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German Pages [196] Year 2004
Nathalie Amstutz Autorschaftsfiguren
Autorschaftsfiguren Inszenierung und Reflexion von Autorschaft bei Musil, Bachmann und Mayröcker Von
Nathalie Amstutz
§ 2004 B Ö H L A U VERLAG K Ö L N WEIMAR W I E N
Publiziert mit U n t e r s t ü t z u n g des Schweizerischen N a t i o n a l f o n d s z u r F ö r d e r u n g der wissenschaftlichen F o r s c h u n g
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Delvaux, Paul: Pygmalion © Fond. P. Delvaux S. Idesbald, Belgien / VG Bild-Kunst, Bonn 2004.
© 2004 by Böhlau Verlag G m b H & Cie, Köln Ursulaplatz 1, D-50668 Köln Tel. (0221) 91390-0, Fax (0221) 91390-11 [email protected] Alle Rechte vorbehalten Satz und Reproduktionen: Peter Kniesche MedienDesign, Tönisvorst Druck und Bindung: MVR-Druck G m b H , Brühl Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 3-412-17502-1
Inhalt I Einleitung
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1. Autorschaftsfiguren und Autorschaftskonzepte 2. Fallbeispiele: Rousseau Goethe Nietzsche
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II Robert Musils Tonka: Von der Geburt der Stimmen und vom Geschlecht der Kunst
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Fabelgeschichte Bedeutung der Deutung Einfachheit: ein Konzept? Der Autor am Werk Pygmalion Empfangen und zeugen: androgyn
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III Ingeborg Bachmann: Spurensicherung 1. Das dreissigste Jahr. Autorschaft im Textlabyrinth Ikarus und Daedalus Werkphantasien Angegriffene Währung und Autorschaft ohne Gewähr Kein Knochen gebrochen: Auferstehung der Autorfigur
75 75 76 80 83 87
2. Ein Ort für Zufälle: Abwesenheit des Autors Der wunde Punkt Medizinischer Diskurs Zur Erinnerung: Danton Ach, die Kunst
89 91 93 96 98
3. Die Franza-Fragmente: Verortung von Autorschaft Der Zug fährt rückwärts: Der Tunnelexkurs Erosion der Struktur: Geologie und Psychoanalyse Wüste: Auge und Sand Das Pathos der Stimme in der Wüste Dekomposition des Gottesbildes Der halbe Tod: Reinheitsdiskurs und Selbstüberwindung Als wär' kein Tag vergangen: Analogisierung
102 105 110 114 116 119 122 124
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Inhalt
IV Friederike Mayröcker: Echoraum der Autorschaft 1. Halbherzige Bekenntnisse: Zwischen Confession Leidensgeschichte, Leibesgeschichte Rousseaus Herz Der Text als Rede Freuds Ohr: Ohrenbeichtvater
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und Psychoanalyse
... 132 132 134 135 138
2. Voyeurismus: Der Blick aufs Andere 143 Exkurs: Marguerite Duras' Le ravissement de Lol V. Stein 144 Text und Bild: Grenzbereich zwischen Sprache und Psychoanalyse . 151 Bild als Zitat 156 3. Mit fremder Feder: Collage einer Autorschaft Aneignungsversuch: Wächst mir ein Kornfeld in der flachen Exkurs: Blick auf Ernst Jandls Aus der Fremde Papageiensprache und Zungensingen Zitat und Wiederholung Fremd und eigen
Bibliographie
158 Hand .. 158 161 164 167 172 177
Dank Mein erster Dank gilt Professor Christiaan Hart Nibbrig. Dank seiner Gabe und Bereitschaft, sich auf Ideen und Texte immer wieder neu, kritisch und kreativ einzulassen, ermöglichte er mir, im Rahmen meiner These an der Universität Lausanne meine eigenen Ansätze zu entwickeln und mit einem herausfordernden Gesprächspartner zu diskutieren: immer grosszügig, immer genau. Professorin Barbara Naumann und Professor Johannes Anderegg verdanke ich wichtige Anregungen im Rahmen ihres Korreferats meiner These. Ich danke meinen Kolleginnen und Kollegen der Universität Lausanne, vor allem Dr. Christian Elben, Dr. Daniel Müller Nielaba, Dr. Manon Delisle, Professorin Irene Weber Henkin und Professor Peter Utz für unentbehrliche Gespräche, dies gilt auch für Sabine Künzi in der Schlussphase der Arbeit. Aber auch allen anderen Freundinnen und Freunden, meinen Schwestern, meiner Mutter, Lena, Silvain, Louis für zuversichtliche Begleitung. Dieser Dank gilt insbesondere meinem Mann Joakim Rüegger.
I Einleitung 1. Autorschaftsfiguren und A u t o r s c h a f t s k o n z e p t e Wer ist die Autorin, wer der Autor? Autorschaft kann viele Gesichter haben, nicht nur, wenn ein Kollektiv Urheber eines Textes ist. Das Suchbild „Autorschaft" eröffnet ein Feld, das mit der Verbreitung der elektronischen Medien, der Öffnung des Webs konkrete juristische Herausforderungen bedeutet. Der Anspruch auf die Möglichkeit der Zuordnung von Informationen und Texten im Web verweist auf die Problematik. Der Zuordnung und Verantwortlichkeit von Autorschaft gegenüber Texten im juristischen Sinn geht die vorliegende Arbeit nicht nach, sondern fragt, inwiefern literarische Texte selbst das Verhältnis Autorschaft und Werk gestalten, inwiefern Texte eine Auseinandersetzung mit Autorschaft zu lesen geben. Vorstellungen von Autorschaft regeln ihre Produktion und ihre Rezeption. Hypothese dieser Arbeit ist die Überlegung, dass Texte sich auf Autorschaftsdiskurse beziehen, explizit oder implizit, im Zitieren und Umwandeln tradierter Autorschaftsvorstellungen.1 Sie stellen jeweils eine Konstellation von Autorschaft und Werk her bzw. problematisieren sie.2 Dies ist der Fall für die in dieser Arbeit diskutierten Texte von Robert Musil, Ingeborg Bachmann und Friederike Mayröcker. Eine kurze Passage aus Musils Mann ohne Eigenschaften zeigt beispielhaft, welche Problematik diese Konstellation textimmanent aufwirft. Des Protagonisten Ulrichs Verhältnis zu seiner eigenen Tätigkeit, zum abgeschlossenen Werk, zieht sich als Thema durch das Riesenfragment. Er präzisiert das Problem und fragt nach den Bedingungen, unter denen „etwas entsteht, worin man sich Herr im Hause fühlt."3 In der selben Passage wird deutlich, dass das Entstehende doch glatt und rund sein sollte, etwas Vollendetes, ein Werk. Das Werk würde, so wie Ulrich es auffasst, der Autorität eine Behausung bieten und es würde zugleich von dieser Autorität beherrscht werden. Ulrich wird sich nicht „Herr im Hause" fühlen, es entsteht nichts, worüber er als sein Eigenes Autorität ausüben könnte: Es entsteht kein Werk. Die Auseinandersetzung im Mann ohne Eigenschaften problematisiert die Konstellation Autorschaft und Werk bezüglich ihrer Kausalität: Entsteht Autorschaft mit dem Werk, ist sie daraus ableitbar oder seine Voraussetzung? Steht der Autor als Ursprung, Urheber, vor seinem Werk oder wird er mit
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Autorschaft regelt bis zu einem gewissen Grad die Texte, sie regelt aber auch die Rezeption und damit die Literaturkritik, wie ein Blick auf die Forschung zeigen wird.
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In beispielhafter Weise wird diese Konstellation für die Textsorte Dissertation gere-
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Musil, M o E I , S. 649.
gelt.
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Einleitung
dem W e r k erst zum Autor? 4 Mit der Infragestellung des kausalen Zusammenhanges von Autor und W e r k wird die zeitliche Ordnung tangiert: Sind Autor und W e r k als Vorzeitigkeit bzw. Nachträglichkeit aufzufassen, oder ist diese chronologische Ordnung ein Konstrukt der Autorfunktion? Parallel zur Problematisierung des „Autors" als Autorität über das W e r k und als Teil des Werkes im Bilde des Hauses wird der Begriff des Werkes als Ganzheit tangiert. Ulrich zeichnet mit seiner resultatlosen Mitarbeit an der Parallelaktion für kein Werk. 5 Der Begriff W e r k erhält im Mann ohne Eigenschaften mit dem Essay ein Gegenkonzept. Musil setzt dem Anspruch einer „Ganzheit" des „Werkes" 6 , einer Aura des vollendeten Meisterwerkes das Provisorische des Essays entgegen. Das Provisorische ist mit dem Hypothetischen verwandt und bedeutet zugleich eine Lektüreanweisung. 7 Die Interpretation von Hypothetischem muss mit ihrer eigenen Vorläufigkeit rechnen. Das Abstraktum Autorschaft soll verdeutlichen, dass es hier nicht um die Rekonstruktion eines Gesichts, einer anthropomorphen Instanz oder einer Autorfigur geht, sondern um eine Beschreibung der Auseinandersetzung der Texte mit verschiedenen Diskursen und Konzepten. Die rhetorischen Au4
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Die Frage nach dem „Herr[n] im Haus" bildet auch eine der Anfangsüberlegungen von Seän Burkes Textsammlung zu Authorship: „Are the ,great authors' masters in the house of language, or its privileged tenants? [...] Is the author the producer of the text or its product?" 1995, S. XV. Ulrich hat nicht „Dichter werden können." (S. 153) Er ist ein Mann ohne Autorschaft. Einen Gegentypus im MoE repräsentiert der „Grossschriftsteller" Arnheim, der im Dienste der „Grossindustrie des Geistes" eine Art Unternehmer in Geistesfragen wird (S. 429). Siehe dazu Felix Philipp Ingold: Autorschaft und Management, 1993, S. 32ff. Autorschaft ist auch ein Problem für Ulrichs Freund Walter: „[...] als nichts mehr da war, was überwunden werden musste, geschah das Unerwartete, die Werke, welche die Grösse seiner Gesinnung so lange versprochen hatte, blieben aus." (MoEI, S. 52). Das Warten auf das Werk ist auch Thema in Prousts A la Recherche du temps perdu, Marcel schreibt (noch) nicht Blamberger sieht in den Melancholiedarstellung um 1900 den Topos des ausbleibenden Werkes repräsentiert. Siehe Günter Blamberger: Das Geheimnis des Schöpferischen, 1991, S. 5. Der Begriff Text, der den emphatischen Begriff Werk heute generell abgelöst hat, bezeichnet „jedwedes Sprachobjekt literaturwissenschaftlicher Analyse". Bis zur Etablierung des hermeneutischen Interpretationsbegriffs war der Begriff Text üblich und verlor erst mit der hermeneutischen Ausrichtung, die seit Schleiermacher und Humboldt bis in die Mitte des 20. Jh. wirksam war, an Bedeutung. In diesem Zeitraum spielt der Begriff Text keine bedeutende Rolle. Es ist hingegen von „Werk", „Sprachwerk", „Schriftwerk" die Rede, als Bezeichnung einer „Ganzheit einer geistigen Objektivation im Medium der Sprache". Siehe die begriffsgeschichtliche Untersuchung zu „Text" von Maximilian Scherner im „Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 39, 1996, hier S. 153. Musil, MoEI, S. 154 und S. 250f: Ulrichs Zögern „etwas aus sich zu machen", einen Beruf auszuüben: Er umschreibt diese Haltung mit „hypothetisch Leben" (S. 249) und mit dem „eigentümlichen Begriff eines Essays" (S. 250).
Autorschaftsfiguren und Autorschaftskonzepte
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torschaftsfiguren realisieren sich in Bezug auf bestehende Autorschaftskonzepte. Konzepte verstehe ich hier im Sinne von Vorstellungen, auf die sich Texte explizit oder implizit beziehen." Es soll gezeigt werden, wie sich auch neuere Texte aus dem Fundus bestehender Autorschaftskonzepte oder Diskurse bedienen, diese zitieren, umformulieren, ablehnen oder aktualisieren.' Die Untersuchung der Auseinandersetzung von Texten mit Autorschaft bedeutet das Beschreiben textimmanenter und impliziter Darstellung der Autorschaftsproblematik. Rhetorische Autorschaftsfiguren mar-kieren Leerstellen und Lücken, welche durch die Problematisierung bestehender Autorschaftskonzepte hervorgerufen werden. Vorliegende Arbeit setzt sich zwar mit der Konzeptualität dieser Autorschaftsvorstellungen auseinander, versucht aber keine Systematisierung einer Entwicklungsgeschichte. Die Konzepte und Figuren sind in den Texten zu beschreiben, nicht aber als das eine Ordnungsprinzip zu isolieren, nach dem sich das Schreiben einteilen liesse. Trotzdem sind Autorschaftskonzepte, welche die Konstellation Autor und Werk regeln und zueinander in ein bestimmtes Verhältnis setzen, benennbar. Das bekannteste Autorschaftskonzept ist das der Genieästhetik, das heute noch wirksames Kriterium ist für die Zuordnung von Kunst und Nicht-Kunst. Die im folgenden diskutierten Texte beziehen sich explizit oder implizit darauf, deshalb sollen die Bedingungen der Genieästhetik für den Begriff der Autorschaft kurz skizziert werden.10 Die Genieästhetik organisiert ihre Vorstellung von Autorschaft um den Begriff des „Schöpfers". Die Merkmale dieser Ästhetik werden mit Edward Youngs Buch Über die OriginalWerke, 1760 in deutscher Ubersetzung erschienen, festgeschrieben: Die Gottähnlichkeit des Autors im Schöpfungsakt lässt den Künstler als „Schöpfer" des „höchsten Naturwerkes" erscheinen." Nachahmung führt dann 8 Autorschaftskonzept wird hier also nicht als Begriff der Autorschaft, sondern als Vorstellung von Autorschaft verwendet. 9 Als Regelung der Textproduktion und -Rezeption, als Regelung von Lesen und Schreiben, sind Autorschaftskonzepte als Diskurse beschreibbar. Foucault formuliert in Die Ordnung des Diskurses·. „Was es [das schreibende Individuum, N.A.] schreibt und was es nicht schreibt, was es entwirft, und sei es nur eine flüchtige Skizze, was es an banalen Äusserungen fallen lässt - dieses ganze differenzierte Spiel ist von der Autor-Funktion vorgeschrieben, die es von seiner Epoche übernimmt" 1991, S. 21. 10 Zur Geniedebatte um 1800 siehe der von Ina Schabert und Barbara Schaff herausgegebene Band: Autorschaft: Zu Genus und Genie in der Zeit um 1800, 1994; Jochen Schmidt, Geschichte des Geniegedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945, 1985, Bd. 1, S. 13ff. Siehe auch das weiterführende Nachwort des Herausgebers Gerhard Sauders im Anhang an die Faksimile-Ausgabe der Gedanken über die Original-Werke von Edward Young. 11 Ina Schabert und Barbara Schaff weisen darauf hin, dass Young damit nicht ein eigenes neues Konzept in die Welt setzt, sondern die Tendenz einer kollektiven Veränderung aufdeckt und festschreibt. Schaff / Schabert (Hsg.) 1994, S. 11. Inwiefern Young
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Einleitung
zum Original, wenn sie göttlich inspirierte Nachahmung der Natur ist.12 Der Begriff des Original-Werkes ist für dieses Autorschaftsverständnis entscheidend, die Korrelation von Autor und Werk wird um 1800 zur Bedingung der Rezeption von Literatur." Der Diskurs der Genieästhetik schreibt die Funktion Autorschaft fest und wird zur positiven wie negativen Referenz für diese Frage in den Texten. Diese verkürzte Charakterisierung des Genie- und Originalmythos sei hier nicht zuletzt deshalb erlaubt, weil sie in der Diskussion um 1800 bereits als Topos der Literaturdebatten wirksam war. Das Konzept ist einerseits „Vorschrift" und Topos einer bestimmten Epoche, andererseits bildet es auch die Referenz - über diese Zeit hinaus für die Rezeption in der Auseinandersetzung mit Autorschaft. Der Diskurs der Genieästhetik, der die Konstellation Autorschaft - Werk - Lektüre organisiert, entsteht trotz seiner weitgehenden Verbindlichkeit nicht aus einem unbestrittenen Selbstverständnis heraus. Er übertönt leisere Diskurse, die doch zeigen, dass auch die Instaurierung eines Konzepts wie desjenigen der Genieästhetik als Antwort auf eine Frage, im Kontext einer Debatte, geschieht.14 Angelegt im Autorschaftskonzept der Genieästhetik ist ein für die im Folgenden diskutierten Texte zentrales Motiv, das zwei Momente miteinander verschränkt: Die Begründung der Kreativität im Geschlechterverhältnis und die Auratisierung der Kunst. Diese beiden Momente sind mit der Genese des neuzeitlichen Autorschaftskonzepts verbunden und prägen nach wie
selbst von der Romantik und vom Sturm und Drang rezipiert worden ist, wird im Nachwort von Gerhard Sauder hinterfragt. Er stellt jedoch fest, dass die GenieDiskussion um 1800 sich auf die Genie- und Originalitätskonzepte Youngs als Topos der Literaturdebatte beziehen. Sauder, in: Edward Young: Gedanken über die Original-Werke 1977, S. 46. 12 Young 1977 , S. 15ff. und 34ff. 13 Die Geniedebatte, die sich bereits aus der französischen Querelle des anciens et des modernes speist, diskutiert in England und Deutschland die Begriffe Original, Genie, ingenium, aber auch Material, Quelle, ars. Siehe dazu den Aufsatz von Bernhard F. Scholz: Alciato als emblematum pater et princeps. In: Jannidis et al., Rückkehr des Autors, 1999. Ausgehend von Foucaults Vorschlag, Autor-Funktion als Diskurs zu untersuchen, kritisiert er jedoch dessen Konzentration auf die Periode der „Privilegierung des Subjekts" und arbeitet die Autor-Funktion der Renaissance am Beispiel Scaligers heraus. (S. 334) Scholz zeigt damit auch, dass Autorschaft nicht erst um 1800 zu einem Thema wurde, wie es Karl Eibl im selben Band vermutet. Siehe dazu auch die Aufsätze zur Mittelalterforschung in Bd. 2 von Autorität der/in Sprache, Literatur, Neue Medien, Vorträge des Bonner Germanistentags 1997. 14 Siehe Inka Mülder-Bach zur Darstellungstheorie Herders, die im Gegensatz zur „lautstärkeren Programmatik des Genies [...] Leitbegriffe der rhetorischen und poetischen Tradition" reinterpretiere. Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions, 1998, S. 19.
Autorschaftsfiguren und Autorschaftskonzepte
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vor die Auseinandersetzung. 15 Beide Momente erweisen sich als bedeutsam für die Kapitel zu Musil, Bachmann und Mayröcker und sollen hier deshalb einleitend thematisiert werden. Die Verbindung der beiden Momente Geschlechterverhältnis und Auratisierung der Kunst lässt sich nicht ohne Verortung in den Konzepten des Schönen und Erhabenen der Ästhetik um 1800 darstellen. Die Ästhetik um 1800 schreibt die Kunstproduktion in einen Dualismus vom Schönen und Erhabenen ein. Diese Opposition vom Schönen und Erhabenen, diese „doppelte Ästhetik", fügt sich in die Reihe der Dualismen ein, die das 18. Jh. prägen.' 6 Diese Dualismen sind explizit sexualisiert, indem sie einer Geschlechterdifferenz entlang konstruiert werden, die gleichzeitig diese Geschlechteridentität produziert: „Jedes Geschlecht liebt sein Eigenthum, das Mädchen die Schönheit, und der Mann das Erhabene, aber keins sieht es gerne in den Händen des Anderen", schreibt der Schriftsteller Carl Grosse 1788.17 Die Dualismen, damit auch das Verhältnis der Geschlechter, werden hierarchisiert, das Schöne wird abgewertet, während das Erhabene „die eigentlichen, religiös gefärbten Inhalte ausspricht"' 8 . Mit dieser Auratisierung erhält das Erhabene eine metaphysische Begründung. Die Forschung zu Ästhetik und Geschlecht um 1800 zeigt, wie mit der Zuordnung der „Frau" dem Bereich des „Schönen" Weiblichkeit nicht nur in einen Objektstatus verwiesen wird, sondern wie „Weiblichkeit" und „Männlichkeit" konzeptualisiert werden in den bekannten Oppositionen wie produktiv versus rezeptiv." Geschlecht wird zu einer Konstellation, die einerseits diese Dualismen abbilden soll, andererseits die Denkfigur des Dualismus naturalisiert und somit - über jede Zeit hinaus - legitimiert. Die Texte zeigen, dass Geschlecht nicht eine mehr oder weniger randständige Kategorie in der Reihe der vielen Konzepte darstellt, sondern, dass Geschlecht konstitutiv die Naturalisierung der Konzepte garantieren soll. Die Konstruktion einer männlichen Produktionssphäre und die damit verbundene Ausgrenzung von „Weiblichkeit" aus der künstlerischen Produktion 15 Es wäre zu untersuchen, inwiefern diese Verknüpfung bereits vor der Genieästhetik festgeschrieben war. 16 Siehe zur „doppelten Ästhetik" den Aufsatz von Carsten Zelle „Schönheit und Erhabenheit: Der Anfang doppelter Ästhetik hei Boileau, Dennis, Bodmer und Breitinger, in: Christine Pries (Hsg.): Das Erhabene, 1989, S. 66. 17 Carl Grosse, Über das Erhabene (1788), 1990, S. 75. Siehe zum Erhabenen auch Anm. 36. 18 Carsten Zelle, Schönheit und Erhabenheit..., in: Pries, Das Erhabene 1989, S. 68. 19 Hier ist vor allem der erwähnte Band Autorschaft von Schabert und Schaff zu nennen. Siehe auch Christine Battersby: Gender and Genius, 1989 S. 71ff.; Peggy Kamuf: Signature pieces, 1988; Susan S. Friedman: Weavings: Intertextuality and the (Re)Birth of the author. In: Jay Clayton / Eric Rothstein, Influence, 1991. Siehe auch Klaus Poenicke: Eine Geschichte der Angstf Appropriationen des Erhabenen in der englischen Ästhetik des 18. Jh., in: Pries, Das Erhabene, 1989, S. 77.
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Einleitung
und der Aura des Erhabenen - Schabert und Schaff verweisen auf die bekannte Konstellation „Künstler mit Modell" - setzt sich mit dem Topos der romantischen Sehnsucht nach dem Weiblichen als dem „ersehnten Anderen" fort.20 Die Verschränkung der Geschlechterrollen mit der Auratisierung der Kunst findet ihre ausgeprägteste Darstellung im Geburts- und Zeugungsmythos der Kunst. In den Gedanken über die Original-Werke beschreibt Edward Young die Entwicklung des Genies in folgendem Geburtsbild: „Ein männliches Genie kommt aus der Hand der Natur, wie die Pallas aus dem Haupte des Zeus, in völliger Grösse und Reife"21. Das Bild vollführt eine chiastische Umkehrung von männlich und weiblich. Die Geburt des männlichen Künstlers ist eine männliche Geburt. In Youngs Formulierung ist der Kreuzpunkt der beiden aus dem Genie-Mythos sich tradierenden Momente sichtbar: der Auratisierung der Kunst und der Festschreibung der Geschlechterrollen im künstlerischen Prozess. Diese Verschränkung setzt sich in einer Serie von Geburtsbildern fort. „Enfanter la premiere oeuvre" nennt Sainte-Beuve die Entstehung des Cid von Corneille.22 Das Bild der Geburt verweist auf die Vollendung des ersten Werkes. Der Erstling als Kunstwerk eröffnet eine Genealogie, setzt mit dem erstgeborenen Werk den Anfang einer Werkgeschichte. Walter Benjamin fasst diesen Mythos der Kunstproduktion in das Denkbild Nach der Vollendung. Er konstruiert sein Bild als Denkbild, das heisst, er gibt den Mythos in seiner Paradoxie zu lesen.23 Benjamin stellt in seinem kurzen Text die Rolle der Geschlechter, ihre Zuordnung und Funktion im häufig verwendeten Geburtsbild dar: der Autor wird zum „männlichen Erstgeborenen des Werkes, das er [das weibliche Teil von ihm, N.A.] einstmals empfangen hatte."24 Das Denkbild stellt beide Momente, Geschlechterverhältnis und Auratisierung, heraus: „Oft hat man sich die Entstehung der grossen Werke im Bild der Geburt gedacht. Dieses 20 Die „doppelte Ästhetik" setzt sich nach Carsten Zelle fort vielleicht bis Newman und Lyotard. Carsten Zelle, Schönheit und Erhabenheit, in: Pries, Das Erhabene, 1989, S. 73. Hier stellt sich die Frage nach der Wahrscheinlichkeit, dass eine Ästhetik der Moderne, die noch auf dualistischen Konzepten beruht, das eine Oppositionspaar „Geschlecht" aus der Hierarchisierung ausnimmt. Der von Schabert und Schaff herausgegebene Band verdeutlicht aber auch die Versuche der Autorinnen und Autoren um 1800, sich im Korsett der Geschlechterrollen Bewegungsfreiheit zu verschaffen, wie die Lektüren der Texte von Rahel Levin Varnhagen, Esther Gad, Brentano, u.a. zeigen. 21 Edward Young, Gedanken über die Original-Werke, 1977, S. 32. 22 Sainte-Beuve: Portraits litteraires: Pierre Corneille (Hier über den Cid). 23 Siehe dazu das Kapitel: Die Verdoppelung des männlichen Blicks und der Ausschluss von Frauen aus der Literaturwissenschaft in Sigrid Weigels Buch Topographie der Geschlechter 1990, zu Benjamins Denkbild Nach der Vollendung, S. 237-240. 24 Walter Benjamin: Denkbilder, in: Gesammelte Schriften IV. 1, S. 438.
Autorschaftsfiguren und Autorschaftskonzepte
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Bild ist ein dialektisches; es umfasst den Vorgang nach zwei Seiten." Der Geburtsmythos bezieht sich einerseits auf die Geburt des Werkes, andererseits auf die Geburt des männlichen Autors im Werk. Die Geburt des männlichen Autors setzt die Uberwindung des Weiblichen voraus. Mit seiner Selbstkreation überwindet der männliche Autor das Weibliche, das mit der Schöpfung stirbt. Die „zweite Schöpfung"25 ist eine Befreiung in einen reineren Zustand. „Beseligt überholt er die Natur: denn dieses Dasein, das er zum ersten Mal aus der dunklen Tiefe des Mutterschosses empfing, wird er nun einem helleren Reiche zu danken haben." 2 '
Das Bild der Geburt wirft die Frage nach der Zeugung, dem Ursprung der „Schwangerschaft" und nach den Konsequenzen des Ausschlusses der Rolle der Weiblichkeit dabei auf. Die Auratisierung der Kunst im Geburtsbild ist insofern gegeben, als es um das „grosse" Werk geht, das „ins Leben" gesetzt wird und damit das Geheimnis des „Lebens" in Anspruch nimmt. Die künstlerische Leistung wird zum Mythos, der das Geheimnis seiner Entstehung nicht nur birgt, sondern mit dem Geburtsbild als naturhafter Akt, der die Natur zugleich überwindet, inszeniert. Im zweiten Kapitel dieser Arbeit erweist sich Musils Erzählung Tonka als Auseinandersetzung mit diesen Paradigmen. Musil zentriert seine Erzählung um das Bildrepertoire der „reinen, unbefleckten" Empfängnis und Geburt. Er greift ausserdem mit dem Muster einer männlichen Kreativitätsphase, die mit dem Tod der weiblichen Figur ihren Abschluss findet, explizit diese Polarisierung in der Autorschaftsdarstellung auf.27 Das verwendete Bild der Geburt ist ein sichtbares Beispiel für die Sexualisierung von zentralen philosophischen wie ästhetischen Konzepten und stellt die Frage nach dem Repertoire von Autorschaftskonzepten für weibliche Autorinnen. Kreativität unter der Bedingung der Uberwindung der Weiblichkeit bietet kein Konzept für weibliche Autorschaft. Das würde heissen, wie Karoline von Günderrode schrieb, „was mich tödtet zu gebähren."28 Ingeborg Bachmanns Erzählung Das dreissigste Jahr, aber auch die Franza-
25 Sigrid Weigel, Topographie der Geschlechter, 1990, S. 237. 26 Ganz anders formuliert später Kafka in seinem Tagebuch zum Urteil·. „... die Geschichte ist wie eine regelrechte Geburt mit Schmutz und Schleim aus mir herausgekommen", zit. nach Klaus Theweleit: Buch der Könige, Bd. I, 1988, S. 1019. 27 Der Topos findet sich beispielhaft in Edgar Allan Poes Text Das ovale Porträt erzählt. Siehe dazu Sigrid Weigel, Topographie der Geschlechter, 1990, S. 239. 28 Karoline von Günderrode: Die Einzige. Melete, in: Sämtliche Werke, Bd. I, 1990, S. 326. Darauf verweist auch Elke Brüns in ihrer Untersuchung zur „Autorposition" bei Haushofer, Fleisser und Bachmann.
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Einleitung
Fragmente setzen sich mit diesen sexualisierten Autorschaftskonzepten explizit auseinander. Benjamins und Musils Thematisierung der Geburt als Bild der Kreativität setzt sich mit der Debatte um 1900 auseinander, in der wiederum die Begriffe Werk und Autorschaft befragt werden. Nicht mehr in die Konstellation einer klassischen Ästhetik eingebunden, sucht sich die Autorität der Autorschaft, die mit jeder Veröffentlichung beansprucht wird, immer wieder zu legitimieren, oder, wie Günter Blamberger formuliert, sie sucht nach einer Genealogie.29 Sie sucht aber auch nach der Autorität, der Instanz, die das „Werk" entgegennimmt, ihm den gebührenden Platz einräumt und einen Status verleiht. Für die Organisation der Konstellation von Autorschaft und Werk um 1900 will Friedrich Kittler neue Paradigmen feststellen: „Wenn das Phantasma Frau aus einer Verteilung von Form und Stoff, Geist und Natur, Schreiben und Lesen, Produktion und Konsumtion auf zwei Geschlechter entstanden ist, so etabliert der Wiederruf dieser Polarität ein neues Aufschreibsy«30 stem.
Vielmehr scheinen sich Autorinnen und Autoren mit den tradierten Mustern weiterhin auseinandersetzen zu wollen oder zu müssen.31 Die ideale Leserin, die Muse, die Frau, geistert hartnäckig durch die Autorschaftsdarstellungen (in Bild und Text) der Jahrhundertwende, statt „den vielen Frauen", den „weiblichen Diskursen" zu weichen. Ebenso bleibt die Auratisierung der Kunst zentrales Kriterium ihrer Legitimierung und Konzeptualisierung. 32 Die Debatte um 1900, wie sie etwa das Buch von Otto Weininger polarisierte, zeigt die politische Relevanz dieser Fragen und die kontinuierliche Verwobenheit von Geschlecht und ästhetischer Konzepte. Weininger stützt sein Geniekonzept sowohl auf der Auratisierung der Kunst wie auch auf der Polarisierung des Geschlechterverhältnis ab. Er setzt seiner Endzeitprophezei29 Der Bedarf nach einer „genealogischen Autorität des kreativen Subjekts" werde um 1900 manifest. Siehe dazu Günter Blamberger, Das Geheimnis des Schöpferischen, 1993, S. 4. 30 Friedrich Kittler, Aufschreibsysteme, 1985, S. 356. Kittler zitiert Hugo Gaudigs Aufsatz „Zum Bildungsideal der deutschen Frau" aus der Zeitschrift für pädagogische Psychologie von 1910, wonach „den Wesensunterschied der Geschlechter" auf Formeln wie „Produktivität und Rezeptivität" zu bringen, „im Zeitalter der modernen Psychologie" schlichte „Hinterwäldlichkeit" bedeute. 31 Zur weiblichen bzw. männlichen Konnotation von Stoff und Form (seit der Antike) siehe Monika Wagner, Form und Material im Geschlechterkampf, in: Caduff / Weigel, Das Geschlecht der Künste, 1996, S. 175-176. 32 Siehe dazu die Textsammlung Kunst / Theorie im 20. Jh., hsg. von Charles Harrison und Paul Wood 1998.
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Autorschaftsfiguren und Autorschaftskonzepte
ung für die europäische Kultur die Idee einer neuen Kunst gegenüber, die den männlichen Genius restituiert, der (im Gegensatz zum Wissenschaftler) eine „Idee des Ganzen" verfolge. Autorschaft stellt dort wieder Anspruch auf „absolute Zeitlosigkeit". Damit wird eine ahistorische Kunstgeschichte, eine Mythologisierung von Autorschaft propagiert, deren Problematik Walter Benjamin mit seinem oben besprochenen Denkbild zeigte. Benjamin stellt die politische Konsequenz dieser Kunstgeschichte pointiert in der Buchkritik von Max Kommereils Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik heraus.34 In der Buchkritik mit dem aufschlussreichen Titel Wider ein Meisterwerk schreibt Benjamin gegen die Tendenz des Georgekreises, dem Auraverlust mit einer Resakralisierung von „Meister" und „Werk" zu begegnen. Der Literaturwissenschaftler Kommerell restauriere einen Geniemythos der bereits abgeschafft war, indem wieder zeitlos-mythologisch argumentiert werde.35 Den Umgang dieser „Literaturgeschichte" mit Geschichte kritisiert Benjamin: „Nie ist sie [die Geschichte, N.A.] ihnen Gegenstand des Studiums, stets Objekt ihrer Ansprüche. Als Ursprungstitel oder Paradigma suchen sie das Gewesene sich zuzuschlagen."36 Benjamins Kritik der Beschwörung des zeitlos-Mythologischen und des Vergessens von Geschichte erinnert, wie im Einleitungskapitel zu Nietzsche gezeigt werden soll, an dessen Kritik der Kunst als „Vollkommene Gegenwart, die ihr Werden vergisst." Die Geschichte der Autorschaft entwickelt sich nicht als eine kontinuierliche Folge sich ablösender Konzepte, sondern in Überschneidungen, Verwerfungen und Rückgriffen in einem. Das bedeutet, dass verschiedene Konzepte, auf die sich diese Debatte bezieht, nach wie vor und gleichzeitig wirksam sind. Die Gleichzeitigkeit von Elementen scheinbar unvereinbarer, widersprüchlicher Konzepte zeigt, dass die Konzepte in sich keine abge33 Weininger, Geschlecht
und
Charakter,
Kap. 2, VIII, Ich-Problem und Genialität,
1980, S. 2 1 9 - 2 2 2 . 34 Benjamin, Ges. Schriften
III, S. 252.
35 D e r Klassizismus Stefan Georges bedient sich der Bilder der Wiedergeburt und greift damit ein typisches Schema der Klassizismen auf. Siehe dazu Hanns-Josef Ortheil, Erhabenheit
und Skeptizismus,
36 Benjamin, Ges. Schriften
in: Merkur
(1989), 43. Jg. H. 9 / 1 0 , S. 912.
III, S. 254. Im früher erschienenen Kunstwerk-Aufsatz skiz-
ziert Benjamin die politischen Möglichkeiten, die mit der Reproduzierbarkeit des Kunstwerkes sich eröffnet haben: Das „Werk" verliert die „Aura" der Singularität, des einen Wurfes, der einmaligen Schöpfung. Ebenso verliert es damit die Legitimation seiner Autorität. E s sagt uns keine Wahrheit im massgebenden Sinn der Klassik. Dieser Auraverlust ist bei Benjamin positiv konnotiert als Möglichkeit einer Befreiung von der Tyrannei des Singulären. Der Faschismus versucht laut Benjamin die T y rannei des „Werkes", des Originals wieder einzuführen als mythisierende Aura. Das Kunstwerk
im Zeitalter seiner technischen
1991, S. 506f.
Reproduzierbarkeit,
Ges. Schriften
Bd. 1.2,
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Einleitung
schlossenen Gebäude darstellen und sich nicht um eine Logik und Kohärenz bemühen. Diese Widersprüchlichkeit reflektiert Marcel Duchamps Auseinandersetzung mit dem Ort der Austeilung von Kunst, mit dem Museum. Die wiederkehrende Frage „Was ist Kunst?" oder „Ist denn das noch Kunst?" stellen sich im Bezug auf bekannte Funktionen der Kunst, die ein bestimmtes Autorschaftsverständnis voraussetzen." Die Lesbarkeit des Bildes, des Kunstwerks, findet zum Teil nur statt über die Referenz auf diese Konzepte, die Werk und Autorschaft bestimmte Funktionen zuschreiben. Das Werk sieht uns an (mit dem Blick des „Schöpfers", den wir aus dem Werk herausoder in das Werk hineinlesen) und erhebt Anspruch an eine Aura, welche das Publikum ihm - bewundernd oder bedrängt - gewährt.38 Ein Bild lässt sich über die Liebe zur Einzigartigkeit, zur Aura, lesen, die das Museum dem Kunstobjekt verleiht. Dieses Autorschaftsverständnis und diesen Auratisierungsprozess stellte Duchamp zur Debatte indem er, unter den seriell hergestellten Objekten, auch gerade ein Pissoir ins Museum stellte. Die Erbarmungslosigkeit der Auratisierung, die selbst diese Objekte erfuhren, stellt ironisch Anfang der 90er Jahre die amerikanische Künstlerin Sherrie Levine mit ihrer Serie vergoldeter Pissoirs heraus. [Abb. 1] Mit dem Bedarf an Legitimation und Interpretation werden widersprüchliche Autorschaftskonzepte aktualisiert. Sie bieten einen das Werk als „Werk" begründenden philosophischen oder metaphysischen Kontext, in dem die Begriffe Autorschaft, Signatur, Werk und Original eine Bedeutung, damit auch Wert gewinnen, nicht zuletzt um den Preis des Kunstmarkts zu legitimieren. Autorschaft, und damit Signatur und Handschrift, ist Teil einer Konstellation, in welcher Herstellung, Produkt und Gebrauch voneinander abgegrenzt und zueinander in ein bestimmtes Ordnungsverhältnis gesetzt
37 Die Frage „Was ist Kunst?" stellt ja implizit die Frage nach ihrer Relevanz und damit nach ihrer Funktion. Nicht nur utilitaristisch, aber auch indem der Anspruch des Begriffs „Kunst" bezüglich seiner Komponenten „Autor" und „Werk" befragt wird. 38 Siehe zur Musealisierung J.-F. Lyotard, Das Erhabene und die Avantgarde, in: Merkur (1984), 38. Jg, H.2, S. 160. Die Debatte um die Möglichkeit einer positiven Bestimmung und produktiven Nutzung des Begriffs des Erhabenen nach 1945 (ausgelöst durch Lyotards Aufsatz) wiedergibt der Merkur (1989) H.9/10. K.H. Bohrer fragt phänomenologisch nach dem Ort des Erhabenen als „anthropologisch verbürgtes Empfinden". Der Begriff sei deshalb dem aufgeklärten Diskurs nicht zu verbieten. Die darauffolgenden Aufsätze zeigen aber, dass das Nachdenken über „das Erhabene" durch die oben angeschnittenen Problemfelder bestimmt wird. Es stellt sich aber auch die Frage nach dem Nutzen einer Renaissance des Begriffs bzw. ob die Kunst der Avantgarde mit diesem Begriff oder Anleihen davon nicht ein Autorschaftsverständnis zitiert, das mit dem Kunstprodukt kaum mehr etwas zu tun hat. Siehe auch den Aufsatz von Max Imdahl zu „Barnett Newman" in der Abteilung „Das Erhabene in der zeitgenössischen Künsten" in Pries, Das Erhabene, 1989, S. 233ff.
Autorschaftsfiguren und Autorschaftskonzepte
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Abb. 1: Sherrie Levine, Fountains, after Duchamp, 1991 (Installationsansicht, Kunsthalle Zürich)
werden. Wie der Kunstbereich, so stellt auch die technologische, reproduktionstechnologische und ökonomische Entwicklung die Konstellation von Autorschaft, Produkt und Gebrauch zur Disposition. Das Problem ist die
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Lücke der Lokalisierbarkeit von Autorität und damit einer Position des Überblicks in dieser Konstellation. Die Diskussion von Autorschaft stellt der Eigendynamik der Entwicklung, dem „es tut sich etwas", die Frage nach Möglichkeiten einer Steuerung oder Erkennbarkeit dieser Konstellation: wer tut was für wen? Das wachsende Interesse der Forschung am Thema Autorschaft und Autor, das sich in zahlreichen literatur- und kulturwissenschaftlichen Publikationen manifestiert,39 gründet vielleicht nur am Rande in diesem weiteren Kontext, stellt mit dem Suchbild Autorschaft jedoch eine grundsätzliche Frage nach Funktion und Rollen dieser Begriffe für die Lektüre. Der literaturwissenschaftlichen Forschung ist gemeinsam der Bezug auf das Diktum vom Tod des Autors von Roland Barthes und auf die Fragestellung, die Michel Foucault in Qu'est-ce qu'urt auteur, auffächert.40 Foucaults Rede folgte auf Roland Barthes Aufsatz La mort de l'auteur (1968), der als Echo auf Nietzsches Proklamierung des Gottestodes die Debatte provozierte. Hier ist festzuhalten, dass diese beiden Texte der späten 60er Jahre in Frankreich in einem bestimmten literaturwissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Kontext zu situieren sind, nämlich in der Debatte zwischen der einerseits noch von Sainte-Beuve geprägten Literaturkritik und dem Strukturalismus. Sainte-Beuves biographischer Ansatz erschliesst das Werk über den Autor (der Autor hat Autorität über sein Werk auszuüben, indem er weiss, was es bedeutet). Anders formuliert begründet seine Lektüre, wie der Kritiker Gustave Lanson Sainte-Beuve vorwarf, eine Biographie des Autors über das Werk. Auf der anderen Seite richten sich die strukturalistischen Positionen41 mit der Verabschiedung des Autors explizit gegen die Tradition der Sainte-Beuveschen Kritik und sehen für die Lektüre von der Autorität des Autors über den Text ab. Mit dem Diktum des Autortodes wurde allerdings kein Feldzug gegen die Schriftsteller begründet, sondern eine bestimmte Lesart, die biographische Aufschlüsselung der Texte, kritisiert. Die
3 9 K u r z vor Drucklegung ist der Band des DFG-Symposions Autorschaft: und Revisionen,
Positionen
von Heinrich Detering herausgegeben, erschienen und bietet eine
Sammlung wichtiger Texte, die zum grossen Teil von der Konzeptualität von Autorschaft ausgehen. Explizit sei hier lediglich auf den Aufsatz von Christian Begemann verwiesen: Der Körper ven Feld der
des Autors: Autorschaft
als Zeugung
und Geburt
im
diskursi-
Genieästhetik.
40 Vor ihnen haben Wolfgang Kayser und Wayne C . Booth bereits mit Untersuchungen zum Erzähler und dem impliziten Autor unternommen, die Frage der Autorschaft im Text zu thematisieren. Vgl. dazu den Band von F. Jannidis, Texte zur Theorie der Autorschaft, 2000. 41
Barthes umreisst zu Anfang seines Aufsatzes den Effekt der positivistischen Kritik in Frankreich, gegen die der Strukturalismus den Text abgrenzt.
Autorschaftsfiguren und Autorschaftskonzepte
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Verabschiedung des empirischen A u t o r s als Bedeutungshorizont eines T e x tes rückt stattdessen die Lektüre als Produzentin von Bedeutung ins Zentrum. A u c h Foucaults These in seinem inzwischen bekannten Aufsatz bezieht sich in erster Linie auf die Lektüre. Das Subjekt im T e x t ist nicht als A u t o r , nicht als U r s p r u n g der künstlerischen Produktivität referentialisierbar. Autorschaft wird, analog z u m Subjektbegriff, als Funktion eines Diskurses, und das heisst als historisches Konzept, verstanden. 4 2 O b w o h l die Polemik von Barthes Position in einen K o n t e x t zu situieren ist, der mit der heutigen Vielfalt v o n Ansätzen in der Literaturwissenschaft nicht mehr zu vergleichen ist, versteht sich ein Grossteil der neueren Forschung nach wie vor als (ebenfalls polemische) Replik auf die Texte der 68er Jahre. Diese A b grenzung gegen den Tod des Autors äussert sich im Bedürfnis, grundlegend F a r b e zu bekennen, gegen Barthes „Antihumanismus" 4 3 oder gegen seinen „militantisme anti-auteur", der die Figur des Autors disqualifiziert habe. 44 Titel wie The death and return of the author45 und Die Rückkehr des Autors* möchten eine Folge der Verabschiedung des A u t o r s korrigieren: die Tabuisierung des empirischen Autors für die Interpretation. Ausgehend von der Feststellung, dass der empirische Autor, und sei es nur mit der Datierung und Situierung der Textentstehung, so gut wie immer in die Interpretation
42 Laut Foucault ist das Subjekt des Textes „fonction variable et complexe du discours". Foucault, „Qu'est-ce qu'un auteurf", 1969, S. 811. Barthes bezeichnet fast gleichzeitig das Subjekt im Text nicht als Funktion des Diskurses, sondern der Grammatik: „le langage connalt un,sujet', non une,personne', et ce sujet, vide en dehors de l'enonciation merae qui le definit, suffit ä faire ,tenir' le langage, c'est ä dire ä l'epuiser." Barthes, „La mort de l'auteur", 1984, S. 63. Jakobson hat dafür den Begriff des „Shifters", „l'embrayeur", geprägt als Platzhalter oder Variable. Dictionnaire linguistique et des sciences du langage, 1994. Nach Emile Benveniste erhält das Pronomen „Ich", im Gegensatz zur mündlichen Rede, erst in Bezug auf einen Eigennamen seine Bestim-mung. Siehe dazu Benveniste, Prohlemes de linguistique generale, 1966, Sektion V, „L'homme dans la langue". 43 Siehe dazu Susan Stanford Friedman, „ Weavings: Intertextuality and the (Re)Birtb of the Author", in: Jay Clayton/ Eric Rothstein, Influence, 1991, S. 151. 44 Maurice Couturier, La figure de l'auteur, 1995, S. 19. Dagegen lässt sich folgende Passage Foucaults halten: „Es wäre sicherlich absurd, die Existenz des schreibenden und erfindenden Individuums zu leugnen. Aber ich denke, dass - zumindest seit einer bestimmten Epoche - das Individuum, das sich daranmacht, einen Text zu schreiben, aus dem vielleicht ein Werk wird, die Funktion des Autors in Anspruch nimmt." Foucault, Die Ordnung des Diskurses, 1991, S. 21. 45 Seän Burke, The death and returm of the author, 1992. In Authorship, 1995, versammelt Burke wichtige Texte zur Frage der Autorschaft, fragt aber auch noch grundsätzlich nach ihrer Verortung und Brauchbarkeit als Interpretationshilfe für die Erschliessung des Textsinnes. 46 Jannidis et al., Die Rückkehr des Autors, 2000. Der Band versammelt eine weitgefächerte Auswahl von Aufsätzen zu der Funktion der Autorfigur in literaturwissenschaftlichen Ansätzen.
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einbezogen werde, untersuchen diese Ansätze, inwiefern der „Autor" eine texthermeneutische Funktion erfüllen kann bzw. wie diese Instanz für die Interpretation genutzt wird. Autor, Autorfigur, impliziter Autor sind in dieser Optik (mehr oder weniger vermittelte) Instanzen, die einen Bedeutungshorizont des Textes repräsentieren. Das heisst, dass ein Teil der Forschung die Diskussion zur Figur des Autors wieder im Kontext der Sinnerschliessung der Texte verortet. Eine Beschreibung von Autorschaftsfiguren, wie ich sie hier vorschlage, setzt methodisch dagegen eine Lektüre voraus, die Autorschaft nicht als hermeneutischen Sinnhorizont erschliessen will, sondern den Bedingungen und Formen ihrer Konzeptualisierung nachgeht.4 Die polemische Rede vom Tod des Autors bleibt bei Foucault nicht bei der melancholischen Gebärde über sein Ableben zugunsten der Geburt der Leserin und des Lesers, sondern stellt vielmehr die Frage Wie zu lesen sei. Foucault formuliert das Wie als Versuch, dieses Verschwinden der Autorfigur als Interpretationsinstanz zu beschreiben: „[...] reperer l'espace ainsi laisse vide par la disparition de l'auteur, suivre de l'oeil la repartition des lacunes et des failles, et guetter les emplacements, les fonctions libres que cette disparition fait apparaitre."48 Antihumanismus? Eine Beschreibung der Auseinandersetzung der Literatur mit Funktionen von Autorschaft ist weder eine Absage an einen humanistischen Wertekanon noch will es den Schriftstellerinnen und Schriftstellern an die Existenz; es ist die Beschreibung der Art und Weise, wie Texte mit Begriffen umgehen, deren Funktion es ist, ein Ordnungsverhältnis zu etablieren. Das heisst der Versuch einer Beschreibung des Umgangs mit diesem Ordnungsverhältnis. 47 Eine überzeugende Auseinandersetzung mit der Autor-Funktion unternimmt Bernhard F. Scholz, Alciato als emblematum pater et principes, in: Fotis Jannidis et al.: Die Rückkehr des Autors, 1999, S. 321-351. Scholz versucht in seinem Aufsatz nicht einer Autorfigur wieder zu ihrem Recht zu verhelfen, wie es der Titel des Bandes suggeriert, sondern verortet Autorschaft als Effekt des Diskurses bereits vor der Genieästhetik. Interessant ist auch der Ansatz von Wolfgang Behschnitt, der in seinem Buch mit dem Titel Autorfigur zum Autobiographischen bei Strindberg textimmanent die Konstruktion der Autorfigur in den Texten systematisiert. Sein Konzept der „Autorfigur", das er aus der Lektüre von Strindberg herleitet, zeigt den Versuch der Texte auf, ein Autorbild beim Leser zu erzeugen. Die Autorfigur ist dabei durchaus auch im Sinne der rhetorischen Figur lesbar und Darstellungsmittel der Inszenierung dieses Autorbildes. „Autorfigur" wird definiert als „Instanz, die solche Figuren, solche Bilder produziert und in einen gedachten Raum hinter dem Text projiziert, in dem aus der Perspektive des Lesers der Autor als Textproduzent und Kommunikationspartner angesiedelt ist." (S. 41) Für meinen Ansatz wäre die Voraussetzung einer topographischen Verortung des Autorbildes (wenn auch als Effekt des Textes) und die Zielrichtung der Autorfigur, beim Leser „ein kohärentes Vorstellungsbild" (S. 298) zu erzeugen., ein Problem, da das Konzept der Autorfigur auf einem anthropomorphisierenden Modell besteht und versucht, die Inszenierung einer Instanz zu beschreiben. 48 Foucault, Qu'est-ce
qu'un auteur,
1969, S. 796.
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Die drei Kapitel vorliegender Arbeit zu Musil, Bachmann und Mayröcker zeigen, dass die Auseinandersetzung mit Autorschaft teilweise motivisch angelegt ist (zum Beispiel im Aufgreifen des Geburtsbildes bei Musil). Mit ihrer Rezeption sprachtheoretischer Ansätze weisen die Texte auch zum Teil explizit auf die Frage hin. Das Interesse der folgenden Kapitel liegt primär im Herausarbeiten der impliziten Autorschaftsfiguren, das heisst der rhetorischen Figuren, die gerade die Umformung und den Verzicht auf die Konzepte gestalten. Musils Tonka greift den Topos von Zeugung und Geburt auf, transformiert ihn jedoch so, dass er nicht als Geburt des Autors aufgeht, sondern gerade die Konzeptualisierung und deren Lektüre problematisiert. Die drei Texte von Ingeborg Bachmann, die Erzählung Das dreissigste Jahr, die Büchnerpreis-Rede Ein Ort für Zufälle und die Franza-Fragmente, gestalten die Frage der Autorschaft auf je verschiedene Weise. Die Erzählung greift Motive der Autorschaftskonzepte auf, die explizit in die Wiedergeburt einer männlichen Autorfigur münden, und realisiert damit ein traditionelles Verständnis von Autorschaft. Am radikalsten unter den besprochenen Texten von Ingeborg Bachmann setzt Ein Ort für Zufälle die Abwesenheit von Autorschaftskonzepten oder einer Figur des Autors, gleichzeitig auch einer Lektüreanweisung, in Szene. Mit diesem Text antwortete Bachmann auf die Ehrung, die ihr als Autorin mit dem Büchnerpreis zuteil wurde. Damit liegt ein Text vor, der das Problem der Funktion Autorschaft mit der Funktion von Kunst verknüpft und konsequent realisiert. Dagegen lässt in den Franza-Fragmenten die Suche nach einer Verortung der Stimme, nach der Mitteilbarkeit und nach der Instanz, welche die Stimme hört, wieder eine Autorfigur zumindest als Sehnsuchtsfigur entstehen. Friederike Mayröckers Prosa greift die Frage explizit auf, diskursiviert sie jedoch nicht, lässt sie auch nicht als Motiv an Konsistenz gewinnen, sondern überschreitet jede Konzeptualität von Autorschaft mit der Verweigerung einer Verortung der Stimmen ihrer Texte. Im Vorfeld der drei Kapitel soll zuerst ein Blick auf Rousseau, Goethe und Nietzsche zum einen die Fragestellung präzisieren, zum anderen zeigen, dass die Frage der Legitimation von Autorschaft nicht ein Problem ist, das sich erst als Bruch im Ubergang zum 20. Jh. manifestiert, sondern dass auch Texte wie die Confessions oder Dichtung und Wahrheit, die zu Modellen der Autobiographie wurden, gerade diesen Diskurs problematisieren.
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2. Fallbeispiele: Rousseau - G o e t h e - N i e t z s c h e
„ Q u i ne voit que j'ai pris une route par laquelle, sans cesse et sans travail, j'irai autant qu'il y aura d'encre et de papier au monde?"49
Montaigne
Für autobiographische Texte scheint die Regel zu gelten, dass, auch wenn Wahrheit und Dichtung nahe beieinander liegen, das Verhältnis von Autorschaft und Werk von vornherein geklärt ist. Dass dem nicht so ist zeigen die Confessions, Dichtung und Wahrheit und später auch Ecce homo, wo explizit das Konzept von Autorschaft als Regelung des Schreibens befragt wird. Rousseaus Anfang der Confessions führt die Fiktionalisierung des Selbst vor. Einer seiner kurzen theatralischen Texte, Pygmalion: Scene lyrique, inszeniert auf überraschend deutliche Weise das Problem dieser Konstellation als Ordnungsverhältnis. Goethe spitzt diese Fiktionalisierung am Anfang von Dichtung und Wahrheit zu, indem er eine Figur einführt, die das Problem explizit aufgreift und damit diskursiviert. Nietzsches Ecce homo radikalisiert die Frage und löst die Figuren des Selbst auf. Die Polarität von Vorzeitigkeit und Nachtäglichkeit wird zugunsten einer rhetorischen Figuralität, der Maske, aufgegeben. An Stelle von Autorschaftskonzepten, des fingierten Selbst, tritt die (rhetorische) Figur der Maske. Die Maske spielt schon bei Rousseau eine Rolle. Auf den ersten Blick nicht als Spiel der Selbstdarstellung wie bei Nietzsche, sondern als Kritik der Verstellung. Die Sehnsucht nach dem Sein statt des Scheins macht Rousseaus Gesellschaftskritik zu einer Kritik an den Masken.50
Rousseau „Intus, et in cute". Mit diesem Vorsatz verspricht Rousseaus Autobiographie auf den Schein der Maske zu verzichten. Die Wahrheit des Selbst soll als nackte Wahrheit gezeigt werden, ein Unterfangen, das sich als schwierig entlarven wird. Rousseau, der den Mythos authentischer Selbstbeschreibung verkörpert, versichert in den Confessions und in den Promenades immer wieder seine Bemühung um Wahrhaftigkeit. Mit dem Epigramm vor dem Beginn des livre premier der Confessions, „Intus, et in cute", verortet er seinen Text in
49 Montaigne, Essais 3, I X , Paris 1972, S. 201. 50 Rousseau, Emile ou De l'education,
Oeuvres completes, t. IV, livre IV, S. 525: „mais
puisque le masque n'est pas l'homme, et qu'il ne faut pas que son vernis les seduise [les jeunes gens, N . A . ] , en leur peignant les hommes peignez-les leur tels qu'ils sont;"
Rousseau - Goethe - Nietzsche
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ein metaphorisches Feld, welches für die autobiographische Literatur massgebend geworden ist und die Garantie für die angestrebte Wahrhaftigkeit bildet: das Herz, die Seele, das, was „in cute", unter der Haut, liegt. Ausserdem wird als zusätzliche Instanz das Jüngste Gericht beigezogen, vor dem Rechenschaft über das Geschriebene abgelegt wird. „J'ai devoile mon coeur tel que tu I'as vu toi-meme ... Que chaqu'un decouvre ä son tour son coeur aux pieds de ton trone avec la meme sincerite" 51 .
Die Wahrheit ist in der Metapher Herz als ein dem Körper Innewohnendes gefasst, das in der Dialektik von Enthüllen und Bedecken hervorscheint. Die Haut ist die Grenze, die das Innere dem Blick entzieht. Die Herzmetaphorik situiert sich in einer Rhetorik des Blickes - oder der Lektüre: Diese führt zum bekannten Satz, der die Absicht des Schreibers der Confessions formuliert, sich selbst zum Gegenstand der Lektüre zu machen: „Je veux que tout le monde lise dans mon coeur."52 Wie ein Buch, oder als das Buch, öffnet er sein Herz der Lektüre. Die Lesbarkeit des Herzens ist mit der Durchdringung des Blickes, mit der Transparenz des Gegenstandes verbunden. „In cute" zu schauen, setzt das Misstrauen in die Nacktheit des Körpers voraus: seine Nacktheit ist als eine bloß scheinbare zu enthüllen. Mit dieser Dialektik des Verbergens und Enthüllens wird nur scheinbar eine Substantialisierung der Wahrheit geschaffen, die mit dem Blick auf die Wesenhaftigkeit des Subjekts greifbar werden soll. „Je voudrais pouvoir en quelque fa?on rendre mon äme transparente, lecteur, et pour cela je cherche ä la lui montrer
aux yeux du
sous tous les points
de vue, ä
Γeclairer par tous les jours, ä faire en sorte qu'il ne s'y passe pas un mouvement qu'il n'aperfoive,
afin qu'il puisse juger par lui-meme du principe qui les pro-
duit."(Herv.N.A.)"
Die Rhetorik des Blickes situiert sich hier im aufklärerischen Diskurs der Lumieres, der die Durchsichtigkeit der Seele aufgrund einer gründlichen Ausleuchtung gewährt, einer Gründlichkeit, welche die Transparenz der Seele bis zu ihrer Nicht-Sichtbarkeit inszeniert.54 Die Funktion der autobiographischen Schrift, zu „zeigen", das Herz an den Tag zu legen, bindet die Lektüre 51 Rousseau, Confessions I, S. 34. 52 Rousseau, Correspondance generale, DP, X X , S.46. Siehe dazu Starobinsky 1971, S. 219. 53 Rousseau, Confessions I, IV, S. 230. 54 Die Seele kann sich als transparent erst durch den Akt der Lektüre, durch die Zeugenschaft des lesenden Auges erweisen. Mit seinem Buch J.J. Rousseau, La transparence et l'obstacle, liest Starobinsky Rousseaus autobiographische Texte auf diese Aporie der Selbstdarstellung hin. 1971, S. 219ff.
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im Entstehungsprozess des Textes mit ein, denn das Gezeigte bedarf der Zeugenschaft der Lektüre. Die Öffentlichkeit ist im 18. Jh. auch anwesend als Zeuge der letzten Reinigung durch die Scheiterhaufen in ihrer Funktion als Garanten dieser Läuterung. 55 In Rousseaus Einleitung der Confessions wird das Jüngste Gericht in der Funktion des höchsten Zeugen aufgerufen: „Que la trompette du Jugement dernier sonne quand eile voudra, je viendrai, ce livre ä la main, me presenter devant le souverain juge. Je lui dirais hautement: ,Voilä ce que j'ai fait ...*"5'. Vertröstet werden die Lesenden nicht nur „jusqu'au temps oü ni vous ni moi nous vivrons plus". Die direkte Rede an den „Etre eternel" erfährt eine Verschiebung in eine Zukunft, die ausserhalb der menschlichen Zeit liegt. Das Jüngste Gericht, Vollendung der heilsgeschichtlichen Zeit, ist dezidiert ausserhalb dessen, was man als autobiographische Zeit betrachten könnte. Garantin für die Redlichkeit des Erzählers ist also nicht die direkte Anrufung Gottes als Zeugen, sondern verbürgt wird sie durch ein antizipiertes Selbstzitat: ,Folgendes werde ich sagen, wenn ...' Somit sehen sich die Lesenden auf die Rede des Textes, auf den Text selbst zurückgeworfen. 5 7 Die Insistenz, mit der hier auf der Lesbarkeit, der Einsicht und Interpretierbarkeit des Textes bestanden wird, steht in krasser Opposition zur
55 Manfred Schneider hat gezeigt, dass das Postulat der Selbsterkenntnis mit der Möglichkeit ihrer Veröffentlichung ein Mittel der öffentlichen Kontrolle wird. Die Kontrollfunktion der autobiographischen Texte besteht in der Biossstellung der Abweichungen vom Gesetz, von der Norm: „[...] dass die autobiographischen Texte vom 16. bis zum 20. Jh. Duplikate waren, das leidet keinen Zweifel. Doch waren es keine Kopien von Subjektivitäten und Innerlichkeiten, sondern Kopien von Vorschriften, die Innerlichkeiten (Herzensschriften) produzierten, um durch diese spirituellen Medien die Politik des Geistes zu sichern." Schneider, Die erkaltete Herzensschrift, 1986, S. 13. Ein für die Frage nach der Funktion Autorschaft wichtiger Aspekt von Schneiders Buch ist die Verlagerung autobiographischer Texte aus der Intimität individuell-autonomer Produktionsbedingungen in einen öffentlichen Kontext. 56 Rousseau, Confessions I, S. 33. 57 Nicht nur die Passagen, die ausdrücklich das Problem des Authentischen benennen, weisen auf die Sprache. Der erzählerischen Gestaltung wird grosses Gewicht beigemessen, wobei von „Komposition" die Rede ist: „Que n'ose-je lui raconter de meme toutes les petites anecdotes de cet heureux äge (...) Cinq ou six surtout ... Composons. (...) j'en veux une, une seule, pourvu qu'on me la laisse conter le plus longuement qu'il me sera possible, pour prolonger mon plaisir." Ders., Confessions, S. 52.
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Inszenierung dieses Selbst als Komplexität.58 Die autobiographische Schrift soll die Masken des Scheins abreissen und Einsicht in eine wahrhafte Identität gewähren. Stattdessen schiebt sich die Vermittlung als Maskierung dazwischen. Rousseau thematisiert das explizit. Das Erzählen realisiert sich nur über die Maskierung, „le deguisement": „Nul ne peut ecrire la vie d'un homme que lui-meme. Sa maniere d'etre interieure, sa veritable vie η'est connue que de lui. [...] Mais en l'ecrivant il la deguise".5' Die Darstellung des Selbst gelingt nicht in einer Enthüllung. Die Darstellung der Innerlichkeit, der Wendung nach aussen, verlangt die Verkleidung der Schrift. Sie ist beständig von der Inszenierung und bis zu einem gewissen Grad auch von der Reflexion dieser Inszenierung gedoppelt. Die Selbstdarstellung hat ausserdem eine konkrete Funktion: Sie soll dem Vergleich dienen. Der Leser soll durch die Lektüre ein anderes Selbst kennen lernen. Deshalb ist das Unterfangen Rousseaus, sich selbst wahrhaftig zu zeigen, seinem Anspruch nach ein Novum, weil erst durch sein Werk das Selbst des Lesers ein Comparandum erhält. In dieser Doppelung von Darstellung und Lektüre befindet sich das autobiographische Ich von Anfang an: „Je veux tächer que pour apprendre ä s'apprecier, on puisse avoir du moins une piece de comparaison; que chacun puisse connaitre soi et un autre, et cet autre, ce sera moi. Oui, moi, moi seul
In einer Rhetorik der Substitution, des Chiasmus und der Doppelung erweist sich hier das Selbst als Funktion des Anderen. Das Ich, das einsam seine Präsenz vergegenwärtigt, tut es in Bezug auf das Andere und imaginiert sich bereits als das Andere in Bezug auf ein anderes Ich: Je et un autre, et je serai l'autre. Rousseau nimmt hier Rimbauds Je est un autre vorweg." Rousseau stellt mit der Beziehung Leser - Ich bzw. Leser - Werk, denn das Ich liest sich, wie gezeigt wurde, im „deguisement" der Darstellung, eine Konstellation her, die, wie Paul de Man schreibt, „in gewissem Masse in allen Texten" auftrete: „Autobiographie ist damit keine Gattung oder Textsorte, sondern eine Lese- oder Verstehensfigur."62 Rousseau greift dieses Problem in einer kleinen Scene lyrique, Pygmalion, auf, wo gerade diese Figuralität der Texte als Problem von Lesbarkeit und Verstehen, von Distanz 58 Siehe dazu auch die Studie von Peggy Kamuf: Signature pieces: on the institution of authorship, Cornell U P 1988. Kamuf zeigt die Subversion der Unterschrift mit ihrer Vielstimmigkeit am Beispiel Rousseau. Die Signatur, als Bruchsück bzw. Vielstimmigkeit, erzeugt nicht die Verbürgung der Identität, die sie voraussetzt. (Hier S. 120) 59 Rousseau, Oeuvres completes, I, S. 1149. 60 Rousseau, Oeuvres completes, I, S. 1149. 61 Arthur Rimbaud, Brief an Paul Demeny vom 15. Mai 1871, (Euvres, 1987, S. 347. 62 Paul de Man- Autobiographie als Maskenspiel, in: Die Ideologie des Ästhetischen, hsg. von Christoph Menke, Frankfurt a. M. 1993, S. 134.
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und Nähe inszeniert wird. Der Pygmalion-Stoff stellt bereits bei Ovid die Konstellation Autor - Werk als Verhältnis von Nähe und Distanz dar, das traditionell im Geschlechterverhältnis figuriert wird.63 Mit diesem 1771 veröffentlichten Text wird in einem gewissen Sinne die Falle des autobiographischen Anspruchs aufgegriffen: Die intime Beziehung des Autors zu seinem Werk und die Gefahr darin unterzugehen. Der „Autor" wird Leser seines Werkes, das ihm fremd geworden ist und zugleich begehrlich erscheint. Der Autor liest in seinem Werk sich selbst ab wie auch die Differenz zu sich selbst.64 Das Zwiegespräch mit Ich und Ich, das in den Confessions beginnt, erhält in Rousseaus Pygmalion-Version eine Darstellung im Modus der sinnlich sichtbaren und tastbaren Kunstform als Skulpteur und Skulptur. In Rousseaus Scene lyrique formuliert Pygmalion seine Unfähigkeit angesichts seines perfekten Werkes, Galathee, weiterhin künstlerisch tätig zu sein, denn sein Werk übertreffe selbst die Natur.65 Damit enthebt das Kunstwerk sich seiner Aufgabe, der Mimesis als Nachahmung der Natur. Mit dieser Feststellung, der Natur damit eine Kopie gegenübergestellt zu haben ohnegleichen, das heisst ohne Original in der Natur, ein Wiederschein ohne Modell, will Pygmalion am Ende seines Monologs die Natur provozieren: Mit der Belebung der Galathee soll der Status der Natur wiederhergestellt werden, Natur soll wieder das Original der Kunst sein. Die Belebung der Galathee realisiert sich bei Rousseau über die Rede Pygmalions, die im Vergleich zu Ovids Darstellung eine zentrale Bedeutung erhält. Die rhetorische Figur der Prosopopoeie bezeichnet zum einen die Belebung als Verleihen von Gesicht, Name und Stimme.66 Keine Venus tritt auf, keine Gottheit wird ausserhalb der Anrede Pygmalions wahrnehmbar. Die Belebung soll sich zuerst dadurch realisieren, dass Pygmalion ihr sein Leben an-
63 Der Mythos hat eine Reihe von Bearbeitungen erfahren, deren komplexes Verhältnis zueinander je nach Entstehungszeit und Kontext diskutiert werden müsste. Dies leisten die Arbeiten von J. Hillis Miller, Versions of Pygmalion, 1990; der von Mathias Mayer und Gerhard Neumann 1997 herausgegebene Band Pygmalion: die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur und die 1998 erschienene Arbeit von Inka Mülder-Bach zum Pygmalionmythos als Allegorie des Darstellungsproblems im 18. Jh: Im Zeichen Pygmalions: das Modell der Statue und die Entdeckung der Darstellung im 18. Jh." 64 Siehe dazu Mülder-Bach: Autobiographie und Poesie, in: Mayer / Neumann: Pygmalion 1997, S. 282-283. 65 Bei Ovid heisst es: „Dass es nur Kunst war verdeckte die Kunst", Metamorphosen, X. Buch, Vers 255. 66 J. Hillis Miller liest die Metamorphosen Ovids als Darstellung der Materialisierung von Tropen. Sie zeigen die performative Kraft der Sprechakte bzw. zeigen die Konsequenz eines Lesefehlers, eines „errors of reading". (S. 11.) Den Pygmalion-Mythos versteht er als Allegorie von Schrift und Lektüre. Die Belebung der Galathee entspricht der Belebung des Buchstabens durch die Lektüre. J. Hillis Miller, Versions of Pygmalion. Siehe v.a. seine Einleitung „Pygmalion's Prosopopoeia".
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trägt. In der Betrachtung seines Werkes imaginiert der Künstler nun nicht eigentlich den Tausch der Identitäten, als vielmehr seine Selbstaufgabe im Werk. Diese Preisgabe im Werk wird aber verworfen, da damit nicht in erster Linie die eigene Identität, sondern das Begehren nach dem Anderen verloren ginge: „Si j'etois eile, je ne la verrois pas, je ne serois pas celui qui l'aime [...] Que je sois toujours un autre pour vouloir toujours etre eile [ . . . ] " "
Die Differenz bzw. Fremdheit zwischen dem Ich und dem Anderen muss für das Uberleben des Begehrens und damit für die Konstituierung des Selbst aufrechterhalten bleiben. Rousseau unternimmt als erster eine Umformung des Stoffes hinsichtlich der Rolle der Galathee. Mit der Belebung der Figur wird nicht einfach das Werk, die Maske oder Kopie, vom Werkmodus in den Modus der Natur, des Originals, transportiert. Dies würde die Grenzen zwischen Kunst und Natur wieder etablieren'8 und dies würde auch die Konstellation Autor - Werk durch den Eingriff der Götter ihrer Problematik entheben. Diese Grenze bleibt in Rousseaus Pygmalion-Fassung dagegen offen. Die Belebung Galathees wird von Pygmalion sprachlich evoziert und als rhetorische Figur der Prosopopoeie lesbar, bis Galathee plötzlich die Rede übernimmt. Sie bewegt sich und steigt von ihrem Sockel herab: „Galathee se touche et dit. Moi. [...] Galathee se touche encore. C'est moi. [ . . . ]
Galathee fait quelque pas et touche un marbre. Ce n'est plus moi.[...]" Galathee wendet sich zu Pygmalion, berührt ihn und seufzt: „Ah ! encore moi." 67 Rousseau, Pygmalion, Scene lyrique, OC, Bd. 2, S. 1228. Die Bestimmung der Figuralität des Selbst bei Rousseau, verbunden mit der Bedeutung von Stimme und Maske, hat eine Debatte in der Forschung ausgelöst, die um De Mans und Derridas Rousseau-Lektüren, aber auch darüber hinaus, geführt werden. De Man kritisiert die Rousseau-Rezeption als einseitig: Rousseaus Texte würden, obwohl oftmals ihre Vielstimmigkeit festgestellt würde, in ein traditionelles, klassisches Repräsentationsschema gezwungen. Siehe Paul de Man, Die Rhetorik der Blindheit, in: Die Ideologie des Ästhetischen, hsg. von Christoph Menke, 1993, S. 194ff. Zuletzt stellt Inka MülderBach Rousseaus Pygmalion in einen Vergleich mit Herders Theorie der Plastik. Rousseaus Pygmalion repräsentiert in Mülder-Bachs Lektüre einen traditionelleren Repräsentationsmodus im Gegensatz zum „Denken der Darstellung" Herders. (S. 96). 68 Diese Grenze ist anfangs der Szene durch den Schleier bezeichnet, der die Skulptur bedeckt.
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Diese Szene lässt sich als Vorführung von Selbstpräsenz lesen". Wo mündlich „ich" gesagt wird, bildet der Körper die Referenz der Stimme und ist Garant ihrer Identität und umgekehrt ist die Stimme Zeichen der Lebendigkeit des Körpers.70 Die rhetorische Figur der Prosopopoeie ist in doppelter Hinsicht wirksam, als Akt der Belebung der Galathee durch die Rede Pygmalions und in der Schlussszene als performativer Akt der Selbstbestimmung der Galathee. Sie etabliert mit dem Zeigen und Unterscheiden zwischen Ich und Nicht-Ich eine neue Konstellation von Autor und Figur. Der „marbre", die Skulpturen oder Kunstwerke um sie herum, bleiben getrennt im Bereich des nicht-Ich. „Ich" ist sie „selbst" und erstreckt sich auch auf Pygmalion. Mit der Spiegelung des Begehrens durch Galathee realisiert sich das Begehren, der Wunsch nach Selbstvergewisserung des Autors.71 Trotz dieses narzisstischen Befundes besteht doch in Rousseaus Adaptation des Stoffes eine gewichtige Differenz mit der Stimme Galathees. Das Werk, Galathee, weist deiktisch auf den Autor und benennt ihn „moi". Die autobiographische Schrift, das Werk, weist auf den Autor zurück und sagt: „moi". Dem Autor der Galathee kommt zwar nicht seine Identität durch die Kunstfigur abhanden, doch sie wird ihm „par eile" erst vermittelt oder lesbar.72 Das Werk nimmt den Status der Autorschaft ein. Mit seiner Scene lyrique unterbricht Rousseau die seinen Lesern in den Confessions und in den Promenades eingetrichterte Logik von Wahrhaftigkeit und Maske. Die Frage nach der Wahrhaftigkeit der künstlerischen Form orientiert sich mit dieser Neuformulierung des Mythos nicht mehr am Abbildcharakter der künstlerischen Form. Damit führt Rousseau doch eine 69 fimile Benveniste, Problemes la langue, S. 260f.
de linguistique
generale,
1966, Sektion V, L'homme
dans
70 Benveniste macht allerdings auf die Problematisierung der Identität der mündlichen Rede aufmerksam, wenn sie sich im Kontext des Zitats, des Theaters, wie hier der Fall, wie auch medialer Vermittlung realisiert. Die Passage mit der Ich-Sprechung Galathees ist auch in dieser Hinsicht interessant, da diese Inszenierung nicht nur eine theatralische ist (uraufgeführt 1770), sondern sich auch im Modus des Zitats findet (aus Condillacs Tratte des sensations). Siehe dazu Inka Mülder-Bach, 1998, S. 95. 71 Die Pygmalion-Szene interpretiert Starobinsky als Selbstbestätigung des Künstlers durch eine Einheit des Liebesobjekts mit dem Ich. Der Sprechakt der Galathee erhält dabei wenig Beachtung: „Le travail createur n'a eu lieu que pour etre repris dans 1'unite d'un moi aimant." La transparence et l'obstacle, 1971, S. 92. Auf die Nähe der Selbstbespiegelung Pygmalions zum Narziss-Mythos verweist auch J. Hillis Miller. Die Lektüre des Pygmalion-Mythos als Bestätigung des Begehrens des Autors rückt den Aspekt der Stimmgewinnung der Galathee an den Rand. 72 Ralf Konersmann verweist in seinem Kapitel zu Rousseau mit Recht auf die Paradoxie, die dessen Werk durchzieht: die Rhetorik des antirhetorischen Gestus' und die Theatralik der Antitheatralik. Siehe dazu Der Schleier des Timanthes, 1994, S. 198. Mit Pygmalion stellt Rousseau dieses Paradox meiner Meinung nach nicht nur auf, sondern zeigt mit der Prosopopoeie der Galathee gerade das Scheitern der Antirhetorik auf.
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zeichentheoretische Reflexion ein, welche die Rollen in der Konstellation Autor, Werk und Rezeption neu zur Disposition stellt. Die Form bzw. das Kunstwerk stellt Anspruch an Bedeutung, die der Autor und mit ihm das Publikum von ihm hört bzw. abliest. Goethe äussert sich in Dichtung und Wahrheit knapp zu Rousseaus Pygmalion·. „Wir sehen einen Künstler, der das Vollkommenste geleistet hat, und doch nicht Befriedigung darin findet, seine Idee ausser sich, kunstgemäss dargestellt und ihr ein höheres Leben verliehen zu haben;"73 Die Bemühung Rousseaus um Wahrhaftigkeit kippt nach Goethes Auffassung in einen Uberschuss an Wirklichem: „Ein falsches Bestreben aber ist, den Schein so lange zu verwirklichen, bis endlich nur ein gemeines Wirkliche [sie] übrig bleibt." Denn, die „höchste Aufgabe einer jeden Kunst ist, durch den Schein die Täuschung einer höheren Wirklichkeit zu geben."74
Goethe Das Wahrhaftigkeitsgebot, das die Confession, die Beichte, wie sie Rousseau ablegen will, verlangt, wird auch explizit in Dichtung und Wahrheit zum Thema. Goethe schreibt: „Alles, was daher von mir bekannt geworden, sind nur Bruchstücke einer grossen Konfession, welche vollständig zu machen dieses Büchlein ein gewagter Versuch ist."75
Die Vollständigkeit der Konfession ist benanntes Ziel der Autobiographie, als Ergänzung des bisher aus den Werken Erfahrenen. Auch Goethe thematisiert mit dem Titel seiner Autobiographie das Problem von Authentizität, Leben, Nachträglichkeit und Schrift. Er erklärt seinen Titel in einem Brief an König Ludwig I. von Bayern vom 12.1.1830. Man komme gewissermassen immer in den Fall, „das dichterische Vermögen auszuüben, so ist es klar, dass man mehr die Resultate und, wie wir uns das Vergangene jetzt denken, als die Einzelheiten, wie sie sich damals ereigneten, aufstellen und
73 Goethe, Dichtung und Wahrheit, III. Teil, II. Buch, S. 489. 74 Goethe, Dichtung und Wahrheit, III. Teil, II. Buch, S. 488. Doch schliesst hier gleich die Frage an: spricht in diesem Zitat Goethe über Rousseau oder „Goethe" über „Rousseau" ? 75 Goethe, Dichtung und Wahrheit II. Teil, 7. Buch, S. 283. Den Bezug des Begriffs Konfession zur Beichte untersucht Fotis Jannidis, Das Individuum und sein Jahrhundert, 1996, S. 184f. Bei Goethe sieht er damit ein Mittel der „Selbstverständigung des Menschen", die Autobiographie wäre demnach eine „poetische Beichte".
Einleitung
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hervorheben werde ..."/' Dabei wird nicht nur deutlich, dass die dichterische Einbildungskraft immer Voraussetzung der Autobiographie ist, sondern auch, dass über das Gelingen des Unterfangens der Leser urteilen muss nämlich, „ob das Vorgetragene kongruent sei? Ob man daraus den Begriff stufenweiser Ausbildung einer, durch ihre Arbeiten schon bekannter Persönlichkeit sich zu bilden vermöge." Die Nachvollziehbarkeit der Ausbildung der Persönlichkeit ist das Ziel der Autobiographie. Die Kongruenz, die damit in die bruchstückhafte Selbstdarstellung gebracht werden soll, wird für die Augen der Lektüre geschaffen bzw. von der Lektüre gebildet.77 Der „schon bekannten Persönlichkeit" wird eine Erzählung nachgeliefert, mit Hilfe derer die Leserin und der Leser sich einen Begriff ihrer Entwicklung bilden sollen. Die Rolle, die der Lektüre zugedacht wird, ist keineswegs von der „Dichtung" ausgeschlossen, sondern wird durchaus als produktiv aufgefasst. Der Problematik der autobiographischen Anlage gibt Goethe schon zu Beginn des Textes Raum. Er begründet seinen Entschluss, eine Autobiographie zu verfassen, indem er „als Vorwort" den „Brief eines Freundes" abdruckt, der für „ein solches, immer bedenkliches Unternehmen" den Vorwand zu liefern hat. Der Freund bittet ihn um eine Selbstbeschreibung angesichts der zwölfbändigen Ausgabe, mit dem Zweck einer „Nachhülfe": nämlich, dass die „Dichtwerke in einer chronologischen Folge" aufgeführt und ihre Entstehungsbedingungen dazu erläutert würden: „[...] sowohl die Lebens- und Gemütszustände, die den Stoff dazu hergegeben, als auch die Beispiele, welche auf Sie gewirkt, nicht weniger die theoretischen Grundsätze, denen Sie gefolgt [...]".[AS I, 8]
Der Brief des „Freundes", Stellvertreter der Leserinnen und Leser, formuliert die Bedingungen der Autobiographie so, wie sie eine hermeneutische Lektüre erwartet: Die Autobiographie soll Aufklärung bringen über den Autor, um damit in der Lage zu sein, das Werk über den Autor zu erschliessen. Diese Erwartung wird mit Sainte-Beuve78 explizit zum Interesse der Geisteswissenschaften, die mit der Autobiographie ein Feld zwischen „Mensch und Werk" abstecken. Dieses Lektürekonzept legt Goethe im Anfang von Dichtung und Wahrheit frei. Er konstruiert eine naive, der Autor76 Zitiert in AS I, Anmerkungen zu Titel und Vorwort, S. 640. 77 Nach dem Paradigmenwechsel in der Interpretation der Autobiographie in den 60er Jahren wird Dichtung und Wahrheit statt als Darstellung eines souveränen Autor-Ichs als Versuch gelesen, eine Identität über die Kongruenz des Erzählens herzustellen. Siehe dazu den kurzen Überblick zur Forschung bei Martina Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 2000, S. 161-168. 78 Darauf macht Kittler aufmerksam: „Wie man abschafft, wovon man spricht", 1980, S. 155. Vgl. auch Maurice Couturier: La Figure de l'auteur, 1995, S. 19.
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figur ergebene Leserfigur, welche die Rahmenbedingungen der Autobiographie skizziert und damit die Autorfigur, „ich", vor die schwierige Aufgabe stellt, die Wahrheit der Dichtung zu enthüllen. Die Konstruktion des naiven Lesers in der Figur des „Freundes" erlaubt, die Autobiographie als freundliches Entgegenkommen des Autors darzustellen und gleichzeitig die „Realität" des Autors, nämlich die Schwierigkeiten des Unterfangens, als Bedenken mitzuformulieren. Drei Dinge sollen hier hervorgehoben werden, die mit der Inszenierung dieses Anfangs deutlich werden: Erstens liefert das Publikum, Adressat der Autobiographie, mit dieser Leserfigur selbst die Begründung des Unterfangens. Zweitens lässt sich mit dem Brief das Problem der Authentizität aufgreifen: Der Brief des „Freundes" stellt als Dokument gleich zu Beginn Anspruch auf Authentizität, situiert sich also im Bereich „Mensch" und schafft damit von Anfang an die Ebene „Wahrheit" als Bezugspunkt des darauf Folgenden. Drittens stellt sich der Autor dar als bestandener Autor: durch die Erwartung seiner Leserinnen und Leser, die angesichts des publizierten Werks des Autors diesen respektvoll um noch mehr bittet, wird sogleich der Typus bestandener Autor gesetzt. Gegen dieses „so freundlich geäusserte Verlangen" kann nun in der kurzen Fortsetzung des Vorworts der Autor seine Bedenken zu einem solchen Auftrag formulieren, nämlich als Problematik von „Dichtung" und „Wahrheit". Die naive Leserfigur skizziert die Rahmenbedingungen des traditionellen Autorschaftskonzepts, während die Autorfigur theoretisch versierter ihre Problematik reflektiert und Vorbehalte dazu formulieren kann: die Authentizität, die der empirische Autor konstruierte, zieht die Autorfigur in Zweifel.7' An einer anderen Stelle bezieht sich Goethe nochmals auf den Wunsch seiner Leserschaft, „in einer Folge, sowohl Arbeiten als Lebensereignisse" zu erhalten. Dazu schreibt er: „Schon im Jahr 1819 als ich die Inhaltsfolge meiner sämtlichen Schriften summarisch vorlegen wollte, sah ich mich zu tiefer eingreifender Betrachtung gedrungen und ich bearbeitete einen zwar lakonischen doch immer hinreichenden Entwurf meiner Lebensereignisse und der daraus hervorgegangenen schriftstellerischen Arbeiten bis auf gedachtes Jahr; sonderte sodann was sich auf Autorschaft bezieht, und so entstand das nackte chronologische Verzeichnis am Ende des zwanzigsten Bandes." [ASII, 535]
79 Goethe erklärt seinen Titel in einem Brief an Ludwig I. von Bayern vom 12.1.1830 und verweist beim Verfassen einer Autobiographie auf die Bedeutung der „Rückerinnerung und also die Einbildungskraft", die dazu führe, „dass man also immer in den Fall kommt gewissermaßen das dichterische Vermögen auszuüben". [AS I, Anm. S. 640]
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Die Arbeiten, die sich „auf Autorschaft beziehen", sind die publizierten Werke. Uber diese publizierten Werke konstituiert sich jene Autorschaft, auf die auch der Leser rekurriert, der noch mehr wissen möchte. Das, was noch geschrieben werden soll, und das hinter das Publizierte zurück Gehende, beschäftigen den Autor angesichts der inzwischen 20 Bände starken Ausgabe: Es stellt sich ihm das Problem des Überblicks über sein Werk, namentlich über die Arbeiten, die nicht publiziert wurden oder als Projekte nicht vollendet und fallengelassen wurden: „Das Übel freilich, das daher entstand, war, dass bedeutende Vorsätze nicht einmal angetreten, manch löbliches Unternehmen im Stocken gelassen wurde. [...] Übersah ich nun öfters die grosse Masse, die vor mir lag, gewahrte ich das Gedruckte, teils geordnet, teils ungeordnet, teils geschlossen, teils Abschluss erwartend, betrachtete ich wie es unmöglich sei, in späteren Jahren alle die Fäden wieder aufzunehmen, die man in früherer Zeit hatte fallen lassen, oder wohl gar solche wieder anzuknüpfen, von denen das Ende verschwunden war, so fühlte ich mich in wehmütige Verworrenheit versetzt, aus der ich mich [...] auf eine durchgreifende Weise zu retten unternahm."[AS II, 533]
Diese Rettung sieht ein „Archiv des Dichters und Schriftstellers" vor, so der Titel des kurzen Textes, und zwar als „reinliche ordnungsgemässe Zusammenstellung aller Papiere, besonders solcher, die sich auf mein schriftstellerisches Leben beziehen, wobei nichts vernachlässigt noch unwürdig geachtet werden sollte."
Das Projekt, das für Goethe von Kräuter besorgt wird, soll der Arbeit entsprechen, die Goethe an Lessings Bruder bewundert, der „seine Anhänglichkeit an den Abgeschiedenen nicht deutlicher aussprechen konnte, [...] als dass er die hinterlassenen Werke, Schriften, auch kleinere Erzeugnisse und was sonst des Andenken des einzigen Mannes vollständig zu erhalten geschickt war, unermüdlich sammelte und zum Druck beförderte." [AS 11,532]
Die Äusserungen Goethes zum Archivproblem stellen die Beziehung des bestandenen Autors zum potentiellen Autor heraus. Die zwanzig Bände sind Grund zur Beunruhigung für denjenigen, der weiss, was dabei alles unterging und noch geschaffen werden könnte. Das letzte Wort, auch wenn das Archiv auch für jene bestimmt ist, die sich „meines Nachlasses annehmen möchten", ist noch lange nicht gesagt und braucht das letzte Buch, das die Summe zieht, die Fäden sichtbar macht, Kongruenz herstellt: die Berücksichtigung auch der „kleineren Erzeugnisse", da nichts „unwürdig geachtet werden" soll, erfolgt mit dem Wunsch auch daraus Autorschaft herzuleiten. Es ist aus der Verwirrnis heraus der Wunsch nach einer umfassenden Autor-
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Rousseau - Goethe - Nietzsche
schaft, die aber, mit dem Verweis auf den Nachlass erst posthum erlangt werden kann. Diese umfassende Autorschaft wäre eine, aus der sich ein Uberblick nicht nur für das zeitgenössische Publikum, sondern auch für die Konstituierung der „bekannten Persönlichkeit" sichern liesse. Diese „bekannte Persönlichkeit" ist die öffentliche Autorfigur, die einen bestimmten Status von Autorschaft verkörpert und inszeniert: den Status des klassischen Autors. Klassisch insofern als diese Literatur mit der Rückwendung zur Antike den Anspruch formuliert, für ihre Zeit und über diese Zeit hinaus als massgebend betrachtet zu werden. Die Klassik etabliert sich selbst als klassisch und begründet damit ein Autorschaftsverständnis, welches seine Legitimation aus seinem Anspruch an Universalität bezieht: Der Autor klassischer Werke vermittelt einen Universalwert und hat damit eine referenzbildende Funktion.80 Er verbürgt einen säkularisierten Text, der aber seine Aura in seiner Qualität als klassischer Text hat.81 Goethes Autobiographie realisiert ein Paradox, insofern sie die Fingierung des Selbst mittels der Leserfigur thematisiert, und andererseits sich als Erfahrungsort überindividueller, historischer Ereignisse inszeniert, als Raum für den klassischen Autor.82 Sowohl Rousseaus Confessions als auch Goethes Dichtung und Wahrheit werden als Modelle des autobiographischen Paktes rezipiert, der die Identität von Verfasser (Signatur) und Ich garantieren soll.83 Dieser autobiographische Pakt bildet in der Autobiographie-Diskussion ein Modell, von dem jeweils die Abweichung der Texte beschrieben werden kann. Goethes Fingieren einer Leserfigur, die das traditionelle Autorschaftskonzept einfordert, konstruiert eine Konstellation, die ihm erlaubt, sich vom autobiographischen Pakt zu distanzieren. Der Modellcharakter von Goethes Autobiographie, auch wenn sich zeigt, dass sie, wie Rousseaus Confessions, Modell ist für etwas, das sie selber überholt, hat weitere Autobiographien inspiriert,
80 Clemens Pornschlegel entwickelt in seinem Buch Der literarische Souverän die interessante These, dass Goethe mit seinem Werk den in Deutschland fehlenden politischen Nationenbegriff durch den einer Dichter- und Denkernation ersetze. (S. 168) Pornschlegels These einer Remythisierung des Autorschaftsbegriffs stellt die Problematik der „deutschen Kunst" heraus, deren Identität sich einerseits auf die deutsche Sprache, andererseits auf ein Staatsgefüge beziehen möchte. Mangels dieses Staatsgefüges überspringt Goethe als Meisterfigur den nicht existierenden Staat indem er eine Identität der deutschen Dichtung postuliert. Pornschlegel zeigt, dass anfangs dieses Jahrhunderts die konservativen Impulse sich mit dieser Problematik auseinandersetzten und in deren Zuge einen Autorschaftskult reinszenierten, der Ende 19. Jh. mit Nietzsche - zwar auf intrikate Weise - aber doch aufgehoben war. 81 Die zeitgenössische Rezeption des 18. Jh. rezipierte ihre eigenen Texte bereits als klassische: Siehe dazu Walter Müller-Seidel, Die Geschichtlichkeit der deutschen Klassik, Stuttgart 1984. 82 Siehe dazu Martina Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 83 Philippe Lejeune, Lepacte
autobiographique,
1975.
S. 168.
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Einleitung
die zum Teil explizit sowohl das Moment der Authentizität als auch das der überindividuellen Bedeutung ironisieren.84 Ein Blick auf Nietzsches Vorreden zu seinen Texten und auf Ecce homo soll als drittes Fallbeispiel dieser Einleitung eine Differenz in der Gestaltung der Autorschaftsfiguren verdeutlichen. Nietzsche: Ecce homo - Ecce auctor „Mund halten. - D e r A u t o r hat den M u n d zu halten, w e n n sein W e r k den Mund aufthut."
[ K S A 2, M A M II, 436],
Der 140. Aphorismus in Menschliches, Allzumenschliches scheint klare Verhältnisse zu schaffen und die Arbeitsteilung zwischen Werk und Autor deutlich zu regeln: der Autor hat nichts mehr zu sagen, sobald das Werk den „Mund aufthut", also Mündigkeit des Werkes gegenüber dem Autor, der keine Autorität über das Werk in Anspruch nehmen darf? Eine Stimme haben beide, Werk und Autor. Wer spricht in diesem Aphorismus? Ist es die Rede des Werkes, die den Autor autoritär auf seinen Platz verweist, oder ist es die Stimme des Autors, die für Selbstbescheidung plädiert? Die Darstellung von Autorschaft im Werk erweist sich als Problem der Autorität zwischen verschiedenen Stimmen, die sich zu übertönen versuchen. Die Frage nach dem Verhältnis von Autorschaft und Werk, in Nietzsches Texten immer wieder präsent, stellt sich explizit im letzen Werk, Ecce homo\ der Autor widersetzt sich seinem Aphorismus und tut genau das Gegenteil, spricht über sich und sein Werk. Er scheint sich in einem ersten Teil als „Mensch", „homo", zu präsetieren, um in einem zweiten Schritt seine Werke in einer Relektüre vorzustellen.86 Nietzsche bezieht sich auf das Zusammenspiel von „Autor" und „Werk", wie es das Autorschaftskonzept der fiktiven Leserfigur in Goethes Dichtung und Wahrheit voraussetzt. Die Lektüre der eigenen Werke verspricht, dass die Werke erläutert werden und der Autor den hermeneutischen Schlüssel zu seinem Werk liefert. Was heisst
84 So zum Beispiel Jean Pauls Selberlebensbeschreibung. 85 Nietzsches Texte sind für das Problem Autorschaft unumgänglich und eine eigens dem Thema gewidmete Studie wäre wünschenswert. Die folgenden Seiten verstehen sich als Auffächerung der Fragestellung, als Aufzeigen der verschiedenen Paradigmen, an denen sich die Frage nach der Autorschaft verdeutlicht. Neuester Beitrag dazu ist der Aufsatz von Martin Stingelin im kürzlich von Heinrich von Detering herausgegebenen Band des DFG-Symposions, Autorschaft, 2002. 86 Die Lektüre eigener Werke erfolgt nicht erst mit Ecce Homo, sondern bereits früher, als Voraussetzung der Vorreden, die den verschiedenen Auflagen der Texte vorangestellt werden. Das heisst, dass sich der Autor sehr wohl schon vorher zu seinem Werk äussert und sich bereits dort als Autor-Leser fingiert.
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Rousseau - Goethe - Nietzsche
das bei Texten, die kontinuierlich das „Räthsel" beschwören, dem Unfertigen, Fragmentarischen den Mund reden, die eigene Arbeitsweise als undurchsichtig und widerständig bezeichnen?87 An ein paar ausgewählten Passagen möchte ich thesenhaft zeigen, wie das Verhältnis Autorschaft und Werk, aber auch Werk und Lektüre, - denn die Szene „Autor liest sein eigenes Werk", schliesst die Frage nach dem „Wie lesen" mit ein - bei Nietzsche dargestellt wird.88 In den Passagen bezieht sich Nietzsche, wie vor ihm Rousseau und Goethe, auf bestehende Autorschaftskonzepte, von denen er sich abgrenzt. Dazu gehören der Inspirationsmythos der Genieästhetik und der Originalitätsgedanke. Damit verbunden ist das Bild der Geburt als Autorschaftsmetapher. Das Problem der Autorschaft im Text erfährt gleichzeitig mit der Kritik ihrer Konzeptualisierung eine Darstellung in einer Figur im rhetorischen Sinne, der Maske. Der Anspruch ist nicht, die Maske herunterzureissen, wie es Rousseau wünscht, sondern in einem Spiel des Versteckens, Tauschens und Vervielfachens, den Trug des Ich-Konzeptes aufzuzeigen. Statt eines Konzeptes wird die leere Stelle hinter der Maske, bzw. die Maske hinter der Maske inszeniert.89 Kritik: Geburt des Genies Nietzsches Auseinandersetzung mit Autorschaftskonzepten erfährt eine Umwandlung von der Beschwörung des Geniegedankens in der Geburt der Tragödie und in den Unzeitgemässen Betrachtungen 0 zu seiner Demontage in den späteren Schriften." Nietzsche beschreibt den Mythos der Inspiration 87 „Aber ihr versteht mich nicht?" D e m Unverständnis der Leserschaft entspricht das dem Autor eigene „Unverständliche!], Verborgene^, RäthselhafteQ", die zu den Bedingungen der Morgenröthe
erklärt werden.
88 Die Begleitung des Lesers auf dem Weg des Autors ist in der Morgenröthe
in Frage
gestellt: „wie? geht er überhaupt? hat er noch - einen W e g ? " D e r zweifelnde Leser, der nach dem unergründlichen Weg des Autors sucht, fragt damit nach seiner Methode. 89 Zur Maske bei Nietzsche siehe: Ralf Konersmann, Der Schleier des Thimantes,
1994,
im Kapitel: „Die Rehabilitation der Maske", S. 158ff. und Karl Heinz Bohrer, Plötzlichkeit, Frankfurt a. M. 1981, S. 137, siehe Anm. 91. 90 Wobei sich die Problematik von Wagners Verführungscharakters in Wagner in Bayreuth im Verlauf der Schrift abzeichnet. Siehe dazu den Kommentar von Giorgio C o l li in der KSA Bd.I, S. 908ff. 91 Jochen Schmidt widmet Nietzsche ein Kapitel in seiner Geschichte Gedankens
des
Genie-
und stellt vor allem Nietzsches Genie-Begriff in den Frühschriften vor,
dem später radikal widersprochen wird. In der Lektüre der Analyse Schmidts wird deutlich, dass die Bezugnahme auf Nietzsche für die Frage nach dem Geniegedanken oder die damit verwandte Frage nach der Darstellung von Autorschaft von der Rezeptionsgeschichte ausgehen muss. Schmidt will Nietzsches Denken in seinen historischen Kontext setzen. Die Bezüge zum Geniekult, zu Nihilismus und Rassentheorien,
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Einleitung
des Dichters in Menschliches, Allzumenschliches als A k t der (Selbst-)Täuschung.' 2 Der Täuschung unterliege nicht nur die Leserschaft, sondern auch der Dichter selbst, der vergesse, w o er alle seine geistige Weisheit her habe, „von Vater und Mutter, von Lehrern und Büchern aller Art, von der Strasse und namentlich von den Priestern; ihn täuscht seine eigene Kunst und er glaubt wirklich, in naiver Zeit, dass e i n G o t t durch ihn rede, dass er im Zustande einer religiösen Erleuchtung schaffe - ; während er eben nur sagt, was er gelernt hat, Volks-Weisheit und Volksthorheit miteinander."[KSA2, 455] Nietzsche wendet sich in Menschliches, Allzumenschliches gegen Schopenhauers Geniebegriff und somit gegen den Mythos der Plötzlichkeit und der Unmittelbarkeit [KSA2, 1 5 4 ] " und stellt diesem „Aberglaube v o m Genie" [KSA2,154] die Übung entgegen [Morgenröthe, KSA3, 34]. F ü r die Beharrlichkeit des Geniekults als Autorschaftskonzept gibt Nietzsche die folgende Erklärung: „Das Vollkommene soll nicht geworden sein." [KSA2, 141] Das Kunstwerk, eine „Nachwirkung einer uralten my-
zu antidemokratischem Aristokratentum rekonstruieren Nietzsche als Ideologen des Faschismus, als Vertreter der „Gegengeschichtlichen Revolte und Kulturkritik im Namen des Genies", wie Schmidts Uberschrift lautet. Es kann hier nicht darum gehen, dies als Missinterpretation und Vereinnahmung zu deuten und die Stellen bei Nietzsche dagegenzuhalten, in denen er dem widerspricht. Um seine Rolle in der Geschichte der Autorschaftsdarstellung im 20. Jh. zu diskutieren, ist die Rezeption seiner Schriften umfassender zu berücksichtigen. Jochen Schmidts Analyse vernachlässigt Nietzsches sprachphilosophischen Ansätze, die für die in eine andere Richtung tendierende Rezeption gerade in Bezug auf Autorschaft (und damit auch auf den Geniebegriff) zentral sind. Nicht nur Thomas Mann, Gottfried Benn, Martin Heidegger setzten sich mit Nietzsches Texten auseinander, sondern wichtige Spuren seiner Texte finden sich bekanntlich auch bei Kafka, Brecht, Bachmann, Wittgenstein. Diese Rezeption interessiert sich für Nietzsches erkenntniskritischen und sprachphilosophischen Überlegungen, die gerade die Essentialisierung, die Schmidt als Fazit aus seiner Lektüre zieht, als Setzung kritisieren. Siehe zur Veränderung des Geniebegriffs bei Nietzsche das Kapitel in Karl Heinz Bohrer, Plötzlichkeit, 1981, S. 137: Borer beschreibt die Entwicklung der Frühschriften zu den späteren Texten als Veränderung, „des archaischen .Scheins' zur ,Maske' [als] die Wendung zum historischen Bewusstsein". 92 Wo „vox dei" unterstellt wird, spreche im Grunde die „vox populi". [KSA2,455] 93 Nietzsche spottet über Schopenhauers Begriff des „klaren Weltauges", das dem Genie Seherfähigkeiten verleihe, wenn er dieses als „Wunder-Augenglas" [KSA2, 152] bezeichnet, also als Brille, die die Sicht wundersam verstelle. Sie verstelle nicht nur die Sicht, sondern sei ein Mittel, mit dem laut dem „Aberglaubefn] vom Genie" der Dichter „gleichsam durch ein Loch im Mantel der Erscheinung" [KSA2, 154] sehen könne. Siehe zum Verhältnis Nietzsche - Schopenhauer den von Wolfgang Schirmacher hsg. Band Schopenhauer, Nietzsche und die Kunst, 1991. Dort besonders den Aufsatz von Michael Hampe, Die Organe des Leibes und das Genie, S. 101-110.
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thologischen Empfindung", soll sein Werden, seine Entstehung vergessen lassen - wobei die Künstler etwas wissen, was sie das Publikum vergessen lassen wollen, um es dann selbst zu vergessen: „Der Künstler weiss, dass sein Werk nur voll wirkt, wenn es den Glauben an eine Improvisation, an eine wundergleiche Plötzlichkeit der Entstehung erregt; und so hilft er wohl dieser Illusion nach und führt jene Elemente der begeisterten Unruhe, der blind greifenden Unordnung, des aufhorchenden Träumens beim Beginn der Schöpfung in die Kunst ein, als Trugmittel, um die Seele des Schauers oder Hörers so zu stimmen, dass sie an das plötzliche Hervorspringen des Vollkommenen glaubt." [ K S A 2 , 1 4 1 ]
Dieses Geniekonzept wird aus der Sicht einer „Wissenschaft der Kunst", wie sie in Menschliches, Allzumenschliches postuliert wird, als Perpetuierung des Vollkommenheitsmythos abgelehnt. Entsprechend kritisiert Nietzsche die Kunst, die aus diesem Vergessen ihrer Entstehung eine Autorität ableitet als eine Kunst der „Tyrannei": „... wo man das Werden sehen kann, wird man etwas abgekühlt. Die vollendete Kunst der Darstellung weist alles Denken an das Werden ab; es tyrannisirt als gegenwärtige Vollkommenheit." 94 [ K S A 2 , 1 5 2 ]
Gegen diese Tyrannei des Vollkommenen setzt er das Fragmentarische, Aphoristische und damit eine Form, in der sich das Werk nicht als „Geniestreich" und der Autor nicht als Auserwählter darstellt, sondern die zugleich den Weg und das heisst die Methode zeigt, den die Darstellung unternimmt. In diesem Zusammenhang ist auf das Bild der Geburt zu verweisen, das oft als Motiv das Inspirations- und Geniekonzept inszeniert. Der Topos von Zeugung und Geburt als Bild der „Entstehung grosser Werke" [Ην. N.A.], wie Benjamin es nannte, ist Gemeinplatz geworden und reicht zurück bis zur antiken Darstellung von Zeus' Kopfgeburt. Dieses Bild, für die Frage nach der Darstellung von Autorschaftskonzepten präsent in verschiedensten Zusammenhängen, impliziert, wie in der Einleitung gezeigt wurde, die Frage nach dem Geschlechterverhältnis.95 Nietzsche inszeniert diesen Mythos ex94 Weiter heisst es: „Deshalb gelten die Künstler der Darstellung vornehmlich als genial, nicht aber die wissenschaftlichen Menschen. In Wahrheit ist jene Schätzung und diese Unterschätzung nur eine Kinderei der Vernunft." [KSA2,152] 95 Bekanntlich wurde Kreativität in psychoanalytischen Thesen als männliches Charakteristikum angesehen und in Abgrenzung zu weiblicher Passivität als Kompensation eines Gebärneides gedeutet. Diese These vertrat Karen Horney in den dreissiger Jahren. Siehe dazu den Vortrag von 1930 in Dresden, Das Misstrauen der Geschlechter, abgedruckt in: Die Psychologie der Frau, 1985, S. 66f.; dazu auch Chasseguet-Smirgel,
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zessiv in der Geburt der TragödieIn der Vorrede dazu ist noch von seiner Vaterschaft die Rede. Darauf nimmt die Bedeutung des „Mütterlichen" zu.97 Wie in der Einleitung gezeigt wurde, sind für das Geburtsbild zwei Momente entscheidend: Zum einen bezieht es seine Bildlichkeit aus der biologischen Metaphorik der Geschlechter. Das Bild der Geburt spielt mit den biologischen Metaphern der Geschlechtsfunktionen, den Rollen von „zeugen" und „empfangen". Auch der biologische Diskurs reproduziert mit dem Begriffspaar „Zeugung" und „Empfängnis" metaphorisch die Setzung „Männlichkeit" versus „Weiblichkeit". In der Verwendung des Bildes für Autorschaft werden die Geschlechterrollen nicht nur umgekehrt, sondern der männliche Autor ist sowohl zeugungs- wie gebärfähig, „erzeugt" sich eine „geistige Schwangerschaft". Bedenkenswert ist dabei der zweite Punkt, nämlich dass mit dem Einnehmen auch des weiblichen Parts nicht nur ein Geschlechtertausch inszeniert wird, sondern dass die männliche Kopfgeburt durch diese Metaphorik, die jeweils als Natur schlechthin inszeniert wird, selber das Konzept „Natur" in Anspruch nimmt. Eingeübt in ein Lesen der Darstellungen männlicher Kopfgeburten scheint der Leserin, dem Leser nichts „natürlicher" zu sein als eine männliche Geburt des Werkes. Konsequenzen hat die Konstellation im Zusammenhang mit der Frage nach der Autorität von Autorschaft. Die Suggestion der „Natürlichkeit" im Geburtsmythos impliziert für die Darstellung männlicher Autorschaft eine Legitimation, die deshalb indiskutabel erscheint, weil sie, als Mythos, ihr Werden vergisst. Die Domäne der geistigen Produktion ist in diesen Geburtsbildern der männlichen Mutter vorbehalten.'8 Diese Konstellation Psychoanalyse der weiblichen Sexualität, 1974, S. 154f. Siehe auch Rohde-Dachser, Expedition in den dunklen Kontinent, 1991. 96 Siehe dazu Michael Kohlenbach, „Die ,immer neuen Geburten': Beobachtungen am Text und zur Genese von Nietzsches Erstlingswerk ,Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik", in: Tilman Borsche, Centauren-Geburten, 1994, S. 351-382. 97 Siehe dazu die Passagen in Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, 191; und auch KSA 11, 67. 98 Nietzsches Texte provozieren in der feministischen Diskussion eine Debatte, die zu verschiedenen Schlussfolgerungen führt: Einerseits einer Ablehnung der Texte als Ausgrenzung bzw. Vereinnahmung des Weiblichen, zum anderen versucht beispielsweise der Band Nietzsche and the feminine das kritische Potential von Nietzsches Texten für sich produktiv zu entwickeln. Die „Geschichte" dieser Debatte findet ihren Anfang mit Derridas Sporen, die Stile Nietzsches, in dem Derrida Nietzsches Maskenspiel der Schrift als Feminisierung der Schrift bezeichnet. Darauf bezieht sich Kelly Oliver, Womanizing Nietzsche, 1995. Janet Lungstrum verweist auf die Folge des dead end für eine kritische feministische Lektüre und wendet in ihrem Aufsatz Selbst-Kreation zu einer Form von instabiler Identität, die sich in der Maske darstellt. Ihre Arbeit fördert ein Konzept der Doppelgeschlechtlichkeit zutage, im Einnehmen der weiblichen Rolle: „womanizing himself", einer Darstellung, die Lungstrum von Gayatri Chakravorty Spivaks „feminisazation of philosophizing" auf Lou Salomes Nietzsche-Lektüre zurückbuchstabiert. „Nietzsche Writing Woman/ Woman Writing Nietzsche", in:
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zeichnet die Rollenzuordnung der Geschlechter vor, die Sigmund Freud etwas später mit dem Stichwort „phallische Mutter" vornimmt." Das Geburtsbild als Bild der naturhaften Darstellung männlicher Autorschaft erfährt bei Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft eine Umdeutung. Die Geburt als Bild für die Veräusserung des Denkens, für die Trennung von Körper und Werk, wird hier gerade zur Darstellung der gegenseitigen Bedingung von Köper und Denken. 100 „wir müssen beständig unsre Gedanken aus unsrem Schmerz gebären und mütterlich ihnen Alles mitgeben, was wir von Blut, Herz, Feuer, Lust, Leidenschaft, Qual, Gewissen, Schicksal, Verhängniss in uns haben." [Fröhliche Wissenschaft, KS A3, 349] Der Körper ist nicht nur die Bedingung der Philosophie, sondern auch ihr nru 101 lhema. Bedeutsam für die Frage nach der Darstellung von Autorschaft ist diese Passage hinsichtlich der Konzeptualität dessen, was sich als aussertextuelle Referenz zu bestimmen scheint. Wenn Nietzsche das Denken als Geburtsvorgang darstellt, so geschieht dies hier gerade um die körperliche Bedingtheit des Denkens und der philosophischen Konzepte deutlich zu machen gegen die traditionelle Polarisierung von „Körper" und „Geist". Die Aufzählung der Bedingungen des Körpers und zuletzt seine Mortalität, sein „Verhängniss", zeigen das Denken als von Körperlichkeit und Sterblichkeit geprägt.
Burgard, Nietzsche and the feminine, 1994, S. 150; So auch der Ansatz von Bianca Theisen: „Rhythms of Oblivion", in: Burgard, Nietzsche and the Feminine, S. 82 ff., die auf die Entwicklung des „Dritten Ohrs" bei Nietzsche verweist und dieses als Figur des „Dritten Geschlechts" deutet. 99 Im Bild der phallischen Mutter oder phallischen Frau wird der Mutter ein Phallus als „Ausführungsorgan" imaginiert. Die Aktivität der Mutter muss in Freuds Libidotheorie mit dem (imaginären) Phallus in Beziehung gesetzt werden. Siehe dazu Laplanche / Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Bd. 2. S. 382. Siehe auch Judith Butlers Aufsatz Phantasmatische Identifizierung und die Annahme des Geschlechts, in: dies.: Körper von Gewicht, 1997, S. 149. Butler zeigt die Interpretation der „phallischen Mutter" als Ubersteigerung phallischer Aktivität, die, an der weiblichen Position festgemacht, zerstörerisch wirke. 100 „Es steht uns Philosophen nicht frei, zwischen Seele und Leib zu trennen [...] und noch weniger frei, Seele und Geist zu trennen [...]" [KSA3, 349]. 101 Nietzsche bezeichnet in der Vorrede zur Fröhlichen Wissenschaft die Philosophie als „eine Auslegung des Leibes und ein Missverständnis des Leibes" [KSA3, 349]. Der Körper ist nicht nur Produzent von Symptomen, sondern die Philosophie bzw. die „Tollheiten der Metaphysik", gegen die Nietzsche anschreibt, sind „Symptome [...] des Leibes". [KSA3, 349]
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Der Rückgriff auf das Geburtsbild zitiert ein weiteres Paradigma: die Passion. Nietzsche zitiert dieses Symbolfeld, wenn er vom Überleben in der Wüste spricht: Die „Wüste", der öde Ort der Abwesenheit von Werden (und von Werken), als Gegenort zu Arkadien, dem Paradies der dichterischen Produktivität, wird als Krankheit in den Körper versetzt. Aus der Erfahrung der Krankheit wird mit dem Buch der Autor neu geboren: „[m]an kommt aus solchen Abgründen [...] n e u g e b o r e n
zurück, gehäutet,
kitzlicher, boshafter, mit einem feineren Geschmacke für die Freude, mit einer zarteren Zunge für alle guten Dinge, mit lustigeren Sinnen, mit einer zweiten, gefährlicheren Unschuld in der Freude [...]" [KSA3, 351].
Die „zweite Unschuld", ein Bild der Autordisposition, das bei Bachmann anzutreffen sein wird, greift auf den Topos der Wiedergeburt zurück.102 Auch bei Nietzsche ist diese Wiedergeburt in die „zweite Unschuld" mit dem Leidensweg verbunden. Der Leidensweg verweist auf das christliche Bildrepertoire der Passion mit der Verheissung der Reinigung und damit der Erlösung. Nietzsche kritisiert nun die Verortung aufklärerischer Kunst- und Erkenntniskonzepte in der christlichen Reinheitsvorstellung.103 Der Begriff der „Reinheit" der Erkenntnis bzw. Anschauung, der für die abendländische Philosophie zentral ist104, verliert bei Nietzsche nicht nur seine Relevanz, sondern wird als Bedingung des aufklärerischen Kunstbegriffs dargelegt. Explizit handelt davon das Kapitel „Von der unbefleckten Erkenntnis" im Zarathustra. In Anspielung an Kants Formulierung der Funktion der Kunst als „interesselosem Wohlgefallen" deutet Nietzsche die Haltung der „ReinErkennenden": „Und das hiesse mir aller Dinge unbefleckter Erkenntnis, dass ich von den Dingen nichts will [...]" [KSA 4, 156]. Mit der Betonung des Körperlichen und des Blutes wird gegen die jüdisch-christliche Reinheitssymbolik gerade auf der Sterblichkeit beharrt.105 Der Geniekult hingegen gründe im „Vergessen des Werdens", fusse auf einem „alten Schöpferbegriff", dem Begriff der creatio ex nihilo, auf den man nicht „zurückfallen" solle. [Nachgelassene Fragmente, Frühling 1881 - Sommer 1882; KSA 9,554]106 102 Kleist nennt die zweite Unschuld in seinem Marionettentheater als Bedingung der Kreativität. 103 Die Verortung des Ursprungs des Lebens im „Begriff der immaculata conceptio" habe den Ursprung des Lebens im Zeugungs- und Geburtsakt „beschmutzt", [Nietzsche, Antichrist, KSA 6, 240]. 104 Nietzsche schreibt vor allem gegen Schopenhauers Erlösungsrhetorik an. Die Kunst als Weg der Erlösung ist dem Genie in der „reinen Anschauung" und Objektivierung vorbehalten. 105 Die jüdisch-christliche Tradition assoziiert das Blut bei der Geburt mit dem Tod. „Reinheit" ist in erster Linie als Zustand der Todesferne zu sehen. Vgl. dazu Wilfried Paschen, Rein und Unrein, 1970, S. 61-64. 106 Siehe dazu auch Adorno, Ästhetische Theorie, S. 12.
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Traditionellerweise wird mit dem Geburtsbild die christliche Ausdeutung der unbefleckten Empfängnis zitiert, die das Moment des Wunders der naturhaften Schöpfung mit der Körper- und Todesferne verbindet. Mit der Wiedereinführung des Körperlichen und der Sterblichkeit im Geburtsbild wird zeichentheoretisch das Verhältnis von Geist und Buchstaben neu formuliert. Das Körperliche, die Materialität tragen diese Sterblichkeit und damit Bedeutung selbst in sich. Dionysos, der Gott, den Nietzsche bekanntlich neben Apoll gerade für die Kunst der Verwandlung, auch der Verwandlung hinsichtlich des Geschlechts, des Werdens und der Maske ins Zentrum rückt, ist auch der zweimal Geborene. Maske Wenn Nietzsche den Körper in der Philosophie mitdenken will, so ist das ein Mitdenken des Scheins, der Sprache, der Buchstäblichkeit. Als Körper gilt die Oberfläche, das Sichtbare, und das heisst die Sprache, denn diese wird in der Fröhlichen Wissenschaft als „dem Dinge allmählich an- und eingewachsen" beschrieben, die nicht mehr „Kleid", sondern „zu seinem Leibe selber geworden" ist.[KSA3,422] Wird statt der „nackten Wahrheit" die Oberfläche, die Haut, beschworen, so wird auch hier deutlich, dass es nicht darum gehen kann, das Hierarchieverhältnis einfach umzudrehen, sondern die Hierarchie im Diskurs der Oppositionen von Nacktheit und Verhüllung, von Tiefe und Oberfläche ausser Kraft zu setzen. Das bedeutet aber auch für die Sprache den Verzicht auf die Unterscheidung von Zeichen und Bedeutung, von darunter liegend, verborgen und bedeckend, verweisend. Nietzsche weist mehrfach auf die Bedeutung alter, bekannter Stoffe hin, die neu zur Darstellung gebracht werden. Er formuliert dies im 179. Aphorismus, „Gegen die Originale" folgendermassen: „Wenn die Kunst sich in den abgetragensten Stoff kleidet, erkennt man sie am besten als Kunst." [KSA2, 162] Ist damit der Begriff der Originalität verworfen, so vollzieht dieser Aphorismus eine Umstülpung von Aussen und Innen und damit der Opposition Form und Inhalt. Der Stoff, der als überlieferter auf den ersten Blick Inhalt meint, wird zum Gewand der Kunst. Der überlieferte Stoff kommt nicht in neuem Sprachkleid daher, sondern ist die Form selbst. Die Unterscheidung von Form und Inhalt lässt sich nicht aufrechterhalten, Form und Inhalt bilden beide den Stoff - umwendbar, beidseitig tragbar. Ist die Kunst, um deren Erkennen es in diesem Aphorismus geht, die Gabe des Autors zur Maskerade? Der Aphorismus unterläuft das Verhältnis der Hierarchie im Entstehungsprozess der Kunst. Die Metaphorik von Körper und Kleid ist in der Umschreibung der Wahrheit und ihrer Lektüre wirksam, auf eine Weise die auch für die Darstellung der Autorschaft von Belang ist und die im Kapitel zu Musils Tonka gezeigt wird: In der Fröhlichen Wissenschaft rät Nietzsche statt einem Streben nach der „nackten Wahrheit [...] tapfer bei der
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Oberfläche, der Falte, der Haut stehen zu bleiben, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben". [KSA3, 352] Nietzsche formuliert 1886 für die Vorrede zur Geburt der Tragödie, rund zehn Jahre nach deren Abschluss, den „Versuch einer Selbstkritik". In der Lektüre seiner eigenen Werke steht das Erkennen einer eigenen Autorstimme auf dem Spiel. Nietzsche erkennt sich bei der Lektüre seines „Erstlingswerks" Die Geburt der Tragödie in der Sprache nicht wieder, findet statt dessen seine „Werthschätzungen" in „Schopenhauerischen und Kantischen Formeln" vor. [KSA 1, 19] Der Autor-Leser distanziert sich gegenüber der Stimme der Geburt der Tragödie, die der wiederlesende Nietzsche als „Erstlingswerk auch in jedem schlimmen Sinne des Wortes" [KSA 1, 13] verurteilt. Damit begründet er aber zugleich eine Werkgeschichte, in der die Geburt der Tragödie als das erste Werk seinen Platz erhält und in ein Verhältnis zu den anderen Werken zu stehen kommt. Die Stimme des Erstlings ist aber nicht die seine, die Werkgeschichte setzt bereits mit einer uneigentlichen Autorschaft ein: „Hier redete jedenfalls - das gestand man sich mit Neugierde ebenso als mit Abneigung ein - eine f r e m d e Stimme, der Jünger eines noch ,unbekannten Gottes', der sich einstweilen unter die Kapuze des Gelehrten, unter die Schwere und dialektische Unlustigkeit des Deutschen, selbst unter die schlechten Manieren des Wagnerianers versteckt hat;"[KSA 1 , 1 5 ]
Nietzsche kritisiert die Verstellung im Zitieren der Autoritäten Schopenhauer und Kant als nicht-Eigenes. Daraus folgt aber nicht der Rekurs auf eine Enthüllung dessen, was als wahre Identität bezeichnet werden könnte: die Maskerade unter Gewändern und Kapuzen setzt sich fort, denn als Antwort auf eine mögliche Lektüre der Geburt der Tragödie, darum geht es vordergründig in der Vorrede, weist Nietzsche in seiner Selbstkritik auf eine andere Instanz. Nicht der bestandene Autor hat das letzte Wort über das „Erstlingswerk", sondern eine andere Maske wird herbeizitiert, „um es in der Sprache jenes dionysischen Unholdes zu sagen, der Zarathustra heisst". [KSA1, 22] Doch was steckt unter der Kapuze? In Jenseits von Gut und Böse wünscht sich der Wanderer, der sowohl Figur der Autor- wie der Leserschaft sein kann, zur Erholung: „Aber gib mir, ich bitte - ,was? Was? sprich es aus! - Eine Maske mehr! Eine zweite Maske!' ..." [KSA5, 229].107 Der Text reflektiert nicht nur das Maskenspiel, sondern vollzieht es vor den Augen der Leserschaft:
107 Die „Maske" zieht sich durch Nietzsches Texte hindurch als Bild der „Transgression", wie Deleuze es beschreibt. In Nietzsche, ein Lesebuch von Gilles Deleuze, 1979, S. 12 und S. 156.
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„Wird man mir glauben? aber ich verlange, dass man mir es glaubt: ich habe immer nur schlecht an mich, über mich gedacht, [...] bereit von mir abzuschweifen [...] Dank einem unbezwinglichen Misstrauen gegen die Möglichkeit der SelbstErkenntnis, das mich soweit geführt hat, selbst am Begriff ,unmittelbare Erkenntnis', welchen sich die Theoretiker erlauben, eine contradictio in adjecto zu empfinden: - diese Thatsache ist beinahe das Sicherste was ich über mich weiss. Es muss eine Art Widerwillen in mir geben, etwas Bestimmtes über mich zu glauben. - Steckt darin vielleicht ein Räthsel? Wahrscheinlich; aber glücklicherweise keins für meine eigenen Zähne." [Aph.281, KSA5, 230]
Die Selbstinszenierung zweifelt an ihrer eigenen Glaubwürdigkeit. Glaubwürdig wäre jedoch der Befund, dass die Selbsterkenntnis per se unglaubwürdig ist. Damit inszeniert der Text ein Maskenspiel. Die contradictio in adjecto - Unmittelbarkeit der Erkenntnis - wird nicht begriffskritisch, wie zuerst behauptet wird, aufgeklärt. Das Verhältnis Autorschaft - Leserschaft stellt sich als widersprüchliches dar, da die Textstimme Autorität beansprucht und sich zugleich die Legitimation dazu abspricht.108 Doch das Vorwort spricht sich ex post eine andere Autorität zu, wenn es den Inspirationsmythos zitiert, als Inspiration durch eine Göttlichkeit, hier einen „noch unbekannten Gott". Auch dieser scheint nicht für das Geschriebene haftbar zu sein. Dieser Inspirationsmythos ist aus der antiken Musenanrufung bekannt, setzt sich aber auch in der christlichen Tradition fort. Auf Paulus scheint sich Nietzsche zu beziehen, wenn er die eigene „fremde Stimme" als „Stammeln [...] in einer fremden Zunge" bezeichnet.109 Damit verweist Nietzsche auf eine Inspirationstradition, die mit Paulus gerade das Rätsel der Autorschaft dieser Rede aufgreift. An anderer Stelle wird deutlich, dass die Auseinandersetzung mit Paulus im Zusammenhang mit der Frage nach dem Autor schlechthin, dem Autor des Heiligen Wortes, steht und damit das Problem der Echtheit göttlicher Rede, wie auch ihrer Hermeneutik, der Auslegung, tangiert: Nietzsche spricht von der „Schriftstellerei des ,heiligen Geistes'", die man dazu benutze, sich „zu .erbauen'", auch lesbar als zu er-bauen, und das hiesse „kurz, man liest sich hinein und sich heraus." [Morgenröthe, KSA3, 64] Ecce homo Mit Ecce homo, einem der letzten abgeschlossenen Werke, greift Nietzsche eine Tradition auf, die für seine Auseinandersetzung mit Autorschaft irritie108 Der Text realisiert die rhetorische Figur des anfangs dieses Kapitels zitierten 140. Aphorismus über die eigene Autorität, über das Verhältnis von Autorschaft und Leserschaft: „Mund halten." 109 l.Kor. 14. Siehe dazu auch Mayröckers Verweise auf Paulus im Zusammenhang mit der Zungenrede. Dazu das Kapitel Papageiensprache am Schluss dieser Arbeit.
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rend ist: Mit dem Verfassen einer Autobiographie, deren Tradition von den Confessiones von Augustin bis zu Goethes Dichtung und Wahrheit reicht, scheint er auf den ersten Blick seine Montage und Demontage des Autorschaftsbegriffs fallenzulassen.'10 „Das eine bin ich, das andre sind meine Schriften", so heisst es einleitend zum Kapitel „Warum ich so gute Bücher schreibe". [KSA 6, 298]. Nietzsche greift mit Ecce homo die Tradition der Autobiographie auf, indem er „Ich" und die „Schriften", Autor und Werk, darstellt und damit die Bedingungen einer Autobiographie erfüllt. Goethes Autobiographie bildet dazu den Bezugspunkt schlechthin, da sich dort jener Autor über sich und sein Werk äussert, der von seinen Zeitgenossen schon als Hyperautor gefeiert wurde, also erwiesenermassen klug und weise war und so gute Bücher schrieb, wie Nietzsche für sich beansprucht. Nietzsches Leserschaft wendet sich nicht mit Forderungen nach einer Ubersicht und einem Kommentar seiner Schriften an ihren Autor, wie dies Goethes fingierter Leser tut. Im Vorwort zu Ecce homo stellt Nietzsche fest, obwohl er sich „nicht unbezeugt gelassen" habe, sei er doch weder „gehört, noch auch nur gesehen" worden [KSA6, 258]. Damit ist der Grundton des Textes, die Einsamkeit, bereits angeschlagen: die Einsamkeit durch die Abwesenheit einer Leserschaft. Mit Ecce homo wird ein Hyperautor inszeniert, der die Bedingungen der traditionellen Autobiographie „Mensch und Werk" beim Wort nimmt. Das Werk wird wiedergelesen und begründet eine Autor-Biographie, die Autorschaft legitimiert. Was Nietzsche mit Ecce homo überschreitet, sind nicht die Bedingungen der Autobiographie, wie sie Goethes „Freund" darlegte, er nimmt sie im Gegenteil wörtlich und, so Kittlers These in seinem bestechenden Aufsatz, schafft sie damit ab111. Er weiss nicht nur von sich, warum er so weise und so klug ist, sondern auch, warum er so gute Bücher schreibt. Ecce homo stellt einen Hyperautor dar, der die Funktion Autorschaft, wie sie Foucault beschreibt, in den Vordergrund rückt. Es wird sichtbar, dass das Konzept Autorschaft an ein Interpretationskonzept gebunden ist, das in der Autobiographie die „Naturform der Hermeneutik"112 sieht. Die Autobiographie repräsentiert den Anschauungsort für das Zusammenspiel von Werk und Autor, welches die hermeneutische Interpretation vordemonstriert. Wie der Brief, der am Anfang von Dichtung und Wahrheit die hermeneutische Regel von Autorschaft und Interpretation der Autobiographie voranstellt (aber sie damit auch zur Diskussion stellt), verspricht Nietzsches Ecce homo die Forderung nach Selbstdarstellung einzulösen. Dies tut seine Autobiographie, allerdings als Darstellung eines Autors, der alles über sich
110 Siehe zum Verhältnis von Text und Identitätskonzept bei Nietzsche die Positionen der Forschung, die Christoph Kalb anführt: Desintegration, 111
2000, S. 2 9 6 - 2 9 9 .
Kittler, Wie man abschafft, wovon man spricht, 1980, Siehe Anm. 79.
112 So charakterisiert Kittler Diltheys Interpretationsmodell. Kittler, ebd., S. 155.
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sagt, der sich - als Hyperautor - weginterpretiert.115 Der Autor, der selbst erklärt, weshalb er so gute Bücher schreibt, lässt der Leserschaft nichts übrig. Die Regel von „Mensch und Werk" wird wörtlich genommen und damit hypertrophiert. Mit dem Titel Ecce homo begibt sich der Text bereits in die Parodie: Blasphemisch wird eine Stelle des Mensch-Seins in Anspruch genommen, die emphatisch besetzt ist. Der emphatische Begriff des Mensch-Seins schlechthin der christlichen Tradition, Christus, wird usurpiert. Der Gestus der Usurpation charakterisiert mit diesem Titel die Bewandtnis dieser Autobiographie, das heisst das Einnehmen der Rolle eines anderen, der Autorität eines anderen; allerdings nicht irgendeines, sondern dessen, der mit seinem Körper für die Wahrheit eines anderen einsteht. Das Prekäre der Identität des „Menschen" ist der Titel der Autobiographie. Die Darstellung des problematischen Verhältnisses von Wort und Autorität, von Text und Wahrheit wird im Paradigma der „Wahrheit" schlechthin inszeniert: Christus als Fleischwerdung Gottes, als Sichtbarwerdung des Wortes. Dieses Repräsentationsverhältnis greift Nietzsche mit seinem Titel auf, als würde er, entsprechend dem Anspruch von Goethes „Freund" zu Beginn von Dichtung und Wahrheit, den Menschen hinter dem Wort/Text sichtbar werden lassen. Die Autobiographie also als Bezeugung einer Autorschaft der Texte, als Sichtbarwerdung der Autorität? Ecce homo liest sich nicht als Text über den Menschen, als Zeigen eines Menschen, also als Form (ecce) mit Inhalt (homo), denn der Titel macht auf seinen Zeige-Charakter selbst aufmerksam. In einem Brief an Meta von Salis schreibt Nietzsche zu Ecce homo, dem „sehr unglaubliche[n] Stück Literatur": „Dieser homo bin ich nämlich selbst, eingerechnet das ecce;""* Also wäre „er" der ganze Titel, das ganze Buch? Das würde bedeuten, dass „Nietzsche" das Beschriebene (homo) ebenso wie der Akt des Beschreibens, das Zeigen (ecce), ist, wie er im Brief behauptet: das Zeigen wie das sich-Zeigen und damit sowohl Reflexivität wie nicht-Reflexivität. Das Repräsentationsverhältnis wie es sich in der biblischen Verkörperung verhält wird ersetzt, die Autorschaft wird nicht mit dem Text erwiesen, sondern ist selbst textuell. „Ich [...] eingerechnet das ecce" zeigt, dass Autorschaft nicht vom Text abziehbar ist, sondern sich nur als Effekt des Textes verstehen lässt. „Ich lebe auf meinen eigenen Credit hin, es ist vielleicht bloß ein Vorurteil, daß ich lebe?" Die Existenz des „ich" ist eine, die sich selbst Vorschuss 113 Nietzsche bringt jene Paradoxie des Autobiographiekonzepts zur Darstellung, die - Paul de Man in „Autobiography as De-Facement" beschreibt: „Autobiography, then, is not a genre or a mode, but a figure of reading or of understanding that occurs, to some degree, in all texts." In: The Rhetoric of Romanticism, 1984, S. 70. 114 Brief vom 14. November 1888, Schlechte Bd. III, S. 1332.
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erteilt, „auf eigenen Credit hin" lebt, im Gegensatz zu Goethe, der seinen Lesern zum Zeitpunkt der Autobiographie längst gemachter Autor ist. Ecce homo verlangt mit dem ecce das Hinschauen, das Hinhören mit der Aufforderung „ H ö r t m i c h ! d e n n i c h b i n d e r u n d d e r . V e r w e c h s e l t m i c h v o r A l l e m n i c h t ! " [KSA6,257] Der Kredit, den Nietzsche sich selber gibt, ist der einer Identität - Identität auf Vorschuss, die erst mit dem Werk eingelöst werden wird. Derrida liest diese Passage im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zur Unterschrift." 5 Die Unterschrift einer Erklärung legitimiert erst die Erklärung, allerdings ist die Erklärung Begründerin der Instanz, die unterschreibt. Im Beispiel, das Derrida analysiert, der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, wird das „Volk", das mit der Unterschrift mitrepräsentiert ist, erst zu dem, als das es sich verstanden haben will. Eine märchenhafte Rückwirkung ist im Moment der Unterschrift wirksam, „une retroactivite fabuleuse", denn vor dem Text der Unabhängigkeitserklärung gab es keine Unterschriftsermächtigten, und die Erklärung ist gleichzeitig Produzentin und Garantin ihrer eigenen Signatur. Die Signatur gibt sich einen Namen, einen Kredit: „Elle s'ouvre un credit, son propre credit, d'elle-meme ä elle-meme". 1 " Damit erzeugt die Unterschrift ein Selbst, „un soi" als Akt der Gewalt, „d'un seul coup de force, qui est aussi un coup d'ecriture, comme droit ä l'ecriture. Le coup de force fait droit, donne droit, donne le jour a la loi". L'enseignement, die Lehre, die Derrida aus Nietzsches „Politik des Eigennamens" bezieht, stellt das Problem der Unterschrift vergleichbar dar. Die Autorität der Autorschaft stellt sich mit der Setzung der Unterschrift (der Uberschrift) erst her. Der Text wird zum Werk, als dessen Autor er sich in der Unterschrift abliest. Autorschaft, die wie Derrida zeigt, an juristische Bedingungen gebunden ist, erweist sich in Nietzsches Darstellung als „Funktion", deren Autorität im Text und über den Text als Vorschuss und damit als Setzung problematisiert ist. Der Anspruch auf Identität schliesst paradoxerweise mit der Formulierung „Ich bin zum Beispiel[...]": von Anfang an wird das „ich bin" mit einer Varianten, einer Variablen offengehalten. Das Maskenspiel setzt dort an, w o nicht verwechselt werden soll, denn „ich bin der und der". Mangels Publikum wird die Konstellation von Autor - Werk - Rezeption zu einer Rückwendung auf sich selbst: „Und so erzähle ich mir mein Leben." [EH, KSA 6, 263]. Autor des Erzählens ist „ich", Adressat nicht etwa eine Instanz ausserhalb wie die „Freunde" oder „Leser", sondern, mangels dieser Leserschaft, „mir", den Gegenstand „mein Leben". Der vielfache Selbstbezug fächert das Problem von Autorschaft und Werk auf, indem „Subjektivität", und das wäre der Ausgangspunkt und die Bedingung des traditionellen au-
115 Derrida, Otobiographies, 116 Derrida, Otobiographies,
1984. 1984, S. 23
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tobiographischen Konzepts von Autorschaft, sich als Reihe wiederholter Setzungen erweist. Der Kredit, wie ihn sich der Vertrag zubilligt, wird hier nur in Bezug auf sich selbst gewährt. Keine andere Instanz wird den autobiographischen Pakt beglaubigen als das „Ich", das sich selbst, zirkelhaft, Kredit gewährt, in der Selbstlektüre. „Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden, wir selbst uns selbst", heisst es zu Beginn der Genealogie der Moral, „[...] wir bleiben uns eben notwendig fremd, wir verstehn uns nicht, wir müssen uns verwechseln[...]" [KSA5, 247]. Dies wendet sich gegen das Gebot der Selbsterkenntnis: Nosce te ipsum, erkenne dich selbst. Ecce homo trägt die Umwendung im Untertitel: „Wie man wird, was man ist." Dazu heisst es im Kapitel „Warum ich so klug bin": „Dass man wird, was man ist, setzt voraus, dass man nicht im Entferntesten ahnt, was man ist." [KSA6,293] Das Werden, was man ist Nietzsche schickt den Pindar-Satz an Lou Salome117 - scheint bei Nietzsche als Formel für die literarische Produktion zu gelten. Ein Aphorismus aus Menschliches, Allzumenschliches beschäftigt sich mit dem Talent, das jedem gegeben sei: „aber nur wenigen ist der Grad von Zähigkeit, Ausdauer, Energie angeboren und anerzogen, so dass er wirklich ein Talent wird, also wird, was er ist, das heisst: es in Werken und Handlungen entladet." [MAM, KSA2, 219] Das Werk, verhilft zu dem, was man ist, zur Autorschaft als Persona, zu der einen oder anderen Maske. Autor, Autorschaft ist nicht vom Werk zu trennen, sondern stellt sich im Werk erst her." 8 Wieder im Rückgriff auf Christus schreibt Nietzsche: „Ich bin noch nicht an der Zeit, Einige werden posthum geboren." [KSA6, 298] Die Geburt des Autors erfolgt erst durch die Lektüre des Textes. Nietzsche liest „Nietzsche": Zu der Lektüre, wie sie die Vorworte für die Werke leisten, und wie sie in Ecce homo wiederholt wird, ist auf den Kommentar Nietzsches im Umkreis der Fertigstellung der Autobiographie zu verweisen: „Sehr curios! Ich verstehe seit 4 Wochen meine eigenen Schriften, - mehr noch, ich schätze sie. Allen Ernstes, ich habe nie gewusst, was sie bedeuten; [...] Ich blättere seit einigen Tagen in meiner Literatur, der ich zum ersten Mal mich ge-
117 Brief vom - 1 0 . Juni 1882, Schlechta Bd. III, S. 1181. 118 Im Gegensatz zum Anspruch seiner (konstruierten) Leserfigur, die das Werk biographisch verstehen will, verhält es sich bei Goethe ähnlich: Vgl. dazu die Äusserungen zum Werther in Dichtung und Wahrheit auf die Frage der Leserschaft „Was denn eigentlich an der Sache wahr sei": „Denn diese Frage zu beantworten, hätte ich mein Werkchen, an dem ich so lange gesonnen, um so manchen Elementen eine poetische Einheit zu geben, wieder zerrupfen und die Form zerstören müssen, wodurch ja die wahrhaften Bestandteile selbst wo nicht vernichtet, wenigstens zerstreut und verzettelt worden wären." [Werke Bd. 9, S. 592].
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Einleitung wachsen fühle. Verstehen Sie das? Ich habe alles sehr gut gemacht, aber nie einen Begriff davon gehabt."' 19
Nietzsche zählt die Werke auf und sagt über „die dritte und vierte Unzeitgemässe": „Beide reden nur von mir, anticipando ..."'20 Im Nachhinein, ex post, wenn nicht posthum, eignet er sich sein Werk an.121 Antizipiert wurde die Autorfigur, die sich in der Lektüre der eigenen Werke erst herausliest. Das Ganze drehte sich schon immer um die Autorfigur, nur der Leser erfährt es erst jetzt: „Ich habe beide Schriften erst seit 14 Tagen verstanden. Zeichen und Wunder!" Mit diesem Interpretationsschlüssel übertritt der Autor wiederum die hermeneutische Regel: Ersetzung von Held durch Autor, von Held durch Ich war bis dahin Privileg der Interpretation, die wiederum ausser Gefecht gesetzt wird. Der Text schafft ab, wovon er spricht: Kittler setzt Ecce homo Foucaults Überlegungen einer Diskursivitätsbegründung entgegen. Im Gegensatz zu Freud oder Marx, die „eine unbegrenzte Möglichkeit zum Diskurs geschaffen" haben, begründet Nietzsche keine neue Diskursivität, sondern setzt eine ausser Kraft. Mit dem WörtlichNehmen der Regeln jenes Diskurses, der den Autor am effizientesten inszeniert, der Autobiographie, demontiert Nietzsche Autorschaft als Konzept. Ecce homo gehe „dermassen über Literatur hinaus", heisst es im zitierten Brief an Peter Gast122, dass „eigentlich selbst in der Natur das Gleichnis fehlt: es sprengt, wörtlich, die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke höchster Superlativ von DynamitDer „Begriff Literatur", wie er im 19. Jahrhundert geläufig ist und für den die Autobiographie paradigmatisch ist, wird überschritten, aber nicht in einem neuen autorlosen Diskurs, sondern in der Hypertrophierung des Autorschaftsbegriffs.124 Damit ist den Begriffen Werk und Leserschaft genauso der Bezugsrahmen genommen.
119 Brief an Peter Gast vom 22. Dezember 1888, zit. in Chronik zu Nietzsches Leben, KSA15, 203]. 120 Brief an Peter Gast vom 9. Dezember 1888, Schlechta III, S. 1340. 121 Kalb liest die Passage überzeugend als Aneignung nicht des Werks, sondern dessen, was Nietzsche als „Aufgabe" bezeichnet. (S. 298). Die Autopoiesis bestehe in der Ordnung des „grossen Stils", der vorläufigen Form, im Chaos des ästhetischen Zustandes (S. 302). 122 Brief an Peter Gast vom 9. Dezember 1888, Schlechta III, S. 1338. 123 Hier sei an Rousseaus Pygmalion erinnert, der mit Galathee eine Figur geschaffen hatte, wie die Natur sie nicht vorgesehen hatte. 124 Analog dazu kann die Inspirations-Darstellung für die Relektüre des Zarathustra gelesen werden. Alle Register des Inspirationsmythos werden dort zitiert: die Beteuerung der Unmittelbarkeit erfolgt als vermittelte. Sie mimt die Sprache des Zarathustra, der selbst eine Umdeutung des persischen Heiligen darstellt. Die Frage lautet: Was geschieht, wenn sich ein Heiliger, ein Gott, ein Autor selber als Autorität verstanden wissen will?
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Es bleibt jedoch nicht einfach das Verschwinden des Autors festzustellen, sondern es wird mit Ecce homo ersichtlich, dass „Autorschaft" im Text eine Funktion erfüllt, die mit der Interpretation korreliert ist. Mit seinem alles-Sagen befindet sich Nietzsche im Bereich des Zuviels und lädt doch wieder zur Interpretation ein. Benjamin verlangt in seinen 13 Thesen über den „Weg zum Erfolg" vom „guten Schriftsteller", dass er nicht mehr sage, als er denke. Schreiben wird als Verhältnis bestimmt, das oszilliert zwischen fast alles, zu wenig oder zuviel sagen. Im Grad der Abweichung dazu situiert sich die Figur der Autorschaft, die das Korrektiv dazu abzugeben hat. Mit diesem Uberschuss an Selbstdarstellung, die zugleich ein Zuwenig ist, wenn die Umschreibung des Ich vornehmlich in den klimatischen und diätetischen Bedingungen sich auslässt, schafft Nietzsche noch einmal eine Maske, welche die Verstellung auch in der Autobiographie Ecce homo zum konstitutiven Prinzip macht. In Nietzsches spätesten Briefen, in denen er der Mutter berichtet, dass „ihr altes Geschöpf ein ungeheuer berühmtes Tier" ist, ist viel die Rede von Autorschaft. Alles um ihn herum offenbart sich als eigenes in einer Weise, die dem Autor zur Hyperautorschaft verhilft. Zeichenhaft verweist alles auf diese Autorschaft. Der Weihnachtsbrief an Franz Overbeck berichtet, analog zur Wiederentdeckung der eigenen Schriften, über die Wiederentdeckung des Essens: „ich habe nie einen Begriff davon gehabt, weder was Fleisch, noch was Gemüse, noch was alle diese eigentl. ital. Speisen sein können..."1" „Einen Begriff davon" haben, von den eigenen Texten, vom Essen, beides heisst, sich die Dinge auf eine neue Weise einverleiben. Der Autor kostet von seinem Werk wie von plötzlich neu sich bietenden Speisen. „Da in meinem Leben noch alles möglich ist, so notiere ich mir alle diese Individuen, die in dieser unentdeckten Zeit mich entdeckt haben. Ich verschwöre nicht, dass mich bereits mein zukünftiger Koch bedient." 126 Das Zukünftige wird auch hier mit einer noch einzulösenden Autorschaft verbunden, insofern er „ein Schicksal" ist. Das letzte Buch, die „Umwerthung", muss noch geschrieben werden, obwohl es schon fertig ist, „alles ist fertig". 127 Hier wird ein Problem sichtbar: Autorschaft kann als Funktion des fertigen Textes verstanden werden, also als vom Text produzierte Funktion, über die Nietzsche in den Vorreden nachdenkt. Die Vorreden denken über die eigene Autorschaft im Wiederlesen der eigenen Texte nach. Ecce homo hingegen, auch im Gestus des Lesens verfasst, wurde angesichts des letzten Werkes geschrieben und steht für das Werk, das noch nicht da ist. Das Werk, das noch zu schreiben ist, „le livre ä venir", macht das Tagebuch des Autors erst möglich, schreibt Maurice Blanchot. Der Autor wäre versucht,
125 Brief an Franz Overbeck, Weihnachten 1888, Schlechta III, S. 1345. 126 Ebd. 127 Brief vom 18. Dezember 1888 an Carl Fuchs, Schlechta III, S. 1342
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Einleitung
das Tagebuch der Entstehung seines Werkes zu schreiben, eine Art Logbuch seiner Navigation. Doch das Tagebuch ist die Dokumentation des Buches, das nicht geschrieben wird: „[...] l'ecrivain ne peut que tenir le journal de l'oeuvre qu'il n'ecrit pas."128 Nietzsche schreibt kein Tagebuch, sondern eine Autobiographie, die in Bezug auf die Tradition der Gattung auch Anspruch auf Selbstwahrnehmung und Selbstkenntnis stellt. Blickt die Autobiographie auf ein Produkt zurück, dessen Entstehung schon vollzogen ist, schreibt das Tagebuch als Gleichzeitigkeit den Entstehungsprozess mit. Nietzsche befindet sich mit Ecce homo zwischen den beiden Gattungen, insofern er zurückblickend die Geheimnisse der Entstehung der Werke zu lüften verspricht, aber zugleich die Offenbarung seiner Autorschaft in die Zukunft des noch zu schreibenden Buches verlegt, in die Wirkung, welche die „Umwerthung" auslösen wird: der „zerschmetternde^ Blitzschlag der U m w e r t h u n g , der die Erde in Convulsionen versetzen wird" [KSA6, 364]. Nicht in der Offenbarung des empirischen Autors, sondern aus der Wirkung seiner Schrift, soll Autorschaft ablesbar sein: „Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit" heisst es im Kapitel „Warum ich ein Schicksal bin". Nietzsche unterschreibt seine letzten Zettel nicht mehr mit seinem Namen, sondern mit „Dionysos" oder „der Gekreuzigte". Damit vollzieht sich nochmals das Aufsetzen einer Maske, wie mit dem Titel Ecce homo. Nietzsche unternimmt den Gestus, der sein Schreiben der Autorität der Schrift schlechthin, der Bibel, vergleicht, insofern sie „Schicksal" wird, neue Zeitrechnung in der Literaturgeschichte - vor oder nach „Nietzsche". Allerdings auch hier in einer Distanzierung gegen eine Vereinnahmung: „Ich will kein Heiliger werden, lieber noch ein Hanswurst [...]" [KSA6, 365] In der Rede vom Bruch im Diskurs der Moderne und deren Datierung spielt Nietzsches Name eine wichtige Rolle. Diesbezüglich scheint sich seine Absicht realisiert zu haben, als Markstein einer Zeitrechnung zu fungieren. Ecce homo setzt sich mit der Frage nach der Autorschaft auseinander: Nicht als Rekonstruktion einer Autobiographie, in der auf eine erneute Weise das eigene Werk angeeignet wird und sich der Autor der eigenen Autorschaft vergewissert, sondern als Darstellung ihrer Funktion: das Machtverhältnis von Autorschaft und Leserschaft bzw. Interpretation wird sichtbar, wo der „Autor" die Rolle der Interpretation usurpiert. Auch hier ist er mit seinem Titel einig, Ecce homo, der die einfache Menschlichkeit, die er unterstellt, düpiert, als versteckter Gott, versteckte Autorität.
128 Maurice Blanchot, Le livre ä venir, 1959, S. 258.
II Robert Musils Tonka·. Von der Geburt der Stimmen und vom Geschlecht der Kunst In Musils Mann ohne Eigenschaften fragt Ulrich, wie bereits in der Einleitung zitiert wurde, wie etwas entstehe, worin man sich „Herr im Hause" fühlt. Wenn Ulrich die Konstellation Werk - Autorschaft befragt, so stellt er damit die Frage nach der Verortung des Selbst im eigenen Werk. Er imaginiert das Werk als Behausung für die Autorschaft, über die zugleich Autorität ausgeübt wird. Diese Konstellation hätte eine selbstbestätigende Funktion, die der Mann ohne Eigenschaften für sich nicht herleiten kann. Aus einem Brieffragment aus der Entstehungszeit der Erzählung Tonka stammt folgendes Zitat, das diese Thematik, die Versicherung des Selbst, im Bild des Zimmers imaginiert: „Ich suchte etwas und wusste nicht was; kein Schreibzimmer, kein Arbeits-, kein Wohnzimmer, ein Zimmer, so als ob es der Mensch vor mir bewohnt hätte, der ich gerne geworden wäre."125
Ein Zimmer, nicht um darin etwas zu beginnen, zu arbeiten, zu schreiben, zu wohnen, sondern eines, in dem die Spuren dessen abzulesen wären, der er gerne geworden wäre. Arbeiten, schreiben, wohnen wären für den Einziehenden nicht erst zu realisieren, sondern im Zimmer bereits vollzogen und damit ablesbar. Als Darstellung der Konstellation Werk - Autorschaft gelesen, Hesse sich die Passage als Sehnsucht nach einer realisierten Autorschaft deuten, die dem Selbst die gewünschte Identität gewähren würde. Musil formuliert hier nicht wie Nietzsche die Aufforderung, zu „werden, was man ist", sondern den Wunsch, ein anderes, in die Zukunft erträumtes Ich als realisiertes Ich ablesen zu können. Das Brieffragment stellt die Zeitlichkeit, Vorzeitigkeit und Nachträglichkeit, von Autorschaft und Werk in Frage. Diese Positionierung von Autorschaft und Werk wird in Tonka, der dritten Erzählung aus Drei Frauen von Robert Musil130, ausdrücklich problematisiert. Sind Autorschaft und Werk voneinander abzugrenzen und verortbar?
129 Aus einem Brieffragment vom 4. Oktober 1903, TBI, S. 81. 130 Die Erzählung, 1924 im Band Drei Frauen bei Rowohlt erschienen, wurde bereits in Der neue Roman, H.9, hsg. von Friedrich Jaksch, 1922. Dazu Arntzen, MusilKommentar, S. 134. Die Arbeit an diesem Text scheint aufgrund der Tagebücher bereits im Zusammenhang mit dem Fragment Grauauges nebligster Herbst zusammenzufallen, d.h. schon zwischen 1903 und 1906. Arntzen vermutet eine längere Arbeitspause zwischen 1908 und 1920.
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Autorschaft ist Suchbild der Erzählung. Sie befragt die Begriffe Erfinden und Erinnern in der Auseinandersetzung mit Motiven aus dem Repertoire der Autorschafts- und Kreativitätsmythen: der jungfräulichen Empfängnis, der Geburt und dem Pygmalionmotiv, Kreativitätsmythen, die von Eros und Thanatos geprägt sind. Die Geburt des Textes vollzieht sich mit dem Tod der weiblichen Figur Tonka. Die Erzählung zitiert bestehende Autorschaftskonzepte und Kreativitätsmythen. Das Herausarbeiten dieser Konzepte im Text zeigt, dass die Erzählung sie nicht nur umformt, sondern auch an einem Punkt wieder entlässt, ohne sie systematisch auszubeuten. Das bedeutet, dass die Erzählung Tonka sich diesen Konzepten nicht verpflichtet, sondern gerade diesbezüglich eine Offenheit gestaltet, die für die Lektüre wesentlich ist. Mit den zahlreichen Hinweisen von Anfang an, dass Erzählen und Erinnern Bedeutung gibt, diese aber wieder zurücknimmt, aber auch mit dem offenen Schluss, verweigert der Text die Lösung der zitierten Konzepte. Autorschaftsfiguren bezeichnen dann die Abwesenheit dieser Autorschaftsbilder. Diese Offenheit gilt für die Mehrheit der hier besprochenen Texte, wie auch grundsätzlich für Literatur, die immer wieder neue Lektüren provoziert. Sie ist eine Qualität der Texte, die sich allerdings in der Darstellung der Lektüre als Schwierigkeit erweist, wenn sich Ergebnisse nicht konzeptualisieren lassen. Die Offenheit und Komplexität steht im Gegensatz zum Anspruch der Erzählung Tonka, eine kleine, einfach zu deutende Fabel einer einfachen, jungen Frau zu erzählen. „Einfachheit"131 ist in Musils Text nicht nur scheinbare Charakteristik der Figur Tonka, sondern zitierte ästhetische Kategorie, die in ihren Möglichkeiten durchgespielt und zugleich als Inszenierung des Textes sichtbar gemacht wird. Der Name Tonka bezeichnet die Erzählung des Autors Robert Musil wie auch die weibliche Figur im Text. Aber auch die Erinnerung, die der Protagonist aufsucht, ist geleitet von der Frage „Wer war Tonka?". Die Erzählung stellt die Frage nach der Generierung von Autorschaft im Text auf verschiedenen Ebenen dar. Die Unterscheidung der Ebenen Erzählung und Erinnerung, im Sinne von Rahmen- und Binnenhandlung, würde Autorschaft auf Instanzen fokussieren. Der Text erwägt selbst diese Unterscheidungskriterien, täuscht sie vor, um sogleich wieder auf den ungesicherten Ursprung des Erzählens zu verweisen. Diese Ebenen überschneiden sich und destabilisieren die Chronologie der Erzählung, stellen Vorzeitigkeit und Nachträglichkeit in Frage. Diese Komplexität entsteht mit dem Versuch des Protagonisten, Tonkas Geschichte zu erzählen.
131 Siehe zum „Einfachen" das Kapitel in C. L. Hart Nibbrigs Buch Übergänge, S. 229-252.
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Fabelgeschichte Die kleine Fabel wäre unproblematisch zusammenzufassen als Begegnung zweier Figuren, der Erzählerfigur und Tonka, deren Besonderheit in ihrer ungleichen gesellschaftlichen Position besteht. Das Einfache erweist sich als „gar nicht so einfach": Komplizierend ist die Schwangerschaft Tonkas, das grosse Fragezeichen des Textes, da die Erzählerfigur, der Vater des Kindes, zum Zeitpunkt ihres Anfangs abwesend war. Bis zu Tonkas Tod vor dem Ende ihrer Schwangerschaft,beschäftigt den Erzähler, der parallel dazu an seinen Erfindungen als Ingenieur arbeitet, die Rätselhaftigkeit der Schwangerschaft. Der Text wird als Erinnerung dieser Erzählerfigur berichtet und verschränkt das Moment der Kreativität mit dem der Erinnerung. Die Verschränkung dieser beiden Momente greift einen Topos auf, der auf den Mythos der Musen zurückweist: mit der Inspiration verleiht sie dem Dichter die Erinnerung und die Klarsicht, und damit das Wissen um die Vergangenheit und Zukunft. 132 Tonka problematisiert diese Konstellation von Erinnerung und Kreativität in den ersten Sätzen, denn der Anfang dessen, was erzählt werden soll, liegt im „Nebel". Bis „man klar durch den Nebel etwas Wirkliches sah" muss die Erinnerung vielfach ansetzen: das „Damals", worüber rapportiert werden soll, entzieht sich dem erinnernden Zugriff: „Aber war es überhaupt so gewesen? Nein, das hatte er sich erst später zurechtgelegt. Das war schon das Märchen; er konnte es nicht mehr unterscheiden." [RM,II,270] Ein neuer Erzählbeginn, der versucht, gegen das Märchen anzukommen - „In Wahrheit..." - entpuppt sich wiederum als Falle des Gedächtnisses, „als das später gewachsene Dornengerank in seinem Kopf" [RM,II,272]. Der Erzähler formuliert mit dem Hinweis auf das Märchen und später auf den „Mythos" - die schwierige Zuordnung seiner Erinnerung der Fiktion und der Realität. Er bemüht sich ratlos und vergeblich um eine klare Grenzziehung zwischen Erinnern und Erfinden. Die Komplexität der Erinnerung problematisiert die Referenzialisierbarkeit. Die Erzählung Tonka setzt sich mit dem Erzählen, vor allem aber mit der Herstellung von Kunst als Verschränkung von Erinnerung und Erfindung auseinander. Musil greift hier zum einen Topoi der Kreativitätsdarstellungen auf, setzt sich aber auch mit jenem Diskurs der Wiederbelebung des „Einfachen" auseinander, der Mythos als archaische Wahrheit und rettenden Gegenpol zur Wissenschaft setzt. 1 " Musils Tagebücher geben seine Rezeption der philosophischen Diskussion seiner Zeit wieder. Die zum Teil ausführlichen Exzerpte 132 Erfinden versus Erinnern: Das Gedächtnis ist das „Schatzhaus der Erfindungen". Vgl. zu diesen Begriffen der Poetik Frances Yates, Gedächtnis und Erinnern, 1991, S. 14 ff. 133 Dafür steht etwa Ludwig Klages, den Musil ausführlich in seinen Tagebüchern exzerpiert (TB I, S. 614-24).
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machen die Debatte deutlich, wo sich aufklärerische Konzepte, Vitalismen, kulturkritische oder theosophische Ansätze nicht polar gegenüberstehen, sondern überschneiden und zum Teil decken."4 Die verschiedenen Positionen dieser Debatte, die Musil auch im Mann ohne Eigenschaften beschäftigen, sind für die Funktion Autorschaft zentral. Das Einfache, in der Erzählung Tonka als ästhetische Kategorie eingeführt, setzt eine Reflexion eben dieser Positionen in Gang, die Musil in seinen Tagebüchern festhält. Deutlich wird dabei die Problematik einer strukturellen Voraussetzung des „Einfachen".135 Die Komplexität der Erzählung Tonka beruht gerade im Bestehen auf ihrer Einfachheit. Das Einfache, die Fabel, bildet im Text Tonka ein Paradigma, das insofern mit der Frage nach der Autorschaft verbunden ist, als es das Problem von Ausdruck und Unmittelbarkeit in der Kunst aufwirft. An die Figur Tonka gebunden ist dieses Paradigma dem Weiblichen zugeordnet. Der Text inszeniert eine Konstellation, die Produktionsbedingungen als Auseinandersetzung mit Geschlecht und Geschichte darstellt. Die Begriffe „Märchen" und „Mythos" verweisen aber auch auf ein Rezeptionsmuster, das mit der Gattung „Märchen" vorausgesetzt wird. Das „Märchen", wie der „Mythos", setzen beide eine „Wahrheit" voraus, welche den Kern einer Erzählung bildet und damit einen Anspruch auf Universalität und Zeitlosigkeit rechtfertigt.136 Mit der An-
134 Musil, TBI, Heft 21 u. 25, S. 615-661. Ausführlich wird Ludwig Klages und dessen Bildverständnis notiert. Als Gegenstimme wird Paul Honigsheims „Grundzüge einer Geschichtsphilosophie der Bildung" rezensiert und herausgehoben, „weil er in aufschlussreichster Weise die geistige Lage unserer Zeit geschichtlich erklärt". TBII, S. 461. Diese „geistige Lage" wird folgendermassen umrissen: der „entwurzelte, heimatlose und familienfremde Grossstadtmensch bringt sich mit irgendetwas in Beziehung oder trägt irgendetwas in sich hinein, an Stelle dessen er ebensogut etwas anderes hätte fassen können." (TBI, S. 656). 135 „[...] was von selber einleuchtet, ist selber nicht zu sehen. Eine Theorie des Selbstverständlichen setzt voraus, was sie erläutern möchte." Siehe dazu Hart Nibbrig, Versuch über das Einfache, in: Übergänge, 1995, S. 230. 136 Zum Mythosbegriff siehe Joachim Ritter, Historisches Wörterbuch der Philosophie, 1995. Unter den verschiedenen Mythosdefinitionen setzte sich die allegorische Deutung durch: Sie gesteht dem Mythos überhistorische Wirksamkeit zu. Zur Kritik dieser Deutung vgl. Ritter S. 281 ff. Ein Moment der Mythosdiskussion ist hier zentral, die Verbindung von Mythos und Erinnerung: Mythos wird dargestellt als eine Deutung von Vergangenheit oder aber als Verlust des Wissens über das Gewordensein der Geschichte: „Das Vergessen der .Urbedeutungen' ist die Technik der Mythoskonstitution selbst und zugleich der Grund dafür, dass Mythologie immer nur als ,in Rezeption übergangen' angetroffen wird", schreibt Blumenberg in „Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos", in: Fuhrmann, Terror und Spiel, 1971, S. 50. Barthes beschreibt den Mythos als Vorgang der Verwandlung von Geschichte in Natur, nämlich als den Verlust der Erinnerung an die Herstellung der Dinge. Barthes, Mythen des Alltags, S. 130.
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spielung auf das Märchen wird dieser Anspruch auf einen vermeintlich wahren Kern implizit als Rätsel an die Interpretation weitergegeben. Bedeutung der Deutung Der Anfang der Erzählung tut sich schwer in der Orientierung zwischen Erinnern und Erfinden. Eine rhetorische Figur wird eingeführt, die für den Text paradigmatisch ist, die des Gebens und Zurücknehmens, der Anwesenheit und Abwesenheit. Was als Erzählung gegeben wird, wird in einem gleichen Schritt zurückgenommen im Verweis auf seine Erfindung, sein „Gespinst" [RMII,298]. Diese Unentschiedenheit betrifft auch die Möglichkeit der Rezeption des Textes: er spielt mit den Begriffen Bericht und Fiktion und weist die Frage nach dem richtig Lesen an Leserin und Leser zurück. Die „Bedeutung" stellt der Text selbst zur Diskussion. Die Deutungsversuche der Figuren reflektieren die Zweideutigkeit dessen, was interpretiert werden müsste: „eine Erkenntnis wollte aufsteigen [...], aber sie war, wie alles erkennen ist, zweideutig, unsicher." [RM,II, 301] Das Tun und Denken der Figuren wird begleitet von einem ständigen Rätseln an ihrer Bedeutung, „ohne sich etwas dabei denken zu können" [RMII, 305]. Ihre Ratlosigkeit, vor allem jene des Erzählers, generiert einen Text, dessen ironische Intention mit Musils Bezeichnung des „Satyrischen Erzählens" hervorgestrichen werden könnte, einer Technik, die mit „angenommener Naivität erzählen" will oder - anders formuliert - als Technik des „sich erzählerisch dumm stellenfs]" [TBI, S. 584-585]. Das ironische Moment, das dem Text innewohnt, scheint mitunter Effekt dieser „Erzähltechnik" zu sein, welche die Frage nach seinem Sinn explizit zur Disposition stellt. Gegen Ende der Erzählung wird, dem ironischen Impetus gemäss, ein Fingerzeig gegeben, der die Lektüre von der Aufgabe der eindeutigen Entschlüsselung dispensiert. Mit dem Vorschlag, „anders durch die Welt [zu] gehen als am Faden der Wahrheit" [RMII, 298] wird auch die Notwendigkeit des roten Fadens des Erzählens hinterfragt.137 Der Text spricht nun die Frage der Autorschaft an, indem die Figur des Gebens und Zurücknehmens sich als prägend im Text durchsetzt. Diese erläuterungsbedürftige rhetorische Figur ist sowohl auf der Ebene der Fabel, des Themas, nämlich der Frage nach dem Glauben an das Unmögliche, der „jungfräulichen Zeugung", wie auf der Ebene der Problematisierung der 137 Entgegen den Auffassungen von Eiichiro Akashi und Karl Eibl, ist die Bildlichkeit der Erzählung nicht nur eine punktuelle, ohne allegorische Implikation, sondern sie setzt sich mit verschiedenen Lektüremodellen auseinander. Die Erzählung stellt die Frage, wie ein „Märchen" zu lesen wäre. Akashi, Uber die Grenze der Begriffe und die Funktion der Bilder in Musils Tonka, in: Strutz / Kiss, Genauigkeit und Seele, 1990, S. 103; Eibl, Robert Musil, „Drei Frauen", 1978, S. 140. Eibl verweist auf den Charakter der Bildlichkeit als Bild-Parataxe hin.
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Identität der Figuren zu beobachten. Es wird zu zeigen sein, wie in einer Bewegung von Zeigen und Verstecken, von Lesbarkeit und Rätselhaftigkeit, die Figuren als Sprachfiguren aufgebaut und wieder zerstört werden, wobei das Moment der Konstruktion als Akt der Kreativität implizit mitangesprochen ist und damit auch der Verweis auf dessen Ursprung. Was als Bewegung von Geben und Zurücknehmen bezeichnet wurde, wird im Text an einer Stelle explizit genannt. In einem Brief an seine Mutter schreibt die Erzählerfigur: „Zwischen Ancona und Fiume oder wohl auch zwischen Middelkerke und einer unbekannten Stadt steht ein Leuchtturm, dessen Licht allnächtlich wie ein Fächerschlag übers Meer blinkt; wie ein Fächerschlag, und dann ist nichts und dann ist wieder etwas." [RMII, 297]
Die Passage nimmt das Bild des Aufblinkens von „Wirklichkeit" im Nebel wieder auf, welches im Zusammenhang mit dem verwehrten Anfang des Erzählens angedeutet wurde. Im Zwischenraum, dem „und dann", situiert sich der Umschlag des anaphorischen „nichts" in „wieder etwas". Hier wird das Bild des Schiffers aufgegriffen, der sich am Leuchtturm orientiert und einen Topos des Dichtens bzw. der Autorschaft zitiert.138 Allerdings scheint dem Schiffer die Kontrolle seiner Navigation schwer zu fallen. Die Briefe an die Mutter werden nie abgeschickt, sie verpassen ihre Adressatin zugunsten der Leserschaft des Textes. Mit der angesprochenen Rätselhaftigkeit der Gedanken und Taten der Figuren und mit dem geheimnisvollen Ursprung der Schwangerschaft will der Text der Lektüre anscheinend etwas vorenthalten. Hier spielt er mit der Figur des Gebens und Zurücknehmens, die auch Autoren und Exegeten klassischer Texte (im Verweis ex negativo auf diejenigen, welche über den Faden der Wahrheit verfügen) unterstellt wird139: in der Arbeit des Autors als Einkleiden des vorbedachten Sinns in Sprache und, in umgekehrter Richtung, der Enthüllung dieses Sinns durch die Lektüre des Textes. Die Verhül-
138 Vgl. dazu Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 1984, S. 138 ff. 139 Vgl. dazu Roland Barthes, S/Z, 1987, S. 172-173, der die klassische Konstellation folgendermassen beschreibt: „Von dem Autor wird immer verlangt dass er vom Signifikat zum Signifikanten geht, vom Inhalt zur Form, vom Projekt zum Text, von der Leidenschaft zum Ausdruck; und ihm gegenüber geht der Kritiker den Weg in entgegengesetzter Richtung, er steigt von den Signifikanten zum Signifikat auf. Die Beherrschung des Sinns, eine richtige Semiurgie, ist ein göttliches Attribut, sobald dieser Sinn bestimmt wird als das Ausfliessen, als Emanation, als das geistige Ausströmen, das sich vom Signifikat zum Signifikanten ergießt: der Autor ist ein Gott (der Ort seiner Herkunft ist das Signifikat); der Kritiker ist der Priester, der darauf bedacht ist, die SCHRIFT dieses Gottes zu entziffern."
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lung durch den Autor ist aber für die von Barthes als klassisch bezeichneten Texte perfekt und durch die Lektüre nicht vollständig zu enthüllen. Der Rest, der bleibt, ist das, was Barthes - immer noch für den klassischen Text, also nicht für Tonka - als die „Nachdenklichkeit des Textes" bezeichnet: „Denn wenn auch der klassische Text nicht mehr als das, was er sagt, zu sagen hat, so ,läßt' er doch .verstehen', dass er nicht alles sagt: diese Anspielung ist durch die Nachdenklichkeit codiert, die nur Zeichen für sich selbst • _ «140
ist.
Tonka inszeniert förmlich diese Nachdenklichkeit des Textes. Die Leseaufforderung, die der Text Tonka formuliert, verhält sich ironisch der klassischen Konstellation gegenüber wie Barthes sie konstruiert, indem das Sujet der Erzählung dieses Zuviel an Bedeutung selbst ist.141 Einziges sicheres, weil schriftliches Indiz für den Akt der Zeugung, ist für die Erzählerfigur das „kleine rote Rufzeichen" in Tonkas Kalender, das „in der weiten, weißen Ebene eines Blattes stand, wie eine Pyramide der Erinnerung zu einem Tag gesetzt". [RM;II, 302] Der Erzähler zweifelt nicht an der Bedeutung dieses Zeichens. Parallel dazu fragt die Erzähler-Stimme im Zusammenhang mit der Redegewandtheit der Erzählerfigur, die in krassem Gegensatz zu Tonkas Stummheit steht, nach dem Stellenwert dessen, „das weder sprechen kann, noch ausgesprochen wird, das in der Menschheit stumm verschwindet, ein kleiner eingekratzter Strich in den Tafeln ihrer Geschichte". Das kleine „Rufzeichen" verfügt in der Signalfarbe Rot trotz seiner Sprachlosigkeit über eine appellative Funktion, die zur Deutung auffordert, und scheint das Geheimnis über den Ursprung von Tonkas Schwangerschaft aufzubewahren.142 Der Lektüre wird auf bedeutungsvolle Weise Bedeutung vorenthalten. Die Appellation besteht im Auslassen der Mitteilung und der emphatischen Markierung dieser Auslassung. Der Text treibt das Spiel des Gebens und Zurücknehmens hier auf die Spitze: Funktioniert die Sprache 140 Barthes, S/Z 1987, S. 214. 141 Dagegen liest Peter Henninger „Tonka" als Darstellung der „Wiederkehr des Vergessenen": Der Text verschweigt die (erwiesenen) biographischen Zusammenhänge, zeigt sich als „Unaufrichtigkeit der Rede". Peter Henninger, Der Text als Kompromiss: Versuch einer psychoanalytischen Textanalyse von Musils Erzählung Tonka mit Rücksicht auf Jacques Lacan, in: Urban / Kudszus, Psychoanalytische und psychopathologische Literaturinterpretation, 1981, S. 398-420. 142 Siehe dazu Kleists berühmten Gedankenstrich in der Marquise von O. Obwohl dort das Geheimnis am Schluss gelüftet wird, verliert Kleists Gedankenstrich nichts von seiner Ausdruckskraft als Zeichen des Ausschlusses der Leserin und des Lesers. Ahnlich verhält es sich mit dem „Rufzeichen" in Tonkas Kalender, auf einer „weiten, weißen" Seite, die durch ihre Leere - das ausgesparte - bedeutungsvoller wird als der Rest des mit Alltäglichem vollgeschriebenen Kalenders. Vgl. dazu auch die Überlegungen von Barbara Naumann zu Kleists Erzählung Die heilige Cäcilie: Auch hier bleibt „das Wunder" (als Modus der Weiblichkeit) ohne Erklärungsmuster als Rätsel bestehen. In: Caduff / Weigel, Das Geschlecht der Künste, 1996, S. 109-110.
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selbst, wie es Freud am Beispiel der Fadenspule darlegt, als Fort / DaStruktur, so markiert hier das „Rufzeichen" auf der leeren Seite lauthals die Abwesenheit von Aussage. Ist im klassischen Text das Nachdenkliche nach Barthes das über das alles-Sagen noch hinzukommende Unaussprechbare, „dessen Platz er frei / signifikant hält"143, so ist in Musils Text dagegen die Bedeutung schlechthin ausgespart und durch ihre Emphase ersetzt. Einfachheit: ein Konzept? „Es war gar nicht so einfach, die Einfache zu lieben." [RMII,285] 144 Tonka wird Repräsentantin des Einfachen durch ihre Sprachlosigkeit und durch die zunächst scheinbar einfache Zuordnung zu Mythos und Natur. Der Text reflektiert dieses Verhältnis jedoch als Setzung, nämlich als Konstrukt der Erzählerfigur, aber auch als Problemfeld des Textes: Die Erzählung ist als Darstellung der Problematik solcher dichotomischer Konzepte zu lesen.145 Allerdings ist Tonka auch Figur der Projektion des Anderen und damit, bezüglich der Geschlechterrollen, vorerst in einen wenig überraschenden traditionellen Rahmen gesetzt. Tonka, Abkürzung eines unbekannten Vornamens, hat, so heisst es, einen jener „traumhaften" tschechischen Familiennamen, „die ,Er sang' oder ,Er kam über die Wiese' heißen"[RMII,279]. Ihre Identität ist mit keinem beglaubigten Namen verbürgt. Mit dem abgekürzten Vornamen und ihrem ungewissen, aber poetischen Nachnamen erhält die Sprache, die „Tonka" bezeichnen soll, bereits eine Qualität, die ihr Verhältnis zum Referenten
143 Barthes, 5 / 2 1987, S. 214. 144 Tonka wird in der Forschung oft undiskutiert als Repräsentantin der Einfachheit dargestellt, so etwa bei Todd Kontje, dessen aufschlussreicher Titel Motivating Silence: The Recreation of the ,eternal Feminine' in RM's Tonka, einem Aufsatz, der versucht, der Figur Tonka wieder zu ihrem Recht zu verhelfen. 145 Mit dem Naturbegriff wird hier gleichzeitig die Dichotomie Natur / Kultur nicht reproduziert, sondern demontiert. Diese These widerspricht der einen Richtung der Forschung, die Tonka als undiskutierte Repräsentation der Natur, aber auch des Anderen, verstehen. So Kurt Krottendorfer, der schreibt, Tonka zeige „den fatalen Dominierungsversuch über die Natur, den Versuch ihrer Instrumentalisierung, der mit dem Tod, dem Untergang des ,Anderen'" ende. Krottendorfer, Versuchsanordnungen: Das experimentelle Verhältnis von Literatur und Realität, 1995, S. 164.) In der selben Dichotomie liest Ursula Meier-Ruf, wenn sie in der Charakterisierung Tonkas den Text überholt und schreibt, sie sei „instinktsicher" und besitze „einen ungebrochenen Sinn für das Echte, der ihren Mangel an Reflexionsvermögen" ausgleiche. Meier-Ruf, Prozesse der Auflösung, 1992, S. 105. Entgegen dem, was man aus dem Titel der Studie schließen könnte, wird Tonka dort als Repräsentantin des ungebrochenen Naturmenschen gelesen, der die Ganzheit realisiere. Dagegen scheint es mir angemessener, diese Dichotomien als Darstellungsproblem des Textes aufzugreifen.
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nicht als notwendig und stringent erscheinen lässt. Ähnlich verhält es sich mit ihrer Familie, die keine Geschichte aufweist, die als Genealogie der Figur Tonka gelten könnte. Diese Familie setzt sich zusammen aus Figuren, die „eigentlich" andere Verwandtschaftsbeziehungen darstellen, als sie es dem Namen nach tun: Die Tante ist „eigentlich" die Base, die Grossmutter „eigentlich" deren Schwester. Die Darstellung der Herkunft jener Figur, deren Geschichte im Titel der Erzählung angezeigt wird, versichert ihre Identität nicht. Statt die Identität der Person zu beglaubigen, so verweist er, metonymisch, hier auf ein Mehrfaches an Bedeutungen und Bezügen. Wer „eigentlich" mit dem Namen bezeichnet wird, lässt sich nicht festlegen. Der Erzähler wird als Rhetoriker charakterisiert. Er verfügt, als Kenner der Überredungs- und Uberzeugungskunst, über die Sprache, setzt die „Gabe des Apolls" ein als „Schmuck" [261]. Ihr steht die Stummheit Tonkas gegenüber [RMII,280], die zwar „versteht", aber keine Antwort formulieren kann: „Aber ich kann's nicht sagen." [RMII,275] Die Problematisierung der verbalen wie der non-verbalen Kommunikation der beiden Figuren, installiert eine Differenz zwischen ihnen, wie auch eine Differenz in ihnen als Problematisierung des Subjektbegriffs.146 Statt der kommunikativen Sprache, die sich selbst benennen kann, spricht Tonka „irgendeine Sprache des Ganzen" [257], die in den „einfachen Weisen", den „Volksliedern ihrer Heimat", die sie mit der Erzählerfigur zusammen singt, zum Ausdruck zu kommen scheint. Die Einfachheit scheint sich auf den ersten Blick als Unmittelbarkeit im Gesang auszusprechen, in der Tradition der Volkslieder als expressiver Ausdruck.147 Die ästhetische Kategorie, die mit Tonkas Gesang zitiert wird, ist jene, die Herder mit dem „Wesen des Liedes" umschreibt, der „lyrischen Weise", die mit dem „Ohr der Seele" gehört werden muss.148 Nach Herder sind diese Lieder Materialien, die nicht für gebildete (geformte) Werke gehalten werden sollen, sie sind „gebrochnes Metall, wie es aus dem Schoß der großen Mutter kommt", das nur durch die Hybris der „Kunstrichter"
146 Tatsächlich wird die Stummheit immer noch mit dem längst Topos gewordenen Begriff der Sprachkrise der Jahrhundertwende erledigt. Zu deren Illustration zitiert Sun-Ae Hwang Hofmannsthals Chandos-Brief. Liebe als ästhetische Kategorie, 1996, S. 83. 147 Zum Lied als das Genre der Unmittelbarkeit als Topos der Literaturgeschichte: Vgl. beispielsweise Grillparzer, Der arme Spielmann, 1979, S. 24ff. Das Lied der Barbara „war so einfach, so rührend und hatte den Nachdruck so auf der rechten Stelle, dass man die Worte gar nicht zu hören brauchte." Dazu sagt der arme Spielmann: „Ich erstaunte über das natürliche Ingenium; wie denn überhaupt die ungelernten Leute oft die meisten Talente haben. Es ist aber doch nicht das Rechte, die eigentliche Kunst." (S. 29) 148 J.G. Herder, Vorrede zu den Volksliedern II, Werke, 1990, Bd. III, S. 246ff.
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für „geprägte Klassische Münze" gehalten werde.149 Nach Herder werden sie von der weiblichen Natur geboren und befinden sich damit schon im Gegensatz zum Konzept einer apollinischen, formgebenden und also männlichen Kunst.150 Die Geburtsmetaphorik als Indiz für die Expressivität einer unmittelbaren Kunst ordnet diese hier der Weiblichkeit zu. Damit ist ein Thema benannt, das für Musils Schreiben zentral ist: die Problematik des Unmittelbaren und seiner Darstellung.151 Bezeichnenderweise geht dem gemeinsamen Gesang der Protagonisten, die sich an der Hand fassen „wie die Kinder", ein Ubersetzungsvorgang voraus: Tonka spricht den „fremden Text vor und übersetzte ihn, dann fassten sie sich bei der Hand [...]". [RMII,276] Dem naiven Gesang geht eine Ubersetzungstätigkeit voraus, die sich als Mittelbarkeit von Rede zwischen sie und die dargestellte Spontaneität schiebt. Dem Gesang geht die Vermittlung voraus, die erst die Voraussetzung für das schafft, was darauf folgt, nämlich die Inszenierung einer kindlichen Naivität. Damit ist grundsätzlich die Frage nach der Inszenierbarkeit von Authentizität gestellt, die an Konzepte wie der Originalität, der Echtheit, der Expressivität rührt. Hier ist hinsichtlich der Autorschaft bemerkenswert, dass gerade da, wo Authentizität und Originalität tangiert sind, Autorschaft sich wieder manifestiert: zwar hinter der Bühne der Inszenierung, an der die Leserschaft aber Anteil hat als Produktionsarbeit. Diese Arbeit der Autorschaft knüpft an den Aspekt des romantischen Autorschaftskonzepts an, den die Literatur des 20. Jahrhunderts für sich aktualisiert und der an dieser Stelle bei Musil explizit benannt wird als Vorsagen und Ubersetzungstätigkeit. Die Figur Tonka ist nicht Repräsentantin der Unmittelbarkeit, sondern der Text weist, wie noch deutlicher werden soll, dieses Paradigma gerade hier ironisch zurück. Herder
149 Herders Formulierung des Stoff - Form - Antagonismus weist Parallelen zum Pygmalion-Mythos auf. Die vollendete Form müsste erst aus dem Stein herausgehauen werden. 150 Hier würde sich die Frage nach der Unterscheidung von Schrift und Mündlichkeit bei Herder anschliessen. Die Funktion Autorschaft entspricht hier dem romantischen Ideal der Autopoiesis und wäre in Herders Werk weiter zu diskutieren. 151 Renate Homann entwickelt in ihrem älteren, aber interessantesten Beitrag zu Tonka die These, Tonka als Darstellung der Problematik der „Präsenz authentischer Poesie in moderner Literatur" zu lesen. Die Erzählung erweist sich in ihrer Lektüre als Literaturgeschichte. Auf Tonka als Repräsentantin der naiven Dichtung antwortet die Literatur. Homann, Literatur und Erkenntnis, in: DVJS 59 (1985), S. 497-518. Weiterzufragen ist dort, wo der Begriff der „Authentizität" vorausgesetzt wird. Greift Musil das auf, was Schiller mit dem Begriff des Naiven herstellen will? Musils Text entwikkelt und kritisiert meiner Meinung nach den Begriff des Authentischen mit der Konstruktion und Demontage des Einfachen. Die Erzählung demontiert das Paradigma der Einfachheit, da sich Tonka der Repräsentation entzieht und deshalb keine Referenz abgibt, sondern Darstellung der „Sehnsuchtsfigur" bleibt (Hart Nibbrig 1995, S. 234).
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verweist in der zitierten Vorrede auch auf das Problem der Übersetzbarkeit hin, deren schwerste Aufgabe sei, den „Gesangston" zu übermitteln: „Alles Schwanken aber zwischen z w o Sprachen und Singarten, des Verfassers und Ubersetzers, ist unausstehlich; das Ohr vernimmt gleich und hasst den hinkenden Boten, der weder zu sagen noch zu schweigen wusste."' 52
Tonka wird mit der Natur verglichen. Natur, hier mit dem „Lied aus ihrer Heimat" in die Nachbarschaft des Begriffs Heimat gebracht, wird in den Drei Frauen und auch in der Erzählung Tonka als gesetzter Begriff reflektiert: vom „quälenden Lallen der Waldgeräusche" ist die Rede und davon, dass Tonka, „hätte sie denken gelernt wie ihr Begleiter", nämlich wie der Erzähler, gemerkt hätte, „dass die Natur aus lauter hässlichen Unscheinbarkeiten besteht, die so traurig getrennt voneinander leben wie die Sterne in der Nacht." [RMII,277]153 Die Zerstörung des beschworenen locus amoenus - „die schöne Natur" [RMII,277] - , durch eine analytische, diskursive Betrachtungsweise, zeigt zugleich die Demontage dessen, was am Anfang gegeben schien, des Einfachen. Allerdings hat es Tonka selbst gemerkt: Statt an der Natur „die ewige Einheit mit sich selbst" zu „lieben", wie Schiller das Verhältnis zur Natur bestimmt154, empfindet Tonka Trauer und sucht „nach Worten". Mehr noch, die Natur erscheint auch ihr nicht als mit sich identische, etwa als vorsprachliche, sondern sie liest den plötzlichen Stillstand der Bewegung einer Blume „wie ein abgebrochenes Gespräch" [RMII,277]. Das Vorsprachliche, nicht-Diskursive scheint sich nicht einfach beschwören und herstellen zu lassen. Tonka spricht nicht die, sondern „irgendeine" Sprache des Ganzen, was den Begriff des Ganzen als Essentialismus wieder auffächert und relativiert. Im Mann ohne Eigenschaften beansprucht Diotima ein Recht auf das Einfache und antwortet auf Ulrichs analytische Profanisierungen des „schönen Waldes", aber auch der „großen Gestalten der Kunst" oder der „Weltschöpfung" folgendermaßen: „Es gibt gottlob noch Menschen, [...] die trotz grosser Erfahrungen an das Einfache zu glauben vermögen!" [MoE,280] Diotima beschwört „das Einfache" wider besseres Wissen. Tonka setzt es gar nicht erst voraus. Mit ihrem Gesang erwidert Tonka die Bemerkung der Erzählerfigur, dass man an jenem Abend „glaubte[...] sich aufzulösen und ohne Grenzen zu schweben. "[RMII,276] Diese Auflösung des Ichs, der Identität (und wie gezeigt werden soll, der Subjektivität als kreativer, objektivierender Instanz) ist als Residuum aus Ernst Machs Analyse der Empfindungen, über den Mu152 Herder, Werke Bd. III, S. 248. 153 Zum Naturbegriff vgl. auch den Text aus dem Nachlass zu Lebzeiten, Unfreundliche Betrachtungen: Wer hat dich, du schöner Wald [...]} RMII, S. 525f.; aber auch MoE, S. 280, wo die Konstellation aus dem Prosastück wieder aufgenommen wird. 154 Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, 1847, Bd. 12, S. 161.
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sil seine Dissertation verfasste, lesbar. Etwas später heisst es, eine Illustration aus Machs Analyse der Empfindungen und damit die Überlegungen zu Körper- und Wahrnehmungsgrenzen zitierend: „Er Hatte sich breit auf beide Ellbogen zurückgelehnt, und der Kopf lag auf der Brust; fast ängstlich sah Tonka nach seinen Augen. [...] er hatte das eine Auge geschlossen und zielte mit dem andern längs seines Körpers hinunter; [...]." [RM II, 277]
In seinem ersten Kapitel zur Analyse der Empfindungen 155 , das Mach als „Antimetaphysische Vorbemerkungen" verstanden haben will, verlangt er eine Verschiebung des Schwerpunktes der wissenschaftlichen Untersuchung von der Physik zur Analyse der Empfindung. Die physikalische Untersuchung der „festen Körper" muss nach Mach durch die Analyse der Empfindung, der Wahrnehmung ergänzt werden. Die Analyse der Empfindung zeigt die Relativität der Festigkeit der Körper, die je verschieden wahrgenommen werden. Trotz dieser Relativierung ihrer Festigkeit sind sie als Körper wiedererkennbar und benennbar. Mach knüpft die Sprache an die Wiederholbarkeit der Erfahrung: das Beständige „prägt sich dem Gedächtnisse ein, und drückt sich in der Sprache aus. Diese Beständigkeit der Erfahrung führt zu einer Ökonomie des Vorstellens und der Bezeichnung, welche sich in dem gewöhnlichen Denken und Sprechen äussert. Was auf einmal vorgestellt wird, erhält eine Bezeichnung, einen Namen." 156 Gerät dagegen die Empfindung dieser „festen Körper" zum Gegenstand der Analyse, so erweist er sich als Summe unbeständiger „Komplexe". Wie die Körper ist auch das Ich unbeständig und Produkt der „Bildung von Substanzbegriffen", wie auch die Begriffe „Körper", „Materie" oder „Seele". In Machs Terminologie wird das „Ding an sich"157 zu einem „Zusammenhang der Elemente", die „Eigenschaften" 158 eines „festen Körpers" zu als vom Leib bestimmten Empfindungen. Der „feste Körper" verliert in Machs Darstellung seinen „bleibenden Kern": Mit der Analyse der Empfindung „verlieren aber diese Kerne den ganzen sinnlichen Inhalt, werden zu bloßen Gedankensymbolen." 159 Die Empfindungen nennt Mach die funktionale Abhängigkeit der
155 Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, 1900. 156 Ernst Mach, Analyse der Empfindungen, 1900, S. 2ff. 157 Den „Ding-an-sich-Begriff" lösen schon vor Mach Hegel und Nietzsche auf. Vgl. dazu: Josef Strutz, Von der biegsamen Dialektik: Notiz zur Bedeutung Kants, Hegels und Nietzsches für das Werk Musils, in: Josef und Johann Strutz (Hg.): RM - Literatur, Philosophie und Psychologie, 1984. 158 Zum Gebrauch des Begriffs „Eigenschaft" bei Mach siehe Analyse der Empfindungen, S. 13. 159 Mach, Analyse der Empfindungen, S. 10.
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Elemente160. Der Leib ist darin miteingeschlossen. Dies bedeutet eine Aufhebung der Grenzen von wahrnehmendem Subjekt und wahrgenommenem Objekt: „Auf diesem Wege finden wir also nicht die vorher bezeichnete Kluft zwischen Körpern und Empfindungen, zwischen aussen und innen, zwischen der materiellen und der geistigen Welt." [Mach ,13] Die Darstellung des Ichs exemplifiziert Mach in seinem Selbstporträt aus einem Auge (Siehe Abb. 2) Das Experiment der Zeichnung, die Musil durch seine Erzählerfigur in der Erzählung Tonka wiederholen und am „eigenen Leib" überprüfen lässt, soll den Ubergang von der physikalischen zur psychologischen Fragestellung verdeutlichen, indem sie zeigt, dass der Leib denselben Status hat wie ein betrachteter Gegenstand ausserhalb des Körpers, wenn ein Gegenstand „die Haut passiert".161 Damit hat „nur eine ideelle denkökonomische, keine reelle Einheit [...] aufgehört zu bestehen. Das Ich ist keine unveränderliche, bestimmte, scharf begrenzte Einheit.[...] Wichtig ist nur die Kontinuität". Nach Mach ist die Kontinuität die Möglichkeit, dem Ich seine symbolischen Grenzen zu vermitteln. Zurück zu Musils Erzähler, der mit einem Auge seinen Körper, in der Natur liegend, betrachtet: Das Erlebnis der beiden Figuren, dass „der Abend eins mit ihren Empfindungen" sei, greift im Zusammenhang mit der Einfachheit ein für die hier auszuführende Fragestellung wichtiges Moment heraus. Die Aufhebung der Körpergrenzen und damit der Unterscheidung von Subjekt und Objekt, bedeutet für die Erzählung Tonka eine Darstellung des Problems der Grenze zwischen Autor und Werk als Subjekt - Objekt Relation. Tonka als Erfindung des Erfinders wird hier als „halbgeborener Mythos" bezeichnet, nämlich als Werk, das sich nicht ganz veräussert. Oder, wenn sich „Mythos" dort herstellt, wo wie Roland Barthes sagt, die Dinge „die Erinnerung an ihre Herstellung"162 verlieren, so trifft für Tonka zu, dass die Erzählung den Mythos nicht realisiert, „halbgeborener Mythos" bleibt, da sie die Bedingung ihrer Entstehung erinnert. Das Vergessen wird verhindert, indem durch die Bewegung des Gebens und Wegnehmens, gerade des Naturbegriffs oder des Begriffs der Einfachheit, beständig an ihre Konstruktion erinnert wird.163
160 Was die Physik als Eigenschaften bzw. Wirkung bezeichnet, ist bei Mach durch seine funktionale (je verschiedene) Abhängigkeit „Element", ohne Ubereinstimmung mit der physikalischen Bezeichnung von „Massenteilchen" als Element. (Siehe Mach, Analyse der Empfindungen, S. 13.) 161 Mach, Analyse der Empfindungen, S. 16. 162 Roland Barthes, Mythen des Alltags, 1964, S. 130. 163 In den Tagebüchern schreibt Musil (zw. 1930-1938), Mythos enthalte „eine ,Partiallösung'", ein Begriff, den er für die Dichtung verwendet: „Er wird immer ein Halbgeglaubtes gewesen sein". (RM, TB I, S. 847) Hier sei auch an das Provisorium des Essays erinnert, den Musil als Gegenbegriff zum „Werk" setzt.
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Tonka „verstand nicht, was er dachte, aber sie las alles zugleich in seinem Auge und ertappte sich mit einem Mal bei dem Wunsch, seinen Kopf in den Arm zu nehmen und seine Augen zuzudecken." [RMII,278] Was Tonka sieht, ist entweder ihre Spiegelung im Auge der Erzählerfigur, oder aber sie sieht nichts von sich, da sie, „einfach und durchsichtig" mit einer „Halluzination" verglichen wird. [RMII,278] Indem sie die Augen der Erzählerfigur zudecken will, soll die Grenze zwischen Körper und Körper aufgehoben werden. Mit dem Wunsch des Zudeckens will Tonka, vielleicht zufällig Verkäuferin in einem Tuchgeschäft, eine Geste ausführen, die der Bewegung des Textes entspricht. Sie verwischt eine Grenze, indem sie etwas zudeckt, verbirgt. Sie, die „durchsichtige" - an anderer Stelle heisst es, „von wie vielen Seiten er auch kam, er stand zuletzt immer vor der gleichen Undurchsichtigkeit in ihrem Geist" [RMII,274] - wird auch als „fremdes Geschöpf mit seinem verhohlenen Geheimnis" [RMII,293] bezeichnet. Die Szene der physischen Vereinigung der beiden Figuren, die den Liebesakt als unsinnlichen Akt des In-Besitz-Nehmens darstellt, geschieht als Wunsch, „sich ganz anzugehören", wie der Erzähler zitiert. [RMII,286] Die Kleider spielen im Moment des Liebesaktes bezeichnenderweise eine wich-
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tige Rolle. Tonka steht „im Ungeschick ihrer ersten Nacktheit" [RMII,287] da: das Vertrauteste bleibt für die Erzählerfigur in den auf dem Sessel zurückgelassenen Kleidern, während der nackte Körper fremd ist. Das Begehren richtet sich auf die Kleidung, die Verhüllung. Mit der Kleidung, dem „moosgrünen Jäckchen" [RMII,287] legt Tonka nicht ihre ganze schöne Verkleidung ab, die Nacktheit scheint Hülle zu bleiben, „die Haut schloss sich rührend wie ein zu enges Kleid um ihren Körper."[RMII,287] Das Spiel des Gebens und Nehmens, bzw. Versteckens und Zeigens setzt sich fort, ohne an eine letzte Nacktheit zu gelangen. Auch der Körper Tonkas verkörpert nicht den Naturgegenstand schlechthin. Das Einfache bleibt vielschichtig, bedeckt. Musils Erzählung verwirrt die Opposition nackt / bedeckt, einfach / komplex aber auch aktiv / passiv. Auch hier, wo es um Nacktheit und Bekleidung geht, greift der Text die Problematik der Lektüre auf: indem er diese Pole ausser Kraft setzt und sich einer Lektüre entzieht, die sich als enthüllende bzw. aufschliessende verstehen würde. Musil weist auch hier auf das Darstellungsproblem des Einfachen. Vergleichbar kompliziert gestaltet Schiller den Gegensatz von nackt und bedeckt in der Bestimmung des naiven Ausdrucks als einer Einheit. U m Differenzierung bemüht, verheddert sich die Darstellung gerade in den Fäden des Einfachen. Die Einheit von Gedanken und Sprache verhält sich nach Schiller so, „dass selbst unter der körperlichen Hülle der Geist wie entblösst erscheint. Eine solche Art des Ausdrucks, wo das Zeichen ganz in dem Bezeichneten verschwindet, und wo die Sprache den Gedanken, den sie ausdrückt, noch gleichsam nackend lässt, da ihn die andere nie darstellen kann, ohne ihn zugleich zu verhüllen, ist es, was man in der Schreibart vorzugsweise genialisch und geistreich nennt." 1 " Zur Darstellung des Einfachen muss die Sprache sich selbst aufheben: „Einfache Durchsichtigkeit des Darstellens also im Dienste der Anschaulichkeit des Dargestellten", wie C.L. Hart Nibbrig formuliert. 165 Die Darstellung des Einfachen muss bei Schiller auf eine Körpermetaphorik zurückgreifen, die unterscheidet zwischen dem nackten Dargestellten und dem durchsichtigen Gewand, und damit auf eine Metaphorik, die sich „rächt dafür, dass sie [die Sprache, N.A.] auf anderes hin nur noch durchschaut, selber unsichtbar gemacht wurde: in der Rhetorik solcher Reduktion und ihrer Körpermetaphorik." 1 " Die Darstellung ist im Sinne des naiven Ausdrucks dann geglückt, wenn die Sprache, entgegen ihrer verhüllenden Tendenz das Dargestellte blosslegt, wenn es nackt ist und - entgegen der Intention - Körperlichkeit schlechthin wird. Die Körperlichkeit der verhüllenden Sprache soll aufgehoben werden zugunsten der sichtbaren Körperlichkeit des Dargestellten. So wie in Schillers Formulie-
164 Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, 1847, Bd. 12, S. 175. 165 Hart Nibbrig, Übergänge, 1995, S. 233. 166 Ebd.
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rung die Metaphorik der Sprache unhintergehbar bleibt, eben „sich rächt", so scheint die oben zitierte Passage bei Musil auch zu funktionieren. An die Nacktheit des Körpers ist nicht zu gelangen, denn die Haut umschließt, bekleidet diesen Körper, „in ihrer ersten Nacktheit". Das Einfachste, das es als Steigerung gar nicht geben kann, wird durch den Körper nicht repräsentiert, da die Haut, Ort, wo Nacktheit sich zu realisieren hätte, selbst Gewand ist. Die Problematik der Darstellung des Einfachen wird am Körper gezeigt, der als Sprachkörper nicht durchsichtig gemacht werden kann. „So gleich blieb sich Tonka, so einfach und durchsichtig war sie, dass man meinen konnte, eine Halluzination zu haben und die unmöglichsten Dinge zu sehen", heisst es im Text [RMII,278], indem das Paradigma der Durchsichtigkeit als Hindurchsehen wörtlich genommen wird. Diese Inversion von Körper versus Nacktheit und Verhüllung versus Durchsichtigkeit geht an die Substanz der Unterscheidung von Körper und Gewand, Geist und Körper, Zeichen und Bezeichnetem und verunmöglicht letztlich ein Dechiffrieren des Repräsentationsverhältnisses von Buchstaben und Bedeutung." 7 Als „Entstellung" wird auch die Schwangerschaft Tonkas bezeichnet, obwohl doch gerade sie zwischen den „Unsicherheiten [...] zeigte, was Wirklichkeit ist." [RMII,301] Die Beschreibung des schwangeren Körpers, die dem Anspruch nach „Wirklichkeit zeigen" soll, aber „Entstellung" ist, hebt die Gleichzeitigkeit von Leben und Tod, Entstehen und Vergehen hervor: indem vom Körper als Samenkapsel gesprochen wird, aber auch indem durch die Sichtbarkeit, „wie nahe das Blut an der Aussenwelt kreiste", der Tod erinnert wird.168 In den Träumen der Erzählerfigur war Tonka oft „bloß ein Rauschen von Röcken, der Klang und Fall einer anderen Stimme [...]" [RMII,300]" 9 . Das „Gesicht" scheint als einziges lesbar zu sein, „offen" und unmittelbar zugänglich. [RMII,273] Aber auch dieses wird durch den Kummer entstellt. Auch das Gesicht der Er-Figur wird durch den Bart „entstellt", eine Verhüllung des Gesichts, die er „mochte [...], weil er alles verstellte und verbarg." [RMII,295] Der Körper, statt Referenz zu sein, ist entstellt, deplaziert an einen jeweils anderen Ort. Dieses Repräsentationssystem funktioniert nicht metaphorisch als das Eine, welches das andere ersetzt, sondern metonymisch als Verschiebung an eine andere Stelle. Die Funktion
167 Siehe dazu Hart Nibbrig, Übergänge, 1995, S. 233: „Darin nämlich verhält sich der lebendige Geist zum Körper des toten Buchstabens, der ihn bekleidet, wie der lebendige Körper, der für den Geist steht, zum nichtlebendigen Kleid, das für den Körper steht." Dies zeigt, dass die Auflösung des ,Eins steht für das Andere' nicht zu bewerkstelligen ist, da die Rhetorik der „nackten Wahrheit" in der Metaphorik dieser Verhüllung beruht. 168 Vgl. dazu den Aufsatz von Gerhard Meisel, Transplantation und Metamorphose, in: Strutz / Kiss, Genauigkeit und Seele, 1990. 169 Vgl. dazu Novalis Journal·, die Erinnerung an Sophie fällt am leichtesten „in charakteristischen Situationen in Kleidern", Novalis, Schriften, Bd.IV, Eintrag zum 5. Mai.
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der beiden Figuren als personae, Maskenträger, wird noch deutlicher, wenn es heisst, dass des Erzählers „wohlerzogenes Gesicht dem Kummer besser widerstand und dessen Vorrat an guten Kleidern länger vorhielt" als Tonkas. Tonka bleibt „verhohlenes Geheimnis", so wie die „Natur" bei ihrer „Brautnacht", im Bedenken der Erinnerung, vielleicht „nicht ganz Aufschluss gibt" über ihre Jungfernschaft - da oder nicht da - denn „auch der Himmel war gegen Tonka." [RMII,273] Dies stellt die „Wahrheit" Tonkas in Frage, die „für die Wahrheit ihrer Worte nur mit der Wahrheit ihrer Person einzustehn" vermag. [RMII,295] Der Autor am Werk: „ein kleiner Spalt mit fernem Schimmer war offen" [393] Die Anlage der Erzählung lässt deutlich werden, dass Tonka, die Figur, aber auch die Erzählung als Kunstprodukt des Erzählers, der Erzählerfigur, zu reflektieren ist: Ist er Produzent der Erinnerung und d.h. damit auch ihrer Darstellung? Im Moment, wo die Erzählerfigur Tonka trifft, befindet er sich „nicht zufällig" wie es heißt, in „seinem Militärjahr [...] denn niemals ist man so entblösst von sich und eigenen Werken wie in dieser Zeit des Lebens, wo eine fremde Gewalt alles von den Knochen reißt." [RMII,270]170 Die Werke konstituieren Körper und Identität. In der Begegnung mit Tonka versucht die Erzählerfigur, dem Unterschied zwischen dem „einfachen Tagwerk" und dem, was er mit „Wünschen, Träumen, Ehrgeiz" bezeichnet, also dem Wunsch (oder Begehren) nach dem Werk, auf die Spur zu kommen. Ein entsprechendes Erlebnis stellt für Tonka die Sehnsucht nach der Spur ihrer Hand dar, bezeichnenderweise in der Natur lokalisiert: „Tonka drückte ihre Finger in das Moos, auf dem sie saßen; aber nach einer Weile richteten sich die kleinen Stengelchen wieder auf [...], und nach abermals einer Weile war jede Spur der Hand, die da gelegen hatte, verwischt. Es war um zu weinen, ohne zu wissen warum." [RMII,277] Während Tonka ihr finanzielles Uberleben sichern muss, ist er, der „vielseitig Begabte", auf dem Weg zum Erfolg seiner Erfindungen. Der Text scheint auf den ersten Blick eine Opposition von rationalem „Ingenieurgeist" (Erzähler) versus mythischer Präsenz (Tonka) zu konstruieren, die aber so nicht aufgeht, sondern als ironische Konstruktion der Autorschaftsproblematik zu lesen ist. Die Erzählerfigur versteht sich zwar als „hasserfüllter Gegner" von Gedichten, Gefühlen, Güte, Tugend, Einfachheit, dies jedoch im Modus des literarischen Zitats, als „fanatischer Jünger des kühlen, 170 Vgl. dazu R M , T B I , S. 527: „Aber was bleibt davon? Wenn der Atem Verblasen ist, mit dem die Fülle [von Material, N . A . ] zu beleben versucht wurde, ein unorganischer toter Haufe von Material. Die fünfjährige Sklaverei des Krieges hat inzwischen aus meinem Leben das beste Stück herausgerissen;"
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trocken phantastischen, Bogen spannenden neuen Ingenieurgeist." Was hier in einer Zeile als gleichsam sich Ausschliessendes genannt wird, bedient sich eines Zitats aus einem Gedicht, das aufgrund seiner Rezeption und seiner Position im Literaturkanon als das Gedicht schlechthin bezeichnet werden kann, Schillers Kraniche. Entgegen Schillers Versen171 wird hier das Bogenschiessen, der Kampf, mit der Dichtung verbunden (in Schillers Gedicht besteht eine Opposition zwischen Kampf und Kunst). Gerade im Modus des Zitats erweist sich die Figur als literarisch bedingte, wenn auch ä contre coeur. Der Erzählerfigur „fällt" schon früher ein Vers aus dem Kranichgedicht ein, die seine rhetorische Begabung erinnert: „Ihm schenkte des Gesanges Gabe, der Lieder süssen Mund Apoll". [RMII,280] Damit steht die Redegewandtheit der Erzählerfigur im Zeichen dichterischer Produktivität und einer Auseinandersetzung mit dem Geniekonzept. Die Ablehnung der „Gedichte, Güte, Tugend, Einfachheit" [RM 11,283], mit anderen Worten einer versöhnlichen Kunst, erfolgt zugunsten einer neuen aus der „Askese" geschaffenen Kunst. Der Ubergang dahin erfolgt in einer Zeit, die „ebensoviel zerstört wie aufbaut". [RM 11,284] Der Gedanke, der hier formuliert wird, als einer vorerst negativen Dialektik von Fortschritt und Rückschritt, die aber durchaus ein Telos mitformuliert in der neuen Zeit, bleibt in einer Erlösungsrhetorik stecken. Die Passage liest sich als Nietzsche-Paraphrase. Der selben Rhetorik werden wir in einer Passage in Bachmanns Erzählung Das dreißigste Jahr begegnen.172 Diese Rhetorik kommentiert der Erzähler mit:" - so ungefähr dachte er." [RMII,284] Für diesen Zusammenhang ist die Gegenläufigkeit von Aufbau und Zerstörung paradigmatisch. Sie findet sich in der Anlage des Zeugungsmotivs wieder, wie sich später zeigen wird, nämlich dem Ende der Erzählung und dem Tod der Figur Tonka. Die Arbeit der Erzählerfigur an seinen Erfindungen verläuft parallel zu seiner Auseinandersetzung mit Tonkas Schwangerschaft. Die Bedingungen dieser Erfindungen sind dem Denken wie dem Nicht-Denken verpflichtet: „Denken heißt, nicht zuviel Denken, und ohne etwas Verzicht auf das Grenzenlose der Erfindungsgabe lässt sich keine Erfindung machen." [RMII,294] Dies liest sich wie eine Beschreibung des Kunstgriffes, den der Text Tonka realisiert, eine einfache Fabel zu erzählen als Begrenzung der Erfindungsgabe um der Erfindung willen. Grund für die Erfindung der Erzählerfigur ist, „auf das eine zu kommen, dessen Anderssein er entdecken wollte". [RMII,294] Dieses eine, das zugleich ein Anderssein verbirgt, das es zu ent-decken gilt, „schimmert" als Verheissung hervor. Im Zusammenhang mit der Erfindung der Erzählerfigur heißt es: „Ein kleiner Spalt mit fernem Schimmer 171 „Doch bald ermattet sinkt die Hand / Sie hat der Leyer zarte Saiten / Doch nie des Bogens Kraft gespannt". 172 Musils Mann ohne Eigenschaften spielt für die Erzählung Das dreissigste Jahr meiner Ansicht nach eine wichtige Rolle. Auch an Ulrichs Auseinandersetzung mit Nietzsche (über die Figuren Ciarisse und Walter) erinnern diese Passagen bei Bachmann.
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war offen, seine Gedanken begannen die Richtung hin zu nehmen." [RMII,293] Die Erfindung der Erzählerfigur ist mit der Suche nach der Darstellung der Erinnerung verbunden. „Wer war Tonka?", lautet die Frage gegen Schluss der Erzählung. Die Erfindung wie auch die Erinnerung suchen etwas auf, nämlich „das Eine", um dessen „Anderssein" zu entdecken. Das Eine und das Andere stehen sich nicht als Opposition gegenüber. Der Versuch zu erzählen, sieht sich mit dem Problem des Auffindens konfrontiert: Dass die Erinnerung keine ist, die aufgefunden werden kann, wird im Lauf des Erzählens selbst deutlich. Die Erzählerfigur ist eine Persona des Textes, als sich erinnernde und zugleich als kreative Figur. Die Erzählerfigur versucht, Herr über ihr Erzählen zu werden und, als Autor der Geschichte, das Verhältnis zum Erzählten zu klären. Diese Klärung gelingt nicht, da die Figuren ihre Grenzen ständig übertreten. Dies wird deutlich, wenn die Erzählerfigur auf die Frage nach der Identität Tonkas zur Antwort bekommt: „Es war nichts für sich zu deuten, [...] und Tonka kennen, hieß in einer bestimmten Weise auf sie antworten müssen, ihr entgegenrufen, wer sie sei; es hing fast nur von ihm ab, was sie war. Tonka verwirrte sich dann sanft blendend wie ein Märchen." [RMII,296] Die Stelle zeigt die Uberschneidung der Textebenen, wobei auch für die Frage nach der Autorschaft die Abgrenzung von Autor und Werk überschritten wird. Die Erzählerfigur imaginiert sich als Autor der Erinnerungen, der Erzählung Tonka, aber auch der Figur Tonka. Die Figur Tonka kann in der Erinnerung nicht bloß abgelesen werden, sondern hängt von der Erinnerung als Darstellung ab, ist also Funktion des Darstellens. Darin trifft sich der Prozess der Erinnerung mit dem der Lektüre, wie der Schluss der Erzählung zeigen wird. Pygmalion Mit der „jungfräulichen Zeugung" rückt Tonka, wie der Text formuliert, „in die Nähe tiefer Märchen [...] die Welt des Gesalbten, der Jungfrau und Pontius Pilatus [...]" [RM,II,289], Die intertextuellen Bezüge zu Novalis Heinrich von Ofterdingen und zu den Hymnen weisen auf die Bedeutung der Marienfigur, die dort im Kontext der dichterischen Schöpfungskraft dargestellt wird. Die Bedeutung der Marienfigur verschiebt sich von der Marienverehrung zur Figur der Darstellung des Dichters173, die als Inkarnationsgeheimnis das Geheimnis der Reali173 Das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft ortet die Bedeutungsverschiebung von der Jungfrau Maria zum Dichter in den Zeitraum um 1730. Siehe dazu auch Wendelin Schmidt-Dengler, Genius. Zur Wirkungsgescbichte geme in der Goethezeit,
antiker
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1978, S. 153ff.: In der Liebe zwischen Mathilde und Hein-
rich spielt Mathilde eine Christus vergleichbare Mittlerrolle, ähnlich wie die Verbindung Christus - Sophie.
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sierung des Kunstproduktes darstellt. Diese Bezüge stellt Tonka her, allerdings ist die Nähe „zum Erlöser", wie der Text es suggeriert, nicht gleich die Lösung des Rätsels, denn bekanntlich ist auch „der Himmel [...] gegen Tonka" [RMII,273], Trotzdem bezieht sich der Text zuerst einmal auf das traditionelle geschlechterspezifische Muster des männlichen Autors der weiblichen Figur. Die Geschlechtlichkeit bedeutet aber nicht nur die traditionelle Rollenzuschreibung von kreativem männlichem Subjekt versus reproduzierendem weiblichem Objekt, sondern - auch damit einer Tradition entsprechend die Bindung der Kreativität an den Sexus.174 . Damit weist der Text auf den Mythos des Pygmalion, einer Form der Darstellung des Schöpfer-Künstlers, der im Topos „der Künstler und sein Modell" bis heute wirksam ist, allerdings auch auf den Topos der toten Geliebten, die Künstlergeburt über den Tod der Geliebten repräsentiert durch Dante und Beatrice, oder durch Novalis und Sophie175. Musils Text greift auf das Pygmalionmotiv zurück, um daraus die Darstellung der Kreativität umzudeuten: Tonka bleibt „wie die Natur rein und unbehauen". Die Geschichte erzählt nicht die Geschichte der Erschaffung und Belebung einer Figur. Diese scheint sich der Beeinflussung zu entziehen, kulturelle Muster nicht zu übernehmen: Die Bildung der Abendschule macht sich Tonka nicht „zu eigen", sie trägt sie „gleichsam im Mund nach Hause, ohne sie zu essen". [RMII,285] Die Pädagogisierung, die hier als verfehlte Möglichkeit zurückgenommen wird, entspricht einer Interpretation des Pygmalionmythos im 19.Jh. Der Hiatus zwischen Kultur und Natur, der im Mythos mit der Belebung der Galathea überwunden werden soll, wird in Musils Text aufgegriffen, um der bisher gesehenen Anlage entsprechend umgedeutet zu werden. Tonkas Resistenz der Bildung gegenüber wird als eine beschrieben, die sich dem ,,Rohe[n], Ungeistigefn] und Unvornehme[n] auch in Verkleidung" [RMII,285] entzieht. Dank Musils Tagebüchern zur Zeit der Arbeit an Tonka, lässt sich das Motiv des männlichen Künstlers und der weiblichen Kunstfigur auch für 174 Zu Freuds Sublimationstheorie und der literarischen Produktion siehe Germaine
Memmi, Freud et la creation litteraire,
1996, S. 2Iff.
175 Regula Fankhauser stellt in ihrem Aufsatz Das verleugnete Geschlecht der flauen Blume' die Ablösung der Funktion Sophies, die ihre Unschuld durch den Tod bewahren kann, durch Mathilde dar, die sie auf die Formel bringt: „Mathilde ist die blaue Blume, die blaue Blume aber ist Heinrichs Ich-Ideal." Überzeugend wird deutlich, dass der Wiederholungszwang der Tode der Geliebten mit der „Selbstgeburt" des Dichters verbunden ist: „Im deutenden Rückschluss können phantasmatisches Bild und tote Geliebte zusammenfallen [...]". In: Cadufff / Weigel, Das Ge-
schlecht der Künste, 1996, S. 68. Zum Bezug Tonkas zur Jungfrau Maria und zu Christus siehe Albrecht Classen:
Robert Musils Novelle nica 21,1988, S. 176.
Tonka im Licht des Neuen Testaments,
in Colloquia
Germa-
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Tonka präzisieren. In der kleinen, mit B.L. und M.B. überschriebenen fragmentarischen Erzählung in den Tagebüchern,176 berichtet der Maler B.L. seinem Freund, der ihn in einer veränderten Wohnung antrifft - Möbel und Kunstobjekte wurden ersetzt durch „einen Wust von Vorhängen und Teppichen" [RM, TBI, 66] - von einem Experiment, das die „Schöpfung" einer weiblichen Figur versucht, im Rückgriff auf den Pygmalionmythos wie auch, explizit, auf die Kopfgeburt der Athene. Er geht davon aus, dass man das, was man im Leben nicht finde und von dem man doch glaube, dass es vorhanden sein müsse, in der Kunst suche. Eine kleine Statuette wird ihm zur „Incarnation des Traumes einer der deinigen ebenbürtigen Künstlernatur." Diese weibliche Figur soll ein „Weib" sein, eines „das nichts sagt, nichts thut, nach nichts aussieht, als was gerade darauf Bezug hat." [RM,TBI,67] Die Statuette wird vor das Feuer des Ofens gehalten: „Ich hauche dieser Statue Leben ein, in der wechselnden Beleuchtung des Herdfeuers erhält sie Bewegung und die Rhetorik ihrer Gliedmaßen wird mir zur Verkörperung meiner Wünsche. Dadurch wird sie aber auch ganz zu meinem Geschöpf, wird gewissermaßen Pallas Athene, die fertig aus meinem
Haupte
springt." [RM,TBI,68]
Diese Schöpfungsphantasie wendet den Darstellungsmodus der bildenden Kunst in den der Sprache, wenn von der Rhetorik der Gliedmassen und der Kopfgeburt die Rede ist. Die Stummheit der Figur wird erst durch die „Rhetorik" der Gliedmassen abgelöst, die durch das Licht, das „hinter sie" gestellt wurde, erzeugt wird. Der Maler B.L. hat inzwischen alle Kunstgegenstände aus seiner Wohnung entfernt, „alles was Verkörperung einer Idee bedeutet" [RM,TB,69], da diese bloß „Abklatsch des Lebens" seien. Nicht „das Bild einer Frau" suche er, sondern „das Bild meiner Sehnsucht nach der Frau, der einen, imaginären Frau, die keiner noch gesehen hat, ich will gewissermaßen die künstlerische Projection meiner Nerven auf das Material haben, welche gar nicht die F o r m eines menschlichen Antlitzes oder des Beines einer Frau zu haben braucht." [RM,TBI,69]
Was hier formuliert wird in der Dialektik von männlichem Autor und weiblichem Geschöpf, ist die Verabschiedung der Mimesis (auch der Mimesis als inventio, wie sie von Aristoteles verstanden wird) als Inhalt der Kunst. Statt der Repräsentation eines Objektes in der Kunst, geht es hier um die Darstellung der „Sehnsucht", nicht der Sehnsucht nach der Frau, sondern der Sehn-
176 Es handelt sich hierbei um Versuche zum Künstlerpaar Marie Baskirtscheff und Jules Bastien - Lepage. Musil scheint sich auf die Ende des 19. Jh. berühmten Tagebücher der Marie Baskirtscheff zu beziehen.
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sucht nach dem Bild der Frau, also nochmals vermittelt als Darstellung der Suche nach der Darstellung: Das Begehren, das sich in der Kunst äussert, ist das nach der Darstellung dieser Sehnsucht. Die Sehnsucht nach dem Werk, von der oben die Rede war, erweist sich hier als Sehnsucht nach der Darstellung. Damit stellt Musil eine wichtige Differenz zum gängigen Bildrepertoire der Jahrhundertwende her, auf das an dieser Stelle ein Blick zu werfen ist. Der Topos der Geburt des Dichters über den Tod der Geliebten wird im 19. Jahrhundert reinszeniert. Die Bestimmung der „Frau" als Heilige und Hure, wie es am krassesten - nämlich systematisch - Otto Weininger unternimmt und deshalb paradigmatisch dafür zitiert werden kann, bedeutet eine Reinszenierung eines bereits damals überholten Mythos. Die tote Geliebte als Movens der Kreativität ist die Antwort des 19. Jahrhunderts auf eine Konstellation, an der eine andere Form imaginierter Weiblichkeit teilhatte, auf den Topos der Musenanrufung der Antike.177 Bedeutsam ist dabei, dass die Musenanrufung Bedingung der kreativen Produktion war, dass die Muse in der Antike nicht nur Funktion der mäeutischen Inspiration, der Hebammenkunst der Dichtung, sondern auch Adressatin und Gegenstand des Dichtung war. Die Abwesenheit der Musen, und deshalb ihre Apostrophe, das Anrufen, ist Bedingung der Inspiration, welche die Qualität einer Besessenheit des Dichters hat. Die Abwesenheit dieser imaginierten Weiblichkeit wird, wie Elisabeth Bronfen zeigt, in eine Abwesenheit durch den Tod gewendet. Diese gründlichste Form der Abwesenheit, der Tod, wird zum Anlass genommen, die abwesende weibliche Figur im Text auferstehen zu lassen. Wichtig ist hier der Unterschied, den Bronfen in ihrem Buch hervorhebt. Die Bewegung von der Gabe der Musen der Antike, nämlich der Stimme der Kreativität, zum toten weiblichen Körper. Das 19. Jh. ersetzt die Stimme, die der Dichter von den Musen erhält, um das vergangene Wissen vor dem Vergessen zu bewahren, durch das Sterben der Geliebten.178 Im 19. Jh. zitiert der Dichter die Anrufung der Muse, indem er die tote Geliebte besingt, gleichzeitig sichert er sich durch ihren Tod seine Macht über sie als
177 Die Entwicklung dieses Topos über das romantische Konzept zum Bild des 19. Jh. stellt Elisabeth Bronfen ausführlich dar in ihrem Buch Nur über ihre Leiche, 1994, im Kapitel Die tote Geliebte als Muse, S. 516ff. 178 Diese Verschiebung zeigt sich deutlich am Beispiel, das Bronfen ihren Überlegungen voranstellt: der Selbsttötung der Charlotte Stieglitz, die sich ersticht, um ihrem verstummten Dichtergatten die Sehnsucht und damit das Movens des Gesangs zu vermitteln. Ihr Tod ist in seiner Inszenierung literarisch, er zitiert den Topos literarischer Produktionsbedingungen, allerdings, und damit ist er tragisch, zitiert er einen Topos, der kein universaler, sondern ein historischer, einer des 19. Jh. ist. Der Akt der Selbsttötung scheint in diesem Kontext erst recht in seiner Historizität tragisch als er einen Topos nicht nur zitiert, sondern den Zitatcharakter selbst zitiert - ein stilisierter Tod, ein Jugendstiltod.
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Gegenstand. Damit besteht ein Paradox zur antiken Konzeption der Besessenheit des Dichters durch die Muse.179 Bedeutsam ist zudem die Funktion der Repräsentation, welche die tote Geliebte zugewiesen bekommt: In der Schrift wird die tote Geliebte wieder zum (textuellen) Leben erweckt, dabei wird sie aber in ihrer Funktion der Repräsentation, nämlich als Allegorisierung wieder getötet.180 Diese Auslöschung der Geliebten um des Werkes willen wird in Musils Tonka übernommen, allerdings auch als Auseinandersetzung mit einem bestehen Autorschaftsbild reflektiert. Der Text erzählt die Auseinandersetzung mit dem Bildrepertoire des 19. Jh., verhindert aber die Allegorisierung der Figur Tonka (die Lektüre des nur scheinbar Einfachen sollte es gezeigt haben). Er verhindert aber auch die Allegorisierung der Erzählung Tonka (sichtbar in der Problematisierung der Deutung und damit der Lektüre). Die Darstellung der Sehnsucht nach dem Bild der Frau, wie es Musil in den Tagebüchern formuliert, erlaubt keine Personifikation des Textes, keine Allegorisierung der Figur, sondern gerade ihre Demontage bzw. das Aufzeigen ihrer Rhetorik, ihrer Figuralität. Musil tut dies mit dem Motiv des Stoffes und der Gewänder als Metaphorik des Sprachkleides. In der Erzählung Tonka wird das Liebesverhältnis als „rätselhafte Übertragungsfähigkeit" [RMI,281] bezeichnet: „Nicht die Geliebte ist der Ursprung der scheinbar durch sie erregten Gefühle, sondern diese werden wie ein Licht hinter sie gestellt." [RMII,281] Die Übertragungsfähigkeit oder „Projection", wie es in den Tagebüchern heisst, wäre sowohl Gestus der Liebe wie des mimetischen Schöpfungsversuchs, den Musil im Bild der Geburt, dort als Geburt der Athene, darstellt. Auch in der Erzählung Tonka hat diese Form der Darstellung nicht das letzte Wort: „Er brachte es nicht über sich, das Licht hinter Tonka zu stellen." [RMII, 281] Zwei Zustände werden einander gegenübergestellt, der Traum und das Wachen. Im Wachen ist laut der Erzählung zwischen der Liebe und der Geliebten nicht mehr zu unterscheiden, während im Traum „noch ein feiner Riss besteht, an dem sich die Liebe von der Geliebten abhebt" [RMII,281]. Damit bleibt der Akt der Projektion als solcher ablesbar. Die Erzählung Tonka, in der zwar manches Zeichen dafür gegeben wird, dass sie als sein „Geschöpf", er als ihr „Urheber" zu lesen ist, kann als Darstellung des Darstellungsproblems gelesen werden, also als Darstellung des „feinen Risses", der den Autor von seinem Geschöpf trennt. Was in B.L.s Wohnung bleibt, sind keine Kunstobjekte als Verkörperung einer Idee181, sondern Teppiche, „stellbare Wände von ruhiger Farbe, lichtbrechenden Gläsern etc." [Tbl,69] Das Experiment scheitert an der „Sehnsucht nach Greifbarem", die in der Bitte B.L.s endet,
179 Siehe dazu Bronfen, Nur Uber ihre Leiche, 1994, S. 522. 180 Siehe dazu Bronfen, Nur über ihre Leiche, 1994, S. 523. 181 Der Verweis auf Piatons Kunstbegriff und auf das Höhlengleichnis ist hier evident.
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ihn zu besuchen. Damit bietet sich ihm aber die Möglichkeit, seine Geschichte jemandem zu erzählen. Empfangen und Zeugen: androgyn Mit Tonkas Tod schliesst die Erzählerfigur ihre Erfindungen ab, die Erzählung findet mit dem Tod Tonkas nicht nur ihr Ende, sondern auch ihre Vollendung, ein Aspekt, der im Zusammenhang mit Walter Benjamins Denkbild Nach der Vollendung aufgenommen werden soll. Während der Erzähler mit seiner Erfindung voranschreitet, der „Lösung seiner Aufgabe, ohne sie schon erreicht zu haben, so nahe gekommen", nimmt Tonka proportional zur Erfindung ab, verblüht, verliert das Gesicht, im Gegensatz zu ihm, dessen „wohlerzogenes Gesicht dem Kummer besser widerstand und dessen Vorrat an guten Kleidern länger vorhielt" [RMII,290]. Die Geschichte erzählt vor der Schwangerschaft Tonkas die erste Vereinigung der beiden Figuren, die für das, was die Erzählerfigur „Jungfräuliche Zeugung" nennt, bedeutsam scheint. Sichtbar wurde bereits die Bedeutung der Kleider im Liebesakt. Tonka spricht den Namen der Erzählerfigur aus, ganz dem Topos des Erkennens im Liebesakt entsprechend. Diesen Namen, von dem nur gesagt wird, er werde ausgesprochen, nennt der Text nicht. Leserin und Leser sind davon ausgeschlossen. Im Suspens eines Gedankenstrichs - der übersetzt zum Vollzogenen: „Und dann war sie sein geworden." Das Besitzverhältnis, das zuerst dem traditionellen Bild entspricht, erfährt eine Inversion. Es ist sie, die „sich in ihn stahl" [268], „um auch alles zu besitzen, was sie an ihm bewunderte: man braucht bloss ganz ihm zu gehören und dann gehört man dazu." Ist später in den Nachforschungen der Erzählerfigur von „jungfräulicher Zeugung" und nicht von jungfräulicher Empfängnis die Rede, so scheinen sich die Rollen von Zeugung und Empfängnis nicht nur umzukehren, sondern wiederum die Geschlechterrollen beide ein Geben und Zurücknehmen zu realisieren. In der „jungfräulichen Zeugung" werden die Geschlechter nicht nur vertauscht, sondern auch nicht mehr in einer Polarität von Zeugen und Empfangen unterschieden. Wie über die Jungfernschaft Tonkas die Natur nicht ganz sicher Aufschluss gibt, so auch hier nicht in der Zuordnung der Rollen als zeugender versus empfangender Figur.182 Ahnliche Bilder einer Inversion der Geschlechterrollen ziehen sich durch Musils Werk, wie beispielsweise im Törless: ihm wird, bei einer neuen Auseinandersetzung mit dem, was Literatur und Philosophie bedeuten könnten, „zumute wie einer Mutter, die zum ersten Male die her-
182 Die geschlechtsspezifische Aufteilung wird bereits in der Romantik durch Konzepte des Geschlechtertauschs, der Androgynie, in Frage gestellt. Es wäre zu prüfen, inwieweit dies nur aus der Sicht männlicher Autoren geschieht. Siehe zu Schlegels Lucinde Weigel, Topographie der Geschlechter, 1990, S. 242.
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rischen Bewegungen ihrer Leibesfrucht fühlt." [RMII,79] Oder in einem Text aus dem Nachlass zu Lebzeiten mit dem Titel Der Erweckte, wo ähnlich die Vereinigung der männlichen, produktiven Figur mit einer weiblichen über das Verschwinden ihrer Schritte in seinem Ohr stattfindet. Die Erzählung Tonka realisiert das Thema von Agathe und Ulrich im Mann ohne Eigenschaften, das bereits mit dem Gedicht Isis und Osiris als Vereinigung der Geschwister vorweggenommen wurde, das „in nucleo den Roman" enthalte [RMTB, 847].183 Die Vereinigung von Tonka und der Erzählerfigur stellt die Sehnsucht nach der Vereinigung dar, wie sie aus dem Mann ohne Eigenschaften und aus dem Isis und Osiris-Mythos bekannt ist: „[...] irgendwo musste doch der Palast der Güte stehen, wo sie vereint leben sollten und sich niemals trennen." [RMII,305] Ulrich erinnert sich, dass er als kleiner Junge ein Mädchen sein wollte, spricht zu Agathe vom „gebenden und vom nehmenden Sehen, vom männlichen und weiblichen Prinzip, vom Hermaphroditismus der Urphantasie" und ergänzt: „ich kann viel davon reden!" [RM,1,754]. An früherer Stelle des Mann ohne Eigenschaften denkt Ulrich darüber nach, um die Überlegungen zu den körperlichen Unterschieden übergangslos zur Frage nach der Wahrnehmung zu führen: „Und dann muss die doppelte Möglichkeit des gebenden und des nehmenden Sehens einmal von außen empfangen worden sein, als ein Doppelgesicht der Natur184, und irgendwie ist alles das viel älter als der Unterschied der Geschlechter, die sich daraus später ihre seelische Kleidung ergänzt haben ..." [RMI,688] Der Hermaphroditismus - Hermaphrodit wird von den Dichtern beigezogen, um sich inspirieren zu lassen185 - hat sich laut Ulrichs Überlegungen auf der Ebene der Wahrnehmung abgespielt, als „gebendes und nehmendes Sehen", als zeugendes und empfangendes Sehen, das mit dem Doppelgesicht, dem Januskopf der Natur verglichen wird, „einmal von aussen empfangen worden" ist. Dem „gebenden und nehmenden Sehen" liegt eine Empfängnis zugrunde, die, unbenannt, „von aussen", erfolgt ist. Die Identität der Geschlechter wird als Nachträglichkeit dargestellt. Die Passage, die unvermittelt abbricht, weil Ulrich sich „an eine Einzelheit aus der Kindheit erinnerte", stellt, mit Tonka vergleichbar, die Vereinigung der Geschlechter als Vorgängiges dar, dem die Identität der Geschlechter erst
183 Vgl. dazu Ortrud Gutjahr,... den Eingang ins Paradies finden - Inzest als Motiv und Struktur im Roman Robert Musils und Ingeborg Bachmanns, in: Strutz / Kiss: Genauigkeit und Seele, 1990. 184 Bei Ovid heisst es über die Vereinigung des Knaben mit der Nymphe Salmacis, durch die der Hermaphroditus entsteht: „ Sind es nicht zwei, doch es ist eine Doppeltgestaltung: man kann nicht Knabe es nennen noch Weib, denn es zeigt sich keines und beides." (Ovid, Metamorphosen IV, 378f.) 185 Vgl. zur Geschichte der Hermaphroditfigur Astrid Meyer-Schubert, Mutterschoßsehnsucht und Geburtsverweigerung, 1992, S. 33.
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folgt. Allerdings, und das ist bezeichnend für dieses hermaphroditische Konzept, sind Zeugen und Empfangen nicht auf einen Ursprung zurückführbar. Die Natur, der das Doppelgesicht zugeordnet ist, bleibt hinsichtlich ihres Subjekt- bzw. Objektstatus durch den Genitivus nicht auflösbar als Primäres. Die „Seele" ist hier auch nicht etwa als Wesenhaftigkeit begriffen, sondern die Geschlechteridentität wird als seelische Kleidung bezeichnet und vollzieht damit eine Figur, welche die Gleichzeitigkeit von Innen und Aussen realisiert. Der „Wechselvolle Fortgang", so der ergänzende Titel zum Kapitel „Heilige Gespräche" im Mann ohne Eigenschaften, bezieht sich auf Ulrichs Lektüre der Mystiker. Zu bemerken ist, dass sich Ulrich in der Position des Referierenden befindet, der Agathe über seine Lektüre berichtet. Zitiert werden die „Aussagen" der „Gottergriffenen" [RMI,761], etwa, - wiederum als Darstellung einer Gleichzeitigkeit - dass „ihnen die Seele aus dem Leib gezogen und in den Herrn versenkt werde, oder dass der Herr in sie eindringe wie ein Liebhaber" [RMI,754].'" Was Ulrich und Agathe, „ohne an Gott oder Seele, ja ohne auch nur an ein Jenseits und Nocheinmal zu glauben" [RMI,761] an den Mystikern interessiert, ist die Unbedingtheit des Zustandes, das „Verlangen ,ihm anzugehören'", [RMI,763] wie es gesperrt, also vermittelt, heißt. Ebenso ist Grund der Liebesnacht von Tonka und der Erzählerfigur, sich „ganz anzugehören". Im Versuch, den berühmten anderen Zustand darzustellen, der, wie hier deutlich wird, im Zusammenhang mit der Gleichzeitigkeit von Geben und Nehmen in Beziehung zum Kreativitätsmoment steht, greifen Ulrich und Agatha auf ein anderes Bild zurück. Es ist die Betrachtung der Rinderherde auf der Wiese. [RMI,761ff.] Bedeutsam ist hier die Überlegung, dass sich die alltägliche Wahrnehmung auf der Folie „unzählige[r] kleine[r] Absichten" abspielt: „sie bilden gleichsam das Papier, auf dem das Bild der Herde steht. Man weiß nichts von dem Papier, man weiß nur von der Herde darauf „Und plötzlich zerreißt das Papier!" fiel Agathe ein. „Ja. Das heißt: irgendeine gewohnheitsmässige Verwebung in uns zerreißt. [...] Ich möchte sagen: die Einzelheiten besitzen nicht mehr ihren Egoismus, durch den sie unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, sondern sie sind geschwisterlich und im wörtlichen Sinn ,innig' untereinander verbunden. Und irgendwie geht alles grenzenlos in dich über." [RMI,762]
186 Musil schreibt dazu in den Tagebüchern (zwischen 1920-1926): „Homosexuelles in der Religion: Gott überwältigt, fährt in den Gläubigen, erfüllt ihn, schwächt, vergewaltigt ihn usw. - lauter Beispiele der ,Hingabe', der gedachten Körperlichkeit im Verhältnis zu der die eigene weiblich ist. Hinzugehörig der Ausschluss der Frauen aus der Kirche." [RM,TB, S. 626].
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Die Szene erzählt, vergleichbar der Passage von Tonka und der Erzählerfigur im Wald, Machs Überlegungen zu der Konstitution von Begriffen. Deutlicher geschieht dies hier als Reflexion auf das Schreiben. Die Gewohnheit trägt die Wahrnehmung wie das Papier die Begriffe, das plötzlich, im Riss, seine Funktion als Folie, Grundlage verliert.187 Die Darstellung des „anderen Zustandes", des Sehens als Geben und Nehmen, wird im Gestus des Schreibens selbst problematisiert.188 Interessant ist dabei, dass die Wahrnehmungsgewohnheit eine bestimmte Form von Wahrnehmung trägt, das heißt, dass hier die Opposition von Blatt und Wort, von Informationsträger und Information bereits durchkreuzt wird. Der Vergleich mit der Rinderherde lässt die Unterscheidung zwischen Folie oder Schreibgrund und Wort, also zwischen Darstellung und Modus der Darstellung, nicht zu. Die Uberschneidung der Ebenen fängt im Vergleichsbild schon an, das eine geht in das andere über.18' Ulrich wirft den „Gottergriffenen" vor, nicht in der Lage zu sein, das „was" ihres Erlebens zu erzählen.[RMI,754] Der Schluss von Tonka wird denn auch zeigen, was geschieht, wenn „exakte Forscher Gesichte haben", wie es Ulrich sich wünscht [RMI,754]. Ulrichs Versuch, davon zu sprechen, ohne dabei ein „übermenschliches Denken an die Stelle des gewöhnlichen" zu setzen, scheint auch Voraussetzung für das Werk zu sein. Denn sonst sei das „nur wie die Wachsflügel des Ikaros, die in der Höhe zerschmelzen [...]; wolle man nicht bloß im Traum fliegen, dann müsse man es auf Metallflügeln erlernen." [RMI,MoE, 765f.] Über die Entstehungszeit der „Erfindung" heißt es in Tonka: „Ein kleiner Spalt mit fernem Schimmer war offen, seine Gedanken begannen die Richtung hin zu nehmen." Die Erfindung zeichnet sich ab als „Schimmer" in einem „Spalt", die der kreativen Figur eine „Richtung" anzeigt. Im Tagtraum
187 Hier wäre auf den Kontext der Begriffe der Epiphanie oder des Augenblicks, des „Nu" als unvermitteltes Eintreten von Kreativität zu verweisen. Vgl. dazu KarlHeinz Bohrer, Plötzlichkeit, 1981, S. 59ff. 188 Es wäre zu untersuchen, inwiefern die „doppelte Möglichkeit des gebenden und nehmenden Sehens" mit dem Konzept der „produktiven Anschauung" der christlichen Tradition verbunden ist. 189 Siehe dazu auch den Text Tnedere aus dem Nachlass zu Lebzeiten: „Man sieht Dinge immer mitsamt ihrer Umgebung an und hält sie gewohnheitsmäßig für das, was sie darin bedeuten. Treten sie aber einmal heraus, so sind sie unverständlich und schrecklich, wie es der erste Tag nach der Weltschöpfung gewesen sein mag, ehe sich die Erscheinungen aneinander und an uns gewöhnt hatten. Zwischen unseren Kleidern und uns und auch zwischen unseren Bräuchen und uns besteht ein verwickeltes moralisches Kreditverhältnis, worin wir ihnen erst alles leihen, was sie bedeuten, um es uns dann mit Zinseszins wieder von ihnen auszuborgen; darum nähern wir uns auch augenblicklich dem Bankrott, wenn wir ihnen den Kredit kündigen." [RM II, S. 520-21]
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wird hingegen die Offenbarung - „wie der liebe Gott" - der Autorfigur imaginiert. In exhibitionistischer Geste soll endlich gezeigt werden, was immer bedeckt blieb, soll endlich „da sein", was immer wieder abwesend war. „Einmal, träumte er vor sich hin, wenn alle H o f f n u n g T o n k a s geschwunden ist, wird er plötzlich wieder eintreten und da sein. In seinem weitkarierten braunen englischen Reisemantel. U n d wenn er ihn aufmacht, wird ohne Kleider darunter seine weiße, schmale Gestalt sein [...]."
Die Imagination der Autorfigur realisiert sich im Tagtraum als exhibitionistischer Akt. Der nackte Körper wird in einer Enthüllungsgeste gezeigt. Die Imagination, im futur anterieur, der Zeitform des Begehrens, ist aber nicht mehr Rede der Erzählerfigur als Ursprungsort: „Er spann wachend nun Tonkas Träume." „Und alles wird wie ein Tag gewesen sein, sie war dessen ganz sicher." In keinem Kapitel scheint Tonka, deren „Ohren voll" sind und deren „Zunge [...] innerlich noch weiter" spricht [RMII,305] so sehr zu Wort zu kommen wie gegen Schluss im Kapitel XIV. Allerdings, wie es das Zitat zeigt, ist der Text hier bezüglich der Aussagesubjekte problematisch. Die Aussagen sind zugleich Aussagen beider Figuren. Die Figuren verlieren mit der Auflösung ihrer Geschlechteridentität ihre Substanz als Verortung der Stimme. Die Stimmen scheinen den Ort gefunden zu haben , wo „sie vereint leben sollten und sich niemals trennen", nämlich im Text. Entsprechend hat die Zeit, die verrann, die Chronologie verlassen und eine Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart, aber auch von Vergangenheit in der Zukunft realisiert. Damit greift der Text die Zeitstruktur des Begehrens auf, als Zeitstruktur der verheissenen Erfüllung." 0 Der Genuss wird gedacht als eine in der Zukunft liegende Erfüllung, ein „wird gewesen sein": als Wissen um die Erfüllung. Nicht der erträumte makellose, „weisse" Autorkörper bleibt am Schluss zurück. Die Erzählung wiederholt das Bild des Mantels gegen Ende, um die Güte Tonkas zu umschreiben: „ A b e r was war diese G ü t e ? Kein Tun. Kein Sein. Ein Schimmer, wenn sich der Reisemantel öffnet." 1 ' 1
190 Nach Lacan, vgl dazu Samuel Weber, Rückkehr zu Freud, 1978, S. 10, dazu Weigel, in: Amstutz / Kuoni, Theorie - Geschlecht - Fiktion, 1994, S. 99. Das futur anterieur ist insofern als Zeitform des Begehrens zu bezeichnen, als es die Zukunft als erfüllte Zeit voraussieht, als ein „es wird gewesen sein". 191 „Kein Tun. Kein Sein." Der Text zitiert ex negativo den philosophischen Diskurs seiner Zeit. So beispielsweise die Sicht einer „Ganzheitsordnung" Othmar Spanns, der „geschöpfliches Sein" von „geschöpflichem Schaffen" unterscheidet, beides Ausdruck eines „Geschaffenwerdens". Vgl. dazu Rolf Amtmann, der Spanns Zitat ganz
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Statt des nackten Autorkörpers, wird nur ein Schimmer im Mantel sichtbar. Zudem bleibt für den Erzähler ein „kleiner warmer Schatten" auf seinem „glänzenden Leben" zurück. Dieser Schatten liest sich als das Negativbild des Schimmers, als Rest oder Spur des Erfindungsprozesses. Die Erfindung ist am Schluss der Erzählung abgeschlossen. Das Bild der Geburt taucht wieder auf, zitiert die Szene im 2. Kapitel mit Tonka und dem „zufällig weinenden Gesicht", das sich „wie ein grässlicher Wurm" nach allen Seiten krümmte. Mit Doppelpunkt ist übergeleitet in einen anderen Modus der Erinnerung, der sich über seinen ganzen Körper zieht und im Schrei ihres Namens endet. Analog zur Vereinigung im Liebesakt und der Namensnennung durch Tonka, wird ein Wissen erfahren von Dingen, die „er niemals gewusst hatte". Das Kindergesicht, das sich dort schon „wie ein Wurm nach allen Seiten krümmte", musste von ihm gelesen, gedeutet werden als „Anblick dahinter noch etwas anderes war", nämlich „als ein ähnliches Beispiel des Lebens wie der Tod, aus dessen Umkreis sie kamen." Hier wird ein anderes Wissen erfahren, „die Binde der Blindheit schien von seinen Augen gefallen zu sein", ein Offenbarungsmoment von dem die Lektüre wiederum ausgeschlossen ist. Dieses Offenbarungsmoment wird wieder zurückgenommen, als wäre „ihm bloss schnell etwas eingefallen". Das Erzählen als Erinnerung wird zum Schluss wiederum problematisiert zwischen der Plötzlichkeit eines Wissens „wer Tonka" war und einer ephemeren Erinnerung192. Der Text begibt sich wieder in die Bewegung von Geben und Zurücknehmen. Die Lektüre wird, von der Offenbarung des Sinns, der Lesbarkeit dank der gefallenen Augenbinde, ausgeschlossen, in den Modus des „bloß schnell" verwiesen, einer Gleichzeitigkeit von Todeskrankheit und BackenzahnZiehen [RMII,303], von Kirschenessen und Tod [RMII,305]. Musils Erzählung zitiert und modifiziert mehrere Autorschaftskonzepte und -bilder, und gelangt zu einer Preisgabe der Verortung von Autorschaft. Nicht nur dass sich die Erzählerfigur, die als Part mythologischer Kreativitätsbilder prädisponiert wäre, die Rolle der Autorschaft und damit eine Lösung des Problems zu übernehmen, sich von Anfang an davon distanziert
im Stil der Zeit, als „Urwort" bezeichnet: Die Ganzheit in der europäischen Philosophie, 1992, S. 397. 192 Siehe dazu die Formulierung im Mann ohne Eigenschaften: Die Gottesergriffenen sprechen von „Erkenntnissen, die so schnell sind, dass alles zugleich ist, und wie Feuertropfen sind, die in die Welt fallen. [...] Einer Blindheit, in der sie klar sehen [...] Sind das nicht, wenn auch von der Schwierigkeit des Ausdrucks flimmernd verhüllt, dieselben Empfindungen, die man noch heute hat, wenn zufällig das Herz ,gierig und gesättigt', wie sie sagen! - in jene utopischen Regionen gerät, die sich irgend· und nirgendwo zwischen einer unendlichen Zärtlichkeit und einer unendlichen Einsamkeit befinden ?!" [RMI, MoE, S. 753]
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und diesbezüglich hintersinnt. Entgegen der Tarnkappe der Einfachheit, die Tonka, wie übrigens auch die beiden anderen Erzählungen der Drei Frauen, zu Beginn aufsetzt, führt die Erzählung die Suche nach ihrer Genese in die Aporie, indem sie die Figuren, die möglichen Instanzen, am Schluss zugunsten der Stimmen auflöst. Statt die Geburt einer Autorinstanz mit der Vollendung des Textes zu feiern, belässt das Ende mit den unverortbaren Stimmen, die nicht auf Identitäten fokussierbar sind, das Ergebnis der Lektüre im Offenen. Die jungfräuliche Zeugung stellt das, was die Realisierung des Kunstwerkes sein könnte, zur Disposition. Die Stimmen der Figuren vollziehen in der rhetorischen Figur der Inversion einen Tausch, der die Stimmen von den Körpern löst. Durch eine Transgression der Geschlechterrollen wird deutlich, dass die Identität der Figuren Funktion der Sprache ist. Dementsprechend ist das Zeichen selbst nicht ausdeutbar, sondern in sich Darstellung dieser Problematik. Was Tonka schon immer war, Erinnerung, der zur Sprache verholfen werden sollte, greift auf die Erzähler-Figur über. Die Geburt des Autors, des Erfinders am Ende der Erzählung, realisiert sich nicht als Instanz, wie zu erwarten wäre, sondern die Autorschaft des Textes bleibt unverortbar Präsenz oder Abwesenheit. Die Stimme ist nicht mehr Garant der Körperlichkeit, der Identität der Figur, wie sie erträumt wird. Das Muster von Geben und Zurücknehmen, Zeigen und Verbergen, wie es am Schluss durch Vexierbilder wie Licht und Schatten ergänzt wird, verweist mit dem Sprechen und Hören auf die Rezeption des Textes. Während die Erzählerfigur versucht, Tonka in der Erinnerung zum Sprechen zu bringen, verweist eine nicht lokalisierbare Stimme am Schluss der Erzählung auf das Problem des Uberhörens und Missverstehens der Lektüre: „Wenn auch das menschliche Leben zu schnell fließt, als dass man jede seiner Stimmen recht hören und die Antwort auf sie finden könnte."
Das rechte Hören, der Modus der Rezeption, ist mit der Antwort, der produktiven Seite, wiederum verbunden. Weg von der Ebene der Figuren, wird die Frage nach der Autorschaft des Textes zum Schluss an die Lektüre verwiesen und setzt für deren Genese das Missverstehen der einfachen Fabel geradezu voraus. Es ist seine Verstehensfigur.
III Ingeborg Bachmann: Spurensicherung Vor der Fortführung des Versuchs, die Auseinandersetzung von literarischen Texten mit Diskursen, Bildern oder Konzepten von Autorschaft zu beschreiben, sei hier eine Zwischenbemerkung eingeschaltet. Die Lektüre von Musils Tonka zeigt ein Ergebnis, das zugleich methodologische Voraussetzung dieser Arbeit ist: Die Beschreibung von Autorschaftsfiguren und Modifizierungen von Konzepten und Bildern hat gezeigt, dass der Text die in Anspruch genommenen Konzepte nicht systematisch ausdeutet, sondern sich daraus bedient und die Lösungen der Konzepte gerade ausspart. Die Autorschaftsfiguren, welche statt der Lösungen diese Abwesenheit oder Negativität bezeichnen, sind Suchbild dieser Arbeit. Die Präsentation dieser Resultate, der impliziten Autorschaftsfiguren, sieht sich per se mit der Schwierigkeit ihrer Darstellung konfrontiert. Vor dieser Schwierigkeit steht auch die Lektüre der Texte von Ingeborg Bachmann. Wie jeder Text, verweisen auch Bachmanns Texte auf die Funktion Autorschaft. Die ausgewählten Texte, Das dreissigste Jahrm, die Büchnerpreis-Rede Ein Ort für Zufälle94 und die Franza-Fragmente aus dem umfangreichen Todesartenprojekt"5, die in diesem Kapitel besprochen werden, nehmen Bezug auf bestehende Autorschaftskonzepte und kreieren Autorschaftsfiguren, die ich unter den Titel Spurensicherung stelle. Während Ein Ort für Zufälle und die Franza-Fragmente die Diskussion um die Position oder den „Tod des Autors" zu reflektieren scheinen, schreibt sich Das dreissigste Jahr vom Ikarus-Mythos her, der noch das Modell der Autorfigur als Auseinandersetzung von Originalität und Uberlieferung repräsentiert.
1. Das dreissigste Jahr. Autorschaft im Textlabyrinth Die Erzählung Das dreissigste Jahr% zitiert bestimmte Topoi aus der Gattung Bildungsroman. Bisher interessierte deshalb vor allem der Umgang des Protagonisten mit der Krisensituation als Entwicklungsschritt in seiner Biographie. Neuere Untersuchungen lesen die Erzählung vermehrt unter dem
193 Ingeborg Bachmann, Das dreissigste Jahr, Sämtliche Erzählungen, S. 94-137. Erstveröffentlichung 1961. [DJ] 194 Ingeborg Bachmann: Ein Ort für Zufälle, „Todesarten'-Projekt, Bd. I, S. 169ff. [= TPI] 195 Ingeborg Bachmanir Franza-Fragmente aus dem „ Todesarten "-Projekt, Bd. II. [= TPII] 196 1961 im gleichnamigen Erzählungsband publiziert.
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Aspekt der Erinnerung.197 Die Erinnerung in den angeführten Untersuchungen wird zum Teil als Lehrgang des Protagonisten interpretiert, oder es wird versucht, ein Modell der Erinnerungsdarstellung zu beschreiben. Ich möchte dagegen vorschlagen, die Erinnerung in Beziehung zur Autorschaft zu setzen. Die Erzählung legt, wie gezeigt wird, die Auseinandersetzung mit Autorschaft auf der Ebene des Protagonisten an. Der Protagonist ist auf der Suche nach Autorschaft, eine Sehnsucht, die in der Erzählung als Werkphantasien deutlich wird. Dem Daedalus- und Ikarusmythos entsprechend, wirft die Diskussion um das Werk die Konzepte Originalität und Einmaligkeit bzw. Uberlieferung und Geschichte auf, in deren Spannung sich der Protagonist situieren wird. Ikarus und Daedalus Der Anfang der Erzählung setzt mit einem antiken Mythos ein, der sowohl Träger der Erinnerungsproblematik als auch der Autorschaftsthematik ist, dem Flug des Ikarus. Die Parallele zum Mythos wird allerdings erst im Laufe der Erzählung plausibel, die von der Flugmetaphorik durchzogen ist. Auf die Figur des Ikarus verweist folgendes Zitat: „Und eines Morgens wacht er auf, an einem Tag, den er vergessen wird, und liegt plötzlich da, ohne sich erheben zu können, getroffen von harten Lichtstrahlen und entblösst jeder Waffe und jeden Muts für den neuen Tag. Wenn er die Augen schließt, um sich zu schützen, sinkt er zurück und treibt ab in eine Ohnmacht, mitsamt jedem gelebten Augenblick. E r sinkt und sinkt, und der Schrei wird nicht laut (auch er ihm genommen, alles ihm genommen!), und er stürzt hinunter ins Bodenlose, bis ihm die Sinne schwinden, bis alles aufgelöst, ausgelöscht und vernichtet ist, was er zu sein glaubte." [DJ, 94]
Diese Passage, die den Sturz darstellt, wird von einer späteren Passage ergänzt, die - als Rückblende - das Steigen beschreibt: „Einmal, als er kaum zwanzig Jahre alt war, hatte er in der Wiener Nationalbibliothek alle Dinge zu Ende gedacht und dann erfahren, dass er ja lebte [...]. Und als er dachte und dachte und wie auf einer Schaukel hoch und höher flog, ohne Schwindelgefühl, und als er sich den herrlichsten Schwung gab, da fühlte er sich
197 Dirk Göttsche, Erinnerung und Erzählstruktur in der erzählenden Prosa Ingeborg Bachmanns, in: L W U 23 (1990); Andrea Stoll, Erinnerung als ästhetische Kategorie des Widerstandes im Werk Ingeborg Bachmanns, 1991. Zuletzt Sigrid Weigel, die die Erzählung vor allem als Auseinandersetzung mit Geschichte und allegorischer Bildlektüre deutet. (S. 36ff.) In einem zweiten Schritt problematisiert sie die Lektüre der Erzählung als Konglomerat philosophischer Positionen (S. 112ff.) Weigel, Ingeborg Bachmann, 1999.
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gegen eine Decke fliegen, durch die er oben durch musste. Ein Glücksgefühl wie nie zuvor hatte ihn erfasst, weil er in diesem Augenblick dabei war, etwas das sich auf alles und aufs Letzte bezog zu begreifen." Darauf folgt ein „Schlag", ein Motiv , das sich wiederholt. Die Zerstörung, die dem Glücksgefühl folgt, gilt einem „Geschöpf, das sich zu weit erhoben hatte, ein Flügelwesen, das durch blaudämmernde Gänge einem Lichtquell zustrebte und, genau genommen, ein Mensch, nicht mehr als ein Widerpart, sondern als der mögliche Mitwisser der Schöpfung." [DJ, 107-108]. Der Mythos von Daedalus und Ikarus thematisiert im Konflikt von Vater („Führer" bei Ovid) und Sohn die Übertretung des Gesetzes durch den Jüngeren. Die „Himmelssehnsucht" treibt den Jüngeren dazu, den Alteren zu überflügeln. Vorgewarnt, entgeht er nicht der prophezeihten Strafe." 8 Ikarus, der berühmte Sohn, und sein Vater Daedalus, der Erbauer des Labyrinths auf Kreta, sind Figuren eines Mythos, der, bei allen Differenzen der Interpretationen, als Thematisierung der Kreativität gelesen wird.'" Die Rezeption des Mythos prägt eine Art kompetitiven Streits über die künstlerische Bedeutung der beiden Figuren. Daedalus, der Erbauer des Labyrinths und anderer faszinierender Kunstwerke wie dem sprechenden Automaten oder dem gefalteten Stuhl, ist ein erprobter Künstler. Ihm wird eine mimetische Kunstauffassung zugeordnet, welche die Risikolosigkeit des goldenen Weges der Mitte (und des goldenen Bodens des Handwerks) beschreitet. Dagegen stellt sein waghalsiger Sohn Ikarus einen Gegentypus dar, der seine schöpferische Tat mit dem Leben zu bezahlen hat. Das kreative Moment bei Ikarus, und das interessiert in diesem Zusammenhang besonders, beruht auf der Tat (dem Flug gegen die Sonne), die nie das Werk hinterlassen wird. Diese „ephemere Leistung" hat „als schöpferische Tat Anerkennung gefunden"200 und Ikarus ist es, der mit seinem Sturzflug einem Meer seinen Namen gibt. Obwohl oder weil Ikarus kein Werk hinterlässt, ist er der Typus des Künstlers, des Dichters, der sich vom Handwerker unterscheidet. In dieser Differenz wird das künstlerische Moment angesiedelt: Der Flug des Ikarus ist das kreative, „schöpferische" Moment. Allerdings erfährt Daedalus bereits in den Metamorphosen
198 Interessanterweise schreibt sich Ovid, der das belehrende Moment hervorkehrt, am Schluss seiner Metamorphosen, wo es um die Lebendigkeit der Kunst geht, in die Reihe der Söhne ein: aus der Genealogie der Heldengötter geht hervor, dass die Söhne die Väter in ihren Taten übertreffen. Ovid selbst fürchtet für sein Werk weder „Jupiters Zornwut, Feuer und Schwert", noch „die zehrende Zeit", denn „unzerstörbar dauert [s]ein Name". Ovid, Metamorphosen, S. 512f. 199 Zur Geschichte des Mythos siehe Joseph Leo Koerner, Die Suche nach dem Labyrinth, 1983; Carl B. Möller, Ikarus - Variation eines Mythos, 1989, und den ausgezeichneten Aufsatz von Felix Philipp Ingold, Ikarus novus: Zum Selbstverständnis des Autors in der Moderne, in: Harro Segeberg: Technik in der Literatur, 1987. 200 Ingold, Ikarus novus, 1987, S. 274.
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Ingeborg Bachmann
Ovids, der sich auf den attischen Mythos stützt und für die darauf folgenden Varianten ausschlaggebend ist201, eine Deutung, die ihn als Dichter erscheinen lässt. Die Beschreibung nicht des vollendeten Labyrinths, sondern der Art und Weise, wie es Daedalus verfertigt, beschreibt die Entstehung eines Textes: ,,[E]r verwirrt die Male; er führt durch die / Windung / Mannigfaltigster Wege die Augen in schwankende Irrung." 202 Die Verwandtschaft von Text und Labyrinth wird uns später noch beschäftigen, hier ist von Bedeutung, dass der pragmatische Künstler Daedalus das Labyrinth als Werk zurücklässt, ein Werk, das sich in der Horizontalen ausdehnt, im Gegensatz zu Ikarus' Flug in die Vertikale. Die Gegensätzlichkeit der beiden Figuren Daedalus und Ikarus lässt sich nach Ingold auf folgende Formel bringen: „Daedalus wird als Wahrer und Fortsetzer, Ikarus als Verächter und Vernichter kultureller Uberlieferung fassbar." 203
Bachmanns Erzählung gestaltet mit ihrer modellhaften Figur, so lautet hier die These, das paradoxe Problem von Fortsetzung der Tradition und gleichzeitiger Übertretung des kreativen Aktes. Der Protagonist der Erzählung erlebt sich zwischen dem Wunsch, die Uberlieferung zu überspringen, sich also aus den Fängen der Geschichte zu befreien, um eine „reine Tat" vollziehen zu können, und dem Wunsch, eine Spur zu hinterlassen, sich in eine Geschichte einzuschreiben und darin kenntlich und ablesbar zu werden. Die Bewegungsvektoren der beiden mythologischen Figuren, die Horizontale und die Vertikale, bezeichnet auch der Protagonist in Bachmanns Erzählung. Seine Reisen zwischen Wien und Rom, sein Pendeln „zwischen dem Meer und der Stadt hin und her" [DJ, 101], lässt einen abgesteckten Raum entstehen, der in Opposition zu den Flugszenen steht, die in den vertikalen Bewegungen die Diachronie verlassen. Wie die Uberlieferung, so beziehen sich auch Erinnern und Vergessen auf die Geschichte der Persona wie auf das kulturelle Gedächtnis oder das historische Bewusstsein. Die Erzählung gestaltet die Auseinandersetzung mit dem subjektiven wie mit dem kulturellen Gedächtnis, die sich kreuzen.204 Das Erinnern ist Funktion dieser
201 202 203 204
Siehe Möller, Ikarus, S. 21. Ovid, Metamorphosen, Achtes Buch, Vers 160, S. 250. Ingold, Ikarus novus, S. 277. Höller spricht von einem „Ineinander]] von Geschichte, Lebensgeschichte und Werkgeschichte". Höller, Ingeborg Bachmann, 1987, S. 145. Was hier als Auflösung der Grenze „zwischen Autor-Ich und fiktivem literarischem Ich" verstanden wird, ist ein wichtiges Problem, das meiner Meinung nach jedoch nicht dort am interessantesten ist, wo es Höller ansiedelt, im „poetologischen Werk" (Poetik-Vorlesungen, Reden, Essays etc.), sondern gerade in den Erzählungen. Die Erzählung Das dreissigste Jahr gestaltet genau die Problematik des „Ineinander von Geschichte, Lebensgeschichte und Werkge-
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Überschneidung. Die Erinnerung erwirbt der Protagonist nach seinem Aufwachen in sein dreissigstes Jahr als „wundersame neue Fähigkeit", sich an „alle seine Jahre, flächige und tiefe, und an alle Orte" zu erinnern. [DJ,94] Am Anfang ist das Ziel seiner Reisen, „seine Vergangenheit [zu] kündigen" [DJ, 96], eine „Freiheit" aufzusuchen, in der er sich „in seiner wirklichen Gestalt zeigen" kann [DJ,98]. Das Absehen von der eigenen Vergangenheit wird vom Wunsch nach der „Kündigung der Geschichte" [DJ,132] 205 verdoppelt, die hinter allen Formen von Konventionen, Glauben und Ordnungen eine „wirkliche Gestalt" sichtbar machen soll, „zugunsten einer Neugründung" [132]. Hier wird schon deutlich, dass auch die „wirkliche Gestalt" schon immer „Gestalt" ist, ein Gestaltetes, welches die Bedingungen dieser Gemachtheit mehr oder weniger „wirklich" darlegen kann. „Geschichte" ist vorerst als kulturelles Erbe zu verstehen, wenn der Protagonist, Leser der „Vorsokratiker" [95], mit grosser Geste „Griechenland und Buddhaland, [...] Aufklärung und Alchimie" [103] als „gemietete" und „gepachtete" Bilder verabschieden möchte. Dies impliziert zugleich eine Kritik am Mythos: Mythos verkörpert die Uberlieferung, nicht nur als tradiertes Bild, sondern, wenn die Geschichtlichkeit des Mythos mitgedacht wird, als Bild der Uberlieferung. Die Kritik am Mythos ist hier mit dem Mythos formuliert. Dies ist im Text ausgesprochen, wenn es in der Reflexion über das „Ich" heisst, es befinde sich „mit einem Fuss in der Wildnis und dem anderen auf der Hauptstrasse zur ewigen Zivilisation" [102], Was der Mythos von Ikarus und Daedalus in zwei Figuren zur Darstellung bringt, spielt sich in der Figur des Protagonisten in Bachmanns Erzählung ab. Das ikarische Moment, das Ablegen von Geschichte, gelingt in einem Erlebnis: Er begegnet der „unglaublichen Liebe" [DJ, 115]. Dieser „Zustand des Aussersichseins", wo schon „die erste Stunde zuviel" [116] ist, schafft eine „Leere", die nur noch ein Gefühl erzeugt: „[...] wie eine Welle ihn in kurzen Abständen gegen einen Felsen hob und hinschlug und wieder zurücknahm." [115] 206 schichte". Höller stellt richtig die Enthüllung des „mörderische[n] Gesetz[es] des Krieges" als eine „wichtige thematische Verbindungslinie" (S. 142) des Erzählbandes zum Todesartenprojekt fest, situiert aber die „Problematik des schreibenden Ich" erst in Malina (S. 143). 205 Seitenzahlen ohne weitere Angaben verweisen in diesem Kapitel auf Das Jahr
Dreissigste
[DJ].
2 0 6 Eine Gegenüberstellung von Musils Mann ohne Eigenschaften
und Bachmanns E r -
zählung wäre naheliegend, da Bachmanns Protagonist Ulrichs Konzept der Eigenschaftslosigkeit und des Möglichkeitssinns zitiert: „Nie hat er gedacht, dass von tausendundeiner
Möglichkeit
vielleicht
schon
tausend Möglichkeiten
vertan
und
versäumt waren [...]" [DJ, 96]. Später heißt es: „Er war von allem frei, aller Eigenschaften, Gedanken und Ziele beraubt in dieser Katastrophe [...]" [DJ, 115]. Auf diesen intertextuellen Bezug macht auch Andrea Stoll, Erinnerung gorie, 1991, S. 149, aufmerksam.
als ästhetische
Kate-
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Ingeborg Bachmann
Werkphantasien Dieses Liebeserlebnis unterscheidet sich von den anderen Beziehungen darin, dass der N a m e der Geliebten nicht ausgesprochen werden kann, „weil sie keinen hatte, wie das G l ü c k selbst, von dem er geschleift wurde ohne R ü c k sicht." [115] D i e N a m e n der drei anderen Frauengestalten wiederholen sich: Elena, Leni und Helene. 2 0 7 D i e Wiederholung der N a m e n korrespondiert mit der Wiederholung des N a m e n s M o l l für denjenigen, der die verschiedenen Rollen des Zeitgenossen zu spielen hat. Auch v o m Protagonisten heisst es, er führe ein „Doppelleben" [ D J , 100]. D i e „unglaubliche L i e b e " hingegen öffnet einen Raum, eine „Stunde", in dem er „von allem frei" ist. Das Singuläre des Erlebnisses steht in Opposition zum zyklischen der Wiederholung der N a m e n , aber auch zur zyklischen Chronologie der Erzählung in den zwölf Monaten. So gesehen setzt das Erlebnis nicht nur einer diachronischen Geschichte oder einer individuellen Biographie einen Haltepunkt ein, sondern markiert einen R a u m der Sprachlosigkeit. Es soll ein R a u m sein, der von Geschichte befreit ist, und, so zeigt die Namenlosigkeit der Geliebten, von Sprache. Das „Absolute" ist mit dem Sprachverlust verbunden: er „hat die Sprache verloren, sich verzehrt danach, die Sprache dafür zu finden." E i n Fortdauern des Erlebnisses scheitert nicht zuletzt an der Sprache, die wieder auftritt - genauer ist es die Schrift, welche die Geschichte, den „Zusammenhang" [ D J , 1 2 9 ] wieder erinnert: „Aber immer ist dann einer auf ihn zugetreten, hat ihm einen Brief überbracht [...]" [DJ,129]. D e r Brief bewahrt „früher eingegangene Verpflichtung", Beziehungen auf. D i e Erinnerung, die Geschichtlichkeit, scheint der Sprache inhärent zu sein. D i e grenzüberfliegende Erfahrung setzt einen Absolutheitsanspruch, der das „ W e r k " auszuschliessen scheint: „Während anderswo allerorten die anderen eine Arbeit taten, u m W e r k e bekümmert waren, liebte er vollkommen. [...] D i e Augenblicke glühten, die Zeit wurde zur schwarzen Brandspur dahinter [...]" [ D J , 115] D e r M y t h o s wird hier wieder zitiert. W i e das berühmte Gemälde von Pieter Brueghel, wird mit dem Flug gleichzeitig die Tätigkeit von arbeitenden Menschen dargestellt, Ovids T e x t entsprechend (Siehe A b b . 3): „Irgendein Mensch der Fische mit schwankender Rute sich angelt / Oder ein Hirt, gestützt auf den Stab, oder ein Bauer am Pfluge / mochte sie sehn und erstaunen und glauben, die Segler der Lüfte / seien wohl Götter." 208
207 Diese Namen können durchaus Helena aus dem Faust zitieren. Auf das faustische Streben, „Mitwisser der Schöpfung" zu sein, weist auch Andrea Stoll hin, ohne aber diese „Schöpfung" als Werk zu problematisieren. Stoll, Erinnerung als ästhetische Kategorie, 1991, S. 155. 208 Ovid, Metamorphosen VIII, Vers 216, S. 252.
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Bei Bachmann wird speziell hervorgehoben, dass die Arbeitenden „um Werke bekümmert" sind. Diese Werke lösen Werkphantasien des Protagonisten aus. Sie drücken sich aus im Wunsch, ,,[e]inen Baum [zu] pflanzen. Ein Kind [zu] zeugen." [106] „Er wurde einfacher von Tag zu Tag." [106] Ein Kind würde jene „Einfachheit" in seinem anstrengend vielschichtigen Intellektuellenleben garantieren, die Ovids pflügender Bauer zu repräsentieren hat. Die Werkphantasie, der Wunsch nach Erträgen, steht im Gegensatz zu der nur ephemeren Schrift am Himmel, der „Brandspur", die Zeichen eines Erlebnisses ist.
Abb. 3: Pieter Brueghel, Der Sturz des Ikarus, Königliches Museum, Brüssel, ca. 1558
Das Paradox der Gleichzeitigkeit von Werkphantasie und Sehnsucht nach dem Erlebnis, ist nicht nur am Ikarus-Mythos ablesbar, sondern auch Charakteristikum der Schrift. Das Paradox des Wunsches, einerseits Spuren zu hinterlassen, Zeichen zu setzen, und andererseits gerade „spurlos" zu verschwinden [DJ, 129], ist das Paradox der Schrift selbst, das im Bild der „Brandspur" gefasst ist. Die vergegenwärtigende Funktion der Sprache im Benennen und damit Evozieren, hat zugleich eine mortifizierende Tendenz, indem das Benannte selbst stumm bleibt. Die Brandspur ist deiktisch zugleich Anwesenheit des Abwesenden wie auch Zeichen der Abwesenheit des Anwesenden. Die Werkphantasie wird explizit als Wunsch nach einer eigenen „Handschrift" in der folgenden Passage formuliert, in der sich der Protagonist mit einem Instrument vergleicht, „auf dem jemand [...] ein paar Töne
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angeschlagen hat [...], aus denen ich wütend versuche ein Stück Klang zu machen, das meine Handschrift trägt. Meine Handschrift!" [DJ, 103].209 Diese Passage weist wieder auf das beschriebene Konzept von Schrift, denn sofort wird dem Protagonisten bewusst, dass diese Handschrift nicht die unverwechselbare Spur setzen wird. Sie ist ein Produkt aus anderen Schriften, Gelesenem: „Wäre ich nicht in Bücher getaucht, in Geschichten und Legenden, in Zeitungen, die Nachrichten, wäre nicht alles Mitteilbare aufgewachsen in mir, wäre ich ein Nichts, eine Versammlung unverstandener Vorkommnisse."[DJ, 103]
Naturgewalten werden dagegen als Handschriften anerkannt. Der Protagonist formuliert die Frage nach der Autorschaft als Problem der Relation von Individualität und Natur, von Subjekt und Universalität. Der zitierte Textabschnitt gehört zur ersten von drei Passagen die sich im Sprachduktus von der Erzählung herausheben.210 Dabei unterscheidet sich die Passage vom Erzählgestus des übrigen Textes durch die Qualität der Rede eines Ichs in der ersten, eines angesprochenen Dus (und damit der impliziten Präsenz eines sprechenden Ichs) in der zweiten und wieder eines Ichs in der dritten Passage. Der Redegestus setzt Stimmen voraus, die allerdings nur bedingt als die Stimme des Protagonisten identifizierbar sind. Der Modellhaftigkeit der Erzählung entsprechend, erprobt der Protagonist verschiedene Diskurse. Während die erste der drei Redepassagen die Frage nach dem kreativen Subjekt stellt, setzt sich die zweite Passage mit Sprachkritik, insbesondere mit Nietzsches Metapherntheorie, auseinander. Die dritte Passage [DJ, 126-128] versucht aufgrund der sprachkritischen Befunde eine Rede „ohne Gewähr" zu realisieren. Diese drei Passagen, in denen eine Stimme und damit eine Figur evoziert wird, sind von einem irritierenden Pathos getragen, auf das ich später kurz eingehen werde. Die erste Passage setzt mit der Frage ein: „Wer bin ich denn, im goldenen September, wenn ich alles von mir streife, was man aus mir gemacht hat?" [102] Die Frage nach einer unbedeckten, authentischen Identität, nach einer eigenen Stimme, wäre Voraussetzung einer wiedererkennbaren „Handschrift" und würde eine Positionierung und Determinierung der Autorschaft bedeu-
209 Das Bild des in der Vergangenheit angeschlagenen Tones weist auf die Vorstellung der Harmonie einer Sphärenmusik hin, wie sie Pythagoras voraussetzt. Die im Text erwähnte Auseinandersetzung des Protagonisten mit den Vorsokratikern lässt hier eine Spur zurück. 210 Hans Höller bezeichnet diese Passagen als „lyrisch" und deutet sie als „Bruch mit dem Kontinuum der alltäglichen Ordnung", dessen „Ton" an den der Hymne erinnert. Höller, Ingeborg Bachmann, 1987, S. 126-127.
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ten. Nicht zufällig ist hier erstmals „Ich" ausgesprochen als Selbstvergewisserung. In der Verkleidung der Ich-Form gewinnt die Frage nach dem Subjekt in der Erzählung einen besonderen Status. Zugleich wird gerade diesem Ich die Qualität einer festen Instanz abgesprochen zugunsten einer Sammlung von Gelesenem. Die Kreativität erweist sich fremden Ursprungs und hinterfragt die Qualität des Originals: „Nichts anderes ist jeder Gedanke als das Aufgehen fremder Samen." [DJ, 102] Das Gewand des Ich aus Gelesenem, das eine substantielle Subjektivität vereitelt, diese also auch nicht in einer „Handschrift" lesbar macht, ist in den weiteren Kontext der Subjektdiskussion und ihrer Masken zu stellen, der in Nietzsche für die Erzählung Bachmanns einen Referenzpunkt findet. Angegriffene Währung und Autorschaft ohne Gewähr Bachmanns Erzählung zitiert Nietzsches sprachphilosophische Überlegungen im Kontext der Metaphorizität der Sprache. Die Funktion dieser Textstellen liegt allerdings nicht darin, der Lektüre einen philosophischen Schlüssel für die Interpretation zu liefern. Es geht vielmehr darum, den Rezeptionsmodus dieser Gedanken aufzuzeigen. Zum einen reflektiert der Text sich selbst als Intertext, als Produkt „fremder Samen", und thematisiert somit seinen eigenen Status in der Genealogie der Werke. Andererseits macht die Erzählung Das dreissigste Jahr, mit dem Protagonisten als Rezipienten der Uberlieferung, eine Rezeptionsform der Philosophie deutlich. Die Zitate liegen wie Bruchstücke im Text, über die der Protagonist stolpert, oder die er in sein Nachdenken einzubeziehen versucht. Der Umgang mit philosophischen Lektüren ist bereits Thema der frühen Erzählung Der Schweisser, die 1959 entstanden ist. Dort werden die Konsequenzen der radikalen Infragestellung von Begriffen und Werten dargestellt. Nietzsches Fröhliche Wissenschaft wird explizit als das Buch bezeichnet, das die Handlung der Erzählung motiviert [Der Schweisser, S. 61]. Ausserdem wird, wie in der Erzählung Das dreissigste Jahr, aus Nietzsches Aufsatz Uber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne zitiert. Der Schweisser wird durch die zufällige Begegnung mit Nietzsches Philosophie aus seinem Berufsalltag gerissen. Statt Nietzsches Sprachphilosophie oder Metapherntheorie metaphorisch zu nehmen, liest er sie wörtlich, „Wort für Wort ab". Das heisst, dass er die „Wahrheit", die Nietzsche als „Heer von Metaphern" bezeichnet,211 in seiner Rezeption von Nietzsches Texten in gewisser Weise wiederherstellt. Er versäumt, Nietzsches Metapherntheorie auf seinen eigenen Interpretationsansatz anzuwenden und nimmt sie wörtlich. Das heisst, er vergisst, dass sein Einsatz, nämlich sein Leben, mit in diese Sprachkon-
211
Siehe Anm. 215.
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zeption Eingang finden müsste. Der Schweisser bezahlt das Nominalismusproblem mit dem Leben. 212
Das dreissigste Jahr zeigt, analog zur Erzählung Der Schweisser, wie Nietzsches Texte für die Gestaltung von Lebenskonzepten gedeutet und handhabbar gemacht werden. Der Protagonist der Erzählung erinnert sich nicht nur an Begebenheiten aus seinem Leben, sondern erinnert eine sprachphilosophische Diskussion, die er bruchstückhaft vergegenwärtigt. Es handelt sich dabei vor allem um Passagen aus dem Aufsatz Uber Wahrheit und
Lüge im aussermoralischen Sinne, aber auch um Passagen aus der Fröhlichen Wissenschaft, die, wie ich hier behaupten will, in der zweiten Redepassage in Bachmanns Erzählung implizit zitiert werden [DJ, 113]213. Die Rolle der Sprache, der Begriffe als Setzungen, wird hier aufgezeigt und vom Protagonisten transformiert. Es wird dabei deutlich, dass die Auseinandersetzung mit der Sprache eine Auseinandersetzung mit Uberlieferung bedeutet und damit das Thema des Ikarus-Mythos fortsetzt. Die Auseinandersetzung mit der Uberlieferung in den Passagen aus Nietzsches Über Wahrheit und Lüge bedeutet ein Verwerfen der erstarrten Begrifflichkeit, die ihren Status der Setzung nicht reflektiert: „Jetzt muss man bei jeder Erkenntnis über steinharte verewigte Worte stolpern, und wird dabei eher ein Bein brechen als ein Wort." 214 Nietzsches Demontage des Wahrheitsbegriffs als sprachlich Verfasster, veranschaulicht er (in der „Definition" von Wahrheit) im Bild der Münze: „Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen." 215 Bachmann benutzt schon in der
frühen, kurzen Erzählung Auch ich habe in Arkadien der gerade den alten
Dichtungstopos 217
gelebt2"", einem Text,
aufgreift und die Rolle der Sprache
212 Der Schweisser, in: Ingeborg Bachmann, Sämtliche Erzählungen, 213
Nietzsche, KSA 1, Nachgelassene
214 Nietzsche, KSA 3, Morgenröthe,
Schriften
1978.
1 8 7 0 - 7 3 , S. 8 7 1 - 8 9 0 .
S. 53.
215
„Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: Die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen." KSA 1, S. 880f.
216
1952 erschienen.
217 Weigel erinnert an Panofskis Analyse des Arkadia-Motivs: et in Arcadia ego nicht als Aussage des Dichters, der das Paradies verloren hat, sondern als Aussage des Todes, der auch dort seinen Ort hat. Siehe dazu Weigel, Ingeborg Bachmann, 1999, S. 250ff. Bachmanns kurze Erzählung scheint sich auf diese Deutung zu beziehen, wenn sie mit einer Symbolik des Stillebens Arkadien als Herbstlandschaft zeichnet, in der alles überreif an die Verwesung grenzt. [Ingeborg Bachmann: Sämtliche Erzählungen,
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ausserhalb Arkadiens thematisiert, das Bild des Geldes zur Darstellung der sprachlichen Verfasstheit von Werten: „Aber die Währung zwischen hier und dort ist noch immer eine andere [...]" 218 In der Erzählung Das dreissigste Jahr heisst es über die Gedanken: „Aber sie sind ausser Kurs gesetzt, diese Münzen, mit denen ihr klimpert, ihr wisst es nur noch nicht. Zieht sie aus dem Verkehr mitsamt den abgebildeten Totenköpfen und Adlern." [DJ, 103] Das Klimpern der Münzen hebt ihre Beschaffenheit, das Metall, hervor. Ist in Nietzsches Formulierung die Prägung der Münze unleserlich geworden und damit der Nominalwert der Münze abgezogen und nur noch der „Realwert" der Münze erhalten, so ist bei Bachmann der Nominalwert des Geldes noch lesbar, aber, durch eine neue Setzung, „ausser Kurs gesetzt". Das Geld dient als Bild einer durch sprachliche Setzung bestimmten Wertigkeit, bei Nietzsche explizit in der Passage über die Wahrheit. Nietzsche spricht in Uber Wahrheit und Lüge v o m „Sprachbildner" 2 ", der, seiner Vorstellung des Konstrukts entsprechend, die Sprache „baut" 220 . In der Baumetaphorik demontiert Nietzsche das Konstrukt Sprache, wenn er sie als „Fachwerk", „Bollwerk", „Turmbau", „Bretterwerk", „Gerüst", „Columbarium" und „Begräbnisstätte" 221 bezeichnet: „Dabei ergibt sich allerdings, dass jene künstlerische Metaphernbildung, mit der in uns jede Empfindung beginnt, bereits jene Formen voraussetzt, also in ihnen vollzogen wird; nur aus dem festen Verharren dieser Urformen erklärt sich die Möglichkeit, wie nachher wieder aus den Metaphern selbst ein Bau der Begriffe construiert werden sollte. Dieser ist nämlich eine Nachahmung der Zeit- Raumund Zahlenverhältnisse auf dem Boden der Metaphern."222 Für die Diskussion der Utopie einer „neuen Sprache", die bei Bachmann immer wieder zitiert wird, die etwa durch den Arkadientopos motiviert
218 219 220 221 222
S. 38-40] Der Titel der Erzählung, Auch ich habe in Arkadien gelebt, weist hingegen unmissverständlich auf die Präsenz der traditionellen Dichterfigur. Auch ich habe in Arkadien gelebt, Ingeborg Bachmann: Sämtliche Erzählungen, 1978, S. 40. Nietzsche, KS A 1, S. 879. Ebd. Ebd. S. 879-888. Ebd. S. 886. Denselben Gedankengang formuliert Nietzsche folgendermassen: „Wenn Jemand ein Ding hinter einem Busche versteckt, es eben dort wieder sucht und auch findet, so ist an diesem Suchen und Finden nicht viel zu rühmen: so aber steht es mit dem Suchen und Finden der,Wahrheit* innerhalb des Vernunft-Bezirkes." S. 883.
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scheint, ist ein Blick auf Nietzsches Setzung einer „Urform", wie es das obige Zitat tut, einzugehen. Die Sprache ist bei Nietzsche ein bewegliches Gebilde. Die Schaffung der Begriffe realisiert sich als Verallgemeinerung durch das „Gleichsetzen des Nicht-Gleichen", um den Preis des „einmaligen ganz und gar individualisierten Urerlebnis".223 Das Wort soll nicht „als Erinnerung dienen" für die Einmaligkeit. Was laut Nietzsche vergessen wird, ist die Metaphorizität der „originalen Anschauungsmetaphern" und daraus ergibt sich ihr Missdeuten als „die Dinge selbst". Zum anderen wird „durch das Hart- und Starr-Werden einer ursprünglich in hitziger Flüssigkeit aus dem Urvermögen menschlicher Phantasie hervorströmenden Bildermasse" die „primitive Metapherwelt" vergessen, weil „der Mensch sich als Subjekt und zwar als künstlerisch schaffendes Subjekt vergisst."224 Wie im Bild der originalen Metapher, die eben Metapher ohne bezeichenbares Original ist, führt auch die Feststellung des Menschen „als Subjekt" nicht zu einer festen Instanz, sondern gerade dieses Bewusstsein bringt ihn um sein „Selbstbewusstsein", um „Ruhe, Sicherheit und Consequenz".225 Was einem Menschen bleibt, der eine dem Protagonisten in Bachmanns Erzählung vergleichbare Erfahrung macht, ist das „ästhetische Verhalten".226 Die Folge dieser Wahrnehmung bringt den Schweisser dazu, sich das Leben zu nehmen. Der Protagonist im Dreissigsten Jahr stellt in der zweiten IchDu Passage die Zuschreibungen in Frage: Wahrheit und Lüge, Mann und Frau, arm und reich, Mitleid und Leid. [DJ, 113] Was von Nietzsches auflösender Darstellung eines binären Wertesystems bleibt, ist in der Interpretation von Bachmanns Protagonisten das Pathos der grossen Beliebigkeit. Hier liegt also kaum die vielbeschworene Hoffnung Bachmanns in die Utopie, eine neue Sprache anzusiedeln. Der Protagonist stellt mit seinem Wunsch nach einem „Handgriff in der grösseren Ordnung", nach „dem neuen Status", wenn die „Welt dort" angefasst wird, „wo sie das Geheimnis der Drehbarkeit hat", genau den Typus dar, den Nietzsche zu Beginn seines Textes kritisiert, der seinen Verstand „so pathetisch" nimmt, „als ob die Angeln der Welt sich in ihm drehten".227 Er ist, wie der Schweisser auch, der Philosophie in die Falle gegangen. Die Vorstellung einer radikalen Abschaffung der Begriffe mündet nicht in die Vision einer Utopie. Die Vision des Protagonisten wird am Schluss des Abschnittes, wo endlich das verheissungsvolle „Dann" auftaucht, kleinlaut. Der Utopieent-
223 224 225 226 227
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
S. 879. S. 883. S. 884. S. 875.
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wurf wird vorenthalten, die Sprache bleibt weg, elliptisch, bis das „dann" seine Bedingungen lediglich tautologisch wiederholt. [DJ, 114] Stellt nun die erste der drei Redepassagen in Bachmanns Das dreissigste Jahr die Frage nach einem kreativen Subjekt, so zitiert die zweite Passage die Sprachkritik: der polemische Gestus des wiederholten „wenn" zitiert mit der Sprachkritik auch Nietzsches Gestus der Prophezeiung und Verkündigung. Die dritte Passage [DJ, 126-128] „Stadt ohne Gewähr!" realisiert eine Rede, welche die sprachkritischen Überlegungen nicht reflektiert oder diskursiviert, aber zu übersetzen versucht in eine Rede „ohne Gewähr". Die Passage knüpft an einen Traum des Protagonisten an. Er versucht sich an die im Traum auf ihn einstürzenden Stadt zu erinnern. Der Erinnerungsversuch gilt nicht der Stadt selbst, sondern dem Traum. Was in den früheren Passagen angesprochen wurde, die Befreiung der Metaphern aus dem Korsett der Begriffe, aber vor allem das kreative Potential der Sprache, wird in dieser dritten Passage als „lyrische" Rede übersetzt. Was entsteht, ist ein Entwurf poetischer Tätigkeit, das heisst ein Modell der Metaphorizität. Dieser Passage (wie auch den vorangehenden Rede-Passagen) haftet eine Art Befreiungspathos an, das mit dem beschriebenen Versuch zusammenhängt, eine befreite Rede zu realisieren. Die Passage endet in einer Auferstehungsphantasie, die den Schluss der Erzählung vorweg nimmt.
Kein Knochen gebrochen·. Die Auferstehung der Autorfigur Das dreissigste Jahr endet für den Protagonisten nicht mit dem Tod, wie für den Schweisser, sondern mit dem „halben Tod", einem Bild, das sich im Todesartenprojekt fortsetzen wird. Im Diskurs der Auferstehung erwacht der Protagonist nach einem Autounfall im Krankenhaus. Den Tod des Fahrers des Wagens deutet der Protagonist als Opfertod, der ihm, nach seinem „halben Tod", einen vorerst sprachlosen Neuanfang ermöglicht. „Ich sage dir, steh auf und geh! Es ist dir kein Knochen gebrochen." [DJ,137] Der letzte Satz verbindet zwei biblische Zitate, die beide den Auferstehungsgedanken beinhalten, die Erweckungsszene und die Kreuzigungsszene. Das biblische Gebot, dem Passalamm keinen Knochen zu brechen, wird bei der Kreuzigung erinnert.228 Dieser halbe Tod führt den Protagonisten zur Erkenntnis, dass er vor dem Erlebnis gemeint hatte, „alles schon zu Ende denken zu können", obwohl er „ja erst die ersten Schritte in eine Wirklichkeit tat, die sich nicht gleich zu Ende denken liess und die ihm noch vieles vorenthielt." [DJ, 136] Das pragmatische Ende verbindet sich über den Auferstehungsgedanken mit der Teilhabe an der schöpferischen Mitwisserschaft, die der Protagonist als Ikarus suchte. Die Erzählung schliesst die
228 Joh. 19,36.
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Frage nach dem Werk und der schöpferischen Tat mit einem Überdenken der Bedingungen. Die philosophischen Konzepte, die sich vorher als Bruchstücke manifestierten, sind jetzt als Grundbedingung in die Wirklichkeit des Protagonisten eingegangen. Die Sprachkrise, durch Nietzsche ausgelöst, wird hier als Krise der Autorschaft des Werkes manifest. Der Schluss der Erzählung zeigt ihre Verwandtschaft mit Musils Vorschlag der „Partiallösung". Bachmann zitiert in ihrem Essay „Ins tausendjährige Reich" eine Passage aus Musils Mann ohne Eigenschaften , in der Ulrich dem Begriff des mystischen „Ganzen" absagt und statt dessen eine taghelle Mystik vorzieht. Alles andere, „das sei nur wie die Wachsflügel des Ikaros, die in der Höhe zerschmelzen, rief er aus; wolle man nicht bloss im Traum fliegen, dann müsse man es auf Metallflügeln erlernen." 229 Das Bekenntnis Ulrichs zur Solidität der daedalischen Konstruktion verdeutlicht das Problem der Autorschaft, wie sie Das Dreissigste Jahr darstellt, nämlich als Frage nach dem Verhältnis von Lebensentwurf und einer eigenen Aufgabe, einer Bestimmung, die mit einem Werk, einer Spur, einem Ausserordentlichen verbunden ist. Ulrich erinnert die Phantasie, „dass man ein verfluchter und neuer Kerl sei, auf den die Welt gewartet habe", um dann festzustellen: „Aber über das dreissigste Jahr hält das nicht vor!" [MoE,1,900] Die Auferstehung der Figur aus Bachmanns Erzählung ist hier die Auferstehung der potentiellen Autorschaftsfigur: Der Protagonist „ist lebhaft mit dem Kommenden befasst" und „denkt an Arbeit". Während Musils Ulrich die Frage nach Werk und Spursetzung seinem Konzept der Eigenschaftslosigkeit gemäss offen lässt, gestaltet Bachmann den Schluss der Erzählung als Auferstehung der Autorfigur. Das Pathos des Schlusses nimmt damit, zum bisher beschriebenen Bildrepertoire, einen Diskurs in Anspruch, der Autorschaft vom pragmatischen Kontext der Daedalus-Figur in den mythisch-religiösen der Auferstehung wendet. Diese Gestaltung der Autorschaftsfrage als Auferstehung der Figur (als persona) steht im Gegensatz zu ihrer Darstellung in Bachmanns Büchnerpreis-Rede. Diese zeichnet sich aus durch die Abwesenheit einer Figur, die aber als Leerstelle und Abwesenheit bezeichnet wird.
229 Ingeborg Bachmann: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar, Essays und Reden, 1981, S. 21.
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2. Ein Ort für Zufälle·. Abwesenheit des Autors
„Wie jeder, der hier gestanden ist und es nicht Wert war, Büchner das Schuhband zu lösen, habe ich es schwer den Mund aufzutun [...]" 23 °
Mit dem Anfang ihrer Dankesrede für den Büchnerpreis setzt Ingeborg Bachmann bereits einen Akzent, der für die ganze Rede konstituierend wird. Sie schiebt den Anfang eigener Rede hinaus, setzt mit fremder Rede ein, denn sie zitiert schon im ersten Satz Büchner, der in einem Brief vom Januar 1837 an die Braut schreibt: „Der arme Shakespeare war Schreiber den Tag über und musste nachts dichten, und ich, der ich nicht wert bin, ihm die Schuhriemen zu lösen, hab's weit besser ...
«231
Das Zitieren, als ausdrückliches Verweisen auf einen anderen Autor, aber auch als Einweben anderer Textpassagen in ihren Text, ist ein entscheidendes Verfahren in Bachmanns Büchnerpreis-Rede. Ausserdem verneigt sich die preisgekrönte Autorin vor jenem, in dessen Namen sie den Preis bekommt, indem sie jene Passage zitiert, in der er wiederum sich vor Shakespeare verneigt. Ihr Text ist Teil eines Netzes von Intertextualität, in dem ausgezeichnete Autorschaft sich nicht als singuläre Originalität versteht, sondern auf die Bezüge und Verwandtschaften verweist, aus der Autorschaft abgeleitet werden kann. Bachmanns Dankesrede für den Büchnerpreis232 wurde 1964 verfasst. Der Text ist im Kontext der Büchnerpreis-Reden zu lesen. Die Preisträger und, seltener, Preisträgerinnen dieser seit 1951 verliehenen Auszeichnung für Literatur haben eine Tradition entwickelt, zu der die Hommage an Büchner in Hinblick auf eine kritisch-politische Zeitbetrachtung gehört.253 Die Frage nach der Verortung der Dichtung, nach der Rolle der Autorschaft, ist Gegenstand der meisten Büchnerpreis-Reden, ebenso gehört in der Regel der Bezug auf vorangehende Preisreden dazu. Bachmanns Rede folgt auf die von Hans Magnus Enzensberger, nachdem der Preis bereits an Max Frisch
230 Die Preisrede ist mit ihren Entwürfen in der Kritischen Ausgabe des TodesartenProjekts abgedruckt. TP Bd. I, S. 169ff. Hier zitiert S. 228ff. 231 Büchner, Brief vom 20. Januar 1837, S. 198. Büchner zitiert mit dieser Wendung Johannes aus dem Johannesevangelium 1,27. Georg Büchner: Werke und Briefe, München 1975. 232 Die erste Ausgabe von Ein Ort für Zufälle von 1964, mit Zeichnungen von Günter Grass, gibt die Rede in einigen Passagen stark verändert wieder. (Ingeborg Bachmann, Ein Ort für Zufälle, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1964.) 233 Büchnerpreis-Reden 1951-1971, mit einem Vorwort von Ernst Johann, 1981.
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(1958), Günter Eich (1959), Paul Celan (1960), Hans Erich Nossak (1961) und Wolfgang Koeppen (1962) ging. Ein Ort für Zufälle respektiert die Tradition in mehrfacher Hinsicht. Büchners Werk bildet eine wichtige Referenz in Bachmanns Rede. Von den vorangehenden Reden erweist sich Der Meridian von Paul Celan als entscheidender Ort der Auseinandersetzung. Bachmann entwickelt mit Referenz auf Celan und Büchner ein Stück Prosa, das - auf andere Weise als Celan und auch als Büchner - die Frage nach dem Ort der Kunst und nach dem Ort der Autorschaft stellt.234 Das Suchbild, das meine Lektüre leitet, die Auseinandersetzung des Textes mit Autorschaft, gewinnt in einer Preisrede besondere Bedeutung. Zum einen liegt jedes mal, wenn „ich" gesagt wird, die Vermutung nahe, die sprechende Stimme sei mit dem Textsubjekt identisch. Zum andern ist die Rede eine Antwort auf die Ehrung, die gerade der Person in ihrer Funktion als Autorin gilt. Bachmann verweist in der dritten ihrer Frankfurter Vorlesungen, Das schreibende Ich, auf das Problem der Referenzialisierung in der Rede. Das Ich sei nur ein „abgelesenes Ich". Sie führt ihr Konzept des Ich ohne Gewähr auf diese Situation der Rede zurück, in der ein Ich sich selbst in der öffentlichen Rolle abhanden komme.235 Meine Lektüre geht von der Druckfassung der Rede aus, zieht aber auch die verschiedenen Vorstufen bei. Gerade die Vorstufen zeigen die Komplikation der vermeintlich naheliegenden Referenzialisierung der „Rede". Aus den früheren Fassungen wird deutlich, dass das Subjekt der Rede, nach einer kurzen Passage, die meist in der Ich-Form gehalten ist (jedoch in der Kritischen Ausgabe als Anhang beigefügt ist), in der edierten Druckfassung ausgeklammert wurde. Von der dritten Person „Er" wird über „Ich" zum unpersönlichen „man" in der letzten Fassung gewechselt und damit auf eine eventuelle Identität von Textund Redesubjekt verzichtet.236 Das Verschwinden des Ichs in Ein Ort für Zufälle hat mit dem Raum zu tun, den der Text konstruiert. Es ist zugleich ein topographischer Raum und ein Sprachraum, in dem für eine Autor-
234 Ein Vergleich zwischen Celans Meridian und Bachmanns Ort für Zufälle ist von Bernhard Böschenstein unternommen worden, wobei er den Akzent auf Celans Meridian legt. Böschenstein, Die Büchnerpreisreden von Paul Celan und Ingeborg Bachmann, in: Böschenstein / Weigel, Ingeborg Bachmann und Paul Celan, 1997, S. 260-269. Die vielfachen Bezüge zwischen der Dichterin und dem Dichter werden im Band Poetische Korrespondenzen deutlich. Der Band sieht sich allerdings mit der Problematik der Unzugänglichkeit der Briefkorrespondenz von Bachmann und Celan konfrontiert, einer Tatsache, die er nur ungern akzeptiert, wenn er sich den vielversprechenden Titel „Poetische Korrespondenzen" gibt. Ausserdem reizt das Thema zu Spekulationen und Mutmassungen, die allein auf der Sperrung des Briefwechsels beruhen. 235 Ingeborg Bachmann: Frankfurter Vorlesungen: Probleme zeitgenössischer Dichtung, 1984, S. 41-42. 236 Siehe dazu TPI, S. 205.
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schaftsfigur, wie sie in der Erzählung Das dreissigste Jahr noch mit ihrer Auferstehung gefeiert wird, kein Platz ist. Statt dessen wird ein Kundschafter vorausgesetzt, der sich „einstellt". Bachmann schafft mit dem Text einen Raum, der von schiefen Ebenen und Schräglagen geprägt ist. Eine Figur hat dort keine verfügbaren Koordinaten. Zudem ist der Text um das Motiv des Risses angelegt, das sowohl auf den politischen Kontext verweist, wie auch Metapher der Schreibweise ist. Die Verdrängung einer Autorschaftsfigur schafft, wie gezeigt werden soll, eine Leere und einen Uberschuss zugleich. Diese können als Erinnerung der Geschichte und deren Darstellung in der Kunst gelesen werden. Die Erinnerung, und mit ihr die Kunst, nämlich als erinnerte Kunst in den Zitaten, sind als Gegenläufigkeit im Text manifest, unausgesprochen als ein „etwas", das durch den Text geistert. Der wunde Punkt Die Rede wirft gleich zu Beginn die Frage nach dem Thema auf, als auch nach der Art und Weise, wie darüber gesprochen werden soll. Der zweite Satz der Rede, „Wovon reden?", wird nur annähernd und damit für den ganzen Text exemplarisch beantwortet: „Von etwas Naheliegendem am besten. Es liegt nahe für mich, vielleicht auch für Sie." Deutlich wird später, dass von Berlin die Rede sein wird, allerdings von den „Zufällen" dieser Stadt, im Büchnerschen oder Lenzschen Sinn, nämlich als „Wort", mit dem Büchner die „Lenzsche Krankheit behaftet", wie Bachmann schreibt. Berlin ist dann nicht bloss die Stadt, sondern „eine Gegend [...], auf die kein Finger mehr zu legen ist". Der „Ort für Zufälle" wird zum wunden Punkt und kann, den Meridian von Paul Celan zitierend, von keinem Finger mehr berührt werden, auf keiner Landkarte aufgefunden werden: „Ich suche das alles mit wohl sehr ungenauem, weil unruhigem Finger auf der Landkarte - auf einer Kinderlandkarte, wie ich gleich gestehen muss. Keiner dieser Orte ist zu finden, es gibt sie nicht, aber ich weiss, wo es sie, zumal jetzt, geben müsste, und ... ich finde etwas!"237. Bei Bachmann liegt der Grund für die Unmöglichkeit der Berührung des Ortes im Riss, den sie mit ihrem Text verfolgt, ,,ein[es] Rissfes], der für Lenz durch die Welt ging", wie sie aus Büchners Lenz zitiert. Celans Gedicht Engführung1*, kurz vor dem Meridian erschienen, formuliert das Nachtasten eines Risses und einer Vernarbung: „Bin es noch immer-/ Jahre./ Jahre, Jahre, ein Finger/ tastet hinab und hinan, tastet/ umher:/ Nahtstellen, fühlbar, hier/ klafft es wieder auseinander, hier/ wuchs es wieder zusammen - wer deckte es zu?" Der Riss, und das soll hier deutlich gemacht werden, manifestiert sich auf zweifache Weise in Bachmanns Rede: Erstens, der Tradition der Büch-
237 Celan, Meridian, in: Ausgewählte Gedichte / Zwei Reden, 1968, S. 148. 238 Das letzte Gedicht aus dem Band Sprachgitter, 1959 erschienen.
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nerpreis-Rede entsprechend, als Verweis auf den zeitpolitischen Kontext, in dem der Preis verliehen wurde. Der Riss ist im Text konkret die Spaltung und Isolierung der Stadt Berlin durch die Mauer, die Spaltung zwischen Ost und West, aber zugleich auch die Geschichte, die sich damit manifestiert. Es ist auch der Riss, durch den sich, im Versuch, Alltäglichkeit zu leben um jeden Preis, die Geschichte manifestiert. Das Problem des Umgangs mit dem Nationalsozialismus - als Problem von Geschichte in der Gegenwart - ist im Text aufgeworfen. Zweitens ist der Riss auch Figur des Zitatverfahrens und damit Reflex der eigenen Schreibweise. Das Thema, wovon zu reden ist, wird ergänzt durch das wie reden: „Die Beschädigung von Berlin, deren geschichtliche Voraussetzungen ja bekannt sind, erlaubt keine Mystifizierung und keine Überhöhung zum Symbol. Was sie erzwingt ist jedoch eine Einstellung auf Krankheit, auf eine Konsequenz von variablen Krankheitsbildern, die Krankheit hervorruft. Diese Einstellung kann jemand nötigen auf dem Kopf zu gehen, damit von dem Ort, von dem sich leicht hunderterlei berichten Hesse, dem aber schwer beizukommen ist, Kunde gegeben werden kann."
Büchners Lenz geht „durchs Gebirg." Dort heisst es am Anfang: „Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte." 239 Celan führt den Satz in seiner Konsequenz weiter: „[...] wer auf dem Kopf geht, der hat den Himmel als Abgrund unter sich."240 Die „Einstellung" dieser unpersönlichen Instanz, des „Kundschafters", wird sich in Bachmanns Text realisieren, wenn der Raum kippt, „sich die Strassen um fünfundvierzig Grad heben" [TPI, 214] und die Zeit nur noch ungeordneter Ablauf von verschiedensten Handlungen ist. Der „Ort" der Beobachtung, des „Kundschafters", wie es weiter heisst, der sehen und hören wird, ist selbst einer des Zufalls. Mit der „Optik" und dem „Gehör", die eine solche Wahrnehmung mitteilen könnten, ist es nicht getan, denn es soll Kunde gegeben werden: „Ein Kundschafter ist ein Ortsfremder - er ist somit im Vorteil und im Nachteil. Seine Darstellung ist ihm ganz und der Sache nie ganz angemessen. Aber Darstellung verlangt Radikalisierung und kommt aus Nötigung." Der Text formuliert hier explizit das Problem der Darstellung. Der Kundschafter ist der Darstellung verpflichtet. Mit Nötigung wird der Impuls zur Darstellung bezeichnet, der einen Zwang zur Darstellung bedeutet. Dieser Zwang setzt ein Subjekt voraus, das diesen empfindet. Die Darstellung selbst verlangt dagegen Radikalisierung, die Entscheidung also für eine rücksichtslos konsequente Form.
239 Büchner, Lenz, 1975, S. 65. 240 Celan, Meridian, 1968, S. 141.
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Die Position der Autorschaft, die hier angesprochen ist, wird aber auch als ambivalente formuliert. Zum einen ist der Kundschafter Beobachter, zum anderen setzt er sich der „Krankheit" aus. Wie Celan im Meridian den Ort der Dichtung zu bestimmen versucht als gleichzeitige Nähe und Ferne, ist bei Bachmann der Kundschafter zwar „Ortsfremder", aber zugleich ist die Rede vom „Naheliegenden". Celan spricht auch von dieser Einstellung „auf dem Kopf", die mit der „Dunkelheit" der Dichtung zu tun habe, und, bemerkenswerterweise, wie Celan schreibt, mit ihrer Professionalität.241 Er wehrt sich damit gegen den Vorwurf der Dunkelheit, dem sich die Dichter ausgesetzt sähen. Der Riss, wie er bei Bachmann als konstruierte Montage von Metaphern, Ellipsen, Katachresen dargestellt wird, findet einen Referenzpunkt bei Celan, der dann allerdings auf sehr verschiedene Weise realisiert wird. Celan sucht in seinem Meridian den Ort des Gedichts und spricht dabei bekanntlich von dessen „Neigung zum Verstummen". 242 Das Gedicht, „am Rande seiner selbst [...], ruft und holt sich, um bestehen zu können, unausgesetzt aus seinem Schon-nicht-mehr in sein Immer-noch zurück." Dieses als „Sprechen" bezeichnete Gedicht ist eine „aktualisierte Sprache, freigesetzt unter dem Zeichen einer zwar radikalen, aber gleichzeitig auch der ihr von der Sprache gezogenen Grenzen, der ihr von der Sprache erschlossenen Möglichkeiten eingedenk bleibenden Individuation."243 Bachmanns Text scheint sich dem genau entgegengesetzt zu verhalten. Die „Radikalität" der Form ihres Textes gesteht diesem keine Möglichkeit von Individuation zu. Diese kommt erst im Verdrängten, das sich als Uberschuss bemerkbar macht, zum Ausdruck. Medizinischer Diskurs Berlin wird als die Stadt bezeichnet, „die sich auf ,Teilung' hinausreden möchte. Teilung: ein anderes Wort, es nimmt vieles ab, das Denken nicht zuletzt." [TPI, 230] „Teilung" ist hier ein Euphemismus, der versucht, die Unschärfe, den mäandrisierenden und gewaltsamen Verlauf des Risses zu bannen. Der Begriff der „Teilung" setzt Planung und Ordnung voraus. Bachmann stellt die Geschäftigkeit einer Nachkriegsgesellschaft dar, die im Versuch, die Erinnerung an das Erlebte zu verdrängen, die Realität des Risses durch Ost und West als operativen Vorgang wegredet. Der Text inszeniert kein Krankenhaus mit Kranken und Pflegern, sondern führt vor, wie der politische Diskurs als medizinischer Diskurs die Illusion einer präzisen Diagnose und
241 Celan zitiert hier Schestow, der Pascal zitiert. Ebd. 242 Celan, Meridian, 1968, S. 143. 243 Celan, Meridian, 1968, S. 143.
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damit Ordnung und Stabilisierung erzeugen soll. Der weisse Kittel ist auch hier Garant der zuverlässigen Diagnose: „Berlin ist aufgeräumt", „Es ist eine Disharmonie", „wir schaffen es schon". Die Absurdität einer herbeigeredeten Logik kommt zutage, wenn der Krankenhausjargon und die Logik der kleinen Handgriffe wirksam werden: „es muss gelüftet werden". Im Versuch, Normalität zu leben um jeden Preis, soll der medizinische Jargon den kollektiven Wahnsinn handhabbar machen. Hier sei auf die konkrete Situation während des Baus der Mauer im August 1961 hingewiesen, als in aller Eile Projekte zur Aufrechterhaltung und Fortsetzung der kulturellen Bedeutung Berlins entwickelt wurden. In Bachmanns Text erweist sich der medizinische Diskurs selbst als pathologisch: „Wir haben so viele Kranke hier, sagt die Nachtschwester und holt die überhängenden Patienten vom Balkon zurück, die ganz feucht sind und zittern. Die Nachtschwester hat schon wieder alles durchschaut, sie kennt das mit dem Balkon, wendet den Griff an und gibt eine Spritze, die durch und durch geht und in der Matratze stecken bleibt, damit man nicht mehr aufstehen kann." [TPI, 206]
Der Versuch, die Situation in den Griff zu bekommen, produziert parodistisch die Absurdität der zitierten Passage. Es bleibt allerdings nicht bei der Groteske, denn der Riss macht sich als Uberschuss bemerkbar. Das Abwesende, die Lücke, die der Riss nicht bloss herstellt, sondern die ihn bedingt, ist in Bachmanns Text ausdrücklich anwesend. Nicht als negative Folie, sondern als Rest der Verdrängung. So beginnt der Text mit einem ungelösten Rätsel: „Es ist zehn Häuser nach Sarotti, es ist einige Blocks vor Schultheiss, es ist fünf Ampeln weit von der Commerzbank [..] ist ein Kreuz davor, ist eine Kreuzung davor, es ist soweit nicht, aber auch nicht so nah, ist - falsch geraten! - eine Sache auch, ist kein Gegenstand [...]" [TPI, 205],
In der wiederholten Prädikation „es ist" wird der Versuch unternommen, „es" zu verorten. Diese Verortung gelingt nicht, es scheint überall zu sein. Auf die Prädikation „es ist" folgt kein Prädikatsnomen. Hier sei auf Wittgensteins Überlegungen zu den Möglichkeiten des Benennens in der Sprache verwiesen: „Die Gegenstände kann ich nur n e n n e n . Zeichen vertreten sie. Ich kann nur v o n ihnen sprechen, sie a u s s p r e c h e n kann ich nicht. Ein Satz kann nur sagen, w i e ein Ding ist, nicht w a s es ist."244 Bachmanns Verweigern des Aussprechens, das Zurücknehmen ins Rätsel, auf das angespielt wird, erzeugt einen Raum, eine Präsenz, die zwar nicht ausgesprochen ist, auch nicht genannt, aber bezeichnet ist durch die 244 Wittgenstein, Tractatus
Logico-Philosophicus,
3.221, 1974, S. 22.
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ansetzende Gleichung. Wittgenstein schreibt zur Prädikation: „So erscheint das Wort 'ist' als Kopula, als Gleichheitszeichen und als Ausdruck der Existenz; .existieren' als intransitives Zeitwort wie ,gehen';,identisch' als Eigenschaftswort; wir reden von E t w a s , aber auch davon, dass e t w a s geschieht."245 In Bachmanns Passage bleibt die Gleichung offen, was mit sich selbst identisch ist, wird nicht genannt. Das Problem der Darstellung, wie es zu Anfang des Textes aufgeworfen wird, stellt sich hier an der Stelle des nicht-Benennens. Um die „fundamentalsten Verwechslungen (deren die ganze Philosophie voll ist)", wie Wittgenstein schreibt, zu vermeiden, muss eine Zeichensprache zur Verfügung stehen, die „der l o g i s c h e n Grammatik - der logischen Syntax - gehorcht."246 Wo von diesem „etwas" die Rede ist, bricht sich die Sprache in Ellipsen, wiederholt sich, verhaspelt sich. Nicht so in den Passagen, wo die Geschwindigkeit der Handlungsabfolgen in syntaktisch vollständigen Sätzen dargestellt wird. Im Versuch Kunde zu geben, entsteht, entsprechend der Demontage der zeit-räumlichen Koordinaten, eine Überreizung des optischen und akustischen Paradigmas im Text, die sich dem medizinischen Diskurs gegenüber als Uberschuss manifestiert.247 Der Geräuschpegel im Text bewegt sich zwischen „kaum hörbar" bzw. „Stille", „Beinaheton" bis zum unerträglichen Lärm, „prasseln", verursacht von Flugzeugen, die durchs Zimmer fliegen. Ebenso wechselt das Auge filmschnittartig von Weitwinkel zu Detailaufnahme, etwa vom Blick auf die Flugzeuge zu dem „Haken mit dem Waschlappen" an dem sie jede Minute vorbeifliegen. So sehr die Ordnung aus den Fugen geraten ist, so sehr bemüht sich der medizinische Diskurs um kollektive Narkotisierung. Bachmanns Ein Ort für Zufälle erzeugt mit seinem Redefluss eine Groteske, in die sich das Schweigen und das Unausgesprochene als Uberschuss manifestiert: „Es ist etwas [...]". Dieses ansetzende aber abreissende Bezeichnen erinnert an Passagen aus Büchners Texten. Uber Lenz heisst es dort: „[...] er suchte nach etwas [...] aber er fand nichts."248 Vergleichbar enigmatisch erzählt Woyzeck: „Marie, es war wieder was [...] Es ist hinter mir hergegangen bis vor die Stadt. Etwas, was wir nicht fassen, begreifen,
245 Wittgenstein, Tractatus, 3.323, 1974, S. 28. 246 Ebd. 247 Erich Kleinschmidt situiert die Frage nach Autorschaft in einen Zusammenhang von Uberdeterminierung der Texte und Gestaltung der Lektüre: „Untersuchte Autorschaft wird angesichts ihrer Textpräsenz zu dem, was man in ihr produktiv gestalten und rezeptiv sehen will und kann. Darin manifestiert sich keine Beliebigkeit. Es ergibt sich vielmehr ein überschiessender Reichtum an Ausdrucksträgerschaft, der kaum systematisch auszuschöpfen, sondern letztlich nur als jeweilige Näherung zu begreifen ist." Erich Kleinschmidt, Autorschaft: Konzepte einer Theorie, 1998, S. 10. 248 Büchner, Lenz, 1975, S. 65.
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was uns von Sinnen bringt." 24 ' Das „etwas" entzieht sich der Diskursivierung, bleibt jedoch als Uberschuss bestehen. Nach diesem gilt es zu fragen, auf die Gefahr hin, falsch zu raten, wie der Text uns triumphierend entgegenhält. Das Rätsel, so lautet hier die These, ist selbst Effekt seiner Lösung. Der medizinische Verdrängungsdiskurs ist Produkt der Verdrängung selbst, das heisst, den Diskurs parodierend, drängt der Text „etwas" nach aussen, von dem aber in Form des Uberschusses Spuren im Text deutlich sind. Diese sind über Umwege oder in zwei verschiedenen Kontexten lesbar. Zum einen über intertextuelle Bezüge zu Büchner und Celan als Problematisierung der Erinnerung, zum anderen über die früheren Fassungen von Bachmanns Preisrede als Problematisierung der Kunst. Zur Erinnerung: Danton „Es ist ein Fest, es sind alle eingeladen, es wird getrunken und getanzt, muss getrunken werden, damit etwas vergessen wird, etwas, es ist - falsch geraten! - ist heute, war gestern, wird morgen sein, es ist etwas in Berlin." [TPI, 226]
So zitiert sich Bachmanns Text gegen Ende selbst. Was in diesem Selbstzitat dazukommt, erlaubt eine Parallelisierung mit Dantons Tod von Georg Büchner. Im kleinen Monolog [II. Akt, 4. Szene] spricht Danton, der einen Fluchtort angeboten bekommen hat, auf „freiem Feld" folgendermassen: „Der Ort soll sicher sein, ja für mein Gedächtnis, aber nicht für mich, mir gibt das Grab mehr Sicherheit, es schafft mir wenigstens Vergessen. Es tötet mein Gedächtnis. Dort aber lebt mein Gedächtnis und tötet mich. Ich oder es? Die Antwort ist leicht [...] Eigentlich muss ich über die ganze Geschichte lachen. Es ist ein Gefühl des Bleibens in mir, was mir sagt: es wird morgen sein wie heute, und übermorgen und weiter hinaus ist alles wie eben." 250
Diese Passage soll mit der Rätselpassage aus Bachmanns Ort für Zufälle konfrontiert werden. Anders als im Lenz und im Woyzeck, geht es für Danton um eine Einbindung des Individuums in die Politik. Das Gedächtnis, für Danton tödlich, führt ihn dazu, das Angebot der Flucht auszuschlagen und das „Grab", die Verhaftung und Hinrichtung zu wählen. Die Wahl zwischen Sein und nicht-Sein stellt sich für Danton jedoch nicht, da Leben, nämlich Vergessen, nur durch die Auslöschung der Erinnerung im Tod möglich wäre. Das, was vergessen werden soll, ist in der nächsten Szene benannt:
249 Büchner, Woyzeck, 1975, S. 116. 250 Büchner, Dantons Tod, 1975, S. 32.
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„Wird's denn nie still und dunkel werden, dass wir uns die garstigen Sünden einander nicht mehr anhören und ansehen? - September!" 25 '
Der Hinweis auf die Septembermorde von 1792, die Danton zu verantworten hatte, hallt im Text als „Wort", zu dem er sich nicht bekennen mag: „Und soll ich nicht zittern, wenn so die Wände plaudern? Wenn mein Leib so zerschellt ist, dass meine Gedanken unstet, umirrend mit den Lippen der Steine reden?" Es wird hörbar, was sonst nicht zu hören ist. Die Gedanken, die mit den „Lippen der Steine reden", legen Zeugnis ab von etwas, das stumm und verschwiegen aufbewahrt war, und jetzt in der Sprache der Sprachlosigkeit, der Steine, spricht. „September!" wird zum Ausruf von etwas für Danton nicht Aussprechbarem: „Ich möchte nicht mehr denken, wenn das gleich so spricht. Es gibt Gedanken, Julie, für die es keine Ohren geben sollte. Das ist nicht gut, dass sie bei der Geburt gleich schreien wie Kinder."
Das, „was gleich so spricht", ist aber auch im Gedanken nicht sicher aufbewahrt, sondern die Rede ist hier als Geburtsschrei des Gedankens dargestellt. Sprache spricht somit nicht den bereits vorgefassten Gedanken aus, sondern dieser realisiert sich mit der Sprache. Das Gedächtnis ist in dieser Passage nicht handhabbar, sondern produziert sich in einer Eigendynamik, deren Autorschaft Danton sich entziehen möchte. Danton fragt bei Büchner: „Wer hat das Muss gesprochen, wer? [...] Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen." 252 Danton thematisiert hier im Automatismus die Frage der individuellen Verantwortung. Celan greift die Überlegung im Meridian wieder auf. Der Moment der Kunst wäre für Celan gerade die Unterbrechung des Automatismus: das „Zerreissen des Drahtes" als Einfallsstelle der Kunst.253 Bachmanns Text hingegen ist die Darstellung des beschleunigten Automatismus einer Geschichts- und Erinnerungsflucht, in der die Geschichte in Ortsnamen wie „Wannsee", „Plötzensee" punktuell auftaucht. Der Text verfügt über keine Individualität, die Dantons Frage aufgreifen könnte, sondern was darin geschieht, wird als Kollektivität vollzogen. 254 Eine Reflexion auf die Geschichte und die eigene Voraussetzung findet nicht statt. Der Status der Marionette, wie sie Büchners Danton beschreibt, ist für die Betriebsamkeit der „Leute" in Bachmanns Text zutreffend. Das „Muss", der Automatismus, wird in Bachmanns Text erzeugt, ohne dass eine Figur den Part der Reflexion über das Dargestellte übernähme, ohne Diskursivierung der 251 Ebd.
252 Büchner, Dantons Tod, 1975, S. 33. 253 Celan, Meridian, 1968, S. 135. 254 Siehe dazu Böschenstein, Die Büchnerpreisreden,
1997, S. 262.
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Erinnerung und der Rolle der Kunst. Die Erinnerung schiebt sich, gleichzeitig Ursache und Produkt des Automatismus, dazwischen, ohne reflektiert zu werden. Sie ist es aber, die als Kunst, nämlich als Text von Bachmann, den Ort für den Ton des Textes bietet. Der Ton ist zum einen der ironische Ton in der Beschreibung der Groteske des Automatismus. Hier unterscheidet sich die Preisrede von den Franza-Fragmenten, wie später gezeigt wird, wo ein zusätzlicher Ton auftritt, das Pathos als Ausdruck des Leidens, das dort jeweils eine Stimme erhalten soll. Ein Ort für Zufälle ist kein Text, der einer Stimme zu ihrem Recht verhilft, er konstruiert im Gegenteil ihren Ausschluss. Es wird damit keine Stimme, keine Individuation laut, der Text verfügt aber mit dem Aufzeigen des Verfahrens über ein höchst kritisches Potential. Ach, die Kunst Bachmanns Ein Ort für Zufälle greift eine zusätzliche Ebene aus Büchners Texten heraus, deren Passagen Celan im Meridian gleich zu Anfang nennt: Die Gespräche um die Kunst. Der Meridian beginnt bekanntlich mit dem Versuch einer Kunstdefinition - „Die Kunst, das ist, Sie erinnern sich, [...]" bei der immer wieder etwas dazwischen kommt: „Sie erinnern sich", die Erinnerung. Celans Text gestaltet in seinen Unterbrüchen selbst die Momente der „Atemwende", die laut seiner Poetik für die Präsenz von Kunst Voraussetzung sind. Bachmann zitiert in den frühen Fassungen zur Preisrede Büchner und mit ihm Celan: „ach, die Kunst, es ist weit davon entfernt, am Ende zu sein, was zu sagen ist." [TP,1,172] Den drei Formulierungen (Büchner, Celan, Bachmann) ist die Unabschliessbarkeit des Gesprächs darüber gemeinsam. Die Rede über die Rolle der Kunst ist, wie die Erinnerung selbst, aus Bachmanns Preisrede verbannt und „kommt wieder"255. In Bachmanns Ort für Zufälle ist die Kunst Teil der Werbe- und Unterhaltungsmaschinerie und taucht als „Zirkus" mit „Zirkusdirektor" auf, von dem gesagt wird: „er spricht unaufhörlich über einen Lautsprecher, er preist seine Löwen und Affen an [...]" [TP,1,223]. Damit zitiert Bachmann den „Marktschreier", der im Woyzeck seinen kostümierten Affen als die Kunst anpreist: „Die Kreatur, wie sie Gott gemacht: nix, gar nix. Sehen sie jetzt die Kunst: geht aufrecht, hat Rock und Hosen, hat ein' Säbel!"256 Die Zirkuspassage ist bei Bachmann eingefügt in die Szenerie einer ständig wechselnden Bilderflut der Riesenveranstaltung Berlin. Diese Marionettenkunst, wie sie in Dantons Tod kritisiert wird, hat in der Preisrede Spuren hinterlassen, die in den früheren Fassungen noch ausformuliert sind. Aus dem Rummel Berlin können in Bachmanns Text nur die Kamele entweichen, die den „Kopf still und
255 Celan, Meridian, 1968, S. 133. 256 Büchner, Woyzeck, 1975, S. 117.
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hoch tragen." [TPI,223] Die Flucht der Kamele erfährt einen Bruch, man befindet sich plötzlich wieder „Kurfürstendamm, Ecke Joachimsthalerstrasse": „Der Holzstoss ist errichtet". Die Bücherverbrennung ist hier angesprochen, erfährt allerdings eine groteske Wendung: „Die Leute zögern, dann nimmt jeder beherzt ein Scheit". [TP,1,224] In das Holz wird geschnitzt, „was ihnen in den Sinn kommt: Sonnenzeichen, Lebenszeichen." [TP,1,224] In einer früheren Fassung ist es „Leserliches oder Hieroglyphen und Marionetten für « h ä u s l i c h e s » Theater" [TPI,203] und „Figuren, Puppen für Marionettentheater"257. Aus dem Holz der Bücherverbrennung ist diese Marionettenkunst geschnitzt, von der in Dantons Tod die Rede ist. Gegen diese Marionetten- und Zirkuskunst spricht Bachmann mit Büchner und Celan an. Diese Kunstform braucht, für Lenz wie für Camille in Dantons Tod, weder Augen noch Ohren, um wahrgenommen zu werden.258 Augen und Ohren sind jedoch für Danton die Sinne der Erinnerung, wenn er sich zu deren Auslöschung „Stille und Dunkelheit" 25 ' wünscht. Augen und Ohren sind auch Voraussetzung der Wahrnehmung der Zufälle für Bachmanns Kundschafter. Ohne Optik und Gehör wird keine Kunde gegeben werden. Der Kundschafter ist allerdings im Text nicht aufzufinden. Es wird lediglich ein Szenarium zur Verfügung gestellt, dem die Leserin, der Leser Auge und Ohr zuzuwenden hat, um die Erinnerung in Erfahrung zu bringen. Die Rolle der Kunst wird in Bachmanns Preisrede nicht ausgesprochen. Sie bleibt, wie die Erinnerung, eine Gleichung, die erst eingelöst werden muss: „es ist - falsch geraten" [TP, I, 226]. Wie die Erinnerung, die in den Namen der Stadt angesiedelt ist und nur noch als Spuren, „Brandspuren" [TP,1,208] lesbar ist, bleibt auch die Rede über die Kunst ausserhalb des Textes. Sie findet sich in den Vorstufen zur Preisrede. In Anlehnung an Büchners bisher nicht erwähntes Lustspiel Leonce und Lena, schreibt Bachmann weiter in den Entwürfen: „[...] gebt uns etwas, was so lustig und so ernst ist, so dumm und so tausendmal klüger als alles zuvor, als alles zuvor, lasst uns auf dem Kopf stehen, auf einem kunstfernen Weg, der einmal einmünden kann, dort wo wieder Kunst kommt. Hinzukommt, gleich hinzukommt, wenn die ausgebrannten Stellen verheilen, sie kommt dann daran, nicht dran wie Sie hier sagen, sondern daran, sie berührt gleich den Schorf, [...] sie sieht das noch mit, was von dem auf dem Kopf Stehenden gesehen wird." [TP 1,174]
257 Bachmann, TP I, S. 203, Korr. Z. 13-14. 258 Büchner, Lenz, 1975, S. 72; Dantons Tod, S. 30. 259 Büchner, Dantons Tod, 1975, S. 32.
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Hier wird deutlich, dass der Ort der Kunst mit der Erinnerung verbunden ist. Bachmann entwickelt ihre Büchnerpreis-Rede von einer Rede in den Entwürfen über Kunst und Erinnerung der Verletzung, die, wie im vorangehenden Zitat ersichtlich, eine Metaphorik des Brandes, der Wunde benutzt, zu einem Text, der im ironischen Diskurs darüber zugleich die Erinnerung und die Kunst als Thema ausgrenzt, aber gleichzeitig als Verdrängtes markiert. In den Vorstufen wird das Verhältnis von Erinnerung, Kunst und Autorschaft ausdrücklich problematisiert: Mit der Brand- und Wundmetaphorik wird die Kunst als Grenzgebiet der Verletzung bestimmt. Die Auseinandersetzung der Kunst mit der Erinnerung wird nicht als zeitliche, a posteriori begriffen, die sich an die Geschehnisse anschliesst, sie kommt nicht „dran", nachdem das eine abgeschlossen ist, sondern sie „kommt daran". Sie stellt eine Berührung her, die eine örtliche, topographische Gleichzeitigkeit bedingt. Das Erinnerungsmodell ist hier keines, das die Ereignisse auf einer chronologischen Achse punktweise situiert, sondern verweist auf eine Fläche, in der Vergangenes und Gegenwärtiges gleichzeitig präsent sind. Allerdings wird dabei eine Bedingung für die Kunst formuliert, die wiederum Celans Meridian zitiert. Ganz in der Metaphorik der Landkarte, also der Fläche, wird der Standpunkt auf einen Weg verlegt, „auf einem kunstfernen Weg, der einmal einmünden kann, dort wo wieder Kunst kommt"260. Damit greift Bachmann Celans Figur (als Bild) des Meridians auf. Die Rede über die Kunst, die Frage nach der Kunst formuliert Celan in der Metaphorik des Weges. Die Figur des Meridians, die am Schluss der Rede gefunden wird, steht als eine Figur der Bewegung, des Weges, die zur abschliessenden Antwort nicht kommt. Celan reflektiert in dieser Figur seine eigene Suchbewegung. In seiner Rede ist die Autorschaft als Suchbewegung an den Weg gebunden, der „keinen Ausweg" sucht.261 Diese Suchbewegung wird aber auch, wie Bachmann oben zitiert, als „kunstlos" bezeichnet: „[Das Gedicht] kann nun auf diese kunst-lose, kunst-freie Weise , seine anderen Wege, also auch die Wege der Kunst gehen - wieder und wieder gehen?"262 Auch hier wird das Moment der Kunst aufgeschoben, verlangt einen Umweg, der vor allem als Umweg zu sich selbst beschrieben wird. Der „kunst-lose" Weg wird als Selbstvergessenheit, als „Ich-Ferne" bezeichnet, in der Celan die Möglichkeit sieht, wie Büchners Lenz das „Unheimliche und Fremde" aufzusuchen. In dieser Fremdheit scheint für Celan der Ort der Dichtung zu liegen. Bachmann greift in den Vorstufen sowohl die Metaphorik des Weges auf, wie sie auch den Prozess der Selbstvergessenheit weiterführt.
260 I B , T P I , S . 174. 261 Celan, Meridian, 1968, S. 139. 262 Celan, Meridian, 1968, S. 142.
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„Eine unendliche Übung, eine endliche Übung, ein Eintauchen und Abwehren der Selbstvernichtung, und die andere Selbstvernichtung dann in der Kunst, dann gerechtfertigt, dann < > / Die Kunst kommt erst nach dem zweiten Tod, nach der zweiten Unschuld." [TPI,174]
Die Selbstentfremdung geht hier weiter und führt zum Gedanken der Selbstvernichtung, wie er bereits in der Erzählung Das dreissigste Jahr präsent ist. Bachmann greift wieder jenen Topos der Autorschaftsdarstellung auf, der Unschuldsverlust als Bedingung der Kunstproduktion voraussetzt, wie er beispielsweise in Kleists Marionettentheater formuliert wird. Bachmann greift diesen Topos im Todesarten-Projekt wieder auf. Damit reinszeniert sie dort die Stimme, die in der Büchnerpreis-Rede durch die Konstruktion einer radikalen Form ausgeschlossen wurde. Dass die endgültige Version der Preisrede die Bezüge auf die Kunst ebenfalls aus dem Text verbannt, scheint mit eben dieser Radikalisierung der Form in Zusammenhang zu stehen. Die Funktion Autorschaft ist nicht als Inszenierung einer Figur oder einer Kunstdiskussion angelegt, sondern, damit gerade umso wirksamer, als Aufzeigen ihres Ausschlusses.
Ingeborg Bachmann
3. Die Franza-Fragmente:
Verortung von Autorschaft
Die Todesarten-Fragmente bilden ein Projekt, welches sich in Form der Erinnerung sowohl mit öffentlich-politischen wie mit privaten Fragen auseinandersetzt. Das Verhältnis von privater und öffentlich-politischer, vielleicht kultureller Erinnerung, werden als Darstellungsproblem von den Texten des Todesartenprojekts reflektiert. Die historisch-politische Intention rückte in der Forschung der 90er Jahre zu Bachmanns Todesartenprojekt vermehrt in den Blick.263 Die Auseinandersetzung mit Geschichte, vor allem mit der Geschichte des Nationalsozialismus, führt Bachmann unter anderem als Teilnehmerin der Veranstaltungen der Gruppe 47 zur Beschäftigung mit dem Problem der literarischen Darstellung nach 1945.264 Die Frage nach der Aufgabe der Literatur, einer Rekonstruktion von Geschichte bzw. nach einer Abgrenzung davon, beschäftigt die zeitgenössische Literatur. Bachmann hat in mehreren Vorreden das Projekt ihres Schreibens umrissen, wobei sie sich den Themen jener Literatur annähert, die sich als „Vergangenheitsbewältigung" versteht, um sich allerdings gleich wieder davon zu distanzieren und „etwas anderes" zu versuchen. Die verschiedenen Erklärungsversuche, welche die Nachkriegsliteratur, aber auch die Wissenschaften bieten, die politisch-historischen, soziologischen, philosophischen, psychologischen und psychoanalytischen, sind Modelle, die zum Teil im Todesartenprojekt angesprochen werden.265 Für Bachmanns Schreiben scheint es nicht darum zu gehen, Vergangenheit als historisch zurückliegende zu verarbeiten, sondern „das aufzusuchen, was nicht aus der Welt verschwunden ist".266 Der berühmt gewordene Satz der „Mörder unter uns" [TP II,S.74],267 der in seiner Ambivalenz zu verstehen ist, je nachdem wie der Akzent gesetzt wird, steht im Kontext der 263 Siehe dazu Gerhard Botz, Hans-Ulrich Thamer, Andrea Stoll: alle in: Ingeborg Bachmann - Neue Beiträge zu ihrem Werk, hsg. von Dirk Göttsche und Hubert Ohl, 1991. Siehe auch Sigrid Weigel: Zur Polyphonie des Anderen, in: Pattillo-Hess / Petrasch: Ingeborg Bachmann - Die Schwarzkunst der Worte, 1993. 264 Zur Geschichte der Gruppe 47siehe Die Gruppe 47: ein kritischer Grundriss, Sonderband Text + Kritik, hsg. von Heinz Ludwig Arnold, 1980. Siehe auch den Aufsatz von Klaus Briegleb, Ingeborg Bachmann, Paul Celan. Ihr (Nicht-)Ort in der Gruppe 47, in: Böschenstein / Weigel, Ingeborg Bachmann und Paul Celan, 1997. 265 Aus der Perspektive der Figur Martin steht im Kapitel „Heimkehr nach Galicien" er habe „in einem Aufsatz irgendwas von theologisch fundierter Seelsorge und Psychotherapie" gelesen, dann er sei indifferent gegenüber „Krankheit und Zeit und Zeitkrankheit und unter welche Hüte Naturwissenschaft und ihre Grenzfragen und die Seelsorgerei gebracht wurden." [TP II, S. 143.] 266 TP II, Vorreden, S. 75. 267 Vgl. dazu Anm. TP II, S. 475: DEFA-Film von Wolfgang Staudte, Die Mörder sind unter uns, 1946.
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Überlegung, dass die Gewalt des Faschismus keine Geschichte ist, die als Vergangenheit zu bewältigen ist, sondern sich in der Gegenwart fortsetzt. Dem chronologisch-temporalen Geschichtsverständnis, in dem sich die Ereignisse ablösen, hält Bachmann ihre Literatur entgegen, welche die Geschichte und insbesondere die Geschichte der Gewalt, als Darstellungsproblem der Gegenwart reflektiert.268 Berlin in der Büchnerpreis-Rede liest sich, wie gezeigt, als Chiffre der gleichzeitigen Anwesenheit disparatester Daten. Die Geschichte, wie Bachmann sie zeigen will, ist nicht nur als Spur aufzufassen, die auf die Vergangenheit weist, sondern bleibt in der Gegenwart bestehen und setzt ihr Gewaltpotential fort. Das Problem der Darstellung faschistischer Strukturen im öffentlich-politischen und im privaten Bereich wirft Fragen auf, die mit der Positionierung der Autorschaft verbunden •
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sind. Die Auseinandersetzung mit der Autorschaft durchzieht das ganze Todesarten-Projekt als Problem der Stimmgebung. In der Lektüre der FranzaFragmente wird deutlich, wie die Frage nach der Autorschaft mit derjenigen nach den Erzählperspektiven zusammenhängt, dann aber wieder davon abzugrenzen ist. Die Auseinandersetzung des Textes mit Autorschaft realisiert sich zum einen über die weibliche Figur Franza, zum anderen aber auch über Stimmen, die nicht klar referentialisierbar sind. Dieses Stimmenproblem soll hier kurz im Zusammenhang mit den Erzählperspektiven aufgegriffen werden. In der Untersuchung der Erzählperspektiven, die in der Forschung bereits mehrfach - mit verschiedenen Ergebnissen - unternommen wurde270, geht es um die Differenzierung von Blick und Stimmen verschiedener Figuren und Erzählinstanzen. Die Frage „qui voit et qui parle", Vereinfachung des Modells, das Genette aus dem platonischen Begriffspaar Diegesis und Mimesis (entsprechend der anglo-amerikanischen Literatur-
268 Weigel sieht Bachmanns Abwendung von der Lyrik als Versuch dem Problem der Metaphorisierung und Asthetisierung des Nationalsozialismus auszuweichen (Weigel in Pattillo-Hess, 1993, S. 16). 269 In Bachmanns Todesarten-Projekt, das neben dem abgeschlossenen Roman Malina und dem Romanfragment Franza eine Vielzahl von Fragmenten und Entwürfen umfasst, ist Autorschaft als Darstellungsproblem der Texte bislang kaum untersucht worden. Ein Anlauf unternimmt Elke Brüns: aussenstehend, ungelenk, kopfüber weiblich: Psychosexuelle Autorpositionen bei Marlen Hausbofer, Marieluise Fleisser und Ingeborg Bachmann, 1998. Die Untersuchung geht von einem spezifisch psychologischen Ansatz aus. 270 Sabine Grimkowski, Das zerstörte Ich: Erzählstruktur und Identität in Ingeborg Bachmanns „Der Fall Franza" und „Malina", 1992. Grimkowski vertritt die These, dass die Unabschliessbarkeit des Franza-Projekts mit den Erzählperspektiven verbunden war. S. 28-33; Bettina Stuber, Zu Ingeborg Bachmann „Der Fall Franza" und „Malina", 1994.
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theorie „showing" und „telling") entwickelt 271 , ermöglicht die Unterscheidung von Perspektiven als Rückbeziehung oder Fokussierung der Aussage auf Figuren oder Erzählinstanzen. In den Franza-Kapiteln scheint sich dagegen die Mehrstimmigkeit weder in einzelne Stimmen auflösen zu lassen, noch sich auf jeweils klar konturierte Figuren zu beziehen, sondern sie bilden ein Stimmengeflecht, eine parole plurielle, deren Ursprung nicht eruierbar ist. Damit ist auf die Frage nach dem „wer" im „qui parle", die ja ein Subjekt voraussetzt, keine Antwort im Sinne einer Subjektbestimmung zu geben. Entsprechend ist die Rede von der Erzählperspektive zwar nützlich, um die Diskussion um verschiedene Diskurse in einem Text auszulösen, es wird aber deutlich, dass die Frage der Perspektive immer eine fokussierende Optik voraussetzt, die hier nicht greift. Die Todesarten stellen die Verortung der Stimmen als Problem dar, das keine Lösung findet, sich aber immer wieder aufs neue zu realisieren versucht. Dies im Versuch der Konstruktion von Erzählinstanzen, welche die OpferTäter-Dialektik kommentieren, oder im Versuch, der Opferseite eine adäquate Stimme zu verleihen. Dies bedeutet via Stimme Identität zu rekonstruieren, es bedeutet aber auch, dem „Leiden" eine Stimme zu verleihen, und das heisst (griechisch) Pathos. Die Bezeichnung Todesarten nimmt vorweg, dass hier die Autorfigur (als persona) ständig von ihrem Untergang bedroht ist. Diese Bedrohung ist Folge einer Umkehrung der rhetorischen Figur der Stimmgebung, der Prosopopoeie. 272 In der Umkehrung ist es nicht der unbelebte Körper, der zur Stimme, und damit zum „Leben" kommt, sondern die Stimme, die einen Körper, eine Verankerung sucht. Diese Stimmen sind also nicht Emanation präfigurierter Subjekte, sondern, und dies sei hier die These, Effekt des Textes, der Lektüre. In einer frühen Fassung des Kapitels die „Jordanische Zeit", die in ihrer Zerrissenheit das Scheitern des Erzählversuchs der Hauptfigur Franza zeigt, bricht das Erzählen plötzlich in eine Selbstbefragung ab: „Du, zu wem spreche ich, zu dir, zu welcher Figur, welche Figur bist du überhaupt, mit wem rede ich, eine Figur zu einer Figur."275
271 Gerard Genette, Figures III, 1972. Genette weist, augenzwinkernd gegen allfällige wissenschaftliche Beunruhigung angesichts seiner gewährlosen Sprache auf die Metaphorizität seiner Formulierung hin, die ihre Begrifflichkeit findet, „en recourant pour le choix des termes ä une sorte de metaphore linguistique qu'on ne voudra bien ne pas prendre de fa^on trop litterale.", S. 75. 272 Zur Prosopopoeie siehe auch die Diskussion des Pygmalion-Motivs in der Einleitung dieser Arbeit und die Überlegungen zur Stimme im Kapitel zu Mayröcker. 273 · TP II, S. 58.
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Die Texte zeigen, dass Sprache bei Bachmann als Rede inszeniert ist, die erst zum Ich gelangt, wenn es ein „Du" der Lektüre voraussetzen kann. Allerdings einer Lektüre, die auch stumm, „laut" liest, und den Diskursen Stimme verleiht. Das Problem der Verankerung der Stimme, wie auch das Scheitern dieses Versuchs, zeigt sich anhand mehrerer Aspekte im Text. Mit der Verortung der Stimme ist eine Metaphorizität der Topographie, des Gesteins und Materials verbunden.274 Das Gestein bildet in den Franza-Kapiteln Gegenstand einer Diskussion zwischen Franza und ihrem Bruder Martin, dem Geologen, die gerade das Problem einer topographisch versicherten Identität aufgreift. Wie schon in der Büchnerpreis-Rede wird im Kapitel Ägyptische Finsternis dann die Wüste als Ort evoziert, der eine Realisierung der Autorschaftsstimme ermöglichen sollte. Die Wüste ist Ort biblischer Ereignisse wie der Versuchung. Bachmann stellt das Problem im sogenannten Tunnelexkurs dar, einem Text, der in der edierten Fassung dem Franza-Projekt vorangestellt wurde und als erstes Kapitel diskutiert werden soll. Vergleichbar verhält sich die Autorschaftsdarstellung in Bachmanns Text. Die Autorität (als auctoritas), auf die sich der Begriff der Autorschaft zurückbezieht, ist nicht nur keine Instanz ausserhalb des Textes, sondern auch keine, die dem Text als Bedingung vorausgeht. Das Verhältnis von Ursache (auctor) und Wirkung (Text) erfährt eine Inversion, in der die Autorschaft sich als Effekt des Textes erweist. Die Umkehrung vollzieht die rhetorische Figur des hysteron proteron, einer Figur durch die „das Spätere das Frühere" ist und die sowohl auf der Ebene der Zeit wie im logischen Paradigma eine Inversion darstellt.275 Der Zug fährt rückwärts: der
Tunnelexkurs
Der Tunnelexkurs ist ein Nachlassblatt, das in der edierten Fassung dem Anfang des Franza-Projekts beigegeben wurde.276 Der kurze Text problematisiert das Konzept Stimme auf radikale Weise wie gezeigt werden soll. Er zeigt das Problem der Vorzeitigkeit und Nachträglichkeit von Stimme und Autorität, das als rhetorische Figur, als hysteron proteron, beschreibbar ist. Die Integration des Tunnelexkurses in die edierte Hauptfassung bindet ihn an den vorangehenden inneren Monolog Martins („typisch, sagte er sich", TPII,132) auf seiner Zugreise, wobei die Passage gerade einen radikalen 274 Der Verweis auf die Topographie ist nicht neu. Sigrid Weigel hat diesen Aspekt zu Bachmanns Texten ausführlich besprochen. Weigel, Ingeborg Bachmann, 1999, S. 53ff. und S. 355ff. Neu ist dagegen die Beschreibung dieser topographischen Metaphern als Versuche, Autorschaft zu verorten. 275 Siehe dazu Groddeck, Reden über Rhetorik, 1995, S. 190. 276 TP, II, S. 132-134.
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Bruch mit der vorangehenden Erzählperspektive markiert. Die Perspektive der Figur Martin wird verlassen, ohne dass die Perspektive einer anderen Figur eingenommen würde.277 Der Exkurs - der Begriff „Exkurs" markiert die Verrückung der Stimme in ein Auswärts - setzt mehrfach mit einem „wenn" ein, das eine Möglichkeit installiert:278 „wenn ein Zug durch den Semmeringtunnel fährt, wenn die Rede davon ist, dass er nach Wien fährt, etwas genannt wird, eine Stadt die so heisst, und ein O r t der Galicien heisst, wenn von einem jungen Mann die Rede ist, der sich ausweisen können sollte als ein Martin Ranner, aber ebensogut Gasparin heissen könnte [...]" ΓΓΡΙΙ.132].
Die Passage tangiert das Konzept der literarischen Figur. Die persona, Maske, wird erst durch ihre Rede identifizierbar. Die Ursache der Stimme, eine Identität, ist genau besehen ihre Folge. Genauso wird in dieser Passage mit dem Konzept Figur, Persona, Charakter gespielt. Die kurze Passage problematisiert den Status der Figur in Bezug auf ihr gesprochen-Sein. Figur und Ort werden durchgehend als Redefigur reflektiert, nämlich als Ort der „genannt wird" und andererseits als einer der „so heisst". Damit diskursiviert der Tunnelexkurs die Bedingungen literarischer Fiktion in der Verschränkung von benennen und heissen, von Gesetztem und Gegebenem, die das Problem der Autorschaft als Problem von Vorgängigem oder Nachträglichem ins Spiel bringt. Der Tunnelexkurs spielt mit dem Problem von „Realität" und „Fiktion", vom Verweischarakter der Worte und der Referenzialisierbarkeit der Sprache: „Und da sich beweisen lässt, dass es Wien gibt, man es aber mit einem W o r t nicht treffen kann, weil Wien hier auf dem Papier ist und die Stadt Wien immerzu w o anders".
Das Bemühen, das wirkliche Wien fest zu verorten mit der Angabe von Längen- und Breitengraden versucht das Referenzialisierungsproblem der Sprache darzustellen. Mit der naturwissenschaftlichen Formel, dem Zahlen277 Bettina Stuber ordnet diese Passage meiner Meinung nach unrichtig der Figur Martin zu. Stuber, 1994, S. 39. 278 Bettina Stuber liest die Passage als ineinander Fliessen von personaler und auktorialer Erzählperspektive. Der Bruch mit der personalen Erzählperspektive scheint mir aber radikal vollzogen. Die Bedingung des „wenns" am Anfang der Passage deutet sie als Bedingungen, mit denen „der allwissende Erzähler seine Reflexionen" einleite und „dem Imaginierten damit eine Bedingtheit" schaffe. Stuber, 1994 S. 37. Gerade diese Voraussetzung einer (allwissenden) Erzählerfigur für das Erzählen scheint mir in der Passage in ihr Gegenteil verkehrt zu sein, nämlich als Darstellung des Fehlens einer auktorialen Instanz, auf welche die Rede zurückzuführen ist.
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räum, wird versucht die Fort/Da-Struktur 27 ' der Sprache zu umgehen. Nämlich der Sprache als Benennen dessen, was abwesend ist: „dass es Wien gibt, man es aber mit einem Wort nicht treffen kann". Der Verortungsversuch fällt immer negativ aus und kreiert damit einen Nicht-Ort oder Leerraum. Dieses Problem hält Bachmann gerade am Beispiel des Namens fest: „Wien" wird autoreferentiell, es verweist auf sich selber, oder aber auf einen immer anderen Ort. Die Formelhaftigkeit der geographischen Ortsangabe, „nämlich 48° 14' 54" nördlicher Breite und 16° 21' 42" östlicher Länge" [TP 11,133] bringt eine Zeichenstruktur ein, die nicht die der „Worte" ist. Die Formel repräsentiert einen Punkt in einem Referenzsystem, das nicht das von Fiktion versus Realität ist, sondern ein Koordinatensystem darstellt, das als Modell arbiträres System ist. Der Versuch, die Präzision auf die Formel zu kondensieren erinnert an die ersten Sätze im Mann ohne Eigenschaften von Musil, die versuchen eine möglichst präzise Bestimmung der klimatischen Verhältnisse, der Druck- und Temperaturschwankungen festzuhalten. Damit werden scheinbar die Bedingungen eines unverfänglichen Romananfanges transparent gemacht: „Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913."28° Die Präzision inszeniert eine scheinbare Referenzialisierbarkeit, die mit der Gegenüberstellung der verschiedenen Diskurse, des meteorologischen und des klassischen Romananfangs, wieder aufgehoben wird. Denn die Angabe der Bedingungen wirft die Frage nach den Bedingungen der Bedingungen auf und stellt somit gleich zu Anfang klar, dass die Spekulation auf ein „Hors texte" sich wieder als Setzung verstehen müsste.281 Der Tunnelexkurs problematisiert den Ort explizit als „Hier" im Text - „hier (wo hier?)" - das die Existenz der Figur verunmöglicht: „dann kann das Ganze nicht sein und auch nicht: er dachte, las, rauchte, schaute, sah, ging, steckte ein Telegramm weg, später: er sagte - dann kann doch niemand reden, wenn es alles zusammen nicht gibt. Nur das Wortgeröll rollt, nur das Papier lässt sich wenden mit einem Geräusch, sonst tut sich nichts, wendet sich keiner um und sagt etwas." [TP,II,133]
Mit der Feststellung der Dekomposition von Figur und Ort, aber auch der Handlungen im erzählerischen Präteritum, wird die Rede als Stimme in Abrede gestellt. Das Problem von Stimme, Figur und Ort hat sich damit nicht 279 Nach Freud geht es im Spiel mit der Fadenspule um die symbolische Darstellung der Abwesenheit. (Jenseits des Lustprinzips) Siehe dazu Jacques Lacan, Schriften Bd. II, 1975, S. 108. 280 Musil, Mann ohne Eigenschaften, S. 9. 281 Die ersten Seiten des MoE erweisen sich als Intertext nicht nur hinsichtlich der ersten Sätze. Das Kapitel „Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht" stellt ebenso die Frage nach der Referenzialisierbarkeit vom Namen „Wien", wie nach der Identität von Romanfiguren.
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erledigt, sondern die Emphase im zitierten Abschnitt lässt wiederum eine Figur auferstehen, die sich um argumentative Kohärenz bemüht. Der Beweis des Figurentodes und damit der Abwesenheit von Stimme - als Geräusch wird lediglich das Seitenwenden der Lesenden notiert - redet die Figur wieder herbei, allerdings nicht als jene intakte persona, sondern als eine andere, deren Setzung permanent zu bedenken ist. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Emphase lediglich ein Tonfall darstellt, der bei Bachmann auch im Zusammenhang mit dem Pathos des Leidens zu verstehen ist. Die Sprache führt ihren Redecharakter auch vor, wenn Figuren als abwesend bezeichnet wurden. 282 Die Vorführung der Textproduktion wird im Tunnelexkurs vorgeführt und soll hier ausführlich zitiert werden: „Wer also wird etwas sagen und was wird sich zusammensetzen lassen aus W o r ten - alles, was es beinahe gibt, und vieles, was es nicht gibt. Das Papier aber will durch den Tunnel, und eh es einfährt (aber da ist es schon eingefahren!), eh es, da ist es noch unbedeckt mit Worten, und wenn es herauskommt, ist es bedeckt und beziffert und eingeteilt, die W o r t e formieren sich, und mitgebracht aus der Finsternis der Durchfahrt (bei nur blauer Lampe) rollen die Einbildungen und Nachbildungen, die Wahnbildungen und Wahrbildungen ans Licht, rollen heraus aus einem Kopf, kommen über einen Mund, der von ihnen spricht und behauptet und es verlässlich tut wegen des Tunnels im Kopf, aber auch dieser Tunnel ist ja nicht da, ein Bild nur, von Zeit zu Zeit unter einer bestimmten Schädeldecke, die aufzuklappen auch wenig Sinn hätte, denn da wäre noch einmal nichts, keiner der beiden Tunnel." [TP,II,134] 2 e j
Die Passage realisiert wiederum die rhetorische Figur des Hysteron proteron: Das kleine temporale Innehalten, bevor das Papier „einfährt", ist von keinem Steuermann aufzuhalten - es ist immer schon eingefahren. Während der Zug mit der Figur Martin, deren Existenz in Abrede gestellt wurden, durch den nicht existierenden Semmeringtunnel rollt, fährt das -Papier in den Tunnel und kommt beschriftet wieder hinaus. Der Prozess von weissem Papier zu beschriebenem Papier realisiert sich in der Black Box des Tunnels, ist somit einem hermeneutischen Zugriff verschlossen.284 Allerdings entsteht, erst mit der Beschriftung des Papiers sichtbar, eine Figur: ein Kopf, ein
282 Auch hier sei an Freuds Umschreibung der Struktur der Sprache als Anwesenheit von Abwesenheit, als Spiel des Fort / Da, erinnert. 283 Bettina Stuber verweist mit Recht auf den Redecharakter des Geschriebenen: „Das auf dem Papier Dargestellte hat den Stellenwert einer wörtlichen Rede, ist sprachliche Artikulation im engsten Sinne. Insofern repräsentiert dieses eindrückliche Bild den literarischen Schöpfungsprozess, dem ein Motiv vorausgeht." Stuber, 1994, S. 40. 284 Stuber liest die „blaue Lampe" im Tunnel als Hinweis auf das Unbewusste. Stuber, 1994, S. 40.
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„Mund, der von ihnen spricht". Diese Figur ist Redefigur und nicht Voraussetzung oder Bedingung der Rede. Sie ist kein der Rede Vorgängiges sondern Effekt dessen, was sie produziert, also nicht Darstellung einer Kopfgeburt, sondern der Geburt eines Kopfes durch die Schrift. Der Mund, das Mundwerk spricht sich selber, „behauptet" sich, wie es heisst. Mit dieser Inversion ist die Autorschaft keine a priori, die Ursprung, auctoritas des Geschriebenen wäre, sondern wird erst im Moment des Schreibens. Dabei bleibt sie genauso Setzung wie die Figur. Für ihre Verlässlichkeit bürgt der
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Abb. 4: M. C. Escher, Drawing Hands, 1948. © C. Μ. Escher Heirs c/o London Art Holland
„Tunnel im Kopf" - in einem Kopf, der den Tunnel imaginiert, dem er sich verdankt. Der Produktionsprozess wird nicht als Schöpfungsprozess dargestellt, sondern als Autoproduktion, welche die Autorschaft mitgeneriert. Bachmann führt die Reflexivität ihrer Produktionsästhetik in ihrer Konsequenz so weit wie M.C. Escher mit seinem Bild unhintergehbarer Selbstreflexivität Drawing Hands [Siehe Abb. 4]. Interessant im Vergleich von Bachmanns Passage mit Eschers Zeichnung ist die Eigendynamik der Schrift bzw.
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der Zeichnung. Während sich die Schrift ihre Autorschaft erschreibt, die sie wiederum produziert, zeichnen sich die Hände in Eschers Bild je selber.285 Bachmann schliesst ihren Tunnelexkurs mit der Überlegung, dass man das Ganze als Irrtum erkennen müsste, aber dann: „und nun kann der Zug unserthalben fahren, indem von ihm geschrieben, gesprochen wird, er wird jetzt fahren, weil auf ihm bestanden wird." Im „unserthalben" scheinen wir, die Lesenden miteinbezogen zu sein. Die Präsenz der Lektüre lässt sich schon vorher mitdenken, in der Passage der Wahn- und Wahrbildungen die „ans Licht rollen", sichtbar werden und damit lesbar sind. Der leere Schädel, den es auf der Suche nach Bildern aufzuklappen nicht lohnt, kann durchaus auch als Schädel der Lesenden verstanden werden. Dem Tunnelexkurs ist folgende Sentenz beigefügt: „Denn die Tatsachen, die die Welt ausmachen - sie brauchen das Nichttatsächliche, um von ihm aus erkannt zu werden." [TP,II,134]
Der Satz, der oft als Bachmanns Wittgenstein- oder auch Heideggerrezeption in nuce gedeutet wird, scheint mir wiederum im Vergleich zum Anfang des Mann ohne Eigenschaften lesbar.286 Nach den detaillierten Angaben der meteorologischen Situation fasst sich der Erzähler zusammen, „mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913." Musil formuliert hier die „Tatsache" im altmodischen Gewände des traditionellen Erzählanfangs. Der Kategorie des „Tatsächlichen", dem „factum", wird damit ein Status zuteil, der mit dem des Erzählerischen identisch ist, also den traditionellen Gegensatz zu „cogitatum" oder „dictum", dem Gedachten oder Gesagten, aufhebt. Erosion der Struktur: Geologie und Psychoanalyse in den Franza-Fragmenten Eine topographische Metaphorik entfaltet sich nach und nach in den verschiedenen Textstufen. Zwischen den ersten Texten zum Todesartenprojekt und Ein Ort für Zufälle liegt Bachmanns Reise nach Ägypten, nach der sie die Nachricht ihres Preises erhalten hatte. Sie knüpft mit der Büchnerpreis285 Dabei bleibt die Frage nach einer Instanz, die diese Eigendynamik in Gang gesetzt hat: „Die Hand, die das alles erschaffen hat, hat es gottähnlich entlassen. Es bedarf ihrer nicht mehr", schreibt C.L. Hart Nibbrig zu Eschers Bild, in: ders. Spiegel-
schrift, 1987, S. 178. 286 Als Summe der Auseinandersetzung mit Heidegger in Bachmanns Dissertation, nämlich als Verweis der metaphysischen Fragen in den Gestaltungsbereich der Kunst deutet Grimkowski, 1992, S. 12f. die Stelle.
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Rede an Motive an, die bereits in den Texten zu Sterben für Berlin, einem frühen Romanprojekt, angeschnitten sind. In der Endfassung von Ein Ort für Zufälle tritt das Motiv der Wüste, das im Wüstenbuch und im FranzaProjekt einen komplexeren Zusammenhang bildet, im Vergleich zu den Vorstufen in den Hintergrund. In einem Entwurf zur Preisrede schreibt Bachmann zu ihrem Text, dass „von Absatz zu Absatz sich zwei Bewegungen überschneiden", dass sie ihre Zuhörerschaft „einerseits nach Berlin transportiere, und im nächsten in die Wüste." [TPI,181] Die beiden Paradigmen, Wüste und Stadt, die Vorstellung der Menschenleere der Wüste einerseits und der kulturellen Uberdeterminierung der Stadt andererseits, lösen sich in der Preisrede zuerst wechselseitig ab und scheinen in paradoxem Verhältnis zueinander zu stehen. Die Wüste wird als Fluchtort aus der Stadt bezeichnet, entfaltet in den verschiedenen Fassungen eine Metaphorik der jüdisch-christlichen Tradition, in der die Wüste die Rolle der Heilungsstätte bis zum Purgatorium verkörpern soll. Diese biblische Tradition wird, mit philosophischen Konzepten, die sich mit der Frage nach der leeren Stelle nach dem Gottestod auseinandersetzen, konfrontiert. Die positiv-utopische Aufladung der Wüste wird problematisiert und als Utopie leer gelassen. Dies durchaus in Adornos Sinn, der in Anlehnung an Ernst Bloch die Utopie zuerst als Sehnsucht nach der Utopie verstanden wissen will, welche jede mögliche Erfüllung der Utopie wieder überholt.287 Die Dialektik von Stadt und Wüste als Uberschneidung von zwei Bewegungen im regelmässigen Alternieren „von Absatz zu Absatz" wird in der Schlussfassung aufgegeben. Die Wüste bildet keinen klaren Kontrapunkt zur Stadt, sondern nimmt die Stadt ein, lässt sie versanden. Die topographische Metaphorik entwickelt mit der Geologie und der Wüste ein metaphorisches Feld angeblicher Materialität. Zuerst wird eine Topographie erstellt, in der, mit Hilfe der wissenschaftlichen Sprache des Geologen Martin in den Gesteinsschichten gelesen wird. Mit der Geologie, der Analyse der historisch gewachsenen Sedimentationen, wird, wie gezeigt werden soll, zugleich das psychoanalytische Erklärungsparadigma paraphrasiert. .
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287 „Das Neue ist die Sehnsucht nach dem Neuen, kaum es selbst, daran krankt alles Neue." Adorno, Ästhetische Theorie, S. 55. Vgl. auch S. 462. 288 Die Nähe von Freuds Psychoanalyse zu Geologie und Archäologie stellt Donald Kuspit heraus. Diese Nähe ist sowohl im Verfahren wie im Schreiben Freuds belegt. Die Wirkung der „mächtigen Metapher" der Schichten beschreibt Kuspit folgendermassen: „f...] the archaeological metaphor is as demystifying as it is mystifying: as much a way of suggesting psychoanalysis power to reveal the plain truth hidden in the mysterious fiction as to idealize the facts so that they seem faboulous." Kuspit, A mighty metaphor, in: Gamwell / Wells, Sigmund Freud and Art, 1989, S. 135.
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Der Versuch des Bruders Martin Ranner, zu verstehen, zu lesen, was in seiner Schwester vorgeht, führen ihn auf sein bewährtes geologisches Begriffsinstrumentarium zurück. Dabei wird eine Parallele zu einem Maler gezogen (es könnte sich um Paul Cezanne handeln), von dem es hiesse, „ehe er ein Bild von einer Landschaft male (als unreduzierbare magische Bilder von den andren apostrophiert), müsse er ihre geologische Schichtung kennen." [TP 11,190] Entsprechend will Martin, um sich ein Bild seiner Schwester zu machen, wissen „wie sie auf ihrem Boden beschaffen war, nein mehr als das, denn den Boden kannte er noch einigermassen, aber was sich dann überlagert und verschoben hatte, was gewandert war, sich gefaltet hatte und was Mächtigkeiten erreichte von solchen Höhen." [TPII,191] Diesen naturwissenschaftlichen archäologischen Anspruch setzt Martin Franza gegenüber, die „in der Magie und in Bedeutungen" lebe. [TPII,190]. Seine geologische Sprache soll die Sprache seiner Schwester, die „immer mit einem Gebet auf den Lippen umherging" [TP 11,192] erforschen können. Die Metaphorizität der geologischen Sprache wird jedoch gleichzeitig reflektiert: „Schöne Worte hatten sie in der Geologie". Die „schönen Worte" erweisen sich als Anthropomorphismen, wenn es über Martins Nachforschungen heisst, er habe „über die Gesteinsgesellschaften nachgedacht" [TPII,191] oder dass „beide Gesteinsgruppen eine Metamorphose erlitten (erlitten!)" hätten [TPII,191]. Gleichzeitig wird mit der Enthüllung der Metaphorizität der naturwissenschaftlichen Sprache implizit das Vokabular der Psychoanalyse, welches sich als Tiefenpsychologie an archäologischen Begriffen orientiert, demontiert. Martin kommt vorerst zum Schluss, dass er „den Schliff seiner Schwester", „geschliffen von Schmerzen", nicht „zu beschreiben" vermag. [TP 11,163], Was für Martin „einen Halt" garantiert, ist das Gestein, das als einziges „Struktur, Textur, Fundpunkte", also eine Gesetzmässigkeit aufweist [TP 11,164], Die Beschreibbarkeit hängt für Martin von einer Beschaffenheit ab, die wiederum mit Textmetaphorik umschrieben wird. Allerdings handelt es sich hier um einen bestimmten Textbegriff, will man nicht Struktur als Prämisse jeden Textes voraussetzen. 28 ' Der Begriff der Struktur ist zu diskutieren, da er hier - in Verbindung mit der Geologie - eine ontologisierende Stossrichtung hat. Der Textbegriff, der in der Perspektive von Martin evo-
289 Im Anschluss an den von Michel Foucault vor der Societe frangaise de philosophie gehaltenen Vortrag (Februar 1969) „Qu'est-ce qu'un auteur" wird in der Diskussion von L. Goldmann die strukturalistische Ersetzung des Subjektbegriffs durch den Begriff der Struktur moniert: „[Le structuralisme] que j'appellerai structuralisme non genetique nie le sujet qu'elle remplace par les structures (linguistiques, mentales, sociales, etc.) et ne laisse aux hommes et ä leur comportement que la place d'un role, d'une fonction ä l'interieur de ces structures qui constituent le point final de la recherche et de l'explication." Foucault antwortet auf diese Intervention mit der Kritik und Ablehnung des Begriffs Struktur: „Cherchez-le dans Les Mots et les Choses, vous ne le trouverez pas." Michel Foucault: Dits et ecrits (1969), 1992, S. 8 1 4 - 8 1 6 .
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ziert wird, setzt eine „Struktur" mit „Fundpunkten" voraus, welche gerade die Beschreibbarkeit garantieren würde. Allerdings erweist sich Martins Charakterisierung des Gesteins als metonymische Verschiebung. Was zuerst als Struktur bestimmt wird, weicht der Textur, übrig bleiben Fundpunkte. Die scharfen Begriffe werden mit dem Versuch, sie zu präzisieren, relativiert. Die Sprache der Psychoanalyse ist in den Franza-Fragmenten Jordans Sprache. Diese erfährt eine kritische Darstellung in Franzas Bericht über ihre „englischen Küsse", die in Jordans Analyse „gewogen, zerlegt und pulverisiert" wurden [TP II, 187]. Jordan beraubt das Objekt seiner Untersuchung in der Analyse seiner Festigkeit, indem er ihre Sprache „pulverisiert". Der Anspruch der psychoanalytischen Sprache zerstört mit der Analyse ihren Gegenstand selber. Das Beispiel der „englischen Küsse" ist paradigmatisch für Jordans Zugriff auf Franza, die zu seinem „Fall" und damit zerstört wird. Das Problem der Auslöschung durch das psychoanalytische Verfahren ist zentral, da Jordan als Wissenschaftler, der eine „Untersuchung über Spätschäden an Häftlingen" durchführt, seinem Anspruch nach mit zu dem was „Vergangenheitsbewältigung" genannt wird, beitragen soll. Die Auslöschung von Franzas Name als Mitautorin jener Studie ist das Äquivalent oder die Bedingung für ihre körperliche Zerstörung. Jegliche Form von Autorschaft wird Franza abgesprochen. Zur Auslöschung ihrer Sprache und ihrem Namen als Mitautorin fügt sich die von Jordan erzwungene Abtreibung ihres Kindes. Der Wunsch Franzas, es wenigstens aufessen zu können,290 „es hätte sein Herz draus werden können" [TPII, 254], scheint der Versuch zu sein, es sich einzuverleiben, die Autorschaft hier als Akt der Veräusserung, rückgängig zu machen. Hier wird deutlich, dass Bachmann das Problem der Autorschaft auf der Ebene der Figur Franza als ein Problem der Weiblichkeit inszeniert, die vom männlichen Gegenparten überrollt wird. Die Sprachproblematik realisiert sich zwischen den Figuren ebenfalls als geschlechtsspezifische Rollen, in der Weiblichkeit die Opferseite einzunehmen hat. Franzas Stimme, die als Mitautorin der Studie, also als Teil des öffentlichen Diskurses ausgelöscht wird, sucht in den FranzaFragmenten nach ihrer Verankerung. Als Teil der Opfer, deren öffentliche Autorschaft (der Name) zum Schweigen gebracht werden, ist der Text der Todesarten der Ort, in dem das „Gebet" der Stimme laut wird. Das Pathos, das dem Text anhaftet, ist mit diesem Stimmenkonzept verbunden. Es ist das Einklagen der Stimme in einem Text, der sich als nicht-öffentlicher Raum inszeniert und damit eine gewisse Intimität herstellt. 290 Hermann Weber, in: Göttsche / Ohl, Ingeborg Bachmann - Neue Beiträge, verweist in seinem Aufsatz Zerbrochene Gottesvorstellungen: Orient und Religion in Ingeborg Bachmanns Romanfragment „Der Fall Franza" auf die Verwandtschaft des Motivs mit dem Isis und Osiris-Mythos wie es Musil in seinem Gedicht und später im M o E für die Beziehung Ulrich /Agathe entwickelt. S. 115.
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Durch die Konfrontation von Jordans psychoanalytischer Sprache mit Martins Geologensprache und ihrer jeweiligen Kritik als anthropomorphisierender bzw. geologisierender (und damit den Begriff der Struktur voraussetzender) Sprache, findet mit dem Text selbst eine Verschiebung statt, die von diesen beiden Paradigmen wegführt. Die Beschreibbarkeit der Todesarten muss ohne den Begriff der Struktur auskommen. Wüste: Auge und Sand Bachmann schreibt zu der Gegenüberstellung von Berlin und der Wüste: „Berlin teilt sich dem Autor mit, aber der A u t o r teilt sich der Wüste mit. Sie wissen, dass nie zwei zugleich sich etwas sagen können." [TPI, 181]
Damit wird, in scheinbarem Einverständnis mit der Leserin und dem Leser, ein Anspruch auf eine funktionierende Kommunikation formuliert, dem bekannten Sender-Empfänger-Modell gemäss, das dann funktioniert, wenn jeweils eine Stimme jeweils ein Schweigen voraussetzen kann. Die Unterscheidung in zwei klar abgegrenzte Pole, Empfänger und Sender, sind durch ihre Besetzung mit „Wüste" und „Autor" schon kompliziert. Wie gezeigt, ist in der Preisrede das als Kundschafter bezeichnete Subjekt dasjenige, welches auf Empfang eingestellt ist, „Augen und Ohren offen hat". In der W ü ste, vor allem im Franza-Fragment, wird der Wüste vorerst die Qualität des Schweigens zugeschrieben. Allerdings wird sich die Wüste für „den Autor", der sich ihr mitteilt, nicht leere, undeterminierte Projektionsfläche bleiben. Bachmanns Text inszeniert im Franza-Fragment die Wüste als Ort der Erfahrung, „dem nicht beizukommen ist" wie es in Ein Ort für Zufälle heisst. „Alles leer und vorhandener, als was sich für vorhanden ausgibt. Nicht das Nichts, nein, die Wüste hat nichts zu tun mit dem erspekulierten Nichts der Lehrstuhlinhaber. Sie entzieht sich der Bestimmung." [TP II, 248]
Wenn sich die Wüste „der Bestimmung" entzieht, so ist doch ein Bezug zu der von Bachmann im Tunnelexkurs dargestellten Problematik ablesbar, der Frage nach dem Status der „Vorhandenheit" bzw. Wirklichkeit. Die Wüste scheint in den Texten einen Ort der Darstellung von Präsenz bzw. Abwesenheit zu gestalten, der sich wiederum mit der Fort/Da - Struktur der Schrift vergleichen lässt. Sie ist damit Emblem des Textes. Die Leere der Wüste entspricht keiner unbezeichneten Leere, sondern einer bezeichneten, markierten Leere. Dies wird mehrfach im Todesartenzyklus manifest und entfaltet, wie gezeigt werden soll, eine Problematisierung des historischen kollektiven - Gedächtnisses, aber auch der individuellen Erinnerung. Die Fort/Da-Struktur als Gleichzeitigkeit von An- und Abwesenheit ist in den
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Todesarten, wie bereits in der Lektüre des Tunnelexkurses gezeigt wurde, ein Moment, das die Erinnerung, die Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart, aber auch des Anderswo im Hier spezifisch als Möglichkeit der Schrift reflektiert und realisiert. Die andere Figur und der andere Ort, wie sie in ihrer Entstehung im Tunnelexkurs deutlich wurden, erhalten mit der „Wüste" einen emblematischen Ort, der gerade das Anderswo des Textes als Ort der Aufhebung der Zeit mitlesbar macht. Dies wird, nebst dem diskutierten Tunnelexkurs, auf verschiedenen Ebenen gezeigt werden, so in der Wahrnehmung der Bewegungen des Sandes, dem Aufsuchen der Wüste als biblisch besetztem Terrain, der Begegnung mit dem Tempel der Hatschepsut, aber auch in der Frage der Kolonisierung in Form der Analogie. Wie bereits in der Büchnerpreis-Rede und in den Vorstufen dazu, wird im Franza-Fragment der Wüstensand immer wieder als Relation von Blick und Wüste, von Sand und Augen dargestellt. „Der Sand war mir in die Augen gekommen und ins Haar, im Schuh." [1,183] Während sich „alles dreht", liegt „die märkische Sandwüste" ganz ruhig da. „Am besten: man schaut mit den Augen fest in den Sand", so heisst es paradox in der Endfassung der Preisrede. In einer anderen Passage steht: „Die Wüste ist [...] die immerwährende Erregung für den, dessen Augen von ihrem Sand ausgezeichnet werden." [TP,1,180] Das Bild der mit Sand ausgezeichneten Augen setzt einerseits die schmerzhafte Erfahrung von Sand in den wunden Augen voraus, die das Sehen verunmöglicht, und impliziert auch das Sand-in-die-Augen-Streuen, die Täuschung. Damit ist aber auch eine Schreib- und Lesefigur gegeben, die des Aus-zeichnens in seiner doppelten Bedeutung, als gezeichnet oder bezeichnet, aber auch als hervorgehoben, mit Auszeichnung versehen. Die oben zitierte Passage lautet in der ersten Reinschrift: „[...] aber die Wüste, die Sandwüste nach den letzten Kiefern und Birken, ist auch zu sehen, die liegt ruhig, während sich alles dreht, wie beim Sturzflug, beim Kunstflug, nimmt man am besten etwas ins Auge, den Sand, den festen Halt." [TPI,198]
Der Sturzflug, hier explizit mit dem „Kunstflug" gedoppelt, greift das Bild des kreativen Aktes auf, wie in der Erzählung Das dreissigste Jahr deutlich wurde, und ist in Anlehnung daran als Experiment zu lesen, in dem sich der Typus des Autors ganz aussetzt. Mit der ausdrücklichen Parallelisierung von „Sturzflug" und „Kunstflug" ist aus der früheren Fassung die Verbindung des Augenmotivs mit der Wüste als Darstellung einer Figur der Autorschaft lesbar: „Der Wind erhob sich zum erstenmal, griff in den Sand, der flüchtige Boden löste sich bedrohlich in der Luft auf. Er zeigte seine wahre Beschaffenheit. Die Augen
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und die Wüste fanden zueinander, die Wüste legte sich über die Netzhaut, lief davon, wellte sich näher heran, lag wieder im Aug, stundenlang, tagelang. Immer leerer die Augen, immer aufmerksamer, grösser, in der einzigen Landschaft, für die Augen gemacht sind." [TPII.259]
In Fortführung der Überlegungen zur Kritik des Strukturbegriffs in Bachmanns Romanprojekt, wie oben gezeigt, erscheint die „wahre Beschaffenheit" des Bodens als Pulverisierung der Struktur. Dies impliziert eine Veränderung der Sehweise. Die Konfrontation von Auge und Wüste führt in eine Verschiebung des gängigen Sehkonzeptes. Das Sehen hat hier rezeptive wie produktive Qualität2". Weder nimmt das Auge ausschliesslich in rezipierendem Vorgang eine feste Umgebung wahr, noch produziert es sich ein Bild. Beide Pole Aug und Wüste „finden zueinander", das heisst die Bewegung findet beiderseits statt. Mit zunehmender Aktivität des Sehens entleert sich der Blick. Damit wird deutlich, dass die Leere der Wüste nicht zur Folie einer produktiven Projektion wird, welche die Leere kompensiert, sondern selbst das Interesse des Sehens bildet. „Wie sanft ist die Überredung der Wüste, die ihre feinen Zeichnungen ausspielt." Die Zeichnungen der Wüste werden mit der „Überredung" in eine Beziehung zur Sprache gesetzt. Die Überredung kann in Verbindung mit dem Spiel der Zeichnung als formales Gebilde, als Kunstform gelesen werden, nämlich als Kunst der Überredung, der Rhetorik. Diese Zeichnungen haben einen ästhetischen, zugleich einnehmenden Charakter, sie werden aber nicht gedeutet. Diese Asthetisierung der Wüste, ohne Deutung der Zeichnungen, ohne Anthropomorphismen, bereitet die Wüste vor als Nicht-Ort, der scheinbar von Geschichte frei ist. Das Pathos der Stimme in der Wüste Mit der Wüste greift Bachmann einen Ort auf, der für die jüdisch-christliche Tradition immer wieder Schauplatz des Überlebens ist. Die Leere, die in den Franza-Fragmenten vorausgesetzt wird, wird mit der Symbolik des Ortes konfrontiert. In der Kargheit der Wüste auf sich selbst zurückgeworfen, ist die Wüste in der jüdisch-christlichen Tradition Ort der Prüfung, der Versuchung, der Gottesbegegnung und -Verlassenheit, aber auch der Prophezeiung und der Reinigung.292 Bachmann zitiert die Bibel in mehreren Passagen2'3, wobei vor allem der Sprachgestus von Predigt und Lobgesang in die 291 Zur Geschichte des Sehens siehe Joachim Ritter, Historisches Wörterbuch der Philosophie, 1995, S. 121-161. Hier S. 145ff. 292 Am ausführlichsten stellt Hermann Weber die Bibelbezüge und Implikationen für den Text dar. Siehe Weber: Orient und Religion ..., in: Göttsche / Ohl, Ingeborg Bachmann-Neue Beiträge, 1991. 293 1. Mos. 32 (Jakob); l.Könige, 19 (Elias); Johannes in der Wüste (Matth. 3,3); Versuchung Jesu durch den Teufel (Matth.4;) Jes.40, 3-5: „Eine Stimme ruft: Bahnt für den
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Texte transportiert wird. Der Bedeutungskontext der jüdisch-christlichen Tradition spielt in Bachmanns Text eine wichtige Rolle, allerdings wird mitreflektiert, inwiefern etwas, das zugleich als das „Nichts" „erspekuliert" [TPII,248] wird, mit Bedeutung versehen wird. In Bachmanns Text heisst es: „Die Wüste ist von zerbrochenen Gottesvorstellungen umsäumt." Die Wüste wird durch diese „zerbrochenen Gottesvorstellungen" gesäumt, das heisst sie erfährt dadurch eine Begrenzung oder überhaupt erst ihre Kontur. Als wären diese „Gottesvorstellungen" an der Wüste selbst zerbrochen, scheinen die religiösen Konzepte den Eingang hinein nicht vollzogen haben. Das Innere der Wüste scheint leer zu sein, der Ort der Gottesbegegnung verlassen. Der Text formuliert eine explizite Religionskritik, konstruiert aber wiederum eine Projektion der Wüste als Ort der Leere, der sich gegenüber einer Semiotisierung resistent erweist. Die Wüste wird auch bei Bachmann zur Metapher, aber nicht als Ort der Gottesbegegnung, sondern als Bühne für den Sprachgestus der Prophezeiung, der Klage oder der Rede. „Was suchst du in dieser Wüste, sagte die Stimme in der Wüste, in der nichts zu hören ist. Warum bin ich so verlassen. [...] Und die Stimme antwortet nicht, da es in der Wüste still ist. Diese Wüste hat sich einer vorbehalten, und dieser eine war keine Hotelgesellschaft und keine Ölkompanie." [TPII,260]
Das Zerbrechen der Gottesvorstellungen, das heisst der religiösen Konzepte, suggeriert eine Widerständigkeit der Wüste kolonisierenden Konzepten gegenüber. Die Passage paraphrasiert die Anrufung des verlassenen Gottessohnes2'5 in der Passion, spart aber die Anrufung „Gottes" aus. Der Text nimmt damit den jüdisch-christlichen Topos der Gottesanrufung auf, wobei der Ruf sich an keine Instanz richtet. „Die Stimme antwortet nicht". [TPII,260] Das Ausbleiben der Antwort zitiert den Psalm 22: „Mein Gott ich rufe bei Tage, und du antwortest nicht". Die in den Psalmen als Prüfung verstandene Gottesferne mündet in das Besingen des Vertrauens auf Gott. Bachmanns Text inszeniert die Situation der Prüfung, dekomponiert jedoch den Gottesbegriff und mit ihm die eschatologische Ausrichtung der Prophezeiung und damit auch die Zielgerichtetheit einer Hoffnungsperspektive. Die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Uberleben erhält keine Antwort und somit kehrt sich die Frage nach der Verlassenheit gegen das Herrn einen Weg durch die Wüste! [...] Jedes Tal soll sich heben, jeder Berg und Hügel sich senken, was krumm ist soll gerade werden, und was hüglig ist werde eben. Dann offenbart sich die Herrlichkeit des Herrn [...]". 294 Vgl. dazu den Kommentar der Kritischen Ausgabe TP II, S.486-7, Bachmann zitiert in Anlehnung an T.E.Lawrence: Die sieben Säulen der Weisheit. Siehe dazu H. Weber, Orient und Religion, in: Göttsche / Ohl, Ingeborg Bachmann - Neue Beiträge, 1991, S. 124. 295 Matth. 27,46; Die biblischen Zitate verweisen aber auch auf die Psalme, hier Ps.22.
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Ich. Entsprechend steht Franza kein Gegner für die „Versuchung in der Wüste" gegenüber als das eigene bzw. andere Ich. Diese Spaltung des Ich in das Eine und das Andere wirkt auf die Stimme zurück, die nicht eindeutig als Rede Franzas zu deuten ist. 2 " Das Stimmenkonzept ist nicht nur auf dem Hintergrund der biblischen Tradition in Frage gestellt, sondern es wird wieder als Auseinandersetzung mit dem Ursprung der Rede, der Stimme als Redesubjekt oder Autorschaftssubjekt lesbar: „Seit sie aus dem Bus herausgewankt war, dachte sie an einen Kampf und dass sich herausstellen müsse, wie die beiden Gegner aufeinander los gingen. Ich oder Ich. Ich und die Wüste oder ich und das andere, und was zu kämpfen anfängt, ausschliesslich und nicht halb - es ist nicht absehbar." [TPII,93]
Die Abwesenheit des versuchenden Gottes erzeugt eine Leerstelle bzw. leere Stelle, die sich nur dem Saum der „zerbrochenen Gottesvorstellungen" verdankt. Dazu sei auf Heidegger verwiesen, der in seiner Interpretation von Nietzsches Rede über den Gottestod schreibt297: „Die leere Stelle fordert sogar dazu auf, sie neu zu besetzen und den daraus entschwundenen Gott durch anderes zu ersetzen."298 Im psychoanalytischen Diskurs ist mit dem Begriff des Anderen tatsächlich auch jene Stelle bezeichnet, welcher „insbesondere die religiöse Tradition den Namen des göttlichen Seins gegeben hatte"299. Das „andere" in der Passage in Bachmanns Text ist als Auseinandersetzung mit der verstummten Gottesstimme zu lesen. Die unhörbare Stimme in der Wüste ist keine schöpferische, performative Stimme des Weltanfangs mehr. Mit dem Verlassen des Ortes breitet der abtretende Gott ein Schweigen aus, dessen Vakuum einen Dialog mit dem Subjekt erzwingt. Sowohl Heidegger als auch Lacan akzentuieren für diesen Uber- oder Abgang eine Verschiebung hinsichtlich der Kreativität, nämlich eine Verschiebung vom schöpferischen Gott zur menschlichen Kreativität:
296 Im Franza-Fragment stellt sich im Kapitel „Jordanische Zeit" die Protagonistin die Frage „Warum bin ich so gehasst worden?" Und antwortet sich selbst: „Nein, nicht ich, das andere in mir [...]", TP II, 208. 297 „Nietzsches "Wort ,Gott ist tot'", in: Martin Heidegger: Holzwege, (Klostermann) Frankfurt am Main 1952, S. 193-247. 298 Heidegger, 1952, S. 208. Dazu ist zu präzisieren, dass im oben angesprochenen Zitat nach Nietzsche die Vorstellung eines „unvollständigen Nihilismus" laut werde. Anders der „vollständige Nihilismus", der die „leere Stelle" mit einbeziehe. Interessant ist, dass die Psychoanalyse gerade auf dieser leeren Stelle besteht bzw. sich darauf begründet. Dazu Edith Seifert, Das Andere in der Psychoanalyse Lacans, in: Amstutz / Kuoni, Theorie - Geschlecht - Fiktion, 1994, S. 49. 299 Edith Seifert, Der Andere in der Psychoanalyse Lacans, in: Amstutz / Kuoni, 1994, S. 47-59.
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„Das Schöpferische, vormals das Eigene des biblischen Gottes, wird zur Auszeichnung des menschlichen Tuns." 300
Tatsächlich ist auch hier, wo die auszeichnende Instanz, - in der jüdischchristlichen Tradition zumindest - nämlich der Gott, abwesend ist, von Auszeichnung die Rede. In Seiferts Abschnitt über „Cogito und Sprechen" wird Lacans metonymisches Wortspiel: Je dieu - le dieur - le dire" verstehbar als Darstellung der metonymischen Verschiebung, in welcher der leere Ort als der Ort zu lesen ist „oder die Stelle, aus der das Subjekt den Mangel bezieht, der es zum Sprechen ermutigt und ihm nicht zuletzt die Konjugationen und Deklinationen seiner (erotischen) Verhältnisse überhaupt erst möglich macht. An diesen O r t des Anderen richtet das Subjekt sein Sprechen, von diesem (leeren) O r t bezieht es sein (volles) Sprechen." 30 '
Seifert weist auf die gemeinsame Voraussetzung eines Zeugen für das eigene Sprechen für das psychoanalytische wie für das cartesianische Subjekt. In ihren Frankfurter Vorlesungen schreibt Bachmann zum Ich: „Ich möchte beinahe behaupten, dass es kein Roman-Ich, kein Gedicht-Ich gibt, das nicht von der Beweisführung lebt: Ich spreche also bin ich."302 Einer der letzten Sätze der Figur Franza lautet: „Ich bin wenigstens in der Wüste gewesen." Das Aufsuchen der Wüste kann als Aufsuchen jenes Ortes gelesen werden, wo der Kampf des Menschen mit Gott, die Versuchung stattgefunden hat. Der Kampf erweist sich hier als ein Kampf mit der Abwesenheit der schicksalshaften Instanz, sie ist ein Kampf mit der Leere. Die Leere der Wüste ist dann Bedingung für die Kreativität. Die Stimme wird laut im Vakuum der Abwesenheit: „das Halleluja des Überlebens im Nichts. "[TPI, 283] Die Passagen in den Franza-Fragmenten konstruieren zur Verortung der Stimme die Wüste als Nicht-Ort, in deren Vakuum das Uberleben der Stimme zelebriert wird. Dekomposition des Gottesbildes Das Konstrukt der leeren Wüste, das die Abwesenheit der Gottesfigur bedeutet, wird in einer Passage explizit vorgeführt. Franzas Erlebnis des „Bildes" in der Wüste erzählt die Dekomposition des Gottesbildes:
300 Heidegger, 1952, S. 203. Diese Umwandlung führt bei Heidegger allerdings nicht zum Werk, sondern „geht zuletzt in das Geschäft über." Vgl. auch Vers 17 des 9. Psalms: „im eigenen Werke hat sich der Frevler verstrickt." 301 Seifert, in: Amstutz / Kuoni, 1994, S. 49. 302 Ingeborg Bachmann: Frankfurter Vorlesungen, S. 49.
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„Ich sehe. Und jetzt wieder. Ich sehe was niemand je gesehen hat, ein Bild, sie ging ein paar Schritte, zu langsam, und das Bild zog sich zurück." [TP II, S. 286]
Das Bild entwickelt sich zur Fata Morgana, scheint erst der Bruder Martin zu sein, im „Trostmantel", dann in dem „schrecklichen Mantel" der „Vater". Die Gestalt wandelt sich „schwarz und hochaufgerichtet" zu einem Gottesbild: „Gott kommt auf mich zu, und ich komme auf Gott zu." Die Gegenseitigkeit des sich aufeinander-zu-Bewegens entspricht der reziproken Bewegung von Auge und Wüste. Ein wichtiges Moment das von der Mystica theologia aufgenommen wird, ist das sehende Auge Gottes. „Gott sehen, heisst, von ihm gesehen zu werden [...]".303 Bezeichnenderweise endet das „Bild" mit einem Sturz, worauf es sich als „schwarzer Strunk, aus dem Wasser geschwemmt, eine Seewalze, ein zusammengeschrumpftes Ungeheuer, keine dreissig Zentimeter lang, in dem ein leises Leben war" erweist. Die empfundene Bedrohung der BruderVater-Gott-Triade, die als Inszenierung einer phallischen Form dargestellt wird, endet, nach seinem Erkannt-Werden, in blosser Tristesse. Das Erlebnis löst bei Franza eine Erinnerung aus, die in Gelächter mündet: „Sie blieb liegen, mit den Konvulsionen, wie auf dem Korridor in Wien, auf einem Parkettboden, einem Linoleumsboden, einem Spitalsbett, jetzt wieder im Sand, auf dem die Kamele verbluten, sie lachte und lachte und lachte - " [TPII, 287],
Das Lachen ist Ausdruck der Entlarvung des Machtgefälles, eine Unterbrechung der Vision, jedoch ein gleichzeitiges Erleben der Vergewaltigungsszene in Wien.304 Zeitlich und räumlich fern Liegendes rückt in eins. Das Lachen, bezeichnet als „Einfallsstelle für die Dekomposition" [TPII, 287], ist nicht diskursivierender Ausdruck, sondern markiert einen Übergang vom nicht-sprachlichen zum körperlichen Ausdruck, ohne eindeutig zum einen oder anderen zu gehören. Dieser Ubergang kann in der Zerstörung der Sinnbezüge305 selbst „Dekomposition" bedeuten. Auch ist der Begriff De303 Ritter, Historisches Wörterbuch der Philosophie, 1995, S. 145. 304 Erinnert sei an die Bedeutung, die der Bibliothekar Jorge in Umberto Ecos Name der Rose dem Lachen zumisst: „Das Lachen vertreibt dem Bauern für ein paar Momente die Angst. Doch das Gesetz verschafft sich Geltung mit Hilfe der Angst, deren wahrer Name Gottesfurcht ist. Und aus diesem Buch [der zweiten Poetik des Aristoteles, N A ] könnte leicht der luziferische Funke aufspringen, der die ganze Welt in einen neuen Brand stecken würde, und dann würde das Lachen zu einer Kunst, die selbst dem Prometheus noch unbekannt war: zur Kunst der Vernichtung der Angst!" Eco, 1982, S. 604. 305 Dietmar Kamper / Christoph Wulf, Der unerschöpfliche Ausdruck, In: Dies. (Hsg.): Lachen - Gelächter - Lächeln, Reflexion in drei Spiegeln, 1987, S. 8: „In ihm [dem Lachen] kehrt das Ausgeschlossene, das ,Andere' der Vernunft wieder. Unten und oben, rechts und links, richtig und falsch geraten in Bewegung."
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komposition nicht nur mit Auflösung zu übersetzen, sondern weist auf einen Bereich des Baus, der Strukturierung und des Gebäudes hin. Die Auflösung einer Sprachlogik, die sich in der syntaktischen Ordnung reflektiert, wird hier durch die Wiederholung realisiert: „Sie lachte und lachte und lachte - " . Die Zerstörung der sprachlichen Ordnung realisiert sich im Körper, trifft das Subjekt selbst.306 Wie das Lachen die raum-zeitliche Ordnung aufhebt und zum Kreuzpunkt von Orten und Zeiten wird, so stellt es hier auch eine Ausdrucksform dar, die zugleich sprachlich und physisch sich realisiert. Das Lachen als „Einfallsstelle für die Dekomposition" macht diese erst möglich, bietet gleichsam den wunden Punkt, die Angriffsfläche für die Frage nach der eigenen Identität, die sich daran anschliesst: „wer bin ich, woher komme ich, was ist mit mir, was habe ich zu suchen in dieser Wüste" [TPII, 287]. Interessant ist, dass hier nicht einfach ein Ubergang von sprachlicher zu körperlicher, bzw. von symbolischer zu semiotischer Ebene dargestellt wird, sondern gerade der semiotische Ausdruck die Verbalisierung der Selbstreflexion bedingt, die auf die Frage der Identität zerstörerisch wirkt. Die Frage nach der eigenen Identität - „wer bin ich" [TPII,287] - wird gefolgt von einem „partiellen Tod", der sie und „das andere niedertritt": „da trat etwas sie nieder und mit ihr das andre, den halben Tod, die halbe Vernunft, das halbe Tier, den halben Menschen, die halben fünf Sinne, die eine Schwester, die andre Frau, das von der Sonne anvisierte Fleisch im Verderben, im Ubergang zu etwas nicht Erkennbarem." [TPII,287]
Das gewaltsame Niedertreten scheint einen Prozess „im Ubergang zu etwas nicht Erkennbarem" abzubrechen. Damit ist dieser Übergang nicht als ein zielgerichteter zu lesen, sondern scheint wieder Bewegung zu einer anderen Sprachlichkeit zu sein. Das andere ist sowohl „halbes Tier" wie auch die „halbe Vernunft". Es wird aber auch als die „andre Frau", „die eine Schwester" bezeichnet - „passeshalber" und „bezeichnungshalber" wie es in der Züricher Lesung noch heisst.307 Der Ubergang markiert einen Zwischenraum zu etwas nicht aussprechbarem, das nur „bezeichnungshalber" so, und nur halb, bezeichnet wird. Die Passage stellt mit der „Dekomposition" eine poetologische Metapher bereit: Der Text realisiert das Oszillieren zwischen Sprache und Körper, Leben und Tod, Aussprechen und Verschweigen. Die Passage endet mit einem Schrei Franzas. Die Szene führt über das Gelächter, den „halben Tod", zum Schrei und kehrt zu diesem Ubergang 306 Vgl. dazu Weigel, Die Stimme der Medusa, 1987. Weigel beschreibt die Passage als „eine Szene, die die Zerstörung ihrer [Franzas] (Gottes)Vorstellungen - und damit die Zerstörungen ihres Selbst - in einer Gleichzeitigkeit von symbolischem und konkretem Geschehen beschreibt." S. 173-174. 307 T P I I , S. 40.
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von sprachlich-körperlichem Ausdruck zurück, der mit dem Lachen einsetzte.308 Der Schrei markiert, wie das Lachen, einen Ubergang zu einer Sprachqualität, die keine diskursive mehr ist. Die „Einfallsstelle der Dekomposition" kann als poetologische Metapher gelesen werden, die sowohl auf die Sprache zu beziehen ist wie auf das schreibende Ich. Der halbe Tod: Reinheitsdiskurs und Selbstüberwindung Die oben zitierte Passage ist im Kontext der Autorschaftsfiguren als Auseinandersetzung mit einem Autorschaftskonzept zu lesen, auf das Bachmann bereits in der Erzählung Das dreissigste Jahr zurückgreift. Das Moment des „vorübergehenden Todes" [TP II, 278], das in der Erzählung Das dreissigste Jahr als „erster Tod" des Protagonisten vorweggenommen ist, wird auch in den Todesarten mit dem Auferstehungsgedanken verbunden.309 Bachmanns Bezug auf das Purgatorium lässt sich mit Blick auf die Vorstufen zur Büchnerpreis-Rede verdeutlichen: „ D i e K u n s t k o m m t erst nach dem zweiten T o d , nach der zweiten Unschuld, wenn sich die zweite U n s c h u l d macht, wenn man sich den zweiten T o d macht [...]" [TPI, 174]
In Anlehnung an Kleists Aufsatz Uber das Marionettentheater wird hier die Bedingung der Kunst zum einen an den Unschuldsverlust geknüpft. Andererseits greift der biblische Kontext der Wüste als Purgatorium den Reinigungsgedanken auf. In einer früheren Fassung des oben genannten Zitats heisst es: „Im Tal der Könige, in dieser Totenstadt, was suchst du. Doch nicht die „Kunst", ach die Kunst." [TPI,250] Die Todeserfahrung als Verlust der ersten Unschuld scheint Bedingung nicht der Kunst zu sein, aber einer anderen Kunst, die nicht präzisiert wird. Das Purgatorium, die Reinigung, wird näher bestimmt als Uberwindung der „Epilepsie", der „Krankheit", der „krankhaften Aufruhr", „wenn das abgetan ist, also tägliche Übung wird". [TPI, 175] Diese Selbstüberwindung, die Kleist auch in seinem Aufsatz Über das Marionettentheater anspricht, verweist auf ein Konzept von Kunst, das mit dem Begriff der Reinheit zusammenhängt. Die reine 308 Weigel macht deutlich, dass das Lachen in Bachmanns Passage die Ebene der „soliden Position im Symbolischen" verlässt, das heisst, dass damit die Identität des Ichs, welche sich im Symbolischen konstituiert, selbst angegriffen ist. Julia Kristeva spricht in La revolution du langage poetique. 1974 vom Lachen als vom „Symptome de la rupture": „Le rire est ce qui leve les inhibitions en per^ant l'interdit (symbolise par le Createur), pour y introduire la pulsion agressive, violente, liberante." Kristeva, S. 196. 309 Vgl. dazu in der Züricher Lesung: in der entsprechenden Passage ist von „Erlösung" die Rede. T P II, 4.
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Form, der gereinigte Gedanke stellen den Anspruch an eine von Körperlichkeit („Epilepsie", „Krankheit") und Subjektivität befreite Kunst, die erst dann einen objektiven Anspruch erheben kann. Roland Barthes stellt in seinem Buch Am Nullpunkt der Literatur folgende Überlegungen zur „Schreibweise des Romans" an, dem dieser alte Topos der Objektivierung im Kunstwerk zugrunde liegt: Der Ubergang der Ich zur Er-Form im Roman ist als „Sieg über das Ich" zu verstehen, indem „das Erscheinen des ,Er' [...] nicht Ausgangspunkt der Geschichte" sei, sondern Endpunkt einer Bemühung, durch die aus einer persönlichen Welt der Stimmungen und Bewegungen eine reine bedeutungsvolle Form freigelegt worden ist".310 Der Sieg des Er über das Ich verlange einen Tod, der aus „dem Leben ein Schicksal, aus der Erinnerung einen nützlichen Akt und aus der Dauer eine gelenkte bedeutungsvolle Zeit" mache.3" Dies gilt nach Barthes für die französischen Romane des 19. Jhs. „Die Moderne beginnt mit der Suche nach einer unmöglichen Literatur." 312 Nämlich einer Literatur, die ihre eigenen Konventionen und Bedingungen zerstörend, versucht, der Kreation eines Werks der schönen Literatur, der Ordnung, zu entgehen. Bachmanns Darstellung des halben Todes kann in diese Überlegungen einbezogen werden, wenn man sie als Darstellung des Sterbens dieses Ichs, dieser Autorschaftsfigur (hier als persona) liest, nach deren Tod erst „die Kunst" kommt. Die „Todesarten", die Bachmann in ihrem Projekt darstellt, können so verstanden als Darstellung jener Momente der Todeserfahrung oder des Unschuldsverlustes gelesen werden, die gerade das Schreiben initiieren. Das Moment der Selbstüberwindung, an das die Kunstproduktion geknüpft wird, problematisiert weibliche Autorschaft. Wiederum wird deutlich, dass sich Autorschaftskonzepte immer wieder auf Geschlechterdifferenz als Prämisse gründen. Die Darstellung von Barthes Überlegung will sich auf geschlechtsneutralem Terrain verorten. Der Übergang von „Ich" zu „Er" als Objektivierung führt aber gerade eine wieder das bekannte Muster der Geschlechterrollen in der Kunstproduktion ein. Das männliche Er entwickelt sich als gereinigtes Subjekt unter Ausschluss des Weiblichen. Bachmanns Darstellung von der Selbstüberwindung im Tod greift das Gebot der Überwindung der Weiblichkeit auf. Die Position der weiblichen Autorin diesem Gebot gegenüber ist aporetisch. In der Dialektik der Aufklärung verstrickt, ist es der Autorin nicht möglich, innerhalb dieses Überwindungsdiskurses sich unversehrt als Instanz zu konstituieren.313 Das Purgatorium Wüste, 310 311 312 313
Roland Barthes, Am Nullpunkt der Literatur, 1985, S. 45. Ebd. S. 48. Ebd. S. 47. Siehe dazu Sigrid Weigel, Zur Polyphonie des Anderen: Traumatisierung und Begehren in Bachmanns imaginärer Autobiographie, in: Pattillo-Hess / Petrasch, Die Schwarzkunst der Worte, 1993, S. 9-24. Nach ihrer These geht es im Todesartenprojekt und insbesondere in Malina um das „Paradox einer weiblichen Autorposition,
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durch den christlichen Diskurs bedingt, kann für Franza kein Ort der Reinigung bedeuten, Bachmann inszeniert die Wüste als Sterbeort der Weiblichkeit. Als wär kein Tag vergangen: Analogisierung Der Verzicht auf den Begriff der Struktur, der Verzicht auf die Möglichkeit der strukturellen Beschreibung der Todesarten, ist meiner Ansicht nach der Grund für den Verweis auf ein anderes Verfahren, die Analogisierung. Die Analogisierung wird im Franza-Fragment zur Möglichkeit, das Gedächtnis der Schrift darzustellen. Das Gedächtnis ist hier als das individuelle Gedächtnis Franzas zu verstehen, die sich, mit Szenen der Gewalt konfrontiert, an ihre „Biographie" erinnert. Aber auch ein historisches, oder, mit Maurice Halbwachs314, ein kollektives Gedächtnis wird durch die Analogie erzeugt. Die Reise in die Wüste „verhilft" Franza „durch Analogie, zu ihrer Todesart", so heisst es in einer Vorrede zum Projekt [TPII, 18]. Das Verfahren „durch Analogie" durchzieht vor allem das dritte Kapitel „Ägyptische Finsternis". Die Wüste, von der gesagt wird, dass Martin im Gegensatz zu Franza nie ganz drin war, erweist sich als von verschiedensten Gewaltspuren durchzogen. Mehrfach begegnet Franza auf der Reise in Ägypten Situationen der Bedrohung und Gewalt. Zu diesen Szenen gehören die Begegnung mit der von ihrem Mann an den Haaren festgebundenen Frau in Kairo, die Begegnung mit dem „Kretin", das Bild des geschlachteten Kamels, aber auch die Szene im Tempel der Königin Hatschepsut. Franza scheint sich jeweils mit dem bedrohten Part zu identifizieren. Entsprechend ist auf ihren Traum im zweiten Kapitel zu verweisen, in dem sie sich als Opfer der faschistischen Gaskammern träumt. Ihre Reflexion über das Zugrundegehen von ganzen Völkern schliesst mit dem Satz: „Ich bin eine Papua." Diese Szenen werden in allen Fassungen beibehalten. Die Identifikation der Figur Franza mit der Opferseite erzeugt bei der Lektüre eine Irritation, die in der Forschung eine Diskussion um Rekolonialisierung via Opfergedanke auslöste. Die Analogisierung von Weiblichkeit mit dem Fremden oder dem „Wilden" ist bekanntlich ein Grundmuster der Geschlechterdarstellungen.315 Die Forschung liest diese Analogiebildungen mehrheitlich als vorschnelles Identifizieren Franzas mit der Opferseite um den unmöglichen Ort eines weiblichen Subjekts in der Dialektik der Aufklärung in der das Weibliche bekanntlich auf der Seite der im Prozess der Selbsterhaltung verdrängten und domestizierten Natur positioniert ist - und um dessen Beziehung zu anderen Anderen". Siehe dazu auch Weigel, Topographie der Geschlechter, 1990, S. 240ff. 314 Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, 1985. 315 Siehe dazu Sigrid Weigel, Topographie der Geschlechter, 1990, S. 118-148 zum „Diskurs der Aufklärung".
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in einer Opfer-Täter-Polarität. 316 Dabei ist für die Gewaltszenen in Kairo und in der Wüste zu beachten, dass die „als willkürlich empfundene Grausamkeit [...] zum Inventar des traditionellen Orientbildes der Kolonialmächte" gehöre und auch der Selbstlegitimation diene.317 Die Frage, ob Franza Kolonialistin ä contre coeur sei, ist obsolet, will man sich nicht auf einen subjektlogischen Ansatz begeben, der eine den Figuren immanente Psychologie voraussetzt. In diesem Zusammenhang scheint jedoch die Frage weiterzuführen, inwiefern mit der Analogisierung, die gerade eine Differenz zur Identifikation markiert, eine rhetorische Figur bezeichnet wird, die das Darstellungsproblem von Opfer und Gewalt mitreflektiert. Die Passage der „Frau in Kairo" stellt eine Szene dar, in der eine Frau auf den Knien, gebunden, von einem Mann festgehalten wird, „der die Haare der Frau, zusammengezwirbelt, nicht zu einem Zopf, sondern zu einem schwarzen festen Strick, gedreht hielt in der einen Hand" [TPII, 307], Die Reglosigkeit der gebundenen Frau wird zum Bild, das sich in den verschiedenen Fassungen der Franza-Texte nur mit geringen Varianten tradiert. Franza, die den Ort der Szene später wieder aufsucht, und leer vorfindet, setzt sich in Analogie zu der Frau: „Immer wird hier die Frau sein, Franza nickte und ging, ich bin die Frau geworden, das ist es. [...] Ich liege dort an ihrer Statt." [TPII, 308]
In diesem Zitat wird die Funktion der Schrift als Realisation der Analogie deutlich. Die Schrift nimmt die Stelle der „Frau in Kairo" ein. Sie ist da statt ihrer. Die „Statt", Markierung des Ortes, ist zugleich Stätte des Todes, Begräbnisstätte, und damit eine heilige (verlassene) Stätte, die mit der Schrift umrissen wird. Nach Maurice Halbwachs ist das kollektive Gedächtnis mit dem Raum unweigerlich verbunden, nämlich als Beziehung (oder Relation) des Bewusstseins zu einem Ort.318 Die Diskussion des „Hier" und „Dort", wie sie bereits der Tunnelexkurs vorweggenommen hat, wird aktualisiert. 316 Sabine Grimkowski sieht in dieser „eindimensionalen, undialektischen Täter-OpferBeziehung" einen Grund für das Scheitern des Franza-Romans. Sie bezieht sich auf Monika Albrecht, die im Gegensatz dazu, Malina als geglückte Verwirklichung des in Franza gescheiterten Erzählversuchs versteht. Das zerstörte Ich, 1992, S. 168. 317 Hermann Weber, Orient und Religion, in: Göttsche / Ohl, Ingeborg Bachmann Neue Beiträge, S. 109f. Hier zitiert aus Anm. 10, S. 107. 318 „So gibt es kein kollektives Gedächtnis, das sich nicht innerhalb eines räumlichen Rahmens bewegt. Der Raum indessen ist eine Realität, die andauert [...] und es wäre unverständlich, dass wir die Vergangenheit wiedererfassen können, wenn sie nicht tatsächlich durch das materielle Milieu aufbewahrt würde, das uns umgibt." Anders als viele Gedächtniskonzepte, die Erinnerung zwar auch räumlich auffassen, diese Räumlichkeit aber auf die Tätigkeit des Gedächtnisses beziehen, verortet Halbwachs die Erinnerung im Raum. Der Ort selbst bewahrt die kollektive Erinnerung auf. Dieses Aufbewahren präzisiert Halbwachs im Kapitel „Die Steine der Stadt" indem
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Die Analogie ist nun eine Redefigur, die gerade den Ort, die Stelle als Trägerin von Bedeutung ins Spiel bringt. 319 Die Analogie wird von Aristoteles der substituierenden Metapher als Basis zugrundegelegt. Die Metapher wäre dort uneigentlicher Ausdruck, Substitution des eigentlichen Ausdrucks. Uber die Analogie sind aber zwischen diesen beiden Ausdrucksmöglichkeiten Verwandtschaftsbeziehungen ablesbar. Die bekanntlich problematische aristotelische Metapherndefinition 320 akzentuiert die Funktion der Substitution der Metapher. In dieser Auffassung funktioniert der Ersetzungsakt innerhalb eines „topologischen Modells", indem „von einem O r t auf einen anderen übertragen" 321 wird. Kurz nennt diesen Ubertragungsakt einen „Akt des Borgens, Entlehnens und Entfremdens", aber auch - und für diesen Zusammenhang wichtig - „einen Akt der Enteignung" 3 2 2 . Im Modell der traditionellen (aristotelischen) Metapherntheorie kann dem „Akt der Enteignung" durch „eigentliche" Rede ausgewichen werden. In Bachmanns Text ist es aber gerade dieser A k t der Enteignung der ein Problem darstellt. Die Todesarten erweisen sich in dieser Lesart als Darstellung einer Enteignung, die aber die Stelle des Enteigneten bezeichnet und damit offen hält und schafft. 323 Der Einsatz ist die Bezeichnung der verlassenen Stelle durch den Text. Das heisst nun nicht als Akt der Ersetzung des Einen durch das Andere, sondern als Akt der Markierung. Man könnte den Text als Meta-
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er sie von jener Form der Aufzeichnung abgegrenzt, die eine Wandtafel ermögliche, von der die Information wieder abgewischt werden könne. Der Ort ist dem, was ihm eingeschrieben ist, nicht „gleichgültig" gegenüber, er übt im Gegenteil einen Einfluss auf das Kollektiv aus: „Wenn eine menschliche Gruppe lange an einem ihren Gewohnheiten angepassten Ort lebt, richten sich nicht nur ihre Bewegungen, sondern richtet sich auch ihr Denken nach den Folgen der materiellen Bilder, die ihr die äusseren Gegenstände darbieten." Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, 1985, S. 127-134. Hier wird, im Unterschied zur Analogie, wie deren „Episteme" Foucault in Die Ordnung der Dinge für den Ubergang vom 16. zum 17. Jh. darstellt (S. 46ff.), nicht die Ähnlichkeit zentral sein, sondern deren Bezeichnung. Wenn in der Analogie wie sie Foucault kritisiert, die Signatur, die Bezeichnung, einzig dazu da ist, die metaphysisch vermittelte Ähnlichkeit zu entziffern, so ist dagegen in den Überlegungen zur Analogie bei Bachmann das Zeichen Platzhalter, aber nicht Metapher. Siehe dazu Gerhard Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, 1988. Kurz, Metapher 1988, S. 9. Ebd. Siehe dazu C.L. Hart Nibbrig, Metapher: Übersetzung, in: Ders. Übergänge, 1995, S. 213: „Varianten der übersetzenden, verstehenden .Aneignung' von Fremdem gibt es ebenso viele wie Metaphern, die im Geheimen oder Offenen bestimmen, indem sie ihn von innen heraus deuten. Ganz fremd indes kann Fremdes ja nicht sein, sonst könnten wir's verstehend auch in Ansätzen nicht rüberbringen, nicht übersetzen, nicht einsetzen in den Horizont des Eigenen. Ganz und restlos darin aufgehen freilich kann es ebenso wenig, da Fremdes als Fremdes ja nur verstanden wäre, wenn es als solches markiert, also im Eigenen ausgegrenzt bliebe."
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pher bezeichnen, als Übersetzung, der man die Metapher nicht ansieht. Die Metapher wird, „im besten Fall, wenn sie eine lexikalische Leerstelle ausfüllt [...] wie ein normales Wort behandelt." 324 Füllt die Metapher eine „lexikalische Leerstelle" aus, so ersetzt die Analogie nichts, sondern nimmt eine (leere) Stelle ein. In vergleichbarer Weise scheint die Szene der Begegnung Franzas mit dem Tempel der Königin Hatschepsut in Der el-Bahari das Problem des Ersetzens, bzw. der Ubersetzung in der Schrift darzustellen. Franza sieht „die ausgekratzten Zeichen" im Tempel der Königin, „von der jedes Zeichen und Gesicht getilgt war auf den Wänden, durchgehend die Zerstörung, [...] zu ihrer Zeit zerstört oder nach ihrem Tod, dem dritten Tuthmosis." [TPII, 274] Die getilgte Figur hinterlässt ihre Spur auf der Wand des Tempels. „Deshalb muss man die Altäre der alten Götter umstürzen und ihren Tempel zerstören, wenn man im Gedächtnis der Menschen die Erinnerung an die alten Kulte auslöschen will;" 325 Franza, für die das „nicht Stein und nicht Geschichte" war, „sondern, als wär kein Tag vergangen, etwas, das sie beschäftigte" [TPII,275], sagt dazu: „Aber er hat vergessen, dass an der Stelle, wo er sie getilgt hat, doch sie stehen geblieben ist. Sie ist abzulesen, weil da nichts ist, wo sie sein soll." [TPII, 274]
Der Ort, der Träger der Figur war, bleibt als Versehrter O r t zurück, der seine Funktion als Erinnerungsträger beibehalten hat. Was hier „abgelesen" werden kann von der Architektur, ist die Zerstörung selbst, die so Teil des kollektiven Gedächtnisses wird, „als wär kein Tag vergangen". Hier scheint eine Parallele zum Text Ein Ort für Zufälle zu bestehen, in dem sich die Raum-Zeit-Relation verschiebt zugunsten einer Gleichzeitigkeit der verschieden positionierten Daten. Die Analogie als rhetorische Figur ist in Bachmanns Text in der Lage, das Problem der Gegenwärtigkeit der (auch historischen) Gewalt, die sich im Roman wiederholt durch den Vorgang der Auslöschung manifestiert, zur Darstellung zu bringen. Die „Enteignung", die „Franza" die Kritik der Wiederholung kolonialer Muster einbringt, ist bei näherer Betrachtung der Analogie als Vorgang lesbar, der durch die Schrift gerade den Raum markiert, von dem „jemand" oder „etwas" ausgelöscht wurde und der damit in Erinnerung gerufen wird. In diesem Kontext liest sich die Suche nach der Verankerung der Stimme in den Todesarten als Analogisierung, als das, was Bachmann in den Frankfurter Vorlesungen als „Platzhalter der menschlichen Stimme" bezeichnet. 326
324 Kurz, Metapher 1988, S. 11. 325 Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, 1985, S. 127ff. 326 Bachmann, Frankfurter Vorlesungen, 1980, S. 61.
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Die unterschiedliche Weise, in der die drei diskutierten Texte von Ingeborg Bachmann die Auseinandersetzung mit Autorschaft führen, soll hier kurz aufgegriffen werden. Die zuerst besprochene Erzählung Das dreissigste Jahr legt die Auseinandersetzung mit Autorschaft motivisch an. Sie nimmt einen Mythos in Anspruch, der die Kreativität als Umgang mit Tradition und Originalität problematisiert. Die Funktion Autorschaft ist auf der Ebene des Protagonisten als Werkphantasie präsent. Das Ende aktualisiert mit dem Verweis auf die Auferstehung einen Topos männlicher Autorschaftskonzepte. Im Gegensatz zur Auferstehung des männlichen Protagonisten in die zweite Geburt, stirbt in den Franza-Fragmenten die weibliche Figur an der Gewalt und der Auslöschung ihrer Autorschaft. Die Todesarten sind weibliche Todesarten: Der aufklärerische Diskurs lässt nach der Selbstüberwindung keine Auferstehung der weiblichen Figur zu. Auch hier ist Autorschaft motivisch ein Thema der Protagonistin Franza (etwa in der Problematik ihrer Autorschaft der Studie, die Jordan nur unter seinem Namen herausgibt). Prägender ist jedoch das Stimmenproblem. Es manifestiert sich einerseits als Mehrstimmigkeit, für die keine Verankerung, kein Ursprung eruierbar ist. Andererseits beruft sich der Text im Einklagen des Rechts auf Stimme wieder auf das Konzept der einen Stimme, und somit ihrer Verortbarkeit. Mit dieser impliziten Figurenpräsenz bezieht sich Bachmanns Schreiben auf traditionelle Autorschaftskonzepte, nebst dem erwähnten Ikarus-Mythos auf biblische Reinheitsvorstellungen oder den Aufklärungsdiskurs der Selbstüberwindung, Konzepte, die weibliche Autorschaft ausschliessen. Der Konflikt zwischen Mehrstimmigkeit und dem Einklagen des Rechts auf Stimme ist für die Autorschaftsfrage nicht konzeptualisierbar. Das Pathos der Stimme ist daher auch immer das Pathos nicht gehörter Stimme, und das heisst auch nicht anerkannter Autorschaft, das Bachmann in den Franza-Fragmenten zur Darstellung bringt. Die Büchnerpreis-Rede Ein Ort für Zufälle, bei der die Autorin in eben ihrer Funktion der Autorschaft als Rednerin präsent war, realisiert hingegen einen Text, der gerade die Abwesenheit der Stimme konstruiert. Das Gehört-Werden der verdrängten Erinnerung und der Kunst wird nicht eingeklagt, sondern explizit ausgeklammert, und damit wieder inszeniert.
IV Friederike Mayröcker: Echoraum der Autorschaft Friederike Mayröckers Texte führen die Frage nach der Autorschaft in eine weitere Radikalisierung, die nicht mehr nach einem Ort, einer Personalisierung sucht, sondern eine Bewegung in die Texte einführt, die den Ursprung der Rede unbehaftbar lässt. Das Konzept der Herrschaft über den Text, oder mit Musils Ulrich zu sprechen, Herr im Hause zu sein, erfährt hier seine Auflösung zugunsten einer unüberschaubaren nur zeitweiligen Perspektivierung, die keinen Regeln gehorcht. Das Buch Brütt oder die seufzenden Gärten (1998) bezeichnet bereits mit seinem Titel zwei für die Auseinandersetzung mit Autorschaft signifikante Positionen: Brütt charakterisiert eine bestimmte Kunstrichtung in der Bezeichnung art brut. Brut bedeutet roh, unbehauen. Art brut ist die Bezeichnung für eine Kunstform, die durch ihre sozialen Entstehungsbedingungen definiert ist. Der Künstler Jean Dubuffet begann ab 1945 unter dieser Bezeichnung Bilder, Skulpturen und Objekte zu sammeln, die abseits von künstlerischer Ausbildung und Professionalisierung der Kunst entstanden sind. Dubuffet suchte Produktionen, die an den Rändern der Gesellschaft und vor allem fern der Kunstakademien und ihren Regeln und Diskurse hervorgebracht wurden. Er beschreibt sie als die Kunst „düsterer, auch manischer Persönlichkeiten, entstehend aus spontanen Impulsen, von Phantasie belebt, gar von Delirium, den ausgetretenen Wegen der katalogisierten Kunst fremd"527. Sein Interesse, bereits in den 20er Jahren von Max Ernst, Jean Paulhan, Andre Breton u.a. geteilt, richtet sich auf die von den Surrealisten beispielsweise in der ecriture automatique aufgesuchten Spontaneität und Unmittelbarkeit.328 In der art brut, die sich der maniera und elaboratio scheinbar entzieht, sieht Dubuffet die nicht-diskursive Kunst realisiert. Die Provokation, die er mit seiner Sammlung auslöste, ist nach wie vor aktuell. Die Problematik des Konzepts der Konzeptlosikeit, der Unmittelbarkeit, aber auch die Problematik einer „Analyse" dieser vorausgesetzten Unmittelbarkeit durch das geschulte Auge, drängen sich auf. Pierre Bourdieu kritisiert den Begriff art brut als Konzept „natürlicher Kunst", die als solche nur als Setzung existiere. Erst ein durch das künstlerische Umfeld
327 Jean Dubuffet, Brief vom 9. August 1945, Archiv des Musee de l'Art Brut Lausanne, zit. nach Lucienne Peiry, L'Art Brut, 1997, S. 11. (üs. NA.) 328 Der Autor verfügt nicht mehr über seinen Text, während die Sprache die Rolle der Autorität übernimmt. Siehe dazu Felix Philipp Ingold, Autorschaft und Management, 1993, S. 23-27.
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und die kunsttheoretische Reflexion geschultes Auge nehme diese Kunst als art brut wahr, und stelle diese Kategorien her.329 Mayröcker spricht nicht erst in diesem Buchtitel den Umkreis der art brut an, bereits in ihren früheren Texten verweist sie auf Dubuffet, auf Wölfli, aber auch auf die ecriture automatique der Surrealisten. Ihre Texte teilen mit der art brut die Struktur der Wiederholung. In der art brut werden Strukturen und Elemente zu Mustern wiederholt. In einer Art horror vacui, Angst vor der weissen Seite, der Leere, wird der ganze Bildgrund ausgefüllt und ausgeschmückt. Gegen diese Leere scheint auch Mayröcker anzuschreiben und ihre Wörter und Sätze zu wiederholen. Das Auffüllen der Leere, die überstürzende Sprache stehen in Kontrast zu Bachmanns Konstrukt einer leeren Wüste als Raum für die Stimme. Der Titel Brütt oder die seufzenden Gärten spricht ein weiteres Konzept an: die seufzenden Gärten als verlorenes Paradies. Die Stimme bzw. der Atem der als Seufzer daraus wahrnehmbar ist, verweist auch auf den Arkadia-Topos, den unwiederbringlich verlorenen Ort und die Sehnsucht danach. Der Seufzer, unformulierter Ausdruck dieser Sehnsucht, ist lesbar als Pneuma, aber gerade auch als dessen Gefährdung. Mayröckers Schreibverfahren, geprägt von intertextuellen Bezügen, Zitaten, Entlehnungen, Wiederholungen und Bildbrüchen, setzt sich auch in Brütt der Frage nach einer möglichen Hinterlassenschaft der Autorin aus. Mutmassungen, wonach der Leserin, dem Leser der Zugang zur Schreibenden durch die „Wortsammlungen" und „Fremdtexte" verstellt sei, werden in ihrem letzten Buch heftig abgestritten. Statt dessen wird von einer Stimme gefordert, dass die Lektüre den „Atem des Schreibenden" auch durch die Verstellung hindurch spüre [Brütt,328]. Mayröckers Bücher, die um den richtigen Anfang kreisen, den ersten Satz suchen wie beispielsweise mein Herz mein Zimmer mein Name, oder aber den letzten nicht finden, zeigen, dass der Schreibprozess eine Suche nach der Signatur einer Hinterlassenschaft bedeutet. „Diese meine Schreibarbeit" setzt sich über die einzelnen Bände hinaus als Prozess fort. So sind Anfang und Schluss eines Buches selbst Inhalt des Buches im Erproben, Verwerfen und Annehmen, womit die Grenzziehung zwischen den einzelnen Büchern und Titeln und damit der Begriff des Werkes problematisiert wird. Autorschaft ist in diesen Texten keine Frage, die in der Verkleidung einer Erzählung mit Figuren und deren Entwicklung verborgen ist, sie wird im Gegenteil in der Frage nach der Herkunft, dem Status, aber auch nach
329 Pierre Bourdieu, Les Regies de l'art, 1992, S. 342. Lucienne Peiry verweist auf diese Diskussion in ihrer weitgehenden und reich illustrierten Arbeit zur art brut. Dubuffet ist sich dieses Problems allerdings bewusst und feilt an Formulierungen wie der des „archetype ideique", die er durch den Begriff des „archetype utopique" ersetzt. Siehe dazu Peiry, L'Art Brut, 1997, S. 160.
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einer Professionalität des Schreibens laut. Diese Befragungen möglicher Autorschaft können als Mangel charakterisiert werden.330 Die permanente Auffächerung dieser Funktion Autorschaft im Text kann aber auch als „Hyperautorschaft" gelesen werden, die sich gerade dann herstellt, wenn Autorschaft als prekäres Thema immer wieder präsent ist. Autorschaft wird in Mayröckers Texten nicht als dem Text vorgängige vorausgesetzt, sondern wird mit dem Schreiben erst aufgespürt, erlauscht, erhofft. Wenn Mayröckers Texte den Eindruck erwecken und selber suggerieren, Steinbrüche von Material zu sein, so stellen sie damit gewiss eine Parallele zur art brut her. Allerdings sind sie im Gegensatz dazu keine Texte, die sich fernab von Diskussion und Öffentlichkeit realisieren. Die Abgeschiedenheit und Isolation, welche die Produktionsbedingungen der art brut kennzeichnet, führt dazu, diese Produktionen als individuelle, autonome Kreationen zu betrachten. Die Auseinandersetzung mit Autorschaft wird, zumindest von der „Rezeption der Akademien" ins Innere der Künstlerin, des Künstlers verlegt. Das Interesse wird ein psychologisches. Dass diese Kunst sich auf bestehende Autorschaftskonzepte bezieht, ist im Konzept art brut gerade nicht vorgesehen. Mayröckers Texte entstehen dagegen in einem unablässigen Dialog mit Sprache und Bildern, mit privaten und öffentlichen Gesprächen. Dies geschieht in einem Zitatengeflecht von verschiedensten Autorschaftskonzepten, von denen keines priorisiert wird. Das Zitieren von Konzepten ist eher ein Spiel mit ihrer Metaphorik, die ihren Bildern und Bildbrüchen Impulse verleihen. Zu diesen zitierten Konzepten gehören der Bekenntnisdiskurs, konkret Rousseaus Confessions, religiöse Reinheits- und Unschuldsvorstellungen und die Psychoanalyse. Die Bedeutung dieser Konzepte für ihre Verweigerung, „eine Story" zu erzählen, werden im ersten Kapitel dieser Arbeit gezeigt. Die Psychoanalyse ist aber auch Zitatenschatz für die Bildproduktion in Mayröckers Texte, auf die im zweiten Kapitel eingegangen wird. Mayröckers Verfahren beruht nicht in einer Systematisierung des zitierten Materials. Das Zitieren kümmert sich weder um eine zeitliche Einordnung, noch um semiotische Systeme. Texte werden zitiert wie Bilder. Dieses Verfahren der Collage soll im letzten Kapitel gezeigt werden.
330 Das letzte Satz von Brütt zitiert Paul Valery: „[...] das ist vielleicht schon das Ende, weil nämlich, wie Paul Valery sagt, der wahre Schriftsteller 1 Mesch ist, der seine Worte nicht findet." (S. 351)
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Friederike Mayröcker
1. Halbherzige Bekenntisse: Zwischen Confession und Psychoanalyse Die drei Bücher Das herzzerreissende der Dinge (1985), Reise durch die Nacht (1986) und mein Herz mein Zimmer mein Name (1988) bilden die Textgrundlage für die folgenden Überlegungen zu Mayröckers Auseinandersetzung mit Autorschaft. Dem Erzählen der Lebens-geschichte wird abgeschworen, zugleich wird die Metaphorik der Autobio-graphie, der Beichte und der Psychoanalyse beigezogen, um sich davon abzugrenzen. Mein Herz mein Zimmer mein Name versammelt im Titel Raum, Intimität und Signatur, das heisst jene Konstellation, die Ausgangspunkt einer Autobiographie sein könnte. Die Klärung dieses Verhältnisses von Herz, Zimmer und Name geschieht nicht wie erwartet, denn es kommt die Schwierigkeit des ersten Satzes dazwischen, welche das Buch weit über 300 Seiten beschäftigt. Leidensgeschichte - Leibesgeschichte „nur keine Story!, auf keinen Fall eine Story zulassen!, das Äußerste ein Erzählverlauf, wie Lebenslauf, also keine Geschichte, keine Lebensgeschichte" (HdD,121).
Paradigmatisch formuliert die Passage in Das Herzzerreissende der Dinge das Verhältnis von Schreiben und Geschichte. Das Thema „Lebensgeschichte", Autobiographie, wird aufgegriffen, um sich davon abzustossen. Keine Story, keine Lebensgeschichte, höchstens ein Verlauf. Doch zu dieser Geschichte, die es zu vermeiden gilt, scheint der Text hinzudrängen. Was bedeutet dagegen der Verlauf, der als Ausserstes in Betracht gezogen wird? Als Metaphorik des Flusses gelesen, ist sowohl die Konstanz der Bewegung wie auch die Zeichnung der Mäander des Flusses in diesem Bild angesprochen und wäre als Bild für den Schreibvorgang, den „Erzählverlauf" lesbar. Doch ist der „Erzählverlauf" ebenso als Gegenbild zur allegorischen Struktur des Flusses (als lineare konstante Bewegung) zu lesen, nämlich als ein sich Verlaufen des Erzählvorganges. Schreiben wie Geschriebenes werden sich nicht linear an eine Chronologie halten, sondern ein Muster andeuten, das verschiedene Richtungen erprobt, auf seine Spuren zurückkommt und so eine flächige Ausdehnung beansprucht. Dieser Absage der Lebensgeschichte stehen die „Leidensgeschichte" und „Leibesgeschichte" gegenüber. In der Reise durch die Nacht ist von „meiner Leidensgeschichte" [RdN,98] die Rede, und zwar keiner linearen, sondern einer „streunend...hundeartig(en)". Die Leidensgeschichte wird nicht kontinuierlich, chronologisch aufgerollt werden und gibt somit keine Geschichte zu lesen, ausser derjenigen der Entstehung des Textes selbst. Von der Reise durch die Nacht heisst es, im Gegensatz zur Ankündigung des nächsten Buches, das als „glattes" versprochen wird, dass es „noch ein wenig aus der
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Norm geraten also struppig, ins Verwegen-Verwilderte hin" solle. Im nächsten Satz ist der kleine selbstreflexive Exkurs bereits verlassen und die Rede setzt erneut an, um sogleich wieder unterbrochen zu werden. Zwei Punkte zeigen an, dass etwas abgerissen ist, die Sprache aus der Fassung, aus der „Norm" gerät. Der Begriff „Geschichte", der hier auf die Textproduktion verweist, scheint keinen aussersprachlichen Referenten zu beanspruchen. Die „Leidensgeschichte", die mit der streunenden Schreibweise verbunden ist, findet eine Korrespondenz in der „Leibesgeschichte", von der in mein Herz mein Zimmer mein Name die Rede ist: „[...] die Zwiebelblume auf dem Asphalt, das Ungefällige liegt mir, die Briefe mit der Maschine, damit mich das Zittern der Hand nicht verrät, Nebelblässe des Morgens, eine Leibesgeschichte, wir steigen vom Tandem, eine verrostete Egge" [HZN, 14). Später wird das Bild der Egge wieder aufgenommen, nicht aber im Zusammenhang mit dem Schreiben, sondern mit der Stimme. X., eine weibliche Stimme - nur mit der Chiffre X der zu suchenden Unbekannten bezeichnet sagt: „aber es ist nicht bloss so [...], dass ich einen solchen Telefonanruf vorausempfinde, dass ich einen solchen Telefonanruf fürchte, sondern ich fürchte mich auch vor der Stimme, die alsbald an mein Ohr, usw., einer Stimme, die einer rostigen Egge vergleichbar, langsam vorwärtsbewegt, mit ihren Schallwellen in qualvoller Weise, und beinah betäubend, an unser Ohr dringt" [ H Z N , 205).
Die Passage zeigt die leidensvolle Verbindung von Körper und Stimme.331 Die „Schreibarbeit" bezieht sich aus dem leidenden Körper und greift ihn zugleich an. Das Schreiben scheint selbst ein körperlicher Vorgang zu sein, wenn Mayröcker den „Antiroman" mein Herz mein Zimmer mein Name [HZN, 119] beschreibt als „narrative Fieber-Abläufe, welche sich (besinnungslos) einer halluzinatorischen Sprachklimax annähern, oder dergleichen". Das Verhältnis von Schrift und Körper ist für Texte, die sich in einen autobiographischen Kontext stellen, insofern von Bedeutung, als der Körper, wie die Lebensgeschichte, auf seinen Referenzwert hin diskutiert werden muss. Das Zitieren der Konzepte Autobiographie, Beichte und Psycho-
analyse in Mayröckers Reise durch die Nacht und mein Herz mein Zimmer
331 Die rostige Egge erinnert an Franz Kafka, In der Strafkolonie, Sämtliche Erzählungen, 1970. Dort verwandelt sich der Körper zum Schreibgrund, in den das verborgene, unbekannte Gesetz als Folter eingeschrieben wird. Das Einprägen der Schrift in die Haut bedeutet eine Einschreibung des Gesetzes in den Körper um den Preis des Todes. Öffentlich zugänglich wird in diesem Schreibakt nicht die Schrift, der Inhalt des Gesetzes. Sichtbar wird lediglich die „Verklärung", so der Offizier, der den Akt der Entzifferung des Verurteilten über den Körper, über „die Wunden", anzeigt. Kafka, 1970, S. 108 und 112.
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mein Name tangiert das Verhältnis von Körper und Geschichte, Erzählen und Zuhören. Die Sprache autobiographischer Texte, aber auch der Beichte und der Psychoanalyse, beansprucht Räumlichkeit und Körperlichkeit. Mayröcker weist auf die metaphorische Verschränkung von Körper und Schrift explizit hin: „und wie alles in einer Kopfzeile steht, als Herzstück in einem Betrachtungskörper"" 2 Die Schrift wird als Textcorpus dargestellt, das heisst, der Text ist Sprache wie auch Körper, Bezeichnendes wie Bezeichnetes. Rousseaus Herz Das Bild der „Leidensgeschichte", die Auseinandersetzung mit dem Erzählen oder Vermeiden von „Lebensgeschichte", greift Begriffe der Tradition der Autobiographie auf. Mayröckers Prosa schafft einen Kontext, in dem sich verschiedene Diskurse der Bekenntnisliteratur schneiden und vermengen. In der Verwirkung der verschiedenen Diskurse spielt der Text mit dem Postulat der traditionellen Autobiographie, wie Rousseau sie für sich aufstellte. Rousseau legt zu Beginn seiner Autobiographie die Aufgaben, die er sich für seine Confessions stellt, dar, wie im zweiten Teil der Einleitung gezeigt wurde. Diese Aufgaben sind die Offenlegung des nackten Herzens, die Lesbarkeit seines Innersten und die Wahrhaftigkeit. Diese Postulate einer Selbsterkenntnis und ihrer Lesbarkeit zitiert Mayröcker in mein Herz mein Zimmer mein Name. Allerdings ex negativo. Die Unlesbarkeit ist Voraussetzung des Buches, das mitten im ersten Satz anfängt. Rousseaus Wahrheitsmetaphern bilden die Referenz, gegen die der Text anschreibt: „das blanke das nackte das krude Erzählen sei nicht in Betracht zu ziehen, so die Seele auf dem Papier" heisst es in Mayröckers Text [HZN,15]. Das „nackte Erzählen", das in mein Herz mein Zimmer mein Name kritisiert wird, greift die Metaphorik des Entschleierns und Entdekkens, sowie die des Körpers auf. In der Reise durch die Nacht steht in Klammern ein Verweis, der Rousseaus Wahrheitsmetaphorik zitiert: „(,ausgezogen und ausgemantelt..'..am liebsten die nackte Wahrheit...), abschnallen die Arme und Beine, wie dastehen, wie dastehen vor der Welt?" [RdN,99]
Die Forderung nach der nackten Wahrheit wird in der Reise durch die Nacht wieder aufgenommen, ohne Klammern, als Ausruf: „ ich schreibe meine Bücher wie ich sie schreiben muss, rufe ich, ausgezogen ausgemantelt: die nackte Wahrheit!" [RdN,131].
332 HZN,S. 119
und
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Der Satz ist mehrfach als Zitat gekennzeichnet. Zum einen hebt er sich durch die kursive Schreibweise hervor und ist als Zitat Rousseaus lesbar, zum anderen wird durch das eingeschobene „rufe ich" das Kursivgedruckte als vermitteltes Selbstzitat inszeniert. Der Ausruf „nackte Wahrheit" erfährt im Zitat eine Verschiebung des Aussageortes und der Aussagezeit. Das Zitat führt einen anderen örtlichen wie zeitlichen Kontext (oder Subtext) in den Text ein, der hier die Rede über „diese meine pausenlose Schreibarbeit" unterbricht. Das Subjekt der Schrift, das für diese „nackte Wahrheit" zu bürgen hätte, entzieht sich durch den Modus des Zitierens. Die ausgezogene, nackte Wahrheit wird buchstäblich in die Sprache des Zitats eingemantelt und verhüllt. Das bedeutet aber auch, dass die Rolle der Zeugenschaft keine Instanz ist, geschweige denn eine politische Zeugenschaft. Der Verweis auf die ausgemantelte Wahrheit des Textes fällt auf die Instanz der Zeugenschaft, der Lektüre zurück. Die nomadisierende Schreibweise, unbeständig im Lesen und im Schreiben, setzt genauso die „Wahrheit" der Zeugenschaft, der Lektüre ins Leere. Der Text als Rede Durch den ganzen Text zieht sich die Dringlichkeit der Beichte - „ich klage mich an" [RdN,19] - die das Geständnis evoziert, wenn vom „Schreibzwang" die Rede ist. Beichte und Geständnis sind an die Stimme gebunden, die das Hier und Jetzt, die persönliche Anwesenheit und Authentizität der aussagenden Person garantieren soll. Der Text Reise durch die Nacht, wie auch die anderen Prosatexte, geben sich immer wieder als gesprochene Texte zu erkennen: „sage ich, rufe ich" wird unablässig wiederholt und damit gleichzeitig auf eine Komplexität dieser sprechenden Instanz hingewiesen. Die Sprache als Rede wird als Äusserung verstanden, als Veräusserung eines Subjekts. Sie verweist metonymisch auf einen Mund, ein Gesicht, einen Körper und - hier findet in der metonymischen Kette der Sprung zur Metapher statt - auf ein Subjekt, ein Selbst, ein Bewusstsein. Mayröckers Texte suggerieren mittels Dialogizität diese Präsenz. Die Problematik dieses Sprechens ist nicht identisch mit derjenigen, die sich in autobiographischen Texten für das „ich" stellt, wie beispielsweise in der Passage: „es ist lange her ich war ein Kind und es schneite viel" [RdN,131]. Im Unterschied zu der Verdoppelung des Ichs in ein erzählendes und ein erzähltes in Gegenwart und Vergangenheit, verdoppelt „sage ich" das Ich in ein sich gegenwärtig erzählendes. Die Zeit des „ich war ein Kind" verliert sich gleich zugunsten des Präsens des Nachdenkes. „ich erinnere mich, also denke ich über Wert und Unwert, über Schönheit und Hässlichkeit und wie sie verschränkt scheinen nach, über Wahrheit und Täuschung, über Verführung und Wegfindung [...]" [RdN,131] Die zeitliche Distanz des Präteritums wird von der Reflexion über das Erinnern abgelöst
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und weicht anderen, nicht-zeitlichen Gegensätzen, welche den Status der Sprache als Selbstdarstellung hinterfragen. Die Verschränkung von Wahrheit und Täuschung, Verführung und Wegfindung als Erinnern zu denken, heisst, auf die Funktion der Sprache als Enthüllen und Verdecken verweisen. Das Wahrheitspostulat der Konfession, der Zeugenschaft, setzt die Anwesenheit des Geständigen voraus, eine unbestrittene Präsenz des sprechenden Subjekts. Die Reise durch die Nacht experimentiert mit der Figuralität der Erzählstimme, fächert sie auf in einen polyphonen Text, der in Opposition zum Anspruch auf eine behaftbare Beichtstimme steht. Diese prekäre Stimme im Text stellt sich nicht nur durch die Rede her („sage ich"), sondern auch über die An-Rede, indem sie einen Dialog eröffnet mit einem Du. Es scheint in Mayröckers Texten ein Ohr vorausgesetzt zu werden, welches diese ungewöhnliche Beichte abnimmt. An einer Stelle wird dieses Du mit Julian in Verbindung gebracht [RdN,79]. Das Du ist aber nicht näher bestimmt oder immer wieder ein anderes. Das Ich vollzieht einen plötzlichen Wechsel von selbstbezogener Rede zur Anrede, die sich an ein Du wendet, das liest bzw. das Ich als Schrift liest. Der Monolog selbst des Ichs wird von der wiederholten Frage unterbrochen „kannst du mir folgen" [RdN,35], aber auch „wie du mich liest" [RdN,36], „kannst du mich lesen?" [RdN,40]. Dieser Diskurswechsel kann als Exkurs oder als Parekbasis, Sich-zur-Seite-Wenden, bezeichnet werden und erlaubt eine Verdeutlichung hinsichtlich seiner rhetorischen Funktion. Das Ansprechen von Leserin und Leser, die Parekbasis, entspricht in ihrer figurativen Konstitution der Apostrophe, der Anrede eines toten oder abwesenden Du. Barbara Johnson schreibt zur Apostrophe: „Das Abwesende, Tote und Unbelebte, das angeredet wird, wird hierdurch gegenwärtig, belebt und anthropomorph gemacht. Die Apostrophe ist eine Form des Bauchredens, wodurch der Sprechende Stimme, Leben und menschliche Gestalt in das Angeredete hineinwirft und so dessen Schweigen in stumme Ansprechbarkeit verwandelt."333 Das beredte Schweigen des Angesprochenen wirkt zugleich auf das Ich zurück: der Akt des Ansprechens, der ein Angesprochenes schafft, wird zu einem performativen Sprechakt. Der handelnden Rede wird wiederum figurativ Identität bzw. ein Gesicht verliehen. Die Figur der Prosopopoeie, die nach Paul de Man die Figur der Lektüre der Autobiographie und der Lyrik darstellt334, wie bereits im Zusammenhang mit Rousseaus Pygmalion gezeigt, verdeutlicht den Prozess der Kreation von Referenzialität, die dem Ich, dem Subjekt erst zum Schein
333 Barbara Johnson, Lyrische Anrede, Belebung, Abtreibung, in: Barbara Vinken, Dekonstruktiver Feminismus, 1993. 334 Paul de Man, Autobiographie als Maskenspiel, in: Christoph Menke, Paul de Man: Die Ideologie des Aesthetischen, 1993 und Anthropomorphismus und Trope in der Lyrik, in: Allegorien des Lesens, 1988.
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seiner Wesenhaftigkeit verhilft. De Man stellt die Frage in Hinblick auf die Diskussion um Fiktion und Autobiographie: „Ergibt sich die Illusion der Referenz nicht als Korrelation der Struktur der Figur, so dass das .Referenzobjekt' überhaupt kein klares und einfaches Bezugsobjekt mehr ist, sondern in die Nähe einer Fiktion rückt, die damit ihrerseits ein gewisses Mass an referenzieller Produktivität erlangt?" 335
Referenzialität erweist sich als tropische Setzung. Friederike Mayröckers Reise durch die Nacht erprobt im Text diese Figuration, die deshalb scheitert, weil der Akt des Verleihens immer auch aufgezeigt wird. Dem entspricht die Setzung des Körpers als ein Herbeireden, ein Vorführen der Selbstwahrnehmung, in der Inszenierung eines Umwegs über den Blick des Ichs: zum Beispiel in den Spiegel, auf eine Photographie, auf einen Ausweis. Der Blick in den Spiegel konfrontiert das Ich mit einem verletzbaren, Versehrten und alten Körper, dem der Tod eingezeichnet ist. Was das Ich in einer Art Grosseinstellung wahrnimmt, kommt einem memento mori gleich: der „Anblick der verwüsteten Zähne im Spiegel, die eingefallenen Wangen, und Augen, den kahlen Kopf" [RdN,129]. Vereinzeltes wird aufgezählt, ohne dass damit ein Gesicht komponiert würde. Der Prozess der Selbstbetrachtung im Spiegel, Topos der Konstituierung eines Gesichts im Text, verkehrt sich ins Gegenteil, in eine Darstellung der Auflösung, des Verfalls und des Todes. Die Verwüstung des Körpers im Spiegel wird als Alterungsprozess gedeutet, aber auch als steter Angriff auf die Integrität des Ichs, der den ganzen Text durchzieht: „[...] mein ganz verwahrloster Leib, an dem kaum mehr etwas in Ordnung zu sein scheint, also nichts mehr funktioniert wie es funktionieren sollte"[RdN,8]. Andererseits zeigt er Spuren von Selbstzerstörung. Die zerlegende Selbstwahrnehmung entspricht dem Umgang mit dem Körper: „ich habe es selbst gesehen manchmal am Morgen trage ich schon mein Altersgesicht, das will ich dann auch gleich geschnitten, zerschnitten, zurechtgestutzt bekommen (...)" [RdN,82],
Auf ähnliche Weise löst auch die Betrachtung von Fotographien keine Selbstbestätigung des Ichs aus, sondern eine Irritation der Wahrnehmung. Zwischen Abbild und Wahrnehmung schiebt sich der Angriff auf den Bildgrund. War der Spiegel „dumpf", so ist das Foto „abgeschabt und abgewetzt also abgekratzt" [RdN,81]. Was erst harmlos als Effekt des Alters, als Spuren einer alltäglichen Abnutzung gedeutet wird, erweist sich gleich darauf
335 De Man, Autobiographie als Maskenspiel, 1993, S. 133.
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als Gewaltakt. Das Motiv des zerstörten, Versehrten Bildes bedeutet eine Störung der Bildlektüre. Der Bildinhalt, das, was das Bild transportiert, wird nicht eingelöst. Von dieser Störung ist sowohl der Bildträger, als auch das betrachtende Auge, das lesende Auge betroffen. Der Körper erscheint in Mayröckers Text als Gegenstand der Rede. Die Distanz, welche die Betrachtung des Spiegelbildes einführt, ist als Metapher lesbar, die den Raum für die Selbstreflexion schafft. Das Ich ist hier als Spiegelung dargestellt. Reicht die Spiegelung aus, um auf das Gesicht zu schliessen, wie auch die Rede einen abwesenden Körper vergegenwärtigt? Die Spiegelung müsste auf das sich spiegelnde Gesicht verweisen, wie die Rede auf den Körper. Beide, Spiegelung und Rede gehen im besten Fall von der unmittelbaren Präsenz eines Subjekts, einer Ton- bzw. Bildquelle aus, das im Akt der Spiegelung oder der Rede sichtbar oder hörbar wird. Dieser Akt der Vergegenwärtigung findet jedoch nicht statt. Die körperlose Rede entziffert ein Spiegelbild: „[...] ich habe es selbst gesehen", und meint damit das Bild, und nur das Bild. Als Bürge für dieses Bild steht lediglich die Rede selbst. Das Ich misstraut seinen Sinnen, fürchtet sich vor ihrem „Ver-sagen": „Erblindung, Ertaubung, Verkrüppelung" und, daran anschliessend, „Sprachverlust" [RdN,52]. Die Verletzung des Körpers greift auf die Rede über. Dafür inszeniert der Text eine Maskerade. Ausgestattet mit einem „Scheinleib" [RdN,57], einer „Perücke" [RdN,62], Kleidung, die sich der Umgebung anpasst, „so dass ich auf eine gewisse Entfernung nicht zu erkennen bin" oder aber dass „die anderen" durch sie „hindurchsehen" oder gar „hindurchgehen". Die Sprache kleidet ein, spielt mit dem Konzept Identität, indem sie sich eine Maske vorhält. Freuds Ohr: Ohrenbeichtvater „aber ich möchte am liebsten noch einmal beginnen, die Wahrheit ist, man weiss es erst später, vermutlich zu spät, dass man alles falsch gemacht hat, so möchte man sich immerzu reinwaschen" [RdN, 41/42].
Der christlich-religiöse Diskurs der Waschung und Reinheit wird in Mayröckers Text mit dem Schuldgedanke verbunden" 6 . Der Körper bildet den metaphorischen Ort der Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Schuld. Dem Gebot der Psychohygiene könnte mit dem reinen Körper, der fortwährenden Waschung, Folge geleistet werden. Wiederum erscheint hier das Problem der Reinheit, des Purgatoriums als Bedingung des Schreibens. Was bei Musil im Gewände der „jungfräulichen Zeugung" verhüllt war, bei Bachmann sich als Gang durch die Wüste als Purgatorium gestaltete, wird hier in eine Beziehung zum säkularisierten Bekenntnis gestellt, der Psychoanalyse. Der Bezug gestaltet sich allerdings nicht als Realisierung des psy-
336 RdN, S. 130
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choanalytischen Verfahrens, sondern benutzt ihn, wie schon das religiösliterarische Modell der Confessions, als Referenz im Repertoire der Autorschaftskonzepte. Der Text, der behauptet, unter Zwang Zeugnis ablegen zu müssen, überlagert den religiösen Bekenntnisdiskurs mit der Psychoanalyse. Das Schreiben scheint dabei vom Gebot der Selbsterkenntnis geleitet: „es ist, dass ich mich auf etwas besinnen will von dem ich nicht, oder noch nicht, weiss was es ist [...] es scheint alles mit meiner Mutter zusammenzuhängen, beklemmende Kohärenz, es scheint alles mit meiner Mutter, mit meinem Vater zusammenzuhängen" [RdN,13].
Obgleich sich auf die Frage, was es denn sei, am Schluss des Buches eine Antwort geben Hesse"7, redet Mayröckers Text gerade gegen die „Entmantelung" an. Der Adressat ihrer Schrift, der Ohrenbeichtvater, aber auch nur „Du", Julian, Lerch, wie die männlichen Gesprächspartner heissen, vereinigen in sich das Ohr des Beichtvaters mit dem Ohr des Analytikers. Die Nachbarschaft von Bekenntnisdiskurs und Psychoanalyse formuliert Freud in den Studien zur Hysterie: „Man wirkt so gut man kann, als Aufklärer, wo die Ignoranz eine Scheu erzeugt hat, als Lehrer, als Vertreter einer freieren oder überlegeneren Weltauffassung, als Beichthörer, der durch die Fortdauer seiner Teilnahme und seiner Achtung nach abgelegtem Geständnisse gleichsam Absolution erteilt.""'
Diese Funktion der Abnahme der Rede hat das Du im Text zu erfüllen. Es übt auch eine gewisse Autorität aus, wie Freud sie für seinen Berufsstand einfordert. Der Adressat in mein Herz mein Zimmer mein Name, der „Ohrenbeichtvater", vereinigt den Beichtvater der katholischen Tradition mit jenem „dritten Ohr", das sich der Psychoanalytiker „für ein unmittelbares Hören von Unbewusstem zu Unbewusstem" wünscht339. Diese Instanz ist nicht als persona zu lesen, sondern als Uberlagerung der autoritären Abnehmer von Geständnissen aus Religion und Psychoanalyse. Sie ist aber auch jene „Instanz", an die ein „Werk" adressiert wird, jene, die das „Werk"
337 Der Text gibt Andeutungen, die, so pauschal und aussagelos sie sind, gegen Schluss doch eine Interpretation erfahren: Das Auffinden der Erinnerung an eine Kindheitsszene, wo das Ich wie ein Hund auf allen Vieren bellend um den Tisch kreist, um den Streit der Eltern zu übertönen (S. 135). 338 Zit. nach Freud / Breuer, Studien zur Hysterie, 1979, S. 40f. 339 Jacques Lacan, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, in: Schriften / , 1975. Siehe dazu auch: Michael Wimmer, Zur Anatomie des ,dritten' Ohrs", 1994.
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in Empfang nimmt, die Lektüre. Das Imaginieren des Gelesen-Werden gehört zu den Autorschaftsfiguren in Mayröckers Texten.340 Das Geständnis realisiert sich bei Mayröcker nicht, da das Erzählen einer „Lebensgeschichte" nicht zugelassen wird. Die Angst vor dem Erzählen wirkt sich auf den Körper aus, wie explizit in der Reise durch die Nacht zu erfahren ist: „ich habe eine Analyse gemacht mit f ü n f u n d z w a n z i g und fünfundvierzig, habe alles wieder abgebrochen, ein Katarakt von Tränen, der Schmerz von Magen und H e r z hat das seine dazu beigetragen, eigentlich ist der T r a u m weg, ich habe Angst vor dem Erzählen,
solche
nur N o t i z e n " . [ R d N , 1 9 ]
Die Schrift, die nicht erzählt, wird kein Licht auf die Reise durch die Nacht werfen, die Schatten der Nacht nicht ausleuchten, vielleicht im Gegenteil aufsuchen. Der Text bringt jene Bereiche zum Sprechen, zu denen sich die Psychoanalyse Zugang verschaffen will. So zahlreich die Hinweise auf autobiographische, religiöse wie auch psychoanalytische Diskurse sind, so häufig wird diesen Konzepten ein Strich durch die Rechnung gezogen. Der psychoanalytische Diskurs ist eines der Konzepte des Geschichtenerzählens, von dem sich das Schreiben abstösst.341 Die Formen des Geschichtenerzählens kommen in Mayröckers Texten an kein Ende. Der Einblick in Herz und Schmerz geschieht nur halb - „Warum immer nur das halbe Herz?" [RdN,26] - nur „Halbwahrheiten" werden ausgesprochen. Die Metaphorik der Bekenntnisliteratur und der Psychoanalyse werden in Mayröckers Texten als Konzepte des Erzählens herangezogen, die dann aber von der „streunenden" Schreibweise durchkreuzt werden. Die Reise durch die Nacht und Mein Herz mein Zimmer mein Name sind nicht Resultate oder Berichte einer Analyse, sondern höchstens ihr „Verlauf" selber. Mein Herz mein Zimmer mein Name tendiert zu keinem Ende, genauso wie das Buch keinen Anfang findet. Er setzt ein, noch bevor der Verlauf beginnt, mitten in der Frage nach dem richtigen ersten Satz und gelangt damit zu keinem Ende, das heisst zu keinem Anfang für das Buch: „die Psyche wird in das Alter hineingerissen, wir machen pausenlos Lebensfehler, sage ich zu meinem Ohrenbeichtvater, es k o m m t auf den ersten Satz an, sage ich
340 Der Exkurs zu Ernst Jandls Aus der Fremde und Mayröckers kurzer Text im zweiten und dritten Teil dieses Kapitels Wächst mir ein Kornfeld in der flachen Hand zeigen, dass beide das Gelesen-Werden als Autorschaftsfigur imaginieren. 341 Zum Produzieren von Geschichten und Fabulieren bei Freud siehe Donald Kuspit, A mighty metaphor. „For Freud, archaeology was as much a mode of enchantement, a romanticizing of inquiry and understanding [...]", 1989, S. 135ff.
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zu meinem Ohrenbeichtvater, auf den allerersten Satz, kannst du das verstehen, mit was für einem Satz ein solches Buch anfängt,(...)·"
Der erste Punkt ist zugleich der letzte. Der erste Satz findet am Schluss des Buches sein Ende, „ein vertretbares Ende, sage ich, oder wie sollte das Ende sonst angepeilt werden, wir haben alle Figuren, wir haben alle Versatzstücke
vergessen, vielleicht haben
wir sie schon lange aus unserem Lebensbewusstsein gelassen, entlassen, nicht wahr, so das Hündchen (,das eingebildete, das wirkliche Hündchen im Türrahmen, usw.'), es ist uns abhanden gekommen, es kommt im Text schon lange nicht vor, es hat sich im Text verloren, wildes Gestrüpp" [ H Z N , 3 3 6 ] .
Auch hier kein glatter Text, sondern ein Erzählverlauf, während dem sich die Figuren verflüchtigen. Der Hund, der bereits die Reise durch die Nacht durchstreunte, hat sich zwar im Erzählverlauf verirrt, taucht jedoch gegen Ende des Buches wieder auf, eine Figur der streunenden, mäandrischen Lektüre. Oder wie Canetti (im Spiel mit seinem Homonym) vom Dichter schreibt: „Er ist der Hund seiner Zeit. Er läuft über ihre Gründe hin, bleibt hier stehen und dort; [...] ja in alles steckt er die feuchte Schnauze, nichts wird ausgelassen, er kehrt auch zurück, er beginnt von neuem, er ist unersättlich".342 Zu Ende geht dieser Erzählverlauf, wie auch die Reise durch die Nacht, mit dem Anbrechen des neuen Tages: „in einem Stuhl allein vor dem Fenster und blickend, hinaus in den glühenden Morgen." Doch davor dieser erste Satz, mein Herz mein Zimmer mein Name, der eine Nacht lang dauert: „ich habe dann das Gedankenrumoren, zur Stunde des Wolfs, zum Ende der Stunde des Wolfs, vielleicht zwischen zwei und vier U h r morgens, ich habe die ganze Vision, sage ich, lauter Geistesabwesenheitsmaterial (...) immer hellwach zur Wolfsstunde, immer dabei die Hoffnung, auf der Bettkante aufsitzend, es würde das Grässliche, das Grauenvolle könnte vielleicht noch ein paar Tage, M o nate, Jahre hinausgezögert werden" [ H Z N , 1 9 9 , 201].
Das Hinausschieben des Todes prägt das Ringen um den ersten Satz in diesem Text. Mayröcker kehrt das Thema der Autobiographie, der Lebensgeschichte als Darstellung des Rückblicks um in eine Auseinandersetzung mit dem zukünftigen Tod. In Das Η erzzerr eissende der Dinge stellt sich die Schreibende in die Nachbarschaft von den Autoren neuerer Autobiographien, die Band um Band ihre Geschichte gegen den Tod fortschreiben, Michel Leiris und Elias Canetti: „fast muss ich sterben das war mir vorbestimmt, aber ich lehne mich mächtig gegen den Tod auf: wie Leiris, wie Canetti" 342 Canetti, Hermann Broch, Das Gewissen der Worte, Essays, 1975, S. 11.
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Friederike Mayröcker
[HdD,12]. Das allmähliche Sterben der Mutter Rosa, begleitet von ihren Reflexionen über den eigenen Tod, gestaltet eine Zeitlichkeit in mein Herz mein Zimmer mein Name, die einer Form von negativer Chronologie, das heisst einem Zurücktreten entspricht. Zum Schluss des Buches werden „alle Personen der Handlung vergessen" [HZN,336], behauptet die Erzählerin und somit „die Existenz abgesprochen". Dieses poetologische Verfahren ist durch das Sterben der Mutter immer vorgezeichnet. Mit dem anbrechenden glühenden Morgen, wie mit dem „lieben Tag" [RdN,136], verblassen die „Visionen". Mayröckers Text gestaltet den Prozess des Verblassens, des Vergessens und wird, im Gegensatz zum Anspruch einer traditionellen Autobiographie, zum Archiv nicht dessen, was erinnert, sondern dessen, was vergessen wird. Das Vergessen nähert sich dem Sterben an. Mit dem Schreiben erfährt das Bild des Sterbens als Abnehmen, Vermindern und Verkleinern allerdings eine Umkehrung zu einem Zunehmen, Aufgehen und Vergrössern.
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2. Voyeurismus. Der Blick aufs Andere Mayröckers „halbherzige Bekenntnisse" beziehen sich, wie gezeigt auf zwei sich überschneidende Konzepte, dem Diskurs der Confessions und dem der Psychoanalyse. Wie angetönt, situiert Mayröcker ihr Schreiben auch in die Nachbarschaft eines anderen Konzeptes, der art brut, welche ganz bestimmte Bedingungen zu erfüllen hat, um als solche zu gelten. Die Nähe zur art brut und zur ecriture automatique, zum Surrealismus, den sie in ihren Büchern zitiert, wie später gezeigt wird, bedeutet auch jenseits der Redesituation von Sprechzwang und Beichte ein Bezug auf die Psychoanalyse. Diese stellt ein wichtiges Paradigma der Autorschaftskonzepte dar. Freuds Studien zu bildender Kunst und Literatur befragen die Genese und damit den Ursprung der Kunstwerke.343 Das Verfahren scheint von den frühen bis zu den späten Schriften zur Kunst ähnlich in seiner Fragestellung geblieben zu sein, nämlich der Deutung bestimmter Darstellungsmomente und der Suche nach dem Schlüssel dazu in latenten Inhalten.344 Dabei ist nicht zu übersehen, dass Freuds Interesse an den formalen Möglichkeiten dieser Darstellung wächst. Die Begegnung mit den Surrealisten und das Gewicht, das dem Imaginären dort zugedacht wird, löst für Freud die Frage nach Kriterien für den Begriff des Werkes aus.345 Er fragt nach dem Verhältnis von unbewusstem Material und vorbewusster Ausarbeitung, das für den Begriff des Werkes gewährt sein müsse. Diese Frage stelle ein „ernsthaftes psychologisches Problem" dar, da Freud, wie er in einem Brief an Stefan Zweig schreibt, für die Surrealisten eine Art „Meisterfigur" darstelle.346 Im Zusammenhang mit Autorschaftsfiguren und -konzepten ist hier von Bedeutung, dass Freuds Arbeit für Autorinnen und Autoren eine Referenz darstellt, nicht nur wegen seiner Forschung zur Entstehung der Kunst, sondern wegen der Valorisierung, die Rede und spezifisch „dunkle" Rede grundsätzlich in seinen Forschungen erfährt.347 Das folgende Kapitel versucht nun nicht mit Freud Mayröckers Texte zu analysieren, sondern zu beschreiben, inwiefern ihre Autorschaftsfiguren sich auf Freuds Schriften als Autorschaftskonzept beziehen. Dem vorangestellt wird
343 Siehe Sigmund Freud, Bildende Kunst und Literatur, Studienausgabe Bd. 10, 1989. 344 Siehe zu Freuds Beschäftigung mit der Genese der Kunst und Literatur die Studie von Germaine Memmi, Freud et la creation litteraire, 1996, hier S. 12. 345 Siehe dazu dies. S. 39ff. 346 Freuds Brief an Stefan Zweig vom 20 Juli 1938 ist zitiert in Memmi: Freud et la creation litteraire 1996, S. 12. Auch Lacan schätzt die Bedeutung Freuds so ein, wenn er schreibt, dass die Versuche der ecriture automatique ohne Freuds Forschungen nicht gewagt worden wären. Lacan, L'insistance de la lettre, Ecrits / , S. 264. 347 Mayröckers Freudlektüre ist aus verschiedenen Interviewaussagen belegt, aber vor allem an ihren Texten ablesbar. Siehe dazu Riess-Beger, Lebensstudien 1995, S. 172f.
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ein Exkurs zu Marguerite Duras' Le ravissement de Lol V. Stein. Dieser Text bezieht sich implizit auf die Psychoanalyse als Erzählkonstellation, transformiert sie aber grundlegend. Die „Erzählung" problematisiert den Ursprung des Erzählten wie die Position der Figuren, auch des Erzählers, in Bezug auf das Erzählen. Das Erzählen im Hinblick auf eine Auflösung, die Anagnorisis und Katharsis werden nicht stattfinden. Statt dessen erfährt das Erzählen eine Wendung zum Rollenspiel des Theaters. EXKURS Marguerite Duras' Le Ravissement de Lol V. Stein Der Roman stellt, wie man erst spät erfährt, den Bericht eines Mannes dar, der die Geschichte einer Frau, Lola Valerie Stein, zu erzählen versucht. Wie gleich zu Beginn des Romans erfahren wird, hat Lol V. Stein mit 17 Jahren ein Erlebnis gehabt, welches eine spätere „Krise" ausgelöst hat. Das Erlebnis besteht darin, dass sie an einem Ball von ihrem Verlobten mit einer anderen Frau verlassen wird. Sie ist Beobachterin dieser Szene, die zu der abschiedslosen Trennung der Verlobten führt. Diese Erfahrung scheint dem Bericht des Erzählers zufolge, der sich wiederum auf Erzählungen der Figuren stützt, emotionslos und distanziert gemacht zu werden, allerdings folgt darauf die Krise von Lol, während der sie in extremer Zurückgezogenheit und Introvertiertheit das Haus nicht mehr verlässt, bis sie nach Wochen des Eingeschlossenseins eine nächtliche Tour unternimmt. Sie begegnet Jean Bedford, der sie nach Hause begleiten lässt. Kurz darauf heiraten sie. Die zehn folgenden Ehejahre mit drei Kindern scheint Lol in einer Regelhaftigkeit verbracht zu haben, die jedes Erzählen für Jacques Hold überflüssig macht. Mit der Übernahme der Familie von Lols Elternhaus verändert sich Lols Verhalten und sie sucht ihre Jugendfreundin Tatiana Karl auf, die Zeugin ihres Erlebnisses war. Gleichzeitig lernt sie Jacques Hold, den Erzähler und Tatianas Geliebten kennen, welche sie beide aber bereits beobachtete, wie sie ein Hotel aufsuchten. Während der Dauer des Liebesaktes beobachtet Lol, in einem Kornfeld versteckt, das Hotelfenster des Liebespaares. Ab dann nimmt Lol eine voyeuristische Position ein, die eine Wiederholung ihrer voyeuristischen Rolle bei der neu entstehenden Relation ihres Verlobten, also des Erlebnisses, das sie vergessen zu haben scheint, darstellt. Gegen Ende von Holds Erzählung sucht dieser mit Lol die Orte des verdrängten Erlebnisses auf und lässt sie, in einer Liebesnacht, die voyeuristische Position sich selber gegenüber einnehmen, indem sie sich mit Tatiana Karl identifiziert. Die letzten Seiten enden mit dem Voyeurismus von Lol im Kornfeld. Das banale Liebesdrama, welches hier skizziert wurde, hat wenig mit Duras' Text zu tun, bei dem die Erzählweise von Jacques Hold von Lols Vorgehen gedoppelt wird und einen faszinierenden Text entstehen lässt. Die Anlage der Erzählung um die Themen Erinnerung und Vergessen, Voyeurismus, Er-
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zählen und Schrift bietet in diesem Roman, wie überhaupt in Duras' literarischen wie filmischen Werk, ein Interessensfeld, welches zahlreiche psychoanalytische Lektürevorschläge provozierte348. Die Ergebnisse sind dabei so unterschiedlich wie der psychoanalytische Ansatz kein homogener ist.34' Der Begriff des Voyeurs, der den psychoanalytischen Diskurs aufgreift, soll hier vorerst in folgender Weise skizziert werden: Freud schreibt vorwiegend von der „Schaulust"350 und setzt diese mit dem „Wisstrieb" und dem Wunsch nach „Bemächtigung" in Zusammenhang: „Sein Tun entspricht einerseits einer sublimierten Weise der Bemächtigung, andererseits arbeitet er mit der Energie der Schaulust."351 Die Verbindung von Schaulust, Wissenstrieb und Bemächtigung situiert Freud in die frühkindliche Phase der Erkundung und Phantasie über das „Rätsel der Sphinx"352, über kindliche Sexual- und Geburtstheorien. In der Wiederholung dieses Wisstriebs in der „Schaulust", der als Sublimierung der Bemächtigung verstanden werden kann353, erscheint das Sehen selbst als Ziel. Freud misst dem Auge diese Bedeutung bei: „Doch entspricht bei der Schaulust [...] das Auge einer erogenen Zone" 354 . Bemächtigung, bzw. Aneignung, Wissen und Sehen, also Elemente des Voyeurismus und damit der Wiederholung, sind im Text, dies soll verdeutlicht werden, als Darstellungsprobleme des Schreibens zu lesen. Jacques Holds Erzählversuch weiss sich erfinderisch. Er verläuft parallel, aber in der entgegengesetzten Richtung zu Lols Bemühen, das Vergangene aufzusuchen. Lols Wunsch, im Aufsuchen der alten Orte die Erinnerung herzustellen, scheitert. Einzig gelingt Jacques Holds Versuch, ihre Geschichte zu erzählen, jedoch auf lückenhafte Art, basierend auf Mutmaßungen, Gerüchten und Erzählungen. Der Schluss des Buches formuliert kein Ende der Erzählung, denn der Erzähler weigert sich, das Wahrscheinliche anzunehmen, sondern setzt auf ein Ende, das erst noch erfunden werden will und sich damit endlos aufschiebt, „la fin [...] qui est ä inventer, que je ne connais pas, que personne encore n'a inventee: la fin sans fin, le commencement sans fin de Lol V. 348 Siehe dazu Lacans Hommage fait a Marguerite Duras, du Ravissement de Lol V. Stein in Marguerite Duras par Marguerite Duras u.a., 1979, S. 131-137. 349 Anne Tomiche, Repetition: Memory and Oblivion: Freud, Duras, and Stein, in: Revue litteraire comparee 259, 1991/3; Dorothy Kelly, Telling Glances: Voyeurism in the French Novel, 1992. 350 Zwar wird die „Schaulust" als Gegensatz zu Exhibitionismus wie das Gegensatzpaar Masochismus / Sadismus als Perversion behandelt, jedoch macht Freud deutlich, daß diese nicht in Opposition zur normalen Sexualität, also als deren „Degenerationszeichen" zu verstehen sei, sondern „im Zusammenhang" mit ihr stehe. Freud, Das menschliche Sexuallehen, Ges Werke Bd. XI, S. 317. 351 Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie: Die infantile Sexualität, Ges. Werke, 1940, Bd. V, S. 95. 352 Ebd. 353 Dorothy Kelly, Telling Glances, S. 8 354 Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Ges. Werke, 1940, Bd. V, S. 68f.
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Stein." [184] Duras setzt mit diesem Text, der das Verfassen einer Lebensgescbichte ausdrücklich als ein Erfinden darstellt, ein Gegenstück zum biographischen Genre. Lol unterliegt dem Zwang die voyeuristische Stelle im Kornfeld immer wieder einzunehmen. Dabei bedeutet auch das Kornfeld eine Wiederholung, das Aufsuchen eines alten Schauplatzes: „Ii y avait du ble lä. Du ble mür" [174] sagt sie in Bezug auf ihr Erlebnis. Mit Freud wird dieser „Wiederholungszwang" oder diese „Zwangsneurose" als Symptom einer Verdrängung gelesen.355 Lol V. Steins Geschichte ließe sich wie ein Exempel der Freudschen Verdrängungstheorie lesen, wie er sie in Jenseits des Lustprinzips darlegt. Die Wiederholung ist bei Freud Symptom der Erinnerungsverweigerung, wobei das „Vergessene" und „Verdrängte" nicht „in der Erinnerung [...] sondern als Tat" reproduziert wird."6 Die Wiederholung ist in der Übertragung des wiederholten Aktes auf den Therapeuten Teil des Heilungsprozesses: „Auf solche Weise nötigen wir ihn [den Kranken, N.A.], seine Wiederholung in Erinnerung zu verwandeln."357 Bei Freud ist die Wiederholung somit Symptom oder Funktion der Verdrängung und Erinnerungsverweigerung. Der Anlass für die Verdrängung findet in einem bestimmten Ereignis seinen Ursprung (dieses Ereignis braucht kein reales Geschehnis zu sein, sondern kann imaginär sein). Damit hat die Wiederholung bei Freud, aus der Sicht des Therapeuten, die Qualität einer Doppelung, eines Sekundären, das sich dem primären Erlebnis anschliesst. In ihrer Qualität als „Tat" in der Gegenwart hat die Wiederholung jedoch einen Stellenwert, der vom Primärerlebnis abgeschnitten ist. Der Erinnerungsvorgang erst stellt die Chronologie, das Nacheinander, und damit die Repositionierung von Subjekt und Erlebnis her. Dies impliziert bei Freud eine Gegenüberstellung von Wiederholungsmechanismen einerseits und „Erweckung der Erinnerung"358, „Aufdeckung des Unbewussten", „Rückübersetzung des Entstellten" 359 andererseits. Das Bild der Ubersetzung bedient sich einer Metaphorik, die selber eine der Lektüre ist, und zwar diejenige einer Hermeneutik. Der verborgene Sinn des Wiederholungsmechanismus wird in einem Ubersetzungsakt in die Erinnerung zurückgeführt. Dieses hermeneutische Vorgehen gelingt in Duras' Lol V. Stein nicht. Der Erzähler und Begleiter an die Orte des Ereignisses wird selber zum Voyeur. Dabei wird die Rolle des Blicks immer wichtiger: „Voici venue l'heure de mon acces ä la memoire de Lol V. Stein" [Lol, 175]. Diese zuversichtliche Prognose ist von einer sich erhellenden Landschaft unterlegt, die 355 Siehe dazu Tomiche, Repetition: Memory and Oblivion, 1991. 356 Freud, Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, Ges. Werke, 1940, Bd. X, S. 129. 357 Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse: XXVII. Die Übertragung, Ges. Werke, 1940, Bd. XI, S. 461. 358 Freud, Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, Ges. Werke, 1940, Bd. X, S. 135. 359 Freud, Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse: XXVII. Die Übertragung, Ges. Werke, 1940, Bd. XI, S. 464.
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auf eine Auflösung des Konflikts deutet: „L'horizont s'eclaire de plus en plus" [Lol, 175]. Die Ausleuchtung des Ortes schlägt über in ein Funkeln („etincelle", 176), das die Wahrnehmung wiederum verstellt: der Text führt ein Spiel von Verhüllungs- und Enthüllungsfiguren vor. Die Enthüllungsmetapher par excellence wird eingeführt: „Dans la hauteur du ciel, au dessus, il y a suspendue, une brume violette que le soleil dechire en ce moment." [Lol, 176]. Der Riss im Nebel(vorhang) durch das Licht im Himmel, „au ciel", verweist auf jenes biblische Moment, in dem die Erkenntnis „vollbracht" und vom Riss des Vorhangs im Tempel begleitet ist. Der Verweis auf den Vorhang wird gleich darauf wieder aufgegriffen, wenn das Paar den Ballsaal, den geschlossenen Raum betritt, in dem der Ursprung des Konflikts aufgesucht werden soll. Zwar nimmt der Text mit dem Vorhangmotiv gerade die pointierteste Metapher des Enthüllungsmythos auf, Erinnerung stellt sich dabei aber nicht ein: „Nous y voici. L'homme souleve un rideau. [...] Nous y entrons. L'homme lache le rideau. [...] D'un cote il y a une scene fermee par des rideaux rouges, de l'autre un promenoir borde de plantes vertes" [Lol, 180],
Die Verhüllungs- und Enthüllungsfigur orientiert sich an der Theatermetaphorik, die genau den Konflikt von Rollenspiel und Wahrhaftigkeit, von Verstellung und Echtheit vorführt, den Freud durch den Erinnerungsvorgang lösen möchte (Mayröckers Bezugnahme auf den Rousseau'schen Bekenntnisdiskurs und den der Psychoanalyse vollzog das selbe Spiel, wie gezeigt wurde). Was geschieht im Moment, wo der Vorhang beiseite gezogen wird? Duras' Text entwindet sich dieser Lösung, indem hinter dem Vorhang eine weitere Bühne inszeniert, ein weiterer Vorhang sichtbar wird, der nicht beiseite gezogen wird. Die Bühne auf der Bühne widersetzt sich dem Versuch, die Wahrheit in einem Enthüllungsgestus herauszuschälen. Das Moment des Enthüllens hingegen wird selbst als Moment einer Veranstaltung (und somit einer Verhüllung) lesbar, das in der Wiederholung auf diese Figuralität immer wieder verweist.360 Die Ironisierung der Bühnenveranstaltung spitzt sich in dem Moment zu, wo eine Anagnorisis durchgespielt wird, der Augenblick der plötzlichen Erkenntnis der dramatischen Intrige durch Heldin oder Held. Ein Casinoangestellter, der dem Paar die Tür zum leeren Ballsaal öffnete, macht unvermittelt das Licht an: „[...] la salle s'eclaire de dix lustres ensemble. Lol pousse un cri. Je dis ä l'homme: Merci, ce n'est pas la peine." [Lol,181]
360 Siehe dazu Konersmann, Der Schleier des Timanthes, 1994, S. 90.
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Der Schrei von Lol bleibt ohne Fortsetzung. Was gesehen wurde, scheint weniger der zu erwartende Erinnerungsfilm zu sein, als das Einbrechen der taghellen, blendenden Wirklichkeit in den leeren dämmrigen Raum. Die Anagnorisis bringt der Heldin des Dramas keine Aufklärung ihrer Verhältnisse, sondern eine Blendung, die sofort unterbrochen wird. Erkannt wird sie am Ende dieser Szene vom Angestellten: „II doit savoir le reste de l'histoire aussi, je le vois bien. Cette reconnaissance echappe completement ä Lol." [Lol, 182] Die Gestaltung dieser Textpassage in der Sprache des Theaters oder der Dramaturgie3" und das Spiel mit dem Versprechen und Zurücknehmen der Enthüllung verweisen auf die Reflexion auf Schrift: die Unerzählbarkeit im Sinne der Unauflösbarkeit greift kritisch das psychoanalytische Postulat der Enthüllung via Sprache auf und zeigt die Metaphorizität des Erkenntnisdiskurses, nämlich einer Metaphorik der Räumlichkeit oder Topographie, die sich aus jener Wissenschaft entwickelte, die sich als Tiefenpsychologie bezeichnete und, als Psychoanalyse, das „dunkelste und unzugänglichste Gebiet des Seelenlebens"3" zum Gegenstand hat. Die Reflexion auf das Theater impliziert eine Reflexion auf die Schrift als Inszenierung: mit der mise-en-abime, der Bühne auf der Bühne, wird der für die psychoanalytische Zielvorgabe existentielle repräsentative Charakter der Schrift tangiert. Die „Betonung von Bühne und Szene" bedeute eine „kritische Analyse der Themen mimetischer Nachahmung", schreibt Paul de Man.363 Statt dass nun Lols Erlebnis in ihrer Erinnerung erzählbar wird, beginnt Jacques Hold zu erinnern, eine Erinnerung nach vorwärts, ein dazu Erinnern ohne Erlebnis in der Vergangenheit: „J'ai commence ä me souvenir, ä chaque seconde d'avantage, de son souvenir.[...] U n calme monumental recouvre tout, engloutit tout. Une trace subsiste, une. Seule, ineffagable, on ne sait pas oü d'abord. [...] Aucune trace, aucune" [Lol,181].
Jacques Holds Erinnerung von Lol V. Steins Erlebnis hingegen entwickelt sich nach und nach mit seinem Erzählvorgang. Der Text zeigt, wie der Erzähler die Geschichte im Aneignungsgestus erfindet. Der männliche Erzähler nimmt die Rolle der weiblichen Figur ein, was bereits in einer früheren Passage relevant wird. In einem Gespräch mit Lol und Jacques Hold errät Tatjana Karl „le bonheur de Lol V. Stein", der als Liebe zu Jacques Hold nicht seine ganze Erklärung findet. Tatjana Karls Verwunderung über Jacques Holds Involviertheit deutet dieser wiederum selbst: „Comment savez-vous ces choses-lä sur Lol? Elle veut dire: comment les savez-vous ä la 361 Dem Rückgriff auf dramaturgische, also theatertheoretische Begriffe ist auch bei Freud zu begegnen, etwa wenn von der „Breuerschen Katharsis" die Rede ist. (Siehe Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, Ges. Werke X, S. 126.) 362 Freud, Jenseits des Lustprinzips, Ges. Werke, 1940, XIII, S. 4. 363 De Man, Allegorien des Lesens, 1988, S. 215.
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place d'une femme? a la place d'une femme qui pourrait etre Lol?" [Lol,151] Der Erzähler setzt sich „ä la place d'une femme" und weiss was sie „sagen will" - nämlich ihre Frage, wie er weiss, was sie sagen will. Der Aneignungsgestus des männlichen Erzählers der Frauenfigur gegenüber ist nur scheinbar ein einfacher „ravissement": Jacques Hold spielt im Text nicht nur die Rolle des Erzählers, sondern kommt sich selbst als Erzählter, als Figur abhanden. Mit fortschreitendem Erzählen impliziert sich Jacques Hold mehr in die Geschichte. Er erzählt sich selbst und gewinnt im Lauf des Erzählens als Figur an Kontur. Die Frage nach der Instanz, die weiss, wer was sagen will, richtet sich an die Autorschaft. In diesem Fall schiesst sie über den Text hinaus. Der Erzähler, der sich selbst als Figur erzählt, erweist sich als erzählende Figur. Eher als Rollenspieler ist er selbst in den Text eingerollt. Die Antwort auf die Frage nach der Autorität bleibt verdeckt, verschiebt sich immer wieder: „ä la place d'une femme qui pourrait etre Lol": die Stelle, durch Jacques Hold eingenommen, wäre die Lol V. Steins, aber vielleicht wäre diese an Stelle einer anderen Frau. Der Gestus des „ä la place de" greift wiederum die Theaterbildlichkeit auf und bringt, im Wechsel von männlicher und weiblicher Instanz ein Travestiemoment in die Autorschaftsthematik ein. Lol V. Stein fährt fort zu wiederholen. Das Buch endet mit Lols Schlaf im Kornfeld, der „mortelle fadeur de la memoire de Lol V. Stein." [Lol,182] Während in Freuds „Kuren" die erzählbare Erinnerung am Ende als Auflösung der Deutungsarbeit erfolgt, steht in Duras Roman die „Krise" am Anfang, erzählt durch Jacques Hold. Statt dass der Text sich erinnernd darauf zu bewegt, entfernt er sich mit Lol V. Steins Entzücken, Ravissement, davon weg, gestaltet das Vergessen Lols und zugleich die Gestaltung der Erzählung des Nicht-Erzählbaren durch Jacques Hold. Mit dem Erzählen von Jacques Hold wird die Funktion von Autorschaft aufgegriffen. Die Tätigkeit des Autors der Geschichte wird als Aneignungsversuch dargestellt, der, als voyeuristischer, nie ganz gelingen wird: „Lol regardait. Derriere eile j'essayais d'accorder de si pres mon regard au sien que j'ai commence ä me souvenir, a chaque seconde davantage, de son souvenir. Je me suis souvenu d'evenements contigus ä ceux qui l'avaient vue, de similitudes profilantes evanouies aussitot qu'entrevues dans la nuit noire de la salle." [Lol, 180]
Der Voyeurismus ist ein doppelter: Lol V.Steins voyeuristischer Blick wird von Jacques Holds Blick beinahe gedoppelt. Das Bei-nahe bezeichnet die kleine Abweichung, die eine vollkommene Aneignung verunmöglicht. Der Voyeur bemüht sich - „j'essayais d'accorder de si pres mon regard" - den Blick zu doppeln. Die Aneignung von Lols Blick durch den Erzähler bleibt eine asymptotische Annäherung, die Erinnerung vollzieht sich als metonymische Folge von Ahnlichkeitsbeziehungen: der „evenements contigus" und
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der „similitudes profilantes". Der Erzählvorgang, im Gegensatz zur Formulierbarkeit der Erinnerung bei Freud364, vollzieht bei Duras keine Lösung in der Darstellung, sondern die Erzählung stellt dieses Beinahe dar. Während die Darstellung, bei Freud nämlich die Ubersetzung, eine (Re?)Positionierung und Chronologie der Assoziationen will, wird hier hingegen die Lücke und das Unerzählbare zum Thema. Der Erzähler formuliert bezüglich Lols Suche nach der Lösung eine Suche nach dem Wort, welches die Auflösung bedeuten würde: „(J'aurait ete un mot-absence, un mot trou, creuse en son centre d'un trou, de ce trou oü tous les autres mots auraient ete enterres. O n aurait pas pu dire le mot, mais on aurait pu le faire resonner. Immense, sans fin, un gong vide [...]" [Lol, 48],
Die Unaussprechbarkeit des Wortes und die Leere des Echos nehmen das Bild der leeren Theaterbühne vorweg. Uber das Wort heisst es weiter: „il vous attend au tournant du langage, il vous defie, il n'a jamais servi, de le soulever, de le faire surgir hors de son royaume perce de toutes parts ä travers lequel s'ecoulent la mer, le sable, l'eternite du bal dans le cinema de Lol V. Stein." [Lol, 49]
In ihren Notes pour le Theatre sur le decor365 schreibt Duras: „ L e lieu devait etre celui de l'oubli et de cette memoire defaillante [...] Lieu oü on entre par l'intermediaire de la memoire et de l'oubli des femmes, des Voix [...] C o m m e au cinema, le theatre se passera de figurants. Le decor: une sorte de perte. [...] La scene: c'est vide. Personne."
Wie der Text das eine Wort verweigert und statt dessen seine Abwesenheit gestaltet, bleibt die Bühne leer, die persona bleibt „personne". Vielleicht wegen der Liebe des Erzählers zu Lol V. Stein, wird sie nicht zur Figur. Die Geschichte ist diejenige des Erzählens, aber nicht die Geschichte Lol V. Steins. Es gelingt dem Erzähler weder die Aneignung der Erinnerung noch die Aneignung Lol V. Steins indem sie zur Protagonistin würde. Insofern scheitert der Raub, der ravissement von Lol V. Stein durch den Erzähler am Erzählen selbst.
364 Der häufige Verweis auf eine Analogie der poetischen Schrift zur „Traumarbeit" wie Freud sie beschreibt, als Verdichtung und Verschiebung, wird später aufgegriffen werden. Dabei ist der Bezug, den Lacan in seiner Freudlektüre zur Sprache herstellt entscheidend (Vgl. Anm. 394: Lacan, Schriften I, S. 107 und 146, Rhetorik des Traumes). 365 Notes, in: Marguerite Duras par Marguerite Duras, Jacques Lacan, Maurice Blanchot et al., 1979, S. 72f. Dazu Silvia Henke: Fehl am Platz, 1997, S. 236.
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Text und Bild: Grenzbereich zwischen Sprache und Psychoanalyse Die Diskussion der hier besprochenen Texte intendiert die Beschreibung ihrer Auseinandersetzung mit Autorschaftskonzepten. Mayröckers Sprache hat in der Forschungsliteratur einen psychoanalytischen Lektüreansatz provoziert, dessen Fragestellung in eine andere Richtung tendiert. 3 " Diese Lektürevorschläge sind weniger durchgängige psychoanalytische Interpretationen als ein jeweiliger Rückgriff auf psychoanalytische Parallelisierungen von Traum, Unbewusstem und Sprache, aber auch von Geschlechterkonstituierung, wie sie für Freud und Lacan zentral sind.367 Problematisiert werden soll hier die implizite Voraussetzung der Lesbarkeit von Mayröckers T e x ten, die mit einer Parallelisierung von Text und Unbewusstem in einem psychoanalytischen Ansatz einhergeht. 368 Mit der Rezeption psychoanalytischer Theorie in der Literaturwissenschaft scheinen sich mindestens zwei Tendenzen herauszubilden: Die erste, welche Aussagen und Handlungen der Figur im Text psychoanalytisch liest und einer Analyse unterwirft. Die A r -
366 Die Problematik des Rückgriffs auf Lacan und Freud für Textlektüren, die dies als klarende Ergänzung verstehen, liegt auf der Hand: Zum einen verlangt der Wunsch, via psychoanalytischer Theorie vergrabene Bedeutungen ans Licht zu bringen eine Zurechtstutzung dieser Schriften auf eine nacherzählbare und handhabbare Theorie. Zum anderen werden, auch wenn Modifikationsvorschläge für eine neue gender Definition daraus resultieren, mögliche Antworten auf die Frage nach Autorschaft und Textgenese immer wieder in die „originäre Struktur" des (Klein)Familiendramas platziert, dem von Lacan als „mystere paternel" bezeichneten Dogma, dessen Werden er „dans l'inconscient de tout homme" voraussetzt. Lacan, L'insistance dans la lettre, Ecrits I, S. 266. 367 Zuletzt stellt Daniela Riess-Beger, in Lebensstudien, 1995, den Zusammenhang her. (S. 170ff.); Siehe auch Sabine Kyora, Psychoanalyse und Prosa im 20. Jh., 1992 (über Mayröckers Abschiede S. 283-323); 368 Dazu Marianne Schuller, Literatur und Psychoanalyse: Zum Fall der hysterischen Krankengeschichte bei Sigmund Freud, in: Im Unterschied: Lesen / Korrespondieren / Adressieren, 1990, S. 67-80. Vgl. dazu auch Riess-Beger, die sich explizit auf Spiegelstadium und Kastration als „eine Art Urszene des Abschieds" für ihre Interpretation bezieht. Riess-Beger, Lebensstudien, 1995, S. 181. Dagegen deutet Dorothy Kelly in ihrer Lektüre von Duras' Lol V. Stein das Spiegelstadium um. Statt des statischen Blicks in den Spiegel im Kleinkindalter, welcher nach Lacan über die Wahrnehmung des unversehrten Anderen eine imaginäre Subjektkonstituierung ermögliche, beschreibt Kelly den voyeuristischen Blick Lol V. Steins als ein Aufsuchen des Abstandes von einem zum anderen. Sie definiert die Geschlechterrollen damit neu: „If the mirror stage, the Imaginary, and the relation to the mother are Symbolic, then the psychoanalytic definition of gender must be revised. The relation to the mother and the identity of woman are no longer excluded from the Symbolic, no longer exiled to the prehistoric, preSymbolic realm, and must be explored in their Symbolic nature. This is perhaps what Duras's text does." Dorothy Kelly, Telling glances, 1992, S. 220.
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gumentation ist dort eine subjektlogische, welche dieses Subjekt im Text überhaupt erst voraussetzen muss, um so vorgehen zu können. In Mayrökkers Texten gibt es keine konsequenten Figuren, welche diese Subjektivität voraussetzen lassen könnten. Die zweite Tendenz der Forschung bezieht sich auf die Sprache des Textes und setzt diese, mit Verweis auf Freud und Lacan, in Bezug zum sprachlich strukturierten Unbewussten369 oder zum Traum. Damit verbunden ist oftmals die Bezeichnung ihrer Texte als „Bildersprache", „Bilderflut", die an eine Vorstellung vor-diskursiver Sprache oder Traumsprache anknüpft. Die Rede von den „Bildern" in der Sekundärliteratur zu Mayröckers Texten legt nahe, einen Blick in Freuds Traumdeutung zu werfen und kritisch nachzufragen wie bildliche Qualität dort bestimmt wird. Gegen eine Identifizierung von Mayröckers Texten mit Träumen spricht sich Daniela Riess-Beger deutlich aus und will statt dessen eine Analogie zwischen Mayröckers Abschiede und der „Struktur" der Träume beschreiben. Diese Analogie bezeichnet Daniela Riess-Beger in ihrer MayröckerMonographie als jene Verfahrensmomente, die in Freuds Traumarbeit als „Verschiebung" und „Verdichtung"370 bekannt sind, also jene Operationen, die dazu dienen, den Traumgedanken in den Bilderrebus, in die Traumbilder zu verschlüsseln. Die Folgen daraus sind „Vieldeutigkeit, Uberdetermination einzelner Elemente sowie die Schürzung des Textes zu bestimmten Knotenpunkten [...], verwirrende Bilderflut [...] Gleichzeitigkeit, das kommentarlose Z u s a m m e n f ü g e n von eigentlich Kausalem und einfache Anreihung des Disparaten unter Verzicht auf ausschliessende Oppositionen. Diese Termini, die Freud für die Beschreibung der L o g i k des Traumes wählte, beschreiben ebenso die Struktur der Prosa Friederike Mayröckers." 3 7 1
Bevor auf die Parallelisierungen von Mayröckers Schreibweise mit Freuds Traumdeutung eingegangen wird, sei darauf hingewiesen, dass die angeführten rhetorischen Figuren in den meisten literarischen (vielleicht auch nichtliterarischen) Texten aufzeigbar und ein Unterscheidungskriterium der Schreibweisen in der Dichte oder Häufigkeit dieser Figuren läge. Lacan be-
369 „...c'est toute la structure du langage que l'experience psychoanalytique decouvre dans l'inconscient." Lacan, L'insistance de la lettre dans l'inconscient, Ecrits I, S. 251. 370 Freud, Die Traumdeutung, 1994, S. 285ff. 371 Riess-Beger, Lebensstudien, S. 172. Obwohl Riess-Beger deutlich festhält, dass es ihr um die Vergleichbarkeit der Verfahren von Traumarbeit und Schreibarbeit geht, also Freuds Darstellung von Verschiebungs- und Verdichtungsarbeit [S. 173], dehnt sie später die Parallele aus und schreibt zu den Techniken von Mayröckers Prosa: „Mit solchen Techniken wird der emotionale Gehalt, der latente Text, angereichert und in einem synthetisierenden Verfahren, das den Mechanismen der Traumarbeit vergleichbar ist, verschlüsselt." (S. 177).
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zieht in seiner Sprachanalyse und Lektüre von Saussures Cours de linguistique diese sich negativ auszeichnende Sprache - nämlich im „glissement incessant" des Signifikats unter dem Signifikanten und der Polyphonie - nicht auf einen bestimmten Sprachduktus oder eine bestimmte Schreibweise, sondern auf poetische Sprache überhaupt: „il suffit d'ecouter la poesie (...)""'72. Stützt sich die Literaturwissenschaft auf die Psychoanalyse, um aus der Traumdeutung Rückschlüsse für die Interpretation zu zeihen, so greift Freud für die Entwicklung der Traumdeutung seinerseits auf die Sprachwissenschaft zurück, um Erkenntnis über die Traumarbeit zu gewinnen: „Cette structure de langage qui rend possible l'opera-tion de la lecture, est au principe de la signifiance du reve, de la Traumdeutung."™ Die sprachliche Struktur des Unbewussten ist Voraussetzung für die Lesbarkeit der Träume. Hier stellt sich die Frage, inwieweit es sinnvoll ist, eine Analogie der Sprache mit der „Struktur" des Traumes festzustellen, wenn dabei die Umkehrung dieser metaphorischen Analogie in die Hilfskonstruktion mündet: Die Sprache ist strukturiert wie das Unbewusste. Das Interesse an einer Parallelisierung von Freuds Traumdeutung und Mayröckers Prosa liegt hier an Freuds Organisation der Traumdeutung um den Begriff der Lektüre und des Bildes.374 Im kurzen Vorspann zum Kapitel „Traumarbeit" steht Freud in der Position des Trauminterpreten. Er stellt die Neuartigkeit seiner Traumdeutung dar, welche einen Zwischenschritt in der Traumdeutung eingeführt habe: Aus dem „manifesten Trauminhalt", dem, was als Traum erinnert wird, erschliesst die Traumdeutung den „latenten Traumgedanke[n]". Die „Lösung" des Traumes erfolgt aus den latenten Traumgedanken. „Der Trauminhalt ist gleichsam in einer Bilderschrift gegeben, deren Zeichen einzeln in die Sprache der Traumgedanken zu übertragen sind."375 Die Beziehung zwischen Trauminhalt und Traumgedanke ist nach Freud „wie zwei Darstellungen desselben Inhaltes in zwei verschiedenen Sprachen, oder besser gesagt, der Trauminhalt erscheint uns als Übertragung der Traumgedanken in eine andere Ausdrucksweise, deren Zeichen und Fügungsgesetze wir durch die Vergleichung von Original und Übersetzung kennen lernen sollen." 376
Freuds Darstellung der Deutungsaufgabe bedient sich eines semiotischen Vokabulars: Die Rückübersetzbarkeit des anderen Zeichensystems schafft den Zugang zum Original. Allerdings ist dabei interessant, dass Sprachlichkeit, als Original und Übersetzung, lediglich als Vergleich in Freuds Dar372 373 374 375 376
Lacan, L'insistance de la lettre dans l'inconscient, Ecrits I, S. 260f. Ebd. S. 268. Den Gewinn aus Freuds Lehre bezeichnet Lacan unter anderem als Lesenlernen. Freud, Traumdeutung, S. 284. Ebd.
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Stellung von Trauminhalt und Traumgedanke eingesetzt wird: „wie" und „als" bezeichnen die metaphorische Ebene der Argumentation. Auch im weiteren wichtigen Passus ist der Trauminhalt nur bedingt Bilderschrift: „Der Trauminhalt ist gleichsam in einer Bilderschrift gegeben, deren Zeichen einzeln in die Sprache der Traumgedanken zu übertragen sind." Und wiederum der semiotische Ansatz: „Man würde offenbar in die Irre geführt, wenn man diese Zeichen nach ihrem Bildwert anstatt nach ihrer Zeichenbeziehung lesen wollte." Das Bilderrätsel, der Rebus, ist ein Bild für die andere semiotische Qualität des Trauminhalts. Sprachlich strukturiert heisst hier demnach lediglich seine (Rück)Ubersetzbarkeit. Die Lektüremetaphorik ist, wie früher schon festgestellt, auf eine hermeneutische Lösung ausgerichtet. Dies setzt aber eine ganz bestimmte Auffassung von Sprache voraus. In Fonction et champ de la parole et du langage377 schreibt Lacan, die Traumsprache als Text bezeichnend: ,,[S]'il [Freud, N . A ] nous a appris ä suivre dans le texte des associations libres la ramification ascendante de cette lignee symbolique, pour y reperer aux points oü les formes verbales s'en recroisent les noeuds de sa structure, - il est deja tout ä fait clair que le Symptome se resout tout entier dans une analyse de langage, parce qu'il est lui-meme structure comme un langage, qu'il est langage dont la parole doit etre delivree."
Die sprachliche Struktur ist die der Unterscheidung von langage und parole, das Unbewusste (in diesem Zitat das Symptom) ist qualitativ auf der Ebene des langage situiert, woraus die parole „befreit" werden muss. Dabei entspricht bei Freud erst der interpretierte Traumgedanke dem Original, während die quasi Bildlichkeit des manifesten Trauminhalts eine sekundäre Verschlüsselung (mittels der Traumarbeit, also im unbewussten Vorgang von Verdichtung und Verschiebung) bedeutet.378 Dieser Sprung in eine andere Zeichenstruktur ist laut Freud Ergebnis der, wie der schöne Titel des Aufsatzes lautet, Rücksicht auf Darstellbarkeit (nebst der Funktion der Zensur und der Verdichtung): „Das Bildliche ist für den Traum
darstellungsfähig".
Interessant hier ist das Spiel von Darstellung und Immanenz, von Repräsentation und Versprachlichung. Das Bildliche ist zwar das, was sich im Traum 377 Lacan, Fonction et champ de la parole et du langage, Earits 1, S. 147. 378 Lacan hebt in Freuds Terminus „Bilderschrift" den Aspekt der Schrift hervor: „le reve a la structure d'une phrase, ou plutöt, ä nous en tenir ä sa [Freuds] lettre, d'un rebus, c'est ä dire d'une ecriture". Fonction et champ de la parole et du langage, Ecrits /, S. 145. 379 Freud, Traumdeutung, „Die Rücksicht auf Darstellbarkeit", S. 342.
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realisiert, es ist aber trotzdem Ergebnis eines Verschlüsselungsprozesses und nicht unmittelbare Präsenz. Die Traumbilder repräsentieren den Traumgedanken, der via Versprachlichung als Original gelesen wird. Mit der Bildersprache besteht nach Freud die Möglichkeit einer „visuellen Darstellung" der Traumgedanken durch das Unbewusste. Ihr wird, wie der Sprache, die Funktion des Gefässes für einen Inhalt zugeschrieben: ,,[D]ie Traumarbeit scheut nicht die Mühe, den spröden Gedanken etwa zuerst in eine andere sprachliche Form umzugiessen, sei diese auch die ungewöhnlichere, wenn sie nur die Darstellung ermöglicht und so der psychologischen Bedrängtheit des eingeklemmten Denkens ein Ende macht." 380
Darstellung, auch bildliche, heisst hier Repräsentation. Freud versucht anhand von Beispielen diese „Umleerung des Gedankeninhalts in eine andere Form", die der Bilder, deutlich zu machen. Der Prozess ist jener der Umwandlung, der „Verbildlichung des abstrakten Gedankens":381 „Beispiel Nr. 1. Ich denke daran, dass ich vorhabe, in einem Aufsatz eine holprige Stelle auszubessern." Das entsprechende Bild, nach Freud „Symbol", lautet: „Ich sehe mich ein Stück Holz glatthobeln."382 Oder: „Ich verliere in einem Gedankengang den Faden. Ich gebe mir Mühe, ihn wiederzufinden, muss aber erkennen, dass mir der Anknüpfungspunkt vollends entfallen ist. Symbol: Ein Stück Schriftsatz, dessen letzte Zeilen herausgefallen sind."' 83 Die Beispiele, die einen Verbildlichungsprozess deutlich machen sollen, enthalten beide und das ist für diese Bildtheorie symptomatisch - bereits im „abstrakten" Teil ein visuelles Bild: die holprige Stelle und der verlorene Faden. Die Bilder sind in der Formulierung bereits da und werden im „Symbol" durch andere Bilder ersetzt. Oder aber der Prozess der Visualisierung ist in der Sprache nicht vorführbar, nicht darstellbar. Die Crux des Bildes in Freuds Traumdeutung ist die der ständigen Vorgezogenheit von Sprache. An das Traumbild ist nicht heranzukommen. Die Immaterialität der Traumbilder (und vielleicht geistiger Bilder überhaupt) werfen grundsätzlich die Frage auf, was ein Bild sei.384 Aus den bisherigen Überlegungen wird deutlich, dass Freud mit dem Begriff Bild einerseits Visualität (die Möglichkeit, das Geträumte als Bilderrebus zu zeichnen, und damit seine Abbildbarkeit) voraussetzt, andererseits gerade die Problematik der Bildmetaphorik reflektiert wird, wenn der Begriff Bild nur als Annäherung oder Vergleich taugt. 380 381 382 383 384
Ebd. S. 346. Ebd. S. 344. Ebd. S. 347. Ebd. S. 347. Beide Beispiele entnimmt Freud einer Studie von Herbert Silberer. Dieser Frage geht der wichtige Aufsatz von W.J.T. Mitchell nach in einer kritischen Beschreibung der Begriffsgeschichte des Bildes in: Volker Bohn, Bildlichkeit, 1990.
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Bild als Zitat „wie soll wie kann ich je wissen was wo ich selber bin - eine Figur, deren Kopf wegapostrophiert ist, usw." [SL,175]
Die Selbstbefragung in Mayröckers Stilleben mündet in ein Bild, das in Freuds Traumdeutung vorkommt. Auch zu Anfang des Traumarbeitkapitels führt Freud Beispiele für „Bilder" an: „Ich habe etwa ein Bilderrätsel (Rebus) vor mir: ein Haus, auf dessen Dach ein Boot zu sehen ist, dann ein einzelner Buchstabe, dann eine laufende Figur, deren Kopf wegapostrophiert ist, u.dgl." 3!S
Das letzte Bild ist jenes Bild, das in Mayröckers Stilleben zitiert wird. Die Passage überlagert das Zitat aus Freuds Traumdeutung mit einem Zitat aus dem Collageroman von Max Emsts, „La Femme 100 tetes", ein Zitatverfahren, auf das im letzten Kapitel der Arbeit eingegangen wird. Bei Freud stellt sich bei diesem „Bild" die Formulierung des „wegapostrophierten" quer. Hiesse „Bild" Visualisierung in dem Sinn, dass die Formulierung gezeichnet werden kann38', so bietet die Wendung ein Problem in dieser Hinsicht. Das Bild der „Figur, deren Kopf wegapostrophiert ist" in Mayröckers Text ist wörtliches Zitat aus der Traumdeutung von Sigmund Freud. Aber es ist nicht nur Freudzitat, sondern das Bild zitiert das Exempel „Bild" schlechthin, die Darstellung von Bild. Dadurch entwickelt dieses Bild eine doppelte Versprachlichung und sein „Bildwert" ist immer noch nicht realisiert. Denn das „Bild" zitiert die sprachliche Repräsentation von einem Bild, das nicht da ist. Gerade diese Vorgezogenheit von Sprache ist bei Mayröcker wie in Freuds Traumdeutung zu beobachten. Vergleicht man also Mayröckers „Sprachbilder" mit dem Bilddiskurs in Freuds Traumdeutung, ergibt sich tatsächlich eine Parallele. Diese besteht jedoch weder in einer Unmittelbarkeit des Bildes387 (die auch bei Freud nicht vorausgesetzt wird, da das Bild Darstellungsmodus des Traumes ist), noch besteht sie in der Bildproduktion als Verschlüsselung, sondern in der durchgehend sprachlichen Qualität des Bilddiskurses, die das Zitat impliziert. Zitiert Mayröcker das Modell „Bild" aus der Traumdeutung, so greift sie sehr wohl auf Freud zurück, reflektiert dabei aber den psychoanalytischen Diskurs und wendet ihn in eine eigene Form der „Bildproduktion". Hier stellt sich die Frage, ob der Verzicht auf
385 Freud, Traumdeutung, „ Die Traumarbeit", S. 284. 386 Freud spricht vom „Rebus als zeichnerische Komposition", Traumdeutung, S. 285. 387 Siehe dazu Mitchell: „Das Bild ist das Zeichen, das den Anspruch erhebt, kein Zeichen zu sein, und sich als natürliche Unmittelbarkeit und Gegebenheit maskiert", in:
Bohn, Bildlichkeit,
1990, S. 56.
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Echoraum der Autorschaft
„Zeichenbeziehung" die Lektüre auf einen „Bildwert" der Sprache zurückwirft? Mitchell stellt den Anachronismus fest, den das Bemühen bedeutet, „eine Abbildtheorie der Sprache vom Thron zu stürzen, wenn es noch nicht einmal mehr eine Abbildtheorie des Bildes selbst gibt".388 Die Freudsche Gegenüberstellung von Bildlichkeit (des Trauminhalts) und Sprachlichkeit (des Traumgedankens) ist für die Lektüre von Mayrökkers Texten nicht als Parallelisierung von Traum und Text interessant, als Rückführung dessen, was die Psychoanalyse als „Rhetorik" der Traumarbeit von der Sprachanalyse entlehnt hat und für eine Textlektüre nicht neu ist38', sondern dass Freuds Texte auch hier Autorschaftskonzepte „anbieten", aus denen die Texte sich zitierend, modifizierend und verwerfend, jedenfalls aber unsystematisch, bedienen.
388 Ebd. S. 42 389
„[...] l'important dont Freud nous dit qu'il est donne dans Γ elaboration
[alle Herv.
Ν . Α.] du reve, s'est ä dire dans sa rhetorique. Ellipse et pleonasme, hyperbate ou syllepse, regression, repetition, apposition, tels sont les deplacements
syntaxiques,
phore, catachrese, antonomase, allegorie, metonymie et synecdoque, les tions semantiques,
meta-
condensa-
ou Freud nous apprend ä lire les intentions ostentatoires ou
demonstratives, dissimulatrices ou persuasives, retorsives ou seductrices, dont le sujet module son discours onirique." Lacan, Ecrits I, Fonction et champ de la parole et du langage, S. 146.
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Friederike Mayröcker
3. Mit fremder Feder: Collage einer Autorschaft.
Autorschaft stellt sich in Mayröckers Texten, wie gezeigt, nicht in der Gestaltung einer Lebensgeschichte her oder einer Auto(r)biographie, die das Werden der Schriftstellerin vorführt. Autorschaft ist hier Funktion eines Verfahrens, das nicht konzeptualisierbar ist. Dieses Verfahren, das als Collage einer Autorschaft bezeichnet werden soll, problematisiert selber seine Unlesbarkeit und Undeutbarkeit. Denn die Collage, sie zeigt sich vor allem im Band Stilleben (1991), wird in Mayröckers Texten nicht zu einem Bild. Die Texte problematisieren das Verfahren von Zitieren und Wiederholen als Verhältnis von Eigenem und Fremdem. Die Wiederholung, dies wurde bereits erwähnt, füllt Mayröckers Texte wie in einem horror vacui vor der weissen Seite. Die Texte zitieren die Metaphorik einer Papageiensprache, aber auch das Paulinische Zungensingen. Damit aktualisieren die Texte die Problematik einer eigenen Handschrift, eines originalen Werkes. Mayröcker demontiert mit ihrem Zitatverfahren die Grenzen zwischen fremd und eigen und setzt damit auch das Konzept der Originalität und des Eigenen ausser Kraft. Aneignungsversuch: Wächst mir ein Kornfeld in der flachen Hand, dem Bild ist alles erlaubt
oder
Das kleine 1985 erstmals veröffentlichte Prosastück390 thematisiert Textgenese und Handschrift als Verbindung von Lesen und Schreiben. „ich gehe hinein in das Feld in das Kornfeld, in meine flache Hand, ich gehe hinein in die flache Hand, ich schlage die Seite auf"
Wie Lol V. Stein in Duras Buch sucht das Ich in Mayröckers Text den Ort auf, von dem aus beobachtet werden kann. Das Feld wird betreten, zugleich damit ein anderes Feld, die flache Hand, darin die „letzte Seite des Buches". Die Lektüre dieser letzten Seite muss wiederholt werden, gelangt zu keinem Ende: „ich lese die letzte Seite des Buches ein weiteres Mal, wieder und wieder, ich lese immer wieder darin, ich lese immer von neuem nach, wie es formuliert wurde".
Während der Text sich wiederholt, wird deutlich, dass der Wiederholungsgestus der Lektüre ein Aneignungsversuch darstellt: „ich könnte es hundert
390 Friederike Mayröcker: Magische Blätter II, 1987, S. 121-123. Erstveröffentlichung 1985.
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Mal lesen, und ich würde es nie durchdringen können, so werde ich mich immer danach sehnen, es ein weiteres Mal zu lesen, ich kann es trotzdem nicht behalten". Die Sehnsucht, welche die Lektüre auslöst, ist der Wunsch, „es" zu „behalten", in Besitz zu nehmen: „wenn ich diese letzte Buchseite lese, als hätte ich sie noch nie gelesen, als müsste ich etwas nachlesen, das ich nicht habe behalten können, als müsste ich mir etwas in Erinnerung rufen, das sich mir immer von neuem entzieht, als könnte ich es mir nur aneignen, indem ich es immer wieder ansehe und nachlese und bewundere."
Die Aneignung soll via Blick, „ansehen", „nachlesen", vollzogen werden und via Bewunderung, das heisst einer Form von Unterordnung oder Distanzierung, wie sie für die voyeuristische Position charakteristisch ist. Auch hier scheinen weder Aneignung der Erinnerung (sich „in Erinnerung rufen"), noch Aneignung des Textes zu gelingen. Was gesucht wird ist die Form, „wie es formuliert wurde". Die Aneignung nicht des Textes als Ensemble von Figuren und Handlung, sondern seine Machart, das Handwerk des Textes werden aufgesucht. Das Ich bei Mayröcker versucht diesem Handwerk etwas abzuschauen oder davonzutragen und sieht sich damit gerade mit der Darstellung der Unmöglichkeit selbst des Aneignungsprozesses konfrontiert. Nach dem Betreten des Kornfeldes, setzt der Text mit einem anderen Gestus ein: „Einmal jage ich fort über die Berge, muss es, zu jemandes Freude, tun, einmal jage ich fort, ich will mir nicht auf die Schliche kommen, ich habe mich mir selbst entfremdet auf solchen Tragflächen Taganfängen Überlagerungen, wenn ich bei gleissendem Mond aufstehe, wankend, im Taumel, verwirrt, den Kopf in Wolken, die Kralle des Fakirs im Herzen, im Kirschbaumherzen, im Stubenbaum - wie rauh dann der Morgen."
Diese und die folgende Textpassage zitiert die Sprache aus der Reise durch die Nacht. Die sich überstürzende Sprache vollzieht eine Flucht nach vorne in Sprachbilder wie sie auch aus anderen Texten Mayröckers bekannt sind: „beim Parlieren bin ich mein eigener Galgenvogel [...] mein Kopfbeutel hat alles fahren lassen". Die Selbstzitate"1 verweisen auf die eigene Machart des Textes, jedoch auch auf den Anlass der Sehnsucht: „das Objekt des Verlangens, die Ursache der Tränen finden sich nicht".
391 Siehe den später erschienenen Band mein Herz mein Zimmer mein Name S. 29.
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Diese Sehnsucht, die sich in der Lesesucht der „letzten Seite" äussert, scheint jedoch mit dem Schreiben selbst verbunden zu sein.3'2 Ist die Machart, das wie dieser Seite, welche sich „den Gesetzen von Hand und Fuss entzogen" hat, undurchdringlicher Gegenstand des Wollens, so löst er zugleich einen Sprach- oder Redefluss aus, der eine „eigene" Machart exponieren will. Dabei ist auch hier das Nicht-Auffinden des treffenden Wortes federtreibend: „meine Blätter und Hefte, die Zügelungen, die Züchtigung meiner Selbst, ich habe alles verlassen, alles hat mich verlassen". Der Verlust wird darauf präzisiert als ein gewesener Zustand paradiesischer Autorschaft: „wie durch heilige Täler wurde die Hand geführt, auf der linken lag eine Insel mit rauschenden Palmen, Schiffzeug und Horizont, auf der rechten die Amsel [...] ich war ja im Paradies". In diesem exotischen Arkadien mit den Verweisen auf die Topoi der Dichtung, auf einen unbestimmten Horizont zustrebend, in unbestimmter Vergangenheit liegend, wird die „Hand geführt". Der Schreibakt geschieht dort als Automatismus oder wird von einer anderen Instanz übernommen. Diese Aufgehobenheit ist dem Ich abhanden gekommen. Die Schreibvoraussetzung, welche die Problematik von Aneignen und Besitzen impliziert, äussert sich folgendermaßen: „es geht ja nicht darum, etwas zu geben, hinzugeben, beim Schreiben, etwas aus der Hand zu geben, aus den Händen zu lassen, vielmehr ist es so, dass wir an den Dingen nur zu naschen pflegen [...] und ganz nebenbei en passant wirklich entstehen die Texte, Gedichte, es platzt ein Gefühl, die Gefühle sind in der höchsten Kehle".
392 Wie Kellys Ergebnis aus der Lektüre von Duras zeigte (siehe Anm. 368 ), so ist auch hier eine Lektüre des Begehrens denkbar, die eine Korrektur der Zuordnung des Symbolischen auf die Geschlechter implizieren würde. Dies würde bedeuten, den Text als Ausdruck des Begehrens zu lesen, welches nicht mit der Aneignung des anderen Textes erfüllt wäre, sondern sich auf den eigenen Text richtet: „Pour tout dire, nulle part n'apparait plus clairement que le desir de l'homme trouve son sens dans le desir de l'autre, non pas tant parce que l'autre detient les clefs de l'objet desire, que parce que son premier objet est d'etre reconnu par l'autre." Lacan, Fonction et champ de la parole et du langage, Ecrits /, S. 146. Im Text, der als „eigener" erfahren würde, der ein Erkennen durch den anderen ermöglichen würde, könnte die Sehnsucht gestillt werden. Dies tut sich nicht bei Mayröcker, wie früher gezeigt wurde, auch nicht hier, denn der Text löst sich buchstäblich im Nichts auf. Lacans Begriff des Begehrens, welcher aus dem Ubergang von vorsymbolischem Spiegelstadium zu Eintritt in die symbolische Ordnung entwickelt wird, bezeichnet die Grenze von Vorsprachlichkeit zu Sprachkompetenz. Der Paradiesverlust bei Mayröcker ist ausdrücklich nicht auf eine vorsymbolische „Zeit" bezogen, sondern richtet sich auf eine bestimmte Schreibsituation. Der Abstand oder die Lücke, die erfahren werden, sind Teil der Autorschaftserfahrung. Das Begehren lässt sich auch als Begehren, gelesen zu werden, deuten. Dies ist auch Thema von Jandls Aus der Fremde.
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Die Lektüre der „letzten Seite" ist einerseits Anlass zu Reflexion der A u torschaftsposition, andererseits bringt sie wiederum Text hervor. Was nicht „aus der Hand" gegeben werden muss, ist das, was aus der Lektüre als Aneignungsversuch resultiert: „wächst mir ein Kornfeld in der flachen Hand". Dieses Wachstum aus der flachen Hand ist das Bild des entstehenden Textes durch die Lektüre selbst. Der Wortwechsel in der zweiten Passage, die sowohl zitiert, als auch reflexiv das Schreiben kommentiert, vollzieht einen ständigen Wechsel von Lektüre zum Schreiben und zurück: „ich sage wahr aus meiner flachen Hand" heisst es zu Anfang des Textes, und später „so sagen mir meine Träume wahr". Diese „Wahrheiten", die im Schreiben produziert werden, sind auch hier nicht fassbar, denn die „Hände, der Mund sind ein Sieb, sie lassen die Wahrheit wieder fallen, denn das Wasser der Wahrheit will unter den Arm genommen werden". Der ironische Bruch mit dem Wahrheitsdiskurs, der auf den Arm genommen wird, kann, wie dieser selbst, nur in der Sprache vollzogen werden. Auch hier folgt der Text keinem Gesetz von „Hand und Fuss". Das Sprichwörtliche des Handmotivs, ad absurdum geführt, durchzieht den ganzen Text und vollzieht das Hin und Her zwischen Aktivität und Passivität im Schreibvorgang: „das ist mit eigener Hand geschrieben, das ist mir in die eigene Hand geschrieben" heisst es gegen Schluss bevor der Text sich in einen zerrissenen und unterbrochenen Schluss verflüchtigt. Exkurs: Blick auf Ernst Jandls Aus der Fremde „107 leben und hirn solle man nicht kombinieren
(setzt sich an die schreibmaschine)
108 ein leeres blatt werde nun in die maschine gespannt 109 weit und breit sei nicht ein wort aber laden voll dreck
(reisst eine lade des schreibmaschinentischchens auf, die zum bersten mit papier gefüllt ist, wühlt darin, wirft blatt und [...] blatt zu boden, während er spricht)
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Friederike Mayröcker
115 handschrift sei etwas körperliches bewegliches
(nimmt und öffnet füllfeder)
[...] 118
aber auch hier das leere blatt glotze ihn an 119 und es klammere sich an die feder seine kopfverlassene hand"393 Bis in Ernst Jandls Sprechoper Aus der Fremde der Schreibmechanismus einsetzt, wird viel Papier zerknüllt, oft auf die Uhr geschaut, werden mehrere Bleistiftspitzen abgebrochen und wieder gespitzt. Der Mechanismus setzt ein, sobald der Anfang gefunden ist. „24 einen anfang nämlich/ in dem alles schon / drinnen sei" Sobald der Rhythmus der drei Zeilen gefunden sei „134 alles weitere / sei praktisch sitzkunst / daher sei gestattet jetzt" Die indirekte Rede, „im konjunktiv" von Schriftsteller und Schriftstellerin kreist in einem kleinen engen Alltag, der von Bett zu Tisch, von Aufrollen des Bettzeugs bis zu Knäckebrot und grosse Tasche für die zahlreichen Flaschen reicht. Dieser Alltag setzt einen eng abgesteckten Rahmen, worin das Schreiben, das „Tagespensum" absolviert werden müsste. Der indirekte Dialog zwischen Autor und Autorin gibt, in behutsam-komische Sätze formuliert, die Kulisse ab für das Problem, einen Anfang für das Schreiben zu finden und sich gegenseitig die Autorschaft zu bestätigen. Deshalb der Entschluss, nach dem Whiskey noch eine Strophe zu verfassen: „137 und noch drei / dass mehr zu zeigen sei / sobald sie komme" Impuls für dieses Produzieren ist, ihr das Geschriebene zu zeigen. Das Schreiben geschieht in Hinblick auf das Gelesen-Werden. Die Sehnsucht nach dem Anfang ist als Sehnsucht nach dem Gelesen-Werden deutbar. Die-
393 Ernst Jandl, Aus der Fremde - Sprechoper in 7 Szenen. Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 255-336. Hier 3. Szene, S. 275. Siehe dazu Jandls Kommentare in Ges. Werke, Bd. 3, S. 350-358.
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ses Begehren wäre das nach dem erkannt werden, als dem eigentlichen Impuls des Begehrens, wie Lacan schreibt, „que parce que son premier objet est d'etre reconnu par l'autre" 394 Das Begehren, vom anderen „erkannt" zu werden, gelesen zu werden, imaginiert nun nicht eine Werkphantasie, sondern eine Lektürephantasie. In ihrem Dialog sind die Schriftstellerin und der Schriftsteller Autoren, die für den anderen als Leserin oder Leser schreiben, um von ihr oder ihm gelesen zu werden. Die Ähnlichkeit mit realen Personen, er Schriftsteller, ca. 50 Jahre, ca 170 cm gross, sehr kurzes schütteres Haar, von blond zu grau, Gesicht faltig, Brille, [...], sie - Schriftstellerin, ca. 50 Jahre, doch unverbraucht, in einer Weise alterslos; ca. 173 cm gross, mittellanges schwarzes Haar, das die Stirn fast bis an die Augenbrauen verdeckt [...] scheint zwar nicht ganz unbeabsichtigt. Damit und mit der minutiösen Schilderung von Alltäglichkeiten, die gerade in ihrer Banalität sehr intim scheinen, zitiert auch Jandl das Konzept Autobiographie als Lese- oder Verstehensfigur, der er aber von Anfang an die Substanz entzieht. Ein „Ich" wird konsequent ausgespart.395 Das Publikum wird nicht Zeuge einer Lebensgeschichte, einer Szene aus dem Alltag, es wird Zeuge der depressiven Anstrengung der Entstehung einer solchen Alltagsszene. Während der Sprechoper wird die Entstehung des Anfangs dessen vorgezeigt, das man liest oder hört und sieht. Die Oper zeigt nicht nur ihr Entstehen, sondern erklärt und deutet auch gleichzeitig ihre Besonderheiten aus: die Ausschliesslichkeit der dritten Person, der Konjunktiv zur Darstellung einer Bühnensituation. Seine Erklärung gehört zum Zeigen des Verfertigens dazu: (IV) 103 der konjunktiv nun / bewirke / dass dieses erzählen 104 nicht ein erzählen / von etwas / geschehenem sei 105 sondern dass es das erzählen / von etwas / erzähltem sei
106 die eigentliche Spannung / aber werde bewirkt / durch ein direktes sichtbares zeigen [...]
Ein Kommentar zu diesem Text gerät leicht ins paraphrasieren, da der Text nicht nur seine eigene Entstehung vor Augen führt, sondern auch seine Deutung, wie er zu lesen sei, vorwegnimmt. Im Moment, wo die Schriftstellerin kommt, um den Anfang zu lesen, fährt der Schriftsteller mit der Deutung fort, nimmt die Aufgabe des Regisseurs vorweg. Er greift der Frage 394 Siehe Anm. 395. 395 Siehe zur Bewegung vom „Ich" zum i,c,h, bei Jandl den Aufsatz von Friedrich W. Bloch: i,c,h - Über drei Buchstaben in der Poesie Emst Jandls, in: Michael Vogt, „stehn JANDL gross hinten drauf": Interpretationen zu Texten Ernst Jandls, 2000, S. 173-191. Block kritisiert das umstandslose Ersetzen des pronominalen „ich" durch ein nominales „Ich", wenn Interpretationen Bezeichnungen wie „lyrisches Ich" applizieren wollen. (S. 174ff.)
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nach der Qualität des Stückes vor. Teil der Oper ist das vorweggenommene Bestehen des Stücks vor Regie und Kritik, das auch eine Beschäftigung mit der Bestätigung von Autorschaft bedeutet. Die Anordnung, die Jandl mit seiner Sprechoper komponiert, zeigt die Besessenheit dieser Nicht-Figuren vom Wunsch nach einer Ablesbarkeit der Autorschaft. Dies geschieht in einer Kulisse von intimen Sätzen, die durch ihre Alltäglichkeit und durch die indirekte Rede eben zitierte Sätze sind. Der Zitatcharakter zeigt, dass die Oper ein erzählter Text ist, eine Rede aus zweiter Hand inszeniert, er zeigt mit der Wiederholung aber gleichzeitig die Intimität der Ritualisierung von Alltag. Diese beiden gegenläufigen Lesefiguren gibt einem die Sprechoper zu lesen. Der Schriftsteller mit der Brille und die Schriftstellerin mit den schwarzen Haaren bis zu den Augenbrauen zeigen sich als inszenierter Autor, als inszenierte Autorin. Im Unterschied zu Bachmanns Einklagen einer Verortung der Stimme, wird hier keine Verankerung eingefordert, sondern eher versucht, diese Polyphonie zu bewohnen. Dazu gehört auch das Gelesen-Werden. Die Stimme der Lektüre wird eine Stimme des Textes: „Wie Du mich liest", heisst es bei Mayröcker, deren Texte sich in einem steten Zwiegespräch befinden und sich ausdrücklich an ein „ D u " , an X., an Wilhelm, „etc." wenden. Mayröcker: Papageiensprache und Zungensingen Als Zungenrede, Zungensingen oder Papageiensprache bezeichnet sich Friederike Mayröckers Text Reise durch die Nacht und zitiert: „auf emotionale Anregung hin versuche ich diese Papageiensprache durchzuhalten, im Korintherbrief sagt Paulus, D I E Z U N G E N R E D E IST N I C H T E I N E R E D E MIT M E I N E R V E R N U N F T " [RdN,107], Der Zustand der „Verzauberung und Verzückung" [HZN,29] wird mit dem Schreiben verbunden. Mayröckers Texte werfen die Frage nach dem Status des Schreibens wie des Lesens auf, wobei der selbstreflexive Gestus die Opposition von Lesen und Schreiben, Unterscheidungen wie rezeptions- und produktionsästhetische Kategorien aufhebt. Das Ineinander von Lesen und Schreiben problematisiert ausdrücklich das Verstehen. Zum einen als Thematisierung der Lesarten oder der Lesbarkeit, zum andern als Reflexion des Schreibakts im Verhältnis zum Geschriebenen, dem, was als Autorschaft bezeichnet wird. Autorschaft hier also nicht als geklärte Zuordnung von Besitzständen, sondern als deren Problematisierung. Gerade mit der Revision des Verhältnisses Werk und Autor, Kunstprodukt und kreatives Subjekt, ist die Autor-Identität tangiert. Die Problematisierung von Autorschaft in Mayröckers Texten ist mit einem Verfahren verbunden, welches die Zuständigkeiten und Besitzverhältnisse umkehrt: dem Zitat, dem Selbstzitat und der Wiederholung. Der Modus der Wiederholung prägt
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diese als Zungenrede bezeichnete Sprache und irritiert im Text den Status des Aussagesubjekts, des Ich, welches in mündlicher Rede fortwährend seine Situation als (schreibende) Autorin reflektiert. Mit der Wiederholung ist gerade jene Qualität des Kunstprodukts getroffen, die im Autorschaftskonzept der Originalität den Status von Autorschaft sichert, die Einmaligkeit. Ein Schreibverfahren wird dargestellt, welches seine Sätze und Wörter sammelt, eingesagt bekommt vom „Ohrenbeichtvater", dem Souffleur, oder abschreibt aus Lieblingsbüchern, Briefen, Texten. In der Reise durch die Nacht ist der Schreibvorgang zugleich Lesevorgang, das Lesen zugleich Exzerpieren: „ich las in drei Büchern zugleich, in diesen Bereisungen versuchte ich, was mir gefiel in meine Taschenbücher zu übertragen, das gehörte dann bald mir allein, ich meine ich hatte das Gefühl, alles was ich notiert hatte, selbst geschrieben zu haben".
Lesen wird als Schreiben begriffen, als selektives Lesen, „auf der Jagd (...) nach Wendungen, Wörter(n), die Zündkraft besitzen" wie es in Stilleben heisst [SL,9]. Uber ein gesprochenes Wiederholen wird es zum Schreiben. Die Wörtersammlung beutet verschiedenste Texte aus: „ich lese auch gern in Glossarien eigentlich am liebsten" [RdN,45] steht in der Reise durch die Nacht. Das Glossar stellt weder Ansprüche auf Fiktion einer Geschichte, eines kontextuellen Sinns noch auf Urheberschaft: Ein Wörterverzeichnis, dessen Wörter nachgesprochen werden, Material für die Zungenrede, die Glossolalie, oder das ,Zungensingen' [RdN,70]. „In Zungen reden" bedeutet bei Paulus im ersten Korintherbrief ein Reden im Zustande der Verzückung, bei dem man ohne Zusammenhang Worte oder Laute hervorbringt: „Wenn leblose Musikinstrumente, eine Flöte oder eine Harfe nicht deutlich unterschiedene Töne hervorbringen, wie soll man dann erkennen, was [...] gespielt wird? [...] So ist es auch wenn ihr in Zungen redet, aber kein verständliches Wort hervorbringt. Wer soll dann das Gesprochene verstehen? Ihr redet nur in den Wind." 3 "
Im Neuen Testament wird es als Reden in „neuen Sprachen" oder „fremden Sprachen" oder einfach als Reden „in Sprachen" bezeichnet.397 Paulus warnt vor dieser Zungenrede, die sich von der Offenbarungsrede der Propheten
396 1. Kor. 14,7-9. 397 Siehe den Artikel „Zungenreden" in: Kurt Galling u.a. (Hsg.), Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 1962.
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Friederike Mayröcker
darin unterscheidet, dass sie nicht aus göttlicher Eingebung redet:398 „Der Prophet steht höher als der, der in Zungen redet; es sei denn, dieser legt sein Reden aus." 3 " Ohne die „Gnadengabe" der Auslegung bleibt die Rede in Zungen fremde Rede: „Es gibt weiss nicht wie viele Sprachen in der Welt, und nichts ist ohne Sprache. Wenn ich nun den Sinn der Laute nicht kenne, bin ich für den Sprecher ein Fremder, wie der Sprecher für mich."400 Die Auslegung wäre Aufgabe der Person, die über die Gabe dieser Rede verfügt. Ohne Auslegung bleibt die fremde Rede ohne Gehör, eine Rede „in den Wind". Mayröckers Texte befragen immer wieder selbstreflexiv Paulus' Postulat: Wie soll man verstehen? So steht im Prosaband mein Herz mein Zimmer mein Name: „Narkotikum Schreibarbeit (...) ruft mein stets auf der Lauer liegendes TraumBewusstsein auf, etwas aufzuschreiben was ich gerade träume, ein Zwitschern dann gleich zurück, das Versinken in Schlaf als sei von etwas die Rede, hielt ich auch Ansprachen, deren Sinn mir verschlossen blieb, wie man fremde Sprachen zu sprechen, zu verstehen imstande ist, ohne sie je gelernt zu haben" [ H Z N , 14].
Der Sinn der Ansprachen dieses Ich - an eine Hörer- bzw. Leserschaft bleibt verschlossen wie die ungelernte Fremdsprache. Trotzdem scheint „von etwas die Rede" zu sein. Diese Rede wird akustisch, als „Zwitschern", als Laut wahrgenommen und als solcher „verstanden". „Beim Parlieren bin ich mein eigener Galgenvogel" heißt es später in mein Herz mein Zimmer mein Name [28]. Die Papageiensprache, das wiederholende Reden als Zitieren und Selbstzitieren verselbständigt sich auf für das Ich bedrohliche Weise, wenn es gewahr wird, dass das Reden in Zungen nicht wie Paulus es fordert „in Anstand und Ordnung"401 geschieht. Mayröcker zeigt im folgenden Zitat die Problematisierung des zitierenden Schreibens gegenüber einem Autorschaftskonzept der Originalität: „jetzt tritt mir der Schweiß aus den Poren, Nachtschweiss und alles falsch, das ist alles gelogen, ist alles nicht wahr, ich schreibe ja alles nur ab, von ihm und von mir, ich sage ja alles nur nach, ich schreibe ja alles nur ab, von ihm, dem Ohrenbeichtvater, von Rosa, X . , oder Wilhelm, werde alsbald mein eigener Epigone sein, oder seiner, ich schreibe nur auf, was Rosa mir sagt, oder X., ich schreibe ja alles nur ab, was Wilhelm mir schreibt, mein Kopfbeutel eben hat alles fahren lassen an allgemeinen Zusammenhängen und weiß jetzt nicht wo oben und unten ist, und weiß jetzt nicht ob das alles mein eigenes Fühlen und Denken ist, oder
398 399 400 401
l.Kor. l.Kor. l.Kor. l.Kor.
12, Anm.l zu Vers 28. 14, 5. 14, 10-11. 14,40.
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habe ich mir das alles nur angeeignet·, euphemistisch für: habe ich das alles zusammengestohlen, habe ich nicht jederzeit alles an mich gerissen, das kalte Feuer im Auge (Kalkül), habe ich nicht, neben mir selber stehend, alles eingesogen in mich, alles aufgezeichnet und abgepaust, Fremdes als Eigenes ausgewiesen" [HZN, 29].
Zwischen den Polen „fremd" und „eigen" situiert sich die Thematik der Autorschaft. Das Zitatverfahren stellt die Position der Autorin aufs Spiel. Das Autorschaftskonzept hat einen Paradigmenwechsel vom schöpferisch Kreativen zum reproduzierenden Kopieren und Abpausen von fremdem Material erfahren.402 Bevor auf die Problematik von „fremd" und „eigen" in oben genanntem Zitat eingegangen wird, möchte ich auf das Zitatverfahren und die Wiederholung in Mayröckers Prosa zu sprechen kommen. Zitat und Wiederholung Die Texte sind tatsächlich ein Zitatengeflecht, welches sich nur schwerlich entwirren lässt. Die Zitate werden trotz eines Schriftbildes, welches Kursivund Grossdruck aufweist, nicht kenntlich gemacht. Zitiert werden Sätze, einzelne Wörter, Bildtitel, „Versatzstücke", wie es heisst [HZN,336]. Die Zitate stellen intertextuelle Bezüge zu verschiedenen Texten, aber auch zu Bildern her. Aus dem Bereich der bildenden Kunst stammt denn auch der rettende Begriff, den Samuel, eine um Übersicht bemühte Figur aus Stilleben für ihre Schreibweise vorschlägt: „ein Collageroman" [SL,44]. Collageromane nennt Max Ernst seine aus illustrierten Feuilleton-Romanen zu Büchern zusammengefügte und zum Teil mit Text versehene Bilder. In Stilleben wird teils explizit, teils bloss implizit, aus Max Emsts Collageromanen zitiert. Hier stellt sich die Frage nach der Relevanz einer Lektüre, welche die Rückführung der Zitate auf ihre Quelle in den Vordergrund stellt, es sei denn man fühlte sich gerade dazu aufgefordert, wenn Friederike Mayröcker, bestimmte Daten im Dunkeln lassend, schreibt, sie bemühe sich, „grösste Unbestimmtheit für N A C H L A S S S C H N Ü F F E L E I E N zu hinterlassen" [Lc,139]. Die Nachlassschnüffelei hat wenig Chancen, dazu den einen Schlüssel zu finden. Die Texte bilden keine homogene Folie, von welcher die Zitate sich wie eingefügte Intarsien absetzen könnten. So ist auch die Collagearbeit am Original im Collageroman von Max Ernst nicht nachzuvollziehen, die Spuren von „Schere und Kleister" sind verwischt, im Reproduktionsverfahren, dem Druck, werden die letzten Spuren der Schnittstellen unsichtbar. Der Titel des dritten Kapitels des Bandes Stilleben, „Repetitionen, nach Max Ernst" zitiert den Collageroman Repetitions, der als Buch
402 Im Modus des Zitats wird das Problem des Zitats aufgeworfen. Der Text zitiert mit „lieber Wilhelm" den Adressaten der Briefe Werthers.
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Friederike Mayröcker
von Max Ernst und Paul Eluard 1922 erschienen ist.403 Paul Eluard hat die bereits früher verfertigten Collagen nachträglich mit Text „illustriert", wie es heisst404. Mayröckers Kapitel zitiert, zu den Versatzstücken dieser beiden Bücher in ihrem Kapitel Repetitionen, auch aus dem Collageroman La femme 100 tetesK\ Die hundertköpfige Frau oder Die Frau ohne Kopf. Es setzt mit dem Zitat zweier Collagetitel ein: „Die Landschaft wechselt dreimal, der Himmel nimmt zweimal den Hut ab". Gleich darauf teilt das Ich eine Beobachtung mit: „in den Fugen zwischen den hellen Fliesen bewegt sich etwas, vermutlich Ungeziefer", schon schiebt sich ein Zitat ein: „die Dämmerung fährt aus dem Munde des Dichters." Darauf: „Schön und mit Tränen geschmückt, WIRRWAR, MEINE SCHWESTER DIE HUNDERTKOPFIGE FRAU, öffnet ihren erhabenen Ärmel. Ein Geheimnis vielleicht oder ein Nichts." „Schön und mit Träumen geschmückt" heisst es bei Max Ernst. Das Ich besteht auf Tränen und damit der Produktivität der Fehllektüre, von der es heisst, sie sei Antwort auf einen „unterströmenden Fingerzeig" [SL,176]. Die Bruchstücke aus den Collageromanen sind unvermittelt aneinandergesetzt. Samuel würde das Verfahren vielleicht eine Montage nennen, zumindest bezeichnet er es als „eine Art Pointiiiismus [...] aus lauter Einzelelementen zusammengesetzt, dass aus den fremdesten Elementen ein täuschendes Ganzes entgegentritt" [SL,49]. Eine Totalität wird über die Versammlung von Partikularstem nicht erreicht, deshalb die Unmöglichkeit, die Schrift abzuschliessen und der Zwang zur Wiederholung und zum Fortschreiben. „Auf deinem Schreib-, N ä h - und Teetischchen, sagt Samuel, dreiunddreissig Mädchen auf Schmetterlingsjagd, oder das Innere des Sehens." [SL, 46]
Was da auf einem Tisch beisammen liegt, sind Titel einer Collage und eines Collageromans, Α l'interieur de la vue. Im Text, als Zitat, besitzen sie die Qualität der Collage, wie Max Ernst, Lautreamont zitierend, formuliert, als das „zufällige Zusammentreffen von zwei unvereinbaren Realitäten auf einer ihnen beiden fremden Ebene, gewissermassen als Paraphrase und Verallgemeinerung der berühmten Stelle bei Lautreamont."406 Die „fremde Ebene" bei Max Ernst hiess bei Lautreamont Seziertisch407, für Samuel ist es das Schreib- ,Näh-, Teetischchen, eine plane Fläche jedenfalls, von der sich das Unvereinbare absetzt, eine Folie, die im pointillistischen Gemälde eine Ein-
403 404 405 406 407
Max Ernst / Paul Eluard, Repetitions, 1922. Max Ernst / Paul Eluard, Α l'interieur de la vue, 8 poemes visibles, 1947. Max Ernst, La femme 100 tetes, 1929. Max Ernst, zit. bei U . M. Schneede, Rene Magritte, 1982, S. 28. Lautreamont, Les Chants de Maldoror, chant 6e, strophe 3, CEuvres completes, 1970, S. 225.
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heit vortäuscht. Die Vorstellung der Folie, des Bildgrundes ist mit der Frage nach dem „Eigenen" verbunden von dem sich das „Fremde" absetzt. Mayröckers Schreibweise scheint trotz Nähtischchen die Metapher des Textes als Gewebe zu verabschieden. Der Text ergibt keine Textur. Es sind nicht nur die Zitate, die als Fugen, Bildbrüche, Katachresen den Text zerstäuben, er unterlässt es, die einzelnen Versatzstücke zu verketten oder zu vernähen. Es scheint hingegen dem lesenden Auge überlassen, die Kluft in den asyndetischen Reihen auszumessen und zu überspringen. Der Lektürevorgang müsste Lautreamonts Seziertisch ersetzen. Die Wiederholung im Zitat wird in Mayröckers Texten von der Wiederholung im Text gedoppelt. Wie das Zitat, so wird auch der Modus der Wiederholung im Text thematisiert: „es ist ja so dass ich immer wieder Wortballungen, ganze Absätze von Ihnen aufnehme also mit Funken Schnee und schauend schweifend über das von Ihnen Geschriebene hin, haftet das Auge dann fest w o es fündig geworden ist, spreche das eben Gelesene aus dem Gedächtnis nach, wurden gewisse Wörter ausgesprochen oder nur imaginiert, eigne ich mir Ihren Text geradezu an, verfalle ich wieder in jenen Körperwahn
des sich Anschmiegens Anschmeichelns an ein fremdes Gebil-
de, oft scheint es mir auch, als würde es mir nicht gelingen, einen solchen Text für mich sichtbar zu machen und zu erinnern, und ich bin gezwungen, ihn stückweise wiederzusuchen und wiederzuholen, zu wiederholen" [ H Z N , 9 ] .
Die Wiederholung des Zitierten ist hier als Wahn eines körperlichen Aneignungsprozesses dargestellt. Doch obwohl die Wiederholung im Text ein strukturierendes Verfahren bedeuten könnte, welches eine Vertrautheit in der Begegnung mit bereits Gelesenem erzeugen würde, ist dies nicht der Fall. Die Wiederholung, die in der antiken Rhetorik mehrfach besprochene Redefigur ist, hat in ihrer intrikaten Einfachheit der Doppelung immer wieder Interesse geweckt.408 Die neueren Arbeiten beziehen sich fast alle auf Gilles Deleuzes Difference et Repetition (1968), welches in einer Nachlese der Wiederholung in Literatur und Philosophie eine für die sechziger Jahre neue Leseweise entwickelte. In einer Lektüre von Kierkegaard und Nietzsche wird deutlich, dass dort die Wiederholung weder auf einem Original fundiert, welches kopiert wird, noch dass ein Ursprung zu eruieren ist, der die Wiederholung antizipiert. Deleuzes Lektüre hebt hervor, dass Nietzsches Vorstellung der ewigen Wiederkehr des Gleichen nicht einen zyklischen einem linearen Zeitbegriff gegenüberstellt.409 Nicht in der Logik des 408 Bruno Duborgel, Figures de la Repetition, 1992; Rene Passeron, Creation et Repetition, 1982; Antoine Compagnon, La seconde main ou le travail de la citation, 1979. 409 Siehe dazu den Aufsatz von Wolfram Groddeck, Vom Gesicht und Räthsel·. Zarathustras physiognomische Metamorphosen, in: Ders., Physiognomie und Pathognomic, zur literarischen Darstellung von Individualität, 1994.
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Gleichen, des Ersten oder einer Verdoppelung des Selben ist die Wiederholung nach Deleuze zu bestimmen, sondern ausschliesslich als Implikation von Differenz zu diskutieren. Ausserhalb von Identifikationsmustern ist die Wiederholung zu betrachten, wie die Negation in der folgenden Prämisse deutlich macht: „la repetition est la difference sans concepte" 410 . Die Wiederholung ist nicht austauschbar, sondern verfügt je über eine Einzigartigkeit, eine „singularite" in der Differenz 411 . Deleuze greift die alte Opposition von lyrischer und wissenschaftlicher Sprache auf412, wonach letztere, der L o gik der Repräsentation entsprechend, ersetzt werden könne, im Gegensatz zur lyrischen Sprache, die sich nicht ersetzen, nur wiederholen lasse - auswendig, nachgesprochen. 413 Die Wiederholung widersetzt sich nach Deleuze dem Konzept der Repräsentation, das auf der Identität, dem Selben, Analogen und Aehnlichen beruht. E r führt mit einer Konfrontation von Kierkegaard und Nietzsche in sein Buch ein, wobei in gleichem Mass die Bedeutung herausgearbeitet wird, die deren Philosophie der Sprache der Wiederholung einräumen, wie auch die Verschiedenheit ihres Denkens deutlich wird. Auf einen Aspekt in der Diskussion von Nietzsches Begriff der „ewigen Wiederkunft" sei hier hingewiesen: Im Zarathustra wird nach Deleuze die „ewige Wiederkehr" als „dritte Zeit" verstanden. Sie ist nicht als der eine Pol der Opposition von linearer und zirkulärer Zeit, antiker und moderner Zeit zu verstehen 414 , sondern Nietzsche fasst sie im Bild einer Geraden, mit gegenläufigen Richtungen, an deren Ende sich ein dezentrierter Kreis bildet415. Die Diskussion der Wiederholung bedingt und evoziert eine Diskussion der Zeit. Im Passagenwerk formuliert Walter Benjamin eine Kritik an Nietzsches Begriff der „ewigen Wiederkehr" und gelangt in einem dialektischen Schritt zu einem ähnlichen Bild für die „historische Zeit", wobei deutlich wird, dass Benjamin die „ewige Wiederkehr" mit der zirkulären Bewegung gleichsetzt: „Der Glaube an den Fortschritt, an eine unendliche Perfektibilität - eine unendliche Aufgabe in der Moral - und die Vorstellung von der ewigen Wiederkehr sind komplementär. Es sind die unauflöslichen Antinomien, angesichts deren der dialektische Begriff der historischen Zeit zu entwickeln ist. Ihm gegenüber erscheint die Vorstellung von der ewigen Wiederkehr als eben der ,platte Rationalismus' als der der Fortschrittsglaube verrufen ist und dieser letztere der mythischen Denkweise ebenso angehörend wie die Vorstellung von der ewigen Wiederkehr." 4 ' 6
410 411 412 413 414 415 416
Deleuze, Difference et Repetition, 1968, S. 36. Ebd. S. 7. Deleuze 1968, S. 8 bezieht sich auf Pius Servien: Principes d'esthitique, 1935. Die Ubersetzung müsste demnach die Qualität der Wiederholung besitzen. Deleuze, Difference et Repetition, 1968, S. 328. Ebd. S. 381; Nietzsche, Zarathustra, III, „Vom Gesicht und Räthsel", 2. Benjamin, Ges. Schriften, V,I; D10a,5; S. 178.
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Aus der Komplementarität soll dialektisch ein Drittes hervorgehen, welches Linearität und Zirkularität beinhalten würde. Die Verbindung von Linearem und Zirkulärem, von Bewegung und Stillstand, fasst Benjamin im „dialektischen Bild". Für die Wiederholung in diesem Kontext, welcher Wiederholung als Form der Aneignung thematisiert, scheint mir die Feststellung der Differenz im Gestus der Wiederholung zentral. Mayröckers Text stellt Wiederholung nicht nur als Aneignungsprozess dar, sondern auch als Mittel, Bildlichkeit im Text zu installieren. „ich lasse Luft an die Sätze, wenn ich Wiederholungen anbringe. Sie stehen dann steif wie gestärkt [...] Ich schlage Luft in das Zeug, wiederhole meine Sätze, mache sie sichtbarer so, stärker, gestärkter." [SL, 19] Sichtbar und erinnerbar sollen die Texte durch die Wiederholung werden. Der Verweis auf ein optisches Paradigma, der Ubergang vom Sprechen zum Sehen, ist zugleich Verweis auf den Titel des Buches Stilleben. Die Bildqualität, die der Text durch die Wiederholung erhalten soll, beinhaltet aber das Moment der Bewegung: „Ein stilles Leben, nichts regt sich. So ist es gemeint, sage ich. Ein Bild starr wie ein Leguan" [SL, 215], und dieser ist wiederum lesbar als das „Bild der erstarrten Unruhe"417. Das Moment des Innehaltens trägt das der Bewegung in sich. In mein Herz mein Zimmer mein Name heisst es: „das Gefühl einer ungeheuren Beschleunigung der Zeit mitten in ihrem Stillstand, also ein Bewegen mit Ruhe gepaart, also eine Zeitbeschleunigung gleichzeitig Zeitverhaltung, manche Szenen, sage ich, wiederholen sich wie von selbst [...] diese mehreren Szenen scheinen sich immer wieder wiederholen zu wollen" [ H Z N , 27].
Benjamins Konzept der Bewegung im Stillstand, das hier mitangesprochen ist - Benjamin wird an anderer Stelle im Text erwähnt418 - sei hier nicht weiter aufgegriffen, wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass die Bildqualität dort keine Anschaulichkeit impliziert419. Die Bildqualität stellt vielmehr eine Funktion der Lesbarkeit dar. Die Sichtbarkeit des wiederholten Zitats, von der in Mayröckers Text die Rede ist, kann demnach als Qualität des Zitats schlechthin, nämlich als Gelesenes aufgefasst werden. Der Vorgang des Abpausens, Abschreibens oder Zitierens geschieht unter der Voraussetzung der Lektüre, welche sich als Konstituierung des Schreibens erweist. 417 Benjamin, Ges. Schriften, 1,2, S. 666. Siehe auch Adornos Bezeichnung der „erstarrten Erwachens" für die selbstreflexiven Bilder des Surrealismus. Dazu Konersmann, Der Schleier des Timanthes, 1994, S. 255. 418 Mayröcker, Stilleben, S. 170. 419 Dies verdeutlicht Bettine Menke in ihren Überlegungen zum Zitat bei Walter Benjamin: Das Nach-Leben im Zitat: Benjamins Gedächtnis der Texte, In: Haverkamp / Lachmann, Gedächtniskunst: Studien zur Mnemotechnik, 1991.
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Fremd und eigen Das Abschreiben wird als „Aneignung" bezeichnet: „habe ich nicht [...] alles eingesogen in mich". Die Lektüre scheint ein Aneignungsprozess zu sein, bei dem das fremde Objekt vom Subjekt „eingesogen" wird, einverleibt. Die Metaphorik des Einverleibens deutet, wie bereits der „Körperwahn", auf eine biologische Auffassung von Aneignung von Fremdem zugunsten der Identität eines Subjekts hin, welches sich von angeeignetem Fremdem ernährt. Die Problematik der Körpermetaphorik, die den Vorgang des Aneignens als einen Verdauungsakt, einen Akt physischer Umwandlung von körperfremder in körpereigene Substanz begreift, ist evident. Für die Begriffsgeschichte von „Assimilation", „fremd" und „eigen", sei auf den Artikel von Axel Horstmann im Archiv für Begriffsgeschichte verwiesen420, der „Assimilation" als hermeneutischen Begriff, als Begriff für Verstehen und Interpretation kritisiert. Es stellt sich ferner die Frage, inwieweit ein Konzept, das zwischen dem „Fremden" und dem „Eigenen" unterscheidet, auf eine Körpermetaphorik verzichten kann, oder ob nicht die Opposition von „fremd" und „eigen" grundsätzlich ein Konzept, eine Setzung ist, welche in der Unterscheidung von Körpergrenzen und damit auch in biologischer Metaphorik gründet. Mayröckers Textpassage bringt dieses Begriffspaar ins Spiel, allerdings erweist sich hier das Fremde als unverdaulich. Wird, wie obiges Zitat behauptet, „Fremdes als Eigenes ausgewiesen", so geschieht mit dem Ausweisen sowohl ein Akt der Identifizierung wie auch zugleich ein Akt des Ausweisens, Exterritorialisierens, Ausgrenzens. Gerade die dafür bedeutsame Körpergrenze wird überschritten und verliert ihre Wirksamkeit. „Fremdes als Eigenes ausweisen" bedeutet einen Ersetzungsakt, welcher der metaphorischen Substitution mit umgekehrtem Vorzeichen entspricht. Statt der Verstellung eines „Primären", „Eigentlichen" in den „uneigentlichen" Ausdruck wird hier behauptet, das Eigene wäre entstelltes Fremdes, das heisst Fremdes, dem das Gesicht des Eigenen verliehen würde. Dieses demnach bloss scheinbar Eigene hüllt sich ins Gewand des Authentischen, ist somit „falsch", wie es heisst, während es nackt besehen, sich als nicht-Eigenes, Fremdes erweisen würde, oder eben als ausgegrenztes Eigenes. Auf die Körpergrenzen ist kein Verlass, und damit ist die Körperlichkeit selbst, welche die Unterscheidung von Eigenem und Fremdem garantieren würde, tangiert und lediglich noch „Körperwahn". Das Subjekt der Rede und des Schreibens hält sich zwar im Text auf, fasst diesen jedoch ins Bild des Laby-
420 P e r Aufsatz von Axel Horstmann gibt eine ausgezeichnete Begriffsklärung: Das Fremde und das Eigene: ,Assimilation' als hermeneutischer Begriff, Archiv für Begriffsgeschichte 30,1986/87, (1989), S. 7 ^ 3 .
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rinths, in dem es sich verliert: „Verlaufe mich in Gedankengängen, -Verliesen, nicht überschaubar, Fetzen, Pfützen, verleimte Fragmente, Auflösung von den Rändern her" [SL, 19]. Keine Rede von auktorialem, überblickendem Standpunkt des Ich in diesem Collage-Labyrinth. Das Ich scheint darin unterzugehen. Zumindest das Wort „Ich" wird am Anfang des Satzes weggelassen, in einer Ellipse. Übrig bleibt das Reflexivpronomen „mich". Explizit wird diese Spaltung der Instanz, die für das Eigene stehen müsste, formuliert, wenn es im Zitat aus Mein Herz mein Zimmer mein Name heisst: „habe ich nicht, neben mir selber stehend, alles eingesogen in mich". An anderer Stelle in Stilleben wird ein nun bekanntes Zitat aus Max Emsts La femme 100 tetes wiederaufgenommen: „Uber bestimmte Dinge werden wir nie Gewissheit erlangen, sage ich, ich schreibe dass ich schreibe: Kopfbuch / Kopierbuch zu Füssen, zwei tote Mücken als Morgengruss auf dem Frühstückstisch, W I R R W A R R M E I N E S C H W E S T E R , wie soll wie kann ich je wissen was wo ich selber bin - eine Figur deren Kopf wegapostrophiert ist, usw." [SL, 175].
Die Selbstbefragung des Ich findet im Wortmaterial eines Zitats statt. Die aus Max Ernst zitierte Figur wird zum Ich. Mit der Enthauptung verliert das Ich das Gesicht: Keine Selbstbehauptung der Autorinstanz wird hier manifest, sondern die Reflexion auf eine Existenz als Figur, persona, also Funktion des Textes. Hier allerdings nicht Funktion des eigenen Textes, sondern, wie gezeigt, als Zitat aus Freuds Traumdeutung. Die Figur kann aber auch als Redefigur gelesen werden, deren Kopf oder Mund durch das Auslassungszeichen, ein stummes aber sichtbares Schriftzeichen, „wegapostrophiert", gestrichen wird. Oder aber die Figur weicht den Apostrophen, den Guillemets als Verweis auf den Zitiervorgang. Die Selbstreflexion der Ich-Stimme in Mayröckers Text, ihre Sehnsucht nach einem Konzept „echter", das heisst vom Text befreiter Autorschaft, das ab und zu laut wird, und die Uberforderung der Figur, einen solchen Text zu bewohnen, ist mit ihrer Existenz als Zitierter verbunden. Die Präsenz der Lektüre, die der Stimme jeweils vorangegangen ist, wendet die Frage nach dem wie zu VERSTEHEN sei in ein WIE zu verstehen sei: „nichts Schöneres, Befriedigenderes lieber Wilhelm kann mir geschehen, als die Vorstellung, dass abgeschrieben
würde aus meinen Büchern".
[ H Z N , 25]
Zitat heisst Wiedergelesenes. Die Spur der vorangegangenen Lektüre, die das Bild auszeichnet, evoziert die Lektüre oder, personifizierend, die Leserin, den Leser. „Sage ich" zitiert die Stimme in Mayröckers Text sich selbst und hört sich selbst. Der Text inszeniert eine sprunghafte Auseinandersetzung zwischen Autorschaft und Lektüre und hebt diese Instanzen aus den
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Angeln.421 Lesen und Schreiben stehen nicht mehr in einem Konkurrenzstreit zwischen Instanzen, die Autorität beanspruchen. Die Grenze selbst zwischen Lesen und Schreiben ist offen gehalten, ein möglicher Ort für eine mögliche Autorschaftsposition wird nicht aufgesucht, sondern immer wieder kurz angedeutet und wieder entzogen. Lektüre wie Autorschaft sind depersonalisiert. Jede Hermeneutik, die sich im entweder-oder von Lektüre und Schrift orientiert, muss hier am radikalen Entzug der Instanzen scheitern. Die Verabschiedung dieser Instanzen wirft die Frage nach dem wie lesen auf eine grundsätzliche Ebene. Die Austauschbarkeit führt zur Frage nach der Funktion, nach dem Gebrauch der Texte. Wo steht die Leserin, der Leser diesen Texten gegenüber? Die unterschiedliche Gestaltung der Frage nach der Autorschaft der hier besprochenen Texte sollte deutlich geworden sein. Eine Gemeinsamkeit besteht allerdings in dieser Auswahl: Es sind Texte, für die die Konstellation Autorschaft - Werk - Rezeption komplex ist und eine Auseinandersetzung herausfordert. Mayröckers Texte realisieren diese Exponiertheit der Konstellation am radikalsten. Die Position gegenüber ist nicht vorgesehen, sie ist weit draussen und mitten drin. Insofern weist der Befund in eine den elektronischen Medien vergleichbare Richtung. Mit konkreten, aber nicht weniger komplexen ökonomisch-rechtlichen Problemen wie der Urheberschaft, des Copyrights, des Datenschutz, irrt der Gebrauch von Texten und Informationen zwischen lesen und schreiben. Das Problem der Singularität, der Individualität, wird in radikaler Weise ins Provisorium verwiesen. Auf welche Suche begibt sich eine Auseinandersetzung mit Autorschaftsfiguren? Diese Auseinandersetzung bedeutet die Diskursivierung schon immer geschichtlicher Konzepte. Damit ist grundsätzlich eine emanzipative Möglichkeit gegeben. Dass das Thema Autorschaft in Literatur und Kunst gegenwärtig auf Interesse stösst, ist meines Erachtens mit der Problematisierung möglicher Ordnungsprinzipien in der technologischen und ökonomischen Entwicklung verbunden. Autorschaft, und damit Signatur und Handschrift, ist Teil der Konstellation, in welcher Herstellung, Produkt und Gebrauch voneinander abgegrenzt und zueinander in ein bestimmtes Ordnungsverhältnis gesetzt werden. Die Lokalisierbarkeit von Autorschaft und damit ihre Behaftbarkeit würde eine Zuordnung der Rollen bedeuten, die sich wiederum auf bestimmte Konzepte zu beziehen hätte. Benjamins Kunstwerkaufsatz argumentierte mit der technischen Reproduzierbarkeit gegen die faschistische Ideologie. Die eminent emanzipative Ausrichtung
421
„Toute lecture est une prise ä partie qui annule [l'ecrivain] pour rendre l'oeuvre ä sa presence anonyme, ä l'affirmation violente, impersonnelle qu'elle est" schreibt Maurice Blanchot in L'Espace litteraire, 1955, S. 254.
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der Reproduzierbarkeit, wie er sie konzeptualisiert, hat sich verschoben. Der Klon, der bereits in Sichtweite ist, wirft die Konstellation neu auf. Wird die Aufhebung der Instanzen zum Katastrophenbericht, der im nicht-mehrProvisorium Klon seine letzte Niederschrift findet? Will man überhaupt hinhören, wenn sich ein Wissenschafter zu den Fragen äussert wie: „Finally, could humans evolve into a symbiosis with technology and become one [a robot]?" Und „In particular [...] will ,Γ exist in the future?"/ 22 Und was geschieht, wenn der Klon, wie Rousseaus Galathee, „ich" sagt? Die Reaktionen auf die technologische Entwicklung machen deutlich, dass das Denken der Konzeptualität von Identität, von „Autorschaft", „Ich", „Frau" und „Mann", nach rückwärts erträglicher erscheint als nach vorwärts. Von einem Punkt aus zurück in die Vergangenheit betrachtet, scheint diese Konzeptualität deshalb erträglicher, weil Entwicklung emanzipative Veränderbarkeit suggeriert. Das Denken ihrer Konzeptualität in die Zukunft hingegen heisst, unbekannte Formen von „Autorschaft" bzw. von „Mutter", „Vater", „Kind" in Betracht zu ziehen, deren emanzipative Ausrichtung sich auf kein Konzept bezieht. Gerade in dieser abenteuerlichen Auseinandersetzung mit bestimmten Wissenschaften und ihrer Medialisierung, die sich auf der Grenze von science und fiction befinden, wird deutlich, dass Autorschaftskonzepte und -figuren als Referenz und Legitimation weiter tradiert werden. Man erinnere sich an die Wiederbelebung Faustischer Autorschafts-Gelüste, wie sie einem aus den Bildern von „Schaf Dolly mit Vater" entgegenkamen. Eine Lektüre der Funktion Autorschaft in der Medialisierung und Selbstdarstellung der neuesten Biotechnologien wäre zu unternehmen, die vielleicht eine Benennung und Verdeutlichung ihrer Legitimationsproblematik und Legitimationsstrategien über die Lektüre ihrer mythischen und kulturellen Bilder leisten könnte.423 Es wäre zu beschreiben, welchen Autorschaftskonzepten und mit welchen Autorschaftsfiguren die Weiterentwicklung dieser Formen der Reproduzierbarkeit ihre Sehnsucht nach dem Werk legitimiert.
422 So lauten unter anderem die Fragen die der Medienstar Kevin Warwick, Professor für Cybertechnology an der University of Reading, England, gesponsert von Glaxowellcome und Channel 4, anlässlich seiner Vorträge an den Christmas Lectures at the Royal Institution im Dezember 2000 sich und seinem Publikum beantwortete. www.ri.ac.uk/Christmas/2000/details2000.html 423 Ein Beitrag in diese Richtung ist das Buch von Manfred Geier, Fake: Leben in künstlichen Welten, 1999.
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URSULAPLATZ I, D - 5 0 6 6 8 KÖLN, T E L E F O N ( 0 2 2 1 ) 9 1 3 9 0 0 , FAX 9 1 3 9 OH
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Germanistik Timo Reuvekamp-Felber Volkssprache zwischen Stift u n d H o f Hofgeistliche in Literatur und Gesellschaft des 12. und 13. Jahrhunderts (Kölner Germanistische Studien, N.F., Band 4) 2003. VIII, 414 S. Br. € 44,90/SFr 74,ISBN 3-412-17602-8 Das Buch beschreibt die Rollen, in denen Hofgeistliche in der volkssprachlichen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts als Seelsorger, Erzieher, Arzte, Vermittler von Schriftlichkeit usw. erscheinen. Eine feste Gruppe von Kaplänen oder Kanzleibeamten gab es nicht, Kleriker im Umkreis des Herrschers waren immer zugleich in eine geistliche Institution wie Stift, Domkapitel oder Pfarrei eingebunden. Ralf G. Päsler Deutschsprachige Sachliteratur im P r e u ß e n l a n d bis 1 5 0 0 Untersuchungen zu ihrer Überlieferung (Aus Archiven, Bibliotheken und Museen Mittel- und Osteuropas, Band 2) 2003. 452 S. Gb. € 44,90/SFr 74,ISBN 3-412-15502-0 Anhand der mittelalterlichen Sachliteratur gelingt es dem Verfasser, neben der dominierenden Institution des Ordens auch die vernachlässigte Region sichtbar zu machen sowie Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Literaturbetriebs hervortreten zu lassen. Die Produktion von Rechtsbüchern, die den Schwerpunkt der (sach-)literarischen Überlieferung des Preußenlandes ausmacht, wurde besonders von den Städten betrieben.
Mathias Mayer (Hg.) Kulturen der Lüge 2003. V, 320 S. Br. € 32,-/SFr 53,40 ISBN 3-412-05603-0 Das Buch bietet neue Einblicke in ein ebenso altes wie aktuelles Thema. Ist aus der Sicht der Theologie die Wahrheit der unbedingt höchste Wert? Welche Mittel setzt der Staat ein, um andere der Lüge zu überfuhren, und inwieweit darf er sich dazu selbst der Lüge bedienen? Wie funktionieren Lügendetektoren? Lügen die Dichter immer oder kommt es nur darauf an, dass wir das Falsche lesen und damit das rechte Leben versäumen? Und können Computer lügen?
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