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German Pages [341] Year 2021
Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien
Band 27.1
Herausgegeben von Carsten Gansel und Stephan Pabst Reihe mitbegründet von Hermann Korte
Carsten Gansel / Katrin Lehnen / Vadim Oswalt (Hg.)
Schreiben, Text, Autorschaft I Zur Inszenierung und Reflexion von Schreibprozessen in medialen Kontexten
Mit 26 Abbildungen
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Katrin Lehnen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-6304 ISBN 978-3-7370-1272-0
Inhalt
Carsten Gansel / Katrin Lehnen / Vadim Oswalt Schreiben als Reflexions- und Inszenierungsgegenstand. Vorbemerkungen zur Konzeption der vorliegenden Bände
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Katrin Lehnen Erinnern, Vorstellen, Versprachlichen – Zur Inszenierung und Reflexion von Schreibprozessen in literarischen und anderen Kontexten. Statt einer Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Schreiben und Autorschaft als Gegenstand der Rekonstruktion, Reflexion und Erinnerung Joana van de Löcht Erinnerungsliteratur und Tagebuch – Zeitzeugenschaft am Beispiel von Ernst Jüngers Tagebüchern des Ersten und des Zweiten Weltkriegs . . . .
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Andrea Werner »Es ist wie in einer Zuchthauszelle …« – Wolfgang Koeppens Reflexionen zum Stuttgarter Bunkerhotel als Schreibort . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Anna Axtner-Borsutzky Ein Schwarm von Texten – Gerhard Neumanns »Selbstversuch« – Ein Erinnerungsbericht im Spannungsfeld von Literatur und Leben
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Suzanne Bordemann Über das Schreiben »unter dem Doppelzwang eines empfindlichen Moralgefühls und eines empfindlichen Kunstgewissens« – Christa Wolfs Briefe (1952–2011) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
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Inhalt
Daniela Nelva »Wer soll dieses Ich sein?« – Christa Wolfs »Stadt der Engel« und »Ein Tag im Jahr« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Stefanie Konzelmann »Die Feder gleitet eben aus, das ist alles« – Franz Kafka und die Souveränität des Schreibens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Charlotte Jaekel »Niemand hat eine Poetik, jedenfalls nicht, solange er Bücher schreibt« – Juli Zehs Anti-Poetik »Treideln« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
II. Medienspezifische Inszenierung von Schreibprozessen und Autorschaft Sebastian Böhmer Falsche Bescheidenheit – Szenen literarischer Selbstinszenierung in Ingenieursautobiografien um 1900 im Kontext ihrer technikbasierten Heilsbotschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Ulla Stackmann »The tape recorder is already as necessary as the typewriter« – Schreibprozesse im Kontext US-amerikanischer Audiolyrik . . . . . . . . 195 Romy Traeber »They make it into a telenovela« – Inszenierung und Reflexion von Schreibprozessen am Beispiel der Telenovela »Jane the Virgin« . . . . . . 213 Judith Niehaus Handgeschrieben – Grafische Inszenierungen des Schreibens im Gegenwartsroman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Felix Böhm »Fake it until you believe it« – Ethnokategoriale Spuren von Schreib-Rede-Prozessen in Janne Tellers »Komm« und Matthias Göritz’ »Parker« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 David Österle »Ja, zeige mir deinen Schreibtisch, und ich sage dir, wer du bist …« – Schreibtischerkundungen bei Werner Kofler und Peter Handke . . . . . . 267
Inhalt
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III. Gespräche über das Schreiben Carsten Gansel / Jan Koneffke »Lassen Sie sich Zeit, Herr Koneffke« – Ein Gespräch über Romanstoffe und »Realismus als Traumarbeit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Carsten Gansel / Gottfried Meinhold »Aber das Phantastische war doch sehr realitätsnah« – Ein Gespräch über Schreibmotivationen und das Groteske . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Beiträgerinnen und Beiträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335
Carsten Gansel / Katrin Lehnen / Vadim Oswalt
Schreiben als Reflexions- und Inszenierungsgegenstand. Vorbemerkungen zur Konzeption der vorliegenden Bände
Schreiben und Schreibenkönnen genießen über einen langen historischen Zeitraum ein kulturell hohes Ansehen. Die Fähigkeit des Schreibens gilt als Ausweis von Klugheit und Kreativität und ist – nicht nur in der sogenannten »Geniezeit« und der als »Sturm und Drang« klassifizierten Epoche – mit Vorstellungen von Genialität und Einzigartigkeit verknüpft. Die besondere Reputation, die dem Schreiben von literarischen Texten in historischer Perspektive zukam, führt seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zur Ausdifferenzierung eines eigenen Handlungs- und Symbolsystems Literatur, das von der literarischen Produktion über die literarische Distribution bis hin zur Rezeption und Verarbeitung reicht. Die Bedeutung des Schreibens zeigt sich bis in die Gegenwart – trotz der nicht mehr unumstrittenen Hochachtung – nach wie vor in einer stark ausgebauten Wertschöpfungskette, zu der in Deutschland immerhin um die 1100 Literaturpreise gehören.1 Es ist nicht überraschend, wenn unter diesen Bedingungen das Schreiben Gegenstand von Selbstreflexion in vielfacher Hinsicht ist: In den literarischen Produkten selbst, in Selbstzeugnissen, Schriftstellerbiografien oder Autobiografien, in Tagebüchern, Briefen, Interviews und Nachlässen, die mehr als andere Quellen einen Einblick in Alltagsbegebenheiten und Erfahrungen, Empfindungen und Gedanken von Menschen geben. In derartigen Texten machen Autorinnen und Autoren das Schreiben und die Textproduktion zum Gegenstand der (Selbst-)Reflexion und verleihen dem Schreiben damit bewusst oder unbewusst einen besondere Konnotation.2 Diese Selbstthematisierung des Schreibens findet sich auch bei literarisch ungeschulten Verfasserinnen und
1 Siehe: Mehr Literaturpreise, mehr Wettbewerb, mehr Publikumsbeteiligung. In: das Börsenblatt. Das Fachmagazin der Buchbranche, 10. Dezember 2019 (https://www.boersenblatt.net/ar chiv/1775994.html, letzter Zugriff: 24. 03. 2021). 2 Gansel, Carsten: Demokratisierung der Genies oder Von der moralischen Instanz zum Popstar – Zu Fragen von Autorschaft zwischen Vormoderne und Mediengesellschaft. In: Gansel, Carsten/ Enslin, Anna-Pia (Hrsg.): Literatur – Kultur – Medien. Facetten der Informationsgesellschaft. Festschrift für Wolfgang Gast. Berlin: Weidler Buch Verlag, S. 243–271.
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Carsten Gansel / Katrin Lehnen / Vadim Oswalt
Verfassern, wenn sich diese über den Sinn des Schreibens Rechenschaft ablegen und so den Überlieferungscharakter Ihrer Textproduktion markieren. Betrachtet man die Zeugnisse über das Schreiben, dann zeigt sich, dass diese Tätigkeit bzw. Handlungsrolle ganz unterschiedliche Funktionen haben kann. Dazu gehören expressive oder entlastende Funktionen, wenn es etwa um die Auseinandersetzung mit existenziellen Krisensituationen geht oder um die Verarbeitung von Kriegstraumata, die sich in literarischen Texten ebenso manifestieren können wie in Feldpostbriefen. Auch geheime Tagebücher in Zeiten politischer Unterdrückung können eine für das Individuum entlastende Rolle spielen. Das Schreiben kann epistemische Funktionen erlangen, wenn es zur Hervorbringung von neuen Zusammenhängen und Erkenntnissen und zur Entfaltung neuer Lebenswirklichkeiten kommt3. Biografische Funktionen ergeben sich durch die Reflexion und Vergewisserung über das eigene Dasein im Allgemeinen wie das literarische Handeln und seine kulturelle Bedeutung im Besonderen. Außerhalb dieser auf Authentizität im weiteren Sinne gerichteten Formen der Auseinandersetzung mit dem Schreiben, ist die literarische Produktion und die damit in Zusammenhang stehende Rolle von Schriftstellerinnen und Schriftstellern selbst Gegenstand von Roman-, Film- oder Drehbuchhandlungen.4 Dabei kann das Schreiben im Zentrum der Darstellung stehen wie in sogenannten Biopics oder Romanen und Filmen, die einen Schriftsteller/ Schreiber zum Protagonisten machen – etwa der Film »Barton Fink« (1991) von den Coen-Brüdern, Stephen Kings Roman »Shining« (1977) und die Verfilmung von Stanley Kubrick aus dem Jahre 1980 oder Pascal Merciers Roman »Perlmanns Schweigen« (1995). Es kann bei der Inszenierung von Schreibprozessen aber auch um Nebenhandlungsstränge gehen wie bei den amerikanischen TVSerien »Sex and the City« (seit 1998) oder »Californication« (2007–2014). Häufig wird das Schreiben in literarischen und filmischen Arrangements im weitesten Sinne als ein expressives Schreiben erfasst, wobei Schreibflowerlebnisse ebenso eine Rolle spielen wie Schreibblockaden. Auf diese Weise wird dem Schreiben einmal mehr eine spezifische Qualität des individuellen Ausdrucks und des Schöpferischen verliehen. Allerdings – dies muss notiert werden – hat die Darstellung von Schreib- und Erkenntnisprozessen in der literarisch-filmischen Inszenierung oftmals wenig mit dem zu tun, was über das (reale) Schreibprozesse 3 Molitor-Lübbert, Sylvie: Schreiben und Denken. Von intuitiven zu professionellen Scheibstrategien. Wiedbaden: Westdeutscher Verlag, 2002, S. 47–62. Eigler, Gunther/ Jechle, Thomas/ Merziger, Gabriele/ Winter, Alexander: Über Beziehungen von Wissen und Textproduzieren. In: Unterrichtswissenschaft 15, 1987, 382–395. 4 Vgl. etwa: Lehnen, Katrin/ Schindler, Kirsten: ›Schreib’ um Dein Leben‹ – Filmische und literarische Schreibepisoden als didaktische Lehrstücke. In: Schreibzentrum der Ruhr-Universität Bochum (Hg.): ›Aus alt mach neu‹ – schreibdidaktische Konzepte, Methoden und Übungen. Festschrift für Gabriela Ruhmann. Bielefeld: UVW 2017, S. 137–158.
Schreiben als Reflexions- und Inszenierungsgegenstand
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bekannt ist, was Autorinnen und Autoren oftmals in Gesprächen und Interviews betonen.5 Die Orte, Räume oder Rituale des Schreibens sind – anders, als dies in der Realität der Fall ist – ganz bewusst mit Blick etwa auf das Medium Film inszeniert.6 Mit der weitreichenden Digitalisierung nahezu aller Gesellschaftssysteme haben sich auch für die Literatur die Praktiken des Schreibens und des Nachdenkens über die Textproduktion verändert. Das betrifft die Verfahren der Textproduktion (Automatisierung, KI), die Formate des Schreibens (Twitter, Blogs, Foren) ebenso wie daran gekoppelte Formen der Interaktion, Vernetzung und Publikation. Daraus resultieren für die Wissenschaft umgekehrt ebenfalls Umbrüche in der literatur-, sprach- und geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Literatur und anderen Artefakten und der genutzten Methoden der Analyse und Aushandlung, deren Beschreibung erst angefangen hat.7 Die kognitive, historische und gesellschaftliche Rolle und Bedeutung des Schreibens und die ihm eigenen Prozesse und sozialen Bedingungen sind zwar immer wieder Gegenstand unterschiedlicher Forschungsdisziplinen wie der Literatur-, Sprach-, und Geschichtswissenschaft wie auch Psychologie, Soziologie oder Theologie gewesen, aber eher wenig wurde danach gefragt, wie diese Handlungsrolle des Schreibens in unterschiedlichen kulturellen Kontexten thematisiert, reflektiert, inszeniert und medienspezifisch entfaltet wird. Mit den Beiträgen der beiden Bände, die im Kern auf eine interdisziplinäre Tagung unter dem Titel »Schreiben, Text und Autorschaft – Zur Thematisierung, Inszenierung und Reflexion von Schreibprozessen in ausgewählten Medien und historischen Selbstzeugnissen« im Februar 2020 am Zentrum für Medien und Interaktivität (ZMI) der Justus-Liebig-Universität Gießen zurückgehen, wird der Versuch unternommen, in interdisziplinärer Perspektive den besonderen Arrangements und Inszenierungen des Schreibens wie jenen von Autorschaft nachzugehen. Mit anderen Worten, es geht um unterschiedliche Aspekte des Schreibens als Reflexionsmedium und Inszenierungsgegenstand insbesondere aus der Sicht der Literatur- und Sprachwissenschaft sowie der Geschichtswissenschaft. Dabei 5 Siehe beispielsweise: Carsten Gansel – Literatur im Dialog. Gespräche mit Autorinnen und Autoren 1989–2014. Herausgegeben und mit einer Einleitung von Norman Ächtler. Berlin: Verbrecher Verlag 2015. 6 Zur Rolle von Arbeitsplätzen oder Schreib-Räumen siehe: Lehnen, Katrin/ Schindler, Kirsten: Orte, Räume, Rituale. Erkundung von Schreibtischen und Arbeitsplätzen als Teil der Schreibforschung. In: Decker, Lena/ Schindler, Kirsten (Hrsg.): Von (Erst- und Zweit-)Spracherwerb bis zu (ein- und mehrsprachigen) Textkompetenzen, KoeBes (Kölner Beiträge zur Sprachdidaktik, herausgegeben von Michael Becker-Mrotzek, Jörg Jost, Thorsten Pohl und Kirsten Schindler). Duisburg: Gilles & Francke 2019, S. 225–248. 7 Vgl. Hitzke, Diana: Digitaler Habitus in der Gegenwartsliteratur. In: Langenohl, Andreas /Lehnen, Katrin /Zillien, Nicole (Hrsg.): Digitaler Habitus. Zur Veränderung literaler Praktiken und Bildungskonzepte. Frankfurt a.M.: Campus (im Erscheinen).
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Carsten Gansel / Katrin Lehnen / Vadim Oswalt
werden nachfolgend mit unterschiedlicher Akzentsetzung u. a. folgende Aspekte in den Blick genommen:
I.
Allgemeine Grundlagen des Schreibens
Schreiben als Kulturtechnik, künstlerische Reflexion über das Schreiben als Reflexion über Kultur; Schreiben als Mittel der Selbstreflexion; ausgewählte Gattungen des Literatursystems, z. B. Tagebücher, Memoiren, Briefe, Notizbücher als werkbiografische sowie historiographische Quellen.
II.
Formen der Inszenierung von Schreibprozessen/Schreibsituationen und Schreiborten
Schreibsituationen als Momente der Fremd- und Selbstreflexion; die künstlerische Inszenierung und das In-Szene-Setzen von Schreibsituationen als Beobachtungen 2. Ordnung in Literatur und Film.
III.
Rekonstruktion von Schreibsituationen/-strategien
Einblicke in Schreibwerkstätten von Autoren (u. a. Schriftsteller, Publizisten, Historiker, Philosophen); Gegenwart (synchron): Interviews, Werkstattgespräche, Raumbegehungen, Orte des Schreibens, Fotographie; Historisch (diachron): ›Poetiken des Beginnens‹, Aspekte der Schreibprozessforschung.
IV.
Formen der Schreibstörung
Auseinandersetzung mit Ursachen für Schreibhemmungen und ihren Folgen sowie deren Reflexion: Schreibblockaden und ihre literarische/filmische Inszenierung; Gründe für das Entstehen einer Schreibblockade (›writers block‹) und ihre Thematisierung. Die Beiträge werden mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung in zwei Bänden versammelt. Band I mit dem Titel »Schreiben, Text, Autorschaft – Zur Inszenierung und Reflexion von Schreibprozessen in medialen Kontexten« fokussiert Aspekte der Selbstverständigung und Selbstvergewisserung über das Schreiben und den Produktionsprozess bei verschiedenen Autorinnen und Autoren und fragt nach Praktiken medialer Inszenierung. Im Band II mit dem Titel
Schreiben als Reflexions- und Inszenierungsgegenstand
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»Schreiben, Text, Autorschaft – Zur Narration und Störung von Lebens- und Schreibprozessen« stehen einmal mehr Fragen der Narration und Stilisierung von Schreibprozessen im Mittelpunkt der Betrachtung, wobei besondere Aufmerksamkeit auf Schreiborte, Schreibrituale und Schreibstörungen bzw. -blockaden gelegt wird. Die Bände gehen auf eine Tagung des interdisziplinären Zentrums für Medien und Interaktivität (ZMI) an der Justus-Liebig-Universität in Gießen zurück, die Ende Februar 2020 von der Herausgeberin und den Herausgebern verantwortet wurde. Danken möchten wir Andrea Naumann (Göttingen) für die akribische Durchsicht und Korrektur der Beiträge. Mike Porath und Stephanie Lotzow (Gießen) danken wir für die Mitarbeit an der Gesamtredaktion. Ein besonderer Dank gilt dem Zentrum für Medien und Interaktivität (ZMI), das die Durchführung der Tagung wie auch die Finanzierung der Publikation ermöglicht und großzügig unterstützt hat. Gießen, März 2021
Katrin Lehnen
Erinnern, Vorstellen, Versprachlichen – Zur Inszenierung und Reflexion von Schreibprozessen in literarischen und anderen Kontexten. Statt einer Einleitung
Schreiben erlaubt das Erinnern, Aneignen oder Antizipieren von Früherem und Zukünftigem und es erlaubt das Verbalisieren und (Re-)Konstruieren von Gedachtem, Erlebten und Neuem. Diese Aspekte sind in der Literatur- Sprach- und Geschichtswissenschaft unterschiedlich thematisiert und unter Maßgabe eigener Denkweisen und Methoden zum Gegenstand geworden. Erinnern, Vorstellen und Versprachlichen sind – als kognitive und kulturelle Prozesse – eng auf einander bezogen. Sie werden im Folgenden künstlich getrennt, um analytisch drei Perspektiven zu gewinnen, die eigene Facetten beinhalten und zusammen gedacht manchmal zu viel werden können. Im Kern geht es um die Frage, wie Autor:innen dieses Erinnern, Vorstellen und Verbalisieren/Versprachlichen bewerkstelligen und in ihren Texten thematisieren und reflektieren bzw. inszenieren, arrangieren und ausstellen. Manchmal geschieht dies als Teil von Erzählhandlungen in Romanen, Dramen, Filmen, Serien oder Kurzprosa, manchmal als explizites Nachdenken über die Rolle des Schreibens und die eigene Autorschaft in Tagebüchern, Briefen, Blogs, Literaturgesprächen oder anderen Selbstzeugnissen. Der Bezug zum Lesen ist dabei häufig eng und auch die Gattungen selbst verschwimmen manchmal. Die genannten Perspektiven werden in drei übergeordneten Kapiteln an verschiedenen Materialien und Textstellen herausgearbeitet – die Auswahl der Autor:innen und ihrer Texte ist nicht systematisch und hätte ebenso andere Texte und Autor:innen umfassen könnnen. Da die Überlegungen einiges mit den Perspektiven und Fragen zu tun haben, die in den weiteren Beiträgen dieses Bandes behandelt werden, werden sie hier anstelle einer Einleitung entfaltet und führen in diesem Sinne – vielleicht auf Umwegen – zu den Überlegungen der Beiträger:innen dieses Bandes.
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1.
Katrin Lehnen
Erinnern, Erzählen
»Es gibt keine wirkliche Erinnerung an sich selbst«, schreibt Annie Erneaux in ihrem Roman »Die Scham« (29). Das Buch stellt den Versuch dar, ein traumatisches Ereignis der Kindheit durch das Schreiben wiederanzueignen und ihm – so beschreibt es die Autorin – als »Ethnologin meiner selbst« durch das Erzählen Ausdruck zu verleihen. Als zwölfjähriges Mädchen erlebt Ernaux, wie der Vater an einem Sonntag mittag versucht, die Mutter zu töten – ein Erlebnis, das von da an den Blick der Autorin auf das Leben bestimmt: in Form der Scham. Welche Kraft das Schreiben im Umgang mit diesem ›Ereignis‹ entfaltet, fasst die Autorin in einer sehr schlichten Formulierung zusammen: »Vielleicht macht das Erzählen, egal in welcher Form, jede beliebige Tat, sogar die dramatischste, zu etwas Normalem.« (Annie Ernaux, Die Scham, 13)1
Auch Peter Handke, konfrontiert mit dem Selbstmord seiner Mutter, skizziert in der autobiografischen Erzählung »Wunschloses Unglück«, wie der Schreibprozess das Erlebte abzurücken und zu einer erzählten Vergangenheit umzuschichten vermag: »Seit ich übrigens zu schreiben angefangen habe, scheinen mir diese Zustände, wahrscheinlich gerade dadurch, daß ich sie möglichst genau zu beschreiben versuche, entrückt und vergangen zu sein.« (Peter Handke, Wunschloses Unglück, 9/10)
Die Idee, mit dem Schreiben und Erzählen eine veränderte Perspektive auf Geschehenes zu gewinnen, ist ein zentrales Motiv literarischen Handelns, nicht nur bei Ernaux und Handke. Franz Kafka notiert in den Tagebüchern, dass mit dem Schreiben, anders als mit dem Sprechen, die Perspektive verändert und das Gedachte oder Erlebte neu gerahmt werden kann: »Wenn ich etwas sage, verliert es sofort und endgültig die Wichtigkeit; wenn ich es aufschreibe, verliert es sie auch immer, gewinnt aber manchmal eine neue.« (Franz Kafka, Tagebücher, 3. Juli 1913, 193)
Das Nachdenken über die Rolle, die das Schreiben für den Umgang mit Geschehenem, aber auch für die Hervorbringung und sprachliche Ausformung von Gedanken und Wirklichkeitskonstellationen gewinnt, ist ein konstitutives Element der literarischen Textgenese. Auch Ernaux nimmt das Motiv der schreibenden Selbsvergewisserung auf und notiert an späterer Stelle im Roman:
1 Frz. Original: La Honte, 1997. Alle Roman- und anderen Textausschnitte werden aus den deutschen Übersetzungen herangezogen. Die Originalsprachen wären sicherlich angemessener, gerade auch mit Blick auf die feinen Bedeutungsunterschiede, die sich durch die Übersetzungsarbeit ergeben. Jedoch wurde die Entscheidung hier zugunsten der Einheitlichkeit getroffen, weil verschiedene Originalsprachen relevant sind.
Erinnern, Vorstellen, Versprachlichen
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»Mich dieser Worte bedienen, von denen manche noch immer mit der damaligen Schwere auf mir lasten, um den Text der Welt, als ich zwölf Jahre alt war und glaubte, wahnsinnig zu werden, anhand der Szene eines Junisonntags zu zerlegen und wieder zusammenzusetzen. Natürlich keine Erzählung, die eine Wirklichkeit erzeugen würde, anstatt nach ihr zu suchen. Mich auch nicht damit begnügen, die Erinnerungsbilder freizulegen und zu transkribieren, sondern diese als Quellen behandeln, die etwas aussagen, wenn man sie mit unterschiedlichen Herangehensweisen betrachtet. Im Grunde eine Ethnologin meiner selbst sein.« (Annie Ernaux, Die Scham, 31).
Das schwierige Verhältnis von Rekonstruktion (Szenen zerlegen und wieder zusammensetzen; Erinnerungsbilder freilegen und transkribieren), Rekapitulation (Erinnerungsbilder als Quellen behandeln und betrachten), Reflexion und Konstitution (keine Erzählung, die eine Wirklichkeit erzeugen würde, keine Erinnerung an sich selbst) wird von Ernaux ein weiteres Mal gespiegelt in einer Selbstbeobachtung zu ihrem Schreibprozess. Unmittelbar im Anschluss an die gerade zitierte Passage formuliert die Autorin weiter: »(Sicher wäre es nicht nötig, all das zu notieren, aber ich kann nicht ernsthaft mit dem Schreiben beginnen, ohne mir die Vorbdingungen meines Schreibens bewusst zu machen.)« (Annie Ernaux, Die Scham, 30)
Die Einklammerung der Formulierung verleiht den Überlegungen der Autorin die Gestalt eines Metakommentars zum Erinnerungsdiskurs, den sie gerade eröffnet. Sie beobachtet den sprachlichen Verfertigungsprozess mit Blick auf die Bedingung der Möglichkeit zu schreiben und sie legt offen, welchen (gedanklichen) Möglichkeitsraum ihr die sprachliche (Wieder-)Aneignung des Geschehenen – die unsagbare Szene – eröffnet: »Indem ich das tue, will ich vielleicht die unsagbare Szene, die ich im Alter von zwölf Jahren erlebt habe, in einer Verallgemeinerung auflösen, in Gesetzen und Sprache.« (Annie Ernaux, Die Scham, 30/31)
Ganz ähnlich nähert sich Handke seinem Schreibprozess an: im parallelen Nachdenken über das Geschehene – den Selbstmord der Mutter – und über das Schreiben. Und auch bei Handke werden das Unsagbare und die Sprachlosigkeit zum Motor der sprachlichen Rekonstruktion und Rekapitulation: »Natürlich sind alle Begründungen ganz beliebig und durch andre, gleich beliebige, ersetzbar. Da waren eben kurze Momente der äußersten Sprachlosigkeit und das Bedürfnis, sie zu formulieren – die gleichen Anlässe zum Schreiben wie seit jeher.« (Peter Handke, Wunschloses Unglück, 11)2
2 Auch Roland Barthes findet nach dem Tod seiner Mutter im Schreiben einen Raum, dem ›unausdrückbaren Kummer‹ etwas entgegenzusetzen, das (wenigstens) sprachlich greifbar wird, wie Claudia Wüstenhagen in einem Artikel über die entlastende und heilsame Funktion
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Katrin Lehnen
Die hier zitierten Passagen setzen das Beschreiben, Erinneren und Begreifen in einen, vor allem über das Versprachlichen, Aufschreiben und Weiterschreiben hervorgebrachten Zusammenhang. Der Zusammenhang entsteht im Schreibprozess und ›zeigt‹ den Autor:innen etwas, was sie vorher nicht ›wussten‹. Das Erlebte gewinnt im Schreiben eine andere, neue Wichtigkeit, wie Kafka es formulieren würde, oder mit den Worten der kognitiv-linguistischen Schreibforschung ausgedrückt: »Writing is discovery«. Schreiben umfasst »finding out what to say in the course of writing » (Galbraith 1999, 139). Das Schreiben erlangt eine epistemische Funktion, es kann zum Medium werden, »in dem man denkt, seine Gedanken formt, präzisiert, ja verändert« (Eigler 1985, 314, Hervorhebung K.L.). Die qualitative Veränderung von Gedanken durch das Schreiben hat mit dem Medium der Schriftlichkeit selbst zu tun. Schriftlichkeit erlaubt in spezifischer Weise die Re-Konstruktion und Reflexion von Gedachtem und Erlebten, weil das »medial-konzeptionelle Anforderungs- und Ermöglichungsprofil des Schreibens« (Steinhoff 2014, 331) De-Kontextualisierung und Situationsentbindung begünstigt und Prozesse in Gang setzt, bei dem das, worüber geschrieben wird, und was sich vor den Augen der Schreiber:in grafisch verdinglicht, häufig erst im Prozess entsteht und seine Kontur laufend verändern kann (Lehnen 2018, 189ff.). Gleichermaßen bleibt vieles beim finding out what to say der bewussten Kontrolle entzogen oder setzt Überlegungen und Entscheidungen darüber in Gang, was vorgestellt und vergegenwärtigt und was – bewusst oder unbewusst – weggelassen bzw. vergessen wird. In dem Band »Eine gute Geschichte. Ein Gespräch über Wahrheit, Erfindung und Psychotherapie« verständigt sich J.M. Coetzee im Gespräch mit der Psychotherapeutin Arabella Kurtz über die eigene Autorschaft im Spannungsverhältnis von Kontrolle und Kontrollverlust beim Erzählen. Schon in der Kommentarzeile zur schlicht formulierten Kapitelüberschrift ›EINS‹ des Gesprächs heißt es viel sagend: Was es bedeutet, der Autor seiner Lebensgeschichte zu sein (seine Vergangenheit zu erfinden) statt nur ihr Erzähler (9) und Coetzee führt aus: Welche Beziehung habe ich zu meiner Lebensgeschichte? Bin ich ihr bewusster Autor, oder sollte ich mich schlicht für eine Stimme halten, die mit so wenig Einmischung wie möglich einen Strom von Wörten äußert, die aus meinem Inneren aufteigen? Und vor allem, was sollte oder muss ich weglassen angesichts des reichen Materials in meinem Gedächtnis, das Material eines Lebens, wenn ich mir Freuds Warnung vor Augen halte, dass das, was ich ohne nachzudenken weglasse (d. h., ohne bewusst nachzudenken), der Schlüssel zur tiefsten Wahrheit über mich sein kann? Doch wie ist es logisch betrachtet
des Schreibens berichtet. Sie zitiert aus Barthes Tagebuch der Trauer: »Mein Kummer ist unausdru¨ ckbar, aber gleichwohl sagbar. Schon die Tatsache, dass mir die Sprache das Wort unerträglich zur Verfu¨ gung stellt, bewirkt unmittelbar ein gewisses Ertragen.« (Roland Barthes, Tagebuch der Trauer, zitiert nach Wüstenhagen 2016).
Erinnern, Vorstellen, Versprachlichen
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für mich möglich zu wissen, was ich ohne nachzudenken weglasse? (J.M. Coetzee, Ein gute Geschichte, 10)3
2.
Vorstellen, Vergessen
Auch Siri Hustvedt beschreibt in ihrem Essay »Die Illusion der Gewissheit«, wie über das Schreiben erinnert wird und gleichzeitig im Erinnerungsprozess etwas anderes entsteht. Erinnern bedeutet bei Hustvedt nicht zwangsläufig, sich an konkrete Erlebnisse zu erinnern oder autobiografische Szenen zu rekapitulieren. Erinnern ist vielmehr in einem offenen oder abstrakten Sinn auf Erlebtes oder Erfahrungen bezogen, die nicht ausschließlich ›aus erster Hand‹ gemacht werden, sondern ein allgemeines in-der-Welt-sein umschließen und z. B. aus Gesprächen und aus der Lektüre anderer Bücher hervorgehen. Die Vorstellungskraft für ihre Figuren in den Romanen, so beschreibt es Hustvedt, gewinnt sie aus einem Prozess empathischer Annäherung. Er bildet die Voraussetzung für ihr Schreiben (»Sobald ich die imaginäre Person hören und fühlen kann, selbst wenn sie mir nicht ähnlich ist, kann ich die Figur schreiben«). Die Figuren, so Hustvedt, »nisten sich in mir ein und fangen von selbst an zu reden« und sie setzt fort: Hätte ich nicht schon so vielen Menschen beim Reden zugehört oder Bücher gelesen, in denen Figuren miteinander reden, könnte ich meine eigenen Figuren nicht schreiben. Aber Schreiben bedeutet nicht bloß Erinnern; es bedeutet Erinnern, Erinnerungen miteinander verknüpfen und mit Hilfe des Erinnerungsvermögens Neues schaffen (Siri Hustvedt, Die Illusion der Gewissheit, 330)
Es ist vor allem der Gedanke, dass Erinnerungen aus allem Möglichen bestehen können und nicht auf eigene, ›authentische‹ Erlebnisse im engeren Sinn reduziert werden, der für das Schreiben instruktiv wird. Imaginieren und Erinnern gehen zusammen und bleiben an vielen Stellen ununterscheidbar. Zuhören und Lesen sind Quellen eigenen Erlebens und Wahrnehmens, aus denen Erfahrungen abgeleitet und zu etwas anderem – zu einem Erinnerungsvermögen – werden. Lektüreerfahrungen, so beschreibt es Iris Radisch, »schärfen unseren Möglichkeitssinn« (DIE ZEIT 2003). Das Gelesene wird auf das eigene (Er-)Leben beziehbar:
3 Man könnte dem von Coetzee beschriebenen Paradox von Autor und Erzähler – der eine erfindet, der andere vergisst – und der damit einhergehenden Frage des bewussten oder unbewussten Weglassens und Einmischens auch kurzerhand mit der Aufforderung von Wolfgang Herrndorf begegnen: »Falls ich jemals etwas anderes als reine Fiktion schreiben sollte, erschießen Sie mich bitte.« (Wolfgang Herrndorf, Stimmen. Texte, die bleiben sollten, 131).
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Katrin Lehnen
»Jeder Leser, der eine gute Geschichte liest, schreibt sich im Grunde eine neue hinzu: Je mehr er in die fremde Geschichte hineingeht, desto näher kommt er seiner eigenen.« (Ulla Hahn, DER SPIEGEL 2001).
Lektüreerfahrungen werden im Schreiben umgemünzt. Die folgende Passage aus dem Essay von Hustvedt, die auf den ersten Blick nichts mit dem Schreiben, sondern nur mit dem Lesen zu tun hat, beschreibt eine Denkfigur, die für das (spätere) Schreiben von Bedeutung ist: »Ich überlege mir oft, wie es wäre, wenn ich jemand anderes wäre. Natürlich würde ich, wäre ich eine andere, meine eigene subjektive Sicht verlieren. Um den Unterschied zu erkennen, müsste ich gleichzeitig meine eigene Sicht als auch die der anderen Person einnehmen können. (…) Den Zustand, wie es sein könnte, zwei unterschiedliche Menschen mit je eigenem Bewusstsein zu sein, kommen wir vielleicht im Akt des Lesens am nächsten. In dem Moment nehmen wir das Bewusstsein einer anderen Person ein, wir können aber jederzeit innehalten, nachdenken, uns über dieses fremde Bewusstsein, seine Stimme, Ansichten, und Geschichten eigene Gedanken machen. Wir können überlegen, ob wir das Denken der anderen glaubwürdig finden, ob wir sie bewundern oder uns traurig fühlen, während wir in ihnen leben. Lesen ist eine verbreitete Form menschlicher Pluralität.« (Siri Hustvedt, Die Illusion der Gewissheit, 329–330)
Wenn Hustvedt das Lesen als Form der Aneignung von Identitäten und Imagination von Personen beschreibt, dann bedeutet das, dass ihre Romanfiguren auch aus diesen Lektüren hervorgehen – wie weiter oben beschrieben. Der Umgang mit unterschiedlichen Identitäten, ihre Imagination wie auch die Erinnerung an eine/n selbst als vielleicht andere oder fremde Person (wie eingangs bei Ernaux mit der Formulierung »Es gibt keine wirkliche Erinnerung an sich selbst« thematisiert) sind häufig Gegenstand der Reflexion oder Inszenierung in fiktionalen und nicht-fiktionalen Darstellungen und (auto-)biografischen Erzählformaten.4 »Gewissheit«, so wie es als Thema in dem Essay von Hustvedt gesetzt ist, nämlich unter der Perspektive einer potentiellen »Illusion«, lässt sich auf unterschiedlichen Ebenen fortschreiben. In dem Roman »Outline« von Rachel Cusk, in dem das Erzählprinzip darin besteht, dass die Erzählerin, eine Schriftstellerin, Menschen trifft, die ins Reden kommen und ihr unaufgefordert 4 Einen längeren regen Austausch über die Frage der Identität von Romanfiguren (ihrer Entstehung, realen Vorbilder bis hin zum Vorkommen der Autoren selbst) führen Paul Auster und J.M.Coetzee in ihrem Briefwechsel »Von hier nach da. Briefe 2008–2011«. Auster an Coetzee: »Andererseits – und hier kann ich nur von mir selbst reden – habe ich kein einziges Mal einen realen Menschen genommen, ihm einen anderen Namen gegeben und in eins meiner Bücher gesteckt. Ich meine den ganzen Menschen, also inklusive seiner körperlichen Erscheinung, seiner Vorgeschichte, seines Seelenlebens (….) Und doch reißen wir uns, wie Du so treffend sagst, ständig interessante, bracubare Eigenarten oder Züge unter den Nagel. Bemerkenswerte Augenbrauen, das Timbre eines Lachens, das Muttermal am Hals einer Frau. Alles andere scheint ungeheißen aus den tiefsten Tiefen der Phantasie emporzusteigen.« (222ff.)
Erinnern, Vorstellen, Versprachlichen
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ihre Geschichten erzählen, wird das Wiederlesen der eigenen Texte zur Erfahrung der Ablösung. Als die Erzählerin ihren Schriftstellerkollegen Ryan trifft und ihn nach einem neuen Buch fragt, rekapituliert der Angesprochene seine Situation als Prozess der Entfremdung von seinem früheren Schreiben: »Sie fragt regelmäßig, ob er sein zweites Buch schon geschrieben habe, und am liebsten würde er dann zurückfragen, ob sie schon angefangen habe zu leben. Was seine Kurzgeschichten betrifft, sie gefallen ihm immer noch, manchmal nimmt er sogar das Buch zur Hand und liest darin. Gelegentlich erscheint einer der Text in einer Anthologie, und vor einer Weile hat sein Agent die Übersetzungsrechte an einen albanischen Verlag verkauft. Aber irgendwie ist es, als betrachte man ein altes Foto von sich selbst. Es kommt der Moment, da man den eigenen Lebenslauf auf den neuesten Stand bringen muss, weil man mit der Person, die man einmal war, kaum noch etwas gemeinsam hat. Wie es so weit kommen konnte, weiß Ryan selbst nicht, er weiss nur, dass er sich in diesen Kurzgeschichten nicht wiedererkennt, nur an die Euphorie beim Schreiben erinnert er sich gut, an das Gefühl, etwas in sich zu tragen, das sich zusammenballt und herausdrängt. Das Gefühl hat sich seither nicht wieder eingestellt. Manchmal denkt er, um ein Autor zu sein, müsste er aufs Neue zu einem werden, mit demselben Aufwand, den es ihn kosten würde, Astronaut oder Bauer zu werden. Er weiß nicht mehr genau, was ihn vor vielen Jahren an den Worten überhaupt so fasziniert hat, und doch arbeitet er bis heute mit demselben Material. Wahrscheinlich verhält es sich wie mit einer Ehe, sagte er. Man baut sein ganzes Leben auf dem Fundament einer intensiven Zeit auf, die sich nie wiederholt.« (Rachel Cusk, Outline, 45)
Die fehlende Erinnerung an sich selbst, die vage Vorstellung oder eingeschränkte Gewissheit von dem/der, wer man mal war, wird bei Cusk über die Reflexion von Autorschaft thematisiert. Autor:in sein ist demnach etwas, was man auch wieder verlieren kann und nicht mehr verkörpert. Das Schreiben verspricht keine Kontinuität und – in diesem Fall – offensichtlich keine Routine. Schreiben kann umgekehrt zu einer höchst unangenehmen Erinnerung und Auseinandersetzung mit sich selbst werden. Etwa wenn etwas, was man geschrieben (und vielleicht zwischenzeitlich vergessen oder verdrängt) hat, ungewollt wiederkommt und nahe rückt.5 Dabei ist es vielleicht weniger das Erinnern als das Erinnertwerden, das durch das »medial-konzeptionelle Anforderungsund Ermöglichungsprofil des Schreibens« (Steinhoff 2014, 331) ebenfalls begünstigt wird – die mediale Unwiderruflichkeit des Geschriebenen, der Schriftlichkeit. Davon erzählt der Roman »Die Mansarde« von Marlen Haushofer. Die Erzählerin, eine Frau in mittleren Jahren, die einen farblosen Alltag als Hausfrau neben ihrem Mann verbringt und in der Mansarde des Hauses einen eigenen 5 Den geradezu umgekehrten Fall beschreibt Carsten Gansel für den Autor Heinrich Gerlach, der im Krieg das Manuskript seines Buchs verliert, es durch Erinnerung nicht wiederzuholen vermag und durch Hypnose versucht, den vergessenen Text wiederzuschreiben (vgl. Gansel 2021).
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Raum eingerichtet hat, in den sie sich zurückzieht und zeichnet, bekommt eines Tages unvermittelt eine Postsendung mit Aufzeichnungen aus ihrer Vergangenheit: »Immer gegen neun kommt die Post. Sie bringt nur Reklamen oder Zeitschriften, die ich in einer schwachen Stunde abonniert habe. (…) An diesem Montagmorgen kam aber ein Brief für mich. Ein dicker gelber Umschlag, die Adresse in Druckbuchstaben geschrieben. Ein Absender war nicht angegeben. (…) Endlich schnitt ich den Umschlag auf; ein paar vergilbte Seiten aus einem Schulheft fielen heraus, eng beschrieben mit einer Schrift, die ich sofort wiedererkannte. Es war nämlich meine eigene Schrift, das heißt: die Schrift einer jungen Person, die ich einmal gewesen war. Ich erkannte nicht nur die Schrift, ich wußte wirklich sofort, was da vor mir lag, wenn ich es auch vor ungefähr siebzehn Jahren zuletzt gesehen hatte. Ich spürte nichts als Widerwillen und jenen Schock, den mir unvorhergesehene Ereignisse immer versetzten. Ich steckte die Papiere zurück in den Umschlag und trug sie in die Mansarde. Dort versteckte ich sie in der Tischlade unter Zeichenpapier. Es ist sonst nicht meine Art, Dinge zu verstecken. Aber das hier gehörte versteckt, auch wenn es nichts Verwerfliches oder Ehrenrühriges enthielt, nur ein Relikt war aus der Vergangenheit, an die ich nicht erinnert werden will.« (Marlen Haushofer, Die Mansarde, 25/27, Hervorhebung K.L.)
Der Roman handelt nun u. a. davon, wie die Erzählerin einen schwierigen Teil ihrer Vergangenheit als junge Ehefrau und Mutter, den sie durch Tagebuchaufzeichnungen begleitet hat, wieder lesen und unfreiwillig vergegenwärtigen muss. Das Wiederlesen von Geschriebenem, das auf einer weitgehend isolierten Situation in der Einsamkeit in den Bergen herrührt, wohin ihr Ehemann sie auf Grund psychischer Probleme verbracht hat, verschließt die Möglichkeit des Vergessens. Das einmal Geschriebene, das die Erzählerin verloren glaubte, kehrt mit der Postsendung zurück in ihr Leben. Die zeitliche Situiertheit des Schreibens und Erinnerns und des Erzeugens von Erinnerungen wie auch das Einräumen fehlender oder der Wunsch des Auslöschens von Erinnerungen, wie sie bei Ernaux, Handke, Cusk und Haushofer in ihren Romanen, bei Coetzee in dem Gespräch und bei Hustvedt in ihrem Essay reflektiert werden6, wird bei Siri Hustvedt auch in ihren Romanen auf interessante Weise zum Thema gemacht. In ihrer Erzählung »Der Sommer ohne Männer« geht es um das komplizierte Zusammenspiel von erlebter und gegenwärtiger Zeit wie auch die Möglichkeit, Zukunft zu denken und zu imaginieren – zusammengefaßt in der schönen Formulierung »Wieder einmal schreibe ich 6 Man muss bei der Differenzierung von Romanen und Essay wohl im Auge behalten, dass insbesondere die hier zitierten Erzählungen von Ernaux und Handke von Anfang an auf ein quasi-autobiografisches Erinnern gerichtet sind. Quasi-autobiografisch, weil es erstens gerade nicht um genaue Rekonstruktion bzw. um deren Unmöglichkeit geht, und weil es zweitens gerade darum geht, aus dem vermeintlich Autobiografischen soziale, historische und kulturelle Muster abzuleiten. Dies gilt insbesondere für Ernaux und ihren Roman »Die Jahre«, der in Kap. 3 dieses Beitrags eine Rolle spielt.
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mich selbst anderswohin«. Das Schreiben ist auch hier das Medium, das die Möglichkeit und die Unzulänglichkeit der Vergegenwärtigung von Vergangenem und Zukünftigem hervorbringt. Zeit verwirrt uns, nicht wahr? Physiker wissen, wie man mit ihr spielt, aber unserereins muss mit einer rasenden Gegenwart auskommen, die zu einer ungewissen Vergangenheit wird, und wie ungeordnet diese Vergangenheit in unseren Köpfen auch sein mag, wir bewegen uns immer unaufhaltsam auf das Ende zu. Im Geist jedoch können wir, solange wir noch lebendig sind und unser Gehirn noch die Verbindungen herstellt, von der Kindheit ins mittlere Alter und zurück springen und aus jeder Zeit, die wir uns aussuchen, etwas plündern, einen wohlschmeckenden Leckerbissen hier und einen sauren dort. Es wird niemals mehr, wie es war, es sei denn in Gestalt einer späteren Inkarnation. Was einst Zukunft war, ist jetzt Vergangenheit, aber in der Zeit des Schreibens kommt die Vergangenheit als ein gegenwärtiger Augenblick zurück, ist das Hier und Jetzt. Wieder einmal schreibe ich mich selbst anderswohin. Nichts kann das verhindern, nicht wahr? (Siri Hustvedt, Der Sommer ohne Männer, 293/294, Hervorhebung K.L.) 7
3.
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Die Rolle der Sprache als Gedankenwerkzeug wird in der Auseinandersetzung mit dem Schreiben und dem Erinnern zu einem besonderen Aspekt der Reflexion und Inszenierung in Romanen und Selbstauskünften von Autor:innen. Die weiter oben im Beitrag aus dem Roman Die Scham zitierten Stellen von Ernaux illustrieren etwas, was auch in ihren anderen Büchern (Die Jahre, Erinnerungen eines Mädchens) in spezifischer Weise und in einer ihr eigenen Ästhetik des Verwebens von biografischen, sozialen, historischen und kulturellen Ereignissen zum Schreibprinzip wird: sich pointiert zwischen literarischer Inszenierung und quasi-neutraler Protokollierung der eigenen – und der kollektiven – Erinnerung anzunehmen und die Bedingungen dafür auch für die Leser:innen stets bewusst zu halten. Dabei ist das (Nachdenken und die Reflexion über das) Schreiben – manchmal beiläufig, manchmal explizit – ein konstitutives Moment des Erzählens / Erinnerns, bei dem die Sprache gleichzeitig Gegenstand metadiskursiver 7 In ihrem Roman »Damals« von 2019, der im Jahr 1979 angesiedelt ist, verbindet sich die Frage des Erinnerns mit der ›Faktizität‹ des Geschriebenen, der Festschreibung von Erlebtem, das die Erinnerung (an sich selbst) auffrischen und verwischen kann. Die Erzählerin notiert beim Wiederaufschlagen ihres früheren Tagebuchs: »Dabei war das zweihundert Seiten dicke Büchlein von unschätzbarem Wert, einfach weil es das, woran ich mich nicht oder falsch erinnerte, mit einer Stimme, die zugleich meine ind nicht ganz meine ist, mal mehr, mal weniger zurückbrachte. Es ist komisch. Ich dachte, ich hätte jeden Eintrag mit ›Liebe Seite‹ begonnen, einer Anrede, die ich damals witzig fand, tatsächlich aber nannte ich meinen imaginären Gesprächspartner bei mehreren Namen und manchmal bei gar keinem.« (Siri Hustvedt, Damals, 21–22)
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Anstrengungen wird. Bei Ernaux geschieht die Auseinandersetzung mit (der Rolle der) Sprache auf vielfache Weise, u. a. in Form der Aufzählung typischer Phrasen und Redeformeln (ebd., 44ff.), die die Zeit ihres Aufwachsens in der französischen Provinz der 1950er und 1960er Jahre prägen und mit Blick auf das Lebensgefühl der Zeit und der mit Scham bezeichneten Befindlichkeit der Autorin besonders wirkmächtig sind. Sie werden durch das bloße Aufzählen und Kursivsetzen exponiert und zugleich in ihrer Begrenzung vorgeführt. Es gab kaum Wörter für Gefühle. Jetzt steh ich dumm da bei einer Entäuschung, ich war sauer bei Unzufriedenheit. Wie traurig, sagte man gleichermaßen, wenn man seinen Kuchen nicht schaffte oder der Verlobte einen sitzen ließ. Und ins Unglück stürzen. Die Sprache der Gefühle war die aus Chansons von Luis Mariano, Tino Rossei, aus den Büchern von Delly, aus den Fortsetzungsromanen in Zeitschriften wie Le Petit Écho de la Mode und La vie en Fleurs. (Annie Ernaux, Die Scham, 57, Herv. d. Autorin)
Die Rolle der Sprache – die Möglichkeiten, die sie eröffnet, die Unhintergehbarkeit, die einiges verschließt – wird bei verschiedenen Autor:innen Thema der Selbstreflexion. Das geschieht wie gesehen in Form der literarischen Verarbeitung (Romane, Erzählungen, Gedichte) oder in Form der Selbstauskunft bei dokumentarischen Texten und Selbstzeugnissen (Interviews, Briefe, Tagebücher, Werkstattgespräche). Brigitte Kronauer rekapituliert das der Sprache inhärente Potential für das Hervorbringen eigener Wirklichkeiten in einem Gespräch mit Werner Jung wie folgt: Sprache bedeutet für mich generell die Fähigkeit, Dinge in Zusammenhang zu stellen. (…) Was mich in erster Linie aufregt: Wie man mit drei Wortern einen Zusammenhang konstruieren kann, den es vielleicht vorher nicht gegeben hat. Was man jedoch mißverstehen könnte, als wäre es ein Haupteffekt, möglichst surreale Konstellationen zu schaffen. So ist’s natürlich nicht gemeint. Man kann ja schon durch ganz leichte Verschiebungen den Blick auf eine Sache etwas ungewöhnlicher, etwas aufreizender machen. (In: Jung, Werner (2011): Literatur ist Konstruktion. Gespräche mit Schriftstellern. Duisburg: Universitätserlag Rhein-Ruhr, 49)
Umgekehrt ist auch das Nachdenken über die Grenzen und Begrenzungen von Sprache der Auseinandersetzung mit dem Schreiben häufig eingeschrieben. Das hat etwas mit der Differenz zwischen Denken und Schreiben, auch dem zeitlichen Verzug zwischen beidem und der häufig entstehenden Schieflage zu tun, bei der sich Gedanken sprachlich nicht ›einfach‹ veräußern und zum Ausdruk bringen lassen. In der Erzählung »Austerlitz« von W.G. Sebald wird das Spannungsfeld zwischen sprachlichem Möglichkeitsraum und sprachlicher Grenzerfahrung auf interessante Weise zum Gegenstand fehlender Selbst-Verständlichkeit des Erzählers. Dabei steht vor allem das Sprachsystem auf dem Spiel. Gedanken und Sprache verbinden sich nicht mehr, sie bleiben einander äußerlich:
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Hie und da geschah es noch, daß sich ein Gedankengang in meinem Kopf abzeichnete in schöner Klarheit, doch wußte ich schon, indem dies geschah, daß ich außerstande war, ihn festzuhalten, denn sowie ich nur den Bleistift ergriff, schrumpften die unendlichen Möglichkeiten der Sprache, der ich mich früher doch getrost überlassen konnte, zu einem Sammelsurium der abgeschmacktesten Phrasen zusammen. Keine Wendung im Satz, die sich dann nicht als jämmerliche Krücke erwies, kein Wort, das nicht ausgehöhlt klang und verlogen (W.G.Sebald, Austerlitz, 182).
Der Schreibprozess, so wie er hier vom Erzähler reflektiert wird, erweist sich als hinderlich, er bietet keine Entlastung. Während das Schreiben im umgekehrten Fall wie an den Beispielen der beiden Erzählungen von Handke und Ernaux gesehen eine Veränderung der Qualität der Gedanken bewirkt (vgl. Eigler 1985), indem gerade die Sprache den Gedanken zu ihrer »allmählichen Verfertigung beim Schreiben« (Grésillon 1995) verhilft und dabei neue Wahrnehmungen auszuformen und veränderte Denk- und Erzählwelten zu entfalten vermag, begrenzt Sprache andererseits Ausdrucksmöglichkeiten und lässt sie – wie Austerlitz notiert – »schrumpfen«. Aus der ungenügenden sprachlichen Vereinnahmung von Gedanken, entwickelt sich bei Austerlitz eine handfeste Schreibkrise. Sie ist keine singuläre oder exklusive Befindlichkeit des Erzählers, sondern ebenso wie die Reflexion zur Potentialität von Sprache und zum »Ermöglichungsprofil« von Schriftlichkeit (Steinhoff 2014, s. o.) häufig literarisches Motiv und Thema der Auseinandersetzung mit dem Schreiben, nicht-Schreiben und nicht-Schreiben-können8. Sie wird in der Erzählung von Sebald mit Hilfe sprachlicher Metaphern9 festzuhalten versucht: Was immer vorgehen mochte in mir, sagte Austerlitz, das Panikgefühl, mit welchem ich vor der Schwelle eines jeden zu schreibenden Satzes stand, ohne zu wissen, wie ich nun diesen Satz oder überhaupt irgend einen beliebigen Satz anfangen könnte, dehnte sich bald auf das einfachere Geschäft des Lesens aus, bis ich unweigerlich bei dem Versuch, eine ganze Seite zu überblicken, in einen Zustand der größten Verwirrung geriet. Wenn man die Sprache ansehen kann als eine alte Stadt, mit einem Gewinkel von Gassen und Plätzen, mit Quartieren, die weit zurückreichen in die Zeit, mit abgerissenen, assanierten und neuerbauten Vierteln und immer weiter ins Vorfeld hinauswachsenden Außenbezirken, so glich ich selbst einem Menschen, der sich, aufgrund einer langen Abwesenheit, in dieser Agglomeration nicht mehr zurechtfindet, der nicht mehr weiß, wozu eine Haltestelle dient, was ein Hinterhof, eine Straßenkreuzung, ein Boulevard oder eine Brücke ist. Das gesamte Gliederwerk der Sprache, die syntaktische Anordnung der einzelnen Teile, die Zeichensetzung, die Konjunktionen und zuletzt sogar die 8 Vgl. dazu Gansel, Carsten Autorschaft, Schreiben und das Erzählen von Geschichten zwischen Schreibrausch und Schreibstörung – Statt einer Einleitung, 2021, Band II, wie auch die Einzelbeiträge zum Thema Schreibkrise, Schreibblockade im selben Band. 9 Die vielfältigen Metaphern, mit der Sprachlosigkeit oder die fehlende Passung von Gedanken und Verbalisierung in unterschiedlichen literarisch-fiktionalen und auch nicht fiktionalen Kontexten beschrieben wird, wäre eine eigene linguistische Erkundung wert.
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Namen der gewöhnlichen Dinge, alles war eingehüllt in einen undurchdringlichen Nebel. (W.G.Sebald, Austerlitz, 182)
Die Stadt bzw. alte Stadt als Metapher für Sprache wird bei Sebald mit dem Vorstellung von Orientierungslosigkeit zusammengebracht: sich nicht zurechtfinden, Orte nicht auffinden, verloren gehen, ausfransen. Auf interessante Weise verknüpft der Erzähler den Zustand der fehlenden Orientierung und Klarheit im Umgang mit Sprache (undurchdringlicher Nebel) mit der fehlenden Verbindung zu einstmals formulierten eigenen Texten, die in der Re-Lektüre fremd werden. Austerlitz notiert: Auch was ich selber in der Vergangenheit geschrieben hatte, ja insbesondere dieses, verstand ich nicht mehr. Immerzu dachte ich nur, so ein Satz, das ist nur etwas vorgeblich Sinnvolles, in Wahrheit allenfalls Behelfsmäßiges, eine Art Auswuchs unserer Ignoranz, mit dem wir, so wie manche Meerespflanzen und -tiere mit ihren Fangarmen, blindlings das Dunkel durchtasten, das uns umgibt. Gerade das, was sonst den Eindruck einer zielgerichteten Klugheit erwecken mag, die Hervorbringung einer Idee vermittels einer gewissen stilistischen Fertigkeit, schien mir nun nichts als ein völlig beliebiges oder wahnhaftes Unternehmen. Nirgends sah ich mehr einen Zusammenhang, die Sätze lösten sich auf in lauter einzelne Worte, die Worte in eine willkürliche Folge von Buchstaben, die Buchstaben in zerbrochene Zeichen und diese in eine bleigraue, da und dort silbrig glänzende Spur, die irgendein kriechendes Wesen abgesondert und hinter sich hergezogen hatte und deren Anblick mich in zunehmenden Maße erfüllte mit Gefühlen des Grauens und der Scham (W.G.Sebald, Austerlitz, 182–184, Hervorhebung K.L.).10
Das fehlende Verstehen der eigenen Texte, die Ablösung vom Text, lässt sich erneut mit der eingangs von Ernaux formulierten Einsicht, »Es gibt keine wirkliche Erinnerung an sich selbst« und der bei Cusk im Roman »Outline« beschriebenen Entfremdung zur früheren Autorschaft in Zusammenhang bringen. Wenn die Erinnerung über das Schreiben aufgesucht wird und Sprache das formgebende Moment der Erinnerung wird, dann besteht unweigerlich eine Differenz, die nur mit den Mitteln der Sprache beschrieben und reflektiert werden kann. Das kann beschwerlich und frustrierend sein, wenn sich »ein Gedankengang (…) in schöner Klarheit« im Kopf abzeichnet, aber nicht zur Sprache kommt oder wenn Gefühle, wie in der Erzählung »Die Scham«, auf ein begrenztes sprachliches Repertoire treffen. Und es kann umgekehrt interessant und hilfreich sein, wenn sich die Sprache als Werkzeug erweist und neue Wahrnehmungen und Gedanken zulässt, die es vorher (so) nicht gab. 10 Auf ähnliche Weise führt in dem Roman »Perlmanns Schweigen« von Pascal Mercier das Wiederlesen des eigenen Textes zu einer existentiellen Krise (ecd., 452) – hier allerdings mit dem Unterschied, dass der Erzähler nach langer Zeit einer Schreibblockade in einen Schreibflow geraten war, dessen Textresultat ihn auf Grund sprachlicher Dürftigkeit beim Wiederlesen erschüttert (vgl. Lehnen/Schindler 2017, 144).
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Die Suche nach einer Sprache, die etwas Anderes oder Neues verspricht, thematisiert Annie Ernaux in ihrem Roman »Die Jahre« (2017)11 an verschiedenen Stellen. »Die Jahre« stellt stellt den Versuch dar, einen »als unpersönliche Autobiografie« (253) begriffenen Roman, in dem es »kein ›ich‹, sondern nur ein ›man‹ oder ›wir‹« gibt, zu schreiben, und in dem die Erzählerin/Autorin »in einem individuellen Gedächtnis das Gedächtnis des kollektiven Gedächtnisses finden und so die Geschichte mit Leben füllen (will)« (ebd., 252). Ernaux umreisst das Spannungsverhältnis, ähnlich wie Sebald, das mit der Unhintergehbarkeit der Sprache12 als Werkzeug der Beschreibung und Reflexion einhergeht. Der Wunsch, eine andere Sprache zu finden, die sich nicht in den Vorgaben und Grenzen des, wie Sebald es nennen würde, »gesamte(n) Gliederwerk(s) der Sprache«, bewegt, reflektiert die Erzählerin im Rückblick auf ihre Zeit als Studentin, bevor sie später in den Schuldienst tritt, und schließlich Autorin wird: »Vor Jahrzehnten, als sie in ihrem Zimmer im Studentenwohneim das Bedürfnis zu schreiben verspürte, hatte sie gehofft, eine unbekannte Sprache zu entdecken, durch die sie mysteriöse Dinge würde ausdrücken können, wie eine Wahrsagerin. Das fertige Buch würde, so dachte sie, anderen ihr geheimstes Wesen enthüllen, es würde eine Glanzleistung werden, die ihr Ruhm brächte – was hätte sie nicht darum gegeben, Schriftstellerin zu sein, so wie sie als Kind geträumt hatte, eines Morgens als Scarlett O’Hara aufzuwachen. Später, als sie vor erbarmungslosen Schulklassen mit vierzig Schülern stand, als sie einen Einkaufswagen durch den Supermarkt schob, als sie auf einer Parkbank neben dem Kinderwagen saß, kamen ihr diese Träume abhanden. Es gab keine unsagbar schöne Welt, die wundersamerweise durch eine inspirierte Sprache zum Vorschein kam, sie hatte nur ihre eigene Sprache zur Verfügung, die Sprache aller, sie war das einzige Werkzeug, mit dem sie sich gegen das, was sie empörte, auflehnen konnte. Das zu schreibende Buch würde ihr Beitrag zur Revolte sein.« (Annie Ernaux, Die Jahre, 253–254, Hervorhebung K.L.)
Die eigene Hervorbringung als Autorin, biografische Etappen des Schreibens werden hier eng an Fragen der sprachlichen Selbstentfaltung geknüpft. Sprachliche Sozialisation und Selbstentfaltung werden aber auch hier – ähnlich wie bei der Erzählung »Die Scham« am Beispiel der sprachlichen Phrasen gezeigt – als Grenzerfahrungen beschrieben. In der biografischen Rekapitulation werden damit auch weithin verbreitete Vorstellungen und Stereotype vom Schreiben und vom Dasein als Schriftstellerin ausgehebelt – die Vorstellung einer grenzüber-
11 Frz. Original »Les années« 2008. 12 Mir ist bewusst, dass der Topos der ›Unhintergehbarkeit der Sprache‹ eine philosophische Traditon besitzt, etwa in der Phänomenologie Heideggers (vgl. Demmerling 2016) oder auch in der Sprachspielkonzeption der Sprachphilosophie Wittgensteins (vgl. Schneider 2003). Mir geht es an dieser Stelle aber nicht um eine Aufarbeitung philosophischer Positionen, sondern um Fragen der Auseinandersetzung damit in literarischen Texten selbst.
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schreitenden individuellen, neuen und eigenen Sprache, die sich von allem bisher Bekannten abgrenzt und das Erzählen bzw. Erleben neu erfindet. Denn die eigene Sprache, so beschreibt es die Erzählerin, ist immer schon die Sprache der anderen: sie hatte nur ihre eigene Sprache zur Verfügung, die Sprache aller.
4.
Literaturverzeichnis
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I. Schreiben und Autorschaft als Gegenstand der Rekonstruktion, Reflexion und Erinnerung
Joana van de Löcht
Erinnerungsliteratur und Tagebuch – Zeitzeugenschaft am Beispiel von Ernst Jüngers Tagebüchern des Ersten und des Zweiten Weltkriegs
1.
Einleitung
102 Lebensjahre, 87 davon schreibend, sein autobiografisches Œuvre füllt acht Bände seiner Gesamtausgabe und über 4700 Druckseiten. Seine Tagebücher lassen sich in zahlreiche Subgattungen unterteilen, so etwa in die des Reisetagebuches,1 des Kriegsjournals,2 der Erinnerungsliteratur,3 der Forschungsdokumentation4 oder der Altersaufzeichnungen5 – und selbst seine fiktionalen Texte sind von den Bezügen zum eigenen Leben durchzogen:6 Ernst Jünger ist zweifelsohne ein Diarist der Superlative, dessen Werk kontinuierlich die eigene Person und das eigene Erleben umkreist.7 Doch nicht allein die Quantität ist
1 Band 6 der Ausgabe »Sämtliche Werke« enthält elf Reisetagebücher aus den Jahren 1929 bis 1964. Siehe hierzu auch: Weber, Jan Robert: Ästhetik der Entschleunigung. Ernst Jüngers Reisetagebücher. Berlin: Matthes & Seitz 2012. 2 Kriegstagebücher im eigentlichen Sinne sind die privaten Tagebücher aus dem Ersten Weltkrieg, die seit 2010 der Forschung vorliegen (Jünger, Ernst: Kriegstagebuch 1914–1918. Hrsg. von Helmuth Kiesel. Stuttgart: Klett-Cotta 2010). Während des Zweiten Weltkriegs ist Jünger kaum noch direkt an Kriegshandlungen beteiligt, kommt ihnen aber während des Westfeldzugs und während eines Kommandos an der Ostfront nahe (»Gärten und Straßen« und »Kaukasische Aufzeichnungen«). Ansonsten basiert sein Schreiben über den Krieg in den »Strahlungen« weitestgehend nicht auf unmittelbaren Erfahrungen, sondern auf Informationen aus zweiter Hand. 3 Hierzu sind die Werke, die sich um den Ersten Weltkrieg ranken, zu zählen, aber auch spätere Erinnerungen, wie sie sich beispielsweise in den »Annäherungen« (SW 11) finden. 4 Diese entstanden vor allem im Rahmen von Jüngers Käferstudien und sind im Band »Subtile Jagden« zusammengetragen (SW 10). 5 In den vier Bänden »Siebzig verweht« veröffentlicht Jünger seine Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 1965 bis 1996 (SW 4, 5, 20 und 21). 6 Biografische Elemente finden sich sowohl in »Auf den Marmorklippen« als auch in »Heliopolis«, den beiden Romanen, die parallel zu den Tagebüchern des Zweiten Weltkriegs entstehen. 7 Die zentrale Rolle der Tagebücher in seinem Schaffen betont Jünger auch in einem Interview mit Jacques Le Rider. Auf die Frage, was ihm in seinen gesammelten Werken am meisten am Herzen liege, antwortet er: »Meine Tagebücher wahrscheinlich« (Jünger, Ernst/Le Rider, Jacques: Über
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Joana van de Löcht
bemerkenswert: Für die Diskussion über »Thematisierung, Inszenierung und Reflexion von Schreibprozessen« ist die Überlieferungssituation von Jüngers Tagebüchern besonders vielversprechend, wirft sie doch die Frage nach Gattungsgrenzen, nach Authentizität und Inszenierung unweigerlich auf. Spätestens mit Ulrich Böhmes Studie zu den »Fassungen bei Ernst Jünger«8 aus dem Jahr 1972 rückte Jüngers Arbeitsweise in den Blick, die neben der Produktion neuer Werke vor allem aus der Revision des bereits Veröffentlichten bestand. Mit insgesamt sechs Bearbeitungen sticht besonders sein Erinnerungsbuch an den Ersten Weltkrieg, der erstmals 1920 publizierte Band »In Stahlgewittern«, heraus; in der 2013 erschienenen historisch-kritischen Edition von Helmuth Kiesel lässt sich dieses Kreisen um das eigene Werk dank der farbigen Markierung der einzelnen Fassungen leicht nachvollziehen.9 Doch auch weitere Werke werden von ihrem Autor mehrfach überarbeitet, wie die ab der ersten Werkausgabe im Jahr 1962 unter dem Titel »Strahlungen« zusammengefassten Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg, die in insgesamt vier bzw. drei Fassungen vorliegen.10 Bezieht man neben den veröffentlichten Werken zusätzlich Jüngers unveröffentlichte autobiografische Texte mit ein, erscheint die Beschreibung von Überarbeitungsprozessen und Textgenese ungleich komplexer. Jünger übergab den bedeutendsten Teil seiner Papiere 1995 an das Deutsche Literaturarchiv in Marbach, wo sie seither der Forschung zur Verfügung stehen. Dank ihnen lässt sich nicht nur ein detailliertes Bild von Jüngers Arbeit am Text und damit am Selbstbild ermitteln, sondern sie bieten auch Anlass für allgemeinere Überlegungen zur Gattung des Tagebuches – im Falle dieses Beitrags zu der Bedeutung von zeitlichen Strukturen, die im Schreiben, im Überarbeiten und in der Rezeption autobiografischer Texte in unterschiedlicher Weise zum Tragen kommen. Der vorliegende Beitrag verfolgt dabei die These, dass Jüngers ÜberOtto Weininger. In: Ernst Jünger: Gespräche im Weltstaat. Interviews und Dialoge 1929–1997. Hrsg. von Rainer Barbey/Thomas Petraschka. Stuttgart: Klett-Cotta 2019, S. 159). 8 Böhme, Ulrich: Fassungen bei Ernst Jünger. Meisenheim am Glan: Hain 1972 (Deutsche Studien; Bd. 14). 9 Jünger, Ernst: In Stahlgewittern. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Helmuth Kiesel. Stuttgart: Klett-Cotta 2013. Die »Stahlgewitter« werden von Jünger in sechs Jahrzehnten immer wieder überarbeitet und an den jeweiligen Zeitstil angepasst – sie kommen bis 1978 auf sieben Fassungen. 10 Dies sind »Gärten und Straßen«, erstmals 1942 im Verlag Mittler erschienen, die »Strahlungen«, die 1949 im Tübinger Heliopolis-Verlag veröffentlicht wurden und Jüngers erste Publikation auf dem bundesrepublikanischen Buchmarkt bilden, und schließlich »Jahre der Okkupation« bzw. »Die Hütte im Weinberg«, welche 1958 bei Klett in Stuttgart erschienen. Auch diese Publikationen überarbeitete Jünger mehrfach: »Gärten und Straßen« sowie die »Strahlungen« nach der Erstveröffentlichung immerhin noch drei Mal, die »Jahre der Okkupation« zwei Mal, wobei dieser Teil ab der Ausgabe »Werke« einen neuen Titel, »Die Hütte im Weinberg«, erhielt.
Erinnerungsliteratur und Tagebuch
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schreitung von Gattungsgrenzen, die charakteristisch für seine Tagebücher des Zweiten Weltkriegs ist, sich aus seinem Umgang mit »In Stahlgewittern« herleiten lässt.
2.
Tagebuch und Zeit
Während die historiografische Chronik den Versuch darstellt, kollektive Zeiterfahrung zu dokumentieren, bildet das Tagebuch das Gegenstück im Privaten. Die Datierung zu Beginn eines Tages gehört zu den Gattungsspezifika und trennt die einzelnen Einträge in diskrete, tagesgenaue Einheiten.11 Die Zeitangabe fungiert als Authentizitätsmarker und stützt die Rezeption als faktualen Text; dieses Mittel kann zusätzlich gesteigert werden durch eine stunden-, ja teilweise sogar vermeintlich minutengenaue Dokumentation des Erlebten. Philippe Lejeune weist in diesem Zusammenhang auf die Verwandtschaft zwischen Tagebuch und Brief hin, denen beiden die Datierung gemein ist, und folgert: »Das moderne Tagebuch wird zu dem, was es ist, erst an dem Tag, an dem es dem Brief […] folgt und das Datum von einem Bestandteil der Aussage (énoncé) zu einer Bestimmung des Aussagens (énonciation) wird.«12 Wie bei einem Brief oder einem Vertrag übernehme das Datum die Funktion einer Beglaubigung für den folgenden Text. Die »Authentizität der Spur« ist folglich zeitlich gebunden: Nur was an dem Tag des einleitenden Datums geschrieben wurde, gilt als authentischer Tagebucheintrag – liegt der Schreibzeitpunkt jenseits des Datums, gewinnt der Eintrag den Charakter autobiografischen Schreibens.13 Die Existenz von Fassungen, also späteren Überarbeitungen des Textes, ist in dieser strengen Auslegung von Gattungsgrenzen für das Tagebuch nicht vorgesehen, ohne dass der Autor hierdurch in eine andere Gattung übergeht oder die Gattungsvorgaben verletzt. Durch die zeitliche Nähe zwischen dem Erleben und der Niederschrift sind wir in der Rezeption geneigt, Tagebüchern eine höchstmögliche Authentizität zuzuschreiben: Sie stellen Zeitzeugenberichte dar, die nicht im Lichte späterer Ereignisse und Erkenntnisse revidierbar sind.
11 Die Aufteilung in TAG und BUCH wählt Arno Dusini als Ausgangspunkt für seine Studie zur Gattung des Tagebuches. Vgl. Dusini, Arno: Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung. München: Fink 2005, S. 83–139. Unter Ersterem betrachtet er die Bedeutung der zeitlichen Einteilung, bei Letzterem die materiale Ausprägung von Tagebüchern. Die Tagesaktualität der Aufzeichnung unterscheidet in Philipp Lejeunes Arbeit »Der autobiographische Pakt« das Tagebuch von der als »rückblickende Prosaerzählung« definierten Autobiografie. Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994, S. 14. 12 Lejeune, Philippe: »Am heutigen Tage«. In: »Liebes Tagebuch«. Zur Theorie und Praxis des Journals. Hrsg. von Lutz Hagestedt. München: belleville 2014, S. 63–81, hier S. 63. 13 Lejeune, Philippe: Tagebuch und Textgenetik. In: ebd., S. 373–392, hier S. 374.
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3.
Vom Tagebuch zur Erinnerungsliteratur – »In Stahlgewittern«
In der Zeit des Ersten Weltkriegs scheint Jüngers Führen eines Tagebuches zunächst dem Habitus des Kriegsfreiwilligen zu entsprechen, also für seine Generation und für das Ereignis typisch zu sein. So schreibt er rückblickend im Stück »Das Wäldchen 125«: »Das war die Zeit, in der fast jeder Kriegsfreiwillige ein Heftchen im Tornister trug, von dem dann vielleicht einige Seiten beschrieben wurden und das nach der ersten Schlacht in irgendeinem Quartiere liegenblieb. Ich habe diese Dinger oft gesehen; in den meisten stand auf der ersten Seite in dicker Schrift das Wort ›Kriegstagebuch‹, dann folgten während des Korporalschaftsappells hineingekritzelte Bemerkungen, Anschriften, Skatrechnungen und ähnliches mehr. Es ist kaum zu glauben, wie rasch es den Menschen verdrießt, an ›weltgeschichtlichen Ereignissen‹ beteiligt zu sein.«14
Jünger beschrieb ab 1915 nicht lediglich ein paar Seiten mit seinen Erlebnissen und Gedanken, um dann zu Skatergebnissen überzugehen, stattdessen füllte er im Ersten Weltkrieg 14 Hefte mit Tagebuchaufzeichnungen. Sie bilden ein Logbuch des Frontaufenthalts – Heimat- und Lazarettaufenthalte bleiben ausgespart – und stellen, neben Briefen, die einzigen autobiografischen Aufzeichnungen Jüngers aus der Zeit des Ersten Weltkriegs dar; sie sind damit Tagebücher im eigentlichen Sinne. Lediglich das letzte Heft, in der von Helmuth Kiesel besorgten Edition der Kriegstagebücher als 14 B bezeichnet, ist eine Art von Dublette. Nach einer schweren Verwundung verlor Jünger die Aufzeichnungen vom 1. bis 25. August 1918, die er in dem Heft aus der Erinnerung nachtrug.15 Erleben und Schreibzeitpunkt liegen in diesem Fall somit bereits weiter auseinander, als es die zuvor angeführte Gattungsdefinition erlaubt, wobei sich diesbezüglich anführen ließe, dass es sich nicht um einen Text handelt, der lediglich auf Erinnerung beruht, sondern um den Versuch, einen einmal geschriebenen und verlorenen Text so genau wie möglich zu rekonstruieren. Bereits am Ende dieses Tagebuches finden sich Entwürfe für ein Vorwort, zunächst in den zwei stichpunktartigen Sätzen: »A. Was bezwecke ich? B. Die Taten des Infanteristen zu schildern, leider muß ich dabei von mir selbst ausgehen.«16 Darauf folgen schließlich zwei mehrere Seiten umfassende Entwürfe, die sich zentral mit dem Verhältnis zwischen Subjektivität und objektiver Schilderung beschäftigen. Die Tagebuchaufzeichnungen in den 14 Heften weisen eine große stilistische Bandbreite auf, was unter anderem. den Bedingungen, unter denen die Einträge entstanden sind, geschuldet ist. Unter akutem Beschuss bleiben die Notizen meist stichwortartig, in den langen Phasen der Langeweile, die den Ersten 14 Jünger, Ernst: Das Wäldchen 125, SW 1, S. 301–438, hier S. 344. 15 Jünger, Kriegstagebuch. 2010, S. 420–434. 16 Ebd., S. 432.
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Weltkrieg oft weit stärker dominieren als die Materialschlacht, nutzt Jünger die Zeit, um seine Einträge stilistisch zu formen und auszugestalten. Ein Hauptziel scheint hierbei Dokumentation zu sein, so verfasst er beispielsweise unter dem Datum des 23. Oktober 1915 einen im Tagebuch fast 15 Seiten umfassenden Eintrag, der einen typischen Tagesverlauf im Graben festhält.17 Anfang 1916 erarbeitet er zudem eine ausgefeilte Typologie der einzelnen Geschossarten, die auf die Soldaten im Graben niedergehen, in der er besonders akustische Aspekte betont.18 Jüngers Ausführungen über Begegnungen mit Sterbenden und Leichen in unterschiedlichen Verwesungszuständen zeichnen sich bereits in den privaten Aufzeichnungen durch eine nüchterne Sprache aus,19 doch finden sich darunter auch allerlei Kraftausdrücke und umgangssprachliche Phrasen.20 Allzu Privates, wie die Angst, sich eine venerische Erkrankung zugezogen zu haben, wird nur chiffriert festgehalten, der Charakter eines Journal intime hat also bereits im täglichen Notat seine Grenzen, musste Jünger doch befürchten, dass das Tagebuch im Falle einer schweren Verwundung oder des Todes durch Dritte gelesen werden könnte.21 Eine fortlaufende narrative Struktur, die eine Gliederung in Kapitel aufweist, erhalten die Aufzeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg erst, als Jünger sie zu der Kriegserinnerung »In Stahlgewittern« ausarbeitet, seinem Erstlingswerk, das 1920 zunächst im Selbstverlag und ab 1922 beim Militärverlag Mittler erscheint. Anstoß für die Überführung der Tagebuchaufzeichnungen in einen zusammenhängenden, nach narrativen Gesichtspunkten geformten Text gab wohl die Ermutigung durch Jüngers Vater, der seinem Sohn angesichts Verwundungen und depressiver Stimmungslage nach dem verlorenen Krieg eine neue Aufgabe empfahl.22 Erst in dieser Formung wird der Text zu einer Heldengeschichte, in der der Protagonist gegen die als Naturgewalten geschilderten Kräfte der Material-
17 Ebd., S. 53–55. 18 Ebd., S. 73–78. 19 Etwa im Eintrag vom 29. Juli 1917: »Ich begab mich also mit Franz auf den Weg nach den Betonunterständen vor dem Art.-Wald, wo die 8. stehen sollte. Unterwegs schrie mich aus einem Granattrichter ein Mann an, der einen blutenden Armstumpf in die Höhe hob. Da ich noch Augenverbindung zum Häuschen hatte, winkte ich meinen Sanitäter dorthin« (ebd., S. 286). 20 Etwa ein wüstes Schimpfwort im Eintrag des 21. Juni 1917 oder ein Absatz im Eintrag des 19. April 1917: »Trank abends solo aus langer Weile eine Pulle Sekt und legte mich ziemlich betrüpt [sic!] zu Bett« (ebd., S. 238). 21 Vgl. Glück, Alexander: Der Leser als Forscher: Wer’s lesen kann, ist klar im Vorteil! Ein Rätsel in Ernst Jüngers ›Kriegstagebuch 1914–1918‹ und seine Lösung. In: Jünger-Debatte 2, 2019, S. 153–157. 22 Vgl. Kiesel, Helmuth: Einleitung. In: Jünger, In Stahlgewittern. 2013, S. 57.
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schlacht obsiegen muss.23 Auch wenn hinter dem Erzähler der Autor Jünger stets erkennbar bleibt, so ist das Ziel weniger eine individuelle Autobiografie, sondern eine Kollektiverinnerung und die Erschaffung eines neuen Heldentypus – den des Grabenkämpfers und Stoßtruppführers.24 Um diese Figur lagern sich in den 1920er Jahren weitere Jünger’sche Texte an, wie der Essay »Der Kampf als inneres Erlebnis« (1922), der Roman »Sturm« (1923), das bereits erwähnte »Wäldchen 125« (1925) sowie »Feuer und Blut« (1925). Sämtliche dieser Texte fußen mehr oder weniger stark auf den Aufzeichnungen in den Tagebüchern, die sich damit als Grundlage für Jüngers Autorschaft überhaupt herausstellen. In der Umformung des stark sequenziert gestalteten Tagebuchtextes zur Prosaerzählung mit größeren Spannungsbögen erlaubt sich Jünger ein freies Verfügen über die Zeitstruktur. So konnte er beispielsweise Informationen, die er zu einem späteren Zeitpunkt erlangte, in »In Stahlgewittern« an der entsprechenden Stelle ergänzen. Anlässlich des Abschieds seines langjährigen Kommandeurs Gustav von Oppen notiert er beispielsweise unter dem Datum des 24. Januar 1918 im Tagebuch: »Heute verabschiedete sich Oberst v. Oppen, der eine Brigade in Serbien bekommen hat, vom Regiment. […] Wir bekommen jetzt den Major v. Bardeleben als Kommandeur, der zuletzt in Les Esparges beim Regiment mitmachte und seitdem in Borkum und Norderney war. Wir verlieren in unserm alten Kommandeur vielleicht mehr, als wir schon jetzt ahnen.«25
In der Druckfassung letzter Hand von »In Stahlgewittern« lautet die Stelle schließlich:
23 Zur narrativen Ausgestaltung von »In Stahlgewittern« siehe Mergenthaler, Volker: »Versuch, ein Dekameron des Unterstandes zu schreiben«. Zum Problem narrativer Kriegsbegegnung in den frühen Prosatexten Ernst Jüngers. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2001. 24 Im Vorwort der ersten Ausgabe heißt es: »Der Zweck dieses Buches ist, dem Leser sachlich zu schildern, was ein Infanterist als Schütze und Führer während des großen Krieges inmitten eines berühmten Regiments erlebt, und was er sich dabei gedacht hat« (Jünger, In Stahlgewittern. 2013, S. 20). Die Aufzählung der unterschiedlichen Eindrücke stimmt weitestgehend mit der Kategorisierung von Tagebucheinträgen von Henri-Frédéric Amiel überein. In seinem Tagebucheintrag vom 30. Oktober 1852 schlüsselt er diese wie folgt auf: »A: Acta: (a: Emploi du temps et des heures, b: Détail); B: Cogitata: (a: connaissances acquises, b: idées venues et trouvées); C: Sentita: (a: ce qui passe, aperceptions fugitives (lyrsime), b: ce qui reste, sentiments fondamental (religion)).« Sie wurde von Michéle Leleu in ihrer Studie zu den »Journeaux intimes«, 1952, übernommen, um »historische Tagebücher« (acta), »dokumentarische Tagebücher« (cogitata) und »persönliche Tagebücher« (sentita) voneinander zu unterscheiden. Amiel, Henri-Frédéric: Journal intime. Bd. 2: Janv. 1852–Mars 1856. Texte établi et annot. par Philippe M. Monnier. Éd. intégr./publ. sous la direction de Bernard Gagnebin. Lausanne: L’Age d’Homme 1978. 25 Jünger, Kriegstagebuch. 2010, S. 364.
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»Am 24. Januar verabschiedete sich Oberst von Oppen, um in Palästina eine Brigade zu übernehmen. Er hatte das Regiment, dessen Kriegsgeschichte eng mit seinem Namen verflochten ist, ununterbrochen seit dem Herbst 1914 geführt. Oberst von Oppen war ein lebendiges Beispiel dafür, daß es Menschen gibt, die zum Befehlen geboren sind. Stets umgab ihn eine Sphäre der Ordnung und der Zuversicht. Das Regiment ist der letzte Verband, in dem man sich noch persönlich kennt; es ist gewissermaßen die größte soldatische Familie, und die Prägung eines solchen Mannes wirkt unsichtbar in Tausenden nach. Leider sollten seine Abschiedsworte: ›Auf Wiedersehen in Hannover!‹ nicht in Erfüllung gehen; er starb bald an der asiatischen Cholera. Als ich die Nachricht von seinem Tod bereits vernommen hatte, erhielt ich noch einen Brief von seiner Hand. Ich verdanke ihm viel.«26
Die Information über das Ableben, die damit verbundene Erinnerung sowie die Korrektur des neuen Einsatzortes: All diese Informationen werden erst nachträglich ergänzt und gehen über das Wissen, das Jünger am 24. Januar 1918 besaß, deutlich hinaus, wodurch das Programm des Werkes, das im Vorwort von »In Stahlgewittern« offengelegt ist, überschritten wird. Auf das Tagebuch als Ursprung des Textes wird im Vorwort explizit hingewiesen, doch dient es vor allem als Garant dafür, dass keine nachträgliche Verklärung und Heldenerzählung entsteht: »Es [das Buch »In Stahlgewittern«; Anm. d. Verf.] ist entstanden aus dem in Form gebrachten Inhalt meiner Kriegstagebücher. Ich habe mich bemüht, meine Impressionen möglichst unmittelbar zu Papier zu bringen, weil ich merkte, wie rasch sich die Eindrücke verwischen und wie sie schon nach wenigen Tagen eine andere Färbung annehmen. Es erfordert Energie, diesen Stapel von Notizbüchern zu füllen […]. Ich habe die Frische der Erlebnisse gewahrt. Der Mensch neigt zur Idealisierung des Geleisteten, zur Vertuschung des Häßlichen, Kleinlichen und Alltäglichen. Unmerklich stempelt er sich zum ›Helden‹. Ich bin kein Kriegsberichterstatter, ich lege keine Helden-Kollektion vor. Ich will nicht beschreiben, wie es hätte sein können, sondern wie es war.«27
Die Notizbücher bewahren Jünger vor dem Verblassen der Erinnerung und ermöglichen ihm, zu schildern, »wie es war«. Deshalb werden sie auch immer wieder in den »Stahlgewittern« direkt erwähnt und zitiert. Die dabei ausgewählten Zitate sollen den Duktus des Grabenkämpfers unterstreichen, wobei Jünger diesen beschönigt und an den gehobenen Stil von »In Stahlgewittern« anpasst: Den »Scheißfraß«, der am 5. Januar 1915 beklagt wird, ersetzt er durch den etwas schwächeren »Saufraß«, auch lässt er in der Wiedergabe der freudigen Beschreibung einer Erbsensuppe die wiederholte Interjektion »Oh!« aus.28 26 Jünger, In Stahlgewittern. 2013, S. 495. 27 Ebd., S. 20. 28 Der Verweis auf das Tagebuch wird an dieser Stelle erst in der Fassung von 1924 eingefügt. Vgl. ebd., S. 41.
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Zudem werden stilistische Schwächen wie »Ich kann nur konstatieren, daß unser Graben rettungslos absäuft«29 für die Übernahme in das Erinnerungsbuch geglättet.30 Die Verweise auf das Tagebuch werden größtenteils in die Fassung aus dem Jahr 1924 aufgenommen, die als die politischste Fassung gilt, in der Jünger die Kriegserinnerung für die eigene Positionierung in nationalrevolutionären Kreisen nutzt.31 Der Typus des abgehärteten Frontsoldaten wird in ihr gezielt herausgearbeitet, durch die eingestreuten Tagebuchzitate soll der raue Stil die Loslösung von der zivilen Welt unterstreichen.
4.
Vom Tagebuch zum stilisierten Tagebuch – »Strahlungen«
Dass Jünger auch in der Zeit zwischen den beiden Kriegen regelmäßig Tagebuch führte, ist anzunehmen; diese Tagebücher sind jedoch nicht erhalten. So berichtet Jünger 1945 etwa von einem Autodafé, dem zahlreiche Aufzeichnungen – darunter auch wenigstens ein Tagebuch – zum Opfer fielen.32 Erhalten sind lediglich Reisetagebücher der späten 1920er und 1930er Jahre, die jedoch, etwa für den 1934 erschienenen »Dalmatinische[n] Aufenthalt«, erneut in einen fortlaufenden Prosatext transformiert wurden.33 Das Tagebuch erscheint – wie auch im Falle von »In Stahlgewittern« – als unvollkommene Gattung, die zwar als Ausgangspunkt für das literarische Schreiben dienen kann, jedoch der einer Veröffentlichung angemessenen Form nicht genügt. Dies ändert sich erst mit den Aufzeichnungen, die Jünger zwischen April 1939 und November 1948 niederschrieb. Wohl aus Zeitmangel verzichtete er auf die nachträgliche Umformung seiner Tagebücher des Westfeldzugs (1939–1940) in eine zusammenhängende Erzählung, weshalb »Gärten und Straßen« das erste Buch Jüngers ist, das als veröffentlichtes Tagebuch gelten kann. Dem 1942 erschienenen Band wird keine Einleitung, keine poetologische Äußerung vorangestellt, stattdessen weist der Untertitel die sich anschließenden Einträge als »Aus 29 Jünger, Kriegstagebuch. 2010, S. 68. 30 In der Fassung letzter Hand lautet die Stelle: »Unser Graben versäuft rettungslos […]«. 31 Kiesel, Einleitung Stahlgewitter. 2013, S. 113f. Kunicki, Wojciech: Projektionen des Politischen. Ernst Jüngers Arbeit an den Fassungen von »In Stahlgewittern«. Frankfurt/Main/ Berlin [u. a.]: Peter Lang 1992, S. 69–104. 32 Die Erinnerung an das Verbrennen der eigenen Aufzeichnungen dient Jünger gleichfalls als Instrument der Selbstinszenierung. Für das Nachkriegstagebuch »Jahre der Okkupation« gestaltet er mehrere Rückblicke auf die 1920er und 1930er Jahre, u. a. ein umfangreicheres Konvolut, das sich des Erinnerungsanlasses »Ordnung der Briefschaften« bedient. Jünger gibt vor, seine Briefmappe alphabetisch durchzugehen, und nimmt jede Lücke, auf die er stößt, zum Anlass, sich an die Person und an den Grund, warum er der Briefe verlustig gegangen ist, zu erinnern. 33 Jünger, Ernst: Dalmatinischer Aufenthalt, SW 6, S. 11–35. Erstmals veröffentlicht in: Jünger, Ernst: Blätter und Steine. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1934, S. 15–46.
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den Tagebüchern von 1939 und 1940«34 stammend aus. Jünger ist als Autor zu diesem Zeitpunkt bereits so etabliert, dass er das Leserinteresse als Person und nicht als Zugehöriger einer bestimmten Gruppe – etwa der der Frontsoldaten – zu wecken weiß. Im Zuge seiner Rückkehr zu Mittler, dem Verlag, bei dem er seit 1922 Kriegsschriften veröffentlichte, wird »Gärten und Straßen« zunächst als Buch mit militärischem Schwerpunkt ausgewiesen. Zwischenzeitlich erschienen Jüngers literarische Werke seit 1934 vor allem in der Hanseatischen Verlagsanstalt.35 Der Blick auf die Textträger, die Jünger zwischen 1939 und 1948 für seine Tagebuchaufzeichnungen nutzte, ist erhellend, denn sie zeigen, dass Jünger mit seinen Aufzeichnungen von Anfang an auf eine Veröffentlichung abzielte. Anders als im Ersten Weltkrieg führte er nicht im eigentlichen Sinne Tagebuch, sondern überarbeitete die einzelnen Einträge immer wieder stark, schrieb sie ab, strich einzelne Passagen, reicherte die Texte nachträglich mit zusätzlichen Informationen an und ersetzte einzelne Absätze. Die materiale Erscheinungsform des Tagebuches ist dabei nur eine unter den verwendeten Textträgern: Aufschlussreich ist etwa die Entstehung des Tagebuchteils, der sich in den »Strahlungen« unter dem Titel »Kaukasische Aufzeichnungen« findet: Mit seiner Abreise aus Berlin im November 1942 beginnt Jünger, teils flüchtigere, teils ausführlichere Notizen auf in der Mitte durch Reißen geteilten und gefalteten Einzelblättern festzuhalten. Die Texte auf diesen Seiten lassen sich meist nur durch die Datierung zu Beginn eines Eintrags als Tagebuchaufzeichnungen identifizieren, da sie neben dem Datum nur einzelne Stichwörter enthalten, die allein als Erinnerungsstütze, nicht jedoch als von den Erinnerungen des Schreibers unabhängige Fixierung des Geschehens gelten können. Eine solche Fixierung erfolgt erst auf dem nächsten Textträger: Die Formulierungsarbeit verläuft im vorliegenden Fall ebenfalls auf losen Blättern – genauer auf einem Konvolut karierter Doppelblätter –, auf denen Jünger die Einträge aus der Zeit zwischen dem 30. November 1942 und dem 3. Januar 1943 ausformuliert. Doch damit ist der Schreibprozess noch längst nicht abgeschlossen: Von den losen Blättern wird der Eintrag endlich in ein klassisches Tagebuch übertragen. Ob diese Abschrift noch an der Ostfront vorgenommen wurde, kann zwar nicht mit
34 Jünger, Ernst: Gärten und Straßen. Aus den Tagebüchern von 1939 und 1940. Berlin: Mittler 1942, S. 3. 35 Lokatis, Siegfried: Hanseatische Verlagsanstalt. Politisches Buchmarketing im »Dritten Reich«. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 38, 1992, S. 91; Ders.: Ernst Jüngers Marmorklippen. Benno Ziegler und die Hanseatische Verlagsanstalt. In: Jünger-Debatte 2, 2019, S. 9–27.
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Bestimmtheit gesagt werden, ist aufgrund von Fehldatierungen der Einträge auf das Jahr 1943 jedoch unwahrscheinlich.36 Das Tagebuch ist somit nicht unbedingt der Ort der ersten Niederschrift, dafür aber über einen Großteil der Jahre zwischen 1939 und 1948 der Ort, an dem die Einträge fortlaufend zusammengetragen werden. Bei seinen Tagebüchern neigte Jünger zu exquisiten Ausstattungen, wobei die Tagebücher zu Beginn der Aufzeichnungen noch eher handelsüblich sind und erst nach Ende des Aufenthalts in Paris immer luxuriöser werden. Beispiele für eine edlere Ausstattung sind ein von Jünger als »Schlangenhaut-Journal« benannter schmaler Band in japanischer Bindung, der jedoch nicht mit Schlangenleder, sondern mit Pergament umschlossen ist, auf dem die Fellzeichnung noch deutlich zu sehen ist. Der von Jünger als »Nashornleder-Tagebuch« bezeichnete Band ist in rotes Leder eingebunden und am Rücken mit beinernen Spindeln verziert, über welche die Bünde gespannt sind. Das außergewöhnlichste Tagebuch ist jedoch ein Heft, das Jünger vom 14. August bis zum 10. Oktober 1945 nutzte. Ein Aufkleber auf der Mitte des Umschlags weist den ursprünglichen Nutzungszweck als »Livre de Compte« – also als Kontobuch – aus dem Jahr 1832 aus. Die elfte Seite trägt noch einen Eintrag des Vorbesitzers, um den herum Jünger seine eigenen Einträge einfügt.37 Von den Tagebüchern überträgt Jünger den Text ab Februar 1941 in das sogenannte Journal: insgesamt 522 ungebundene Büttenpapierblätter, die in eigens dafür angefertigten roten Schubern aufbewahrt werden und die die Aufzeichnungen bis zum Abzug aus Paris im Sommer 1944 enthalten. Die Außenhülle der Schuber, welche Jünger extra für diesen Zweck beim Pariser Buchbinder Léon Gruel in Auftrag gab, ist aus rotem Leder gefertigt. Weniger schmuckvoll ist die Aufbewahrung der Journalseiten nach Jüngers Rückkehr in seinen Heimatort Kirchhorst. Die Manuskriptseiten der »Kirchhorster Blätter« befinden sich heute in einer einfachen grauen Kladde. Auf ihnen setzt sich die Blattnummerierung bis 888 fort, wobei ein Großteil der Blätter auf beiden Seiten beschrieben ist. Das teils antiquarisch erworbene Büttenpapier ist von erlesener Qualität; dies ändert sich erst nach Kriegsende, da der Nachschub des qualitativ hochwertigen Papiers unterbrochen war. So bat Jünger seine Verleger dringend um Papiernachschub, um seine Textproduktion nicht unterbrechen zu müssen.38 Dass Beschreibstoff in der Nachkriegszeit zur Mangelware wurde, wird auch daran deutlich, dass Jünger 1945 begann, bereits genutzte, aber nicht vollständig beschriebene Tagebücher
36 Vgl. hierzu van de Löcht, Joana: Aufzeichnungen aus dem Malstrom. Die Genese der »Strahlungen« aus Ernst Jüngers privaten Tagebüchern (1939–1958). Frankfurt/Main: Vittorio Klostermann 2018, S. 125. 37 Ebd., S. 73f. 38 Ebd., S. 74.
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weiter zu beschreiben. Dies führt dazu, dass einige Tagebücher zwei Nutzungsphasen aufweisen. Das Tagebuch ist damit im Zweiten Weltkrieg – im Gegensatz zum Ersten – nicht nur alltäglicher Begleiter, sondern auch immer wieder Luxusobjekt, dessen Qualität den in ihnen dokumentierten Erlebnissen entsprechen und dem Inhalt eine angemessene Form geben soll. Der Schriftsteller und Journalist Peter de Mendelssohn äußert sich in seiner Rezension »Gegenstrahlungen« 1949 fast abfällig-ironisch über die weihevolle Form, die Jünger seinen Manuskripten zu geben suchte und offenbar auch etwaigen Besuchern bereitwillig zeigte.39 Das Tagebuch, auch wenn die öffentliche Leserschaft es nicht zu Gesicht bekommt, wird damit Teil der Inszenierung einer Autorpersona, die durch eine bewusste Selbstarchivierung – sowohl durch Abschriften als auch durch die Überstellung der Aufzeichnungen nach Marbach – ein ungemein ausgeprägtes Nachlassbewusstsein zeigt und über den Tod des Diaristen hinaus durch die auratischen Objekte wirksam wird.40
5.
Tagebuch und Erinnerung
Die wenigsten der beschriebenen Aufzeichnungen Jüngers aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit halten den strengen Anforderungen Lejeunes an die Gattung des Tagebuches stand. Jünger selbst erklärt offen, dass er kein tagesgenauer Dokumentator sei. Stattdessen scheint nach seiner eigenen Aussage häufiger der Fall gewesen zu sein, dass er erst am Folgetag die Aufzeichnungen nachtrug oder die Ereignisse eines Tages lediglich in kurzen Stichpunkten festhielt und diese nachträglich zu einem vollständigen Eintrag ausarbeitete. Hierbei räumt Jünger ein, dass in diesen Einträgen, die er erst am Folgetag festhielt, die Eindrücke des Vortages und des Tages der Niederschrift
39 »Etwas allzu bereitwillig, für meinen Sinn, zeigte er uns die Handschriften seiner Bücher, darunter das Manuskript der ›Marmorklippen‹, ganze dreiundvierzig, von einer hauchdünnen, winzigen, spinnenartigen Schrift bedeckte Büttenblätter, und die schweren, goldgeprägten, prachtvoll gearbeiteten Lederkassetten, die er sich für diese Blätter in Paris bei Gruot [sic!] eigens anfertigen ließ. Merkwürdig, wie die Eitelkeit hier die geistige Disziplin einfach überspielt« (Mendelssohn, Peter de: Gegenstrahlungen. Ein Tagebuch zu Ernst Jüngers Tagebuch. In: Der Monat 2, 1949, S. 149–174, hier S. 151). 40 Zur auratischen Aufladung von hinterlassenen Schriftgütern vgl. Sina, Kai/Spoerhase, Carlos: Nachlassbewusstsein. Zur literaturwissenschaftlichen Erforschung seiner Entstehung und Entwicklung. In: Zeitschrift für Germanistik 23, 2013, H. 3, S. 607–623; Sina, Kai/Spoerhase, Carlos (Hrsg.): Nachlassbewusstsein. Literatur, Archiv, Philologie. Göttingen: Wallstein 2017; Spoerhase, Carlos: Postume Papiere. Nachlass und Vorlass in der Moderne. In: Merkur 68, 2014, H. 781, S. 502–511.
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miteinander verschwimmen, dass also bereits nach einem Tag der Eindruck durch Reflexion verändert wird.41 Ein noch extremerer Fall liegt in den Einträgen vor, die eigens für die Veröffentlichung geschaffen wurden. Für diese Praxis ist die Entstehung des Eintrags vom 13. Februar 1940 aus »Gärten und Straßen« ein aufschlussreiches Beispiel. So findet sich in Jüngers Nachlass eine zweispaltige Liste mit Stichpunkten, die die Basis für den ausformulierten Tagebucheintrag darstellen. Es sind keine Stichpunkte, die Jünger innerhalb eines Tagesablaufs kontinuierlich in einem größeren Textzusammenhang wie einem Notizbuch festhielt und die Auskunft über tagesspezifische Handlungsabläufe geben. Stattdessen notierte er auf einem separaten Blatt unter den Überschriften »1. Morgen Erwachen«, »2. Erheben« und »3. Rundgang« einzelne Tätigkeiten, Gegenstände und sonstige Gegebenheiten. Beispielsweise lauten die ersten Listeneinträge unter der Überschrift »Erwachen«: »Letzte Morgenst. kühl | Erwachen | Schlafsack | Kerzen (BienenWachs) […]«.42 Der Anfang des Eintrags in der ersten Druckfassung von »Gärten und Straßen« lautet entsprechend: »In den Morgenstunden wird es in der Schilfhütte kühl. Obwohl ich unter drei Decken und meinem Mantel im Schlafsack liege, tastet sich die Kälte allmählich zum Körper, bis an die Pulse, durch, und nach einer Weile unruhigen Schlummers entzünde ich die Kerze, die auf dem Wandbrett steht.«43 Der gesamte Eintrag ist damit weniger das Dokument eines bestimmten Tages – des 13. Februar 1940 –, sondern legt Zeugnis über den typischen Tagesablauf Jüngers während des Sitzkriegs am Rhein ab. Ähnliche Pläne für am Reißbrett kreierte Tagebucheinträge formuliert Jünger anlässlich der Silvesternacht 1943/44: »Plan: an Stelle einer Biographie möchte ich zu jedem Sylvester den Querschnitt eines Tages zeichnen, wie ich ihn im verflossenen Jahre zubrachte. Zwei solcher Tageläufe, nämlich von 1915 und 1940, besitze ich bereits, und andere ließen sich aus der Erinnerung nachtragen.«44 Der erwähnte Eintrag von 1940 dürfte der soeben beschriebene sein. Die Frage der Authentizität stellt sich vielleicht nicht so dringlich, wenn es sich lediglich um einen beliebigen Alltagsbericht handelt. Dringlicher wird sie jedoch, je näher die Einträge an große historische Zusammenhänge rücken und möglicherweise sogar Quellenwert für Historiker besitzen. Die Phase, über die sich der historisch interessierte Leser der »Strahlungen« im Besonderen möglichst de41 »Übrigens bringe ich meine Tagebücher für gewöhnlich erst am nächsten Tage auf ihren Stand; ich datiere aber nicht nach der Niederschrift, sondern nach den Ereignissen. Dennoch kommt es, wie eben, vor, daß beide Daten ein wenig übergreifen; das bleibt eine der Ungenauigkeiten der Perspektive, denen ich nicht allzu peinlich nachforsche« (Jünger, Ernst: Strahlungen. Tübingen: Heliopolis-Verlag 1949, S. 48). 42 Zitiert nach van de Löcht, Malstrom. 2018, S. 251. 43 Jünger, Gärten und Straßen. 1942, S. 88. 44 Jünger, Strahlungen. 1949, S. 463.
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taillierte Informationen erhofft, sind die Monate um den 20. Juli 1944, an dem nicht nur das Attentat auf Hitler verübt wurde, sondern (damit abgestimmt) in Paris ein Aufstand des Militärs gegen die Parteifunktionäre stattfand. Dem Blick in die Tagebücher sei vorausgeschickt, dass die Datenbasis für die relevanten Monate eher unbefriedigend ist. Während in den Jahren 1939 bis Anfang 1943 zumeist wenigstens zwei, gelegentlich auch drei oder mehr Textträger einen Tag dokumentieren, so legt für die Zeit ab Sommer 1943 bis August 1944 lediglich das Journal Zeugnis über Jüngers Erlebnisse ab. Der Blick auf Schriftführung und Korrekturen weist dieses jedoch deutlich als eine Abschrift aus, in der der Text bereits weitestgehend seine endgültige Form erreicht hat, die kaum vom publizierten Text abweicht. Dennoch ist der Blick ins Journal lohnenswert, da fünf Einträge aus der Zeit zwischen dem 7. März und dem 22. Juli 1944 nämlich in ihrer Gestaltung auffällig sind: Zunächst wurden die Einträge vom 7. und 27. März, 29. April, 31. Mai und 21. Juli ebenso ins Journal übertragen wie alle weiteren auch; weder die Schrift noch die genutzte Tinte oder andere Aspekte weisen sie als besonders aus. Bedeutend werden sie erst durch eine zweite Schreibphase. Hierfür drehte Jünger die Blätter jeweils um 90° und schrieb ohne Rücksicht auf den ersten Text weitere umfangreiche Passagen mit roter Tinte quer über den ursprünglichen Eintrag. Dies ist insofern auffällig, als Jünger ansonsten für anschließende Erweiterungen den Blattrand und bei umfangreichen Nachträgen die Blattrückseite nutzte. Den eigenen Text in dieser Form zu überschreiben, ist für ihn unüblich. Was ist jeweils das Thema dieser überschriebenen Einträge? Im Eintrag des 7. März findet sich eine ausführliche, theoretische Überlegung zum Verhältnis von Schicksal und Determinismus, die Jünger als dominante Faktoren für den menschlichen Lebensweg herausstellt. Im Zuge der roten Schriftstufe ergänzt er einen umfangreichen Absatz zum Nihilismus, der alles in bloßen Zufall auflöst. Das einzige Remedium sei hier das Studium der Theologie, von der aus eine Bindung der Kräfte des Zufalls möglich sei und die eine Basis für ein neues Gesellschaftskonzept bieten könne.45 Der Absatz schließt mit den Worten: »Dann wird sich auch der Albdruck lösen, der heute so viele der Lebenslust beraubt: das dumpfe Gefühl, im Sinnlosen, in Räumen der Vernichtung, des puren Zufalls am Werk zu sein. Man wird auch begreifen, was in diesen Jahren in Rußland, in Italien, in Spanien, in Deutschland vor sich ging, denn es gibt Tiefen des Leidens, die ewig sinnlos bleiben werden, wenn nicht die Frucht sie klärt. Und darin liegt wiederum die ungeheure Verantwortung der Überlebenden.«46
45 Vgl. ebd., S. 373f. 46 So im Journal, Eintrag vom 7. März 1944, DLA Marbach, Blatt 492 verso.
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Während diese Ergänzung am 7. März zwar eine Zeitkritik enthält, sonst jedoch keine Informationen zur konkreten Situation im Pariser Stab liefert, werden die folgenden überarbeiteten Einträge diesbezüglich deutlicher. Der Ersteintrag des 27. März 1944 endet folgendermaßen: »Am Abend Oberstltn. Hofacker, seine Ansichten. Über Telefone und Radios.«47 Der uninformierte Leser mag hier ein Gespräch über den technischen Fortschritt der Kommunikationsmittel vermuten, doch mag derjenige, der den Namen Hofacker kennt, hinter dem kleinen Einschub »seine Ansichten« mehr erahnen. Diese Ansichten werden im nachträglichen roten Text weiter ausgeführt: Der Hinweis auf das Telefon wird insofern ausgearbeitet, als Caesar von Hofacker, einem Mitverschwörer des 20. Juli, bei seinem Eintritt in Jüngers Zimmer den Hörer vom Telefon nimmt, um zu verhindern, belauscht zu werden. Dies beruhigt ihn jedoch wohl nicht ausreichend, stattdessen beschließen Jünger und er, spazieren zu gehen und das Gespräch im Freien weiterzuführen. Im Folgenden berichtet er Jünger, dass der Kreis um den Militärbefehlshaber Carl-Heinrich von Stülpnagel mit großem Misstrauen beobachtet würde, auch empfiehlt er Jünger, für einige Zeit nach Südfrankreich auszuweichen. Zudem erfährt Jünger, dass im Falle eines erfolgreichen Putschs ein gewisser »G.«, der in späteren Druckausgaben als Carl Friedrich Goerdeler entschlüsselt wird, an erster Stelle für eine neue Führung stehe. Spätestens mit folgender Aussage wird Jünger zum Mitwisser der Verschwörung: »Das Vaterland sei jetzt in äußerster Gefahr. Die Katastrophe sei nicht mehr abzuwenden, wohl aber zu mildern und zu modifizieren, da der Zusammenbruch im Osten fürchterlicher als der im Westen sei. Infolgedessen müsse im Westen verhandelt werden, und zwar vor einer Landung; man stehe bereits in Fühlung in Lissabon. Voraussetzung sei das Verschwinden Kniébolos, der in die Luft zu sprengen sei. Dazu sei während der Lagebesprechung im Hauptquartier beliebig Gelegenheit. Er nannte dabei Namen aus seinem engsten Kreis.«48
Ein entsprechendes Notat in seinen Tagebüchern hätte Jünger im Nachgang des 20. Juli stark gefährdet. Es ist deshalb davon auszugehen, dass er die Ergänzung erst vornahm, nachdem er sich nicht mehr in unmittelbarer Gefahr befand, also etwa nach der Rückkehr in seinen Heimatort Kirchhorst im Herbst 1944 oder auch erst nach Ende des Kriegs. Von ähnlicher Qualität sind auch die weiteren nachträglichen Ergänzungen; die Gesamtschau zeigt, dass viele von Jüngers expliziten Bezugnahmen auf die Geschehnisse um den 20. Juli erst nachträglich ausgeführt wurden. Eine genaue Datierung der Einfügungen ist nicht möglich, doch ist ein größerer zeitlicher Abstand wahrscheinlich. Hierbei ist die Motivation für die Ergänzung nicht 47 Ebd., Eintrag vom 27. März 1944, Blatt 495 verso. 48 Ebd.
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eindeutig zu ermitteln: Dient sie als Beitrag zur Geschichtsschreibung, als Exkulpation von den Vorwürfen, die in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre gegen Jünger und sein Werk laut werden, oder entsprechen sie lediglich dem Bedürfnis, das Erlebte möglichst vollständig zu dokumentieren? Das Tagebuch ist an diesen Stellen in jedem Fall nicht mehr tagesaktuell geführt, sondern gleicht eher der Gattung nachträglich zusammengetragener Erinnerungen – etwa den Memoiren. Die eigenen Erinnerungen wurden hier höchstwahrscheinlich mit externen Informationen, etwa durch Zeitungsartikel, ergänzt und kontaminiert. An diesen Stellen verliert der Text an Authentizität – nicht unbedingt hinsichtlich der historischen Tatsachen, aber hinsichtlich der Gattungsspezifika des Tagebuches. Auch in den drei Überarbeitungen der »Strahlungen«, die Jünger nach der Erstveröffentlichung vornahm, finden sich Beispiele für sein freies Verfügen über die Tagebücher. Zumeist besitzen die nachträglichen Einfügungen reflektierenden Charakter; so überrascht es nicht, dass die Erweiterungen in späteren Auflagen zumeist am Ende eines Absatzes oder Eintrags erfolgten und damit nicht in die Struktur des Berichts eingriffen, sondern ihn ergänzten. In einzelnen Fällen erweitert Jünger den Text jedoch auch um Informationen, die Gesprächsinhalte oder Handlungen betreffen und die nicht zuvor festgehalten wurden. So ergänzt er etwa im Jahr 1962 in der Ausgabe »Werke« im Eintrag des 5. August 1942 den Absatz »Diner bei Morand, den ich nicht antraf, weil er heute Minister geworden ist. Er wurde durch seine Frau vertreten, auch sah ich dort den neuen Polizeipräfekten und die Prinzessin Murat«49 um den Satz: »Mit dem Präfekten unterhielt ich mich über das Treiben der Unterwelt in der Rue de Lappe; er hörte ungern, daß ich dort spazieren ging.«50 Dass Jünger sich gut 20 Jahre nach diesem Nachmittag an den Inhalt eines solchen Gesprächs erinnern konnte, ist unwahrscheinlich – statt einer normalen Erweiterung des autobiografischen Berichts aus der Erinnerung erfolgt an dieser Stelle eine kreative Erweiterung, deren Inhalt wohl nur noch erdacht ist.51 Dem faktualen Anspruch der Gattung des Tagebuches wird spätestens an einer solchen Stelle nicht mehr entsprochen. Dieses freie Verfügen über sein autobiografisches Werk entspricht der Überarbeitungspraxis, die Jünger im Publikationsprozess seiner Kriegstagebücher aus dem Ersten Weltkrieg erprobte. Bei dieser Überarbeitung ist nicht die Fiktionalität das Kriterium, an dem sich die Tagebücher messen lassen, sondern im Gegenteil: die Objektivität.
49 Jünger, Strahlungen. 1949, S. 147. 50 Jünger, Strahlungen, SW 3, S. 359. 51 Ähnliche Erweiterungen finden sich im Eintrag des 16. Oktober 1942 oder des 12. Mai 1944.
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Auf die Feststellung Jacques Le Riders in einem Interview aus dem Jahr 1981, dass Jünger in seinen Tagebüchern gerade die Details seines Lebens verschweige, antwortet der Autor: »Zweifellos. Doch ich schrieb sie so, daß das Nichtgesagte zwischen den Zeilen lesbar wird. Ich versuche meine private Existenz zu objektivieren, indem ich ihr einen typischen Wert verleihe, indem ich eine universelle menschliche Substanz aus ihr entstehen lasse. Von welchem Interesse wäre mein intimes Tagebuch ohne diese? […]«52
Damit läuft Jüngers Poetik des Tagebuches der Gattungsbestimmung Lejeunes zuwider: Erst an dem Punkt, an dem der allzu individuelle und intime Charakter überwunden wird und das Erleben eine universelle Bedeutung gewinnt, wird das Tagebuch eine Gattung, die es wert ist, publiziert zu werden. Nicht die Ephemera der tagesgenauen Niederschrift, sondern das, was über den einzelnen Tag und das individuelle Leben hinausgeht und was sich im Begriff der Zeitzeugenschaft erfassen lässt, ist das Ziel von Jüngers Arbeit am Tagebuch.
6.
Literaturverzeichnis
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52 Jünger/Le Rider, Über Otto Weininger. 2019, S. 159.
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Andrea Werner
»Es ist wie in einer Zuchthauszelle …« – Wolfgang Koeppens Reflexionen zum Stuttgarter Bunkerhotel als Schreibort
1.
Einleitung
»Ich sitze jetzt unter dem Marktplatz von Stuttgart im Rathausbunker«, schreibt Wolfgang Koeppen am 24. April 1953 an seine Frau Marion: »Der Raum ist wie eine Gefängniszelle gross und Tag und Nacht ohne Licht und mit künstlicher technischer Belüftung«1 (Abb. 1). In Stuttgart wird Koeppen in wenigen Monaten den Bonn-Roman »Das Treibhaus« verfassen, der im November 1953 im Scherz & Goverts Verlag Stuttgart erscheint und wie Koeppens Romane »Tauben im Gras« (1951) und »Der Tod in Rom« (1954) im Kanon der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur einen festen Platz einnimmt. Bevor sich der Autor zum Schreiben in unterschiedliche Stuttgarter Hotelzimmer zurückziehen wird, recherchiert Wolfgang Koeppen vermutlich wenige Tage im Februar 1953 in der damaligen Bundeshauptstadt. Verschiedene Archivalien aus dem Nachlass des Schriftstellers, die im Wolfgang-Koeppen-Archiv (WKA) der Universität Greifswald verwahrt werden, belegen Koeppens Aufenthalt in Bonn, darunter etwa die Broschüre »Bundeshauptstadt Bonn mit ausführlichem Behördenführer und Straßenverzeichnis« von 1950 mit handschriftlichen Anmerkungen des Schriftstellers sowie seitenweise maschinenschriftliche Notizen und einige Bildpostkarten, die Koeppen durchaus als Gedächtnisstützen für sein Schreiben gedient haben könnten. Mit diesem Material und vermutlich einer Reiseschreibmaschine im Gepäck reist Koeppen Ende April 1953 nun nach Stuttgart, um hier in möglichst kurzer Zeit den angefangenen Roman zu beenden, denn er muss seinen Lebensunterhalt 1 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, zweiter Brief vom 24. April 1953 (WKA Sig. 25591). Der Briefwechsel von Wolfgang und Marion Koeppen ist Teil des Nachlasses des Schriftstellers, den das Wolfgang-Koeppen-Archiv (WKA) der Universität Greifswald verwahrt (www.koep pen-archiv.de). Bereits 2008 ist der Briefwechsel im Suhrkamp Verlag erschienen: »… trotz allem, so wie du bist«. Wolfgang und Marion Koeppen. Briefe. Hrsg. von Anja Ebner. Mit einem Nachwort von Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008. (Im Folgenden wird aus den originalen Briefen zitiert und zusätzlich auf die Publikation verwiesen.)
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Abb. 1: Aus einem Brief Wolfgang Koeppens an seine Frau Marion vom 24. April 1953. Gewöhnlich unterzeichnet Koeppen seine Briefe an Marion handschriftlich mit »Kopernikus«.
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verdienen. Allein Geldmangel treibt den Autor, dessen literarische Textproduktion mit dem stilisierten Narrativ der Schreibkrise eng verbunden scheint, offenbar verlässlich an. Zeit seines Lebens wird Koeppen über seine Mittellosigkeit klagen. Auch das Honorar, das ihm sein 1951 veröffentlichter Roman »Tauben im Gras« einbringt, verbessert nicht nachhaltig seine finanzielle Lage. Für die Arbeit am »Treibhaus« erhält Koeppen einen Vorschuss und vom Verleger Henry Goverts zudem eine private Zuwendung. Dennoch muss der Autor in Stuttgart mit dem Geld durchaus haushalten. »Ich bin verbittert«, schreibt er Marion in einem weiteren Brief vom 24. April: »Seit Sonntag um 5 Uhr habe ich nun keine Zeile am Roman geschrieben. Wie soll ich diese Zeit noch einholen! Die Einrichtung hier hat [sic!] auf ungewöhnliche Schwierigkeiten gestossen. Pensionen und kleinere Hotels nehmen wegen ReisegesellschaftsVorbestellungen keinen Gast für 3 Wochen auf. Private Zimmer sind nicht zu haben oder stinkig und unmöglich. In den grossen Hotels kostet das Zimmer 10 Mark, das sind 300 Mark monatlich, die von meinem Honorar abgehen! Ich bin gestern den ganzen Tag zu Fuss und im Auto durch Stuttgart gerast. Ich war erschöpft und traurig.«2
Der Verlag hatte Koeppen zunächst in einem kleinen Hotel untergebracht, in einer »Dachkammer« mit »[s]chräge[n] erdrückende[n] Wände[n]«3, in der der Autor nicht bleiben will. Einstweilen bezieht Koeppen also die, wie er später schreiben wird, Gefängniszelle im sogenannten Bunkerhotel, dem »Hotel am Marktplatz«, das nach Kriegsende im Tiefbunker unter dem Stuttgarter Marktplatz eingerichtet wird. Im Brief an Marion verweist er wiederum auf die finanzielle Belastung: »Das kostet 7,00 Mark am Tag. Wahrscheinlich«, so merkt Koeppen an, »werde ich am Dienstag in das Hotel Ketterer ziehen […]. Kosten 12 Mark am Tag, Kosten, die mir abgezogen werden«4 (Abb. 1). Warum also, so stellt sich zunächst die Frage, überhaupt dieser Ortswechsel vom heimischen Schreibtisch in München nach Stuttgart, der neben dem geschilderten Stress vor allem zusätzliche Kosten verursacht, die offenbar nicht vom Verlag übernommen werden?
2 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, erster Brief vom 24. April 1953 (WKA Sig. 25559); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 32. 3 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, Brief vom 23. April 1953 (WKA Sig. 25605); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 30. 4 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, zweiter Brief vom 24. April 1953 (WKA Sig. 25591); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 34.
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2.
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Rückzugsorte zum Schreiben
In einem Gespräch mit Horst Bienek bekennt Koeppen 1962: »Ich arbeite ungern und unstet in meiner Wohnung.«5 Wie private Schnappschüsse eindrücklich zeigen, türmen sich im Arbeitszimmer der Münchner Wohnung in der Widenmayerstraße, die Koeppen jedoch erst 1967 beziehen wird, wahre Papierberge, in denen man sich durchaus verzetteln kann (Abb. 2). Günter und Hiltrud Häntzschel formulieren es noch drastischer:
Abb. 2: Private Aufnahme des Arbeitszimmers in der Münchner Widenmayerstraße.
»Auf Fotografien in Feuilletons, in Dokumentarfilmen und Fernsehbeiträgen wird man in den folgenden Jahren dieses Bild sehen: Der Schriftsteller Wolfgang Koeppen im Chaos seines Arbeitszimmers; vollgestopfte Bücherregale, der Schreibtisch überbordend von Papier, kaum Platz für die Schreibmaschine, der Fußboden nur begehbar im Slalom zwischen Zeitungsstapeln und Bücherbergen.«6
Auch der Nachlass bestätigt diesen Eindruck: Allein 10.000 Bücher, aber auch unzählige Zeitschriften, Zeitungsartikel und Briefe belegen eine Sammelleiden5 Wolfgang Koeppen im Gespräch mit Horst Bienek: Werkstattgespräch [1962]. In: Wolfgang Koeppen. Einer der schreibt. Gespräche und Interviews. Hrsg. von Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995, S. 24. 6 Günter Häntzschel und Hiltrud Häntzschel: Wolfgang Koeppen. 1. Aufl. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006 (Suhrkamp BasisBiographie 12), S. 63.
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schaft, die vor allem dem bedruckten oder beschriebenen Papier gilt. Sie lässt Koeppen von den Schulheften der Mutter über die Korrespondenz der Familie Köppen Ende des 19. Jahrhunderts bis hin zu Belegen und Quittungen quer durch die Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts scheinbar alles aufbewahren und erschwert womöglich ein strukturiertes Arbeiten. 1961 befragt die Wochenzeitschrift »Die Zeit« 19 Schriftsteller und eine Schriftstellerin, die als vorgebliche Repräsentanten der deutschen Literatur über das Dichterdasein Auskunft geben. Unter der Überschrift »So leben unsere Schriftsteller heute« fasst Rudolf Walter Leonhardt die Ergebnisse pointiert zusammen: »Der deutsche Schriftsteller von heute […] hält sich ziemlich streng an nüchterne Arbeitszeiten und den eigenen Schreibtisch als Arbeitsplatz.« Einzig Koeppen schreibt offenbar gerne an anderen Orten: »›Die Unruhe treibt mich zum Schreibtisch‹«, so der Autor, »›und von ihm fort. Ich schätze Einsamkeit, fremde Städte, unpersönliche Hotelzimmer‹«.7 Der Schweizer Autor Paul Nizon, der die Schriftstellertätigkeit als »ein Synonym für Einsamkeit« beschreibt, bemerkt 2016 in einem Gespräch mit Andreas Schwab: »In der Schriftstellerei gehört die Abkapselung dazu.«8 Ähnlich äußert sich der Kunsthistoriker Walter Grasskamp: »Autoren neigen zum Rückzug und geben gerne zu erkennen, daß [sic!] sie vor allem in Ruhe gelassen werden wollen, weil diese nun einmal ihre wichtigste Produktivkraft ist.«9 Ruhe findet Koeppen in seinem Zuhause augenscheinlich nicht. »Die Pension Biederstein, in der ich schreibe«, berichtet der Autor seinem Verleger Henry Goverts bereits im November 1952 in einem Brief, »tut mir wohl. Aber die Wohnung in der Ungererstrasse ist ein wogendes Fegefeuer, nah, beunruhigend, und ich kehre jeden Abend heim, ohne mich dort daheim zu fühlen. Umbauten geschehen da zur Zeit, eine Dekoration wird errichtet wie zu einem bürgerlichen Bühnenweihefestspiel der Lebensangst«.10
Später wird Koeppen seinem Verleger und Freund Siegfried Unseld schreiben: »Ich hätte nicht heiraten dürfen. Ich bin ein Junggeselle. Fähig, allein zu sein.
7 Rudolf Walter Leonhardt: So leben unsere Schriftsteller heute. Fortsetzung und Schluß. In: Die Zeit 44 (1961), Zeitungsausschnitt aus dem Nachlass Koeppens (WKA Sig. 7448). 8 Paul Nizon im Gespräch mit Andreas Schwab: »Ich war immer gejagt von meiner Schreibsucht«. Interview mit Paul Nizon, Robert Walser Zentrum Bern, 24. 06. 2016. In: strauhof. Schreibrausch – Faszination Inspiration. 10. 02. 2017–07. 05. 2017. Der Reader zur Ausstellung. Hrsg. von Andreas Schwab/Magnus Wieland. Zürich: DAZ 2017, S. 130. 9 Walter Grasskamp: Das verborgene Gesicht. Über Literatur und Fotografie. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. H. 672 (2005), S. 309. 10 Wolfgang Koeppen an Henry Goverts, Brief vom 13. November 1952 (UB Sig. 24419). Wolfgang Koeppens Korrespondenz mit dem Verleger Henry Goverts des Scherz & Goverts Verlag Stuttgart befindet sich im Besitz der Universitätsbibliothek Greifswald (UB).
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Verlangend nach Einsamkeit.«11 Ruhe und Einsamkeit zum Arbeiten findet Koeppen in Verlagsräumen, Arbeitswohnungen und Hotelzimmern. Bereits für das Schreiben seines literarischen Debüts »Eine unglückliche Liebe« (1934) wird Koeppen »freundschaftlich eingesperrt von seinem Verleger Bruno Cassirer (1872–1952), der ihn zur Arbeitsdisziplin erziehen will«. Jörg Döring weist im Kommentar der Werkausgabe zum Debütroman auf die für Koeppen typische Arbeitsweise hin: »Eine relativ kurze Schreibzeit, Termindruck, verordnete Klausur, ein wählerischer Umgang mit Schreiborten, allerlei Arrangements gegen Ablenkungsbereitschaft: Vom ersten Roman an ist die Koeppensche Schreibszene erkennbar«.12 Das Hotelzimmer als Schreibort dient nicht nur der nötigen Disziplinierung, sondern wird zugleich auch zu einem Zufluchtsort für Koeppen, der oftmals der heimischen Situation, die von Marions Alkoholkrankheit bestimmt wird, zu entkommen sucht. So schreibt Koeppen etwa im April 1972 an Unseld: »[…] Aggressionen gegen mich und alle Welt, Tobsucht, Schreie, Tätlichkeiten […]. Ich fliehe auf die Strasse, mit dem letzten Geld ins Hotel […].«13 Auch 1953 flieht Koeppen förmlich aus der Münchner Wohnung. »Es steht mit der Arbeit gefährlich«, schreibt er Marion aus Stuttgart. Die räumliche Distanz lässt ihn das bisher Geschriebene überdenken. »Durch die Spannungen der Ungererstrasse«, erläutert Koeppen, »ist in das Manuskript das persönliche Drama hineingerutscht, das mit der Geschichte des Abgeordneten (die ich schreiben wollte) keine allzu glückliche Verbindung eingegangen ist […]«. Den vielen Briefen, die er während seines Aufenthalts in Stuttgart an seine Frau schreibt, lässt sich entnehmen, dass Marion offenbar eine Liebesbeziehung zu ihrer Freundin Gerda Kiefl unterhält. Koeppen resümiert: »Der Abgeordnete hat in dem Münchner Manuskript eine lesbische Frau […]. Das hat mit der politischen Handlung überhaupt nichts zu tun […].«14 Einen Tag später hat er die »ganze lesbische Geschichte […] aus dem Roman geworfen«.15 Ohnehin wird er in Stuttgart mit dem Buch gänzlich neu beginnen, »da in München zuviel Un-
11 Wolfgang Koeppen an Siegfried Unseld, Brief vom 13. November 1981. In: »Ich bitte um ein Wort …«. Wolfgang Koeppen – Siegfried Unseld. Der Briefwechsel. Hrsg. von Alfred Estermann/Wolfgang Schopf. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006, S. 372. 12 Jörg Döring: Kommentar. In: Wolfgang Koeppen: Eine unglückliche Liebe. Hrsg. von Dems. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2007 (Wolfgang Koeppen, Werke, Bd. 1), S. 170. 13 Wolfgang Koeppen an Siegfried Unseld, Brief vom 24. April 1972, Der Briefwechsel. 2006, S. 232. 14 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, Brief vom 27. April 1953 (WKA Sig. 25616); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 35. 15 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, Brief vom 28. April 1953 (WKA Sig. 25624); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 37.
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stimmendes hineingeraten war«.16 Bereits 1952 erklärt Koeppen in einem Interview: »Der Schriftsteller […] braucht eine gewisse Ordnung und eine gewisse Disziplin. Vor allem muß er sich von seinen häuslichen Verhältnissen freimachen, um unbeeinflußt von Äußerlichkeiten seiner Phantasie Ausdruck geben zu können.«17 Trotz der räumlichen Trennung erschwert die heimische Situation dennoch die Arbeit am Roman. »[…] und ich sitze hier«, klagt Koeppen, »bei diesem dummen Buch, in das doch immer wieder störend die Münchner Gedanken fliessen«.18 Am 29. April schreibt er: »Oft habe ich die grösste Lust (Unlust) den Roman hinzuwerfen.«19 Er beteuert Marion, dass er gerne nach Hause käme, befürchtet jedoch, dort »nicht […] von früh bis um 6 ungestört schreiben«20 zu können. Scheinbar bleibt Koeppen keine Wahl. »Ich muss ja dieses Buch schreiben! Es gibt überhaupt keinen anderen Weg am Untergang vorbei«21, macht er in einem der Briefe an seine Frau deutlich. Koeppen plant, in Stuttgart »bis zur Auflösung [zu] arbeiten«.22 Ein ums andere Mal rechnet er Marion die Tage vor, die er »[t]rotz wahnsinnigen Fleisses«23 noch zum Schreiben des Romans benötigt. Später wird der Kritiker Marcel Reich-Ranicki feststellen, dass der »von der Idee her […] fabelhaft[e]« Roman »Das Treibhaus« auch seine Schwächen hätte, »weil er [Koeppen – A. W.] ihn blitzschnell geschrieben hat«.24 Der Autor selbst, der kurz vor Drucklegung bei »der genauen Durchsicht des Manuskriptes […] das Buch erfreulicherweise besser und gelungener« findet, als
16 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, Brief vom 10. Mai 1953 (WKA Sig. 25623); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 50. 17 Wolfgang Koeppen im Gespräch mit Hans Georg Brenner und Anne Andresen: Von der Lebensdauer des Zeitromans [1952]. In: Wolfgang Koeppen. Einer der schreibt. Gespräche und Interviews. Hrsg. von Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag 1995, S. 15. 18 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, Brief vom 1. Mai 1953 (WKA Sig. 25603); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 40. 19 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, Brief vom 29. April 1953 (WKA Sig. 25561); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 39. 20 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, Brief vom 10. Mai 1953 (WKA Sig. 25623); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 51. 21 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, zweiter Brief vom 4. Mai 1953 (WKA Sig. 25619); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 43. 22 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, Brief vom 28. April 1953 (WKA Sig. 25624); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 37. 23 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, Brief vom 10. Mai 1953 (WKA Sig. 25623); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 50. 24 Marcel Reich-Ranicki im Gespräch mit Peter Voß (2001). In: Lauter schwierige Patienten. Wolfgang Koeppen, Sendereihe 12. Erstausstrahlung im Südwestfernsehen. [Youtube; 30:50– 31:10 min]. (letzter Zugriff: 19. 02. 2020); vgl. auch ebd.
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es ihm »nach dem Schreiben erscheinen wollte«, bemerkt in einem Brief an seinen Verleger Henry Goverts: »Eine gewisse Schwäche empfinde ich leider im Anfang des V. Kapitels. Hier sinkt für ein paar Seiten der Stil ab, ist matter, lustloser und nicht so dicht und verdichtet wie sonst. Ich bedauere das, konnte es aber jetzt zu dieser schnellen In-Satz-Gabe nicht mehr ändern. Ich muss mich mit Thomas Mann trösten, der irgendwo einmal sagt, jeder Roman brauche auch seine langweiligen Partien. Ich bin an sich nicht für Langeweile im Roman, aber vielleicht war ich erschöpft.«25
Tatsächlich geraten Koeppens Briefe aus Stuttgart oftmals zur Klage über Erschöpfung oder Unzufriedenheit. »Ich arbeite ohne Lust. Manchmal voll Wut. Aber ich arbeite 10 Stunden«26, vermeldet er lakonisch etwa am 4. Mai. Verschiedentlich ist auch von Kreislaufstörungen und schlimmen Träumen die Rede. »Mir geht es in jeder Hinsicht schlecht!«27, schreibt er Marion nicht nur einmal. Beinahe beschwörend bittet er sie, die Beziehung zu »K.« aufzugeben, und bemüht sich augenscheinlich, jeden weiteren »Zank« zu vermeiden.28 Bisweilen lobt er Marions Briefe und ihre Gespräche am Telefon. Seinem Unmut macht Koeppen auf andere Weise Luft. So schimpft er etwa über den Verlag, dem er nur »mit Mitteln der Erpressung«29 weitere Zugeständnisse abringen kann, oder beschließt einen der Briefe mit den Worten: »Ich hasse diese Stadt.«30 Gelegentlich wendet sich sein Groll auch gegen den Roman, den er hier schreibt. »Dieses furchtbare, dieses schwarze, dieses niederdrückende, tausendmal durch die Lauge des Pessimismus gezogene Buch!«31, verflucht er am 21. Mai ein Werk, das später »als der Roman über die frühe Bundesrepublik schlechthin«32 gelten und im Jahr 1987 von Peter Gödel sogar verfilmt werden sollte. 25 Wolfgang Koeppen an Henry Goverts, Brief vom 4. September 1953 (UB Sig. 24434). 26 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, erster Brief vom 4. Mai 1953 (WKA Sig. 25620); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 42. 27 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, zweiter Brief vom 24. April 1953 (WKA Sig. 25591); vgl. auch Brief vom 2. Mai 1953 (WKA Sig. 25618), erster Brief vom 4. Mai 1953 (WKA Sig. 25620) und Brief vom 24./25. Mai 1953 (WKA Sig. 25610); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 34, 40, 41, 71. 28 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, erster Brief vom 24. April 1953 (WKA Sig. 25559); vgl. auch ebd; vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 32. 29 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, Brief vom 10. Mai 1953 (WKA Sig. 25623); vgl. auch Brief vom 12. Mai 1953 (WKA Sig. 25596); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 51, 53. 30 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, dritter Brief vom 4. Mai 1953 (WKA Sig. 25597); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 44. 31 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, zweiter Brief vom 21. Mai 1953 (WKA Sig. 25584); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 66. 32 Benedikt Wintgens: Treibhaus Bonn. Die politische Kulturgeschichte eines Romans. Düsseldorf: Droste Verlag 2019 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Reihe: Parlament und Öffentlichkeit 8, Bd. 178), S. 17. Von der zeitgenössischen Kritik und den Lesern wird Koeppens Bonn-Roman »Das Treibhaus«, der am 4. November 1953 im Scherz & Goverts Verlag Stuttgart erscheint, zwar mit großem Interesse,
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Gleich einer wahren Tirade entlädt sich Koeppens Unmut auf die scheinbar unerträgliche Hitze, die seinen Aufenthalt in Stuttgart von Beginn an begleitet. »Eine Hochsommerhitze herrscht schon in diesem Kessel. Es ist 8 Uhr früh, und die Sonne brennt glühend […]«33, stellt Koeppen bereits einen Tag nach seiner Ankunft in einem Brief an Marion fest. Unter den Zeilen, die er am Abend des 4. Mai auf der Schreibmaschine tippt, notiert er handschriftlich: »Eine irre drückende Schwüle.«34 Diese wiederkehrenden Einlassungen geraten zu einer Art Topos, der für die Briefe an Marion konstitutiv ist. Auch Oliver Kobold zählt Koeppens Leiden unter der anhaltenden Hitze zu »den Hauptmotiven des parallel zum ›Treibhaus‹ entstehenden, des Stuttgarter Romans«.35 Örtliche Wettermeldungen dieser Zeit bestätigen durchaus Koeppens Empfinden, sodass Benedikt Wintgens in seiner Studie zum »Treibhaus« zu dem Schluss kommt: »In der Tat war das Frühjahr 1953 außergewöhnlich warm.«36 Nach dem kurzen Intermezzo in dem unterirdischen Hotel arbeitet Koeppen seit Ende April im »Hotel Ketterer«. Bereits am 5. Mai will er aus diesem »Sonnenbackofen« ausziehen und »schlimmstenfalls wieder in das Bunkerhotel. Das ist dann wenigstens ein kühler Sarg«37, schreibt Koeppen an Marion. Doch der Verlag bringt ihn am 13. Mai zunächst im »Hotel Marienplatz« unter. Koeppen ist unzufrieden, das Quartier und die neue Umgebung verstimmen ihn.38 Seine Pläne, wieder in den Bunker zu ziehen, werden drängender: »Leider hatte ich gestern, ich nehme an, der Hitze wegen, wieder einen schlechten Tag. Schlecht gesundheitlich und schlecht arbeitsmässig. Ich überlege deshalb«, bemerkt Koeppen schließlich am 21. Mai, »ob ich nicht doch wieder in den Bunker ziehe; denn dort ist es kühl«39 (Abb. 3). Die Suche nach dem idealen Schreibort entwickelt sich zu einer Odyssee. Oliver Kobold sieht darin eine Form der Prokras-
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allerdings recht ambivalent aufgenommen. In den zahlreichen Rezensionen und Leserbriefen wird mitunter harsche Kritik nicht nur am Buch, sondern auch am Autor geübt. Zur Rezeption vgl. Hans-Ulrich Treichel: Kommentar. In: Wolfgang Koeppen: Das Treibhaus. Hrsg. von Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2007 (Wolfgang Koeppen, Werke, Bd. 5), S. 207–236. Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, Brief vom 23. April 1953 (WKA Sig. 25605); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 30. Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, dritter Brief vom 4. Mai 1953 (WKA Sig. 25597); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 44. Oliver Kobold: »Keine schlechte Klausur«. Wolfgang Koeppens »Treibhaus« und das Stuttgarter Bunkerhotel. Hrsg. von Thomas Schmidt. Marbach/Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 2008 (Spuren 82), S. 10; vgl. auch ebd. Wintgens, Treibhaus Bonn. 2019, S. 46f. Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, erster Brief vom 5. Mai 1953 (WKA Sig. 25600); vgl. auch ebd.; vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 46. Vgl. Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, Brief vom 13. Mai 1953 (WKA Sig. 25602); vgl. auch Brief vom 16. Mai 1953 (WKA Sig. 25583); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 54, 58. Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, erster Brief vom 21. Mai 1953 (WKA Sig. 25586); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 65.
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Abb. 3: Brief Wolfgang Koeppens an seine Frau Marion vom 21. Mai 1953.
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Abb. 4: Brief Wolfgang Koeppens an seine Frau Marion vom 22. Mai 1953 aus dem Bunkerhotel.
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tination: »Stets bedeutet diese Rastlosigkeit, wie unbewusst auch immer, auch ein von Selbstzweifeln gespeistes Aus- und Zurückweichen vor der Arbeit.«40 Koeppen lässt dem ersten Brief, den er vermutlich am Morgen geschrieben hat, an diesem Tag noch zwei weitere folgen. »Jetzt am Mittag ist ein wahrer Hitzerekord. Alles brennt«41, dramatisiert er wiederum die schweißtreibende Situation in Stuttgart, um Marion am selben Abend lapidar zu verkünden: »Wohl doch Bunker. Alles klebt. Alles!«42 Bereits am nächsten Tag meldet er sich wirklich aus dem Bunkerhotel: »Hier kommt es einem zunächst eisig vor. Hoffentlich wird es mir hier besser gehen, – sonst muss ich alles aufgeben […]«43 (Abb. 4). Tatsächlich findet Koeppen im Stuttgarter Bunkerhotel die nötige Abgeschiedenheit, die ihn produktiv werden lässt, sodass sich die »Schwierigkeiten, zum Schreiben zu kommen, legen«.44 Ohne Ablenkung kann er hier in kurzer Zeit die Arbeit am »Treibhaus« beenden. Im Folgenden werden verschiedene Seiten dieses unterirdischen Schreibortes beleuchtet: Das Bunkerhotel wird nicht nur zum Rückzugsort für Koeppen, es ist zugleich Erinnerungsort und Gegenort zum geschäftigen Leben oben. Später wird Koeppen sagen: »Das Bunker-Hotel in Stuttgart war übrigens keine schlechte Klausur.«45
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Der unterirdische Schreibort
Seit dem Zweiten Weltkrieg »ist das Wort ›Bunker‹ […] unverrückbar negativ besetzt. […] Denn der Bunker diente nun nicht mehr der Bevorratung, sondern auch als Schutzraum im Bombenkrieg«46, so der Bauhistoriker Dietrich W. Schmidt. Unterirdische Schutzanlagen, die an den Krieg erinnern, gibt es noch heute, doch werden sie kaum wahrgenommen. Auch das ehemalige Bunkerhotel in Stuttgart, das bis 1985 in Betrieb war, ist ein verborgener und weitestgehend vergessener Ort, denn es handelt sich um einen Tiefbunker, der einen Meter unter dem Niveau des Marktplatzes liegt.47 Mit dem Rückbau des verglasten 40 Kobold, »Keine schlechte Klausur«. 2008, S. 10. 41 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, zweiter Brief vom 21. Mai 1953 (WKA Sig. 25584); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 66. 42 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, dritter Brief vom 21. Mai 1953 (WKA Sig. 25585); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 67. 43 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, Brief vom 22. Mai 1953 (WKA Sig. 25612); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 68. 44 Kobold, »Keine schlechte Klausur«. 2008, S. 5. 45 Koeppen im Gespräch mit Bienek, Werkstattgespräch [1962]. 1995, S. 24. 46 Dietrich W. Schmidt: Vom Luftschutzraum zur Zivilisationshöhle. Der Stuttgarter Marktplatzbunker. In: BUNKERbiotop. Im Bunkerhotel unter dem Marktplatz von Stuttgart. Hrsg. von Jörg Esefeld/Werner Lorke. Stuttgart: edition esefeld & traub 2006, S. 13. 47 Vgl. ebd., S. 18.
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Hotelzugangs, dem sogenannten Glashäusle, verschwand im Jahr 1997 der letzte sichtbare Verweis auf den Luftschutzbau, der mit einer Fläche von etwa 40 x 50 m2 der größte der sieben unterirdischen Bunker in Stuttgart ist.48 In seinen Briefen weist Koeppen verschiedentlich auf die Besonderheiten dieses Kriegsbaus hin. »Heute sitze ich noch im Bunker«, schreibt er Marion Ende April: »Es ist unheimlich, und die Maschine dröhnt mit ihrem Klappern gegen die Betonwände.«49 Der Klang der mechanischen Schreibmaschine begleitet Koeppen auch beim Schreiben der Briefe und verleiht seinem unverzichtbaren Schreibwerkzeug eine besondere Präsenz, die der Stahlbeton der Bunkerwände noch verstärkt. Immer wieder weist Koeppen auf den Lärm beim Schreiben hin. Dennoch geht es ab Ende Mai mit der Arbeit im unterirdischen Hotel offenbar gut voran. »Ich sitze im Bunker und schreib und schreibe«50, berichtet Koeppen Marion, um zwei Tage später zu vermelden: »Gestern sass ich von 8 Uhr früh bis 8 Uhr abends unentwegt im Bunker an der Maschine.«51 Dabei ist das Hotelzimmer kein komfortabler Ort. »[D]ie Einbetträume sind mehr Kabinen als Zimmer. Das Neonlicht strengt beim Schreiben die Augen an. Die Luft ist immer etwas dumpf«52, so listet Koeppen die offensichtlichen Nachteile dieses unterirdischen Schreibortes auf (Abb. 3). Die von ihm umschriebene Enge des Raumes versucht 2019/20 eine Ausstellung des Wolfgang-Koeppen-Archivs, die im Greifswalder Geburtshaus des Schriftstellers den ungewöhnlichen Entstehungsort des Romans »Das Treibhaus« näher beleuchtet, erfahrbar zu machen53: Bei einer Raumhöhe von etwa 2,65 m ist das Hotelzimmer im Stuttgarter Bunkerhotel nur 2,05 m breit und 2,90 m tief.54 Im 48 Vgl. ebd., S. 16, 18 und 21f. Der Zugang zur Treppe, die in den Bunker hinabführt, ist nunmehr mit einer Platte verschlossen. Zur »Langen Nacht der Museen« ist das unterirdische Bauwerk für Besucher gewöhnlich geöffnet. 49 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, Brief vom 27. April 1953 (WKA Sig. 25616); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 36. 50 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, Brief vom 28. Mai 1953 (WKA Sig. 25614); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 75. 51 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, zweiter Brief vom 30. Mai 1953 (WKA Sig. 25606); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 79. 52 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, erster Brief vom 21. Mai 1953 (WKA Sig. 25586); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 65. 53 Die Vernissage der Ausstellung »›Es ist wie in einer Zuchthauszelle …‹ – Das Stuttgarter Bunkerhotel als Schreibort« fand im Juni 2019 im Rahmen der Greifswalder Koeppentage statt. Weitere Informationen und Bilder zur Ausstellung unter www.koeppen-archiv.de. 54 Vgl. Schmidt, Der Stuttgarter Marktplatzbunker. 2006, S. 18. Neben größeren Räumen für die sanitären Einrichtungen sowie die nötige Technik, wie Heizung, Pumpen und Belüftungsanlage, wurden beim Bau des Bunkers für die Schutzsuchenden vier größere Aufenthaltsräume angelegt. »Die eigentlichen Schutzräume sind in acht langen Reihen von 12 Räumen angeordnet […].« Vier der »kasemattenartigen Räume«, die sich »an den Enden der mittleren Doppelreihe« befinden, sind 2,45 m breit und 3,10 m tief. Für das spätere Hotel wurden im Tiefbunker zudem zehn Doppelzimmer eingerichtet (ebd.; vgl. auch S. 18 und 20). Es wäre
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fensterlosen Raum, nur von Wänden umgeben, »sitzt er, der Bunkermensch, schon wieder an einem wackligen Tisch und bemüht sich, in seiner düsteren Geschichte fortzufahren«55 (Abb. 5). Indem Koeppen die Situation vielleicht etwas hyperbolisch zuspitzt, stilisiert er sich in diesem Brief an seine Ehefrau förmlich zum armen Poeten, der unter unwirtlichen Bedingungen dichten muss. Dabei ist anzunehmen, dass die Hoteliersfamilie Zeller, die bereits im Sommer 1945 das Bunkerhotel unter dem Namen »Hotel am Marktplatz« in Stuttgart eröffnet, gerade mit der Ausstattung die gegebenen Nachteile des Bauwerkes kompensieren wollte. Werner Lorke und Jörg Esefeld, die im Jahr 2006 mit ihrer Publikation »BUNKERbiotop« an den Stuttgarter Tiefbunker erinnern, dokumentieren nicht nur die Vergänglichkeit des nunmehr ungenutzten Gebäudes. Anhand verschiedener Aufnahmen wird zudem deutlich, dass jedes Hotelzimmer mit einem eigenen Tapetenmuster, das mit dem Muster der Lampe korrespondiert, in dem Kriegsrelikt offenbar eine heitere Stimmung verbreiten sollte (Abb. 6). Dennoch lassen vermutlich die langen Bunkergänge, das fehlende Tageslicht, die metallenen Türen und eine Geräuschkulisse aus Belüftungstechnik und Widerhall das Hotel – das Koeppen zumeist nur den Bunker nennt – befremdlich erscheinen. Koeppen schreibt Marion: »Der Bunker hat 100 Zimmer, und merkwürdigerweise sind sie alle besetzt. Holländer kommen in grossen Autobussen angefahren und kriechen hier in den Bunker. Es ist laut. Es hallt jeder Schritt in den Betonwänden zurück. Nachts schlagen die eisernen Türen, und zuweilen setzt die grosse Lüftung ein und zieht durch die Kammern wie ein Wetter durch ein Bergwerk«56 (Abb. 5, 7).
Obgleich er klagt, ist Koeppen ebenso wie die Touristen, die er in seinem Brief gleich einer Plage in die Zellen des unterirdischen Hotels einfallen lässt, von diesem Kriegsbau und der Möglichkeit, mitten in der Stadt untertauchen zu können, wohl auch fasziniert. »Ich bin ein Zuschauer, ein stiller Wahrnehmer, ein Schweiger, ein Beobachter«, bekennt Koeppen, als er 1962 den Georg-BüchnerPreis erhält, »ich scheue die Menge nicht, aber ich genieße gern die Einsamkeit in der Menge, und dann gehe ich in mein Zimmer, an meinen Tisch und schreibe
durchaus möglich, dass Koeppen beim zweiten Aufenthalt im »Hotel am Marktplatz« eines der etwas größeren Zimmer des Bunkerhotels bewohnte. Im Brief vom 4. Juni führt Koeppen die Kosten für das Hotelzimmer nun mit 8,50 Mark pro Tag an. Im April hat er noch 7,00 Mark bezahlt, allerdings könnte der niedrigere Preis auch nur für die Vorsaison gelten (vgl. Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, Brief vom 4. Juni 1953 [WKA Sig. 25590]; vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 85). 55 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, Brief vom 23. Mai 1953 (WKA Sig. 25604); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 69. 56 Ebd.
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Abb. 5: Aus einem Brief Wolfgang Koeppens an seine Frau Marion vom 23. Mai 1953.
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Abb. 6: Werner Lorke: Zimmer Nr. 63, Stuttgarter Bunkerhotel, 2006.
oder versuche es wenigstens«.57 Angesprochen auf den idealen Schreibort betont Koeppen im selben Jahr: »Am liebsten arbeite ich in dem größten Hotel in einer mir fremden großen Stadt. Es muß nicht das beste Hotel sein, aber das Haus muß mindestens hundert Zimmer haben.«58 Mit seinen 96 Zimmern entspricht das Bunkerhotel in Stuttgart durchaus dieser Vorstellung.
57 Wolfgang Koeppen: Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1962. In: Ders.: Berichte und Skizzen II. Hrsg. von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Dagmar von Briel und Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986 (Wolfgang Koeppen. Gesammelte Werke in sechs Bänden, Bd. 5), S. 253. 58 Koeppen im Gespräch mit Bienek, Werkstattgespräch [1962]. 1995, S. 24.
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Abb. 7: Werner Lorke: Belüftungsrohr (Südost Eingang), Stuttgarter Bunkerhotel, 2006.
Bei seinem zweiten Aufenthalt scheint sich Koeppen dort tatsächlich wohlzufühlen und nimmt als versierter »Beobachter in der Menge«59 auch das Geschehen im Hotel wahr, schreibt er doch Marion: »Heute – es ist 5 – habe ich den Bunker noch nicht verlassen. Wir [Hervorhebung – A. W.] erwarten gegen Abend eine Reisegesellschaft aus Madrid; Spanier, die im Omnibus schwitzend durch Europa fahren, um hier im Luftschutzbunker zu übernachten. Der Koch ist schon nervös […].«60 Gleichwohl schwingt mit dem Verweis auf die vorgängige Funktion als Schutzanlage auch Unverständnis für die augenscheinliche Sensationslust der Touristen mit. Dietrich W. Schmidt bemerkt in seinem Aufsatz zum Stuttgarter Tiefbunker: »Taxifahrer berichteten noch Jahre nach der Schließung [des Hotels – A. W.] von ehemaligen amerikanischen Soldaten, die nach dem ›bunker hotel‹ fragten. Für sie mag ein besonderer Reiz darin gelegen haben, in einem dieser ›Nazi-Bunker‹ zu übernachten, die man einst erfolglos bombardiert hatte. So war das Hotel natürlich keines wie alle anderen und ein Aufenthalt darin erzeugte ungewöhnliche Stimmungen.«61
59 Wolfgang Koeppen: Fragebogen. Frankfurter Allgemeine Magazin. 18. April 1980. In: Verlagsprospekt Suhrkamp Verlag. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006, S. 12. 60 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, Brief vom 24./25. Mai 1953 (WKA Sig. 25610); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 71. 61 Schmidt, Der Stuttgarter Marktplatzbunker. 2006, S. 20.
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Ab Ende November 1940 entsteht innerhalb eines halben Jahres unter dem Stuttgarter Marktplatz ein sogenannter Luftschutzbunker. Vom Sommer 1941 bis zum April 1945 erlebt die Stadt 53 Bombenangriffe. Dabei wird die Bebauung des Marktplatzes fast vollständig zerstört, der Tiefbunker hingegen bleibt unbeschadet. Obgleich der Bau nur für 1.010 Personen ausgelegt ist, finden hier zeitweilig bis zu 3.000 Menschen Schutz.62 Auf den Fotografien von Werner Lorke aus dem Jahr 2006 erscheinen auf den Bunkerwänden unter der abblätternden Farbe mitunter palimpsestartig die alten Schriftzüge, die an die ursprüngliche Funktion des Bauwerkes erinnern. Eher propagandistisch wirkt der Hinweis in einem der Vorräume: »LS-Bunker [Luftschutzbunker – A. W.] dienen ausschließlich dem Schutze der Menschen«63, da erst die nationalsozialistische Kriegspolitik den Bau solcher Gebäude notwendig macht (Abb. 8). Auch Wolfgang Koeppen muss sich während des Krieges vor einer Bombardierung in Sicherheit bringen. Im Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki berichtet er im Oktober 1985: »Dann kam der erste große Luftangriff auf Berlin, im Herbst 1943. Ich erlebte ihn im Luftschutzraum des U-Bahnhofs Nollendorfplatz.«64 Das Wohnhaus, in dem Koeppen ein Zimmer gemietet hat, wird vollständig zerstört. In seinen Briefen aus dem Bunkerhotel erinnert jedoch keine Zeile an diese Erfahrung. In vielen Städten dienen die Schutzräume nach dem Krieg als Notunterkunft oder Hotel. Nicht nur in Stuttgart, sondern u. a. auch in Frankfurt/Main, Berlin oder Dortmund werden ebenso Tiefbunker in diesem Sinne weiter genutzt. Dennoch irritiert die Vorstellung, dass Koeppen, der selbst während des Krieges offenbar einen Luftangriff in einem unterirdischen Schutzraum übersteht, ausgerechnet den ehemaligen Luftschutzbunker in Stuttgart als Schreibort wählt. »Heute erscheint das Szenario beklemmend«, bemerkt auch Wintgens, »gerade angesichts der schlimmen Erinnerungen, die viele Menschen an Luftschutzkeller hatten. Doch im ›Wiederaufbau‹ fand man die Wiederverwendung der Kriegsimmobilie vor allem praktisch, wenigstens für eine Übergangszeit«.65 Das »Hotel am Marktplatz« in Stuttgart ist ein durch die ursprüngliche Funktion als Schutzraum durchaus symbolisch aufgeladener Ort, der an die Folgen der NSDiktatur erinnert. Die buntgemusterten Tapeten kaschieren nur oberflächlich die vormals grauen Betonwände des Tiefbunkers. Auch für Koeppen bleiben die 62 Vgl. ebd., S. 16. 63 Werner Lorke: Rundgang durch den Bunker. In: BUNKERbiotop. Im Bunkerhotel unter dem Marktplatz von Stuttgart. Hrsg. von Jörg Esefeld/Werner Lorke. Stuttgart: edition esefeld & traub 2006, S. 59. 64 Wolfgang Koeppen im Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki [1985]. In: Wolfgang Koeppen. Ohne Absicht. Hrsg. von Ingo Hermann. Göttingen: Lamuv 1994 (Zeugen des Jahrhunderts), S. 129. 65 Wintgens, Treibhaus Bonn. 2019, S. 45.
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Abb. 8: Werner Lorke: »LS-Bunker dienen ausschließlich dem Schutze der Menschen«, Vorraum Nord, Stuttgarter Bunkerhotel, 2006.
architektonischen Besonderheiten des Kriegsrelikts präsent. Immer wieder geht er in den Briefen an Marion auf die eigenartige Atmosphäre seines unterirdischen Schreibortes ein. Gerade die Differenz zu einem üblichen Hotel ruft die Vorgeschichte des Stuttgarter Bunkerhotels ins Gedächtnis. Mochten es zunächst vor allem pragmatische Entscheidungen gewesen sein, die Koeppen hier seinen zweiten Nachkriegsroman »Das Treibhaus« schreiben lassen, so ist das Bunkerhotel zugleich der ideale Ort, um als kritischer Beobachter des Zeitgeschehens in der Bundesrepublik den Prozess der Demokratisierung zu reflektieren.
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»Oben in Stuttgart ist es schwül. Hier herrscht eine Grabesluft«66, bemerkt Koeppen bereits im April und markiert in seinen Briefen das Bunkerhotel immer wieder als einen andersartigen Ort, der in gegensätzlicher Beziehung zum urbanen Raum steht. Isoliert vom geschäftigen Leben oben, wird der Bunker »mitten im Zentrum der um Wiederaufbau bemühten Stadt zu Koeppens ganz persönlichem Heterotop«.67 Dieser Gegenort ermöglicht es ihm, die Neuordnung der Gesellschaft zu hinterfragen und das politische Klima der noch jungen Bundesrepublik kritisch zu reflektieren. Als »Bunkermensch«68, wie sich Koeppen in seinen Briefen selbst betitelt, hält dieser mit dem im Bunker verfassten Roman »die Erinnerung wach an den inmitten von Fortschrittsoptimismus und beginnendem Wirtschaftswunder nur zu gerne verdrängten Zivilisationsbruch«69, stellt Oliver Kobold in seiner Untersuchung zum »Treibhaus« fest. Mit Blick auf seine Nachkriegsromane notiert Koeppen 1982 in Vorbereitung der Poetikdozentur in Frankfurt, dass aber – entgegen seiner Erwartung – Anfang der 1950er Jahre »kaum einer sich erinnern wollte«.70 Der Autor weist im Bonn-Roman »Das Treibhaus« darauf hin, dass das aktuelle Tagesgeschehen nur »einen Katalysator für die Imagination des Verfassers bildet«71 (S. 6), dennoch spiegelt der literarische Text durchaus die gesellschaftlichen und politischen Diskurse der Nachkriegszeit wider. Sowohl in der aktuellen Politik der Zeit als auch im Roman werden vor dem Hintergrund des Kalten Krieges Fragen der Wiedervereinigung und Wiederaufrüstung verhandelt. Zwei Jahre nach Schließung des Hotels listet man 1987 im damaligen Bundesamt für Zivilschutz den Bunker unter dem Stuttgarter Marktplatz offiziell als mögliche Zivilschutzanlage.72
66 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, zweiter Brief vom 24. April 1953 (WKA Sig. 25591); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 34. 67 Kobold, »Keine schlechte Klausur«. 2008, S. 5. 68 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, Brief vom 23. Mai 1953 (WKA Sig. 25604); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 68f. 69 Kobold, »Keine schlechte Klausur«. 2008, S. 7. 70 Wolfgang Koeppen: Frankfurter Poetik-Vorlesung (WKA MID 94-015). Angegeben sind die Manuskript-Identifikationsnummer (MID) und die Nummerierung der jeweiligen Seite. 71 Koeppen, Das Treibhaus. 2007 (Seitenangaben fortlaufend im Text). 72 Vgl. Schmidt, Der Stuttgarter Marktplatzbunker. 2006, S. 20.
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Treibhaus und Bunker
Die Schreibwerkstatt eines Autors »ist ein zentraler Imaginationsraum von Literatur«.73 Mit Erscheinen des Buches wird auch die Entstehungsgeschichte des Romans »Das Treibhaus« publik und mystifiziert damit den unterirdischen Schreibort74, der im Sinne Boris Tomasˇevskijs als wahrnehmbarer Hintergrund des literarischen Textes betrachtet werden kann. Augenscheinlich lässt Koeppen, der vom politischen Scheitern des Bundestagsabgeordneten Felix Keetenheuve erzählt, die eigenartige Atmosphäre und Architektur des Bunkerhotels auch in das Geschehen des Romans einsickern. »Obwohl es Tag war, brannten« im amerikanischen Kommissariat, das im Text als »eine nüchterne Konstruktion aus Beton, Stahl und Glas« beschrieben wird, »Tausende von Leuchtröhren«. In diesem Betonbau fährt der Protagonist zwar mit einem Aufzug zunächst »himmelwärts«, doch schließlich trifft er auf »einen langen neonerleuchteten Gang« mit »gekühlte[r] Luft aus einer Klimaanlage«. Alles hier erscheint Keetenheuve »geisterhaft, unwirklich und angenehm« (S. 96) und erinnert durchaus an die Gegebenheiten unter dem Marktplatz, die der Autor im Bunker vorfindet (Abb. 9). Auch wenn der Tiefbunker aus Stahlbeton besteht, so entsprechen die kabinenähnlichen Räume des Stuttgarter Bunkerhotels anscheinend dem Zimmer, das Keetenheuve »als künstlich erhelltes Aquarium« wahrnimmt. Der Autor lässt seinen Protagonisten zudem daran denken, »daß er selber gern in einem ähnlich zwielichtig erleuchteten Aquarium arbeitete« (S. 97). »Immer wieder wurden Parallelen gezogen zwischen dem lieber beobachtenden als handelnden, Gedichte von Baudelaire übersetzenden sowie sich in Entwürfen und unausgeführten Ideen verlierenden Politiker und seinem Schöpfer.«75 Auch das eigene Empfinden überträgt der Autor offenbar auf seinen Protagonisten. Koeppen macht vor allem die »Kessel-Hitze« in Stuttgart zu schaffen.76 »Heute bei Hitze schlecht gearbeitet«77, notiert er handschriftlich Ende Mai unter den Zeilen an Marion und lässt Keetenheuve im Roman ebenso leiden: »Er schwitzte sehr. Er war in Schweiß gebadet. Alles erregte ihn. Das Hemd klebte. Er fühlte sich wieder beengt und bedrückt« (S. 115). Auch der »Bunker-
73 Klaus Kastberger und Stefan Maurer: Vorwort. In: Die Werkstatt des Dichters. Imaginationsräume literarischer Produktion. Hrsg. von Dens. Berlin/Boston: de Gruyter 2017, S. 7. 74 Vgl. Kobold, »Keine schlechte Klausur«. 2008, S. 13. 75 Ebd., S. 8. 76 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, Brief vom 11. Mai1953 (WKA Sig. 25598); vgl. auch ebd.; vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 52. 77 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, Brief vom 23./24. Mai 1953 (WKA Sig. 25595); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 72.
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Abb. 9: Werner Lorke: Gang 1, Stuttgarter Bunkerhotel, 2006.
mensch ist krank und traurig. […] Alles bedrückte ihn«78, schreibt Koeppen Marion aus dem Stuttgarter Bunkerhotel. »Das Wetter in Bonn ist oft schwül, wie in einem Treibhaus«; diese einfache Feststellung belegt Wintgens anhand einer Studie, die zwischen 1947 und 1951 die Klimaverhältnisse untersucht. Danach ist Bonn sogar »die schwülste Stadt im nordwestdeutschen Raum«.79 Doch mit der titelgebenden Metapher verweist der Roman über die meteorologische Anspielung hinaus vor allem auf die »vielbeklagte Lebensferne des parlamentarischen Betriebs, der als künstlich und hermetisch abgeschlossen beschrieben wird«.80 Der Abgeordnete Keetenheuve 78 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, Brief vom 23. Mai 1953 (WKA Sig. 25604); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 68. 79 Wintgens, Treibhaus Bonn. 2019, S. 11; vgl. auch ebd. 80 Ebd., S. 13.
»Es ist wie in einer Zuchthauszelle …«
73
Abb. 10: Wohl als Antwort auf Marions mit Zeichnungen illustrierten Brief versucht sich Wolfgang Koeppen am 20. Mai 1953 an einem Selbstbildnis, das ihn offenbar beim Schreiben auf der Schreibmaschine zeigt.
74
Andrea Werner
»schwitzte. Er schwitzte vor Anstrengung, die Beratung zu verstehen […]. Es war ein wichtiger Ausschuß, er hatte wichtige Fragen zu beraten, er sollte den Menschen Häuser bauen« (S. 101). Keetenheuve »kannte Bunkerwohnungen, Trümmerunterkünfte, Notherbergen« (S. 106), doch dem politischen Klima in Bonn scheint er nicht gewachsen. Koeppen lässt seinen Protagonisten scheitern, der Autor selbst kann den Roman »Das Treibhaus« aber erfolgreich beenden. »Ich habe mich ausgeschrieben«81, erklärt er am 4. Juni in einem Brief an Marion und wartet im Bunkerhotel die Reaktionen seines Verlags ab. Im Rückblick wird Koeppen den Bunker zum idealen Schreibort stilisieren. Doch zunächst lässt er in dem Prosatext »Ich lebe vom Schreiben«, den die »Süddeutsche Zeitung« ein Jahr nach Koeppens Aufenthalt in Stuttgart veröffentlicht, das Ich gestehen: »Ein Hotelzimmer ist ein herrlicher Schreibort, weil es unpersönlich ist. Hunderte mir gleichgültige Touristen haben vor mir dort gehaust und Hunderte werden mir folgen.«82 Bereits im Mai 1953 bemerkt Koeppen: »In Stuttgart brütet die Sonne, und hier unten im fast zu kalten Keller brüte ich. Es ist wie in einer Zuchthauszelle, man lauscht nach den Schritten auf dem Gang; […]. Es ist im Sommer garnicht [sic] schlecht.«83
5.
Literatur
Döring, Jörg: Kommentar. In: Wolfgang Koeppen: Eine unglückliche Liebe. Hrsg. von Jörg Döring. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2007 (Wolfgang Koeppen, Werke, Bd. 1), S. 170– 201. Grasskamp, Walter: Das verborgene Gesicht. Über Literatur und Fotografie. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. H. 672 (2005), S. 304–317. Häntzschel, Günter/Häntzschel, Hiltrud: Wolfgang Koeppen. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006 (Suhrkamp BasisBiographie 12). Kastberger, Klaus/Maurer, Stefan: Vorwort. In: Die Werkstatt des Dichters. Imaginationsräume literarischer Produktion. Hrsg. von Klaus Kastberger/Stefan Maurer. Berlin/ Boston: de Gruyter 2017, S. 7–12. Kobold, Oliver: »Keine schlechte Klausur«. Wolfgang Koeppens »Treibhaus« und das Stuttgarter Bunkerhotel. Hrsg. von Thomas Schmidt. Marbach/Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 2008 (Spuren 82). Koeppen, Wolfgang: Ich lebe vom Schreiben [1954]. In: Ders. Berichte und Skizzen II. Hrsg. von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Dagmar von Briel und Hans-Ulrich
81 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, Brief vom 4. Juni 1953 (WKA Sig. 25590); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 85. 82 Wolfgang Koeppen: Ich lebe vom Schreiben [1954]. In: Ders., Berichte und Skizzen II. 1986, S. 238. 83 Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, Brief vom 24./25. Mai 1953 (WKA Sig. 25610); vgl. Koeppen, W./M., Briefe. 2008, S. 70.
»Es ist wie in einer Zuchthauszelle …«
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Treichel. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986 (Wolfgang Koeppen. Gesammelte Werke in sechs Bänden, Bd. 5), S. 236–241. Koeppen, Wolfgang: Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1962. In: Ders.: Berichte und Skizzen II. Hrsg. von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Dagmar von Briel und Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986 (Wolfgang Koeppen. Gesammelte Werke in sechs Bänden, Bd. 5), S. 253–261. Koeppen, Wolfgang: Fragebogen. Frankfurter Allgemeine Magazin. 18. April 1980. In: Verlagsprospekt Suhrkamp Verlag. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006, S. 12. Koeppen, Wolfgang: Das Treibhaus. Hrsg. von Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2007 (Wolfgang Koeppen. Werke, Bd. 5). Koeppen, Wolfgang/Unseld, Siegfried: »Ich bitte um ein Wort …«. Der Briefwechsel. Hrsg. von Alfred Estermann/Wolfgang Schopf. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006. Lorke, Werner: Rundgang durch den Bunker. In: BUNKERbiotop. Im Bunkerhotel unter dem Marktplatz von Stuttgart. Hrsg. von Jörg Esefeld/Werner Lorke. Stuttgart: edition esefeld & traub 2006, S. 39–71. Schmidt, Dietrich W.: Vom Luftschutzraum zur Zivilisationshöhle. Der Stuttgarter Marktplatzbunker. In: BUNKERbiotop. Im Bunkerhotel unter dem Marktplatz von Stuttgart. Hrsg. von Jörg Esefeld/Werner Lorke. Stuttgart: edition esefeld & traub 2006, S. 13–23. Treichel, Hans-Ulrich: Kommentar. In: Wolfgang Koeppen: Das Treibhaus. Hrsg. von Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2007 (Wolfgang Koeppen, Werke, Bd. 5), S. 188–247. Wintgens, Benedikt: Treibhaus Bonn. Die politische Kulturgeschichte eines Romans. Düsseldorf: Droste 2019 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Reihe: Parlament und Öffentlichkeit 8, Bd. 178).
Interviews Koeppen, Wolfgang im Gespräch mit Horst Bienek: Werkstattgespräch [1962]. In: Wolfgang Koeppen. Einer der schreibt. Gespräche und Interviews. Hrsg. von Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995, S. 20–29. Koeppen, Wolfgang im Gespräch mit Hans Georg Brenner und Anne Andresen: Von der Lebensdauer des Zeitromans [1952]. In: Wolfgang Koeppen. Einer der schreibt. Gespräche und Interviews. Hrsg. von Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995, S. 13–19. Koeppen, Wolfgang im Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki [1985]. In: Wolfgang Koeppen. Ohne Absicht. Hrsg. von Ingo Hermann. Göttingen: Lamuv 1994 (Zeugen des Jahrhunderts), S. 129. Nizon, Paul im Gespräch mit Andreas Schwab: »Ich war immer gejagt von meiner Schreibsucht«. Interview mit Paul Nizon, Robert Walser Zentrum Bern, 24. 06. 2016. In: strauhof. Schreibrausch – Faszination Inspiration. 10. 02. 2017–07. 05. 2017. Der Reader zur Ausstellung. Hrsg. von Andreas Schwab/Magnus Wieland. Zürich: DAZ 2017, S. 128–132.
76
Andrea Werner
Reich-Ranicki, Marcel im Gespräch mit Peter Voß (2001). In: Lauter schwierige Patienten. Wolfgang Koeppen, Sendereihe 12. Erstausstrahlung im Südwestfernsehen. [Youtube; 30:50–31:10 min]. (letzter Zugriff: 19. 02. 2020).
Archivalien Briefwechsel Wolfgang Koeppen an Marion Koeppen, Wolfgang-Koeppen-Archiv (WKA) der Universität Greifswald – Brief vom 23. April 1953 (WKA Sig. 25605). – Erster Brief vom 24. April 1953 (WKA Sig. 25559). – Zweiter Brief vom 24. April 1953 (WKA Sig. 25591). – Brief vom 27. April 1953 (WKA Sig. 25616). – Brief vom 28. April 1953 (WKA Sig. 25624). – Brief vom 1. Mai 1953 (WKA Sig. 25603). – Brief vom 2. Mai 1953 (WKA Sig. 25618). – Erster Brief vom 4. Mai 1953 (WKA Sig. 25620). – Zweiter Brief vom 4. Mai 1953 (WKA Sig. 25619). – Dritter Brief vom 4. Mai 1953 (WKA Sig. 25597). – Erster Brief vom 5. Mai 1953 (WKA Sig. 25600). – Brief vom 10. Mai 1953 (WKA Sig. 25623). – Brief vom 11. Mai 1953 (WKA Sig. 25598). – Brief vom 12. Mai 1953 (WKA Sig. 25596). – Brief vom 13. Mai 1953 (WKA Sig. 25602). – Brief vom 16. Mai 1953 (WKA Sig. 25583). – Erster Brief vom 21. Mai 1953 (WKA Sig. 25586). – Zweiter Brief vom 21. Mai 1953 (WKA Sig. 25584). – Dritter Brief vom 21. Mai 1953 (WKA Sig. 25585). – Brief vom 22. Mai 1953 (WKA Sig. 25612). – Brief vom 23. Mai 1953 (WKA Sig. 25604). – Brief vom 23./24. Mai 1953 (WKA Sig. 25595). – Brief vom 24./25. Mai 1953 (WKA Sig. 25610). – Brief vom 28. Mai 1953 (WKA Sig. 25614). – Zweiter Brief vom 30. Mai 1953 (WKA Sig. 25606). – Brief vom 4. Juni 1953 (WKA Sig. 25590). 2008 ist der Briefwechsel im Suhrkamp Verlag erschienen: »… trotz allem, so wie du bist«. Wolfgang und Marion Koeppen. Briefe. Hrsg. von Anja Ebner. Mit einem Nachwort von Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008. Briefwechsel Wolfgang Koeppen an Henry Goverts, Universitätsbibliothek Greifswald (UB) – Brief vom 13. November 1952 (UB Sig. 24419). – Brief vom 4. September 1953 (UB Sig. 24434). Koeppen, Wolfgang: Frankfurter Poetik-Vorlesung (WKA MID 94). Angegeben ist die Manuskript-Identifikationsnummer (MID).
»Es ist wie in einer Zuchthauszelle …«
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Leonhardt, Rudolf Walter: So leben unsere Schriftsteller heute. Fortsetzung und Schluß. In: DIE ZEIT 44 (1961), Zeitungsausschnitt aus dem Nachlass Koeppens (WKA Sig. 7448).
6.
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1, 3–5, 10: Briefe aus dem Nachlass Koeppens, WKA. Abb. 2: Private Fotografie aus dem Nachlass Koeppens, WKA. Abb. 6, 7, 8, 9: Werner Lorke: Rundgang durch den Bunker. In: BUNKERbiotop. Im Bunkerhotel unter dem Marktplatz von Stuttgart. Hrsg. von Jörg Esefeld/Werner Lorke. Stuttgart: edition esefeld & traub 2006, S. 55, 66, 59, 42.
Anna Axtner-Borsutzky
Ein Schwarm von Texten – Gerhard Neumanns »Selbstversuch« – Ein Erinnerungsbericht im Spannungsfeld von Literatur und Leben
1.
Ein sehr privates Buch
Gerhard Neumann (1934–2017) gilt als Literaturwissenschaftler, »der Texte nicht als Rätsel, sondern als Spannungsfeld verstand«1. Die letzten Druckfahnen seines postum erschienenen Erinnerungsbuches mit dem Titel »Selbstversuch«, das hier im Zentrum stehen soll, konnte er noch kurz vor seinem Tod einsehen und freigeben.2 Der »Selbstversuch« war »sogleich umstritten«3. Manch Rezensent suchte vergeblich nach dem, »was man bei diesem Autor erwartet hätte, [fand also] nichts Offenes, Zweifelndes oder Suchendes«4. Es wurde als »sehr privates Buch, […] [das] besser privat geblieben«5 wäre, wahrgenommen. Enttäuschte Stimmen der Kritik klagen über formale und persönliche Mängel, die beispielsweise den Umgang Gerhard Neumanns mit der Rolle seiner Eltern im Nationalsozialismus, sein Verhältnis zu Paul Celan oder Redundanzen im Text betreffen. Das Buch, so Barbara Wiedemann, stelle »für Leser eine Zumutung dar, am Rande der Erträglichkeit«6. Der »Selbstversuch« wird als »erstaunlich persönliches Buch«7
1 [Nachruf] Müller, Lothar: Philologie der Erschütterungen. In: Süddeutsche Zeitung vom 30. 12. 2017. 2 Entgegen der Aussage einer Rezension (siehe Anm. 3), der »Selbstversuch« sei aus Neumanns Nachlass herausgegeben worden, lagen dem Verlag zum Todeszeitpunkt bereits die korrigierten Fahnen vor. Das Buch war folglich von Gerhard Neumann in seiner vorliegenden Form autorisiert worden, lediglich die Danksagung fehlte noch, war jedoch auch schon verfasst (laut Gespräch mit Frau Prof. Gabriele Brandstetter am 16. 06. 2020). 3 Holzheimer, Gerd: Textschwärme. In: Literaturportal Bayern am 18. 04. 2019. (letzter Zugriff: 10. 06. 2020). 4 Böttiger, Helmut: Die offene Wunde. Rezension zu Gerhard Neumann: Selbstversuch. In: Süddeutsche Zeitung vom 11. 12. 2018. 5 Wiedemann, Barbara: Gerhard Neumann: Selbstversuch. In: Arbitrium 37, 2019, S. 409–417, hier S. 409. 6 Ebd., S. 417. 7 Holzheimer, Textschwärme. 2019.
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Anna Axtner-Borsutzky
bezeichnet, dessen Erzählweise von »wörtlichen Wiederholungen«8 geprägt ist. »[E]ntgegen seiner gewohnten akademischen Praxis«9 werde Neumann im »Selbstversuch« persönlich und beharre »trotzig«10 auf seinem Instrumentarium, insbesondere bei der Interpretation des Gedichts »Todtnauberg« von Paul Celan. Hier, so heißt es, missachte er »literaturwissenschaftliche Prinzipien der Textanalyse […], die Möglichkeit, den Abstand zwischen dem erinnerten eigenen Erleben und dem im Gedicht tatsächlich Gesagten für seine persönliche Lesart fruchtbar zu machen«11; schließlich das Befremden darüber, »[d]ass dieser Grandseigneur des Hörsaals sich das durchgehenließ«12. Die zitierte Kritik resultiert jedoch aus der Fremdwahrnehmung des Autors Gerhard Neumann in seiner Funktion als Literaturwissenschaftler, obwohl dieses Buch dezidiert eine Selbstwahrnehmung darzustellen versucht, die nicht einseitig auf der Position des Wissenschaftlers beruht. Die Rezensenten erinnern sich an Neumann als »bedeutenden Literaturwissenschaftler«13, als »eine[n] der einflussreichsten und mächtigsten Literaturwissenschaftler der letzten Jahrzehnte«14, unverwechselbar durch seine »Mischung aus Kompetenz, Eleganz und Bescheidenheit«15. Als Autor des »Selbstversuchs« zeigt Gerhard Neumann jedoch eine andere Facette von sich – abseits seiner Bekanntheit. Die fundamentale Frage, die der »Selbstversuch« aufwirft, betrifft daher die Inszenierung der nichtwissenschaftlichen Selbstdarstellung eines Wissenschaftlers. Wie stellt sich Gerhard Neumann durch dieses Buch am Ende seines Lebens dar? Das Buch ist kein wissenschaftlicher Beitrag über das eigene Leben, sondern eine autobiografische Darbietung, die das Spannungsfeld von Literatur und Leben in Form eines »Text-Schwarm[s]«16 zur Geltung bringt. Der Text-Schwarm ermöglicht es, die eigene Biografie neben Lektüreerfahrungen, neben die eigene Forschung, aber auch neben Textzeugen anderer Herkunft zu stellen. Das Bild des Text-Schwarms markiert auch die Differenz zum Vorgang des Webens, der als Metapher für die Textproduktion dient. Hier werden eben nicht die losen Fäden zur Kohärenz zusammengeführt, sondern sie stehen singulär als Textfragmente nebeneinander und ergeben im Gesamtbild einen Schwarm.
8 9 10 11 12 13 14 15
Böttiger, Die offene Wunde. 2018; vgl. Wiedemann, Selbstversuch. 2019, S. 417. Böttiger, Die offene Wunde. 2018. Ebd. Wiedemann, Neumann. 2019, S. 413. Ebd. Ebd., S. 409. Böttiger, Die offene Wunde. 2018. Kunisch, Hans-Peter: Was nicht entscheidbar ist, muss offenbleiben. In: Die Zeit vom 10. 04. 2019. 16 Neumann, Gerhard: Selbstversuch. Freiburg i. Br.: Rombach Verlag 2018, S. 201 (Seitenangaben fortlaufend im Text).
Ein Schwarm von Texten – Gerhard Neumanns »Selbstversuch«
81
Gerhard Neumann war für die »gedankliche[] Luzidität und argumentative Klarheit seiner Analysen«17 bekannt. Michael Ott würdigt in einem Nachruf die Besonderheit von Neumanns Zugang zur Literatur. Dieser habe »nicht lediglich das Geschriebene [gedeutet], sondern […] nach dem Ungesagten, nur indirekt zu Erfassenden, nach Bedingungen und Dimensionen des Schreib-Prozesses von Literatur selbst«18 gefragt. Diese Fragen sollten sich auch die Leser des »Selbstversuchs« stellen. Meine These lautet, dass das Buch (wie sein Titel) als Metapher zu deuten ist, die den Heilungsversuch einer fünfzig Jahre andauernden Kränkung zum Ausdruck bringt. Die gewählte Form des Textschwarms bildet dabei den individuellen Erinnerungsprozess ab. Sie fungiert gleichermaßen als Revue der Forschungsschwerpunkte, die Gerhard Neumann als Literaturwissenschaftler wählte. Im Folgenden wird erstens Neumanns Schreibweise im »Selbstversuch« dargestellt und gezeigt, dass es sich hier um eine neue Art der Gelehrtenerinnerungen – den Erinnerungsbericht – handelt. Dieser reflektiert nicht nur das eigene Leben, sondern auch die eigene Forschung, und bildet damit die »zwiespältige[] Position zwischen Literatur und Leben« (S. 11) ab. Zweitens ist der jahrzehntelangen Beschäftigung Gerhard Neumanns mit Metaphern nachzugehen, deren Anfänge bereits in den ersten Studientagen während der 1950er Jahre in Freiburg i. Br. liegen. Vor diesem Hintergrund gilt es, die drei zentralen Metaphern des Erinnerungsberichts Selbstversuch, Textschwarm und Kränkung zu rekonstruieren. Daher wird es drittens um die Schwarm-Metapher als Ordnungsprinzip und Abbild des Erinnerungsvorgangs gehen. Sie erlaubt eine hybride Textgattung, um das Zusammenspiel von Literatur und Leben abzubilden. Viertens ist es unumgänglich, auf das Zentrum des Erinnerungsbuches einzugehen: die von Gerhard Neumann als »Auslöser« (S. 13) für den Selbstversuch bezeichnete Kränkung, die auf seine Begegnung mit Paul Celan zurückzuführen ist. Letztlich bricht Neumann mit diesem Buch sein fünfzigjähriges Schweigen über die gemeinsame Lebensepisode mit Paul Celan. Damit ist fünftens abschließend der medizinische Aspekt der Heilung zu beleuchten, der durch die Wahl des Titels »Selbstversuch« angedeutet wird.
17 Ott, Michael: Zur Erinnerung an Gerhard Neumann (1934–2017). In: Kleist-Jahrbuch 11, 2018, S. 305–311, hier S. 305. 18 Ebd., S. 305f.
82
2.
Anna Axtner-Borsutzky
Ein Erinnerungsbericht
Das Genre der Autobiografie ist für einen Gelehrten »besonders tückisch«19, die Beschäftigung mit der eigenen Person eine spezielle Herausforderung. Auch Gerhard Neumann hält fest, dass »[d]ie schwierigste und heikelste Entscheidung bei der Niederschrift dieser Texte […] bezüglich der Form zu treffen« (S. 12) gewesen sei. Das Buch stellt die Fragen nach dem »verbliebenen Ertrag eines Lebens, welches Textgeschehen und Alltagshandeln zu verbinden suchte« (S. 11). Die »Erinnerungsarbeit« (S. 310) sei dabei konstitutiv, diese darzustellen die Aufgabe des »vorliegende[n] Bericht[s]« (S. 310). Es handelt sich also nach Neumanns eigener Aussage um einen »Erinnerungsbericht«. Mit diesen Stichworten befindet man sich in einem Forschungsfeld, das Gerhard Neumann für sich gefunden hatte: die Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. In seinen Ausführungen zur kulturwissenschaftlichen Hermeneutik bezeichnet er »Erinnerungsarbeit«20 als einen Konstruktionsbegriff, mit dem kulturwissenschaftlich zu operieren sei. Aber nicht nur mit dem Komplex des Erinnerns wird auf die Kulturwissenschaft verwiesen, sondern beispielsweise auch mit scheinbar beiläufigen Erwähnungen des »Ritual[s]«21 (S. 198) oder des Essens22 in Form eines »opulente[n] Mahls« (S. 225) – ausgesprochene Schwerpunkte in Gerhard Neumanns Forschungsbiografie. Ebenso geht es im »Selbstversuch« immer wieder um Neumanns Forschungsbereiche rund um die Metapher, um Paul Celan und – allein durch die Wahl der Darstellungsform des Textes als Schwarm – um die Grenze zwischen Mensch und Tier,23 zwischen Natur und Kultur.24 Nicht zuletzt kommt Neumann immer wieder auf die »Schreibszene« (S. 198) zurück, benennt sogar ein ganzes Kapitel danach (S. 198–201) – ein weiteres Forschungsfeld, das mit seinem Namen verbunden ist.25 19 Böttiger, Die offene Wunde. 2018. 20 Neumann, Gerhard: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Ein Entwurf. In: Kulturwissenschaftliche Hermeneutik: Interpretieren nach dem Poststrukturalismus: Hrsg. von Gerhard Neumann. Freiburg i. Br.: Rombach 2014, S. 165–196, hier S. 168. 21 Vgl. Neumann, Gerhard: Begriff und Funktion des Rituals im Feld der Literaturwissenschaft. In: Neumann, Kulturwissenschaftliche Hermeneutik. 2014, S. 243–284. 22 Vgl. Neumann, Gerhard: Das Gastmahl als Inszenierung kultureller Identität. Europäische Perspektiven. In: Neumann, Kulturwissenschaftliche Hermeneutik. 2014, S. 335–370. 23 Vgl. Neumann, Gerhard: Menschen/Affen: Erkundungen der Grenze zwischen Kultur und Natur. In: Natur – Kultur. Paderborn: Mentis 2009, S. 93–108. 24 Vgl. Neumann, Gerhard: Der Virtuose als Denkfigur in der Romantik. Zur ästhetischen Inszenierung der Körperkunst auf der Grenze zwischen Natur und Kultur. In: Denkfiguren. Performatives zwischen Bewegen, Schreiben und Empfinden. Hrsg. von Nicole Haitzinger/ Karin Fenböck, München 2010, S. 104–116. 25 Vgl. Neumann, Gerhard: Die Schreibszene. Im Leben und in der Literatur. Ein Aperçu. In: Schreibszenen: Kulturpraxis – Poetologie – Theatralität. Hrsg. von Christine Lubkoll/Claudia Öhlschläger. Freiburg i. Br.: Rombach 2015, S. 25–29.
Ein Schwarm von Texten – Gerhard Neumanns »Selbstversuch«
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Die Reflexion über Schreibszenen aus der Zeit vor dem, aber auch für den »Selbstversuch« bringt das eigene Leben mit der eigenen Forschung zusammen. Es werden sowohl Momente erinnert, in welchen besagte Forschungsthemen für Neumann gerade aktuell waren, als auch jene, in welchen sie später im Leben erneut aufkamen oder gar unausgesprochen Teil des Lebens und der Forschung geworden sind.26 Diese hybride Schreibweise, die man eine Autobiografie des eigenen Lebens und der eigenen Forschung nennen könnte, ist ein Kennzeichen jüngerer Publikationen auf dem Gebiet der Gelehrtenerinnerungen.27 Im Gegensatz zur traditionellen Form der Memoiren handelt der »Selbstversuch« nicht vom Aufstieg und von persönlichen Erfolgen,28 sondern »von einer Findungsarbeit der Erinnerung und ihrem Scheitern« (S. 310). Der Fokus eines Erinnerungsberichts liegt auf den beiden Komponenten des Berichtens von Erinnerung, die auch von »Sprüngen, Leerstellen, Erregungsmomenten und faktischen Zusammenhängen« (S. 11) beeinflusst wird. Daher bezeichnet Neumann die vorliegenden Aufzeichnungen dezidiert als »Versuch, die Autobiographie eines Literaturwissenschaftlers zu verfassen« (S. 11) – im Bewusstsein über die Schwierigkeiten und möglichen Fehleindrücke.
3.
Die Funktion der Metapher als Wissens- und Wahrnehmungsinstrument
Bereits die Anfänge von Gerhard Neumanns akademischer Ausbildung sind gekennzeichnet von der Beschäftigung mit der Metapher. Im »Selbstversuch« erinnert er sich an das Freiburger Seminar »Metaphorik im spanischen und italienischen Concettismo« bei Hugo Friedrich im Jahr 1955 und seine Faszi-
26 Die Liste an Themen wäre noch um weitere Bereiche wie Tanz und Musik zu erweitern. 27 Vgl. weiterführende Beispiele: Axtner-Borsutzky, Anna: Wegbereiter und Wegweiser. (Hoch-) Schullehrerfiguren in autobiographischen Gelehrten-Erinnerungen um die Jahrtausendwende. In: Lehrerfiguren in der deutschen Literatur. Literaturwissenschaftliche Perspektiven auf Szenarien personaler Didaxe vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. von Frieder von Ammon/Michael Waltenberger. Berlin: Peter Lang 2020 (Mikrokosmos; 85), S. 368–384. Besonders hervorzuheben ist in dieser Kategorie das nachgelassene autobiografische Manuskript von Walter Müller-Seidel (1918–2010), welches demnächst im Zuge meiner Dissertationsschrift publiziert wird. 28 Vgl. Billson, Marcus: Memoiren: Perspektiven auf ein vergessenes Genre. In: Texte zur Theorie der Biographie und Autobiographie. Hrsg. von Anja Tippner/Christopher F. Laferl. Stuttgart 2016, S. 141–162, hier S. 147: Die Erzählung von Memoiren sei »nach außen gerichtet und konzentriere sich auf Menschen und Ereignisse«. Ebenso Holdenried, Michaela: Autobiographie. Stuttgart 2000, S. 33: »Memoiren sind fast ausschließlich zur Selbstdarstellungsform von Personen« geworden.
84
Anna Axtner-Borsutzky
nation für Walter Killys »Wandlungen des lyrischen Bildes« (1956).29 Lange habe er am Projekt der Metapher festgehalten, wie eine Fußnote mit Hinweis auf den Aufsatz über Metaphorik in Nikolaus Lenaus Lyrik bestätigt.30 Schon 1955 sei es die Metapher gewesen, die »als ›poetologisches‹, Sinnlichkeit und Abstraktion vermittelndes und daher der literaturwissenschaftlichen Argumentation notwendig zugrunde liegendes« (S. 193) Welterfahrungsmodell erschien – die Metapher als das Organon der Unterscheidung zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit des Wahrgenommenen und des Dargestellten. Schon in den ersten Semestern stand für Neumann das Vorhaben fest, ein Dissertationsprojekt über »die Funktion der Metapher als Wissens- und Wahrnehmungsinstrument« (S. 194) bei Marcel Proust und Robert Musil zu erarbeiten.31 Es folgte eine Zeit des Lesens und Exzerpierens, eine Zeit der Erstellung von Metaphernlisten, die nach Motiven und poetologischen Bemerkungen geordnet wurden. Irgendwann, so Neumann, habe er jedoch realisiert, keine präzisen Kriterien vorweisen zu können, und das ganze Vorhaben abgebrochen – »in der vorausgreifenden Hoffnung, […] eines Tages imstande [zu] sein, es zu vollenden« (S. 194). Zur Vollendung der Metaphernuntersuchung bei Proust und Musil kam es zwar nicht mehr, doch grundsätzlich geht es in Neumanns Publikationen regelmäßig um Metaphern.32 Vor allem das »Problem der Metapher« (S. 197) sei ihm nach dem gescheiterten Metaphern-Projekt noch einmal begegnet: mit Paul Celan.33 Dennoch bezeichnet Neumann die Metapher im »Selbstversuch« als »das Sprechen der Literatur über das Leben: als ein Suchen der Ähnlichkeiten« (S. 197). Sie sei »das wichtigste sprachliche Mittel zur Erfahrung und Darstellung von Wirklichkeit« (S. 278), wenn die Lust des Menschen an der Nachahmung und die komplementäre Lust am Auffinden von Ähnlichkeiten tatsächlich am Anfang der Kultur stehen. Im Grunde scheint Neumann seine Überzeugung, dass die
29 Vgl. Killy, Walter: Wandlungen des lyrischen Bildes. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1956. Neumann bezeichnet diese Publikation als »Aufsatz« (S. 192), es handelt sich jedoch um eine Monografie. 30 Neumann, Gerhard: Das ›vergängliche‹ Bild. Untersuchungen zu Lenaus lyrischem Verfahren. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 86 (1967), S. 485–509. 31 Um diese reformulierten Gedanken des Studienanfängers Gerhard Neumann zu belegen, ist dem »Selbstversuch« ein Kapitel mit dem Titel »Zitate aus meinen Aufzeichnungen zu dem ›Metaphern‹-Projekt im Tagebuch« (S. 195–198) beigefügt. 32 Vgl. die jüngste Publikation zu diesem Thema: Neumann, Gerhard: Heliotrop und Herbstzeitlose: zwei Denkfiguren zwischen Biologie und Literatur. In: Floriographie. Hrsg. von Isabel Kranz/Alexander Schwan/Eike Wittrock. Paderborn: Wilhelm Fink 2016, S. 109–132. 33 Vgl. Neumann, Gerhard: Die ›absolute‹ Metapher. Ein Abgrenzungsversuch am Beispiel Stéphane Mallarmés und Paul Celans. In: Poetica 3 (1970), S. 188–225.
Ein Schwarm von Texten – Gerhard Neumanns »Selbstversuch«
85
Metapher am Anfang allen Sprechens angesiedelt werden müsse, nie aufgegeben zu haben: »[a]lle Sprache ist schon Uneigentlichkeit« (S. 106).34
4.
Ein Schwarm von Texten
Wenn alle Sprache uneigentlich ist, so liegt es nahe, auch den »Selbstversuch« in dieser Hinsicht zu lesen. Uneigentlich werde die Sprache, so Neumann, bereits »bei ihrem Entstehen zwischen Auflösung und Ordnung, zwischen Chaos und Sinn« (S. 106). Diese Formulierung knüpft an an seine Ausführung über die Entscheidung bezüglich der Darstellungsform seines Erinnerungsberichtes: den »Text-Schwarm« (S. 12). Auch dieser folge einem geheimen Gesetz, »das zwischen System und Chaos vermittelt« (S. 12). Mehrfach und in diversen Formulierungen spricht Neumann von einem »Schwarm von Textfragmenten« (S. 201), einem »Schwarm von Texten« (S. 11) oder einem »Text-Schwarm« (S. 12). Unweigerlich drängt sich das Bild von Tierschwärmen auf – und damit das Moment des Uneigentlichen. Die Verbindung zwischen dem Text-Schwarm als Darstellungsform und der Metapher führt Gerhard Neumann im Vorwort selbst aus: »Das Ganze gehorcht offenbar einer bestimmten Gedankenfigur, die an vielen Stellen durchscheint: Es ist das Ordnungsmuster des Metaphorischen, die Struktur der Metapher, als Erschließungsform der Literatur wie des Welterlebens; als einer durch Aufmerksamkeit und Beobachtung erschlossenen ›Wirklichkeit‹, eines Welterlebnisses, das mich von Anfang an bewegte und auch meine Interessen leitete; und das ich zwischen dem Literarischen und dem Vitalen angesiedelt habe – ohne dass sich für mich daraus eine stringente Theorie hätte ableiten lassen« (S. 12).
Der Schwarm von Texten ist »eine bewegliche Erinnerungsfigur« (S. 201), die es ermöglicht, den Erinnerungsprozess abzubilden, bei dem es nicht ausbleibt, »dass sogenannte Fehlerinnerungen nach bestimmten Zeiträumen wiederholten Nachdenkens und neuen Erlebens sich einstellen; dass also die gleichen Ereignisse in verschiedenen Situationen immer wieder anders erzählt werden« (S. 11). Die Bewegung des Schwarms bildet das unvorhersehbare Kommen und Gehen von Erinnerungen ab. Den Prozess des Erinnerns in Sprache zu übersetzen, gelingt oftmals »nur metaphorisch, in Form metaphorisch motivierter Denkmodelle«35. Metaphern ermöglichen es, Erinnerung und Gedächtnis als komplexe Phänomene, die sich der Versprachlichung entziehen, »eine bildhafte, 34 Vgl. zu Neumanns Gedanken über die Metapher das Kapitel »Ein dürrer Ast« im »Selbstversuch«, S. 263–269. 35 Bdrar-Szabo, Rita: Erinnerungsmetaphern im autobiographischen Diskurs. In: Geschichte(n) fiktional und faktual: literarische und diskursive Erinnerungen im 20. und 21. Jahrhundert. Hrsg. von Barbara Besslich/Ekkehard Felder. Bern: Peter Lang 2016, S. 277–305, hier S. 281.
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sinnerschließende und -konstituierende Gestalt zu verleihen und auf diese Weise mitteilbar zu machen«36. Gerhard Neumann entscheidet sich für die Darstellung seiner Erinnerungsfragmente als Schwarm und entzieht sich damit dem Postulat von Kohärenz und Chronologie, verbindet mit dieser Wahl jedoch gleichsam seine Forschungsinteressen zu Metaphern und Grenzbereichen. Ein Blick auf die kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Schwarm zeigt eine lange Tradition der menschlichen Auseinandersetzung damit.37 Seit der Antike wird die Metapher des Schwarms für die Selbstbeschreibung des Menschen und der Gesellschaft verwendet, ebenso wie für Formen der Erkenntnis. Dieses Wissen ist »durch Bilder, Figuren und Erzählungen«38 strukturiert, deren Implikationen freizulegen sind. Der Schwarm bietet dabei das Versprechen einer »anderen Form der Organisiertheit«39 – kreativer, schneller und effizienter. Überträgt man die biologische Lebensform des Schwarms auf ein Strukturmodell, ist es vielfach anwendbar, etwa auf »Kommunikationsverhalten, Bewegungsmuster, militärische Taktik, soziale Gruppenbildung«40. Das Bild des Schwarms ist aus der Tierwelt entnommen und wird bis heute in Modifikationen sprachlich eingesetzt, wie beispielsweise die Schwarmintelligenz zeigt.41 Zu denken ist dabei an Schwärme von Ameisen, Vögeln, Fischen und Heuschrecken. Auch Gerhard Neumann gibt einen Hinweis auf tierische Schwärme, indem er von einer Ordnung spricht, »die wie bei Vogelschwärmen nicht ganz frei, aber auch nicht ganz gelenkt oder gar zwanghaft erscheint, sondern einem geheimen Gesetz folgt« (S. 12). Tatsächlich ist es ein Charakteristikum von Schwärmen, in ihrer organischen Zusammensetzung ständig in Bewegung zu sein, sich immer wieder neu zu verbinden und undefinierbare Formen anzunehmen. Ein Schwarm zeichnet sich durch eine Struktur aus, »die den traditionellen Architekturen des Politischen, des Denkens, des Rechnens und der Kriegsführung radikal entgegengesetzt«42 ist. Es geht »um institutionell nicht gesicherte, bewegte und auf nicht durchschaubare Weise koordinierte Vielheiten von Wesen, in denen die einzelnen Elemente scheinbar komplett als Funktionsteile des 36 Neumann, Birgit: Erinnerung – Identität – Narration. Berlin: de Gruyter 2005, S. 205. 37 Siehe Horn, Eva/Gisi, Lucas Marco: Schwärme, Kollektive ohne Zentrum: eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information. Bielefeld: transcript 2009. 38 Horn, Eva: Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Einleitung. In: Schwärme, Kollektive ohne Zentrum: eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information. Hrsg. von Eva Horn/ Lucas Marco Gisi. Bielefeld: transcript 2009, S. 7–26, hier S. 15. 39 Ebd., S. 7. 40 Ebd., S. 8. 41 Vgl. Schmidt, Gunnar: Menschenschwärme, Schwarmmenschen. Schwarm-Bilder. Trier 2010, S. 7. 42 Horn, Schwärme. 2009, S. 7.
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Ganzen aufgehen«43. Wegen des Verlustes an Steuerbarkeit und durch seine Unkontrollierbarkeit wird der Schwarm zugleich als Chance und als Bedrohung wahrgenommen.44 Gerade dadurch entsteht genau dort ein plötzlicher Effekt der Emergenz, wo lange nur Chaos zu erkennen war. Dieser Effekt tritt auch bei Gerhard Neumanns »Selbstversuch« auf, wenn er nicht nur in Teilen, sondern als Gesamtes wahrgenommen wird. Neumann versucht hier durch die Form des Text-Schwarms den »mäandernden Lebensweg« (S. 31) metaphorisch abzubilden. Er begründet dies mit der Möglichkeit, durch Metaphern sowohl Einzelphänomene als auch Lebensläufe beschreiben zu können und dadurch dem »Phänomen der Lebensmuster« (S. 13) beizukommen. Was auf den ersten Blick durch Chaos und Unordnung gekennzeichnet scheint, erweist sich letztlich als unordentliche Ordnung. Eine auf Individuen oder Teile des Schwarms gerichtete Perspektive erscheint zum Teil sogar unsinnig, als Ganzes jedoch »greifen alle Teilhandlungen derart reibungslos ineinander, dass sie funktional auf eine Gesamtbewegung bezogen scheinen«45. Die Schwarm-Metapher ist zudem als poetologische Metapher zu verstehen, die unter Bezug auf physische Dinge »die Strukturierung einer Vorstellung von Dichtung, und sprachlich […] die wirksame Kommunikation dieser Vorstellung«46 erlaubt. Sie macht das Wahrzunehmende »für die Imaginationen des Lesers«47 präsent. Der Gegenstand der Wahrnehmung (Gerhard Neumanns Leben) wird mit dem Vollzug dieser Wahrnehmung – als Erinnerungen in Form eines Textschwarms – verbunden. Einzelne Erinnerungen werden individuell oder in sich verändernden Kontexten wiedergegeben, so wie sie auch von Neumann selbst »nach bestimmten Zeiträumen wiederholten Nachdenkens« (S. 11) anders erinnert werden. Dabei ermöglicht der Einsatz einer Metapher die Verbindung der Verbalisierung von »subjektiven Erfahrungen und Wahrnehmungen«48 mit poetologischen Aussagen. Dass hinter dem Textschwarm ein Konzept steckt, ist auch in reflexiven Passagen erkennbar. Neumann stellt sich beispielsweise selbst die rhetorische Frage, ob »es überhaupt Wiederholungen« (S. 47) in Erinnerungen geben könne. Dies wird verneint, da in der Erinne43 Gamper, Michael: Massen als Schwärme. Zum Vergleich von Tier und Menschenmenge. In: Horn/Gisi, Schwärme. 2009, S. 69–84, hier S. 70. 44 Vgl. Horn, Schwärme. 2009, S. 13. 45 Ebd. 46 Kohl, Katrin: Poetologische Metaphern: Formen und Funktionen in der deutschen Literatur. Berlin: de Gruyter 2007, S. 1. 47 Birkmeyer, Jens: Metaphern verstehen. Probleme einer literarischen Hermeneutik. In: Handbuch Sprache in der Literatur. Hrsg. von Anne Betten/Ulla Fix/Berbeli Wanning. Berlin/ Boston: de Gruyter 2017, S. 509–527, hier S. 525. 48 Leonardi, Simona: Metaphern in literarischen Texten. In: Handbuch Sprache in der Literatur. Hrsg. von Anne Betten/Ulla Fix/Berbeli Wanning. Berlin/Boston: de Gruyter 2017, S. 160–181, hier S. 168.
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rungsarbeit jede Erinnerung immer wieder erneut zusammengesetzt wird. Gerade diese Redundanzen als Teil natürlicher Schwarmsysteme sind es, die deren Widerstandsfähigkeit erhöhen.49 Fortlaufend reflektiert Neumann den eigenen Schreibprozess: »Ist das, was ich hier zu schreiben versuche, ein geeigneter Anfang des Leben-Erzählens?« (S. 77) – »Kann man so eine Lebensgeschichte beginnen? Nein, man kann es nicht. Ich fange noch einmal an; suche einen anderen Anfang« (S. 77) – »Nein, so geht es auch nicht, mit dem Anfang des Erzählens« (S. 78). Diese Neukontextualisierung und Neuperspektivierung des Erinnerten durch wiederholte Wiederaufnahmen bilden performativ die geleistete Erinnerungsarbeit ab und informieren dabei über unterschiedliche Zeiträume, in welchen man sich an die gleichen Momente erinnert.50 Die gewählte metaphorische Darstellungsform des Schwarms wird von Neumann ausdrücklich als Versuch bezeichnet, den »Prozess [des Erinnerns], sein Gegen- und sein Miteinander, als Fragmente- und Text-Schwarm zu beschreiben, der um eine Biographie kreist, die eigentlich nicht möglich ist« (S. 307). Nicht nur diese diversen Neuansätze des Erinnerns sind Teil des Textschwarms, sondern auch Familienfotos, Abdrucke gemalter Bilder, Briefe und Schulaufsätze, die typografisch abgesetzt werden. Es ist ein »Schwarm von kurzen oder längeren Erinnerungstexten, die sich um eine Lebensskizze, eine in der Universitätssprache sogenannte biobibliographische Sequenz bewegen und sie auf assoziative Weise umkreisen« (S. 201). Diese Erinnerungsbewegungen sind auch am Inhaltsverzeichnis zu erkennen. Der Aufbau erscheint zwar auf den ersten Blick chronologisch: Nach einem reflexiven Vorwort und einer »Chronik der Lektüren«51 reihen sich die Kapitel »Paradies der Kindheit«, »Kriegsausbruch«, »Kriegsende« und »Universitätsjahre« aneinander. Danach erfolgt jedoch ein Bruch. Das Kapitel »Paul Celan« ist das Verbindungskapitel der chronologischen Erinnerung mit dem »Blick zurück« und dem Abschluss »Form«. Einzelne Elemente – insbesondere die Erinnerung an Paul Celan – werden in verschiedenen Kapiteln immer wieder auf49 Horn, Schwärme. 2009, S. 11. 50 Als Beispiel diene hier die Erinnerung an den Gefängnisaufenthalt im »Pilsener Gefängnis Bory« (S. 22), der aus der Perspektive des Emeritus Gerhard Neumann (S. 144ff.) ebenso geschildert wird wie aus der des zehnjährigen (S. 22), des siebzehnjährigen (S. 82) und des zwanzigjährigen (S. 57) Gerhard Neumann. Dass dabei eine Differenz zwischen der Erinnerung an »das schrecklichste Ereignis« (S. 57) des Lebens und an 14 Tage im Gefängnis als »etwas ganz Ungewöhnliches und Aufregendes« (S. 145) entsteht, ist einerseits mit der Perspektive und andererseits mit der Kontextualisierung zu begründen, die jeweils andere Aspekte dieses Aufenthalts in den Mittelpunkt rückt. Die verschiedenen Dokumente erstrecken sich über einen Zeitraum von 1951 bis 2017 und werden dem Leser sogar in unterschiedlichen Gattungen, Typografien und Stilen dargeboten. 51 Vgl. Neumann, Gerhard: Chronik der Lektüren. In: Wissenschaft und Universität: Selbstportrait einer Generation: Wolfgang Frühwald zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Martin Huber/ Gerhard Lauer. Köln: DuMont 2005, S. 242–264.
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genommen, so auch in der vorangestellten »Chronik der Lektüren«. Dieser Teil des Erinnerungsberichts wurde bereits 2005 in einer Festschrift für Wolfgang Frühwald publiziert und stellt jene Beschäftigung mit der eigenen Biografie dar, die von Neumann als Beginn der autobiografischen Reflexion festgehalten wird. An dieser Montagetechnik ist gut erkennbar, wie bereits Publiziertes oder Gedachtes in den »Selbstversuch« einfließen. Lediglich wenige Stellen wurden überarbeitet oder neu hinzugefügt. Dabei handelt es sich um eine halbe Seite von dem am Ende des »Selbstversuchs« als Auszug abgedruckten Text des Psychoanalytikers Frederick Wyatt, in welchem dieser über die Möglichkeit einer Zeitzeugenschaft durch bloßes Dabei-gewesen-Sein nachdenkt. Der Augenzeuge, so das Fazit, sei »der denkbar ungeeignetste Garant für die Wahrheit des Erlebten« (S. 19). Dieser Text eröffnet und schließt den »Selbstversuch« und kann folglich als Fiktionalitätssignal an den Leser verstanden werden – was dazwischensteht, muss nicht zwingend so gewesen sein. Eine weitere halbe Seite kommt hinzu, auf der nachdenklich über die »Erfahrung des Ausnahmezustands zwischen Leben und Gewalt« (S. 34) berichtet wird, die Neumanns Leben erst unmerklich, dann immer stärker zu prägen begann: die Begegnung mit Paul Celan. »[E]ine Begegnung, die in einem Desaster endete« (S. 34), nämlich in der wütenden Ablehnung Celans gegenüber Neumanns Aufsatz über die absolute Metapher in Celans Gedichten.52 Neumann begründet die Niederschrift seines Erinnerungsberichts mit diesem Ereignis, das ihn immer stärker beschäftigte: »Celan hatte sich selbst, wie er in seinem Gedicht Todtnauberg zu erkennen gibt, die Rolle des Opfers einer unmenschlichen Gewalt, der Hitler-Diktatur, zugeschrieben, und mir, gewissermaßen stillschweigend, diejenigen des ›Zeitzeugen‹, der davon berichtet. Diese Rolle habe ich nach seiner Auffassung verfehlt. Ich frage mich, warum?« (S. 34)
Nur durch das Erzählen seines Lebens schien es Neumann möglich, dieses Scheitern der Zeitzeugenschaft zu beleuchten und womöglich zu erklären: »Um dieses Erzählen meines Lebens im Hinblick auf dieses Versagen der Zeitzeugenschaft ist es mir hier zu tun« (S. 34). Bereits in diesem 1970 erschienenen Aufsatz über die absolute Metapher verwendet Neumann die Bezeichnung von »Metaphernschwärme[n]«53, die auf einen Eigentlichkeitsgrund zusteuern. Diese Bewegung des Zusteuerns – oder Umkreisens – ist zugleich typisch und atypisch für einen Schwarm. Er ist ein Kollektiv ohne erkennbares Zentrum mit »einer zugleich sehr spezifischen und gänzlich abstrakten Organisationsstruktur«54. Gerhard Neumanns Beschreibung 52 Siehe Neumann, Gerhard: Die ›absolute‹ Metapher. Ein Abgrenzungsversuch am Beispiel Stéphane Mallarmés und Paul Celans. In: Poetica 3 (1970), S. 188–225. 53 Ebd., S. 207. 54 Horn, Schwärme. 2009, S. 8.
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der Bewegung von Metaphernschwärmen ist zu entnehmen, dass er von einem Zentrum ausgeht, um welches sich der Schwarm bewegt. Im »Selbstversuch« kann dieses Zentrum konsequenterweise nur aus der Begegnung mit Paul Celan bestehen, die Neumann klar als »Auslöser« (S. 13) bezeichnet. Auslöser ist vielleicht das weniger zutreffende Wort als Ursache, die erst wieder zutage tritt, als Gerhard Neumann die »Chronik der Lektüren« für die Festschrift zu Ehren von Wolfgang Frühwald in Form eines »Selbstportraits einer Generation«55 anfertigt.
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Die wechselseitige Kränkung
Initiiert durch jenen Beitrag, wird Neumanns Interesse für die »autobiographische[] Darstellung eines Wissenschaftlerlebens« (S. 199) bei einer Reflexion über Mischformen des »biographischen Erzählens und [der]wissenschaftliche[n] Analyse« (S. 199) geweckt. Ihn habe gerade die Paradoxie daran gereizt, »Zeitzeuge zu sein und doch nichts verstanden zu haben« (S. 199). Dabei kommt er immer wieder auf die Situationen seiner Biografie zurück, in welchen er Paul Celan begegnete, und bezeichnet dies als »Geschichte der wechselseitigen Kränkung: der Kränkung eines als bedeutend anerkannten Dichters durch eine Publikation eines jungen und unerfahrenen Wissenschaftlers; und umgekehrt als Kränkung eben dieses unbedeutenden Wissenschaftlers durch einen großen Dichter« (S. 200).
Anhand dieses Erinnerungszentrums durch Paul Celan wird im Folgenden die Schwarmstruktur exemplarisch aufgezeigt. Vereinzelt kommt Neumann auf Celan sowohl im »Vorwort« als auch in der »Chronik der Lektüren« und in der chronologischen Kapitelabfolge, ausführlich im Kapitel »Paul Celan«, zu sprechen. Dieses Kapitel wiederum ist als einziges des gesamten »Selbstversuchs« durchgehend mit Fußnoten versehen und erhält dadurch eine größere Geltung. Es ist in Fragmente mit den römischen Zahlen I bis XXII, dem Titel »Todtnauberg-Fahrt«56 und zwei Briefabdrucke57 unterteilt – jeder Abschnitt beschäftigt sich in singulärer Weise mit Neumanns Begegnungen mit Paul Celan von 1967 bis 1970, wodurch verschiedene Stimmen zu Wort kommen. So spiegelt das Kapitel in Mikroform die Schwarmstruktur des ganzen Buches wider. Die vermeintlichen
55 Vgl. Wissenschaft und Universität. Selbstportrait einer Generation. Wolfgang Frühwald zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Martin Huber/Gerhard Lauer. Köln: DuMont 2005. 56 Die Fahrt wurde von Gerhard Neumann zusammen mit Gabriele Brandstetter, dem Verleger Andreas Hodeige und Günter Schnitzler im Februar 2012 als eine Art »Re-enactment« erinnernd wiederholt. 57 Es handelt sich um einen Brief von Gerhard Neumann an die Tophovens über diese Fahrt (28. 08. 1967) und einen Brief von Brigitte Neumann an Gerhard Neumann (11. 05. 1997).
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Wiederholungen – hier z. B. Jean Bollacks Zeugnis über Celans Kritik an Neumanns fehlender Solidarität (S. 298 und S. 302) oder Celans Lesung am Gründonnerstag58 1970 (S. 298f. und S. 304) – kommen durch die erneute Erinnerung an diese Situation in anderen Kontexten zustande. Wiederholt geht es um Folgendes: Gerhard Neumann und Paul Celan hatten sich bereits durch Elmar Tophoven in Paris kennengelernt, bevor sie 1967 in Freiburg erneut aufeinandertrafen – Neumann nun Assistent von Gerhart Baumann. Neumann berichtet, er habe Celan mit Baumann bekannt gemacht und damals »in einer Art Selbstüberschätzung und vielleicht Größenwahn« (S. 276) gedacht, einiges für die Vermittlung zwischen Celan und Deutschland getan zu haben. Zu diesem Zeitpunkt hatte Paul Celan wohl schon lange Zeit ein Zusammentreffen mit Martin Heidegger angestrebt, ehe er diesen 1967 in Freiburg und zu einem Ausflug in dessen Hütte im Schwarzwaldkurort Todtnauberg traf.59 Dieser gemeinsame Tag wurde von Paul Celan im Gedicht »Todtnauberg« festgehalten, das am 12. Januar 1968 in einer bibliophilen Ausgabe in Vaduz erschien.60 »Todtnauberg Arnika, Augentrost, der Trunk aus dem Brunnen mit dem Sternwürfel drauf, in der Hütte, die in das Buch – wessen Namen nahms auf vor dem meinen? –, die in das Buch geschriebene Zeile von einer Hoffnung, heute, auf eines Denkenden kommendes Wort im Herzen, Waldwasen, uneingeebnet, Orchis und Orchis, einzeln,
58 Die Lesung fand wohl tatsächlich an einem Gründonnerstag statt. Neumann gibt dies explizit an, wodurch der Eindruck entsteht, dass der Tag des letzten Abendmahls hier bewusst gewählt wurde. 59 Vgl. Pöggeler, Otto: Der Stein hinterm Aug. Studien zu Celans Gedichten. München 2000, S. 160. 60 Ebd., S. 168.
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Krudes, später, im Fahren, deutlich, der uns fährt, der Mensch, der’s mit anhört, die halbbeschrittenen Knüppelpfade im Hochmoor, Feuchtes, viel.«61
Im »Selbstversuch« ist ein Faksimile des Exemplars Nummer 2 mit persönlicher Widmung an Gerhard Neumann abgedruckt.62 Nummer 1 ging wohl an Martin Heidegger. Neumann verweist hier auf die Verse »Krudes, später, im Fahren, / deutlich, / der uns fährt, der Mensch, / der’s mit anhört«, da er der Fahrer von Paul Celan und Martin Heidegger war und sich damit angesprochen sah. Paul Celan selbst erwähnt dies am 25. August 1967 in einem Brief an Franz Wurm: »Dr. Neumann – er war es übrigens, der Heidegger und mich in die Denkhütte in (bzw. auf dem) Todtnauberg kutschierte – ist ein reizender Mensch – bitte kommen Sie ihm nach Möglichkeit entgegen.«63 Was auf dieser Fahrt zwischen den drei Insassen des Wagens gesprochen wurde, ist bis heute unaufgeklärt geblieben. Entgegen seiner Äußerung, dass er »sich nicht mehr an das erinnert, was gesagt wurde«64, schildert Neumann im »Selbstversuch« die Fahrt ausführlich: »Celan sucht letztlich, trotz der stummen Verweigerung Heideggers, im geschlossenen Raum des Automobils, welches die Naturlandschaft durchquert, ein Einverständnis zwischen Celan, Heidegger und mir (als einem stummen Zeitzeugen, der Botenfunktion gewinnen könnte) zu erzielen« (S. 289). Der Wagen habe als eine Art faradayscher Käfig fungiert, eine »scharfe Grenze zwischen innen und außen, vor allem aber auch zwischen Vergangenheit und Zukunft« (S. 292) ziehend. Das Gedicht inszeniere das Ritual, mit dem der Raum geschaffen wird 61 Celan, Paul: Todtnauberg. In: Ders.: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Hrsg. und kommentiert von Barbara Wiedemann. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003, S. 282. 62 Neumann schreibt, dieses Exemplar sei ihm im August 1967 zugesandt worden, was nicht möglich ist, da der Druck erst am 12. 01. 1968 (S. 288) erschien. Hierbei muss es sich wohl um Tippfehler handeln. Diese Fehlinformation gibt in Wiedemanns Rezension Anlass für scharfe Kritik, vgl. Wiedemann, Neumann. 2019, S. 413. 63 Paul Celan/Franz Wurm: Briefwechsel. Hrsg. von Barbara Wiedemann in Verbindung mit Franz Wurm. Frankfurt/Main 2004, S. 93. 64 France-Lanord, Hadrien: Paul Celan und Martin Heidegger. Vom Sinn eines Gesprächs. Freiburg i. Br.: Rombach 2007, S. 93, Fußnote 196.
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»für die an Heidegger, gleichsam als Stellvertreter aller Deutschen, gerichtete Frage, die Kernfrage von Celans Leben und Schreiben, die er zu stellen gewillt ist: die Frage nach dem Brechen des Schweigens über die Shoah und nach seinem, Heideggers, Bezug zum Nationalsozialismus« (S. 294).
Das Gespräch, das Neumann im »Selbstversuch« schildert, hatte allerdings folgende Gestalt: »Der Dichter, der sich als Opfer der Shoah verstand, sprach mit dem Denker, der in die Rolle des Täters gedrängt wurde; und der Fahrer, der keine Funktion als Argumentlieferant besaß, hörte schweigend, was da gesprochen wurde, als ›Ohrenzeuge‹ mit abgewendetem Kopf. Celan sprach nicht als Richter und nicht als Berichterstatter mit Heidegger, sondern nur, wenn man das so paradox ausdrücken will, als Schweigender, mit dem ›Herzen‹« (S. 295f.).
Heidegger habe geschwiegen. Während einer zweiten Fahrt zur Hütte im Jahr 2012, durch welche die Erinnerung zurückkehren sollte, merkt Neumann an, dass die Stimmung zwischen Celan und Heidegger gedrückt gewesen sei: »Es wurde nicht viel geredet in diesem Klima der Erwartung von beiden Seiten« (S. 311). Das Gespräch sei – wohl bei der Hinfahrt – von den Studentenunruhen in Paris zu Heideggers Philosophie und Blumennamen übergegangen. Am Ende dieses Kapitels bringt der Brief von Gerhard Neumann an die Tophovens aus dem August 1967 – wieder typografisch abgesetzt – einen neuen Aspekt ein. Hier schreibt Neumann, dass Heidegger unterwegs, offenbar von selbst, »auf die bewusste (wohl jetzt in Frankreich wieder aufgegriffene) Diskussion um gewisse Worte zu sprechen, die er früher gesagt und geschrieben hat (völkisch, Führer usw.)« (S. 319). Celan habe daraufhin in jener Weise geantwortet, bei der einem der Atem stocke – »beinahe wortlos« (S. 319). Diese Technik des kommentarlosen Einfügens von Briefabdrucken entspricht der Schwarmstruktur. Scheinbar ohne kohärenten Anspruch wird eine weitere Sicht auf denselben Sachverhalt aus einer anderen Zeit dem Gesamtbild hinzugefügt, die bisher unbekannte Informationen zutage bringt. Durch die typografische Absetzung wird die Authentizität des Briefes angezeigt.65 Neumann erinnert sich im »Selbstversuch« an die Situation im Wagen als an einen »Augenblick der Resonanz zwischen zwei Personen, [dem] ein Moment des Schweigens folgt, den ein Dritter bemerkt« (S. 283) – er selbst als Fahrer ist dieser Dritte. Neumann sieht im Gedicht »Todtnauberg« in völliger Klarheit folgendes von »Celan erfundenes ›Ritual‹« (S. 284) vollzogen: »die Erzwingung – nach dem
65 Sowohl die Briefe als auch die Schulaufsätze, die im »Selbstversuch« wiedergegeben sind, liegen in dieser Form vor (laut Gespräch mit Frau Prof. Gabriele Brandstetter am 16. 06. 2020).
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Holocaust – des Geständnisses der Schuld durch die Täter kraft des Schweigens des Opfers« (S. 284).66 Dieses Gedicht wird als »der zweite heikle Punkt im Zusammenhang [des] Zerwürfnisses mit dem Dichter [bezeichnet], das am 26. März 1970, Gründonnerstag, sich ereignete und Ursache für die Niederschrift dieser autobiographischen Fragmente ist« (S. 289).67 Das Verhältnis zwischen Gerhard Neumann und Paul Celan spitzte sich später zu einem gegenseitigen »Missverständnis[]« (S. 13) zu, das in einer privaten Lesung am 26. März 1970 – wenige Monate vor Celans Tod – in Freiburg seinen Höhepunkt fand. Man sei bereits dort über Celans »befremdliche und abgerissene Kleidung«68 erschrocken gewesen. In einem weiteren Brief an Franz Wurm berichtet Celan von dieser Veranstaltung: »Gestern, bei Prof. Baumann, Lesung im kleinen Kreise. Heidegger war da, die Tochter Ludwig von Fickers, zwei Assistenten von Prof. Baumann, der eine von ihnen, er stammt aus Brünn, hatte schon vorher meine Gedichte ins ›Absolut-Metaphorische‹ verrückt. Frau Baumann und eine junge Studentin haben wirklich zugehört, auch der andere Assistent (und dessen Frau), auch Prof. Baumann. Auch Heidegger.«69
Gerhard Neumann wird nicht einmal namentlich genannt, sein jüngst in der Zeitschrift »Poetica« erschienener Aufsatz »Die absolute Metapher: Ein Abgrenzungsversuch Stéphane Mallarmés und Paul Celans« wird von Paul Celan offenbar missbilligt. Die zugehörige Lesung wird auch im »Selbstversuch« geschildert: Celan sei nach der Lesung verschwunden und nicht mehr wiedergekommen, sodass die vorausgesehene Katastrophe des Zerwürfnisses wohl eingetreten schien. Der Vorschlag von Tophoven an Neumann, einen Aufsatz über Paul Celan zu schreiben, war bereits Jahre zuvor in Paris erfolgt. Dies sei für Neumann »zweifellos eine Herausforderung gewesen« (S. 276), welcher er sich 66 An dieser Stelle geht es Neumann nicht mehr um das Schweigen zwischen Heidegger und Celan, sondern er bezieht diese Schilderung vielmehr auf sich: »dieses Ritual ist geboren als kleinstes Element im Grundmuster der sich wieder herstellenden Sprache, der Ermöglichung des Wiederfindens der unschuldigen Kommunikation unter den Menschen; und zwar im Zusammenstoßen zweier Lebensläufe in einer inhumanen Welt, derjenigen des einen, der aus Rumänien floh, derjenigen des anderen, der Zeugnis ablegen soll und aus seiner paradiesischen Jugendwelt vertrieben wurde: der ›Mensch, der uns fährt‹. Es ist, so könnte man sagen, das Thema der Biographie, um das es hier geht« (S. 284). Die Flucht des jüdischen Paul Celan, der seine Eltern durch den Holocaust verlor, mit der eigenen Vertreibung aus Mähren und den eigenen, offenbar dem Nationalsozialismus zugewandten Eltern zu vergleichen, stieß verständlicherweise auf Unverständnis. 67 Freilich ist die Chronologie vom ersten und zweiten heiklen Punkt durcheinander, doch wird im »Selbstversuch« Neumanns Erinnerung wiedergegeben und keine wissenschaftliche Analyse. Erst in der Rückschau ergibt sich Neumanns Sichtweise auf die Geschehnisse. 68 Pöggeler, Der Stein hinterm Aug. 2000, S. 175. 69 Paul Celan an Franz Wurm am 27. 03. 1970. In: Paul Celan. ›etwas ganz und gar Persönliches‹. Briefe 1934–1970. Ausgewählt, hrsg. und kommentiert von Barbara Wiedemann. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2019, S. 889.
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stellen wollte – zumal Celan in Paris diesen Vorschlag offenbar gebilligt oder gar suggeriert hatte, dass Neumann über seine Texte schreiben müsse. Neumann erinnert sich im »Selbstversuch«, dass er zur Zeit der Entstehung dieses Aufsatzes über Celan an einer grundsätzlichen Frage gebastelt habe: »an der Frage nach der Funktion der Metapher im literarischen Text« (S. 277). Der Kern dieses Aufsatzes sagt aus, dass Paul Celan die Metapher als sprachliches Schweigen konstruiert: »Die absolute Metapher Paul Celans ist Sprache und Schweigen zugleich. Sie bezeichnet Weg und Grenze seines Gedichts.«70 Neumann verpasste es nach Erscheinen des Aufsatzes, »wohl aus einer Art Scheu« (S. 298), Celan einen Sonderdruck zu überreichen, worüber sich dieser »befremdet« (S. 298) gezeigt habe. Für Neumann stellen in der Rückschau sowohl sein Aufsatz wie auch Celans Gedicht Versuche dar, »ein verstehendes Einvernehmen der drei im Automobil Vereinigten« (S. 289) zu suchen. Die Nachricht der durch Neumann verursachten Kränkung Celans »verbreitete sich, wie solche Skandale es tun, mit großer Schnelllebigkeit in der akademischen Welt« (S. 299). Schon bald sei ihm klar geworden, dass der Begriff der ›absoluten Metapher‹ vielleicht nicht glücklich gewählt worden war, doch an der Grundthese hielt Neumann fest: »in welcher Weise, so war zu fragen, hängt das Schweigen in den vielfältigen Kommunikationsakten, denen sich Celan aussetzte, ja in die er sich mehr oder minder absichtlich verwickelte – wie hängt dieses Nichts-Sagen, oder dieses Nicht-Sagen, von dem die Gedichte Celans handeln, mit einer Poetik des Schweigens, wie man es einmal nennen könnte, zusammen?« (S. 299)
Neumann bekennt im »Selbstversuch«, dass er das Ereignis dieser Faszination und dieser Kränkung nie mehr losgeworden sei. Die wiederholte Betonung der »Kränkung« deutet auf einen tiefer liegenden Sachverhalt hin. Denn »Kränkung« ist hier nicht ausschließlich als ›Verletzung der Gefühle‹ zu verstehen, sondern als fünfzig Jahre währendes Kranksein, daran kranken. Der »Selbstversuch« soll diesem Kranksein ein Ende setzen, indem über das gesprochen wird, was jahrzehntelang verschwiegen wurde. Nicht zu übersehen ist dabei auch der psychoanalytische Bezug des Begriffs der »Kränkung«, über den sich Sigmund Freud 1917 in seinem umstrittenen Beitrag »Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse« äußerte. Seine These besagt hier, dass »der allgemeine Narzissmus, die Eigenliebe der Menschheit, bis jetzt drei schwere Kränkungen von seiten der wissenschaftlichen Forschung erfahren«71 habe. Freud bezieht sich dabei auf die Erkenntnisse von Kopernikus, Darwin und seine eigene Psychoanalyse, gemäß der das Ich nicht Herr im eigenen Hause sei. Jene Psychoanalyse ist es auch, die
70 Neumann, Die absolute Metapher. 1970, S. 225. 71 Freud, Sigmund: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse. In: Imago V, 1917, S. 1–7, hier S. 3.
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neben der Archäologie und Hermeneutik eine der »drei Praxen« (S. 195) gewesen sei, woraus sich der junge Gerhard Neumann die Entstehung der Literaturwissenschaft zu Beginn seines Studiums vorgestellt hatte und worauf er im Laufe seiner Karriere immer wieder zurückkommt. Neumann selbst bezeichnet das Gewahrwerden jener Freud’schen Kränkung als eine Emanation aus einem »Wahrnehmungsschock«72. In seinem Beitrag über Kafkas Anthropologie führt er dezidiert aus, dass der »Kafkasche VerwandlungsSchock die vierte und radikalste Kränkung dieser Art sei«73, da er in Gestalt des Aussetzens aller Orientierungsmuster geschehe. Wenn Gerhard Neumann in seinem Erinnerungsbericht explizit von »Kränkung« spricht, so ist es naheliegend, diese Wahl in ein größeres Denkfeld zu stellen – in die Reihe von Freuds »Kränkungen« – und als ganz persönliche vierte Kränkung des individuellen Narzissmus zu verstehen. Aus dieser einschneidenden Erfahrung mit Paul Celan erwuchs ein Kranksein, das ihn nie wieder losließ.
6.
Es ist ein ›Selbstversuch‹
»Zum Abschluss«, schreibt Neumann, »der doch kein Abschluss sein kann, ist zu sagen: Ich habe lange geschwiegen. Ich habe mir Celans Botschaft an den Zeitzeugen zu Herzen genommen und besser befolgt, als er wohl erwartete; nämlich indem ich tatsächlich schwieg« (S. 306). Dieser Hinweis, auf Celans Aufforderung zu schweigen, wird mit einem Beispiel versehen: Eine kleine Gruppe habe sich mit Celan in einem Freiburger Lokal zusammengefunden und jener habe alle aufgefordert, »eine Weile zu schweigen« (S. 305). Die Atmosphäre sei zum Zerreißen gespannt gewesen und Neumann selbst habe »nicht die Fähigkeit, nicht die Kraft, wohl auch nicht den Instinkt, in dieses Schweigen hineinzusprechen« (S. 305) gehabt – obwohl dies offenbar in der Rückschau das Richtige gewesen wäre. Neumann hatte als Zeuge, den Celan aufgerufen hatte, verschwiegen, was er auf der Fahrt gehört hatte – offenbar Schweigen: »Hätte man doch hier keinen stummen Fahrer, sondern einen beredten Eckermann gebraucht, der mit angehaltenem Atem die gesagten Sätze und Worte memoriert und überliefert« (S. 301). Selbst Paul Celans Eintrag in das Hüttenbuch drücke die Hoffnung aus, »dass der schweigende Täter, vom schweigenden Opfer genötigt, das Schweigen bricht« (S. 303). Dies sei es, was Celans Poetologie der ›absoluten Metapher‹ impliziere: »Sie zwingt den Leser, die Eigentlichkeitshälfte der Metapher, wenn man es so ausdrücken will, zu artikulieren; sie, die verschwiegen ist, zu ›ent72 Neumann, Kulturwissenschaft. 2014, S. 179. 73 Neumann, Gerhard: Verfehlte Anfänge und offenes Ende. Franz Kafkas poetische Anthropologie. München 2009, S. 75.
Ein Schwarm von Texten – Gerhard Neumanns »Selbstversuch«
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bergen‹« (S. 303). Doch nicht nur über das Schweigen zwischen Celan und Heidegger habe er geschwiegen, sondern auch über die eigene Kränkung: »Ich habe diese Kränkung nie vergessen – ich habe selten darüber nachgedacht und ich habe nie über diese Kränkung gesprochen. Meine Antwort war das Schweigen, das Verschweigen dieser Begegnung und dieser Verletzung; im Allgemeinen nennt man ein solches Verhalten die Herstellung eines Traumas oder die Anlegung einer Krypta« (S. 200).
Diesem Schweigen wird nun mit dem »Selbstversuch« ein Ende gesetzt. Das Wort wird zumeist im medizinischen und naturwissenschaftlichen Kontext verwendet. Dieser medizinische Bezug ist hier mehr als deutlich: Neumann bezeichnet Schreibszenen als »Bauelemente im Prozess der Lebens-Architektur«74, die zur Bewältigung von Krisen dienen, und das Schreiben und Lesen als »therapieähnliche Tätigkeiten« (S. 172). Eine Fußnote im Vorwort verweist bezüglich der Wahl des Titels »Selbstversuch« auf den Arzt Werner Forßmann (1904–1979), der sich im Jahr 1929 »im Selbstversuch einen Katheter ins Herz« (S. 15, Fußnote 4) einsetzte. Diese knappe Information in einer Fußnote ist zugleich eine Spur, die der Leser weiterzuverfolgen hat. Forßmann, der 1932 noch vor der Machtergreifung der NSDAP beitrat, war als Person ebenso umstritten wie sein spektakuläres Experiment, mit dem er sich für eine akademische Karriere in Stellung bringen wollte.75 Obwohl sein Selbstversuch anfangs als ›Scharlatanerie‹ abgelehnt und kritisiert wurde, erhielt er 1956 zusammen mit zwei Ärzten, die auf Basis seiner Forschung die Katheterisierung weiterentwickelt hatten, den Nobelpreis.76 Eigenwilligkeit und Brillanz vereinten sich in seiner Person. Nicht zuletzt sei angemerkt, dass Werner Forßmann eine Autobiografie verfasste, welcher er den Titel »Selbstversuch« gab.77 Diese vermeintlich unscheinbare Fußnote zu Beginn des gesamten Erinnerungsberichts weist darauf hin, dass das darauf Folgende als Selbstversuch in der Tradition dieses Experiments steht. So ist auch der »Selbstversuch« als Experiment am eigenen Leben zu verstehen, an dessen akademischen Beginn ein 74 Neumann, Gerhard: Die Schreibszene. Im Leben und in der Literatur. Ein Aperçu. In: Schreibszenen: Kulturpraxis – Poetologie – Theatralität. Hrsg. von Dems./Christine Lubkoll/ Claudia Öhlschläger. Freiburg i. Br.: Rombach 2015, S. 25–29, hier S. 25. 75 Vgl. Bröer, Ralf: Legende oder Realität? – Werner Forßmann und die Herzkatheterisierung. In: Deutsche Medizinische Wochenschrift 127, 2002, S. 2151–2154, hier S. 2152f. Werner Forßmann widersprach mehrfach seinen eigenen Aussagen zum Vorgehen und hatte offenbar die ihm zur Seite stehende Krankenschwester mit Gewalt zur Hilfe genötigt. Weiterhin handelte er mutwillig gegen Vorschriften seiner Vorgesetzten und missachtete medizinischethisch vorgegebene Auflagen. 76 Vgl. Goerig, Michael/Agarwal, Kamayni: Werner Forßmann: »The typical man before his time!« Erste Herzkatheterisierung im Selbstversuch. In: Anästhesiologie. Intensivmedizin. Notfallmedizin. Schmerztherapie 43, 2008, S. 162–165, hier S. 162. 77 Werner Forßmann: Selbstversuch. Erinnerungen eines Chirurgen. Düsseldorf: Droste 1972.
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Missverständnis steht. Am Ende dieses Lebens bleibt das uns vorliegende »Buch […] selbst als Metapher«78 zurück, das sein metaphorisches Potenzial durch das Organisationsmuster entfaltet.
7.
Heilungsversuch
Neumann legt im Vorwort des »Selbstversuchs« seine Annahme dar, dass alle poetische (und poetologische) Kommunikationsstrategie Celans darauf ausgerichtet sei, »dem Kommunikationspartner, als dem Schuldigen, das Geständnis, die Äußerung dieser Schuld abzupressen« (S. 14). Die nachträglich in die »Chronik der Lektüren« eingefügten Zitate aus dem Text von Frederick Wyatt, in dem es um Zeugenschaft geht,79 werden um einen längeren Auszug am Ende des »Selbstversuchs« ergänzt, dem Kapitel »Form« untergeordnet. Darin steht, dass mit dem Zeitzeugen vorsichtig umzugehen sei, »am besten mit wohlwollender Skepsis« (S. 380), da dieser am meisten Grund habe, seine Erinnerungen nicht für genaue Abbildungen dessen zu halten, was damals geschehen ist. Vor dem Wyatt-Auszug ist kommentarlos der Text »Endlich eine Lösung für eines Vaters verwirrendes Vermächtnis« von Samuel G. Freedman aus der New York Times vom 4. April 201480 abgedruckt. Es geht darin um eine metallene Zigarettenschachtel mit Asche, die von einem jüdischen Überlebenden aus dem Lager Dachau an den Vater eines gewissen Joseph Corsbie übergeben worden war. 2011 schließlich entschied sich jener Corsbie, die Asche aus diesem »grässliche[n] Erinnerungsstück« (S. 376) in Würde begraben zu lassen. Der Auszug endet mit den Worten Corsbies nach dem Begräbnis: »Ich habe doch letztlich etwas richtig gemacht in meinem Leben. […] Ich habe versucht, die Dinge richtig zu machen, und es ist mir viele Male misslungen. Jetzt aber denke ich, dass ich ein paar Menschen geholfen habe. Weil sie nicht nur Nummern sind, sondern Menschen« (S. 379). Ist dieses vermeintlich kontextlos eingefügte Textfragment womöglich der Hinweis darauf, dass der Bruch des fünfzigjährigen Schweigens als nachträgliches ›Richtigmachen‹ gegenüber Paul Celan zu verstehen ist?
78 Schmitz-Emans, Monika: Oszillationen zwischen dem Metaphorischen und dem KonkretMateriellen: Metaphoriken des Buchs im Spiegel literarischer und buchkünstlerischer Arbeiten. In: World Literature Studies 10, 2018, S. 114–128, hier S. 117. 79 Wyatt, Frederick: Wechselnd bewölkt, mit Aufheiterungen. Das Leben eines Psychoanalytikers in unruhiger Zeit. In: Freiburger Universitätsblätter 128 (1995), S. 75–82. 80 Freedman, Samuel G.: A Resolution at Last for a Father’s Unsettling Legacy. In: New York Times vom 04. 04. 2014. (letzter Zugriff: 10. 06. 2020).
Ein Schwarm von Texten – Gerhard Neumanns »Selbstversuch«
8.
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Ein Schwarm von Texten – Gerhard Neumanns »Selbstversuch«
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Pöggeler, Otto: Der Stein hinterm Aug. Studien zu Celans Gedichten. München 2000. Schmidt, Gunnar: Menschenschwärme, Schwarmmenschen. Schwarm-Bilder. Trier 2010. Wiedemann, Barbara: Gerhard Neumann: Selbstversuch. In: Arbitrium 37, 2019, S. 409– 417. Schmitz-Emans, Monika: Oszillationen zwischen dem Metaphorischen und dem KonkretMateriellen: Metaphoriken des Buchs im Spiegel literarischer und buchkünstlerischer Arbeiten. In: World Literature Studies 10, 2018, S. 114–128. Wyatt, Frederick: Wechselnd bewölkt, mit Aufheiterungen. Das Leben eines Psychoanalytikers in unruhiger Zeit. In: Freiburger Universitätsblätter 128 (1995), S. 75–82.
Suzanne Bordemann
Über das Schreiben »unter dem Doppelzwang eines empfindlichen Moralgefühls und eines empfindlichen Kunstgewissens« – Christa Wolfs Briefe (1952–2011)
1.
Einleitung »Wie lange war es her, daß ich keine vertraulichen und vertrauten Briefe mehr geschrieben hatte. Daß ich mich zwingen mußte, überhaupt zu schreiben. Ich wußte es nicht mehr. Wann hatte die Zeit der Als-ob-Briefe begonnen – als ich mich entschlossen hatte, zu schreiben, als ob niemand mitläse; als ob ich unbefangen, als ob ich vertraulich schriebe. Nur soviel wußte ich: Für spontane Briefe war ich verdorben, und die Verbindung zu entfernt wohnenden Briefpartnern trocknete aus.«1
So sinniert die namenlose Ich-Erzählerin in Christa Wolfs Erzählung »Was bleibt« angesichts der staatlichen Überwachung und der Einschüchterungsversuche, denen sie sich ausgesetzt sieht. Sie empfindet ihre Situation als zunehmend bedrohlich, leidet unter einer Schreibsperre und ringt um eine adäquate – um ihre eigene – Sprache. Wolfs Protagonistin vermag ihrem Bedürfnis nach unmittelbarer und vertraulicher Mitteilung im Medium des Briefes nicht mehr nachzukommen. Ihre Versuche, eine unverstellte, aufrichtige briefliche Kommunikation zu führen, sind gescheitert. Dennoch hat die Überwachungssituation – lässt uns ihr Gedankenstrom wissen – nicht dazu geführt, dass sie ihren Briefverkehr aufgegeben hätte. Vielmehr setzt die Ich-Erzählerin ihre briefliche Kommunikation im Modus der fingierten Authentizität, des fingiert wahrhaftigen Austausches fort und verleiht den prekären Umständen nach außen den Anschein der Unverstelltheit und Normalität. Die Erzählung »Was bleibt«, die den sogenannten deutsch-deutschen Literaturstreit auslöste, wurde als Text mit ausgeprägt autobiografischen Zügen rezi-
1 Wolf, Christa: Was bleibt. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2012, S. 53–54. Die Erzählung wurde von Christa Wolf zunächst Ende der 1970er Jahre verfasst, dann vielfach überarbeitet und erstmals 1990 publiziert. Niedergeschlagen, verängstigt und zunehmend desillusioniert ringt die schreibende Ich-Erzählerin – konfrontiert mit Überwachung und Zensur – um ihre eigene Sprache, in der sie ihr Schreiben fortsetzen und der schwierigen Situation in der DDR der 1970er Jahre adäquat Ausdruck verleihen kann.
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piert.2 Gesetzt den Fall, die eingangs zitierte Gedankenrede lässt sich auf die Lebenswelt der Autorin übertragen, stellt sich die Frage, welche Funktion die zahlreichen Briefe in ihrem Werk erfüllen und welchen Stellenwert Christa Wolf ihrem beeindruckend regen brieflichen Gedankenaustausch beimaß. Das Briefgenre setzt, gemäß seiner »Grundfunktionen der Informationsübermittlung, des Appellierens und der Selbst-Äußerung«, Tatsachenwahrheit und Wahrhaftigkeit der brieflichen Darstellung voraus.3 Besteht ein Spannungsverhältnis bzw. ein Widerspruch zwischen dem von der Schriftstellerin Christa Wolf beharrlich vertretenen Wahrheitsanspruch – ihrer immer wieder explizit thematisierten lebenslangen Bemühung um Wahrhaftigkeit in Leben und Schreiben – und jener, in ihrer Prosa problematisierten Inauthentizität ihrer Briefe, die (wie im Eingangszitat angedeutet) auf eine Täuschung der Adressaten zielt?4 Christa Wolf hat die poetologischen Grundpfeiler ihres Schreibens bekanntlich werkbegleitend in zahlreichen Essays, Reden, öffentlichen Tagebüchern und Gesprächen reflektiert und präsentiert.5 Auch dem Brief kommt im Kontext ihres Schreibens und ihrer selbstreflexiven und dialogischen Bemühungen um eine poetologische Standortbestimmung eine zentrale Bedeutung zu, wie mehrere, zum Teil bereits zu Lebzeiten der Autorin veröffentlichte Briefbände mit Briefwechseln zwischen Wolf und Schriftstellerkolleginnen wie Anna Seghers, Brigitte Reimann, Franz Fühmann, Charlotte Wolff und – kürzlich erschienen – auch Sarah Kirsch belegen (2019). Freilich bestand Wolfs Briefnetzwerk nicht nur aus Autorinnen und Autoren. 2016 erschien eine Briefauswahl, die ein breites Spektrum bisher unveröffentlichter Briefe Wolfs (bei 90 % der Briefe der Auswahl handelt es sich um Erstveröffentlichungen) zwischen 1952 und 2011 präsentiert.6 Der Band umfasst genau 483 Briefe, ausgewählt aus einem Materialfundus von rund 15.000 Briefen
2 Vgl. hierzu Anz, Thomas: Es geht nicht um Christa Wolf. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland. München: Spangenberg 1991. 3 Nikisch, Reinhard M. G.: Brief. Stuttgart: Metzler 1991 (Realien zur Literatur, Bd. 260), S. 13. 4 Über den Wert der Briefe als Quelle zu »Facetten der inneren und äußeren Biographie einer der bedeutenden deutschen Schriftstellerinnen des 20. und 21. Jahrhunderts«, siehe Wolf, Sabine: Nachwort. In: Christa Wolf, Briefe 1952–2011. ›Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten‹. Hrsg. von Sabine Wolf. Berlin: Suhrkamp 2016, S. 935–951 (Seitenangaben fortlaufend im Text). 5 Vgl. hierzu Theml, Katharina: Essays. In: Christa Wolf Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Carola Hilmes/Ilse Nagelschmidt. Stuttgart: Metzler 2016, S. 271–283 und Schmidt, Nadine J.: Interviews, Vorträge, (Preis-)Reden. In: ebd., S. 284–295. 6 Die Auswahl erfolgte, so die Herausgeberin Sabine Wolf, hinsichtlich der Aussagekraft und Repräsentativität des jeweiligen Briefes für unterschiedliche Phasen in der Lebens- und Gedankenwelt der Autorin, für »Facetten ihres Ausdruckes, ihre Literatur, ihr familiäres und gesellschaftliches Umfeld, ihre Zeit« und unter Berücksichtigung formaler Kriterien (S. 950– 951).
Christa Wolfs Briefe (1952–2011)
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aus dem Nachlass Wolfs, welcher überwiegend im Christa-Wolf-Archiv in der Akademie der Künste in Berlin archiviert ist.7 Der Band illustriert, dass das Briefgenre der Autorin weit mehr war als ein Medium für Persönliches. Wolf schreibt in ihren Briefen über ihre Poetik, Schreibanlässe, Schreibblockaden, Erschütterungen und Brüche in ihrem literarischen Schaffen. Die Briefe dienen ihr als Medium des Austausches, der Meinungsbekundung und der Reflexion. Sie sind Zeugnis des Selbstzweifels, der Selbstkritik, aber auch der Selbstvergewisserung, Selbstfindung und Selbstinszenierung der Autorin im Kontext epochaler zeitgeschichtlicher Ereignisse. Unter dem Gesichtspunkt der von Christa Wolf auf den Dialog mit dem Leser ausgerichteten Poetologie und des von ihr vertretenen Berufsethos vermag die Ernsthaftigkeit, mit der sich die Autorin dem brieflichen Austausch mit ihrem Umfeld widmet, kaum zu überraschen – erscheint sie doch als konsequente Ausund Weiterführung der schriftstellerischen Aufgabe, die sie sich stellte.8 Die briefliche Kommunikation ermöglicht der Autorin Wolf, die theoretischen Grundpfeiler ihrer Poetik nicht nur zu reflektieren und zu vermitteln, sondern darüber hinaus auch in die Praxis umzusetzen, indem sie die monologische Schreibtätigkeit mit einem (auch brieflich geführten) Dialog mit ihrem Umfeld verbindet. In diesem Beitrag wird anhand von Beispielen aus der von Sabine Wolf vorgenommenen Auswahl aus dem Briefnachlass Christa Wolfs untersucht, wie, wann und mit wem die Autorin Grundlagen und Motivationsfaktoren ihres Schreibens im (halb-)öffentlichen Gesprächsraum ihres Briefverkehrs aufgreift, reflektiert und in Szene setzt. Zunächst werde ich kurz auf einige Besonderheiten der Gattung Brief eingehen, um anschließend Auszüge aus dem Briefverkehr Christa Wolfs in seiner Funktion als Arena der Reflexion und Inszenierung ihres Schreibens zu untersuchen.
2.
Das Medium »Brief« als Reflexions- und Schreibwerkstatt
Christa Wolf maß dem Brief in mehrfacher Hinsicht eine wichtige Funktion zu. Davon zeugt schon die Tatsache, dass sie Durchschläge von ihrer maschinen- und auch handgeschriebenen Korrespondenz anlegte und in zwei Kategorien – öf7 Zum Teil sind die Briefe der vorliegenden Auswahl auch in Empfängerarchiven untergebracht (vgl. ebd., S. 949–951). 8 Wolf, Christa: Lesen und Schreiben. Aufsätze und Prosastücke. Darmstadt: Luchterhand 1972, insbesondere S. 181–220. In einem Gespräch mit Frauke Meyer-Gosau formuliert Wolf ihr Berufsethos so: »Wir waren ja Sozialisten, wir lebten als Sozialisten in der DDR, weil wir dort uns einmischen, mitarbeiten wollten« (in: Christa Wolf/Gerhard Wolf, Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Projektionsraum Romantik. 2008, S. 435).
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fentlich und privat – archivierte. So konnte sie ihre zahlreichen Briefgespräche jederzeit rekonstruieren, fortsetzen und gleichzeitig den Grundstein für ihre Bewahrung und Überlieferung legen.9 Wolf pflegte die briefliche Form der Distanzkommunikation ihr Leben lang mit sehr unterschiedlichen Briefpartnern und bemerkenswerter Beharrlichkeit, Gewissenhaftigkeit und Ernsthaftigkeit, wobei sie allerdings häufig betonte, dass ihr ein Gespräch lieber wäre.10 Offensichtlich war der Brief für sie ein der unmittelbaren Kommunikationsform des mündlichen Austausches unterlegenes, aber dennoch notwendiges Substitut, das ihr den Austausch mit ihrem weitverzweigten Netzwerk ermöglichte. Gleichzeitig war für sie der Brief mehr als reiner Gesprächsersatz. Das schriftliche Medium Brief unterstützte die Umsetzung ihrer schriftstellerischen Zielsetzung, der Flüchtigkeit des Augenblicks, dem Vergessen entgegenzuwirken.11 Zudem gewährte das Genre der Autorin einen Freiraum, in dem sie sich von den Regeln und dem Formkanon, an dem sie ihr Schreiben gemeinhin maß, zu lösen und eine größere Unmittelbarkeit des Ausdrucks zu erzielen vermochte. Wolf umreißt die Vorzüge des Briefmediums in ihrem als Briefessay verfassten Nachwort zu Bettine von Arnims Briefroman »Die Günderode« (1983 [1925]) als »eben jene Form, in der sie [Bettine von Arnim] ihre Erfahrungen überliefern [kann] […], ohne sie deformieren zu müssen«.12 Die »menschliche Aura des Briefes« macht die Briefe Wolfs zu einem intensiven Lektüreerlebnis.13 Es ist fast, als sähe man die Schreiberin – kann doch der Brief als Repräsentant seiner Verfasserin und somit gewissermaßen als ihre 9 Marie Isabel Matthews-Schlinzig und Caroline Socha heben die Dynamik, das Entwicklungspotenzial und die Aktualität der Gattung Brief hervor und stellen die Frage nach ihrem zukünftigen Stellenwert: »Wir leben in einer medialen Schwellenzeit, in der der Status der epistolaren Form und ihre mediale, soziale, wie kulturelle Bedeutung neu verhandelt werden – Ausgang offen.« Vgl. Matthews-Schlinzig, Marie Isabel/Socha, Caroline: Von einfachen Fragen, oder: Ein Brief zur Einführung. In: Was ist ein Brief ? Aufsätze zu epistolarer Theorie und Kultur. Hrsg. von Marie Isabel Matthews-Schlinzig/Caroline Socha. Würzburg: Königshausen & Neumann 2018, S. 9–17, Zitat S. 12. 10 Sarah Kirsch vertritt (in einer Karte an Wolf aus Rom, datiert auf den 05. 02. 1979) eine ähnliche Meinung: »Ich glaube auch, schreiben ist Silber, reden ist Gold« (in: Sarah Kirsch/ Christa Wolf, ›Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt‹. Der Briefwechsel. Hrsg. von Sabine Wolf/Heiner Wolf. Berlin: Suhrkamp 2020, S. 142). 11 Mehr hierzu in: Christa Wolf – Im Strom der Erinnerung. Hrsg. von Carsten Gansel/Sonja Klocke. Göttingen: V&R unipress 2014. 12 Christa Wolfs Nachwort ist in der Form eines fingierten Briefes verfasst und beginnt so: »Liebe D., anstelle des Briefes, den Sie erwarten, will ich Ihnen über die Bettine schreiben. Vielleicht ist uns beiden damit geholfen: Ich entkomme den Regeln, denen ein Nachwort sonst unterworfen ist. Sie erfahren etwas über eine Vorgängerin, die Sie noch nicht kennen; beide können wir Grundthemen unseres Briefdialogs fortführen […]« (Christa Wolf: ›Nun ja! Das nächste Leben geht aber heute an.‹ Ein Brief über die Bettine. In: Die Günderode. Hrsg. von Bettine von Arnim. Leipzig: Insel 1983 [1925], S. 545–584, Zitat S. 574–575). 13 Vgl. Matthews-Schlinzig/Socha, Brief. 2018, S. 13.
Christa Wolfs Briefe (1952–2011)
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»Verkörperung« bzw. ihr »Stellvertreter« gelesen werden.14 Freilich sind die scheinbare Unvermitteltheit des Ausdrucks und der Eindruck von Nähe, der sich bei der Lektüre leicht einstellt, trügerisch. Viele der Briefe bezeugen, wie eingangs erwähnt, implizit und explizit das Wissen ihrer Verfasserin um unerwünschte Mitleser, sie sind offensichtlich im Bewusstsein der Postzensur geschrieben und machen die Überwachung teilweise auch zum Thema. Andere Briefe wirken stilisiert, vermitteln den Anschein von Verhaltenheit, Selbstzensur oder auch bewusster Selbstinszenierung der Autorin. Eine ganze Reihe von Briefen folgt wiederum einer didaktisch-aufklärerischen Intention. Christa Wolf tauschte sich mit Vertretern sehr unterschiedlicher gesellschaftlicher Bereiche über ihr Schreiben, ihre Schreibsituation und ihr Literaturverständnis aus – neben Leserbriefen und privater Post besteht die Sammlung vor allem aus Briefen an Schriftstellerkollegen, Ärzte und Mediziner, Parteigenossen, Lektoren und Verlage, Schüler, Studenten und Literaturwissenschaftler. Die Briefe informieren als ein weit vernetztes öffentliches Gespräch über die Literatur, das Schreiben und die schriftstellerische Tätigkeit Christa Wolfs im Besonderen. Die erkennbaren Beziehungsmuster beleuchten auf anschauliche Weise verschiedene Facetten ihrer poetischen Existenz. In ihrem Briefgespräch mit schreibenden Kolleginnen und Kollegen in Ost und West bekleidet Wolf unterschiedliche Rollen, die eng mit ihrem Literaturverständnis verknüpft sind: Mal ist sie die Ratgeberin, mal Redakteurin, mal die vertraute Freundin, Mahnerin, Fürsprecherin, Mentorin oder Dozentin/Lehrmeisterin – allesamt Rollen bzw. Aufgaben, denen sie mit großem Ernst gerecht zu werden bemüht war.15 Untrennbar verbunden mit der Aufgabe des Schriftstellers ist für Wolf der Dialog mit der lesenden und schreibenden Öffentlichkeit, und der briefliche Austausch stellt sich ihr aus dieser Perspektive auch als Verpflichtung und Gewissenssache dar.16 Doch offensichtlich sah Wolf den breit geführten Briefdialog auch als Möglichkeit, ihren Erfahrungshorizont zu erweitern und daraus Impulse für ihre eigene schriftstellerische Arbeit zu ziehen: »Die Lebensläufe, die mir unaufhörlich erzählt werden! Ich muß nur immer alle Poren öffnen, um alles aufzusaugen« (S. 746). Viele ihrer Briefe zeugen von der Schlüsselfunktion, die Wolf dem Gedankenaustausch und der Auseinandersetzung mit Vertretern unterschiedlicher 14 Ebd. 15 Bezeichnenderweise entschuldigt sich Wolf oftmals für ihre späte Antwort und bekundet ihr schlechtes Gewissen wegen der Verzögerung. 16 Insofern zeugt die beharrliche Aufrechterhaltung der Briefkommunikation von Verantwortungsbewusstsein und Fleiß – allesamt Eigenschaften, auf die Wolf auch in ihrer brieflichen Selbstdarstellung Wert legt: »Der preußische Protestantismus. Fleißig, bescheiden, tapfer und immer ehrlich sein. Tugenden, verkündet von der sehr geliebten Mutter« (Wolf, Christa: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud. Berlin: Suhrkamp 2012, S. 286).
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gesellschaftlicher Bereiche für das eigene literarische Schreiben beimaß. Von zentraler Bedeutung ist in diesem Kontext der Briefverkehr unter Schriftstellern in der DDR, aus dem ich im Folgenden einige Beispiele anführen möchte.17
3.
Über den Briefwechsel schreibender Frauen in der DDR
»Kann man sich denn auf irgendeinen Briefpartner verlassen?« Diesen viel zitierten Satz schreibt Christa Wolf 1969 an ihre Schriftstellerkollegin Brigitte Reimann (1933–1973) und gibt somit zu verstehen, dass ihre Briefe schon in den 1960er Jahren mit einer gewissen Vorsicht – und möglicherweise im Modus des »Als-ob« – verfasst sind (S. 21). Wolf unterhält einen regen Briefwechsel mit Autorinnen und Autoren in der DDR, und viele der Briefe illustrieren, wie man einander ermutigt und unterstützt, sich jedoch nicht vorbehaltlos mitteilt.18 Die vorliegende Briefpublikation verdeutlicht, wie wichtig der Brief den schreibenden Frauen als Medium des Austausches und als Hilfsmittel bei der Etablierung und Pflege von Netzwerken war.19 Reimann und andere jüngere Autorinnen schickten ihre Manuskripte oder ersten Schreibversuche an die bereits etablierte Autorin Wolf und baten um Rat, woraufhin sich in vielen Fällen ein langjähriger brieflicher Austausch über das Schreiben entwickelte. Der Briefband präsentiert hierfür mehrere Beispiele, darunter einige der Briefe Wolfs an Gerti Tetzner. Tetzner repräsentiert jene Gruppe von Briefpartnerinnen, deren literarische Schreibanläufe von der erfahrenen Autorin Wolf freundschaftlich beratend begleitet wurden. Die Frauen tauschten sich über das Schreiben und seine sozialen, gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, die Grundlagen ihrer Poetiken und literari-
17 Caroline Socha und Marie Isabel Matthews-Schlinzig verweisen in ihrer Anthologie »Was ist ein Brief ?« auf die kreative Kraft dieser Gattung – vermag sie doch andere Textsorten, wie beispielsweise Essays oder Poetiken wie auch soziale Strukturen (literarischen Austausches) und kulturelle Praktiken (Netzwerke) hervorzubringen (Matthews-Schlinzig/Socha, Brief. 2018, S. 13). 18 Wolf traf sich regelmäßig mit einem Kreis von schreibenden Frauen, darunter: Daniela Dahn, Sigrid Damm, Helga Königsdorf, Helga Schütz, Brigitte Struzyk, Gerti Tetzner, Rosemarie Zeplin, Renate Drescher und Brigitte Burmeister (vgl. Wolf, Briefe. 2016, S. 747; Nagelschmidt, Ilse: Von der Zeitgenossenschaft zur Zeitzeugenschaft: Christa Wolf in Zeit- und Generationszusammenhängen. In: Hilmes/Nagelschmidt, Christa Wolf Handbuch. 2016, S. 2– 63, hier S. 37). 19 Vgl. Bircken, Margrid/Hampel, Heide (Hrsg.): Brief-Netz-Werk. Schreibende Frauen in der DDR und ihre Informations- und Kommunikationssysteme. Neubrandenburg: Literaturzentrum Neubrandenburg e. V., 2000 (Beiträge zu einer wissenschaftlichen Konferenz, Neubrandenburg 1999).
Christa Wolfs Briefe (1952–2011)
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sche Qualitätskriterien aus.20 Wolfs Antwortbrief auf das ihr 1965 von Tetzner zugesandte Manuskript zeugt von der Gewissenhaftigkeit, mit der sie der Bitte um einen Kommentar zu dem Manuskriptentwurf nachkommt. Der Brief illustriert, wie Wolf die Aufgabe der Literatur, welche sie als einen »Bestätigung, Ermutigung, Anstoß« gebenden gesellschaftsformenden Beitrag definiert, in die Praxis umsetzt, indem sie Tetzner in ihren Schreibversuchen berät und ermutigt (S. 119). Unterdessen hält sich Wolf mit ihrer Kritik an Tetzners Text nicht zurück – sie bemängelt fehlende literarische Gestaltung, klischierte Figurenschilderungen und naturalistische Beschreibungen. Wolf markiert ihre Distanz zu den offiziellen Richtlinien des sozialistischen Realismus, indem sie Tetzner rät, sich zu ihrer persönlichen literarischen Stimme in Form einer deutenden Bearbeitung der eigenen, subjektiven Erfahrungen vorzuarbeiten (S. 119–120). In diesem und vielen anderen Briefgesprächen geht es um das Ausloten des Verhältnisses zwischen der gesellschaftsbildenden Funktion von Literatur und dem Prinzip des Subjektiv-Authentischen, das Wolf in ihrer Poetik als die Grundlage literarischer Wahrheit umrissen hat.21 Wolf richtet ihr Augenmerk immer wieder auf »das Verhältnis von subjektiver Aufrichtigkeit und objektiver Wahrheit im Kunstwerk […]« (S. 83) und diskutiert mit ihren Briefpartnern Möglichkeiten und Wege, wie literarische Wahrheit zu konstruieren sei. Authentizität sei das Wichtigste, das sie bei jedem Autor suche – und die Frage nach der Wahrheit sei »eine der schwierigsten in der literarischen Praxis. Sie ist nicht mit Deklarationen, nicht mit Bekenntnissen, nicht mit Verurteilungen und nicht nur ›theoretisch‹ zu lösen, sondern nur schreibend, in der Literatur« (S. 82–83).22 Hier komme den Schriftstellern, als »Leute[n] vom Fach« (ebd.), eine besondere Verantwortung zu, nicht zuletzt mit der Zielsetzung, die allgemeine Partizipationsbefähigung der Öffentlichkeit zu erhöhen. Die vier abgedruckten Briefe an Gerti Tetzner greifen einige der Kernthemen auf, die sich durch den gesamten Briefwechsel Wolfs mit Schriftstellerkollegen ziehen: ein aus der Erfahrung von Überwachung und Zensur resultierendes 20 Beispielsweise äußert Wolf in einem Brief aus dem Jahr 1985 an die sieben Jahre jüngere Gerti Tetzner deutliche Kritik an der Zersetzungsstrategie des Machtapparates, die darauf ziele, Zwietracht unter Künstlern und Intellektuellen des Landes zu säen: »Es ist ja kein Zufall, daß ich in meiner Generation kaum enge Freunde finde. Die ist kaputtgemacht worden […]« (S. 487). Vgl. auch den Brief an Raissa Kopelew: »das System, durch verschiedenartige Behandlung derjenigen, die eigentlich die gleichen Interessen haben, zu entsolidarisieren, funktioniert im großen und ganzen [!], auf Dauer gesehen« (S. 473). 21 Beispielsweise in: Kaufmann, Hans: Gespräch mit Christa Wolf. In: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturtheorie. 20. Jg., 1974, 6, S. 90–112, insbesondere S. 93–95. 22 In einem Brief von 1975 an die Schriftsteller Erica und Gian Pedretti kommentiert Wolf den Roman »Heiliger Sebastian« (1973) wie folgt: »Ich habe das starke Gefühl von Authentizität: So und nicht anders müssen Sie vorgehen. Es ist eigentlich das Wichtigste, das ich bei jedem Autor heute suche« (S. 267).
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Fremdheitsgefühl, eine zunehmende Desillusionierung – einhergehend mit wachsenden Anstrengungen, um sich vor Vereinnahmungen zu schützen – und einem ständig präsenten schlechten Gewissen – ausgelöst durch das Wissen um die Tatsache, all den Erwartungen ihrer Umgebung weder gerecht werden zu können noch zu wollen (S. 356–357). Wolfs Briefpartnerin Ingeborg Arlt ist eine weitere Repräsentantin der Gruppe jüngerer schreibender Frauen in der DDR, die Wolf um Rat zu ihren literarischen Anläufen baten. Wolf und Arlt diskutieren in ihrem Briefwechsel das Schreiben und die Literatur im Kontext der angespannten politischen Lage Anfang der 1980er Jahre. Wolf verfasst einen engagierten »Grundsatz- oder Thesenbrief« an Arlt, in dem sie über die Verknüpfung von Ästhetik und Politik nachdenkt und für die gesellschaftliche und persönlichkeitsbildende Schlüsselfunktion der Literatur plädiert.23 Der Briefessay bzw. ›essayhaft fingierte Brief‹ (vgl. Nikisch, Brief. 1991, S. 172) ist insofern interessant, als die Autorin einen breiten Wirkungsradius von Literatur auffächert: Literatur fungiere als »Religionsersatz«, müsse Trost spenden, habe aber gleichzeitig »von unten her und von innen heraus Abwehrkräfte gegen die [politischen] Wahnsinnsstrukturen zu mobilisieren« (S. 423), indem sie »ein Teilsystem von kontrollierbaren Werten um sich herum« aufbaue.24 Wolfs Briefessay kommuniziert ein scheinbar unangefochtenes Vertrauen in den gesellschaftsbildenden Einfluss der Literatur, konstatiert jedoch gleichzeitig, dass die Kluft zwischen Literatur und Wirklichkeit »immer unüberbrückbarer« werde (S. 423). Wolf verweist auch auf das Zusammenspiel von Brief und Prosa in ihrem Schreiben und die aufschlussreiche Rolle, die das Genre Brief im Kontext ihres Gesamtwerkes spielt: »wenn die Arbeit stockert, stockert alles, auch das Briefeschreiben« (S. 419). Der betont kämpferische Tonfall dieses Briefes bildet einen auffälligen Kontrast zu anderen, auch früheren Briefen. In ihrem Briefdialog mit Tetzner etwa hatte Wolf im Jahr 1978 – nach der Erschütterung, die die Ausbürgerung Wolf Biermanns auslöste – betont, den Einfluss der Literatur auf politische Veränderungen nun nüchterner einzuschätzen und auch ihre Rolle nicht länger überzubewerten (S. 356). Die briefliche Kommunikation ist immer auch von dem Bild geprägt, das sich die Verfasserin von ihrem Briefpartner macht: menschlich, ideologisch und politisch. In Christa Wolfs Briefen an Schriftstellerkolleginnen und -kollegen ist ein variierender Grad sowohl an Selbstzensur wie auch an Selbstinszenierung erkennbar. In ihren Briefen an Freunde scheinen Vorbehalte den »vertraulichen 23 Zu den fließenden Übergängen zwischen den Gattungen Essay und Brief siehe Nikisch, Brief. 1991, S. 171. 24 Wolf arbeitet zu dem Zeitpunkt (ca. von 1981 bis 1983) an der Erzählung »Kassandra« (1983). Das Schreiben und die Arbeit mit dem Stoff sind gleichzeitig ein Versuch, gegen die lähmende Angst vor den Konsequenzen der in Ost und West stattfindenden Aufrüstung anzuschreiben bzw. die Angst zu bewältigen und zu verarbeiten.
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und vertrauten« (Christa Wolf) brieflichen Austausch nicht zu beeinträchtigen, wie beispielsweise zwei Briefe an ihre Freundin Maxie Wander (1933–1977) aus dem Jahr 1977 illustrieren. Darin berichtet Wolf offen von einer massiven existenziellen Verunsicherung – sie nennt Empfindungen wie Schmerz, Angst und Hoffnungsverlust, die sich angesichts der kulturpolitischen »Zerreißprobe« zu einer Bedrohung für ihr Schreiben entwickelt haben. Die Autorin kämpft mit einer Schreibsperre und beklagt die schmerzliche Einbuße zweier Grundpfeiler ihrer Autorschaft: den »Verlust jeden Selbstgefühls und jenes Ur-Vertrauens« (S. 300). Der massive Widerspruch zwischen ästhetischer Wahrheit und den Wahrheiten der politischen Praxis zieht eine Zäsur in Leben und Schreiben nach sich und resultiert in einem »ziemlich heftigen Änderungsprozeß«, der die Autorin – wie sie schreibt – härter und nüchterner werden lasse (S. 311).25 Die Briefe werden für sie, wie ihr Schreiben insgesamt, zum Rückzugsort und Lebenselixier. Sie habe sich, schreibt Christa Wolf 1985 rückblickend an Gerti Tetzner, in einem »Dauer-Konflikt« mit männlichen Verhaltensweisen und dem »Dauerschlechte[n]-Gewissen, daß man sie halt doch nicht bedienen konnte«, aufgerieben (S. 487). Wolf positioniert sich in einer Traditionslinie weiblichen Schreibens und plädiert für eine Ästhetik, in der die weibliche Perspektive überwiegt (vgl. Hilmes/Nagelschmidt, Christa Wolf Handbuch. 2016, S. 109– 115). In den folgenden Abschnitten werden Wolfs Briefe an zwei männliche Schriftstellerkollegen aus ihrer Generation auszugsweise vorgestellt und dem bereits erwähnten Briefwechsel mit jüngeren schreibenden Frauen kontrastierend gegenübergestellt: Briefe an Günter de Bruyn (geboren 1926) in der DDR und an Günter Grass (1927–2015) aus dem Westen. Zeichnet sich auch in Wolfs Briefen an Günter de Bruyn und Günter Grass jene Dauerreibung zwischen Widerstand und Selbstkritik ab?
4.
Über den Briefwechsel mit Günter de Bruyn
Die Briefauswahl enthält insgesamt 11 Briefe an Günter de Bruyn.26 Christa Wolf und er tauschten sich regelmäßig über ihre aktuellen Veröffentlichungen aus. Es handelte sich dabei um einen Austausch zwischen ebenbürtigen Briefpartnern, in dem Wolf, im Gegensatz zu obigen Beispielen, nicht die Rolle der Älteren und 25 Zu den Zäsuren in Christa Wolfs Leben und Schreiben siehe Theml, Katharina: Essays. In: Hilmes/Nagelschmidt, Christa Wolf Handbuch. 2016, S. 271–283. 26 Mit Günter de Bruyns Ehefrau Rosemarie Zeplin verbindet Wolf eine »unerfüllbare Freundschaft«, denn der jahrelange, rege Briefwechsel – er fülle in ihrem Archiv dicke Mappen – sei in den letzten Jahren fast versiegt, schreibt Wolf 2002 bedauernd, ohne näher auf die Divergenzen einzugehen (S. 868).
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Erfahrenen einnimmt. Ihre Briefe an Günter de Bruyn zeigen, dass beide den Rat des Anderen hoch schätzen und sich mit Einwänden gegen die Prosa des Briefpartners nicht zurückhalten. Der erste abgedruckte Brief stammt von 1967. Wolf äußert ihre Dankbarkeit für de Bruyns offenbar sehr gewissenhafte und umsichtige Rückmeldung auf ihr Prosawerk »Nachdenken über Christa T.« (1968). Gleichzeitig ist überraschend, wie weit Wolf der Kritik ihres Kollegen entgegenkommt. Uneingeschränkt stimmt sie de Bruyns Einwänden gegen den Text zu, die auf ein Übergewicht an Reflexionen und einen damit einhergehenden Mangel an genauen und konkreten Beschreibungen zielen. Der Brief illustriert Wolfs Bemühungen um ästhetische Eigenständigkeit im Kontext der allgemeinen Auseinandersetzungen mit ästhetischen Formen der Moderne, die die Entwicklung der 1960er Jahre prägten.27 Die Autorin offenbart ihre Selbstzweifel und schwankenden Gefühle zwischen »vollkommener Verzweiflung über absoluten Dilettantismus« während der Arbeit an dem Manuskript: Sie habe zeitweise ernsthaft in Erwägung gezogen, den Beruf zu wechseln (S. 140). Etwa fünf Jahre später, in einem Brief von Januar 1972, der Zeit des literarischen Tauwetters, haben sich die Rollen zwischen den Briefpartnern verkehrt (S. 94).28 Wolf bezichtigt das Manuskript ihres Kollegen des fehlenden Mutes und »der nicht zu ende [sic] geführten Konsequenzen« (S. 199). Freilich bezieht sich Wolf nicht nur auf de Bruyns aktuelles Buch »Preisverleihung« (1972), sondern weitet ihre Kritik auf die gegenwärtige Schriftstellergeneration, sich selbst einbeziehend, aus, wenn sie ein verbreitetes Problem der Selbstzensur und des Sichnicht-engagieren-Könnens diagnostiziert. Der Realismusbegriff wird verhandelt, wobei Wolf die Kritik am Manuskript de Bruyns mit deutlicher Selbstkritik verknüpft: Eine für ihre Generation charakteristische »brutale« Selbstzensur führe zu Schreibhemmung, Lähmung und Selbsthass (S. 199). Wolf äußert den Wunsch, gegen die inneren und äußeren Anfechtungen – die eingangs problematisierte Unmöglichkeit authentischer Briefkommunikation wurde schon als eine jener lähmenden Konsequenzen der restriktiven Kulturpolitik genannt – anzugehen, wenn sie in ihrem Brief förmlich ausruft: »Aber ich kann Dir gar nicht sagen, was ich für eine unheimliche Sehnsucht danach habe, endlich einmal wieder richtig ernst zu machen: Mit anderen Menschen, mit dem Schreiben, mit 27 Mehr hierzu in: Emmerich, Wolfgang: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Leipzig: Kiepenheuer 1996. 28 Auf dem IV. Plenum des ZK der SED ließ Erich Honecker folgenden, oft zitierten Satz verlauten: »Wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben.« Die Aussage wurde als eine Lockerung der Kulturpolitik verstanden, was sich jedoch als Trugschluss herausstellte (Honecker, Erich: Zu aktuellen Fragen bei der Verwirklichung der Beschlüsse unseres VIII. Parteitages. Aus dem Schlußwort auf der 4. Tagung des ZK der SED am 16./17. Dezember 1971. Berlin 1971. Hier zitiert aus Hilmes/Nagelschmidt, Christa Wolf Handbuch. 2016, S. 24).
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mir selbst.« Die Reibung, die »unter dem Doppelzwang eines empfindlichen Moralgefühls und eines empfindlichen Kunstgewissens« entsteht, bildet einerseits den kreativen Antrieb ihres Schreibens: »Denn aus der Spannung schreib ich ja«, erklärt Wolf 1978 lapidar in einem Brief an de Bruyn (S. 347).29 Andererseits führen die belastenden Widersprüche und Konflikte dazu, dass sich die kreative Reibung zunehmend in lähmende Dauerkonflikte verwandelt – was Wolf hier allerdings unausgesprochen lässt.30 Wahrhaftigkeit in Leben und Schrift wird im brieflichen Austausch der Autorin immer wieder als Ziel und Motivation ihres Schreibens benannt – ein Leitmotiv, das ein stetiges Hinterfragen der eigenen Standortbestimmung und den Versuch einer Emanzipation von den Erwartungen und Maßstäben anderer voraussetzt. In einem vertraulichen Brief an Günter de Bruyn verkündet Wolf sechs Jahre später, ihr Hauptbestreben gelte nun der Loslösung von den »kleinlichen Maßstäbe[n], von denen ich noch vor zwei Jahren fast auf Tod und Leben abhing« (S. 359). Im Zuge ihres Ringens um innere Freiheit – menschlich und künstlerisch – sucht Wolf Distanz zum Machtapparat und seinen Institutionen. Der Widerspruch zwischen Selbst- und Fremdentwurf zehrt an ihren Kräften und hemmt ihre Produktivität. Solche Fremdentwürfe gibt es viele: Wolf benennt u. a. die »Heldenrolle« (S. 356–357), die Rollen des »StellvertreterDenker[s]« und »Stellvertreter-Märtyrer[s]« (S. 346) sowie die Stilisierung ihrer Person zum »Modellfall« (S. 747) und zur »Sockelfigur« – allesamt Rollen, in die sie sich in unterschiedlichen Phasen ihres Schaffens von politischer, kulturpolitischer und öffentlicher Seite gedrängt sieht.31 Gleichzeitig klagt sie zeitlebens über die Tatsache, dass das Bewusstsein dafür, den an sie gestellten Erwartungen nicht gerecht zu werden, in ihr ein schlechtes Gewissen auslöste, von dem sie sich nie gänzlich zu befreien vermag (S. 357). Christa Wolf zieht sich aus zeitraubenden und belastenden öffentlichen Funktionen in die Privatsphäre zurück, auch, um sich mannigfaltiger öffentlicher Vereinnahmungsversuche und Rollenzuschreibungen zu erwehren. Eines der augenfälligsten Motive, das in Wolfs Briefverkehr regelmäßig auftaucht, ist die Wichtigkeit räumlicher Distanz und somit die Bedeutung des Ortes, der Abgeschiedenheit und Naturnähe als Grundvoraussetzung ihrer literarischen Produktivität.32 29 Wolf, Christa: »Nun ja! Das nächste Leben geht aber heute an«. Ein Brief über die Bettine. In: Bettine von Arnim: Die Günderode. Leipzig: Insel 1983 [1925], S. 545–584, Zitat S. 574–575. 30 Die lähmende Wirkung des Dauerkonflikts greift Christa Wolf beispielsweise in einem Brief an Rosemarie Zeplin und Günter de Bruyn aus dem Jahr 1987 auf, vgl. S. 545–547. 31 Den Begriff »Sockelfigur« verwendet Christa Wolf in einem Gespräch mit Daniela Dahn. In: Zeitschleifen. Im Dialog mit Christa Wolf. Film von Karlheinz Mund, DEFA-Stiftung 1999 (Dokumentarfilmreihe »Nach der Wende«, DEFA-Stiftung und defa-spektrum). 32 Wolf sehnt sich nach Distanz zum Literaturbetrieb, nach unbehelligter Ruhe, um »der Droge Schreiben« (S. 485) nachkommen zu können. Aber, klagt sie, »schreiben und ›unbehelligt‹ – das geht doch überhaupt nicht!« (S. 490).
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Die Briefe Wolfs sind Zeugnisse des Ausgesetzt-Seins ihrer poetischen Existenz. Sie beleuchten besonders anschaulich, wie die persönliche, historische und politische Situation und das Schreiben einander bedingen. In einem Brief von 1981 erklärt Wolf der in Westdeutschland lebenden Kollegin Gabriele Wohmann: »[E]in großer Raum in mir ist besetzt von Politischem« (S. 413), und das Schreiben ist untrennbar mit dem Politischen verflochten.33 Schließlich möchte ich noch einen letzten Brief an de Bruyn vom September 1988 für die Betrachtung heranziehen (S. 568–569). Er liest sich sehr aktuell mit Blick auf die zum Teil heftigen Debatten um die sogenannte Wirklichkeitsliteratur, die u. a. in Norwegen insbesondere im Anschluss an Karl Ove Knausgårds sechsbändige autobiografische Romanserie »Min Kamp« (2006–2011) entbrannten.34 In dem besagten Brief von 1988 wehrt sich Wolf gegen de Bruyns Einwand, in ihrer Erzählung »Sommerstück« (1989) »einen mit-lebenden nahen Menschen als Material benutzt« und somit an die Kunst verraten zu haben (S. 568).35 Wolf hatte eine vergleichbare Reaktion schon einmal früher, 1976, erlebt, nachdem ihr autobiografisches Prosawerk »Kindheitsmuster« (1976) erschienen war.36 Wolf weist die moralisch grundierte Kritik de Bruyns mit dem Argument zurück, sie sei weit davon entfernt, ihre Freunde und Familie »distanzierend als Schreib-Anlässe und Schreib-Material« zu betrachten. Sie exponiere niemanden – ihre Figurenschilderungen seien von Sympathie getragen, um ihren Vorbildern ein Denkmal zu setzen. Ihre Prosa sei zwar immer in Selbsterlebtem verankert, gleichzeitig aber auch immer gepaart mit einer schonungslosen Selbstkritik: 33 Dies ist ein wichtiger Reibungspunkt zwischen den Freundinnen Wolf und Kirsch. Sarah Kirsch fordert Christa Wolf in ihren Briefen immer wieder dazu auf, die Politik doch den Sachverständigen zu überlassen und sich auf das für sie Wesentliche, das literarische Schreiben, zu konzentrieren (vgl. Wolf, Sabine/Wolf, Heiner: Nachwort. Sarah Kirsch und Christa Wolf. Facetten einer Freundschaft. In: Sarah Kirsch. Christa Wolf. »Wir haben uns wirklich an allerlei gewöhnt«. Der Briefwechsel. Hrsg. von Sabine Wolf/Heiner Wolf. Berlin: Suhrkamp 2019, S. 348–374, Zitat S. 355–357). 34 Vgl. hierzu etwa »Wirklichkeitsliteratur ist ein idiotischer Begriff«. Matthias Hannemann im Gespräch mit dem norwegischen Literaturkritiker Bernhard Ellefsen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. 10. 2019. (letzter Zugriff: 29. 04. 2020). Karl Ove Knausgårds autobiografisches Projekt »Min Kamp« (Bde. 1–6) erschien in deutscher Übersetzung unter den Titeln »Sterben«, »Lieben«, »Spielen«, »Leben«, »Träumen« und »Kämpfen« (München: Luchterhand 2011–2017). 35 Auch Knausgård wurde in der norwegischen Öffentlichkeit massiv vorgehalten, seine Familie und nahe Freunde verraten zu haben – Familienmitglieder verklagten den Autor sogar. 36 Über die breite und identifikatorische, zum Teil aber auch kritische Rezeption von »Kindheitsmuster« in den Leserbriefen an die Autorin, siehe Töpelmann, Sigrid: Das nicht realisierte Projekt: »Leserbriefe zu Christa Wolfs ›Kindheitsmuster‹ im Aufbau-Verlag«. In: Bircken, Hampel, Brief-Netz-Werk. 1999, S. 45–54.
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»[E]rst später, meist viel später, wenn ich an eine bestimmte Periode zurückdenke, sehe ich uns alle, mich mit, als Figuren. Und noch etwas: Ich weiß nicht, ob man das bemerkt, aber ich versuche ja mit jeder Arbeit näher an mich heranzukommen, schonungsloser mit mir umzugehn – dies scheint mir die einzige Rechtfertigung dafür, daß ich Züge von anderen in den Text hineinnehme« (S. 569).
Die Autorin hebt ihre kompromisslose Selbstprüfung als Grundprinzip ihres Schreibens hervor, um ihren Anspruch an ihre Umgebung, sich der »zumutbare[n] Wahrheit« (u. a. in Form von wiedererkennbaren, lebensnah gestalteten Figuren) zu stellen (S. 307), zu legitimieren. »Der Schreiber muß zugleich an sich selber schreiben, denn er selbst muß durch den Brief mit sich bekannt werden«, schrieb Clemens Brentano in einem Jugendbrief an seine Schwester Bettine.37 Dieses Vertrauen in die persönlichkeitsbildende Funktion des Reflexionsmediums Brief prägt auch Christa Wolfs Schreiben und sticht als eines der zentralen ästhetischen Prinzipien ihrer Briefe hervor.38 Für Christa Wolf ist das Schreiben, ungeachtet des Genres, Hauptarena ihrer lebenslangen Suche nach der eigenen Identität. In seiner Grabrede über Christa Wolf hob Volker Braun die Selbsterkundung als deren Schreibmotivation und charakteristischstes Persönlichkeitsmerkmal hervor: »Wer sie ist, das wollte sie immer wissen.«39 Die oben angeführten Auszüge aus Wolfs brieflicher Kommunikation mit Günter de Bruyn markieren das Briefgenre als wichtigen Schauplatz ihres schriftstellerischen Reifungs- und Schreibprozesses und als aufschlussreichen Baustein ihres dialogischen Werkverständnisses. Die aus den Briefen ersichtliche ernsthafte Auseinandersetzung mit der Literatur des Briefpartners bietet Einblick in ein Schreiben, das immer auch Echo und Impulse sucht und sich über eine gemeinsame gesellschaftsbildende, humanistische Aufgabe definiert.
5.
Über den brieflichen Austausch mit Günter Grass
Wolf verteidigt ihre poetologischen Prinzipien – die für ihr Schreiben charakteristische, subjektiv-authentische Mischung aus Fiktion und erlebter Wirklichkeit – erneut in einem Brief von 2007, fast zwanzig Jahre nach den Briefen an Günter de Bruyn. Diesmal handelt es sich mit Günter Grass um einen Kollegen 37 Arnim, Bettine von: Clemens Brentanos Frühlingskranz. Frankfurt/Main: Insel 1985, S. 14. 38 Gerhard Wolf diagnostiziert ein solches Vertrauen bei Bettine von Arnim. Siehe Wolf, Gerhard: »Die Sehnsucht hat allemal Recht«. Fragmentarisches über Bettine. In: Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Projektionsraum Romantik. Hrsg. von Christa Wolf/Gerhard Wolf. Frankfurt/Main und Leipzig: Insel 2008, S. 333–366. 39 Braun, Volker: Totenrede. In: Wohin sind wir unterwegs? Zum Gedenken an Christa Wolf, Berlin, Sonderdruck edition Suhrkamp 2012, S. 11.
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aus dem Westen, und die Verteidigung verläuft mit umgekehrten Vorzeichen. Während Günter de Bruyn seiner Kollegin vorgehalten hatte, erkennbare Menschen aus ihrem Umfeld als literarische Vorlagen zu missbrauchen, legt Günter Grass ihr offenbar das Gegenteil nahe, nämlich konkrete Namen zu nennen (S. 908). Der Briefdialog dreht sich um das autobiografische Prosawerk »Stadt der Engel« (2010), in dem Wolf den Literaturstreit auf- und verarbeitet. Wolf lehnt die Nennung von Namen mit der Begründung ab, sie schreibe keineswegs »strikt autobiographisch-dokumentarisch«. Die Grundlage von »Stadt der Engel« sei zwar »selbst erlebt«, aber dennoch »eine Art Roman, ein Zwischending, mit viel Erfindung, darunter auch erfundene Namen« (S. 908). Die Reflexionen über das Schreiben, die Wolf mit Grass brieflich teilt, drehen sich erneut um ihre Bemühung um Selbstergründung, Selbsterkenntnis und »die Erforschung der Gründe für bestimmte Fehlhaltungen bei mir selbst« (S. 907). Insofern ist für sie die Glaubwürdigkeit als Schreibende »unverzichtbare Grundlage« ihrer Arbeit.40 Wolf ist der Überzeugung, das Erinnerte müsse durchgearbeitet werden, um bewältigt werden zu können. So fokussiert sie u. a. in Briefen an Grass im Anschluss an die öffentliche »Demontage« ihrer Person während des Literaturstreits darauf, den Gründen für eigene Fehlhaltungen in »Stadt der Engel« schonungslos auf den Grund gehen zu wollen (S. 907). Die Schreibmotivation ist demnach nach innen gerichtet: Nicht der Drang nach Abrechnung oder Schuldzuweisungen veranlassen die Autorin, jahrelang mit dem Stoff zu ringen, sondern der Wunsch, »in Erinnerungsräume vorzudringen, die (mir) bis jetzt verschlossen blieben« (S. 913). In diesem Bewältigungs- und Verarbeitungsprozess schmerzhafter Erfahrungen spielt der Brief als ein Medium ihrer literarischen Praxis eine das Prosawerk ergänzende, fortführende und erweiternde Rolle. Wolfs brieflicher Austausch mit »Gesprächspartnern« unterschiedlichster Herkunft inspiriert ihr schriftstellerisches Schaffen und beeinflusst ihre Arbeit an und mit dem Erinnerungsmaterial.41 Auch in dieser Hinsicht ist der Brief untrennbar mit dem übrigen Oeuvre Christa Wolfs verflochten.
40 »Meine Glaubwürdigkeit als Schreibende aber, die ich den verschiedensten Seiten gegenüber bisher verteidigen konnte, ist die unverzichtbare Grundlage meiner Arbeit«, erläuterte Wolf schon 1991 in einem Brief an den Präsidenten der Ohio State University (S. 451). Bekanntlich wurde gerade Christa Wolfs Integrität und Glaubwürdigkeit während des Literaturstreits in vielen Medien angezweifelt, was eine Erschütterung ihres Selbstbildes und eine Revision ihres Rollenverständnisses nach sich zog und in den Briefen aus der Zeit zur Sprache kommt. 41 Carola Opitz-Wiemers diskutiert die Tatsache, dass sich jeder Schreiber in der scheinbar dialogischen Briefkommunikation im Grunde in einer monologischen Position befindet. Sie zitiert Franz Fühmann: »Im Brief vermag man die Abgeschiedenheit zu verleugnen und gleichwohl der Ferne, Abgeschiedene zu bleiben« (Carola Opitz-Wiemers, Brief-Netz-Werk. 1999, S. 39).
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»Du kennst das alles, auch den Weg zu Selbstbehauptung und, vielleicht doch allmählich, Souveränität«, schreibt Wolf am 26. November 1977 an den Dissidenten Lew Kopelew. Schon früh rückt sie die Selbstergründung und Gewissensfrage ins Zentrum ihrer brieflich kommunizierten Reflexionen über das Schreiben. »Du hast einen hohen Grad innerer Freiheit erreicht«, schreibt sie prosaisch an den russischen Freund (S. 319). Wolf bewundert die innere Unabhängigkeit Kopelews, hebt seine Haltung als Ideal hervor (S. 317). Das Ringen um Selbstbehauptung und Souveränität begleitet ihre gesamte schriftstellerische Laufbahn. Sie habe sich bedauerlicherweise [immer wieder] Maßstäben unterworfen, »von denen ich mich doch eigentlich befreien wollte«, schreibt Wolf auch Jahrzehnte später noch selbstkritisch an Günter Grass (S. 904–907): »Bei mir hat es ziemlich lange gedauert, bis ich begriff, daß ich mich noch immer den Maßstäben unterwarf, von denen ich mich doch eigentlich befreien wollte […] Danach kam – kommt – eine eigentlich noch schwierigere Periode: Rückhaltlos über sich selbst nachzudenken und mit dem eigenen Gewissen zurechtzukommen. Aber wenn man nicht dahin kommt, war ja diese ganze Erschütterung durch die äußeren Angriffe umsonst, man wird nicht reifer, schreibt nicht besser, und ist so klug wie zuvor. Und das ist ein Prozeß, der nie zu ende [sic] geht« (S. 905–906).
Grass und Wolf bekleiden ähnliche Rollen in Ost und West, treten als schreibende Zeitzeugen, Mahner und moralische Instanzen auf.42 Ihre Autorschaft steht für die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in beiden Teilen Deutschlands. Beide kritisieren die Wiedervereinigung. Und beide Autoren erleben, wie sich die Verknüpfung von Ästhetik und Politik in ihrem Schreiben und Auftreten gegen sie kehrt und sich öffentliche Wertschätzung in »moralische Vernichtung« wandelt (S. 733). Die keineswegs konfliktfreie Freundschaft der um Ausgleich bemühten Christa Wolf und dem eher angriffslustig und kompromisslos auftretenden Günter Grass beginnt erst in reifem Alter – nach dem Mauerfall und im Anschluss an den Literaturstreit. Ein regelmäßiger brieflicher Austausch beginnt. Die beiden Autoren setzen sich in Zeiten öffentlicher Angriffe füreinander ein, sprechen einander angesichts ihrer Blessuren Mut zu und demonstrieren Solidarität.43 Beide Autoren teilen die Erfahrung einer für sie überraschend massiven öffentlichen Demontage.
42 Sandhöfer, Kathrin: Briefwechsel mit Günter Grass. In: Hilmes/Nagelschmidt, Christa Wolf Handbuch. 2016, S. 261–266. 43 Wolf schreibt an Grass von der »Schadenfreude der Medien bei der Demontage von Heldenfiguren« (S. 904–909), auf die gemeinsamen Erfahrungen mit massiven Angriffen im Feuilleton der wichtigen Zeitungen und auf beider Rolle der »moralischen Instanz« anspielend: »Man nimmt es sich übel, daß man jemanden zu einer moralischen Instanz aufgebaut hat, und läßt das mit Genuß an dieser ›Instanz‹ aus, die plötzlich zu erkennen gibt, daß sie
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Die Briefform bietet Wolf die Möglichkeit, Prämissen und Grundpfeiler ihrer Lebenswelt in der DDR zu kommunizieren und vor dem Vergessen zu bewahren. So erläutert sie Grass die Gründe für ihr Bleiben in der DDR und die mit dem Entschluss einhergehenden Konflikte. Gleichzeitig sei die politische Reibung, ihre lebenslange Position »zwischen den Fronten« (die Metapher verwendet sie auch in Briefen an Lew Kopelew und Günter de Bruyn) unverzichtbare Quelle ihres literarischen Schaffens, ihrer Kreativität gewesen, und sie bereue ihr Dableiben rückblickend keineswegs: »Wenn ich in meinen Büchern blättere, finde ich, dass es sich gelohnt hat« (S. 733–734).
6.
Erfahrungstransfer und Widersprüche zwischen Selbst- und Fremdentwürfen
Nicht nur die Briefe an Günter Grass zeugen von Christa Wolfs Bemühungen um die Bewahrung und den Transfer ihrer Kindheits- und Jugenderlebnisse während des Nationalsozialismus und ihres Wissens um die Verhältnisse in Ostdeutschland. Wolfs Bestreben, die spezifischen Rahmenbedingungen und Grundlagen ihrer Schreibsituation und Schreibmotivation sowie ihre persönlichen und historischen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und der DDR zu vermitteln, zielt sowohl auf die Erklärung der Gründe für ihr Bleiben als auch auf die Überlieferung historischer Lebenswelten, wovon es, wie sie oftmals betont, weniger und weniger Zeugen gibt. Ihre Zeitzeugenschaft ist für sie zentraler Antrieb ihres Schreibens und gleichzeitig Verpflichtung.44 Etwa in der Mitte des Briefbandes findet sich ein auffallend langes Schreiben, das an Raissa Orlowa-Kopelew adressiert ist, jedoch nie abgeschickt wurde (S. 480, Fußnote 1). Die Briefsituation erweist sich demnach als Fiktion: Möglicherweise war der Text zu persönlich geraten, sodass er angesichts der Briefzensur lediglich im Privatarchiv der Autorin endete, oder er war von vornherein nicht als Medium des Austausches, sondern als tagebuchähnliche Aufzeichnung gedacht, zur Selbstmanifestation und Selbstverständigung der Autorin.45 In dem Brief an Raissa Orlowa-Kopelew, der sich also als uneigentlicher Brief entpuppt, geht Wolf mit sich und ihrem Entschluss, in der DDR zu bleiben, ins Gericht, prüft ihr Gewissen und verschiedene Argumente, die ihre »Alibifunktion« und privilegierte Position innerhalb des Überwachungsstaates rechtfertiauch ein Mensch ist, mit Fehlentscheidungen, mit Widersprüchen, mit ungelösten Konflikten, mit Angst« (S. 905). 44 2004 schreibt sie an Günter Grass: »Ich glaube, all die vielen Fordernden, die an mir zerren, kommen ganz gut auch ohne mich aus. Auch wenn ich zugeben muß, daß es für manche Vorgänge in der Vergangenheit nicht mehr viele Zeitzeugen gibt…« (S. 883). 45 Vgl. Wolf, Briefe. 2016, S. 480, Fußnote 1 von der Herausgeberin Sabine Wolf.
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gen könnten (S. 471–480). Viele der Motive, die Wolfs Briefverkehr insgesamt prägen, finden sich in diesem Text in gebündelter Form wieder. Die Autorin legt Rechenschaft ab über ihre Privilegien, schildert zugleich ihr Ausgesetzt-Sein und ihren sich schrittweise vollziehenden Utopieverlust. Es scheint, als sei der bekennende Duktus einem Drang nach Erleichterung ihrer »allgemeinen andauernden Gewissens-Unruhe« (S. 480) geschuldet, die Wolf angesichts ihrer moralischen Zwickmühle zwischen Privilegien und Druck verspürte. Gleichzeitig sieht Wolf es als »Pflicht und Möglichkeit an, das Scheitern des Experiments [DDR] zu beschreiben«, um ihre Haltung und Erfahrungen mit »einer anderen Gesellschaftsordnung« (S. 477) zu vermitteln, die sie als Grundimpuls ihres literarischen Schaffens definierte. Auch demonstriert der Brief auf anschauliche Weise die Vielschichtigkeit des Verhältnisses zwischen Fiktionalität und Faktualität in der schriftstellerischen Praxis der Autorin. Wolf erhielt immer wieder Leserbriefe, die sie in der Überzeugung bestärkten, ihren brieflichen Erfahrungstransfer so lange als möglich fortzusetzen, um einer innerdeutschen Fremdheit und einem Kommunikationsdefizit entgegenzuwirken. Folgendes Beispiel illustriert solch ein typisches, oftmals auch generationsbedingtes Unverständnis besonders anschaulich. Im Jahr 1996 erhält die Autorin einen Brief von Schülerinnen der 12. Klasse in Angermünde mit Fragen, die sie als beleidigend und ignorant empfindet: »Entspricht es der Ethik einer Schriftstellerin, Gefühle, Gedanken und Meinungen zu unterdrücken?« (S. 800). Interessanterweise empfiehlt Wolf den Schülerinnen daraufhin die Lektüre zweier von ihr herausgegebener Briefbände als Informationsquellen (Wolfs Briefwechsel mit Brigitte Reimann und mit Franz Fühmann), da diese offensichtlich »rein gar nichts über die Bedingungen, unter denen in der DDR Literatur entstand, und auch nichts über die Autorinnen und Autoren, ihre Konflikte und Kämpfe« wüssten (S. 799). Gleichzeitig verteidigt Wolf ihre viel belächelte und zum Teil als provozierend rezipierte Rolle der Aufklärerin: »[I]ch h a b e viele Menschen aufgeklärt, und das war ein Grund, daß ich hiergeblieben und nicht in den Westen gegangen bin: Ich wurde nämlich h i e r gebraucht.« Wolf empfiehlt den Schülerinnen das Briefmaterial folglich als zuverlässige historische Quelle, ungeachtet der von ihr an anderer Stelle beklagten Unmöglichkeit eines authentischen brieflichen Austausches.
7.
Schlussbemerkung
Inwiefern trägt das Medium Brief in seiner zeitgeschichtlichen Prägung, seiner Nähe zu Leben und Literaturproduktion und seiner verschwommenen Mischung aus unverstellter Spontaneität und bewusster Selbstdarstellung zu neuen Er-
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kenntnissen über das Selbstverständnis und die Schreibmotivation der Autorin Christa Wolf bei? In dem an Raissa Orlowa-Kopelew adressierten Schreiben findet sich eine Schilderung der Postzensur, die unmittelbar einen Bezug zu der eingangs zitierten Klage der Protagonistin aus »Was bleibt« herstellt. Wolf bedauert gegenüber Kopolew die erzwungene Uneigentlichkeit ihrer Briefe, die sie angesichts der problematischen Rahmenbedingungen ihres Schreibens nur als scheinbar authentisch bezeichnet: »Es gibt also keine wirklich privaten Briefe zwischen Gerd und mir – denn die würden wir diesen Fingern nicht überantworten wollen. Es gibt seit Jahren von mir fast keine wirklich offenen Briefe an Freunde. Das Briefeschreiben ist mir buchstäblich vergangen […]. Aber das ist es eben: Anstatt Briefe zu schreiben, erledige ich Post« (S. 473). Auszüge aus der umfangreichen Briefpublikation haben gezeigt, dass das Genre – trotz Einschränkungen – eine breite Palette von Funktionen erfüllt. Die Briefe dienen der Autorin dazu, Netzwerke zu etablieren und zu pflegen. Sie sind sowohl Reflexions- und Schreibwerkstatt als auch Arena des Austausches, in der die Autorin Schreibimpulse von Menschen unterschiedlichster »Sparten« empfängt. Den Brief nutzt Wolf als Medium der Informationsvermittlung und aufklärenden Öffentlichkeitsarbeit, als Instrument des politischen Eingreifens und schließlich auch der Selbstmodellierung und Selbstinszenierung. Die vermittelte Unmittelbarkeit der Briefe ermöglicht intensive Einblicke in Widersprüche und Reibungspunkte einer poetischen Existenz und Schreibpraxis, die um Werte wie Vernunft und Erkenntnis kreist. Briefe bieten Einblicke in ein Ringen um Wahrhaftigkeit in Leben und Schreiben – und setzen dieses in Szene. Das Zusammenspiel von Literatur und Politik wird bei Wolf immer mitreflektiert – von den ideologisch-literarischen Diskussionen der 1960er Jahre bis zur Sorge um die Bewahrung von Strukturen und historischen Erfahrungswelten vor dem Vergessen. Insofern ist der Brief auch als Stellvertreter von Gemeinschaften aufschlussreich. Wolfs weitläufiger Briefverkehr gibt Einblick in das politische und kulturkritische Engagement der Autorin und illustriert zudem die spezifischen Rahmenbedingungen und wechselnden historischen Kontexte, mit denen sie sich in ihrem Schreiben auseinandersetzt. Die Briefe Wolfs informieren über Freundschaften, Verletzungen, Verstrickungen und deren Einfluss auf das Schreiben. Sie sind Zeugnisse von Zäsuren, die Leben und Schreiben der Autorin prägen und die sie ihre Poetik immer wieder überdenken lässt. Insofern fungiert der Brief auch als Vorstufe von Prosa und Poetik, denn in ihm werden Gedanken erprobt, ausgetauscht und Konzepte ausgelotet. Es ist beachtlich, in welchem Ausmaß die Autorin Christa Wolf bereit war, »Facetten der inneren und äußeren Biographie« (S. 951) mit der Öffentlichkeit zu teilen. Obwohl sie sich der Kraftanstrengung, die ihr dieses Rollenverständnis
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abverlangte, schon früh bewusst ist – schon 1975 schreibt sie an den sie behandelnden Arzt, dass die Ausübung ihrer Tätigkeit »eine sehr weitgehende Auslieferung an die Leser [bedeute], derer ich mir vollkommen bewußt bin« (S. 258) –, hält sie an dem Kurs einer öffentlich geführten Auseinandersetzung mit sich selbst und der Formel der »produktiven Reibung« mit dem soziopolitischen Kontext fest. Der Briefwechsel illustriert die spannungsreiche Schreibsituation der Autorin, deren Antrieb sich zeitlebens aus »dem Doppelzwang eines empfindlichen Moralgefühls und eines empfindlichen Kunstgewissens« speiste.46 Die Briefe bewegen sich ganz nah an Christa Wolfs Schriftstellerleben, das vom Schreiben als Lebenspraxis und Lebensnerv bestimmt ist. Sie zeichnen eine Entwicklungslinie von den zaghaften Schreibanfängen bis zum Ringen um die Fertigstellung ihres letzten Prosawerkes. Man kann die literaturgeschichtliche Entwicklungslinie der Autorin nachvollziehen, die trotz Krankheit, Erschütterungen und stetiger Bereitschaft zur Selbstbefragung und Wandlung auch eine Kontinuität ihrer poetologischen Überzeugungen offenlegt.
8.
Literatur
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46 Wolf, Ein Brief über die Bettine. 1983, S. 574–575 (siehe Fußnote 29).
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Honecker, Erich: Zu aktuellen Fragen bei der Verwirklichung der Beschlüsse unseres VIII. Parteitages. Aus dem Schlußwort auf der 4. Tagung des ZK der SED am 16./ 17. Dezember 1971. Berlin 1971. Knausgård, Karl Ove: Min Kamp, Bde. 1–6. Oslo: Oktober 2009–2011. Mund, Karlheinz: Zeitschleifen. Im Dialog mit Christa Wolf. 1999 (Dokumentarfilmreihe »Nach der Wende«, DEFA-Stiftung und defa-spektrum). Nagelschmidt, Ilse: Von der Zeitgenossenschaft zur Zeitzeugenschaft: Christa Wolf in Zeitund Generationszusammenhängen. In: Christa Wolf Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Carola Hilmes/Ilse Nagelschmidt. Stuttgart: Metzler 2016, S. 2–63. Nikisch, Reinhard M. G.: Brief. Stuttgart: Metzler 1991 (Realien zur Literatur, Bd. 260). Opitz-Wiemers, Carola: »Brief im Kopf« – Der Briefwechsel zwischen Christa Wolf und Franz Fühmann: »›Monsieur – wir finden uns wieder‹. Briefe 1968–1984«. Bircken, Margrid/Hampel, Heide (Hrsg.): Brief-Netz-Werk. Schreibende Frauen in der DDR und ihre Informations- und Kommunikationssysteme. Literaturzentrum Neubrandenburg: 2000, S. 33–44. Schmidt, Nadine J.: Konstruktionen literarischer Authentizität in autobiographischen Erzähltexten. Göttingen: V&R unipress 2014. Schmidt, Nadine J.: Interviews, Vorträge, (Preis-)Reden. In: Christa Wolf Handbuch. Leben – Werk – Wirkung: Stuttgart: Metzler 2016, S. 284–295. Socha, Caroline/Matthews-Schlinzig, Marie Isabel (Hrsg.): Was ist ein Brief ? Aufsätze zu epistolarer Theorie und Kultur. Würzburg: Königshausen & Neumann 2018. Theml, Katharina: Essays. In: Christa Wolf Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Carola Hilmes/Ilse Nagelschmidt. Stuttgart: Metzler 2016, S. 271–283. Töpelmann, Sigrid: Das nicht realisierte Projekt: »Leserbriefe zu Christa Wolfs ›Kindheitsmuster‹ im Aufbau-Verlag«. In: Bircken, Margrid/Hampel, Heide (Hrsg.): BriefNetz-Werk. Schreibende Frauen in der DDR und ihre Informations- und Kommunikationssysteme. Literaturzentrum Neubrandenburg: 2000, S. 45–54. »Wirklichkeitsliteratur ist ein idiotischer Begriff«. Matthias Hannemann im Gespräch mit dem norwegischen Literaturkritiker Bernhard Ellefsen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. 10. 2019. (letzter Zugriff: 29. 04. 2020). Wolf, Christa: Lesen und Schreiben. Aufsätze und Prosastücke. Darmstadt: Luchterhand 1972. Wolf, Christa: Nun ja! Das nächste Leben geht aber heute an. Ein Brief über die Bettine. In: Bettine von Arnim: Die Günderode. Leipzig: Insel 1983 [1925], S. 545–584. Wolf, Christa/Seghers, Anna: Das dichtbesetzte Leben. Briefe, Gespräche und Essays. Berlin: Aufbau 2003. Wolf, Christa/Wolff, Charlotte: Ja, unsere Kreise berühren sich. Briefe. München: Luchterhand 2004. Wolf, Christa: Was bleibt. Berlin: Suhrkamp 2007 [1990]. Wolf, Christa: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud. Berlin: Suhrkamp 2012. Wolf, Gerhard: »Die Sehnsucht hat allemal Recht«. Fragmentarisches über Bettine. In: Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Projektionsraum Romantik. Hrsg. von Christa Wolf/Gerhard Wolf. Frankfurt/Main und Leipzig: Insel 2008, S. 333–366, Zitat S. 339.
Christa Wolfs Briefe (1952–2011)
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Daniela Nelva
»Wer soll dieses Ich sein?« – Christa Wolfs »Stadt der Engel« und »Ein Tag im Jahr«
1.
Erzählen ist human und bewirkt Humanes »Wie kommt Leben [Hervorhebung – D. N.] zustande? Die Frage hat mich früh beschäftigt. Ist Leben identisch mit der unvermeidlich, doch rätselhaft vergehenden Zeit? Während ich diesen Satz schreibe, vergeht Zeit; gleichzeitig entsteht – und vergeht – ein winziges Stück meines Lebens. So setzt sich Leben aus unzähligen solcher mikroskopischen Zeit-Stücke zusammen? Merkwürdig aber, dass man es nicht ertappen kann. Es entwischt dem beobachtenden Auge, auch der fleißig notierenden Hand und hat sich am Ende – auch am Ende eines Lebensabschnitts – hinter unserem Rücken nach unserem geheimen Bedürfnis zusammengefügt: gehaltvoller, bedeutender, spannungsreicher, sinnvoller, geschichtenträchtiger.«1
Mit diesen Worten beginnt Christa Wolfs Text »Mein siebenundzwanzigster September«, der als Einführung in das autobiografische Werk »Ein Tag im Jahr 1960–2000« gilt. Dabei handelt es sich um eine Sammlung kurzer, als Tagebuch verfasster Schriften, welche die Autorin im Laufe von vierzig Jahren erstellt und erst 2003 als Band veröffentlicht hat. Der zweite Band – »Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert 2001–2011«2 – wurde von Christa Wolfs Mann Gerhard posthum herausgegeben. Der originelle Kern von »Ein Tag im Jahr« geht auf den Aufruf der Moskauer Zeitung »Isvestija« zurück, in dem 1960 die Schriftsteller aller Welt dazu aufgefordert wurden, einen bestimmten Tag, nämlich den 27. September, so genau wie möglich zu beschreiben. Damit wollte man die von Maxim Gorki im weit zurückliegenden Jahr 1936 ergriffene Initiative »Ein Tag in der Welt« wiederbeleben (TJ 9). Wolfs Drang, diesen Aufruf selbstständig fortzuführen und »alle darauf folgenden 27. September bis heute« zu schildern, entspringt zuallererst dem »Horror vor dem Vergessen« und entspricht daher dem Versuch, die Lebens1 Wolf, Christa: Ein Tag im Jahr 1960–2000. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008, S. 9 (Seitenangaben fortlaufend im Text unter der Sigle TJ). 2 Wolf, Christa: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert 2001–2011. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2014 (Seitenangaben fortlaufend im Text unter der Sigle TJNJ).
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substanz und das Vergangene der »Vergänglichkeit«, dem »Verlust von Dasein« zu entreißen. Zumindest »ein Tag in einem jeden Jahr« soll demnach ein »Stützpfeiler für das Gedächtnis« sein (TJ 9–10). Der Schreibstil wird bereits zu Textbeginn klar umrissen: Er soll »pur, authentisch, frei von künstlerischen Absichten« sein, d. h. dem »Zufall überlassen« und zwar der Zufälligkeit der Gedanken (TJ 10). Ähnliche Betrachtungen liegen mutatis mutandis auch Wolfs 2010 erschienenem Text »Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud«3 zugrunde. Zwischen Roman und autobiografisch geprägtem Schreiben4 stellt die Autorin ihren Studienaufenthalt zwischen September 1992 und Juli 1993 beim renommierten Getty Center in Los Angeles dar. Auch in diesem Fall stützt sich die Entstehung des Werkes auf Tagebucheintragungen, in denen Wolf – diesmal täglich – von ihren amerikanischen Erfahrungen berichtet und von denen in der publizierten Fassung noch einige Auszüge in Blockschrift zu erkennen sind. Einer Gewohnheit folgend, die schon in vorherigen Schriften zu beobachten ist, beschreibt die Schriftstellerin das Verfahren dieses vielschichtigen Schreibens und erlaubt damit den LeserInnen, einen Blick in ihre literarische Werkstatt zu werfen. Nur ein kurzes Beispiel: »Ich setzte mich an den Tisch und schrieb wie unter Diktat, was ich heute, in den alten Aufzeichnungen blätternd, mit Erstaunen lese« (SE 92). Das »heute« deckt sich mit der Gegenwart der endgültigen Fassung. Gerade aus dem Wechselspiel zwischen der Vergangenheit und der Jetztzeit entsteht der unfassbare Erinnerungsprozess, der dem Text zugrunde liegt, denn »das Vergangene wird immer aus der Sicht der Gegenwart rekonstruiert« und die Erinnerung selbst ist »als etwas Lebendiges und Arbeitendes zu verstehen« (GA 315). Während »Ein Tag im Jahr« einige Lebensaufnahmen zuerst in der DDR, später dann im vereinigten Deutschland durch die Verflechtung von familiärem Alltag, intellektueller Überlegung und politischem Zusammenhang fokussiert, 3 Wolf, Christa: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2010 (Seitenangaben fortlaufend im Text unter der Sigle SE). 4 Auf die hybride Natur des Textes weist Christa Wolf in einem Gespräch mit Carsten Gansel hin, das Anfang Juli 2010 geführt wurde. Auf die Frage von Carsten Gansel, welche Beziehung zwischen dem Autobiografischen und dem Fiktionalen in »Stadt der Engel« bestünde, antwortet die Autorin mit folgenden Worten: »Das Fiktive ist sehr sehr stark und dies viel stärker als man annimmt, wenn man die Ich-Figur mit mir gleichsetzt. […] Und selbst das, was im Text auf wirklich real Geschehenes zurückgeht, das habe ich sehr vermittelt dargestellt oder auf andere Personen und Schauplätze verlegt.« Vgl. dazu Gansel, Carsten: »Zum Schreiben haben mich Konflikte getrieben«. Gespräch mit Christa Wolf. In: Gansel, Carsten: Literatur im Dialog. Gespräche mit Autorinnen und Autoren 1989–2014. Berlin: Verbrecher 2015, S. 311 (Seitenangaben fortlaufend im Text unter der Sigle GA). Diesbezüglich spricht Martina WagnerEgelhaaf von »Auto(r)fiktion«. Vgl. Wagner-Egelhaaf, Martina: Einleitung. Was ist Autorfiktion? In: Autorfiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion. Hrsg. von Martina Wagner-Egelhaaf. Bielefeld: Aisthesis 2013, S. 7–22.
Christa Wolfs »Stadt der Engel« und »Ein Tag im Jahr«
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bietet »Stadt der Engel« den LeserInnen eine komplexere Struktur an: Das erzählende bzw. erzählte Ich der amerikanischen Erfahrung tritt manchmal hinter einem Du zurück, das in der deutschen bzw. europäischen Vergangenheit liegt. Beide – das Ich und das Du – werden plötzlich von Kommentaren über das Heute des Schreibens unterbrochen, die den 11. September und die finanzielle Krise des westlichen Kapitalismus skizzieren. Sowohl in »Ein Tag im Jahr« als auch in »Stadt der Engel« geht es zuallererst um eine »Selbstdiagnose«: Es handelt sich tatsächlich für Wolf darum, »Verhältnisse, Menschen, in erster Linie aber mich selbst zu durchschauen« (TJ 11). Beide Werke thematisieren also, jenseits der Unterschiede, einen Reflexions- und einen Introspektionsprozess. Die Autorin verpflichtet sich, das eigene Ich »ungeschützt« »auch jenen Blicken, die nicht von Verständnis und Sympathie geleitet sind« auszusetzen, denn »das Bedürfnis, gekannt zu werden, auch mit seinen problematischen Zügen, mit Irrtümern und Fehlern, liegt aller Literatur zugrunde« (TJ 11–12). Dieses Bedürfnis scheint sich in »Stadt der Engel« umso dringender zu manifestieren, wenn man bedenkt, dass die Darstellung der amerikanischen Welt, die durch übertriebenen Kapitalismus und ein tiefes soziales Gefälle zwischen Weißen, Schwarzen und Lateinamerikanern geprägt ist, mit dem präzisen Bericht der im wiedervereinigten Deutschland tobenden verleumderischen Kampagne gegen jene Ostintellektuellen zusammenfällt, die bis 1989 in der DDR geblieben waren – man spricht diesbezüglich vom deutschdeutschen Literaturstreit.5 Mit wacher Aufmerksamkeit und tiefer Erschütterung nimmt Wolf die Anklage gegen sich selbst wahr, die sie der Kollaboration mit Honecker bezichtigt. Wolf ist sich des Risikos dieses literarischen Selbstbeobachtungsversuchs wohl bewusst, ganz nach E. L. Doctorows Behauptung in seinem Roman »City of God« (2000), aus dem die Autorin am Anfang von »Stadt der Engel« zitiert: »Die wirkliche Konsistenz von gelebtem Leben kann kein Schriftsteller wiedergeben« (SE 9). Das, was Wolf unternimmt, ist also eine unsichere Annäherung an die kaum wahrzunehmende Substanz der menschlichen Existenz, eine Annäherung, deren Schwierigkeit durch die wiederholten Hinweise auf »Schreibblockaden« oder »unerwünschtes unbrauchbares Material, ins Unreine gedacht oder vielmehr gedacht«, nachweislich wird (SE 39). Die Gleichzeitigkeit der verschiedenen Lebensschichten lässt sich tatsächlich nur andeuten: »Die uralte Tatsache, dass von allem, was gleichzeitig geschieht und gedacht und empfunden wird, in dem linearen Schriftzug auf dem Papier nicht gleichzeitig die Rede sein kann, macht mir plötzlich wieder so zu schaffen, dass der Zweifel an der Wirk5 Vgl. Deiritz, Karl/Krauss, Hannes (Hrsg.): Der deutsch-deutsche Literaturstreit oder ›Freunde, es spricht sich schlecht mit gebundener Zunge‹. Analysen und Materialien. München: Luchterhand 1991.
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lichkeitstreue meiner Schreibarbeit sich zu schierer Schreibunmöglichkeit auswachsen kann« (SE 30).
Durch Walter Benjamins Überlegung über die Figur des Erzählers ermutigt – »Der Erzähler – das ist der Mann, der den Docht seines Lebens an der sanften Flamme seiner Erzählung sich vollkommen könnte verzehren lassen« –, gibt Wolf nicht auf, weil »wir anders ohne die wohltätige Gabe des Erzählens nicht überlebt hätten und nicht überleben könnten«6 (SE 13). Indem sie über die Rolle der Sprache und des Vorstellungsvermögens im Verfahren der Menschwerdung nachdenkt, fügt die Autorin in ihrem Gespräch mit Carsten Gansel noch hinzu: »Das Erzählen war gemeinschaftsbildend. Das muss man sich einfach vorstellen, wie da eine Gruppe sitzt, klein oder groß, meistens eher klein, um das Feuer, und jemand erzählt, was die Urahnen dieser Gruppe erlebt haben sollen. Das ist natürlich sehr oft ausgedacht und der Fantasie entsprungen. Aber es ist auf diese Weise über die Jahrtausende eine Parallelwelt entstanden. Wir leben alle in unserer realen Welt heute und in einer bestimmten Gegenwart. […] Und gleichzeitig leben wir, die einen mehr, die anderen weniger, aber doch auch in einer anderen Welt. Zum Beispiel in der von Marcel Proust oder in der von Thomas Mann oder überhaupt in einer Welt der Fantasie, die wir aus unzähligen Büchern, von denen wir gar nichts mehr wissen, oder unzähligen Fernsehspielen und Filmen, in uns aufgenommen haben. Und wenn man sich jetzt einmal vorstellen würde, dass auf einen Schlag für uns alle diese Welt erlischt und verschwinden würde, das wäre schon eine ziemliche Katastrophe« (GA 316–317).
Solche Betrachtungen sind für Wolf nicht neu. Schon in ihren 1983 veröffentlichten »Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra« betont sie in Bezug auf den Monolog, mit dem sich die unglückliche Hellseherin auf ihren Tod vorbereitet: »Erzählen ist human und bewirkt Humanes, Gedächtnis, Anteilnahme, Verständnis. […] Erzählen ist Sinngeben. […] Trostlos ist nicht der Verpönte, sondern der Vergessene.«7 In diesem Zusammenhang gilt das Schreiben als ein »Selbstversuch, einschneidend, sezierend, die feinste Verästelung der Person herauspräparierend und bloßlegend«, wie es in Wolfs Text »Donnerstag, 27. September 2001« heißt (TJNJ 25). Die Dialektik zwischen Erzählen, Erinnerung und Vergessenheit wird noch stringenter, als Wolf das heikle Thema ihrer verdrängten, ausgeschalteten Zu-
6 Vgl. Benjamin, Walter: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nicolai Lesskows. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno/Gershom Scholem. Hrsg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977, Bd. II.2, S. 464–465. Zum Bezug auf Benjamins Geschichtsphilosophie siehe Sakova-Merivee, Aija: Die Ausgrabung der Vergangenheit in »Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud«. In: Christa Wolf – Im Strom der Erinnerung. Hrsg. von Carsten Gansel. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, S. 245–256. 7 Wolf, Christa: Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra. Darmstadt/Neuwied: Luchterhand 1983, S. 36–37.
Christa Wolfs »Stadt der Engel« und »Ein Tag im Jahr«
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sammenarbeit als IM mit der Stasi erörtert, die zwischen 1959 und 1962 stattgefunden hat. Das Auslöschen des Vergangenen verursacht in der Schriftstellerin eine seelische Qual, welche die Einheit ihres Selbst infrage stellt, zu einer tiefgreifenden Selbstbefragung führt und ein Entfremdungsgefühl infolge einer Spaltung des Ich hervorruft: »Wer soll dieses Ich sein, das da berichtet. Es ist ja nicht nur, dass ich vieles vergessen habe. Vielleicht ist noch bedenklicher, dass ich nicht sicher bin, wer sich da erinnert. Eines von den vielen Ichs, die sich, in schneller oder langsamer Folge, in mir abgelöst haben, die mich zu ihrem Wohnsitz gewählt haben« (SE 214).
Der Schreibprozess wird also zur inneren Ausgrabung des latenten Unbewussten, zum psychologischen Kampf gegen den »Widerstand«, der – so Wolf – »sich mir entzieht, wenn ich ihn benennen will«. Es handelt sich um ein Vorangehen »in mikroskopischen Dosen« entlang der »Spur der Schmerzen« bis zum »blinden Fleck«, zum Verdrängten im Bewusstsein (SE 107, 14, 21). Die eigene Empfindsamkeit ist derart gereizt, dass ein lästiger, aber harmloser Zwischenfall mit dem Computer, d. h. das plötzliche Verschwinden einer nicht gespeicherten Datei, als Mahnung betrachtet wird: »Computerabsturz. […] Will dieser ›Absturz‹ – welch klares Bild – mich warnen, dass ich mich schreibend, dem Punkt nähere, den ich mehr oder weniger bewusst, mehr oder weniger kunstvoll umschlichen habe?« (SE 167–168) Wolf sieht sich vor die Alternative gestellt, entweder alles zu speichern oder alles zu löschen, die unangenehmen Ich-Teile zu ignorieren oder Freuds Mantel (»The Overcoat of Dr. Freud«) überzuziehen, um das bisher Verschwiegene aufsteigen zu lassen und zu Papier zu bringen. Hiermit beginnt die schmerzliche Selbstbefragung: »Nun ist ja Schreiben ein Sich-Heranarbeiten an jene Grenzlinie, die das innerste Geheimnis um sich zieht und die zu verletzen Selbstzerstörung bedeuten würde, aber es ist auch der Versuch, die Grenzlinie nur für das wirklich innerste Geheimnis zu respektieren und die diesen Kern umgebenden, schwer einzugestehenden Tabus nach und nach von dem Verdikt des Unaussprechlichen zu befreien. Nicht Selbstzerstörung, sondern Selbsterlösung. Den unvermeidlichen Schmerz nicht fürchten« (SE 271–272).8
Wichtig ist nicht nur der Augenblick, in dem sich das Ich eine bestimmte Erinnerung wieder aneignet, sondern auch der Ort, an dem dies geschieht. Diese 8 Die Wichtigkeit, die »Grenzlinie« für »das innerste Geheimnis zu respektieren«, beschreibt Christa Wolf in ihrem Gespräch mit Carsten Gansel wie folgt: »Sigmund Freud hat darauf verwiesen, dass wir ohne Erinnerung nicht würden leben können, wir können es aber auch nicht ohne Vergessen. Auch das Vergessen ist sehr wichtig« (GA 315). Zur Rolle des Vergessens bzw. des Vergessenwerdens in menschlicher Existenz und in Bezug auf den Tod als »vollkommenes Vergessen« siehe Pormeister, Eve: Vom Nachdenken über das Vergessen zur »schönungslose[n] Selbsterkenntnis«. Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud. In: Zwischen Moskauer Novelle und Stadt der Engel. Neue Perspektiven auf das Lebenswerk von Christa Wolf. Hrsg. von Therese Hörnigk/Carsten Gansel. Berlin: vbb 2015, S. 94–106.
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Daniela Nelva
Tatsache wird nochmals durch Benjamins Worte hervorgehoben: »So müssen wahrhafte Erinnerungen« – heißt es in seinem Essay »Ausgraben und Erinnern« – »viel weniger berichtend verfahren als genau den Ort bezeichnen, an dem der Forscher ihrer habhaft wurde«9 (SE 7). In diesem Zusammenhang wird die »Stadt der Engel« zur Metapher des Beobachtens von der Höhe aus – und zwar mit Abstand – auf das eigene Ich. Dies ist die Rolle der literarischen Figur von Angelina, dem Schutzengel, der das erzählende Ich während seines Aufenthalts in den USA begleitet und ihm bei seinem Erinnerungsverfahren hilft.
2.
Die Geschichte, die Geschichten
Wolf interessiert sich aber nicht nur für die Perspektive des eigenen Ichs. Ihre Vergangenheit lässt sich in der Tat in einen breiteren, historischen – und daher erzählerischen – Kontext einrahmen, in dem sich verschiedene Stimmen bzw. Perspektiven miteinander verbinden, um die tragische Geschichte des 20. Jahrhunderts zu umreißen. Es entsteht also »eine Art Gewebe, bei dem unterschiedliche Erzählstränge verwoben, vernetzt, verflochten werden« (GA 312). Mit Recht hebt Anna Chiarloni hervor, dass Wolfs Text »eine Masse von Erzähltem ist, das sich auflöst und zusammenfügt im Bewusstsein«.10 Darauf beruht die Suche nach einer Schrift, die zugleich individuell und kollektiv ist. Indem sich das Ich von der eigenen Subjektivität entfernt, wird es zu einer epischen Figur gemeinsamer Geschehnisse: »Eine Art Mit-Schrift wäre mein Schreibideal: Ein Griffel folgte möglichst genau der Lebensspur, die Hand, die ihn führte, wäre meine Hand und auch nicht meine Hand, viele und vieles schriebe mit, das Subjektivste und das Objektivste verschränkten sich unauflösbar, »wie im Leben«, die Person würde sich unverstellt zeigen, ohne sich zu entblößen, der Blick betroffen, jedoch nicht vom Bodensatz ungeklärter Ressentiments getrübt, nicht kalt, anteilnehmend, so unsentimental wie möglich, verdiente sich so vorurteilsfreie Aufmerksamkeit.«11
In einer roten Mappe, welche die Ich-Erzählerin nach Los Angeles mitgebracht hat, sind einige Briefe aufbewahrt, welche Emma – die verstorbene Freundin Wolfs – von einer Frau namens Lily erhalten hatte. Lily war eine Kommunistin, die während der Nazizeit in die USA geflohen war. Die Ich-Erzählerin hatte sich vor ihrer Reise vorgenommen, sich auf die Suche nach Lily zu begeben. Ähnlich 9 Vgl. dazu Benjamin, Walter: Ausgraben und Erinnern. In: Ders., Gesammelte Schriften. 1977, S. 486. 10 Chiarloni, Anna: Für eine Anamnese der Gegenwart: Zu Christa Wolfs »Stadt der Engel«. In: Text+Kritik, H. 46, 2012, S. 197. 11 Wolf, Christa: Selbstanzeige. In: Werke, Bd. 12: Essays, Gespräche, Briefe 1987–2000. München: Luchterhand 2001, S. 505.
Christa Wolfs »Stadt der Engel« und »Ein Tag im Jahr«
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wie in der Erzählung »Nachdenken über Christa T.« (1968), bei der es sich um eine Rekonstruktion des Lebens von Christa Tabbert-Gebauer handelt, die 1963 an Leukämie gestorben ist, werden auch hier die Spuren einer fremden Existenz verfolgt. In diesem Fall erscheint das Vorhaben besonders gewagt: Die Informationen, die Lilys Briefe enthalten, beschränken sich auf das Datum ihrer Verfassung. Keine Adresse ist erwähnt, kein Bild beigefügt. Lilys Briefe verursachen – so Wolf – »eine Hemmung« (SE 65), weil sie sowohl vom Nazismus und Antifaschismus – während der Nazizeit saß die kommunistische Emma lange im Gefängnis – als auch vom Stalinismus erzählen. Durch die Lektüre der Tagebücher von Thomas Mann angeregt, die aus der Exilperiode stammen, besucht die Ich-Erzählerin die Residenzen der deutschsprachigen Intellektuellen, die nach Kalifornien geflohen sind und dort ein »Weimar unter den Palmen« gegründet haben (SE 338). Die Namen Brecht, Döblin, Feuchtwanger, Werfel, die Gebrüder Mann, Schönberg, Vicki Baum und Salka Viertel verweisen auf die schmerzliche Erfahrung der physischen und sprachlichen Entwurzelung. Das Interesse an den Werken der Exilanten führt die Ich-Erzählerin schließlich zum Antiquariat von Mr. Kline, einem alten Juden. Auf seinem staubigen Dachboden entdeckt die Ich-Erzählerin neben den Werken Heines und Remarques die Texte jüdischer Autoren, die heute im Verlagsmarkt in Vergessenheit geraten sind. Es handelt sich um Bücher, deren Leser »Deutschland lieben und Sehnsucht haben« und deshalb »die alte Sprache« nicht vergessen wollen (SE 346, 344) – so lautet ein Vermerk am Rande einer Seite von Friedrich Torbergs Erzählung »Mein ist die Rache«, die in einem Konzentrationslager spielt: »Die Bücher, die ich an jenem Nachmittag zum ersten Mal sah, sind jetzt um mich herum aufgebaut, ich nehme sie in die Hand, und etwas von der Stimmung, die mich damals erfasste, kommt zurück. Obenauf liegt das Bändchen ›Der Mensch ist gut‹ von Leonhard Frank, ein roter Pappband mit Leinenrücken, offensichtlich alt, abgenutzt, vergilbtes Papier, beim Gustav Kiepenheuer Verlag Potsdam erschienen, ohne Erscheinungsdatum, aber mit dem Hinweis ›Geschrieben 1916 bis Frühling 1917‹ und mit der Widmung: ›Den kommenden Generationen‹ […]. Warum war es vergessen worden? Remarques ›Im Westen nichts Neues‹ konnte nicht aufwühlender sein, das auch dort lag, beschädigt, ohne Einband und ohne Verlagsangabe, aber offensichtlich die gleiche Ausgabe, die du rätselhafterweise bei deiner Großmutter gefunden und auf ihrem Sofa gelesen hattest« (SE 343–344).
Mehrere Juden zweiter und dritter Generation, welche die Ich-Erzählerin in Los Angeles trifft, haben Deutschland nie besucht und sind nie dorthin zurückgekehrt, weil ihre Ablehnung diesem Land gegenüber zu tief ist. Im Gegensatz dazu machten sich wiederum andere auf die Suche nach ihrer abgeschnittenen Herkunft. Es ist die Rede von Peter Gutman, dessen Großeltern in Theresienstadt ermordet wurden und der in Frankfurt Philosophie studiert hat; oder von John,
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der in einer Mappe seinen Familienstammbaum aufbewahrt, den er unter großen Schwierigkeiten rekonstruieren konnte, und der Material über das wiedervereinigte Deutschland sammelt, weil dort seine Wurzeln liegen. Diese Wurzeln sind von einer Tragödie geprägt. Wolf dazu: »Da war nichts zu sagen, nichts zu erklären, nichts wiedergutzumachen« (SE 129). Durch den Umgang mit den Flüchtlingen wird Wolf zur unabsichtlichen Zeugin persönlicher oder überlieferter Schicksale, die in einem gebrochenen, mit polnischen, deutschen, russischen Worten abwechselnden Englisch vermittelt werden: »Ich spürte: Die Zeit stand für diese Menschen seit Jahrzehnten still, nichts war für sie vergangen, nichts hatte sich gemildert, kein Schmerz hatte sich abgeschwächt, keine Enttäuschung war verblasst, kein Zorn verflogen. Und die einzige Erleichterung, wenn auch nur für Minuten, war es, manchmal darüber zu reden, es jemandem zu erzählen, der es wissen wollte, der zuhörte, Anteil nahm und ihren Empfindungen recht gab. An diesem Abend musste ich dieser Jemand sein, ohne all mein Verdienst und Würdigkeit, ich, weil ich aus Deutschland kam und weil ich jünger war. Zum ersten Mal erlebte ich das Bedürfnis der Vertriebenen, mit einer Deutschen ihre nie endende Fassungslosigkeit zu teilen, und ich hörte auf, mich dagegen zu wehren und nahm diese Rolle an« (SE 103).
In der Auseinandersetzung mit dem fortwährenden Leiden öffnet sich eine momentane positive Wendung, als die Ich-Erzählerin unerwartet entdeckt, dass Ruth, eine ihrer jüdisch-amerikanischen Bekannten, mit Lily eng befreundet war. »Merkwürdig ist die Wirkung des Zufalls. Fast beschämt es mich, dass er imstande sein soll, eine Stimmung derart zu verändern, so dass eine Aufhellung möglich scheint. Jetzt erst merke ich, dass ich nicht mehr daran geglaubt hatte«, schreibt Wolf (SE 298). Diese positive Wendung dauert aber leider nicht lange an. In der Holztruhe, in der Ruth Lilys Andenken aufbewahrt, taucht tatsächlich der letzte, unmittelbar vor dem Tod verfasste und den Westfreunden übergebene Brief von Emma auf, die Lily eine Art Lebensbilanz anvertraut hatte. Der Brief enthüllt die bittere Enttäuschung einer Kommunistin, die nach dem SS-Gefängnis den Stalinismus mit der inneren Hoffnung geduldet hatte, dass sich die DDR zu »der ersehnten Menschengemeinschaft« (SE 188) entwickelt hätte: »Als Stalin starb, saß ich hier bei uns ›unter falscher Anschuldigung‹ im Gefängnis. Als ein Wärter mir die Nachricht zuflüsterte, habe ich geweint. […] Ich frage mich, was wir getan hätten, wenn wir schon in den dreißiger Jahren alles gewusst hätten, alles über die Säuberungen in der Sowjetunion, alles über den GULAG. Wir wären verzweifelt und handlungsunfähig gewesen. In unseren Alpträumen stellten wir uns ein faschistisches Europa vor. Stalin, sagten wir uns, hat das verhindert. Wir sind gescheitert. Das Land, in dem ich lebe und auf das ich anfangs noch einige Hoffnung gesetzt hatte, verknöchert und versteinert von Jahr zu Jahr mehr, der Moment ist abzusehen, an dem es als bewegungslose Leiche am Weg liegen wird, freigegeben zur Ausplünderung« (SE 319).
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Emmas Schicksal ähnelt übrigens den Biografien jener Intellektuellen, die geschwiegen haben, »um den Aufbau in unserem Land nicht zu gefährden« (SE 85) – damit ist das Experiment einer sozialistischen Heimat gemeint. Es ähnelt u. a. der Biografie von Louis Fürstenberg, der den Prozessen gegen Slánský entkam und später in der DDR im Weimarer Goethe-Schiller-Archiv gearbeitet hat.
3.
Are you sure this country does exist?
Die Frage »Are you sure this country does exist?« (SE 10) wird in »Stadt der Engel« von einem verwirrten Polizisten gestellt, dem die Ich-Erzählerin am New Yorker Flughafen ihren immer noch gültigen DDR-Reisepass vorzeigt. Die Deutsche Demokratische Republik ist seit zwei Jahren von der europäischen Landkarte verschwunden. Die Verblüffung des Zollbeamten hallt übrigens in den immer wiederholten Fragen der amerikanischen Freude wider: »What about Germany? You live in Berlin? West or east? Under the regime? The whole time?« (SE 102) Auch unter den amerikanischen Linksprogressisten kann man dem Begriff »Regime« nicht entrinnen, umso mehr, als 1992 mit der Öffnung der Stasiarchive alle Akten ans Licht kamen, in denen das Ministerium für Staatssicherheit das Beobachtungsmaterial über seine Bürger regelmäßig gesammelt hatte. 42 Dossiers betreffen das Ehepaar Wolf, das seit 1976 – dem Jahr des »Falls Biermann« – ständig überwacht wurde. Wie Christa Wolf schreibt, hat der Blick in diese Akte »die Vergangenheit zersetzt und die Gegenwart gleich mit vergiftet« (SE 182–183), da beide einer Manipulation des Erlebten zum Opfer gefallen sind. »Wenn ich irgendetwas gelernt habe bei der Lektüre dieser Berichte, dann, was Sprache mit der Wirklichkeit anstellen kann. Es war die Sprache der Geheimdienste, der sich das wirkliche Leben entzog« (SE 183).
Indem man jene wiederholte Überwachung absichtlich beinahe übersah, konzentrierte sich eine bestimmte, nach Scoops gierige Westpresse scharf und einseitig auf einige literarische Berichte, die Wolf unter dem Decknamen »Margarete« für die Stasi verfasst hatte. Jeden Tag folgen neue Angriffe auch in der internationalen Presse, bis sie das Getty Center erreichen. Es ist der Anfang von Wolfs innerlicher Qual. »Du sollst dich nicht verteidigen, du sollst nur sagen, wie es war« (SE 40), sagt eine Stimme am Telefon, die aus Berlin spricht. Als privilegierter Gesprächspartner der Ich-Erzählerin fordert Peter Gutman sie mit verschlagener Ironie auf, die Tatsachen zu relativieren, denn sie hat »doch niemandem geschadet« (SE 307). Für ihn liegt der Fall »ziemlich einfach«: »Du wolltest geliebt werden. Auch von Autoritäten« (SE 263), sagt Gutman, indem er auf jene Autoritätsgläubigkeit, jenen Hang zur Unterordnung und jene Über-
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einstimmungssucht verweist, die Wolf in ihrem Roman »Kindheitsmuster« (1976) gründlich erörtert hat. Und noch dazu: »Ich steigere mich da in eine unnötige Psychose hinein. Der Anlass dafür sei, objektiv betrachtet, gering. Natürlich bliesen die Medien ihn auf. Wieso lasse ich das so an mich heran? Nähme ich mich so ernst? Habe ich mich dann als fehlerfrei und tadellos sehen wollen? Sei das nicht eine merkwürdige Art von Hochmut?« (SE 238)
Es geht Wolf also darum, sich das Vergangene mit allen Hoffnungen und Fehlern ohne Bedauern ins Gedächtnis zurückzurufen, so wie es die Verse von Paul Flemings Gedicht »An sich« raten. Einem Netzwerk von Assoziationen folgend, rekonstruiert das erzählende Ich ein Leben, das durch die Utopie des Sozialismus geprägt worden ist. »Wann hatte ich erkannt, dass ich lernen musste, ohne Alternative zu leben? In Schüben, erinnerte ich mich, so etwas lernt man nicht von heute auf morgen« (SE 316), überlegt die Autorin diesbezüglich. Die Anamnese fokussiert die wichtigsten Ereignisse der vierzigjährigen DDR-Geschichte und verfolgt den »roten Faden« der schwankenden Verhältnisse zwischen den Intellektuellen und der politischen Führung. Mit der deutschen Wiedervereinigung schwand endgültig »der Vorschein einer Zukunft, die viele ersehnt hatten und die noch keiner gesehen hatte« (SE 47). »Ich sagte, ja, dass ich das erleben, dass ich teilnehmen durfte an einer der seltenen Revolutionen, welche die deutsche Geschichte kennt, das habe mir jeden Zweifel darüber genommen, ob es richtig gewesen sei, in dem Land geblieben zu sein, das so viele mit Grund verlassen hätten. Nun sei ich sogar froh darüber. Aber irgendein Defekt, mit dem ich anscheinend behaftet sei, verhindere, dass ich bei sogenannten historischen Ereignissen die ihnen angemessene Stimmung empfände« (SE 25).
In ihrer umfassenden historischen Analyse der abendländischen Welt erörtert Wolf in »Stadt der Engel« auch die Ungerechtigkeiten, die den Westen seit dem Kalten Krieg geprägt haben: Den McCarthyismus, die Todesverurteilung der Rosenbergs, die Kontrollen des FBI über die angeblichen Feinde. Die Ich-Erzählerin stellt betrübt fest, dass »hüben wie drüben widerständige Meinungen geahndet wurden. Dass die scheinbar tief gespaltene Welt sich in ihrer tiefsten Tiefe aus einer Wurzel speiste, also noch bedrohlicher war, als die meisten von uns es glauben wollten« (SE 275). Die Vereinigten Staaten der 1990er Jahre zeigen im Übrigen keine Realität ohne Risse. In den USA hat Christa Wolf tatsächlich den Golfkrieg, d. h. den Irak-Kuwait-Krieg, erlebt. Während sich der dunkle Himmel von Bagdad unter dem Feuer der nordamerikanischen Raketen erhellt, grenzt die mitten in der Wüste liegende Forschungseinrichtung Los Alamos, die Geburtsstätte der Atombombe, an die friedlichen Gebiete der indianischen Reservate. Es scheint, dass »Stadt der Engel« und »Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert« miteinander korrespondieren. Im Text »27. September 2001«
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richtet Wolf ihre Erinnerungen auf die schockierenden Bilder der amerikanischen Landung in Kuwait, die sie in ihrem Wohnsitz beim Getty Center betrachtet hatte: »Da hockte ich um vier Uhr nachts vor dem Fernseher und sah, was ich sehen sollte: Das Feuer, das der Landung der amerikanischen Truppen an der Küste Kuwaits vorausging. Ich weinte und musste dann in der Zeitung lesen, ich sei gegen Israel, wenn ich diesen Krieg nicht gutheiße« (TJNJ 15).
Aus dem »Heute«, das dem 11. September 2001 folgt, erhebt sich eine grauenvolle Frage: »Haben die Amerikaner heute Nacht ihren angedrohten Vergeltungsschlag gegen Afghanistan – oder gegen wen sonst – unternommen?« (TJNJ 15) Mit tiefer Traurigkeit überlegt Wolf: »Die Nähte sind geplatzt, die unsere Zivilisation zusammenhielten, aus den Abgründen, die sich aufgetan haben, quillt das Unheil, bringt Türme zum Einsturz, lässt Bomben fallen, Menschen als Sprengkörper explodieren« (SE 39).
Der 27. September 2001, ist, so Wolf, »ein trüber Tag, wie all die trüben Tage seit dem 11. September«, als die »blindwütige Zerstörung« in New York Einzug hielt. Die Stadt, in der viele deutsche Flüchtlinge während der Nazizeit landeten, zeigt der Welt jetzt eine grausame leere Stelle: »Brecht und viele andere deutsche Emigranten, denke ich […], sie alle hätten nicht überlebt, wenn es New York nicht gegeben hätte, die Stadt der Flüchtlinge, die auch diese Deutschen aufnahm und sie vor ihren mörderischen Landsleuten rettete, welche sich gerade eines beispiellosen Rückfalls in die Barbarei befleißigten« (TJNJ 22).
Das Gewebe des Alltags – jenes kostbaren Alltags, der die Beständigkeit des Lebens ausmacht und von dem immer wieder in Wolfs Werken die Rede ist – hat sich plötzlich aufgelöst. Trotzdem kann Wolf den von den USA gemeldeten Angriff nicht gutheißen. Der Eindruck, dass gerade etwas Unwiderrufliches passiert und nichts mehr so ist wie davor, erweckt eine Art »Denkmaschine«; und die Gefühle von Aufregung und Angst, die – laut Wolf – »so oft in meinem Leben den Tagesanfang begleiteten«, tauchen wieder auf (TJNJ 15). Das Gedächtnis geht unversehens auf die erlebten dramatischen Momente des grauenvollen 20. Jahrhunderts zurück. Es geht um eine Genealogie der Gewalt – irrelevant ist hierbei die politisch-ideologische Herkunft –, die auch in die Zukunft hineinzureichen droht: »Kriegsbeginn 1939. Flucht aus der Heimat Januar 1945. Einmarsch der WarschauerPakt-Truppen in die Tschechoslowakei 1968. – Im Alter wäre ich gerne von Geschichte verschont geblieben. Wie gerne hätte ich meine Enkelkinder in ein friedliches Jahrhundert entlassen. […] Fängt so der Dritte Weltkrieg an? Und: Ist das der Anfang vom Ende?« (TJNJ 19)
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Wer den Krieg erlebt hat, kann nicht von den »Kollateralschäden«, die ihn begleiten, absehen (TJNJ 15). Der Zweck heiligt nicht alle Mittel. Auch wenn der Krieg noch nicht begonnen hat, geben die Massenmedien schon die ersten Anzeichen der kommenden Tragödie bekannt: »Hunderttausende von Flüchtlingen verlassen Afghanistan in Richtung Pakistan, oder sie ziehen sich aus den von Bombardements bedrohten Städten aufs Land zurück – in beiden Fällen haben sie keine Nahrungsmittel, die UNO warnt vor einer ›humanitären Katastrophe‹ und fordert Millionen, um das Schlimmste zu verhindern« (TJNH 17).
Keine Antwort genügt. Es hallen Brechts Verse aus dem Gedicht »Vom armen B. B.«: »Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie hindurchging, der Wind« (TJNH 21). In Doctorows Roman »City of God«, der im September 2001 auf Wolfs kleinem gläsernen Nachttisch liegt, heißt es: »Es bleibt vielleicht nicht mehr viel Zeit« (TJNH 16). Die Schriftstellerin fügt noch hinzu: »Zu gut kenne ich das Gefühl, zwischen falschen Alternativen mit dem Rücken an der Wand zu stehen und mich nur noch für Falsches entscheiden zu können, zu genau weiß ich: Dies ist ein sicheres Symptom dafür, dass eine Gesellschaft sich in einer grundlegenden Krise befindet […] und dass es lebenswichtig wäre, dieses Signal nicht wieder zu übersehen und zu überfahren« (TJNH 31).
Hat die Menschheit einen Weg ohne Alternativen eingeschlagen? Ist es noch möglich, über eine Wahl zwischen »falsch« und »richtig« zu verfügen? (SE 380) »Aber was ist das Rechte, und was hat Zukunft?« (SE 268), fragt Wolf ihre Leser, indem sie Thomas Manns Worte aus seinem Tagebuch zitiert. In diesem Zusammenhang erscheint Wolf das Schreiben als Versuch, »den blinden Fleck dieser Gesellschaft« zu offenbaren, der »ein vernichtendes Potenzial« enthält (GA 324), auch wenn dieses Verfahren die Gefahr mit sich bringt, einen tiefen Schmerz zu verursachen. So äußert sich Wolf gegenüber Carsten Gansel: »[…] Ich verstehe sehr gut, dass jeder Mensch dazu neigt, Schmerz zu vermeiden. Ich weiß das auch von mir. Also etwa auch ein bestimmtes Buch gerade nicht zu schreiben, ein Buch wie dieses hier, »Stadt der Engel«. Aber wenn man glaubt, dass man eine bestimmte Begabung oder Stellung in der Gesellschaft hat, dann muss man es dennoch tun. Man muss ein solches Buch schreiben, ein Buch, in dem man sehr nah an sich herangeht, was sehr schmerzhaft ist. Das gilt auch für andere Berufsgruppen, für Wissenschaftler, Lehrer oder auch Journalisten« (GA 225).
Die Literatur betrachtet Wolf als Beitrag zur Selbst- und Fremdwahrnehmung und als Warnung vor jenen »blinden Flecken« der abendländischen Zivilisation, die zu »unlösbare[n] Konflikte[n]« und damit zur Vernichtung des Menschen führen könnten (SE 380).
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4.
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Literaturverzeichnis
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Stefanie Konzelmann
»Die Feder gleitet eben aus, das ist alles« – Franz Kafka und die Souveränität des Schreibens
1.
Einleitung
Franz Kafkas schwieriges Verhältnis zu seinen literarischen Arbeiten und seine skrupulöse Haltung gegenüber der Publikation hängen auch mit dem Problem des souveränen Schreibens zusammen, das wiederum aus mehreren Komponenten besteht. Erstens aus der prinzipiellen Frage nach dem literarischen Schaffen und seinen Möglichkeiten bzw. Grenzen, die sich auf die bedingte Wahrheits- und Ausdrucksfähigkeit1 von Sprache, auf das begrenzte menschliche Erkenntnisvermögen sowie auf die starke Beschränkung der Komplexität eines wirklichen Ereignisses durch dessen schriftliches Aufgreifen bezieht, mit dem unweigerlich eine starke Komprimierung der vielschichtigen Wirklichkeit einhergeht. Diese diffizile Grundsituation des Schreibens wird dann durch die Publikation noch weiter verschärft, durch die – bei Kafka – das sichtbar Entwurfhafte des zumeist handschriftlichen Originals und dessen Vorläufigkeit, Offenheit und Differenziertheit durch einen streng linearen, mit fortlaufend gleicher Type und in einem Format gesetzten, folglich Abgeschlossenheit und Autorität ausstrahlenden Text ersetzt wird.2 Und zweitens aus dem performativen Moment von Sprache und dem Problem des Umgangs mit ihrer Macht.3 Das Schreiben mit seiner Materialität bedeutet Fixierung bzw. Beständigkeit und bringt so teilweise andere Chancen und Risi1 Vgl. dazu insbesondere die Aufzeichnungen 13 und 127 aus dem Oxforder Oktavheft 7: Kafka, Franz: Oxforder Oktavheft 7. Hrsg. von Roland Reuß/Peter Staengle. Frankfurt/Main/Basel: Stroemfeld 2011, Blatt 4v f.; 26v. 2 Vgl. Reuß, Roland: Die Oxforder Oktavhefte 3 und 4. Zur Einführung. In: Franz Kafka-Heft 6, Frankfurt/Main/Basel: Stroemfeld 2008, S. 6–16. 3 Zur Macht der Sprache bei Franz Kafka vgl. Reuß, Roland: Die Oxforder Oktavhefte 7 und 8 und die Zürauer Zettel. Zur Einführung. In: Franz Kafka-Heft 8. Frankfurt/Main/Basel: Stroemfeld 2011, S. 3–16; Ders.: Die Oxforder Oktavhefte 5 und 6. Zur Einführung. In: Franz Kafka-Heft 7. Frankfurt/Main/Basel: Stroemfeld 2009, S. 9–15.
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Stefanie Konzelmann
ken mit sich als das gesprochene Wort. Zwar kann eine mündliche Äußerung besonders emotional wirken und daher große Macht entfalten,4 aber auch von der Schrift können starke Gefahren und Kräfte ausgehen, denn durch die Stabilität des schriftlich Dargestellten ist eine historisch wie geografisch weitläufige Verbreitung möglich. Für den Schreiber bedeutet dies einerseits Gestaltungspotenzial, andererseits aber auch Verantwortung, schließlich können Widersprüche, Verstöße und Verletzungen im Schriftlichen besser bemerkt werden als in der flüchtigen mündlichen Darstellung,5 es kann daher auch leichter Kritik geübt werden und Rechtfertigungsdruck entstehen. Die problematischen Seiten der Sprache, ihre Wirkkraft und ihre Grenzen fallen also bei schriftlichen Darstellungen meist stärker ins Gewicht als in der mündlichen Mitteilung. Wie souverän können Autoren und Autorinnen angesichts der Begrenztheit von Sprache und Schrift daher überhaupt sein bzw. wie viel Emotionalität und Eindringlichkeit können sie sich mit Rücksicht auf die Wirkkraft von Sprache erlauben?
2.
Die Tücken des Schreibens in Franz Kafkas frühen Briefen an Felice Bauer
Seit Elias Canetti ist die Bedeutung der brieflichen Verbindung mit Felice Bauer für Franz Kafkas Entwicklung als Schriftsteller bekannt.6 Auch was ihren sprachlichen Nuancenreichtum, die Ausdrucks- und Wirkungskraft sowie ihre Vielschichtigkeit anbelangt, kann Kafkas Briefen an Felice Bauer eine literarische Qualität kaum abgesprochen werden.7 In den Briefen finden sich aber auch 4 Vgl. die Aufzeichnung 7 aus dem fünften Oxforder Oktavheft (Kafka, Franz: Oxforder Oktavheft 5. Hrsg. von Roland Reuß/Peter Staengle. Frankfurt/Main/Basel: Stroemfeld 2009, Blatt 2r f.). 5 So bieten die beiden unterschiedlichen Darstellungen von der Reaktion des Prüglers auf K.s Bestechungsversuch durch ihre schriftliche Fixierung sogleich die Möglichkeit, die verleumderische Absicht des Erzählers zu erkennen. In einer rein mündlichen Schilderung würde dies sehr viel weniger auffallen (vgl. Kafka, Franz: Der Prügler. In: Der Process. Hrsg. von Roland Reuß/Peter Staengle. Frankfurt/Main, Basel: Stroemfeld 1997, Blatt 2v, Z. 23–26; Blatt 4r, Z. 25 – Blatt 4v, Z. 3). 6 Vgl. Canetti, Elias: Der andere Prozeß. Kafkas Briefe an Felice. München/Wien: Hanser 1984. Die Verbindung zu ihr beförderte seine schriftstellerische Produktivität stark, er entwickelte sein Schreiben durch die Briefe an sie weiter, reflektierte in vielen Briefpassagen sowohl seine literarischen Arbeiten als auch sein Briefschreiben und außerdem die Wirkung ihrer Briefe – und speziell deren Ausbleiben – auf ihn (vgl. ebd., S. 15–18). 7 Vgl. Theweleit, Klaus: Buch der Könige. Bd. 1: Orpheus (und) Eurydike. Frankfurt/Main, Basel: Stroemfeld 1988, S. 1019. Canetti betrachtet in »Der andere Prozeß« Kafkas Schreiben an Felice Bauer als einen »Dialog […], den er über sie mit sich selber führt[]« (vgl. Canetti, Der andere Prozeß. 1984, S. 18).
Franz Kafka und die Souveränität des Schreibens
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zahllose Beobachtungen über das Schreiben, darunter die Auseinandersetzung mit den Schwierigkeiten und Grenzen des Schreibens, zu der u. a. die metaphorischen Darstellungen vom Eigenleben der Schreibwerkzeuge gehören.
2.1.
Brief vom 20. September 1912
Der erste Brief vom 20. September 19128 ist mit Schreibmaschine verfasst und trägt den Briefkopf der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt. Kafka präsentiert sich in diesem Brief halbprivat, indem er einerseits mit der Schreibmaschine schreibt und den Briefkopf seines Arbeitgebers nutzt, wodurch er sowohl Seriosität und berufliche Etablierung als auch eine gewisse Distanz und Zurückhaltung zum Ausdruck bringt, andererseits die Begegnung im privaten Bereich bei Familie Bord wieder aufgreift, die schließlich sogar im Versprechen einer gemeinsamen Palästinareise mündet, und am Ende seines Briefes dann offen um eine Korrespondenz bittet. In seinen Erinnerungen an den Abend des ersten Zusammentreffens stellt er sich als aktiv dar, er »reicht[]« ihr »Photographien von einer Thaliareise, eine nach der anderen« und stellt schließlich eine Verbindung zwischen seiner Versprechensgeste des Handschlags mit ihr und seinem jetzigen Schreiben her: »[…] und der schließlich in dieser Hand, mit der er jetzt die Tasten schlägt, ihre Hand hielt, mit der Sie das Versprechen bekräftigten, im nächsten Jahr eine Palästinareise mit ihm machen zu wollen« (S. 170, Z. 19–25).
Aus diesem Versprechen einer gemeinsamen Palästinareise, das durch die beiderseitige Handgeste noch stärkeres Gewicht erhält, zieht Kafka die Legitimation und Motivation für die jetzige briefliche Kontaktaufnahme. Weil er mit seiner Hand damals ihre Hand gehalten hat, erscheint es ihm gerechtfertigt, gerade diese seine Hand zum Schreiben an sie einzusetzen. Die behutsame, zarte Geste des Haltens der Hand weicht deutlich ab vom eine Abmachung bekräftigenden Handschlag – der möglicherweise auch eher unter Männern üblich war – und auch die Beschreibung, »mit der er jetzt die Tasten schlägt«, bildet einen starken Kontrast zu dieser. Beide Gesten weisen den so Handelnden letztlich aber als souverän und selbstbewusst aus, als jemanden, der gleichermaßen zu einer zarten Berührung wie zu entschlossenem Schreiben in der Lage ist. Der Schreiber, der wie ein virtuoser Pianist »die Tasten schlägt«, beherrscht sein Schreibgerät oder ist im Einklang mit diesem und mit Feuereifer bei der Sache.
8 Vgl. Kafka, Franz: Briefe 1900–1912. Kommentierte Ausgabe. Hrsg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt/Main: S. Fischer 1999 (Seitenangaben fortlaufend im Text), S. 170f.
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Schon in der Mitte des Briefes wird die Darstellung des energischen Schreibens allerdings getrübt: »Ich bin ein unpünktlicher Briefschreiber. Ja es wäre noch ärger, als es ist, wenn ich nicht die Schreibmaschine hätte; denn wenn auch einmal meine Launen zu einem Brief nicht hinreichen sollten, so sind schließlich die Fingerspitzen zum Schreiben immer noch da« (S. 171, Z. 7–11).
Der Verfasser gibt sich in dieser Schilderung nicht mehr beherzt seinem Schreiben und seinem Schreibinstrument – und damit der Empfängerin – hin, sondern die Briefzeilen entstehen einfach nebenbei, lediglich noch durch einen kleinen Impuls angestoßen. Anders als in der zuvor dargestellten Szene liegt die Hauptinitiative nicht mehr beim Briefschreiber, vielmehr springt die Maschine nun für diesen ein und übernimmt für ihn die eigentliche Korrespondenzarbeit, vermag dadurch dessen Schwächen und Launen auszugleichen. Wenn sich der Schreiber also ohnehin nur sehr halbherzig seinem Brief widmet, so fällt dies gar nicht weiter auf, da die Schreibmaschine ihre Aufgabe fast von selbst erfüllen kann. Die Schreibunterbrechung beim Einspannen von neuem Papier in die Schreibmaschine bringt Kafka zum Nachdenken über das zuvor Geschriebene: »Ich merke beim neuen Einlegen des Papiers, daß ich mich vielleicht viel schwieriger gemacht habe, als ich bin. Es würde mir ganz recht geschehn, wenn ich diesen Fehler gemacht haben sollte, denn warum schreibe ich auch diesen Brief nach der sechsten Bürostunde und auf einer Schreibmaschine, an die ich nicht sehr gewöhnt bin« (S. 171, Z. 16–20).
Der Austausch des Papiers – die durch das gewählte Schreibgerät der Schreibmaschine erzwungene kleine Pause nach einer Phase kontinuierlicher Niederschrift – bietet die Möglichkeit zu einer Reflexionspause, in der der Schreiber für einen kurzen Moment das zuvor Verfasste noch einmal Revue passieren lassen kann. Dabei erscheint Kafka der vorangegangene Absatz, in dem er sich als »unpünktliche[n] Briefschreiber« bezeichnet, als zu stark geraten bzw. möchte er dieser eher unvorteilhaften Selbstbeschreibung noch etwas entgegensetzen, um sich der Adressatin gegenüber als Korrespondenzpartner nicht von vornherein gänzlich unmöglich zu machen. Zu Beginn des letzten Absatzes schreibt er dann: »[…] es ist der einzige Nachteil des Schreibmaschinenschreibens, daß man sich so verläuft […]« (S. 171, Z. 21f.). Entgegen der vorherigen Darstellung der Schreibmaschine als unterstützend für die Korrespondenz und die Schwächen des Briefschreibers ausgleichend soll sie nun plötzlich der Grund für das teilweise Misslingen der vorangegangenen Briefpassage sein. Zunächst gibt Kafka noch seine eigene Erschöpfung am Ende des Arbeitstages und – seiner früheren Schilderung des energischen Schlagens der Schreibmaschinentasten widersprechend – die Un-
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eingespieltheit mit dieser Schreibmaschine an (S. 171, Z. 18–20), schließlich wird aber mit der Metapher des Sichverlaufens durch das Schreibmaschinenschreiben (S. 171, Z. 21f.) das Schreibgerät zum Hindernis und zur Gefahr für das Glücken des Schreibens. Die Schreibmaschine fängt nun nicht die ungünstigen Launen des Schreibers ab und führt das Schreiben auf den richtigen oder zwar einen anderen als ursprünglich angestrebten, aber dennoch guten Weg, sondern bringt den Verfasser von diesem ab und lässt ihn in die Irre gehen. Innerhalb kurzer Zeit wird das Schreiben mit der Schreibmaschine mal als Unterstützung, mal als Erschwernis für das Schreiben empfunden. Die Eigenschaften der Schreibmaschine werden also von Moment zu Moment verschieden, je nach der augenblicklichen Schreibsituation bewertet. Wird diese als gut und souverän empfunden, so tritt die Schreibmaschine nicht als eigenständiger Faktor in Erscheinung, denn der Verfasser ist im Einklang mit ihr, sie fügt sich in seinen Schreibprozess nahtlos ein. Ist aber das Schreibgefühl beeinträchtigt, geht es um schwierigere Themen und ist der Verfasser daher verunsichert, wird die Schreibmaschine als Störung dargestellt, die das gute und sinnvolle Schreiben auf Abwege führen kann.9
2.2.
Brief vom 28. September 1912
Kafkas zweiter Brief an Felice Bauer vom 28. September 1912 (S. 173–176) ist zwar noch mit dem Briefkopf der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt versehen, aber nicht mehr mit Schreibmaschine, sondern mit der Feder geschrieben. Allein dass es Kafka offenbar als notwendig empfindet, sich für das handschriftliche Verfassen des Briefes zu entschuldigen (S. 173, Z. 20f.), lässt diesen Wechsel des Schreibgeräts bedeutsam werden, erst recht die sich dann direkt anschließende, fast einen ganzen Absatz umfassende Begründung. Als Erstes erwähnt Kafka, dass er »so entsetzlich viel zu schreiben« (S. 173, Z. 21) habe. Möglicherweise ist dies nicht so sehr ein Hinweis darauf, dass Kafka das Schreiben mit der Feder schneller von der Hand geht als das mit Schreibmaschine, sondern im Zusammenhang mit den nachfolgenden Ausführungen erscheint vielmehr die größere Bequemlichkeit, die das Schreiben mit der Hand 9 Erst mit dem Eintreten von Schreibschwierigkeiten wird das Schreibgerät (wie auch die weiteren Bestandteile, die zum Schreiben gehören: Sprache und Schreibbewegung) als störend wahrgenommen. Gerät das Schreiben aus dem Fluss, rücken seine einzelnen Komponenten stärker in den Vordergrund. Vgl. Campe, Rüdiger: Die Schreibszene, Schreiben. In: Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte. Hrsg. von Sandro Zanetti. Berlin: Suhrkamp 2012, S. 270f.; vgl. Stingelin, Martin: ›Schreiben‹. Einleitung. In: »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. Hrsg. von Martin Stingelin/Davide Giuriato/Sandro Zanetti. München: Wilhelm Fink 2004, S. 14f.
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in diesem Ausgenblick verspricht, entscheidend zu sein. Denn als weitere Gründe für den Wechsel des Schreibgeräts nennt Kafka den Aufbewahrungsort der Schreibmaschine am anderen Ende des Korridors, die Dringlichkeit des Briefes, den Feiertag, das schöne Wetter und seine gute Laune (S. 172, Z. 1–5). Ihm ist die Bewegung des Schreibens mit der Hand im Moment offensichtlich angenehmer und scheint seiner Stimmung viel besser zu entsprechen. Das Bedürfnis nach umfassender Mitteilung und die Darstellung seiner derzeitig guten Verfassung tragen – durch ihren Antwortbrief motiviert – einen deutlich persönlichen Ton, der durch den Wechsel von Schreibmaschine zu Feder unterstrichen wird. Das Moment des Offiziellen tritt gegenüber dem ersten Brief stark zurück, nur noch der Briefkopf der AUVA und das Büro als Schreibort bleiben erhalten, wobei das Büro an einem gesetzlichen Feiertag möglicherweise ein ruhigerer und privaterer Ort als die Wohnung der Familie Kafka in der Niklasstraße gewesen sein könnte. Das Schreiben mit Feder und Tinte scheint für Kafka viel stärker mit dem schriftstellerischen Schaffen verbunden zu sein als das Schreiben mit der Maschine, das dem Bereich der Erwerbsarbeit zugeordnet war. Die schöpferische literarische Arbeit wurde mit der Feder unternommen – wie auch die Niederschrift von »Das Urteil« in nur einer Nacht wenige Tage zuvor, vom 22. auf den 23. September 1912. Die Fortbewegung der Feder auf dem Papier scheint mit ihrem Moment des Räumlichen und der direkteren Erzeugung der Schrift durch den Schreibenden sowohl den Gedanken als auch den seelischen Regungen mehr Platz zu bieten und die Konzentration stärker einzufangen als das Antippen der Schreibmaschinentasten mit den Fingerspitzen. Von großer Bedeutung ist dabei sicher auch der Erhalt des Antwortbriefes von Felice Bauer, den er als Interessensbekundung an einer Korrespondenz mit ihm wertet und der in ihm offenbar das Bedürfnis, sich persönlicher zu äußern, weckt. In der handschriftlichen Briefdarstellung gehen privater und literarischer Ausdruck eine Verbindung ein, was auch daran zu erkennen ist, welch breiten Raum die Schilderungen über das Schreiben allgemein sowie die Fortschritte und Schwierigkeiten seiner schriftstellerischen Vorhaben einnehmen.
2.3.
Brief vom 4. Dezember 1912
Im Brief vom 4. Dezember 1912 (S. 297f.) schreibt Kafka: »Und trotz des besten Willens, – es muß die Feder sein, die in meiner Hand ihre eigenen bösen Wege geht« (S. 297, Z. 19f.). Dem Schreibwerkzeug (hier: der Feder) wird die Verantwortung für Briefpassagen zugeschrieben, die Felice Bauer – dies legt die zweifache Verwendung des Verbs »quälen« nahe (S. 297, Z. 11; 16) – sehr zugesetzt haben mussten. Die Feder, so die Darstellung, verselbstständigt sich gegenüber
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dem Schreiber und führt das Schreiben auf Abwege. Nicht der Verfasser hat in der Hand, was geschrieben wird, und bewegt die Feder entsprechend seiner Vorstellung zur Formung der passenden Wörter, sondern die Feder lenkt die Hand des Briefschreibers in eine Richtung, die dieser eigentlich nicht hatte einschlagen wollen. Machte die Schreibmaschine im ersten Brief an Felice Bauer schon Schwierigkeiten, weil sie sich ungewohnt anfühlte und die Gefahr des Sichverlaufens mit sich brachte, so sind die Probleme, die sich durch das Schreiben mit der Feder ergeben, weit gravierender. Zwar scheint die Feder keine Irritation durch ein ungewohntes Schreibgefühl hervorzurufen, doch kann das Schreiben mit ihr noch stärker als das Schreibmaschinenschreiben aus dem Ruder laufen und sich verselbstständigen. Konnte die kleine Verirrung beim Schreiben mit der Schreibmaschine in Kafkas erstem Brief an Felice Bauer schnell erkannt und sogleich wieder behoben werden – schließlich endet dieser nach einer kurzen Passage der Irritation wieder klar entschlossen –, so geht von der auf Abwege geratenen Feder ein stärkeres Gefährdungspotenzial aus, denn sie kann nachhaltig verstören und daher sogar den Briefwechsel gänzlich bedrohen.10 Die Metapher der »bösen Wege«, die die Schreibfeder unter der Hand des Schreibers einschlägt, kann auf die unbewussten Vorgänge verweisen, die sich während des Schreibens ereignen bzw. durch das Schreiben an eine bestimmte Person in Gang gesetzt werden. Die Situation des Schreibens an die Geliebte scheint bisher unbekannte Bereiche der Persönlichkeit zu berühren, weshalb sich im Schreiben plötzlich ganz Unvorhergesehenes ereignen und zeigen kann. Dies gilt jedoch nicht allein für Kafkas Briefe an Felice Bauer, sondern erstreckt sich auch auf sein literarisches Schaffen dieser Zeit. Durch den Brief vom 4. Dezember zieht sich das Spiel mit den unterschiedlichen Schreibbewegungen und der disparaten Ausstrahlung von Hand- und Maschinenschrift wie ein roter Faden. Das Handschriftliche könnte eigentlich für die Verbundenheit stehen und die Zusammengehörigkeit der liebenden Briefpartner unterstreichen, doch diese Situation des vertrauten brieflichen Austausches wird höchst ambivalent gestaltet, wie etwa Kafkas folgende Versicherung zum Ausdruck bringt: »[…] von nun an ruhige Briefe, wie es sich gehört wenn man an die Liebste schreibt, die man streicheln und nicht peitschen will« (S. 297, Z. 21–23). Würde man – entsprechend der mit dem jeweiligen Schreibgerät verbundenen Schreibbewegung (die Feder schreibt durch Gleiten über das Papier, die Schreibmaschine durch das Anschlagen der Tasten) – Feder und Handschrift mit Streicheln und die Maschinenschrift hingegen mit Peitschen assoziieren, so 10 Vgl. etwa die Korrespondenz zwischen dem 7. und dem 14. November 1912 und Kafkas nicht abgeschickten Brief vom 9. November 1912 (S. 216–233).
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scheint hier fast der gegenteilige Fall vorzuliegen: »[…] der Feierlichkeit halber […] Buchstabe für Buchstaben« verspricht Kafka der Geliebten, »daß […] ich Dich nie mehr brieflich quälen werde« (S. 297, Z. 9–11), verwendet dafür also Druckbuchstaben statt Schreibschrift, so als könnte dies mehr Schreibautonomie und Sicherheit vor einem Verlust der Kontrolle über das Schreibgerät bieten. Die Feder wird quasi in Schreibmaschinenmanier verwendet, um durch den markanten Wechsel der Schriftart den Worten mehr Gewicht zu verleihen; sie erhalten durch die Trennung der Buchstaben mehr Nachdruck. Die Wendung »brieflich quälen« schließt insofern an die Schreibwerkzeugmetaphern an, als sie die Auffassung des Sichverselbstständigens von Feder oder Schreibmaschine, die die Hand des Schreibers lenken, vervollständigt und nun zusätzlich mit berücksichtigt wird, wie die geschilderte Schreibsituation wiederum auf die Leser des Niedergeschriebenen wirkt. Das Schreibgerät hat den Schreiber in der Hand und das in dieser als unfrei empfundenen Konstellation entstandene Schriftstück dann wiederum auch die Leserin. Umgekehrt wird für die Wirkung von Felice Bauers Briefen auf Franz Kafka der gleichen Beobachtung Ausdruck verliehen, und zwar kann sich die Kraft von Felice Bauers Briefen in förderlicher oder in beeinträchtigender Weise zeigen. Durch das Glück eines erhaltenen Briefes gelingt es Kafka mitunter besser, seinen beruflichen Aufgaben nachzukommen, die durch sein nächtliches Schreiben für ihn stärker in den Hintergrund gerückt sind: »Und sitze ich auch da als Jammermensch, nachdem ich Deinen Brief bekommen und gelesen habe, erhebe ich mich als ein Riese und gehe als ein eifriger Beamter zur wartenden Schreibmaschine, ganz so als führtest Du mich hin […]« (S. 297, Z. 25–28).
Nur wenige Zeilen später schreibt er dann aber: »Ich komme nicht weg von Dir, Liebste heute. Reiß Du Deine Hand zurück, wenn ich so närrisch bin« (S. 298, Z. 4f.). Von ihr wird gefordert, die Lösung seiner starken Bindung an sie vorzunehmen; er empfindet sich ihr gegenüber genauso ausgeliefert wie seinem Schreibgerät.
2.4.
Brief vom 4. auf 5. Dezember 1912
Im direkt darauffolgenden Brief (S. 298–301), der in der Nacht vom 4. auf den 5. Dezember 1912 entstanden ist, beschreibt Kafka, welches Vergnügen ihm seine erste öffentliche Lesung – im Rahmen der Prager Herder-Vereinigung las er am Abend des 4. Dezember »Das Urteil« – bereitet hatte: »Liebste ich lese nämlich höllisch gerne vor, in vorbereitete und aufmerksame Ohren der Zuhörer zu brüllen, tut dem armen Herzen so wohl« (S. 298, Z. 15–17).
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Während Kafka im fest vorgegebenen Rahmen einer Lesung sich über seine Wirkung freuen und die Möglichkeit, das Publikum »tüchtig an[zu]brüll[en]« (S. 298, Z. 17f.), geradezu auskosten kann, ist die starke Wirkung seiner Briefe auf Felice Bauer – wie umgekehrt auch die Wirkung ihrer Briefe oder deren Ausbleiben auf ihn – problematisch. Die Zuhörer einer literarischen Lesung sind darauf gefasst, durch den Vortrag in Bann gezogen oder beeindruckt zu werden. Weil es sich aber – im Falle der Lesung von »Das Urteil« – um ein fiktives Geschehen handelt, mit dem sie konfrontiert werden, sind sie weniger direkt als Individuum, sondern vielmehr mittelbar als an den erfundenen Figuren und ihrem Ergehen Anteilnehmende betroffen. Die Situation des Schreibens an die Geliebte hingegen ist in jeder Hinsicht höchst persönlich und kann daher auch schnell verletzend wirken. Die Situation der Lesung bietet also Gelegenheit, die Macht des eigenen Wortes einmal ganz auszuschöpfen, ohne dadurch hinterher in Spannungen verwickelt zu werden.
2.5.
Briefe vom Januar 1913
Im Brief vom 5. auf den 6. Januar 191311 schimpft Kafka im Anschluss an die Darstellung seiner Vorbehalte gegenüber Felice Bauers Bekanntschaft mit einem Kinderarzt auf »die dumme Feder!« (S. 22, Z. 26), äußert sich verärgert darüber, »was für Dummheiten sie sich niederzuschreiben nicht scheut« (S. 22, Z. 26f.), und beteuert sogleich, dass sein Denken an sie viel vernünftiger sei als sein Schreiben (S. 22, Z. 30). Die vorangegangene, stark parodistisch gefärbte Passage, in der er zunächst bekundet, nicht das Recht zu haben, sich zwischen sie und den Kinderarzt zu stellen, weil er sich dafür sonst zu stark schuldig fühlen würde, anschließend jedoch schildert, welche Eifersucht der Gedanke an eine Annäherung zwischen Felice und ihrem Bekannten in ihm wecken würde – eine stark ambivalente Darstellung und Empfindung, die er als »Wirbel« (S. 22, Z. 21) erlebt –, bewertet er mit seinem Schimpfen auf die Feder nachträglich als nicht ernst zu nehmend. Die vorangegangenen Ausführungen sollen auf diese Weise abgemildert und etwas zurückgenommen werden. Aus der Welt zu schaffen sind sie nicht mehr, sie wurden nun einmal niedergeschrieben (und Kafka verzichtet auch nicht auf das Absenden des Briefes). Deshalb kann es nur darum gehen, die Wogen, die durch das Vorige entstanden sein könnten, so rasch als möglich wieder zu glätten. Das Schimpfen auf die Feder und ihre Andeutung als autonom agierend erhöhen damit letztlich aber den Spielraum der brieflichen Äußerungen und ermöglichen 11 Vgl. Kafka, Franz: Briefe 1913–1914. Kommentierte Ausgabe. Hrsg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt/Main: S. Fischer 1999 (Seitenangaben fortlaufend im Text), S. 20–22.
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es, auch Dinge zu sagen, die bei der Briefpartnerin nicht auf Gegenliebe stoßen werden. Gleich im darauffolgenden Brief vom 6. auf den 7. Januar 1913 (S. 23f.) beklagt Kafka: »Wie kann man nur überhaupt schreiben, wenn man soviel zu sagen hat und wenn man weiß, daß die Feder durch die Menge des zu Sagenden nur eine unsichere und zufällige Spur ziehen wird« (S. 23, Z. 23–26).
Der Federmetapher kommt hier eine ganz andere Funktion zu als im vorigen Brief: Es geht nicht mehr darum, eine schon niedergeschriebene, aber als irritierend erscheinende Briefstelle nachträglich zu verharmlosen, sondern es werden ganz grundsätzliche Zweifel am Schreiben geäußert, die die Möglichkeit einer substanziellen persönlichen Mitteilung infrage stellen. Das Geschriebene wird als den Vorstellungen des Schreibers nicht entsprechend dargestellt und lediglich ein kleiner Hoffnungsschimmer bleibt, dass trotz aller Unbeholfenheit und Unvollkommenheit wenigstens der Hauch einer Ahnung dessen, worum es eigentlich gehen sollte, noch durchschimmern kann. Die Metapher belässt die möglichen Gründe für diese Grenzen der schriftlichen Darstellung allerdings im Dunkeln. Es bleibt offen, ob diese etwa in der Sprache und im Schreiben selbst liegen oder in den inneren Konflikten und Ambivalenzen des Briefschreibers, die eine klare und offene Aussprache unmöglich machen. Der Kern der Behauptung und dessen sprachliche Gestaltung bzw. Darstellung – Materie einerseits und Form andererseits – stimmen damit in gewisser Weise überein, indem die beklagte Vagheit des Geschriebenen wiederum auch für diese klagende Äußerung selbst gilt. Und schließlich im Brief vom 26. Januar 1913 (S. 62–64): »Liebste keine unnützen Sorgen! Es geht mir immer 10 mal besser als ich schreibe, die Feder gleitet eben aus, das ist alles« (S. 64, Z. 13f.). Die Feder gleitet aus, kommt folglich unbeabsichtigt von ihrer eigentlichen Bahn ab und gibt daher die Situation in verfälschter Weise wieder. Dies ist erneut der Versuch, vergangene Schilderungen, die bei Felice Bauer Beunruhigung hervorgerufen haben, zu glätten und zurückzunehmen, indem sie als Unfall dargestellt werden. Zugleich aber bedeutet Kafkas Erklärung auch eine Etablierung dieses Ausgleitens der Feder als unvermeidliche Begleiterscheinung seines Briefschreibens und er gibt Felice Bauer damit zu verstehen, dass sie sich mit diesen unberechenbaren und mitunter heftigen Störungen arrangieren muss.
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3.
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Das unkontrollierbare Schreibgerät und die Autonomie des Briefschreibers
Im ersten Teil des ersten Briefes an Felice Bauer vom 20. September 1912 wird ein Wunschbild des Schreibens als souveränes und entschiedenes Sichmitteilen entworfen, das aber lediglich in der Schilderung seines Leseerlebnisses bei der Prager Herder-Vereinigung am Abend des 4. Dezember 1912 wiederzufinden ist, nun allerdings auf den mündlichen Vortrag eines schon fertiggestellten literarischen Textes und nicht auf die Situation des Schreibens bezogen wird und außerdem einen deutlich aggressiven Unterton aufweist.12 Sehr viele Textstellen bringen eine Abweichung vom Ideal des unabhängigen, sich seiner selbst bewussten Verfassers zum Ausdruck, so auch die Schreibgerätmetaphern, die allesamt für den Verlust eines stabilen Selbstgefühls und den damit einhergehenden Schwierigkeiten der Selbstdarstellung stehen. Im Einzelnen weisen sie leichte Unterschiede auf, mal wird mehr die falsche Richtung, die das Verfasste nimmt, mal mehr die fehlende Ausdruckskraft von Sprache und Schreiber bemängelt. Allerdings erscheinen die Passagen, die Kafka dem Eigenleben seines Schreibgeräts zuschreibt, zu durchdacht und kunstvoll, um ganz im Affekt verfasst worden zu sein. Die Darstellung des Schreibers als den Launen und Eigentümlichkeiten seines Schreibgeräts vollständig ausgeliefert kann daher auch als Ausflucht betrachtet werden, als Vorwand, um schlechte Eigenschaften nicht verändern zu müssen. Kafka erhält sich auf diese Weise die Möglichkeit, seinen unliebsamen Eigenheiten weiter Ausdruck zu verleihen. Kafkas Aufzeichnung 128 aus dem Oxforder Oktavheft 713 Die Frage nach der Möglichkeit und Autonomie des Schreibens stellt Kafka auch in seiner Aufzeichnung 128 aus dem Oxforder Oktavheft 714, und zwar geht es dabei um die Auseinandersetzung mit der prinzipiellen Wahrheitsfähigkeit von Sprache, die das Potenzial besitzt, das Schreiben gänzlich in Zweifel zu ziehen. Nach dem Ausbruch von Kafkas Lungentuberkulose im Juli 1917, die er als endgültiges Aus für eine bürgerliche Existenz auffasste und die zum endgültigen 12 Schon in Kafkas Brief vom 20. September 1912 schwingt in der Schilderung des in die Tasten schlagenden Briefschreibers ein leicht aggressives Moment mit, das aber positiv, als Entschlossenheit, bewertet werden kann. In der Szene der Lesung ist dann aber die Angriffslust durch die Beschreibung des mündlichen Vortrags mit dem Verb »brüllen« (S. 298, Z. 16–18) nicht mehr zu übersehen. 13 Die vorliegenden Ausführungen beziehen sich auf die Monografie zum Thema ›Macht und Sprache bei Franz Kafka‹, die von der Verfasserin derzeit für die Publikation vorbereitet wird. 14 Vgl. Kafka, Oktavheft 7. 2011 (Seitenangaben fortlaufend im Text), hier Blatt 26v, Z. 20–25.
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Bruch mit Felice Bauer führte, hielt er sich zwischen Mitte September 1917 und Ende April 1918 bei seiner Schwester Ottla in der landwirtschaftlichen Gemeinschaft von Zürau auf, etwa 80 km westlich von Prag.15 Dort führte er seine in den Jahren zuvor entwickelte Praxis des Schreibens mit Bleistift in oktavformatige Hefte weiter.16 Die Aufzeichnung 128 ist unmittelbar unterhalb des bekannteren Notats 127 zu den Grenzen des Sprechens über das »ausserhalb der sinnlichen Welt« (Blatt 26v, Z. 10f.) Befindliche notiert und setzt sich mit dem Verhältnis von Sprechen und Lügen auseinander: Ist ein lügenfreies, ganz der Wahrheit verpflichtetes Sprechen überhaupt möglich oder bedeutet jedes Sprechen und Schreiben unvermeidlich auch eine Lüge? Kann daher höchstens eine Schadensbegrenzung oder Abmilderung erreicht werden oder sollte sogar besser ganz auf sprachliche Äußerung verzichtet werden? Die Probleme für die Aufzeichnung ergeben sich nicht nur aus der Komplexität des Verhältnisses von Sprechen und Lügen, sondern auch daraus, dass hier – wie bei jeder kritischen Auseinandersetzung mit Sprache – die beanstandende Äußerung mit ihrer Kritik an der Sprache immer auch sich selbst mit infrage stellt, da ja auch sie sprachlich gefasst ist. Die Missbilligung der Lügenhaftigkeit von Sprache bringt jedoch besonders gravierende Auswirkungen mit sich, denn dabei geht es ganz grundsätzlich um die Glaubwürdigkeit und Legitimität der Aufzeichnung. Kann dem Dargestellten überhaupt getraut werden oder muss es eigentlich vollständig als lügenhaft verworfen werden? Es entsteht ein ähnliches Dilemma wie durch das Paradoxon des Kreters Epimenides, der behauptet, dass alle Kreter lügen.17 Kafka nimmt mehrere Änderungen an der Aufzeichnung 128 vor; für die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Sprechen und Lügen ist die Textgenese von großer Bedeutung. Zunächst notierte Kafka sehr wahrscheinlich nur »man lügt möglichst wenig nur, wenn man möglichst wenig spricht«. Lügen und Sprechen werden hier, in der Grundschicht des Notats, durch einen Konditionalsatz miteinander in Beziehung gesetzt. Anstatt einer vollständigen Verneinung beider Teilsätze, also anstatt etwa zu schreiben »[m]an lügt nur dann nicht, wenn man nicht spricht«, wird die quantitative Angabe »möglichst wenig« (Blatt 26v, Z. 21) verwendet. Die Verbindung von Lügen und Sprechen erscheint dadurch weniger fest, eine sprachliche Äußerung wird so nicht vollkommen zur Unmöglichkeit erklärt. Aber es 15 Vgl. Stach, Reiner: Kafka. Die Jahre der Erkenntnis. Frankfurt/Main: S. Fischer 2008, S. 219– 221; vgl. Reuß, Oktavhefte 7 und 8. 2011, S. 7–9. 16 Vgl. Reuß, Roland: Die ersten beiden Oxforder Oktavhefte Franz Kafkas. Zur Einführung. In: Franz Kafka-Heft 5. Frankfurt/Main/Basel: Stroemfeld 2006, S. 3–7. 17 Vgl. Die Fragmente der Vorsokratiker. Hrsg. von Hermann Diels. Bd. 1. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1906, S. 31f.
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kann auch keine Freiheit von der Lüge und damit keine Wahrheit erreicht werden. Zwar handelt die Grundschicht des Notats vom Sprechen, dennoch kann das, was darin über die mündliche Äußerung dargestellt wird, auch auf Schriftlichkeit bezogen werden und damit auf das Notat selbst. Das Geschriebene ist in gewisser Weise eine stabilere, fixiertere und verbreitungsgeeignetere Form der sprachlichen Äußerung. Die Schrift in ihrer Endgültigkeit wirkt also in Hinblick auf die Lügenhaftigkeit bzw. Wahrheitsfähigkeit von Sprache nur verschärfend, auch wenn ein Verfasser sich mehr Zeit für die Formulierung nehmen kann als ein Sprecher in der Spontaneität der mündlichen Äußerungssituation. Für den Schreiber fällt das Problem der Wahrheitsmäßigkeit des Geäußerten stärker ins Gewicht, denn das Setting des Schriftlichen ist verbindlicher, es entfallen die verbalen und nonverbalen Signale, die die Äußerung der Worte begleiten und zur Distanzierung und Kommentierung des Gesagten beitragen könnten, und schließlich bietet die Schrift auch die Möglichkeit zur Darstellung komplexerer Gegenstände und Fragen, die wahrheitsgemäß darzustellen eine größere Herausforderung bedeutet. Folglich macht die Formulierung mit der quantitativen Angabe »möglichst wenig« das Notat erst schreibbar. Wäre ein Sprechen ohne Lüge direkt vollständig verneint worden, so hätte sich die Aufzeichnung selbst ganz infrage gestellt. Mit der gewählten Formulierung macht sie sich also nicht vollkommen unglaubwürdig und nichtig, gesteht zugleich aber dennoch ein, dass auch sie nicht ohne Lüge auskommt, nicht rein die Wahrheit zum Ausdruck bringen kann, was auch als Empfehlung für den Umgang mit der Aufzeichnung betrachtet werden sollte. Das Schweigen allerdings, so deutet der Wortlaut der Grundschicht – ex negativo verstanden – an, kann keinen Ausweg aus der Verstrickung in die Lüge bieten, denn das Schweigen kann auch ein Verschweigen sein. Zweite Textstufe: »Man lügt möglichst wenig nur, wenn man möglichst wenig lügt, nicht wenn man möglichst wenig spricht« (Blatt 26v, Z. 20–23; 25). Die Bestimmung dieser zweiten Textstufe ist nicht ganz einfach. Man kann aber wohl annehmen, dass Kafka inmitten oder direkt nach der Niederschrift des dritten Teilsatzes »nicht wenn man möglichst wenig spricht« (Blatt 26v, Z. 23; 25) das erste »spricht« (Blatt 26v, Z. 23) strich und durch »lügt« (Blatt 26v, Z. 22) über der Zeile ersetzte. Die Verbindung von Lügen und Sprechen wird durch die zweite Textstufe weiter gelockert. Dass eine Reduktion des Sprechens einen Einfluss auf das Ausmaß an Lüge haben könnte, wird nun ausdrücklich zurückgewiesen und dadurch der Zusammenhang zwischen Lügen und Sprechen weiter entkoppelt. Dennoch werden Lügen und Sprechen auch hier in einem Atemzug genannt;
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auch die Verneinung einer Verbindung von Sprechen und Lügen enthält in gewisser Weise den Zusammenhang, selbst wenn dieser negiert wird. Zwei ganz unterschiedliche Folgerungen sind in Hinblick auf die Glaubwürdigkeit des Notats selbst möglich: Erstens könnte die Aufzeichnung durch diese Formulierung der zweiten Textstufe für ihre eigene sprachliche Gestaltung und Darstellung mehr Freiheit gewinnen, da das sprachliche Äußern nun weniger stark mit dem Problem der Lüge in Verbindung gebracht wird. Jedoch ist weiterhin nicht von vollständiger Lügenfreiheit, sondern nur von einer geringeren Ausprägung der Lüge die Rede. Zweitens wird durch die Tautologie der ersten beiden Teilsätze die Verantwortung der Sprechenden bzw. Schreibenden für die Sprache stärker in den Vordergrund gerückt. Es ist nicht das sprachliche Material an sich, das für die Lügenhaftigkeit einer sprachlichen Äußerung verantwortlich ist, sondern es kommt vor allem auf den Umgang der Sprecher und Schreiber mit der Sprache an. Dritte Textschicht: »Man lügt möglichst wenig nur, wenn man möglichst wenig lügt, nicht wenn man möglichst wenig Gelegenheit dazu hat« (Blatt 26v, Z. 20–25). Der Zusammenhang zwischen Sprechen und Lügen ist durch die Streichung des Prädikats »spricht« (Blatt 26v, Z. 25) nun gänzlich aufgehoben. Dass zwischen Lügen und Sprechen eine Verbindung hergestellt worden war, ist anhand dieser dritten Textstufe nicht mehr ersichtlich. Das für das Ausmaß der Lügenbelastetheit einer sprachlichen Äußerung entscheidende Moment wird nun als »Gelegenheit« (Blatt 26v, Z. 24) zur Lüge beschrieben. Die Verwendung des Wortes »Gelegenheit« rückt die Umstände, in denen eine sprachliche Äußerung ausgeführt wird, in den Blick. Nicht mehr das sprachliche Material oder die Sprecherinnen und Sprecher und Schreiberinnen und Schreiber sind entscheidend für den Grad der Lügenhaftigkeit, sondern die Umstände und die soziale Situation, in der das Sprechen geschieht. Manche Konstellationen scheinen geradezu eine dicke Lüge zu provozieren. Es kommt dann darauf an – so impliziert die Aufzeichnung –, diesen Situationen mit ihrer »Gelegenheit« zur Lüge zu widerstehen. Das Substantiv »Gelegenheit« bringt jedoch eigentlich eine positive Haltung zur Möglichkeit, die sich bietet, zum Ausdruck, denn diese wird so als etwas Erwünschtes dargestellt. Die Gelegenheit zur Lüge erhält dadurch den Beiklang des Willkommenseins. Für das Notat kann daher nun wiederum in Betracht gezogen werden, inwiefern es selbst eine willkommene »Gelegenheit« zur Lüge bietet und ob diese auch ergriffen wird. Man könnte es fast als ein entschlossenes Trotzdem lesen, mit dem ein Schriftsteller hier auf die unüberwindlichen Probleme der Sprache antwortet.
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Zürauer Zettel Nummer 58 Die dritte Textstufe notierte Kafka mit schwarzer Tinte auf den Zürauer Zettel mit der Nummer 58, tilgte das Übertragene jedoch schließlich durch zwei Diagonalstriche mit Bleistift. Die Streichung des Notats auf dem Zettel kann als Abkehr von der dritten Textschicht verstanden werden, sie allein kann das Verhältnis von Sprechen und Lüge nicht in angemessener Weise zum Ausdruck bringen. Nur in ihrer gesamten Genese kann die Aufzeichnung einen Einblick in den Gegenstand geben, der im Verlauf der Arbeit am Notat und durch die verschiedenen Textstufen erst entfaltet wird. Die Aufzeichnung 128 als Selbstversuch Die Aufzeichnung 128 des siebten Oxforder Oktavhefts kann also nur als Ganzes, nur in ihrer vollständigen Genese, angemessen betrachtet werden. Zu jedem Zeitpunkt der Aufzeichnungsentwicklung versucht der Verfasser – bzw. das Ich des Notats –, eine gewisse Freiheit gegenüber der Lügenhaftigkeit der Sprache, ihrer Sprecher und Schreiber zu gewinnen und damit überhaupt erst die Voraussetzung für seine Darlegung zu schaffen: zunächst über eine milde Bewertung der prinzipiellen Lügenbelastetheit von Sprache, dann durch den Versuch einer Entkoppelung des Zusammenhangs von Sprechen und Lügen sowie schließlich durch das – auch als Resignation interpretierbare – Spiel mit der Umwertung der negativen Konnotation des Lügens. Der Bleistift scheint hier das geeignete Schreibwerkzeug zu sein, das Vorläufigkeit zum Ausdruck bringt. Die Grundhaltung dieser Aufzeichnung kann einerseits als suchend und andererseits als ein spielerischer bis halsbrecherischer Umgang mit den gefahrvollen Herausforderungen der Sprache beschrieben werden. Insgesamt erscheint die Aufzeichnung 128 in ihrer Materialität und Entwicklung als ein Sichbewegen an den Grenzen der Sprache, als ein Schreiben in Herausforderung und mit offenem Ausgang.
4.
Das souveräne Schreiben als mutwilliges Spiel am Abgrund?
In beiden Beispielen geht es um die Souveränität des Verfassers über sein Schreiben und damit um die Glaubwürdigkeit des Dargestellten. Sowohl der Auseinandersetzung mit der Lügenhaftigkeit aller sprachlichen Äußerungen als auch der Klage über das Sichverselbstständigen der Schreibgeräte liegt die Frage nach der Möglichkeit schriftstellerischer Autonomie zugrunde. In den Briefen an Felice Bauer wird das Problem der Fragwürdigkeit des Dargestellten jedoch offen – gar offensiv – geäußert, während es in der Aufzeichnung 128 mit der jeweiligen Darstellung des Verhältnisses von Sprechen und Lügen nur implizit
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zum Ausdruck kommt, die Aufzeichnung sogar zunehmend versucht, das Problem zu überspielen. Die Aufzeichnung 128 kann somit als ein sprachliches Experiment betrachtet werden, als Selbstversuch mit offenem Ausgang, bestehend aus drei Textstufen, in denen der Verfasser immer wieder aufs Neue die eigentlich unmögliche Gratwanderung zwischen Lügen und dem Selbstinfragestellen seiner Äußerung unternimmt. Mit dieser Frage nach der grundsätzlichen Berechtigung des Schreibens provoziert er sich selbst. Die Schreibwerkzeugmetaphern aus Kafkas frühen Briefen an Felice Bauer stellen zwar zunächst die Macht des Verfassers über sein Schreiben als sehr begrenzt dar und lassen das Geschriebene dadurch ebenfalls fragwürdig werden, eigentlich jedoch verhelfen sie dem Briefschreiber zu einem größeren schriftstellerischen Spielraum, indem sie es erleichtern, Verstörendes zu Papier zu bringen. Auch dieses Vorgehen kann als ein riskanter Selbstversuch aufgefasst werden, da der Briefschreiber mit seinen unliebsamen Äußerungen die (briefliche) Verbindung bedroht, sogar infrage stellt, und daher zu einem späteren Zeitpunkt durch geschickte Argumentation und Kunstfertigkeit das zuvor Geschriebene wieder glätten, rechtfertigen und für unwichtig erklären muss. In beiden Beispielen lässt sich somit ein fragiles, mutwilliges Spiel mit den Möglichkeiten und Grenzen des Schreibens erkennen. Der Verfasser fordert sich selbst und sein Schreiben auf grundsätzliche und gefährdende Weise heraus und spornt sich damit zu einem innovativen Umgang mit Sprache an. Immer aber werden diese sprachlichen Experimente im Anblick des Abgrunds vollzogen, durch das Heraufbeschwören von existenzieller Gefahr werden sie ermöglicht und erkauft.
5.
Literaturverzeichnis
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Kafka, Franz: Oxforder Oktavheft 7. Hrsg. von Roland Reuß/Peter Staengle. Frankfurt/ Main/Basel: Stroemfeld 2011, Blatt 4v f.; 26v. Reuß, Roland: Die ersten beiden Oxforder Oktavhefte Franz Kafkas. Zur Einführung. In: Franz Kafka-Heft 5. Frankfurt/Main/Basel: Stroemfeld 2006, S. 3–7. Reuß, Roland: Die Oxforder Oktavhefte 3 und 4. Zur Einführung. In: Franz Kafka-Heft 6, Frankfurt/Main/Basel: Stroemfeld 2008, S. 6–16. Reuß, Roland: Die Oxforder Oktavhefte 5 und 6. Zur Einführung. In: Franz Kafka-Heft 7. Frankfurt/Main/Basel: Stroemfeld 2009, S. 9–15. Reuß, Roland: Die Oxforder Oktavhefte 7 und 8 und die Zürauer Zettel. Zur Einführung. In: Franz Kafka-Heft 8. Frankfurt/Main/Basel: Stroemfeld 2011, S. 3–16. Stach, Reiner: Kafka. Die Jahre der Erkenntnis. Frankfurt/Main: S. Fischer 2008. Stingelin, Martin: ›Schreiben‹. Einleitung. In: »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. Hrsg. von Martin Stingelin/ Davide Giuriato/Sandro Zanetti. München: Wilhelm Fink 2004. Theweleit, Klaus: Buch der Könige. Bd. 1: Orpheus (und) Eurydike. Frankfurt/Main, Basel: Stroemfeld 1988.
Charlotte Jaekel
»Niemand hat eine Poetik, jedenfalls nicht, solange er Bücher schreibt« – Juli Zehs Anti-Poetik »Treideln«
»Ohne zu schreiben, kann man nicht denken; jedenfalls nicht in anspruchsvoller, anschlußfähiger Weise«,1 äußert Niklas Luhmann in seiner Reflexion über die Leistungen seines Zettelkastens. Schrift (als Reflexionsmedium) ermöglicht die Freisetzung von geistigem Potenzial, führt zu einer inhaltlichen Konzentration des Geschriebenen gegenüber dem Gesprochenen und zu einer größeren Bestimmtheit und Sammlung des Geistes – so die grundsätzliche Annahme. Ein kultureller Ort, der wie kaum ein anderer Schriftsteller dazu herausfordert, sich mit ihrem eigenen Schreibprozess auseinanderzusetzen, ist die Poetikvorlesung, in der Autorschaft in je eigentümlicher Weise reflektiert und einem Publikum zugänglich gemacht wird. Dabei sind es insbesondere Veranstaltungen wie etwa Preisverleihungen und Poetikvorlesungen, die die (spätestens seit Roland Barthes’ Diktum vom ›Tod des Autors‹ zum Anachronismus gewordene) Präsenz des Autors selbst erfordern und ihn – nach der Negation der Bedingung seiner Möglichkeit (die eigentümliche Idee, die Originalität des Genies betreffend) – auf seine Poetik hin befragen, die die paradoxale Konstruktion zeitgenössischer Autorschaft in den Blick rücken. Poetikvorlesungen als zentraler Bestandteil literarischer Kommunikation und die durch sie suggerierte Möglichkeit des Einblicks in die schriftstellerische ›Werkstatt‹ sind Gegenstand des vorliegenden Beitrags und – genauer – die Frage danach, was passiert, wenn anstelle eines souveränen, genialen Autorsubjekts offensiv ausgestellte Nichtoriginalität und letztlich die Depotenzialisierung des Autors das Ergebnis des schriftlichen Reflexionsprozesses sind. Die Thematik ist insofern literaturwissenschaftlich einschlägig, als sie eine Vielzahl von Paradoxien betrifft. Es knüpft sich daran die Frage, wie die Inhaber von Poetikdozenturen selbst mit dieser Paradoxie umgehen – sofern sie von ihnen beobachtet wird: Felicitas Hoppe bezieht beispielsweise bei der Auftaktveranstaltung der Kölner Poetik1 Luhmann, Niklas: Kommunikation mit Zettelkästen. Ein Erfahrungsbericht. In: Öffentliche Meinung und sozialer Wandel. Für Elisabeth Noelle-Neumann. Hrsg. u. a. von Horst Baier. Opladen: Westdeutscher Verlag 1981, S. 222–228, hier S. 222.
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vorlesung TransLit 2016 die Abwesenheit von Kinobesuchen und Fernsehern in ihrer Jugend auf die spezifische Bildsprache in ihren Texten und macht sich so zum Flucht- und Endpunkt der (Selbst-)Deutung ihrer Werke.2 Exemplarisch sei hier – für eine andere Art der Auseinandersetzung – kurz auf die Frankfurter Poetikvorlesung des Suhrkamp-Pop-Autoren Thomas Meinecke verwiesen. Meinecke, in dessen ›Autorschaftskonzept‹ dem Schriftsteller allenfalls die Rolle einer Relaisstation zukommt, durch die das, was am Ende nicht als ›Werk‹, sondern als »Summe« steht, »hindurch geflossen« ist und dessen »prophylaktische Arbeitshypothese lautet: Das autonome Subjekt ist abgeschafft«,3 zieht in seiner Poetikvorlesung die radikale Konsequenz aus der Depotenzialisierung des Autors in einer – im Rahmen der Veranstaltung – skandalösen Ausstreichung jeglicher Subjektivität zugunsten von textueller Performanz, worauf schon der Titel hinweist: »Ich als Text« (2012) ist ein »Patchwork« aus »Texten, die schon mal irgendwo veröffentlicht worden sind. Von mir und über mich«, das auch »Verrisse«4 beinhaltet. Meineckes Vorlesung löst das Paradox der dort notwendigen Präsenz des Autors performativ: Er macht sich zum Medium der Übertragung der Worte anderer wie seiner eigenen, was zeigt, dass das Konzept persönlicher Autorschaft ausgedient hat. Die provokante Vorlesung schreibt sich so in das Kontinuum seiner Textproduktion ein, denn die Hinterfragung von Originalität bestimmt seine Romane insgesamt als Textgefüge. Eben dadurch wird die Unterscheidung zwischen ›Poetik‹ und ›Werk‹, ›Theorie‹ und ›Roman‹ hintertrieben. Während Popliterat Thomas Meinecke die Zurückweisung originärer Schöpfungsmythen in seiner Frankfurter Poetikvorlesung über die Delegierung des Wortes an andere inszeniert, reagiert Juli Zeh, deren (auto-)fiktionale Analyse der Bedingungen ihres Schreibens im Zentrum dieses Beitrags stehen soll, auf die Einladung mit einer »Anti-Poetik«5 unter dem Titel »Treideln« (2013), die ein höchst intrikates Verhältnis von Realität und Fiktion aufweist: »Treideln«, in der Erstausgabe klassisch als »Frankfurter Poetikvorlesungen«, im Paratext der Taschenbuchausgabe dann eindeutig als Briefroman ausgewiesen (auf die Gattungsfrage wird noch zurückzukommen sein), wurde bereits im Vorfeld der
2 Vgl. Hoppe, Felicitas: Was ich auch gern könnte. TransLit-Vortrag, Köln, 10. November 2016. In: TransLit 2016. Felicitas Hoppe. Hrsg. von Christof Hamann/Monika Schausten. Köln: Klaus Bittner 2018, S. 19–40, hier S. 36. 3 Meinecke, Thomas: Ich als Text (Extended Version). In: Zuerst bin ich immer Leser: Prosa schreiben heute. Hrsg. von Ute-Christine Krupp/Ulrike Janssen. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000, S. 14–26, hier S. 22. 4 Rabe, Jens-Christian: »Es ist schwieriger geworden mit den Feinden«. Der Schriftsteller, DJ und Musiker Thomas Meinecke über Lady Gaga, deutsche Gegenkultur, München und seine Frankfurter Poetikdozentur. In: Süddeutsche Zeitung vom 07./08. 01. 2012, S. 14. 5 Zeh, Juli: Treideln. München: btb 2015, S. 172 (Seitenangaben fortlaufend im Text).
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Frankfurter Poetikvorlesung publiziert.6 »Treideln« stellt eine Provokation von Literaturbetrieb und -wissenschaft dar und ist als solche hervorragend dazu geeignet, Fragen des literarischen Handelns und seiner medialen Infrastruktur einerseits sowie wandelnder Formen von Autorschaft und Selbstinszenierung innerhalb von literarischen Institutionen und Medien andererseits zu analysieren. Zeh7 schreibt dort Briefe und E-Mails an diverse Personen und Institutionen: an die Goethe-Universität, ihren Ehemann, ihren Verleger und befreundete Autoren, sie beschimpft darin beispielsweise Deutschlehrer und Journalisten, fügt den Bewertungsbogen für ein Hotel ein, in dem sie auf einer ihrer Lesereisen genächtigt hat, nicht zuletzt schreibt sie an die »Abfallberatung des Landkreises Mittelbrandmark« (S. 53), die sich weigert, ihr eine größere Papiertonne bereitzustellen, oder an das Finanzamt, mit dem sie sich um die Absetzbarkeit von Kosten streitet – etwa für ihren Hund, der (teilweise als Hauptfigur) in mehreren ihrer Bücher auftaucht. Briefroman und Poetikvorlesung sind dabei ganz grundlegend geprägt einerseits von französischer Theorie, andererseits von frühromantischer Romantheorie – also dem Grundsatz, dass ein Werk immer auch seine Kritik enthalten solle und das Produzierende mit dem Produkt darzustellen habe.8 Dies führt zu verschiedenen Paradoxien, die sich bereits zu Beginn des Brief- bzw. E-MailRomans zeigen, der aus einer Absage der verdoppelten, fiktiven Autorin Juli Zeh an die Frankfurter Goethe-Universität besteht: »Sehr geehrte Goethe-Universität in Frankfurt am Main«, beginnt Zeh ihren Roman (und Vortrag), »herzlichen Dank für die Einladung zur Frankfurter Poetikvorlesung. Ich fühle mich sehr geehrt. Trotzdem muss ich leider absagen. Im Jahr 2013 werde ich mit dem Verfassen mehrerer Romane, Theaterstücke, Essays, Drehbücher, E-Mails, Steuererklärungen, Tagebucheinträge und Einkaufszettel so beschäftigt sein, dass mir zum Ausarbeiten einer Poetikvorlesung leider die Zeit fehlt. Mit freundlichen Grüßen Juli Zeh« (S. 7). 6 Auch vor Erscheinen der Taschenbuchausgabe wird der Text als Briefroman gehandelt, so etwa bei Dirk Frank: Zeh halte »keinen akademischtheorielastigen Vortrag, sondern nähert sich dem Thema in Form eines semifiktionalen Briefromans« (Frank, Dirk: »Niemand hat eine Poetik, jedenfalls nicht, solange er Bücher schreibt.« In: UniReport 4 vom 5. Juli 2013, S. 16. (letzter Zugriff: 18. 04. 2019)). 7 Wenn im Folgenden auf Juli Zeh referiert wird, ist – soweit nicht anders ausgewiesen – die fiktive Juli Zeh des Briefromans und nicht die empirische Person Juli Zeh gemeint. 8 Auf die Bezüge zur Romantik weist auch Morten Freidel im Feuilleton der »FAZ« hin: »Ihre Frankfurter Poetikvorlesung kam damit der Literaturdefinition der Romantiker relativ nah: dass ein Werk nämlich immer auch seine Kritik enthalten solle.« Zugleich stellt Freidel heraus, dass Zeh dabei »[r]egelmäßig […] mit der romantischen Vorstellung eines genialischen Urtextes [brach]« (Freidel, Morten: Juli Zehs Poetikvorlesung: Vom Nur-So zum Roman. FAZ.net vom 08. 07. 2013. (letzter Zugriff: 03. 05. 2020)).
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Das Zitat verweist auf zwei im Folgenden relevante Aspekte: Erstens enthält es die Paradoxie, dass das Schreiben von Romanen als dasjenige, was (neben anderem) von der Poetikvorlesung abhält, selbst zur Poetikvorlesung wird. Man kann bei »Treideln« davon sprechen, dass der externe ›Grund‹ des Textes in diesen selbst hineinverlagert, mehr noch, zum Text selbst wird. Zweitens wird der Text werkimmanent, also auch jenseits von paratextuellen Gattungszuschreibungen, von Beginn an als fiktionaler, nämlich literarischer Text deklariert, weist er doch einen signifikanten Teil der Zeh’schen in »Treideln« entwickelten Definition von Literatur auf: die Übertreibung, die laut Zeh, neben Vielstimmigkeit und Mehrdeutigkeit, von denen noch zu sprechen zu sein wird, eine Qualität literarischer Texte ist. Wenn Zeh auch für ihre ›Schreibwut‹ bekannt ist, ist es sicher keine kleine Übertreibung, dass sie mehrere Romane, Theaterstücke, Essays und Drehbücher innerhalb eines Jahres schreiben wird. Der Ausweis als literarischer, fiktionaler Text hat dann weitreichende Konsequenzen, ist doch bekanntermaßen ein Kriterium fiktionaler Texte, dass zwischen Erzähler und Autor differenziert werden muss, die Aussagen des Erzählers, der fiktiven Juli Zeh, also nicht eins zu eins zurückrechenbar sind auf die Positionen der realen Autorin Juli Zeh – wenn der autofiktionale Text auch klar autobiografische Züge trägt, also gerade mit diesem Verhältnis spielt. Denn, nimmt man die paratextuellen und werkimmanenten Hinweise ernst, berührt der Text die Frage nach der Grenze zwischen Literatur und persönlichem Bericht und damit nach dem Verhältnis von fiktionalem und faktualem Erzählen. Im Modus vermeintlich autobiografischen Erzählens – das im Vortrag durch die eigene Stimme noch forciert wird – wird eine paradoxale Verbindung von Fiktionspraxis und referenzieller Praxis etabliert.9 Auf eben diese beiden Praxisebenen macht Zeh Zuhörer wie Leser aufmerksam, wenn sie an ihren Verleger schreibt, dass Autoren bei Poetikvorlesungen »fiktive [sic!] Briefe an real [sic!] existierende Verleger vor[läsen]« (S. 12). Besonders deutlich – und rekursiv das Verfahren des Textes enthaltend – wird dies, wenn Zeh einer befreundeten Lyrikerin im Konjunktiv vorstellt, wie sie bei einer Poetikvorlesung vorgehen würde, so sie denn eine hielte: Sie würde »die während meiner Lesereisen gesammelten Erkenntnisse zusammen[]fassen, und in Frankfurt als Poetik […] präsentieren. Ich würde mir einen netten Angebertitel einfallen lassen – ›ZEITARBEIT – Realität, Relativität und Roman‹ – und in aller Ausführlichkeit erklären, was der auktoriale Erzähler mit Quantenphysik zu tun hat und warum Schreiben nichts weiter ist als das Erzeugen eines Zeitkondensats. 9 Vgl. zur Differenz zwischen autobiografischem und fiktionalem Erzählen Zipfel, Frank: Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität? In: Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Hrsg. von Simone Winko/Fotis Jannidis/Gerhard Lauer. Berlin/Boston: de Gruyter 2009, S. 285–314, hier insbesondere S. 285–293; 298.
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Den Leuten würde nichts auffallen. Sie sind es gewöhnt, angelogen zu werden« (S. 19, Herv. d. Verf.). Spätestens ab dem Moment, wo Juli Zeh darauf hinweist, dass das Publikum daran gewöhnt ist, ›angelogen zu werden‹, wird deutlich, dass die präsentierte Poetik vollständig kontingent, also an jeder Stelle auch anders möglich wäre, und damit gerade die Authentizität der Aussagen in Abrede gestellt wird. Die dargelegte Poetik muss keineswegs derjenigen der empirischen Autorin Juli Zeh entsprechen, was möglicherweise auch die Diskrepanz zwischen den Aussagen in der Poetik und Zehs (anderen) literarischen Texten erklären könnte.10 In der Forschungsliteratur ist der Aspekt der Fiktionalität bislang nicht betrachtet worden, ist aber, so die These, zentral für die Interpretation des Textes, da gerade über die innerhalb der Autofiktion jederzeit mögliche Distanz zwischen Autor und Erzähler die Erwartung an Poetikvorlesungen, man bekäme unmittelbaren Einblick in die Schreibprozesse, unterlaufen werden kann. Denn Zehs Ausführungen gehen, so Dirk Frank, von der Überzeugung aus, »dass der Schreibvorgang selbst dem interessierten Publikum immer verschlossen bleiben muss.«11 Dabei verweist die Autorin Zeh in einem Gespräch in der »FAZ« selbst auf die Relevanz der Form, die die Analyse der eigenen Vorbehalte gegen die Frankfurter Veranstaltung allererst ermöglicht: »Wichtig war die Idee, es in EMail-Form zu machen. Es hat mich am meisten Zeit gekostet, eine Form zu finden, in der ich meinem Unbehagen mit Selbstironie Ausdruck geben und es analysieren konnte.«12 In Hinblick auf die Poetikvorlesung bedeutet dies, dass eine Distanz geschaffen wird und damit die Erwartung, dass der Autor sich unmittelbar zur eigenen Poetik äußert, enttäuscht werden muss. Dass dies ausgerechnet in der Gattung des Briefromans geschieht, ist eine weitere Irritation der Erwartungshaltung, ist dieser doch traditionell auf Authentizität ausgelegt, die auf die Nivellierung der Distanz zwischen dem sich im Briefroman aussprechenden Subjekt und dem Leser abzielt: »Das Beharren auf dem Authentischen entspringt dem Versuch,« schreibt Wilhelm Voßkamp in seiner gattungstheoretischen Auseinandersetzung mit dem Briefroman, »sich der Wirklichkeit so weit als 10 Auch Katharina Meiser stellt die Widersprüchlichkeit zwischen Zehs poetologischen Äußerungen in Relation zu ihren literarischen Texten heraus. Zeh werde »ihrer poetologischen Prämisse der Vieldeutigkeit (anstelle von eindeutiger Didaxe) in ihrer schriftstellerischen Praxis zuweilen selbst nicht gerecht« (Meiser, Katharina: Dimensionen des Politischen in Poetikvorlesungen. In: Das Politische in der Literatur der Gegenwart. Hrsg. von Stefan Neuhaus/Immanuel Nover. Berlin/Boston: de Gruyter 2019, S. 163–182, hier S. 173, Fußnote 41). 11 Frank, »Niemand hat eine Poetik«. 2013, S. 16. 12 Juli Zeh im Gespräch mit Florian Balke: »Was heute stimmt, kann morgen falsch sein«. In: FAZ.net vom 09. 07. 2013. (letzter Zugriff: 14. 04. 2020).
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möglich zu nähern und jede Distanz, die sich aufgrund der Vermittlung zwischen dem Faktischen und dem Leser durch Fiktion ergibt, aufzuheben.«13 Eben dies macht »Treideln« fruchtbar, um Authentizität und Unmittelbarkeit – den Einblick in Werkstatt, Produktionsweise und Gedankengänge der Autorin betreffend – zunächst zu simulieren, textinhärent dann aber immer wieder auszuhebeln. Dies ist ein gewichtiger, aber nicht der einzige Aspekt, durch den der unverstellte Zugriff auf die Poetik der Autorin zurückgewiesen wird. Ein weiterer manifestiert sich in derjenigen Art von Theorie, auf deren Grundlage die fiktive Autorin Juli Zeh gegen die Möglichkeit einer Autorenpoetik argumentiert, häufig auch polemisiert: Ihr literarischer Streifzug durch literaturwissenschaftliche Theorien basiert ganz zentral auf Barthes’ Essay vom »Tod des Autors«, berührt darüber hinaus Fragen der Intertextualität im Sinne Kristevas, des Palimpsests im Sinne Genettes, der Vielstimmigkeit im Sinne Bachtins, der Hermeneutik und Problematik der Deutungshoheit von Autoren im Sinne Schleiermachers, ebenso werden Literaturkritik, Positionskämpfe im literarischen Feld sensu Bourdieu, die Frage nach der Materialität der Schreibsituation und nicht zuletzt derjenigen nach Status und Ort von Literatur in der Gesellschaft angerissen – und diese Liste ist keineswegs erschöpfend. Zehs Literaturbegriff zeigt sich in »Treideln« zudem deutlich der Kunstautonomie verpflichtet. Aus den angeführten Theorien und Begriffen möchte ich insbesondere denjenigen Aspekten, die den Autor betreffen, ausführlichere Beachtung schenken, die im Zusammenhang mit Intertextualität, Vielstimmigkeit und der Frage der Deutungshoheit über das Werk diskutiert werden sollen, um im Anschluss auf die frühromantischen Prämissen folgende selbstreflexive Komposition des Textes zurückzukommen. Ein starker Autorschaftsbegriff wird von Zeh zurückgewiesen, weil das Ich keine stabile Einheit bildet, sondern kaum mehr als ein »hektisches Flimmern« (S. 108) ist. Einer solchen ephemeren Entität die Herrschaft über den Text zu13 Voßkamp, Wilhelm: Dialogische Vergegenwärtigung beim Schreiben und Lesen. Zur Poetik des Briefromans im 18. Jahrhundert. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 45, 1971, H. 1, S. 80–116, hier S. 91f. Zeh nutzt zudem für den Briefroman typische Authentifizierungsstrategien, wie sie etwa Uwe Wirth für Goethes »Werther« herausgearbeitet hat, wo »[a]lle Bezüge, die eine räumliche oder auch eine persönliche Fixierung der Ereignisse erlauben würden, […] anonymisiert, pseudonymisiert oder gelöscht [werden]« (Wirth, Uwe: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E.T.A. Hoffmann. München: Wilhelm Fink 2008, S. 242). Durch diesen »Akt des Löschens [wird] zugleich auch impliziert, daß solch eine Bezugnahme auf die ›wirkliche Lebenswelt‹ ohne die vom Herausgeber geschaffenen Leerstellen möglich wäre«. Die Unterdrückung von Informationen suggeriert Authentizität, es wird also vorgetäuscht, »es handle sich bei den Briefen Werthers um ›authentische‹ Schriftstücke« (ebd., S. 243). Gleichermaßen verfährt Zeh, wenn sie etwa von einer »Lesung in W.« (S. 95) oder aber an die »Direktion des Y-Hotels in X–Lingen« (S. 48) schreibt.
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zusprechen, wäre fatal – in diesem Sinne betont Zeh immer wieder die Akteursmacht, die der Text selbst aufweist, etwa in Formulierungen wie: »Das, was man Roman nennt, stößt einem zu« (S. 33). Oder wenn sie bekräftigt, dass der Text »sich seine Geschwindigkeit selbst« sucht (S. 37) und das Gelingen des Kunstwerkes von einem »Kunststück namens Sprache« (S. 47) abhängt und damit eben nicht an die Individualität des Autors geknüpft ist.14 Im gleichen Duktus wird die »genialische[] Inspiration« (S. 143) verabschiedet. Denn Zeh spricht beim Schreiben nicht mit einer einzelnen Stimme – vielmehr sind es hunderte an der literarischen Produktion beteiligte Stimmen, die »wild durcheinander [schreien]« (S. 83). Aufgenommen wird am Ende diejenige Stimme, welche »gerade am lautesten schreit« (S. 84). Damit spricht Zeh einen zentralen Aspekt von Literatur an, den die Begründerin der Intertextualitätstheorie Julia Kristeva auf der Folie von Michail Bachtins Begriff der Dialogizität auf die folgende Formel gebracht hat: »[J]eder Text baut sich als Mosaik von Zitaten [im Original: mosaïque de citations] auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes.«15 So wenig der autonom über seinen Text gebietende Autor existiert, so wenig gibt es den originellen Gedanken, nur das Eigene im Fremden und das Fremde im Eigenen. Eben dies ist sensu Zeh ein Kriterium des literarischen Kunstwerkes dafür, was gute Literatur ausmacht: »Das Kunstvolle des Textes« ist letztlich auch »seine Vielstimmigkeit und Vieldeutigkeit« (S. 133). Was Vielstimmigkeit bedeutet, führt der Text, der auch hier wieder von Rekursionen geprägt ist, selbst vor, wenn er eine Litanei bekannter literaturwissenschaftlicher Positionen, vornehmlich aus der (post-)strukturalistischen französischen Theorie, literarisch formuliert.
14 Mit dieser Positionierung stehen Zehs poetologische Aussagen in einer Traditionslinie mit denjenigen Mallarmés, wie man aus den Ausführungen von Roland Barthes deduzieren kann: »In Frankreich hat Mallarmé vermutlich als erster die Notwendigkeit, die Sprache selbst an die Stelle desjenigen zu setzen, der bisher als ihr Besitzer galt, in ihrer ganzen Tragweite gesehen und vorausgesehen; für ihn, wie auch für uns, spricht die Sprache, nicht der Autor; schreiben heißt, über eine vorgängige Unpersönlichkeit – die nie mit der kastrierenden Objektivität des realistischen Romanciers verwechselt werden darf – jenen Punkt erreichen, an dem nicht ›ich‹, sondern die Sprache allein agiert, ›performiert‹: Die ganze Poetik Mallarmés besteht darin, den Autor zugunsten des Schreibens auszublenden […]« (Barthes, Roland: Der Tod des Autors. In: Ders.: Das Rauschen der Sprache. (Kritische Essays IV). Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006, S. 57–63, hier S. 58). Vgl. zum literaturprogrammatischen Verschwinden des Autors bei Mallarmé Plumpe, Gerhard: Autor und Publikum. In: Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Hrsg. von Helmut Brackert/Jörn Stückrath. Reinbek: Rowohlt 1992, S. 377–391, hier S. 383. 15 Kristeva, Julia: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Bd. III: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft II. Hrsg. von Jens Ihwe. Frankfurt/Main: Athenäum 1972, S. 345–375, hier S. 348 [Anm. d. Verf.].
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Aus den genannten Gründen erscheint es müßig, die Autorintention – ein (so Zeh polemisch) »vom Deutschlehrer hervorgebrachtes parapsychologisches Phänomen« (S. 76f.) – zu suchen. Denn der Autor ist, solange er sich in eben dieser Funktion mit seinem Werk auseinandersetzt, letztlich der denkbar schlechteste Interpret seiner eigenen Texte, als der er jedoch als Fluchtpunkt der Analyse immer wieder hervorgekehrt wird – insbesondere bei Veranstaltungen wie der Poetikvorlesung. Zeh stellt vor diesem Hintergrund die Frage: »Wozu gäbe es denn die ganze Literaturwissenschaft, wenn die Autoren selber wüssten, was es mit ihren Texten auf sich hat?« (S. 18) Sie jedenfalls lehnt das »Selbstdeutungsgefasel« (S. 42) ab – aus gutem Grund, wie sich mit Blick auf die romantische Hermeneutik im Sinne Schleiermachers zeigt: Bereits dieser machte Anfang des 19. Jahrhunderts deutlich, dass aufseiten des Autors hinsichtlich des expliziten Wissens um die Struktur des Kompositionsprozesses des Werkes ein blinder Fleck besteht16 – eben deshalb gelte es, den »Autor besser zu verstehen als er selbst von sich Rechenschaft ablegen könne«.17 Dies bedeutet für den hermeneutischen Akt, implizites Wissen, das sich im Text niederschlägt und dem Autor selbst entgehen muss, beobachtbar zu machen. Somit ist die Bitte an Autoren, die eigene Poetik vorzustellen und die damit verbundene Erwartungshaltung, ihr Werk dadurch abschließend zu verstehen oder ihre Intention offenzulegen, im Grunde ein Rückschritt hinter die von der Romantik entwickelte hermeneutische Perspektive auf Autorschaft. Dem Autor, so Schleiermacher, kann während des Prozesses der Verschriftlichung vieles »unbewußt bleiben«, was der Interpret »zum Bewußtsein bringen muß«, außer wenn der Autor »selbst reflektierend sein eigener Leser wird.«18 Diesen Umstand beobachtet auch Zeh – sie macht deutlich, dass man als Autor schlicht nicht über seine Texte sprechen kann, sondern nur als Leser. In einer Poetikvorlesung würde sie demzufolge nur »vorgeben, etwas von meiner Arbeit zu erzählen. Einen Einblick in die Werkstatt zu gewähren. In Wahrheit hätte ich klammheimlich die Seiten gewechselt, würde gar nicht mehr als Autorin sprechen, sondern als Leser der eigenen Texte« (S. 20).19 Aus diesem Fingieren entsteht das Missverständnis, man 16 Vgl. Jung, Mathias: Hermeneutik zur Einführung. Hamburg: Junius 2001, S. 68; sowie Schleiermacher, F.D.E.: Hermeneutik und Kritik. In: Ders.: Hermeneutik und Kritik. Hrsg. und eingeleitet von Manfred Frank. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977, S. 69–306, hier S. 94. 17 Schleiermacher, Friedrich: Über den Begriff der Hermeneutik mit Bezug auf F.A. Wolfs Andeutungen und Astes Lehrbuch. In: Ders.: Hermeneutik und Kritik. Hrsg. und eingeleitet von Manfred Frank. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977, S. 309–346, hier S. 325. 18 Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik. 1977, S. 94. 19 Zeh beschreibt in diesem Zusammenhang das Phänomen »der Metamorphose vom Autor zu Exegeten der eigenen Texte«, das sie nach jeder Veröffentlichung erlebt. Nach anfänglichem Hadern und Stammeln bei der Beantwortung von Fragen zu ihren Texten merkt sie »dann von Interview zu Interview und von Lesung zu Lesung, wie ich besser werde. Nach und nach decke ich Bedeutungszusammenhänge auf, erkenne den politischen und gesellschaftsrelevanten
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gewänne als Zuhörer bzw. Leser Zugang zum internen Prozess des Schreibens – demgegenüber entstammen aber die »Erkenntnisse, die ein Autor in einem solchen Rahmen präsentiert, […] nicht der Schreibpraxis. Sie sind nachträglich gefasst worden, und das macht einen entscheidenden Unterschied. Poetik klingt, als wüsste der Autor, was er da tut – dabei weiß er bestenfalls, was er getan hat« (ebd.). Eben diese Beobachtung einer fundamentalen Differenz zwischen Schreiben und Literatur ist einer der zentralen Gründe, warum Zehs Frankfurter Poetikvorlesungen nicht anders als in einer ›Anti-Poetik‹ münden können. Das Schreiben ist hochgradig von Zufall geprägt, keineswegs ein absichtsvoller, zielgerichteter Prozess (vgl. S. 172). Diese Position zieht sich durch den Text insgesamt, das Ausmaß der Teilhabe des Zufalls wird jedoch besonders deutlich, wenn man sich den Titel des Romans näher ansieht bzw. dessen Entstehung rekonstruiert. Seine Entwicklung ist vollständig von Kontingenz geprägt: Sie basiert erstens auf dem Umstand, dass Zehs Mann ihr zum Geburtstag einen E-BookReader geschenkt hat, zweitens darauf, dass die Romane, die Zeh lesen wollte (u. a. von Leo Perutz und Heimito von Doderer), auf diesem nicht verfügbar sind, und drittens darauf, dass Zehs Mann ihr einige Romane auf den E-Book-Reader lädt, von denen sie Fitzgeralds »Der große Gatsby« und Hans-Ulrich Treichels »Grunewaldsee« liest, durch deren Überlagerung dann im Verbund mit Aspekten einer realen Person aus Zehs Freundeskreis die Vision einer Hauptfigur entsteht (vgl. S. 23f.). Die Hauptfigur soll zunächst Treichel heißen, weil der Begriff »im Schweizerdeutschen eine Kuhglocke« (S. 27) bezeichnet, mit der in Dörfern böse Geister verjagt werden. »Schreiben als Geistervertreibung« hätte Zeh sehr gut gefallen, weil der Name aber schon »an eine real existierende Person vergeben« ist, wird er über eine »Ausweichbewegung, eine kleine Verschiebung auf der abwärts führenden Treppe des Alphabets« (ebd.) zu ›Treidel‹ geändert – so sollen später »Hauptfigur und Machwerk heißen«, der Schreibprozess selbst wird als »treideln« (ebd.) bezeichnet. So reflektiert Zeh in der Erläuterung der Entstehung des auf zufälligen Ereignissen basierenden Titels des (Brief-)Romans, was dessen Thema sein wird auf intrikate Weise in einem zirkulär-selbstreferenziellen und zugleich performativen Widerspruch: Einerseits wird das Verfahren des Briefromans »Treideln« selbst behandelt, andererseits der Plan zum Projekt des Romans »Treidel« vorgestellt, der aber aufgrund dieser poetologischen Reflexion im Briefroman selbst Gehalt, verfolge Motivketten und lerne sogar, meine Metaphern mit Sinn zu füllen. Ein paar Monate später bin ich zur Fachfrau in Sachen Selbstinterpretation geworden« (S. 18). Dieser Selbstvergewisserungsprozess durch Gespräche und Interviews lässt es ihr dann selbst so erscheinen, als wäre der Text von Anfang an vollständig durchgeplant gewesen.
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nicht über den Status Nascendi hinauskommen kann. Denn indem der »ungeborene[] Treidel auf den Objektträger unserer theoretischen Objektträger gelegt« wurde, »wurde er vor der Zeit zu Literatur – und Makulatur« (S. 197) – was die Unmöglichkeit des Sprechens über das Schreiben (im Gegensatz zum Sprechen über Geschriebenes, also Literatur, ich komme darauf zurück) innerhalb von Autorenpoetiken im Vollzug evident macht. Das Verb treideln hat aber darüber hinaus selbst eine Bedeutung, die nicht unbedeutend für das dargestellte Verfahren im Briefroman ist: Treideln meint das durch Menschen oder Zugtiere – zumeist stromaufwärts – besorgte Ziehen von Schiffen, das für Mensch wie Tier überaus kräftezehrend und mühevoll war, in romantischen Darstellungen allerdings häufig idealisiert wurde, worauf auch die enge Beziehung zum Verb ›trödeln‹ verweist.20 Vor diesem Hintergrund referiert der Titel darauf, dass die Produktion literarischer Texte mühsame (allerdings eine weniger zielgerichtete als der Begriff impliziert) Arbeit ist, die zugleich – wie in der Stilisierung des Treidelns zum Idyll – gerade in der (Selbst-) Stilisierung von Autoren zum Genie eskamotiert wird. Zeh entzaubert diese genialische Schöpfung zum erlernbaren Handwerk, als das Kunst bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts noch gegolten hatte:21 Als Gastdozentin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig erläutert sie ihren Studenten anhand eines »Ratgeber[s] für Drehbuchautoren« die Prinzipien von Plotstrukturen, um möglichen Motivationsproblemen der angehenden Schriftsteller abzuhelfen. Die »Jung-Genies« betrachten dies allerdings als vollständig banal und unnötig – Kunstproduktion wird von ihnen als schöpferischer Akt bezeichnet und folgt demgemäß keinen Regeln: »Sie hassten mich, wie eine Gruppe von Nachwuchszauberern, die fest an die eigenen Fähigkeiten geglaubt hatte und nun mitansehen musste, wie jemand die Tricks hinter ihrer Magie enthüllt. Das Heiligtum war entweiht, das Unberührbare berührt worden. Ich hatte das Göttliche als Kunststück behandelt, und sie als Menschen, die noch etwas lernen konnten« (S. 171).
Diese Ausstreichung von Handwerk/Arbeit während der ›Kreation‹ literarischer Werke reflektiert der Briefroman überspitzt: 20 Vgl. Artikel zu »Treideln«. In: Pierer’s Universal-Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart oder Neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe. 4., umgearbeitete und stark vermehrte Aufl., Bd. 17: Stückgießerei – Türkische Regenkugel. Verlagsbuchhandlung von H. A. Altenburg: Pierer 1863, S. 784. 21 Man denke etwa an den Vorrang handwerklich erlernbarer Regeln, den praecepta, und der Relevanz umfassenden Wissens im Vergleich mit der weniger bedeutsamen Begabung für die Erstellung literarischer Werke im »Buch von der deutschen Poeterey« (1624) von Martin Opitz oder auch noch in Johann Christoph Gottscheds »Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen« (1730) – wenngleich Letzterer auch bereits die Bedeutung der Natur im Vergleich zu rhetorischen Regeln und der Nachahmung normgebender Autoren stärkt.
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»Die Idee vom Genie folgt einer simplen Gleichung: Literatur ist Alphabetisierung plus X. Und dieses geheimnisvolle X kommt aus dem Äther, es ist göttliche Gabe oder kreatives Mysterium. […] Obwohl Edisons Ausspruch ›Genie ist ein Prozent Eingebung und neunundneunzig Prozent Schweiß‹ in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen ist, glaubt der Deutsche weiterhin an den Dichterpriester, der nächstens an des Kosmos’ Busen liegt und ebendiesem seine Botschaften ablauscht« (S. 63).
Seitens des Publikums besteht darüber hinaus – so zumindest die Erwartungserwartung Zehs – die Erwartungshaltung, das »[z]wischen den Buchdeckeln Vorgefundene sei von mir aus nachvollziehbaren Gründen in genau dieser Weise erst gewollt und dann gemacht worden« (S. 19). Die Möglichkeit einer solchen absoluten Herrschaft über den Schreibprozess wird von Zeh – zugunsten der Beobachtung der Teilhabe des Zufalls – vehement zurückgewiesen: »Beim Schreiben habe ich wenig gewollt und noch weniger gemacht« (ebd.). Literatur besteht so – auch was die intertextuelle Aufladung von Texten betrifft – zum Großteil aus »Dinge[n], die der Autor nicht absichtlich hineingetan hat« (S. 172).22 Eine Poetikvorlesung aber stellt generell das Gegenteil zur Schau: Sie lässt Kontingentes in der Retrospektive als notwendig erscheinen. Eben dies widerspricht Zehs Grundannahme einer Kontingenz des Schreibprozesses – die Folge ist, dass man zwar über (publizierte) Literatur, nicht aber über das Schreiben sprechen kann: »Niemand hat eine Poetik, jedenfalls nicht, solange er Bücher schreibt« (S. 11). So basieren Autorenpoetiken Zeh zufolge nicht auf intrinsischer Motivation, es ist gerade nicht »ein tief empfundenes Bedürfnis […], der Leserschaft seine Poetik nahezubringen«, auch geht es nicht darum, dass sich der Schriftsteller »der historischen Bedeutung seines Tuns bewusst ist« oder dass »über Jahre hinweg ein faszinierendes Panorama von Selbstauskünften entsteht« (S. 12). »Poetik« ist vielmehr »das, was Autoren erfinden, wenn sie zu Poetikvorlesungen eingeladen werden« (S. 12f.). Damit sind diese klar als Effekt der literarischen Kommunikation gekennzeichnet, mit dem »Glaubwürdigkeitsgehalt einer Tele-Shopping-Präsentation« (S. 13) – was wiederum Rückschlüsse auf die im Briefroman postulierten Positionen zulässt. Als Grund für die Teilnahme an derlei Veranstaltungen wird ein monetärer genannt – man »lebt von Lesungen, Stipendien und Poetikvorlesungen!« (S. 14)23 Dahinter steht das »Hertha-Müller-Prinzip« – die »Veranstalter gehen davon aus, 22 Zeh führt dafür Beispiele an, die insbesondere im ersten Bezug auf den Text selbst nehmen: »Eine Figur darf nicht heißen wie ihr reales Vorbild. Ein Handlungsort wird etabliert, weil der Autor dort zufällig einmal war. Eine lächerliche Nebenfigur tritt auf, weil die Schriftstellerin mit irgendwem eine Rechnung offen hat. Am Ende des Schreibens steht Literatur, und in dieser drückt sich etwas anderes aus« (S. 172). 23 An anderer Stelle weist Zeh entgegen dieser Aussage darauf hin, dass man mit Poetikvorlesungen gerade kein Geld verdienen kann: »[I]ch hab’s mal durchgerechnet – selbst mit wohlwollender Schätzung des Aufwands liegt der Stundenlohn nicht über fünf Euro, wofür die Autoren auch Zeitungen austragen könnten« (S. 12).
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dass ich auch einmal dort gewesen sein will, wo Hertha Müller schon war«, und die »war wirklich schon fast überall« (S. 13). Über permanente (verpflichtende, vgl. S. 15) Selbstauskunft sichern sich Schriftsteller immer wieder aufs Neue ihre »Existenzberechtigung im Betrieb« (S. 14). Es ist das »Stattfinden im Feuilleton, das Vortanzen auf Buchmessen, [das] öffentliche[] Lügen im Rahmen von renommierten Poetikvorlesungen« (ebd.), das das Risiko der Exklusion aus der literarischen Kommunikation mindert; die Teilnahme an genannten Veranstaltungen sichert das notwendige Maß an Anschlusskommunikation. Weil seitens des Publikums das Verlangen besteht, »[h]inter dem Text […] ein[es] Mensch[en] aus Fleisch und Blut« ansichtig zu werden, besteht der Zwang, der »Textinszenierung eine Autoreninszenierung« (S. 15) hinzuzufügen. Durch die (vermeintliche, schließlich wird ›öffentlich gelogen‹) »Veröffentlichung des Privaten« (ebd.) steht dann vielmehr der Autor als Privatperson im Fokus als sein Werk – einige Schriftstellerkollegen hätten, so Zeh hyperbolisch, »das Schreiben von Romanen praktisch komplett gegen die Ausübung von Gastdozenturen eingetauscht« (ebd.). Diesen Aspekt untermauern nicht zuletzt Dirk Niefangers Ausführungen über den Autor und sein Label,24 die auf der Basis von Bourdieus Feldtheorie und Genettes Paratexttheorie die Zirkulation von literarischen Texten, vom paratextuellen Autornamen sowie vom empirischem Autor und dessen Position im literarischen Feld theoretisch fassen. »Die Wirkung eines Autor-Labels«, so Niefanger, »beruht nicht wenig auf seiner Zirkulation in Kulturmedien und unter sogenannten ›Multiplikatoren‹, nämlich unter Aktanten des jeweiligen kulturellen Feldes. Hinzu kommt das persönliche Auftreten in den Medien und die Kommunikation zwischen Kulturvermittlern. Die Qualität der Texte scheint hingegen für die Verbreitung des Autor-Labels nicht sonderlich relevant zu sein.«25
24 Niefanger historisiert den Begriff: Von einem Label zu sprechen sei erst ab Beginn des 20. Jahrhunderts sinnvoll, da erst ab diesem Zeitpunkt das ökonomische Denken die notwendige gesellschaftliche Relevanz entwickle. Vgl. Niefanger, Dirk: Der Autor und sein Label. Überlegungen zur »fonction classificatoire« Foucaults (mit Fallstudien zu Langbehn und Kracauer). In: Autorschaft. Positionen und Revisionen. Hrsg. von Heinrich Detering. Stuttgart/Weimar: Metzler 2002, S. 520–539, hier S. 523. 25 Ebd., S. 526. Nina Zahner zeigt am – paradigmatischen – Starkult um Andy Warhol, wie sich das Interesse des Publikums am Werk immer stärker auf den Künstler verlagert. Kunst wurde »zu einem Prädikat, das auf Basis der künstlerischen Inszenierung eines Individuums als Marke vergeben wurde« (Zahner, Nina: Die Kunst der Inszenierung. Die Transformation des Kunstfeldes der 1960er Jahre als Herausforderung für die Kunstfeldkonzeption Pierre Bourdieus. In: Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart. Hrsg. von Christian N. Wolf/Markus Joch/York-Gothart Mix. Tübingen: Niemeyer 2009, S. 289–308, hier S. 304).
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Vor diesem Hintergrund nähert sich der paratextuelle Autorname immer mehr einem Markennamen an mit »rechtliche[n] und ökonomische[n] Funktionen […]. Er dient der Vermarktung, der Lesergewinnung, der Positionierung im ökonomischen oder kulturellen Feld.«26 Angesichts eines Buchmarktes, auf dem die Buchproduktion rasant ansteigt und die Distinktion der Produkte immer mehr Schwierigkeiten bereitet, sind Marken zentral für das Erreichen eines hohen Marktanteils.27 Verweigert sich der Autor den Gesetzen der Massenmedien, verpasst er »die Chance, an der Mengenexpansion der zahlenden Aufmerksamkeit zu partizipieren. Das Risiko, auf das man sich einläßt, ist die Existenz am unbedeutenden Rand des Geschehens.«28 In dieser Ökonomie der Aufmerksamkeit29 lässt sich das notwendige Interesse für die Marke ›Autor‹ nur über »ununterbrochene[] Wiederholung«30 generieren – in Zehs Worten: Aufmerksamkeit muss man »sich immer wieder neu verdienen« (S. 14, Herv. d. Verf.). Eben deshalb folgt aus »Urheberrecht« eine »Urheberpflicht«, eine »Verpflichtung zur Selbstauskunft« (S. 15) – der Briefroman zeigt sich so als Reflexion über den Kampf um Aufmerksamkeit und dessen Strategien im literarischen Feld.31 26 Niefanger, Der Autor und sein Label. 2002, S. 526. 27 Vgl. Zahner, Die Kunst der Inszenierung. 2009, S. 304, Fußnote 56. 28 Franck, Georg: Mentaler Kapitalismus. Eine politische Ökonomie des Geistes. München/ Wien: Hanser 2005, S. 136. Demgegenüber kann Aufmerksamkeit auch gerade durch den Mangel an Informationen generiert werden, wie sich etwa am britischen Street-Art-Künstler Banksy erörtern ließe. Gerade die Leerstellen, die die Geheimhaltung seiner Identität produziert, wecken die Neugierde des Publikums. Vgl. zum Begriff der Neugier in Hinblick auf Aufmerksamkeit Franck, Georg: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München/ Wien: Hanser 1998, S. 11–13. 29 Vgl. Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit. 1998. 30 Baudrillard, Jean: Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen. Frankfurt/Main: Campus 1991, S. 237. 31 Während Zeh die Logik der Massenmedien beobachtet, verweigert sie sich dem bewussten Aufbau einer »›Marke Juli Zeh‹«. Auf die Frage eines Journalisten, ob »hinter ihrer politischen Einmischung eine mediale Strategie« stehe, antwortet sie polemisch: »Sie glauben also, dass mir irgendein Image- oder Corporate-Identity-Consultant dazu geraten habe, die ›Marke Juli Zeh‹ als politische zu ›etablieren‹? Als gehirngewaschener Sklave des kommerziellen Meinungsbetriebs kommen Sie gar nicht auf die Idee, dass jemand einfach sagen könnte, was er für richtig hält, ohne dabei in Vermarktungskategorien zu denken. Vermutlich gehen Sie auch davon aus, dass ein Autor an politischen Talkshows teilnimmt, weil er danach 10 000 Bücher verkauft. Schließlich sind Fernsehzuschauer ja williges Kaufvieh, das alles, was auf dem Bildschirm gezeigt wird, sofort im Internet bestellt, sogar eine Autorin, leichte Gebrauchsspuren, aber noch einigermaßen funktionsfähig« (S. 142). Zugleich legt sie in selbiger Antwort die Paradoxien der massenmedialen Erwartungen an Autoren dar: So würden Autoren, die häufig in den Medien auftauchen, als »›überpräsent‹« und nervig gekennzeichnet, weil »echte Schriftsteller in den Augen der Kritiker eben nicht in Talkshows, sondern still und einsam im ofenbeheizten Kämmerlein [sitzen], während sie, beseelt von genialischer Inspiration und Rotwein, Kanonisierbares in die Schreibmaschine hacken.« Dies hielte die Journalisten allerdings nicht davon ab, »einmal pro Woche anzurufen, weil irgendeine Zeitungsseite mög-
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Die in der Reflexion von Autorschaft gebotene Negation einer naiven, ungebrochenen Darstellung wird zum konstitutiven Prinzip der selbstreflexiven Komposition des Briefromans. Dieser löst die Schlegel’sche Forderung nach einer Selbstreflexivität von Literatur, genauer dass »sich das Produzierende mit dem Produkt« darzustellen habe und Dichtung »in jeder ihrer Darstellungen sich selbst mit darstellen«32 soll, in profanisierter Form durch fortlaufende rekursive Schleifen performativ ein. Zehs Umfeld versucht im Roman immer wieder, die Autorin zur Teilnahme an der Frankfurter Poetikvorlesung zu bewegen: Einer der Beweggründe, nicht teilzunehmen, ist – neben der grundsätzlich ablehnenden Haltung gegenüber der Konzeption einer solchen Veranstaltung – der Mangel an einem treffenden Einfall, der der antipoetischen Haltung Zehs gerecht würde. Die zündende Idee stammt letztlich nicht von Zeh selbst, sondern wird von ihrem Mann (dem ›Chef‹) geliefert, was einmal mehr die Zurückweisung eines Glaubens an originäre, individuelle Ideen zur Schau stellt: Originalität, die den Künstler als zweiten Schöpfer dazu legitimiert, qua natürlicher Begabung Eigenes bzw. Individuelles zu schaffen, verliert ihre Berechtigung, wird problematisch und als Konzept verabschiedet. So erfährt man nach ca. 40 Seiten, wenn Zeh an einen befreundeten Autor schreibt, dass sie »letztlich dem Chef gehorcht« und »unsere Mails« (S. 41) vorliest. Besser könnten die Bedingungen des Schreibens, so Zeh, nicht dargestellt werden, zugleich garantiere ein solches Vorgehen vollständige Transparenz. Hier hat man es also – zumindest in der Selbstbeschreibung – mit einer Form kollektiver Autorschaft zu tun. Die Entscheidung, nicht aus der Position eines autonomen Subjekts zu schreiben, ist Programm. Kommentiert wird die Problematik der Herrschaft über das Werk bereits an früherer Stelle, nämlich wenn Zeh schreibt, dass »kein Autor Herr über das Wie seines Schreibens [ist], fehlt ihm doch zumeist schon die Verfügungsgewalt über das Ob« (S. 20). Eben jener Frage des ›Ob‹, und damit des häufig thematisierten Problems des Anfangs, enthebt sie im Fall von »Treideln« der Vorschlag ihres Mannes bzw. des ›Chefs‹. Die E-Mails über eine Absage der Poetikvorlesung werden dann zur Poetikvorlesung selbst, allerdings in Form eines Briefromans, der – wie eingangs erläutert – den Sinn einer solchen Veranstaltung hintertreibt. Die fiktive Juli Zeh des Romans eröffnet dann aber dennoch – zumindest scheint es anfangs so – einen Einblick in ihr Schreiben, ihre Schreibstrategien sowie in die Entstehung und Ausarbeitung einer Idee. Sie lässt den Leser/Zuhörer teilhaben an der Entwicklung einer Romanfigur namens Karl bzw. Wolfgang Treidel – der Vorname steht noch nicht fest, was einmal mehr auf die Kontingenz lichst kostengünstig mit Statements zum Thema ›Wie finden Sie Per Steinbrück?‹ gefüllt werden soll. Dann sind sie tödlich beleidigt, wenn man darum bittet, in Ruhe gelassen zu werden« (S. 143). 32 Schlegel, Friedrich: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Erste Abteilung: Kritische Neuausgabe, Bd. 2. Hrsg. von Ernst Behler. München u. a.: Schöningh 1967, S. 204.
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dessen verweist, was letztlich als Produkt Resultat des Aushandlungsprozesses während des Schreibens ist –, der auf dem Charakter eines fiktiven Schriftstellerfreunds, als »[a]lter Schwede« (S. 9) adressiert, basieren soll. Die eigene Kritik des Vorhabens wird direkt mitgeliefert; sie bildet im Grunde eine Reflexion zweiter Ordnung des Textes – das geplante Unternehmen verfüge über »optimale Bedingungen für eine gelungene Kooperation zwischen facts und fiction« (S. 41), womit wiederum nicht nur das dem Roman inhärente Projekt, sondern auch der Briefroman »Treideln« selbst beschrieben wird. Laut Romanprojekt – im Grunde ein Palimpsest33 – ist nichts Geringeres geplant, als »[d]en großen Gatsby des frühen 21. Jahrhunderts« (S. 23) zu schreiben. Es werden Charakterzüge entwickelt und entworfen, eine Chronistin namens Alice eingeführt, über erste Sätze spekuliert, schließlich der Werdegang der Figur bis zu ihrem Tod skizziert. So wurde einmal mehr die Erwartungshaltung von Zuhörern und Lesern geweckt, nun einen Einblick in die Schreibwerkstatt und Schreibstrategien sowie die Genese eines Romans der empirischen Juli Zeh zu erhalten, nur um diese dann einmal mehr zu enttäuschen: Die Präsentation der Entwicklung der Idee als Reflexion des Schreibens endet nicht in einem gelingenden Kunstwerk mit der Hauptfigur Karl/Wolfgang Treidel, sondern im ›Sterben der Idee‹ (vgl. S. 197). Dies ist recht dramatisch, handelte es sich doch um eine »höchst seltene echte Idee« (S. 195). Das Reflektieren über den Roman hat die Lust, das Projekt zu realisieren, verschwinden lassen – das »Totgeplante« kann nicht mehr »zum Leben […] erweck[t]« (S. 196) werden. Zeh würde das Buch zwar »gern lesen. Aber ich habe keine Lust mehr, es zu schreiben« (ebd.). Das »Experiment […], das den Zuhörern in Frankfurt gewidmet war«, ist dennoch geglückt, war doch das Ziel, »nicht über Literatur, sondern über das Schreiben [zu] sprechen«. Das »öffentliche Treideln« (S. 196f.) hat das Projekt jedoch nicht ›überlebt‹, was Zeh auf die Formel bringt: »Das Sprechen übers Schreiben [macht] das Schreiben unmöglich«. »Treideln« ist somit »Anti-
33 In diesem Zusammenhang verwende ich den Begriff ›Palimpsest‹ nicht seiner paläografischen Herkunft nach, der lediglich auf die Zufälligkeit des durch einen gemeinsamen Datenträger hergestellten textuellen Zusammenhangs abhöbe, sondern folge in der Verwendung der Definition Gérard Genettes, der die Palimpsest-Metapher auf Texte überträgt, in welchen man »auf dem gleichen Pergament einen Text über einem anderen stehen sieht, den er nicht gänzlich überdeckt, sondern durchscheinen lässt«, was »im Bereich der Textbeziehungen« eine neue Lesart eröffnet, indem sich »eine neue Funktion […] über eine alte Struktur [legt] und […] sich mit ihr [verschränkt], und die Dissonanz zwischen diesen beiden gleichzeitig vorhandenen Elementen […] dem Ganzen seinen Reiz [verleiht]« (Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993, S. 532). Mit anderen Worten ist das Palimpsest ein »Schriftstück, dessen ursprünglicher Text durch einen anderen ersetzt wurde, ohne daß der ursprüngliche gänzlich verschwunden, vielmehr unter dem neuen noch lesbar ist: Ein bildhafter Beleg dafür, daß sich unter einem Text stets ein weiterer verbergen kann, der selten ganz getilgt ist« (ebd., Schmutztitel, unpaginiert).
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Poetik in ihrer reinsten Form« (S. 197) – was wiederum Kritik des Textes innerhalb des Textes ist. Dass aus dem gescheiterten Romanprojekt dann ein Briefroman namens »Treideln« resultiert, der eine – im Sinne Luhmanns – gelungene Reflexion über das Nichtgelingen darstellt, ist in diesem Sinne eine weitere Paradoxie, die der Text nicht auflöst und – als Literatur – eben auch nicht auflösen muss. Denn gerade die Wahl einer fiktionalen Gattung bietet die Möglichkeit, durch den Verweis auf und die Aufnahme von, mit einem Begriff Wolfgang Isers, »Problemüberhängen«34 die Mängel unserer Begriffe zu adressieren und mit möglichen Alternativen zu experimentieren – ist doch die Fokussierung der Defekte unserer Ordnungen gerade die Stärke von Literatur, die durch ihren Standpunkt als Beobachter zweiter Ordnung gewährleistet wird.
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II. Medienspezifische Inszenierung von Schreibprozessen und Autorschaft
Sebastian Böhmer
Falsche Bescheidenheit – Szenen literarischer Selbstinszenierung in Ingenieursautobiografien um 1900 im Kontext ihrer technikbasierten Heilsbotschaft
1.
Kontext: eine kurze Sozialgeschichte des Ingenieurs um 1900
Niklas Luhmann hat die europäische Moderne als einen historischen Prozess beschrieben, der am Ausgang des sogenannten Mittelalters beginnt und – sich stetig beschleunigend – spätestens seit dem 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung, unumkehrbar wird und alle gesellschaftlichen Bereiche erfasst. Das betrifft auch und insbesondere die Technik. Deren herausragende Vertreter sind die Ingenieure, die man mit einigem Recht als Gewinner des Modernisierungsprozesses bezeichnen darf. Dieser Berufsstand erlebt seit der Aufklärung eine Erfolgsgeschichte, die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr nur die Erweiterung und Ausdifferenzierung des eigenen Berufsbilds umfasst, sondern auch in die Gesellschaft hineinwirkt und diese wesentlich verändert. Konkret lässt sich die reale Aufwertung der Technik sowie ihrer Repräsentanten an verschiedenen Aspekten aufzeigen: seit den 1820er Jahren an der Ausbildungssicherheit garantierenden Institutionalisierung von Gewerbeschulen und (Poly-)Technischen Hochschulen, denen 1899 das Promotionsrecht vom technikaffinen Kaiser Wilhelm II. zuerkannt wurde (Dr. Ing.).1 Die Technikphilosophie – genannt seien als Vertreter hier nur Ernst Kapp, Eberhard Zschimmer und Friedrich Dessauer – etablierte sich um 1900 als eigene Disziplin,2 zeitgleich tauchte die Figur des Ingenieurs als Held im Ingenieursroman
1 Vgl. in diesem Zusammenhang auch den in Quantität und Qualität immensen Zuwachs an Fachliteratur, in der zum einen das sich erheblich ausdifferenzierende technische Wissen, zum anderen auch dessen Anwendung in Bezug auf z. B. die Standardisierung der Arbeitsmethoden, Sicherheitsaspekte und Materialkunde sowie die Entwicklung didaktischer Methoden dokumentiert und weiterentwickelt wurde. 2 Auch die Germanistik entdeckte das Thema Technik, exemplarisch: Zimmermann, Felix: Die Widerspiegelung der Technik in der deutschen Dichtung von Goethe bis zur Gegenwart (Dresden: Ulrich 1913), Kistenmacher, Hans-Werner: Maschine und Dichtung. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert (Greifswald: Hartmann 1914), Wolff, Walter: Technik und Dichtung. Ein Überblick über hundert Jahre deutschen Schrifttums
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und in der populären Science-Fiction-Literatur auf. Besonders publikumswirksam ließen sich technische Errungenschaften in Weltausstellungen vorzeigen (1879 und 1896 als Berliner Gewerbeausstellungen). Diese rasante Entwicklung erreichte ihren Höhepunkt nach dem Ersten Weltkrieg, als eine Technisierung der Gesellschaft im Alltag praktisch aller Menschen in ganz unterschiedlichen Bereichen als umfassend vollzogen gelten konnte: Elektrifizierung, Hygiene- und Mobilitätsinfrastrukturen sowie Unterhaltung, um nur einige Aspekte zu nennen. Doch insbesondere die Sozial- sowie die Technikgeschichtsforschung haben mittlerweile herausarbeiten können,3 dass sich eine Kluft auftat zwischen der Selbstwahrnehmung der Ingenieure als »Intellektuelle der Technik«4 und der aus ihrer Sicht nicht angemessenen Fremdwahrnehmung durch eine doch maßgeblich durch Technik bestimmte und von ihr profitierenden Gesellschaft. Dieser häufig beklagten Verteilungsungerechtigkeit symbolischen Kapitals in Form von Sozialprestige,5 also einem kaum messbaren Faktor, steht dabei z. B. die nachweisbare Unterrepräsentation in politischen Gremien zur Seite. Aus der defensiven Klage um Gleichbehandlung entwickelte sich daher rasch ein offensiv agierendes Selbstbewusstsein, welches Menschheitsgeschichte als Technologiegeschichte schrieb. Aus einem Mangel an Fremdlegitimation wurde eine Selbsterhebung, die explizit auch in Verdrängungsimpulse mit Herrschafts(Leipzig: Oldenburg 1923) und Frobenius, Volkmar: Die Behandlung von Technik und Industrie in der deutschen Dichtung von Goethe bis zur Gegenwart (Brinkum-Bremen: Hillje 1935). 3 Vgl. aus einer Vielzahl von Publikationen exemplarisch: Sander, Tobias: Die doppelte Defensive. Soziale Lage, Mentalitäten und Politik der Ingenieure in Deutschland 1890–1933. Wiesbaden: Springer VS 22012, Fraunholz, Uwe/Wölfel, Sylvia (Hrsg.): Ingenieure in der technokratischen Hochmoderne. Thomas Hänseroth zum 60. Geburtstag. Münster u. a.: Waxmann 2012, Heßler, Martina: Kulturgeschichte der Technik. Frankfurt/Main u. a.: Campus 2012 sowie die Arbeiten des Dresdner SFB 804: »Transzendenz und Gemeinsinn« (2009–2014). Eine konzise Zusammenfassung der Problematik bietet Kocka, Jürgen: Kultur und Technik. Aspirationen der Ingenieure im Kaiserreich. In: Kultur und Beruf in Europa. Hrsg. von Isabella Löhr/Matthias Middell/Hannes Siegrist. Stuttgart: Franz Steiner 2012, S. 29–34. 4 So 1909 Wilhelm Franz, Professor für Baukonstruktionen und Industriebauten an der TH Charlottenburg, in »Technische Kultur und der Ehrgeiz der Ingenieure«; zitiert nach Kocka, Kultur und Technik. 2012, S. 29. 5 Allgemein lässt sich festhalten, dass sich die Selbstbehauptungsbewegung ›der Ingenieure‹ eher auf hohem gesellschaftlichem Niveau bewegte und daher maßgeblich von ihren (selbst ernannten) Eliten angestrengt wurde, z. B. dem 1909 gegründeten Verband Deutscher DiplomIngenieure. Eine differenzierende Darstellung der sich wandelnden strategischen Schwerpunktsetzungen ihrer Verbandszeitschrift im Laufe der Zeit als Beispiel einer sich verändernden Selbstdarstellung gibt Dietz, Burkhard: »Technik und Kultur« zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. Über das soziokulturelle Profil der »Zeitschrift des Verbandes Deutscher Ingenieure« (1910–1941). In: Technische Intelligenz und »Kulturfaktor Technik«. Kulturvorstellungen von Technikern und Ingenieuren zwischen Kaiserreich und früher Bundesrepublik Deutschland. Hrsg. von Burkhard Dietz/Michael Fessner/Helmut Maier. Münster u. a.: Waxmann 1996, S. 105–130, hier S. 107.
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anspruch mündete; exemplarisch Anton von Rieppel in der »Zeitschrift des Vereins Deutscher Ingenieure« (1917): »Es muss in Deutschland dahin kommen, dass mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der heute Militär und Jurist maßgebend sind, der Ingenieur als Führer des Volkes gilt.«6 Weniger technokratisch, dafür mit prophetischer Emphase, schreibt Ludwig Brinkmann 1908, dass »ein neuer Stand [entsteht], ein neues Geschlecht, eine neue Entwicklungsstufe geistiger Veranlagung, welche berufen ist, dem Weltbilde ein anderes Antlitz zu verleihen, – es entsteht der Ingenieur«.7 Grundsätzlich, so der Dresdner Technikphilosoph Thomas Hänseroth, lässt sich festhalten, dass durch verschiedene, dabei hochspezialisiert gestaltete Medien die »Gewährleistung gesellschaftlicher Wohlfahrt und individuelle[n] Glücksstrebens durch technisch ermöglichtes Wachstum [als] eine der Meistererzählungen der Ersten Moderne«8 verbreitet werden konnte. Der komplexe narratologische Begriff Meistererzählung kann nach Frank Rexroth religiös verstanden werden als »Chiffre[n] für Glaubenswahrheiten aller Art, die unbefragt hingenommen werden«.9 Die in diesem Beitrag untersuchten Ingenieursautobiografien jener Jahre stellen solche Meistererzählungen, die Sinn und Wert der Ingenieurspersönlichkeiten und -tätigkeiten nicht nur darstellen, sondern auch etablieren und propagieren wollen, in idealer Weise dar. Sie bilden einen – bisher praktisch unerforschten10 – ideengeschichtlichen Teil einer technischen Kultur11 und beschreiben die eigenen Lebensgeschichten im Rahmen eines weltlichen Wohlfahrtsversprechens durch die Technik. Hinter dieser sozialpsychologischen Funktionalisierung der Schriften steht die Idee einer Stiftung 6 Zitiert nach Voskuhl, Adelheid: Ambivalenz im Versprechen. Fortschritt und Untergang in der Technikphilosophie der Weimarer Republik. In: Technology fiction. Technische Visionen und Utopien in der Hochmoderne. Hrsg. von Uwe Fraunholz/Anke Woschech. Bielefeld: transcript 2012, S. 25–39, hier S. 32. 7 Brinkmann, Ludwig: Der Ingenieur. Frankfurt/Main: Rütten & Loening 1908, S. 10. 8 Hänseroth, Thomas: Technischer Fortschritt als Heilsversprechen und seine selbstlosen Bürgen: Zur Konstituierung einer Pathosformel der technokratischen Hochmoderne. In: Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen. Hrsg. von Hans Vorländer. Berlin u. a.: de Gruyter 2013, S. 267–288, hier S. 270. Vgl. auch S. 4f. für weitere Beispiele für Meistererzählungs-Formate. 9 Rexroth, Frank: Meistererzählungen und die Praxis der Geschichtsschreibung. Eine Skizze zur Einführung. In: Meistererzählungen vom Mittelalter. Epochenimaginationen und Verlaufsmuster in der Praxis mediävistischer Disziplinen. Hrsg. von Frank Rexroth. München: Oldenbourg 2007, S. 1–22, hier S. 4. 10 Neben Peter Sloterdijks gattungssoziologisch angelegter Dissertation zu den »Autobiographien der Zwanziger Jahre« von 1978 gibt es noch keine theoriegesättigte Analyse des in Frage stehenden Korpus (zudem identifiziert auch Sloterdijk die Texte nicht als in sich kohärenten Untersuchungsgegenstand, was allerdings seinem methodischen Ansatz entspricht). Dieses Desiderat scheint nicht zuletzt auch auf die fast durchweg durchgehaltene Höhenkammhaltung in der aktuellen Autobiografieforschung zurückführbar. 11 Vgl. Heßler, Kulturgeschichte. 2012, S. 23.
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einer Gemeinschaft der Menschen als Menschheit durch Technik, bei Brinkmann sogar im biblischen Sinne ein neues Geschlecht: der Ingenieur als Heilsbringer.
2.
Problem: das Paradoxon vom Ingenieur als Heilsbringer zwischen Geltungsanspruch und Bescheidenheit
Es existiert eine kohärente Denkweise in der Zeit um 1900, dass Technik Menschen verbindet – lat. religare – und dadurch Gemeinschaft stiftet. Gemeinschaft wird hier im Rückgriff auf Ferdinand Tönnies als »höchstes Wertgefühl«12 verstanden. Diesem Superlativ entspricht eine Sakralisierung der Technik und des Technikers in den Diskursen. Die Technik ist also nicht allein ein Mittel der Kontingenzsteigerung und Entlastung menschlichen Tuns, sondern offeriert zudem ein Heilsversprechen von Einheit als Gemeinschaft sowie ein besseres Leben für alle. Die Realisationsarbeit übernehmen exklusiv die Ingenieure und sie tun dies voller Bescheidenheit, wie der Physiker und Technikphilosoph Friedrich Dessauer festhält. Für ihn sind sie »[u]nbekannte Helden, in Verborgenheit Dienende, in Dunkelheit Opfernde, Vergessene, die […] nach göttlichem Plane die Menschheit beweg(en)«.13 Diese Einschätzung wird von dem Regierungsbaumeister a. D. Paul Juliusburger selbstbewusst geteilt: »Also nicht, daß er Kulturwerte schafft, ist das Maßgebende – diesen Vorzug teilt er mit vielen andern – sondern daß er sich im geringsten seiner Berufsgenossen, sofern er nur schöpferisch tätig ist, als Bildner neuer Werte fühlt, das unterscheidet den Techniker von den Vertretern anderer Berufe. In dieser selbstlosen Hingabe ihrer Jünger an die Idee – wie viele ernten denn die Früchte ihrer schöpferischen Arbeit? – in dieser Fähigkeit der Selbstentäußerung liegt aber zuguterletzt der höchste Bildungswert der Technik, die dem einzelnen das Bewußtsein seines Zusammenhangs mit der Weltkultur und seiner Bedeutung innerhalb dieses Rahmens gibt, dadurch seine Kräfte anspornt und entfaltet, um sie in den Dienst eben dieser Kultur zu stellen.«14
Beide Zitate etablieren das Bild der Ingenieure als zu Unrecht verkannte Wohltäter der Gemeinschaft, nur um zugleich aus dieser Verkennung auch die Würde ihrer unermüdlichen Arbeit als unbedankte Unbekannte für eben diese Ge-
12 Zitiert nach: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter. 13 Bände. Darmstadt 1971–2007. Bd. 3: G–H. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgessellschaft 1974, S. 241. 13 Zitiert nach Hänseroth, Technischer Fortschritt. 2013, S. 283. 14 Juliusburger, Paul: Der Bildungswert der Technik. In: Technik für Alle. Technische Monatshefte. H. 3 (1916), S. 65–67, hier S. 67. Der offensichtliche Druckfehler »Tchniker« wurde korrigiert.
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meinschaft zu schöpfen. Die Ingenieure entwickelten verschiedene Strategien, dieses erzwungene Bescheidenheits-Paradoxon15 aufzulösen. Allgemein lässt sich festhalten, dass die Akteure sich ihren Vermittlungserfolg vor allem vom Konzept der Anpassung versprachen. Dieser Anpassungsstrategie entsprach auf der Ebene struktureller Imitatio die Adaption bereits bewährter Großformen. Sie »beharrten dabei pragmatisch auf dem internalistischen und populistischen Konzept der ›Meisterwerke‹ und ›grossen Männer‹, das dem vorherrschenden Kanon des Bildungsbürgertums entsprach, sich in die herrschende Gesellschaftsordnung integrierte und damit eine konfliktfreie Lösung versprach.«16 Nur zwei Beispiele: Zum einen die Gründung technikbezogener Museen wie das Bayerische Verkehrsmuseum in Nürnberg (1899), das Verkehrs- und Baumuseum in Berlin (1906), das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden (1912), das Bergbaumuseum in Bochum (1930) und – besonders prominent, allerdings mit komplizierter Gründungsgeschichte – das Deutsche Museum von Meisterwerken der Naturwissenschaft und Technik in München (1903; vollständig eröffnet erst 1925). Zum anderen wurden schon früh auch Forderungen nach – vor allem auch nationalkollektiv motivierten – Gedenkstätten17 für Ingenieure laut. So forderte Max Maria von Weber mit religiösem Pathos: »Wie die ›home‹ Petrarcas zu Arqua, Shakespeares zu Stratford, Goethes zu Weimar, das Atelier Thorwaldsens zu Kopenhagen, gehört das Arbeitszimmer zu Heathfield [James Watts – S. B.] zu jenen geweihten Stätten, deren Erhaltung eine der heiligsten Pflichten der Nation ist und die wir mit um so tieferer Rührung betreten, je menschlicher unter uns wandelnd der Genius uns in ihnen begrüßt.«18 15 Nachdem die Bescheidenheit zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen erheblichen Prestigeverlust erlitten hatte – »Nur die Lumpe sind bescheiden« (Goethe) –, gewinnt sie erst im darauffolgenden Jahrhundert wirkmächtige Unterstützung zurück und lässt ein Klima gesellschaftlicher Akzeptanz für sie plausibel erscheinen. So lässt sich analog zu Tönnies Gemeinschafts-Begriff z. B. in Nicolai Hartmanns »Ethik« von 1925 ein zeitgenössisch wirksames Konzept vom Bescheidenen als einem, »der sich an hochgegriffenen sittlichen Maßstäben mißt« (zitiert nach: Historisches Wörterbuch der Philosophie 1. 1971, S. 838), heranziehen. Damit beschreibt Hartmann Bescheidenheit als einen Habitus, der sich als moralisches Defizit erweist. Doch die mindestens mögliche Unerreichbarkeit eines hohen Werts – hier: das Wohlergehen der Menschheit – erzeugt ein positives Verhältnis zum sich bescheidenen Menschen. So erscheint jener Wert als erstrebenswert, genau wie die sich zu Priestern der Technik stilisierenden, strebsamen Ingenieure vorbildlich wirken. 16 Lackner, Helmut: Ingenieure als Museumsgründer: Oskar von Miller und Wilhelm Exner. In: Fraunholz/Wölfel, Ingenieure. 2012, S. 127–141, hier S. 129. 17 Vgl. dazu: Häuser der Erinnerung. Zur Geschichte der Personengedenkstätte in Deutschland. Hrsg. von Anne Bohnenkamp/Constanze Breuer u. a. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. Der Band enthält allerdings keine Studie zu Gedenkstätten für Ingenieure. 18 Weber, Max Maria von: Der Schöpfer der Dampfmaschine als Märchenerzähler. In: Ders.: Aus dem Reich der Technik. Aussprüche und Novellen. Ausgewählt von Dipl.-Ing. Carl Weihe. Bd. 2. Berlin: VDI-Verlag 1928, S. 201–210, hier S. 210.
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Technik wird damit auch als ein Konkurrenzmodell zu den gesellschaftlichen Selbstverständigungsangeboten der Kunst definiert. Die Historisierung sowie die didaktisch bzw. sentimental ausgerichteten Präsentationsformate folgen dabei geistig im Wesentlichen den einleitend erwähnten Meistererzählungen (S. 2f.). Der Ingenieur als Weltgestalter löst den Künstler als Weltdeuter ab. Dass diese sich um 1900 zuspitzende Entwicklung nicht erst seit Luhmann als jahrhundertelanger Prozess begriffen werden muss, war auch den Zeitgenossen bereits bewusst. So verdichtet sich für von Weber die Weltgeschichte symbolisch zum Kairos einer Nacht, wenn er verzückt und zugleich naturalistisch geerdet (allerdings falsch informiert) schreibt: »In derselben Nacht (18. Februar 1564), wo Michel Angelo starb, wurde Galileo Galilei geboren. / Die Natur selbst bekundete durch diesen Akt des Vergehens und Werdens zweier der größten Männer aller Zeiten, daß im Leben der Menschheit das souveräne Regiment der Intuition, der Kunst, zu Ende ging und das der Forschung, der induktiven Wissenschaften begann.«19
Auch in der Literatur entwickelte sich Neues. Nach Hård und Jamison lassen sich dabei »zwei grundlegende Erzählweisen« für technische Themen identifizieren: die Romanze und die Tragödie, wobei sich die Romanze auszeichne durch den »Glaube[n] an den technischen Fortschritt, der behauptet, dass neue technische Entwicklungen immer ›besser‹ seien und dass dieser technische Fortschritt mit gesellschaftlichem Fortschritt einhergehe.«20 Grundsätzlich lässt sich allerdings festhalten, dass in der sogenannten hohen und besonders in der avantgardistischen Literatur die Technik immer noch als das Andere der Kultur auftaucht,21 wobei allerdings Technik selten semantisch klar definiert verwendet wird. So wird der Begriff z. B. häufig mit Industrie oder Maschinisierung von Arbeit vermischt oder gleichgesetzt und dann nicht selten 19 Ebd., S. 291 [»Die Entlastung der Kulturarbeit durch den Dienst der physikalischen Kräfte«, S. 291–316]. Während Michelangelos Todesdatum korrekt wiedergegeben wird, wurde Galilei eigentlich drei Tage zuvor, am 15. Februar 1564, geboren. 20 Zitiert nach Heßler, Kulturgeschichte. 2012, S. 21. Heßler gibt einen guten Überblick zu dementsprechend ausdifferenzierten technikgeschichtlichen bzw. -philosophischen Konzepten, basierend auf: Mikael Hård/Andrew Jamison: Hubris and hybrids. A cultural history of technology and science. New York [u. a.]: Routledge 2005. 21 Zu diesem negativen Verhältnis vgl. dessen folgenreiche Verdichtung in Charles Percy Snows in den späten 1950er Jahren entwickelte These der Two Cultures (Technik/Naturwissenschaft vs. Literatur/Kunst); dazu die differenzierenden Darstellungen bei Bullivant, Keith: Literatur und Technik. Ein Überblick. In: Willkommen und Abschied der Maschinen. Literatur und Technik – Bestandsaufnahme eines Themas. Hrsg. von Erhard Schütz (unter Mitarbeit von Norbert Wehr). Essen: Klartext-Verlag 1988, S. 11–22. Dass es auch technikaffine Avantgarden um 1900 gab, die eine imaginaire technique anstrebten (z. B. den Futurismus), führt exemplarisch diese medientechnisch geprägte Arbeit vor: Wagner, Birgit: Technik und Literatur im Zeitalter der Avantgarden. Ein Beitrag zur Geschichte des Imaginären. München: Wilhelm Fink 1996.
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sozialkritisch gewandelt als Entmenschlichung durch den angeblich fantasiefreien »Rationalismus und mit ihm seine Quintessenz, die Maschine«22 angeprangert.23 Dagegen entwickelte sich aber eben auch ein umfangreiches Textkorpus von technikoptimistischen Romanzen. So gewinnt vor allem nach 1900 die literarische Figur des Ingenieurs als Protagonist der populären Science-Fiction- und Abenteuerliteratur wie auch im neuen Genre des Ingenieursromans an Gestalt: Hans Dominik und Bernhard Kellermann, beide selbst Ingenieure, seien als freilich ideologisch streitbare Erfolgsautoren genannt. Vor allem fällt jedoch die Kumulation kulturgeschichtlich grundierter Biografien ›bedeutender‹, ›großer‹ und insbesondere ›tatkräftiger‹ Männer auf.24 Auffällig ist hier im Besonderen, dass die Viten noch ganz im erbaulich-vorbildspendenden Geist des ausgehenden 19. Jahrhunderts in epochal-historische Zusammenhänge gestellt werden und dass der Heroisierung des einen Ingenieurs – der oft auch als Unternehmer, Erfinder, Forscher, Lehrer oder Stifter tätig war – mithin immer auch sein aus-
22 Ball, Hugo: Die Flucht aus der Zeit. Luzern: Stocker 1946, S. 27. In diesem Sinne fordert Ball dann auch ebenso vage utopistisch: »Was nottut, ist eine Liga all derer, die sich dem Mechanismus entziehen wollen; eine Lebensform, die der Verwendbarkeit widerstrebt. Orgiastische Hingabe an den Gegensatz alles dessen, was brauchbar und nutzbar ist« (ebd., S. 3). 23 Leider schreibt insbesondere die noch allzu oft auf Innovations- und Höhenkammgeschichte ausgerichtete literatur- und kulturwissenschaftliche Forschung dieses undifferenzierte Klischee einer technikfeindlichen Avantgarde als technikfeindliche Kultur um 1900 bis heute weitgehend fort. Vgl. zum Beispiel das »Handbuch Fin de Siècle« von 2008, das in seiner Einleitung weithin deutungsoffen und für eine wissenschaftliche Publikation unerwartet dramatisch von einer »allgemeinen Destabilisierung, in der das verunsicherte Ich sich vergeblich zu finden, in der es verzweifelt einen festen Standort zu gewinnen hoffte« (Handbuch Fin de Siècle. Hrsg. von Sabine Haupt/Stefan Bodo Würffel. Stuttgart: Alfred Kröner 2008, S. 5), schreibt. Als sei dies für das verunsicherte Ich noch nicht schlimm genug, konstatieren die AutorInnen auch noch sowohl künstler- als auch massenpsychologisch einfühlend eine offenbar katastrophale Unmöglichkeit, »das Kunstwerk« (!) als allumfassende gesellschaftliche Kraft zu installieren: »Es ist geradezu ein Kennzeichen der Epoche, dass es nirgends (!) mehr gelang, die mehr denn je (!) vorhandenen Sehnsüchte und Hoffnungen, die umfassend angelegten Kunstkonzeptionen und Gesellschaftsentwürfe mit der Realität (!) zu vermitteln« (ebd., S. 30f.). Kurioserweise findet man in eben diesem Band den lesenswerten und gut dokumentierten Beitrag »Technik und Kultur« von Mikael Hård (ebd., S. 680–693), in dem der Autor überzeugend die – vor allem historische – Forschung zur Akzeptanz und Unterstützung technologischer Entwicklungen und Geräte im Fin de Siècle nachzeichnet. 24 Exemplarisch dazu siehe: Otto, Franz: Männer eigner Kraft. Lebensbilder verdienstvoller, durch Thatkraft und Selbsthülfe emporgekommener Männer. Der Jugend und dem Volke in Verbindung mit Gleichgesinnten zur Aneiferung vorgeführt (Leipzig: Spamer 1875), Hennig, Richard: Buch berühmter Ingenieure. Große Männer der Technik. Ihr Lebensgang und ihr Lebenswerk. Für die reifere Jugend und für Erwachsene geschildert (Leipzig: Spamer 1911) und das von Conrad Matschoss herausgegebene Kanonisierungswerk Männer der Technik. Ein biographisches Handbuch (Berlin: VDI-Verlag 1925).
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gezeichneter Platz im großen Ganzen zugewiesen wird: Technischer Fortschritt wird hier zum Movens von Geschichte überhaupt.25 Aus diesem literarischen, sich der Technik und ihren Akteuren zuwendenden Feld in der Zeit der Hochmoderne (ca. 1880–1933) lässt sich das im Folgenden exemplarisch analysierte Quellenkorpus herauspräparieren: die Autobiografien deutscher Ingenieure,26 die im Geist der Meistererzählungen die Quadratur des Kreises anstreben: Vom Leben eines Ingenieurs und dessen Taten zum Wohle aller zu berichten und ihn somit aus der Anonymität herauszuführen, ohne jedoch den selbstidentifikatorisch wichtigen Gestus der Bescheidenheit aufzugeben.
3.
Lösung: die Schreibszene
Das Bescheidenheits-Paradoxon zeigt sich insbesondere in den Schreibszenen als den literarisierten Momenten autorschaftlicher Selbstreflexion, die vorrangig zu Beginn der Autobiografien als Motto oder Vorwort eingepflegt werden. Da die Ingenieure in ihnen ihre Schreibmotivation, die -umstände und -ziele sowie allgemein ihre ›Haltung‹ zum Text festhalten, können sie als Schlüsselstellen zur Lösung dieses Paradoxons verstanden werden. Es geht daher im Folgenden weniger um einen Beitrag zur Theorie einer spezifischen Form der Schreibszene im Anschluss an die mittlerweile klassisch zu nennende Arbeit Rüdiger Campes,27 25 Dieses personenorientierte Konzept wurde bereits von Zeitgenossen in Frage gestellt, z. B. durch den Exzentriker Franz Maria Feldhaus. Feldhaus kritisiert die Darstellung der Technik »als eine Kette von Heldentaten« (Feldhaus, Franz Maria: Ruhmesblätter der Technik. Von den Urerfindungen bis zur Gegenwart. Bd. 2. 2., verm. und verb. Aufl. Leipzig: Brandstetter 1926, S. 276) und nennt namentlich seine ›Feinde‹ Conrad Matschoss und den Verein Deutscher Ingenieure. Sein Modell orientiert sich dagegen an der Geschichte technischer Gegenstände bzw. Verfahren und versucht vor allem, dem Charakter der unter Ingenieuren üblichen Zusammenarbeit – sowohl in Arbeitsgruppen als auch in der historisch verschränkten Abfolge aller Entwicklungen und Erfindungen, die für ihn jeweils einen unverzichtbaren und damit nicht sinnvoll zu qualifizierenden Schritt bedeuten – gerecht zu werden. 26 Das Quellenkorpus, welches meinem Forschungsprojekt »Wer’s baut, wird selig. Von der Selbstdarstellung zur Legende in literarischen Selbstzeugnissen deutscher Ingenieure zwischen 1880 und 1933« zugrunde liegt, umfasst 27 Prosatitel von 26 Autoren, die als faktual erzählt gelten können (bzw. dies glauben machen wollen) und die das Leben des jeweiligen Autors in den Mittelpunkt der Darstellung rücken. Dabei können grob zwei zeitlich definierte Gruppen gebildet werden: Dreizehn Texte stammen aus den ersten 38 Jahren des Untersuchungszeitraumes (1880–1918), zwölf aus den zweiten fünfzehn Jahren (1919–1933), was auf die steigende Bedeutung des Ingenieursberufs in der deutschen Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg hindeutet (Stand bei Abfassung dieses Beitrags: Oktober 2020). 27 Vgl. Campe, Rüdiger: Die Schreibszene. In: Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, S. 759–772.
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sondern um eine heuristische, auf die Wirkungsabsichten zielende Skizze, die durch die Analyse textueller Strategien sowie abschließend die Ausdeutung sinnstiftender Absenz (nämlich des Schreibens selbst) in exemplarischen Werken erstellt werden soll. Schon die Abfassung einer Autobiografie durch einen Vertreter der angeblich so kulturfernen Schicht der Ingenieure ist um 1900 ein Coup im Kontext der gängigen Anpassungsstrategien, da man in diesem textuellen Format sonst nur den exponiertesten Vertretern der Kultur und des Staates mit ihren eigenen Mitteln der Selbstinszenierung begegnet.28 Denn was tut ein Ingenieur eigentlich? Zeichnen und Rechnen, nicht aber Schreiben: »Ingenieur ist jemand, der die Sprache des Zeichnens zum Konstruieren von Artefakten benutzt, wobei dieses Konstruieren zeichnerische Darstellung und Rechnung zusammenfaßt. […] Sodann ist der Ingenieur jemand, der mit der Verwandlung des Lebensraumes beschäftigt ist, wozu ihn seine topographisch-geodätischen Kenntnisse befähigen.«29
Seine Biographiewürdigkeit30 bezieht der Ingenieur aus seinen Taten. Sie wird nicht wie in den oft dissoziativ angelegten Avantgarden der zeitgenössischen Moderne erst durch das Schreiben selbst hergestellt. Dementsprechend orientieren sich die Autobiografien der Ingenieure nie an diesen Mustern der Gegenwart, in denen vor allem zeitliche Linearität und Kausalität außer Kraft gesetzt werden. Spöttisch könnte man daher festhalten, dass ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als die Avantgarden den Autor als stabiles historisches und narratives Konzept auf der Basis eines schöpferischen Individuums mit Ernst Mach für »unrettbar« erklärten, die im Alltag weitgehend arbeitsteilig organisierten Ingenieure den einen Großen, nämlich sich selbst, als den Helden in den Mittel28 Differenzierend lässt sich allerdings mit Hoffmann auf die Zunahme von Autobiografien gesellschaftlicher Randexistenzen um 1900 aufmerksam machen. So hätten »die Proletarier, die Frauen (!), die Neurotiker und Psychotiker (die Träumenden), die Kriminellen und bestimmte großstädtische Outsidergruppen« (Hoffmann, Volker: Tendenzen in der deutschen autobiographischen Literatur 1890–1923. In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Hrsg. von Günter Niggl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 21998, S. 482–519, hier S. 495) nun die Möglichkeit, ihre Biografien einem Mainstreampublikum zu präsentieren, dessen Interesse am gesellschaftlich Anderen sich weitete. Ingenieure gehören in gewissem Sinne auch zu dieser Aufzählung, denn auch sie treten ja (mehr oder weniger offen) als Erniedrigte und Beleidigte an, stellen sich allerdings anders als die genannten Gruppen auf eine höhere Stufe als ihr Publikum. 29 Pircher, Wolfgang: Die Sprache des Ingenieurs. In: Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte 1 (2005): Bilder der Natur – Sprachen der Technik, S. 83–108, hier S. 85 [die Kursivierungen so im Original]. Pircher gibt hier eine fokussierende Zusammenfassung von Karl Culmann: »Die graphische Statik« (1866). 30 Vgl. zu diesem Begriff: Schweiger, Hannes: Biographiewürdigkeit. In: Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Hrsg. von Christian Klein. Stuttgart, Weimar: Metzler 2009, S. 32–36.
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punkt stellten. Sie rekurrieren also auf bereits anachronistisch gewordene Erzählformen; insofern streben sie nur die Anbindung an bewährte, ihnen bekannte und als wertvoll sowie wertbewahrend erachtete Formen an.31 Carl Wege betont in diesem Zusammenhang, »daß es den Ingenieuren im Prozeß der Modernisierung [nicht] vollends die Sprache verschlagen hat, sondern vielmehr, daß sie ihre eigene Sprache nicht gefunden haben – resp. nicht finden wollten. Sofern sie nicht in der von Lem konstatierten Sprachlosigkeit verharren, schließen sie sich oftmals bereitwillig den von anderen Sphären vorgegebenen Normen und Werten an.«32
So rekurrieren die sich selbst beschreibenden Ingenieure im Allgemeinen auf die großen Prosaformen des 19. Jahrhunderts, in denen ein großer Plan und die Folgerichtigkeit der einzelnen Handlungen, also Sinnhaftigkeit und Sinnstiftung der eigenen Existenz, vorgeführt werden. Sogar das eher selten thematisierte Scheitern wird wie in Goethes »Wilhelm Meisters Lehrjahren« (1795/96) positiv, weil produktiv, den Scheiternden auf den rechten Weg bringend, bewertet. Allerdings fehlt, vor allem mit Blick auf den Bildungsroman, das finale Element der Eingliederung in die Gesellschaft, denn aus der Rückschau wird kein Suchen, Probieren und Finden, sondern nur ein Vollziehen dargestellt. Erzählt wird aus der optimistischen Perspektive eines geordneten und moralisch guten Ganzen: Es waren glückliche, erfüllte Leben. So blickt das schreibende Ich zurück auf die Erfolgsgeschichte seines Selbst wie auf die Gesellschaft, in die es durch seine Handlungen hineingewirkt hat. Das Schreiben einer Autobiografie ist daher zum einen die Krönung des Lebenserfolgs als Selbstlegitimation, zum anderen dessen äußerer Ausweis. Die im vorigen Abschnitt skizzierte Ausgangslage drehte sich um das von den Ingenieuren statuierte Missverhältnis ihres zu wenig gewürdigten Beitrags zur Wohlfahrt der Gesellschaft und ihrer gerade aus dieser Missachtung resultierenden Würde. Dieses Paradoxon spiegelt sich innerhalb der literarischen Gestaltungen der Autobiografien in einem zweiten Paradoxon wider, nämlich in zahlreichen auffällig ausgestellten Gesten der Bescheidenheit. Hier lässt sich im 31 Dies taten sie mitunter sogar mit ironischem Witz: »Ihr Leben sollten nur die schreiben, die große Männer sind oder es zu sein glauben. Die Kleineren haben genug zu tun, es zu leben.« Das nahm der gelernte Ingenieur Max Eyth, der einer der wenigen professionellen Schriftsteller wurde, allerdings wiederum insofern ernst, als er nur »eine Auswahl von Skizzen«, keine »Lebensbeschreibung« verfasste und in gewissem Sinn also doch ›modern‹ schrieb (Eyth, Max: Im Strom unserer Zeit. Aus Briefen eines Ingenieurs. Bd. 1: Lehrjahre. 4. Aufl. des Wanderbuchs eines Ingenieurs. Heidelberg: Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung o. J. [1905], S. VII). 32 Wege, Carl: Buchstabe und Maschine. Beschreibung einer Allianz. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000, S. 11f. Stanislaw Lem schrieb vom »Schweigen des Konstrukteurs«, der nicht daran interessiert sei, »›warum es die Welt gibt‹, sondern ›was er mit der Welt anfangen kann‹« (ebd., S. 11).
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Sinne der Toposforschung von affektierter Bescheidenheit sprechen, denn, so Ernst Robert Curtius lakonisch, wenn man Bescheidenheit eigens hervorhebt, so »wird sie affektiert«.33 Bescheidenheit lässt sich grammatikalisch regeln. Am Textbeginn wird daher nicht selten ein Diminutiv eingebaut. So schreibt der Kältetechniker Carl von Linde: »Jetzt versuchte ich aus den täglichen Aufregungen einen stillen Winkel zu finden, indem ich anfing, das vorliegende Büchlein zu schreiben.«34 Etwas selbstbewusster widmet Max Eyth seine Publikation »Hinter Pflug und Schraubstock« seiner Mutter: »Nun sieh, aus Deinen Sorgen allen / Ist dieses Büchlein nur geworden«.35 Wo das Buch als würdigster Repräsentant einer bürgerlichen Kultur auch qua Format und materieller Ausstattung seine geistige Werthaftigkeit bereits vor jeder Lektüre anzeigen soll, da werden Lesererwartungen hier eher gedämpft. Perfektion und Innovation, so die Botschaft der Verniedlichung, waren nicht die Ziele der literarischen Arbeit, was im Falle von Werner Siemens, einem Giganten der deutschen Ingenieurs- und Unternehmergeschichte, auch direkt ausgesprochen wird. Er bekennt offenherzig sowohl sein literarisches Dilettantentum als auch seine vermeintlichen Bildungsdefizite, was freilich wiederum ein typischer Fall von affektierter Bescheidenheit ist: »Hierher gehört die Aufzeichnung der eigenen Lebenserinnerungen, die ich meiner Familie und meinen Freunden versprochen habe. Ich gestehe, daß mir der Entschluß zur Ausführung dieser Arbeit recht schwer geworden ist, da ich mich weder historisch noch schriftstellerisch begabt fühle und stets mehr Interesse für Gegenwart und Zukunft als für die Vergangenheit hatte. […] Ich werde nicht viel Mühe auf die Form der Darstellung verwenden, sondern meine Erinnerungen niederschreiben, wie sie mir in den Sinn kommen […].«36
Auch das dazugehörige, die Bescheidenheit vermehrende Motiv des SichSträubens, nur um schließlich durch Andere überzeugt zu werden, zieht sich durch die Texte. Im Fall des Automobilpioniers Carl Benz wird dieser produktionsgeschichtliche Umweg in einem Vorwort ausführlich und mit würdevollstrengen Titelangaben offengelegt: »Als der Verlag im November 1923 an Herrn Dr. Carl Benz mit der Bitte herantrat, seine Lebenserinnerungen dem deutschen Volke nicht vorzuenthalten, ereilte diese Anregung anscheinend dasselbe Schicksal wie die schon früher ausgesprochenen Bitten von Verwandten und Freunden. Der damals kurz an der Schwelle der Achtzig Stehende 33 Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern, München: Francke 101984, S. 93. 34 Linde, Carl: Aus meinem Leben und von meiner Arbeit. Aufzeichnungen für meine Kinder und meine Mitarbeiter. Als Manuskript gedruckt. München: Oldenbourg o. J. [1916], S. 1. 35 Eyth, Max: Hinter Pflug und Schraubstock. Skizzen aus dem Taschenbuch eines Ingenieurs. Stuttgart u. a.: Deutsche Verlags-Anstalt 1899, o. S. 36 Siemens, Werner von: Lebenserinnerungen. Berlin: Springer 1892, S. 1f.
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antwortete nämlich, daß er, so gern er über das Leben anderer höre und läse, für das Niederschreiben einer eigenen Lebensbeschreibung gar keinen Sinn habe und er von sich selbst nicht gern erzähle. / Mit Hilfe seines Schwiegersohnes, des inzwischen verstorbenen Herrn Professor Dr. Volk in Überlingen, und der Söhne Eugen und Richard Benz ist es gelungen, den allzu bescheiden Abwehrenden doch noch zur Abfassung seiner ›Lebensfahrt‹ zu bestimmen.«37
So stammen die vorgelegten Autobiografien zwar aus der Feder der Ingenieure, ihre Existenz aber verdanken sie häufig denen, die sie erst zum Schreiben motiviert haben: Familienmitglieder, Freunde, der Verlag. Damit wird dem Leser kontrapunktisch zur Bescheidung des Autors die Bedeutung der Publikation von eben dieses Autors Hand mit Nachdruck dargeboten. Gerade so versichert auch Conrad Matschoss, der Herausgeber der Lebensgeschichte des Unternehmers und vielfältig tätigen Maschinenbauingenieurs Ernst Körting, dass diese »von dem Verfasser ohne die Absicht, sie zu veröffentlichen, für seine Familie niedergeschrieben [wurde]. Nur der Bitte des Herausgebers und dem Hinweis, daß gerade solche eigene Berichte über das Selbsterlebte und Selbstgeschaffene von besonderem Werte sein müßten für die Darstellung unserer technisch-industriellen Entwicklung, gelang es, die Erlaubnis zur Veröffentlichung zu erhalten. […] Es wäre im Interesse der technisch-geschichtlichen Forschung zu wünschen, wenn möglichst viele der hervorragenden (!) Ingenieure sich dazu entschließen wollten, in ähnlicher Weise durch solche im besten Sinne persönliche Beiträge die Geschichte der Technik zu fördern.«38
Da die Texte sich nicht durch literarisch-ästhetische Qualitäten, sondern durch ihren Inhalt auszeichnen (sollen), gerät jede Lektüre nur mehr zum Vollzug des Vorausgesetzten, da die Bedeutung des Lebens bereits vor der Lektüre als interessant und wertvoll akzeptiert gelten kann – sonst gäbe es das Buch ja nicht. Die Autobiografien sind dann Teile eines größeren geschichtlich-gesellschaftlichen Ganzen, aus dem heraus sie textuell abgelöst werden, in welches sie aber auch wieder bestätigend hineinwirken: als Meistererzählungen von der »Gewährleistung gesellschaftlicher Wohlfahrt und individuelle[n] Glücksstrebens durch technisch ermöglichtes Wachstum«.39 Ein wesentlicher Bestandteil dieser Meistererzählung ist die Betonung der generationalen Vorbildhaftigkeit, die den persönlichen Fall zu einem gesellschaftlichen, zum Teil national orientierten Exempel erweitert (dem deutschen Volke heißt es bei Benz, Körting schrieb vor dem Krieg noch allgemein von der Geschichte der Technik). Die Einbettung der eigenen Existenz in ein soziales Kontinuum wird durch die dramatischen, nicht zuletzt auch technisch erzeugten 37 Benz, Carl: Lebensfahrt eines deutschen Erfinders. Die Erfindung des Automobils. Erinnerungen eines Achtzigjährigen. Leipzig: Koehler & Amelang o. J. [1925], S. 5. 38 Körting, Ernst: Mein Lebenslauf als Ingenieur und Geschäftsmann. In: Beiträge zur Geschichte der Technik und Industrie 1 (1909), S. 200–211, hier S. 200. 39 Hänseroth, Technischer Fortschritt. 2013, S. 270.
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(Vernichtungs-)Erfahrungen des Ersten Weltkriegs allerdings unvermittelt drängender.40 Der Maschinenbauingenieur Carl Bach, der eine herausragende Rolle in der universitären Ingenieursausbildung spielte, schreibt 1926: »Den mannigfachen Aufforderungen zur Aufzeichnung meiner Lebensgeschichte habe ich niemals sympathisch gegenübergestanden. Erst die Entwicklung der Verhältnisse in Deutschland während des letzten Jahrzehnts (Krieg und dessen Nachwirkungen) im Zusammenhang mit dem Gedanken, daß die heutige junge Generation doch vielleicht einigen Nutzen daraus ziehen könnte, wenn sie an dem tatsächlichen Verlaufe eines Lebensganges sieht, in welchem Maße frühere Generationen festen Willen und unermüdliche Arbeit aufzubringen hatten, um den Anforderungen des Lebens gerecht zu werden, erst diese Erwägung hat mich dazu gebracht, einen kurzen Abriß meines Lebens und meiner Arbeit niederzuschreiben.«41
Generationalität wird hier in zwei Richtungen konzeptualisiert: in die positiv besetzte Vergangenheit42 sowie als gesellschaftlicher Auftrag der Gegenwärtigen in die grundsätzlich ebenfalls positive Zukunft. Was Bach hier noch vorsichtig als Möglichkeit formuliert, wird nur wenige Zeilen darunter zur strengen Pflicht, basierend auf einer rundheraus eingeforderten Dankbarkeit für den Status quo: »Die heutige Generation, die auf den Schultern der früheren Generationen steht und fortgesetzt bereit gewesen ist, an dem Genuß der Früchte dieser Anstrengungen früherer Generationen sich zu beteiligen, hat das mit Dank zu erkennen und hieraus die Pflicht zu entnehmen, mit allen Kräften an dem Emporkommen unseres Vaterlandes zu arbeiten. Nicht ein Klagegewimmer oder Klagegeschrei kann helfen, sondern nur unermüdliche Pflichterfüllung in allen Schichten unseres Volkes, und Leben gemäß dem Grundsatz des ›Streckens nach der Decke‹ […].«43
Die Betonung liegt wenig überraschend auf den bürgerlichen Tugenden Disziplin und Fleiß, zudem fordert Bach eine gewisse Härte ein, was sich im Anschluss an Helmut Lethens Studien zu Männerbildern in den 1920er Jahren durchaus als 40 Carl von Linde, sicher kein Scharfmacher, verknüpfte schon 1916 seine Autobiografie explizit mit der »Zukunft unseres Volkes« (Linde, Leben. 1916, S. 148). 41 Bach, Carl: Mein Lebensweg und meine Tätigkeit. Eine Skizze. Berlin: Springer 1926, S. III. Ähnlich, wenn auch weniger elaboriert, widmet Wilhelm Ostwald, Nobelpreisträger für Chemie 1909, seine »Selbstbiographie« Der Deutschen Jugend (Ostwald, Wilhelm: Lebenslinien. Eine Selbstbiographie. Teil 1: Riga – Dorpat – Riga. 1853–1887. Berlin: Klasing 1926, o. S.) und betont damit die generationale Anlage der Schrift sowie deren Vorbild- und Inspirationscharakter. 42 So gibt Ostwald kurze, dennoch detaillierte Lebensläufe beider Eltern bzw. Großeltern wieder (Ostwald, Lebenslinien. 1926, S. 5–11), ebenso wie Carl von Linde (Linde, Leben. 1916, S. 3–6). Carl Benz berichtet »stolz« (Benz, Lebensfahrt. 1925, S. 15) und ausführlich vom früh verstorbenen Vater, den er als Eisenbahnpionier wie einen titanischen Vorläufer seiner selbst präsentiert. Zugleich wird auch der »leidgestählten« (ebd., S. 17) Mutter die väterliche Vorbildfunktion übertragen, denn »auf ihrer Stirn lag ein Ausdruck von Kraft. Von Willenskraft und Tatkraft« (ebd., S. 16). 43 Bach, Lebensweg. 1926, S. III.
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zeitgenössische Wertenormalität verstehen lässt.44 Allerdings ist dieser Aspekt einer personalisierten Generationalität, die den Fokus auf das Aufstiegsprinzip des leistungsstarken und -willigen Einzelnen legt, selbst auch ein Erbe mittlerweile historisch gewordener Ingenieurspraxis. Im heroischen Zeitalter der Technik (ca. 1820–1850) – oder genauer im von den Zeitgenossen um 1900 heroisierten Zeitalter der Technik – herrschte noch eine im direkten persönlichen Kontakt in der Werkstatt, zudem nicht arbeitsteilig organisierte, sondern weitgehend auf ein Meister-Schüler-Verhältnis ausgerichtete Ausbildung vor.45 An solch sozial- und arbeitspsychologisches Erbe erinnert z. B. noch kurz vor Kriegsausbruch der Inhaber des Lehrstuhls für Werkzeugmaschinen an der Technischen Hochschule Charlottenburg Georg Schlesinger mit dem Gebot: »Du sollst nicht vergessen, daß ein Pausjunge Zeichner werden will; gib ihm, wenn er strebsam ist, die Möglichkeit, es zu werden.«46 Damit spiegelt er die jugendliche Pflicht zum Aufstieg durch Fleiß zurück auf die Pflicht der gegenwärtig Etablierten, diesen Fleiß für die Zukunft zu belohnen. So komplettiert der Gestus der Bescheidenheit die bürgerlichen Kardinaltugenden wie Fleiß und Disziplin und lässt sich mentalitätsgeschichtlich durchaus plausibel mit der von Machbarkeit und teamorientierter, dabei tätigkeitsspezialisierter Alltagsrealität der Ingenieursarbeit vereinbaren.47 Nach der Logik der Ingenieure handelt es sich also nur bedingt um ein Paradoxon. Man muss daher nicht so weit gehen, diese Bescheidenheitsformen im moralischen Sinne falsch zu nennen, sie also als verlogen abzutun; aber sie sind im Kontext des textuellen Anspruchs sicher gezielt rhetorisch installiert. Dies geschieht allerdings nicht nur aus habituellen Gründen, die auf die Persönlichkeit des Autobiografen und dessen ambitionierten Berufsstand verweisen, sondern auch aus literaturideologischen: Bei der Anpassung an ein literarisches Format verstehen die Autoringenieure es, zugleich auch dieses Format sowie die Bedingungen des Aufschreibevorgangs ihren Vorstellungen anzupassen.
44 Vgl. Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994. 45 Vgl. die Darstellung des Konzepts Meisterkonstruktion bei König, Wolfgang: Künstler und Strichezieher. Konstruktions- und Technikkulturen im deutschen, britischen, amerikanischen und französischen Maschinenbau zwischen 1850 und 1930. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999, S. 104–106. 46 Zitiert nach König, Künstler. 1999, S. 143. Das Zitat stammt aus der Zeitschrift »Werkstattstechnik«, in der Schlesinger fast 150 solcher Hinweise und Regeln in Gebotsform publizierte (vgl. ebd., S. 142–144). 47 So erdet z. B. der von amerikanischen Produktionsweisen faszinierte Fritz Neuhaus die Ingenieursarbeit mit der kapitalistisch-nüchternen Feststellung, dass »der letztendliche Zweck ›aller industrieller Anlagen nicht die Erzielung einer Höchstleistung in der Erzeugung oder eines Triumphes der Technik, sondern eine angemessene Verzinsung der zu ihrem Bau und Betrieb aufgewendeten Kapitalien ist‹ […]« (zitiert nach König, Künstler. 1999, S. 142).
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Denn es fällt auf, dass die Schreibszenen, in denen das Bescheidenheits-Paradoxon auftritt, Schriftszenen sind. In ihnen steht das Geschriebene bzw. das Zu-Schreibende, welches dem Leser realiter in Buchform präsentiert wird, im Fokus, nicht der Akt des Schreibens. Die (nach Roland Barthes) scription, die den körperlich-mechanischen Akt des Schreibens meint,48 bleibt ausgespart ausgerechnet in einer Zeit, in der sich der moderne Autor nach Friedrich Kittler als ein Schreiber zeigte, »der um den Satz Ich schreibe herumschreibt«.49 Aber ebenso wie diese avantgardistisch-zugespitzte Formel aus dem Geist der Sprachskepsis und Sprachkritik ist auch die Absenz der Schreibszene selbst eine bewusste Entscheidung und kann als Aussage verstanden werden: Die Aussparung jenes hypersubjektiven Realmoments des literarischen Schöpfers entzieht diesem in der Logik der Ingenieure die Legitimation, denn er verlässt in ihm die Gemeinschaft. Moderne wird so zur bloßen Gegenwart des um sich selbst kreisenden Dichters desavouiert, der in eine offene, d. h. unsichere Zukunft blickt.50 Die eigene, vermeintlich anachronistische Form der traditionellen Autobiografie dagegen bringt die Vox humana zum Tönen und mit ihr das Gegenkonzept eines technikbasierten Fortschritts zum Wohle aller. Insofern bewahren die Ingenieure in den Schreibszenen eine gerade im Verschwinden begriffene Qualität literarischer Produktion: Denn der wahre Schöpfer schreibt nicht über sein Schreiben, sondern er tut es, auch kraft seines Scharfsinns und seiner Klugheit – lat. ingenium. So wirkt der schreibende Ingenieur mit der souveränen Geste des Weltgestalters emphatisch in die Menschheit hinein, aus der er, seine Werke und seine Schrift hervorgegangen sind und in der sie nun wieder aufgehen.
48 Vgl. die seinerzeit unveröffentlichten »Variations sur l’écriture« von 1973. 49 Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800–1900. München: Wilhelm Fink 42003, S. 22. 50 Insofern vollziehen die Ingenieure den wesentlichen Wechsel in der von Niklas Luhmann beschriebenen Ablösung des »Zwangs der Tradition« zum »Zwang zur Selektion« um 1900 nicht mit. Denn die Offenheit einer im Plural verstandenen Zukunft, »die sich in Programmen formulieren ließ«, ist im Konzept des monodimensionalen Fortschritts nur auf einer untergeordneten Ebene existent: Dass die Zukunft technikbasiert sein wird, steht für die Ingenieure außer Frage, offen bleibt nur, wie genau sie realisiert wird (Hans Ulrich Gumbrecht: Modern, Modernität, Moderne. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. von Otto Brunner u. a. Bd. 4: Mi–Pre. Stuttgart: Klett-Cotta 1978, S. 93–131, hier S. 120).
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Ulla Stackmann
»The tape recorder is already as necessary as the typewriter« – Schreibprozesse im Kontext US-amerikanischer Audiolyrik
1.
Einleitung »The tape recorder is already as necessary as the typewriter. It may soon replace it. In the future it may not be necessary to learn to read and write. Perhaps all we will need to know is how to hold a microphone and push a few buttons.«1
Mit diesen Sätzen beschlossen die Konzeptkünstler Eduardo Costa und John Perreault ihre Einleitung zu der 1969 erschienenen Lyrikanthologie »Tape Poems«. Dadurch unterstrichen sie ihr Vertrauen in die Wirkmächtigkeit des Tonbandgeräts, das – so ihre Annahme – in Zukunft womöglich die Schrift als vorherrschendes Mittel des Informationsaustausches ersetzen werde. Die Veröffentlichung der »Tape Poems« verlieh der Ankündigung zusätzliches Gewicht, da die Gedichtsammlung nur auf Magnettonband und nie als gedrucktes Buch erschien. Sie umfasste 13 Aufnahmen von Lyriker*innen und Künstler*innen der New Yorker Kunst- und Literaturszene, darunter Vito Acconci, Bernadette Mayer, John Giorno und Dan Graham.2 Costa und Perreault fungierten als Herausgeber der Sammlung, deren Struktur und Form die ästhetischen Möglichkeiten des Tonbandgeräts, das gerade Einzug in die US-amerikanischen Haushalte hielt, ausloteten. Die Neuartigkeit des Tonbandes erklärt vielleicht den Enthusiasmus, den Costa und Perreault dem Gerät entgegenbrachten. In der Rückschau erscheint ihre oben genannte Aussage eher gewagt. Heute lässt sich 1 Costa, Eduardo/Perreault, John: Introduction to Tape Poems. (letzter Zugriff: 07. 07. 2020). 2 Die vollständige Trackliste lautet: [Seite 1] »Untitled« (Vito Hannibal Acconci), »Some Litanies« (Michael Benedikt), »Adding ›Minutes‹« (Scott Burton), »Some Toast & Principles or Something« (Ted Castle & Leandro Kats), »Four Works« (Eduardo Costa); [Seite 2] »Poems and Background« (Joseph Ceravolo), »›Foams‹ plus Fill« (Dan Graham), »Five Works for Tape Recorder: Two Minutes and Eighty Feet of Silence and/or Intermission and/or Do-It-YourselfTapes Poem and/or Tape Poem To Be Read From Tape And Recorded And Then Played Back« (John Perreault), »Three Minutes of My Life« (Anne Waldman), »Halloween« (Lewis Warsh), »Three Poems« (Hannah Weiner). Alle Aufnahmen (inklusive der Einleitung) sind verfügbar unter: (letzter Zugriff: 16. 09. 2020).
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festhalten, dass das Tonbandgerät die Schrift nicht einfach überflügelte. Was auf den zweiten Blick an der Aussage interessanter erscheint, ist die Tatsache, dass sie das Tonbandgerät mit der Schreibmaschine gleichsetzen: Sie benennen explizit diese technisierte Variante des Schreibens und nicht die manuelle Verschriftlichung. Die Beobachtung mag abgetan werden mit einem Verweis darauf, dass die Schreibmaschine in den 1960er Jahren bereits ein alltäglicher Gebrauchsgegenstand war und sie sie deshalb unwillkürlich anführen. Jedoch, so die These dieses Aufsatzes, manifestiert sich in dem Verweis auf Tonband und Schreibmaschine die intensive Auseinandersetzung der New Yorker Lyrikszene in den 1960er und 1970er Jahren mit dem Schreiben als technisiertem, gar automatisiertem Prozess. Zentrale Punkte für diese Auseinandersetzung waren das Nachdenken über die Vermitteltheit des geschriebenen Textes und das Verhältnis zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Die genannte Anthologie »Tape Poems« war ein praktisches Ergebnis der Überlegungen, da sie eben nur auf Magnettonband und nie als gedrucktes Buch erschien. Ihre Veröffentlichung steht exemplarisch für die kritische Reflexion einer Generation von Lyriker*innen über das Schreiben und gleichzeitig signalisiert sie den Enthusiasmus für die Audiotechnik in der US-amerikanischen Lyrikszene, der seinen Höhepunkt Ende der 1960er Jahre erreichte, bevor er in den frühen 1970er Jahren wieder abebbte.3 Mit meiner Analyse der »Tape Poems« möchte ich mich im Folgenden diesem Enthusiasmus kritisch nähern und seine Hintergründe beleuchten, um aufzuzeigen, wie die »Tape Poems« Schriftlichkeit, Mündlichkeit und Tonbandaufnahme als Vermittlungsformen verhandeln. Dazu ist es zunächst notwendig, diese in den Kontext der damaligen Lyrik- und Kunstszene einzuordnen, bevor ich mit der Thematisierung des Schreibens in den »Tape Poems« fortfahre. Abschließend erfolgt eine Auseinandersetzung mit den »Tape Poems« im Zusammenhang mit der Überwachungskultur der 1960/70er Jahre in den USA.
2.
Zwischen Konzeptkunst und Phonozentrismus: der Kontext der »Tape Poems«
Im Jahr 1963 kam der erste tragbare Kompaktkassettenrekorder auf den Markt4 und erfreute sich von Beginn an bei US-amerikanischen Künstler*innen und Lyriker*innen großer Beliebtheit:1965 finanzierte Bob Dylan Allen Ginsberg den 3 Vgl. Shaw, Lytle: Narrowcast. Poetry and Audio Research. Stanford, CA: Stanford University Press 2018, S. 27. 4 Hiebler, Heinz: Der Sound zwischen technischen Möglichkeiten und kulturellen Ansprüchen. Eine Medienkulturgeschichte des Tonträgers. In: Sound. Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien. Hrsg. von Harro Segeberg/Frank Schätzlein. Marburg: Schriftenreihe der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GFM) 2005, S. 206–228, hier S. 222.
Schreibprozesse im Kontext US-amerikanischer Audiolyrik
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Erwerb eines Exemplars. Ginsberg nutzte das Gerät, um einen Roadtrip zu dokumentieren, und die so entstandenen Aufnahmen lieferten später die Grundlage für seinen Lyrikband »The Fall of America« (1971).5 Andy Warhol nannte seinen Kassettenrekorder »wife« in Anspielung auf die Relevanz von »fidelity« im Kontext von Ehe und Tontechnik. Auch er nutzte das Gerät, um Aufnahmen anzufertigen, die später den Grundstein für ein literarisches Werk (seinen Roman »A: a novel«) legten.6 Beide Bücher belegen das Interesse am Tonband7 innerhalb der US-amerikanischen Kunst- und Lyrikszene in den 1960/70er Jahren. Weitere Beispiele dafür liefern die Arbeiten der Lyriker/Künstler*innen David Antin, Laurie Anderson, Jackson MacLow, Charles Olson und Bernadette Mayer, die alle auf verschiedene Weise das Tonband in ihre Gedichte und Performances einfließen ließen. Ihre Arbeiten verweisen auf einen allgemeinen Trend der Zeit, sich mit dem Tonband und seinen medialen Eigenschaften zu befassen, der allerdings endete, als der Gebrauch des Magnettonbandes endgültig alltäglich wurde. Lytle Shaw führt dazu aus: »The novelty of tape-based composition in poetry was relatively short-lived, spanning roughly from 1965, when Allen Ginsberg’s portable Uher could seem like a novel, life-changing tool, to the late 1970s, by which point the device became a mundane (and thus invisible) household appliance.«8 Aus dieser Perspektive sind die »Tape Poems« keine Ausnahme der Zeit, vielmehr verhandeln die Macher*innen aktuelle Diskurse, die sich mit neuen Vermittlungsformaten auseinandersetzen. Daher behandelt Costas und Perreaults Einleitung auch vordergründig die Neuartigkeit des Tonbandes und ihres Projekts, um die Einzigartigkeit der »Tape Poems« unter Beweis zu stellen. Sie erklären u. a., dass frühere Versuche von Lyriker*innen, ihre Gedichte aufzunehmen, eine andere mediale Prägung aufweisen: »Some poets have already issued phonograph recordings of readings from their written works. TAPE POEMS, however, do not exist as printed works. Also there are many differences between phonograph recordings and tape recordings. Among other things, a tape recording can be easily erased, edited, and re-recorded.«9
Neben der Unterscheidung zwischen der Anthologie und früheren phonographischen Aufnahmen verdeutlichen die Herausgeber in diesem Abschnitt auch 5 Shaw, Narrowcast. 2018, S. 35–40. 6 Stadler, Gustavus: »My Wife«: The Tape Recorder and Warhol’s Queer Ways of Listening. In: Criticism 56, 2014, H. 3, S. 425–456, hier S. 427. 7 Die »Tape Poems« erschienen, soweit nachvollziehbar, nicht im Kompaktformat, sondern im früheren Format für das Spulentonbandgerät. Die Kompaktkassette popularisierte die Audiotechnik für den Hausgebrauch jedoch auf entscheidende Weise und war daher eine wichtige Impulsgeberin für eine Vielzahl von Audioprojekten in den 1960er Jahren. 8 Shaw, Narrowcast. 2018, S. 27. 9 Costa/Perreault, Introduction to Tape Poems.
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das Potenzial des Tonbandes. Sie argumentieren, dass das Tonband den Hörer*innen eine größere Handlungsmacht im Vergleich zum gedruckten Buch oder zur Langspielplatte verleihe, weil die Hörerschaft die Aufnahmen einfach löschen und das Tonband neu bespielen könne. Diese Tatsache nehmen die Gedichte der Anthologie entsprechend inhaltlich auf. Costas »Property Poem« beispielsweise lädt die Hörer*innen dazu ein, ihren Namen und ihre Adresse an einer bestimmten Stelle der Aufnahme einzufügen. »This tape belongs to … Record your name here after erasing this instruction«, erklärt eine unbekannte Stimme den Hörer*innen in dem Gedicht.10 Somit destabilisiert das Tonband die Vorstellungen von geistigem Eigentum und Autorschaft, indem es die Hörer*innen dazu auffordert, Besitzer*innen der Anthologie zu werden. In diesem Zusammenhang erlaubt es den Hörer*innen, im Schreibprozess zu partizipieren, sich selbst einzuschreiben oder sogar die Gedichte zu löschen. Die Aufforderung, den Audiotext im Nachhinein zu verändern, hinterfragt die Hierarchie zwischen Autor*innen und Hörer*innen. Darauf verweist auch Perreaults Track »Five Works for Tape Recorder: Two Minutes and Eighty Feet of Silence and/or Intermission and/or Do-It-Yourself-Tape Poem and/or Tape Poem To Be Read From Tape And Recorded And Then Played Back«, dessen sperriger Titel auf geschickte Weise die Variabilität des Tonbandes miteinbezieht. Auch hier wird angedeutet, dass die Hörer*innen das Tape neu bespielen könnten. Sowohl »Property Poem« als auch Perreaults Track sind relativ einfach strukturiert und simpel in der künstlerischen Ausführung, während die Gedichte vordergründig mit der Idee des Löschens spielen. Die Herangehensweise, den Gedanken hinter einem Text oder Kunstwerk stark in den Vordergrund zu stellen und die materielle Umsetzung möglichst einfach zu halten, prägte die Ästhetik der Konzeptkunst und des konzeptuellen Schreibens in den 1960er Jahren. Beide Gedichte zeigen, wie diese Denkschule auch die »Tape Poems« beeinflusste, was nicht überrascht, da sowohl Costa als auch Perreault sich der Konzeptkunst zugehörig fühlten. In den 1960er Jahren war der Konzeptualismus Ausgangspunkt einer Vielzahl von Kollaborationen zwischen bildenden Künstler*innen und Lyriker*innen. Eine herausragende Rolle spielte dabei die Avantgardezeitschrift »0 to 9« (1967–1969), die, wie Sophie Seita gezeigt hat, eine wichtige Plattform für die Konzeptkunst und das Konzeptschreiben war.11 Die Herausgeber*innen von »0 to 9« waren Vito Acconci und Bernadette Mayer, die ebenso auf den »Tape Poems« vertreten sind. In der 6. und letzten Ausgabe des Magazins präsentierten sie eine Performance-Serie unter dem Titel »Street Works«, an der 10 Costa, Eduardo: Property Poem. MP3, 00:00–00:09. (letzter Zugriff: 13. 07. 2020). 11 Vgl. Seita, Sophie: Provisional Avant-Gardes. Little Magazine Communities from Dada to Digital. Stanford, CA: Stanford University Press 2019, S. 56–94.
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sich u. a. Acconci, Scott Burton, Costa, Giorno, Mayer und Perreault, allesamt vertreten auf den »Tape Poems«, beteiligten.12 In gewisser Weise stellt die Anthologie deshalb eine Fortsetzung von Projekten dar, die bereits an anderen Stellen (u. a. in »0 to 9«) ihren Anfang nahmen. Um die Machart und den Kontext der »Tape Poems« zu verstehen, ist eine Einordnung in die New Yorker Kunstszene dementsprechend unerlässlich. Das bedeutet keineswegs, dass die »Tape Poems« homogen sind und sich reibungslos einer ästhetischen Schule zuordnen lassen. Vielmehr schließt die Sammlung an Seitas Charakterisierung avantgardistischer Magazine an: Sie ist provisorisch, inhaltlich heterogen und unterliegt multipler Autorschaft.13 Dementsprechend sind die »Tape Poems« an Schnittstellen von Lyrik, Performance und Konzeptkunst angesiedelt und können keiner der Gattungen klar zugeordnet werden, was sie zu einem Schlüsselwerk der späteren Avantgarde der 1970er Jahre macht.14 Neben dem Kontext intermedialer Projekte sind die »Tape Poems« vor dem Hintergrund phonozentristischer Tendenzen innerhalb der US-amerikanischen Lyrik entstanden. Ab den 1950er Jahren wuchs zunehmend ein Interesse für mündliche Sprache und performte Lyrik. Insbesondere die Lyriker*innen der Beat-Generation machten die emotionale Performance und die mündliche Sprache zu einem Dreh- und Angelpunkt ihrer Poetik. So behauptete der BeatDichter Charles Olson in seinem Essay »Projective Verse«, dass der Atem den Rhythmus eines Gedichts vorgeben müsse. Ihm zufolge seien Ohr und Atem die zentralen Maßstäbe bei der Komposition eines Textes.15 Diese Mittel ermöglichten es, ein energiegeladenes und implizit auch »echteres« Gedicht im Vergleich zu anderen auf Reim und Metrum beruhenden Kompositionsformen zu verfassen. Für den Literaturwissenschaftler Michael Davidson illustriert Olsons Auffassung von Lyrik eine allgemeine Tendenz der Zeit, wenn er schreibt: »Olson’s concern for the virtues of hearing is part of a pervasive phonocentrism that dominates contemporary poetics. For poets of the 1950s and 1960s, a new oral impulse served as a corrective to the rhetorically controlled, print-based poetry of high modernism.«16 Folglich förderten die Beats ein Interesse an performter Lyrik und den lautlichen Qualitäten von Sprache, das in ihnen nahestehenden und nachfolgenden Lyrikkreisen aufgenommen und weitergedacht wurde. 12 Lippard, Lucy R.: Six Years. The Dematerialization of the Art Object from 1966 to 1977. Berkeley, CA, London: University of California Press 1997, S. 90. 13 Seita, Provisional Avant-Gardes. 2019, S. 11. 14 McEnaney, Tom: Real-to-Reel: Social Indexicality, Sonic Materiality, and Literary Media Theory in Eduardo Costa’s Tape Works. In: Representations 137, 2017, H. 1, S. 143–166, hier S. 150. 15 Olson, Charles: Projective Verse. (letzter Zugriff: 18. 05. 2020). 16 Davidson, Michael: Ghostlier Demarcations. Modern Poetry and the Material Word. Berkeley, CA: University of California 1997, S. 197.
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Das Nachdenken über Mündlichkeit und Performance prägten auch die »Tape Poems«, die rein akustisch vermittelt wurden. Exemplarisch dafür steht das Interesse an Oralität von Mitherausgeber Costa: Der Argentinier beschäftigte sich in seinen Arbeiten intensiv mit dem Verhältnis von Visualität und Akustik, schriftlicher und mündlicher Vermittlung. Seinen Ansatz hierzu subsumierte er unter dem Begriff Oral Literature, den die Kunsthistorikerin Nadja Rottner folgendermaßen zusammenfasst: »Oral literature uniquely pits literacy and reading against orality and hearing in a hierarchy of experience: a proclivity for the acoustic over the visual values the sonic for its qualities of immediacy, tactility, and affectivity garnered in full-bodied spatial immersion.«17
Wie aus dem Zitat hervorgeht, stellt die Oral Literature eine phonozentristische Herangehensweise an Schriftlichkeit und Mündlichkeit dar – ähnlich der von Olson. Die lautlichen Qualitäten der Stimme werden als unmittelbarer, körperlicher und affektiver im Vergleich zur schriftlichen Sprache verstanden. Eine solche Perspektive idealisiert das Akustische als lebendiges Erleben und wertet das Visuelle und somit auch das stille Lesen als ein weniger mitreißendes Erlebnis ab. Die phonozentristischen Tendenzen der Zeit förderten auch ein starkes Interesse für das Medium Tonband ab Mitte der 1960er Jahre und prägten die »Tape Poems«. Schließlich bot sich das Tonband an, um die performte Lyrik in ihrem akustischen Zusammenhang aufzuzeichnen, was aber im Widerspruch mit der angeblichen Unmittelbarkeit der mündlichen Sprache stand. Schließlich vermittelte das Tonband das Aufgezeichnete. Damit war es zwar einerseits ein Medium, das die performte Lyrik dokumentierte, aber andererseits die Widersprüchlichkeiten innerhalb der Selbstinszenierung der Lyriker*innen aufdeckte, wie Davidson ausführt: »Literary historians have explained the origins of this new oralism as a revival of romantic immanence and expressivism in reaction to New Critical ideals of impersonality and distanciation. While these aesthetic contexts are relevant, they do not take into account the fact that many of these developments were made possible by technological advances in typography, offset printing, and – most significant for our purposes – magnetic recording that would seem the very antithesis to any poetics of unmediated presence.«18
Technik und Unmittelbarkeit lassen sich demzufolge nur schwer vereinbaren. In welchem Verhältnis stehen also die »Tape Poems« zum Medium des Magnet17 Rottner, Nadja: Eduardo Costa, Oral Literature, and the Legacy of Noncochlear Sound. In: Art Journal 78, 2019, H. 2, S. 102–115, hier S. 104. 18 Davidson, Ghostlier Demarcations. 1997, S. 197.
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tonbandes? Die eingangs erwähnte Aussage, das Hören von Kassetten würde das Lesen ablösen, weist schließlich eher auf ein großes, vielleicht naives Vertrauen in die Wirkmächtigkeit des Tonbandes hin. Dennoch behaupten Costa und Perreault in derselben Einleitung auch, dass ihre neue akustische Literatur mit dem geschriebenen Text koexistieren werde.19 Hier scheint ein Widerspruch vorzuliegen, der die Frage nach sich zieht, welche Perspektive die »Tape Poems« auf Schriftlichkeit, Mündlichkeit und die eigene Vermitteltheit einnehmen. Der Frage nähern sich Costa und Perreault in ihrer Einleitung zunächst durch eine Abgrenzung von der verschriftlichten Lyrik. Es geht ihnen um den Innovationswert der Tonbandaufnahme, den sie wie folgt abstecken: »The use of this new medium will call attention to ordinary speech as one of the most important’ ways of producing aesthetic emotion through language. It will regain for ›literature‹ tones of voice, pitch, and the other characteristics of spoken language that are lost when it is translated into the printed word. These nuances are linguistically relevant, since they can indicate age, sex, class, geographical origin and emotional states of the speaker.«20
Zunächst erläutern sie, dass das Tonband besser in der Lage sei, alltägliche Sprache oder Rede wiederzugeben, um eine ästhetische Emotion zu produzieren. Perreault und Costa nehmen den Phonozentrismus anderer Gruppierungen auf, was sich daran erkennen lässt, dass aus ihrer Sicht die mündliche Sprache besser dafür geeignet sei, Emotionen hervorzurufen. Allerdings ist ihre Grundannahme, dass es sich um alltägliche Sprache handeln müsse und nicht um jede Form der mündlichen Äußerung. Es geht ihnen um einen sozialen Realismus und nicht mehr um eine reine Unmittelbarkeit. Gleichzeitig handelt es sich um ästhetische Emotionen und damit um einen künstlerisch konstruierten Effekt; nicht das Mitreißen der Zuhörerschaft ist gemeint, sondern ein bewusstes Annähern an ein Gefühl oder eine Emotion. Wesentlich seien dafür laut Costa und Perreault paralinguistische Aspekte wie Tonhöhe oder Stimmfarbe, die durch eine Verschriftlichung verloren gingen. Als Indikatoren für Geschlecht, Alter, Klasse, Herkunft und emotionale Zustände der Sprechenden seien diese stimmlichen Nuancen relevant. Damit ist der entscheidende Wert des Magnettonbandes für die beiden Herausgeber, dass es sie in die Lage versetzt, paralinguistische Aspekte als ästhetische Mittel einzusetzen. An dieser Stelle scheint sich die angebliche Unmittelbarkeit der mündlichen Sprache in eine Stilisierung des Tonbandes als »authentisches« Medium zu wandeln. Zwar geben Costa und Perreault einerseits zu, dass das Tonband ein Zeichensystem sei und dementsprechend auch nur ein weiterer Code – vergleichbar mit der gedruckten Schrift. Andererseits heben sie hervor, dass das 19 Costa/Perreault, Introduction to Tape Poems. 20 Ebd.
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Tonband die soziale Verortung der Sprecher*innen simulieren könne.21 Darüber hinaus stilisieren sie die Tonaufnahme als indexikalisches Zeichen, da es eine materielle Verbindung zwischen Zeichen und Bezeichnetem gebe. Schließlich zeichne das Tonband gesprochene Sprache auf und gebe dann gesprochene Sprache wieder. Eine Fotografie hingegen teile keine materiellen Eigenschaften mit dem Abgebildeten.22 Im Kern gehen Costa und Perreault daher davon aus, dass das Tonband sich dem Dargestellten stärker als andere Medien nähern könne und in der Lage sei, zuverlässigere Aussagen über unsere alltägliche Erfahrungswelt zu liefern. In der Sichtweise steckt ein Überbleibsel der Aufwertung von mündlicher Sprache, die nun anders angewendet wird: Das Tonband und nicht die gesprochene Sprache wird zum augenscheinlich authentischen und implizit lebendigeren Medium. Costa und Perreault waren nicht die Einzigen, die mit dem Tonband eine solche Objektivität verbanden, wie Tom McEnaney erklärt: »[…] artists, poets, anthropologists, and novelists turned to tape throughout the late 1960s, often with the explicit task of representing a more objective reality, or inventing what might be called an ›ethnographic realism‹.«23 Shaw betont außerdem, dass das Tonbandgerät in den Händen vieler Lyriker*innen Teil einer Audioforschung wurde, die die zeitliche und räumliche Ordnung einer modernen Mediengesellschaft untersuchte.24 Viele der »Tape Poems« nehmen diesen forschenden Gestus auf, andere deuten ihn um. Besonders, wenn die Lyriker*innen und Künstler*innen das Schreiben auf Papier im Vergleich zur Tonbandaufnahme thematisieren, spielt die vermeintliche Objektivität der Tonbandaufnahme eine Rolle. An der Reibung zwischen älteren Formen des Schreibens und neueren Vermittlungsformaten lässt sich ablesen, wie einerseits die Technisierung des Schreibens als ästhetischer Durchbruch wahrgenommen wird und andererseits ein Misstrauen gegenüber derselben Technisierung zum Ausdruck kommt. Daher möchte ich im Folgenden darstellen, wie Schreibprozesse im Kontext der »Tape Poems« dargestellt werden.
21 Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die beiden Autoren die Tonbandaufnahme von der gedruckten Schrift und nicht vom handschriftlichen Text abgrenzen. Letzterer Fall könnte ihre Logik infrage stellen, da (so könnte argumentiert werden) eine Handschrift womöglich Rückschlüsse auf die Schreibenden zuließe. Zum Zusammenhang zwischen Tonband und gedrucktem Text siehe auch den nächsten Abschnitt »Tonband, Lyrik, Typewriter«. 22 Costa/Perreault, Introduction to Tape Poems. 23 McEnaney, Real-to-Reel. 2017, S. 149. 24 Shaw, Narrowcast. 2018, S. 6f.
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Tonband, Lyrik, Typewriter: Schreibprozesse im Audiomedium
Dreh- und Angelpunkt der »Tape Poems« ist die Übertragung der zweidimensionalen, verschriftlichten Gedichtzeile in den dreidimensionalen Raum. Alle Gedichte der Sammlung nehmen diesen Aspekt auf und beschäftigen sich mit der räumlichen Verfasstheit des Audiogedichts. »Written literature can be thought of as consisting of some of the possible combinations of the letters of the alphabet arranged on a plane; but aural literature, such as Tape Poems, consists of sounds arranged in space«, betonen Costa und Perreault.25 Joseph Ceravolos »Poems and Background« setzt diese Maßgabe wohl am linearsten um, da er in seinem Audiogedicht einige seiner eigenen Texte vorliest.26 Durch den Prozess des Lesens verlassen die gedruckten Zeilen das Buch und werden in den dreidimensionalen Raum überführt. Tatsächlich erschwert das akustische Setting der Arbeit das Verstehen der Gedichte, da Gelächter und Gespräche aus dem Hintergrund immer wieder Ceravolos Stimme verschlucken. Das Gedicht »The Clouds«, das er als Erstes liest, spiegelt die Spannung zwischen Einzelstimme und Hintergrund wider. In dem Audiotext sehnt sich das lyrische Ich nach der Aufmerksamkeit einer anderen Person, während seine Umgebung nur wenig Notiz von dieser Sehnsucht nimmt. »Where I am without you? / Generations of clouds might see me / But where am I without you?«, lauten die ersten Zeilen, die Ceravolo liest. Das Gelächter und die Gespräche im Hintergrund branden immer wieder auf und spülen über seine Stimme hinweg, ähnlich wie der Strom der Zeit, symbolisiert durch die Wolken, über das lyrische Ich hinwegzieht. Das akustische Setting der Aufnahme ironisiert zugleich das romantische Motiv der Wolken, das Ceravolo aufgreift. Seine Worte verlieren durch die Banalität der Situation ihre Heroik. Zudem nutzt Ceravolo die Tatsache, dass das Aufnahmegerät nicht wie unser eigenes Ohr die akustische Umgebung filtert. Vielmehr fungiert es als gleichgültiger Seismograf, der die gesamte Tonlandschaft ungefiltert dokumentiert. Die Stimmen im Hintergrund mischen sich so mit Ceravolos Lesung, werden lauter und leiser, während sich der Rhythmus des Gedichts mit dem Hintergrundrauschen verbindet. Es wirkt so, als solle sich der Rhythmus der gelesenen Texte über das Hintergrundrauschen legen, um es zu strukturieren. Der Inhalt der Gespräche und der Gedichte geht dabei im akustischen Setting auf, sodass der Fokus der Aufnahme auf der Interaktion der einzelnen Stimmen liegt. In der Folge lenkt die Arbeit die Aufmerksamkeit auf das alltägliche Hintergrundrauschen aus Gesprächsfetzen und materiellen Klängen auf den Straßen, in öf25 Costa/Perreault, Introduction to Tape Poems. 26 Zwar behaupten Costa und Perreault, dass alle Gedichte der Anthologie nur auf Tonband vorlägen, dennoch wurden die Gedichte, die Ceravolo liest, zumindest teilweise gedruckt. Ob es sich hier jedoch um eine nachträgliche Verschriftlichung handelt, ist unklar.
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fentlichen Einrichtungen und Privaträumen, das wir meist ausblenden. Vorderund Hintergründiges werden in Ceravolos »Tape Poem« uneindeutig. Während die gedruckte Seite meist eindeutig zwischen schwarzer Schrift und weißem Grund unterscheidet, mischt sich das Hintergrundrauschen (vgl. auch engl. »white noise«) mit dem Gesprochenen in den Tape Poems und wird in manchen Arbeiten zum Protagonisten. Erst der akustische Raum lässt solche Überlagerungen zu und erlaubt das Spiel mit Nähe und Distanz auf direkterem Weg. Die Gestaltung der Aufnahmen auf den »Tape Poems« läuft damit konträr zu der Fetischisierung der singulären Stimme, die auf den LPs kommerzieller LyrikLabels der Nachkriegszeit zu hören ist. Sie nutzten im Aufnahmestudio oft Tonbearbeitung, um Aufnahmen von Autor*innen von störenden Hintergrundgeräuschen und körperlichen Geräuschen (wie dem Atmen der lesenden Person) zu »befreien«.27 Daher stellen die »Tape Poems« ein herausforderndes Hörerlebnis dar, da sie dem zuwiderlaufen, was durch moderne Aufnahmetechniken als »guter« Sound normalisiert wurde. Neben der Beschäftigung mit dem akustischen Raum nehmen die »Tape Poems« das bereits erwähnte Motiv des Experimentierens auf, indem sie den lyrischen Schreibprozess als Ethnografie oder linguistische Studie charakterisieren. Besonders Costas Gedichte nehmen diesen Faden auf und setzen das Konzept konsequent um: In »Four Works« beschäftigt er sich beispielsweise mit der sozialen Verortung von Sprechenden und führt den dahinter stehenden Prozess den Hörer*innen in einer dreiteiligen Arbeit vor. Der erste Teil der Arbeit heißt »Instructions«, darauf folgen »First Tale«/»Second Tale« und schließlich »Explanation«. In »Instructions« instruiert Costa zunächst die Hörer*innen, dass nun eine zweispurige Tonaufnahme folge. Sie sollen zunächst die linke Spur anhören, bis das Gedicht mit dem Titel »First Tale« ende. Costa weist die Hörer*innen an, anschließend zurückzuspulen und die rechte Tonspur anzuhören, die das Gedicht »Second Tale« bereithalte. Er nutzt hier aus, dass Stereoaufnahmen über zwei Tonspuren verfügen, die in erster Linie gleichzeitig abgespielt werden und so einen Stereosound erzeugen. Jedoch können auch beide Tonspuren getrennt voneinander gehört werden. Im Falle von Costas »Four Works« ist die Stereoaufnahme an sich unverständlich, erst wenn die Hörer*innen die Spuren getrennt anhören, können sie die jeweilige Geschichte verstehen. »First Tale« und »Second Tale« sind so manipuliert, dass die Erzählstimmen ihre Tonhöhe und -farbe im Verlauf der Geschichte ändern. Eine tiefere Stimme wird zu einer höheren Stimme, was von Costa mit einem Geschlechtswechsel gleichgesetzt wird. In der zweiten Variante hören wir eine kindliche Stimme, die
27 Parry, Sarah: The LP Era: Voice-Practice/Voice Document. In: English Studies in Canada 33, 2007, H. 4, S. 169–180, hier S. 171f.
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im Verlauf der Erzählung mehr und mehr einer erwachsenen Stimme gleichen soll. Abschließend erklärt Costa das Ziel des Experiments: »Explanation: In the last two pieces, the changes on the voice are narrating a certain reality; first a change of sex and then a change of age are told to us, irregardless [sic!] of what the speakers say. The information contained in certain parameters of the human voice tells us usually about these realities. And that information is immediately and not very consciously understood or decoded in our everyday life.«28
Durch die Manipulation der Tonspuren möchte Costa also zeigen, wie wir unbewusst stimmliche Qualitäten z. B. einem Geschlecht oder einer Herkunft zuordnen. Gleichzeitig entlarvt er solche Zuschreibungen als kulturell kodiert, da er sie durch eine Manipulation des Tonbandes hervorruft und so den Zuschreibungsprozess offenlegt. In dieser Konstellation wird das Tonband zum Instrument in einem psychosozialen Experiment, das die sonst unbewusst ablaufende soziale Verortung der Sprechenden hörbar macht. Die Hörer*innen selbst ermöglichen erst das Gelingen des Experiments, indem sie mittels der unterschiedlichen Tonspuren die Stereoaufnahme entschlüsseln. Der lyrische Schreibprozess qua Tonband wird in diesem Kontext zur Analyse sozialer Gegebenheiten. Bestimmend ist dabei die Annahme, dass das Tonband in der Lage sei, die alltägliche Rede in ihrer akustischen Einbettung darzustellen. Dabei nehmen die Lyriker*innen die Position von Ethnograf*innen oder Linguist*innen ein, die beobachten, analysieren und so zu einer Erkenntnis über unsere soziale Umwelt gelangen. Costas Arbeit erfüllt die Kriterien, die gemeinhin mit dem Konzeptualismus der 1960er Jahre verbunden werden: Ausführung und Materialität der Arbeit sind zweitrangig, relativ simpel, unprätentiös und preiswert, während die Idee hinter dem Gedicht/Kunstwerk Priorität hat.29 Die Schwierigkeit, zwischen Kunstwerk und Gedicht zu unterscheiden, ist durchaus ein beabsichtigter Effekt, da der Konzeptualismus die übliche Medienspezifik verschiedener Gattungen infrage stellt30 und diese Spezifik durch eine mehr oder weniger vollständige »Entmaterialisierung«31 des Kunstwerkes aufhebt. Die Konsequenz einer solchen Entmaterialisierung ist letztlich eine Annäherung zwischen bildender Kunst und Literatur, da sie die Sprache zu einem zentralen Arbeitsmittel bildender Künstler*innen erhebt. Labels, Gattungspezifik, Textformen und Konventionen verlieren in dieser Konfiguration an Bedeutung – so erklären sich auch die relativ bedeutungsoffenen Titel einzelner »Tape Poems« wie »Four Works«, »3 Poems«, 28 Costa, Eduardo: Explanation. MP3, S.00:00–00:41. (letzter Zugriff: 13. 07. 2020). 29 Lippard, Six Years. 1997, S. vii. 30 Rottner, Eduardo Costa, Oral Literature, and the Legacy of Noncochlear Sound. 2019, S. 103. 31 Lippard, Six Years. 1997, S. vii.
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»Poems and Background« oder »Three Minutes of My Life«, die die Nebensächlichkeit eines solchen Labelings unterstreichen. Es lässt sich hier feststellen, dass die Entmaterialisierung so konsequent durchgehalten wird, dass nicht einmal der Titel den Inhalt der Arbeiten schwarz auf weiß materialisiert. Die »Tape Poems« strapazieren letztlich den Begriff Lyrik bis aufs Äußerste und lassen nur ein dünnes Gerüst aus poetischem Klang und Rhythmus zurück, das vage an die Form erinnert. Das Lyrische wird hier vielmehr zur Methode einer Untersuchung und somit wird das Schreiben in manchen Fällen wie bei Costa zur Forschung. An das Dichten als Experimentieren knüpft in der Anthologie auch Hannah Weiner an, die in ihren »3 Poems« zum einen versucht, die chemischen Elemente Helium und Krypton darzustellen, und zum anderen die Bewegung eines Objekts im Raum untersucht. Dabei spielt sie mit der augenscheinlichen Objektivität naturwissenschaftlicher Codes, die sie ad absurdum führt. Das vierteilige »Poem 4« beispielsweise beschreibt »The Sound of an Object in One-Dimensional Motion Along a Line from A to B« sowie von B nach C und von C nach D. In den ersten drei Teilen des Gedichts hören wir jeweils dasselbe Geräusch eines startenden Jets. Der einzige Unterschied zwischen den Aufnahmen ist, dass das Geräusch jeweils etwas zeitlich versetzt abgespielt wird. Im letzten Teil des Gedichts hören wir unter dem schlichten Titel »Speed Racer« das Motorengeräusch eines Rennautos. Weiner spielt ebenfalls mit der Verbindung zwischen Tonaufnahme und Wissenschaft. Allerdings befasst sie sich nicht mit der gesprochenen Sprache, sondern stellt den Sound von Maschinen und Motoren dar, der bei ihr fast quälend laut wird. Die nüchterne Beschreibung im Titel des Gedichts steht in einem Spannungsverhältnis zu der Intensität der Geräusche, die wir hören. McEnaney stellt heraus, dass die Jets an den zu der Zeit tobenden Vietnamkrieg und dessen in Funk und Fernsehen verbreiteten Sound erinnern.32 Damit löst der Titel die angekündigte sprichwörtliche Linearität des Gedichts nicht ein. Die tatsächliche Wahrnehmung des Sounds erweist sich als komplexer. Gleichzeitig erweckt der Titel Erwartungen an die Aufnahme. Liegt hier womöglich auch ein experimenteller Aufbau vor? Geben die Aufnahmen Aufschluss über die Zusammenhänge zwischen Ton und Bewegung? Im Gegensatz zu Costa löst Weiner dies nicht auf. Was sie mithilfe des Tonbandgeräts zutage fördert, bleibt kryptisch und opak. Damit wird die adäquate Beschreibung des Aufgenommenen infrage gestellt sowie das Verhältnis zwischen Bedeutetem und Gehörtem destabilisiert. Bei Costa hingegen wird die Interpretation des Gehörten den Hörer*innen nahegelegt. Sein Ansatz zur Verwendung der Tonaufnahme scheint in eine andere Richtung zu weisen. Damit wird auch klar, dass Costas und Perreaults Proklamation, die Tonbandaufnahme ermögliche einen sozialen Realismus, nicht 32 McEnaney, Real-to-Reel. 2017, S. 156.
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programmatisch zu verstehen ist. Vielmehr sind alle Arbeiten der »Tape Poems« unterschiedlich und bedienen sich der Tonaufnahme auf verschiedenste Art. Aber auch in Weiners Gedicht liegt der Fokus auf der räumlichen Wahrnehmung im Zusammenhang mit dem akustischen Medium. Sie beschäftigt sich vorrangig mit der Bewegung eines Körpers im Raum und dessen Position relativ zum Aufnahmegerät. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch Acconci, wenn er in »Untitled« seine Schritte zählt, während er um das Aufnahmegerät herumgeht. Je nachdem welchen Abstand Acconci zum Aufnahmegerät einnimmt, verändert sich die Tonqualität und auch die Wahrnehmung seines Körpers im Raum. Dabei geht es vor allem um die Quantifizierbarkeit von Zeit, d. h. um Bewegung in Relation zum Raum. Während bei einem schriftlichen Gedicht die Lesebewegung linear von links nach rechts verläuft, wird die Gedichtzeile durch das Audiomedium in den dreidimensionalen Raum übertragen. Weiner machte dies bereits mit ihrer Linie von A nach B vor, die im Kontext ihres Gedichts zu einer Bewegung eines Körpers im dreidimensionalen Raum wurde.33 Dabei wird der Rhythmus, also die Quantifizierung von Zeit, nicht mehr durch die Anzahl der Silben vorgenommen, sondern durch die Beschreibung einer Bewegung im Raum. Darauf bezieht sich Acconci direkt, da seine Schritte im Raum einen ironischen Verweis auf den Versfuß, der üblicherweise den Rhythmus eines Gedichts vorgibt, enthalten. Die Andeutung auf das stilistische Mittel spielt mit der Erwartungshaltung der Hörer*innen, wie McEnaney extrapoliert: »Given the anthology’s title, Tape Poems, the piece calls attention to a play with poetic meter, an attempt to break down the artificiality or conventionality of an iambic, trochaic, or otherwise metered ›foot‹ and to replace it instead with the random, contingent steps of everyday life. The conceptual joke depends on the genre’s ›rules of use,‹ the generic norms or codes of expectation that underwrite any utterance labeled ›poetry‹.«34
Wie auch Ceravolo nutzt Acconci poetische Methoden, um sie in einen alltäglichen Kontext zu übertragen und neue lyrische Spielräume zu eröffnen. Das Gedicht löst sich aus der Enge des gedruckten Lyrikbandes und fügt sich in alltägliche Situationen ein. Hier stoßen wir auf ein weitverbreitetes Anliegen im Kontext US-amerikanischer Audiolyrik in der Nachkriegszeit: Das Audiomedium wurde weithin als Medium empfunden, das in der Lage war, Lyrik wieder mit dem Alltäglichen und in manchen Fällen auch mit Populärkultur in Kontakt zu bringen. Dichter und Label-Gründer John Giorno, der Track 6 auf Seite 1 der »Tape Poems« beisteuerte, unterstreicht rückblickend den Wert des Audiome33 Vgl. Durgin, Patrick: Witness Hannah Weiner. Some Precursors to the Visual Prosody of ›Clair-Style‹ Writing. (letzter Zugriff: 23. 02. 2020). 34 McEnaney, Real-to-Reel. 2017, S. 152.
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diums als neue Plattform für die Lyrik in einem Interview mit Hans Ulrich Obrist im Jahr 2002: »In 1965, the only venues for poetry were the book and the magazine, nothing else. Multimedia and performance didn’t exist. I said to myself, if these artists can do it, why can’t I do it for poetry? That was what started the whole thing. There actually were countless venues for poetry, the things you did in your everyday life. You listened to rock ’n¹ roll from a phonograph. The LP record and sitting in the living room became the venue. I started making tapes in ’65 and LPs in ’67, and over thirty years produced fifty albums.«35
Dementsprechend ist ein zentrales Motiv der »Tape Poems«, das Lyrische im alltäglichen Raum darzustellen und es ebenso darin zu integrieren. Die Gedichte beleuchten verschiedene Facetten dieses Prozesses: das Lyrische als invasives, fremdes Element, als analytisches Mittel oder als Teil der Alltagswelt. So heben die Gedichte hervor, wie sich das geschriebene Wort in seiner medialen Konstitution von der Tonbandaufnahme unterscheidet. Costa und Perreault behandeln in ihrer Einleitung die Tonbandaufnahme immer in Relation zur Schrift, es ist diese Abgrenzung, die eine neue Konzeption des Lyrischen ermöglicht. Dementsprechend referieren sowohl einzelne Gedichte immer wieder die Schrift oder das Schreiben auf Papier als auch die Konventionen des Gedichts, wie der Blick auf einzelne Audiotexte gezeigt hat. Symptomatisch für die Differenzierung zwischen Schrift und Tonbandaufnahme ist der Verweis auf die Schreibmaschine in Waldmans »Three Minutes of My Life« und Lewis Warshs »Halloween«. Waldmans Aufnahme folgt auf Perreaults Stille, die jäh durch laute Musik und Schreibmaschinentippen in Waldmans Gedicht durchbrochen wird. Während sich im Hintergrund der Aufnahme Fragmente einzelner Musikstücke abwechseln, hören wir im Vordergrund das Tippen einer Schreibmaschine, das beinahe untergeht im Lärm der Musik. Die Aufnahme evoziert – so darf spekuliert werden – die Szene einer Person, die am Schreibtisch tippt, während im Hintergrund wild Radio- oder Fernsehkanäle gewechselt werden. Es handelt sich also um eine Schreibszene, die, wie der Titel »Three Minutes of My Life« suggeriert, das Schreiben der Autorenfigur Waldman thematisiert. Konträr zur Vorstellung des*r zurückgezogenen Poet*in, die der britische Dichter William Wordsworth mit seiner Formel »emotion recollected in tranquility« umschrieb, befindet sich die schreibende Person hier mitten im Geschehen, während der ohrenbetäubende Lärm der Massenmedien sie umgibt. Vor diesem Hintergrund beleuchtet »Three Minutes of My Life« das Schreiben aus einer zeitgenössischen Perspektive, die es nicht als einsamen Akt 35 Obrist, Hans Ulrich: Hans Ulrich Obrist interviews John Giorno. (letzter Zugriff: 30. 10. 2019).
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eines Genies idealisiert, sondern eingebettet in alltägliche lärmende Situationen betrachtet. Das Hintergrundrauschen anderer Medien scheint nicht hinderlich für den Schreibprozess, denn das Tippen der Schreibmaschine in Waldmans Aufnahme fährt stetig und unbeeindruckt vom Lärm der Musik fort. Die Tonlandschaft der 1960er Jahre stellt sich hier als disruptiv und inspirierend zugleich dar. Sie ist Anschlag auf die Sinne und Ausgangspunkt für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der medialen Verfasstheit des Schreibens. Neben dem Tonbandgerät spielte auch die von Waldman evozierte Schreibmaschine eine wichtige Rolle für die Lyrik der 1960er Jahre. Während Friedrich Kittler mit pessimistischem Unterton die Erfindung der Schreibmaschine als Auseinanderfallen von »Papier und Körper, Schrift und Seele« bezeichnet, begrüßte der Beat-Dichter Olson 1950 diesen Umstand: »It is the advantage of the typewriter that, due to its rigidity and its space precisions, it can, for a poet, indicate exactly the breath, the pauses, the suspensions even of syllables, the juxtapositions even of parts of phrases, which he intends. For the first time the poet has the stave and the bar a musician has had. For the first time he can, without the convention of rime and meter, record the listening he has done to his own speech and by that one act indicate how he would want any reader, silently or otherwise, to voice his work.«36
Es wäre zwar denkbar, dass die Standardisierung durch die Schreibmaschine als eine Entfremdung zwischen Autor*in und Text wahrgenommen würde. Tatsächlich ist die Schreibmaschine für Olson und die Lyriker*innen seiner Zeit aber ein Instrument dafür, einen universellen, authentischen Text zu schaffen. »The typewriter is holy«, proklamierte Allen Ginsberg in diesem Sinne in den Fußnoten zu »Howl«. Die Sichtweise erklärt auch die Verwandtschaft zwischen Kassettenrekorder und Schreibmaschine: Beides sind Instrumente, mit deren Hilfe eine neuere, »wahrere« Abbildung der Wirklichkeit geschaffen wird. Folglich ist die Schreibmaschine für Perreault und Costa genauso notwendig wie der Tape Recorder. Im Geiste der Nachkriegslyrik sind beide Medien miteinander verwandt. Diese Verwandtschaft geht schon auf Alvar Edison zurück, der den Phonographen 1877 erfand und für den eine der Hauptfunktionen des neuen Geräts das Diktieren war.37 Ähnlich wie später das Tonbandgerät bzw. der Kassettenrekorder bereitete der Phonograph also die Verschriftlichung des Gesprochenen durch die Schreibmaschine vor. Man denke nur an Ginsbergs »The Fall of America« und Warhols »A: a novel«, die beide Produkte des Medienverbunds aus Tonbandgerät und Schreibmaschine sind. Das Verhältnis zwischen beiden Medien dreht sich interessanterweise in »Three Minutes of My Life« um, 36 Olson, Projective Verse. 37 Hiebler, Der Sound zwischen technischen Möglichkeiten und kulturellen Ansprüchen. 2005, S. 210f.
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da das Tonbandgerät in diesem Fall das Tippen auf der Schreibmaschine aufnimmt. Lewis Warshs »Halloween« bezieht sich ebenso auf die Schreibmaschine, auch wenn darin nicht das Schreiben an sich im Fokus steht, sondern es immer wieder thematisiert und indirekt in ein Konkurrenzverhältnis mit der Tonbandaufnahme gestellt wird. In der Aufnahme erzählt Warsh von seinen Erlebnissen an Halloween in einem nicht genannten Jahr. Gleich zu Beginn ruft er in einer Werkstatt an, um sich zu erkundigen, wie viel es kosten würde, seine Schreibmaschine reparieren zu lassen. Die Ironie liegt auf der Hand: Obwohl die kaputte Schreibmaschine Warsh womöglich daran hindern könnte, Texte zu produzieren, hören wir in diesem Moment, wie er ein Gedicht mittels des Tonbandes verfasst. Kurz darauf konstatiert Warsh, dass Anne (vermutlich Waldman) zurückgekehrt sei. Warsh verlässt daraufhin das Haus und durchstreift New York. Damit rekurriert Warshs Gedicht in doppelter Hinsicht auf das von Waldman: Zum einen taucht Waldman selbst als Figur in Warshs Audiotext auf. Zum anderen hörten wir bei Waldman noch den Schreibprozess, wohingegen Warsh dessen Abwesenheit beschreibt. Während seines Streifzugs besucht Warsh die Bibliothek, stellt aber fest, dass er keine Bücher ausleihen möchte. Sowohl die außer Gefecht gesetzte Schreibmaschine als auch die Unlust, Bücher auszuleihen, könnten wir als eine ironische Andeutung auf Costas und Perreaults Ankündigung, das Schreiben und Lesen würden in Zukunft obsolet werden, interpretieren. Die Figur Warshs zumindest verzichtet zunächst auf beides. Dies wird wenig später relativiert, als Warsh ein altes Gedicht auf Annes Schreibmaschine umschreibt. Die Schreibmaschine steht hier eher für die alltägliche schriftstellerische Praxis, die ohne sie nicht möglich scheint. Im Laufe der Aufnahme treten weitere Figuren auf, die Warsh nur mit Vornamen vorstellt. Der Eindruck eines minutiösen Protokolls entsteht, das den Alltag von Warsh beschreibt und seine Handlungen unkommentiert wiedergibt. Der Lyriker wird zum Protokollanten des eigenen Lebens. Warsh behandelt hier das Tonbandgerät als Dokumentationsmittel und evoziert die Relevanz des Mediums in der Überwachungskultur der 1960/70er Jahre. Denn während Lyriker*innen das Tonband für sich entdeckten, wurde es auch ein wichtiges Instrument für CIA und FBI, wodurch sich seine Wahrnehmung als Medium wandelte. Im letzten Abschnitt möchte ich die »Tape Poems« in diesem Zusammenhang darstellen und einen Ausblick auf spätere Entwicklungen geben.
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Fazit und Ausblick: Audiolyrik und Überwachungskultur
Auf der einen Seite schien die Tonbandaufnahme neue ästhetische Möglichkeiten für Lyriker*innen und Künstler*innen zu bergen. Auf der anderen Seite wurde in den 1960er Jahren immer klarer, dass sich der Staat im Zuge der Überwachung der Bevölkerung auch der neuen technischen Möglichkeiten bediente. Die Folge war ein zwiespältiges Verhältnis zu dem Medium, das Lytle Shaw so beschreibt: »In the mid-1960s, tape was the basis of what was perceived, at once, as the inhuman domain of computing, with its extension into the central infrastructure of missile defense, and as the countercultural challenge to this world of computing and national defense mounted by musicians and activists using increasingly portable recording devices […] Was it merely a registration device that aided the emergence of new, more immediate poetic oralism, or a mode of technological mediation that baldly undermined the pretenses to such an expressive, breath based poetics?«38
Der Zwiespalt zwischen Enthusiasmus für das Tonband und Misstrauen gegenüber der Technisierung der Gesellschaft spiegelt sich in der Einleitung der »Tape Poems« und den divergierenden Konzepten der einzelnen Gedichte wider. Während Costas Arbeit sich z. B. ganz auf den Realismus des Tonbandes verlässt, steckt in Weiners und Acconcis Auseinandersetzung mit dem Medium eine Uneindeutigkeit, die letztlich das Tonband als Index der Realität stark hinterfragt, wenn nicht sogar als fiktiv entlarvt. In den 1960er Jahren wandelte sich der anfängliche Enthusiasmus für die Tonaufzeichnung, da einige Lyriker*innen, die mit der Counter Culture in Verbindung standen, nun vom FBI überwacht wurden und die ehemals gefeierte Tontechnik gegen sie verwendet wurde.39 In der Folge blickten viele Lyriker*innen ab den 1970er Jahren immer kritischer auf die zunehmende Technisierung und den großen Einfluss der Massenmedien. Letztlich konnte die Idealisierung des Tonbandes als authentisches Medium dieser Kritik nicht standhalten. Rückblickend erscheint die These, dass eine Tonaufnahme soziale Gegebenheiten simulieren könne, überholt, vor allem wenn wir bedenken, wie leicht das Medium manipulierbar ist. Costa und Perreault scheinen den Widerspruch zwischen Manipulation und Indexikalität nur bedingt wahrzunehmen. Die Innovation der »Tape Poems« scheint eher darin zu liegen, dass sie die Möglichkeiten der elektronischen Medien nutzen, um neue Formate der Lyrikvermittlung zu finden. Die massenhafte Verbreitung von Plattenspielern, Tonbandgeräten und Kassettenrekordern in der Nachkriegszeit baute Brücken, die es Lyriker*innen wie Giorno, Acconci, Waldman, Mayer, Weiner oder Ginsberg ermöglichten, Gattungsgrenzen zu überschreiten und neue Vermittlungsformate zu finden. Zwar konnte das Tonbandgerät die Schrift nicht auf 38 Shaw, Narrowcast. 2018, S. 47. 39 Ebd., S. 7.
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gesamtgesellschaftlicher Ebene ablösen, aber zumindest verlor das gedruckte Buch an Bedeutung für die Lyrikproduktion im 20. Jahrhundert. Neben den Audiomedien trugen Film, Performance-Formate und digitale Plattformen dazu bei, dass die Lyrik zunehmend ein multimediales Genre wurde, das gelesen, gehört und gesehen wird.
5.
Literaturverzeichnis
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Romy Traeber
»They make it into a telenovela« – Inszenierung und Reflexion von Schreibprozessen am Beispiel der Telenovela »Jane the Virgin«
Zwischen 2014 und 2019 lief auf dem US-amerikanischen Sender »The CW«1 die Telenovela »Jane the Virgin«, eine Adaption des venezolanischen Formats »Juana la virgen«2. Im Laufe von 100 Episoden in fünf Staffeln begleiten sie das Leben der religiösen Latina Jane Gloriana Villanueva, die, obwohl noch jungfräulich, in der ersten Episode aufgrund einer Verwechslung in der Praxis ihrer Gynäkologin unwissentlich künstlich befruchtet wird. Diese Gynäkologin (Dr. Luisa Alver) ist zufällig die Schwester des unfreiwilligen Samenspenders Rafael Solano und sollte eigentlich dessen Frau, Petra Solano, ohne Wissen ihres Ehemannes mit dessen letzten verbliebenen Samen befruchten, weil Rafael aufgrund einer Krebsbehandlung inzwischen zeugungsunfähig ist. Verkompliziert wird die ganze Situation durch die Tatsache, dass Jane Rafael aus einer kurzen Begegnung von früher kennt und sich damals nach einem Kuss in ihn verliebte, nachdem er aber nie anrief, jetzt mit Michael Cordero, Detective im Miami Police Department, zusammen ist, der wiederum den Geliebten von Petra, Roman Zazo, beschattet, weil dieser in Drogengeschäfte verwickelt sein könnte. Jane lebt mit ihrer Mutter, Xiomara Gloriana Villanueva, die selbst sehr jung Mutter geworden ist, und der Großmutter Alba Gloriana Villanueva zusammen. Während Xiomara Jane drängt, das Kind nicht zu bekommen, lehnt Alba das vor allem aus religiösen Gründen ab. Letztlich entscheidet sich Jane dafür, das Kind auszutragen und Rafael und Petra zu überlassen. Den Genregesetzen der Telenovela folgend, verlieben sich Jane und Rafael natürlich ineinander und der Hauptplot der gesamten Serie dreht sich hauptsächlich um die Frage, wen Jane am Ende heiraten wird – Michael oder Rafael. Die Handlung kurz zusammengefasst: Jane, anfangs mit Michael verlobt, trennt sich, fängt eine Beziehung mit Rafael an, trennt sich wieder, datet einen Professor, entscheidet sich dann doch noch für Michael, die beiden heiraten, Mi1 Bei Fertigstellung dieses Aufsatzes ließen sich auch in Deutschland alle fünf Staffeln bei Netflix online abrufen (Stand Juli 2020). 2 Andreeva, Nellie: Gina Rodriguez Lands Title Role In CW’s ›Jane The Virgin‹, Brad Silberling To Direct. (letzter Zugriff: 02. 07. 2020).
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chael stirbt, Zeitsprung drei Jahre später, Jane datet verschiedene Männer, unter anderem ihre Jugendliebe Adam, und findet doch wieder mit Rafael zusammen, dann ist Michael doch nicht tot, hat aber sein Gedächtnis verloren und am Ende heiraten Jane und Rafael. Angefüllt ist dieses Beziehungsdrama mit einem Kriminalplot um die Stiefmutter von Rafael und Luisa, die gleichzeitig die Geliebte von Luisa ist, mit plötzlich auftauchenden bisher unbekannten Zwillingsgeschwistern, von den Toten Wiederauferstandenen, sonstigen Liebesdramen sowie Krankheiten und Plot-Twists über Plot-Twists – eine recht typische Mischung des Genres. »Jane the Virgin« zeichnet sich nun dadurch aus, dass die Serie nicht nur auf ihre Telenovela-Haftigkeit beschränkt werden darf, da sie sich einerseits ihres Status als Telenovela bewusst ist und ihre Produktions- und Rezeptionsbedingungen durch metafiktionale Elemente zum Thema macht sowie andererseits Bedingungen der Literaturproduktion, -distribution bzw. -rezeption (kurzum: die Akteure des literarischen Feldes3) präsentiert und kommentiert, indem die schriftstellerischen Ambitionen der Hauptfigur Jane von Anfang bis Ende gleichberechtigt mit der Liebesgeschichte im Mittelpunkt stehen. Die Autorinnenschaftsinszenierung der Telenovela lässt sich dabei unter Berücksichtigung der Kapitaltheorie von Pierre Bourdieu nachzeichnen: Er definiert Kapital als Verfügungsgewalt über spezifische Ressourcen und unterscheidet ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital.4 Das ökonomische Kapital ist bei Jane, wie schnell deutlich wird, eine knappe Ressource. Sie wird den Zuschauer:innen als bei Mutter und Großmutter wohnende, religiös geprägte und überzeugt jungfräulich in Miami lebende Anfang Zwanzigjährige vorgestellt, die zur Finanzierung ihres Studiums nebenbei in einem Hotel als Kellnerin arbeitet. Der neue Besitzer dieses Hotels ist natürlich – schließlich befindet man sich in einer Telenovela – Rafael Solano, der spätere Vater ihres Kindes. Dass Jane vor allem aus pragmatischen Gründen Lehramt studiert, wird in einem Flashback in der Pilotfolge gezeigt, der die erste Begegnung von Jane und Rafael beinhaltet, wo er sie nach ihren Träumen befragt: Jane: »Well, it depends. Am I being practical or brave?« Rafael: »Practical.« Jane: »I’m a teacher.« Rafael: »Brave.« Jane: »I’m a writer?«5 3 Zum Begriff literarisches Feld vgl. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt/Main 1999. 4 Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Soziale Ungleichheiten. Hrsg. von Reinhard Kreckel. Göttingen: Schwartz 1993, S. 183–198, hier S. 186. Originalbeitrag übersetzt von Reinhard Kreckel (Soziale Welt: Sonderband 2). 5 Jennie Snyder Urman (Creator): »Jane the Virgin«. USA: The CW 2014–2019, S01E01, 27:16– 27:29.
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Ihre wahre Leidenschaft – nämlich schreibend ihren Lebensunterhalt zu verdienen – muss sie anfangs in ihrer Freizeit ausleben, weil die finanziellen Ressourcen das nicht erlauben. Neben ihrem Kellnerinjob arbeitet Jane als Teaching Assistant an ihrer Uni und nimmt, in der Hoffnung auf Preisgelder, an Schreibwettbewerben teil. Im Verlauf der Telenovela nehmen die schriftstellerisch relevanten Jobs als Einnahmequellen immer weiter zu; so bekommt sie eine Assistentinnenstelle bei einer Publizistin oder arbeitet als Ghostwriterin für Petras Lifestyle-Buch. Im späteren Verlauf der Serie, nach Michaels (vermeintlichem) Tod, darf sie in einer Gästekolumne für »Cosmopolitan online« darüber schreiben, wie es ist, mit 28 als Witwe wieder zu daten. Hier finden sich intermediale Verweise auf die bekannte HBO-Serie »Sex and the City«, wenn statt der üblichen Texttafel zu Beginn jeder Episode ein an »Sex and the City« angelegter Vorspann läuft. Und Janes Arbeit an der Kolumne findet plötzlich – anders als ihre sonstigen Schreiborte Bett und/oder Schreibtisch im Raum – am Schreibtisch vorm Fenster sitzend statt, wo sie die Kamera dann wie Carrie Bradshaw in »Sex and the City« von vorn oder der Seite betrachtet:
Abb. 1: Szene aus »Jane the Virgin«.6
Abb. 2: Szene aus »Sex and the City«.7
Dass damit ausgerechnet eine Serie über eine Gruppe gutsituierter weißer New Yorkerinnen zitiert wird, entbehrt nicht einer gewissen Ironie, kämpft doch Jane durchgängig mit finanziellen Problemen, die auch mit ihrer Herkunft zusammenhängen: Ihre Großmutter Alba ist in den 1980ern zusammen mit ihrem Ehemann als illegale Einwanderin aus Venezuela in die USA gekommen und wird erst in der letzten Staffel zur offiziellen US-Staatsbürgerin. Jane könnte zwar prinzipiell finanzielle Hilfe von Rafael bekommen, hat aber den Anspruch, es auch ohne ihn und aus eigener Kraft zu schaffen (und im Laufe der Serie verliert er aufgrund diverser Verwicklungen ohnehin sein gesamtes Vermögen). Was Jane also an ökonomischem Kapital fehlt, gleicht sie durch den Erwerb von
6 »Jane the Virgin«, S03E18, 5:48. 7 Okwodu, Janelle: Why Carrie Bradshaw Is the Original Work From Home Muse. (letzter Zugriff: 05. 07. 2020).
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kulturellem Kapital aus. Darunter fällt auch die Erziehung in der Familie8, im Falle von »Jane the Virgin« also konkret die Liebe zu Telenovelas, die vom traditionellen gemeinsamen Schauen mit ihrer Großmutter und Mutter herrührt. Das inkorporierte Kapital – gemeint ist hier das Wissen um die Strukturen von Telenovelas – schult Janes Schreiben; ihr später erscheinendes Buch »Falling Snow« (eine Romance Novel) funktioniert strukturell genau wie eine Telenovela. Und auch ihr zweites Buchprojekt ist durch diese Art des Erzählens inspiriert: Die Aussage ihrer Großmutter Alba »It makes one out of many«9 lässt Jane am Ende der vierten Staffel noch einmal all ihre begonnenen, aber nie veröffentlichten Buchprojekte zur Geschichte ihrer Großmutter, zur Mutter-Tochter-Beziehung sowie zu ihrer eigenen Liebesgeschichte mit Michael und Rafael betrachten, die ebenfalls strukturelle Erzählweisen einer Telenovela aufweisen. Während sie auf dem Bett sitzend durch die einzelnen Manuskripte blättert und die Zuschauer: innen via Flashbacks an die jeweiligen Storylines erinnert werden, kommt ihr eine Idee, die sehr schön in Szene gesetzt wird: Während Jane mit Schreiben beginnt, tanzen die Manuskriptseiten der drei Stapel um ihren Kopf durch die Luft und landen schließlich sauber auf einem neuen Stapel.
Abb. 3: »dancing manuscripts«: Ausschnitt aus »Jane the Virgin«.10
Das nächste Buch wird entsprechend eine »big multigenerational story«11 sein, die alle bisherigen Geschichten vereint: Am Ende der fünften und letzten Staffel wird das Manuskript für 500.000 Dollar verkauft und garantiert Jane und ihrer Familie dadurch eine gesicherte Zukunft. Somit ist die Umwandlung von kulturellem in ökonomisches Kapital gelungen.
8 9 10 11
Vgl. Bourdieu, Kapital. 1993, S. 186. »Jane the Virgin«, S04E17, 34:27–34:32. Ebd., 35:43. Ebd., 36:06–36:08.
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Bourdieu meint mit kulturellem Kapital aber auch Bildungsabschlüsse, die Jane ebenfalls erfolgreich erlangt: anfangs durch den eher pragmatischen (»practical«) Weg des Lehramtsstudiums, dann durch die Bewerbung für ein Zweitstudium (»brave«) in einem Graduate Writing Program. Natürlich setzen beim Bewerbungsgespräch die Wehen ein, Jane bringt es trotzdem zu Ende und erfährt später, dass sie aufgenommen wurde. Bei aller Freude entsteht dadurch ein Konflikt: Soll sie ihren Sohn früher als geplant fremdbetreuen lassen oder doch auf das Studium verzichten? Zudem bleibt die Problematik des fehlenden ökonomischen Kapitals; der Erwerb des Bildungstitels im Writing Program ist mit einem größeren Risiko behaftet als der relativ sichere Weg der Lehrerinnentätigkeit. Ihre Mutter und Großmutter überzeugen sie schließlich aber doch; allerdings funktioniert die Doppelbelastung aus Mutterschaft und Studium auf Dauer nicht. Die Telenovela führt hier neben finanziellen Schwierigkeiten auch Probleme von Autorinnen- und Mutterschaft eng, findet letztlich aber Lösungen, indem Jane durch alle Familienmitglieder entlastet wird und sich wieder mehr auf ihr Schreiben konzentrieren kann. Dieser besondere Nutzen eines Beziehungsnetzes wird bei Bourdieu als soziales Kapital bezeichnet und ist ein wichtiger Aspekt in der Anlage der Telenovela: Immer wieder wird deutlich gemacht, dass die außer- und innerfamiliären Beziehungen Jane auf ihrem Weg voranbringen. Neben ihrer Mutter und Großmutter ist in diesem Zusammenhang vor allem ihr Vater Rogelio De La Vega von immenser Bedeutung. Jane erfährt erst in der vierten Folge der ersten Staffel, dass der berühmte Telenovela-Star die Jugendliebe ihrer Mutter und damit auch ihr Vater ist – was Xiomara ihr verschwiegen hatte und zu Verwerfungen zwischen Mutter und Tochter führt, die sich allerdings später wieder auflösen. Durch die Annäherung an ihren Vater erhält Jane zeitgleich Zugang zur Welt der Fernseh- bzw. Telenovela-Produktionen und hat bald die Möglichkeit, für dessen Serie »The Passions of Santos« eine Episode zu schreiben – ausgerechnet die, in der der Charakter ihres Vaters sterben soll. Das Ganze ist ein Set-up eines eifersüchtigen Kollegen, aber Rogelio macht seinen Frieden damit und bittet Jane, ihm »the greatest death scene ever«12 zu entwerfen. Als ihr erstes Buch gedruckt ist, helfen ihr dann die Verbindungen ins Fernsehbusiness. In einem Gespräch mit ihrem Lektor erklärt dieser Jane, dass es jetzt, da das Buch fertig sei, um Marketing und PR ginge, um möglichst viel Aufmerksamkeit zu erregen – also das Buch gut zu verkaufen. Das Marketingteam des Verlags ist beim Gespräch begeistert von Janes Background:
12 »Jane the Virgin«, S01E12, 25:23–25:25.
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»We know all about you. The artificial insemination, the virgin birth, the kidnapping, your husband’s tragic death. […] Well, it’s an amazing backstory, […] it gives us a real angle to market.«13
Jane will aber nicht, dass ihre Lebensgeschichte zu einem bloßen Selling Point verkommt und lehnt ab, woraufhin sie erfährt, dass die Druckauflage des Buches auf 10.000 Exemplare beschränkt sein wird. Auf ihre Frage, wie denn die Chancen stünden, wenigstens zur »Miami Book Fair« eingeladen zu werden, fragt ihr Lektor: »What’s your social media presence? Snapchat, Instagram, Twitter followers?«14 Ihre drei Follower bei Twitter helfen da kaum, denn sie bräuchte nach Aussage des Lektors mindestens 20.000, woraufhin sie erklärt: »I happen to have a social media expert in my family.«15 Sie meint damit natürlich ihren Vater Rogelio, dessen 7,1 Millionen Follower ihn als eben diesen »social media expert« ausweisen. Letztlich ist es aber nicht ihr Vater, sondern ein anderer Teil ihres sozialen Netzes – Rogelios Co-Star Fabian Regalo del Cielo –, der in einem typischen Social-Media-Move versucht ihr zu helfen, die nötigen Follower zu bekommen, indem er einen fiktiven Beziehungsstreit inszeniert und meint: »[M]y fans will hate-follow you instantly.«16 Trotz daraufhin beeindruckender 24.765 Follower innerhalb weniger Tage bleibt die Einladung zur »Miami Book Fair« aber dennoch aus – weil die Twitter-User in Janes Fall hauptsächlich aus Lateinamerika kommen und diese, wie der Lektor begründet, »won’t convert to book sales till it’s translated to Spanish which it won’t be if the first print run tanks«17. Hier kommentiert die Telenovela die Mechanismen des Buchmarktes gar nicht so subtil, oder, um mit Bourdieu zu sprechen: »Auch kulturelle Güter unterliegen einer Ökonomie, doch verfügt diese über ihre eigene Logik.«18 Es wird nämlich deutlich gemacht, dass die Gesetze des literarischen Feldes nicht für alle gleich sind, und »Jane the Virgin« bemüht sich, diese strukturellen Gesetzmäßigkeiten deutlich herauszuheben: »Very few women of color get published. And when we do, we cannot affort to screw it up, because we don’t get a second chance like our peers«19, kommentiert Jane, nachdem ihr Debüt nicht so erfolgreich war wie erhofft. Die Serie zeigt anschließend aber auch, dass sie es doch noch schafft – dass ökonomisches Kapital also nicht zwangsläufig der einzige Weg zum Erfolg ist, dass es auch nicht (nur) der Märchenprinz ist, der den Weg
13 14 15 16 17 18
Ebd., S03E16, 16:51–17:07. »Jane the Virgin«, S03E16, 18:47–18:51. Ebd., 19:15–19:20. Ebd., 22:31–22:33. Ebd., 25:21–25:26. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt/Main: Suhrkamp 31984, S. 17. 19 »Jane the Virgin«, S04E09, 4:47–4:53.
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zum Glück20 für die weibliche Hauptfigur ausmacht, sondern dieser durch eigene Leistung möglich ist. Ein weiterer Aspekt, der die Telenovela »Jane the Virgin« von ähnlichen Formaten abhebt, ist das beständige Reflektieren der eigenen Produktionsbedingungen. Diese metafiktionalen21 Elemente machen aus der Telenovela mehr als nur eine (Liebes-)Geschichte: Sie verdeutlichen die permanente Auseinandersetzung des Formats mit den Gesetzen des Genres und dem Status als Kunstwerk. So kommentiert der Erzähler beispielsweise häufig besonders absurde Situationen der Handlung mit einem »Just like a telenovela, right?«. Ausgehend von typischen Gesetzmäßigkeiten der Gattung, fällt bei »Jane the Virgin« auf, dass es in einem wesentlichen Punkt davon abweicht: Denn üblicherweise werden die Gedanken der zumeist weiblichen Hauptfigur in einem Voiceover für die Zuschauer:innen hörbar, hier gibt es stattdessen einen männlichen Erzähler, der die Geschichte kommentiert und über mehr Wissen als die Figuren der erzählten Welt verfügt. Einzige Ausnahme ist die Folge, die »Sex and the City« zitiert: Hierin wird das übliche Voiceover der Figur Carrie Bradshaw kopiert und man kann erstmals Janes Gedanken beim Schreiben hören. Ansonsten folgt die Serie aber den genremäßigen Strukturen:22 Sie sind nicht als Endlosserie geplant wie beispielsweise Soap Operas,23 sondern arbeiten kontinuierlich auf ein Happy End hin. Hierbei nimmt »Jane the Virgin« insofern eine Sonderstellung ein, als das Happy End nicht nur eine Hochzeit ist, sondern sich für Jane auch der kommerzielle Erfolg mit dem Verkauf ihres zweiten Buches einstellt. Zudem schließt sich am Ende der Serie der Kreis und die Zuschauer: innen erfahren (einige mehr, andere weniger überrascht, denn neben der schon sehr eindeutigen »dancing manuscripts«-Szene am Ende der vierten Staffel gibt es auch im Verlauf der fünften Staffel diverse Hinweise darauf), dass Janes Buch 20 Das suggeriert z. B. der Titel der ersten deutschsprachigen Telenovela »Bianca – Wege zum Glück«, die von 2004 bis 2005 im ZDF ausgestrahlt wurde und wegen des großen Erfolgs in mehreren Neuauflagen insgesamt bis 2012 lief. 21 Ich beziehe mich hier auf den von Patricia Waugh etablierten Begriff, die die erste Gesamtdarstellung zur metafiktionalen Literatur veröffentlichte. Waugh, Patrica: Metafiction. The Theory and Practice of Self-Conscious Fiction. London/New York: Routledge 1993. 22 Vgl. dazu Kaczmarek, Ludger/Wulf, Hans Jürgen: Telenovelas. Eine Arbeitsbibliographie der Sekundärliteratur. In: Medienwissenschaft/Hamburg: Berichte und Papiere (143). Online verfügbar unter: (letzter Zugriff: 15. 07. 2020). 23 Interessanterweise ignorieren vor allem deutschen Produktionen immer wieder diesen markanten Unterschied zwischen Telenovela und Soap. So wird beispielsweise die als Telenovela gelabelte ARD-Produktion »Sturm der Liebe« inzwischen bereits in der 16. Staffel ausgestrahlt; Gleiches gilt für »Rote Rosen«, ebenfalls eine ARD-Produktion. Weil beide Formate so erfolgreich sind, werden regelmäßig die Hauptcharaktere ausgetauscht, nachdem diese ihr Happy End (eine Hochzeit) erlebt haben; ein gewisser Stamm von Nebencharakteren bleibt dagegen über mehrere Jahre/Staffeln erhalten.
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die Grundlage für diese Telenovela »Jane the Virgin« ist. In einer letzten Szene fragt Rafael Jane nach der gemeinsamen Hochzeit: Rafael: »What happens at the end of your book?« Jane: »They make it into a telenovela.« Rafael: »Well, who’d want to watch that?«24
Woraufhin Jane sich von ihm wegdreht, direkt in die Kamera schaut und zwinkert. Außerdem wird enthüllt, dass es sich bei dem Erzähler um den aus der künstlichen Befruchtung hervorgegangenen Sohn Mateo handelt. Ein wenig anders, aber auch hier aus der Welt der Fiktion ausbrechend, wird mit Janes erstem Buch aus der Serie (»Snow Falling«) umgegangen: Der Roman wurde kurz vor der Ausstrahlung der Telenovela in der Realität im November 2017 in den USA veröffentlicht. Und in der Folge, in der es um die Launch-Party des Romans in Janes Lieblingsbuchladen geht, imaginiert Jane die bekannte Schriftstellerin und Journalistin Isabel Allende25 und die beiden führen ein Fachgespräch über magischen Realismus, der Janes Schreiben ebenso prägt wie die Narrationsstrukturen der Telenovelas. Das metafiktionale Erzählen spielt in einigen Episoden eine besonders große Rolle: So lässt Rogelio in einer Folge das Haus der Familie am Set seiner Telenovela nachbauen, damit Jane und Michael darin heiraten können, nachdem das eigentliche Haus durch einen Wasserschaden unbewohnbar geworden ist. Was man dann als Zuschauer:in zu sehen bekommt, ist natürlich das Set, an dem »Jane the Virgin« gedreht wird. Zwei Folgen später muss Rogelio sich vor seinen Produzentinnen rechtfertigen, dass er das Haus hat nachbauen lassen, und sich daher zusammen mit einer Autorin eine Telenovela-Episode ausdenken, in der das Haus genutzt wird, und gleichzeitig einen sinnvollen Plot entwickeln, der die Anforderungen an seine Telenovela erfüllt, wo er durch die Zeit reist und wichtigen historischen Ereignissen beiwohnt, um sie zu verändern. Es wird hier also verhandelt, wie man eine gute, aber auch plausible Geschichte erzählt – ein Problem, vor dem das Genre mit seinen Plot-Twists und typischen TelenovelaTropen immer wieder steht und das in »Jane the Virgin« mit selbstironischem Einschlag gelöst wird: Am Ende handelt Rogelios Episode von einer Mutter und deren Tochter, die sich zerstritten haben und sich mithilfe des von ihm gespielten Charakters wieder versöhnen, während am Set Jane und ihre Mutter Xiomara zusehen, die sich zerstritten haben und beim Anblick dieser Szene wieder versöhnen. Und dann verwandeln sich die Familienmitglieder dieser Telenovela-inder-Telenovela in Aliens, die den Planeten übernehmen wollen, und nur Rogelios Charakter kann sie stoppen, weil er natürlich gewusst hat, dass sie nur so tun, als 24 »Jane the Virgin«, S05E19, 42:30–42:38. 25 Die echte Isabel Allende spielt sich tatsächlich selbst. Vgl. »Jane the Virgin«, S04E06.
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wären sie normale Menschen mit normalen Problemen – so viel Zugeständnis an die Produzentinnen musste dann doch sein. In einer anderen Episode taucht Adam, die Jugendliebe von Jane, auf und bringt eine eigene, weibliche Erzählerin mit, die sich im Laufe der Folge mit dem den Zuschauer:innen bekannten männlichen Erzähler um die Vormacht über das Story-Geschehen streitet. Während die Adam-Erzählerin versucht, ihn als potenziellen neuen Partner für Jane (und gleichzeitig auch für die Zuschauer:innen) attraktiv zu machen, versteht sie als Neuling in der Geschichte jedoch viele der Gegebenheiten nicht, was wiederum zu einer interessanten Dynamik zwischen den beiden Voiceover-Stimmen führt, weil der Jane-Erzähler natürlich versucht, seine Seite der Geschichte zu präsentieren und dazu gehören eben auch die anderen Figuren. Die Erzählerin ist allerdings nur in dieser einen Folge präsent; die Problematik einer komplett neu eingeführten Figur wird dann innerhalb der Serie von den Charakteren selbst im Zusammenspiel mit dem Erzähler kommentiert. So äußert sich Rogelio zu einer neu eingeführten Figur in seiner Telenovela mit den Worten: »You can’t just introduce a new love interest threefifths of the way through a series and expect the audience to root for him!« Woraufhin der Erzähler anschließt: »Hey that reminds me – where’s Adam? What a great guy.«26 Adam wurde am Anfang der vierten Staffel eingeführt – also exakt nach 3/5 der Gesamtserie. In einem anderen Fall tauchen in »Jane the Virgin« Figuren auf, die nicht wissen, wie Telenovelas funktionieren, um die Narrationsstrukturen zu erläutern: River Fields, eine Schauspielkollegin von Rogelio, mit der er ein englischsprachiges Remake seiner erfolgreichen Telenovela »The Passions of Santos« plant, weiß nichts über das Genre und wird deswegen von Xiomara durch gemeinsames Schauen und Erklären eingeführt. Und als Xiomara River beispielsweise während des Fernsehens darauf hinweist, dass als Nächstes das Hauptpaar kommt, springt »Jane the Virgin« zu einer Szene mit Jane und Rafael. Diese Situation wiederholt sich ähnlich in der letzten Folge der Serie, die damit beginnt, dass Alba, Xiomara und Jane die letzte Folge ihrer Lieblingstelenovela schauen. Jane ist frustriert, dass die Geschichte endet, und wird von ihrer Großmutter und Mutter darüber aufgeklärt, dass Telenovelas eben nicht wie amerikanische Soaps endlos laufen, sondern immer ein Ende haben – und zwar ein Happy End. Und dieses gibt es dann bekanntermaßen auch in »Jane the Virgin«: Das Liebespaar findet zusammen und heiratet, gleichzeitig ist aus Jane eine erfolgreiche Autorin geworden. Es ging der Telenovela also nie nur darum, eine zeitweise von absurden Handlungssträngen durchzogene Liebesgeschichte zu erzählen, sondern eine Frau in den Mittelpunkt zu stellen, die sowohl privat als auch beruflich trotz aller Hindernisse, die ihr als Latina im Literaturbetrieb im Weg standen, zum Erfolg gelangt. Damit hat »Jane 26 »Jane the Virgin«, S04E03, 11:55–12:05.
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the Virgin« auch eine politisch-gesellschaftliche Dimension, weil die Telenovela die Problematiken junger weiblicher Autorinnen südamerikanischer Herkunft im USamerikanischen Buchmarkt thematisiert und ihnen eine Stimme gibt. Damit steht »Jane the Virgin« in der Tradition lateinamerikanischer Telenovelas, die immer wieder versuchen, »neben Werbebotschaften […] entwicklungspolitisch relevante Informationen«27 zu vermitteln. Der Ursprung dieser Entwicklung liegt Jahrzehnte zurück: Als 1969 die Telenovela »Simplemente Maria« in Peru ausgestrahlt wurde, bei der der Hauptfigur Maria mithilfe einer Singer-Nähmaschine der wirtschaftliche und soziale Aufstieg gelingt, stiegen überall dort, wo die Serie ausgestrahlt wurde, die Verkaufszahlen der Nähmaschinen und junge Frauen begannen, dem Fernsehbeispiel folgend, zunehmend zu nähen.28 Insofern könnte man bei Jane auch von einer Vorbildfigur für die lateinamerikanische Bevölkerungsgruppe in den USA sprechen, die es aus eigener Kraft schafft, ihren Traum zu erfüllen, und damit finanziell unabhängig wird.
Literaturverzeichnis Andreeva, Nellie: Gina Rodriguez Lands Title Role In CW’s ›Jane The Virgin‹, Brad Silberling To Direct. (letzter Zugriff: 02. 07. 2020). Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt/Main: Suhrkamp 31984. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999. Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Soziale Ungleichheiten. Hrsg. von Reinhard Kreckel. Göttingen: Schwartz 1993. Frey-Vor, Gerlinde: Langzeitserien im deutschen und britischen Fernsehen. Lindenstraße und EastEnders im interkulturellen Vergleich. Berlin: Spiess 1996. Kaczmarek, Ludger/Wulf, Hans Jürgen: Telenovelas. Eine Arbeitsbibliographie der Sekundärliteratur. In: Medienwissenschaft/Hamburg: Berichte und Papiere (143). Online verfügbar unter: (letzter Zugriff: 15. 07. 2020). Okwodu, Janelle: Why Carrie Bradshaw Is the Original Work From Home Muse. (letzter Zugriff: 05. 07. 2020). Urman, Jennie Snyder (Creator): »Jane the Virgin«. USA: The CW 2014–2019. Waugh, Patrica: Metafiction. The Theory and Practice of Self-Conscious Fiction. London/ New York: Routledge 1993.
27 Gerlinde Frey-Vor: Langzeitserien im deutschen und britischen Fernsehen. Lindenstraße und EastEnders im interkulturellen Vergleich. Berlin: Spiess 1996, S. 38. 28 Vgl. Frey-Vor, Langzeitserien. 1996, S. 38.
Judith Niehaus
Handgeschrieben – Grafische Inszenierungen des Schreibens im Gegenwartsroman
1.
Einleitung
Das Wort schreiben kann – in Kombination mit einer ganzen Reihe unterschiedlicher Präfixe – verschiedenste Bedeutungen annehmen: vom ›Beschreiben‹ über das ›Abschreiben‹ bis hin zum ›Unter-‹ oder ›Überschreiben‹. Schreiben wird in der Grundschule benotet und von Schriftstellerinnen und Schriftsteller im Sinne eines ›intransitiven Verbs‹ als Beruf oder Berufung bezeichnet.1 In dem breiten Bedeutungsspektrum, das der Begriff ›Schreiben‹ umfasst, hat die Handschrift jedoch einen besonderen Stellenwert inne. Das zeigt sich an ihrer (vom tatsächlichen Schreiben mit der Hand gelösten) metaphorischen Bedeutung, im Sinne derer eine ›Handschrift‹ mit dem Stil eines/einer Autors/Autorin bzw. eines/einer Regisseurs/Regisseurin verstanden werden kann oder als ›Manuskript‹ jedwede Erstfassung eines Dokuments bezeichnet, sei es nun digital oder analog, mechanisch oder händisch erzeugt. Der vorliegende Artikel fokussiert jedoch – um es mit Roland Barthes programmatischer Einleitung aus seinen »Variations sur l’écriture« zu formulieren – »nicht die metaphorischen Auffassungen des Wortes ›Schrift‹ [écriture]«, sondern beschäftigt sich mit der »handschriftlichen Schrift […], derjenigen, die den Zug der Hand einschließt«.2 Im Zentrum des Beitrags steht also die ›tatsächliche‹ 1 Zum Konzept des Schreibens als ›intransitives Verb‹ und dessen Problematisierung vgl. den gleichnamigen Text von Roland Barthes: Schreiben, ein intransitives Verb?, in: Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte. Hrsg. von Sandro Zanetti. Berlin: Suhrkamp 2012, S. 240–250, hier S. 247–248. 2 Roland Barthes: Variations sur l’écriture. Französisch-deutsch. Übersetzt von Hans-Horst Henschen. Mainz: Dieterich 2006, S. 8–9. Zur Einordnung dieses Zitates und den spät veröffentlichten »Variations sur l’écriture«, in denen sich Barthes von dem nicht zuletzt von ihm geprägten abstrakten Verständnis der Handschrift abwendet, siehe auch Schmitz-Emans, Monika: Handschrift als Körperspur. Zu Spielformen und poetologischen Semantisierungen eines Konzepts in der Literatur. In: Körperbilder in Kunst und Wissenschaft. Hrsg. von Wolf Gerhard Schmidt. Würzburg: Königshausen & Neumann 2014, S. 223–248, hier S. 169–170; Stingelin, Martin: ›Schreiben‹. Einleitung. In: ›Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säku-
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Judith Niehaus
Handschrift, die weder als Manuskript dem Druck vorausgeht, noch nachträglich dem gedruckten Buch hinzugefügt wird, sondern die als reproduzierte Handschrift Teil des literarischen Textes ist.3 Die leitenden Fragen, auf die im Folgenden anhand diverser Beispiele, die Handschrift in den literarischen Text integrieren, Antworten formuliert werden sollen, lauten dabei: In welcher Form kommt Handschrift im Gegenwartsroman4 vor und inwiefern kann sie als ästhetisches Verfahren gelten, das Reflexionen von Schreiben, Text und Autorschaft zur Anschauung bringt?
2.
Typische Modi der Handschrift: Annotation und Faksimile
Auch wenn seit Beginn der Gutenberg-Galaxis Texte nicht mehr als handgeschriebene oder händisch kopierte Bücher veröffentlicht werden, ist doch die Handschrift jahrhundertelang notwendiger Bestandteil in der Genese von literarischen Werken gewesen. Handschriftlich wurde ein Text entworfen, bis das Manuskript durch das Typoskript und die handschriftliche Schreibszene von der mechanisierten und schließlich digitalen Schreibszene abgelöst wurde.5 Als lum‹. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. Hrsg. von Martin Stingelin/Davide Giuriato/Sandro Zanetti. München: Fink 2004, S. 7–21, hier S. 12–13. 3 Wenn im Folgenden von ›Handschrift‹ die Rede ist, ist damit auch dann ›reproduzierte Handschrift‹ gemeint, wenn dies nicht explizit hinzugefügt wird. Die Handschrift, die im gedruckten Buch Teil des literarischen Textes ist, liegt notwendigerweise in dieser Form vor, es sei denn, es handelt sich um signierte Bücher oder sehr kleine Auflagen. Da die Genese und die Produktion der Texte nur am Rande und punktuell Gegenstand der Untersuchung sind, wird zudem nicht detailliert auf die Entstehung der handschriftlichen Passagen, also auf die Frage, ob sie analog oder digital geschrieben, eingescannt oder manipuliert wurden, eingegangen. Diese Fragen bieten durchaus Anschlusspunkte für weitere Studien, sind jedoch für die Untersuchung der Handschrift als poetisches Verfahren im Text nicht relevant. 4 Aus dem betrachteten Textgegenstand ausgeschlossen werden Werke, die der Kinder- und Jugendbuchliteratur zuzuordnen sind, auch wenn es in diesem Bereich zahlreiche Textbeispiele gibt, in denen Handschrift eingesetzt wird – von einer Handschrift als Grundschriftart über didaktische Zwecke bis hin zu avancierteren Schriftkompositionen, in denen etwa die Handschrift im Dienste einer Kommentarfunktion eingesetzt wird, wie beispielsweise in Franz Orghandls und Theresa Strozyks »Der Katze ist es ganz egal« (Leipzig: Klett Kinderbuch 2020). Auch in diesem Beispiel sind jedoch die handschriftlichen Elemente kaum von Illustrationen zu unterscheiden und würden damit einen gesonderten Fall darstellen, der hier nicht mitverhandelt werden kann. Dass aber das Schriftbild in der Kinder- und Jugendbuchliteratur ein eigenständiges und höchst fruchtbares Forschungsfeld darstellt, beweist u. a. Klaus MüllerWille: Sezierte Bücher. Hans Christian Andersens Materialästhetik. Paderborn: Fink 2016. 5 Diese Entwicklung der verschiedenen Formen des Schreibens zeichnen die drei Sammelbände aus dem SNF-geförderten Forschungsprojekt »Zur Genealogie der Schreibens« besonders pointiert nach (›Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum‹. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. Hrsg. von Martin Stingelin/Davide Giuriato/Sandro Zanetti. München: Fink 2004; ›Schreibkugel ist ein Ding gleich mir: von Eisen‹. Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte. Hrsg. von Davide Giuriato/Martin Stingelin/Sandro Zanetti. München: Fink 2005;
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Schrift, die dem Druck vorausgeht, ist die Handschrift damit für die Editionsphilologie besonders wertvoll. Nicht nur für Fragen nach der Authentizität, Autorschaft und Autorisation von Texten6 spielt die Handschrift dabei eine wichtige Rolle, sondern auch als Medium, in dem sich Überarbeitungsschritte und somit eine Textgenese und deren verschiedene Stadien in Form von Streichungen und Verbesserungen nachvollziehen lassen.7 Ein zentrales Hilfsmittel für die editorische Arbeit stellt deshalb das Faksimile dar, das auch außerhalb von Archiven die Arbeit mit den Handschriften ermöglicht. Für ein Faksimile wird »das Original […] nicht nur hinsichtlich seines Informationsgehaltes, sondern in allen seinen äußeren, d. h. auf den Betrachter wirkenden Eigenschaften (Materialien, Format, Struktur, Charakteristik)«, nachgebildet8. Für die Editionsphilologie und vor allem ihre Textausgaben besteht der Nutzen von Faksimiles erstens darin, den Leserinnen und Lesern einen eigenen Blick auf das Textmaterial zu ermöglichen und »die Rezeption nicht durch editorische Entscheidungen, und seien diese auch noch so plausibel begründet, zu manipulieren«9, und zweitens darin, den »Präsenzeffekt und die Auratizität des Originals« zu vermitteln.10 Diese beiden Eigenschaften treffen auch auf zwei erste Textbeispiele aus Jan Brandts »Gegen die Welt« und Tino Hanekamps »So was von da« zu, in denen (teilweise) handschriftliche Dokumente im ›Modus des Faksimiles‹ in die Romane inkludiert werden. Dass es sich jeweils um fiktive Schriftstücke handelt, die Teil einer erzählten Welt sind und von fiktiven Figuren hervorgebracht wurden, schließt nicht aus, dass sie als Zeugnisse eingesetzt werden, wie dies beim klassischen Faksimile der Fall ist. Um dem komplexen Verhältnis von Faktualität und Fiktionalität, das sich in den
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›System ohne General‹. Schreibszenen im digitalen Zeitalter. Hrsg. von Davide Giuriato/ Martin Stingelin/Sandro Zanetti. München: Wilhelm Fink 2006). Diese drei genannten Konzepte wurden im literaturwissenschaftlichen und insbesondere editionsphilologischen Diskurs ausführlich problematisiert und diskutiert, jedoch ist an dieser Stelle nicht der Raum gegeben, auf die Debatte und die Positionen genauer einzugehen. Deshalb sei hier nur auf die einen Überblick gebenden Beiträge von Siegfried Scheibe und Gunter Martens im Sammelband »Autor – Autorisation – Authentizität« (Beiträge der Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition. Hrsg. von Thomas Bein/Rüdiger Nutt-Kofoth/Bodo Plachta. Berlin: de Gruyter 2004) hingewiesen. Zur Bedeutung der Handschrift für die Rekonstruktion der Textgenese und für einen Überblick zur ›critique génétique‹ als die Teildisziplin, die sich darauf konzentriert, vgl. etwa Bohnenkamp, Anne: Autorschaft und Textgenese. In: Autorschaft. Positionen und Revisionen. Hrsg. von Heinrich Detering. Stuttgart: Metzler 2002, S. 62–79. Goerke, Jochen: Faksimile. In: Reclams Sachlexikon des Buches. Hrsg. von Ursula Rautenberg. Stuttgart: Reclam 2003, S. 202–204, hier S. 202f. Seidel, Robert: Editionsphilologie. In: Handbuch Literatur & Materielle Kultur. Berlin/Boston: de Gruyter 2018, S. 126–134, hier S. 131. Petzold, Kay Joe/Quack, Joachim Friedrich/Sˇimek, Jakub: Edition. In: Materiale Textkulturen. Konzepte – Materialien – Praktiken. Berlin/Boston: de Gruyter 2015, S. 219–231, hier S. 221.
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Pseudofaksimiles artikuliert, gerecht zu werden, sei hier deshalb vom ›Modus des Faksimiles‹ die Rede.11
Abb. 1
In beiden Textbeispielen wird Zeugnis abgelegt, der Wettschein (Abb. 1) aus Jan Brandts »Gegen die Welt«12 wurde sogar explizit zu diesem Zweck ausgestellt. Das betreffende Schriftstück wird als Abbildung eingefügt und weist die im Fließtext angekündigten Eigenschaften auf: »Ich nehme das zerknitterte, vor Fettflecken transparente Stück Papier entgegen und entfalte folgende Prophezeiung« 11 Die fingierten Dokumente und Faksimiles treten dabei auf eine ähnliche Weise in das Spannungsfeld von Faktualität und Fiktionalität ein wie etwa die Fotografien in literarischen Fototexten im Allgemeinen oder in den Werken W. G. Sebalds im Besonderen, vgl. dazu etwa die Einträge »Fiktion – Dokument« und »Photographie/Photographieren« in W. G. SebaldHandbuch. Hrsg. von Claudia Öhlschläger/Michael Niehaus. Stuttgart: Metzler 2017. 12 Brandt, Jan: Gegen die Welt. Roman. Köln: Dumont 2011.
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Abb. 2
(S. 888). Mittels dieses handgeschriebenen Wettscheins wird gegen Ende des Romans ein Bogen zurück zum Anfang geschlagen, wo Bernhard Kuper, der Vater des Protagonisten, die Wette abgeschlossen hatte, dass Georg Schatzschneider bis 2013 Bundestrainer werde (S. 34). Die Dokumentations- und Zeugnisfunktion wird noch verstärkt, indem der Schein datiert ist und nicht nur handgeschrieben, sondern auch unterschrieben ist. Das Dokument aus Tino Hanekamps »So was von da«13 (Abb. 2) hält den zeitlichen Ablauf einer Silvesterparty – und deren zahlreiche Modifikationen – fest und zeugt dabei sowohl in der visuellen Gestaltung als auch bei genauerem Nachverfolgen der Veränderungen, der Korrekturen und des Schreibgestus von einer wilden Nacht. Wie aus den unterschiedlichen Handschriften, den verwendeten Stiften und den Überschreibungen bzw. Streichungen ersichtlich ist, wurden darauf von verschiedenen Personen und zu differenzierten Zeiten u. a. Ausdrücke wie »SOS!!«, »Help!!!« oder »unfassbar …« notiert, zusätzliche Pfeile und Fragezeichen signalisieren Chaos und Durcheinander. Neben dem zeitlichen Ablauf der Silvesterparty wird also ein weiterer Prozess abgebildet: der des Überund Bearbeitens. Das Dokument wird zwar im Text angekündigt – »›Genau, zeig 13 Hanekamp, Tino: So was von da. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2011.
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mal den Zeitplan‹«, sagt der Protagonist (S. 170) –, aber nicht alle Namen oder Programmpunkte werden dabei auch genannt. Gerade durch die Namen, darunter Größen aus der Hamburger Musikszene wie »Begebernd« (Bernd Begemann) oder Spilker (der Sänger der Band ›Die Sterne‹: Frank Spilker), positioniert sich das Dokument deutlich an der Grenze von Faktualität und Fiktionalität.14 Indem es sich bei dem reproduzierten Schriftstück aus »So was von da« um die handschriftliche Bearbeitung eines ausgedruckt vorliegenden Dokuments handelt, leitet es über zu einem zweiten Typus der Handschrift, mit der sich die Literaturwissenschaft beschäftigt, nämlich die Handschrift, die dem Druck nicht vorausgeht, sondern folgt: Annotationen, Anmerkungen und Kommentare, also ›Lesespuren‹, die von Leserinnen und Lesern in den Büchern (anderer Autorinnen und Autoren) hinterlassen werden. Solche Leseprozesse und Anmerkungspraktiken sind für die Literaturwissenschaft von besonderem Interesse, wenn es sich dabei um Annotationen von Dichterinnen und Dichtern selbst handelt; seit einigen Jahren werden diese verstärkt, etwa im Rahmen der systematischen Auswertung von Autorenbibliotheken, erforscht.15 In einem ›Glossar‹ zum Thema Autorenbibliothek vermerkt Ulrike Trekmann unter dem Stichwort Annotation Folgendes: »Handschriftliche Einträge einzelner Wörter bis hin zu umfangreichen Notizen an Seitenrändern und auf Vorsatzblättern […] sind Lesespuren: Sie zeugen von den Auseinandersetzungen mit einem Text und den Rezeptionen eines Werkes. Als redigierende und korrigierende Eingriffe sind sie von textgenetischer Relevanz. Kritische, ergänzende, erklärende, mnemonische oder emotionale Anmerkungen offenbaren Meinungen, Überlegungen und Inspirationen der Leser und sind somit Indizien für Lektüreszenen und Leserbiographien.«16
Eine weitere Form, in der Handschrift im Gegenwartsroman eingesetzt wird, zitiert genau diesen Modus der Lesespur, wie sich beispielsweise anhand von 14 In »So was von da« verschwimmen die Grenzen von Faktualität und Fiktionalität auch insofern, als dass es sich bei dem Club, der im Roman eine zentrale Rolle spielt, recht eindeutig um eine fiktionalisierte Form des von Hanekamp selbst gegründeten Clubs ›Weltbühne‹ in Hamburg St. Pauli handelt (vgl. dazu z. B. Teutsch, Katharina: Vergiss deine Jugend. In: Der Tagesspiegel Online, 2011). (letzter Zugriff: 08. 05. 2020). 15 Zu aktuellen Beiträgen im Bereich der Forschung zu Autorenbibliotheken siehe etwa die Publikationen des Forschungsprojekts ›Autorenbibliotheken: Materialität – Wissensordnung – Performanz‹ im Forschungsverbund Marbach-Weimar-Wolfenbüttel sowie den Sammelband Autorenbibliotheken. Erschließung, Rekonstruktion, Wissensordnung. Hrsg. von Michael Knoche. Wiesbaden: Harrassowitz 2015, und darin zum Thema Materialität und Annotationsspuren insbesondere den Beitrag von Magnus Wieland. 16 Trenkmann, Ulrike/Höppner, Stefan: Forschungsfeld Autorenbibliotheken – 30 Stichworte. In: literaturkritik.de. (letzter Zugriff: 28. 04. 2020).
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Gianna Molinaris Roman »Hier ist noch alles möglich«17 nachvollziehen lässt. Es finden sich darin zwei verschiedene Typen von Annotationen: zum einen die Überarbeitung eines ›Fliegeralphabets‹ (Abb. 3), wobei die Schrift im Stil den ebenfalls im Buch enthaltenen Skizzen gleicht; und zum anderen aus dünneren Linien bestehende Lesespuren in Binnendokumenten, die sich durch die Schrifttype (Courier) vom Haupttext abheben (Abb. 4).
Abb. 3
Diese handschriftlich bearbeiteten Dokumente stammen aus einer Mappe, die die Protagonistin von einem Kollegen erhält. Sie fragt sich: »Warum hat er gewisse Wörter umkreist? Was hat ihn stutzig gemacht, dass er sie hervorhob von dem restlichen Text?« (S. 82) Diese Passage kann als vervielfachte Leseszene gelten: Die Leserinnen und Lesern des Romans treffen in ihrer Rezeption nicht nur auf eine weitere Lektüre, nämlich derjenigen der Dokumente durch die Erzählerin; sondern diese erzählte Leseszene erfolgt auch auf den Spuren einer zusätzlichen, noch tiefer liegenden Lektüre, nämlich der – chronologisch betrachtet ersten – Leseszene, in der der Kollege die Dokumente gelesen und ›beschrieben‹ hat. Annotationen dieser Art können demnach als Überlagerungen von Leseszenen und Schreibszenen gelten: Es ist eine schreibende Lektüre, die inszeniert wird, und sowohl das Lesen als auch das Schreiben zeigen sich in dieser
17 Molinari, Gianna: Hier ist noch alles möglich. Roman. Berlin: Aufbau 2018.
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Inszenierung als »nicht-stabiles Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste«.18
Abb. 4
3.
Schreibszene – handgeschrieben
Wie insbesondere in Schreibszenen, die Passagen von reproduzierter Handschrift involvieren, die zwei Aspekte der instrumentellen und physiologischen Bedingungen des Schreibens hervorgehoben werden, sei anhand einer längeren Textstelle aus Michael Lentz’ Roman »Schattenfroh«19 veranschaulicht. In diesem ›Requiem‹, um die ungewöhnliche Genreeigenbezeichnung zu verwenden, geht es um den Tod des Vaters und das Verhältnis des Autorprotagonisten zu selbigem; es geht um das Schreiben im Allgemeinen und – höchst selbstreferenziell – auch um das Schreiben dieses Buches »Schattenfroh« im Besonderen. 18 Campe, Rüdiger: Die Schreibszene. Schreiben. In: Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte. Hrsg. von Sandro Zanetti. Berlin: Suhrkamp 2012, S. 269–282, hier S. 271. Zur Übertragung des von Campe geprägten Begriffs der ›Schreibszene‹ auf die Lektüre als die ›Leseszene‹ siehe auch Carlos Spoerhases Überlegungen zu E.T.A. Hoffmanns Erzählung »Des Vetters Eckfenster« (Spoerhase, Carlos: Die spätromantische Lese-Szene: Das Leihbibliotheksbuch als ›Technologie‹ der Anonymisierung in E.T.A. Hoffmanns ›Des Vetters Eckfenster‹. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 83/4, 2009, S. 577–596) und ausführlicher zur Analogie auch Klaus Müller-Wille »Sezierte Bücher« (Hans Christian Andersens Materialästhetik. Paderborn: Wilhelm Fink 2016, S. 41– 42). Von der Aktualität des Begriffs der Leseszene zeugt auch ein sich zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels im Druck befindlicher Sammelband mit dem Titel »Leseszenen. Poetologie – Geschichte – Medialität«. Hrsg. von Irina Hron/Jadwiga Kita-Huber/Sanna Schulte. Heidelberg: Winter 2020. 19 Lentz, Michael: Schattenfroh. Ein Requiem, Frankfurt/Main: S. Fischer 2018.
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Visuell und buchgestalterisch besonders auffällig ist darin eine handschriftliche Passage, die insgesamt etwa 70 Seiten umfasst (Abb. 5). Dabei handelt es sich um die (dem Protagonisten als Straf- bzw. Erziehungsmaßnahme aufgetragene) vollständige Abschrift eines »akkurat mit Schreibmaschine angefertigte[n], alphabetisch geordneten Verzeichnis[ses] der mehr als 3100 Toten […], die am 16. November 1944 oder während eines anderen Bombenangriffs auf die Stadt umgekommen sind« (S. 58).
Abb. 5
Seine Aufgabe kommentiert der Erzähler wie folgt: »Was ist, wenn ich jemanden übersehe, ihn in meiner Abschrift vergesse, dann wäre er ein zweites Mal ausgelöscht. […] Jemand sagt mir: ›Mein Sohn, sei vorsichtig bei deiner Arbeit, denn sie ist eine Gottesarbeit; wenn du nur einen Buchstaben auslässest oder einen Buchstaben zu viel schreibst, zerstörst du die ganze Welt.‹ […] Meine Finger bluten. Ich lecke das Blut ab, sollte es auf das Papier tropfen, würden alle Bomben noch einmal fallen, und ich würde den Tod eines jeden Toten sterben […]. [D]er Kopist aber, der ich bin, weiß nur zu gut, dass er die Schrift manipulieren kann, ein Kopist ist Gottes unzuverlässigstes Geschöpf, und das wissen auch die beiden Männer, die mir […] mitteilen, ich müsse beim geringsten Fehler […] das gesamte bis dahin beschriebene Papier aufessen« (S. 60).
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In dieser Passage wird nicht nur auf die (hier vor allem christlichen) Traditionen des Abschreibens und Kopierens verwiesen und das Material – als sogar essbares – evoziert, sondern vor allem sehr eindrücklich verdeutlicht, dass Schreiben Arbeit ist, und zwar auch körperliche Arbeit. Schreiben, das wird in dieser Rahmung der Handschrift inszeniert und damit werden die zentralen Aspekte aus Rüdiger Campes Konzeption der Schreibszene aufgegriffen, ist also ein körperlicher – im Falle des Beispiels aus »Schattenfroh« sogar ein körperlich anstrengender – Arbeitsprozess, in den verschiedene Materialien und Instrumente involviert sind. Das Schreiben als Arbeit am bzw. mit dem Material, um den letzten dieser oben genannten drei Punkte aufzugreifen, wird auch in Clemens J. Setz’ Roman »Indigo«20 fokussiert, in dem es um einen Lehrer namens Clemens Setz geht, der an einer Schule für an dem paranormalen Indigo-Syndrom leidende Kinder unterrichtet. In der Autorenbiografie wird zudem behauptet, dass bei Clemens Setz selbst noch Nachwirkungen der Krankheit aufträten. Es handelt sich bei »Indigo«, wie von der Forschungsliteratur verschiedentlich festgestellt wurde21, um ein aufwendig konstruiertes und höchst selbstreferenzielles und autofiktionales Changieren zwischen Faktualität und Fiktionalität, das also auch im Paratext fortgesetzt wird. Ein weiteres semiparatextuelles Element, das zu der Überlagerung der Ebenen beiträgt, ist das Inhaltsverzeichnis, mit dem der Roman ohne weitere Kontextualisierung beginnt und das wirkt, als wäre es einfach nachträglich mit der Hand auf die Vorsatzblätter geschrieben (Abb. 6). Die handschriftliche Form und Bezeichnungen wie »Abbildung, kopiert aus einem Buch, Text auf die Rückseite geklebt. Rotkarierte Mappe« markieren eine Vorläufigkeit, die dafür spricht, das Dokument als Teil des Planungsprozesses des Romans selbst zu interpretieren: Es wirkt wie eine Art Gliederung oder Sortierung. Und auch die tendenziell schwer lesbare, wenig sorgfältige Handschrift scheint sich weniger an ein Publikum zu richten, als einen Gebrauchstext für den Autor selbst darzustellen. Der oben zitierte Vermerk verweist auf eine später eingebundene Kopie (Abb. 7), eine fingierte Quelle, die wiederum mit einer handschriftlichen Notiz versehen 20 Setz, Clemens J.: Indigo. Roman. Berlin: Suhrkamp 2012. 21 Siehe z. B. Krumrey, Birgitta: Der Autor in seinem Text. Autofiktion in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur als (post-)postmodernes Phänomen. Göttingen: V&R unipress 2015; Boog, Julia: Schreib-Stoff. Über den Umgang mit der Schrift in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. In: Traditionen, Herausforderungen und Perspektiven in der Germanistischen Lehre und Forschung. Hrsg. von Emilia Dentschewa/Maja Razbojnikova-Frateva/ Emilia Baschewa et al. Sofia: Universitätsverlag St. Kliment Ochridski 2015, S. 368–381, hier S. 368; Goggio, Alessandra: Eine Überwindung der Postmoderne? Neue Tendenzen der österreichischen Literatur am Beispiel von Clemens J. Setz und Wolf Haas. In: Deutsche Gegenwarten in Literatur und Film. Hrsg. von Olivia Díaz Pérez/Ortrud Gutjahr. Tübingen: Stauffenburg 2017, S. 29–45, hier S. 30–34.
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Abb. 6
ist: »Häusler-Z. Das Wesen der Ferne S. 13«. Bei fast allen Verwendungen von Handschrift im Roman »Indigo« handelt es sich um Quellenbezeichnungen zu Abbildungen oder Kopien, womit ein Verwendungstypus von ihr aufgegriffen wird, der zwar im Rahmen des Romans und dessen typografischen Dispositivs22 fremd erscheint, für Schreibprozesse oder auch wissenschaftliches Arbeiten jedoch nicht ungewöhnlich ist. Durch die Handschrift sowie die Mappen, die Kopien und auch den Konstruktionsplan inszeniert sich »Indigo« als Materialsammlung, in der die Handschrift zugleich Organisationsmedium und ein Schrifttypus unter vielen ist.23 Sowohl diese Heterogenität als auch die Handschrift als vorläufige Form der Schrift wären eigentlich aus einem Roman zu tilgen, bevor er erscheint. So
22 Zum Begriff des ›typographischen Dispositivs‹ siehe grundlegend Wehde, Susanne: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung. Tübingen: Niemeyer 2000, S. 119–126. 23 Besondere Aufmerksamkeit hinsichtlich der grafischen Vielfalt verdient das in Fraktur gesetzte Pseudofaksimile einer Kalendergeschichte mit dem Titel »Die Jüttnerin von Bonndorf«, die fälschlicherweise Johann Peter Hebel zugeschrieben wird (S. 80–81).
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Abb. 7
präsentiert sich »Indigo« folglich als unfertiges, im Prozess befindliches Buchprojekt.24 Dass das Schreiben – und zwar sowohl das Schreiben als materielle Geste als auch das Schreiben als Tätigkeit des/der Schriftstellers/Schriftstellerin – ein Arbeitsprozess ist, wurde anhand dieses Beispiels schon deutlich. Noch stärker wird diese Prozessualität in der handschriftlichen Passagen von Sasˇa Stanisˇic´s
24 Zu einem ähnlichen Schluss gelangt auch Jörg Pottbeckers: »Der Eindruck, der sich mit dem handgeschriebenen Inhaltsverzeichnis einstellt und folgerichtig mit einer handschriftlichen Notiz endet, suggeriert werden soll [sic!], ist der eines unfertigen, lediglich in der Planungs- oder bestenfalls Recherchephase befindlichen Romans.« Ähnlich wie Wolf Haas’ Roman »Die Verteidigung der Missionarsstellung« läge »Indigo« »gewissermaßen lediglich in einer Work in Progress-Version vor, an die die autofiktionale Autor-Figur nochmal Hand anlegen muss« (Pottbeckers, Jörg: Der Autor als Held. Autofiktionale Inszenierungsstrategien in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Würzburg: Königshausen & Neumann 2017, S. 195 f.).
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Roman »Vor dem Fest«25 fokussiert, in der das Schreiben als eine Arbeit am Text und mit dem Text dargestellt wird: als Streichungs- und Überarbeitungsprozess.
Abb. 8
Die – hier visuelle – Gleichzeitigkeit verschiedener Stimmen und Versionen korrespondiert mit der Multiperspektivität des Gesamttextes26 und bei dem konkreten, hier handschriftlich modifizierten Text handelt es sich um eine Sage mit dem Titel »Der goldene Ring des Kesselflickers«. Von dieser Sage und einer abweichenden Nacherzählung selbiger ist an anderer Stelle im Roman noch einmal explizit die Rede: »Mu hat ihm Jochims Geschichte vorgelesen, als er klein war. Und er sie ihr, als sie depri war. […] Der Ring des Kesselflickers. Jochim wird unsichtbar, die Leute kriegen Angst, er entscheidet sich, trotz krasser Pluspunkte, gegen die Unsichtbarkeit, The End. Hm. 25 Stanisˇic´, Sasˇa: Vor dem Fest. Roman. München: Luchterhand 2014. 26 Diese Vielstimmigkeit wird von der Forschungsliteratur verschiedentlich hervorgehoben. Mit Blick auf die handschriftlich bearbeitete Passage bemerkt etwa Catharina Koller in Kindlers Literatur Lexikon: »Diese Aneignung und Überlagerung unterschiedlicher Texte, Erzähltraditionen und Motive wird in einer Passage auch in ihrem palimpsest-artigen Schriftbild sichtbar und setzt sich über den Roman hinaus fort« (Koller, Catharina: Sasˇa Stanisˇic´: Vor dem Fest, in: Kindlers Literaturlexikon Online. 2015).
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Mu erzählt das anders. Jochim bleibt unsichtbar und ärgert die Leute, die ihn früher immer verarscht haben« (S. 200).
Die Eingriffe in die Sage werden also innerhalb der Erzählung plausibilisiert, wobei jedoch nur die mündliche Version thematisiert wird. Unklar hingegen bleibt, wer die eingreifenden Veränderungen des Schrifttextes vorgenommen hat, und auch im Nachweis des Sagentextes, der im Paratext zu finden ist, heißt es eher vage: »In Teilen freie Bearbeitung der Quelle durch Sasˇa Stanisˇic´.« Diese Frage nach der Urheberschaft bzw. nach der Autorschaft von Schrift wird im Medium der Handschrift auf besondere Weise an einen Körper gekoppelt, was vielleicht als der interessanteste der drei Teilaspekte – Materialität, Prozessualität und Körperlichkeit – gelten kann.
4.
(Hand-)Schrift, Körper und Autorschaft
Für ihre Verwendung im literarischen Text besonders relevant ist, dass Handschrift durch einen »performativen Körperbezug«27 gekennzeichnet ist, wie Mark A. Halawa und Klaus Sachs-Hombach im Rekurs auf Roland Barthes’ »Variations sur l’écriture« konstatieren. Barthes spricht dort, wie eingangs zitiert, explizit von der Handschrift, »die den Zug der Hand einschließt«, und von der spezifischen »Beziehung der skripturalen Geste zum Körper«28. Monika Schmitz-Emans wählt, anschließend an den schon bestehenden Diskurs um die Spurförmigkeit der Schrift, den Ausdruck der »Körperspur«29, um die Körperbindung der Schrift zu akzentuieren. Diese Körperbindung besteht nun vordergründig zunächst auf realer, physischer Ebene: Zwar lässt die Handschrift (solange man diese nicht im Rahmen der Grafologie betrachtet) nicht auf den Charakter der Schreibenden schließen, aber sie verweist doch zumindest auf deren physische Präsenz zu einem vergangenen Zeitpunkt. Indem sie dabei als (relativ) individuell gilt, erfüllt sie durch diese Präsenzbezeugung eine authentifizierende Funktion, die sich nicht zuletzt in der fortbestehenden Relevanz der handschriftlichen – ›eigenhändigen‹ – Unterschrift manifestiert.30 Eben diese Eigenschaft der Handschrift spielt auch eine maßgebliche Rolle beim oben genannten Potenzial des Faksimiles, Präsenzeffekt 27 Halawa, Mark Ashraf/Sachs-Hombach, Klaus: Zur Medialität der Handschrift. In: Diesseits des Virtuellen. Handschrift im 20. und 21. Jahrhundert. Hrsg. von Urs Büttner. Paderborn: Wilhelm Fink 2015, S. 33–45, hier S. 34. 28 Barthes, Variations sur l’écriture, S. 9. 29 Schmitz-Emans, Handschrift als Körperspur, S. 227. 30 Vgl. zur (Konstruktion von) Auratizität, Authentizität und Originalität der Unterschrift insbesondere den Sammelband »Sign Here! Handwriting in the Age of New Media«. Hrsg. von José van Dijck/Sonja Neef. Amsterdam: University Press 2006.
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und Auratizität zu vermitteln. Vor diesem Hintergrund stellt sich mit Blick auf die zuvor dargestellten Textbeispiele unmittelbar die Frage, von wem die Handschrift im Roman stammt: Wessen Hand hat den Stift geführt, wer hat eine Spur, eine Körperspur, im Buch hinterlassen? In den beiden hochgradig autofiktionalen Texten von Clemens J. Setz und Michael Lentz lässt sich diese Frage jeweils mit dem ›Autor-Erzähler-Protagonisten‹ beantworten, auch wenn das nur im Falle von »Schattenfroh« explizit im Paratext aufgelöst wird: »Die Handschriften auf den Seiten 61–136, 206–207 stammen vom Autor«, heißt es im Impressum. Nur bedingt aufschlussreich ist der Paratext von »Vor dem Fest« in Bezug auf die konkrete Urheberschaft der Handschrift, sodass letztendlich sowohl auf der Ebene der Diegese als auch auf der Ebene der Buchherstellung unklar bleibt, wer hier geschrieben hat.31 In anderen Texten, die hier als Beispiele aufgeführt wurden, wird die Handschrift konkret einer fiktiven Figur zugeordnet: in Gianna Molinaris »Hier ist noch alles möglich« etwa dem Kollegen, der die Mappe verliehen hat, oder in Tino Hanekamps »So was von da«, etwas unspezifischer, den Veranstaltern der Party. Doch dass eine solch explizite Zuordnung der Handschrift zu einer fiktiven Figur der Diegese auf den ersten Blick eindeutiger und unproblematischer erscheint als etwa die Nennung des/der Autors/Autorin im Paratext, erweist sich gerade durch den der Handschrift inhärenten Körperbezug als Irrtum. Dies lässt sich nachvollziehen anhand einer weiteren Passage aus Jan Brandts Roman »Gegen die Welt«, in dem neben dem oben erwähnten Wettschein auch drei handschriftlich modifizierte Briefe inkludiert wurden (Abb. 9). Die Briefe wie auch die handschriftlichen Ergänzungen und Veränderungen werden der an Wahnvorstellungen leidenden Figur Stefan Reichert zugeschrieben. Die Hand, die diese Anmerkungen gemacht hat, muss jedoch im Gegensatz zum fiktiven Stefan real sein – tatsächlich gehört sie, was angesichts der an Korrekturen erinnernden Form der Anmerkungen einer gewissen Komik nicht entbehrt, Martin Kordic´, dem Lektor Jan Brandts.32
31 Im erweiterten Paratext, genauer gesagt im Twitter-Feed des Autors, finden sich interessanterweise Fotografien von Textdokumenten, die der Textstelle aus »Vor dem Fest« nicht unähnlich sind – es handelt sich dabei jedoch um Korrekturfahnen zu Sasˇa Stanisˇic´s 2019 erschienenem Roman »Herkunft« (, letzter Zugriff: 05. 05. 2020). Die dort zu sehende Handschrift ist somit dem/der Lektor/ Lektorin zuzuordnen und unterscheidet sich bei genauerem Hinsehen durchaus von der Handschrift in »Vor dem Fest«. Für den Hinweis auf diesen Tweet danke ich Simon Sahner, der sich in seinem Beitrag für den vorliegenden Sammelband auch ausführlich mit selbigem auseinandersetzt. 32 Diese Information stammt aus einem persönlichen Gespräch mit dem Autor Jan Brandt, in dem er sich außerdem selbst als den Urheber des zweiten handgeschriebenen Dokuments, des oben erwähnten Wettscheins (Abb. 2), identifiziert hat.
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Abb. 9
Es scheint, als würde sich durch die Handschrift also nicht nur ein – recht lebendiger – Körper des/der Autors/Autorin (oder einer anderen an der Buchproduktion beteiligten Instanz) in den Text einschreiben, sondern sich auch ein gewisses metaleptisches Potenzial ergeben: Die Handschrift wird in diesen Fällen geliehen und zwar über diegetische Grenzen hinweg. Die Handschrift überschreitet somit die Grenze zwischen der Realität der Buchproduktion, also der Erzählwelt bzw. der ›world of the telling‹, auf der einen Seite und der fiktionalen, erzählten Welt, also der ›world of the told‹ (um es mit den Begriffen von John Pier auszudrücken)33, auf der anderen Seite.
5.
Das Dispositiv der Handschrift
Wie Schmitz-Emans argumentiert, ist für die Handschrift jedoch nicht in erster Linie die »tatsächliche ›Körperbindung‹, sondern die vorgebliche – genauer: das, was sie ›bedeutet‹, das, als was sie diskursiv modelliert worden ist« – bedeu33 Pier, John: Metalepsis (revised version, 13. 07. 2016). In: the living handbook of narratology.
(letzter Zugriff: 20. 11. 2018).
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tungsrelevant.34 Auch ohne also notwendigerweise Fragen nach dem konkreten Körper, dem authentischen Prozess und dem wirklichen Material aufwerfen oder gar beantworten zu müssen, inszeniert die in den Romanen reproduzierte Handschrift Körperlichkeit, Prozessualität und Materialität. Zudem spricht Schmitz-Emans, um die Variationen zu erfassen, in denen literarische Texte auf verschiedene Konzeptionen von Handschriftlichkeit rekurrieren, von der »›Handschrift‹ als literarische[m] Dispositiv«.35 Denn literarische Texte können in vielfältiger Weise auf ihren eigenen handschriftlichen Ursprung verweisen oder handschriftliche Dokumente einbinden. Dazu gehören auch typografische Techniken, in denen sich die oben herausgearbeiteten Eigenschaften der Handschrift, wenn auch in abgeschwächter Form, wiederfinden. Denn auch wenn, wie etwa in Thea Dorns »Die Unglückseligen«36, ein Brief zwar nicht durch reproduzierte Handschrift, sondern durch suggerierte, typografisch nachgebildete Handschrift – ein sogenanntes Script Typeface37 – evoziert wird, vermittelt dies ›Handschriftlichkeit‹ und damit verbundene Eigenschaften. Dies gilt ebenfalls, um die Abstraktion noch weiterzutreiben, für Kursivschriften, deren Verbindung mit der Handschrift in gleich doppelter Weise besteht: Zum einen wurden Schreibschriften, bei denen die Buchstaben miteinander verbunden sind, auch als Kurrentschriften oder eben Kursive bezeichnet; zum anderen hat sich die kursive Druckschrift im 16. Jahrhundert aus einer solchen Handschrift (der humanistischen Kursiven) entwickelt. Deshalb scheint es besonders naheliegend, dass die Kursivschrift in literarischen Texten häufig dazu verwendet wird, handschriftliche Dokumente zu markieren und vom Fließtext abzuheben.38 Diese Abstraktionskette – von der originalen über die reproduzierte bis hin zur künstlichen bzw. getippten Handschrift und schließlich zur Kursivschrift – muss hier jedoch nicht enden. Auch wenn diese Glieder stets noch das Dispositiv der Handschrift aufrufen, treffen die damit verbundenen Eigenschaften der Körperlichkeit, Prozessualität und Materialität doch auf jede Schrift im Roman, auf Schrift generell zu. Jedes Schreiben braucht einen Körper, jedes Schreiben ist 34 Schmitz-Emans, Handschrift als Körperspur, S. 227. 35 Schmitz-Emans, Monika: Fingierte Handschriften. Über (Pseudo-)Faksimiles als literarisches Dispositiv. In: Diesseits des Virtuellen. Handschrift im 20. und 21. Jahrhundert. Hrsg. von Urs Büttner. Paderborn: Wilhelm Fink 2015, S. 169–193, hier S. 170. 36 Dorn, Thea: Die Unglückseligen. Roman. München: Knaus 2016, S. 407–427. 37 Zu Script Typefaces und der »›Remediation‹ der Handschrift« im Digitalen vgl. Till A. Heilmann, Till A.: Handschrift im digitalen Umfeld. In: Handschreiben – Handschriften – Handschriftlichkeit. Hrsg. von Manuela Böhm/Olaf Gätje. Duisburg: Universitätsverlag Rhein-Ruhr 2014, S. 169–192, hier S. 180ff. 38 In den Textbeispielen handelt es sich stets, anders wäre es angesichts der Massenproduktion gedruckter Bücher auch nicht möglich, um reproduzierte Handschrift; über das ›Dispositiv der Handschrift‹ lassen sich jedoch spezifische Qualitäten derselben abstrahieren, sodass auch in der mechanischen Reproduktion Eigenschaften wie die Auratizität oder der Körperbezug zwar nicht erhalten, aber dennoch als Konzept aufgerufen werden.
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Arbeit, Arbeit an und mit Materialien, und jede Schrift ist Ergebnis oder vielmehr Momentaufnahme eines Prozesses, der beispielsweise durch eine überarbeitende Lektüre fortgesetzt werden kann und damit unabgeschlossen ist.
6.
(Hand-)Schrift als Inszenierungs- und Akzentuierungsstrategie
Die Handschrift in ihrer grafischen Inszenierung jedoch macht diese Eigenschaften der Schrift spürbar – sie macht, um es in Anlehnung an Viktor Sˇklovskij zu formulieren, die Schrift ›schriftig‹.39 Diese Spürbarkeit der Materialität, Prozessualität und Körperlichkeit der Schrift kann als ein Effekt des Einsatzes von Handschrift als poetisches Verfahren gelten. Häufig korreliert dieser Einsatz als ästhetisches Mittel mit inhaltlichen Aspekten, die eng mit den Eigenschaften der Schrift zusammenhängen: In einigen der Texten, so etwa bei Molinari, geht es um eine Spurensuche; »Indigo« ist eine einzige programmatische Verunsicherung, was die Authentizität oder Glaubwürdigkeit von Dokumenten betrifft; und in »Schattenfroh« wird von Beginn an deutlich, dass die Schrift bzw. das Schreiben das zentrale Thema des Buches ist, wenn es schon im ersten Satz, so wie auch im gleichlautenden letzten Satz, heißt: »Man nennt es schreiben.«40 Eine weitere Perspektive, unter der sich das Phänomen der Handschrift im literarischen Text betrachten lässt, ist die der Zeit und der Gesellschaft, in der die Romane erscheinen: Sämtliche Textbeispiele stammen aus der Zeit nach der Jahrtausendwende. Die Präsenz der Handschrift im Text wirkt fast wie eine Reaktion auf das viel beschworene Aussterben der Handschrift41 und scheint in einer Reihe mit anderen – nostalgisch gegenüber dem als unpersönlich geltenden Digitalen wertgeschätzten – analogen Medien zu stehen, vergleichbar mit dem 39 Die Aussage Viktor Sˇklovskijs, an die diese Formulierung angelehnt ist, stammt aus dessen einschlägigem Text »Kunst als Kunstgriff«: »Um für uns die Wahrnehmung des Lebens wiederherzustellen, die Dinge fühlbar, den Stein steinig [Hervorhebung – J. N.] zu machen, gibt es das, was wir Kunst nennen. Das Ziel der Kunst ist, uns ein Empfinden für das Ding zu geben, ein Empfinden, das Sehen und nicht nur Wiedererkennen ist« (Sˇklovskij, Viktor: Kunst als Kunstgriff. In: Theorie der Prosa. Hrsg. und übersetzt von Gisela Drohla. Frankfurt/ Main: S. Fischer 1966, S. 7–27, hier S. 14). 40 Lentz, Schattenfroh. 2018, S. 7 und 1008. 41 Das »Ende der Handschrift« beschäftigt die Feuilletons in regelmäßigen Abständen und mit unterschiedlich drastischen Formulierungen, von »Wir verlernen die Handschrift« über »Die Handschrift verschwindet« bis hin zu »Stirbt die Handschrift aus?« (Praschl, Peter: … das Ende der Handschrift? In: Süddeutsche Zeitung Magazin online vom 14. 02. 2012; Malberger, Lara: Wir verlernen die Handschrift. In: Zeit.de vom 14. 04. 2018; Ingold, Felix Philipp: Diese unverwechselbare persönliche Spur. In: NZZ online vom 16. 03. 2017; Arens, Christoph: Schreiben mit der Hand ist fürs Gehirn wichtig. In: Welt.de vom 23. 01. 2018).
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Boom von Bullet Journaling und Handlettering oder, um den Bereich der Schrift zu verlassen, dem Revival der Vinyl-Langspielplatte.42 Ein Zusammenhang mit der Entwicklung von Digitalität steht tatsächlich zu vermuten, jedoch eher in Hinblick darauf, dass erst durch den digitalen OffsetDruck Effekte wie das Einbinden der Handschrift überhaupt möglich werden: Genau der technische Entwicklungsstand, in dem die Handschrift keine notwendige Vorstufe der gedruckten Schrift mehr darstellt und auch Romane »born digital documents«43 sind, kann als die – oder wenigstens eine – Bedingung der Möglichkeit einer Rückkehr der Handschrift in die Literatur gelten. In der Handschrift, das lässt sich abschließend zusammenfassen, werden also auf verschiedenen Ebenen eigentlich entgegengesetzte Pole miteinander in Verbindung gebracht oder überlagert. Es interferieren nicht nur die digitale Schreibszene des Buchdrucks im 21. Jahrhundert und (Reminiszenzen an) die analoge Schreibszene des Manuskripts. Gleichzeitig werden auch die Differenzen zwischen unfertigem und abgeschlossenem Buch, zwischen Produktion und Rezeption desselben, mithin zwischen Schreibszene und Leseszene unterminiert. Diese Gegensätze, die eigentlich nicht unbedingt als einander widersprüchlich, aber doch zumindest als ungleichzeitig gelten müssen, werden miteinander verknüpft, indem etwa im abgeschlossenen und materiell geschlossenen Buch ein unfertiges Buchprojekt inszeniert wird oder aber eine Leseszene zu einer Schreibszene wird, die wiederum zu einer Leseszene wird, in der auch wieder geschrieben wird – ein potenziell unabschließbarer Überlagerungsprozess. Wenn sich dabei außerdem die Produktionsinstanzen in den Roman einschreiben, resultiert dies in einem Einbruch des Realen in die Fiktion oder aber in einem metaleptischen Ausbrechen fiktionaler Figuren in die außerdiegetische Realität, indem sie plötzlich eine eigene reale Handschrift haben. Im Medium der Handschrift verschwimmen die Grenzen oder werden durchlässig.
42 Zum Phänomen des »post-digital mindfulness trend« und der Rolle der Handschrift mit besonderem Fokus auf sogenannte Bullet Journals und Handlettering siehe beispielsweise Wickberg, Adam: New Materialism and the Intimacy of Post-digital Handwriting. In: Trace. A Journal of Writing, Media and Ecology 4, 2020. (letzter Zugriff: 08. 05. 2020). 43 Als ›born digital documents‹ werden Textstücke bezeichnet, die von Beginn an oder zuerst in digitaler Form, d. h. etwa online oder als Word-Dokument, existiert haben. Zu den Herausforderungen, die diese Dokumente für literarische Archive, Nachlassverwaltung und die Schreibprozessforschung bedeuten, sowie zahlreichen Literaturverweisen zum Thema vgl. etwa Ries, Thorsten: Das digitale dossier génétique. Überlegungen zu Rekonstruktion und Edition digitaler Schreibprozesse anhand von Beispielen aus dem Thomas Kling Archiv. In: Textgenese und digitales Edieren. Hrsg. von Katharina Krüger/Elisabetta Mengaldo/Eckhard Schumacher. Berlin/Boston: de Gruyter 2016, S. 57–84.
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7.
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Felix Böhm
»Fake it until you believe it« – Ethnokategoriale Spuren von Schreib-Rede-Prozessen in Janne Tellers »Komm« und Matthias Göritz’ »Parker«1
1.
Einleitung
Schreiben wird typischerweise als sprachproduktive Handlung zur Produktion eines schriftlichen Textes verstanden. Dass Schreibhandlungen und -prozesse auch in einem engen Zusammenhang mit Referaten, Vorträgen, Reden etc. und demzufolge mit der Durchführung einer primär monologischen mündlichen Sprachhandlung stehen können, wird demgegenüber allenfalls am Rande wahrgenommen. Entgegen dieser eingeschränkten Perspektive stellt die erfolgreiche Bewältigung von Schreib-Rede-Prozessen – ebenso wie von Schreibprozessen nach prototypischem Verständnis – in der Gegenwartsgesellschaft einen Ausweis von Professionalität und Qualifikation dar, etwa im Rahmen von Präsentationsprüfungen, Disputationsvorträgen oder Wahlkampfreden. Entsprechende Kompetenzen haben somit großen Einfluss auf die Möglichkeiten der individuellen Lebensgestaltung, der gesellschaftlichen Teilhabe und der beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten. Im Folgenden wird daher diese wenig beachtete Perspektive in den Fokus gerückt. Im Zentrum der Analyse stehen die Gegenwartsromane »Komm« von Janne Teller und »Parker« von Matthias Göritz – zwei Beispiele für Texte, die in der literarischen Inszenierung Schreib-Rede-Prozessen viel Raum geben. In der Analyse wird gefragt, auf welche Weise die beiden Romane Schreib-Rede-Prozesse literarisch inszenieren und welche Spuren ethnokategorialen Wissens sie in Abhängigkeit von der jeweiligen gesellschaftlichen Situierung über diese sprachproduktiven Prozesse aufweisen. Die Analyse wird vor dem Hintergrund
1 Der vorliegende Beitrag stellt eine ausgearbeitete und erweiterte Fassung des Vortrags »›Fake it until you believe it.‹ Die literarische Inszenierung von Schreib-Rede-Prozessen in Janne Tellers ›Komm‹ und Matthias Göritz’ ›Parker‹« dar, den ich am 27. 02. 2020 auf der interdisziplinären Tagung »Schreiben, Text und Autorschaft – Zur Thematisierung, Inszenierung und Reflexion von Schreibprozessen in ausgewählten Medien und historischen Selbstzeugnissen« an der Universität Gießen gehalten habe.
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eines größeren empirischen Forschungsprojekts zu Schreib-Rede-Prozessen in verschiedenen fachlichen und institutionellen Kontexten vorgenommen. Der Beitrag beginnt mit einer theoretischen Annäherung an Schreib-RedeProzesse als Forschungsgegenstand und zeigt zentrale Forschungsdesiderate in Auseinandersetzung mit dieser Form komplexer sprachproduktiver Handlungen auf. In dem darauffolgenden Kapitel wird herausgestellt, inwiefern gerade literarische Texte einen geeigneten Untersuchungsgegenstand zur Rekonstruktion ethnokategorialen Wissens über Schreib-Rede-Prozesse darstellen. Diese beiden theoriebezogenen Kapitel bereiten die Analyse der zwei genannten Romane vor, die ebenfalls in zwei Kapiteln im Zentrum des Beitrags stehen.
2.
Forschungsgegenstand: Schreib-Rede-Prozesse
Im Folgenden steht eine spezifische Form sprachproduktiver Prozesse im Fokus, die trotz einer strukturellen Nähe in vielfältiger Hinsicht von typischen Textproduktionsprozessen abweichen.2 Diese Unterschiede tragen dazu bei, den Gegenstand des vorliegenden Beitrags sowie das Erkenntnisinteresse abzustecken. Schreiben wird spätestens seit dem Schreibprozessmodell von Hayes/Flower (1980) als ein iterativer, rekursiver und interaktiver Prozess aufgefasst, in dem zeitlich organisiert durch die Ausführung verschiedener Teilhandlungen ein Text produziert wird.3 Dieses Textprodukt besteht typischerweise auch nach Beendigung des Textproduktionsprozesses weiter und bietet somit z. B. die Möglichkeit, in einer »zerdehnte[n] Sprechsituation«4 Informationen zu übermitteln und zu überliefern, ohne dass dabei Produzierende und Rezipierende kopräsent sind. 2 Bereits Grésillon (1995/2012) wirbt dafür, die starke Orientierung an der prototypischen Vorstellung vom Schreiben aufzugeben und insbesondere mit Blick auf die »Modell- und Theoriebildung die Vielfalt der Schreibprozesse weit mehr [zu] berücksichtigen: Nur so können vorschnelle Verallgemeinerungen vermieden werden«. Eine solche Ausweitung der Perspektive ist zumindest in neueren Handbüchern zur Schreibprozessforschung und Schreibdidaktik allerdings nach wie vor nicht repräsentiert. Grésillon, Almuth: Über die allmähliche Verfestigung von Texten beim Schreiben. [Erstveröffentlichung 1995] In: Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte. Hrsg. von Sandro Zanetti. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2012, S. 152–186, hier S. 156. Vgl. Becker-Mrotzek, Michael/Grabowski, Joachim/Steinhoff, Torsten (Hrsg.): Forschungshandbuch empirische Schreibdidaktik. Münster: Waxmann 2017; Brinkschulte, Melanie/Kreitz, David (Hrsg.): Qualitative Methoden in der Schreibforschung. Bielefeld: wbv 2017. 3 Vgl. Hayes, John R./Flower, Linda S.: Identifying the Organization of Writing Processes. In: Cognitive Process in Writing. Hrsg. von Lee W. Gregg/Erwin R. Steinberg. Hillsdale: Lawrence Erlbaum 1980, S. 3–30. 4 Vgl. Ehlich, Konrad: Zum Textbegriff. In: Ders.: Sprache und sprachliches Handeln. Bd. 3. Diskurs – Narration – Text – Schrift. Berlin: de Gruyter [1984] 2007, S. 531–550, hier S. 542.
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Während ein Textproduktionsprozess zeitlich organisiert ist, unterliegt dessen Produkt somit keiner Zeitlichkeit. Es stellt selbst keinen Prozess dar. Im Gegensatz zu diesem klassischen Verständnis von Schreibprozessen weisen die an dieser Stelle fokussierten Schreib-Rede-Prozesse im Zusammenhang mit Manuskriptreden grundsätzlich eine zweiphasige sprachproduktive Struktur auf. Die zwei Prozessphasen lassen sich als Redetext-Produktion und Rede-Performanz bezeichnen. In der Redetext-Produktion wird in einer ersten Situation die Rede-Performanz vorbereitet und eine Performanz-Vorlage erstellt. Hierbei handelt es sich um das Redemanuskript, das wenigstens den schriftlich fixierten Redetext umfasst, der in der Rede-Performanz mündlich realisiert wird. Zudem kann es auch performative Elemente berücksichtigen, z. B. Hinweise auf Pausen oder den Einsatz von spezifischen Gesten. Empirisch erwartbar umfasst dieses Manuskript jedoch nicht alle paraverbalen und nonverbalen Aspekte der späteren Performanz. Dies hat vor allem zwei handlungspraktische Gründe: Erstens können diese Performanz-Aspekte nur mit einem hohen Aufwand exakt notiert werden und zweitens erschwert die aufwendige Notation für die Sprechenden die Lesbarkeit des Manuskripts im Kontext der Rede-Performanz stark. Als »Planerals-destinierter-Sprecher«5 treffen sie in der Redetext-Produktion daher in der Regel prospektive Entscheidungen, ohne jedes Zeichen zu determinieren. Das Ergebnis ist ein Manuskript, das mit der späteren Rede-Performanz nicht zeichenidentisch ist. Demzufolge ist darin nach wie vor eine relative Handlungsvarianz vorgesehen, die in der zweiten Prozessphase in eine zeitlich organisierte, kohärente Performanz überführt werden muss. Vor diesem Verständnis stellt die Rede-Performanz ebenfalls eine sprachproduktive Prozessphase dar. In dieser zweiten Prozessphase stehen Redner_innen als »Sprecher-als-ehemaliger-Planer«6 vor der Aufgabe, auf Basis der Vorbereitung eine Rede-Performanz als stetigen Zeichenstrom (mündliche Rede, Mimik, Gestik etc.) situativ zu realisieren. Das verschriftete Manuskript dient dabei ähnlich der Präsentationsfolien in einem Präsentationsprozess als Scharnier zwischen beiden Prozessphasen7 und überliefert in dieser Funktion die fixierte Vorbereitung in die Performanzsituation. Dabei überführen die Sprechenden die darin definierte Handlungsvarianz, die aufgrund von Leerstellen oder konkretisierten Varianzplanungen besteht, in eine kohärente Rede-Performanz.8 Manuskript- und Redetext sind daher auch abseits der Frage nach 5 Gätje, Olaf: Die Schülerpräsentation im Gymnasium: Eine theoretische und historische Untersuchung visuell gestützten Sprechens. Berlin: Erich Schmidt 2020, S. 223. 6 Ebd., S. 223. 7 Vgl. Baurmann, Jürgen/Berkemeier, Anne: Präsentieren – multimedial. In: Praxis Deutsch 244, 2014, S. 5–11, hier S. 8. 8 Die Rede-Performanz wird in der Regel mit der Gattungsbezeichnung ›Manuskriptrede‹ gleichgesetzt, wodurch die Orientierung am verschrifteten Redetext herausgestellt und si-
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medialen Unterschieden erwartbar nicht identisch. Deshalb kann die RedePerformanz als zweite sprachproduktive Phase eines Schreib-Rede-Prozesses bezeichnet werden. Sie ist zeitlich organisiert und – solange keine zusätzliche Aufzeichnungs- oder Übertragungstechnik eingesetzt wird – im Gegensatz zu einem prototypischen Text ein einmaliges Ereignis, das von den Produzierenden in Kopräsenz mit den Rezipierenden realisiert wird. Obwohl es sich um eine primär monologische Form handelt, können Rezipierende daher durch Hörersignale (etwa Lachen oder Gähnen) grundsätzlich auf die Rede-Performanz Einfluss nehmen. Während prototypische Textproduktionsprozesse in einem umfangreichen Forschungsdiskurs erforscht wurden und werden, liegt hinsichtlich der Erforschung von Schreib-Rede-Prozessen ein umfassendes Desiderat vor. Diese Forschungslücke identifizierten Schwarze/Walther bereits 2002 mit Blick auf die Entstehung politischer Reden.9 Es gibt jedoch keine Hinweise darauf, dass sich die Forschungslage seitdem substanziell verbessert hat.10 Insbesondere mangelt es an empirischen linguistischen oder sprachdidaktischen Studien, die eine differenzierte Rekonstruktion sprachlichen Handelns in Schreib-Rede-Prozessen vornehmen. Der vorliegende Beitrag stellt daher einen literaturbasierten Schritt der Erkundung eines bisher größtenteils unbeachteten sprachproduktiven Prozesses dar.
3.
Erkenntnisinteresse: Ethnokategorien und literarische Inszenierung
Die Analyse der literarischen Inszenierung von Schreib-Rede-Prozessen ist ein kleiner Bestandteil eines größeren, bisher im Forschungsstil der Grounded Theory angelegten Projekts, das sich primär der Linguistik und Sprachdidaktik tuativ-performative Elemente verschleiert werden. Sie stellt somit einen Teil des sprachproduktiven Prozesses dar. 9 Vgl. Schwarze, Antje/Walther, Antje: Redenschreiben für den Bundeskanzler: Formulieren, Koordinieren und Beraten. In: »Das Wort hat der Herr Bundeskanzler«. Eine Analyse der großen Regierungserklärungen von Adenauer bis Schröder. Hrsg. von Karl-Rudolf Korte. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002, S. 33–55, hier S. 34. 10 Diese Forschungslücke ist insofern verwunderlich, als bereits in der antiken Rhetorik die fünf Produktionsstadien einer Rede unterschieden wurden, die wiederum von Vertreter_innen der gegenwärtigen Rhetorik nach wie vor als eine »semiotisch universelle Theorie« bezeichnet werden. Seminar für Allgemeine Rhetorik: Was ist Rhetorik? ; Vgl. Schirren, Thomas: Rhetorik des Textes, Produktionsstadien der Rede. In: Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung. Hrsg. von Ulla Fix/Andreas Gardt/Joachim Knape. Berlin: de Gruyter 2008, S. 620–630, hier S. 623–626.
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zuordnen lässt. Dieses Projekt ist perspektivisch grundsätzlich an Schreibprozessforschung und Textsortenlinguistik orientiert und nimmt Formen des monologischen Redens aus einer handlungsbezogenen, prozessorientierten Perspektive in den Blick. Die Bausteine des Projekts sowie die explorative Ausrichtung sind durch das dargestellte, umfassende Desiderat begründet. Das langfristige, aber auch sehr voraussetzungsreiche Ziel besteht in der allgemeinen und gattungsdifferenzierenden Kompetenzmodellierung. Dies bedarf allerdings umfassender theoretischer wie analytischer Vorarbeiten, sodass es nicht im Fokus dieses Beitrags liegen kann. Dem eigentlichen Ziel notwendigerweise vorgeordnet ist die Klärung der Frage, wie sich verschiedene Redegattungen mit Blick auf Schreib-Rede-Prozesse klassifizieren lassen. Diese Frage lässt sich prinzipiell in Bezug auf verschiedene Korpora untersuchen, etwa im Rahmen empirischer Forschung mit videografierten Prozessdaten11 oder im Kontext literaturgestützter Analysen mit Fokus auf Ratgeberoder fiktionale Literatur. Entscheidend ist, dass diese verschiedenen Untersuchungsgegenstände bei einer solchen Analyse nicht gleichwertig sind und auch nicht dieselben Antworten auf die gestellte Frage geben können. So ermöglichen literaturgestützte Untersuchungen zwar offenkundig keinen rekonstruktiven Zugang zu tatsächlich realisierten Schreib-Rede-Prozessen, aber dafür eine Annäherung an und Einblicke in sogenannte Ethnokategorien. Hierbei gilt in Bezug auf Schreib-Rede-Prozesse allgemein, was Gätje (2020) für den besonderen Fall des Präsentierens konstatiert: »Die Modellierung der Präsentation als Ethnokategorie zielt auf die Rekonstruktion des vortheoretischen, des in der Lebenswelt der sozialen Akteure verankerten Wissens über die kommunikative Gattung ›Präsentation‹ ab, über das die Akteure in solchen sozialen Handlungsfeldern verfügen, in denen das Präsentieren ein konventionalisiertes Handlungsmuster ist.«12
Ein möglicher Hinweis darauf, dass soziale Akteur_innen über ethnokategoriales Wissen verfügen, besteht laut Adamzik (2004) in der Existenz und Verwendung von Textsorten-/Gattungsbezeichnungen.13 Denn in der Alltagskommunikation 11 Vgl. Böhm, Felix: Präsentieren als Prozess. Multimodale Kohärenz in softwaregestützten Schülerpräsentationen. Tübingen: Stauffenburg 2021. 12 Gätje, Die Schülerpräsentation im Gymnasium. 2020, S. 63. 13 Indem Adamzik »Ethnokategorien« als Textsorten versteht, tritt ihre textlinguistische Perspektive in den Vordergrund. Diese Orientierung an einem klassischen Textverständnis, die sich z. B. auch bei Luginbühl/Perrin (2011) findet, kritisiert etwa Dang-Anh (2019) und fordert eine Öffnung des theoretischen Konzepts für die Analyse und Kategorisierung digitaler Medien. Dass Ethnokategorien auch im Bereich der Mündlichkeit produktiv analysiert werden können und für Akteur_innen handlungswirksam sind, zeigen z. B. die Arbeiten von König (2007) und Gätje (2020). Vgl. Luginbühl, Martin/Perrin, Daniel: »das, was wir in der Tagesschau den Rausschmeißer nennen«. Altro- und Ethno-Kategorisierung von Textsorten im Handlungsfeld journalistischer Fernsehnachrichten. In: Textsorten, Handlungsmuster,
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stellen diese Bezeichnungen das Ergebnis einer »(interpretierende[n]) Typisierung einer bestimmten Situation durch Rückgriff auf Kategorien aus dem Feld Kommunikationsbereich« dar.14 Diese Typisierung bietet den jeweiligen sozialen Akteur_innen einen Bezugsrahmen und somit eine »praktische Orientierung«,15 da sie ihnen ermöglicht, kommunikative Probleme als wiederkehrend zu verstehen und auf etablierte kommunikative Muster zurückzugreifen. Dies betrifft sowohl im Bereich des dialogischen Sprechens die Vorbereitung und Durchführung eines Vorstellungsgesprächs als auch im Bereich des monologischen Sprechens die Sonntagspredigt oder Ansprache anlässlich eines runden Geburtstages im Kreis der Familie. Entscheidend ist hierbei, dass das Wissen über Ethnokategorien aufseiten der sozialen Akteur_innen nicht notwendigerweise eine systematische Erforschung oder ein gattungsspezifisches Merkmalslernen voraussetzt: Ethnokategorien sind handlungsrelevant und -leitend, auch ohne dass sie einen Prozess der Standardisierung und Normierung erfahren haben – so wie es sich z. B. für einzelne schulische oder journalistische Textsorten und kommunikative Gattungen konstatieren lässt. Stattdessen kann das Wissen über Ethnokategorien sozialer Akteur_innen bereits als ein vorwissenschaftliches, nicht systematisiertes Alltagswissen über sprachlich-kommunikative Merkmale angemessenen Handelns in spezifischen Situationen und Kontexten (Institutionen, Milieus etc.) verstanden werden, das von den sozialen Akteur_innen sowohl durch aktives produktives als auch durch rezeptives sprachliches Handeln in vergleichbaren sozialen Situationen und Kontexten erworben wird. Was z. B. von einer Geburtstagsansprache im familiären Kreis typischerweise von den Rezipierenden erwartet wird, also wie lang sie sein, welche inhaltlichen und sprachlichen Aspekte sie aufweisen, wie effektvoll oder getragen sie realisiert werden soll etc., kann offenkundig nicht in einem Regelwerk nachgelesen werden, sondern beruht auf den über Jahre hinweg gesammelten, zum Teil lückenhaften Erfahrungen aus verschiedenen privaten Feierlichkeiten und unterliegt
Oberflächen. Linguistische Typologien der Kommunikation. Hrsg. von Stephan Habscheid. Berlin: de Gruyter 2011, S. 577–596, hier S. 583; Dang-Anh, Mark: Protest twittern. Eine medienlinguistische Untersuchung von Straßenprotesten. Bielefeld: transcript 2019 (Locating Media/Situierte Medien 22), S. 294f.; König, Anika: Zur Güte von Präsentationen – normative vs. Ethnokategorien für angemessene Powerpoint-Präsentationen. In: Powerpoint-Präsentationen. Neue Formate der gesellschaftlichen Kommunikation von Wissen. Hrsg. von Bernt Schnettler/Hubert Knoblauch. Konstanz: UVK 2007, S. 207–224; Gätje, Die Schülerpräsentation im Gymnasium. 2020. 14 Adamzik, Kirsten: Textlinguistik. Eine einführende Darstellung. Tübingen: Niemeyer 2004 (Germanistische Arbeitshefte 40), S. 74. Vgl. hierzu auch in Bezug auf kommunikative Gattungen: Günthner, Susanne/Knoblauch, Hubert: »Forms are the food of faith«. Gattungen als Muster kommunikativen Handelns. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 46,4, 1994, S. 693–723, hier S. 704. 15 Adamzik, Textlinguistik. 2004, S. 74.
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einem stetigen Wandel. Vor diesem Hintergrund ist auch Adamziks folgende Annahme zu verstehen: »Ich halte es […] für sehr wahrscheinlich, dass der weitaus größte Teil existierender Textsorten(bezeichnungen) nur jeweils kleinen Untergruppen der Sprachteilhaber vertraut ist und dass bei ›allgemein bekannten‹ die konkreten Vorstellungen über Funktion, Gestalt, Vorkommen usw. sehr stark variieren.«16
Unter Berücksichtigung dieser Annahme erscheint es sinnvoll, Ethnokategorie als Analyse- und Beschreibungsansatz weiter zu fassen und fluider zu konzeptualisieren, als es verwandte Konzepte vorsehen, etwa die durch Wissenssoziologie und Soziolinguistik geprägte kommunikative Gattung. Nach Luckmann zeichnen sich kommunikative Gattungen nämlich gerade durch einen zwar grundsätzlich relativen, aber doch »höheren Verbindlichkeitsgrad« aus,17 d. h., dass der »Verlauf der Handlung […] hinsichtlich jener Elemente, die vom Gesamtmuster bestimmt sind, von den Mit- bzw. Gegenhandelnden verhältnismäßig gut voraussagbar« ist und dass die gattungsspezifischen Charakteristika »als Bestandteile des gesellschaftlichen Wissensvorrats zur Verfügung stehen und im konkreten kommunikativen Handeln typisch erkennbar sind«.18 Dass Adamziks Annahme eine empirische Überprüfung fehlt, führt sie selbst darauf zurück, dass »die bisherige Forschung fast ganz korpusbasiert, also produktorientiert gearbeitet hat, wir also über das tatsächliche Wissen der Sprachteilhaber immer noch nur sehr schlecht orientiert sind«.19 Im Zusammenspiel mit dieser auf den Forschungsdiskurs bezogenen Beobachtung sensibilisiert die zuvor zitierte Annahme dafür, bei der Erforschung von Ethnokategorien drei Punkte zu beachten: erstens die Relevanz auch kleiner sozialer Gruppen nicht zu unterschätzen, zweitens vorschnelle Generalisierungen zu vermeiden und drittens auch andere Quellen und Daten zu verwenden – neben den Sprachprodukten, die zu der jeweiligen Ethnokategorie selbst gezählt werden. Daraus lässt sich thesenhaft schlussfolgern: Ethnokategorien im Sinne eines vorwissenschaftlichen Wissens aufseiten von Akteur_innen können vor allem dann aufgespürt und erforscht werden, wenn nicht das Sprachprodukt des
16 Adamzik, Kirsten: Textsortenvernetzung im akademischen Bereich. Manuskript. Durchgesehene Version 2018. (letzter Zugriff: 19. 06. 2020), S. 8. 17 Luckmann, Thomas: Kultur und Kommunikation. In: Kultur und Gesellschaft. Verhandlungen des Deutschen Soziologentags, des 11. Österreichischen Soziologentags und des 8. Kongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie in Zürich 1988. Hrsg. von Max Haller/Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny/Wolfgang Zapf/Deutsche Gesellschaft für Soziologie. Frankfurt/Main: Campus 1989, S. 33–45, hier S. 39. 18 Ebd., S. 38. 19 Adamzik, Kirsten: Textsortenvernetzung im akademischen Bereich, S. 8.
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kommunikativen Handelns, sondern das nichtwissenschaftliche Sprechen bzw. Schreiben über dieses kommunikative Handeln in den Blick genommen wird. Dem vorliegenden Beitrag liegt die theoretische Annahme zugrunde, dass – den vorausgegangenen Vorüberlegungen zu Ethnokategorien entsprechend – sowohl in Ratgeber- als auch fiktionaler Literatur Spuren ethnokategorialen Wissens über Schreib-Rede-Prozesse zu finden sind, d. h. in Texten, in denen über Schreib-RedeProzesse geschrieben wird. Ratgeberliteratur zeichnet sich in der Regel durch einen systematischen Zugang zum Gegenstand aus, der strukturell einer wissenschaftlichen Themenentfaltung ähnelt. Dass eine entsprechende Analyse produktiv sein kann, zeigt König (2007) mit Blick auf Ethnokategorien des fachspezifischen, primär monologischen Sprechens und Präsentierens, allerdings ohne dabei eine dezidierte Prozessperspektive einzunehmen.20 Hingegen auf fiktionale Literatur zur Rekonstruktion von ethnokategorialem Wissen zurückzugreifen, bedeutet zwar, diese systematische, der Wissenschaft verwandte Darstellungsweise aufzugeben. Es bringt aber auch den Vorteil mit sich, von der grundsätzlich normativen Ausrichtung abzurücken, die der Gattung Ratgeberliteratur zu eigen ist.21 Stattdessen kann fiktionale Literatur Hinweise auf und Spuren von Ethnokategorien aufweisen und dieses Wissen durch Figuren perspektivieren, ohne das kommunikative Ziel der Gattungs- und Handlungspraxis-Prägung zu verfolgen. Das Erkenntnisinteresse liegt nun in der Frage, welche Spuren von SchreibRede-Prozessen als Ethnokategorien die untersuchten fiktionalen Texte aufweisen. Untersucht wird also, welche prozessbezogenen Teilhandlungen dargestellt werden und inwiefern sich die literarische Inszenierung und die figurenbezogene Beurteilung von Schreib-Rede-Prozessen in Abhängigkeit von der jeweiligen sozialen Situierung unterscheiden. Auf der Suche nach Spuren ethnokategorialen Wissens orientiert sich die Analyse zudem (terminologisch) an dem »Katalog von Situationsmerkmalen gesprochener Sprache« von Bose (1994),22 der sich zur Klassifikation verschiedener Formen monologischen Redens in der soziolinguistischen Mündlichkeitsforschung bewährt hat. Eine besondere Aufmerksamkeit liegt dabei auf dem gesellschaftlichen Tätigkeitsbereich (gesellschaftlich-institutionelle Einbettung der Rede), in dem die Rede situiert ist, auf dem Funktionstyp (Funktion und kommunikatives Ziel der Rede), der äußeren Konstellation der Rede (Ort, Zeit, Dauer, mediale Verfasstheit, beteiligte Akteur_innen, Kommunikationsrichtung etc.), dem Thema (insbesondere die »Relation Thema – Sprecher«23) sowie der 20 Vgl. König, Zur Güte von Präsentationen. 2007. 21 Auf diese Normativität ist auch zurückzuführen, dass »Ratgeber immer auch normative Elemente enthalten, die in den Routinen der kommunikativen Alltagspraxis überhaupt keine Entsprechung haben mögen«. Gätje, Die Schülerpräsentation im Gymnasium. 2020, S. 65. 22 Bose, Ines: Zur temporalen Struktur frei gesprochener Texte. Frankfurt/Main: Hector 1994 (Forum Phoneticum 58), S. 25–29. 23 Ebd., S. 27.
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Partnerkonstellation (insbesondere Vorbereitungsgrad, Situationsvertrautheit, -verschränkung, sozialer und situativer Rang der Akteur_innen). Die Analyse der beiden Romane erfolgt – in der Terminologie der Grounded Theory gesprochen – mit dem forschungsprojektbezogenen Ziel der theoretischen Sensibilisierung, denn: »Erst die theoretische Sensibilität erlaubt es, eine gegenstandsverankerte, konzeptuell dichte und gut integrierte Theorie zu entwickeln […].«24 Erreicht werden kann sie u. a. in der Reflexion eigener Erfahrungen oder durch ein Literaturstudium, wobei sich Letzteres insbesondere bei wenig erforschten Erkenntnisfeldern typischerweise nicht auf die Lektüre von Forschungsliteratur zu beschränken braucht. Forschungshandlungen, die zur theoretischen Sensibilisierung beitragen, sind daher für den Feldeintritt – und damit für die empirische Datenerhebung – von zentraler Bedeutung. Anders ausgedrückt: Die vorliegende Analyse ethnokategorialer Spuren in zwei literarischen Texten dient der erkenntnisbezogenen und theoriesensibilisierenden Inspiration, die im besten Fall zur weiteren Konzeption des skizzierten Forschungsprojekts in Hinblick auf verschiedene primär monologische Redegattungen, die Strukturierung des Feldes und die empirische Datenerhebung fruchtbar gemacht werden kann. Dazu werden induktiv und textnah Spuren des ethnokategorialen Wissens über Schreib-Rede-Prozesse herausgearbeitet.
4.
Analyse literarisch inszenierter Schreib-Rede-Prozesse
In der folgenden Analyse wird herausgearbeitet, wie in den Romanen »Komm« (2012) von Janne Teller, in der für die deutschsprachige Ausgabe überarbeiteten Fassung, und »Parker« (2018) von Matthias Göritz Schreib-Rede-Prozesse literarisch inszeniert werden. Der Vergleich dieser Romane ist deshalb produktiv, weil erstens die Romanhandlungen in verschiedenen gesellschaftlichen Tätigkeitsbereichen der westeuropäischen Gegenwart situiert sind: Bei »Komm« handelt es sich um das dominant schriftsprachlich geprägte Verlagswesen, bei »Parker« um den stärker durch Mündlichkeit geprägten Bereich der Politik. Zweitens geben die Romane auch punktuelle Einblicke in den jeweils anderen Tätigkeitsbereich und können damit quasi als literarische Kontrollgruppe fungieren. Das Ziel ist es, mittels der Analyse Spuren vorwissenschaftlichen prozessualen Gattungswissens herauszuarbeiten.
24 Strauss, Anselm L./Corbin, Juliet: Grounded Theory. Grundlagen Qualitativer Sozialforschung. Übers. von Solveigh Niewiarra/Heiner Legewie. Weinheim: Beltz 1996, S. 25.
254 4.1.
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Janne Teller (2012): »Komm«
Janne Tellers »Komm« erzählt von einem namenlosen Verleger, der vor der Aufgabe steht, am nächsten Tag »auf einer internationalen Konferenz in Berlin einen Vortrag über Ethik in der Verlags- und Literaturbranche« (S. 16) zu halten. Dieser ist durch die äußere Konstellation beider Prozessphasen, das Thema und die produktions- wie rezeptionsseitig beteiligten Akteur_innen im Tätigkeitsbereich Verlagswesen situiert.25 Die Romanhandlung umfasst die Zeitspanne vom Vorabend bis zum Morgen, in welcher der Verleger das Manuskript anfertigt. Dabei werden Schreibhandlungen immer wieder mit biografisch-selbstreflexiven Handlungen verbunden und stehen in enge Verbindung mit ethischen und ökonomischen Überlegungen, ob er ein skandalträchtiges Manuskript, das ihm vorliegt, veröffentlichen soll oder nicht. 4.1.1. Schreib-Rede-Prozesse als Redetext-Produktion im Verlagswesen Der Schreib-Rede-Prozess in »Komm« beginnt mit der Niederschrift des ersten Satzes in eine noch leere Textdatei: »Ein Verlag ist für den Autor ethisch nicht verantwortlich, schreibt er« (S. 16). Ab da wird die Redetext-Produktion mit Bezug auf verschiedene Schreibhandlungen geschildert. Darunter finden sich sowohl körperliche Handlungen (»Er drückt so fest auf die Tastatur, dass sich das T verklemmt […]« [S. 17]) wie auch mentale Prozesse, etwa die Reflexion des geschriebenen Textes vor dem Hintergrund des Schreibziels (»Eine Seite. Er braucht mindestens acht« [S. 22]). Das Schreiben wird dabei nicht als lineare, gleichförmige Handlung inszeniert, sondern als »Bottom up processing«,26 das sich zwar nicht durch Planungs-, aber durch rekursiv und interaktiv organisierte Formulierungs- und Revisionshandlungen auszeichnet. Revisionshandlungen werden sowohl auf Satz- als auch auf satzübergreifender Ebene vorgenommen (»Er löscht den ganzen Absatz«, S. 30). Dass diese Revisionshandlungen notwendig werden, begründet der Verleger zwischenzeitlich damit, dass er sich gegenwärtig nicht auf die Rede fokussieren kann und deshalb zwischenzeitlich »den roten Faden verloren« (S. 64) hat. Mit dem Abschluss der Redetext-Produktion kann er sich allerdings nicht mehr »entsinnen, warum ihn diese hier so viel Zeit gekostet hat« (S. 114), denn es widerspricht seiner Erfahrung und angenommenen Professionalität: »Er hat schon eine Menge Reden geschrieben, er kann das, er ist schnell« (ebd.). Diese Abweichung vom normalen Vorgehen 25 Zitiert wird nach der Ausgabe: Teller, Janne: Komm. München: dtv 2015 (Seitenangaben fortlaufend im Text). 26 Molitor-Lübbert, Sylvie: Schreiben und Kognition. In: Textproduktion. Ein interdisziplinärer Forschungsüberblick. Hrsg. von Gerd Antos/Hans P. Krings. Tübingen: Niemeyer 1989, S. 278–296, hier S. 290.
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findet sich an vielen Stellen der Prozessinszenierung wieder: Schreib-Flow-Momente (»Er hat den Faden gefunden, jetzt läuft es« [S. 20]) bilden nämlich die Ausnahme. Stattdessen ist das Schreiben durch häufige Unterbrechungen geprägt. Diese Unterbrechungen legt auch das Textlayout von »Komm« offen. Die gerade geschriebenen Bruchstücke des im Verlauf der Handlung entstehenden Manuskripts sind kursiv gesetzt und durch Leerzeilen vom sonstigen Text separiert. Das Manuskript stellt somit eine Sammlung von Fragmenten dar, die zum Teil unhinterfragt stehen bleiben, zum Teil auch zu einem späteren Zeitpunkt reformuliert oder wieder gestrichen werden. Ein vollständiger Redetext findet sich in »Komm« daher nicht. Nicht separiert hingegen sind diese Manuskriptteile von der Zeitlichkeit der Romanhandlung. Denn in der Regel, wenn auch nicht immer, sind sie um einen nichtkursivierten Hinweis auf die aktuelle Handlung ergänzt, entweder nachgestellt (Manuskripttext, schreibt er.) oder bei längeren Textteilen auch integriert (Manuskripttext, schreibt er. Manuskripttext.). Das Verb ›schreiben‹ findet dabei am häufigsten Verwendung, Alternativen wie »[…], berichtigt er« (S. 36) oder »[…] Er zögert. […]« (S. 91) bilden die Ausnahme. Aber auch in diesen Fällen rückt die Zeitlichkeit des gerade aus einer Schreibhandlung heraus entstehenden Textes in den Fokus. Dass die Hauptfigur die Rede probeweise oder während des Schreibens auch sprechen könnte, ist weder typografisch noch durch entsprechende Verben gekennzeichnet. Die Redetext-Produktion erfolgt also genuin schriftsprachlich, Aspekte der Performanz werden nicht vorbereitet. Komplexere Inszenierungen der Redetext-Produktion finden sich vor allem dort, wo die Arbeit am Manuskript nicht nur durch die Reflexion des eigenen Handelns unterbrochen wird, sondern damit eng verbunden ist: »Die Frage ist, welche Regeln gelten in der Kunst? Er löscht den Absatz wieder. Ihr wird schon nichts passieren. Schreibt stattdessen: Zu fragen, welche Regeln in der Kunst gelten, ist sinnlos. Die Frage ist vielmehr, ob es überhaupt Regeln gibt? Ob es Regeln geben sollte. Oder ob es sich nicht eher so verhält, dass jede Regel durch ihre bloße Existenz darauf zielt, in Frage gestellt und übertreten zu werden« (S. 54).
Das kommunikative Ziel des Vortrags (Funktionstyp) besteht offenkundig nicht in der vom schreibenden Individuum gelösten systematischen Darstellung eines Themas oder der theoretischen, vom Einzelfall abstrahierten Reflexion einer ethischen Fragestellung. Stattdessen sind die thematische Auseinandersetzung ebenso wie der Schreibprozess eng mit dem beruflichen Schaffen der Hauptfigur und ihrer aktuellen Situation verwoben. Die allgemeine Forderung nach Kunstfreiheit bricht sich an der Frage, ob die Hauptfigur ein Manuskript seines
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Bestsellerautors veröffentlichen soll, obwohl es Einblicke in das Leben einer anderen Verlagsautorin (im Zitat: die Person, der schon nichts passieren werde) gibt und sie diese Veröffentlichung aus persönlichen Gründen ablehnt. Dabei bildet erstens die Arbeit am Manuskript den Ausgangspunkt für die eigene Reflexion. So folgt z. B. auf den Manuskripttext »Ein Verlag ist für den Autor ethisch nicht verantwortlich, schreibt er« (S. 16). die Überlegung im Gedankenzitat: »Wenn jemand seiner Verantwortung nicht bewusst ist, geht sie automatisch an denjenigen über, der das erkennt« (S. 17). Zweitens schlägt die Reflexion des eigenen Gedankens – etwa im Rahmen eines inneren Monologs, eines Dialogs, an den sich die Hauptfigur erinnert, oder eines imaginierten Dialogs, den diese mit einer anderen Figur geführt haben könnte – zurück auf die weitere Formulierung oder Überarbeitung des Manuskripts. Die Redetext-Produktion ist somit als eine engmaschige Verbindung von theoretischem und biografisch-induziertem Schreiben konzipiert. Der theoretisch anmutende Manuskripttext ist daher fest mit der Person des schreibenden Verlegers, seinen Einstellungen, Werten und Erfahrungen verbunden. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die Hauptfigur den gesamten Prozess solitär gestaltet, d. h. sowohl die Redetext-Produktion als auch – zumindest wird nichts Gegenteiliges angedeutet – die nicht geschilderte Rede-Performanz.27 Abgeschlossen wird der Schreib-Rede-Prozess am Romanende durch ein Ausdrucken und Einstecken des Redemanuskripts: »Er stopft die Rede in seine Tasche und zieht den Mantel an« (S. 151). Das fertig geschriebene Manuskript wird dabei mit der Rede gleichgesetzt und die Rede zu einem Gegenstand. Sie ist damit einem Buch, also dem Produkt eines Verlags, ähnlicher als einer einmaligen flüchtigen Performanz. Obwohl der Roman den Fokus somit dominant auf die erste Phase des Schreib-Rede-Prozesses legt, finden sich auch Hinweise auf die Phase der Rede-Performanz. Dies betrifft z. B. den bereits eingangs zitierten Hinweis auf die Redesituation und Zielgruppe sowie einen Moment der qualitätsbezogenen Reflexion, im Zuge dessen die Hauptfigur die Wirkung des Textes in der Rede-Performanz antizipiert (»Er hört schon das Echo der hohlen Worte, bevor er sie noch einmal durchliest«, S. 119). Dass die sprachproduktive Handlung nicht mit Ende der ersten Phase abgeschlossen ist, wird daran deutlich, dass der Verleger Entscheidungen aus der ersten in die zweite Phase verlagert: »Er löscht den ganzen Absatz. […] Er schreibt die letzten vier Zeilen noch einmal. Will sie dann ein weiteres Mal löschen, setzt sie aber schließlich in eckige Klammern« (S. 30). Das Manuskript stellt somit keinen linearen Text dar, dessen Linearität lediglich durch bloßes Vorlesen in eine Zeitlichkeit überführt zu werden braucht, sondern sieht vor, dass die Hauptfigur als Redner eine Ent27 Eine personelle Trennung von Text und Redner, wie sie in »Parker« zu finden ist, erscheint nicht möglich. Vgl. hierzu die Analyse von »Parker« in diesem Beitrag ab Kapitel 4.2.
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scheidung darüber treffen muss, einen Textteil des Manuskripts mündlich zu realisieren oder auszusparen. Die Vorbereitung sieht also auch in Hinblick auf textuelle Aspekte ein situationsverschränktes Handeln in der Phase der RedePerformanz vor. 4.1.2. Der Blick in die Politik Tellers »Komm« ist zwar im Verlagswesen situiert und inszeniert das Schreiben der Rede durch einen Verleger. Aufgrund der (unglücklichen) Ehe dieser Hauptfigur mit einer Politikerin gibt er aber auch knappe Einblicke in einen zweiten gesellschaftlichen Tätigkeitsbereich: den der Politik. Für den politischen Tätigkeitsbereich ebenso wie für die Ehe gilt dabei die Regel: »Passion ist Idiotie« (S. 83). Die Verbindung der beiden Figuren fußt daher auch nicht auf einem Liebesverhältnis (»Über die Frau, die ihn nie verlassen wird, weil sie seinen Intellekt für ihre Karriere braucht, die sich aber seit Jahren mit einem anderen Mann trifft?«, S. 35), sondern auf einer funktionalen Rollen- und Aufgabenverteilung, die beiden eine Karriere ermöglicht: »Sie ist die Macht, er ist der Intellekt« (S. 83). Sie hat den guten Namen (ebd.), von dem er profitiert, er hat im Gegenzug die Aufgabe, dass »er ihre Reden schreibt, ihre Strategien entwirft und sie zu ihren politischen Mahlzeiten begleitet« (S. 115). In diesem letzten Zitat findet sich ein Hinweis auf Schreib-Rede-Prozesse: Durch die Augen des Verlegers, geprägt von seiner unglücklichen Ehe, wird die Politik als ein kommunikativer Tätigkeitsbereich inszeniert, in der das Sprechen vom Schreiben personell getrennt ist. Schreib-Rede-Prozesse – so deutet sich an – werden kollaborativ gestaltet. Wer mit Worten umgehen kann und intellektuell ist, produziert den Redetext, die Rede-Performanz erledigt jemand anderes. Infolgedessen verfügen Redenschreiber und Rednerin über unterschiedliche prozessuale und situative Sichtbarkeiten, die zu einer Festigung verschiedener sozialer Positionen führen kann. Vor dem Hintergrund, dass sich die in »Komm« dargestellte Redetext-Produktion des Verlegers durch eine starke Verbindung von autobiografischer Reflexion und theoretischem Schreiben auszeichnet und die Rede dadurch authentisch erscheint, werden an dieser Stelle unterschiedliche Praktiken und Wahrnehmungen im Bereich der Schreib-Rede-Prozesse in Abhängigkeit von der gesellschaftlichen Situierung angedeutet.
4.2.
Matthias Göritz (2018): »Parker«
Matthias Göritz’ Roman »Parker« handelt von dem gleichnamigen Rhetorikcoach, Politikberater und Redenschreiber, der nach dem Ende einer Erfolgswelle nach Schleswig-Holstein kommt, um dem Landespolitiker Mahler zum Erfolg zu
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verhelfen und dadurch selbst wieder an Renommee zu gewinnen.28 Anders als in »Komm« wird also nicht ein einziger Schreib-Rede-Prozess fokussiert, sondern diese Prozesse werden in dreifacher Hinsicht perspektiviert und inszeniert. Dies betrifft erstens die von Parker verfassten und von Mahler gehaltenen politischen Reden, zweitens ein Rhetorikseminar von Parker und drittens Auszüge aus Parkers Rhetorikratgeber. In allen drei Fällen liegt eine Einbettung von SchreibRede-Prozessen in den Tätigkeitsbereich Politik vor. 4.2.1. Schreib-Rede-Prozesse als Rede-Performanzen in der Politik In Hinblick auf die politischen Reden Mahlers steht die Rede-Performanz im Fokus, von der Redetext-Produktion finden sich allenfalls Spuren. So kommentiert etwa Mahler beim ersten Treffen mit Parker und kurz vor einer Rede auf Basis von Parkers Manuskript: »Es war ja so eine Art ›Blind-Date‹. Ihre Worte haben den Weg zu mir gefunden, ohne dass wir uns kannten. Die Rede ist gut geworden. Sie passt durchaus zu mir« (S. 26). Mahler sieht also eine Passung zwischen dem nicht von ihm geschriebenen Redemanuskript und ihm selbst als Redner. Parker hingegen stellt diese Passung während der Rede-Performanz in Frage: »Parker schämte sich plötzlich, dass er ihm eine so sichere Rede geschrieben hatte, bei der man wenig falsch machen, aber eben auch nicht richtig glänzen konnte« (S. 53). Er sieht also stärker die Ermöglichungsfunktion eines Manuskripts und traut einem kompetenten Redner wie Mahler ein anspruchsvolleres Manuskript zu, mit dem Mahler eine stärkere Wirkung erzielen könnte, wenn er denn entsprechend performt. Dass auch die nachfolgenden Redemanuskripte gelingen, sichert Mahler hingegen dadurch, dass er Parker ein »Dossier über die Bedeutung des Flächenstaats Schleswig-Holstein und seiner Skandalrelevanz« (S. 108) zukommen lässt. Zudem kommentiert er den Erstentwurf einer Rede: »Großartig, Matthew! Das knall ich denen von rechts vor den Latz!« (S. 184) Somit hat Mahler punktuelle Anteile an der Recherche und Überarbeitung als Teilhandlungen der Redetext-Produktion, nicht aber an der Formulierungstätigkeit selbst. Insgesamt deutet sich an, dass der Vorbereitungsgrad von Reden in »Parker« dem von »Komm« entspricht. Allerdings gibt es keinen Hinweis darauf, dass Parker im Manuskript alternative Handlungsweisen in der Phase der Rede-Performanz für Mahler eingeschrieben hat. Die Rede-Performanz wird im literarischen Text in einer Verbindung von Redetext-Teilen und performativen Handlungen geschildert: »›Meine sehr verehrten Damen und Herren‹, Mahler machte eine Pause und schien alle im Raum 28 Zitiert wird nach der Ausgabe: Göritz, Matthias: Parker. München: C. H. Beck 2018 (Seitenangaben fortlaufend im Text).
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gleichzeitig anzusehen« (S. 45). Anders als in »Komm« gehen also in »Parker« textuelle mit performativen Elementen einher. Zudem wird ein Publikum adressiert und direkt angesprochen, und dieses Publikum ist Teil der literarisch inszenierten Rede-Performanz: »›Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, und ich wünsche Ihnen ein gutes […] neues Jahr!‹ Der Saal applaudierte begeistert« (S. 53).29 Die in Parker dargestellte Rede-Performanz ist also hochgradig mit der Redesituation verschränkt und ruft eine direkte Wirkung aufseiten der Rezipierenden hervor. Mit dem Blick des Rhetorikcoaches und Beraters reflektiert zudem Parker Mahlers Handeln und dessen Wirkung. Wird im Theorieteil dieses Beitrags die These vertreten, dass literarische Texte das kommunikative Ziel der Gattungsund Handlungspraxis-Prägung nicht verfolgen, handelt es sich dabei um eine Annahme, die den literarischen Text in seiner Gesamtheit betrifft. Dass aber einzelne Figuren, insbesondere wenn sie als Rhetorikcoaching konzipiert sind, in der Handlung eines literarischen Textes auf eine solche Prägung hinarbeiten, bleibt davon unbenommen. Parker ist eine solche Figur. Parker, dessen Perspektive unwidersprochen bleibt, nimmt als positiv wahr und weist als Kompetenz aus, dass Mahler »vor allem begriffen zu haben [schien], dass nicht so sehr das, was man sagte, zählte, sondern das Wie« (S. 53). Die Art und Weise der performativen Gestaltung in der Redesituation ist also das, was einen guten von einem schlechten Redner unterscheidet. Als schlecht werden dabei Aspekte markiert, die Parker bei Mahlers Vorredner entdeckt: »lächerliche Verlegenheitsgesten«, »schwitzen«, »Schweißperlen« sowie »hilflose[s], nervöse[s] Augenzwinkern[]« (S. 45). Die Folge ist eine »gespannte, feindselige Stimmung« (ebd.) im Raum, aus Parkers Sicht eine ganz normale Reaktion, denn: »Wenn jemand am Pult nicht besser war als man selbst, dann hielt man ihn automatisch für schlechter – für viel schlechter, und das war die Hölle.« (ebd.) Durch eine solch schlechte Rede-Performanz macht sich der Redner »lächerlich« (ebd.) und zu einem »Versager« (ebd.) in den Augen der Rezipierenden. Das Ziel der Rede besteht entsprechend auch darin, dass Mahler sich eben nicht als Versager offenbart, sondern als kompetente, zu respektierende Person im Politikbetrieb. Positiv beurteilt Parker hingegen Aspekte wie »frei […] sprechen« (S. 45), »Blickkontakt«, »gewinnendes Lächeln«, »Pausen«, Änderung der »Tonlage« (S. 46), »feine […] Diktion« oder »nicht gekünstelt« (S. 47), die er allesamt bei Mahler beobachtet. Auffällig ist hierbei vor allem das freie Sprechen, ein rheto29 Die Adressatenorientierung ist allerdings bereits in das Manuskript eingegangen und nicht allein Mahlers Aufgabe in der Rede-Performanz: »Es war Parker leichtgefallen, sich in Unternehmer zu versetzen, die etwas aufbauen wollten, die einen Traum hatten, für den sie alles gaben, wie Boxer: […]« (S. 51).
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risches Ideal, das sich als eine Form des »simulate fresh talk«30 konzeptionalisieren lässt, die bereits Goffman (1967) explizit Politikern zuordnet: ein monologisches Sprechen, das trotz aller Vorbereitung den Eindruck hinterlässt, der flüssig vorgetragene Redetext sei in der Vortragssituation »formulated by the animator from moment to moment, or at least from cloud to cloud«31 und dabei allein an die anwesende Rezipierendenschaft gerichtet. Auch in dieser Betrachtung geht es also nicht um Spontanhandlungen, sondern den situativen Eindruck einer vorbereiteten Rede-Performanz: »Mahler nahm die Sätze vom Blatt mit den Augen auf und Sprache sie in den Saal wie Gedanken, die er sich gerade erst gemacht hatte – und die er ihnen zur gemeinsamen Erwägung vorlegte« (S. 48). Mahler ist also das Gegenteil eines Versagers: Durch seine Performanz erfüllt die Rede ihr Ziel. Auch in den Rhetorikseminar-Szenen stehen vor allem Rede-Performanzen im Fokus. Sie werden von den Teilnehmenden als Übungen durchgeführt, die – gerahmt von fundierenden Einführungen durch Parker (z. B. »Lügen erkennt man im Gesicht« [S. 123], »Die Sprache der Hände ist die direkteste« [S. 129]) und Feedbackgesprächen, performative Kompetenzen fördern sollen. Dabei geht Kompetenzerwerb mit steigender Wertschätzung einher, die Parker den Teilnehmenden entgegenbringt: »Ein beachtlicher Schritt vorwärts nach nur zwei Tagen. […] Es war, als erschiene ihnen Wilfried jetzt zum ersten Mal als Mensch und nicht bloß als Karikatur« (S. 105). Obwohl sich die Reden in den Seminaren hinsichtlich Funktion, äußere und Partnerkonstellation unterscheiden, legt Parker dieselben rigiden Bewertungsmaßstäbe an, bei denen die Diagnose rhetorischer Kompetenz mit der Beurteilung der Position einhergeht. Das Ziel der Probereden ist eine gelungene, authentische, wirkungsvolle Rede-Performanz: »Aber ihr müsst immer bedenken, dass es auf den Zusammenhang ankommt, darauf, dass alles, was man mit seinem Gesicht und seinem Körper, vor allem aber mit den Händen macht, irgendwann wieder so wie vorher aussehen muss, ganz natürlich, nur eben durch die bewusste Erfahrung, sich genauer beobachtet zu haben, angereichert« (S. 133).
Wie das Zitat verdeutlicht, gehört für Parker der Redetext nicht zu allem, was eine gute Rede explizit ausmacht. Entsprechend gibt es auch darauf, dass die Redetext-Produktion ein expliziter Lerngegenstand des Seminars ist, keinen Hinweis – mit Ausnahme einer Frage, die im Roman unbeantwortet bleibt: »Wie findet man das richtige Wort, den Satz, der passt, und nicht bloß die Phrase?« (S. 78) Die Redetext-Produktion dient im Seminarkontext stattdessen allenfalls als Mittel zum Zweck und wird didaktisch reduziert eingesetzt, um möglichst 30 Goffman, Erving: The Lecture. In: Ders.: Forms of Talk. Oxford: Blackwell [1967] 1981, S. 160– 196, hier S. 178. 31 Ebd., S. 171.
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schnell an Redetexte für die Performanzübungen zu gelangen. Die Rede-Performanzen sind also weniger vorbereitet, es wird nicht auf vollständige Manuskripte zurückgegriffen. Die Folge ist: Parker bringt die Teilnehmergruppe allenfalls in die Position, Mahlers Rolle im kollaborativen, politisch-situierten Schreib-Rede-Prozess zu übernehmen, aber nicht seine eigene. Im Kontext des Romans handelt es sich somit um ein Seminar für Politiker_innen, nicht für deren Berater_innen, was verwunderlich ist, weil ein Teil der Teilnehmergruppe aus Mahlers Beraterstab stammt. Parker gibt seine Funktion als Redenschreiber und seinen damit verbundenen sozialen Rang in Mahlers Team nicht auf. Die Auszüge aus Parkers Rhetorikratgeber sind nicht in die Romanhandlung integriert, sondern als fingierte Zitate wechselweise mit anderen Notizen den einzelnen Kapiteln vorangestellt. Sie erlauben allenfalls einen fragmentarischen Blick auf Schreib-Rede-Prozesse aus Sicht der Figur Parker. Ganz im Sinne des Rhetorikseminars und Parkers Bewertung von Mahlers Rede wird darin die Rede-Performanz auf die performative Gestaltung reduziert. Entscheidend für eine gelungene Rede-Performanz sollen »Wissen, Einstellung und Gefühl« sein, denn durch sie kann eine Rede »Substanz« und »Körper« (S. 243) bekommen. Es geht dabei aber nicht um eine innere Haltung und authentische Spontaneität, sondern um einen geprobten fingierten Eindruck. In den Zitaten rückt daher auch die Performanzeinübung an die Stelle der Redetext-Produktion. Die handlungsleitende Maxime lautet in Abwandlung eines bekannten Leitspruchs: »Don’t fake it till you make it. Fake it until you believe it« (S. 129). Probe so lange, bis du selbst davon überzeugt bist, dass Redetext und Rede-Performanz deiner Persönlichkeit vollumfänglich entsprechen. Diese Maxime der politischen Rhetorik in Göritz’ »Parker« steht in Opposition zu den Suchbewegungen in der biografisch-theoretischen Redetext-Produktion, die in Tellers »Komm« literarisch inszeniert ist. 4.2.2. Der Blick in die Verlagswelt Parker ist nicht nur Redenschreiber und Rhetorikcoach, sondern hat auch Erfolg als Ratgeberautor. Allerdings steckt er in einer Schreibblockade, die sich erst am Ende des Romans löst. Trotzdem wird das Manuskript, an dem er aktuell (nicht) arbeitet, im Roman thematisiert, sei es während des stockenden Schreibprozesses (»Alle fragten ihn, wieder und wieder, Lektor, Leser, die Presse, seine Agentin, wie weit er denn sei« [S. 86], »[K]ein roter Faden schälte sich heraus. Kein Buch« [S. 87]) oder sei es nach Prozessabschluss (»Es ist ein sehr ehrliches Buch geworden« [S. 283]). Auf diese Weise gibt auch »Parker« einen knappen Einblick in den anderen, in diesem Beitrag fokussierten gesellschaftlichen Tätigkeitsbereich: das Verlagswesen. Das Schreiben – hier allerdings eines Ratgebertextes und keines Redemanuskripts – wird dabei wie in »Komm« als eine
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komplexe solitäre Handlung verstanden. Der Schreiber verwebt im Akt des Schreibens biografische und theoretische Aspekte miteinander, muss selbst als Person für den Text einstehen und ihn trotz Schreibschwierigkeiten fertigstellen, damit er zu einem gegenständlichen Produkt werden kann. Das kommunikative Ziel ist somit sogleich die Selbstreflexion wie der ökonomische Erfolg durch den Verkauf des fertigen Buches.
5.
Fazit
Wie die Analyse gezeigt hat, inszenieren die Romane »Komm« und »Parker« Schreib-Rede-Prozesse in unterschiedlichen gesellschaftlichen Tätigkeitsbereichen monologischen Sprechens. Dabei unterscheiden sich diese literarische Inszenierungen sowohl in Hinblick auf die dargestellten Prozesshandlungen als auch auf deren Bewertung durch die Figuren. Entsprechend der Betonung einzelner Prozesshandlungen lassen sich größere oder kleinere Spuren ethnokategorialen Wissens in beiden Texten finden. Der Roman »Komm«, der im stärker schrift- und produktgeprägten Verlagswesen situiert ist, stellt in hohem Maße die Bedeutung der Redetext-Produktion heraus. »Parker« hingegen ist in dem stärker durch mündliche Kommunikation geprägten Tätigkeitsbereich Politik verortet und erhebt die situative Realisierung und performative Ausgestaltung des Manuskripts zur Rede-Performanz zur zentralen Prozessphase. Eine Rede gilt dementsprechend dann als gelungen, wenn das Manuskript als Produkt der Redetext-Produktion (»Komm«) oder die Rede-Performanz (»Parker«) gelungen ist. Gute Redner_innen zeichnen sich somit dadurch aus, dass sie ein gutes, zu ihnen passendes Redemanuskript produzieren (Verlag) oder sich einem nicht selbst verfassten Manuskript so weit durch Einüben annähern, dass dieser Text zu ihnen passt (Politik). Perspektiviert ist dieses ethnokategoriale Wissen im ersten Fall durch einen Redenschreiber und Redner in Personalunion, im zweiten Fall hingegen durch einen Redenschreiber und Rhetorikcoach, der Rede-Performanzen aus einer Beobachterposition heraus beurteilt und einen Rhetorikratgeber mit allgemeinen Handlungsanweisungen verfasst hat. Auffällig ist, dass beide Romane knappe Einblicke auch in den jeweils anderen gesellschaftlichen Tätigkeitsbereich geben. Dabei entsprechen diese Einblicke den elaborierteren Darstellungen des anderen Romans in auffälliger Weise. Dies kann als Hinweis gedeutet werden, dass die literarischen Inszenierungen von Schreib-Rede-Prozessen in den analysierten Werken nicht auf individuellen Wahrnehmungen und Auffassungen beruhen, sondern wenigsten Spuren von gefestigteren Ethnokategorien und somit von einem intersubjektiven, vorwissenschaftlichen Gattungswissen enthalten, das sich in der Gegenwartsgesellschaft herausgebildet hat.
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Diese Erkenntnis mitsamt den Analysen der literarischen Texte kann dazu dienen, die empirische Erhebung und Analyse von Schreib-Rede-Prozessen in verschiedenen gesellschaftlichen Tätigkeitsbereichen (bisher ein Desiderat) vorzustrukturieren. Das betrifft sowohl Fragen der Akteurskonstellation, der individuellen Einstellungen der Akteur_innen sowie deren individuelle Vorbildung und Professionalisierung. Die Ergebnisse deuten aber auch darauf hin, dass ein auffallend großer Unterschied besteht zwischen der Wahrnehmung der Prozesshandlungen und der Identifizierung spezifischer Teilhandlungen als besonders relevant für eine gelungene Manuskriptrede auf der einen Seite und die tatsächliche Prozessgestaltung auf der anderen Seite. Auch im Verlagswesen (»Komm«) müssen Redner_innen ihre Manuskriptreden mündlich realisieren und performativ gestalten. Ebenso sind im Tätigkeitsbereich Politik (»Parker«) Rede-Performanzen einer Phase der Redetext-Produktion nachgelagert und durch das in der ersten Prozessphase erarbeitete Redemanuskript maßgeblich geprägt. Entsprechend erscheint es produktiv, in einem empirischen Projekt zur Erforschung von Schreib-Rede-Prozessen in Abhängigkeit von ihrer gesellschaftlichen Situierung Einstellungen nicht allein mithilfe von Interviews zu erfragen, sondern auf Handlungs- und Prozessdaten zurückzugreifen. Gerade in der Berücksichtigung dieser Spannungsfelder zwischen Einstellung und Handlung sowie zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Tätigkeitsbereichen liegt offenkundig ein produktiver Ansatzpunkt, um die Eigenschaften von kommunikativen Gattungen im Bereich des monologischen Sprechens, die in verschiedenen gesellschaftlichen Tätigkeitsbereichen situiert und etabliert sind, auffinden, verstehen und kategorisieren zu können.
6.
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Seminar für Allgemeine Rhetorik: Was ist Rhetorik? (letzter Zugriff: 19. 06. 2020). Strauss, Anselm L./Corbin, Juliet: Grounded Theory. Grundlagen Qualitativer Sozialforschung. Übersetzt von Solveigh Niewiarra/Heiner Legewie. Weinheim: Beltz 1996. Teller, Janne: Komm. Überarb. Aufl. München: dtv 2015.
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»Ja, zeige mir deinen Schreibtisch, und ich sage dir, wer du bist …« – Schreibtischerkundungen bei Werner Kofler und Peter Handke
1.
Einleitung
»Es gibt einen Traumtisch, den Hans Wegner Desk Model JH-571, er kostet aktuell 75.000 Franken. Wenn ich ihn besäße, wäre ich reich und könnte zehn Schreibtische haben, die ich zärtlich berühren würde.«1 So reagiert Sibylle Berg auf eine vom SZ-Magazin durchgeführte Umfrage zum Thema, welche Beziehung Autoren und Autorinnen zu ihren Schreiborten unterhalten, indem sie liebevollironisch zum Seitenhieb auf den Schreibtischfetischismus ihrer Zunft ausholt. Die Schriftstellerin und Kolumnistin bevorzugt die Austauschbarkeit ihres Schreibmöbels und nimmt diesem gegenüber damit eine emotional distanzierte Haltung ein, wie sie von schreibenden Frauen früherer Generationen generell eingefordert wurde. Ein objektphiles Verhältnis zum eigenen Schreibtisch stellte für diese nämlich ein absolutes Privileg dar, mussten sie sich ein eigenes Schreibmöbel und den »room of one’s own«,2 wie es in Virginia Woolfs gleichnamigem Essay heißt, gegenüber den Vätern und Ehemännern über die nächsten Jahrzehnte erst erobern. So blieb etwa auch Marie Luise Kaschnitz »in ihrer kurzen gestohlenen Zeit« nichts anderes übrig, als »heimlich im Caféhaus, zwischen dem Einkaufen« zu arbeiten3 – oder »auf meinem Bett, auf einem Liegestuhl, im Gras sitzend, immer mit angezogenen Knien, auf den Knien das Schulheft, das Kinderschulheft, in das ich Gedichte schreibe, oder Bruchstücke von Gedichten, oder Prosa«.4
1 Berg, Sibylle: Antwort auf eine Umfrage der Süddeutschen Zeitung. In: Existenzgrundlage. SZMagazin. 28. 09. 2017. (letzter Zugriff: 05. 09. 2020). 2 Vgl. Woolf, Virginia: A room of one’s own. Ed. by David Bradshaw/Stuart N. Clarke. Malden, Mass.: Wiley-Blackwell 2015. 3 Bienek, Horst: Werkstattgespräche mit Schriftstellern. München: dtv 1976, S. 52. 4 Kaschnitz, Marie Luise: Das dicke Kind und andere Erzählungen. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2020, S. 183.
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Gerade weil vermutet wird, dass Schreibtische potenziell Einfluss auf die literarische Tätigkeit haben, stellt das Nachdenken über die materielle Optimierung der Schreibbedingungen seit geraumer Zeit einen wesentlichen Teil der Literaturgeschichte dar. Wie die Schreibmöbel beschaffen sind, was sich auf ihrer Oberfläche und in ihren Schubladen befindet und wie die Schreibtischumgebung arrangiert ist, wurde gerade von männlichen Schriftstellern in den seltensten Fällen ganz dem Zufall überlassen. Bekannte Beispiele aus dem Reich der biografischen Anekdoten sind schnell zur Hand wie etwa Schillers Lagerung faulig riechender Äpfel in seiner Schreibtischschublade, die Goethe bei einem Besuch in einen Zustand nahe der Ohnmacht versetzt haben sollen. Entspricht die von Johann Peter Eckermann tradierte Episode tatsächlich der Wahrheit, wäre noch zu klären, ob der Fäulnisgeruch dem Schriftsteller tatsächlich Stimulanzium für sein Schaffen war oder ob dieser eine schlicht therapeutische Wirkung gegenüber Schillers belasteten Atmungsorganen erzielen sollte, wie doch weit eher anzunehmen ist.5 Thomas Mann, der in Bezug auf seine Selbstinszenierung sehr bewusst agierte, bezog sich in seinem Schreibtischarrangement dann unübersehbar auf Schiller. Als Reliquien der Autorschaft dienten Mann in seiner Münchner Zeit zwei Wachskerzen, wie sie auch auf Schillers Schreibsekretär in Jena zu finden waren.6 Dieses Arrangement findet sich nicht nur in Manns novellistischem SchillerPorträt »Schwere Stunde«, die den körperlich angeschlagenen Dichter in seinem Ringen um den »Wallenstein« in einer Nacht des Jahres 1796 imaginiert,7 sondern auch in »Der Tod in Venedig«: Gustav von Aschenbachs Weg führt jeden Morgen an den Schreibtisch, wo ihn »ein Paar hoher Wachskerzen in silbernen Leuchtern zu Häupten des Manuskripts«8 zur schriftstellerischen Tätigkeit anregen. Wenn »Schreibszenen in der Literatur« häufig konkret als »SchreibtischSzenen« dargestellt werden, wie Gerhard Neumann beobachtet, und »der Schreibtisch« dabei als »Schreibtheater« inszeniert wird,9 dann macht dies deutlich, wie das Möbelstück die Entfaltung eines spezifischen Wirkungsraumes zutage fördert. Dieser Befund trifft im allerkonkretesten Sinne auf Karl Kraus zu, 5 Vgl. Hertl, Michael: Schillers faule Äpfel. In: Goethe-Jahrbuch, Bd. 115. Hrsg. von Werner Keller. Weimar/Stuttgart: Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger 1998, S. 231–236. 6 Vgl. Vom Schreiben: 4. Im Caféhaus oder Wo schreiben? [Für die Ausstellung im SchillerNationalmuseum zwischen Juli und September 1996 und im Literaturhaus Berlin im Oktober/ November 1996]. Mit einem Essay von Ursula Krechel, bearbeitet von Rudi Kienzle. Marbacher Magazin 74, S. 22. 7 Ebd., S. 21. 8 Mann, Thomas: Der Tod in Venedig. Frankfurt/Main: S. Fischer 1992, S. 22. 9 Neumann, Gerhard: Die Schreibszene. Im Leben und in der Literatur. Ein Aperçu. In: Schreibszenen. Kulturpraxis – Poetologie – Theatralität. Hrsg. von Christine Lubkoll/Claudia Öhlschläger. Freiburg/Berlin/Wien: Rombach 2015, S. 27 [Herv. im Original].
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der sich selbst, wie er in der »Fackel« schreibt, als den »erste[n] Fall eines Schreibers [sah], der sein Schreiben zugleich schauspielerisch erlebt«.10 Der Schreibtisch von Kraus war umgeben von fotografischen Porträts von Schauspielerikonen seiner Zeit, die an den Wänden seines Arbeitszimmers in seiner Wohnung in der Lothringerstraße angebracht waren. Der Schriftsteller und Satiriker – den das Wiener Publikum ab 1910 zudem als öffentlichen Vorleser kennenlernen sollte – hatte sich damit selbst schreibend in die Rolle des Schauspielers versetzt, seinen Schreibtisch als Bühne und die Bilderkulisse als Zuschauerraum imaginiert.11 Zweifellos ließe sich die Liste von Schreibtischszenarien beliebig fortführen. Wenn Schreibtische nun in literarischen Texten vorkommen, so sind häufig Hinweise auf ihre spezifische Konstruktivität und Zeichenhaftigkeit gegeben. Der Erzählfaden reißt ab und öffnet den Raum für die Selbsterkundungen der Schreibenden an ihren Arbeitsplätzen.12 Schreibtische lassen sich somit als epistemische Möbel qualifizieren: Indem Autoren und Autorinnen ihre eigenen oder die Tische ihrer Protagonisten und Protagonistinnen erkunden, gewähren sie Einblicke in ihre Poetologie und geben bei autobiografisch grundierten Texten auch Anlass, nach den Formen und Funktionen von Autorschaftsinszenierungen zu fragen. Im Folgenden werden zwei Erzählungen aus der jüngeren deutschsprachigen Literatur einer Lektüre von Schreibtischkonstellationen unterzogen: Peter Handkes 2013 veröffentlichte essayistische Erzählung »Versuch über den Pilznarren« (der fünfte und abschließende Teil seiner Reihe an »Versuchen«) sowie das Prosastück »Am Schreibtisch« von Werner Kofler. Was die Ordnung der Dinge auf der Schreibtischoberfläche der zwei Autoren in den beiden Werken, genauer was Tabula rasa und Tabula plena – in der metaphorisch erweiterten Definition als leerer und angefüllter Schreibtisch – über ihre künstlerische Standortbestimmung auszusagen imstande ist, soll hier geklärt werden.
10 Kraus, Karl: »Nachts«. In: Die Fackel, Nr. 389–390 (15. Dezember 1913), S. 42. 11 Vgl. Ramer, Philipp: Ein Leben am Schreibtisch. Karl Kraus’ Wohnung in der Lothringerstraße 6 in Wien. In: Das Junge Wien – Orte und Spielräume der Wiener Moderne. Hrsg. von Wilhelm Hemecker/Cornelius Mitterer/David Österle. Berlin: de Gruyter 2020, S. 72 [im Erscheinen]. 12 Pelz, Annegret: Was sich auf der Tischfläche zeigt. Handke als Szenograph. In: Peter Handke. Poesie der Ränder. Hrsg. von Klaus Amann, Fabjan Hafner und Peter Handke. Wien/Köln/ Weimar: Böhlau 2006, S. 21.
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2.
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Werner Kofler: »Am Schreibtisch«
Wäre man in die unglückliche Lage versetzt, den inhaltlichen Kern von Koflers Prosaskizze benennen zu müssen, bliebe nur der Hilfe suchende Blick auf den stummen Zeugen der Autoraktivität: den Schreibtisch. Im Wesentlichen handelt »Am Schreibtisch« von einer Art Autorfigur, die am Schreibtisch sitzend über ihr eigenes Schreiben sinniert und dabei kaum je über die Schilderung der Schreibsituation hinauskommt.13 Klaus Wagenbach, der Koflers Prosaarbeiten bis dato verlegerisch betreute, erteilte »Am Schreibtisch« eine Absage mit dem Grund, der Inhalt des Prosastücks sei allzu sehr zu einem »Versatzstück« heruntergekommen, und riet Kofler als »langjährige[m] Freund«, er solle »endlich eine Entziehungskur« machen.14 Immer wieder beginnt der Erzähler, der unübersehbare charakterliche und biografische Ähnlichkeiten zum Autor Kofler aufweist, eine konkrete Handlung auszubreiten und bestimmte Episoden zu schildern, welche zumeist im Zusammenhang größerer Gegenwartsdiskurse stehen: die Kritik an der ökologischen Zerstörung der Alpenregionen durch den Tourismus, die verspätete und völlig mangelhafte Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen in Österreich oder die Ökonomisierung des Literaturbetriebs. Anstatt jedoch einem der Erzählfäden nachzugehen, kehrt der Erzählvorgang extradiegetisch immer wieder an den Schreibtisch zurück, wo in Form einer imitatio – angelehnt an die kompositorischen Verfahren der Musik – das neue Schreibvorhaben in jeweils leicht abgewandelter Weise verkündet wird: »Mit diesem Satz werde ich, an den Schreibtisch zurückgekehrt, das nächste Kapitel eröffnen.«15 Der schnelle Wechsel der Handlungsräume als Resultat der sprunghaften Erzählweise schafft eine – mit einem Wort des Erzählers – »Unsinnsgeographie« (S. 20). Von den Hohen Tauern, wo ein Bergführer und ein Tourist im wechselnden Austausch der Ich-Perspektive eine Bergbesteigung unternehmen, geht es mit dem Zug »in die deutsche Geschichte«, wo das gerade erzählende »Ich«Subjekt etwas »erleben« möchte. Und nach zahlreichen weiteren irrfahrtlichen Kurzepisoden werden die Leser und Leserinnen schließlich ins Deutsche His13 Pelz, Annegret: Tischgesellschaft mit Autor. Werner Koflers Schreibszenarien. In: Werner Kofler. Texte und Materialien. Hrsg. von Klaus Amann. Wien: Sonderzahl 2000, S. 131. 14 Klaus Wagenbach an Werner Kofler, Brief vom 30. 08. 1987. Abgedruckt in: Amann, Werner Kofler. 2000, S. 143. In dem nochmals überarbeiteten und schließlich bei Reinbek veröffentlichten Text integriert Kofler auch die Kontroverse mit seinem einstmaligen Stammverleger: »Ich mache mir keine Illusionen: Wenn dieser Verleger […] meine Bücher nicht wieder auflegt, bin ich erledigt« (S. 60). 15 Kofler, Werner: Triptychon. Am Schreibtisch. Hotel Mordschein. Der Hirt auf dem Felsen. Wien: Deuticke 2005, S. 58 (Seitenangaben fortlaufend im Text).
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torische Museum geführt, wo die Erzählung schlagartig abbricht. Die Formel des Erzählers: Schreiben ist »Bergwandern im Kopf« (S. 35) – ist als eine Aufforderung an den Leser zu verstehen, innerhalb dieser »Unsinnsgeographie« lesend herumzuwandern und die Deformierung der herkömmlichen Genrebestimmung von Alpensaga und Reiseerzählung, die er in seinem Text vornimmt, anzunehmen.16 Warum es in Koflers Prosaskizze von vornherein fast unmöglich scheint, dass eine lineare Geschichte entsteht, liegt in der »asymptotische[n] Gleichzeitigkeit von Schreibtisch und diegetischer Welt«.17 Die Übermacht des Schreibtisches bewirkt eine Hierarchisierung des Raumes gegenüber der Zeit, was die lineare Strukturierung des Erzählmaterials zur Herausforderung für den Autor werden lässt und den fortwährenden Bruch inhaltlicher Folgeverhältnisse provoziert.18 Dazu kommt die fehlende Ordnung auf dem Schreibtisch, in die der Erzähler am Ende des Romans ausführlich Einsicht gibt, als er seinen Tisch zufällig in einem Museum erblickt: »[D]ort stand mein Schreibtisch! Alles war vorhanden, die Aufbauten, der zurückgeschobene Rollbalken, der schwere Radioapparat links auf dem Oberdeck, die Lampe, und alles in der Anordnung, in der Unordnung, die meine geheime Ordnung ist, in der ich meiner Erinnerung nach alles zurückgelassen hatte: Die Bleistifte und die Farbstifte rechts von der alten Schreibmaschine, der Notizblock, die rechts vom Sessel wie eine Anrichte herausgezogene Holzplatte, die mir als eine Art Theke dient, und tatsächlich waren auch mein Pilsglas und die dazugehörigen [sic] Flasche, der Aschenbecher, die Zigarettenpackung, mein nachgebautes Sturmfeuerzeug und das gefüllte Schnapsglas zu sehen« (S. 146).
Die Bemerkung des Erzählers über die Produktivität seiner »Schreibtisch-UnOrdnung« erinnert an Kafkas Tagebuchnotiz vom Weihnachtsabend 1910. Er habe sich seinen Schreibtisch nun »genauer angeschaut und eingesehn, daß auf ihm nichts Gutes gemacht werden kann. Es liegt hier so vieles herum und bildet eine Unordnung ohne Gleichmäßigkeit und ohne jede Verträglichkeit der ungeordneten Dinge, die sonst jede Unordnung erträglich macht«.19 In seiner Aufzeichnung am Folgetag nimmt sich Kafka seine Schubladen vor, wo in die Jahre gekommenes Schreibmaterial, Zeitungen und Post nebst simplen Hygieneartikeln und Kleidungsaccessoires – »Kragenknöpfe, stumpfe Rasiermessereinlagen (für die ist kein Platz auf der Welt), Krawattenzwicker« – ein »Rumpelkammer«-Dasein fristen.20 16 Vgl. Schmidt-Dengler, Wendelin: Werner Kofler. In: Jenseits des Diskurses. Literatur und Sprache in der Postmoderne. Hrsg. von Albert Berger. Wien: Passagen 1994, S. 296. 17 Ebd., S. 299. 18 Vgl. Pelz, Tischgesellschaft mit Autor. 2000, S. 132. 19 Kafka, Franz: Tagebücher 1910–1923. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983, S. 26. 20 Ebd.
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Indem Kafka das Chaos auf seinem Schreibtisch mit dem unerhörten Treiben in den Zuschauerrängen während einer Theatervorführung vergleicht, definiert er die Ordnung der Dinge auf seinem Schreibtisch, welche das Zustandekommen des schöpferischen Akts gewährleisten soll, in Analogie der Ordnungsregeln im Theater. Die Bühne des Theaters steht hier bildlich für den Schreibakt, der durch die Schreibtischbeobachtungen des Autors (in der Bildsprache: durch die Blicke der Zuschauer von ihren Rängen) auf kreative Weise initiiert wird. Unweigerlich ist hier an das Arbeitszimmer von Karl Kraus zu denken, wenn Kafka seine Schreibszene als Theaterszenerie versinnbildlicht und versinnlicht. Kafka und Kofler jedenfalls verbindet, dass sie den Gegenständen entsprechende Rollen im Schreibakt zuweisen und die Schreibszene damit als »instabiles Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste« (wie Rüdiger Campe schreibt), d. h. in ihrer theatralen Qualität, erfahren. Was den Prager und den Kärntner Schriftsteller trennt, ist die Art und Weise, wie sie die (Un-)Ordnung der Dinge auf dem Schreibtisch im Rahmen ihrer Selbstdeutung kommunizieren. Während Kafka vermeint, dass das Chaos seiner künstlerischen Produktivität abträglich ist – das ist natürlich Koketterie, erweisen sich die beiden Tagebucheinträge doch als eine mit rhetorischen Mitteln raffiniert hervorgebrachte »Poetologie der Schreibszene als literarische Gattung«21 – macht Koflers Erzähler kein Geheimnis daraus, dass es gerade die »schreckliche Unordnung« (S. 21) ist, die bei ihm die »geheime Ordnung« (S. 146) des Textes hervorbringt. Auf der Schreibtischoberfläche sammelt Letzterer das Material, das mithilfe literarischer Montage narrativ verarbeitet und in neue Zusammenhänge gesetzt wird: Bücher, Zeitungsmeldungen, Fotografien (S. 40), Radioberichte und Notizzettel, auf denen die »Spuren in den Alltag« (S. 90) bzw. die an den Nachbartischen abgelauschten Gesprächsfetzen festgehalten sind. So kommt dem Erzähler inmitten eines Gedankenstroms beispielsweise die Erinnerung an seinen Bergführer im Sommer: »Wie komme ich jetzt auf den Bergführer? Ja richtig, die Notiz, wo habe ich sie nur, ich hatte aus der Sommerfrische eine kleine, aber sehr wichtige Notiz mitgebracht, einen Zettel, ah, diese vielen Papiere, hier, das muß es sein, hier steht: […]« (S. 34). Der Schreibtisch ist intertextueller und intermedialer Kreuzungspunkt der Diskurse und damit auch Ausgangspunkt für sein brüchiges Schreibverfahren.22 Schere und Klebstoff, die dieses vielfältige Wort- und Zeichenmaterial neu ordnen, ersetzen im Sinne von Roland Barthes’ Scripteur das klassische Schreibwerkzeug. Im Gegensatz zu Barthes, der eine antimythologische, vor allem über das Handwerkliche definierte Lesart der Schreibszene unternimmt und für den die interpretative Rückbindung der Texte auf die Tischszene als »die 21 Neumann, Die Schreibszene. 2015, S. 28. 22 Vgl. Schmidt-Dengler, Werner Kofler. 1994, S. 296.
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materiellste, […] die minimalste Ebene […], die möglich ist«,23 figuriert der Schreibtisch bei Kofler als Ort und Gegenstand, als Form und Inhalt seines selbstkommentierenden Schreibens.
3.
Tabula rasa und Tabula plena
Sabine Mainberger spürt in den verstreut vorliegenden Schreibtischreflexionen in Georges Perecs »Penser/Classer« und »Das Allerheiligste«24 den Bedeutungen vom leeren und angefüllten Schreibtisch nach.25 Perec identifiziere den leeren Tisch als ein »Emblem der Macht«.26 Gerade im Kontext politischer Selbstinszenierung drücke er aus, dass der Inhaber oder die Inhaberin nicht zu arbeiten brauche und den Schreibtisch nur als Operationszone des Delegierens benötige.27 Der volle Tisch hingegen ist seines funktionellen Eigensinns nach Ort der Arbeit.28 Dessen Oberfläche unterliege ständiger Bewegungen – Überlappungen, Neuordnungen und Sortierungen – und bietet sich dem aufmerksamen Selbstbeobachter somit als »Archäologie der Gewohnheiten und Mechanismen« dar.29 Entscheidender für den literaturwissenschaftlichen Kontext ist aber die Unterscheidung zweier Ordnungsmodi, die an dem leeren und dem angefüllten Schreibtisch lokalisiert werden können und die jeweils für ein spezifisches Verhältnis von Schreiben und Welt stehen. Der in der Antike und im Mittelalter gebräuchlichen Tabula rasa – einer meist einseitig mit Wachs beschichteten Schreibtafel, die durch Abschaben der Schrift geglättet und damit neu beschrieben werden konnte – stellt Mainberger in einem erweiterten Verständnis 23 Barthes, Roland: Ein fast manisches Verhältnis zu den Schreibwerkzeugen. In: Die Körnung der Stimme. Interviews 1962–1980. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, S. 197. 24 Vgl. Perec, Georges: Das Allerheiligste [»Le Saint des Saints«]. In: Warum gibt es keine Zigaretten beim Gemüsehändler. Bremen: Manholt 1991, S. 77–82. 25 Vgl. Perec, Georges: Anmerkungen hinsichtlich der Gegenstände, die auf meinem Schreibtisch liegen [»Notes concernant les objets qui sont sur ma table de travail«]. In: In einem Netz gekreuzter Linien. Bremen: Manholt 1996, S. 15–20. 26 Mainberger, Sabine: Schreibtischporträts. Zu Texten von Arno Schmidt, Georges Perec, Hermann Burger und Francis Ponge. In: Europa. Kultur der Sekretäre. Hrsg. von Bernhard Siegert/Joseph Vogl. Zürich/Berlin 2003, S. 186. 27 Ebd., S. 184. 28 Die Bedeutung der Bildsymbolik in der Sphäre des Politischen wird auch in der »Spiegel«Fotostrecke »Weltlenker am überfüllten Schreibtisch« deutlich vom 16. 01.2017. (letzter Zugriff: 05. 09. 2020). Siehe in diesem Zusammenhang auch Lehnen, Katrin/Schindler, Kirsten: Orte, Räume, Rituale. Erkundung von Schreibtischen und Arbeitsplätzen als Teil der Schreibforschung. In: Von (Erst- und Zweit-)Spracherwerb bis zu (ein- und mehrsprachigen) Textkompetenzen. Hrsg. von Lena Decker/Kirsten Schindler. Duisburg: Gilles & Francke 2019, S. 236. 29 Mainberger, Schreibtischporträts. 2003, S. 186.
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von »Schreibtisch« die Tabula plena gegenüber: die beschriebene Tafel. Hinter der Tabula rasa, dem leeren Schreibtisch, steht der »Traum […] vom Neubeginn ohne Gedächtnis, von der Konstruktion, wo alles notwendig und nichts unbegründet ist, der Traum von der Kontrolle und Souveränität über die Wörter, das Werk, die Welt«. Konträr dazu drückt die Tabula plena, also der volle, ungeordnete Schreibtisch, »die Sucht nach der Geschichte unterhalb der Geschichte mit ihrem Verfahren, wechselnde Zustände zu registrieren«, aus.30 Die Unterscheidung von Tabula rasa und Tabula plena als Weisen poetologischer Selbstbefragung ist auch anschlussfähig an die Untersuchung von Koflers und auch Handkes Schreibtischbeobachtungen. Die Souveränität des Autors über die Wörter, über das Werk, was den wesentlichen Bestandteil einer konventionellen, durch Dichterbilder der Genieästhetik geprägten Autorkonzeption darstellt, wird bei Kofler bewusst infrage gestellt. Sein Schreibtisch ist ein Ort komplexer intertextueller und intermedialer Konstellationen und Überschreibungen, also eine Tabula plena, und das nicht nur, weil auf seiner Schreibtischoberfläche die prozessualen Übergänge von Schreiben, Lesen, Sammeln, Schneiden und Kleben greifbar werden, sondern auch, weil Koflers Schreibtisch als Alltagsplatz inszeniert wird, auf dem höchst weltlich gegessen, getrunken und gesprochen wird. Koflers Schreibtisch ist demnach kein Tempel der Kunst, sondern ein profaner Ort des Alltags. Dem nicht ganz unähnlich wird die Tabula plena von der Architekturhistorikerin und Designerin Bryony Roberts bildkontextuell aufgegriffen. Roberts aktualisiert die beiden »Tafeln« in metaphorisch erweiterter Bedeutung als Modi städteplanerischer Gestaltung – der konservierenden Erweiterung und der radikal-modernistischen Erneuerung31 – und versteht die Tabula plena dabei »as a table after a dinner party, with the complex arrangements of plates, glasses and silverware positioned by a series of social negotiations«.32 Mit Rückgriff auf Roberts lässt sich die Tabula plena nicht nur als Ort alltäglicher Überschreibungen, sondern auch als das Operationsfeld diskursiver Verhandlungen interpretieren. In Koflers allererstem, stark autobiografisch grundiertem Erzähltext
30 Ebd., S. 187. 31 Während Roberts unter Tabula rasa das modernistische und irreversible Abtragen vorhandener Baustrukturen zugunsten neuer versteht, sieht sie in dem von ihr bevorzugten Tabula plena den konservierenden Zugriff auf das historische Zeichenmaterial, das architektonische Umbauen, Erweitern und Verdichten. Vgl. hier auch Langdalen, Erik Fenstad: (Pre)Served at the Table. In: Experimental preservation. Hrsg. von Jorge Otero-Pailos/Erik Langdalen/ Thordis Arrhenius. Zürich: Lars Müller Publishers 2016, S. 172. 32 Roberts, Bryony: Preface. In: Tabula Plena: Forms of Urban Preservation. Zürich: Lars Mu¨ ller Publishers 2016, S. 5.
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»Guggile: vom Bravsein und vom Schweinigeln« fällt dazu passend das Wort vom »Tischkurs«.33 Koflers Schreibtischdarstellungen im Roman dienen auch der Herstellung eines spezifisch antiauratischen Dichterbildes, wie in den letzten drei Kapiteln seines Prosastücks deutlich wird.34 Hier lässt der Autor einen »Ich«-Erzähler, der Abgesandter der internationalen Gesellschaft für vergleichende Museumsforschung ist, das »Deutsche Historische Museum in Berlin« besuchen. Er wird vom dortigen Museumskustos durch 38 Räume geführt, die die Geschichte Deutschlands sinnlich erfahrbar machen sollen – wobei mit Geschichte in Koflers Werk eigentlich ausnahmslos die Zeit der NS-Diktatur gemeint ist. Das Museum erstreckt sich vom »Ehrenhain der deutschen Tonkunst« (S. 138), wo einige jener Komponisten an ihren Dirigierpulten zu sehen sind, die mit dem nationalsozialistischen Regime kollaborierten oder sich mit ihm gut arrangierten, über die Halle »Schreibtische der Dichter und Denker« (S. 141) bis hin zur »Raum-in-Raum-Installation« der Massenvernichtungslager, bei der Besucher und Besucherinnen beispielsweise Nachbildungen von Leichen aus Marzipan erwarten können (S. 153). Die »Idee einer begehbaren Geschichte« (S. 128), die Kofler sowohl in den letzten beiden Kapiteln wie auch in seinem fünf Jahre späteren Film »Im Museum« aufgreift, bietet einen der vielen fiktional und satirisch bis an die Grenze des guten Geschmacks ausgereizten Realpartikel des Prosastücks. So spielt es zum einen auf den letztlich unrealisiert gebliebenen Plan eines »History-Land-Projekts« des österreichischen Bauunternehmers Robert Rogner an. Sein Entwurf eines kugelförmigen Gebäudes, in dessen Inneren eine Liliputbahn Passagiere durch die Menschheitsgeschichte geführt hätte, wurde von Kärntner Bürgerprotestlern, die in dem Projekt eine »radikal simplistische Aufbereitung von Geschichte« erkannten, schließlich zu Fall gebracht.35 Zum anderen gibt es einen noch direkteren Hinweis auf das Deutsche Historische Museum in Berlin, das nach den Wünschen vom damaligen regierenden Bürgermeister Westberlins, Richard von Weizsäcker, und Bundeskanzler Helmut 33 Kofler, Werner: Guggile: vom Bravsein und vom Schweinigeln. Eine Materialsammlung aus der Provinz. Berlin: Wagenbach 1975, S. 25. Vgl. Pelz, Tischgesellschaft mit Autor. 2000, S. 138. 34 Seine eigene Schriftstelleraura torpediert der Erzähler im Roman allein damit, dass er in einer Tour gegen die Ökonomisierung des Literaturmarktes ins Feld zieht und die medienwirksamen Inszenierungen ihm prinzipiell verdächtig erscheinender österreichischer Erfolgsschriftsteller verlacht. 35 Straub, Wolfgang/Dürr, Claudia: »History-Land-Projekt«. In: Werner Kofler: Kommentar zur Werkausgabe. Hrsg. von Wolfgang Straub/Claudia Dürr. 2019. (letzter Zugriff: 04. 09. 2020). Der Versuch, sein »History-LandProjekt« schließlich auf dem Gelände des nicht in Betrieb genommenen Atomkraftwerkes Zwentendorf zu errichten, missglückte ebenfalls. Vgl. Mnemosyne (o. J. [1989]): Mnemosyne. Zeitschrift für Geisteswissenschaft, Sondernummer: »History-Land«. Hrsg. von Andrea Lauritsch/Armin A. Wallas. Klagenfurt, S. 7.
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Kohl in einem Repräsentationsbau auf dem Gebiet zwischen Reichstag und Spree ganz neu hätte entstehen sollen.36 Das Projekt war von Anbeginn begleitet von einer kontroversiellen, zeitlich mit dem »Historikerstreit« zusammenfallenden Diskussion über die Einbettung der deutschen Katastrophe in ein Gesamtpanorama deutscher Geschichte37 sowie in den Kontext eines »Erlebnismuseums«.38 Die Pointe von Koflers Auseinandersetzung mit dem Museum als zentralem Ort gesellschaftlicher Wirklichkeitsproduktion zielt, wie Wendelin Schmidt-Dengler schreibt, entsprechend gegen die »Mode, Geschichte museal simulieren zu können, gegen Geschichte in der Simulation statt in der Reflexion«.39 Kofler geht es aber freilich nicht nur um die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Musealisierbarkeit der Geschichte des Nationalsozialismus und der Shoa. Wenn der Erzähler in seinem Museumsgang am Ende des Prosastücks die »Dichter und Denker« sowie die Größen der »deutschen Tonkunst« an ihren Schreibtischen parodistisch ins Bild setzt, dann nimmt er einen Künstlertypus kritisch ins Visier, dessen produktionsästhetischer Zugriff auf die Welt einer Vorstellung von Tabula rasa entspringt. All das, was grundsätzlich dafür prädestiniert ist, als »Reliquie der Autorschaft«40 in Sammlungen, Archiven, Literaturmuseen, Dichterhäusern und an Denkmälern bewahrt zu werden (wie Papier, Schreibgerät und Schreibtisch),41 lässt sich in der dem Museum so charakteristisch isolierten Präsentation als »Geste des Schaffen[s] aus dem Nichts von Geschichte« interpretieren.42 Das Museum authentifiziert die genieästhetische Autorkonzeption als Tabula rasa, weil die spärlich überlieferten Realien auf dem leeren Schreibtisch stets auf die Präsenz von etwas Größerem – auf dem Schreibtisch nicht zu Sehendem – verweisen.43 Im Gegensatz etwa zu Thomas Mann, der das musealisierte, über Fotografien zugängliche Schreibtischarrangement Schillers als Inspirationsquelle für die ei36 Nach dem Fall der Mauer sah man von den Bauplänen ab und übertrug das Zeughaus Berlin, das älteste Gebäude »Unter den Linden«, in dem sich bereits das damalige »Museum für Deutsche Geschichte« befunden hatte, dem Deutschen Historischen Museum. 37 Vgl. Mälzer, Moritz: Ausstellungsstück Nation. Die Debatte um die Gründung des Deutschen Historischen Museums in Berlin. Reihe Gesprächskreis Geschichte. H. 59, S. 133. (letzter Zugriff: 04. 09. 2020). 38 Fetz, Bernhard: Stimmen hören. Zu Werner Koflers Triptychon »Am Schreibtisch«, »Hotel Mordschein«, »Der Hirt auf dem Felsen«. In: Strukturen erzählen. Die Moderne der Texte. Hrsg. von Herbert J. Wimmer. Wien: Edition Praesens 1996, S. 138. 39 Schmidt-Dengler, Werner Kofler. 1994, S. 301. 40 Krechel, Ursula: Ausgesetzt in Einfallschneisen. In: Vom Schreiben: 4, bearbeitet von Rudi Kienzle. 1996, S. 15. 41 Zum Verhältnis von Genieästhetik und Tabula rasa siehe: Holm, Christiane: Möbel. In: Handbuch Literatur & Materielle Kultur. Hrsg. von Susanne Scholz/Ulrike Vedder. Berlin/ Boston: de Gruyter 2018, S. 426. 42 Mainberger, Schreibtischporträts. 2003, S. 187. 43 Holm, Möbel. 2018, S. 426.
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gene Autorschaft übernimmt, wendet sich Kofler höchst kritisch gegen diese Form der Nobilitierung des Schreibtisches zum Ritualobjekt. In dessen Augen bedingt es die museale Inszenierung des Schreibmöbels, dass gerade das in der Abwesenheit Anwesende, also der »große Dichter«, Auratisierung erfahre. Die konstituierende Eigenschaft des Tisches – nämlich Operationstisch vielfältiger bewusster und unbewusster intertextueller Eingriffe zu sein (eine Tabula plena) – würde dadurch hingegen völlig verschleiert werden. Indem Kofler ein zentrumsloses Schreiben praktiziert und in seiner erzählerisch vermittelten Autorpräsentation ganz bewusst hinter sein Material auf dem Schreibtisch tritt,44 wendet er sich auch bewusst gegen diese auratische Repräsentationsgeste.
4.
Peter Handke: »Versuch über den Pilznarren«
Handke setzt wie kaum ein deutschsprachiger Autor unserer Zeit sehr bewusst und gekonnt auf visuelle Formen der Autorschaftsinszenierung. Das verdeutlichen die ikonisch gewordenen Fotografien mit Beatles-Pilzkopf in den späten 1960er Jahren genauso wie die im Kontext der Nobelpreisberichterstattung gezeigten jüngsten Fotografien in seinem 1990 erstandenen unverputzten Sandsteinhaus in Chaville, die ihn als Guru und Einsiedler darstellen und eine antipräsentische Inszenierungsabsicht deutlich werden lassen. Dass für die künstlerische Selbstpräsentation auch Schreibtischporträts, mit und ohne Dichter, unabdingbar sind, ist selbstredend, eint doch das Medium des Dichterbildes und das Gebrauchsmöbelstück die Tatsache, dass sie beiderseits das Zusammentreffen von Sinnlichkeit und Schreiben anschaulich machen. So sinnlich wie selbsterkundend Handkes literarisches Schreiben ist, so überreich ist es auch an »Tischszenen«.45 In zahlreichen Erzählungen und Romanen tritt der Schreibtisch als Gegenstand poetologischer Selbstreflexion auf wie in dem 2013 veröffentlichten essayistischen Prosatext »Versuch über den Pilznarren«.46 Es ist der fünfte und – wie der Autor selbst betont – letzte seiner philosophisch-essayistischen Reihe von »Versuchen«, die 1989 mit dem »Versuch über die Müdigkeit« begonnen hat. In ihnen holt Handke jene Erfahrungen und Erscheinungen sowie Dinge, Orte und Gefühle, die im gewohnten Alltagstreiben verdeckt bleiben, mit aller Achtsamkeit an die Oberfläche des Bedeutungsvollen zurück und stimmt nebenbei ein selbsterkundendes Nachdenken über die Beziehung zwischen Welt und Schreiben an. 44 Vgl. Fetz, Stimmen hören. 1996, S. 135. 45 Eine kompilatorische Auflistung der Tischszenen in Peter Handkes Werk findet sich bei: Pelz, Was sich auf der Tischfläche zeigt. 2006, vor allem S. 21–24. 46 Handke, Peter: Versuch über den Pilznarren. Eine Geschichte für sich. Berlin: Suhrkamp 2013 (Seitenangaben fortlaufend im Text).
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Der »Versuch über den Pilznarren« handelt – auf der Ebene der Binnenerzählung – von einem Mann, einem Freund des Erzählers, der von Kindheit an eine ungemeine Faszination für Pilze und eine Leidenschaft für das Sammeln entwickelt. Seiner Tätigkeit als Strafverteidiger am Internationalen Gerichtshof in Den Haag, die ihm aufgrund seiner Erfolge internationale Bekanntschaft einbringt, kann er immer weniger nachgehen, denn das Pilzesuchen wächst sich zur absoluten Manie aus. Der Pilznarr wird immer besessener, verlässt Frau und Kind und verschwindet als Einsiedler für lange Zeit von der Bildfläche.47 Sind es bei Kofler gerade die ausführlichen Beschreibungen seiner Schreibtischoberfläche, die Hinweise auf poetologische Positionierungen geben, ist es bei Handke vor allem die Einbettung des Schreibtisches in die unmittelbare Raumumgebung. Die Binnenerzählung ist gerahmt von Schilderungen der Schreibsituation des Erzählers, der gleich zu Beginn erläutert, wie er die Geschichte über seinen Freund, den Pilznarren, zu schreiben beginnt: »›Und wieder wird es ernst!‹, sagte ich vorhin unwillkürlich zu mir selber, bevor ich mich auf den Weg zu dem Schreibtisch hier machte, wo ich jetzt sitze in der Absicht, mir über die Geschichte meines verschollenen Freundes, des Pilznarren, eine gewisse – oder eine eher ungewisse – Klarheit zu verschaffen« (S. 7).
Die Erfahrungsqualität des Raumes vermittelt der Erzähler – eine zwar fiktive, aber gleichermaßen sehr an Peter Handke erinnernde Autorfigur48 – gleich zu Beginn im Text durch eine popkulturelle Analogie: Als Vorbild für seine Erzählung diente ihm der Wildwestfilm »Two Rode Together« von John Ford – einem der Lieblingsregisseure Handkes. Der Film startet damit, dass Marshal Guthrie MacCabe, gespielt von James Stewart, mit ausgestreckten, in Stiefeln steckenden Beinen auf der Veranda seines Büros sitzt, in stereotyper Westernmanier den Hut über die Augen gezogen hat, bis er sich erhebt und »ins neue Abenteuer« (S. 9) aufbricht.49 Diese Anfangsszene kommt dem Erzähler in den Sinn, als er sich selbst zum Schreibtisch aufmacht:
47 Die Erzählung endet mit der Zusammenführung der Rahmen- und Binnenerzählung; der Pilznarr wird seinen Freund, den Erzähler seiner Geschichte, besuchen und bei diesem eine unbestimmte Zeit lang wohnen – ausgerechnet in jenem Annex, in dem auch der Schreibtisch des Erzählers platziert ist: »Er bestand darauf, in dem winzigen Anbau zu übernachten, einem ehemaligen Verschlag für Werkzeuge, zu klein für ein Pferd, selbst fürs Behufen, wobei das Pferd halb im Freien steht, oder?« (S. 197) 48 Auch ohne dass Handke dem Leser einen autobiografischen Pakt im Lejeune’schen Sinne anbietet, lassen sich im Text unzählige autobiografische Signale finden. Nicht nur nennt sich der Erzähler im Text selbst als Urheber der beiden Romane »Die Wiederholung« und »Mein Jahr in der Niemandsbucht« (S. 59), sondern der Text endet auch mit der Orts- und Zeitangabe »(Chaville November–Dezember 2012)« (S. 217), was mit dem Entstehungskontext des Buches nachweislich übereinstimmt. 49 You, Jie: Peter Handkes »Versuche«: Eine Poetik des Alltäglichen. Münster: LIT 2016, S. 192.
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»Ich saß da gerade selber so mit ausgestreckten Beinen, in Stiefeln. Allerdings war das auf keiner Veranda, und auch nicht im tiefen Süden, sondern im düsteren Norden, fern von Sonne und Sonne, die Beine auf der Fensterbank innen in einem jahrhundertealten Haus mit fast meterdicken Mauern und draußen die Schwaden des Spätherbstregens, und ein kalter Wind, der aus den schon durchsichtigen Buchenwäldern des Plateaus durch die Scheibenritzen strich, und die Stiefel waren Gummistiefel, ohne die kaum ein Gehen möglich, schon gar nicht querfeld oder querwaldein, und diese Stiefel zog ich, als ich mich dann aufmachte zum Schreibtisch, ›aus‹« (S. 10).
Ausschlaggebend für die Schilderung der Schreibsituation scheint hier die Positionierung des Schreibtisches. Das Schreibmöbel steht im sogenannten Annex, dem kleinen Schuppen neben dem eigentlichen Wohnhaus, der ursprünglich der Lagerung der Pferde zugedacht war (S. 195). Durch die beiläufige Erwähnung, dass der Erzähler auf Stiefel angewiesen ist, wenn er sich »querfeld oder querwaldein« dorthin bewegt, wird einerseits die Widerständigkeit des Raumes, andererseits die Abgeschiedenheit des Schreibortes zum Ausdruck gebracht. Aus der Beschreibung der Schreibtischumgebung, die auch Hinweise auf den Modus des raumkonstituierenden Mappings gibt – d. h. auf die Art und Weise, wie sich der Autor im Text seine Umgebung bildlich einverleibt –, lassen sich »das ziemlich abgelegene Haus« in der »ziemlich menschenleeren Landschaft zwischen Paris und Beauvais«, die »kleine[], nur morgens und abends ein wenig befahrene[] Straße« und der »frei nach Vergils Eklogen, glaube ich, ›arme[]‹ Garten« (S. 196) als entscheidende topografische Erfahrungsqualitäten dechiffrieren. Der Schreibtisch, von dem der Erzähler lediglich zu berichten weiß, dass darauf eine Lampe platziert ist, spiegelt die Leere der Schreibtischumgebung als entscheidendes bildsemantisches Signal wider.50 Die eskapistische und entschleunigende Qualität der Schreibszenen im Text bedingt nicht zuletzt die Technikbefreitheit der Tischoberfläche. Der fiktionale Autor kommt hier seinem Alter Ego Peter Handke äußerst nahe, welcher auf die Frage von Dokumentarfilmerin Corinna Belz, was er denn mit »Technik« am Hut habe, meinte: »Technik – Das erotisiert mich nicht.«51 An dieser Stelle sei nochmals auf die von Sabine Mainberger für die literaturwissenschaftliche Diskussion anschlussfähig gemachte Unterscheidung vom leeren und vollen Schreibtisch – in der alternativen Definition der römischen Tabula rasa und Tabula plena – zurückgekommen. Während der Schreibtisch in 50 »Armut« dient hier auch als Metapher für »das Ablegen der mit Vor-Stellungen und Vorurteilen belasteten Subjektivität, die die Welt bereits strukturiert, geordnet und gedeutet hat«, wie sie zur selben Zeit noch deutlicher bei Rilke und dessen ästhetischen Leitfiguren Rodin und Cezanne poetologisch fruchtbar gemacht wird. Mit dem Bild des »armen Dichters« ist auch dessen Aufgeschlossenheit allen – auch den als niedrig bewerteten – Dingen gegenüber ausgedrückt (vgl. Bamberg, Claudia: Hofmannsthal. Der Dichter und die Dinge. Heidelberg: Winter 2011, S. 63f.). 51 Belz, Corinna: »Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte«. Dokumentarfilm (D), 2016.
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Koflers Erzählung einer Tabula plena entspricht, lässt sich das Möbelstück in »Versuch über den Pilznarren« weit eher als eine Tabula rasa versinnbildlichen. Das hat nun nicht nur damit zu tun, dass die Schreibtischoberfläche des fiktiven Autors in Handkes Erzählung poetologisch folgenreich als leer alludiert wird. Wie gerade die Parallelisierung des Anfangs mit dem Wildwestfilm »Two Rode Together« nahelegt, geht es ihm um das Abenteuer des Neuanfangs. Wenn der Weg des Autors zu seinem Schreibtisch – »die paar Schritte hinaus und hinein an den Schreibtisch« – ein »Sich-auf-den-Weg-Machen« darstellt, dann figuriert der Schreibakt für diesen gemeinhin als »Aufbruch« in ein »neues Abenteuer«, wie es bei Handke heißt. Der Schreibtisch ist dieser Bedeutungskette nach der Ort, an dem sich das Abenteuer abspielt, wie der Autor auch in anderen Werkkontexten immer wieder betonte. Ihm ist nicht daran gelegen, »Außenabenteuer« zu erzählen, sondern »innere Abenteuer«, wie es etwa in seinem Roman »Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos«52 heißt: vom Abenteuer der Alltäglichkeit,53 von inneren Gefahrenexpeditionen, von Krisenerfahrungen und epiphanischen Glücksmomenten, von verzweifelter Identitätssuche und vom Wiederfinden des emotionalen Gleichgewichts, und natürlich immer wieder vom Schreibakt selbst, der dem Autor, wie Andreas Schirmer betont, im Grunde genommen als das »prototypische Abenteuer« gilt.54 Dass er sich dabei mit Vorliebe den Genres Epos und Epopöe – also den epischen Idealformen seiner Abenteuersujets – bedient, ist aus diesem Stoff- und Motivkontext zu verstehen.55 Es wäre verfehlt zu interpretieren, dass der Aufbruch in das ›Abenteuer des Neuen‹ für den fiktiven Autor alternativ-rigoristisch bedeutet, dass er Tradition und literarische Überlieferung von Grund auf ablehnt. Völlig verfehlt wäre eine derartige Annahme schon deshalb, weil Handke bereits auf der Oberflächenstruktur der Erzählung den Lesern und Leserinnen einen breiten Fundus an Intertexten zur Verfügung stellt.56 Die Erzählabsicht, so macht der Erzähler an seinem Schreibtisch unmissverständlich deutlich, begründet sich indes gerade in der Einmaligkeit seiner Geschichte. Während auch die Literaten und Literatinnen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts vereinzelt auf Pilze zu sprechen kamen, werden diese gerade in gegenwärtiger Zeit vor allem als »Mittel zur, wie sagt 52 Handke, Peter: Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos. Roman. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, S. 367 und 718. 53 Vgl. You, Peter Handkes »Versuche«. 2016, S. 191–193. 54 Schirmer, Andreas: Peter-Handke-Wörterbuch. Prolegomena. Wien: Praesens 2007, S. 286. 55 Vgl. Gottwald, Herwig/Freinschlag, Andreas: Peter Handke. Wien: Böhlau 2009, S. 101. 56 In einer präludiumartigen Vorbemerkung unternimmt der fiktive Autor eine Einordnung seiner Erzählung in der Weltliteratur. Im Zusammenhang von literarischen Werken, die sich dem Pilzsujet widmen, erwähnt er etwa Fjodor Dostojewski, Anton Tschechow oder Thomas Hardy mit seiner phantasmagorischen Erzählung »Far from the Madding Crowd«, in welcher der Fall in eine Pilzgrube für die Protagonistin den Gang durch eine horrorfiktional ausgestaltete Welt des Unheimlichen inauguriert.
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man?, ›Bewußtseinserweiterung‹« immer wieder zum Thema in der Literatur – »eine Geschichte wie die seinige, wie sie sich ereignet hat, und wie ich sie, zeitweise aus nächster Nähe, miterlebt habe, ist jedenfalls noch keinmal aufgeschrieben worden« (S. 14). Es ist charakteristisch für Handke, dass er tradierte literarische Muster, Autoren und Autorinnen, Stoffe und Motive als »Kontrastfolie« verwendet, »um neue Erfahrungen und Erkenntnisse sichtbar zu machen«. Viktor Zˇmegacˇ erkennt in Handkes Intertextualitätsverfahren, dass »Tradition […] zum Mittel der Gegenwartserkenntnis« wird.57 Zielen seine Sinnbezüge auch auf »erschütternde Schönheit«, auf »Klassisches, Universales«, so tun sie das »ohne das Besondere, die Einzelheiten, an eine neue Identität des Allgemeinen zu verraten«.58
5.
Neues Sehen – neues Sehen
Die Tabula rasa des Erzählers ist von Handke nun derart konzipiert, dass sie thematisch geschickt mit dem Kernsujet der Binnenerzählung, jener Geschichte über den verlustig gegangenen Pilznarren, korrespondiert. Der Pilznarr – ein »Schatzsucher« (S. 22) und »letzter Abenteurer der Menschheit« (S. 143) – scheint bereits dadurch hinlänglich als Handke-Charakter ausgewiesen, dass er vor allem Ausschau nach »unbekannten«, noch nicht kategorisierten Pilzen hält. Die schönsten Momente erlebt der Pilznarr dann, wenn er auf »Grundanderes [trifft], etwas das er gar nicht gesucht hatte, das er weder in Natur noch abgebildet jemals zu Gesicht bekommen [hat], etwas ihm Neues« (S. 130),59 so heißt es in der Erzählung mit deutlich autorreferenziellem Verweis auf das ›Querfeld oder Querwaldeingehen‹, das der Erzähler praktiziert, um an seinen Schreibtisch zu gelangen: »Ebenso stieß er bei seinen Querwaldeinexpeditionen auf nicht wenige Bunkerreste, auch ganze verborgene Bombentrichtermuster, gefüllt mit Reisig und halbjahrhundertaltem Laub, darin Blechnäpfe und Stahlhelme, anderwärts auf Einschlüsse von Johannis- und Stachelbeeren aus noch viel älterer Vergangenheit – aber selbst da, beim Auf und Ab in den Trichtern, beim Einsammeln der verwilderten, kleingeschrumpften einstigen Zuchtbeeren, wollte er nichts von gleichwelchen Vergangenheiten wissen oder ahnen, sondern lernen allein aus dem Jetzt und Jetzt« (S. 106).60
57 Moser, Gerhard: Die »Grazer Gruppe«. In: Geschichte der deutschen Literatur. Bd. III/2: vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hrsg. von Viktor Zˇmegacˇ. Königstein/Ts.: Beltz Athenäum 1984, S. 784. 58 Rey, William H.: Peter Handke – oder die Auferstehung der Tradition. In: Literatur und Kritik 116–117 (1977), S. 399. 59 Entsprechende Textpassagen finden sich auf S. 57, 59, 62, 105, 106, 123, 127, 128, 130 und 137. 60 [Herv. d. Verf.].
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Der Traum von Tabula rasa ist also auch für den Pilznarren Antriebsfeder seines Handelns. Die Unvoreingenommenheit, mit der dieser an sein Werk geht, und die Unmittelbarkeit, die er als Erfahrungsmodus den Dingen gegenüber wählt, geben dem Pilzsammler dabei die charakteristischen Züge eines Künstlers; sein Zugang zur Welt kommt einer »artistische[n] Weltschöpfung« gleich.61 Sowohl auf der Ebene der Rahmen- als auch der Binnenerzählung ist in Handkes fünftem »Versuch« das Programm des »neuen Sehens« verwirklicht – ein Schauen, das von kulturellen Prägungen, Kategorien, Strukturierungen und Codierungen noch unberührt ist,62 fixierte Wahrnehmungsmuster transzendiert und unbekannte Seh- bzw. Klangräume eröffnet.63 Nicht von ungefähr findet der Pilzsucher in »Mein Jahr in der Niemandsbucht«, ein »Anderssucher«,64 sein höchstes Glück gerade darin, auf bereits leer gesammelte Waldstücke zu stoßen, denn diese bieten sich ihm als »noch nicht vom Sinn besetzte Orte« dar, wie Annegret Pelz bemerkt. Handke erkläre sich damit zum Proponenten einer literarischen Bewegung, die »de[m] phantasmagorischen Paradigma zentrischen Sinns entsagt«.65 Dass der Blick des Pilzsuchers in Handkes fünftem »Versuch« auf die »sämtlichen sonstigen Formen diametral entgegengesetzte Form« gerichtet ist, führt ihm gerade seine »Unnatur« (S. 123) vor Augen, welche er jedoch mit seinem Pilzbuch, das er zu schreiben gedenkt, »ins Recht gesetzt« (S. 125) sehen möchte. Die Aufwertung von Naivität und Unzivilisiertheit im Kontext künstlerischer Wahrnehmungsprozesse sowie die Aktualisierung der Erfahrungskonzepte der Plötzlichkeit und Epiphanie,66 mit der sich Handke selbst in eine Traditionslinie mit Paul Cézanne und Rainer Maria Rilke einreiht, zeichneten bereits die programmatischen Schreibentwürfe von Handkes Tetralogie aus: »Die Erkenntlichkeit, das sind die 61 Pütz, Peter: Peter Handke. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1982, S. 112. 62 Vgl. hier auch Handke, Versuch über den Pilznarren. 2013, S. 144: »Die Pilze als ›Last wilderness‹, die ›Letzte Wildnis‹? nach meinem Pilznarren wieder ›sonnenklar‹: Indem sie nämlich die inzwischen einzigen Gewächse auf Erden waren, welche sich nicht züchten, nicht zivilisieren, geschweige denn domestizieren ließen; welche einzig wild wuchsen, unbeeinflußbar von gleichwelchem menschlichen Eingriff.« 63 Vgl. Schössler, Franziska. Augen-Blicke: Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre. Tübingen: Gunter Narr Verlag 2004, S. 177. 64 Handke, Peter: Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2007, S. 892f. 65 Pelz, Was sich auf der Tischfläche zeigt. 2006, S. 26. 66 Pütz, Peter Handke. 1982, S. 77. Der im Suchen und Finden erlebbare ideale Moment, der gegen die Mechanisierung, Entleerung und die Dissoziationserfahrungen des modernen Lebens aufbegehrt, erhält bei Handke auch im »Versuch über den Pilznarren« den Status einer kleinen Utopie in negativen Größen. Entsprechend positioniert Handke seinen Pilznarren in kapitalismus- und globalisierungskritischer Geste als Kritiker der gleichförmigen Warenwelt: »Er war kein Marktschaffer, kein Marktschöpfer, kein Markttyp« (S. 153). Vgl. auch Wolf, Jürgen: Visualität, Form und Mythos in Peter Handkes Prosa. Opladen: Westdeutscher Verlag 1991, S. 123ff.
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warmen Augen«,67 heißt es entsprechend in seinem dramatischen Gedicht »Über die Dörfer« von 1981, in dem er sich intensiv mit Cézannes Bildästhetik auseinandersetzt.68 Unschwer lässt sich hinter der Priorisierung des Nichtidentischen, des Nichtgleichförmigen bzw. der Differenz auch eine Stellungnahme Handkes in einer langen Reihe von Positionierungen im Diskurs über die Jugoslawienkriege erkennen, die den Schriftsteller im Zuge seiner Ernennung zum Literaturnobelpreisträger 2019 massiv in die Kritik brachte. Dass der mit aller Warmherzigkeit erzählerisch bedachte Pilznarr ausgerechnet am »Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien« in Den Haag seinen Gerechtigkeitssinn auslebt (S. 112) und für die Angeklagten »fast ohne Ausnahme« Freisprüche erwirkt (S. 89), kann ohne große Anstrengung als ostentatives Statement Handkes gewertet werden. »Die Gesellschaft der verschiedenen, der grundverschiedenen – gerade der –, es gab sie! Und dazu gehörte, daß sein jeweiliges Abseitsgehen und Fremdgehen begleitet wurde von dem Gefühl, zugleich einer Gewißheit, mit solchem Handeln tue er den ihm Anvertrauten, den Seinen, zu denen auch ›seine‹ Angeklagten gehörten, gut und tue überhaupt Gutes« (S. 116).
Hinter der Maxime des pilznärrischen Strafverteidigers, »Widerspruch zu der Szenerie« (ebd.) zu formulieren, hinter seinem »Sichabsondern an die Ränder« (S. 106), ist unschwer eine diskursive Handlungspraxis zu erkennen, die wesentlich miteinschließt, gegen etablierte Meinungen und parteiische Einseitigkeiten zu opponieren – eine Einseitigkeit, die Peter Handke im Zusammenhang mit der Berichterstattung über den Jugoslawienkrieg zu identifizieren glaubte und worauf er sich in faktualen wie fiktionalen Texten zu Relativierungen der Kriegsverbrechen auf serbischer Seite hinreißen ließ.69
67 Handke, Peter: Über die Dörfer – Dramatisches Gedicht. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, S. 101. 68 Handkeonline verzeichnet für die Arbeit Handkes an »Über die Dörfer« u. a. folgende Lektüre: Paul Cézannes »Gespräche mit Gasquet, Briefe« des Malers, Kurt Badts Monografie über »Die Kunst Cézannes« oder Kurt Leonhards Kurzbiografie »Paul Cézanne in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten«. (letzter Zugriff: 17. 08. 2020). 69 Zur Diskussion über Handkes Positionierungen im Kontext des Jugoslawienkriegs vgl. exemplarisch: Bremer, Alida: Die Spur des Irrläufers. Essay. In: perlentaucher. Das Kulturmagazin. 25. 10. 2019. (letzter Zugriff: 05. 09. 2020). Vgl. auch die Reaktion von Struck, Lothar: Monströse Unterstellungen. Essay. In: perlentaucher. Das Kulturmagazin. 31. 10. 2019. (letzter Zugriff: 05. 09. 2020).
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Repräsentationsgesten am Schreibtisch
Der 2001 von Herlinde Koelbl herausgegebene Fotoband »Im Schreiben zu Haus. Wie Schriftsteller zu Werke gehen«, in dem Schwarz-Weiß-Abbildungen der Schreibtische von 42 namhaften deutschsprachigen Autoren und Autorinnen sowie Gespräche mit diesen über ihre Schreiborte abgedruckt sind, setzt mit Peter Handkes Schreibumgebung in Chaville ein. Zwei Fotografien zeigen unterschiedlich kleine, äußerst schlichte Holztische, auf denen sich ausschließlich Handkes Schreibutensilien befinden: ein Schreibheft und Bleistifte, die dem Autor seit den 1990er Jahren – beginnend mit seinen ersten drei »Versuchen« – für seine Prosamanuskripte als Schreibwerkzeug dienen. Eine weitere Fotografie zeigt einen langen rustikalen Esstisch, auf dem sich eine Schale mit Mitbringseln seiner Spaziergänge im Wald befindet: Nüsse und Pilze. Vor dem Hintergrund seines unverputzten und mit Efeu überwachsenen Sandsteinhauses zeigt die nächste Aufnahme dann ausschnitthaft seinen leer geräumten Gartentisch. Gerahmt werden die vielfältigen Tischabbildungen in dem Fotobuch von Porträtund Naturaufnahmen, die wohl im nahe gelegenen Wald entstanden sind, wohin Koelbl, wie aus ihrem Vorwort hervorgeht, einen Spaziergang mit dem Autor unternommen hatte und von wo sie mit gesammelten Pilzen zurückgekehrt war. Den fotografischen Abbildungen der Tische ist eine kurze Selbstaussage des Autors beigefügt: »Nur im Schreiben fühl’ ich mich zu Haus. Ich ringe nie um Worte, sondern schreibe flüssig drauflos. Wenn ich dann im Wald spazierengehe, fällt mir das Wort, das nicht stimmt, auf den Kopf. Zu Hause angekommen, wird das Wort ausgewechselt. Wenn man anfängt zu schreiben, hört es nicht mehr auf. […]«70
Handke zeichnet ein Bild sprachlicher Souveränität, das besonders in der Umgebung semantisch eindeutiger Schreibtisch- und Naturfotografien eine eindrückliche Kommunikationsstrategie offenlegt: der Wald als Inspirationsort, der Schreibtisch als Hoheitsgebiet des autonomen Künstlers, der mühelos aus sich selbst schöpfen kann und deshalb nach technikfreien und vor allem leer geräumten Arbeitsoberflächen verlangt.71 Entsprechend heißt es in seiner Journalabschrift von »Am Felsfenster morgens«: »Schreiben: ich setz die Wörter ein, wo ein leerer Platz ist: leer und Platz.«72
70 Koelbl, Herlinde: Im Schreiben zuhaus. Wie Schriftsteller zu Werke gehen. Fotografien und Gespräche. München: Knesebeck 1998, S. 15. 71 Vgl. Pelz, Tischgesellschaft mit Autor. 2000, S. 34. 72 Handke, Peter: Am Felsfenster morgens – (und andere Ortszeiten 1982–1987). Berlin: Suhrkamp 2019, S. 210.
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Handkes künstlerische Selbstpräsentation in Koelbls Fotoband setzt im Wesentlichen auf dieselbe Bildsemantik wie die in Korrespondenz von Rahmen- und Binnenerzählung entwickelte Schreibtischpoetologie in seinem »Versuch über den Pilznarren«. In beiden zeigt sich sowohl die sinnliche Synergie von Schreibort und Wald als paradigmatische Operationsfelder für Handkes Projekt des neuen Sehens in seiner Doppeldeutigkeit (Neues Sehen und neues Sehen) als auch der »Traum vom Neubeginn ohne Gedächtnis, von der Konstruktion, wo alles notwendig und nichts unbegründet ist, der Traum von der Kontrolle und Souveränität über die Wörter, das Werk, die Welt«.73 Erzählerische Souveränität stellt Handke beispielsweise mit der Verfügbarkeit über das mannigfaltige Zeichenmaterial der Sprache und Schrift her. In seinem »Versuch« manifestiert sich dies in der Verwendung eines Spezialvokabulars aus dem Bereich des Rechts und der Mykologie – mit Begriffsbestimmungen aus dem Deutschen, Französischen, Lateinischen und Slowenischen (S. 145f.) – genauso wie in der schriftlichen Gestaltung des Textes, der mit einer Abundanz von Interpunktionen, Interjektionen und Zitationen hochmanieriert wirkt. Klammern und Parenthesen folgen der Logik der genauen Differenzierung und übersetzen Handkes ästhetische Maxime der poetischen Genauigkeit ins Schriftbild. Das textuelle Gestaltungsprinzip bewirkt, dass der Lesefluss stockt und sich die Leser und Leserinnen gezwungen sehen, eine ähnliche Praxis der Differenzsetzung im Akt des Lesens an den Tag zu legen wie der Autor im Akt des Schreibens.
7.
Ein kurzes Resümee
Der Schreibtisch präsentiert sich in literarischen Werken als ein entscheidendes Textsignal, wenn es darum geht, poetologische Fragestellungen in den Blick zu nehmen. Die Form, das Arrangement, seine Positionierung in der Umgebung und die Einbindung im Bewegungsraum der fiktionalen Autoren im Text reklamieren im Kontext von deren poetologischer Selbstverortung zweifelsohne enorme Bedeutung. Unterzieht man die Schreibtischinszenierung in Peter Handkes »Versuch über den Pilznarren« und Werner Koflers »Am Schreibtisch« einem Vergleich, so wird vor allem deutlich, wie unterschiedlich die Inhaber der Möbelstücke – also die Verfügungsberechtigten über die Schreibtischoberfläche – ihre Vermittlerrolle zwischen Schreiben und Welt sowohl anlegen als auch kommunizieren. In Koflers Prosaskizze ist das Möbelstück als chaotischer Transitraum intertextuellen Materials funktionalisiert, das die Souveränität des Schreibtischinhabers über sein Werk grundsätzlich infrage zu stellen beabsichtigt. Hinzu kommt, dass die Personalform der ersten Person Singular zwar 73 Mainberger, Schreibtischporträts. 2003, S. 187.
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überpräsent ist, aber die Frage, wer hier spricht bzw. wer am Schreibtisch sitzt, nicht immer klar ist oder eigentlich sogar immer unklar bleibt. Die Schreibtischinszenierungen in »Versuch über den Pilznarren« von Peter Handke hingegen lassen an einem leer geräumten Schreibtisch einen Autor erahnen, dem es daran gelegen ist, eben jene Handlungsmacht über die Wörter, das Werk und die Welt, die er erschafft, unter Beweis zu stellen.
8.
Literaturverzeichnis
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III. Gespräche über das Schreiben
Carsten Gansel / Jan Koneffke
»Lassen Sie sich Zeit, Herr Koneffke« – Ein Gespräch über Romanstoffe und »Realismus als Traumarbeit«
Carsten Gansel. Herr Koneffke, Sie haben, das ist bekannt, ab 1981 Germanistik und Philosophie an der FU in Berlin studiert. Und 1987 haben Sie den Magister mit einer Arbeit über Eduard Mörike erlangt. Die wenigsten wissen heute noch, dass Mörike zu Lebzeiten als der vielleicht wichtigste Lyriker nach Goethe angesehen wurde. Später dann fanden sich rigide Urteile über ihn etwa von Georg Lukacs. Aber meine Frage zielt auf Sie. Hat es mit Mörike zu tun, dass Sie eigentlich zunächst als Lyriker begonnen haben, zumindest aber ihren ersten Durchbruch hatten. Denn immerhin bekamen sie 1987 den Leonce- und LenaPreis, der für Nachwuchslyriker, wenn man das so sagen kann, vergeben wird. Jan Koneffke. Nein, Mörike hatte ursächlich nichts mit meinem Anfang als Lyriker zu tun. Aber als Autor kam ich doch zunächst eher von der Lyrik her, selbst wenn ich bereits in der späten Schulzeit ebenso Prosa schrieb. 1981, mit meinem Studienbeginn an der FU Berlin, schickte ich dem von mir verehrten Christoph Meckel einen Zyklus mit Gedichten, er lud mich zu sich nach Hause ein, führte ein Werkstattgespräch mit mir – er nannte das: »Mit der Sprache herumwirtschaften« –, und stellte den Kontakt zu einer Lyrikzeitschrift her. CG. Wie fiel das Urteil aus, dass er über Ihre Texte fällte oder anders gefragt, hat Christoph Meckel Sie bestätigt? JK. Meckel konnte im Urteil sehr hart sein, Kompromisse in der Dichtung lehnte er ab. 1984 schrieb er mir in einem Brief, ich würde »unmittelbar zur Prosa gehören«, gegen die damaligen Gedichte hatte er erhebliche Einwände – das las ich nicht gern. Auch der Leonce-und-Lena-Preis konnte ihn nicht beeindrucken. Im letzten Brief an mich vor seinem Tod hat er meine jüngsten Gedichte (in »Als sei es dein«) aber sehr gelobt, übrigens auch den Roman »Ein Sonntagskind«. Ich möchte gerne beides für mich in Anspruch nehmen, sowohl Erzähler als auch Dichter zu sein.
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Abb. 1: Jan Koneffke in seinem Arbeitszimmer im Karpatenort Mӑneciu – mit einer Lithographie von Christoph Meckel, die dieser ihm 2013 zu einer Lesung im Schwarzwald mitbrachte: ›Top und Flop‹.
CG. Aber Eduard Mörike, das war nicht nur für Lyrik eine spannende Bezugsperson und die Beschäftigung mit ihm mit Sicherheit gewinnbringend. JK. Ja. Dass er, der so unendliche feine Gedichte schrieb, gegen die sich die des großen Heinrich Heine geradezu wie grobe Klötze ausnehmen, nirgendwo richtig zuordnen lässt, macht ihn in meinen Augen einzigartig. Bemerkenswert ist auch seine Prosa, die Mozartnovelle und der Roman »Maler Nolten« über das unvergangene Vergangene, ein tiefschwarzes, teilweise sehr modernes Buch. CG. Wobei es dann in der späteren Rezeption an Verständnis ihm gegenüber schon ein wenig mangelte. JK. Mörike wurde in der Rezeption gründlich missverstanden- und interpretiert, verniedlicht und verharmlost. Ein Leitmotiv meiner Magisterarbeit bei Prof. Anke Bennholdt-Thomsen lautete: »Nicht vor seinen Kritikern, vor seinen Rettern gilt es ihn zu retten.« CG. Soweit ich weiß, ist später von Ihnen ein Buch zu Eduard Mörike in einem Wissenschaftsverlag erschienen, mit dem interessanten Titel »Die Schönheit des
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Vergänglichen«. Es geht in dem Band um Erinnerung und ästhetische Erfahrung bei Mörike. Warum fast 20 Jahre später dieser Band? JK. Ach, dabei handelt es sich um meine Magisterarbeit. Als ich 2001 die PoetikProfessur in Bamberg innehatte, bat mich der dort lehrende Germanist und Literaturkritiker Prof. Wulf Segebrecht im Vorfeld um diese Arbeit, die eher essayistisch konzipiert ist. Segebrecht fand »deren leitende These … mitteilenswert«, wie er im Nachwort schreibt, weil sie in der Mörike-Forschung noch keineswegs gängig sei. Außerdem könne sie vor dem Hintergrund meines eigenen Werks gewinnbringend gelesen werden. Deshalb veröffentlichte er sie in seiner literaturwissenschaftlichen Reihe. CG. Das sehe ich ganz genauso. Aber kommen wir auf Ihre Biographie zurück. 1987 haben Sie ihren Magister gemacht. Was hat Sie dazu gebracht, sich für die nicht einfache Laufbahn eines freiberuflichen Autors zu entscheiden. Ein Leben, wenn man so will, erstmal ohne Netz. Sie hätten damals auch einen anderen Weg einschlagen können, oder? JK. Nun, es war auch Zufall im Spiel: Ende Januar 1987 schloss ich das mündliche Magisterexamen ab. Ich weiß noch, wie ich einem jungen Dichterkollegen in der Unibibliothek begegnete, der sich erkundigte, was ich nun vorhätte. Ich erwiderte, ich wolle mir ein halbes Jahr Auszeit nehmen und nur schreiben. »Oh, das ist mutig«, entgegnete er. Im Februar wurde ich mit 15 anderen Kandidaten zum Leonce-und-Lena-Wettbewerb eingeladen, in der Jury saßen poetische Schwergewichte wie der von mir ebenfalls verehrte Jürgen Becker, Elisabeth Borchers und last but not least Marcel Reich-Ranicki. Da der Preis damals noch eine sehr viel größere mediale Bedeutung hatte, von der FAZ, der SZ, der taz und vielen Rundfunkanstalten begleitet wurde, bekam ich sofort Verlagsangebote, wie zum Beispiel von Suhrkamp-Chef, Siegfried Unseld, persönlich. Ich unterschrieb zwar nicht bei Suhrkamp, aber Unseld erwies sich als überaus fairer Verleger und echter Bewunderer, denn wenige Monate später sprach er mir ein gut dotiertes Stipendium der Peter-Suhrkamp-Stiftung zu. Diese mediale Aufmerksamkeit, Stipendien, Preise, das Verlagsinteresse wiegten mich im Glauben, es könne nicht so schwer sein, als freier Schriftsteller zu leben. Das war ein Irrtum: Die Schwierigkeiten sollten erst noch beginnen. CG. Das mit Siegfried Unseld, das war mir so nicht bekannt. Sie haben aber auch später kein Buch bei Suhrkamp gemacht. JK. In der Tat, es kam nie dazu. Ein Grund, nicht bei Suhrkamp zu unterschreiben, bestand in meiner Loyalität gegenüber Klaus Schöffling, der sich für
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meine Gedichte bereits vor dem Leonce-und-Lena-Preis begeistert hatte. Zwar war der Vertrag bei der neugegründeten Frankfurter Verlagsanstalt noch nicht unterschrieben, ich holte das aber bald nach. Nicht zuletzt, weil sich in jenen Jahren die Lektoren für junge deutschsprachige Literatur bei Suhrkamp die Klinke in die Hand drückten. Es war das reinste Kommen und Gehen. Ich sah nicht, wer mein Ansprechpartner sein könnte. Wenige Monate später wäre es Christian Döring gewesen, mit dem ich gerne zusammengearbeitet hätte, aber das konnte zu dem Zeitpunkt noch keiner wissen. Döring ging 1998 von Suhrkamp weg und gründete mit Verlagsleiter Gottfried Honnefelder, der ja auch von Suhrkamp kam, das Literaturprogramm bei DuMont in Köln. Er holte mich dann 2000 mit dem Roman »Paul Schatz im Uhrenkasten« und den Gedichten »Was rauchte ich Schwaden zum Mond« dazu. Das waren schöne Jahre. CG. Sie sprachen davon, dass die »Schwierigkeiten« erst noch beginnen sollten. Das provoziert die Frage, was Sie mit »Schwierigkeiten« meinen. Können Sie das etwas beschreiben? JK. Naja, die Schwierigkeiten waren vielfältiger Art. Der Erfolg kam wahrscheinlich zu früh. In der ersten Zeit litt ich nicht selten an der Vorstellung, die in mich gesetzten Erwartungen nicht erfüllen zu können. Irgendwann würde man erkennen, dass der Kaiser nackt ist. Heute weiß ich, dass dieses mangelnde Selbstvertrauen nicht zuletzt auf mein Elternhaus zurückging, eine Mutter, die als Tochter eines Bergmanns ihre Bildungskomplexe nie abstreifen konnte, und einen Vater, der seinerseits das Gefühl hatte, der akademischen Karriere, zu der er von seinem geistigen Mentor, Heinz Joachim Heydorn, gedrängt worden war, eigentlich nicht gewachsen zu sein. CG. Das ist nachvollziehbar. Es ist ja bekannt, in welchem Maße die Prägungen in Kindheit und Jugend nicht zuletzt auch für das eigene Selbstbewusstsein bestimmend sein können. Noch dazu, wenn es um ein so sensibles Handwerk wie das Schreiben geht. Das lebt von Erfahrungen und braucht neben Kreativität auch ein hohes Bewusstsein von sich selbst. Aber warum haben Sie nach dem Leonce-undLena-Preis nicht gleich einen Lyrik-Band veröffentlicht? JK. Als man mir den Preis verlieh, hatte ich noch nicht genug Material beieinander, um ein Gedichtbuch zu publizieren. Daher fragte mich der Verleger, ob ich nicht auch Prosa hätte, die wir vorziehen könnten. In der Tat hatte ich eine rund hundertseitige Erzählung in petto. Ihren Titel »Vor der Premiere« erhielt sie übrigens erst zu ihrer Veröffentlichung – als augenzwinkernde Anspielung darauf, dass sie meiner wahren Premiere auf dem Buchmarkt, dem Gedichtband, vorausging.
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CG. Es geht in der Erzählung um einen Schauspieler, also um eine Rolle. Und letztlich geht es verdeckt auch um Sie. JK. Genau. »Vor der Premiere« handelt von einem Schauspieler, der einen Buckligen spielen soll, und dem Stunden vor der Premiere auf der Bühne eines süddeutschen Freilufttheaters ein Buckel wächst. Seine Deformation begreift er als »Heilung«. Diese Erzählung um Rolle und wahres Ich, Mensch und Maske, ein bisschen Pirandello, ein bisschen kafkaesk, war weniger eine Parabel um das Thema Identität als eine versteckte Initiationsgeschichte: Ich hatte nämlich mit 14 Jahren als mitwirkender Gitarrist an den Heppenheimer Festspielen teilgenommen. Und war aus dem Staunen über die Rollenkonflikte der Schauspieler gar nicht mehr herausgekommen. Auch das erotische Durcheinander machte auf mich, den Pubertierenden, einen nachhaltigen Eindruck. Diese vier Wochen Theaterarbeit waren das Tor ins Erwachsenendasein. CG. Aber dann kam doch noch ein Gedichtband von Ihnen heraus, der gewissermaßen den Leonce-und-Lena-Preis nochmals legitimierte. JK. Ja, er erschien ein Jahr später: »Gelbes Dienstrad wie es hoch durch die Luft schoß«. Und jetzt tauchten neue, inhaltliche Schwierigkeiten auf. Den kleinen Roman »Bergers Fall« von 1991 betrachte ich heute als Verlegenheitslösung. Ich kann mich noch erinnern, wie ich im Frühjahr 1990 mit Marcel Reich-Ranicki telefonierte, der mir mitteilte, man hätte mir den Hölderlin-Förderpreis der Stadt Bad Homburg zugesprochen. Er wollte wissen, woran ich arbeite. Ich erwiderte, an einem Roman, der im kommenden Jahr erscheinen solle. Unvergessen sein Rat: »Lassen Sie sich Zeit, Herr Koneffke. Übereilen Sie nichts.« Er hatte Recht – nur hielt ich mich nicht daran, leider. CG. Ich erinnere mich auch an mein Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki, der im persönlichen Kontakt ein ungemein netter und sensibler Mensch war. Wir sprachen damals auch über sein Biographie-Projekt. Er hatte in ihrem Fall Recht, sagen Sie, warum? JK. »Bergers Fall« war deutlich weniger Erfolg beschieden als der Erzählung und dem Gedichtband. Da war erstens die Gattungsbezeichnung Roman – eine plausible Hochstapelei. Plausibel, weil »Bergers Fall«, wie schon der Titel erahnen lässt, mit den Patterns des Kriminalromans spielt, die er am Ende nicht einlöst. Einen vermeintlichen Krimi als »Kriminalerzählung« auszugeben, hätte Leser und Buchhändler wiederum nur verwirrt. Und doch eine Hochstapelei: Denn das Prosastück war nicht umfangreicher als die Erzählung »Vor der Premiere«, 140 Seiten lang. Sofort kaprizierte sich die Kritik auf den angeblichen Etiketten-
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schwindel. Mehr als das teilte sich die Rezeption in zwei Lager: Den Liebhabern des Kriminalromans galt das Buch als missratener Krimi, selbst wenn sie seine Spannung lobten, die anderen hätten lieber eine psychologische Erzählung gelesen, die ohne Dekonstruktion des Genres auskommt. CG. Da stehen Sie nicht ganz allein. Ich glaube, das ist durchaus nachvollziehbar, denn nicht umsonst wird der Kriminalroman mitunter – und in gewisser Weise durchaus nicht ganz unberechtigt – als »Schemaliteratur« bezeichnet. Was natürlich pejorativ gemeint ist. Aber wir wissen, dass es für Kriminalromane einen bestimmten Aufbau gibt, der dann die Erwartungshaltung der Rezipienten bestimmt: Tat, Detektion, Lösung, mal simpel formuliert. Insofern, ich sagte es schon, trifft das natürlich auch für einen der erfolgreichsten Autoren zu, ich denke an Friedrich Dürrenmatts »Das Versprechen«, der im Untertitel »Requiem auf den Kriminalroman« heißt. Hatten Sie auf den irgendwie rekurriert? JK. Dürrenmatt hatte ich sicher auch im Hinterkopf. Aber das war nicht entscheidend. Ich dachte viel mehr – Sie werden sich wundern – an Robert Musil. Bei den Ermittlungen des Kommissar Berger geht es nämlich eigentlich um eine präzise Weltwahrnehmung bzw. die Verwandlung der Wahrnehmungen in eine Sprache, die durchscheinend wird für das Numinose. Der Verschwundene, dem der Kommissar nachspürt, ist eigentlich Platzhalter für das Unsagbare, Unerkennbare. Eine metaphysische Geschichte, wenn Sie so wollen. Jedenfalls kam es mir auf die Sprach-Bilder an. Hat keiner so richtig verstanden, aber egal … CG. Sie haben dann aber nicht so weiter gemacht. Also gewissermaßen mit »Erkenntnistheorie in Form eines Krimis«, wenn ich das so sagen darf ? JK. Nein, denn »Bergers Fall« erwies sich als schriftstellerische Sackgasse. In den Sprach-Bildern zu schwelgen, war ja eher von poetischem Interesse – während die erzählerische, also die, wie Sie sagen, erkenntnistheoretische Seite doch einigermaßen abstrakt blieb. Erschwerend kam hinzu, dass ich auch in der Lyrik neu ansetzen musste. Das Luftreich des Gelben Dienstrads ließ sich nicht einfach weiter bespielen, das war ein Wurf gewesen, mit dem ich meine Berliner Erfahrungswelt in jungem Leichtsinn der Schwerkraft entzogen und an den Himmel respektive auf die Dächer projiziert hatte. Vor ein paar Jahren, in »Dichters WGKladderadatsch (Cranachstraße Ende Achtziger Jahre)« habe ich das lyrisch so erinnert: »… vertrieb mir meine Zeit/ in bundesdeutscher Ahnungslosigkeit// im Wolkenkuckucksheim beim Wolkenschieben/ trotz kohlenschwadenschwangerem Inselklima// samt Frittenfett- und Zweitaktergestank/ wischte ich meinen Dichterhimmel blank// und baute mir ein Luftreich Schwung und Scharm/ bereit mich alle Tage zu verlieben …«
Ein Gespräch über Romanstoffe und »Realismus als Traumarbeit«
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CG. Es gibt von Maxim Biller einen schönen Essay von 1991, in dem er der neuen deutschen Literatur attestiert, so sinnlich zu sein wie der Stadtplan von Kiel. Biller spricht in diesem Zusammenhang auch davon, wie wichtig für ihn eigene Erfahrungen gewesen sind. »Meine Familie stammt aus Rußland und aus der Tschechoslowakei, (…) und ich hatte das stoffspendende Glück, daß wir nach dem Prager Frühling nach Deutschland emigrierten«, notiert er. »Wieviel mehr biographisches Material kann ein Autor verlangen in einer Zeit, in der seine Kollegen mit sechzehn ein bißchen Haschisch rauchen, mit achtzehn Abitur machen, für ein Jahr nach Paris gehen, dann in Heidelberg oder München Germanistik studieren und schließlich einen »Prosatext« schreiben, der nur aus Zitaten von Lacan und Baudrillard besteht und dessen schwer auszumachender Held mit sechzehn ein bißchen Haschisch raucht, mit achtzehn Abitur macht und dann für ein Jahr nach Paris geht.« Das war für 1991 nicht ganz so schlecht beobachtet. JK. Naja, »Sinnlichkeit« ist natürlich ein weiter Begriff. Und den Stadtplan von Kiel kenne ich nicht. Ich glaube aber schon, dass die Bilderwelt von »Bergers Fall« etwas Sinnliches hat. Der verstorbene Germanist Gert Mattenklott etwa bemerkte in seiner FAZ-Besprechung, in Hinsicht auf die Beschreibungen von Beleuchtung oder Wetterverhältnissen »gelingt Koneffke alles«. Nicht umsonst lautete der Untertitel seiner Rezension: »Ein Kriminalroman des Lyrikers Jan Koneffke.« Was allerdings die Diagnose mangelnder Erfahrungswelt in der Prosa unserer Autorengeneration jener Zeit anbelangt, lag Maxim Biller sicher nicht falsch. Dabei muss man gar nicht gleich aus Russland stammen und nach 1968 aus der Tschechoslowakei emigriert sein. Es war ja auch nicht so, dass unsereins 1990 nicht genügend Stoffe gehabt hätte. Das biographische Material gab es ja. Auch im Westen, nicht nur im Osten, wo es vielleicht offensichtlicher war. Den Stoff meines Romans »Ein Sonntagskind« zum Beispiel gab es damals schon, nur fehlte es mir an der Aufmerksamkeit dafür. Oder am historischen, psychologischen, wer weiß welchem Abstand … CG. Da möchte ich Ihnen vollkommen zustimmen. Es ist ja eine simple Vereinfachung, wenn manche glauben, dass man nur den »Stoff« haben müsse oder entsprechende Erfahrungen, um daraus dann schnurstracks Literatur zu machen. Genauso simpel funktionieren eben Schaffensprozesse nicht. Deswegen war auch die penetrante Rede etwa vom »Wende«-Roman, der fehlen würde, so deplatziert. JK. Ja, weil man den Stoff ja auch nicht so einfach »hat« – meistens ist es der Stoff, der einen »hat«. CG. Wie ging es bei Ihnen weiter? Sie sprachen von einer Art Sackgasse, in die Sie geraten waren.
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JK. Vier Jahre mühte ich mich vergeblich ab, poetisch wieder in Schwung zu kommen bzw. auf einen neuen Romanstoff zuzugreifen. Doch dann kam ich nach Rom, lebte erst ein Jahr in der Villa Massimo und bewohnte anschließend eine Studentenbude im Viertel San Lorenzo. Ursprünglich wollte ich noch ein halbes Jahr in der Ewigen Stadt bleiben. Aus den sechs Monaten wurden sieben Jahre. Und hier, weitab von Berliner Schreibtisch und Literaturbetrieb, gelang es mir, die Krise zu überwinden. CG. Wir kennen im Zusammenhang mit Uwe Johnson und seinen Jahrestagen den Begriff »Writer’s block«, also eine Art Schreibblockade bzw. eine Schreibhemmung. Bei Uwe Johnson gab es verschiedene Gründe, die dazu führten, dass er für den 4. Band der Jahrestage fast zehn Jahre brauchte. Sie selbst haben ja im Rahmen ihrer Dankesrede für den Uwe-Johnson-Preis über Johnson und seine Jahrestage nachgedacht. Aber ich glaube, »Writer’s block«, das ist vermutlich nicht die richtige Beschreibung für ihre Situation in der Ewigen Stadt. Oder? JK. Sie meinen, in Berlin – in Rom ging mir das Schreiben ja bald wieder flüssig von der Hand. Die schriftstellerische Krise dauerte rund vier Jahre, von 1991 bis zur Ankunft in der Villa Massimo 1995. Für meine Schreibhemmung sorgte mit Sicherheit auch die Tatsache, dass ich im November 1991 in die Wilhelmstraße umzog, die damals noch Otto-Grothewohl-Straße hieß, gleich um die Ecke beim Brandenburger Tor. In West-Berlin, im Windschatten der Mauer, war der Wind der Geschichte in den 1980er Jahren gewissermaßen eingeschlafen – jetzt blies er einem ziemlich kräftig ins Gesicht. Ohne bereits auf die biographischen, familienhistorischen, zeitgeschichtlichen Gegenstände aufmerksam geworden zu sein, begannen sie wohl diffus an mir zu ziehen und zu zerren. Übrigens noch eine Bemerkung zu Biller und dem bis dahin von mir irgnorierten biographischen Material. Biller kam von außen. Ich frage mich, ob unsereins, der zur westdeutschen Nachkriegsgeneration gehörte, einer »glücklichen« Generation, die keinen Krieg erlebte, dafür Aufbaujahre und Wirtschaftswunder, den Stillstand, den das berühmte »Gleichgewicht des Schreckens« mit sich brachte, nicht das Schweigen der Elterngeneration zu tief verinnerlicht hatte, um sich der Kriegsvergangenheit und ihren vielfältigen – realen, psychologischen – Auswirkungen auf die Nachkriegsgesellschaft zuzuwenden. Also, eigentlich das Schweigen selbst zum Gegenstand zu machen. Das taten die, die zwanzig oder dreißig Jahre älter waren als wir. Ein Uwe Johnson – der allerdings aus der DDR kam – oder besagter Christoph Meckel zum Beispiel mit seinem Vaterbuch. CG. Da haben wir erneut Uwe Johnson. Nach allem, was Sie gesagt haben, war Ihre Schreibhemmung nicht mit der von Uwe Johnson zu vergleichen, der sich – wie er in den Begleitumständen sagt – das Schreiben erst wieder beibringen musste.
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Wobei die von ihm benannten Gründe für diesen »Writer’s Block« nicht unbedingt zugetroffen haben. JK. Nein, es war nicht wirklich eine Schreibhemmung, wie die von Uwe Johnson beschriebene, der seinen Stoff hatte und »nur« noch den vierten Band seiner Tetralogie zu Ende bringen musste. Bei mir war es eine »Stoffblockade«, wenn Sie so wollen. Und die löste sich erst in der Ewigen Stadt auf. CG. Warum gerade in Rom? Hätten es auch Paris oder London oder Barcelona sein können? Oder ging es einfach darum, rauszukommen. Eine andere Welt zu sehen und neue Erfahrungen zu machen. JK. Ja, einfach mal rauszukommen war gewiss auch nicht falsch. Ohnehin hielten die wiedervereinigten Deutschen in jenen Jahren den Bauchnabel für die schönste Aussicht – das war jedenfalls mein Eindruck. Erinnern Sie sich an die endlosen Diskussionen, ob Berlin nun wieder deutsche Hauptstadt werden soll beziehungsweise darf ? 1995 in Rom fragte mich il barbiere, ob mir die Ewige Stadt gefalle. Nicht nur aus Höflichkeit konnte ich das bejahen. Und natürlich hatte er gar nichts anderes erwartet. Caput mundi, sagte er nickend, Rom ist eben die Hauptstadt der Welt. Das gefiel mir, diese gelassene Selbstsicherheit, ob Rom nun längst an der europäischen Peripherie lag oder nicht … Zwar wäre mir diese hauptstädtische Selbstgewissheit auch in Paris oder London begegnet. Aber »Caput mundi« für Rom ist das entscheidende Stichwort. Hier hatte ich es nämlich mit einer Stadt zu tun, in der die historische Geschichte überall präsent war – und die historischen Schichtungen so tief gingen und gehen wie in keiner anderen Metropole Europas. Nicht aus Zufall hat Freud ja seinen Begriff des Gedächtnisses, das nichts vergisst, anhand von Rom erläutert. Stellen Sie sich, sagt Freud sinngemäß zu seinen Studenten, stellen Sie sich das Gedächtnis wie die Stadt Rom vor, und zwar so, als ob dort alle jemals errichteten Gebäude zu gleicher Zeit vorhanden wären. Rom ist der Erinnerungsort schlechthin. Zumindest der europäische Erinnerungsort schlechthin. Und das war genau die richtige Umgebung für mich, um jene Aufmerksamkeit für das biographische und familienhistorische Material zu entwickeln, von dem im Zusammenhang mit Biller die Rede war. CG. Bevor wir auf Rom zurückkommen und das Gedächtnis, muss ich noch einmal nachfragen. Es war die Rede davon, dass Sie sich vier Jahre vergeblich mühten, um »poetisch wieder in Schwung zu kommen«, wie Sie sagten bzw. den Zugriff auf einen neuen Romanstoff zu finden. Wie hat man sich das vorzustellen. Vier Jahre lang sind Sie – sagen wir – früh aufgestanden, haben in Ruhe gefrühstückt, sich dann an den Schreibtisch gesetzt und versucht, loszulegen.
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JK. Ja, das kann man sich durchaus so vorstellen. Ich bin ein ziemlich disziplinierter Arbeiter und habe es auf diese Weise zu erzwingen versucht. Das ging aber nicht. Ich war ganz froh, wenn ich mich zwischendurch mal einem bestellten Essay zuwenden, eine literarische Reihe planen (etwa zu Ernst Jünger im BrechtHaus) oder ein Streitgespräch vorbereiten konnte (auf Einladung Christa Wolfs habe ich mal recht kontrovers mit Enzensberger über seine »Ansichten auf den Bürgerkrieg« diskutiert). CG. Das ist gut nachvollziehbar. Man ist froh über solche Ablenkungen. Was ist bei Ihnen letztlich herausgekommen, was haben Sie mit den Ergebnissen gemacht. Sind die im Papierkorb gelandet oder auf Disketten, die man heute nicht mehr lesen kann und für deren Decodierung man Spezialisten braucht.t. JK. Es gab ein paar Kapitel aus dem einen oder anderen Romanprojekt, die ich sogar veröffentlicht habe. Zum Beispiel in der ndl, der Literaturzeitschrift des Aufbau-Verlags, die 2004 leider eingestellt wurde. Aber ansonsten ja, die Disketten, die noch irgendwo herumfliegen, müsste man wohl aufwendig wieder lesbar machen. Freilich habe ich tatsächlich einen in diesen Jahren begonnenen Roman auch noch abgeschlossen, das heißt, ich brachte das erste Drittel nach Rom mit und beendete ihn dann in der Villa Massimo. Das Werk nennt sich: »Letztes Versteck«. Das wollte aber niemand machen. Die einen fanden nur den Anfang gut, die anderen mochten nur den Schluss. Heute weiß ich, warum. Es war ein Übergangsbuch, dessen Teile auseinanderfielen. In meine »Berliner Identität« und in meine »römische Identität«, wenn Sie so wollen. Meine Sicht auf die Welt, mein Verhältnis zur Welt, hatte sich verändert … Das Letzte Versteck hat sich übrigens gut versteckt, ich weiß nicht, wo das Manuskript geblieben ist. CG. Wobei es durchaus passieren kann, dass Ihnen Teile des Geschriebenen später wichtig werden. Dann werden Sie das Manuskript suchen und hoffentlich finden. Aber kommen wir auf Rom und das Gedächtnis zurück. Es ist sicher kein Zufall – wie werden das noch ansprechen – dass die Erinnerung bzw. das Erinnern bei Ihnen eine zentrale Rolle spielt. Freud spricht ja in der Tat davon, dass im Boden der Stadt und unter den modernen Bauwerken »manches Alte« begraben ist. Dies sei eine »Art der Erhaltung des Vergangenen« und sie würde uns an solchen historischen Stätten wie Rom entgegentreten. Aber Freud war auch von Pompeji angezogen und von Sizilien und den dortigen Überresten griechischer Bauten. Freilich werden nur derjenigen in Rom fündig werden, die ein Sensorium für Geschichte entwickelt haben und bei denen die Ewige Stadt eigene Seiten zum Klingen bringt. Wenn ich mal das sicher etwas abgegriffene Bild nutzen darf, was ist bei Ihnen an biographischem und familienhistorischem Material – das sagten
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Sie – offengelegt worden. Vermutlich eher so, wie man einen Ariadnefaden in der Hand hält. JK. In den ersten Villa-Massimo-Wochen hatte ich unendlich starke Träume. Ich wachte morgens immer ganz verwirrt auf. Und nachdem ich rund 14 Tage in Rom zugebracht hatte, war es eines Morgens das Geräusch des Weinens, das mich weckte. Ich erinnerte mich daran geträumt zu haben, in Berlin zu erwachen, und darum hatte ich zu weinen begonnen. Eigentlich war mir schon in diesem Moment klar, dass es kein Zurück mehr gibt. Mit den starken Träumen war ich ansonsten nicht allein. Eine Mit-Stipendiatin, Künstlerin, schob dieses lebhafte Träumen auf die Geister in den Katakomben unter der Villa – es gibt dort wirklich welche. Aber abseits aller Spökenkiekerei war es vermutlich das andere Licht, die andere Luft, diese gänzlich andere Atmosphäre, die uns alle zu Weltmeistern des Träumens machte. Und bei mir waren es viele Träume an die Kindheit. Und so war der erste Effekt, dass ich meine Aufmerksamkeit zurückwandte. Auf die 1960er Jahre. Unsere Familie. Doch schließlich auch auf Dinge, die familienhistorisch tradiert waren, die mich aber bisher kaum interessiert hatten. Zum Beispiel die geplante und geplatzte Doppelhochzeit im hinterpommerschen Rügenwalde, die den erzählerischen Kern der »Nie vergessenen Geschichte« bildet. CG. Es ist der erste Teil der Kannmacher-Trilogie (2008), die mit dem dritten Teil Ein Sonntagskind (2015) endet. Für den wurden Sie 2016, wie gesagt, mit dem Uwe-Johnson-Literaturpreis ausgezeichnet. Wie erklären Sie sich diesen Erinnerungsschub. JK. Ich denke mir das so: Die Fremde, in die ich eintauchte, nicht zuletzt die fremde Sprache, war die Bedingung dafür, das Eigene zum Gegenstand meiner schriftstellerischen Neugier zu machen. Da diese Fremde aber Rom war, der Erinnerungs- und Vergangenheitsort schlechthin, öffnete sich das Eigene hin auf Familiengeschichte, nicht lediglich auf Kindheitserfahrungen. Es beschäftigte mich weniger, wer ich bin als wo ich herkomme. »Woraus (ich und) wir gemacht sind«, um mich eines schönen Romantitels des Kollegen Thomas Hettche zu bedienen. Das betraf also durchaus auch Familienereignisse und historische Ereignisse, kurz: die Welt vor meiner Geburt. CG. Nochmal. Mit dem Stichwort, das Sie gegeben haben: Rom als Erinnerungsort. Damit befinden wir uns gewissermaßen sofort innerhalb von zentralen Achsen von Erinnerungstheorien. Pierre Nora hat davon gesprochen, dass es für das kollektive Gedächtnis von sozialen Gruppen bzw. Gemeinschaften jeweils bestimmte Orte gibt, die eine zentrale Bedeutung für die Erinnerungskultur haben.
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In Italien ist das auf jeden Fall Rom. In Deutschland ist das mit Sicherheit Berlin, aber wohl auch Weimar. Solche Überlegungen sind – nebenbei – auch ungemein wichtig, wenn man sich dafür entscheidet, seinen Roman an einen bestimmten Schauplatz zu legen. Berlin ist nun mal was anderes als Düsseldorf. JK. Das will ich meinen, wobei sich die Erinnerung in Berlin oder Weimar im Vergleich zu Rom natürlich auf eine kurze historische Strecke bezieht. Die Erinnerungstiefe Roms ist einzigartig. Es gibt ja keine europäische Stadt, deren mehr als zweitausendjährige Geschichte ins heutige Stadtbild integriert ist. Ich würde deshalb sagen: Für Europa ist das auf jeden Fall Rom, der Zeit-Speicher Rom. CG. Ja, das ist mit Sicherheit so. Wenn man sich auf diesen Zeit-Speicher einlässt und die Chance hat, länger in der Stadt zu leben. Aber, was war außer dem Strom der Erinnerung das Ergebnis Ihres Rom-Aufenthaltes. Was haben Sie geschrieben. Ich vermute einmal, wir haben schon von Berlin gesprochen, dass Sie zu Ihrem Paul Schatz im Uhrenkasten, den man als Berlin-Roman bezeichnen kann, in Rom angeregt wurden. Wenn ich Recht haben sollte, wie habe ich mir das konkret vorzustellen. Sie leben in Rom und schreiben einen Berlin-Roman. JK. Ja, auf den ersten Blick wirkt das seltsam. Aber ich sagte ja schon, in der besonderen, erinnerungstiefen Fremde Roms wandte ich mich der Familiengeschichte zu. Und »Paul Schatz«, das war eigentlich eine Paula Schatz, die EvaMarie Koneffke und mit Mädchennamen Klug geheißen hatte, eine angeheiratete, im Scheunenviertel Berlins aufgewachsene Tante. Ihre früh verstorbene Mutter war Protestantin und ihr Vater ein jüdischer Schildermaler aus Galizien gewesen. Ich kannte diese Geschichte schon lange, seit meiner Kindheit, glaube ich, sie hatte sie mir erzählt, aber auch in einem Weddinger Erzähl-Café zum Besten gegeben, davon existierten Aufnahmen, in deren Besitz ich war. CG. Man muss, so könnte man Sie lesen, um an die eigene(n) Geschichte(n) heranzukommen, erst einmal von ihnen abstrahieren, ja sich von ihnen entfernen. Das ist eigentlich systemtheoretisch nachvollziehbar. Man begibt sich in den Status der doppelten Beobachtung. Also, man schaut von außen. Mir fällt dabei eine Zeile aus Helga Königsdorfs »Respektloser Umgang« von 1986 ein. Die IchErzählerin notiert: »Indem ich mich scheinbar von mir entferne, bekommt alles eine neue Dimension.« Ich glaube, das bringt das mit auf den Punkt, was Sie mit Blick auf ihre Geschichte sagen. JK. Ja, in gewisser Weise. Also: die erste Bedingung, um diese deutsche Geschichte erzählen zu können, war der Gedächtnisraum Rom. Die zweite Bedingung war die
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Entfernung zu der Stadt, in der die Geschichte spielte, ihre Spuren aber nicht mehr lesbar gewesen waren – das jüdische Scheunenviertel hatten die Nazis ja ausgelöscht, der Krieg sein Übriges getan: Auch das Wohnhaus meiner Tante in der Grenadierstraße (heute Almstadtstraße) stand nicht mehr. Ich meine, es war gerade die Entfernung, die mir zur Annäherung verhalf. Und drittens umgab mich ein anderer Sprachraum. Die Sprache der piazza und des mercato, des Veräußerns, nicht der Verinnerlichung. Für mich blieb das Italienische anfangs ein artikuliertes Geräusch oder auch ein Singsang, begleitet von auffallenden Gesten, die zu dieser sich entäußernden Sprache unmittelbar gehörten. Vielleicht konnte ich mich auch deshalb aus dem kleinsten Viertel Roms, dem einstigen Eisenbahner- und Steinmetz- und jetzigem Studentenviertel in ein anderes kleines Viertel zurückzuversetzen, nämlich in das verschwundene Scheunenviertel am Berliner Alexanderplatz, mich über-setzen in die vernichtete Welt meines Paul Schatz: Denn um mich herum sprachen und fuchtelten die Menschen, temperamentvoll und extrovertiert, und in einer anderen Sprache und mit anderen Gesten hatten so auch die vor den Pogromen geflüchteten Ost-Juden das Scheunenviertel belebt, dafür waren sie ja hinlänglich geschmäht und verachtet worden. CG. Das bedeutet aber, und das ist keineswegs der Normalfall, dass sie hinreichende Erinnerungen an ihre Kindheit hatten. Aber, was viel wichtiger ist: Sie waren in gewisser Weise mit Teilen Ihrer Familiengeschichte vertraut. Die muss sich Ihnen als Kind eingeprägt haben oder es spielten die Geschichten der Familie bei Ihnen eine Rolle. Das ist nicht unbedingt der Normalfall. Es gibt einen schönen Satz von Uwe Johnson, den er im Gespräch mit Walter Höllerer geäußert hat: »Das tägliche Bewußtsein enthält durch Erinnerung die Möglichkeit, Vergangenes wieder herauszuholen.« Vielleicht passt der ein wenig auf Ihre Situation in Rom. JK. Ja, in Rom wurde Erinnerung tatsächlich zum Bestandteil meines »täglichen Bewußtseins«, der Satz Uwe Johnsons passt da sehr gut. Und was meine Tante angeht, die erinnerte sich wirklich sehr eindringlich, anekdotenreich und mit umwerfender »Berliner Schnauze« – man kam bei aller Tragik aus dem Lachen gar nicht mehr heraus – an ihre Kindheit. Die war ja auch außerordentlich gewesen. Nach dem Tod ihrer Mutter, da war sie sechs Jahre alt, ist sie maßgeblich beim Großvater und bei der Tante aufgewachsen, nicht bei ihrem Vater. Der Großvater, also der Vater der verstorbenen Mutter, war nicht nur ein »Meister vom hohen Stuhl«, sondern auch ein Antisemit (ausgerechnet im Viertel der armen Juden aus dem Osten), wenngleich kein Nazi. Der spuckte vor seinem im selben Grenadierstraßenhaus lebenden Schwiegersohn aus, wenn er ihn traf. Das bildete sich schizophren in meiner Tante noch in hohem Alter ab.
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CG. Das belegt einmal mehr, in welcher Weise die frühe Kindheit Prägungen hinterlassen kann, die mitunter dazu führen, das Gegensätzliches, ja Unvereinbares sich in einer Person bündelt. JK. Bei ihr offensichtlich. Auf der einen Seite war sie eine der ersten, die verlangte, dass das Prinz Albrecht Palais und ehemalige Gestapo-Hauptquartier in eine Gedenkstätte umgewandelt werden solle – der Brief, in dem sie das tat, hing oder hängt noch in der Ausstellung. Auf der anderen Seite redete sie eher schlecht über ihren Vater, war hingegen voller Liebe für den Großvater. Emotionslos, um nicht zu sagen kalt, sprach sie von der letzten Begegnung mit ihrem Vater 1946/47. Der hatte das KZ überlebt, starb aber bald darauf an den gesundheitlichen Folgen. Meine Tante weinte ihm, wie man so sagt, keine Träne nach, fragte sich auch nie, wie er wohl die familiäre Situation hatte empfinden müssen. Mit anderen Worten: Ihre Geschichte kannte ich wohl – was hingegen die Geschichten aus meiner Familie anging, etwa die Kriegserlebnisse meines Vaters, verhielt es sich völlig anders. Da wurde nichts erzählt, da wurde eisern geschwiegen. Auch die geplatzte Doppelhochzeit war (fast) ein Tabu, die sitzengelassene Tante – in meinem Roman »Eine nie vergessene Geschichte« heißt sie Alma – war noch am Leben und bei Familientreffen immer dabei, da sollten wir Kinder nicht zu viel wissen, denke ich. CG. Nochmals zu Paul Schatz im Uhrenkasten, der 2000 erschien. Kann man sagen, dass Sie mit dem Roman gewissermaßen den Gordischen Knoten durchschlagen haben, der Ariadnefaden, von dem wir sprachen, zu einem, Seil geworden war und Sie dieser Text in wirklichem Sinn frei gemacht hat für das Schreiben. Anders gesagt: Mit Paul Schatz wurden Sie sich ihrer Mittel sicher, ja Sie hatten ihre – ich weiß, ein großes Wort – Poetologie gefunden. JK. Ich denke schon. Jedenfalls ist es kein Zufall, dass ich mit diesem Roman meine Vergangenheitsreise angetreten habe. Bei all dem Material, das mir zur Verfügung stand! Da war einerseits Rom, aber da war andererseits auch meine Tante, der ich den Ariadnefaden verdankte, an dem ich mich abseilen konnte. Und bei der Arbeit an diesem Stoff sammelte ich die Erfahrungen, die mich zur Bearbeitung anderer biographischer, familienhistorischer und zeithistorischer Stoffe ermutigte und befähigte. Übrigens auch die Erfahrung der Freiheit gegenüber dem historischen Stoff – ich habe sie geradezu zu einem Element dieser Romane gemacht. Bei Paul Schatz ist es der in seiner Loge die Uhrzeiger der Geschichte verstellende und ins Weltgeschehen rettend eingreifende Großvater. In der »Nie vergessenen Geschichte« und in »Die sieben Leben des Felix Kannmacher« eben jener Felix, der beim Klavierspielen und später, auf dem Balkan, als Geschichtenerzähler, eine Gegenwelt zur historisch faktischen entwirft. Im
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Sonntagskind sind es dann die rekonstruierten Geschichten des jugendlichen Konrad Kannmacher, die das Erlebte fantasiereich konterkarieren. CG. Da Sie jetzt die »Kannmacher«-Triologie ansprechen, deren letzter Band Ein Sonntagskind 2015 erschien, steht die fast rhetorische Frage, welche Rolle für Sie die eigene Familiengeschichte, mithin also auch Autobiographisches für das Erzählen von Geschichten, besser für das Erzählen Ihrer Geschichten spielt. JK. Ist gar nicht so rhetorisch die Frage, finde ich. Das Erzählen von Geschichten beschränkt sich ja nicht auf die eigene Familiengeschichte. Schon »Paul Schatz« erzählt ja die einer angeheirateten Tante. Für den Roman »Eine Liebe am Tiber« (2004) stand wiederum der Lebensgefährte meiner Mutter Pate (mit seinem Einverständnis). »Die sieben Leben des Felix Kannmacher« (2011) erzählt zwar von einem verschollenen Großonkel, ist aber reine Erfindung, weil ich ihm mit dem Buch ein weiteres Leben nach seinem Verschwinden angedichtet habe. Freilich spielt es im Rumänien der Zwischenkriegszeit und erstens ist das Land mir inzwischen »familiär« geworden, zweitens habe ich mich mit dieser Zwischenkriegszeit, der Phase seiner Modernisierung und ihres abrupten Endes, aufs Intensivste beschäftigt. In gewisser Weise bin ich also in Hemd und Hose meines Onkels selbst in dieses Rumänien der 1930er und 1940er gereist, deshalb ist es auch in der 1. Person erzählt. Mit anderen Worten: Nicht die eigene Familie muss im Zentrum stehen – aber die Geschichte muss einen starken persönlichen Bezug haben, wie verborgen auch immer. Dafür bin ich wahrscheinlich zu sehr Lyriker, um auf diesen Bezug verzichten zu können. CG. Das bedeutet aber auch, dass dokumentarisches Material für Ihr Schreiben von Bedeutung ist. Und damit meine ich ein breites Spektrum, angefangen bei biographischen Zeugnissen, also Material aus der eigenen Familiengeschichte bis hin zu Dokumenten aus der Zeitgeschichte. JK. Aber ja, ein ganzer Apparat ist notwendig: Nehmen wir die Briefe meines Vaters, vor allem den zirka dreißig Seiten langen handschriftlichen Brief vom Weihnachtsfest 1945, in dem er seine Kriegserlebnisse erinnert – ohne diesen Brief hätte ich »Ein Sonntagskind« nicht schreiben können. Insbesondere die Kriegsszenen nicht, das kann man sich, denke ich, nicht anlesen, da braucht es, brauchte es bei mir zumindest, wiederum den starken persönlichen Bezug. Natürlich habe ich auch auf »Die Flakhelfer« von Malte Herwig zurückgegriffen oder das Buch »Soldaten« von Neitzel/Welzer, das die Gespräche gefangener Wehrmachtssoldaten, die ohne ihr Wissen von den Engländern abgehört wurden, dokumentiert und analysiert. Fotos, Stadtpläne, mündliche Erzählungen, wie oft habe ich mit Irmgard Heydorn, die das reale Vorbild für die Nelli meines Romans
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darstellt, über meinen Vater gesprochen, den sie seit seinen Studentenzeiten kannte … CG. Wenn dem so ist, dann ist es natürlich für das, was wir mit »Schreibszenen« fassen, von Interesse, wie das konkret funktioniert. Da Sie Christa Wolf erwähnt haben oder von Uwe Johnson schon mehrfach die Rede war: Beide haben akribisch gearbeitet. Uwe Johnson hat geradezu wissenschaftlich die Topographien seiner Romane bis hinein in kleinste Verästelungen vor und während des Schreibens erforscht. Und von Christa Wolf weiß ich selbst, dass sie umfangreiche Exzerpte und Konspekte zu jenen Themen angefertigt hat, die in ihren Romanen eine Rolle spielten. So hat sie sich schon Anfang der 1970er Jahre mit neusten Forschungen zur Kognitionspsychologie und Neurophysiologie beschäftigt. Der Grund: Es ging ihr um Vorgänge, die im Gedächtnis und beim Erinnern ablaufen. Wie ist das bei Ihnen, sofern das kein Geheimnis ist. Wie gehen Sie mit dem Material um. Ich muss da gar nicht auf ihren letzten Roman Die Tsantsa-Memoiren verweisen, der im September 2020 erschienen ist. Sie erzählen hier die faszinierende Geschichte eines Schrumpfkopfes, der um 1780 in den Besitz eines spanischen Beamten in Caracas gelangt und über den dann 200 Jahre Geschichte in den Blick geraten. Allein die Beschreibung der Örtlichkeiten machen ein Hinabtauchen in die Geschichte notwendig. Auch, wenn Sie sich, wie Sie sagen, »Freiheit gegenüber dem historischen Stoff« nehmen. JK. Naja, im Falle der »Tsantsa-Memoiren« sollte man eher von der Freiheit gegenüber der Wirklichkeit selbst sprechen. Es ist ja von vornherein eine fantastische Geschichte, weil ihr Erzähler fantastisch ist: Ein lebender Schrumpfkopf. Übrigens fehlt selbst hier der persönliche Bezug nicht: Er besteht in den Erfahrungen von tödlicher Krankheit und chirurgischen Eingriffen in den eigenen Körper. Wenn man so im Krankenhaus liegt und der Körper nicht mehr der ist, der er war, macht man sich doch ziemlich intensive Gedanken über das Verhältnis von Körper und Geist. Denn der Geist ist ganz klar, mit ihm kann man reisen, wohin man will. Auch in die Vergangenheit, in die moderne europäische Geschichte. Statt ein Krankheitsbuch zu schreiben, wollte ich lieber diese Reise antreten. Ich wollte erzählen, aus der im wahrsten Sinne des Wortes ex-zentrischen Perspektive eines Schrumpfkopfs, also eines mehr oder weniger hilflosen, unfreien Beobachters, woher ich, woher wir kommen. Das Material, das ich hierfür sichten musste, geht in tausende von Seiten und reicht von Alexander von Humboldt bis zur Geschichte der Hirnforschung, von Luther-Texten und Berichten deutscher Konquistadoren wie Hans Staden bis zu Berichten deutscher und österreichischer Soldaten aus dem im 1. Weltkrieg von ihnen besetzten Rumänien … das hier alles im Einzelnen aufzuführen, würde lange dauern.
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CG. Sie sagen es, wir behalten das einem weiteren Gespräch vor. Um noch einmal auf die Schauplätze zu kommen. Es ist schon so, Sie deuteten es an, dass Sie sich alte Stadtpläne von historischen Orten, die in Ihren Texten eine Rolle spielen, nicht nur anschauen, sondern sich in sie vertiefen und Details dokumentieren. Es geht Ihnen vielleicht darum – korrigieren Sie mich –, sich eine Art Erinnerungsraum aufzuschließen, aus dem dann das Schreiben gewissermaßen wachsen kann. JK. Ja, Bildmaterial ist wichtig, Fotos, Malerei, Stiche oder abstrahierende Darstellungen wie Weltkarten, Stadtpläne. Erinnerungsräume aufschließen – das ist eine schöne und zutreffende Formulierung dafür. Ich versuche, diese Räume sinnlich, also anschaulich begehbar zu machen. Und zwar nicht nur um der individuellen Erinnerung willen, damit sie im Wortsinn: evident wird, sondern vielleicht sogar, um sich allgemein im Erinnern zu üben. CG. Sie sprachen schon davon, dass Sie den Roman »Sonntagskind« nicht ohne die Kenntnis eines etwa 30-seitigen Briefes Ihres Vaters von Weihnachten 1945 hätten schreiben können. An anderer Stelle merkten Sie an, dass Sie lange gewartet haben, ehe Sie sich diesem Brief Ihres Vaters aus der Zeit nach dem Krieg genähert haben. Gab es da so etwas wie eine (Schreib)Hemmung, die sie davon abhielt, sich den bis dahin so nicht bekannten Seiten – in diesem Fall des eigenen Vaters – zu öffnen. JK. Es war wiederum eine Stoffhemmung, aber in einem anderen Sinne als dem, in dem ich vorhin davon sprach. Im ersten Sinne fehlte mir der Stoff, ohne dass er fehlte, es fehlte mir an der Aufmerksamkeit für ihn. Die Stoffhemmung, die ich jetzt meine, war die Angst vor einem Stoff, von dem ich ahnte, worin er besteht. CG. Nun müssen wir für jene, die den Roman noch nicht gelesen haben, aber es unbedingt tun sollten, wenigstens andeuten, worin die »Angst vor dem Stoff« besteht und ob Ihre Vermutung dann zutraf. JK. Nun ja, ich hatte Angst davor zu erfahren, was er im Krieg gemacht hat, selbst wenn er erst im November 1944 mit 17 Jahren an die Front musste. Aber man weiß ja, dass es im letzten Kriegsjahr zu mehr Opfern gekommen ist, als in den fünf Kriegsjahren zuvor. Ich ahnte, dass mir in diesen Briefen ein von seinen Kriegserlebnissen geprägter junger Mann begegnen wird, in dem ich meinen Vater nur schwer wiedererkenne. Und so war es auch. Vor allem die von ihm in den Briefen benutzte Sprache hat mich schockiert, ihre Kaltschnäuzigkeit, eine Mischung aus Abenteurertum, Rohheit, Prahlerei. Und das sollte mein reflektierter, sich politisch links, gegen die Wiederbewaffnung und gegen den Atom-
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krieg engagierender Vater gewesen sein? Es war also eigentlich noch schlimmer, als ich befürchtet hatte. CG. Zu einer Schreibhemmung hat diese Angst und die Erkenntnisse aus dem Brief dann aber nicht geführt. Der Roman ist ja zu Ende gebracht worden. JK. Nein, als ich mich dann in ihn vertieft hatte, machte mir der Stoff das Schreiben zwar schwer, aber er hemmte es nicht. Im Gegenteil, es wurde mir zur Notwendigkeit, die Geschichte meines Vaters, der Kriegs- und Nachkriegswelt, ja meines Elternhauses zu erzählen. CG. Wir sprachen davon, dass mit Paul Schatz der Gordische Knoten gelöst wurde. Wenn dem so ist, dann sollten wir noch einen kurzen Blick auf die nächsten 20 Jahre werfen, also die Zeit nach Paul Schatz. Und in diesem Zusammenhang steht die Frage, wie es mit möglichen Schreibstörungen und Irritationen in der Folgezeit stand. Das Schreiben ist ja ein Prozess, der Diskontinuitäten kennt. JK. Schreibstörungen habe ich in der Tat seitdem keine mehr erlebt. Rom war ein Katalysator. Aber seitdem ich in Wien, Bukarest und dem Karpatenort Mӑneciu lebe und schreibe, seit 2003 also, habe ich keine Stoffblockade erlitten, auch keine Schreibhemmung. Lange Zeit, seit dem Gedichtband Was rauchte ich Schwaden zum Mond von 2001, konnte ich keine Poesie mehr schreiben, das ja. Dazu waren die Prosastrecken, die ich ablief, irgendwie zu lang, meine Aufmerksamkeit zu sehr gebunden. Mit Lust und Laune schrieb ich einen Band mit Gedichten für Kinder, die »Trippeltrappeltreppe« von 2009, aber ansonsten … seit zirka acht Jahren aber schreibe ich auch wieder kontinuierlich Gedichte … CG. Wenn es soeben auch um Schwierigkeiten beim Schreiben ging, um Diskontinuitäten, dann muss ich danach fragen, wie es bei Ihnen mit den Textanfängen aussieht. Es ist bekannt, dass Theodor Fontane den Textanfang stark gemacht hat. In einem Brief an Gustav Karples verweist er auf die Bedeutung des ersten Kapitels und im ersten Kapitel auf die erste Seite und auf der der ersten Seite auf die erste Zeile. Letztlich vertritt er die Position, dass in der ersten Seite »der Keim des Ganzen« stecke. Wie sehen Sie Fontane und wie wichtig ist für Sie der Textanfang? JK. Ich denke schon, dass Fontane Recht hat, zumindest für den herkömmlichen Roman. »Der Keim des Ganzen« auf der ersten Seite kann dabei sehr offensichtlich oder auch schwer zu erkennen sein. Ohnehin ist die Formulierung interpretationsbedürftig, es muss ja nicht immer gleich die ganze Geschichte sein, die auf der ersten Seite – versteckt, wie der Keim in der Erde – enthalten ist
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Abb. 2: Jan Koneffke in seinem Arbeitszimmer in Mӑneciu, hier entstanden seit 2006 Koneffkes Romane.
und sich im Laufe des Buches nun nur noch entfaltet. Sodass man nach beendeter Lektüre begreift, dass man eigentlich alles schon vorher wusste. Es kann sich um den Charakter der Erzählung handeln, der sich auf der ersten Seite offenbart. Denkbar ist freilich auch die Verweigerung, also ein Romananfang, der absichtlich in die Irre führt. Das wäre dann das Spiel mit dem »Keim des Ganzen«. Ein literarisch hochorganisierter Text, denke ich mir, wird diesen Keim immer in den ersten Zeilen enthalten. Sich das vorzunehmen, ist allerdings riskant. Stellen wir uns die Arbeit an einem Roman vor, dessen Stoff und Komposition noch nicht gänzlich durchdrungen sind, und einen Autor, der die erste weiße Seite füllen muss und jetzt unbedingt gleich den »Keim des Ganzen« aufs leere Papier bringen will: Die Schreibhemmung wäre garantiert. CG. Ja, ich stimme Ihnen auf jeden Fall zu. Was ist das auch für ein Koloss, den man da vor sich aufbaute. Insofern hört sich Fontanes Einlassung gut an. Aber in der Tat, wird es in den seltensten Fällen so sein, dass auf den ersten Seiten bereits die ganze Geschichte wie ein Keim steckt. Die Melodie vielleicht, aber nicht die Geschichte. Ein bekannter Lektor hat mehrfach betont, ihm würden die ersten zehn Seiten eines Romans reichen, um ihn ins Töpfchen oder Kröpfchen zu befördern. Ich gebe zu, dass ich bis heute mit einer solchen Aussage, die Erfahrung des Mannes durchaus wertschätzend, nicht viel anfangen kann. Aber machen wir
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es abschließend konkret. Wie hat das, was Sie hier beschreiben, bei ihrem letzten Roman funktioniert, den Tsantsa-Memoiren. Wir haben da schon einmal einen Peritext, der auf den Haupttext verweist und sich so ausnimmt: »Erster Teil. Lehrjahre. Caracas, Rom, Bamberg (zirka 1780–1850).« Dann folgt der erste Satz, der in Form einer Kapitelüberschrift wie bei Grimmelshausen in kursiv daherkommt und der schon mal irritierend wirkt: »Von meinem Leben vor der Zeit, als ich reine Anschauung bin, und dem Tag, mit dem meine Geschichte beginnt: Erste Schreibzimmererinnerungen an mein Erwachen bei Don Francisco Ramirez in Caracas, zwischen seinen Kindern und Pepitos Tieren; der sprechende Blauara Cayo und El Pequeno.« Und dann geht’s weiter mit einem Auslassungszeichen, der mitten in den Satz führt, der über eine halbe Seite reicht: »… nichts weiter als innerer Frieden und Feuchtigkeit …« JK. Es gibt einen Peritext, es gibt eine sich an den Schelmen- und Barockroman anlehnende Kapitelüberschrift, das mildert das Gewicht der ersten Sätze schon einmal ab, der Leser wurde ja schon – auf verspielte Weise – auf das Kommende vorbereitet. Ansonsten erinnert sich der Erzähler im ersten Satz an das Erwachen seines Bewusstseins – das unmittelbar nicht darstellbar, weil vor-sprachlich ist. Was haben wir im ersten Satz: Die Genese des Bewusstseins als Genese des Erzählers (seiner Memoiren) als Genese des Textes – das wäre ja so etwas wie der »Keim des Ganzen« an sich, nicht wahr? CG. Ja. Das trifft aus meiner Sicht vollkommen zu. Damit ist der Startpunkt gesetzt oder wir können etwas pathetischer auch sagen: Die Romanvision, ja die Poetik dieses ganz konkreten Textes, auf den man sich mit seiner phantastisch anmutenden Konstellation einlassen muss. Es gibt eine schöne Erklärung von Umberto Eco, die mir bei der Gelegenheit einfällt: »Wer erzählen will«, schreibt Eco, »muß sich zunächst eine Welt errichten, eine möglichst reich ausstaffierte Welt bis hin zu den letzten Details«. Genau das trifft für Ihr Erzählen, für Ihre Romane und besonders für jenen Text zu, von dem wir gerade sprechen, die Die TsantsaMemoiren. Umberto Eco verweist dann darauf, dass man sich auch eine – wie er sagt – »irreale Welt« errichten kann, »in der Esel fliegen und die Prinzessinnen durch einen Kuss erweckt werden«. Aber auch in einem solchen Fall muss diese »rein phantastische Welt« nach »Regeln existieren, die vorher festgelegt worden sind«. So wird es auch bei Ihnen im Falle von Tsantsa gewesen sein. Sie hatten die Regeln festgelegt und der Romananfang belegt, wonach im weiteren Verlauf gespielt wird. JK. Ja, so wie der Traum ja auch seinen eigenen Regeln von Verdichtung, Verschiebung und Entstellung folgt. Ich hatte schon früh mein ästhetisches Verfahren mit der Formel: »Realismus als Traumarbeit« umrissen. Das ist von Ecos
Ein Gespräch über Romanstoffe und »Realismus als Traumarbeit«
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irrealer Welt nicht so weit entfernt, denke ich, von einer Welt, die die Elemente des Realen in neue und ungewohnte Konstellationen bringt. Den Begriff der Traumarbeit reiße ich natürlich aus seinem psychoanalytischen Zusammenhang. Es ist doch eh kurios, dass Freud bei der Umwandlung des latenten Traums in den manifesten Traum durch das schlafende, geschwächte Ich von Traumarbeit spricht, also das Ethos der Arbeit bemüht, das doch eher in die Sphäre des ÜberIchs gehört, nicht wahr? Um es pointiert zu sagen: Der Begriff beruht auf einer Freudschen Fehlleistung. In meinen Büchern ist der »Realismus als Traumarbeit« gelegentlich auch zum Realismus als Alptraumarbeit geworden. Und in den »Tsantsa-Memoiren« steckt nicht nur irgendwie beides, sondern man könnte die programmatische Formel auch umdrehen: »Traumarbeit als Realismus.« CG. Eine ergänzende Frage: Wie lange haben Sie an diesem Romananfang gearbeitet bzw. getüftelt. JK. Ich brauchte Hilfe. Bis zum Abschluss des gesamten Romans gab es einen anderen, »selbstsichereren«, distanzierteren, ironischeren Anfang. Mein Lektor, Wolfgang Hörner, der auch mein Verleger ist, riet mir, ihn zu ändern, ich solle die anfänglichen Wahrnehmungsbeschränkungen des Tsantsa literarisch fühlbarer machen. Nachvollziehbarer. Das fand ich plausibel. Ich habe den Anfang neu geschrieben und den Keim des Ganzen gelegt, als das Ganze schon vorlag. CG. Nun doch noch eine letzte Frage. Gabriel Garcia Márquez, der kolumbianische Nobelpreisträger, der mit seinem Roman »Hundert Jahre Einsamkeit« Weltruhm erlangte, hat einmal bekannt, dass er immer dann, wenn er des morgens vor dem weißen Blatt Papier sitzt, sich übergeben könnte. Ich liege vielleicht nicht falsch in der Annahme, wenn ich vermute, dass das bei Ihnen anders ist. JK. Nein, das geht mir nicht so. Ob es am Magen liegt?
Carsten Gansel / Gottfried Meinhold
»Aber das Phantastische war doch sehr realitätsnah« – Ein Gespräch über Schreibmotivationen und das Groteske
Carsten Gansel. Herr Meinhold, Sie sind in Erfurt groß geworden, haben 1954 Abitur gemacht und danach am damaligen Pädagogischen Institut studiert. Später haben Sie extern an der Universität Jena ein Diplom in den Fächern Sprechwissenschaft und Germanistik gemacht. Die Promotion erfolgte 1964 an der Humboldt-Universität. Später waren Sie Lektor und nach der Habilitation 1968 wurden Sie Anfang der 1970er Jahre Dozent an der Universität Jena. Lassen Sie uns erst einmal bis zu diesem Punkt gehen. Das ist zunächst ganz offensichtlich eine Universitätslaufbahn, die selbst für DDR-Verhältnisse früh zur Promotion und Habilitation führte. Sie waren 28, als Sie promovierten, und 32 bei der Habilitation. Das ist nicht nur früh, sondern sehr früh. Aber Sie haben bereits parallel zu Ihren wissenschaftlichen Arbeiten geschrieben, also literarische Texte. Wie kam es dazu? Gottfried Meinhold. Ein Sinn für Geschichten, ihre Erfindung, oder auch für Gedichte hat sich zusammen mit Leseleidenschaft – unmittelbar nach dem Erwerb der Lesefähigkeit in der ersten Klasse – bei mir sehr rasch entwickelt. Beim Lesen zu erleben, wie sich menschliches Leben und sein Daseinsraum, von Sprache vermittelt, entfalten, hat mich hingerissen; es entwickelte sich in der Rezeption eine besondere Erlebnistiefe, die das Gelesene weiter wirken ließ. Und das innere Weiterleben von Figuren – ihrem Sprechen, ihrem Tun – bewirkte, dass sich sehr bald eine Art Weltinnenraum bildete, will sagen, eine innere Geräumigkeit, die sich mit Lebewesen besiedelte, nicht nur mit handelnden und sprechenden Menschen. Am Anfang standen vielleicht meine langen Krankheitsphasen – nichts Besonderes: Kinderkrankheiten mit monatelanger Schulabwesenheit; 1944/45 bin ich fast ein Jahr lang nicht zur Schule gegangen, da war das Buch für mich Lebenselixier. Aber auch schon 1943 im Frühjahr, als ich hintereinander Scharlach und Windpocken absolvierte, kamen die ersten bleibenden Leseentdeckungen, nicht nur aus Märchenbüchern. Ich weiß noch, dass ich mich aus eigener Kraft und mit einiger Hartnäckigkeit in die Frakturschrift einlas. Viel später, erst nach dem Kriegsende, gab es Anregungen im Deutsch-
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unterricht, auch die ersten Kontakte mit Goethe und Schiller, die übrigens sogleich Kettenreaktionen auslösten. CG. Goethe und Schiller als Kind zu lesen, das ist nicht unbedingt üblich gewesen, auch in früheren Jahrzehnten nicht. GM. Das ist sicher so. Aber: Auch die spannenden Biografien taten ihre Wirkung – in denen suchte ich nach der Beantwortung der Frage, wie man ein Dichter wird, so als hätte ich damals schon mit dergleichen Tätigkeit geliebäugelt. Wie gesagt, nicht nur Märchen oder Sagen waren mein Lesefutter. Die sehr zeitige Begegnung mit den Klassikern als 11- oder 12-Jähriger verdanke ich vor allem einer Deutschlehrerin, ich muss ihren Namen nennen, Irene Reimann, die aus dem Baltikum stammte und mit methodischer Vielfalt und Klugheit zu Werke ging, auch mit uns nach Weimar fuhr und uns ermunterte, nicht nur Sketche oder kleine Dramen zu schreiben, von denen das eine oder andere sogar aufgeführt wurde, z. B. zu Elternabenden – sondern auch Gedichte. Und durch meinen Vater, der Storm sehr mochte, war dieser Autor für mich nur wenig später die Brücke zur Literatur des 19. Jahrhunderts, nicht nur der deutschen, versteht sich: alsbald auch der englischen, französischen, russischen. Ich glaube, mein Schreiben entsprang den Nachwirkungen intensiven Lesens. Hinzu kam bei mir sehr früh das Erlebnis »Geschichte«, der antiken zuerst, nicht nur aus den Sagen des klassischen Altertums, nur am Anfang: Troja natürlich, – dann aber, viel nachhaltiger, Karthago, der Kampf der Karthager gegen Rom und der Untergang Karthagos – das Tragische, Furchtbare, für ein Kriegskind besonders naheliegend, mit dem entsetzlichen Schicksal der Besiegten, ihrer Frauen und Kinder. Jahrelang wollte ich ein Drama darüber schreiben. CG. Sie sind in Erfurt aufgewachsen. Das war und ist immer eine Stadt gewesen, in der Geschichte eine Rolle spielte. GM. Ja, in Erfurt, einer Stadt mit geballter, auch tragischer Geschichte, war schicksalhaftes historisches Geschehen immer für mich präsent, hautnah. Antike und Mittelalter faszinierten mich besonders, weniger die Zeitgeschichte, die war sowieso in nächster Nähe und omnipräsent, zumal ich das Kriegsende wirklich als eine Erlösung erlebt hatte. Und von Auschwitz erfuhr ich als Neunjähriger durch die beeindruckende Erzählung eines Bekannten meiner Eltern, der als Wehrmachtsangehöriger zur Wachmannschaft in Auschwitz abkommandiert worden war, dort aber nach kurzer Zeit einen Nervenzusammenbruch erlitt. Er, ein hilfsbereiter, sensibler Mann hatte freundlich mit Häftlingen an der Rampe gesprochen. Gedichte zu schreiben, zunächst Balladen und Fabeln, verlockte mich besonders. Ich hatte immer etwas in Arbeit, zu vielem, was ich las, fiel mir
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etwas ein, das ich in irgendeiner Form gestalten oder auch nachgestalten wollte. Immer haben mich übrigens in Erfurt die tragischen Seiten dieser »Stadtrepublik« beschäftigt, das Ringen mit Mainz um Autarkie, Blüte und Niedergang der Universität, die Humanistenkreise, zuvor Meister Eckhart, aber auch die mittelalterlichen Pogrome gegen die jüdische Gemeinde, später die Dalbergzeit und die mehreren Jahre, als Erfurt französisch war, das Hauptquartier Napoleons in Mitteleuropa. CG. Dann kam aber erst einmal die Oberschule mit den Jahren hin zum Abitur, das war vermutlich eine Zeit, in der sich die Interessen verbreiteten und Anderes wichtig wurde. GM. Während der Oberschulzeit freilich gab es weniger Freiraum. Gerade in dieser Zeit aber meldeten sich schließlich die ersten wissenschaftlichen Appetenzen mit wachsendem Nachdruck. Sprachliche, philologische, auch historische zunächst, aber auch eine Attraktivität von Physik und Chemie, Biologie, mit unbändiger Lust am Experimentieren und Mikroskopieren – und es dauerte sehr lange, bevor gegen Ende der Oberschulzeit ein Fach für ein eventuelles Studium ausfindig gemacht wurde, dazu kam eine Unsicherheit, was wohl in der damaligen DDR studierbar wäre, vor allem angesichts erschwerender Zulassungsmodalitäten. Aus meiner Abiturklasse blieben deswegen nur wenige in der DDR. Zwischenzeitlich wollte ich Architekt werden; eine Maurerlehre als Voraussetzung dafür gab ich aber nach kurzer Zeit auf und wurde nachträglich – unter Auflagen, weil nicht Mitglied der FDJ – am Pädagogischen Institut in Erfurt immatrikuliert, und zwar mit dem Berufsziel Deutschlehrer für die Mittelstufe. Dort musste ich mich »politisch bewähren«, man würde mich beobachten, wurde mir angekündigt, und ich sollte nach einer gewissen Zeit in die FDJ eintreten, was ich im 20. Lebensjahr auch tat. CG. Wenn man sich Ihren weiteren Lebenslauf vor Augen führt, dann kann man nicht sagen, dass er für die DDR üblich gewesen ist. Es entsprach nicht der Regel, dass man nach dem ersten Studium ein weiteres anschloss. Aber Sie haben dann weiter studiert an der Universität Jena. GM. Das ist richtig. Der weitere Fortgang mit einem Gasthörerstudium war eigentlich irregulär, doch für mich der einzige Weg, weil mir nach meinem Erfurter Abschluss eine erweiternde Fortsetzung des Studiums, und zwar mit einer linguistisch-sprechwissenschaftlichen Spezialisierung, durch das Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen, bei dem ich deswegen vorsprechen musste, verweigert wurde. Als ich meine Berufstätigkeit in Halle begann, war mir aus meinem Germanistikstudium Kafka sehr nahe und hochlebendig geblieben. Ich
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schrieb in meinem vom Verkehrslärm dröhnenden Zimmerchen in der Reilstraße in Halle einige wunderliche Geschichten à la Kafka, die in mir schon lange darauf gewartet zu haben schienen, geschrieben zu werden. Der Habitus von Halle als Stadt – mit einer geradezu unheimlichen Mischung von Fremdheit und Vertrautheit und höchst obskuren Milieus – hat mitgewirkt (wovon man einiges in meinem Roman »Edermann«, geschrieben um 1970/71, spüren kann). Und ich kam als Phonetiker in einer Klinik mit einem angesehenen Direktor, der Vizepräsident der Leopoldina und eine wissenschaftliche Koryphäe war, als wissenschaftlicher Mitarbeiter in ein von Forschungsintentionen aufgeladenes Fluidum, übrigens völlig unpolitisch, wie ich es in meinem Leben nicht wieder erlebt habe. CG. Der Roman »Edermann« ist 2001 erschienen. Wie kam es dann aber dazu, dass Sie schon nach kurzer Zeit allem Anschein nach mit einer Dissertation beginnen konnten? Auch das ist nicht der Normalfall. Wie man heute nicht mehr weiß, war es in der DDR zunächst nicht üblich, sich seine Themen für die Dissertation selbst zu wählen. Es gab, das wurde in den 1960er und 1970er Jahren, ja bis zum Ende der DDR so gehandhabt, Forschungspläne. In gewisser Weise Planwirtschaft für die Forschung, wenn man so will. GM. In der Tat. Während meiner Jenaer Gasthörerzeit hatte ich dem Direktor des an der Uni Halle befindlichen Institutes für Sprechkunde und phonetische Sammlung einige phonetische Beobachtungen mitgeteilt, ohne zu ahnen, dass diese in einer Palette von phonetisch-orthoepischen Forschungsthemen hochwillkommen waren. Sie waren der Anlass, unverzüglich eine groß angelegte empirische Untersuchung zu beginnen, als Mosaikstein in einem ganzen Ensemble von Forschungen zur gesprochenen deutschen Sprache. Es ging in meiner Untersuchung um die Endsilbenproblematik im Deutschen. Daraus wurde – sogar mit einigem Zeitdruck verbunden – meine Dissertation, deren Untersuchungsresultate bereits 1961/62 vorlagen und auf mehreren Fachtagungen thematisiert wurden. CG. Warum der Zeitdruck? Normalerweise gab es mit Blick auf eine Dissertation zeitlich wenig Druck, zumal Sie ja ausgesprochen schnell die Arbeit angegangen waren und fertig wurden. GM. Der Zeitdruck resultierte aus der Notwendigkeit, so schnell wie möglich eine neue orthoepische Kodifikation für ein deutsches Aussprachewörterbuch zu erarbeiten. Meine transdisziplinäre Doppelstellung zwischen Medizin und Linguistik hatte etwas ungeheuer Stimulierendes, es ergab sich eine generalistische Orientierung, die mich nie zur Ruhe kommen ließ. Und ich konnte mit Feuer-
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eifer, gewissermaßen fieberhaft arbeiten, was schon Grundschullehrerinnen und -lehrern bei mir aufgefallen war. Und immer habe ich in einer Thematik, mit der ich mich gerade zu beschäftigen hatte, bereits die Verzweigungen in neue Fragestellungen hinein erlebt. Ein Projekt nach dem anderen kam in Gang, sowohl in der Phonetik/Phonologie als auch in Verbindung mit medizinischen Fragestellungen, z. B. bei sogenannten sprachverbessernden Operationen, vorwiegend empirische Untersuchungen. Das alles waren Projekte, die meine wissenschaftliche Neugier immer weiter steigerten und die mich verlockten, immer noch einige Schritte weiterzugehen. Dass die Resultate umgehend publiziert werden mussten, sorgte für ein hohes Arbeitstempo, eine wichtige Erwerbung fürs Leben. Wissenschaftliche Problemlösungen vermochten es, mich mit einem Zug ins Obsessive zu faszinieren, was vor allem dieser Mehrgleisigkeit zwischen Linguistik, Phonetik, Medizin und Physik (Akustik) zu verdanken ist. Dazu kam eine besondere Teamfähigkeit, Freude an der Teamarbeit. Doch, wie gesagt, es gab bei mir schon die Gefahr einer »workoholischen Süchtigkeit«, die Lust auf Probleme und Problemlösungen, die aber in dieser Zeit vor allem der wissenschaftlichen Arbeit zugutekam, erst viel später literarischen Versuchen. CG. Nun war die Leopoldina auch eine ausgewiesene Institution mit hochkarätigen Wissenschaftlern. Mir liegt ein Band von der Jahrestagung 1971 vor. Die Nova Acta Leopoldina mit dem Schwerpunkt zur Informatik. Mich interessierten an diesem Band vor allem die Beiträge von Friedhart Klix zur Informationsaufnahme und Informationsverarbeitung beim Menschen. Was ich sagen will, diese Tagung, auf der es um Informatik ging, war hochgradig transdisziplinär ausgerichtet. GM. Das kann ich in jeder Hinsicht bestätigen. Ich habe diese Jahrestagung miterlebt und auch den Vortrag von Klix gehört. Die über die Naturwissenschaft hinausreichende Transdisziplinarität der Leopoldina, deren Jahrestagungen und Symposien ich auch später noch besuchte, war von größter Faszination, bestimmte auch eigene wissenschaftliche Orientierungen, sogar in meinen linguistischen Disziplinen. Meine über viele Jahre, vor allem später in Jena verfolgte Forschungsthematik über das Zeitproblem in der gesprochenen Sprache – worüber ich auch meine Habilitationsarbeit schrieb – verdanke ich dem Tagungsband von 1959 über das Zeitproblem. Es war eine Ehre für mich, dass der Vizepräsident Erwin Reichenbach, der nach dem Mauerbau 1961 zwangsemeritiert wurde, Anfang der 60er Jahre mehrere Arbeiten mit mir zusammen publizierte. Und als einen Höhepunkt meines Wissenschaftlerdaseins habe ich es immer betrachtet, mit einem eigenen Vortrag auf dem Leopoldina-Symposium von 1976 über naturwissenschaftliche Linguistik aufgetreten zu sein – übrigens nach einem Vortrag von Klix.
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CG. Aber dennoch – die Frage muss ich stellen – Sie haben nebenher geschrieben. Das ist nicht der Normalfall, obwohl es natürlich in der Literatur vielfach so ist. Es gibt zahlreiche Ärzte oder auch Ingenieure, die herausragende Autoren wurden. Gottfried Benn oder Alfred Döblin etwa. Friedrich Schiller nicht zu vergessen oder Georg Büchner. Robert Musil war Ingenieur. GM. Ja. Allerdings ist es verwunderlich, dass das Schreiben kleinerer Prosa neben Gedichten bei dieser wissenschaftlichen Beanspruchung nicht verdrängt wurde. Neben den zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen in meiner Hallenser Zeit hatten literarische Produkte natürlich eine periphere Stellung, anders als später, in meinen Jenaer Jahren nach 1964 oder vor allem nach dem Abschluss meiner Habilarbeit 1966. Seitdem erst hatte das »Gewicht«, auch die Ausdehnung meiner literarischen Versuche, von Jahr zu Jahr zugenommen, nicht mehr nur kleine Erzählungen, Parabeln, lyrische Entwürfe waren es, die man en passant zu Papier bringt, sondern umfangreichere Erzähltexte. Und noch vor meinem Weggang aus Halle beschäftigte mich ein erster groß angelegter Romanentwurf, bei dem ich die Verlockung der Entfaltungsmöglichkeiten der Romanform zu spüren bekam, auch ihre Unverzichtbarkeit für die eigene Schreibintention. CG. Was hat Sie dazu bewogen, neben Ihren zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen auch literarisch zu arbeiten? Wer sich in der Wissenschaft auskennt, der weiß, dass es da oftmals kein Wochenende gibt. Bei Ihnen muss das mit der Zeit noch schwieriger gewesen sein. Wie hat das mit dem Schreiben funktioniert. GM. Wer sich einmal daran versucht hat, selbst Geschichten oder Gedichte zu schreiben, und dafür nach und nach einen sechsten Sinn entwickelt hat, der wird davon nicht mehr ohne Weiteres lassen wollen. Aber es kam noch mehr Verlockendes hinzu: das Erlebnis der Entwicklung eines Geschehens oder eines Handlungsraumes im Text – und eben das Prinzip Lebendigkeit: das Szenische und das Agieren von Personen oder besser: von spezifischen Persönlichkeiten in ihren Daseinsräumen, das Motivationsgefüge ihres Handelns, ihr Befinden erkennbar zu machen, die menschliche Seele ausloten zu können. In der Wissenschaft führten mich solche Intentionen in die allgemeine Psychologie und noch weiter in die Informationspsychologie, von der Sprachpsychologie (Sprachgedächtnis als Forschungsthema) ganz zu schweigen. Doch war das Erfinden und Aufschreiben von Geschichten, ihre Entfaltung im Laufe der Arbeit am Text ein Tun, das dem Lebensprozess näher kam als die analytisch arbeitende Wissenschaft. Es ging wohl beim Schreiben vor allem darum, mehr Leben zu haben, vergleichbar mit der häufigen Affinität von Mathematikern zur Musik. Das mochte auch damit zusammenhängen, dass ich neben der Wissenschaft so etwas wie eine Art kompensatorische Alternative brauchte – mit dem Antrieb, mehr
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Leben, mehr Lebendigkeit zu verspüren. Und dann darf man nicht vergessen, dass es – wie bei der »allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden« (Kleist) – auch eine (noch größere) Allmählichkeit der Verfertigung von Vorstellungen, Ideen und Einfällen beim Schreiben gibt, besonders, wenn man – vorerst wenigstens – mit der Hand schreibt, und zwar deshalb, weil die Verlangsamung des Äußerungsvorgangs mit der Möglichkeit des Innehaltens, so oft es nötig ist, viel mehr Denkzeit – so viel man eben braucht – zur Verfügung stellt als der sich immer unter Zeitdruck vollziehende Sprechprozess. Gerade bei parabelhaften, absurden Texten braucht die Absurdifizierung von erlebten Realien – auch wenn sie schon von der Aura des Absurden umgeben oder durchdrungen sein sollten – eine gewisse Zeit, während die Reflexion keine geringe Rolle spielt. CG. Hat Ihnen die Wissenschaft nicht gereicht? Obwohl Sie sich doch in einem Bereich bewegten, der – wie Sie zutreffend sagen – interdisziplinär ausgerichtet war und zahlreiche Impulse freizusetzen in der Lage war. Ich spreche von der Edition der Leopoldina von 1971. Der Edition, die sich in einer Schatulle befindet, war eine Schallplatte beigegeben, also eine Vinyl, wie man heute sagt. Auf der ersten Seite Johann Sebastian Bach: zweistimmige Inventionen, Nr. 1, C-Dur, gespielt vom Thomasorganisten Hannes Kästner auf einem Cembalo. Auf der zweiten Seite dann eine Variation von Hubert Kupper, nämlich eine zweistimmige Computer Komposition. Experiment Nr. 13. Letztlich betitelt als Asymptomatisches Experiment Nr. 1 nach mittelalterlichen Madrigalen. Was hier spannend ist, ist die Synthese, das Zusammenspiel, das 1971 anvisiert wurde: die Debatte von Wissenschaftlern im Rahmen der ältesten Gelehrtengesellschaft mit naturwissenschaftlicher Ausrichtung, dazu kam Johann Sebastian Bach in Verbindung mit dem Thomasorganisten Hannes Kästner und schließlich Hubert Kupper, der sich auf mathematischer Grundlage mit Musik beschäftigte. Wenn man wollte, dann könnte man jetzt über künstlerische Intelligenz und innovative Arbeiten etwa von Friedhart Klix sprechen, die ja in die 1960er Jahre zurückgehen. Zumindest waren Teile der Forschung in der DDR zu diesem Zeitpunkt international anerkannt, aus gutem Grund. Klix hatte einen Vortrag auf dieser Tagung. Aber zurück zu meiner Frage: Hat Ihnen die Wissenschaft nicht gereicht? GM. Je nach dem eigenen Lebensanspruch wird man in einer durchrationalisierten Wissenschaft immer einiges entbehren. Erst recht liegt dieses Entbehrungserlebnis nahe, wenn man als Sprachwissenschaftler aus einem »philologischen«, literaturwissenschaftlichen, literatur- und sprachgeschichtlich orientierten Wissenschaftsmilieu kommt, mit einer professionellen Affinität zum literarischen Text, und dann die Aufgaben mehr und mehr einem naturwissenschaftlich-medizinischen, akustischen, sprachsoziologischen oder (sprach-)
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psychologischen Wissenschaftsmilieu angehören. Etwas anderes kommt bei meiner Schreibmotivation noch hinzu, das ich ganz kurz mit dem Begriff Leidensdruck bezeichnen will.
Abb. 1: Gottfried Meinhold in seinem Arbeitszimmer.
CG. Was meinen Sie mit Leidensdruck? GM. Um das zu erklären, muss ich in das Jahr 1940 zurückgehen, als ich beim ersten größeren Luftangriff auf Erfurt einen Bombenschock erlitt durch eine nahe Detonation, die Haus bzw. Luftschutzkeller zum Wanken brachte und mich ein erstes übergroßes Entsetzen mit Erstarrung und langem Zähneklappern erleben ließ. Die sich daraufhin einstellende posttraumatische Belastungsstörung war viele Jahre wirksam, mit autismusähnlichen Erscheinungen, Kontaktscheu, Aversion gegen alle Art Fröhlichkeit und Unbeschwertheit, eher mit einer Neigung zu besonders tiefem Ernst, damit in Verbindung allerdings auch Ernsthaftigkeit, die sogar von Klassenlehrern auf dem Zeugnis vermerkt wurde, dazu eine Unfähigkeit zum lockeren Geplauder, die mir bis ins dritte Lebensjahrzehnt hinein manchen Kontakt zur Qual werden ließ. Die Nachkriegszeit und das Wissen um den Beginn einer neuen Diktatur nach den Volkskongresswahlen im Frühjahr 1949 und nach der Gründung der DDR, später dann die kontinuierlich wachsende Kriegsgefahr, der Kalte Krieg, nicht zu vergessen die traumatisierenden Einschnitte in Ungarn 1956, Prag 1968 und Polen 1981 – all dies und noch
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mehr sorgte für psychische Leidenszustände, mit denen man »fertigzuwerden« hatte. CG. Eine Zwischenfrage: Sie nennen hier ausschließlich Ereignisse, die den damaligen Realsozialismus betreffen. Über die Bewertung dieser politischen Fehlentscheidungen herrscht eigentlich Einigkeit. Wir haben gerade einen Band zu »68« abgeschlossen. Aber im damaligen Ostblock, mithin auch in der DDR, gab es sehr wohl auch mit Blick auf den Westen kritische Einlassungen, ich denke an den Koreakrieg, dann den Krieg in Algerien, schließlich den Vietnamkrieg, der massenhafte und weltweite Proteste gegen die USA auslöste. Zu denken ist an 1968 in der Bundesrepublik. Benno Ohnesorg, die Proteste gegen Springer. Das alles sind Ereignisse, die für Autoren im Osten sehr wohl auch eine Rolle spielten. Bei aller Kritik an den offensichtlichen Widersprüchen im Realsozialismus. GM. Gewiss doch. Es gab allerdings für mich eine verschiedene Gewichtung: Alles, was um 1968 im Westen geschah, lag für uns im Schatten von Prag 1968, mutete vergleichsweise beinahe belanglos an. Grundsätzlich war meine Haltung dem Westen gegenüber höchst ambivalent und kritisch. Einmal wegen seiner diplomatischen Unfähigkeit und Wirkungslosigkeit – gerade in solchen Krisenmomenten wie 1956 oder 1968, das waren immerhin Weltereignisse – doch auch wegen der irrsinnigen Kriege in Korea und Vietnam. Seitdem die geheimen amerikanischen Nuklearvernichtungspläne von 1959 publiziert sind, wissen wir ganz genau, was uns geblüht hätte: Thüringen wäre mit 74 Atombomben ausgelöscht worden, davon allein drei auf Jena. Später wurden dann sowjetische Raketen im Jenaer Forst stationiert, die Sprengköpfe im Wald bei Isserstedt gelagert. Wir lebten also jahrzehntelang auf dem Pulverfass. Wenn ich von »Ambivalenz« spreche, schließt dies aber eine gewisse Nachsicht gegenüber den USA ein, durch private Umstände bedingt: Immerhin hatten wir dort Verwandte. Drei Cousinen meines Vaters waren in den 1920er Jahren nach Amerika ausgewandert, und wir hatten Kontakte zu ihnen, die ich auf meinem Personalbogen mitzuteilen hatte. CG. Kommen wir auf die psychischen Konditionen zurück, mit denen man – egal, wie man sie wichtet – fertig werden musste. GM. Psychische Belastungen waren verursacht von einer Mischung aus Befürchtung (ich meide die Vokabel »Angst«), Sorge, Ungewissheit, zeitweise auch eben mit Momenten des Entsetzens, der Verzweiflung und nachfolgenden Depressionen. Die Schreibmotivation ist sicherlich durch diesen historischen, biografischen Kontext nachhaltig angestoßen worden: der Drang, etwas gegen Leidensdruck und Störungsbewusstsein, gegen die eigene Läsion und daraus
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hervorgehende psychische Defekte unternehmen zu wollen. Schreiben demnach als Medizin, als Therapeutikum – sich im Schreibprozess und danach, wenn etwas fertig geworden ist, wohler zu fühlen, vielleicht auf dem Weg der Besserung. Noch etwas kommt hinzu: die Suche nach der Möglichkeit, das Absurde und Groteske einer fatalen Wirklichkeit durch eine eigene zusätzliche Absurdifizierung zu überbieten, möglichst durch schwarzen Humor ad absurdum zu führen, damit zugleich zu relativieren, abzuschwächen – zumal dann, wenn man wie ich als eigentlich Humorloser erst im Laufe des Erwachsenendaseins das lebensnotwendige Quäntchen Humor erwirbt. Für größere Zeitspannen – zumindest in den 70er und 80er Jahren – stand diese Haltung des Spiels mit dem Absurden sogar im Vordergrund. CG. Es bleibt die Frage nach der Zeit, denn als Regel gilt, wer Wissenschaft ernsthaft betreibt, kommt zumeist mit der Woche nicht aus. Das kann Folgen haben, die nicht immer positiv sind. Eine gewisse Konditionierung, die »blind« macht für das »Normale«, den Alltag und die Freuden an Dingen, die auf den ersten Blick simpel erscheinen mögen. GM. Mit der Frage nach dem Zeitbudget berühren Sie wirklich einen neuralgischen Punkt, nämlich meine Phasen quasiautistischer Absonderung: Ich war für die Nächsten über weite Zeitspannen hinweg »schwer erreichbar« und das täglich; ich bin auch häufig mit der Schreibmaschine in den Urlaub gefahren und habe da immer einmal – meistens nur eine Dreiviertelstunde – geschrieben, z. B. die ersten 30–40 Seiten des »Edermann« in Silbach im Thüringer Wald. Freilich habe ich jeden Prosatext mehrfach geschrieben oder so gründlich revidiert, dass es dem Aufwand nach so etwas wie eine Neufassung war. Dennoch, die Frage nach der verfügbaren Zeitmenge ist schnell und kurz zu beantworten: Ich bin ein Kurzschläfer, und jegliches nächtliche Wachsein habe ich mit der Zeit als ein kostbares Geschenk der Natur, meiner Natur betrachtet, geeignet, um mehr »Denkzeit« zu gewinnen. Und dann: Wir waren Fernsehverweigerer – auch der Kinder wegen. Doch über weite Strecken gab es in der Tat keinerlei Freizeit, auch nicht an Wochenenden. Ansonsten lebten wir sehr zurückgezogen. Ich selbst fühle mich im Zwiegespräch am wohlsten, schon die Anwesenheit eines Dritten kann mich stören – ich bin also eigentlich nicht so recht gesellschaftsfähig, als Schüler z. B. auch ein Verächter oder Ignorant der Tanzstunde. CG. Aber, was heißt Kurzschläfer. Ich erinnere mich an unser Gespräch von 1988, das dann ganzseitig im »Sonntag« erschienen ist und stark wahrgenommen wurde. Damals sagten Sie – korrigieren Sie mich – Sie würden nur um die vier Stunden Schlaf benötigen. Liegt da aber nicht doch die Gefahr von Erschöpfungszuständen nahe oder wie haben Sie das über die Jahre alles verkraftet?
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GM. Meine kurze Schlafdauer – o ja, vier Stunden, das wäre freilich ein unteres Limit, aber wenn ich fünf Stunden schlafe, komme ich mir fast wie ein Langschläfer vor, und bei sechs Stunden Schlaf, was sehr selten passiert, muss ich mich schon fragen, ob irgendetwas mit mir gesundheitlich nicht ganz stimmt. Zu verkraften gab es da nichts, erst jetzt, im höheren Alter, verspüre ich manchmal so etwas wie eine mittägliche Müdigkeitsanwandlung. Nur: ausgedehnte Beratungen, Sitzungen hatten für mich stets etwas Lähmendes – aber das war unabhängig von der vorherigen Schlafdauer. In Gremien habe ich mich fast immer unwohl gefühlt. CG. Kommen wir auf das Schreiben zurück. Sie deuteten bereits an, dass Sie sich nach dem Abschluss der Habilarbeit, die dann 1968 verteidigt wurde, stärker der eigenen Produktion – ich sage mal – von literarischen Texten zuwandten. »Die Grube« muss in etwa 1968 entstanden sein und hat – Sie sprachen schon davon – verschiedene Fassungen durchlaufen. GM. Anfänge der Urfassung des Romans »Die Grube« hatte ich schon aus Halle nach Jena mitgebracht. Und nach dem Abschluss meiner Habilarbeit wollte ich unbedingt daran weiterschreiben. Ich arbeitete also 1966 fieberhaft an der Habilarbeit, um so bald wie möglich freie Fahrt für die Fortsetzung dieses Romanmanuskripts zu haben, das mir irgendwie auf den Nägeln brannte. Anstöße zum Sujet dieses Romantextes entsprangen meiner Erfahrung als Großstadtbewohner: In meinem Untermieterzimmer in der Reilstraße in Halle hatte ich fast rund um die Uhr Verkehrslärm vor dem Fenster, der auch durch Ohropax kaum zu verringern war, mit entsprechender Schlafverkürzung und der belastenden Befürchtung, den nächsten Arbeitstag nicht durchzustehen. (Mehrere Straßenbahnlinien sowie der gesamte Fernverkehr in südnördlicher Richtung und umgekehrt passierten diese Ausfallstraße.) Mein erstes, 1969 abgeschlossenes Romanprojekt war nun die Geschichte eines Architekten, der, durch die Lärmemissionen einer riesenhaften Baugrube unter seinem Fenster erheblichem Leidensdruck ausgesetzt, den Versuch unternimmt, den Bauherrn, nämlich den Staat, zu verklagen – ein Unternehmen, das an den politischen Konditionen in einem vermutlich autoritären Staat scheitert. Der erste Arbeitstitel des Manuskripts war »Prozess« – gewiss mit einem Seitenblick auf Kafka –, der spätere »Die Störung«. Freilich hatte das Ganze eine aktuell dissidentische Note, reichte aber über irgendwelche zeitgeschichtlich spezifischen Gegebenheiten weit hinaus und mochte durchaus den Charakter einer Romanparabel haben, die auf traumatisierende zivilisatorische Vorgänge verweist, durch die Menschen zur Verzweiflung oder in den Suizid getrieben werden.
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CG. Wir wissen, dass von allen Umwelteinflüssen die Arbeiten zur Lärmbelästigung in West und Ost zuerst eine Rolle spielten. Im damaligen Westen, in dem die Modernisierungsprozesse einen raschen Anstieg des Autoverkehrs und des großstädtischen Ensembles mit sich brachten, konnte man die Folgen des permanent auf Menschen einströmenden Lärmpegels erkennen. Und es ist kein Zufall, dass in den 1970er Jahren im Kontext mit den Arbeitsschutzregularitäten Lärm und Vibration eine Rolle spielen. GM. Genau. Lärm als die wohl gravierendste Umweltnoxe geriet damals gerade besonders ins Blickfeld von Medizin und Psychologie. Zum einen sind es die gesundheitlichen Schäden, die der Protagonist in der »Störung« – nicht nur durch den Schlafentzug – erleidet, zum anderen unternimmt er den gewagten Versuch, einen Anwalt für seine gerichtliche Klage zu gewinnen und überhaupt als Kläger gegen den Staat in Erscheinung zu treten. Auch die Dopplung von »Täter und Opfer zugleich«, die mit dem Beruf des Protagonisten gegeben ist, war eine starke Motivation, sich auf dieses Sujet einzulassen. Zweifellos hatte das Romangeschehen erst im Laufe meiner literarischen Realisierung eine starke parabelhafte Note erhalten. Und darin wurde ich bestärkt durch einen jungen Kollegen in Jena, einen Indologen, Roland Beer, dessen Name hier nicht fehlen darf, jemand, der meine Manuskripte – bis in die 80er Jahre hinein, mit Feuereifer und einer mir manchmal unheimlich erscheinenden Begeisterung las und mit mir halbe Nächte lang darüber sprach; er war es schließlich auch, der mir den Weg in Verlage ebnete, zunächst bei Kiepenheuer in Weimar, wo nach dem Tod von Noa Kiepenheuer Friedemann Berger als einziger verbliebener Mitarbeiter tätig war, später beim Hinstorff Verlag in Rostock und auch beim Verlag Das Neue Berlin. Er hat mich jedenfalls mit großem Nachdruck genötigt, mich auf diesen »Leidensweg« der Publikationsversuche zu begeben, der mit sehr viel Ärger, Enttäuschung und Kräfteverschleiß verbunden war – und er hatte es sich nicht nehmen lassen, im eigenen, von ihm in den 90er Jahren gegründeten Lotos Verlag 2001 meinen Roman »Edermann« zu publizieren. CG. Aber der erste Text, der dann publiziert wurde, war »Molt oder Der Untergang der Meltaker«, der ist, soweit ich mich erinnere, um 1970 entstanden. Es geht in dem kurzen Roman um einen Wissenschaftler, der die Geschichte eines antiken Volkes schreiben will, das nicht mehr existiert. Es geht um die Meltaker, die sich trotz stadtähnlicher Siedlungswirtschaft gewissermaßen urgesellschaftliche Ordnungsprinzipien bewahrt haben und zugleich höchst differenzierte Arbeitsteilungen hervorbrachten. Eine enorme Blüte des Landes war das Ergebnis. GM. Das ist richtig, »Molt oder Der Untergang der Meltaker« war mein literarisches Debüt von 1982, niedergeschrieben um 1970. Der Protagonist, Historiker,
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verfällt angesichts eines antiken Genozids, den er erforscht, einer ausweglos anmutenden akuten Verzweiflung, in Verbindung mit lähmender Aporie und Schreibblockade, weil dieser eine Genozid ihm mehr und mehr als Fokus der in der Menschheitsgeschichte stattgefundenen Völkermorde – bis zum Holocaust – erscheint. Polnische und tschechische Kollegen, die das Buch später, als es 1982 tatsächlich nach vielen Eingriffen erschienen war, gelesen hatten, erkannten das Wagnis und die ideologische Brisanz durchaus, eben auch die unverkennbare Beziehbarkeit auf Prag 1968. Die Veränderungen, die mein Lektor im Hinstorff Verlag dem Cheflektor vorgeschlagen hatte, gingen weit: ein anderer Handlungsort – es wurde dann Lateinamerika; das Ergebnis eines »behutsamen« Umschreibens müsse »Eingleisigkeit etwa in Richtung Kritik an der Décadence einer entwickelten Klassengesellschaft mit ihren Gefahren« sein. Ich ließ mich, widerwillig zwar, auf alles ein – weil ich, ungeduldiger geworden, einen Anfang bei Hinstorff durchsetzen wollte. CG. Man muss noch ergänzen, dass bei den Meltakern keine sozialen Antagonismen existierten. Denn, und dies war das Entscheidende, die Meltaker waren ein Volk, das keine Waffen kannte, das bedingungslos friedfertig lebte und darum keine Staatsgewalt und keine Gerichtsbarkeit brauchte. Was geschieht? Die benachbarten Sklavenhalterstaaten sehen in dieser Utopie eine Gefahr, und sie vernichten in drei Feldzügen die Meltaker. Für Molt unfassbar ist die Erkenntnis, dass die Meltaker sich selbst töten, als sie erkennen müssen, dass sie keine Chance zur Flucht haben. Molt kann die Geschichte der Meltaker nicht schreiben. Er habe das »Molt-Mögliche getan«, sagt er, »aber es war offensichtlich zu wenig«. Es kommt zu einer fiktiven Verhandlung gegen Molt, weil er als Forscher sozusagen versagt hat. Dabei verteidigt dieser sich mit einer Mahnung: »Die Meltaker«, entgegnet er, »dürfen uns nicht verloren gehen, wir können diese historische Erfahrung nicht einfach verschenken, verstehen Sie, wir müssen alles tun, um diesen Fall bis in seine letzten Wurzeln zu erkennen. Der Verzicht auf das geschichtliche Wissen kann ein Verzicht auf die Zukunft sein.« Der Text ist natürlich auch der Versuch, durch die Analyse des Genozids der Vergangenheit die Verhältnisse der damaligen Gegenwart einsehbar zu machen. GM. O ja, die Verhältnisse der damaligen Gegenwart mit all ihrer zunehmenden Bedrohlichkeit – nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968/69, zwar ein weniger blutiger Liquidationsvorgang als Ungarn 1956, doch allemal ein Geschehen mit lange nachwirkender Erschütterung bei den meisten Zeitzeugen, nehme ich an. Doch ging es im »Molt« auch um etwas Prinzipielles, nämlich um die Sensibilität und Erschütterbarkeit des Menschen im Gegensatz zum Abgestumpftsein in der achselzuckenden Gleichgültigkeit. Erschüttert sein zu können über das, was Menschen einander anzutun fähig sind, hat mich mein Leben lang
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begleitet, auch heute, sogar mit dem Selbstvorwurf verbunden, selbst über zu wenig Empathie für die gegenwärtigen Menschheitskatastrophen zu verfügen, für das Schicksal von Kindern zumal. Dass einem zutiefst Erschütterten das Scheitern droht, vielleicht sogar das eigene Leben nichtig erscheint angesichts seiner Hilflosigkeit, liegt auf der Hand. Mein letzter in der DDR publizierter Roman »Sein und Bleiben« mit dem Arbeitstitel »Krieg=Ende«, führt das Scheitern eines Erschütterten vor: eines Schriftstellers, der an der Beschreibung der Folgen eines Atomkriegs auf der Nordhalbkugel der Erde scheitert, weil er an der Unfassbarkeit des Geschehens, das er um der Darstellung willen im Detail konkretisieren muss, zu zerbrechen droht und weil er die Unzumutbarkeit des von ihm bereits niedergeschriebenen Textes erkennt. In den 1980er Jahren stand, wie wir wissen, das Schicksal der Welt auf Messers Schneide. CG. Nun steht außer Frage, dass bei jenen, die in einer geschlossenen Gesellschaft lebten, der Fokus zunächst auf den Osten gerichtet war. Und wir wollen nicht vergessen, dass es im Westen eine starke Friedensbewegung gab. Das gehört zur Historie. Aber da wir von Literatur sprechen: An die »Berliner Begegnungen zur Friedensförderung« im Dezember 1981, damals von Stephan Hermlin initiiert, sollte in diesem Rahmen einmal erinnert werden. Das war sehr wohl der Versuch von Autoren aus Ost und West, vor dem Hintergrund des Wettrüstens und des sogenannten Gleichgewichts des Schreckens die Fragen zur Sicherung des Friedens zu diskutieren. An der Intention ändert sich überhaupt nichts durch den Umstand, dass das Ministerium für Staatssicherheit diverse Szenarien durchspielte. Ein guter Freund, der seit 1993 verantwortlich in der Wissenschaftsabteilung der BStU gearbeitet hat, hat dazu publiziert. GM. Nun ja, Friedensbemühungen oder Friedensmahnungen, die aus dem »Osten« kamen, standen unter einem Generalverdacht, nämlich ein Vektor der Pax sovietica zu sein, ein Instrument zur Schwächung westlicher Abwehrbereitschaft und Wachsamkeit sowie ein Garant sowjetischer Überlegenheit. Vor allem nach den sowjetischen Eingriffen der 50er, 60er Jahre, den Mauerbau eingeschlossen. Eigentlich schon nach 1948, seit der Berlinblockade. Und mit dem Gedanken an Ungarn 1956 traute man nach 1968 der sowjetischen Militärmacht alles zu. Und wir können von Glück reden, dass der NATO-Doppelbeschluss von 1979 als Antwort auf sowjetische Raketenstationierungen in der DDR letztlich das Ende der Sowjetunion mitverursachte. CG. Bei aller Kritik an Entwicklungen im Osten, also im sogenannten Realsozialismus, haben die wenigsten doch ihr bürgerrechtliches Engagement mit einer Hoffnung auf die USA verbunden. Es gab zwar eine Orientierung an westlicher Popkultur, gerade auch aufseiten der jüngeren Generation, aber ich glaube kaum,
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dass diese verbunden war mit einer Sympathie für die USA und ihren politischen Apparat schlechthin. Und ich verweise einmal auf den auch von Ihnen geschätzten Uwe Johnson, der nur zwei Jahre älter ist als Sie, Jahrgang 1934. Johnson hat seine Kritik an dem, was schon in den 1950er bis 1970er Jahren als Realsozialismus erkennbar war und was er wie wohl wenige vor ihm erkannte und literarisch erfasste, mit keiner Hoffnung auf die USA und das verbunden, was er Kapitalismus nannte. Ganz im Gegenteil: Seine »Archäologie der frühen DDR« war verbunden mit einer scharfen Kritik am Westen. Auf die Aussage, der Westen sei doch eine »handfeste Alternative«, antwortet Johnson 1959: »Da bin ich nicht so zuversichtlich. Die amerikanische Börse notiert ihre höchsten Punkte, wenn die Berlinkrise auf dem Höhepunkt ist.« Aber das nur nebenbei. Von daher muss ich nachfragen: Wer ist an dieser Stelle mit »man« gemeint? GM. Statt »man« könnte es auch »ich« heißen oder »ich und Gleichgesinnte meiner näheren Umgebung«. Was »Hoffnung auf die USA« anging, die war in der Tat sehr gering. Und die politische Handlungsfähigkeit erwies sich allzu oft insuffizient, von politischer Klugheit ganz zu schweigen. Doch bei allen kritischen Vorbehalten gegenüber amerikanischer Strategie und militärischen Optionen, vor allem in Vietnam, entdecke ich bei mir eine Art stabiles Sympathiefundament in Hinblick auf die USA, nicht zuletzt unseren amerikanischen Verwandten geschuldet. Eine der Cousinen meines Vaters, die Gedichte von mir kannte, versorgte uns in den Hungerjahren des Nachkriegs mit Carepaketen, die nicht unwesentlich dazu beitrugen, dass eine Tuberkulose, die bei mir im Entstehen begriffen war, dennoch nicht voll ausbrach. Doch es waren die langfristigen Folgen der sowjetischen Eingriffe von 1956 und 1968, die schließlich die starke, für mich sehr belastende Befürchtung nährten, Polen könne nach Gründung der Solidarnos´c´ 1980 mindestens dasselbe Schicksal widerfahren wie der Tschechoslowakei 1968. Diese Befürchtung verursachte bei mir nicht nur Schlaflosigkeit, sondern wirkte sich auch in der Herzfunktion aus: In dieser Zeit entstand ein paroxysmales Vorhofflimmern, das mich bis weit in den Ruhestand verfolgte – und 1981, im »polnischen Jahr«, erlitt ich einen ersten leichten Schlaganfall. Die Sowjetunion fiel als vertrauenswürdige »Friedensmacht« für mich prinzipiell aus. Sie warte nur, so meine permanente Befürchtung, auf Augenblicke gegnerischer Schwäche, um irgendwo zuzugreifen. CG. Zurück zur Literatur. Eine Rückfrage zum »Molt«. Es ist schon spannend, denn letztlich geht es – wenn wir uns die Autorpersönlichkeiten in beiden Romanen ansehen, also im »Molt« und in »Sein und Bleiben« – um das, was man Schreibhemmung, Schreibblockade, ja Schreibstörung und Schreibunmöglichkeit nennen kann. Die jeweiligen Schriftstellerpersönlichkeiten sind nicht in der Lage, die Antizipation so weit zu treiben, dass ein Text daraus wird. Interessant ist auch,
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wie Sie das entwerfen. Im »Molt« ist der Protagonist mit einer untergegangenen Kultur befasst, deren Geschichte er angesichts der Gegenwart nicht erzählen kann. Das Geschehen ist als gewissermaßen rückwärtsgewandt. In »Sein und Bleiben« geht es eigentlich um das Gegenteil insofern, als es um die Antizipation von möglichem Zukünftigen, aber absolut zu Verhinderndem geht. Beide Protagonisten sind – wie Sie sagen – Erschütterte, die aufgrund dessen schlichtweg nicht mehr schreiben können. GM. In der Tat: Beide Figuren, Molt und – in »Sein und Bleiben« – Samuel Burk, sind von der Schwere des Geschehens, einmal eines antiken Genozids – als Gedächtnisfokus aller Genozide der Menschheit – bei Molt und zum anderen bei Burk eines zukünftigen nuklearen Vernichtungsgeschehens zutiefst erschütterte Menschen. Und beide scheitern, weil das Grauen oder Schaudern sie lähmt, an ihren Projekten und gehen dabei fast zugrunde. Molt ringt mit Suizidgedanken, Burk erkrankt schwer. Beider Erschütterung angesichts der Sachverhalte, mit denen sie ringen, führt ein – für maskuline Mentalität ungewöhnliches – Maximum an Empathie mit psychisch-destruktiven Folgen vor. Und es geht nicht nur um die Unfähigkeit, weiterzuschreiben und mit dem Wissen um Paradigmen der menschheitlichen Selbstzerstörung »fertig zu werden«, denn dahinter steht die prinzipielle Fragwürdigkeit menschheitlicher Existenz schlechthin. Heute würde ich an diesem Punkt noch einen großen Schritt weitergehen, weil das Scheitern der Menschheit als »biologisches Projekt der Evolution« den kritischen Punkt – eben auch den Point of no Return (so wie in der ökologischen Katastrophe) – wohl längst überschritten hat und nur noch allenfalls an eine palliative Abfederung des menschheitlichen Finales, nämlich die Verhinderung eines Übermaßes an Entsetzlichkeit, gedacht werden kann. CG. Das lasse ich einmal so stehen. Zumal: Es gibt weltweit neben der ökologischen Krise Tendenzen, demokratische Strukturen auszuhöhlen und parlamentarische Regularitäten außer Kraft zu setzen. Anti-Utopien in realitas. Aber kommen wir wieder auf Ihre Texte zu sprechen. Es ist ja keineswegs so gewesen, wie man jetzt vermuten könnte, dass die damaligen Verhältnisse und die Kritik an Ihnen in Formen realistischer Darstellung Eingang gefunden hätten. Es handelt sich – Sie sagten das schon – eher um Parabelartiges. Gegenwart tritt einem nur in sehr vermittelter Form entgegen. Zudem spielte das Fantastische in seinen verschiedenen Ausprägungen eine Rolle. Das ist bereits beim »Molt« so und noch weitaus deutlicher bei Ihrem sicher erfolgreichsten Roman »Weltbesteigung«, der 1984 erschien. GM. Es kommt mir manchmal so vor, als hätte ich mich nicht an die mich umgebenden Faktizitäten herangewagt, obwohl sie von mir ausreichend verin-
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nerlicht waren. Aber das ist wohl eine Täuschung, ich wollte jedenfalls immer über die gegebenen Realien hinaus – oder von ihnen weg. In der »Weltbesteigung« suchte ich etwas anderes: die große Perspektive, den Fernblick – die momentane zeitgeschichtliche Konkretheit beengte eher. Denn in der »Weltbesteigung« wird ein zivilisatorisches Prinzip zum Thema und unter die Lupe genommen, nämlich die extensive, wuchernde Urbanisierung und die in der Urbanität gedeihende architektonische Monstrosität. Diese Riesenkubatur lässt aus dem städtischen Exterieur ein Interieur werden, eine Stadt in einem einzigen Baukörper mit einer perfekten, überwiegend auf Virtualität ausgerichteten Infrastruktur, die die Bewohner und die Besucher psychischen Anpassungsmetamorphosen aussetzt. CG. Der Roman erinnert an die klassischen Sozialutopien, in denen scheinbar eine ideale Gesellschaft entworfen wird, indem es um die Konstruktion einer »geschlossenen Welt« idealen Zuschnitts geht. Insofern fungieren Ihre fünf Figuren, die als Besucher in diese Modellwelt kommen, als Beobachter, denen gewissermaßen Informationen versorgt werden. Letztlich werden im und mit dem Text Fragen der Zivilisation diskutiert. Es geht um den Sinn menschlichen Daseins oder auch um Grenzen sozialen Fortschritts. Mit Cargéla wird eine Welt entworfen, die in einem abgedichteten Riesengebäude für etwa eine Million Menschen Arbeitsund Lebensraum bietet. In Cargéla wird mit höchster Intensität gearbeitet und gelebt. Und noch etwas kommt hinzu: Der Mensch ist nur noch als wissenschaftlich Tätiger denkbar. Auch die Möglichkeiten, persönlichen Interessen nachzugehen, sind unerschöpflich. GM. Ja. Architektonische Raumagglomeration jeder Art und Größenordnung wird mittels einer literarischen Extrapolation unter die Lupe genommen. Vollkommen selbstverständlich ist die digitale Durchdringung des Lebens und der wissenschaftlichen Arbeit. Diese »Welt« präsentiert sich als Kombination von Forschungslabor, Produktionsstätte und Freizeitareal mit integrierten Wohntrakten. Sie, Herr Gansel, hatten mich in Ihrem Aufsatz »Mut zur Utopie« von 1987 auf die Mischung des Fantastischen mit Elementen der Science-Fiction und eben der Utopie in meinen Texten aufmerksam gemacht. Das war mir beim Schreiben durchaus nicht bewusst gewesen, weil das Gewicht des einen oder anderen im Laufe des Textes variierte. CG. Wenn Sie das schon ansprechen, ist zu sagen, dass der Aufsatz in einem Heft der »Weimarer Beiträge« 1987 erschienen ist, abgegeben habe ich ihn vermutlich Ende 1986. Die »Weimarer Beiträge« waren damals die wichtigste Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturtheorie. Und das Heft war ausschließlich Aspekten jüngster DDR-Literatur vorbehalten. Dabei ging es um
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zahlreiche kritische Texte. Ihre »Weltbesteigung« gehört mit dazu. Insofern spielten bei Ihnen, aber nicht nur bei Ihnen, Momente des Fantastischen eine Rolle. GM. Aber das Phantastische war doch sehr realitätsnah eingerichtet: Ich hatte eigentlich »nur« Realien extrapoliert, »hochgerechnet«. Bei diesem riesenhaften, monströsen Baukörper mit Namen Cargéla wird das Megalomanische in der Geschichte der letzten 12.000 Jahre – eng verbunden mit maskuliner, patriarchalischer Dominanz – fortgesetzt. Von den megalithischen Anfängen in Göbekli Tepe über das alte Ägypten, Malta und die Sakralbauten des Mittelalters bis hin zu Manhattan bzw. zur »Manhattanisierung« moderner Megastädte in aller Welt eskalierte der Bauwahn Schritt für Schritt und kulminiert bekanntlich derzeit in den Projekten der Türme von Dubai. In der »Weltbesteigung« entfällt zwar der Höhenehrgeiz zugunsten einer anscheinend angemessenen Proportionierung von Länge, Breite und Höhe – auch Tiefe –, doch die Ausgestaltung des Interieurs zielt auf einen perfekten Funktionalismus mit erheblichen virtuellen Anteilen. Und dem entspricht ein perfektes, totales Überwachungssystem, das Totalitäres erkennen lässt, wenn von der Möglichkeit »cerebraler Implantate« die Rede ist, die geeignet sind, affektiven Anwandlungen von Menschen vorzubeugen. Davon Gebrauch zu machen, wird einem der Exkursionsgäste dringend empfohlen, weil er sich eine Unbeherrschtheit bei der Bedienung der Zielkodierung in der Personenkabine geleistet hatte. Die daraufhin unverzüglich stattfindende geheimdienstliche Konsultation wird von einem ehrenamtlichen Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes bestritten, den der Delinquent kurz zuvor in einer unverfänglicheren Situation erlebt hatte. (Ich erinnere mich, dass ein Rezensent – es war Georg Menchén von der Thüringischen Landeszeitung – in einem Brief an mich nach der Lektüre der »Weltbesteigung« von »ästhetischem Faschismus« schrieb.) CG. Nun gut. Sicher kann man die Wertung so weit treiben. Klar war doch, und darum ging es ja letztlich, dass das vermeintlich Utopische ins Dystopische umschlägt. Mit Sicherheit bei der Interpretation dessen, was da an Handlung und Vision im Text gewissermaßen vorgeführt wird. Nicht zufällig hatten in der DDRLiteratur anti-utopische Visionen zugenommen. Nicht zuletzt bei jenen Autorinnen und Autoren, die zu diesem Zeitpunkt internationales Renommee hatten: Christa Wolf, Irmtraud Morgner, Heiner Müller, Volker Braun. Um nur einige zu nennen. Aber kommen wir auf unseren Gegenstand zurück: das Schreiben mit Schreibintentionen und ggf. auch Schreibstörungen. Lassen Sie mich daher danach fragen, wie das Schreiben bei Ihnen funktioniert hat. Es sind ja eher philosophische Romane, die Sie geschrieben haben. Texte, in denen der Dialog und
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teilweise auch der Monolog eine zentrale Rolle spielen. Romane also, die man nicht unbedingt als handlungsintensiv bezeichnen wird. Wie sind Sie an und in den Text gekommen? Gab es Notizen, haben Sie Konspekte von wissenschaftlicher Literatur gemacht? Bei »Weltbesteigung« hätte man sich das denken können. Oder haben Sie sofort in die Schreibmaschine geschrieben? Mit mehreren Durchschlägen natürlich. GM. Die Anfänge habe ich meistens mit der Hand geschrieben, jedenfalls die ersten 20 bis 30 Seiten, manchmal auch mehr. Ich mochte das Geräusch der Schreibmaschine nicht, bei der langsam gleitenden, geräuschlosen Bewegung der Hand blieben die Gedanken ungestört und hatten mehr Spielraum, mehr Bewegungsfreiheit, die Konzentration funktionierte besser. Das die Schreibbewegung der Hand begleitende Nachdenken, die »allmähliche Verfertigung« von Gedanken während des Schreibens, verläuft – zusammen mit der sprachlichen Formgebung – einfach kontinuierlicher. Schon die Handgriffe beim Einspannen des Bogens störten mich, ein sofortiger lautloser Schreibbeginn war für mich stets das Beste, und wenn ich – später immer öfter – die Schreibmaschine benutzte, dann habe ich lange Zeit ohne Durchschlag geschrieben, weil die verlängerte Vorbereitungsprozedur mich zu sehr abgelenkt hätte. Bei Gedichten gab es immer nur ein handschriftliches Notat, möglicherweise in mehreren Fassungen, und eine Abschrift erfolgte dann erst zuletzt, wenn der Text abgeschlossen zu sein schien. Konspekte oder sonstige spezielle Notizen habe ich nicht benutzt; wenn ich Zitate brauchte, legte ich die betreffende Literatur auf den Schreibtisch. Notizen und Konspekte gab es niemals, auch nicht dort, wo ich Literatur verwendet habe. CG. War das Schreiben für Sie mehr ein eruptiver Prozess oder eher von langen Denkpausen begleitet. Ich vermute, eher das Zweite. GM. Eruptiv wohl doch eher nicht, obwohl es immer wieder plötzliche, blitzartige Einfälle gab, manchmal, punktuell. Aber zuweilen kam es zu einer reißenden Strömung, auch wenn ein Einfall für ein Detail, zunächst klein wie ein Krümel, dann ins Rollen kommt und zu einer Lawine anwächst, das habe ich oft erlebt. Es entsteht womöglich so etwas wie assoziative Magnetfelder oder Soge, die sehr viel an sich ziehen, so wie es zuweilen im Gespräch geschieht, wenn man vom Hundertsten ins Tausendste kommt. Zwangspausen, die auch Denkpausen waren, entstanden natürlich vorwiegend durch die beruflichen Pflichten, da war immer etwas in Arbeit, und solche sich notgedrungen ergebenden Unterbrechungen hatten neben Störeffekten ihre produktive Seite: Sie verschafften Distanz und somit auch einen schärferen, kritischeren Blick; ich hatte es dann leichter damit, etwas zu verwerfen oder nicht Gelungenes, Verbesserungsbe-
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dürftiges erst einmal ausfindig zu machen – wie denn das Immerwiederlesen im Arbeitsprozess ein unverzichtbarer Vorgang ist, der fast jedes Mal zu Veränderungen führt. CG. Da wir über den Schreibprozess sprechen, über Störeffekte, Unterbrechungen und auch die kritische Distanz zum Geschriebenen, ergibt sich die Frage, wie sich Ihr Schreiben gestaltete und wie es um das Material stand, das in Ihre Texte einging. Wie hat man sich das vorzustellen? Sie deuteten es schon an: Sie begannen mit Handschriftlichem, dann ging es sukzessiv an die Maschine. Spielten für Sie andere Materialien eine Rolle, also vor oder während des Schreibens, wie Exzerpte, Notizen, Tagebucheinträge? GM. Bei den ersten Büchern – »Molt«, »Weltbesteigung«, »Mit Rätseln leben« – spielten Materialien keine Rolle, da konnte ich das Schreiben mühelos mit den eigenen Wissensbeständen, die mir im Gedächtnis verfügbar waren, bestreiten. Ganz anders war es dort, wo die Zeitgeschichte ein sehr konkretes Fundament bildete, also bei »Sein und Bleiben« sowie bei »Prag Mitte Transit«. In diesem letzten Fall hat der »Apparat« – von historischen Werken bis zu Tagebucheintragungen oder Archivalien, auch familiären Erinnerungsstücken wie Briefen – eine beträchtliche Rolle gespielt wie etwa der Brief meines Großvaters an die Kaiserliche Kriegsmarine mit der Bitte, meinen Vater, damals erst 19 Jahre alt, nicht auf ein U-Boot abzukommandieren, was für ihn den sicheren Tod bedeutet hätte, sondern ihn, nachdem bereits zwei seiner Brüder gefallen waren, von der »Feuerzone« fernzuhalten. Es ging so weit, dass ich einen Anhang zur Nennung benutzter Literatur einrichtete – ähnlich wie bei einer wissenschaftlichen Arbeit. Die Präsenz der Prager Topografie verdanke ich allerdings meinem Gedächtnis – ich trage diese Stadt, die immer die hauptsächliche Bezugsstadt meines Lebens war, in mir, mehr als meine Vaterstadt Erfurt mit meinem Elternhaus, in dem ich geboren wurde. Aber etliche Ereignisse – die Selbstverbrennung Jan Palachs, der Trauerzug durch die Altstadt, die militärischen Aktionen am Sender und vieles andere – musste ich recherchieren. So ähnlich, doch nicht so ausgedehnt, ging ich bei »Sein und Bleiben« vor. In beiden Büchern habe ich – was ganz ungewöhnlich ist – benutzte Literatur aufgeführt. Übrigens nicht nur wissenschaftliche Literatur, sondern auch Belletristik, z. B. in »Sein und Bleiben« von Masuji Ibuse »Schwarzer Regen«. CG. Ich gehe nach dem, was wir bisher besprochen haben, eher davon aus, dass Sie von Schreibstörungen und Schreibblockaden weniger betroffen waren. Da Sie zweigleisig fuhren, also im Hauptberuf Wissenschaftler waren, der an einer Universität arbeitete, und nicht freischaffender Autor waren, standen Sie mit
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Sicherheit nicht so unter Druck und konnten ggf. auch auf das andere Feld ausweichen. GM. Ja. Wenn – vor allem berufsbedingte – Zwangspausen zu lang geworden waren, bereitete ein Wiedereinstieg zuweilen Schwierigkeiten, man musste sich das Vorangegangene verdeutlichen, es rekapitulieren, das kostete Zeit und brauchte Geduld. Aber wenn ein literarisches Projekt ins Stocken geriet, wartete ja immer schon etwas anderes, z. B. ein wissenschaftlicher Text. Öfter arbeitete ich zudem an mehreren literarischen Texten gleichzeitig. Insofern habe ich die quälende Schreibblockade eigentlich nicht kennengelernt, ließ aber Texte zuweilen gerne für einige Zeit liegen, wenn das Schreiben stockte oder zäh verlief, und entschloss mich erst dann zur Fortsetzung, wenn der betreffende Gegenstand, das Sujet, sich in mir meldete, die Personen sich hören ließen und beachtet sein wollten.
Abb. 2: Gottfried Meinhold am Schreibtisch.
CG. Eine letzte Frage: Sie haben Ende der 1960er Jahre mit dem Schreiben von literarischen Texten begonnen. Und Sie sind über Jahrzehnte ein Hand- und Schreibmaschinenarbeiter gewesen. Es gibt nach wie vor Manuskripte, die vorliegen, im Original und in Durchschlägen, die heutzutage museal wirken. Einige der Schreibvorhaben sind von Ihnen nicht zu Ende geführt worden, vermute ich. Was waren die Gründe, wenn dem so ist, einen Text nicht weiterzuführen. GM. Ich habe vieles angefangen, wenn es sich aber nicht, wie ich es erhoffte, entfalten wollte, konnte ich schon auch einmal das Interesse verlieren – zumal ich sehr intuitiv und ohne exakten Plan gearbeitet habe. Ich schrieb zuweilen aus
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Neugier, um zu erfahren, wie ein Geschehen sich weiterentwickeln würde oder was mit bestimmten Figuren ihrer Bestimmung gemäß noch passierte. Das war in dem Roman »Mit Rätseln leben« so: Ich hatte keine Ahnung, wie es weitergehen oder gar enden sollte, und freute mich über jede spontane, unerwartete Wendung des Geschehens oder unvermutet auftauchende Personen, mit denen ich gar nicht gerechnet hatte, die aber in Erscheinung traten, weil sie offenbar in einem bestimmten Zusammenhang notwendig waren. Meistens war auch die erste Niederschrift »nur« ein Entwurf, und es konnte sein, dass sich – wenn mir die ganze »Bescherung« vor Augen stand – Zweifel meldeten. Doch bei einigen größeren Manuskripten, umfangreichen Romanen, grämt es mich schon, dass sie liegen geblieben sind und ich nun wohl keine Zeit mehr finden werde, mich noch einmal ausgiebiger mit ihnen zu beschäftigen. Aber das ist alles in allem eine endlose Geschichte und – so spielt das Leben in seiner Kürze. CG. Nun aber doch die letzte Frage: Nicht erst seit der Jahrtausendwende ist eine andere Art des Schreibens und Speicherns möglich. Der Computer und das Internet bieten zudem neue Möglichkeiten. Von daher eine spekulative Frage: Wie sehen Sie das als derjenige, der vergleichen kann zwischen den Möglichkeiten in Vergangenheit und Gegenwart. Hätten die heutigen Modalitäten des Schreibens Ihr Schreiben verändert oder anders gestaltet. GM. Das ist eine gute Frage, also eine nicht oder nur schwer zu beantwortende. Die Computerschreibtechnik müsste eigentlich die Qualität der Texte, weil das Revidieren, Umarbeiten, Ergänzen oder Eliminieren so leicht gemacht wird, spürbar erhöhen. Das Schreiben ist jedenfalls, was die technische Seite betrifft, sehr viel leichter geworden. Aber die Leichtigkeit des Änderns hat vielleicht auch Schattenseiten: Man wird womöglich zu leicht änderungsbereit, sogar änderungswütig, man trennt sich dann möglicherweise mit schnellem (zu schnellem) Entschluss von etwas Wesentlichem, man disponiert zu rasch um. Also kann man damit auch Texte »demolieren«. Es gibt somit Licht und Schatten, wie oft im Leben, hart nebeneinander. Was weiß ich …? Que sais-je?! Wer sagt das? Ich glaube, Montaigne … Eine Grundfrage …
Beiträgerinnen und Beiträger
Anna Axtner-Borsutzky, Dr. des. – Studium der Klassischen und Deutschen Philologie sowie Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München; 2018–2021 Promotionsstipendium der Hanns-Seidel-Stiftung; unterstützt vom C. H. Beck-Stipendium und Marbacher Stipendium Archivaufenthalte am Deutschen Literaturarchiv Marbach; Lehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München; Mitgründerin des Nachwuchsnetzwerks Akademische Archive; ab April 2021 Akademische Rätin a. Z. an der Universität Bielefeld. Letzte Publikation: »Wegbereiter und Wegweiser«. (Hoch-)Schullehrerfiguren in autobiographischen Gelehrten-Erinnerungen um die Jahrtausendwende. In: Frieder von Ammon/Michael Waltenberger (Hgg.): Lehrerfiguren in der deutschen Literatur. Literaturwissenschaftliche Perspektiven auf Szenarien personaler Didaxe vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Berlin 2020 (Mikrokosmos 85), S. 368– 384. Felix Böhm, Dr. – Studium der Germanistik, Soziologie und Philosophie; 2012– 2019 Lehrkraft für besondere Aufgaben/Lehraufträge an der WWU Münster; seit 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Sprachwissenschaft/Sprachdidaktik am Institut für Germanistik der Universität Kassel. Letzte Publikation: Präsentieren als Prozess. Multimodale Kohärenz in softwaregestützten Schülerpräsentationen. Tübingen: Stauffenburg 2021. Sebastian Böhmer, PD Dr. – Studium der Neueren Deutschen Philologie und Philosophie an der TU Berlin; von 2009 bis 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Klassik Stiftung Weimar; von 2012 bis 2016 wissenschaftlicher Koordinator am Deutschen Literaturarchiv Marbach sowie des Landesforschungsschwerpunkts Sachsen-Anhalt »Aufklärung – Religion – Wissen« an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg; dort Habilitation 2017 und seit 2020 wissenschaftlicher Mitarbeiter mit dem von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Forschungsprojekt »Wer’s baut, wird selig. Von der Selbstdarstellung zur Legende in literarischen Selbstzeugnissen deutscher Ingenieure zwischen 1880 und
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Beiträgerinnen und Beiträger
1933«. Letzte Publikationen: Zu einer »Semantik von unten«. Medien-, materialund diskursphilologische Studien zu Schrift und Schreiben in der Zeit von 1770 bis 1834. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2018 / Technologien des Glaubens. Schubkräfte zwischen technologischen Entwicklungen und religiösen Diskursen. Hrsg. von Sebastian Böhmer, Constanze Breuer, Thomas MüllerBahlke und Klaus Tanner. Acta Historica Leopoldina Nr. 71. Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 2017 / [Typographie]. In: Der Neue Pauly. Supplementband 13: Das 18. Jahrhundert. Lexikon zur Antikerezeption in Aufklärung und Klassizismus. Hrsg. von Joachim Jacob und Johannes Süßmann. Stuttgart: Metzler 2018, S. 959–966. Suzanne Bordemann, Dr. – Studium der Germanistik und Romanistik an der Universität in Bergen (UiB) und der Norwegian University of Technology and Science (NTNU) in Trondheim, Norwegen. Promotion 2008 mit dem Titel: »Jon Fosses frühe Dramen und ihre Rezeption in norwegischen und deutschsprachigen Medien« (Osloer Beiträge zur Germanistik, Frankfurt am Main 2013). Lehraufträge an der NTNU. Seit 2013 Associate professor of German literature am Department of language and literature an der NTNU. Letzte Publikation: »Über Jenny Erpenbecks »Gehen, ging, gegangen« auf der Folie von Jacques Rancières Konzept einer Logik der Intervention«. In: Joanna Godlewicz-Adamiec/ Tomasz Szybisty (Hgg.): Literatura a polityka. Literatur und Politik, Wydawnictwa Uniwersytetu Warszawskiego 2020, S. 155–168. Carsten Gansel, Prof. Dr. – Studium der Germanistik, Slawistik; seit 1995 Professor für Neuere deutsche Literatur und Germanistische Literatur- und Mediendidaktik am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen. Mitglied des P.E.N-Zentrums Deutschland, Vorsitzender der Jury zur Verleihung des Uwe-Johnson-Literaturpreises sowie des Uwe-Johnson-Förderpreises, Sprecher des Beirates der Arbeitsstelle für Lessing-Rezeption (Kamenz). Letzte Publikationen: Carsten Gansel (Hg.): Trauma-Erfahrungen und Störungen des ›Selbst‹. Mediale und literarische Konfigurationen lebensweltlicher Krisen. Berlin: Walter de Gruyter 2020; Gerhard Sawatzky: »Wir selbst«. Roman. Herausgegeben, mit einem Nachwort und dokumentarischem Material zur Wolgadeutschen Republik und ihrer Literatur versehen von Carsten Gansel. Berlin: Galiani Verlag 2020; Hans Fallada: Warnung vor Büchern. Erzählungen und Berichte. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Carsten Gansel. Stuttgart: Reclam 2021. Charlotte Jaekel, Dr. – Studium der Deutschen Philologie, Romanistik/Französische Philologie sowie Mittleren und Neueren Geschichte an der Universität Bonn und an der Universität zu Köln; 2012–2019 Wissenschaftliche Mitarbeiterin
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an der Universität zu Köln; derzeit Akademische Rätin a.Z. an der TU Dortmund. Letzte Publikation: »Formale Ekstase!!! (Great!)«. Zum Animismus der Linie in Ästhetik, Literatur und Animationsfilm. In: Formästhetiken und Formen der Literatur. Materialität – Ornament – Codierung. Hrsg. von Torsten Hahn/Nicolas Pethes. Bielefeld: transcript 2020, S. 289–314. Jan Koneffke – Studium der Philosophie und Germanistik an der FU Berlin. Seit 1987 freier Schriftsteller. Lebte bis 1994 in Berlin, von 1995–2003 in Rom, seither pendelt er zwischen Wien, Bukarest und dem Karpatenort Mӑneciu. Seine Arbeitsgebiete sind Roman, Gedicht, Kinderbuch, Essays, Features, Hörspiele, Fernsehbeiträge (»Mein Bukarest«). Zudem übersetzt er aus dem Italienischen und Rumänischen. Zahlreiche Preise und Stipendien. Letzte Publikationen: »Ein Sonntagskind«, Roman (2015); »Als sei es dein«, Gedichte (2018); »Die TsantsaMemoiren« Roman (2020). Stefanie Konzelmann, M.A. – Studium der Germanistik und Musikwissenschaft in Heidelberg; 2013–2017 wissenschaftliche Hilfskraft bei der historisch-kritischen Frankfurter Brentano-Ausgabe; derzeit Projektassistenz für das Deutsche Romantik-Museum am Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt/Main; Lehraufträge an der Goethe-Universität Frankfurt/Main; Dissertationsprojekt zum Thema »Macht und Sprache bei Franz Kafka« (Publikation in Vorbereitung). Katrin Lehnen, Prof. Dr. – Studium der Germanistik und Philosophie in Bielefeld, seit 2007 Professorin für Germanistische Sprach- und Mediendidaktik am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seit 2016 Geschäftsführende Direktorin des Zentrums für Medien und Interaktivität (ZMI) an der JLU Gießen, Arbeits- Forschungsschwerpunkte sind digitale Leseund Schreibpraktiken, Bildung und Literalität in der Mediengesellschaft, wissenschaftliche Textkompetenz, kooperative Textproduktion, materialgestütztes Schreiben. Letzte Publikation: Feilke, Helmuth/ Lehnen, Katrin/ Steinseifer, Martin (Hgg.) (2019): Eristische Literalität. Wissenschaftlich streiten – wissenschaftlich schreiben. Heidelberg: Synchron. Joana van de Löcht, Dr. – Studium der Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie und Editionswissenschaft und Textkritik; 2014–2020 Mitarbeiterin am Germanistischen Seminar der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg; derzeit Assistenzvertretung an der FAU Erlangen. Letzte Publikation: Teil-Edition des »Arbeiter«-Manuskripts. In: Jünger-Debatte 3 (2020), (gemeinsam mit Peter Trawny), S. 123–181.
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Beiträgerinnen und Beiträger
Gottfried Meinhold, Prof. em. Dr. – Studium der Literaturwissenschaft, Sprachwissenschaft, Sprechwissenschaft, lehrte bis 2001 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (Lehrstuhl für Phonetik und Sprechwissenschaft). Zahlreiche wissenschaftliche Publikationen zur Phonetik und Sprechwissenschaft. Seit den 1960er Jahren literarische Tätigkeit; Debüt 1982: »Molt oder Der Untergang der Meltaker«. 1984 »Weltbesteigung. Eine Fünftagefahrt« (Roman). Zahlreiche weitere Romane, Erzählungen, Lyrik, Essays. Letzte Publikation: »Die Grube«. Roman (2009). Daniela Nelva, Prof. Dr. – Studium der Germanistik; von 2012 bis 2018 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Turin (Italien). Seit 2018 außerordentliche Professorin. Letzte Publikationen: »Es ist Zeit, darüber zu sprechen«. Stefan Heym über den 17. Juni 1953. In: Cecilia Novero (Hg.): Imperfect Recall. Re-collecting the GDR, Dundelin: University of Ontago, 2020, S. 270–301; »Das hilflose Europa«. Musil in der Zwischenkriegszeit. In: Alessandra Schininà/ Giovanni Schininà (Hg.): 1918. Zusammenbrüche, Revolutionen, Transformationen in Zentraleuropa zwischen Geschichte und Literatur. In: TRANS InternetZeitschrift für Kulturwissenschaften, 24 (2021), S. 1–16. Judith Niehaus, M.A. – Studium der Germanistik, Philosophie und Mathematik an der Ruhr-Universität Bochum und der Universität Hamburg; 2016 bis 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Hamburg; seit 2017 von der Studienstiftung des deutschen Volkes und der FAZIT-Stiftung geförderte Doktorandin an der Universität Hamburg (Schwerpunkt: Gegenwartsliteratur, visuelle und materielle Kultur, Theorien der Schrift). Letzte Publikation: My log hears things I cannot hear – Zu den narrativen und mythischen Funktionen der Log Lady. In: Caroline Frank/Markus Schleich (Hgg.): Mysterium Twin Peaks. Zeichen – Welten – Referenzen. Wiesbaden: Springer VS 2020, S. 261–279 (mit Anabel Recker). Vadium Oswalt, Prof. Dr. – Studium Philosophie, Kunstgeschichte und Musikwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Florenz; danach der Geschichte, Germanistik und Anglistik an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen; 1983–84 Hochschulassistent am Trinity College Dublin/Irland am »Department of Germanic Studies« 1990 Studienrat an einem Gymnasium, 1995 Studienrat a.e. H. im Fach Geschichte an der Pädagogischen Hochschule Weingarten (seit 2000 OSTR.), seit 2004 Professor für Didaktik der Geschichte an der Universität Gießen. 2014 Ernennung zum Herder Chair durch das HerderInstitut-Marburg. Letzte Publikationen: Karten als Quelle und Darstellung – Historische Karten und Geschichtskarten im Unterricht (Frankfurt 2019);
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Handbuch Geschichtskultur im Geschichtsunterricht (Hrsg. zusammen mit Hans-Jürgen Pandel), Frankfurt 2021. David Österle, Dr. – Studium der Deutschen Philologie; von 2011 bis 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte und Theorie der Biographie, ab 2018 dessen Stellvertretender Leiter; seit 2020 Universitätsassistent am Institut für Germanistik der Universität Wien. Letzte Publikation: »Freunde sind wir ja eigentlich nicht«. Hofmannsthal, Schnitzler und das Junge Wien. Wien: Kremayr & Scheriau 2019. Ulla Stackmann, M.A. – Studium der Anglistik und Absolventin des interdisziplinären Programms »Aisthesis – Historische Kunst- und Literaturdiskurse«; seit 2018 Promotionsstipendiatin der Studienstiftung des Deutschen Volkes; Lehrauftrag an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Letzte Publikation: Let the Books Do the Talking – Perspectives on Audio Literature. In: Kritikon Litterarum: Internationale Rezensionszeitschrift für Romanistik, Slavistik, Anglistik und Amerikanistik. 47, 2020, H. 3/4, S. 327–338. Romy Traeber – Studium der Germanistik und Politikwissenschaft sowie Deutsch als Fremdsprache; 2013/14 Stipendiatin der Robert Bosch Stiftung und im Rahmen des Lektorenprogramms Dozentin an der Staatlichen Universität Baranovichy/Belarus; seit 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Neuere deutsche Literatur der Philipps-Universität Marburg. Letzte Publikation: »Der Erzähler als Kamera«. Fred Wanders »Der siebente Brunnen« zwischen autobiographisch inspirierter Narration und fiktionaler Aufarbeitung des Holocaust. In: Walter Grünzweig/Ute Gerhard/Hannes Kraus (Hgg.): Erzählen zum Überleben. Ein Fred Wander Handbuch. Wien: Theodor Kramer Gesellschaft 2019, S. 142–151. Andrea Werner – Studium Germanistik und Kunstgeschichte sowie Kultur, Interkulturalität und Literatur; seit 2016 wissenschaftliche Hilfskraft im WolfgangKoeppen-Archiv der Universität Greifswald; Kuratorin diverser Ausstellungen zu Wolfgang Koeppen im »Münchner Zimmer« des Greifswalder Koeppenhauses; seit Oktober 2018 Dissertation zum Thema »Medialität und Ästhetik des Autor*innenfotos unter postdigitalen Bedingungen«; Lehraufträge an der Universität Greifswald. Letzte Ausstellung: »›Es ist wie in einer Zuchthauszelle …‹ – Das Stuttgarter Bunkerhotel als Schreibort« im »Münchner Zimmer« des Greifswalder Koeppenhauses (2019/20).
Weitere Bände dieser Reihe Band 27.2: Carsten Gansel / Katrin Lehnen / Vadim Oswalt (Hg.)
Schreiben, Text, Autorschaft II
Zur Narration und Störung von Lebens- und Schreibprozessen 2021. 420 Seiten, gebunden € 60,– D ISBN 978-3-8471-1339-3
Band 26: Eva Rünker
Konstruktionen christlichen Lebens im populären Frühmittelalter-Roman Eine Untersuchung zum Verhältnis von Geschichte und Gegenwart 2020. 493 Seiten, gebunden € 65,– D ISBN 978-3-8471-1195-5
Band 25: Sabine Egger / Stefan Hajduk / Britta C. Jung (Hg.)
Sarmatien – Germania Slavica – Mitteleuropa. Sarmatia – Germania Slavica – Central Europe Vom Grenzland im Osten über Johannes Bobrowskis Utopie zur Ästhetik des Grenzraums.
From the Borderland in the East and Johannes Bobrowski’s Utopia to a Border Aesthetics 2021. 471 Seiten, gebunden € 60,– D ISBN 978-3-8471-1193-1
Band 24: Britta C. Jung
Komplexe Lebenswelten – multidirektionale Erinnerungsdiskurse 2018. 310 Seiten, gebunden € 45,– D ISBN 978-3-8471-0866-5
Band 23: Monika Wolting (Hg.)
Identitätskonstruktionen in der deutschen Gegenwartsliteratur 2017. 362 Seiten, gebunden € 50,– D ISBN 978-3-8471-0741-5
Band 22: Thomas Hardtke / Johannes Kleine / Charlton Payne (Hg.)
Niemandsbuchten und Schutzbefohlene
Flucht-Räume und Flüchtlingsfiguren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 2017. 326 Seiten, gebunden € 50,– D ISBN 978-3-8471-0681-4