der realen Situation stark ab, wie zahlreiche Befragte bestätigen. Dies betrifft ihre Motive und Forderungen genauso wie die Charakterisierung der ProtestteilnehmerInnen.

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»Greek Mass Media are to a certain extend unreliable, partial, following or covering and protecting the interests of different groups of people. Greek Mass Media doesn't represent the average citizen, his demands, problems and visions. Mainly they try to create and manipulate the people's needs, demands and future.«

Zwei Drittel dieser Klagen heben die mediale Kriminalisierung der Proteste hervor. Die Aktionen werden als illegal gezeichnet, die TeilnehmerInnen als Randalierer und Vandalinnen oder, wie mehrere Aussagen angeben, implizit oder direkt als TerroristInnen dargestellt. »With one incident, that no one knows from whom it was done, they represent all protesters as terrorists, even if the movement has declared that this sort of actions are not supported by the protesters.«

Die ökonomische Rationalität wird den ProtestteilnehmerInnen abgesprochen. Sie würden nach Darstellung der Medien wirtschaftliche Probleme bereiten, eine negative ökonomische Entwicklung Griechenlands befürworten und den positiven Nutzen der Minen nicht verstehen. Dazu gewinnt jene Auffassung an Hegemonie, nach der die Minen in der Region tausende Arbeitsplätze verschaffen und maßgeblich zum Prosperieren der Wirtschaft beitragen würden. »Common Greek media describe the protestors as violent rioters whose goal is to stop economic growth of the area and do not care about the loss of jobs when in fact they are trying to preserve their environment as well as jobs in tourism, agriculture, fishing which will all be destroyed if the mines expand.« »They show in detail only the pro-mining view and they also accuse the inhabitants for standing against the benefits of the whole society. Furthermore they dont recognize the existing enviromental risk, in favor of economic grow-up« »(…) They try to convince the world that it makes sense to create 1000 jobs and destroy tens of occupations related to tourism, agriculture, animal husbandry, fisheries, beekeeping. If we add the terminal destruction of the environment and on the other put only the economic benefit of a [non European] company and a Greek tycoon, everyone can understand what is happening today in Halkidiki.«

Zudem werden ProtestteilnehmerInnen medial als jung, gewalttätig und linksradikal dargestellt, auch wenn die Bewegung aus allen Altersgruppen und allen politischen Richtungen besteht, und nicht gewaltvoll ist, wie die Befragten anführen.

270 | P ROTEST ALS EREIGNIS »(…)They also hide the incorrect and illegal things done,from the police or [t]he company, and with the exception of one newspaper, always represent the people like some left wing young activists, which is not true, people are from all political views, and all ages.«

Unterstützung von Pro-Minen-Protest: Bemerkenswerterweise geht aus den Aussagen die mediale Unterstützung eines anderen Protests in der gleichen Gegend, des Pro-Minen-Protests, hervor. In einer argumentativen Gegenüberstellung der gewaltvollen, linken, negativ geframeten Radikalen und den ehrlichen, fleißigen, hart arbeitenden Personen, die die Mine unterstützen, wird das Herrschaftsprinzip Divide et Impera bemüht: »[T]hey discribe the protesters like criminals and radicals and they almost never give them time to speak about their opinions and beliefs. In the other hand the pro mine protests are widely covered, even though the count only few douzens of protestors. So, we have on the one hand the extreme radicals and on the other the honest hard working every day man who wants to excersise his right for work.«

Zudem wird die Protestgruppe nach Aussage von sieben Personen als Minderheit charakterisiert, die sie mit einer Größe von mehreren Tausend Personen zumindest regional nicht ist. 6.8.4 Strukturelle Missstände Eine reduzierte Zusammenfassung aller Aussagen, die die strukturelle Ebene ansprechen, um die falsche Berichterstattung zu erklären, beinhaltet die genannten Aspekte: »Der Besitzer wichtiger griechischer Medien ist, ist zugleich tief in die Baufirma der Minen involviert. Er verfolgt aufgrund seiner Verstrickung in die Minen auch in den Medien Interessen, die für ihn von wirtschaftlichem und finanziellem Vorteil sind. Das Förderunternehmen F, dem die Hauptanteile der Minen gehören, korrumpiert die Medien, entweder durch indirekte Einflussnahme mit der Finanzierung von Werbeeinschaltungen oder möglicherweise durch Bestechung (von JournalistInnen). Die aus korrupten PolitikerInnen bestehende Regierung unterstützt den Investitionsplan der Minenverantwortlichen, da sie in enger Verbindung mit Medien und Goldunternehmen steht. Die Medien sind letztlich abhängig vom Geld der Regierung, was ihnen eine Oppositionshaltung nahezu verunmöglicht.«

Folgende Hauptkategorien der Begründungen kommen bei der Aussagenbildung zum Tragen: (a) Ownership – Medieneigentum, Mineneigentum, (b) Medienabhängigkeit, (c) enge Verstrickungen von Medien, Politik und Minen-Unternehmen und (d) Korruption. Im Folgenden werden sie besprochen.

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(a) OWNERSHIP – MEDIENEIGENTUM, MINENEIGENTUM: Die personelle Überschneidung der Eigentümerschaft der Medien mit jener der Minen machen rund ein Viertel (22%) der Antworten für die unzutreffende Berichterstattung verantwortlich. 25 Personen geben Familie A oder Familienmitglieder namentlich oder implizit als »Besitzer wichtiger Medien, der auch noch griechischer Shareholder der MinenFirma ist«, an. A hat demnach berechtigte Interessen in der positiven Berichterstattung über die Minen. Weitere 42 Personen beklagen das Handeln des Unternehmens, das aufgrund ökonomischen Zusammenspiels mit wichtigen Medien die Berichterstattung negativ beeinflusse. Folgende Aussagen stehen exemplarisch für das Sample: »Because they service specific political and economic interests.The economic interests mainly have to do with the Greek contractor of [company F], Mr [A], who is also the main shareholder of a big tv channel,MEGA« »[P]resenting the protesters as rioters, against the development of the area, greek media owned by the same people that will benefit from the gold mines ([A]), [company F] pays for Advertising« »Because the owner of a big Greek TV station is also one of the owners of the gold mines, also because the politicians are afraid of him and his power to influence peoples opinion about politics.«

(b) MEDIENABHÄNGIGKEIT: Nicht unerheblich viele Personen geben die Abhängigkeit der Medien als Grund für tendenziöse Berichterstattung an (39). Die Abhängigkeit bestehe aufgrund von finanziellen Verbindungen mit der Regierung, was u.a. die beklagte affirmative Berichterstattung zur Regierungsposition begründet. »No chance for in detail analysis of their views given. Even if someone is present at a dialog, the agenda is always on rebels and violence and not in the Antigold protest itself. Moreover, since most mainstream media belong to corporations linked to the mining investment, it is impossible to have a correct, independent or at least equally presented view.«

Nahezu viermal so viele Personen sind außerdem der Meinung, die Medien wären von ökonomischen oder politischen (Regierungs-) Interessen beeinflusst. Zwei Personen geben allgemein Interessenskonflikte als Begründung an. »Greek mainstream media really serve the interests of the capital and as such cannot possibly appear to be against investments, no matter how detrimental they will be for the environment.«

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(c) ENGE VERSTRICKUNGEN VON MEDIEN, POLITIK UND MINEN-UNTERNEHMEN: Fast vierzig Aussagen nehmen das Konglomerat von Medien, Politik und Minenunternehmen in die Verantwortung. Zwei Drittel davon sehen das Problem der inkorrekten Berichterstattung in den gemeinsamen Verstrickungen aller drei Akteure, ein Drittel im engen Netz von Medien und Politik. Die Besitzverhältnisse führen zur Abhängigkeit der einzelnen Medien, und bedingen so die interessengeleitete Berichterstattung, wie mehrere Aussagen argumentieren. »Because Greek media are totally controlled by government and the deep wealthy businessman and companies.« »No chance for in detail analysis of their views given. Even if someone is present at a dialog, the agenda is always on rebels and violence and not in the Antigold protest itself. Moreover, since most mainstream media belong to corporations linked to the mining investment, it is impossible to have a correct, independent or at least equally presented view.«

(d) KORRUPTION scheint als eines der meistgenannten Motive für die verzerrt wahrgenommene Medienberichterstattung auf. Fast die Hälfte aller 45 Personen, die Korruption anführen, weisen auf (möglicherweise) korrumpierte Medien hin (29), die für die positive Minenberichterstattung verantwortlich zeichnen. Weitere acht Personen nennen zumindest indirekte Zahlungen in Form von Werbung, um die Berichterstattung nach den Wünschen des Förderunternehmens F ausfallen zu lassen. Zehn Personen geben an, Medien hätten Vorteile durch die positive Minenberichterstattung. Sieben Personen führen korrupte Politiker als Begründung an; diese würden die Berichterstattung indirekt beeinflussen. Über die Richtigkeit der Aussage(n) wären weitere Forschungsbemühungen verdienstvoll. Zwei Aussagen werden hier beispielhaft wiedergegeben: »[Company F’s] officials can play the lobbying game very good. Last week more than 50 journalists were invited by [F] for luxurious vacations and some ›clarifications‹ with respect to the company's policy.« »Because the dominant mainstream media are either heavily influenced by the (corrupt) ruling class or are owned by oligarchs who both have a vested interest in misrepresenting the Antigold protests.«

6.8.5 Divergenz: Protestbeschreibung – Realität In Erwartung einer weitaus niedrigeren Rücklaufquote auf die erste qualitative Frage wurde zur Absicherung eine zweite, ähnliche Frage (Is there a difference in how common media present the protest actions and how you see them?) zur Disposition

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gestellt. Diese sollte als quantifizierbare Kontrollfrage gelten, um auf weitere zuverlässige Daten zurückgreifen zu können. Intention war, mit der ersten qualitativen Frage Aussagen über die Aktionsdarstellung zu erhalten, die Antworten fielen entgegen der Erwartung breitgefächert(er) aus und betrafen neben der Reflexion über die mediale Aktionsbeschreibung auch AktivistInnen, Polizei, sowie Medien- und politische Strukturen u.a. Bei der zweiten qualitativen Frage sollte ein Vergleich der medialen Darstellung und der eigenen Perzeption der Proteste angestellt werden. Auch diese Antworten fielen sehr breit aus, wobei bei letzterer eher die Arbeit der Medien reflektiert und bei ersterer vermehrt auf die politischen und ökonomischen Strukturen eingegangen wurde. Bei der zweiten qualitativen Frage sollte zunächst per Mausklick zwischen vier Kategorien für die am ehesten adäquate Antwort abgestimmt werden, die Antwortmöglichkeiten lagen auf vier Stufen zwischen völliger Zustimmung und völliger Ablehnung. Bei jeder Antwort wurde zudem ein freies Feld für Anmerkungen zur Verfügung gestellt. Noch vor Ermittlung der qualitativen Daten ist bereits der quantitative Ausgang der zweiten Frage bemerkenswert. Die eindeutig tendenziös ausfallenden Häufigkeiten im Antwortverhalten werden in Abbildung 26 angegeben. •



Mehr als vier Fünftel (84%) sehen »große Unterschiede« zwischen Mediendarstellung und wahrgenommener Protest-Wirklichkeit. Weitere neun Prozent stimmen dieser Aussage eher zu und sprechen von »some differences«, gemeinsam kommen diese Personen also auf 93% aller 374 Antworten (=N). Die Anzahl jener Personen, die Unterschiede eher bzw. ganz negieren, beläuft sich mit 3 bzw. 1% auf den niedrigen einstelligen Bereich.

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Abbildung 26: Unterschiede zwischen der Medienrepräsentation und der perzipierten eigenen Protestwirklichkeit

Is there a difference between media presentation and your perceived reality of protests? 3%

1%

3%

Yes, there are huge differences

9% Yes, there are some differences

No, there are only a few differences

84%

No, there are no differences between media coverage and the real protests going on

Aufgrund der massiven Rücklaufquote bei der ersten qualitativen Frage wird hier bei der zweiten der Schwerpunkt auf die Dokumentation der medialen Abweichungen von der eigenen Realitätswahrnehmung und auf unberücksichtigte Aspekte gelegt. •



Beim Extrempol No, there are no differences between media coverage and the real protests going on wurde keine argumentativ stützende Antwort gegeben; niemand füllte das leer stehende Feld zur Begründung der Aussage aus. Auffallend ist die hohe Anzahl von 315 Personen, die für den anderen Extrempol Yes, there are huge differences stimmten. Beachtliche 191 Personen argumentieren ihre Auswahl mit Zusatzangaben.

Vor allem folgende vier Begründungen fanden sich unter den 191 Antworten des Extrempols »Ja, es gibt große Unterschiede«: (a) inhaltliche Abweichungen bei der Protestdarstellung, (b) Ignorieren von Demonstrationen bzw. von essentiellen Fakten, (c) Verstrickungen auf struktureller Ebene und (d) direkte Medienkritik mit Anführen von Fallbeispielen oder Nennung einzelner Sender.

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(a) INHALTLICHE ABWEICHUNGEN BEI DER PROTESTDARSTELLUNG: Zunächst zeigt sich eine Falschdarstellung der AktivistInnen, wie sie sich auch schon bei den vorhergehenden Antworten deutlich zeigte. Die Protestierenden werden als kriminell und gewalttätig dargestellt und die Proteste als ungerechtfertigt diskreditiert, so ein besonders hoher Anteil der Aussagen (62 Personen). Weitere zehn Personen weisen auf die diffamierende Darstellung der AktivistInnen als »lefties« oder SyrizaMitglieder hin, außerdem würden die AktivistInnen pejorativ als »anarchistic« bezeichnet werden – obwohl dies laut Selbstbeschreibung wenig zutreffend ist. Zahlreiche Antworten heben diese Diskrepanz zwischen medialer Darstellung und Realität hervor und stellen sie zum Teil richtig: »Common media present protesters and young troublemakers. In reality there is a big worried community grandfathers, parents and children concerned for their area.« »Greek media see criminal and absurd activities where I see local people - and not only- who care about common human values i.e. long-term prosperity, health, respect to environment and nature.« »(…)The state and the police are dealing with the protesters as criminals and the media simply state, therefore support it.«

Konsequenz ist die mangelhafte Information des Publikums der Mainstreammedien über die Motive und Forderungen der Proteste und so die negative Beeinflussung bzw. Verhinderung der dialektischen, diskursiven, deliberativen Meinungsbildung. Eine befragte Person stuft beispielsweise die Berichterstattung als »eher schon abweichend« ein und notiert dazu: »I understand the need to minimize violent outbreaks, but my feeling is that the full story is different and is not fully covered. The motivation of the protestors is not very clear to most.«

Zahlreiche Personen beklagen die einseitige Berichterstattung über die Proteste, bei der Motive und Forderungen der AktivistInnen nicht oder nur falsch und vor allem diffamierend beschrieben werden. Die AktivistInnen selbst werden weder befragt noch zitiert, gleichzeitig die Aktionen mit Fokus auf Gewaltanwendung spektakularisiert. Die Motive und Forderungen werden von den Mainstreammedien nicht hinterfragt und Inhalte ausgeschwiegen, darum geben einige Befragte selbst ihre Motive für die Protestteilnahme an: »I see only one side,the side of the gold mine and the side of the government.I rarely see what the people actually living there have to say.«

276 | P ROTEST ALS EREIGNIS »It's all about conflicts of interests. At the one side the government and the companies that want to invest in the local area and one the other side the lives of the local people. I am with the protests, because if it about your and your children's health, the environmental future of the area you live, your salary and your life, then you have to secure the best deal possible. And after all, if the police was throwing tear gas at your children's school and your garden, then you have to protect yourself and those who can't in any way.«

Die Minimierung der Protestgröße findet strukturell statt, so die Befragten, denn anstatt das mittlerweile stark angewachsene Protestkollektiv zu dokumentieren, stellen Medien die Bewegung als »minority« dar. 26 Personen führen die mediale Minimierung des Protestkollektivs an, durch welche mit Auslassung des Faktors Protestgröße die Relevanz des Protests zur Druckausübung auf die politische Ebene verkleinert wird. Die Verkleinerung wirkt sich zudem negativ auf die potenzielle Solidarisierung weiterer Öffentlichkeiten aus, was auch im Hinblick auf die geschilderte Negativberichterstattung über die Antigold-Proteste einigen Interessen zweckdienlich sein könnte. Der Minimierung geht das Ignorieren der Protestgröße vor, dieselbe verunmöglicht das Ignorieren später zumindest teilweise. Als die Proteste nämlich ein großes Ausmaß annahmen, konnten sie kaum noch völlig ignoriert werden, also wurde – möglicherweise in Reaktion – die Strategie der Verkleinerung trotz einiger besonders gut besucht Demonstrationen eingesetzt. »I am updated by various not-mainstream sites and I see the differences. Common media did not even mention the protests, until they could not anymore.« »I was one of the many protestors on 13/4/2013 and 09/03/2013, we were more than ten thousands and the most common media present us like 3.000-4.000 people« »I have participated in a huge anti-mining demonstration (more than 20.000 people participated). No common media presented it.« »I have taken part in only a few protests. In all of them, the Greek media coverage was or absent, or made a quick mention, showing a video/picture of the frontal line of the protests, not showing/reporting their real number or protesters' views. Greek media tends to focus only if there is an improper insident during demonstation«.

Die unterstützende, affirmative Form der Protestberichterstattung wurde eingesetzt, als eine Gegendemonstration für den Minenausbau stattfand, worauf mehrere Befragte hinweisen. Dabei wurde laut Antworten das Protestparadigma teilweise umgekehrt, die Größe des Protests übertrieben und der Demonstration mit positiver Protestberichterstattung viel Platz eingeräumt:

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»One example is the only one PRO-mining demonstration organised, which was small in numbers, though it got huge media coverage which talked about a great number of demonstrators, whereas anti-mining demonstrations which occur frequently get no coverage.«

21 Personen weisen bei der zweiten qualitativen Frage abermals auf eine ideologische Protestberichterstattung hin, bei der »jobs and economy« an primäre Stelle gerückt werden und die z.T. als neoliberal bezeichnet wird. 19 Befragte sprechen von einer deutlichen minenunterstützenden Haltung der Mainstreammedien. Die Protestierenden beanspruchen für sich, die Proteste aus dem gleichen Grund zu führen, mit welchem die Regierung und Minenverantwortliche den Ausbau der Mine argumentieren: aus ökonomischer Rationalität. Allerdings wird dieser Terminus von den beiden Akteuren gegenteilig definiert, die Protestierenden sehen als Konsequenz der Minen die Zerstörung mehrerer hundert Arbeitsplätze, ökonomisch betrachtet finden die Protestierenden den Ausbau der Minen nicht rational. Die Mainstreammedien greifen die Divergenz zwischen den Akteuren nicht aktiv auf, sie reproduzieren die ideologische Haltung der Regierung und der MinenVerantwortlichen, was acht Personen explizit und viele weitere implizit bedauern. Insoweit kann die Berichterstattung als ideologisch bezeichnet werden, argumentiert sie doch mit dem unreflektierten Argument der ökonomischen Rationalität und der Entstehung von Arbeitsplätzen durch das Minenprojekt wird, ohne diese aktiv zu hinterfragen. Das ökonomische Argument erhält zudem deutlich mehr Gewicht als andere Argumente. Die von wissenschaftlicher Seite bestätigten ökologischen Konsequenzen als auch die längerfristigen ökonomische Konsequenzen aufgrund der unwiderlegbaren Endlichkeit des Goldabbaus werden nicht auf die gleiche Bewertungsebene gelegt, ihnen wird weniger Relevanz beigemessen. Den Protesten wird für etwas Schuld zugewiesen, wofür die AktivistInnen wiederum das Minenprojekt verantwortlich machen: die Zerstörung der lokalen Wirtschaft. »[T]he Greek common media shows only the one part of the story. They state that the mining project in [the North of Greece] will bring development in area and it will create new jobs. They do not mention how many jobs will be lost from the tourist and agricultural section or the irreversible damage to the forest and to water recourse. Greek common media try to present the inhabitants who are against the mining company as extremists, irrational and that are guided by leftist and anti-authoritarian parties although the truth is that the majority of them have been voting for many years the party of New Democracy.« »The media support the idea that the mines will help Greek economy, whereas it's the other way around. [The region] has gold, trees, water and copper which are literally transfered away. Affects on health, local climate and tourism are completely ignored.«

278 | P ROTEST ALS EREIGNIS »They present in detail only the pro-mines opinion of the gold-mine company, and they advocate them. On the other hand, every protestation is bad for the tourism and the country's image for the whole world.«

(b) IGNORIEREN VON DEMONSTRATIONEN BZW. VON ESSENTIELLEN FAKTEN: Eine beachtlich große Menge von 77 Aussagen weist auf ignorierte Daten, Fakten und Protestfälle hin. Zuvorderst wird das Ignorieren von Demonstrationen und wissenschaftlichen Daten genannt, hinzu gesellt sich das konsequente Ignorieren der Protestmotive und der ökologischen Konsequenzen der im Bau befindlichen Förderungsanlage. Eine auffallend hohe Anzahl von 21 Personen führt zusätzlich zu den minimierten Protestzahlen das Ignorieren von Protesten und der Solidarisierungen aus anderen Teilen Griechenlands mit z.T. ausführlich geschilderten Fallbeispielen an. So wird auch auf der eingangs geschilderte »Invisible March« in Thessaloniki des Öfteren genannt: »[The media] never say the real number of people that take part in the protests. Two massive demostrations took place in Thessaloniki's city centre, the first with 7000 people and the second with more than 12000. Both totally peaceful, people came with kids and families. The city centre of the 2nd largest city in Greece was closed for 5 hours. The first demonstration was completely INVISIBLE, they never said anything. For the second they said it was about 4-5000 ecologists and left partied protesting for mines in [the North of Greece.]« »[I]n november 24th 2012 there was an 10.000 people march against gold mining in thessaloniki and commom media of Athens havent shown anything. it was the ›invisible march‹, the ›journalist‹ travel to [the North of Greece] and Turkey by [the mining company F] 7-10 April with all the expenses paid had as a result ›wonderful‹ reportages (…)« »There is much more participation in the actions, the common sense is based on solidarity and the local community is absolutely in harmony with the groups of coordination from other parts of Greece. This is something that the media succesfully hide from their crowd and the result is the inability to form a solid opinion for the matter.«

Verschweigen und Verkehrung der Polizeigewalt: Zahlreiche Personen bezeugen Polizeigewalt gegen die Protestierenden, die in den Medien nicht zum Vorschein komme, sondern vielmehr werde »brutality of the police« entweder ignoriert oder ins Gegenteil verkehrt, indem bei Auseinandersetzungen die PolizistInnen in die Opferposition gerückt werden. Drei Viertel (76,9%) der Statements, die Gewalt der Polizei dokumentieren, weisen auf medial ignorierte ungerechtfertigte polizeiliche Festnahmen hin. Die Polizei falle nachts in Dörfer ein, verletze Personen, nehme illegalerweise DNA ab und wende Pfefferspray an.

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»[I]n fact media do not present the protests, the injustice, the brutality of the cops, the facts that police who is a state service in the protection of the people is actually doing the the security patrol of a private company under the orders of the Greek government« »For example, a fire was lit by the police tear gas and the news said that the protesters who are supposed to riot about the enviroment, lit it!«

Mehrere Personen führen den Vorfall in einer »highschool« an, in der die Polizei mit Pfefferspray vorgegangen sei: »[I]ncident: peppergass canisters in highschool most of the media side with the police that never happen, when pgotographs and photos produced from indepedence media they just ignore them and never present them. Small injuries to a policeman started with serious gunshoots injuries is proven that they were scratces baut the latest never reported. Protesters with serious injuries broken ankle never mentioned from the main news channels« »They present the protesters as people of a specific political ideology and this is not the case. They present the protests as violent acts when most of the times they are peacefull marches in the forest. The police invades their villages arresting people in the middle of the night or using tear gas even in schoolyards with no provocation.«

Bei gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen PolizistInnen und DemonstrantInnen würden die Medien verletzte PolizistInnen und gewalttätige DemonstrantInnen hervorheben. Ungerechtfertigte Festnahmen oder Provokationen seitens der Polizei würden zu Ausartungen führen, wie einige teils aktivistische Befragte angeben. Alle beobachten die Ignoranz der Polizeigewalt oder die Positionierung der Polizei in der Opferrolle. Zentral in der Berichterstattung über die Auseinandersetzungen stehen erlittene Verletzungen von Polizeibeamten. »NEVER NEVER neither politicians nor the Greek media talk about the provocative behaviour of police« »The common media are not objective and do not present their own stories, but actually reproduce the statements issued by the police, the ministers and MPs and of course the company. They rarely take interviews from the activists involved and they almost always discredit them. When clashes with the police happens, they take the side of the police talking about the injured policemen but never about the injuries or the brutal tactics leading to arrests. They present the protesters exactly the same way they present terrorists (real or presumed).«

Mehrfach dokumentiert wird eine Frauendemonstration nach einem Muttertag, als die Festnahmen von drei Frauen zu Auseinandersetzungen führten:

280 | P ROTEST ALS EREIGNIS »There is actually no presentation of the actions, nor progress of their actions. Not to say about the moral statements or motives that have never been heard of. Recently, 3 women were arrested from the police during an Antigold protest of women (on the world mother day) and after this event, other protesters tried to intervene and a police officer was injured (fire shot, not known from whom or what type of gun). Media showed only that a police officer was injured and he was in critical condition. On the contrary, hospital doctors said that he was stable and in good condition.«

(c) VERSTRICKUNGEN AUF STRUKTURELLER EBENE: Hinweise auf die strukturellen Verzahnungen der Medien, Politik und Minen wurden bereits in der vorhergehenden qualitativen Frage behandelt. Auch bei dieser Frage weisen einige (6) Personen auf die vorherrschende Korruption u.a. hin. Hervorstechend und daher zu den angeführten Begründungen ergänzend erwähnenswert ist allerdings eine Aussage einer offenbar journalistisch tätigen Person, die Zeugnis über Bestechung von Medienbesitzern ablegt. Die Richtigkeit der Aussage ist nicht nachprüfbar, nachdem aber weitere Befragte von »Geschenksreisen für JournalistInnen« u.a. Korruptionstätigkeiten sprechen, wären jedenfalls Recherchen in diese Richtung verdienstvoll: »Underestimating the number of participants or even not mentioning big manifestations such as the one in Thessaloniki, or even showing images from people gothering hours before the massive crowd arrives. I, collaborating with local media, can witness bribing from gold mine companies to local media owners (…) to spread biased information.«

(d) DIREKTE MEDIENKRITIK: Vier Personen führen explizit die besonders geringe Ausstrahlungsdauer und den wenigen Platz an, die den Anti-Minen-Protesten von Fernsehsendern und Zeitungen eingeräumt werden. Exemplarisch werden zwei Aussagen angeführt, die nicht nur auf Marginalisierung hinweisen, sondern auch konkrete massenmediale Sender nennen: »(…) [T]here is a totally distorted approach on this topic by mainstream Greek media. (…) To give you an idea, although the greatest proportion of the residents is now anti-mining some media present the protesters an a bunch of anarchists/leftists that went to the area from all over Greece, in order to destroy and damage the Government's plan on investions. They do not present official reports by Greek universities (AUTH) or professional bodies (TCG) that express doubts on the environmental impact of the venture. Finally, they give much more time (TV) or space (newspapers) on pro-mining locals than having an objective and equal approach.« »There are also specific tv-programs mainly in the National tv canals (ET1, NET, ET3) or in some big private ones (MEGA, SKY, etc) and small private ones (∆ΕΛΤΑ: DELTA from

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Alexandroupolis city in NE Geece, etc) that shows an amazingly unconscionable way of the benefits from Gold-mining.«

22 Personen gaben die persönliche Einstellung zu den Antigold-Protesten wieder, die meist protestunterstützend ausfiel. Sie werden hier nicht angeführt. Als Ausnahme in den Antworten heraus sticht die Schilderung einer Person, zu der an anderer Stelle weitere Recherchearbeiten verdienstvoll wären: »No media has described the terror that the protesters spread among the workers of gold mines«

7. ANALYSE Bereits während der Datenpräsentation wurden jeweils am Schluss der Unterpunkte der jeweiligen Dimension Zusammenfassungen von Zwischenergebnissen gegeben, sie werden in der nun folgenden Analyse nicht mehr ausführlich wiederholt. Im Folgenden werden die gewonnen empirischen Ergebnisse im Hinblick auf die Protestform, die Einflussfaktoren auf die Berichterstattung sowie die Form der Berichterstattung analysiert. 7.1 Protestform Die Antigold-Proteste werden vornehmlich von BewohnerInnen einer nordgriechischen Region und anderen griechischen StaatsbürgerInnen geführt und von europäischen und internationalen SympatisantInnen solidarisch unterstützt. Die Protestbewegung entstand in Reaktion auf das geplante Ausmaß bzw. den Ausbau der Förderung. Durch erhebliche Eingriffe in die Landschaft werden gesundheitlich, ökologisch und ökonomisch weitreichende Konsequenzen erwartet. Die vorliegenden Daten lassen den Schluss zu, dass es sich bei dem Protestkollektiv um eine Graswurzelorganisation handelt, die Bottom Up entstand bzw. organisiert wurde. Mit hoher Wahrscheinlichkeit erhielt das Kollektiv keine einflussnehmende externe Finanzierung und fand keine externe Einflussnahme in die Protestziele statt. 7.2 Einflussfaktoren auf die Berichterstattung Die Protestgröße gilt im vorliegenden Protestfall als äußerst bedeutender Einflussfaktor auf die Berichterstattung. Beachtlich ist die Wirksamkeit der Protestgröße als protestereignisgebundener Einflussfaktor – trotz des übermäßigen Gewichts des

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strukturellen Einflussfaktors Ownership. Der Einfluss des Protestmerkmals Protestgröße als protestereignisgebundener Einflussfaktor manifestiert sich auf vier Arten: •







Protestaktionen werden durch die zahlreiche Teilnahme zu »massive demonstrations«, wie einige Befragte formulieren. Mehrere tausend DemonstrantInnen gehen in Thessaloniki auf die Straße, etwa zehntausend bei der größten Demonstration im Herbst 2012, noch einige mehr bei Aktionen im darauffolgenden Jahr. Zwar können einzelne große Protestdemonstrationen medial ignoriert werden, allerdings gelingt das umfassende Ignorieren ob des Ausmaßes der Proteste nicht mehr. Das Protestkollektiv wächst über die Jahre seiner Existenz zur sozialen Bewegung mit immer mehr ProtestteilnehmerInnen heran, in sozialen (Online-) Netzwerken und über Blogs solidarisieren sich BürgerInnen, zivilgesellschaftliche, wissenschaftliche und religiöse Gruppen (wie die Universität Thessaloniki und die Orthodoxen vom Bergkloster Athos). Dazu kommen Netzwerkkontakte zu weiteren europäischen Anti-Minen-Protestkollektiven, mit denen gemeinsame Konferenzen, wie die griechisch-rumänisch-spanische Vortrags- und Diskussionsveranstaltung im Jahr 2013 im Europäischen Parlament, organisiert werden. Die zunehmende Größe und Breite des Protests erhöht die Chance, Aufmerksamkeit zu gewinnen. Auf inhaltlicher Ebene werden von immer mehr Fachrichtungen empirische Daten geliefert, die auf die Gefahren und Konsequenzen des aktuell angepeilten und in Bau befindlichen Förderungsprojekts hinweisen. Die Studienergebnisse umfassen biologische, chemische, medizinische und ingenieurtechnische Erkenntnisse sowie berechnete touristische und ökonomische (zumeist negative) Konsequenzen. Politikwissenschaftlich, soziologisch und juristisch werden u.a. demokratische Aspekte beleuchtet. Die vorliegende Arbeit ergänzt sozialwissenschaftliche Forschungsbemühungen aus medienwissenschaftlicher Perspektive. Internationale Medien berichten über die Proteste und das Minenprojekt, Bewusstsein und Solidarität in internationalen Öffentlichkeiten wachsen. Dennoch nehmen die griechischen Mainstreammedien Demonstrationen und Fakten teils nicht in die Medienagenda auf oder färben die Proteste protestparadigmatisch. Es scheint, als würden bei dem Protestfall in Griechenland andere Faktoren wirksamer sein als der Faktor Protestgröße.

Werden die Einflussfaktoren Spektakel und Ausmaß an Extremem in Aktion und Taktik betrachtet, zeigt sich deren Wirksamkeit deutlich. Es sollte dabei aber nicht der verkürzte Fehlschluss gezogen werden, dass eine Berichterstattung eher einsetze, je spektakulärer und je extremer (z.B. je gewaltvoller) die Aktionen ausfallen. Aufgrund der Datenlage scheint präziser und treffender zu sein: Wenn Gewalt in ir-

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gendeiner Form im Zusammenhang mit den Protestierenden (proaktiv oder als Reaktion auf Polizeigewalt) auftritt, so ist eine spektakularisierte Aufnahme der Gewalt in die Agenda eher wahrscheinlich – mit dem Nebenschauplatz Protest. Die Daten weisen auf den Entwurf eines telewirksamen Spektakels bei vorhandener Gewalt zur Erzeugung moralischer Empörung und unter einer möglichen Umkehrung des Täter-Opfer-Verhältnisses hin. Der Faktor Geopolitische Interessenspolitik spielt zumindest insoweit eine Rolle, als griechische von den Minen direkt oder indirekt (Werbung etc.) profitierende MedienbesitzerInnen kein Interesse an einer möglicherweise internationalen Negativpresse über die Minen – samt positiver Protestberichterstattung – haben. Eine große nationale Minenopposition stellt eine Gefahr für das Minenprojekt mit potenziell weitreichenden direkten oder indirekten finanziellen Konsequenzen dar. Der Faktor wirkt sich also in Form einer Marginalisierung des Protests aus. Die Proteste sind insoweit radikal, als dass sie zum Teil nicht nur für eine Verringerung der Förderung, sondern auch für den Stopp des Goldabbaus und den Stopp einer neoliberalen Wirtschaftspolitik eintreten. Zudem werden Polizeigewalt, Korruption, Medienberichterstattung und das Handeln der politischen und ökonomischen Elite angeprangert. Wissenschaftlich von mehreren Disziplinen belegt, sind die Protestinhalte in ihrer Radikalität Gefahr für die Umsetzung der Mine und die dahinterstehenden verschiedenartigen ökonomischen und politischen Konsequenzen. Bestehen direkte oder indirekte Interessen seitens der Medien an der Umsetzung des Investitionsplans, so kann eine Protestmarginalisierung zwar als demokratietheoretisch und journalistisch-ethisch fragwürdig, aber in der ökonomischen Logik als konsequent argumentiert werden. 7.3 Form der Berichterstattung Entweder die Berichterstattung ignoriert ganze Demonstrationen bzw. essentielle Daten, Fakten und Motive – oder aber sie verfällt in das Protestparadigma, das die Proteste diffamiert oder negativ spektakularisiert. Auf diese beiden Formen der Berichterstattung deuten die gewonnenen empirischen Daten und die Ergebnisse anderer AutorInnen hin. 7.3.1 Ignorieren von Protest Datenbasiert können verschiedene Ausformungen des Ignorierens festgehalten werden. Sie werden entlang der Dimensionen im Folgenden beschrieben.

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InitiatorInnen und TeilnehmerInnen: Selbst wenn über die Proteste berichtet wird, werden die AktivistInnen häufig ignoriert. Demonstrierende Frauen und Männer aller Altersklassen und Parteipräferenzen sowie auch WissenschaftlerInnen als solidarisierte und teils aktive ProtestteilnehmerInnen werden nicht zu Wort gelassen. Aktivistische Befragte führen an, weder von den JournalistInnen interviewt noch in den Medien zitiert zu werden. Sie werden formal als eine Minderheitengruppe von Linksradikalen dargestellt, was der Realität nicht entspreche, denn AnhängerInnen verschiedener Parteien und jeden Alters nehmen am Protest teil. Die WissenschaftlerInnen der Universität in Thessaloniki haben sich nahezu geschlossen mit den Protesten solidarisiert. Empirische Studien zum geplanten Ausmaß der Förderung in Nordgriechenland werden strukturell ignoriert, wie Literaturrecherche, Aussagen von griechischen WissenschaftlerInnen und die Untersuchung belegen. WissenschaftlerInnen werden kaum in Fernsehsendungen eingeladen – und wenn doch, im Fernsehen in Streitgespräche verwickelt, so wurde im Rahmen der Befragung deutlich. Der Protest ist als Graswurzelinitiative entstanden und existiert seitdem als Bottom-Up-Protestbewegung. Die InitiatorInnen der Aktionen sind auch die TeilnehmerInnen des Protests, eine Abgrenzung ist nicht möglich. Organisation: Information über das breite Netzwerk der Proteste wird zum Teil unterschlagen, die Solidarisierung von verschiedenen Seiten medial nicht reflektiert, wie viele Befragte klagen. Das Kollektiv wird als Minderheitengruppe beschrieben, die Teilnahmezahlen bei Demonstrationen nach unten gekürzt; auf regionaler Ebene sind die Protestierenden jedenfalls keine Minderheit. Die Bewegung organisiert sich zeitlich kurz-, mittel- und langfristig, Transparenz wird selbstständig über die sozialen Netzwerke und Blogs gesorgt. Motive und Ziele: Nahezu alle Befragten (90%) geben an, Motive und Ziele würden nicht oder kaum wiedergegeben werden. Zugunsten einer spektakulären Fokussierung auf die Gewalt würden Inhalte ausgespart, Protestierende nicht befragt oder nicht zu Wort gelassen. Äußerst selten werden inhaltliche Recherchearbeit über die Motive betrieben, so eine weitere häufige Klage. Die Inhalte der Proteste werden größtenteils zugunsten einer spektakulären Inszenierung von Gewaltanwendung ausgespart. Zahlreiche WissenschaftlerInnen der Universität Thessaloniki liefern mit ihren Studien empirische Argumente, doch der scientific Input zählt zu den häufig ignorierten Fakten der Proteste. Motive, Forderungen und Ziele der AktivistInnen sind mehrdimensional, sie betreffen die ökologischen Konsequenzen, die Sorge um die eigene Gesundheit und resultierende ökonomische Auswirkungen. Sie sind kurzfristig wie das Anprangern von Polizeigewalt), mittelfristig wie die Verurteilung des Investmentplans Förderunternehmens F langfristig angelegt, wie es die Forderung nach dem Stopp der För-

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derung ist. Sie betreffen die strukturelle Ebene, wenn Eigentumsverhältnisse der Medien (Ownership), die mangelnde Medienunabhängigkeit, die engen Verstrickungen von Medien, Politik und Minenunternehmen sowie politische und mediale Korruption kritisiert werden. Zudem betreffen sie auf inhaltlicher Ebene das Verschweigen von Fakten, die Verbreitung politischer und/oder ökonomischer Ideologie und das Zeichnen eines negativen Protestimages. Auslöser und Aktionen: Einzelne Protestaktionen werden von den Medien ignoriert. Da sowohl Untersuchung als auch Fragebogen synchron ausgelegt sind und auf die nahe zurückliegende Vergangenheit fokussieren, wurden die Dimensionen Erstauslöser und ErstinitiatorInnen nicht berücksichtigt. 7.3.2 Protestparadigma Werden die Demonstrationen nicht ignoriert, so werden die Antigold-Proteste als gewalttätige, von einer Minderheit durchgeführte Aktionen mit geringer politischer Relevanz abgebildet. Dieses Framing entspricht dem Protestparadigma. Die Daten zeigen eindeutig, dass die Berichterstattung über die Antigold-Proteste nach Aussage von drei Viertel aller Befragten (84%) verzerrt ist und von der Realitätswahrnehmung der Befragten abweicht. Weitere neun Prozent tendieren eher zu dieser Meinung. Weit mehr als hundert Personen beschreiben in den qualitativen Fragen selbst verschiedene Aspekte, die stark auf das mediale Protestparadigma hinweisen. Mit Blick auf die Daten ist festzuhalten, dass die mediale Darstellung der Proteste negativ spektakularisiert und teilweise stark von der wahrgenommenen Realität der Befragten abweicht. Folgende verschiedene Strategien tragen zur Diffamierung der Proteste bei: • • • • • •

Negativframing und Falschdarstellung der Protestierenden als u.a. gewalttätig, linksextrem und ökonomisch irrational, Ignorieren von Polizeigewalt und/oder der Positionierung der Polizei in der Opferrolle und der Protestierenden in der kriminalisierten Täterrolle, Minimierung der Protestgröße zur Marginalisierung der politischen Bedeutung, mangelhafte Darstellung inhaltlicher Fakten, Spektakularisierung der (Gewalt-)Aktionen zur argumentativen Schwächung der Proteste und Ignorieren von Demonstrationen und die Auslassung von Fakten zur Verhinderung der politischen Responsivitätspflicht ex ante.

Entlang der Dimensionen äußert sich das Protestparadigma wie folgt:

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Auslöser und Aktionen: Nicht ignorierte Ereignisse werden mit hoher Häufigkeit negativ geframet. Spektakularisierte Gewalt wird sehr häufig in Zusammenhang mit den AktivistInnen gebracht, Gewaltanwendung seitens der Polizei selten abgebildet. Die Aktionen werden als irrational für die lokale Wirtschaftlich gezeichnet, zu erwartende ökologische u.a. Konsequenzen dem hegemonialen Argument des ›richtigen, guten Wirtschaftens‹ untergeordnet oder als Übertreibung diffamiert. Den Protestaktionen wird medial eher die Sinnhaftigkeit abgesprochen, sie werden häufig als politisch irrelevant geframet. InitiatorInnen und TeilnehmerInnen: Ähnlich den Aktionen werden die TeilnehmerInnen kaum, und wenn, dann abgewertet dargestellt. Dies geschieht über verschiedene bewusste oder journalistisch unbewusst übernommene Strategien: Eine zumindest implizite Kriminalisierung wird über die besonders häufigen Bezeichnungen »criminals«, »troublemakers« und »violent« herbeigeführt. Das Absprechen der ökonomischen Rationalität wird durch das Anlegen eines grundlegend anderen Maßstabs im Wirtschaftsverständnis zutage gefördert, was allerdings nicht offengelegt oder reflektiert wird. Die Protestierenden werden oft als Minderheitengruppe von »lefties«, Linksradikalen, negativ belegten Syriza-AnhängerInnen abgebildet, was der Realität nicht entspricht, wie aus den Daten hervorgeht. Ökonomische Sorgen der in der Region lebenden Protestierenden werden zum Großteil ignoriert, denn sie werden kaum als »FischerInnen, im Tourismus Beschäftigte und andere ArbeiterInnen in der Umgebung der Minen« präsentiert. Noch seltener wird ihre Angst »um die (eigene) wirtschaftliche Zukunft« und »die (eigene) Gesundheit bzw. die kommender Generationen« abgebildet. Motive und Ziele: Der Großteil der Motive und Ziele wird medial mit dem Argument der ökonomischen Irrationalität außer Kraft gesetzt. Dem wirtschaftlichen Versprechen der MinenunterstützerInnen »to create jobs« wird in der medialen Präsentation deutlich Vorrang gegenüber den ökonomischen Sorgen der regionalen Bevölkerung gegeben, der Maßstab des tausende Arbeitsplätze schaffenden Goldunternehmens wird vor dem Hintergrund der schlechten griechischen Wirtschaftslage angelegt und dadurch in seiner Wirkung verstärkt. Außer Acht gelassen werden dabei die Konsequenzen für weit mehr als tausend BewohnerInnen und ArbeiterInnen in der Umgebung rund um den Standort der Mine, sie rechnen aufgrund der Auswirkungen des Minenbaus mit dem Verlust ihrer Arbeitsplätze in Tourismus, Landwirtschaft, Wald- und Forstwirtschaft, Fischerei u.a. Die kurzfristige ökonomische Argumentation der MinenunterstützerInnen setzt über die geschilderten Einflussfaktoren und Strategien die langfristige Perspektive der Protestierenden außer Kraft. So wird eine tendenziöse Argumentationsführung mit einer ideologisierten wirtschaftlichen Haltung präsentiert, die sich mit den Interessen des Minen-

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Ownerships deckt. Ökonomischen Protestmotiven wird so mit einer interessengeleitet ideologisierten, hegemonialen Argumentationslinie entgegengehalten.

Gesamtanalyse

1. F RAMING UND D ARSTELLUNG DER P ROTESTE Auf den Daten der Case Studies und auf den themenrelevanten theoretischen Grundlagen basierend beleuchtet die folgende Analyse zunächst, ob sich aus dem Framing einzelner Proteste paradigmatische Tendenzen in der Protestberichterstattung identifizieren lassen. Im Zuge der Forschungen ließen sich solche paradigmatische Tendenzen in der Berichterstattung deutlich belegen, diese als Formen der Protestberichterstattung benannten Tendenzen wurden teils neu identifiziert, teils ergänzen sie bereits bekannte Formen der Protestberichterstattung. Zur Validierung einzelner Proteste und ihrer Berichterstattung wurde zur Operationalisierung ein Set von Untersuchungsdimensionen entworfen, die sich – so zeigte die Anwendung in den Case Studies – sehr gut dazu eignen, protestfallbezogene Erhebungen vorzunehmen (Siehe: Methodenteil, Tabelle 1). Entlang der Untersuchungsdimensionen wird die mediale Darstellung des Auslösers und der Aktionen, der InitiatorInnen, der TeilnehmerInnen, der Organisation, der Motive und Ziele sowie der Finanzierung erhoben, die jeweiligen Subkategorien messen die Varianzen innerhalb der Einzeldimensionen. In den Case Studies wurde die dimensionengeleitete spezifische Analyse an die Datenerhebung angeschlossen. Maßstab einer paradigmatischen Kategorisierung der Protestberichterstattung ist die Bedingung einer möglichen ›korrekten‹ medialen Darstellung, welche, so wurde festgelegt, zumindest weitläufig mit der inhaltlichen und aktionistischen Selbstdarstellung bzw. Selbstwahrnehmung der ProtestinitiatorInnen übereinstimmen muss. Unter Weiterentwicklung des Framingkonzepts von Benford und Snow1 wird als erfolgreiche Form der Protestberichterstattung typisiert, wenn Protest (1) als agierender (nicht-institutionalisierter) Akteur der Öffentlichkeit mit (2) seinen Inhalten und Protestdarstellungen medial ernstgenommen wird und (3) die vorgebrachten Argumente und Weltanschauungen im öffentlichen Diskurs reflektiert werden. In anderen Worten: Überschneidet sich die Protestberichterstattung mit der Selbstdar-

1

Snow/Rochford/Worden/Benford 1986: 464.

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stellung der ProtestinitiatorInnen zumindest weitgehend in einem bestimmten Raum zu einer gewissen Zeit, so ist die Berichterstattung erfolgreich. Protestberichterstattung ist tendenziell nicht erfolgreich. Dies ist immer dann der Fall, wenn Protest auf mediale Ignoranz, das Protestparadigma oder Rekuperation stößt. Am wahrscheinlichsten wird Prostet medial ignoriert. 2 Wie die Case Study über die Umweltproteste in Griechenland zeigt, wurden mehrere Demonstrationen und essentielle inhaltliche Fakten zugunsten einer Berichterstattung, die dem Minenprojekt wohlwollend gegenübersteht, ignoriert. Eine der größten Demonstration des nordgriechischen Protestkollektivs wurde trotz seiner etwa zehntausend Personen umfassenden Größe massenmedial ausgeschwiegen, was die Protestierenden zu seiner nachträglichen Bezeichnung als »Invisible March«3 veranlasste. Das Ignorieren von Protest stellt die erste Form der Protestberichterstattung dar, denn auch bzw. gerade mit dem Ignorieren können ideologische Implikationen auf die Gewichtung von gesellschaftlich divergierenden Interessen transportiert werden. Die wissenschaftlich gemeinhin als Protestparadigma bezeichnete Form stellt die zweithäufigste Form der Berichterstattung dar4 und umfasst die Kriminalisierung, Marginalisierung und Diskreditierung sowie die negative Spektakularisierung von Protestaktionen. Das Protestparadigma lässt sich bei den London Riots nahezu schulbuchartig nachzeichnen – mit der quasi bestätigenden Besonderheit, dass die Vorgänge nahezu nicht als Proteste sondern als »Krawalle«, »Ausschreitungen«, »Brandstiftungen«, »Gewalt« oder »Plünderungen« geframet wurden und gemäß den Beobachtungen von Boyle, McLeod und Armstrong sowie Harlow und Johnson stark auf Taktik 5 , Spektakel und dramatische Aktionen 6 fokussiert wurde. Auch wenn einige der medial geschilderten Aktionen tatsächlich stattfanden, so charakterisieren SozialwissenschaftlerInnen die Ereignisse als Proteste mit politischen Motiv und widersprechen dem Bild, das Medien in der ersten Woche der Berichterstattung zeichneten, wie in der Case Study ausgeführt wurde. Auch die griechischen Umweltproteste wurden, sofern nicht verschwiegen abgewertet, negativ gezeichnet und deutlich protestparadigmatisch behandelt, so die Daten. Neben Ignorieren und Protestparadigma stellt die Rekuperation die dritte nichterfolgreiche Form der Protestberichterstattung dar. Das Umdeuten radikaler Protestinhalte zugunsten ihrer Verharmlosung7 oder zugunsten einer Neutralisierung hin zu einer gewünschten ideologischen Aussage ist etwa bei kapitalismuskritischen Pro-

2

Smith/McCarthy/McPhail/Augustyn 2001: 1419.

3

Kadoglu 2013.

4

Gitlin 1980.

5

Boyle/McLeod/Armstrong 2012.

6

Harlow/Johnson 2011.

7

Waltz 2005: 111.

G ESAMTANALYSE

| 291

testen zu beobachten. 8 Beispielsweise werden Inhalte mit dem Ziel umgedeutet, über radikale Proteste zu berichten und dabei sowohl das Publikum nicht zu enttäuschen und die finanzierende Anzeigenkundschaft und Stakeholder nicht zu verärgern. Die Rekuperation wird in dieser Arbeit nur periphär behandelt, auch wenn weitere Forschungsbemühungen interessante Ergebnisse liefern könnten. Als erfolgreiche Formen der Protestberichterstattung konnten unter Berücksichtigung der Daten und der relevanten Literatur die differenzierte und die affirmative Form der Medienberichterstattung als Kategorien identifiziert werden: Im Gegensatz zu den erstgenannten nicht-erfolgreichen geben die erfolgreichen Formen die Protestinhalte und -aktionen gemäß der Selbstdarstellung der ProtestorganisatorInnen wieder. Mit einer differenzierten Berichterstattung reagierten die untersuchten Medien auf die Bürgermeisterproteste, mit denen sich eine der Case Studies auseinandersetzt. Das Framing der Inhalte und Aktionen glich nahezu wörtlich jenem, welches die ProtestinitiatorInnen vorlegten, dennoch wurden die Inhalte gleichzeitig in Gegenüberstellungen mit opponierenden Konfliktakteuren kritisch reflektiert. Die Protestaktion auf der Autobahn wurde von den ProtestorganisatorInnen als Spektakel inszeniert und den Medien mit professioneller Nutzung des Pressenetzwerks angeboten – und von den Medien als solches angenommen. Trotz (Eigen-)Spektakularisierung der Aktion ging die Darstellung der Forderung nicht unter, sondern die Protestberichterstattung verlief rund um den Protesttermin umfassend und erfolgreich. Nahezu galt der Diskurs für die Protestierenden insgesamt als erfolgreich, wenn nicht Wochen später die professionelle externe Organisation des Protests durch eine Public-Relations-Agentur samt externer Finanzierung aufgedeckt worden wäre. Dies zog eine stark erhöhte mediale Aufmerksamkeit nach sich, die diesmal allerdings für das Protestkollektiv besonders negativ ausfiel. Der mediale Wandlungsprozess von der distanzierten, erfolgreichen hin zur nicht mehr erfolgreichen Berichterstattung ist aufgrund der Variable Externe Finanzierung und deren politischen und ökonomischen Implikationen bei den Bürgermeisterprotesten deutlich abzulesen. Die Datenlage gestattet zudem die Einführung der Kategorie der affirmativen Berichterstattung, mit der prototypisch die implizite oder direkte Bevorteilung oder Parteinahme für die Protestmotive, ProtestaktivistInnen oder Protestaktionen umfasst wird. Sie ist ebenso eine erfolgreiche Form, unterscheidet sich aber von der distanzierten Berichterstattung im Element der unkritischen Unterstützung. In den drei ausführlichen Case Studies des empirischen Teils tritt diese Form nicht auf; allerdings wird anhand der Fallbeispiele der Europäischen Bürgerinitiative Wasserist-ein-Menschenrecht und der Indignados-Proteste auf ihre (zumindest jeweils partiell auftretende) Existenz hingewiesen. Die affirmative Berichterstattung könnte 8

Sussmann 2010: 4.

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möglicherweise direkt oder indirekt auf eine Ideologie, oder geopolitische9 oder andere Interessen zurückgeführt werden. Paradigmatische Tendenzen in der Protestberichterstattung wurden identifiziert. Die Protestberichterstattung ist zunächst, prototypisch betrachtet, entweder erfolgreich oder nicht erfolgreich. Als Maßstab gilt die Selbstdarstellung bzw. HauptakteursAuslegung, an dem gemessen wird, ob die Berichterstattung sich mit den Inhalten und der Realitätswahrnehmungen der ProtestinitiatorInnen überschneidet. Tendenziell ist die Berichterstattung über Protest nicht erfolgreich. Am ehesten wird Protest von den Medien ignoriert. Wird Protest aber in die Medienagenda aufgenommen, so fällt die Berichterstattung mit hoher Wahrscheinlichkeit in ein Protestparadigma, das Protestierende kriminalisiert, marginalisiert oder anderweitig diffamiert und Aktionen negativ spektakularisiert. Die Protestberichterstattung ist eher nicht erfolgreich, wenn Inhalte einen etablierten Status quo gefährden, was zur Fokussierung auf und Spektakularisierung der Aktionen und deren extremen Elementen führt. Bei der Rekuperation als weitere Variante der medialen Handhabung von Protest wird dieser im Sinne einer gewünschten Interpretation umgedeutet bzw. neutralisiert. Dern nicht-erfolgreichen stehen die erfolgreichen Formen der Protestberichterstattung gegenüber: Die differenzierte Berichterstattung zeichnet Inhalte, Aktionen und TeilnehmerInnen im Sinne des Protestkollektivs, ohne aber – wie die affirmative Form der Protestberichterstattung – für den Protest Partei zu nehmen. Das negative, nicht-erfolgreiche als auch das positive, erfolgreiche Framing von Protesten kann nicht allein auf JournalistInnen zurückgeführt werden, sondern muss auch im Vordergrund struktureller und protestereignisbezogener Einflussfaktoren verstanden werden, wie im Folgenden besprochen wird.

2. W IRKSAMKEIT DER E INFLUSSFAKTOREN Nach einer Untersuchung der Formen der Protestberichterstattung werden nun die Gründe analysiert, die ausschlaggebend für eine Protest-Kriminalisierung etwa durch die Fokuslegung auf Gewaltakte, oder für eine durch Medien geweckte Solidarisierung etwa durch die Darstellung »ernstzunehmender« Forderungen sind. Das Kapitel beschäftigt sich also mit bedingenden Einflussfaktoren, die auf die Etablierung von Protesten im medial bereitgestellten politischen Diskurs wirken. Dabei werden zwei Ebenen beleuchtet: Zunächst sollen jene Faktoren erhoben werden, die Berichterstattung strukturell beeinflussen, um dann zu den protestereignisgebunden Einflussfaktoren voranzuschreiten.

9

Wittebols 1996: 359; Boyle et al. 2012: 138.

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Noch vor der journalistischen Auswahl von Ereignissen für die Aufmacherstory und die Zwanzig-Uhr-Nachrichten werden Einflussfaktoren wirksam. Basierend auf den vorliegenden Daten und den bereits vorhandenen theoretischen Ansätzen konnte ein Modell entworfen werden, das die Entstehung eines Ereignisses unter Betrachtung der diversen Einflüsse wie etwa die Bestrebungen zu Agenda Building und Frame-Deutung, die internen und externen Filter sowie das Einwirken der Akteure der Öffentlichkeit nachzeichnet. Das Modell schließt das folgende Unterkapitel der strukturellen Einflussfaktoren ab. Beobachtet und nachgewiesen werden konnte die Wirkung von Einflussfaktoren bei der Etablierung eines (Protest-)Ereignisses im medial vermittelten politischen Diskurs (1) auf struktureller und (2) auf protestereignisgebundener Ebene. Vom konkreten Ereignis unabhängige strukturelle Faktoren sind bereits vor Eintritt des Protests wirksam, protestereignisgebundene Faktoren sind an das spezifische Protestereignis geknüpft. Die beiden Einflussarten stehen in einem engen Verhältnis zueinander, so können die strukturellen etwa protestereignisgebundende Faktoren im Hinblick auf ihre Relevanz beeinträchtigen, und umgekehrt die protestereignisgebundenen die strukturellen verstärken oder schwächen. 2.1 Strukturelle Einflussfaktoren Basierend auf der vorliegenden Literatur gelang es, zahlreiche vorhandene Einflussfaktoren, die nicht spezifisch an das einzelne Protestereignis geknüpft sind, in drei neu identifizierte Kategorien externe Faktoren, interne Faktoren sowie etablierte zeitgenössische Mediennormen zu bündeln. Diese wurden anschließend aufgrund der Form ihrer Wirksamkeit als strukturelle Einflussfaktoren begrifflich zusammengefasst. Die externen Faktoren stellen die ursprüngliche Rahmenbedingung dar, die darauf Einfluss ausüben, wie sich die internen Faktoren entfalten. Sie zeitigen also Konsequenzen, die sich in medieninternen Entscheidungen manifestieren und als Einflüsse weiterwirken. Externe und interne Faktoren stehen teilweise in untrennbaren Zusammenhang, dennoch erweist es sich als dienlich, die beiden getrennt von einander zu betrachten. Unter den externen Einflussfaktoren werden die von Herman und Chomsky im Propagandamodell vorgebrachten Filter Ownership, Sourcing, Advertising, Disziplinierung der Medien und die Verbreitung von Antiideologie subsumiert. 10 Das Ownership des Medienhauses kann die Blattlinie und die politisch-ideologische Ausrichtung der Nachrichten bis ins Extrem beeinflussen. Hachmeister und Rager11 sowie auch Ludes12 weisen auf die Monopolbildung unter

10 Herman/Chomsky 1988 11 Hachmeister 2005.

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den Medien und potenzielle Auswirkungen auf die Berichterstattung hin. Die griechische Protestberichterstattung ist stark vom Einflussfaktor Ownership geprägt: Die gleichzeitige Eigentümerschaft ein und derselben Person von einem einflussreichen Medienkonglomerat und der Mine (als Protestzielobjekt), führt zur stark interessengeleiteten Protestberichterstattung. Wiegt ein Einflussfaktor schwerer, so kann er einen anderen entkräften, wie etwa Ownership das Einflussmerkmal Protestgröße außer Kraft setzt, als tausende Personen zählende Demonstrationen ignoriert werden. Die Häufigkeit von Werbeeinschaltungen, also das Advertising, hat einen direkten Einfluss auf die Häufigkeit der redaktionellen Nennung der beworbenen Produkte, wie eine Studie von Andresen13 belegt. In einer Retrospektive halten Herman und Chomsky fest, dass das Advertising in den vergangenen zwanzig Jahren zu einem noch wichtigeren Einflussfaktor geworden ist.14 Ein die Beobachtungen aus der relevanten Literatur einbeziehendes Modell (Abbildung 2) verdeutlicht die ökonomische Beeinflussung der Medienagenda und des Framings im Vordergrund des Dependenzverhältnisses der Medien zu finanzstarken werbenden Unternehmen und Organisationen. Zudem führt die Abhängigkeit von redaktionsexternen Quellen zum Sourcing mit Information, welche das Agenda Setting oder das Framing maßgeblich beeinträchtigen kann, wie neben Herman und Chomsky auch Renger15 festhalten. Bei den London Riots zeigen sich die Konsequenzen des Sourcings deutlich: In den ersten drei Tagen wurde das Framing der Proteste von den Aussendungen der staatlichen Einrichtungen bzw. der Presseagenturen übernommen. Mehrheitlich und unreflektiert wurden quasi nur O-Töne staatlicher Bediensteter und AnwohnerInnen wiedergegeben, mit den Protestierenden wurde nahezu nicht gesprochen. Die Disziplinierung der Medien kann in Form von Foren-Postings, Leserbriefen, ökonomischen Drohungen und Ähnlichem vorangetrieben werden, was den anschließenden Dis16 kurs indirekt mitbeeinflusst und das Framing der Folgeberichte mitbestimmt. Die Verbreitung von Antiideologie als ideologische Bekämpfung eines Feindbilds bzw. einer als feindlich stilisierten Ideologie kann ebenso sowohl das Agenda Setting als auch das Framing prägen. So konstruiert die begriffliche Manifestation des »War on Terrors« die teils zusammenhängenden Feindbilder Terrorist und Islamist, wie Mahsarrat17 festhält. Außerdem wird nach Herman und Chomsky die

12 Ludes 2011: 136. 13 Andresen 2008: 26 14 Herman/Chomsky in: Mullen 2009. 15 Renger 2004: 58-60. 16 Herman/Chomsky in: Mullen 2009. 17 Mahsarrat 1992.

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Ideologie des »free market« vertrieben, was auch Foltin18 aufzeigt: Er hält einen großflächigen antikapitalistischen Diskurs in den Massenmedien kaum noch für möglich. Dabei ist zu beachten, dass Kepplinger (1996) und Jarren (1996) zwar anmerken, die Medien würden »offener und ideologisch flexibler« werden; dies sei durchaus nachvollziehbar, stehe aber nach Imhof und Eisenegger19 nicht im Widerspruch zur These der auf Marktwerte ausgerichteten Medienberichterstattung. Als interne Einflussfaktoren entfalten die medieninternen Bedingungen die Wirkung der externen Rahmenbedingungen. Die externen Einflüsse wirken sich auf Medieninterna wie das Treffen journalistischer oder redaktioneller Entscheidungen in einzelnen Medien aus, welche mitunter Reaktion auf ökonomische, politische u.a. Bedingungen. Zu den üblichen redaktionellen (Blattlinie etc.) und individuellen Dispositionen und der berufsbedingten Forderung nach Exklusivität, versetzt der mit der Wirtschaftskrise argumentierte steigende ökonomische Druck JournalistInnen in zunehmend prekärere Arbeitsbedingungen, in denen Zeit- und Ressourcendruck steigen. Hieraus resultierender Zeitmangel macht nicht nur den Rückgriff auf externe Quellen und das mitgelieferte Framing bzw. die implizite Deutung der Wirklichkeit notwendig, sondern bringt die mangelhafte Prüfung aller übernommenen Informationen und des Framings (!) mit sich. Die ökonomischen Bedingungen machen ferner das Verfassen von redaktionellen Artikeln »als Gefallen« für Anzeigenkundschaft häufiger. 20 Sussmann 21 gibt zu bedenken, dass es, wie auch Buckow22 herausfand, bei lokalen Medien nahezu Standard ist, (potenzielle) Sponsorenevents zu suchen und über sie zu berichten: »Such genetically modified journalism illustrates neoliberalism’s impact on the newsroom« 23 . Die Übernahme des Framings ohne Prüfung zeigt sich als Tendenz bei zahlreichen (auch von Protesten eröffneten) Konflikten, bei denen Medien erwiesenermaßen in den ersten Tagen herrschaftsstabilisierend dem Konsens der Elite folgen.24 Dies liegt einerseits im bereits vorliegenden Framing der staatlichen Institutionen (Interpretationen der Sachlage in Presseaussendungen) und andererseits in der noch nicht vorliegenden, noch nicht recherchierten Hintergrundinformation begründet. Etablierte zeitgenössische Mediennormen sind jene Ereignismerkmale, die innerhalb einer Zeit und eines Raums als dominante, journalistisch essentielle Gestaltungsnormen betrachtet werden. Die Merkmale der Nachrichtenwert-Theorie von

18 Foltin2004. 19 Imhof/Eisenegger 1999: 196f. 20 Buckow 2011: 83f.; Sussmann 2010: 8. 21 Sussmann 2010: 8. 22 Buckow 2011: 83f. 23 Sussmann 2010: 8. 24 Hay 1999, Paschke 2005.

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Lippmann 25 und deren Weiterentwicklungen durch Galtung/Ruge 26 , Staab 27 , Schulz 28 , Bonfadelli 29 u.a. zeigen konsequenterweise auch bei Protestereignissen Wirkung. Die Merkmale treten zunächst konkret ereignisgebunden auf, haben sich aber wegen ihrer aufmerksamkeitsgewinnenden Wirkung innerhalb einer journalistischen Medienkultur zu strukturellen Faktoren etabliert. Neben den Ereignismerkmalen Exklusivität, Nähe, Prominenz u.a. wird der gegenwärtige Trend zum »Spektakel« in der Gestaltung der Medienberichte von renommierten AutorInnen wie Baringhorst30, Beaudrillard 31, Beck32, Bourdieu33, Cohen34, Débord35, Enzensberger36, Imhof37 vorgebracht. Die zunehmende Bedeutung der spektakulären Inszenierung ist gewissermaßen eine spektakuläre Inszenierung der einzelnen Ereignismerkmale, weshalb zur forschungsrelevanten adäquaten Phänomensbeschreibung in dieser Arbeit der Begriff »Spektakularisierbarkeit« der Nachrichtenwertfaktoren geprägt wurde. Die Möglichkeit, Ereignisse bzw. deren Nachrichtenwertfaktoren spektakulär aufzubereiten, geht von beiden Seiten aus, von den JournalistInnen, aber auch von den Protestkollektiven selbst. Wollen Protestkollektive über Massenmedien Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit gewinnen, sehen sie sich vermehrt dazu veranlasst, spektakularisierbare Merkmale hervorzustreichen oder zu konstruieren, denn es gilt das »Primat des Sichtbaren«38. Die professionelle Spektakularisierung von Protest wird zudem von Public-Relations-Agenturen für Astroturfing genutzt, letztlich auch mit dem Ziel, nach außen die BürgerInnen-Partizipation als zusätzliches Mittel für politischen Druck zu nutzen. Die Spektakularisierung einer politischen Forderung lässt sich während des Bürgermeisterprotests nachzeichnen: Zur Gewinnung medialer Aufmerksamkeit und zur Erzeugung öffentlichen Drucks wurde von einer PR-Agentur ein spektakuläres Protestsereignis auf der Autobahn inszeniert, das den Rahmen bot, über die Protestforerung telewirksam zu berichten. 25 Lippmann 1921; Galtung/Ruge 1965; Schulz 1976. 26 Galtung/Ruge 1965. 27 Staab 1998: 53. 28 Schulz 1976. 29 Bonfadelli 2000. 30 Baringhorst 1996: 15. 31 Beaudrillard 1978a. 32 Beck/Schrenk 2007: 248. 33 Bourdieu 1998. 34 Cohen 2002. 35 Débord 1967. 36 Enzensberger, Hans Magnus (1997): Das Nullmedium oder Warum alle Klagen über das Fernsehen gegenstandslos sind. In: Glotz 1997. 37 Imhof 2008. 38 Bourdieu 1998a: 77.

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Abbildung 1: Strukturelle Einflussfaktoren, die vor der manifestierenden Definition eines Ereignisses als Nachricht wirksam werden.

Kernpunkte des Propagandamodells

EXTERNE EINFLUSSFAKTOREN Ownership Advertising Sourcing Disziplinierung Antiideologie

Journalistische Dependenz und individuelle Situation

INTERNE EINFLUSSFAKTOREN Medieninterne Verhältnisse

Kernpunkte der Nachrichtenwert-Theorie bzw. der Spektakel-Theorien

MEDIAL ETABLIERTE ZEITGENÖSSISCHE NORMEN Nachrichtenwertfaktoren und deren Spektakularisierbarkeit

Basierend auf den gewonnen Erkenntnissen veranschaulicht Abbildung 2 die Einflussfaktoren auf die Etablierung von Nachrichten in der Medienagenda. Die Kategorisierung ist für die vorliegende Arbeit von Bedeutung, um zunächst zwischen (1) jenen Faktoren zu unterscheiden, die unabhängig von Medienhäusern als externe Einflussfaktoren wirksam werden, und (2) jenen, die innerhalb einer medialen Einrichtung abhängig von internen Entscheidungen (Redaktion, Medienhaus, Verlag o.ä.) als interne Einflussfaktoren Wirksamkeit erlangen. Ferner werden (3) die medial etablierten zeitgenössischen Normen als dritter wichtiger Einflussfaktor auf die Selektion von Nachrichten angeführt. Die Nachrichtenwertfaktoren sind inhaltlicher Natur. Die Einflussfaktoren sind an Strukturen wie die politisch-ökonomische Disposition, medieninterne Bedingungen oder die in (Medien-)Kulturen etablierten Nachrichtenwertfaktoren geknüpft. Daher werden diese Faktoren unter dem Begriff strukturelle Einflussfaktoren subsumiert. Ihnen gegenüber stehen die (protest-)

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ereignisgebunden Einflussfaktoren, die Inhalt des folgenden Unterkapitels sein werden. Die Einflussfaktoren werden im Vordergrund ihrer jeweiligen theoretischen Ansätze in Abbildung 1 gezeigt, dabei handelt es sich um eine Veranschaulichung und kein Modell. Daran anknüpfend und unter Rücksichtnahme auf die bisher genannten externen Einflüsse auf die Nachricht, deren Wirkung auf die rezipierenden Akteure in der Öffentlichkeit wurde ein Modell entwickelt, das unter Ausblendung der protestereignisgebundenen, aber mit Fokus auf strukturelle Faktoren den Prozess der Nachrichtenetablierung veranschaulicht. Das Modell schließt dieses Unterkapitel (Abb. 2). Mit dem Modell kann aufgrund möglicher weiterer Einflüsse freilich kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden, dennoch wurde unter Heranziehen der im ersten Teil genannten Konzepte, Modelle und Theorien von Imhof 2008, Herman und Chomsky 1988/2008, Lengauer 2007, Scheufele 1999/2004, Hajnal 2012, Theile 2013, Negri und Hardt 2000 u.a. der Versuch eines Modells angegangen. Die externen Einflussfaktoren werden in Anlehnung an das Modell von Herman und Chomsky gewählt. Die internen Einflussfaktoren entstehen innerhalb einzelner Redaktionen, Abteilungen o.a. Medien-Einrichtungen. Dies umfasst sowohl das • • • •

Medienumfeld samt Leitmedien, die Erwartungen von Anzeigenkunden, Redaktion, KollegInnen (Lengauer 2007, Theile 2013) sowie die Erwartungen betroffener Interessensgruppen (Scheufele 2004) und die ökonomische bzw. individuelle Arbeitssituation der JournalistInnen selbst.

Eine Ergänzung erfolgt durch den Faktor der Spektakularisierbarkeit, der Möglichkeit eines Ereignisses, es gemäß den Nachrichtenwertfaktoren (Lippmann 1921, Galtung/ Ruge 1967, Schulz 1978) prominent und spektakulär zu inszenieren.

Abbildung2: Etablierung einer Nachricht von der deliberativen Öffentlichkeit über die filternden Einflussfaktoren bis zum Framing

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Kommuniz. Akteure der Öffentlichkeit

Wissenschaft, Religion, Kunst

Zivilgesellschaftl. Organisationen, Multitude

POLITISCHER DISKURS IN DER Kommerziell orientierte Unternehmen

ÖFFENTLICHKEIT

Politisch. Organisationen

der Öffenbt Öffentlich-rechtliche und private Medienorganisation

STRUKTURELLE Externe Einflussfaktoren Ownership

Sourcing

Advertising

Nachrichtenwertfaktoren und Spektakularisierbarkeit

Disziplinierung

Journalistische Selektion

Antiideologie

Interne Einflussfaktoren

EREIGNIS SICKERT DURCH FILTER

Journalistische Dependenz Wissensstand der JournalistIn

Pol. Ausrichtung v. Publikum/Blattlinie

Erwartungen der Anzeigenkunden

Erwartung betroff. Interessensgruppe

Gestaltung gemäß Nachrichtenwertfaktoren

VERSUCHE DES FRAME BUILDINGS DURCH INTERESSENSGRUPPEN

FRAMING ALS INSTRUMENT ZUR INHALTSDEUTUNG

(PROTEST-) EREIGNIS ALS

FRAMES

NACHRICHT

Journ. Arbeitsroutinen zur Informationsklassifikation Organisierte Darstellung eines zentralen Konzepts in einem geschlossenen Zusammenhang. Frame bestimmt Kontroverse.

Aufgaben des Framings

Systematische Beeinflussung d. Publikumsrezeption

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2.2 Protestereignisgebundene Einflussfaktoren Protestereignisgebundene Einflussfaktoren sind eng mit den strukturellen Nachrichtenwertfaktoren verknüpft. Sie ergänzen oder verstärken die wirkenden Nachrichtenwertfaktoren und treten spezifisch bei Protest auf. In der vorliegenden Arbeit wurde der Fokus auf Protestmerkmale, die als protestereignisgebundene Einflussfaktoren wirksam werden können, gelegt. Als Protestmerkmale wirken auf die Berichterstattung u.a. die Protestgröße, das Ausmaß an Extremem bzw. Spektakulärem in Aktion und Taktik, die Radikalität der Inhalte und die Gefährdung des Status quo als auch Geopolitische Implikationen. Des Weiteren konnte das Kapital der Protestgruppe als bedeutendes beeinflussendes Protestmerkmal identifiziert werden, wie unten näher geschildert wird. Dias Merkmal Protestgröße wird bei Astroturf- oder bei anderen von PRFirmen organisierten Protesten genützt, seine Wirksamkeit belegen u.a. Studien von 39 Rucht und Veneti, Poulakidakos und Theologou40. Die Initiative »Ja zu FRA!«, die sich für den Ausbau des Frankfurter Flughafens einsetzt, warb mit der Teilnahme von 10.000 Menschen an ihrer Demonstration am Frankfurter Römerberg. Die protestierenden Zehntausend – quasi zur Gänze Angestellte jener Unternehmen, die den Ausbau vorantreiben wollen (Fluglinie, Flughafen-AG) – bildeten ein top down organisiertes BürgerInnen-Protestkollektiv, das unter Anleitung bzw. Organisation einer PR-Firma bewusst auf die Betonung der tausenden Protestierenden setzte, um mit dem gemeinsamen Willen einer relevanten (Protest-)Gruppengröße Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu gewinnen und so politischen Druck auszuüben. Mit zunehmenden politischen Engagement in Form der zunehmenden Protestgröße und so gleichzeitig zunehmender kommunikativer Macht sollte politische Aktivität evoziert werden, wie in Abbildung 2 gezeigt wird. Ein hohes Ausmaß an Extremem bzw. Spektakulärem in Aktion und Taktik bringt den Protest eher in die Abendnachrichten. Boyle et al. halten diesen Faktor für die Aufmerksamkeitsgewinnung für bedeutender als die inhaltlichen Ziele des 41 Protests. Dabei steht das Protestkollektiv aber vor einem Dilemma, denn extreme Aktionen erregen zwar Aufmerksamkeit, dienen aber gleichzeitig zur journalistischen Spektakularisierung der Aktionen; Protestmotive und Forderungen gehen dabei häufig verloren, wie Baringhorst in einer Analyse nachzeichnet. 42 Bei etwa durch politischen Konsens oder ökonomischen Druck auf das Medienhaus als unerwünscht klassifiziertem Protest laufen Protestkollektive noch eher Gefahr, die

39 Rucht 2012: 3. 40 De Nardo 2005. 41 Boyle et al. 2012: 137. 42 Baringhorst 1996: 15-18.

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Forderungen könnten den spektakulären aber gewaltvollen Aktionen oder anderweitigen diffamierenden Übertreibungen zum Opfer fallen. Zahlreiche griechische Befragte attestieren ein »gewaltvolles« Framing der griechischen Umweltproteste, obwohl dies nicht oder nur vereinzelt und situativ in Reaktion auf Polizeigewalt der Fall gewesen sei. Die Radikalität der Inhalte stellt eine Gefährdung des systemischen Status quo dar, weil derselbe bis an seine Wurzel in Frage gestellt wird. Dies haben bereits McLeod, Hertog43, Boyle, Armstrong44 und Shoemaker45 in detailhaften Studien belegt. Nachdem Massenmedien in Konfliktsituationen – wie sie eintretende Proteste eröffnen – zunächst eher herrschaftsstabilisierend agieren und dem Konsens der Elite folgen46, werden radikale Inhalte eher entwertet und mit hoher Wahrscheinlichkeit ignoriert oder protestparadigmatisch behandelt. Die Geopolitik bzw. die Geopolitischen Implikationen beeinflussen zumindest indirekt das Framing im Sinne des Staates bzw. des Staatenbundes, zu welchem sich die Nachrichtenagentur, das Medium oder die JournalistInnen zugehörig füh47 len, so Boyle et al. Wittebols 48 erhob im Hinblick auf US-Medien eine medial bessere Behandlung jener Protestgruppen, die Widerstand gegen eine Regierung leisteten, die der US-amerikanischen feindlich gegenübersteht. Kapital der Protestgruppe Aufgrund der gleichzeitigen Untersuchung von einerseits finanzierten AstroturfProtesten und andererseits nicht-finanzierten Graswurzelprotesten konnte ein Protestmerkmal identifiziert werden, das in der vorhandenen Literatur über Protestberichterstattung noch wenig beachtet wurde: Das Kapital der Protestgruppe in Form von ökonomischem, sozialem oder kulturellem Kapital49 konnte, basierend auf den Beobachtungen und einer Analyse aller behandelten Fallbeispiele, als geltender Einflussfaktor auf die Protestberichterstattung nachgewiesen werden. Mit ökonomischem Kapital kann eine finanzielle Einflussnahme etwa in Form von Anzeigenschaltungen versucht werden, was bei einer großen Menge an Kapital eine ökonomische Dependenz der Medien eröffnen oder verstärken könnte. Mit ökonomischem Kapital können die anderen beiden Kapitalsorten bis zu einem ge-

43 McLeod/Hertog 1999. 44 Boyle et al. 2012: 138ff. 45 Shoemaker: 82. 46 Hay 1999; Paschke 2005; Herman/Chomsky 1988. 47 Boyle et al. 2012: 138. 48 Wittebols 1996: 359. 49 Bourdieu 1983

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wissen Grad erworben werden. Um das Kapital50 strategisch einzusetzen und Vorteile zu erlangen, muss bis zu einem gewissen Grad Netzwerkkompetenz vorhanden sein, wie unter Bezugnahme auf die vorliegenden Daten, die theoretischen Ausarbeitungen Bourdieus sowie auf teilnehmende Beobachtungen in den EU-Institutionen in Brüssel nachgewiesen werden konnte. Werden Netzwerkkompetenz und soziales Kapital (z.B. Kontakt zu einer Journalistin) (von Protestgruppen) erfolgreich eingesetzt, kann sich das in einer freundlichen Berichterstattung äußern. Das kulturelle Kapital fördert zumindest die Glaubwürdigkeit der AktivistInnen bei MedienvertreterInnen und gegebenenfalls der Öffentlichkeit. Vor allem die Verbindung aller drei Kapitalsorten kann deren Wirksamkeit erhöhen. Die Aktivisten des Bürgermeisterprotests verfügen kraft ihres Amtes über soziales und kulturelles Kapital, das die Medien anfänglich auf ihren Protest reagieren ließ. Um dem vertretenen Protestinhalt mehr Aufmerksamkeit zu verleihen, wurde dieser in ein »Protestspektakel« gebettet. Allerdings war erstens die Protestgröße besonders klein (zwölf österreichische und sechs Bürgermeister des Nachbarstaates), und zweitens waren Autobahnprotestblockaden etwa gegen den Schwerverkehr zu diesem Zeitpunkt in der Region häufig, was gegen eine enorme Aufmerksamkeit der Medien hätte sprechen können. Die Mischung aus kulturellem und sozialem Kapital sowie Netzwerkkompetenz der Bürgermeister und der protestorganisierenden PR-Agentur verschaffte letztlich ein ungewöhnlich weites Medienecho. Die professionelle Protestorganisatorin bot den Medien telewirksam und mediengerecht aufbereitetes Material mit verschriftlichten Statements der Aktivisten an. Einer möglichen Komplexität durch zahlreiche divergierende Protestmotive entledigt, vereinfachten die vorgefertigte Formulierung und die sprachliche Inszenierung den journalistischen Zugang zur Partikulärforderung des Protests. Die Protestgruppe der London Riots hingegen verfügte kaum über ökonomisches, soziales oder kulturelles Kapital. Vielmehr lebten die meisten ihrer Mitglieder – vornehmlich Arbeitslose oder Personen aus prekären Lebensbedingungen oder finanziell benachteiligten Schichten – marginalisiert. Aufgrund fehlender Netzwerke zu politischen oder anderen FunktionärInnen, die in den ersten Tagen den Diskurs unterstützend beeinflussen hätten können, war die Berichterstattung zunächst zum Großteil diffamierend und fand quasi ohne Interviews mit den Protestierenden statt, wie die Daten der Case Study zeigen. Die staatlichen Einrichtungen Großbritanniens, die den Diskurs am Beginn deutlich dominierten, verfügten über Kapital, das sich in Form professionell gestalteter Presseaussendungen mit einem ersten, zunächst dominierenden Framing der Proteste äußerte. Bei den griechischen Umweltprotesten sind die gesamt mindestens zehntausend ProtestaktivistInnen weder sozial noch kulturell marginalisiert. Bestehend aus FischerInnen, Bäuerinnen und Bauern und im Tourismus Angestellten sowie Wissen50 Bourdieu 191.

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schaftlerInnen und JournalistInnen, ist kulturelles und soziales Kapital innerhalb der griechischen Protestgruppe mitsamt national und international solidarischen Personen jedenfalls vorhanden. Nichtsdestotrotz liegt das Schwergewicht des Kapitals auf Seiten des Protestzielobjekts, dem griechischen Teilhaber an der Mine, der gleichzeitig wichtige nationale Medien besitzt. Gerade wegen des Ownerships verfügt der Medieneigentümer über soziales und kulturelles Kapital, das neben dem ökonomischen als Druckmittel für Politik und Wirtschaft eingesetzt werden kann. Das ökonomische, soziale und kulturelle Kapital der Protestgruppe ist innerhalb Griechenlands in Relation um ein Vielfaches geringer als das des Protest-Zielobjekts. Festzuhalten gilt: Protestmerkmale können verschiedene Formen der Protestberichterstattung hervorrufen. So ist etwa bei Auftreten der Merkmale Radikalität der Inhalte und Gefährdung des Status quo bzw. Hohes Ausmaß an Extremem bzw. Spektakulärem in Aktion und Taktik das Protestparadigma wahrscheinlich, wie unterschiedliche Studien von McLeod/Hertog, Shoemaker/Boyle, McLeod und Armstrong belegen.51 Dies zeigt sich deutlich bei den London Riots, bei denen die Proteste u.a. auf die ökonomisch und politisch starke Benachteiligung einer größer werdenden Bevölkerungsschicht und somit auf die Sozialpolitik der Regierung des Premierministers Cameron zurückgeführt werden hätten können. Der britische politische Status quo, der nicht für ausufernde sozialpolitische Bestrebungen bekannt ist, hätte medial mit dem Protest begründet in seinem Funktionieren in Frage gestellt werden können. Anstatt einer politischen Fehlerhaftigkeit nachzugehen und sie möglichweise einzugestehen, wurde seitens der britischen Regierung in politischen Aussendungen an Medien und Presseagenturen die Flucht nach vorne begangen und die Proteste wurden entwertet und als Krawalle diffamiert. Die Entwendung von Kleidung und Elektronikgeräten aus Shops sowie der Brand eines Hauses und eines Busses in London lagen als extreme Aktionen im Fokus der medialen Protestdarstellung. Vornehmlich in den ersten drei Tagen setzte sich das pejorative Framing der britischen politischen Elite hegemonial durch, auf zwar tatsächlich vorhandene negative Aspekte wurde allerdings spektakulär, vorlaufend diffamierend und unter zusammenhangloser Darstellung der Proteste eingegangen; eine mögliche Ursachen- und Motivforschung wurde größtenteils (möglicherweise unbewusst) nicht angestellt. Mit einer umfassenden diskursiven Auseinandersetzung über die griechischen Proteste könnte der Status quo immer wieder herausgefordert werden. Die Motive sind sowohl regierungs- als auch radikal system- und kapitalismuskritisch, zudem wird innergriechische Korruption angeprangert und die Außerkraftsetzung des Investitionsplans für die Minen gefordert. Der Inhaber des größten griechischen Medienkonzerns ist gleichzeitig größter griechischer Anteilsinhaber der Mine, das 51 McLeod/Hertog 1999; Shoemaker 1984, Boyle et al.2012.

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Aufkommen der Kritik und aller Forderungen könnten für ihn und das »Triangle of Power«52 (Politik – Medien – Wirtschaft) immense ökonomische Folgen zeitigen. Mit Rückgriff auf die Methode des Ignorierens der Proteste wird eine potenziell gefährliche Auseinandersetzung verhindert und der Status quo stabil gehalten. Da der Protest zu groß, zu beständig und über Online-Medien mittlerweile sehr stark präsent und vernetzt ist, ist das völlige Ignorieren aller Aktionen nicht mehr möglich. Um aus medialer Sicht nicht in Verruf zu kommen, Protest undemokratisch zu verschweigen, wird er aufgenommen – und abgewertet, indem auf die protestparadigmatische Methode der Spektakularisierung extremer Aktionen und der stark diffamierenden Abwertung der Protestierenden zurückgegriffen wird. Zu bemerken ist bei der durch die Protestmerkmals-Variablen Radikalität der Inhalte und Gefährdung des Status quo sowie Hohes Ausmaß an Extremem bzw. Spektakulärem in Aktion und Taktik evozierten protestparadigmatischen Berichterstattung: Die vorgebrachte Beobachtung, das Protestparadigma komme gerade bei extremen Protestaktionen und radikalen Inhalten zum Einsatz53, kann auch anhand der Fallbeispiele nachgewiesen werden. Die Daten weisen allerdings auch auf die zusätzliche, übermäßige, bereits von Schulz postulierte Konstruktion extremer Aktionen hin, sobald es sich um für ökonomische, (geo-) politische u.a. Interessen »bedrohliche« radikale Proteste handelt. Folgende Gründe für die Auswahl des Protestparadigmas konnten identifiziert werden: •





Die Gestaltung des Framings, also der Auslegung des Protestereignisses, wird nicht von JournalistInnen, sondern von politischen, ökonomischen o.a. Institutionen entworfen. Das Framing wird aufgrund von zeit- und arbeitsintensiven redaktionellen Arbeitsbedingungen aus dem vorliegenden Framing der Presseaussendungen übernommen. Um nicht der Anzeigenkundschaft des Mediums vor den Kopf zu stoßen und die eigenen Financiers zu verlieren, wird Protest entweder schlichtweg ignoriert. Oder aber, um gleichzeitig die journalistische Pflicht der Berichterstattung zu erfüllen und nicht das Publikum zu verlieren, wird über den Protest berichtet, allerdings mit Blick auf die spektakuläre, extreme Aktion und nicht auf seinen Inhalt. Der Spektakularisierungs-Trend in Massenmedien, mit dem höhere Absatzquoten erwartet werden, betrifft besonders Proteste: Inhalte sind langwieriger und komplexer darzustellen als spektakuläre Bilder und Aktionen. Wenn Proteste ein gewaltvolles, extremes oder anderes spektakularisierbares Element enthal-

52 Grey/ Kyriakidou 2012. 53 Boyle et al. 2012: 138ff.

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ten, wird dies deskriptiv und nicht analytisch aufgrund höherer Verkaufszahlen in den Fokus gerückt. Literaturbasiert und gestützt auf Analysen der Fallbeispiele lässt sich zusammenfassend festhalten: Die (Kategorien der) strukturellen und ereignisgebundenen Einflussfaktoren, die wirksam werden und mitbestimmen, ob ein Ereignis zur Nachricht wird, konnten identifiziert werden. Die beiden Faktorenkategorien wurden als bedeutend nachgewiesen, sie tragen mitunter zur Klassifizierung und Strukturierung der Einflüsse auf die Berichterstattung bei. Strukturelle Einflussfaktoren auf die Auswahl und das Framing von Nachrichten setzen sich aus externen und internen Faktoren sowie etablierten zeitgenössischen Mediennormen zusammen. Die externen Faktoren umfassen politische und ökonomische Dispositionen. Die internen Faktoren setzen sich aus den ökonomisch, politisch, redaktionell und individuell geprägten Medieninterna zusammen und äußern sich etwa in Vorgaben aus der Redaktion zur Blattlinie. Unter etablierten zeitgenössischen Mediennormen wird der Trend in der Berichterstattungsform verstanden. Darunter fällt gegenwärtig die Spektakularisierbarkeit von Nachrichtenwertfaktoren, also die Möglichkeit der spektakulären Inszenierung eines oder mehrerer Protestmerkmale mit dem Ziel, die Wahrscheinlichkeit des Verkaufs zu erhöhen. Die Logik marktwirtschaftlich orientierter Medienhäuser erfordert die Beachtung des ökonomischen Gewinns bzw. der Beibehaltung oder Steigerung der Verkaufszahlen. Als ereignisgebundenen Faktoren werden die Protestgröße, das Ausmaß an Extremem bzw. Spektakulärem in Aktion und Taktik, die Radikalität der Inhalte und die Gefährdung des Status quo als auch Geopolitische Implikationen als bekannte Einflussfaktoren zusammengefasst. Das Kapital der Protestgruppe konnte außerdem als bedeutender ereignisgebundener Einflussfaktor belegt werden.

3. ASTROTURF - UND G RASWURZELPROTESTE IM V ERGLEICH Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit der dritten Forschungsfrage, die zunächst nach dem Bestehen von Unterschieden zwischen der Berichterstattung über Bottom-Up-Protest und der Berichterstattung über Top-Down-Protest (AstroturfProtest) fragt. Bei einer Verifikation, welche – so viel sei vorausgeschickt – vorgenommen werden konnte, wird zweitens nach dem unterscheidungsbedingenden Merkmal für die beiden unterschiedlichen Arten der Berichterstattung gefragt. Dies könnte, so ergeben die theoretischen Ausarbeitungen und die Datenanalyse, auf das Protestmerkmal Kapital der Protestgruppe zurückgeführt werden.

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Die Bürgermeisterproteste hatten Erfolg. Die aktivistischen Bürgermeister kamen medial zu Wort, O-Töne über ihr ein Partikularinteresse forderndes Ziel wurden in die Medienagenda aufgenommen, die Forderung ausführlich präsentiert und mit aufkommender Kritik differenziert abgewogen. Frames, wie etwa die Oppositionsbildung zwischen »uns« (»benachteiligtes Bundesland«) und »denen« (»bevorzugte Hauptstadt«) und eine damit in Verbindung stehende Emotionalisierung, konnten an die Öffentlichkeit weitergegeben werden. Das Frame Building war auch mitunter darum erfolgreich, weil alle drei von Hänggli54 postulierten Voraussetzungen vorhanden waren: Die politische Organisation (der Bürgermeisterverein bzw. die Partei, zu der die Bürgermeister gehören) verfügte über Macht, die Frames wiesen eine hohe Salienz in zahlreichen Medien auf und bei den Bürgermeistern selbst, bei ihren politischen UnterstützerInnen aber auch bei den KritikerInnen, wie der Bundesministerin, handelte es sich um Autoritäten, die allesamt für ein hohes Maß an Aufmerksamkeit sorgten. Der Erfolg in der Berichterstattung gilt zumindest für jenen Zeitpunkt, als dessen professionelle Top-Down-Organisation sowie die externe Finanzierung des Protests noch nicht journalistisch aufgedeckt und öffentlich waren. Etwas später folgte mit der Aufdeckung der externen Finanzierung ein drastischer Schwenk in der Medienberichterstattung, wie oben angeführt wurde. Einen extremen Gegenpol stellen die London Riots dar. Die protestierenden BritInnen wurden zum Großteil nicht zitiert, die Proteste gelten als nicht erfolgreich. Wurden beim Bürgermeisterprotest die Motive, Ziele und die Forderung deutlich gemäß der Selbstdarstellung des Protestkollektivs publiziert, so wurden den britischen Protestierenden inhaltliche Überlegungen zunächst überhaupt abgesprochen und später Mutmaßungen von externen Quellen über Motive und Ziele angestellt. Die Berichterstattung ist nicht erfolgreich, sie ist als protestparadigmatisch zu klassifizieren. Ähnlich verhält es sich bei der Berichterstattung über die griechischen Umweltproteste: Drei Viertel aller Befragten gaben an, dass die Sichtweisen der regionalen BewohnerInnen nicht oder nur spärlich in den griechischen Massenmedien präsentiert wurden. Allerdings mit der Ausnahme, dass Minen befürwortende EinwohnerInnen eher repräsentiert werden. Eine Gegenüberstellung zeigt, dass sich die Häufigkeit, mit der minenunterstützende Politiker dargestellt werden, genau gegenteilig zu den abgebildeten lokalen BewohnerInnen verhält: Umso öfter Pro-MinenPolitikerInnen zitiert werden, umso seltener werden minenkritische BewohnerInnen gezeigt. Viel erfolgreicher sind hingegen folgende vier Proteste: Die vermeintliche Graswurzel-Bewegung Tea Party erhält in den US-Medien bereits vor ihrer tatsächlichen Gründung mediales Aufsehen, wie Williamson et al. 55 festhalten; später, 54 Hänggli 2012. 55 Williamson/Skocpol/Coggin 2011.

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nach ihrer Etablierung in den politischen Raum, wird das Aufsehen noch wachsen. Trotz teilweise medial zum Einsatz kommenden Protestparadigmas werden doch die wirtschaftsliberalen und politisch konservativen Motive, Ziele und Forderungen vorgebracht – wenn sie auch nicht von allen Medien inhaltlich unterstützt werden, wie Weaver/Scacco56 konstatieren. Die Notwendigkeit der Gründung einer Tea Party ist massenmedial salient, erste Mutmaßungen des Astroturfings werden zunächst hingegen medial nicht publiziert, so Ames/Levine57 und Zuesse.58 Das Protestkollektiv von »Ja zu FRA!«, das sich für den Flughafenausbau in Frankfurt einsetzte, gelangte samt Motiv- und Zieldarstellung auch auf die Seiten zumindest einiger deutscher Zeitungen. Die offensichtlich bezahlten und professionellen OrganisatorInnen des Top-Down-Protests betreiben auch nach dem Protest noch Öffentlichkeitsarbeit über virtuelle und reale Kanäle mit Postwürfen und medial aufbereiteten, thematisch vordergründig diversen Themen, und versuchen so, die öffentliche Meinung zu beeinflussen59 bzw. Hegemonie hin zum Ausbau des Frankfurter Flughafens zu gewinnen. Die Europäische Bürgerinitiative »Wasser ist ein Menschenrecht«, die EU-weit 1,6 Millionen Unterstützungserklärungen sammeln konnte, wurde Bottom Up organisiert und Top Down unterstützt. Eine hohe Salienz der Motive und Ziele der ProtestinitiatorInnen/des EBI-Kommittees kann besonders in deutschen und österreichischen Medien aber auch in jenen von mindestens fünf weiteren EU-Mitgliedstaaten beobachtet werden, so unterschiedliche Medienanalysen über die Kampagne von Tatje 60 und Kafsack. 61 Öffentlichkeiten konnten auf verschiedenen Kanälen gewonnen werden, die Gruppe mit einem gemeinsamen Willen wurde auf mehr als 1 Million EuropäerInnen vergößert und kommunikative Macht im Hinblick auf eine politische Aktivität in der Europäischen Kommission ausgeübt. Die »Wasserkampagne« gilt hinsichtlich der Protestberichterstattung jedenfalls als erfolgreich. Festzuhalten ist also: Erfolgreich oder teilweise erfolgreich sind die Bürgermeister, die Tea Party und die Initiativen »Ja zu FRA!«, »Neue Soziale Marktwirtschaft« und die Europäische BürgerinitiativeWasser-ist-ein-Menschenrecht. Motive und Forderungen wurden medial dargestellt. (Zum Großteil) Nicht erfolgreich sind die London Riots und die griechischen Umweltproteste, sie konnten ihre Inhalte nicht

56 Weaver/Scacco 2013. 57 Ames/Levine 2009. 58 Zuesse 2013. 59 Ja zu FRA: Frage und Antworten. In: http://www.ja-zu-fra.org/fragen-und-antworten/ vom 31.7.2012. 60 Tatje 2013. 61 Kafsack 2013.

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gemäß ihrer Selbstdarstellung und eigenen Realitätswahrnehmung in den Medien durchsetzen. Die Frage drängt sich auf: Warum sind einige Proteste erfolgreicher darin, eine zumindest differenzierte Medienberichterstattung in ihrem Sinne hervorzurufen, und Motive, Ziele und Forderungen auf die Agenda von Massenmedien zu bringen, als andere? Nachgewiesen werden konnte innerhalb aller behandelten Fallbeispiele eine eher erfolgreiche Protestberichterstattung und also ein tendenziell eher wahrscheinlicher Erfolg von extern finanzierten und Top Down organisierten (Astroturf-) Protesten. Beachtung muss vor der Thesenableitung allerdings auch der »Wasser ist ein Menschenrecht«-Initiative geschenkt werden, bei der es sich jedenfalls nach derzeitigem Wissensstand um keine Astroturf-Initiative handelte – die aber, was die Erreichung von Öffentlichkeiten anbelangt, erfolgreicher war, als die extern finanzierte Top-Down-Initiative »Ja zu FRA!«. Worin liegt also der Unterschied zwischen erfolgreichen und nicht-erfolgreichen Protesten, welches Merkmal könnte den Unterschied bedingen? Warum, und worin liegt das(die) unterscheidungs– relevante(n) Merkmal(e), dem(denen) ein Effekt auf erfolgreichen und nichterfolgreichen Protest zuzuschreiben ist? Da die strukturellen Einflussfaktoren Astroturf- und Graswurzel-Protest zunächst gleichermaßen betreffen und erst im Zusammenwirken mit protestereignisgebundenen Einflussfaktoren verstärkt oder gehemmt werden, sollen die protestereignisgebundenen Einflussfaktoren (Protestmerkmale) auf ihre Wirksamkeit und einen möglichen Effekt geprüft werden. Das Protestmerkmal Größe des Protests kann als bedingende Variable für den Erfolg der Protestgruppe in Form der adäquaten Medienberichterstattung ausgeschlossen werden, denn: Bei den Bürgermeisterprotesten handelte es sich um eine Aktivistenanzahl im niedrigen zweistelligen Bereich, und trotzdem wurden die Inhalte regional und national erfolgreich wiedergegeben. Bei den griechischen Protesten demonstrierten in Thessaloniki hingegen acht- bis zehntausend Menschen, und sowohl Inhalte als auch Aktion wurden regional und national ignoriert. Auf das Spektakel der Brandschatzungen und der Entwendungen aus Shops, wurde bei den London Riots medial fokussiert, die OrganisatorInnen des Bürgermeisterprotests hingegen schufen das telewirksame Spektakel als Protestaktion auf der Autobahn selbst. Weder für eine Nachricht über Parteizimmerklagen von Bürgermeistern ohne Spektakel, noch für Protest-E-Mails von Arbeitslosen aus Tottenham hätte kaum ein Medium viel Platz eingeräumt. Ein hohes Ausmaß an Extremem bzw. Spektakulärem in Aktion und Taktik war also sowohl bei den nichterfolgreichen London Riots als auch bei den erfolgreichen Bürgermeisterprotesten zu finden. Das Spektakel kann also als unterscheidungsbedingendes Merkmal für Erfolg und Misserfolg in der Berichterstattung ebenso eher ausgeschlossen werden.

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Die Inhalte der besonders wirtschaftsliberal ausgerichteten Tea Party sind nicht minder radikal als die griechischen Proteste, die neben dem Ende der Edelmetallförderung auch die Aufdeckung von Korruption in der griechischen Regierung und eine nicht-neoliberale Vorgehensweise in Bezug auf das Minenunternehmen und im Allgemeinen fordern. Beide streben eine grundlegende Veränderung des Status quo an, wobei bei der Tea Party von noch fokussierteren (wirtschafts-)radikalen Forderungen gesprochen werden könnte. Bekannt ist, dass die Radikalität der Inhalte tendenziell eher ein mediales Ignorieren des Protests bedingt, die Tea Party konnte das Ignorieren aber erfolgreich durchbrechen, die Umweltproteste innerhalb Griechenlands kaum. Mehrfach belegt ist der Einfluss des Merkmals Geopolitik oder Geopolitische Implikation auf die Berichterstattung während Kriegen und Konflikten 62, welche Proteste bis zu einem gewissen Grad eröffnen. Das Protestmerkmal Geopolitische Implikationen wurde in den behandelten Protesten nur kursorisch behandelt, weitere und nähere merkmalsbezogene empirische Untersuchungen des Einflusses auf den Erfolg für das Protestkollektiv in der Protestberichterstattung sind notwendig. Festzuhalten gilt aber, dass der Einfluss des Merkmals in geopolitisch relevanten Protesten vorhanden ist. In diesem Atemzug ist aber auch auf die enge Verknüpfung mit dem folgenden Merkmal hingewiesen: das Kapital der Protestgruppe. Es wird augenscheinlich, dass das Merkmal Kapital der Protestgruppe besonders relevant für den Erfolg eines Protestkollektivs ist, nicht nur, um die Aufmerksamkeit der Medien zu gewinnen, sondern auch, um Inhalte und Realitätswahrnehmungen gemäß der Selbstdarstellung durchzusetzen. Astroturf-Proteste setzen mit einem weitaus größeren Start-Kapital an als »echte« Graswurzelproteste, da sie von Beginn an von einem Unternehmen, einer politischen Institution oder anderweitig finanziert werden. Sie können daher professionelle Medienarbeit leisten, was bei der sprachlich einwandfreien Formulierung der Forderungen beginnt, über die medienwirksame Kommunikation, die angemessen spektakuläre Inszenierung der Aktionen und die Nutzung von Netzwerken geht und schließlich bis zur finanziellen Einflussnahme auf Medien (über Werbeanzeigen etc.) reicht. Sie verfügen ferner über Humankapital in Form von unternehmenseigenen MitarbeiterInnen, außerdem besteht eine Unternehmensstruktur, auf die zur Organsiation zurückgegriffen werden kann, wohingegen Graswurzelbewegungen sich bei ihrer Entstehung erst neu formieren und strukturieren müssen. Weil Astroturf-Protestgruppen ausreichend Kapital für Aktivitäten zur Verfügung steht, können gegebenenfalls AktivistInnen und PR-Profis erkauft werden. JournalistInnen können unter Zeit- und Ressourcendruck auf medienkonform aufbereitete, interessengeleitet geframte Statements zurückgreifen, was die Übernahme des Framings der Astroturf-Protestgruppe eher wahrscheinlich macht. 62 Boyle et al. 2012: 138; Wittebols 1996: 359.

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Graswurzelproteste hingegen greifen auf jene Ressourcen zurück, die die einzelnen AktivistInnen auftreiben können und zu geben bereit sind. Graswurzelproteste haben ihrem Charakter nach zu Beginn noch keine feste Struktur, alles wird neu definiert. Protestieren medial wenig versierte, beruflich oder finanziell schlecht oder mittelmäßig positionierte Personen ohne politische oder mediale Netzwerke, so ist eine erfolgreiche aktive direkte oder indirekte Einflussnahme auf Medien eher nicht wahrscheinlich. Können einerseits Protestgruppen mit verfügbarem Kapital auf die Berichterstattung zumindest möglicherweise teilweise indirekt einwirken, so bleiben andererseits Proteste von marginalisierten Gruppen ohne ökonomischen und sozialen Kapital eher im Status quo ohne Zugang zu Öffentlichkeiten verhaftet: Abhängig von dritten Parteien, können sie weder Informationsfluss noch Framing kontrollieren.63 Die Protestberichterstattung muss – in der Hoffnung auf JournalistInnen, die sich dem Partizipationsinstrument Protest annehmen und es in den medial bereitgestellten politischen Diskurs aufnehmen – notgedrungen sich selbst überlassen werden. Zusammenfassend ist die Wirksamkeit des Protestmerkmals Kapital der Protestgruppe als protestereignisgebundener Einflussfaktor festzuhalten. Wie belegt werden konnte, kann mit ökonomischem, sozialem oder kulturellem Kapital eher Erfolg von Protestkollektiven in der Medienberichterstattung erwirkt werden als ohne Kapital. Der Einflussfaktor trifft auf bereits strukturell vorhandene Tendenzen, die sich in Verbindung zusätzlich vorteilig für den Erfolg der Protestgruppe in der Berichterstattung auswirken können: Die Medienaufmerksamkeit ist unausgewogen verteilt, so zeigen etwa Studien von Entman64, Wolfsfeld65 und Gans66, und zwar zugunsten der jeweils mächtigeren Akteure. Danielian und Page belegen hierzu, dass mächtigere Akteure einen begünstigten Zugang zu Medien haben. 67 Der Erfolg dürfte also auch von der Macht des jeweiligen (Astroturf-)Protest-Organisators abhängig sein. Bei der Betrachtung des Kapitals als Einflussfaktor auf die Berichterstattung muss grundlegend auf die sich verändernde Sozialstruktur in der stratifikatorischen Differenzierung hingewiesen werden, denn neue Ungleichgewichte des

63 Shaw 1996: 11ff. 64 Entman, Robert M. (2007): »Framing bias: Media in the distribution of power«. In: Journal of Communication, Vol. 57, 167-176 65 Wolfsfeld, Gadi (1997): «Media and political conflict: News from the Middle East”. MA: Cambridge University Press, Cambridge. 66 Gans, Herbert J. (1979): »Deciding what’s news: A study of CBS Evening News, NBC Nightly News, Newsweek, and Time«. Pantheon Books, New York. 67 Danielian, Lucig H./Page, Benjamin I. (1994): »The Heavenly chorus: Interest group voices on TV news«. In: American Journal of Political Science, 38 (4), 1056-107.

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Kapitals treten, wie Imhof unter Berufung auf Wallerstein68, Bourdieu69 u.a. analysiert, sowohl im Zentrum als auch in der Peripherie auf. 3.1 Mediatoreffekt des ökonomischen Kapitals Basierend auf den genannten Beobachtung und den vorliegenden Daten ergibt sich ein Bild, das von einem Mediatoreffekt der Variable Ökonomisches Kapital der ProtestinitiatorInnen auf den Zusammenhang zwischen den Variablen Enthusiastische ProtestaktivistInnen und Protesterfolg schließen lässt. Die Mediatorrolle obliegt nach dem argumentierten Modell dem Ökonomischen Kapital der ProtestinitiatorInnen, das im Folgenden im Analyseteil kurz Ökonomisches Kapital genannt wird. Die Funktion von Mediatoren zeigen Baron und Kenny: »In general, a given variable may be said to function as a mediator to the extent that it accounts for the relation between the predictor and the criterion.«70 Die Variable Enthusiastische ProtestaktivistInnen71 meint das Ausmaß des partizipativen, tatkräftigen, möglicherweise intrinsisch motivierten Engagements von Protestierenden, sich aktivistisch für ein gemeinsames Protestziel einzusetzen; mit der Variable Protesterfolg wird die erfolgreiche Protestberichterstattung im Hinblick auf die adäquate Wiedergabe von Inhalten (Forderungen, Motive, etc.) umfasst. Ein Pfadmodell, bei dem jeder Pfeil einen kausalen Zusammenhang symbolisiert, veranschaulicht den Mediatoreffekt des Ökonomischen Kapitals auf den Zusammenhang zwischen den beiden genannten Variablen, wobei eine bestehende Varianz bei den einzelnen Variablen angenommen wird.

68 Wallerstein, Immanuel (1979): The Capitalist World-Economy. Essays. Cambridge University Press, Cambridge. 69 Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 70 Baron, M. Reuben/Kerry, David A. (1986): »The Moderator-Mediator Variable Distinction in Social Psychological Research: Conceptual, Strategic, and Statistical Considerations«. In: Journal of Penality and Social Psychology, Vol. 51, No. 6, 1173-1182, 1174. 71 i.e. sehr tatkräftig engagierte, euphorische, ggf. intrinsisch motivierte ProtestaktivistInnen. Die Begriffswahl »enthusiastisch« wurde gewählt, um mit dem etwas besser passenden Begriff »engagiert« keine Missverständisse hervorzurufen.

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Abbildung 3: Mediatoreffekt des Ökonomischen Kapitals auf den Zusammenhang zwischen Enthusiastischen ProtestaktivistInnen und den Protesterfolg Ökonomisches Kapital

Enthusiastische ProtestaktivistInnen

Protesterfolg

Zu fragen ist hinsichtlich des Mediatoreffekts, welches Merkmal trotz Berücksichtigung des Faktors Ökonomisches Kapital immer noch bestehen bleibt. Wird das Engagement der Enthusiastischen ProtestaktivistInnen, das nur aufgrund des direkten Zusammenhangs mit dem Ökonomischen Kapital besteht, herauspartialisiert, so könnten alle, einzelne oder keine ProtestaktivistInnen wegfallen. Dann wäre von einer vollständigen, partiellen oder keiner auftretenden Mediation zu sprechen. Bei Astroturf-Protesten könnte die vollständige Mediation auftreten, das heißt, bei Wegfall der Variablen Ökonomisches Kapital der Zusammenhang zwischen Enthusiastischen ProtestaktivistInnen und Protesterfolg aufgelöst werden. Dies könnte sich in der Informationsweitergabe des Top-Down-Astroturf-Protests an Medien oder in einem vollständigen Wegfall der ProtestaktivistInnen äußern, die sich eben für ein (nicht intrinsisches) Interesse nicht engagieren, sofern keine Bezahlung oder anderer positiver ökonomischer Nutzen durch Ökonomisches Kapital Anreiz für Protest darstellt. Diesem ersten, hypothetischen Hinweis auf einen Effekt sollten weitere Untersuchungen folgen. Hierbei sollte auch untersucht werden, ob bei involvierten vierten Variablen das Ökonomische Kapital (bei Astroturf-Protest) die allein wirksame Variable ist. Um den gesamten Zusammenhang zu untersuchen, müsste erhoben werden, ob auch bei anderen denkbaren Determinanten die Variable Ökonomisches Kapital als Mediator wirkt, oder ob es einige gibt, die einen vom Ökonomischen Kapital unabhängigen Haupteffekt haben. Ein durchaus konkurrenzfähiges Alternativmodell wäre eines, das dem Ökonomischen Kapital einen starken Effekt auf den Protesterfolg zuschreibt, das aber gleichzeitig aufzeigt, dass Ökonomisches Kapital in einigen Protestfällen gar nicht hinreichend ist. In diesem Modell stecken zwei Aussagen: (1) Das ökonomische Kapital ist in manchen Protestfällen als erklärende kausale Variable nicht hinrei-

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chend für den Erfolg eines Protests. (2) In vielen Fällen hat es den stärksten Effekt für den Erfolg, allerdings lassen sich durch andere genutzte Merkmale noch additive Effekte nutzen, die die Erfolgswahrscheinlichkeit erhöhen (Begeisterung, Betroffenheit, Ausmaß an persönlicher Involviertheit, nach der mündige BürgerInnen ihre Möglichkeiten zur demokratischen Teilhabe auch nutzen [im Sinne wichtiger PartizipationsforscherInnen, wie Habermas, Arendt, Imhof, Crouch, Brecht, Luxemburg, u.a.]). Dies wirft die Frage auf, welches Modell die gegebenen Verhältnisse besser erklärt und sich besser bewährt. Festzuhalten gilt am ehesten, dass beide Modelle sich durchaus in einigen Kontexten (Astroturf-Proteste, Graswurzelproteste etc.) bewähren, sie schließen einander nicht zwingend aus. Würden weitere Forschungsbemühungen dies ebenso verifizieren, so müsste ein superiores Modell entworfen werden, das bestehende Widersprüche umgeht. Zusammenfassend gilt also festzuhalten: Eine unterschiedliche Berichterstattung zwischen der Berichterstattung über Graswurzelproteste und über AstroturfProteste konnte nachgewiesen werden. Den OrganisatorInnen von AstroturfProtesten gelingt es eher, über Medien Öffentlichkeit zu erreichen. Dies ist zu einem nicht zu vernachlässigbaren Anteil dem Merkmal Verfügbares ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital zuzuschreiben. Je mächtiger die kapitalhabenden ProtestinitiatorInnen sind, desto mehr Zugang zu Medienaufmerksamkeit könnte gewonnen werden, was auf dem begünstigteren Zugang von mächtigeren Akteuren72 zu Medien gründet. Der Einflussfaktor Kapital kann verstärkend auf die Tendenz der eher vorhandenen Medienaufmerksamkeit für mächtige Akteure73 wirken. Basierend auf den daten- und literaturbezogenen Erhebungen konnte festgestellt werden, dass die Variable Ökonomisches Kapital der ProtestinitiatorInnen einen Mediatoreffekt auf den Zusammenhang zwischen den Variablen Enthusiastische ProtestaktivistInnen und Protesterfolg hat. Für weitere Forschungsbemühungen sei zur Disposition gestellt, ob es sich dabei um einen partiellen oder einen Haupteffekt handelt, bzw. ob weitere Determinanten ebenso gleichwertige Effekte vorweisen können, und ob ein superiores Modell aus den beiden genannten Modellen entworfen werden könnte.

72 Danielian/Page 1994. 73 Entman 2007; Wolfsfeld 1997; Gans 1979.

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4. P ROTEST ALS P ARTIZIPATIONSMÖGLICHKEIT Bei einer Auseinandersetzung mit der Frage, inwiefern in der medial bereitgestellten Öffentlichkeit im Vordergrund von Transnationalisierung, Globalisierung und Medialisierung der politischen und ökonomischen Handlungswelt für Protestkollektive die Möglichkeit zur gleichberechtigten Partizipation gewährleistet wird, ist das Postulat Habermas’ als grundlegend anzunehmen: »Eine Öffentlichkeit, von der angebbare Gruppen eo ipso ausgeschlossen wären, ist nicht etwa nur unvollständig, sie ist vielmehr gar keine Öffentlichkeit.«74 Das demokratische Öffentlichkeitsverständnis nach Habermas verlangt die Inklusion aller Gesellschaftsmitglieder, um idealerweise so integrativ wie nur möglich in der angelegten Kommunikationsgemeinschaft kooperativ, herrschaftsfrei und ideologiekritisch ein vernünftiger Wille zu erarbeiten. Der politische Diskurs findet gegenwärtig nicht mehr in Kaffeesalons, aber (noch immer) in traditionellen Medien statt, gleichwohl Soziale Onlinemedien ein neues – gegebenenfalls alternatives, paralleles, subversives, in seiner Bedeutung für Öffentlichkeit noch nicht bis zuletzt definiertes – Forum bieten.75 Betreffend die Partizipation im politischen Diskurs ist zur Selbstevaluation von Demokratien des 21. Jahrhunderts unter anderem die Frage zur Disposition zu stellen, inwieweit politisch Gleiche tatsächlich gleichberechtigt partizipieren können.76 Im Hinblick auf das Verhältnis von Medien und Protest ist auf Makro-, Meso- und Mikroebene zu diskutieren, inwieweit politisch Gleiche, nämlich Proteste und ihre politischen/ökonomischen o.a. Zielobjekte, in der medial bereitgestellten Öffentlichkeit partizipieren können. Basal ist hier die – für weitere demokratietheoretische Forschungen – besonders wichtige Frage, ob institutionalisierte und nichtinstitutionalisierte Akteure (Politik, Ökonomie, Wissenschaft bzw. Proteste) in ihrem Recht in der Mitgestaltung der Gesellschaft (Deliberation) als gleichwertig betrachtet werden, und wenn nicht, welche Gründe dafür vorliegen. Auf Makroebene wurde die Wirtschaft mit der Globalisierung auf eine transnationale Ebene gehoben, sind lokaler und globaler Raum zusammengewachsen und haben nationale Grenzen an Bedeutung verloren, wie Pries77 zusammenfasst. Zeitgleich erleichtern technische Erfindungen den globalen kommunikativen Informationsaustausch enorm. Transnationale Wirtschaftsabkommen in einem multilateralen Handelssystem wirken sich politisch in Form von Kompetenzverschiebungen aus, so Roth78: In der Multilevel Governance werden die nationale, supranationale,

74 Habermas 1990: 156. 75 Fuchs /Sandoval 2004. 76 Imhof 2008. 77 Pries 2002: 266. 78 Roth 2001: 45.

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intergouvernementale und subnationale Ebene funktional differenzierend verknüpft, 79 wie Imhof bezugnehmend auf Parsons und Luhmann 80 konstatiert. Das fördert Verschiebungen in der politischen Praxis zutage und ruft demokratietheoretische Probleme hervor. Transnationale Instanzen sind mitunter demokratisch unausgegoren bzw. responsiv defizitär, so Schade81, gleichwohl sie Entscheidungen über die Dauer mehrerer Legislaturperioden treffen, die lokal enorme Auswirkungen zeitigen können. Crouch weist im Hinblick auf Partizipationsmöglichkeiten auf zwei widersprüchliche Entwicklungen hin, die Kennzeichen der Postdemokratie sind: Die Partizipationsinstrumente sind in gegenwärtigen Demokratien institutionell sehr wohl vorhanden und funktionstüchtig, allerdings stehen sie in Widerspruch mit einer nicht-funktionierenden demokratischen Öffentlichkeit. Der demokratische Deliberationsprozesses wird von politischen Beratungsunternehmen mit ökonomischen Interessen kontrolliert, die mit quantifizierbaren Meinungsumfragen die Bedürfnisartikulation organisieren, BürgerInnen dagegen können sich dabei immer nur reaktionär verhalten. BürgerInnen würden apathisch und passiv, während Wirtschaftsverbände den Staat aushöhlen könnten. Crouch zieht den Staat in die Verantwortung, 82 der nicht neoliberal naiv, sondern engagiert für die BürgerInnen agieren sollte. Vor dem gesellschaftlichen Hintergrund durchleben auch Medien als Gewährleister von Öffentlichkeit und Partizipation einen bereits von Habermas postulierten 84 Strukturwandel 83 bzw. einen Medialisierungseffekt, auf den anknüpfend Imhof hinweist. Habermas hält wegweisend fest, dass mitunter Öffentlichkeit von Public Relations eingenommen und zu einem einzigen Raum der permanenten Werbung mutiert, wo ökonomische Interessen zunehmend als Bedürfnisse der Allgemeinheit inszeniert werden. Der Medialisierungseffekt äußert sich dann (1) in funktionaler Differenzierung u.a. in entbetteten Medien, der starken Tendenz zum Bildhaften und der Zunahme ökonomischer Prinzipien, (2) in stratifikatorischen Differenzierung in Medienkonzentrationen und der Ausrichtung des Angebots nach dem Kapital der Rezipierenden und (3) in segmentaler Differenzierung in der immer stärkeren Divergenz des politischen und des medial erschlossenen Raums. Konsequenz kann eine »Entöffentlichung«85 sein, also eine abnehmende mediale Erschließung wirtschaftlich schwacher Räume durch eine tendenzielle Ausrichtung der Medien an ökonomisch »wertvollem« Publikum. Der Entöffentlichung entgegenzuwirken 79 Imhof 2008: 78ff. 80 Luhmann 1977. 81 Schade 2002: 31ff. 82 Crouch 2008: 10. 83 Habermas 1990. 84 Imhof 2008f. 85 Imhof 2006b: 26.

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ist demokratiepolitisch unbedingt notwendig, um die Partizipation aller am politischen Prozess zu gewährleisten. Mit Imhof86 sei ferner darauf hingewiesen, dass die Öffentlichkeit der stetig fortschreitenden ökonomischen und politischen Globalisierung kaum noch nachkommt. Durch den entstehenden Widerspruch zwischen Politischem und Öffentlichem wird das Prinzip des Gemeinsamkeitsglaubens gebrochen. Dieser bürgt für die Akzeptanz von Mehrheits- und Minderheitsentscheidungen. Auf Meso- und Mikroebene stellen Proteste, je radikaler und breiter sie angelegt sind, umso mehr Macht infrage: Wenn Macht – nach Arendt87 als kommunikative Macht verstanden – auf dem kommunikativen Einverständnis der Regierten mit der Position der Regierenden gründet, gilt der breite gesellschaftliche Widerstand als ein Entziehen der Macht von der (politischen o.a.) Elite. Aus dieser Logik betrachtet würde es nicht verwundern, würde die sich in ihrer kommunikativen Macht bedroht fühlende Elite versuchen, eine Infragestellung der Machtposition mit verschiedenen Methoden bewusst abzuwehren und den Protest zu entwerten. Proteste treten nicht regulär als institutionalisierte Akteure auf das Parkett der Öffentlichkeit, sondern sprießen als Graswurzelbewegungen spontan und in Reaktion auf latente Konfliktlinien hervor. Mitunter weil sie überraschend, spontan, nicht-institutionalisiert vorkommen und mit Gewohnheiten brechen, werden vielen Protesten Misstrauen und Skepsis von (anderen Akteuren) der Öffentlichkeit entgegengebracht. Um nicht nur Aufmerksamkeit sondern auch Akzeptanz zu gewinnen, müssen Protestkollektive im Gegensatz zu den meisten institutionalisierten Akteuren, denen tendenziell eine Grundaufmerksamkeit eigen ist, starke Anstrengungen unternehmen. Basierend auf den gewonnen Daten, die vor dem Hintergrund der theoretischen Ausarbeitungen analysiert wurden, kann also festgehalten werden: Bei der Aufnahme in die Medienagenda sind Protestkollektive nicht gleichberechtigt mit institutionalisierten politischen, ökonomischen oder anderen Akteuren der Öffentlichkeit. Folgende Punkte legen diesen Schluss nahe: •



Die Mehrheit aller Proteste wird medial ignoriert.88 Das Ignorieren von Protest ist umso wahrscheinlicher bei marginalisierten Protestgruppen mit fehlendem ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapital oder mangelndem Zugang zu Öffentlichkeit. Wird Protest in die Medienagenda aufgenommen, so wird er mehrheitlich protestparadigmatisch, diffamierend behandelt. Der hohe Anteil ignorierter Proteste umfasst noch nicht die ignorierten Inhalte, worüber weitere v.a. quantitative Forschungsbemühungen angestrebt werden sollten. Radikale Inhalte werden

86 Imhof 2006. 87 Arendt 1972: 140. 88 Smith/McCarthy/McPhail/Augustyn 2001: 1419.

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jedenfalls eher ignoriert und weichen z.B. einer Spektakularisierung der bildhaft darstellbaren Aktionen.89 Als Möglichkeiten zur Aufmerksamkeitsgewinnung bleiben die Merkmale Protestgröße und das Hohe Ausmaß an Extremem und Spektakulärem in Aktion und Taktik, mit denen aber ebenso Gefahr gelaufen wird, selbst eine mediale 90 Ausblendung der Inhalte und eine Reduktion auf Aktion und Spektakel zu »provozieren«.91 Grundlegend wird Mitgliedern etablierter Institutionen wird per se mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit beigemessen.92

Positiv hervorzuheben sind dennoch einige Protestmerkmale, die dazu beitragen können, Protest auf die Medienagenda zu bringen: • •







Protestkollektive werden eher aufgenommen als einzelne Protestierende. Ab einem gewissen Grad sorgt die Größe des Protests dafür, dass der Protest nicht mehr (kaum noch) verschwiegen werden kann. Eine Solidarisierung mit anderen Protestgruppen könnte Mittel sein, um den Protest schnell zu vergrößern und mehr Aufmerksamkeit zu gewinnen, so war auch bei den griechischen MinengegnerInnen im Europäischen Parlament eine weit erhöhte Aufmerksamkeit zu beobachten, als sie beim zweiten Anlauf eine Veranstaltung gemeinsam mit rumänischen und spanischen AktivistInnen, WissenschaftlerInnen und EUParlamentarierInnen abhielten. Dass Spektakuläres Aufmerksamkeit erregt, kann für Protestkollektive von Vorteil sein: Immer wieder gelangen mit Inhalten verknüpfte kreative und überraschende Aktionen an die Öffentlichkeit. Nicht nur das ökonomische, sondern auch das kulturelle und soziale Kapital ist der Protestgruppe zuträglich, wie belegt wurde: Eine Vernetzung mit unterstützenden und solidarischen Personen und Gruppen, die über die beiden nichtökonomischen Kapitalsorten verfügen, sollte daher – wenn schon über traditionelle Medien keine Möglichkeit zur Öffentlichkeitsgewinnung besteht – zur gegenseitigen Hilfestellung beispielsweise über Social Media angestrebt werden. Mit Vorsicht ist auf die Möglichkeit hinzuweisen, mit ökonomischem Kapital auf die Berichterstattung einzuwirken. Finanzstarke Protestkollektive, wie es meist extern finanzierte und Top Down organisierte Astroturf-Proteste sind, können durch finanzielle Investitionen in PR-Agenturen oder Werbeschaltungen

89 McLeod/Hertog1999; Shoemaker 1984: 82; Boyle/McLeod/Armstrong 2012: 138ff.; Gitlin 2009; Harlow/Johnson 2011. 90 Baringhorst 1996: 16. 91 Harlow/Johnson 2011; Boyle/McLeod/Armstrong 2012. 92 Entman 2007; Wolfsfeld 1997; Gans 1979.

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proaktiv Agenda Building betreiben. Mit Sourcing, also mit Aussendungen an ein Pressenetzwerk, kann das Framing vorgelegt, Forderungen medienwirksam formuliert und der Protest gemäß den Nachrichtenwertfaktoren spektakulär aufbereitet werden. Auch finanzarme Graswurzelproteste können versuchen, das Mittel des Sourcings zu nutzen. Auf diese Vorlage können JournalistInnen unter Zeit- und Ressourcendruck zurückgreifen, was zur adäquaten, erfolgreichen »Protestberichterstattung« führen könnte.

5. I DEOLOGIE , H EGEMONIE UND P ROTESTBERICHTERSTATTUNG Um auch formal dessen ständige Präsenz zu veranschaulichen, bildet das Konzept der Hegemonie sowohl Ausgang als auch Ende der Forschungsarbeit. Die letzte Forschungsfrage, die nach möglichen ideologischen bzw. hegemoniestabilisierenden Tendenzen in der Berichterstattung über Protest fragt, soll im Folgenden beantwortet werden. Ideologie in Form von falschem Bewusstsein 93 entsteht, wenn ein deutlicher Unterschied zwischen der ökonomischen Realität und den wirklichen Lebensbedingungen innerhalb der hegemonialen Realitätskonstruktion auftritt. Zweck der Ideologie ist, die Machtposition der herrschenden Klasse zu stützen94 und die politische Kraft der Massen, sie in Frage zu stellen, zu lähmen.95 Agieren demnach Massenmedien ideologisch, so reproduzieren sie über gewählte Inhalte, Gewichtung und Framing – und genauso über das Ignorieren von Inhalten – ein bestehendes Herrschaftsverhältnis zugunsten einer bestimmten herrschenden Gruppe oder Klasse. Die Möglichkeit, die Interessen einer spezifischen Gruppe als Allgemeininteressen darzustellen und durchzusetzen, sodass ein Gemeinsamkeitsglaube auch in subalternen Gruppen über die Verhältnisse ent- bzw. besteht, wird als Hegemonie verstanden. Diese Möglichkeit basiert auf Macht und Herrschaft und, so das zugrundeliegende Konzept Gramscis96, auf Konsensen,97 oder wie Hannah Arendt es formuliert, auf dem »Konsens der Regierten«98. Hegemonie konstituiert sich diskursiv, Kommunikation ist basal in der Entstehung von Konsensen, so zeigen Laclau/ Mouffe 99 , Nonhoff 100 und Brand 101 in unterschiedlichen Analysen auf. Eine aus

93 Weiß 2004. 94 Euchner 1995: 192. 95 Marx/Engels 1845/46. 96 Gramsci, GH 1: 102. 97 Brand 2005: 9. 98 Arendt 1972: 140. 99 Laclau/Mouffe 2001.

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Konsensen hervorgehende Umwälzung der Verhältnisse flechtet sich in die gegebenen schleichend ein, so Candeias 102 in Bezugnahme auf Gramsci. Es kommt zu einer Revolution, die vielmehr »passiv«103 geschieht als dass sie offensichtlich ist. Im Vordergrund stehen dabei politische, ökonomische, kulturelle, religiöse oder andere Gesellschaftsideen, die Hegemonie über andere Ideen gewonnen haben. Laclau/Mouffe104 weisen ferner auf den auch emanzipatorischen Charakter von diskursiven Elementen hin, was für Protestkollektive von essentieller Bedeutung ist: Mit diskursiven Elementen, wozu zu einem großen Teil Frames zählen, kann Hegemonie durchbrochen werden. Die Hoffnung, Hegemonie durchbrechen zu können, ist grundlegend für die Durchführung des Protests, wie Holloway105 betont. Mit ihr kann »für (…) andere und bessere Zustände«106 protestiert werden, so Rucht. Die wirtschaftliche »Entbettung« der Medien führt zu neuen Medienkonzentrationen, international hierarchisierten Leitmedien und finanziellen Dependenzen von 107 Anzeigenkundschaft. Die inhaltliche Ausrichtung der Medien folgt den ökonomischen Bedingungen auf dem Fuße, und zwar als redaktionelle Aufnahme der Produkte der Anzeigenkunden, 108 als Gestaltung von Medienprodukten nach den auf Konsum ausgerichteten, konstruierten (Schein-)Bedürfnissen des Publikums,109 als Spektakularisierung der Ereignisse. 110 Die Wirkung des Merkmals (vornehmlich: ökonomisches) Kapital der Protestgruppe konnte nachgewiesen werden: Verfügt eine Protestgruppe über selbiges, ist die Aufnahme in die Medienagenda eher wahrscheinlich. Steht keines zur Verfügung, gilt: Die herrschenden Kräfte geben das Terrain der Auseinandersetzung um Hegemonie vor.111 Der politische Block112 verfügt über institutionelle und diskursive Einflussmöglichkeiten, die den Verhandlungen um einen Kompromiss in der Öffentlichkeit 113 mit Protestgruppen einen 100 Nonhoff 2006: 137. 101 Brand 2005: 9. 102 Candeias 2007: 17 ff. 103 Gramsci, GH 1: 102. 104 Laclau/Mouffe 2001. 105 Holloway 2002. 106 Rucht 2001a: 9. 107 Imhof 2008 f. 108 Andresen 2008: 26 109 Imhof 2008 f.; Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W. (2006): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. 16.Aufl., Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 110 Baringhorst 1996, Beaudrillard 1978, Beck/Schrenk 2007, Bourdieu 1998, Cohen 2002, Débord 1967, Enzensberger 1997, Imhof 2008. 111 Brand 2005: 10 112 Candeias 2007. 113 Imhof 2008.

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Rahmen vorgeben.114 Mit der Methode des Agenda Buildings wird von Akteuren der Öffentlichkeit eben genau jener Schritt des aktiven vorsätzlichen Beeinflussens der Medienagenda gesetzt, wie Lang und Lang115 ausführen. Hänggli weist auf drei bedeutende Faktoren hin, die auf den Prozess des Frame Buildings einwirken, nämlich (1) die Macht der (politischen) Organisation, die einen Frame bewirbt, die aber bei neu entstandenen, noch nicht etablierten und nicht-institutionalisierten Graswurzelgruppen noch wenig vorhanden ist, (2) die Salienz der Frames im MedienOutput, und (3) der Multiplikatoreffekt von (politischen) Autoritäten,116 was also wieder die Abhängigkeit (der Protestgruppe) von sozialem Kapital unterstreicht. Hat das Protestkollektiv aufgrund mangelndem sozialen o.a. Kapital keinen Zugang zum politischen Block, so geben Dritte den Rahmen vor, in dem Protest und seine Inhalte verhandelt werden. Es ist dann eher wahrscheinlich, dass Inhalte und Aktionen verschwiegen oder protestparadigmatisch behandelt werden. Der geschichtliche Block reproduziert die Inhalte und trägt Hegemonie fort, außer Teile von ihm verhalten sich wiederum unter bewusster Einflussnahme auf Wortwahl, Frames oder Diskurs emanzipatorisch. Unter Betrachtung der Einflüsse auf Medien und Journalismus wird augenscheinlich, dass innerhalb struktureller als auch (protest-)ereignisgebundener Faktoren ökonomische Elemente stark präsent sind, was sich auf verschiedene Art und Weise auf die inhaltliche Gestaltung von Protestberichten auswirken kann: Erstens kann das Ownership des Medienhauses mitsamt seinen Anteilshabenden und deren Netzwerken potenziell maßgeblich Einfluss auf seinen ökonomischen Besitz ausüben. 117 Über das Advertising 118 nimmt zweitens Anzeigenkundschaft potenziell Einfluss, denn das Medium ist zum wirtschaftlichen Selbsterhalt auf die Beibehaltung der Kundschaft angewiesen und wird so danach trachten, eine Abwanderung zu Konkurrenzmedien zu verhindern, was sich möglicherweise auch inhaltlich äußern könnte. Die Spektakularisierbarkeit der Nachrichtenwertfaktoren ist ebenso dem ökonomischen Profitgedanken untergeordnet, dieser Trend zum spektakulären Featuring von Ereignissen soll bekanntlich höhere Publikumszahlen versprechen. Unter den einflussnehmenden Protestmerkmalen ist viertens vor allem das Kapital der Protestgruppe zu nennen, das, wie belegt, auf die Berichterstattung einwirken kann. Hier sei neben den induktiv gewonnenen Erkenntnissen auf die genannten Theorien von Habermas und Imhof verwiesen, die einen Strukturwandel der Öffentlichkeit und einer Tendenz zur Medialisierung feststellten, was sich verifizieren lässt. Die historisch gewonnene Unabhängigkeit von Parteien und das damit einher114 Brand 2005: 10 115 Lang/Lang 1981. 116 Hänggli 2012: 302-305. 117 Ludes 2011: 136; Herman, Chomsky 1988: 3 -14. 118 Herman, Chomsky 1988: 14-16.

G ESAMTANALYSE

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gehende gleichzeitige Bestreben der Medien, wirtschaftlich selbstständig bestehen zu können, bringt eine ökonomische Zwangslage mit sich, die vor allem für Proteste deutliche Konsequenzen zeitigt. Zwar stellt die Berichterstattung über Protest nicht immer eine Gefahr für die Interessen der Anzeigenkundschaft, der Shareholder oder für den Bestand des Mediums dar – sobald aber ein Protest stark wirtschaftlich radikal ist, ist die ausführliche Berichterstattung über die Inhalte, wie gezeigt wurde, zumindest riskant. Ein Dilemma, denn mehr als die Hälfte der weltweiten Proteste zwischen 2006 und 2013 richten sich gegen die Auswirkungen des ungezügelten Kapitalismus.119 Medien sind dabei mit der Schwierigkeit konfrontiert, unter möglichem Anecken mit (potenziellen) Anzeigenkunden ihre partizipationsgewährleistende Aufgabe wahrzunehmen und Protest als Akteur der Öffentlichkeit gleichberechtigt abzubilden. Foltin stellt mit 2001 das eingetretene Ende des antikapitalistischen Diskurses in den Massenmedien fest.120 Es zeichnet sich ab, dass die Ursachen für das potenzielle mediale hegemoniale Handeln abgesehen von Fallspezifika und dem allgemein und auch wirtschaftswissenschaftlich121 verbreiteten neoliberalen122 Trend der »ökonomischen Rationalität« und Profitmaximierung am »freien Markt«, auch auf die gegenwärtig härter werdenden Bedingungen, unter welchen Medien publizieren, zurückzuführen sind. Finanzielle Einbußen durch von der Wirtschaftskrise betroffene Kundenunternehmen 123 sowie eine daraus hervorgehende zunehmende Prekarisierung der Medien und der Arbeitsbedingungen ihrer MitarbeiterInnen 124 könnten das unhinterfragte Reproduzieren von Hegemonie verstärken. Basierend auf den Erhebungen der Forschungsarbeit können zusammenfassend folgende medien- und protestmerkmalbezogene Bedingungen festgehalten werden, die ein potenzielles hegemoniales Verhalten fördern können: •

Die ökonomischen Bedingungen unter denen Medien arbeiten, bringen Dependenzen mit sich, die die Möglichkeiten zur Beeinflussung steigern. Zum medial eigentümlichen Exklusivitätsdruck implizieren prekäre ökonomische Bedingungen auch Zeit- und Ressourcenmangel und bringen Personalabbau mit sich, welcher durch seine Androhung zur Selbstzensur führen kann. Die Spektakularisierung soll ferner die Publikumszahlen steigern. Zugespitzt formuliert: Unter extremer Hektik sollen höchstkomplexe Zusammenhänge recherchiert und dar-

119 Ortiz/Burke/Berrada/Cortes 2013: 14ff. 120 Foltin 2004: 271 - 277. 121 ORF (2014b): »Ökonomiestudenten begehren auf«. ORF Online, 5.5.2014. http://orf.at/ stories/2228715/2228713/ 122 Brand 2005: 163f. 123 Siegert/Brecheis 2010: 85f. 124 Schimmeck 2009: 85.

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gestellt werden, Redaktionen werden so anfällig für Vereinfachungen, Rückgriffe auf vorgefertigtes Framing, eine Spektakularisierung des Sichtbaren – zulasten thematisch essentieller Inhalte. Der hegemoniale Konsens der Elite wird tendenziell massenmedial übernommen.125 Ein Diskurs mit einer hegemonialen Sichtweise propagiert die Alternativlosigkeit einer Deutung bzw. die einzige Gültigkeit einer Weltanschauung. Beispiel dafür ist die Sichtweise des wirtschaftlichen Handelns nach der Ökonomievorstellung von Margret Thatcher während ihrer Regierungsperiode, die als ökonomisch einzig gangbarer Weg propagiert und offenbar von Pierre Bourdieu126 polemisch als »TINA-Prinzip« (»There is no Alternative«-Prinzip127) bezeichnet wurde. Personal- und Zeitmangel in Redaktionen können die Abhängigkeit von Sourcing verstärken. Zum Problem wird Sourcing vor allem bei Ereignissen, bei denen ein Ungleichgewicht in der Quellenlage auftritt und JournalistInnen nur über wenig Zeit zur eigenen Recherche verfügen. Dies ist bei Protesten häufig der Fall, denn Medien werden einerseits von verschiedenen Regierungs(nahen)Institutionen mit Information gespeist. Andererseits haben Graswurzelbewegungen und marginalisierte, demonstrierende Gruppen selbst häufig keine Erfahrung mit Medienarbeit und keinen Zugang zu Öffentlichkeiten, zu Internet, zur sprachlichen Ausdrucksweise, keine Möglichkeit zur professionalen Inszenierung ihrer Protestinhalte. Das Problem des Ungleichgewichts im Sourcing erschwert sich umso mehr, wenn BürgerInnen gerade gegen die soziale Exklusion und den Ausschluss aus Öffentlichkeiten protestieren, oder dies wie bei den London Riots mit Ursache für den Protest ist. Das professionelle Framing der Institutionen wird dann aufgrund der Dringlichkeit und der mangelnden Infrastruktur der JournalistInnen – oft zwar mehr aus journalistischer Not als aus Absicht und möglicherweise häufig eher unbewusst als bewusst, aber dennoch – als bestimmendes Framing übernommen und als hegemonial reproduziert. Das selbstinszenierende kommunikative Auftreten von Graswurzel-Protest ist mitunter aufgrund der fehlenden institutionellen Kapazität oder aber auch aufgrund des eigenen Anspruchs, nicht mediengerecht auftreten zu wollen, »mangelhaft« professionell in der Medienwirksamkeit. Den Medien wird so von den Protestkollektiven keine Hilfestellung zur Interpretation der Ereignisse geliefert. Auf diese Art und Weise gelingt es Astroturf-Protesten, mehr Aufmerksamkeit zu gewinnen, da sie mit professioneller Unterstützung die telewirksame Inszenierung des ›Protest-Ereignisses‹ strategisch konstruieren können.

125 Herman/Chomsky in: Mullen 2009. 126 Bourdieu zitiert nach: Brand/Lösch/Thimmel 2007. 127 Nachtwey 2002.

Schlusswort

K ONKLUSION Protest-Framing Spätestens seit dem Ausbruch des »Arabischen Frühlings« Ende 2010 1 und der symbolhaften Nominierung einer Protestaktivistin zur Person of the Year im TIMEMagazin 2011 wird einigen der gegenwärtigen Proteste die Aufmerksamkeit breiter Öffentlichkeiten beigemessen. Medien positionieren Protest prominent am Titelblatt und in den Zwanzig-Uhr-Nachrichten, schildern Forderungen en détail, erklären Hintergrundmotive eindrücklich und wecken mit Einzelporträts die Betroffenheit des Publikums. Vordergründig scheint sich Protest als Mittel zur Bedürfnisartikulation und zur Evokation politischer Aktivität etabliert zu haben und ein relativ erfolgsversprechendes Mittel geworden zu sein, mit dem BürgerInnen politische Macht erlangen können. Bei weitem nicht immer haben Protestkollektive allerdings Erfolg darin, überhaupt mediale Resonanz hervorzurufen – und sollten sie doch in die Schlagzeilen geraten, werden sie kaum differenziert oder gar affirmativ behandelt. Dabei ist der Erfolg von Protest, von Leit- und Massenmedien rezipiert zu werden, neben der journalistischen Einzelentscheidung zu einem hohen Grad an strukturell Bedingungen und/oder an Implikationen protestspezifischer Merkmale geknüpft. Doch gehen wir Schritt für Schritt vor. Im Sommer 2011, also mitten im »Jahr der Protestierenden«, wurden protestierende Männer und Frauen Tottenhams »als gewaltvolle Unruhestifter« bezeichnet, die als »undurchsichtiges Kollektiv Städte Großbritanniens ins Chaos stürzten«. Über die Motive, aus denen die BritInnen quasi plötzlich und unter kollektivem Vorgehen protestierten, herrschte zunächst Verwunderung seitens der britischen Regierung, der Polizei, der Shop-BesitzerInnen und der Nachbarschaft, denn es

1

Massad, Joseph (2012): »The Arab Spring and other American Seasons«. Al Jazeera, 29.8.2012.

http://www.aljazeera.com/indepth/opinion/2012/08/201282972539153865.

html vom 1.6.2014.

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schien sie in ihren Augen nicht zu geben. In der medialen Reflexion der österreichischen Medien über die London Riots wurde trotz dem wiedergegebenen gemeinsamen Wundern über die Gründe des Spektakels zunächst vor allem ein Akteur des losgetretenen Konflikts nur zu einem verschwindend geringen Ausmaß befragt: die Protestierenden selbst. Die Daten zeigen ein Verhältnis von 96:4 in der Zitation von Konfliktakteuren, wobei die Protestierenden vier, und die Aussagen und Bewertungen der Regierung, Exekutive und anderen Involvierten 96 Prozent betragen. Die mediale Reflexion des Protests reproduzierte auch mit der Gesprächspartnerwahl in der ersten Woche jenes soziale Verhältnis, in welchem sich die protestierenden Männer und Frauen vielmals bereits vorher fanden: Vom Zugang zu Öffentlichkeiten abgeschnitten, sozial exkludiert und als Kriminelle eingestuft, an deren Motiven und Problemen kaum jemand Interesse zeigt. Die »London Riots« waren mit Blick auf die Protestberichterstattung also nicht erfolgreich. Die Eigeninterpretation der Sachlage, die einige BritInnen zum kollektiven Handeln führte, wurde nicht dargestellt, denn dazu hätten sie zunächst überhaupt zitiert werden müssen, zudem wurden statt den Motive und Forderungen der fast einstimmige Tenor der britischen politischen Elite an die Öffentlichkeit transportiert. In Motiv und Forderung und als politischer Akteur hingegen öffentlich ernstgenommen wurde das Protestkollektiv von zwölf Bürgermeistern aus einem österreichischen Tal, das rebellisch und spektakulär mit einer zweistündigen Autobahnblockade heftigen Widerspruch gegen die Bundesministerin erhob. Von regionalen, nationalen und Medien aus den Nachbarstaaten wurde die Forderung der österreichischen Bürgermeister und einiger auf der Autobahn, anwesender solidarischer KollegInnen nahezu wortwörtlich aber in kritischer Abwägung mit der konfliktgegnerischen Sichtweise distribuiert. Das Medienecho auf die Aktion der Bürgermeister war enorm, die Protestberichterstattung gemäß den erhobenen Daten weitgehend differenzierten Charakters – sie gilt daher als erfolgreich. Wie sich erst Wochen nach dem Protest herausstellte, war vieles der Öffentlichkeits- und Inszenierungsarbeit einer bezahlten Public-Relations-Agentur zu verdanken, der Protest also TopDown hergestellt, was wiederum nachträglich besonders viel Aufmekrsamkeit und Negativpresse hervorrief. Weitaus mehr ProtestteilnehmerInnen als beim Bürgermeisterprotest versammelten sich an einem Sonntag im Herbst 2012 auf den Straßen in Thessaloniki: Zwischen acht- und zehntausend Männer und Frauen demonstrierten gegen den groß angelegten Minenausbau in Nordgriechenland. Die wichtigsten Massenmedien ignorierten diese Großdemonstration völlig. Wurden allerdings andere Demonstrationen und Protestaktionen der Minengegnerschaft von den Massenmedien nicht ignoriert, so werteten sie die griechischen Umweltproteste ab und framten sie diffamierend. Das Protestkollektiv, das sich zum Großteil aus ökonomisch und ökologisch besorgten BewohnerInnen der betroffenen Region zusammensetzt, sei gewalttätig, übertreibe ökologisch und handle vor allem ökonomisch irrational und ver-

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antwortungslos. Das Argument, die Mine schaffe für die Region tausend Arbeitsplätze, wurde medial vordergründig präsentiert, während widersprechende Studien wirtschaftswissenschaftlicher und ökologischer Provenienz großflächig ignoriert wurden, wie WissenschaftlerInnen2 und die empirischen Daten belegen. Nach Auswertung der drei Case Studies und Bündelung der auftretenden Frames sowie anknüpfend an bestehende wissenschaftliche Erkenntnisse konnten paradigmatische Tendenzen identifiziert und als teils neue Formen der Protestberichterstattung nachgewiesen werden. Wird bei diesen prototypisch dargestellten Formen der Erfolg des Protestkollektivs, nämlich seine Selbstwahrnehmung und Eigeninterpretation in der Berichterstattung wiederzufinden, als Maßstab angelegt, so ergeben sich zwei Kategorien: die erfolgreiche und die nicht-erfolgreiche Protestberichterstattung. Innerhalb dieser Kategorien konnte das Auftreten folgender Einzelformen nachgewiesen werden: •









2

Das Ignorieren von Protest bildet die erste Extremform der Protestberichterstattung. Das Ignorieren von Protest bringt bedeutende ideologische Implikationen für die Gewichtung von gesellschaftlichen Interessen und Bedürfnissen in der Deliberation der Öffentlichkeit mit sich, und so ist sie jedenfalls als eigenständige Form einzuführen. Die Anwendung des Protestparadigmas ist wissenschaftlich mehrfach nachgewiesen. Diese Form wendet kriminalisierende, marginalisierende oder andere diffamierende Frames für die AktivistInnen an bzw. fokussiert auf die negative Spektakularisierung der Aktionen, wobei Inhalte wie Motive und Forderungen in den Hintergrund treten oder verschwinden. Charakteristikum der wissenschaftlich ebenfalls mehrfach belegten Rekuperation ist ihr Verkehren meist radikaler Inhalte in ihr Gegenteil oder in eine ›ökonomisch/sozial/politisch verträglichere‹ Deutung, sodass diese den Status quo nicht gefährden. Als neue Form konnte die differenzierte Protestberichterstattung identifiziert werden. Darunter wird die Darstellung von Protest unter Zitation der AktivistInnen, gleichberichtigter Anführung aller Konfliktakteure sowie kritischer Abwägung der Protestmotive und -ziele subsumiert. Des Weiteren konnte die affirmative Protestberichterstattung nachgewiesen werden, worunter die implizite oder explizite Bevorteilung von Protestmotiven, Aktionen oder AktivistInnen im Framing bzw. in der medialen Präsentation innerhalb eines Konflikts verstanden wird. Kennzeichen ist die tendenziell ungewöhnlich positive Gestaltung (der Frames), die vor allem im Vergleich zur Berichterstattung über andere Proteste augenscheinlich wird. European Parliament Conference 2013a/2013b.

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Die erfolgreiche Protestberichterstattung umfasst die differenzierte und die affirmative3 Form, die nicht-erfolgreiche Protestberichterstattung das Ignorieren, das Protestparadigma und die Rekuperation, bei denen die Inhalte nicht gemäß der Selbstdarstellung des Protestkollektivs wiedergegen werden. Einflussfaktoren Auf die Form der Berichterstattung und somit auf ihre eigene mediale Repräsentanz können Protestkollektive selbst nur begrenzt einwirken. Eine Reihe von Einflussfaktoren, die sowohl strukturell wirken als auch an das spezifische Protestereignis gebunden sind, beeinflussen die Aufnahme in der Medienagenda und das Framing eines Protests: Als strukturelle, polit-ökonomische Einflussfaktoren bestimmen Ownership, Advertising, Sourcing, die Disziplinierung der Medien und die (Anti-) Ideologie4 die Durchlässigkeit von Themen in den Diskurs. Wie schwer das Gewicht der vorliegenden ökonomischen Bedingungen wiegt, in welche Protest und Medien eingebettet sind, , zeigt sich in den Case Studies in verschiedener Ausformung: Privatwirtschaftliche Interessen und die Entscheidungsverantwortlichkeit über die mediale demokratische Kontrollfunktion vermengen sich bei der untersuchten griechischen Protestberichterstattung in ein und derselben Person, die gleichzeitig Eigentümer eines der einflussreichsten nationalen Medien und hauptanteiliger griechischer Shareholder jener Mine ist, die Zielobjekt der Proteste darstellt. Bei den London Riots sandten britische Regierungsinstitutionen prompt nach Einsetzen von aktivistischen Tätigkeiten, die in ihrer Aktionswahl entgegen den üblichen Demonstrationen teils auch zu gewalttätigen kollektiven Handlungen griffen, Stellungnahmen an die Presse aus und betrieben so professionell Sourcing, wodurch die nationalen und internationalen Redaktionen rasch auf Information zugreifen konnten. Das britische Protestkollektiv verfügte selbst über keinen Zugang zu Öffentlichkeiten, was Mitursache des Protests war.5 Resultat des raschen und professionellen Sourcing ist ein extrem hoher Anteil von Zitationen britischer (Regierungs-)Beamter sowie die Verbreitung des vorgelegten Framings und der Interpretation der Geschehnisse in den untersuchten österreichischen Printmedien. Als Konsequenz setzte sich in der ersten Woche der Berichterstattung eine zunächst stark einseitige Protestevaluation im österreichischen, medial bereitgestellten öffentlichen Diskurs hegemonial durch. Als strukturelle Einflussfaktoren konnten zudem Medieninterna und medial etablierte zeitgenössische Mediennormen als Überkategorien identifiziert werden.

3

(wobei hier ebenso Probleme für das Protestkollektiv auftreten können)

4

Herman/Chomsky 1988 und 2009.

5

Penny 2011.

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Zu ersteren zählen die Blattlinie und die medien- und journalistenspezifische Disposition, bei letzteren ist die gegenwärtig besonders prominente Spektakularisierung von Ereignissen zu nennen, mit der die Aufmerksamkeit des Publikums schnell erreicht und die Auflagenzahlen in die Höhe getrieben werden sollen. Der Begriff der Spektakularisierbarkeit von Nachrichtenwertfaktoren wurde eingeführt, um auf die entscheidende Möglichkeit einer Spektakelerzeugung 6 hinzuweisen, welche dazu beitragen kann, die Merkmale einer Sachlage als Nachrichtenereignis spektakulär zu vermarkten. Neben den strukturellen wirken auch protestereignisgebundene Einflüsse auf die (Art der) mediale(n) Resonanz, wie nachgewiesen werden konnte. Die Protestmerkmale Protestgröße, das Ausmaß an Extremem bzw. Spektakulärem in Aktion und Taktik, die Radikalität der Inhalte und die damit implizierte Gefährdung eines Status quo und die Geopolitischen Implikationen beeinflussen erstens das Etablieren in der Agenda und zweitens das Framing des Texts. Dabei evozieren radikale, Status quo gefährdende Inhalte eher eine Spektakularisierung der Aktionen und ein Ignorieren der Inhalte7, während Proteste, die in Konflikten geopolitisch-strategisch nützlich sein könnten, zunächst eher besser behandelt werden8, was mitunter auf professionell aufbereitetes und interessengeleitet geframtes Sourcing der Regierungsinstitutionen der eigenen politischen Entität zurückzuführen ist. Zusätzlich zu bekannten Protestmerkmalen, die in der Arbeit systematisiert und zusammengeführt wurden, konnte ergänzend das Merkmal Kapital der Protestgruppe als bedeutender Einflussfaktor auf die Berichterstattung identifiziert werden. Verfügt nämlich ein Protestkollektiv über angemessenes soziales, ökonomisches oder kulturelles Kapital, 9 so kann auf die Protestberichterstattung eingewirkt werden. Am Beispiel der Bürgermeisterproteste kann das Erreichen medialer Resonanz aufgrund des Kapitals der Protestgruppe deutlich nachgezeichnet werden, denn die spektakuläre Inszenierung des Protests auf der Autobahn wurde von einer PR6 7

Débord 1967; Baringhorst 1967. Boyle et al. 2012: 138ff.; Shoemaker, Pamela (1984): «Media treatment of deviant political groups”. In: Journalism Quarterly 61, S. 66-75, hier: 82.; McLeod, Douglas/Hertog, James (1999): «Social control and the mass media’s role in the regulation of protest groups: The Communicative Acts perspective”. In: Demers, David/Viswanath, Kasisomayajula: Mass media, social control and social change. Iowa State University Press, Ames, S. 305-30.

8

Wittebols, James H. (1996): «News from the noninstitutional world: U.S. and Canadian television news coverage of social protest.” In: Political Communication 13, S. 345-61, hier: 359.

9

Bourdieu 1983.

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Agentur professionell und mit großem Erfolg übernommen, die Forderung medienwirksam positioniert und das Mediennetzwerk strategisch genutzt. Die Wirksamkeit des Merkmals Kapital zeigte sich ebenso bei den vorgestellten Initiativen wie der Europäischen Bürgerinitiative »Wasser ist ein Menschenrecht«, Deutschlands »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« und der Initiative für den Frankfurter Flughafenausbau »Ja zu FRA!«. Das Kapital der Protestgruppe kann so als unterscheidungsrelevanter Einflussfaktor auf die Berichterstattung angenommen werden. Daraus ableitend lässt sich bekräftigen, dass mit einer unterschiedlichen Protestberichterstattung über Astroturf- und Graswurzelprotest zu rechnen ist. Astroturf-Protest Die Möglichkeit, die Selbstdarstellung der Protestgruppe über eine PR-Agentur zu professionalisieren und bei Medien auf legalem Weg etwa über Anzeigeschaltungen oder über Kontaktaufnahme mit dem Ownership und der Nutzung von Vernetzungen mit EigentümerInnen oder MitarbeiterInnen mit unterschiedlichem Grad den eigenen Standpunkt darzulegen, ist eng mit dem ökonomischen, sozialen oder kulturellen Kapital10 verknüpft. In diesem Zusammenhang ist ebenso der Vorteil stark werbender Unternehmen, eher in die Berichterstattung aufgenommen zu werden,11 ins Treffen zu führen, lässt er sich doch auch auf kapitalstarke Protestgruppen umlegen. Astroturf-Protestorganisatoren verfügen ihrem Charakter nach tendenziell über mehr Kapital als Graswurzelprotestgruppen, daher gelingt es ihnen eher, Aufmerksamkeit und die mediale Protestreflexion zu erzielen, zumindest solange ihre Top-Down-Organisation intransparent ist. Aufgrund ihrer im Vergleich mit neu formierten Graswurzelprotesten tendenziell deutlich professionelleren Aufbereitung der Protestforderung und der Kontaktherstellung mit JournalistInnen ist die Protestberichterstattung für das Kollektiv tendenziell eher erfolgreich. Dass allerdings gleichzeitig die erfolgreiche Positionierung von Protestkollektiven in Form erfolgreicher Protestberichterstattung die wesentliche Determinante für die Evokation politischer Aktivität darstellt, könnte hypothetisch angenommen werden, bedarf allerdings weiterer Prüfung, und zwar insoweit, als etwa große transnationale, medial starke Resonanz hervorrufende Proteste, wie der Anti-Irakkrieg-Protest12 oder das Occupy Wallstreet Movement13 wenig politische Aktivität nach sich zogen. Neben dem ökonomischen (Start-)Kapital können extern finanzierte AstroturfProteste auf vorhandene Organisationsstrukturen zurückgreifen, was Humankapital,

10 Ebenda. 11 Andresen 2008. 12 Tharoor 2013. 13 White 2012.

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PR-Abteilungen und deren professionelle Organisationserfahrung in der Erreichung von Medien, der spektakulären Vermarktung der Aktionen (›Marketing‹) und der Nutzung von Netzwerken betrifft sowie bis zur finanziellen Einflussnahme auf Medien etwa über Werbeschaltungen reichen kann. Belegt ist, dass mächtigere Akteure einen begünstigten Zugang zu Medien haben,14 der Erfolg in der Gewinnung medialer Aufmerksamkeit dürfte also auch von der Macht (etwa in Form von Kapital) des jeweiligen (Astroturf-)Protest-Organisators abhängig sein. Dem Charakter von Graswurzelprotestgruppen ist inhärent, sich zunächst neu formieren und gegebenenfalls eine Arbeitsteilung etablieren zu müssen, sowie verschiedene Forderungen im Rahmen des Prozesses des collective action framing festzulegen und zu kommunizieren.15 Für JournalistInnen haben professionell vorgefertigte Communiqués inklusive Forderungskatalog den latenten Vorteil, dass sie auch unter angespannten Arbeitsbedingungen unter Zeit- und Ressourcenmangel auf konkrete Statements zurückgreifen können. Dies macht neben anderen Aspekten die mediale Übernahme des professionell vorgebrachten Framings der Astroturf-Protestgruppe eher wahrscheinlich. Bei neu entstandenen Protestgruppen, die medial wenig versiert sind und über wenig ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital verfügen, ist eine aktive Einflussnahme auf Medienberichterstattung eher nicht wahrscheinlich. (Marginalisierte) Gruppen mit wenig oder ohne Kapital, wie die britischen Protestierenden der London Riots, sind im wohl nicht seltenen Extremfall abhängig von Dritten, die über sie berichten, und können weder Informationsfluss noch Framing kontrollieren.16 Astroturf-Gruppen verfügen über vergleichsweise mehr Kapital als originäre Protestgruppen. Für das Merkmal Ökonomisches Kapital wurde der Mediatoreffekt 17 verhandelt, denn bei Astroturf-Protesten scheint das Ökonomische Kapital eine unweigerlich bedeutende Rolle für den Protesterfolg zu spielen. Für das Verhältnis zwischen Enthusiastischen ProtestaktivistInnen und dem Protesterfolg in der Berichterstattung ist das Kapital als Verhältnisstabilisator bei AstroturfProtestgruppen jedenfalls festzustellen. In anderen Worten heißt das: Werden Proteste zur Durchsetzung eines organisationseigenen Partikulärinteresses extern und Top Down lanciert, so ist jedenfalls ökonomisches Kapital notwendig, damit erstens der Protest und zweitens sein erwarteter Erfolg erreicht werden können. Andersherum formuliert: Ist kein ökonomisches Kapital vorhanden, hat Top Down lancierter Protest wie beispielsweise Astroturf-Protest keinen Erfolg. Zur Eruierung des Ausmaßes des Effekts bzw. ob es sich um eine vollständige oder partielle Mediation des 14 Hay 1999; Gans 1979; Wolfsfeld 1979; Entmann 2007. 15 Van Zomeren/Postmes/Spears 2008; Benford, Robert/Snow, David A. 2000: 614. 16 Shaw 1996: 11ff. 17 Baron/Kerry 1986: 1174.

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Zusammenhangs zwischen den Variablen (und Astroturf-Maßnahmen) Enthusiastischen ProtestaktivistInnen und Protesterfolg durch Ökonomisches Kapital handelt, müssten weitere Forschungsbemühungen angestellt werden. Partizipation In der globalisierten Wirtschaft sind lokaler und globaler Raum zusammengewachsen und nationale Grenzen haben zugunsten transnationalisierter Bündnisse an Bedeutung verloren. Die fortgeschrittene Technologie ermöglicht den weltweiten Informationsaustausch ohne Zeitverlust. Das multilaterale Handelssystem, in dem nationale, supranationale, intergouvernementale und subnationale Ebene funktional differenzierend verknüpft werden, fördert nicht nur ökonomische, sondern auch politische Kompetenzverschiebungen zutage. Die Erhaltung der Demokratie betreffend sind Probleme in der Responsivität und Mängel in der Partizipation transnationaler Instanzen zu nennen.18 Gleichzeitig flechten sich Tendenzen der Postdemokratie in gegenwärtige demokratische Staatsmodelle ein, wo in vielen Institutionen zwar funktionstüchtige Partizipationsinstrumente vorhanden sind, zugleich aber die demokratische Öffentlichkeit nicht funktioniert.19 Privatwirtschaftlich ausgerichtet, durchleben auch die Medien einen Strukturwandel, sie sind von Anzeigenkundschaft und deren potenziellen Interessen abhängig und richten ihre Berichterstattung konsequenterweise nach dem Kapital des Publikums und der Anzeigenkundschaft aus. Dieser Trend evoziert inhaltliche Verschiebungen unter anderem hin zur einer unterhaltenden Verbildlichung der Information anstelle von Komplexität und Verlautbarungsjournalismus, etwa in Form von spektakularisierten Protestevents – wie es auch Astroturf-Proteste sein wollen/sind. Aus den ökonomisch bedingten Zwängen der Medienhäuser gehen für Proteste vor allem folgende zwei latent problematische Implikationen hervor: (1) der Spektakularisierung wird Vorschub geleistet und (2) kapitalismuskritischer Inhalt hat es schwer, in den medialen Diskurs aufgenommen zu werden.20 Parallel zu den Medientrends und zu den globalen ökonomischen und politischen Entwicklungen stehen die zwei weltweit häufigsten Protestmotive: Am meisten Widerstand wird gegen verschiedenartige Implikationen der vorherrschenden kapitalistisch ausgerichteten Wirtschaftspolitik geleistet und am zweithäufigsten mehr

18 Roth 2001: 45; Imhof 2008: 78 ff.; Schade: 31 ff. 19 Crouch 2008: 10 20 Baringhorst 1996: 16; Harlow/Johnson 2011; Beaudrillard 1978a; Bourdieu 1998a; Cohen 2002; Débord 1967; Enzensberger 1997; Imhof 2008: 87f.; Foltin 2004: 271-277.

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Partizipation im politischen System gefordert.21 Vor diesen Motiven und den genannten Entwicklungen sollte eine verantwortungsvolle Demokratie ihre demokratische Öffentlichkeit und die Möglichkeit zur Teilhabe immer wieder von Neuem evaluiert werden.22 Als Maßstab für eine solche Evaluation wurde in der vorliegenden Arbeit das Öffentlichkeitsverständnis nach Habermas gewählt, wonach ein gemeinsamer vernünftiger Wille kooperativ, herrschaftsfrei und ideologiekritisch unter Mitwirkung aller Gesellschaftsmitglieder gefunden werden soll.23 Protestierende bringen als ersten gemeinsamen collective action frame ein gemeinsames »Nein!«24 vor, das von der Hoffnung auf mehr an das Ideal – »das geglückte, gute Leben, das immer wieder versprochen und erstrebt, noch nie erreicht wurde«25 (Habermas) – heranreichende Lebensverhältnisse genährt ist. Alternative Lebensmodelle oder zumindest bessere konkrete (Arbeits-, Wohn- u.a.) Bedingungen werden angestrebt, sie sollen der Öffentlichkeit unterbreitet und diskursiv verhandelt werden. Mit spektakulären, überraschenden und kreativen Aktionen und – nicht notwendigerweise aber auch – mit kulturellem, sozialem und ökonomischem Kapital und mit einer Protestgröße, die nicht mehr ignoriert werden kann, gelingt das Erreichen von Öffentlichkeit über die traditionellen Medien eher. Zur Vergrößerung der öffentlichen Aufmerksamkeit wählen Protestkollektive zudem bzw. alternativ den Weg über Alternativmedien oder Soziale Medien, die nicht unwesentliche Vorteile wie etwa die eigene Inhaltskontrolle bieten.26 Bei einer Auseinandersetzung mit der Frage, inwiefern Protestkollektiven in der medial bereitgestellten deliberativen Öffentlichkeit vor dem Hintergrund der Transnationalisierung, Globalisierung und Medialisierung der politischen und ökonomischen Handlungswelt die Möglichkeit zur gleichberechtigten Partizipation in Demokratien des 21. Jahrhunderts27 gewährleistet wird, ist erstens zu diskutieren, inwieweit sozial normativ gleichgestellte Mitgliedsgruppen der Gesellschaft, nämlich Proteste und ihre politischen, ökonomischen o.a. Zielobjekte, gleichermaßen partizipieren können bzw. inwieweit zweitens institutionalisierte und nichtinstitutionalisierte Akteure in ihrem Recht in der Mitgestaltung der Gesellschaft als gleichwertig betrachtet werden. Dazu ist anzumerken, dass der politische deliberative Diskurs (noch immer) in traditionellen Medien stattfindet, gleichwohl Soziale Onlinemedien ein neues – gegebenenfalls alternatives, paralleles, subversives, in

21 Ortiz/Burke/Berrada/Cortes 2013: 14ff.; Stratulat/Dhéret 2012; Žižek 2013b. 22 Imhof 2008. 23 Habermas 1973: 148; Preglau 1993: 200. 24 Holloway 2002/2012. 25 Habermas‘ Ideal zusammengefasst von Braun/Heine/Opolka 2002: 330. 26 Fuchs /Sandoval2014; Padovani 2010; Downing, 2001; Rodriguez, 2001. 27 Imhof 2008.

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seiner Bedeutung für Öffentlichkeit noch nicht bis zuletzt definiertes – Forum bieten.28 Proteste stellen, je radikaler und breiter sie angelegt sind, umso mehr Macht infrage, sie entwickeln dabei nach Arendt kommunikative Macht.29 Diese wird genauso wie diskursive Hegemonie aber nur selten erlangt, wie aus den Daten hervorgeht. Daher ist zu resümieren: Als nicht-institutionalisierte Akteure können Protestkollektive nicht gleichberechtigt mit institutionalisierten politischen, ökonomischen oder anderen Akteuren der Öffentlichkeit im politischen Diskurs partizipieren. Verantwortlich dafür sind strukturelle als auch protestereignisgebundene Einflussfaktoren. Diese Feststellung gründet erstens auf der medialen Ignoranz der Mehrheit aller Proteste30, zweitens auf der mehrheitlich protestparadigmatischen, diffamierenden medialen Behandlung von Protesten bei erfolgter Berichterstattung31, drittens auf der Fokussierung und negativen Spektakularisierung von Protestaktionen32, die zur Aufmerksamkeitsgewinnung extrem sind oder als extrem dargestellt werden, unter Ausblendung der Inhalte33 und viertens auf dem charakteristischen Aufmerksamkeitsvorsprung etablierter Institutionen in der Öffentlichkeit.34 Gleichwohl Partizipationsinstrumente in gegenwärtigen Demokratien institutionell vorhanden und funktionstüchtig sind, stehen sie allerdings in Widerspruch mit einer nicht-funktionierenden demokratischen Öffentlichkeit. Medien durchleben als Gewährleister von Öffentlichkeit und Partizipation einen Strukturwandel bzw. einen Medialisierungseffekt. Der demokratische Deliberationsprozesses wird von politischen Beratungsunternehmen mit ökonomischen Interessen kontrolliert, die mit quantifizierbaren Meinungsumfragen die Bedürfnisartikulation organisieren, BürgerInnen dagegen können sich dabei meist nur reaktionär verhalten.35 AstroturfProteste stellen eine Ausformung dieser Entwicklungen dar. Hegemonie Unter der Zusammenführung des Framing-Konzepts und der Hegemonie-Theorie wird aufgezeigt, wie bereits auf Wortebene und über Sprechakte als Träger der (ideologischen) Interpretation einer Sachlage eine ideologisch geprägte Deutung der 28 Fuchs /Sandoval 2004. 29 Arendt 1972: 140. 30 Smith/McCarthy/McPhail/Augustyn 2001: 1419. 31 McLeod /Hertog1999; Shoemaker 1984: 82; Boyle/McLeod/Armstrong 2012: 138ff; Gitlin 1980. 32 Boyle/McLeod/Armstrong 2012; Harlow/Johnson 2011. 33 Baringhorst 1996: 16. 34 Entman 2007; Wolfsfeld 1997; Gans 1979. 35 Crouch 2008: 10f.; Habermas 1990; Imhof 2008.

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Realität festgemacht werden kann. Dadurch entstehen bedeutende partizipationsbzw. ideologietheoretische Implikationen, wie die potenzielle Mitbeteiligung aller Mitglieder der Gesellschaft an der Herrschaftsreproduktion, wobei allerdings die herrschenden Kräfte innerhalb einer Gesellschaft – und hier vor allem der politische Block mit seinen institutionellen und diskursiven Einflussmöglichkeiten – das Terrain der Auseinandersetzung und der Verhandlungen um einen Kompromiss in der Öffentlichkeit vorgeben.36 Hegemonie, die Möglichkeit, die Interessen einer spezifischen Gruppe als Allgemeininteressen durchzusetzen, sodass ein Gemeinsamkeitsglaube auch in subalternen Gruppen über die Verhältnisse entsteht, basiert auf Macht und Herrschaft37 bzw. auf dem »Konsens der Regierten«38, an dem auch die zustimmenden Regierten als geschichtlicher Block39 beteiligt sind. Hegemonie konstituiert sich dabei diskursiv bzw. mittels diskursiver Elemente wie Frames es sind. Kommunikation ist somit basal in der Entstehung von Konsensen,40 die Notwendigkeit, (journalistische) Sensibilität auf Wort- und Frameebene walten zu lassen, ist daher unbedingt hervorzustreichen. Diskursive Elemente haben auch emanzipatorischen Charakter, was für Protestkollektive von grundlegender Bedeutung41 ist, denn mit ihnen kann Hegemonie durchbrochen und für »andere und bessere Zustände«42 protestiert werden. Die Berichterstattung über Protest, der seinerseits auch Hegemonie in Frage stellt, ist vor diesem theoretischen Hintergrund besonders bedeutend: Sie kann zur Hegemoniereproduktion beitragen, indem auf Mikroebene mit der Wortwahl und dem Framing die Deutung und Bewertung einer Sachlage bewertet werden, auf Mesoebene Diskurse eröffnet oder einzelne Aspekte unter (strategischem) Einsetzen der Schweigespirale ignoriert und Diskurse verhindert oder umgelenkt werden. Die Protestberichterstattung eröffnet demokratische Probleme, wenn sie ideologisiert auf falschem Bewusstsein über die gegenwärtigen Lebensverhältnisse fußt und unter Hinwegtäuschen die politischen Kraft der BürgerInnen lähmt.43 Medien können bewusst oder unbewusst in die Rolle der Träger hegemonialer, ideologischer Konsense fallen, diskursiv und schleichend reproduzieren sie dann bestehende Herrschaftsverhältnisse44 zugunsten einer bestimmten herrschenden Gruppe über

36 Brand 2005: 10; Imhof 2008 37 Brand 2005: 9. Gramsci, GH 1: 102. 38 Arendt 1972: 140. 39 Candeias 2007. 40 Laclau/Mouffe 2001; Nonhoff 2006: 137; Brand 2005: 9. 41 Holloway 2002. 42 Rucht 2001a: 9. 43 Marx/Engels 1845/46. 44 Laclau /Mouffe 2001; Nonhoff 2006: 137; Candeias 2007: 17 ff.

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Agenda Setting, Inhaltsgewichtung und Framing – und über das Ignorieren von Fakten. Die wirtschaftliche „Entbettung“ der Medien führt zu neuen Medienkonzentrationen, international hierarchisierten Leitmedien und finanziellen Dependenzen von Anzeigenkundschaft. Die inhaltliche Ausrichtung der Medien folgt den ökonomischen Bedingungen auf dem Fuße, und zwar als redaktionelle Aufnahme der Produkte der Anzeigenkunden, als Gestaltung von Medienprodukten nach den auf Konsum ausgerichteten, konstruierten (Schein-)Bedürfnissen des Publikums, als Spektakularisierung von Ereignissen.45 Die aus der ökonomischen Entbettung hervorgehenden Einflüsse schlagen sich besonders in der Protestberichterstattung stark nieder, handelt es sich doch bei Protestkollektiven mit Blick auf das Advertising meist um wenig umsatzsteigernde Gruppen und um kapitalschwache, nicht-instutitonalisierte öffentliche Akteure. Es zeichnet sich ab, dass die Ursachen für die nicht selten auftretende mediale Hegemoniereproduktion abgesehen von Fallspezifika auf den allgemein verbreiteten ökonomischen Trend der Profitmaximierung am „freien Markt“ und auf die gegenwärtig härter werdenden Bedingungen, unter welchen Medien publizieren, zurückzuführen sind. 46 Finanzielle Einbußen durch von der Wirtschaftskrise betroffene Kundenunternehmen 47 sowie eine daraus hervorgehende zunehmende Prekarisierung der Medien und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen ihrer MitarbeiterInnen48 können das unhinterfragte Reproduzieren von Hegemonie verstärken. Die Ideologie- und Hegemoniereproduktion betreffend können folgende Eckpunkte zusammenfassend festgehalten werden: • •



Ein hegemonialer Eliten-Konsens wird tendenziell medial übernommen.49 Sofern die ökonomischen Bedingungen eines Mediums nicht stabil und erfolgreich sind, kann die Abhängigkeit von Stakeholdern und Anzeigenkundschaft erhöht sein und eine Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse bedingen. Dies kann Möglichkeiten zur inhaltlichen Beeinflussung eröffnen. Personal- und Zeitmangel in Redaktionen machen Medien angewiesen auf Sourcing, d.h. den Rückgriff auf externe Informationsquellen, die interessenge-

45 Andresen 2008: 26; Imhof 2008 f.; Horkheimer/Adorno 2006; Baringhorst 1996, Beaudrillard 1978, Beck/Schrenk 2007, Bourdieu 1998, Cohen 2002, Débord 1967, Enzensberger 1997, Imhof 2008. 46 ORF (2014b): „Ökonomiestudenten begehren auf“. ORF Online, 5.5.2014. http://orf.at/ stories/2228715/2228713/ 47 Siegert/Brecheis 2010: 8548 Schimmeck 2009: 85. 49 Herman/Chomsky in: Mullen 2009.

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leitet beeinflusst sein können. Bei Protesten kann ein Ungleichgewicht in der Quellenlage auftreten, wenn zahlreiche etablierte Institutionen geframte Interpretationen der Wirklichkeit als Presseaussendungen verbreiten und neu entstandene Protestgruppen sich entweder dahingehend (noch) nicht professionalisiert haben, ihnen nicht bewusst ist, dass ein professionalisiertes medienwirksames Sourcing erfolgsversprechend im Hinblick auf das Framing der Beiträge sein könnte, oder als Protestkollektiv sich dazu entschieden haben, nicht aktiver Part in der Medienlogik sein wollen. Das kommunikative, selbstinszenierende Auftreten von Graswurzel-Protesten ist mitunter aufgrund des eigenen Anspruchs oder der fehlenden institutionellen Kapazität mangelhaft professionell bzw. nicht mediengerecht gestaltet. Dies liegt im Selbstanspruch, nicht in der Medialisierung teilnehmen zu wollen, in der kapitalarmen Lage der Protestierenden oder anderweitig begründet.

K ONSEQUENZEN , ALTERNATIVEN UND AUSWEGE Einige Alternativen bieten sich erstens für Protestkollektive an, um eine mögliche Dependenz von Massenmedien zu umgehen, und zweitens für JournalistInnen, um hegemoniale, ideologisierte Konsense im Diskurs zu vermeiden. Drei konkrete Fälle werden zur Veranschaulichung beispielhaft umrissen, sie betreffen erstens die institutionelle und zweitens die journalistische Ebene bzw. sind drittens protestzentriert angelegt. Institutionelle Konsequenz: Die Europäische Bürgerinitiative In der Europäischen Union wurde jüngst ein Instrument geschaffen, mit welchem Protestforderungen in Form von Initiativen institutionell vorgebracht werden und politische Aktivität innerhalb der Union evozieren können. Die Europäische Bürgerinitiative (EBI) ist seit 2012 Konsequenz Europäischer Bestrebungen, die Partizipation zu verstärken und über direkte Beteiligung Forderungen von BürgerInnen ernst zu nehmen. Bereits der Gründungsvertrag der Europäischen Union hält den repräsentativen Charakter der Union fest, wobei den Parteien eine zentrale Funktion eingeräumt wird.50 Jede BürgerIn verfügt über »the right to participate in the democratic life of the Union.«51 Seit Entstehen der EU standen ihre Führungspersönlichkeiten der demokratischen und partizipatorischen Politik tendenziell ängstlich gegenüber, was 50 Europäische Union: Treaty on European Union. Article 10.1. (Art. 10.1 TEU); Art. 10.4. TEU. 51 Art. 10.3. TEU.

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nach 60-jährigem Bestehen zu Legitimitätsdefiziten führte.52 Nichtsdestotrotz oder gerade deshalb hat die Union die partizipatorischen Möglichkeiten in den vergangenen Jahren quantitativ erweitert.53 Neben den direkten EU-Parlamentswahlen, die 1979 installiert wurden, hält die Union weitere Instrumente bereit, um Teilhabe zu gewährleisten,54 das jüngste davon, die EBI, soll die direkte demokratische Beteiligung innerhalb der Union fördern und das »demokratische Fundament der EU stärken und Europa seinen Bürgern näherbringen. Nun gibt es einen direkten Weg, sich in Brüssel Gehör zu verschaffen«, wie der Vizepräsident der Europäischen Kommission, Maroš Šefčovič, formuliert.55 Bei einer Million gesammelter Unterschriften muss die EK obligatorisch die EBI-Forderung evaluieren. Damit binnen eines Jahres eine Million Unterstützungserklärungen gesammelt werden können, muss in zumindest sieben Mitgliedstaaten Bewusstsein für die Relevanz der Initiative geschaffen werden. Dabei wirft die EBI einige Implikationen, Konsequenzen und offene Fragen auf, die in wieteren Forschungsbemühungen aufgearbeitet werden sollen: (1) Das Governance White Paper56 hält notwendige Bestrebungen zur Reformierung der Governance innerhalb der EU fest und setzt dabei einen Schwerpunkt auf Partizipation. Evaluiert muss werden, wie weit der Europäische Partizipationsbegriff reichen soll, und inwiefern die EBI seinen Ansprüchen gerecht wird. (2) Es ist zu validieren, ob die EBI einerseits als erfolgreiche Maßnahme der EU als sich gegenwärtig demokratisierender Staatenbund zur Ermöglichung breiter BürgerInnenpartizipation gilt. (3) Es ist ferner zu prüfen, ob die EBI, wie in internen Kreisen von EBIEntwicklerInnen hypothetisch vorgebracht wurde, ein geeignetes, erfolgreiches Instrument für Protestkollektive zur Einbindung von Protestinitiativen gelten kann. (3) Die EBI fördert implizit die Stärkung der Europäischen Öffentlichkeit, was zudem das Zusammenwachsen der Mitgliedstaaten und seiner BürgerInnen forcieren könnte. Es handelt sich bei der gegenwärtigen grundlegenden EBI-Bedingung, eine Million Stimmen aus sieben Mitgliedstaaten zu sammeln, um ein Experiment, mit welchem im besten Fall ein gemeinsamer Europäischer öffentlicher Raum erschlossen 52 Marquand, David (2011): The End of the West: The once and future Europe. NJ: Princeton University Press, Princeton; Monaghan, Elizabeth (2012): »Assessing Participation and Democracy in the EU: The Case of the European Citizens’ Initiative«. Perspectives on European Politics and Society, 13:3,285-298, hier: 289. 53 Monaghan 2012: 286, 290. 54 Monaghan 2013: 290. 55 Šefčovič, Maroš (2011): »Vorwort«. In: Europäische Kommission (2011a): Leitfaden der Europäischen Bürgerinitiative, Europäische Union, Brüssel, S.1. 56 EC (2001): European Governance. A White Paper, COM(2001)428 final. http://ec.europa.eu/ dgs/communication/pdf/comm-initiatives/2001-european-governance-white-paper-com2001_ 0428_en.pdf.

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werden könnte. Verdienstvoll wären Untersuchungen über mögliche die notwendigen Anpassungen und ergänzenden Maßnahmen. (4) Da die EBI gleichzeitig die Gewichtung einer gemeinsamen Europäischen Öffentlichkeit impliziert,57 die eben noch kaum besteht und möglicherweise vermehrt zur Deliberation genutzt werden soll, muss das Verständnis von Öffentlichkeit, sowohl auf theoretischer Ebene als auch hinsichtlich der Frage der Ratifikation verhandelt werden. (5) Zur öffentlichen Durchführung einer EBI sind die massive Kampagnisierung und das mediale Distribuieren notwendig. Medien spielen hier eine zentrale Rolle. Offen ist, ob Europäische Medien anzudenken sind, und wenn ja, wie diese sprachlich und inhaltlich aussehen könnten. Journalistische Ideologiekritik und ökonomischer Konsens Von journalistischer Seite ist die Darstellung von radikalen Protest und somit das Durchbrechen von hegemonialen Tendenzen trotz den genannten strukturellen Einflüssen möglich, wie ein bemerkenswerter Fall im Hinblick auf die Austeritätspolitik im April 2013 aufzeigt. Zwei Tage vor seinem Erscheinen vorankündigte der Spiegel58 die Analyseergebnisse einer Studie der Internationale Arbeitsorganisation ILO (Sonderorganisation der Vereinten Nationen), die vor einer »wachsenden Gefahr sozialer Unruhen in der EU«59 warnte. Begründet mit der »Sparpolitik, die den Krisenländern verordnet wurde (…) [, die] für den Anstieg der Arbeitslosigkeit in der EU auf nunmehr 26 Millionen Menschen verantwortlich« sei, legte die Studie jene europäischen Länder offen, die daher von »sozialen Unruhen« betroffen sein könnten. Überraschend ist die Reaktion der Medien auf die Spiegel-Ankündigung der ILOAnalyse: Sie distribuierten in Referenz auf die Vorankündigung des Spiegels den Bericht der ILO oft nahezu unverändert, was betreffend der kritischen Inhalte zur Austeritätspolitik als eine punktuelle ideologische Kehrtwende angesehen werden kann. Die Veröffentlichung der ILO-Analyse findet nämlich zu einem Zeitpunkt statt, an dem der nach den Beobachtungen der österreichischen Profil-Journalisten Müller/Treichler »unter allen Eurostaaten akkordiert[e]« Konsens der Elite stark zugunsten der Rich-

57 EC (2009): Green Paper on a European Citizens’ Initiative, COM(2009)622, S.3. http://eurlex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri1%E2%81%844COM:2009:0622: FIN:EN:PDF. 58 Der Spiegel: »Internationale Arbeitsorganisation warnt vor wachsender Gefahr sozialer Unruhen in der EU«. In: Der Spiegel, Vorabmeldungen,7.4.2013. Unter: http://www.spiegel.de/ spiegel/vorab/warnung-wachsende-gefahr-sozialer-unruhen-in-der-eu-a-892890.html. [Zugriff: 8.4.2013]. 59 Der Spiegel 2013.

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tigkeit der Sparmaßnahmen ausgerichtet ist, und der Präsident des Europäischen Rates Herman Van Rompoy sowie der EU-Wirtschafts- und Währungskommissar Olli Rehn die Austeritätspolitik als »selbstverständlich« und »alternativlos« bezeichnen.60 Die Vorankündigung der ILO-Analyse im Spiegel wurde zunächst u.a. von den Nachrichtenagenturen Reuters und DTS Nachrichtenagentur61 distribuiert. Die Aussendung der Nachrichtenagenturen sowie die Spiegel-Vorankündigung nahmen zahlreiche deutschsprachige Medien oft wortwörtlich auf, darunter Die Zeit62, Frankfurter Allgemeine Zeitung 63, Welt 64 , Handelsblatt65 , Stern.de66 , Deutschlandradio67 , NT-V 68 , Der Standard69, Die Presse70, Finanzen.at71 u.a. Bemerkenswert ist der journalistische Durchbruch im hegemonialen Diskurs, wobei vor allem eine Variable ausschlaggebend zu sein scheint: das argumentum ad verecundiam, die Berufung auf eine wichtige, anerkannte Autorität, nämlich die ILO als UNO-Unterorganisation bzw. in weiterer Folge der Spiegel als Leitmedium, der als erster die Studie ideologiekritisch präsentiert. Forschungsbemühungen, die sich mit der Frage auseinandersetzen, wie trotz ökonomischer Zwänge, in denen sich Medien und JournalistInnen befinden, kritischer Journalismus erhalten bleiben, gegebenenfalls falsches Bewusstsein entlarvt, Ideologiekritik geübt und Hegemonie durchbrochen werden kann, wären besonders verdienstvoll. 60 Müller/ Treichler 2013: a.a.O. 61 DTS

Nachrichtenagentur

zitiert

in:

Epochtimes:

http://www.epochtimes.de/

internationale-arbeitsorganisation-warnt-vor-sozialen-unruhen-in-der-eu-1068430.html 62 Die

Zeit:

http://www.zeit.de/news/2013-04/07/europaeische-union-un-organisation-

warnt-vor-sozialen-unruhen-durch-waehrungskrise-07154612 63 FAZ: http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/eurokrise/wegen-hoher-arbeitslosigkeit-unowarnt-vor-sozialen-unruhen-in-europa-12140281.html 64 Welt:

http://www.welt.de/newsticker/news3/article115071355/Studie-Gefahr-sozialer-

Unruhen-in-EU-Krisenstaaten-waechst.html 65 Handelsblatt:

http://www.handelsblatt.com/economy-business-und-finance-arbeits

organisation-warnt-vor-gefahr-sozialer-unruhen-in-eu/8029962.html 66 Stern:

http://www.stern.de/politik/ausland/wirtschafts-und-waehrungskrise-in-der-eu-

arbeitsorganisation-ilo-warnt-vor-gefahr-sozialer-unruhen-1993814.html 67 Deutsches Radio: http://www.dradio.de/nachrichten/20130471200/3 68 NT-V (2013): http://www.n-tv.de/politik/Risiko-sozialer-Unruhen-steigt-article104262 01.html 69 Der Standard: http://derstandard.at/1363707184102/Uno-Behoerde-warnt-vor-sozialenUnruhen 70 Die

Presse:

http://diepresse.com/home/wirtschaft/eurokrise/1385566/UNOBehoerde-

warnt-vor-sozialen-Unruhen-in-der-EU 71 Finanzen.at:

http://www.finanzen.at/nachrichten/aktien/Arbeitsorganisation-warnt-vor-

Gefahr-sozialer-Unruhen-in-EU-368027

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Protestzentrierte Auswege Culturejammer und Situationists Um mit Protest mediale Aufmerksamkeit zu gewinnen, kann das Instrument des Détournements (auch: Detourning 72 ) strategisch eingesetzt werden, das aktivistisches Komplementärstück zur Rekuperation73 ist und die kreative Umwandlung alltäglicher Symbole zu radikalen Aussagen meint. Bekannte Vertreterin des Détournements ist die sozialrevolutionäre Gruppe der »Situationists International« in Frankreich ab Ende der 50er Jahre als ein Sammelsurium von KünstlerInnen, Intellektuellen und politischen TheoretikerInnen. Die antiautoritäre Kunstbewegung war von 1957 bis 1972 aktiv und wandte sich gegen Konsumdenken und gegen die Gesellschaft des Spektakels, worüber Guy Débord, als einer der Situationists-Begründer, das gleichnamige, wegweisende Werk verfasste. Die Culturejammer Adbusters74 folgen den Situationists. Die Adbusters stellen die Legitimität des globalen Massenkonsums in Frage. Im Gegensatz zu den Situationists sind die Adbusters nicht einer politischen Ideologie zuordenbar, denn sie lösen sich vom einstigen marxistischen Überbau.75 Herman kritisiert die simplifizierte Weltsicht von Adbusters-Gründer Kalle Lasn, der zu wenig strategisch und zu spontan und reaktionär arbeite, als dass er mit seiner Arbeit die sozioökonomischen und politischen Strukturen verändern könnte.76 Kritik an den Adbusters betrifft zudem die alleinige Fokussierung auf das Massenkonsum-Thema.77 Dass die Grenze zwischen Rekuperation und Détournement verschwimmen kann, zeigt Naomi Klein in ihrem bemerkenswerten Werk No Logo!: Die Unternehmen Nike und Pepsi beauftragten Adbusters, für Werbezwecke für die beiden Unternehmen eine ihrer ironischen Kampagnen zu entwerfen. Die Adbusters nahmen das Angebot an, als Ausgleich wurde von den genannten Unternehmen der »Buy Nothing Day« – eine Adbusters-Idee für einen Tag, an dem nichts gekauft werden soll – beworben.78

72 Waltz 2005: 111. 73 Downing, John et al. (2001): Radical Media: Rebellious Communication and Social Movements, Sage Publications, London et al, S. 59. 74 Adbusters (2013): https://www.adbusters.org/ [Zugriff: 30.9.2013]. 75 Rumbo, Joseph D. (2000): The Case of Adbusters. Working paper and technical report, No.

2000-6,

University

of

Notre

Dame.

http://citeseerx.ist.psu.edu/viewdoc/

download?doi=10.1.1.195.3619&rep=rep1&type=pdf. 76 Rumbo 2000: 16. 77 Rumbo 2000: 14-16. 78 Klein, Naomi (2001): No Logo!: der Kampf der Global Players um Marktmacht: ein Spiel mit vielen Verlierern und wenigen Gewinnern. Riemann, München.

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Eigene Mediengestaltung Mit dem Umstieg auf eigene Medien, wie alternative Onlinemedien und Blogs können tendenziöse Mainstreammedien umgangen werden. Bemerkenswert ist, dass dies in Ländern bereits stark der Fall ist, wo das Vertrauen in die Medien nicht groß ist. Griechenland bildet einen Extremfall, was den Beobachtungen der Case Study nicht widerspricht. Durchschnittlich entnehmen 70 Prozent der EuropäerInnen online Information über die nationale Politik aus Websites von Zeitungen, TV-Stationen und Magazinen. Ein Viertel informiert sich auf Institutions- wie Regierungs-Homepages, und 20 Prozent beziehen innenpolitische Information über Soziale Medien. Ein EU27weiter Eurobarometer-Vergleich weist auf einen bemerkenswerten Aufwärtstrend in den vergangen Jahren79 zur Information über Soziale Medien in Griechenland hin. Allein im Jahr 2011 verzeichnen Soziale Netzwerke in Griechenland einen Jahreszuwachs von zehn Prozent, der anschließend noch vergrößert wurde. Gleichzeitig ist in Griechenland das Misstrauen in die Medien-Institutionen und offizielle Webseiten höher als im Europäischen Durchschnitt, was den Sozialen Netzwerken und den alternativen Informationsportalen wie Blogs eine starke Rolle zuweist, wie Eurobarometer hervorhebt: »Online social networks were mentioned the most frequently by respondents in Bulgaria (42%) and Greece (41%). Respondents in Greece are also more likely to mention blogs (37%) in a context where this is the only country that trusts institutional and official websites less than other sites.«80 Offenkundig ist ein Zusammenhang zwischen dem niedrigen Anteil an Vertrauen in die traditionellen Medien und dem Erstarken alternativer, eigener Portale, Blogs oder Onlinezeitungen vorhanden. Zu hinterfragen ist u.a., wie zukunftsträchtig ein öffentlicher Raum ist, der von Misstrauen seiner BürgerInnen in die Informationsmedien geprägt ist, und wie eine Pattsituation, wie sie etwa in Griechenland auftritt, gelöst werden kann.

79 Eurobarometer 76: 25; Eurobarometer 78: 30. 80 Eurobarometer 76: 25.

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N ACHWORT Zapatistische Autonomie Am Tag, als das nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA zwischen den USA, Mexiko und Kanada in Kraft trat, leistete die EZLN (Ejercito zapatista des Liberación Nacional – Zapatistische Armee der nationalen Befreiung) öffentlich Widerstand gegen die durch das NAFTA ausgelösten ökonomischen und politischen Veränderungen. In den frühen Morgenstunden des 1. Januar 1994 besetzten mehr als 400 bewaffnete Männer und Frauen der EZLN das Rathaus im mexikanischen Bundesstaat Chiapas. Die EZLN unterscheidet sich von den meisten antikolonialistischen Befreiungsbewegungen, denn sie begann zwar auch als leninistisch-maoistisches aktivistisches Kollektiv, das nach dem Vorbild Che Guevaras mit klassischem Guerilla-Konzept loszog, um als politisch-militärische Organisation die Volksmassen anzuführen, die Macht zu ergreifen und den »Sozialismus« zu errichten. Ihre Begegnung mit den indigenen Gemeinschaften Mexikos führte jedoch zu einer neuartigen, grundlegenden Metamorphose beider Seiten:81 Die EZLN richtete sich fortan gegen die Auswirkungen von NAFTA, die jahrhundertelange Unterdrückung und Ausbeutung indigener Gemeinschaften Mexikos und die »liberalistische Politik (…), insbesondere die Umwandlung von indigenem Gemeineigentum in frei verkäufliches Privateigentum«82. Primäre Forderung ist jene nach Selbstbestimmung durch »die Anerkennung der Comunidades indígenas als Körperschaften öffentlichen Rechts und ihres Selbstbestimmungsrechts sowie die Bildung autonomer Munizipien und Regionen«83. Gleichzeitig mit dem Protest begannen die ZapatistInnen mit der Wiederaneignung des Landes und dem Praktizieren einer autonomen Lebensweise in großen Teilen der Urwaldgebiete, die sie zur »befreiten Zone« erklärten.84 Ein Blick auf das heutige Mexiko zeigt das Verhärten der Situation seit dem NAFTA-Abkommen: Täglich müssen etwa 600 Kleinbauern ihr Land verlassen, weil sie nicht mit den subventionierten Getreideimporten der USA konkurrieren

81 Lorenzano, Luis (2006): »Die Zapatisten: Wer sie sind und was sie wollen«. In: Chiapas Reader. Empfohlene Texte zur Vorbereitung für einen Aufenthalt als MenschenrechtsbeobachterIn in zapatistischen Dörfern. http://www.chiapas.at/projekte/chiapas-reader.pdf 82 Tjaden Steinhauer, Margarete/Tjaden Steinhauer Karl (2003): »Was ist eigentlich Chiapas?« Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 55,September 2003, Frankfurt a. M. http://www.ag-riedensforschung.de/regionen/Mexiko/tjaden.html 83 Tjaden Steinhauer/Tjaden Steinhauer (2003). 84 Chiapas Reader 2006: »Der zapatistische Aufstand«, o.V.

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können. 85 John Holloway, selbst irisch-mexikanischer Wissenschaftler, reflektiert den Widerstand der Zapatistas vor dem Hintergrund einer traditionellen Protestvorstellung: Die »traditionelle Vorstellung von Revolution [beruht] stark auf einer militärischen Metapher, auf der Idee, dass es um den Zusammenstoß von zwei Armeen geht«86, etwa zwischen Protestierenden und sozialleistungskürzenden PolitikerInnen, zwischen Protestierenden und ausbeutenden ökonomischen Eliten, oder zwischen Protestierenden und herrschaftsstabilisierenden Massenmedien, wobei »zur Besiegung des Feinds die Methoden des Feinds akzeptiert werden«87. Aus diesem Wirkungsmechanismus gilt es aber auszubrechen, was auch im Hinblick auf das global häufigste Protestmotiv, die Implikationen des Wirtschaftssystems, zu bemerken ist. Der kritisierte Neoliberalismus werde jeden Tag aufs Neue mitproduziert, so Holloway, die eigene Verantwortung in der Reproduktion 88 solle aber eingestanden und die Mittäterschaft letztlich niedergelegt werden. Um die Reproduktion von Machtverhältnissen aufzulösen, ist Rückgewinnung von Handlungsmacht zentral und die Auflösung von Ohnmacht bedeutend.89 Die Zapatistas sind dabei beispielgebend, leben sie doch im Widerstand gegen die mexikanische Regierung und gestalten gleichzeitig ihr Leben autonom, gemeinschaftlich und haben den Anspruch, ihre (Lebens-)Welt zu verändern, ohne die Macht zu übernehmen.90 »We protest and we do more. We do and we must. If we only protest, we allow the powerful to set the agenda. If all we do is oppose what they are trying to do, then we simply follow in their footsteps. Breaking means that we do more than that, that we seize the initiative, that we set the agenda. We negate, but out of our negation grows a creation, an other-doing, an activity that is not determined by money, an activity that is not shaped by the rules of power. Often 91

the alternative doing grows out of necessity.«

Der Widerstand der Zapatistas ist, so wie bei vielen anderen Widerstandsbewegungen, auch eine Rebellion der Würde. Die Idee der Würde ist unvereinbar mit der

85 Mittal, Anuradha (2004): «The new face of agriculture. Alternative models to corporate agribusiness«. Race, Poverty and Environment (Summer 2004). http://www.urbanhabitat. org/node/241 86 Holloway 2002: 38. 87 Titel des Werks von Holloway 2002. 88 Holloway 2002: 28f. 89 Holloway 2002: S.28f. 90 Ebenda. 91 Holloway 2012.

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täglichen Ausbeutung, Entmenschlichung und Demütigung der Menschen.92 Auch wenn das Vorbringen der Würde mitunter als »metaphysischer Nonsens«93 bezeichnet wird, so ist sie doch im Sprachgebrauch und in der Wahrnehmung vieler protestierenden Menschen verankert und es wäre wohl überheblich, sie zu übergehen. Auf das etablierte Propagieren der Alternativlosigkeit eines Lebens, in dem es weder Würde noch die Hoffnung auf die mögliche Veränderung zu einer anderen Lebensweise gäbe, weist Subcommandante Marcos hin: »A new lie is sold to us as history. The lie about the defeat of hope, the lie about the defeat of 94

dignity, the lie about the defeat of humanity.«

Wahrheit existiert im Ringen gegen Unwahrheit, Würde im Ringen gegen Erniedrigung, Nicht-Entfremdung im Ringen gegen Entfremdung, Nicht-Identität im Ringen gegen Identität, das Noch-Nicht im Ringen gegen das Gegenwärtige, so Holloway mit dem Gedanken, dass in jedem von uns in irgendeiner Form ein zapatistisches »Ya basta!« vorhanden ist.95 »Those ›without voice, without face‹ are armed with truth. Their truth is not just that they speak the truth about their situation or about the country, but that they are true to themselves. Truth is dignity, having the dignity to say at last the ›Enough!‹ that would restore meaning to the deaths of their dead. Dignity is to assert one's humanity in a society which treats us inhu96

manly.«

Mit Blick auf die Zapatistas, die sich selbst als »gewöhnliche Frauen und Männer, Kinder und Alte, als Rebellen, Non-Konformisten, Ausgeschlossene und Träumende«97 sehen, und mit Blick auf die vielen verschiedenen Protestierenden weltweit, auf jene, deren Stimme kein Gehör geschenkt wird und die dennoch versuchen, verschiedene Verhältnisse zu verändern,98 auf all die anderen »gewöhnlichen« Leute,99 92 Holloway, John (2007): Die Würde und die Zapatistas. Wildcat-Zirkular Nr. 40/41 – Dezember 1997 – S. 105-109. http://www.wildcat-www.de/zirkular/40/z40wuerd.htm. 93 Holloway 2012. 94 Subcomandante Marcos (1996): in the invitation to an Intercontinental Gathering against Neo-Liberalism, La Jornada, 30/1/96. Zit. in: Holloway 2005. 95 Holloway 2002. 96 Holloway (2005): «The concept of Power and the Zapatistas”. Libcom.org, 1.11.2005, Erstpublikation in Common Sense # 19, Juni 1996. http://libcom.org/library/conceptpower-zapatistas-john-holloway 97 Zit. nach Holloway 2012. 98 Holloway 200. 99 Holloway 2012.

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Rebellierende und Revolutionierende vielleicht, soll mit Holloway abschließend auf die vielen verschiedenen Formen hingewiesen werden, in denen sich Protest äußert. Ihnen allen gemeinsam ist die Verweigerung-und-das-Neuerschaffen. »They are re100 bels, not victims; subjects, not objects” , Protestierende treten aus der Ohnmacht heraus. Was tun? La Boétie101 zeigt im Discours sur la servitude volontaire (Diskurs über die freiwillige Knechtschaft) auf, dass Widerstand und Verweigern an erster Stelle erforderlich ist und mit ihm dem gegenüberstehenden Tyrannen die Macht entzogen werden kann. Das ist nicht immer leicht, sondern oft schwierig und kann hoffnungslos scheinen. Die ideologisch vorgebrachte Alternativlosigkeit soll aufgedeckt und durchbrochen werden, so Holloway in Referenz auf La Boétie: »We have reached a stage where it is easier to think of the total annihilation of humanity than to imagine a change in the organisation of a manifestly unjust and destructive society. What 102

can we do?«

Die Männer und Frauen in der zapatistischen Bewegung in Chiapas im Süden Mexikos, die Männer und Frauen der Antigold-Proteste im Norden Griechenlands und alle anderen, die auf verschiedene Art und Weise versuchen, Ungerechtigkeiten einzudämmen und ideologische Fesseln aufzubrechen, geben ein Beispiel. Caminando preguntamos. Fragend schreiten wir voran.

100 Ebenda. 101 La Boétie, Étienne de [1548]: «Discours sur la servitude volontaire«. Übersetzt und herausgegeben von Kurz, Harry (1942): »Discourse on Volontary Servitude«. Columbia University Press, New York. 102 Holloway 2012.

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Dennis Göttel, Florian Krautkrämer (Hg.) Scheiben Medien der Durchsicht und Speicherung März 2016, ca. 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3117-3

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Edition Medienwissenschaft Sven Grampp, Jens Ruchatz Die Fernsehserie Eine medienwissenschaftliche Einführung Oktober 2015, ca. 200 Seiten, kart., ca. 16,99 €, ISBN 978-3-8376-1755-9

Stefan Greif, Nils Lehnert, Anna-Carina Meywirth (Hg.) Popkultur und Fernsehen Historische und ästhetische Berührungspunkte Juli 2015, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2903-3

Ramón Reichert Die Macht der Vielen Über den neuen Kult der digitalen Vernetzung 2013, 216 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2127-3

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Edition Medienwissenschaft Martin Eckert Werbung mit Behinderung Eine umstrittene Kommunikationsstrategie zwischen Provokation und Desensibilisierung 2014, 356 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2537-0

Bernd Kracke, Marc Ries (Hg.) Expanded Narration. Das Neue Erzählen 2013, 800 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2652-0

Anne Ulrich, Joachim Knape Medienrhetorik des Fernsehens Begriffe und Konzepte 2014, 286 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2587-5

Nadja Urbani Medienkonkurrenzen um 2000 Affekte, Finanzkrisen und Geschlechtermythen in Roman, Film und Theater Juli 2015, 528 Seiten, kart., zahlr. Abb., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-3047-3

Stefan Meier Visuelle Stile Zur Sozialsemiotik visueller Medienkultur und konvergenter Design-Praxis

Thomas Waitz Bilder des Verkehrs Repräsentationspolitiken der Gegenwart

2014, 312 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2698-8

2014, 244 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2599-8

Stefan Meier Superman transmedial Eine Pop-Ikone im Spannungsfeld von Medienwandel und Serialität

Sonja Yeh Anything goes? Postmoderne Medientheorien im Vergleich Die großen (Medien-)Erzählungen von McLuhan, Baudrillard, Virilio, Kittler und Flusser

Januar 2015, 202 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2968-2

Caroline Roth-Ebner Der effiziente Mensch Zur Dynamik von Raum und Zeit in mediatisierten Arbeitswelten Februar 2015, 366 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2914-9

Christina L. Steinmann Medien und psychische Prozesse Wie sich Traumata und Wünsche in Medien ausdrücken und deren Entwicklung antreiben

2013, 448 Seiten, kart., 45,99 €, ISBN 978-3-8376-2439-7

Julia Zons Casellis Pantelegraph Geschichte eines vergessenen Mediums Juni 2015, 242 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3116-6

2013, 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2506-6

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