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German Pages [423] Year 2021
Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien
Band 27.2
Herausgegeben von Carsten Gansel und Stephan Pabst Reihe mitbegründet von Hermann Korte
Carsten Gansel / Katrin Lehnen / Vadim Oswalt (Hg.)
Schreiben, Text, Autorschaft II Zur Narration und Störung von Lebens- und Schreibprozessen
Mit 9 Abbildungen
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Torsten Nitsche/Plaaz Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-6304 ISBN 978-3-7370-1339-0
Inhalt
Carsten Gansel / Katrin Lehnen / Vadim Oswalt Schreiben als Reflexions- und Inszenierungsgegenstand. Vorbemerkungen zur Konzeption der vorliegenden Bände
. . . . . . . .
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Carsten Gansel Autorschaft, Schreiben und das Erzählen von Geschichten zwischen Schreibrausch und Schreibstörung. Statt einer Einleitung . . . . . . . . .
15
I. Autorschaft – reflektieren und narrativieren Anna Baccanti »Cursed, cursed creator!« – Autorschaft zwischen Autonomie und monströser Schöpferkraft in Mary-Shelley-Filmen . . . . . . . . . . . . .
39
Lea Reiff »A Cruel, Cruel, Capricious God« – Chuck Shurley als Autor, Gott, Prophet und transmediale Vermittlungsinstanz . . . . . . . . . . . . . . .
63
Simon Sahner Live-Archive und fluide Paratexte – Twitter als inszenierbares Notizbuch für Schriftsteller*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
87
Amelie Meister »Ich bin Schriftsteller« – Autorgenese und Selbstwirksamkeit in Wolfgang Herrndorfs »Arbeit und Struktur« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Stephanie Willeke Schriftstellerische Inszenierungspraktiken und autofiktionale Schreibreflexionen im Weblog »Turmsegler« von Benjamin Stein . . . . . 131
6
Inhalt
Rita Rieger Zur Inszenierung kooperativer Autorschaft – Imperative künstlerisch-wissenschaftlicher Schreibszenen in Anne Teresa De Keersmaekers und Bojana Cvejic´s »A Choreographer’s Score« . . . . . . . 159 Urania Milevski Von der Schreibszene zur Streitszene – Rekonstruktion(en) von Schreibprozessen bei Arno Holz und Johannes Schlaf . . . . . . . . . . . 183 Gesa Singer Autorreflexion und Herausgeberfiktion – Inszenierte Autorschaft bei Sevgi Özdamar und Abbas Khider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Anastasia Keppler Elfriede Jelinek – Die Schriftstellerin als Parasit . . . . . . . . . . . . . . . 223 Christina Rossi Von der reflektierten Autorschaft zur Autoreflexivität – Daniel Kehlmanns Erzählung »Du hättest gehen sollen« als Prosa über poetologische Diskursivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
II. Schreibstörung – Schreibblockade – Schreibfluss Nadine Bieker / Kirsten Schindler Wenn Autorinnen Kinder bekommen – Mutterschaft als Schreibblockade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Yuuki Kazaoka Ingeborg Bachmanns Gedichtfragment »Narrenwort« – Zur lyrischen Thematisierung der Schwierigkeit mit dem literarischen Schaffen . . . . . 275 Hans-Joachim Schott Schreiben als Widerstand gegen den Tod – Elias Canetti über Beruf und Berufung des Dichters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Carsten Gansel Schreibblockade und Hypnose – Wie Heinrich Gerlachs Roman »Durchbruch bei Stalingrad« (1945/2016) neu entstand und zur »Verratenen Armee« wurde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
Inhalt
7
Hans-Christian Stillmark »Mommsens Block« – eine Schreibstörung bei Heiner Müller . . . . . . . 335
III. Gespräche über das Schreiben Carsten Gansel / Gerhard Wolf »Wir haben ja laufend über unsere Arbeit gesprochen« – Ein Gespräch über »Herzenssachen« und wie jemand seinen Weg findet . . . . . . . . . 353 Carsten Gansel / Irina Liebmann »Wir haben uns sehr viel abverlangt, aber die Umstände auch« – Ein Gespräch über das Erzählen und wie ein »dreidimensionales Bild« entsteht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Beiträgerinnen und Beiträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415
Carsten Gansel / Katrin Lehnen / Vadim Oswalt
Schreiben als Reflexions- und Inszenierungsgegenstand. Vorbemerkungen zur Konzeption der vorliegenden Bände
Schreiben und Schreibenkönnen genießen über einen langen historischen Zeitraum ein kulturell hohes Ansehen. Die Fähigkeit des Schreibens gilt als Ausweis von Klugheit und Kreativität und ist – nicht nur in der sogenannten »Geniezeit« und der als »Sturm und Drang« klassifizierten Epoche – mit Vorstellungen von Genialität und Einzigartigkeit verknüpft. Die besondere Reputation, die dem Schreiben von literarischen Texten in historischer Perspektive zukam, führt seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zur Ausdifferenzierung eines eigenen Handlungs- und Symbolsystems Literatur, das von der literarischen Produktion über die literarische Distribution bis hin zur Rezeption und Verarbeitung reicht. Die Bedeutung des Schreibens zeigt sich bis in die Gegenwart – trotz der nicht mehr unumstrittenen Hochachtung – nach wie vor in einer stark ausgebauten Wertschöpfungskette, zu der in Deutschland immerhin um die 1100 Literaturpreise gehören.1 Es ist nicht überraschend, wenn unter diesen Bedingungen das Schreiben Gegenstand von Selbstreflexion in vielfacher Hinsicht ist: In den literarischen Produkten selbst, in Selbstzeugnissen, Schriftstellerbiografien oder Autobiografien, in Tagebüchern, Briefen, Interviews und Nachlässen, die mehr als andere Quellen einen Einblick in Alltagsbegebenheiten und Erfahrungen, Empfindungen und Gedanken von Menschen geben. In derartigen Texten machen Autorinnen und Autoren das Schreiben und die Textproduktion zum Gegenstand der (Selbst-)Reflexion und verleihen dem Schreiben damit bewusst oder unbewusst einen besondere Konnotation.2 Diese Selbstthematisierung des Schreibens findet sich auch bei literarisch ungeschulten Verfasserinnen und
1 Siehe: Mehr Literaturpreise, mehr Wettbewerb, mehr Publikumsbeteiligung. In: das Börsenblatt. Das Fachmagazin der Buchbranche, 10. Dezember 2019 (https://www.boersenblatt.net/ar chiv/1775994.html, letzter Zugriff: 24. 03. 2021). 2 Gansel, Carsten: Demokratisierung der Genies oder Von der moralischen Instanz zum Popstar – Zu Fragen von Autorschaft zwischen Vormoderne und Mediengesellschaft. In: Gansel, Carsten/ Enslin, Anna-Pia (Hrsg.): Literatur – Kultur – Medien. Facetten der Informationsgesellschaft. Festschrift für Wolfgang Gast. Berlin: Weidler Buch Verlag, S. 243–271.
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Carsten Gansel / Katrin Lehnen / Vadim Oswalt
Verfassern, wenn sich diese über den Sinn des Schreibens Rechenschaft ablegen und so den Überlieferungscharakter Ihrer Textproduktion markieren. Betrachtet man die Zeugnisse über das Schreiben, dann zeigt sich, dass diese Tätigkeit bzw. Handlungsrolle ganz unterschiedliche Funktionen haben kann. Dazu gehören expressive oder entlastende Funktionen, wenn es etwa um die Auseinandersetzung mit existenziellen Krisensituationen geht oder um die Verarbeitung von Kriegstraumata, die sich in literarischen Texten ebenso manifestieren können wie in Feldpostbriefen. Auch geheime Tagebücher in Zeiten politischer Unterdrückung können eine für das Individuum entlastende Rolle spielen. Das Schreiben kann epistemische Funktionen erlangen, wenn es zur Hervorbringung von neuen Zusammenhängen und Erkenntnissen und zur Entfaltung neuer Lebenswirklichkeiten kommt3. Biografische Funktionen ergeben sich durch die Reflexion und Vergewisserung über das eigene Dasein im Allgemeinen wie das literarische Handeln und seine kulturelle Bedeutung im Besonderen. Außerhalb dieser auf Authentizität im weiteren Sinne gerichteten Formen der Auseinandersetzung mit dem Schreiben, ist die literarische Produktion und die damit in Zusammenhang stehende Rolle von Schriftstellerinnen und Schriftstellern selbst Gegenstand von Roman-, Film- oder Drehbuchhandlungen.4 Dabei kann das Schreiben im Zentrum der Darstellung stehen wie in sogenannten Biopics oder Romanen und Filmen, die einen Schriftsteller/ Schreiber zum Protagonisten machen – etwa der Film »Barton Fink« (1991) von den Coen-Brüdern, Stephen Kings Roman »Shining« (1977) und die Verfilmung von Stanley Kubrick aus dem Jahre 1980 oder Pascal Merciers Roman »Perlmanns Schweigen« (1995). Es kann bei der Inszenierung von Schreibprozessen aber auch um Nebenhandlungsstränge gehen wie bei den amerikanischen TVSerien »Sex and the City« (seit 1998) oder »Californication« (2007–2014). Häufig wird das Schreiben in literarischen und filmischen Arrangements im weitesten Sinne als ein expressives Schreiben erfasst, wobei Schreibflowerlebnisse ebenso eine Rolle spielen wie Schreibblockaden. Auf diese Weise wird dem Schreiben einmal mehr eine spezifische Qualität des individuellen Ausdrucks und des Schöpferischen verliehen. Allerdings – dies muss notiert werden – hat die Darstellung von Schreib- und Erkenntnisprozessen in der literarisch-filmischen Inszenierung oftmals wenig mit dem zu tun, was über das (reale) Schreibprozesse 3 Molitor-Lübbert, Sylvie: Schreiben und Denken. Von intuitiven zu professionellen Scheibstrategien. Wiedbaden: Westdeutscher Verlag, 2002, S. 47–62. Eigler, Gunther/ Jechle, Thomas/ Merziger, Gabriele/ Winter, Alexander: Über Beziehungen von Wissen und Textproduzieren. In: Unterrichtswissenschaft 15, 1987, 382–395. 4 Vgl. etwa: Lehnen, Katrin/ Schindler, Kirsten: ›Schreib’ um Dein Leben‹ – Filmische und literarische Schreibepisoden als didaktische Lehrstücke. In: Schreibzentrum der Ruhr-Universität Bochum (Hg.): ›Aus alt mach neu‹ – schreibdidaktische Konzepte, Methoden und Übungen. Festschrift für Gabriela Ruhmann. Bielefeld: UVW 2017, S. 137–158.
Schreiben als Reflexions- und Inszenierungsgegenstand
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bekannt ist, was Autorinnen und Autoren oftmals in Gesprächen und Interviews betonen.5 Die Orte, Räume oder Rituale des Schreibens sind – anders, als dies in der Realität der Fall ist – ganz bewusst mit Blick etwa auf das Medium Film inszeniert.6 Mit der weitreichenden Digitalisierung nahezu aller Gesellschaftssysteme haben sich auch für die Literatur die Praktiken des Schreibens und des Nachdenkens über die Textproduktion verändert. Das betrifft die Verfahren der Textproduktion (Automatisierung, KI), die Formate des Schreibens (Twitter, Blogs, Foren) ebenso wie daran gekoppelte Formen der Interaktion, Vernetzung und Publikation. Daraus resultieren für die Wissenschaft umgekehrt ebenfalls Umbrüche in der literatur-, sprach- und geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Literatur und anderen Artefakten und der genutzten Methoden der Analyse und Aushandlung, deren Beschreibung erst angefangen hat.7 Die kognitive, historische und gesellschaftliche Rolle und Bedeutung des Schreibens und die ihm eigenen Prozesse und sozialen Bedingungen sind zwar immer wieder Gegenstand unterschiedlicher Forschungsdisziplinen wie der Literatur-, Sprach-, und Geschichtswissenschaft wie auch Psychologie, Soziologie oder Theologie gewesen, aber eher wenig wurde danach gefragt, wie diese Handlungsrolle des Schreibens in unterschiedlichen kulturellen Kontexten thematisiert, reflektiert, inszeniert und medienspezifisch entfaltet wird. Mit den Beiträgen der beiden Bände, die im Kern auf eine interdisziplinäre Tagung unter dem Titel »Schreiben, Text und Autorschaft – Zur Thematisierung, Inszenierung und Reflexion von Schreibprozessen in ausgewählten Medien und historischen Selbstzeugnissen« im Februar 2020 am Zentrum für Medien und Interaktivität (ZMI) der Justus-Liebig-Universität Gießen zurückgehen, wird der Versuch unternommen, in interdisziplinärer Perspektive den besonderen Arrangements und Inszenierungen des Schreibens wie jenen von Autorschaft nachzugehen. Mit anderen Worten, es geht um unterschiedliche Aspekte des Schreibens als Reflexionsmedium und Inszenierungsgegenstand insbesondere aus der Sicht der Literatur- und Sprachwissenschaft sowie der Geschichtswissenschaft. Dabei 5 Siehe beispielsweise: Carsten Gansel – Literatur im Dialog. Gespräche mit Autorinnen und Autoren 1989–2014. Herausgegeben und mit einer Einleitung von Norman Ächtler. Berlin: Verbrecher Verlag 2015. 6 Zur Rolle von Arbeitsplätzen oder Schreib-Räumen siehe: Lehnen, Katrin/ Schindler, Kirsten: Orte, Räume, Rituale. Erkundung von Schreibtischen und Arbeitsplätzen als Teil der Schreibforschung. In: Decker, Lena/ Schindler, Kirsten (Hrsg.): Von (Erst- und Zweit-)Spracherwerb bis zu (ein- und mehrsprachigen) Textkompetenzen, KoeBes (Kölner Beiträge zur Sprachdidaktik, herausgegeben von Michael Becker-Mrotzek, Jörg Jost, Thorsten Pohl und Kirsten Schindler). Duisburg: Gilles & Francke 2019, S. 225–248. 7 Vgl. Hitzke, Diana: Digitaler Habitus in der Gegenwartsliteratur. In: Langenohl, Andreas /Lehnen, Katrin /Zillien, Nicole (Hrsg.): Digitaler Habitus. Zur Veränderung literaler Praktiken und Bildungskonzepte. Frankfurt a.M.: Campus (im Erscheinen).
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Carsten Gansel / Katrin Lehnen / Vadim Oswalt
werden nachfolgend mit unterschiedlicher Akzentsetzung u. a. folgende Aspekte in den Blick genommen:
I.
Allgemeine Grundlagen des Schreibens
Schreiben als Kulturtechnik, künstlerische Reflexion über das Schreiben als Reflexion über Kultur; Schreiben als Mittel der Selbstreflexion; ausgewählte Gattungen des Literatursystems, z. B. Tagebücher, Memoiren, Briefe, Notizbücher als werkbiografische sowie historiographische Quellen.
II.
Formen der Inszenierung von Schreibprozessen/Schreibsituationen und Schreiborten
Schreibsituationen als Momente der Fremd- und Selbstreflexion; die künstlerische Inszenierung und das In-Szene-Setzen von Schreibsituationen als Beobachtungen 2. Ordnung in Literatur und Film.
III.
Rekonstruktion von Schreibsituationen/-strategien
Einblicke in Schreibwerkstätten von Autoren (u. a. Schriftsteller, Publizisten, Historiker, Philosophen); Gegenwart (synchron): Interviews, Werkstattgespräche, Raumbegehungen, Orte des Schreibens, Fotographie; Historisch (diachron): ›Poetiken des Beginnens‹, Aspekte der Schreibprozessforschung.
IV.
Formen der Schreibstörung
Auseinandersetzung mit Ursachen für Schreibhemmungen und ihren Folgen sowie deren Reflexion: Schreibblockaden und ihre literarische/filmische Inszenierung; Gründe für das Entstehen einer Schreibblockade (›writers block‹) und ihre Thematisierung. Die Beiträge werden mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung in zwei Bänden versammelt. Band I mit dem Titel »Schreiben, Text, Autorschaft – Zur Inszenierung und Reflexion von Schreibprozessen in medialen Kontexten« fokussiert Aspekte der Selbstverständigung und Selbstvergewisserung über das Schreiben und den Produktionsprozess bei verschiedenen Autorinnen und Autoren und fragt nach Praktiken medialer Inszenierung. Im Band II mit dem Titel
Schreiben als Reflexions- und Inszenierungsgegenstand
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»Schreiben, Text, Autorschaft – Zur Narration und Störung von Lebens- und Schreibprozessen« stehen einmal mehr Fragen der Narration und Stilisierung von Schreibprozessen im Mittelpunkt der Betrachtung, wobei besondere Aufmerksamkeit auf Schreiborte, Schreibrituale und Schreibstörungen bzw. -blockaden gelegt wird. Die Bände gehen auf eine Tagung des interdisziplinären Zentrums für Medien und Interaktivität (ZMI) an der Justus-Liebig-Universität in Gießen zurück, die Ende Februar 2020 von der Herausgeberin und den Herausgebern verantwortet wurde. Danken möchten wir Andrea Naumann (Göttingen) für die akribische Durchsicht und Korrektur der Beiträge. Mike Porath und Stephanie Lotzow (Gießen) danken wir für die Mitarbeit an der Gesamtredaktion. Ein besonderer Dank gilt dem Zentrum für Medien und Interaktivität (ZMI), das die Durchführung der Tagung wie auch die Finanzierung der Publikation ermöglicht und großzügig unterstützt hat. Gießen, März 2021
Carsten Gansel
Autorschaft, Schreiben und das Erzählen von Geschichten zwischen Schreibrausch und Schreibstörung. Statt einer Einleitung
1.
Warum schreiben?
In historischer Perspektive wurde vielfach betont, dass das Schreiben als Form von künstlerischer Tätigkeit in hohem Maße an Prozesse der existenziellen Selbstvergewisserung und Legitimation gebunden ist. Es ist daher kein Zufall, wenn in solchen Zusammenhängen immer wieder aus Ingeborg Bachmanns Frankfurter Poetikvorlesung von 1959/60 zitiert wird, in der sie als erste und schlimmste Frage, die sich dem Schriftsteller in der Gegenwart stelle, jene nach der Rechtfertigung seiner Existenz angesehen hat: »Warum schreiben? Wozu? Und wozu, seit kein Auftrag mehr da ist von oben und überhaupt kein Auftrag mehr kommt, keiner mehr täuscht?«, fragt sie. »Woraufhin schreiben, für wen sich ausdrücken und was ausdrücken von Menschen, in dieser Welt?«1 Es handelt sich hier um ein Problem, das sich – betrachtet man nur das 20. und beginnende 21. Jahrhundert – bei so unterschiedlichen Autoren wie Alfred Andersch, Heinrich Böll, Else Lasker-Schüler, Christoph Hein, Wolfgang Hildesheimer, Max Frisch, Martin Walser, Christa Wolf, Volker Braun, Reinhard Jirgl, Julia Franck oder Jenny Erpenbeck findet. Der Impuls »Warum schreiben?« fragt nach dem Autorsubjekt und danach, was den literarischen Schaffensprozess motiviert.2 Es geht letztlich um das Selbstverständnis und das Selbstbild von Autorschaft, um das Verhältnis von »Berufung und Beruf«, letztlich darum, wer ein Schriftsteller bzw. wer ein Dichter ist sowie wann, wie und warum der Autor zum Produzenten wird. Die (positivistische) Biografieforschung war und ist dabei ein 1 Bachmann, Ingeborg: Frankfurter Vorlesungen. Probleme zeitgenössischer Dichtung. In: Ingeborg Bachmann. Werke. Bd. 4. Hrsg. von Christine Koschel/Inge von Weidenbaum/Clemens Münster. München/Zürich: Piper 1978, S. 186. 2 Vgl. dazu nachfolgend bereits Gansel, Carsten: Demokratisierung der Genies oder von der moralischen Instanz zum Popstar – zu Fragen von Autorschaft zwischen Vormoderne und Mediengesellschaft. In: Literatur – Kultur – Medien. Facetten der Informationsgesellschaft. Festschrift für Wolfgang Gast. Hrsg. von Carsten Gansel/Anna-Pia Enslin. Berlin: Weidler 2002, S. 243–271, hier S. 243.
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Carsten Gansel
erster Weg, um der Problematik nahezukommen. Ein zweiter Zugang besteht in der Untersuchung literarischer Schaffensprozesse, ein dritter schließlich in literaturpsychologischen Ansätzen, bei denen sich alles um die Frage dreht, wie ein kreativer Mensch beschaffen ist, um wiederum daraus Anhaltspunkte für die Interpretation seines Werkes zu finden.3 Nun haben sich in den letzten Jahrzehnten allerdings Veränderungen ergeben, die das symbolische Kapital betreffen, das mit dem Schreiben verbunden sein kann. Michael Winter hat noch vor der Jahrtausendwende pointiert-ironisch vermutet, dass »ein Mann«, der etwas auf sich hält, eines nicht mehr tut, nämlich Romane schreiben. Dabei sei dieser Verzicht auf das Schreiben erklärungsbedürftig, denn »das Romaneschreiben galt bisher als harter Job. Seit Generationen haben Männer – und immer mehr Frauen – dafür ihr Leben ruiniert«, so Winter, und er notiert: »Sie haben sich den Zorn ihrer Väter, die Verachtung ihrer Freunde, den Unmut ihrer Arbeitgeber, die Todfeindschaft der Regierungen, den Spott der Verleger und Kritiker und das Mitleid der Frauen zugezogen. Sie haben gehungert und gefroren. Flucht und Verfolgung auf sich genommen, haben für die Literatur auf Maßanzüge und das Urlaubsdomizil im Süden verzichtet. Mancher hat sich das Leben genommen, wenn er sich von der Inspiration verlassen fühlte.«4
Durchaus zutreffend vermutet Michael Winter, dass ein großer Teil der Weltliteratur von »Erfolglosen verfaßt« wurde. Allerdings würden auch die wenigen Erfolgreichen – er nennt Johann Wolfgang von Goethe, Marcel Proust und Thomas Mann – ihren »großbürgerlichen Lebensstil« weniger den hohen Auflagen ihrer Texte verdanken als vielmehr den »vermögenden Familienverhältnissen oder großzügigen Mäzenen«.5 Freilich gebe es auch Literaten, die vor dem Schreiben bereits in anderen Berufen Karriere gemacht hätten, beispielsweise als Ärzte, Offiziere, Politiker oder Reklamechefs. Diese Tätigkeiten wären aber eher sekundär, weil letztlich die Profession des Schriftstellers das Bild der jeweiligen Persönlichkeiten ausgemacht habe. Anders gesagt: Alfred Döblin oder Gottfried Benn verdanken den Ruhm, der sie zu Kanonautoren gemacht hat, nicht ihrer Tätigkeit als Arzt, sondern der Bedeutung ihres literarischen Werkes. Diese Bindung von Autor und Werk werde allerdings – so die zugespitzte Überlegung – am Ende des 20. Jahrhunderts brüchig. Ein Blick auf die neuen Verlagsprogramme zeige nämlich, dass sich unter den vermeintlichen Romanciers »immer mehr Hollywoodstars, Fernsehjournalisten, Moderatoren, Gewerkschafter, Kriminalkommissare,
3 Siehe ebd., S. 244. 4 Winter, Michael: Schreiben ist unmännlich. Die echten Schriftsteller weichen den FreizeitRomanciers. In: Süddeutsche Zeitung, 03. 02. 1998. 5 Ebd.
Autorschaft, Schreiben und das Erzählen von Geschichten
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Werbetexter« fänden.6 Wer meint, beruflich erfolgreich gewesen zu sein, der mache sich daran, mit Belletristik zu reüssieren. Dies sei ein Beleg dafür, dass der »Respekt vor der Kunst des Erzählens bei Autoren und Verlagen enorm gesunken ist«.7 Es hänge dies letztlich mit der »totalen Kommerzialisierung des Buchmarktes« zusammen, der sich durch einen immer schnelleren Verschleiß und damit Neubedarf an Titeln und hohen Auflagen auszeichnet. Hohe Auflagen wiederum würden bevorzugt bei jenen zu erwarten sein, die sich durch die Medien bereits einen Namen gemacht hätten. Allerdings könne man bei diesen Autoren eher nicht mit »erzählerischen oder sprachlichen Innovationen« rechnen, dies sei für einen Erfolg der Texte bei einem Massenpublikum eher hinderlich. Der Bestsellerstatus sei mithin nicht Folge einer »originellen Erzählweise«, sondern ergebe sich aus dem jeweiligen Bekanntheitsgrad innerhalb des Mediensystems.8 Es ist weder Zufall noch böser Wille, wenn in diesem Beitrag von Autorinnen nur am Rande die Rede ist. Dieser Umstand hängt schlichtweg mit den über Jahrhunderte existierenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Autorschaft und den damit in Verbindung stehenden Kanonisierungsvorgängen zusammen. Letztlich sind also in diachroner wie synchroner Perspektive die »inneren« wie »äußeren Bedingungen« von Autorschaft zu beachten. Zu den »inneren Bedingungen« gehören Fähigkeiten, Begabungen, Bedürfnisse und Motivationen. Neben den »inneren Bedingungen« sind die »äußeren Bedingungen« maßgeblich. Denn für das Schreiben ist es nicht ohne Belang, unter welchen ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Verhältnissen Autorinnen und Autoren existieren. Insofern wirken sich die »äußeren Bedingungen« mit Notwendigkeit auf die Handlungsrollen von Produktion, Distribution und auf die Rezeption der Texte aus, zudem bestimmen sie letztlich auch das Selbstbild der Autoren. Geht man an die Klärung dieser Problematik historisch heran und hat dabei den diachronen Vergleich im Blick, so scheint es angeraten, in systematisierender Weise Überlegungen in Erinnerung zu rufen, die Siegfried J. Schmidt und Reinhard Zobel bereits in den 1980er Jahren fixiert haben. Im Sinne eines Rasters lassen sich die möglichen »äußeren Bedingungen« wie folgt zusammenfassen: 1. ökonomische Bedingungen 1.1 allgemeine wirtschaftliche Bedingungen und gesellschaftlicher Rahmen (u. a. vormodern, vorkapitalistisch, modern, Marktwirtschaft, Planwirtschaft, Informationsgesellschaft). 1.2 subjektive wirtschaftliche Lage (Autor im Haupt- oder Nebenberuf; persönlicher Besitz bzw. Absicherung, finanzielle Förderung durch Mäzene, Familie, Ehepartner, Freundeskreise, Stipendien oder staatliche Förderung). 6 Ebd. 7 Ebd. 8 Ebd.
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Carsten Gansel
1.3 Marktsituation für literarische Texte (Bedürfnis nach Unterhaltungsliteratur, Kinder- und Jugendliteratur, bestimmten Schreibweisen). 2. soziale Bedingungen 2.1 Beeinflussung durch Sozialisationsinstanzen (Eltern, Familie, Schule, Universität, literarische Gruppen, Literaturkritik). 2.2 Bewertung der sozialen Rolle des Autors in der Gesellschaft (Wertschätzung, Abwehr, Gleichgültigkeit). 3. politische Bedingungen 3.1 herrschende Machtstrukturen (Monarchie, Demokratie, Diktatur, offene Gesellschaft vs. geschlossene Gesellschaft). 3.2 Struktur von Öffentlichkeit (freie Meinungsäußerung, Einschränkung der Redefreiheit). 4. kulturelle Bedingungen 4.1 zum Zeitpunkt der Literaturproduktion dominanter Bestand an Regeln, Normen, Konventionen, Themen, stilistischen Formen und Auffassungen vom Leser (Literaturbegriff). 4.2 gesellschaftlich sanktionierte, diskutierte bzw. abgelehnte ästhetische, moralische, religiöse sowie politische Theorien und Ideologien. 4.3 gesellschaftlich sanktionierte, diskutierte bzw. abgelehnte poetologische Normen und Werte für die literarische Kommunikation. 4.4 zur Verfügung stehende Medien (Buch, Film, Funk, Fernsehen, Internet, soziale Netzwerke).9 Wenngleich bei Schmidt und Zobel die sozialen Netzwerke und die Folgen der medialen Entwicklung noch nicht absehbar waren, liefern die hier skizzierten Parameter einen Orientierungsrahmen. Über empirische Erhebungen wird es zudem möglich, Aussagen über den konkreten Stand eines literarischen Handlungs- bzw. Symbolsystems und die Rolle der Autorinnen und Autoren darin zu treffen. Mit Blick auf die Gegenwart wird deutlich, dass sich die von Michael Winter Ende der 1990er Jahre angedeuteten Entwicklungen vertieft haben. Anders gesagt: Die Phänomene von Autorschaft unterliegen einem Wandel, der auch das Verhältnis von Männern und Frauen der schreibenden Profession betrifft. Dass in Winters Beitrag Autorinnen nur am Rande vorkommen, hat insbesondere mit den skizzierten »äußeren Bedingungen« zu tun. Verstärkt hat sich zudem der von Winter konstatierte Trend, dass Bekanntheit im medialen wie politischen Bereich auch eine entscheidende Grundlage für den Erfolg als Autor sein kann. Dieser Umstand scheint insbesondere eine jüngere Generation von »wirklichen« Autorinnen und Autoren zunehmend dazu zu motivieren, ihrer9 Vgl. Schmidt, Siegfried J./Zobel, Reinhard: Empirische Untersuchungen zu Persönlichkeitsvariablen von Literaturproduzenten. Braunschweig: Vieweg 1983, S. 11f.
Autorschaft, Schreiben und das Erzählen von Geschichten
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seits die Möglichkeiten der Medien und der neu entstandenen sozialen Netzwerke sowohl zur Steigerung ihres Bekanntheitsgrades als auch zur Selbstinszenierung zu nutzen.10 Über Einträge in Facebook oder Instagram sowie Blogs und Twitter-Nachrichten bringen Einzelne sich – wie auch Politiker – permanent ins Gespräch, liefern Einblicke in Privates oder versuchen durch gezielt platzierte Statements zu Fragen von Politik, Kultur oder Medien Aufmerksamkeit zu erlangen. Das kann – wie das Beispiel Sasˇa Stanisˇic´ zeigt – durchaus erfolgreich sein und zum Deutschen Buchpreis führen. Nicht ohne Grund kursierte nach den kritischen Einlassungen von Stanisˇic´ zur Nobelpreisvergabe an Peter Handke und der Aufmerksamkeit, die diese Einlassungen erfuhren, die böse Kommentierung: »Wie man sich zum Deutschen Buchpreis twittert!« Michael Winter freilich beschließt seine Bestandsaufnahme im Jahr 1998 versöhnlich, wenn er notiert: »Heute kann jeder straflos Schöpfer von Romanwelten werden. Aber die Instanz, die ihn dafür bestraft, ist auch gewachsen: das Vergessen.«11
2.
Geschichten erzählen – Evolution – Narratologie
Die offensichtlichen Wandlungen von Autorschaft scheinen in dem hier zur Rede stehenden Kontext einmal mehr die Fragen nach der Bedeutung und dem Funktionieren des Erzählens von Geschichten aufzuwerfen. Neue Disziplinen wie die Evolutionspsychologie, die kognitive Literaturwissenschaft oder die linguistische Schreibforschung versuchen einmal mehr den Rätseln des Schreibens und Lesens auf die Spur zu kommen. Dazu werden zunehmend neueste Erkenntnisse der Neurophysiologie, der Hirnforschung, der Evolutionsbiologie, der evolutionären Ästhetik oder der Biopoetik genutzt. Gemeinsam ist den verschiedenen Ansätzen die Überzeugung, dass Schreiben wie Erzählen nur dann Sinn machen, wenn der Mitteilende (Alter) und der Adressat (Ego) über in gewisser Weise standardisierte Codierungen von Ereignissen verfügen, damit diejenigen, denen etwas erzählt wird, sich ein Bild von dem machen können, was geschehen ist. Bereits der Satz »Ao jagte das Mammut« setzt auf der Seite des Rezipienten die Fähigkeit voraus, sich ein Mammut vorzustellen und sich in die Problemlage des Jägers hineinzuversetzen.12 Im Sinne der Co-Evolution von 10 Siehe frühzeitig Leistert, Oliver/Röhle, Theo (Hg.): Generation Facebook. Über das Leben im Social Net. Bielefeld: Transcript 2011. 11 Winter, Michael: Schreiben ist unmännlich. Die echten Schriftsteller weichen den FreizeitRomanciers. In: Süddeutsche Zeitung, 03. 02. 1998. 12 Die nachfolgende Passage ist meinem Beitrag zu »Literature and Evolution« entnommen. Vgl. Gansel, Carsten: Storytelling from the Perspective of Evolutionary Theory. In: Telling Stories/ Geschichten erzählen. Literature and Evolution/Literatur und Evolution. Hrsg. von Carsten
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Carsten Gansel
Bewusstsein und Kommunikation soll nun jedoch nicht sogleich auf Sprache und Kommunikation abgehoben werden, sondern zunächst auf die sich im Prozess der Co-Evolution ausbildenden kognitiven Strukturen. In der kognitionswissenschaftlichen und kognitiv orientierten linguistischen Forschung zur Semantik und zum Textverstehen werden kognitive Strukturen mit dem Konzeptbegriff beschrieben. Die sogenannten Type-Konzepte, mit denen Objektbegriffe, Ereignisbegriffe und Ereignisfolgebegriffe erfasst werden, sind für das Erzählen von Relevanz. Diese Begriffe lassen sich in folgender Weise nach dem Grad ihrer Komplexität beschreiben.13 Es geht um: (a) Objektbegriffe, die sich auf eine Einteilung von Objekten nach unterscheidbaren Merkmalen beziehen. Sie werden auch als Primärbegriffe (z. B. Baum, Vogel, Haus, Fell) bezeichnet.14 (b) Ereignisbegriffe, die Ereignisse klassifizieren. Dabei werden Klassen von Situationen oder Beziehungen zwischen einem Subjekt des Geschehens und Dingen in Raum und Zeit, die von einer Handlung betroffen sind, zusammengefasst (z. B. essen, töten, sammeln, um einen Partner werben). Man könnte sagen, dass sich die in den Beispielverben benannten Ereignisse durch die Beantwortung entsprechender W-Fragen bestimmen lassen, nämlich: Wer? Was? Wann? Wo? Mit welchen Mitteln? Auf welche Weise? (c) Ereignisfolgebegriffe oder logische Folgen von Ereignissen (z. B. Jagd, Hochzeit, Bau einer Behausung), die zielgerichtete Aktivitäten erfassen, welche zu einer Ereigniskette verschmelzen. Sie »lassen sich auf die Verknüpfung von Ereignisbegriffen identischen Abstraktionsgrades vermittels unterschiedlicher Relationstypen (wie Kausalität, Finalität, Zeit etc.) zurückführen«.15 Letztlich gehen derartige wiederkehrende Konzepte (Frames) in Grundplots oder Plot-Strukturen des Erzählens ein, sie werden versprachlicht und sind Grundlage für eine ›Vertextungsstrategie‹, die man in dem Terminus Erzählen zusamGansel/Dirk Vanderbeke. Berlin/Boston: de Gruyter 2012, S. 77–109. Die deutsche Fassung des englischsprachigen Beitrags erschien unter dem Titel: Story Telling – Geschichten erzählen in evolutionspsychologischer Perspektive. In: Selbstbeobachtung der modernen Gesellschaft und die neuen Grenzen des Sozialen. Für Gerhard Preyer. Hrsg. von Georg Peter/ Reuß-Markus Krauße. Wiesbaden: Springer VS 2012, S. 271–300. 13 Klix, Friedhart: Wissenselemente. Bausteine für Gedächtnis und Sprache. In: Sprache und Kognition. Perspektiven moderner Sprachpsychologie. Hrsg. von Joachim Kornadt/Joachim Grabowski/Roland Mangold-Allwin. Heidelberg u. a.: Spektrum, Akademischer Verlag 1994, S. 133–160; Barsalou, Lawrence W.: Frames, Concepts, and Conceptional Fields. In: Frames, Fields, and Contrasts. New Essays in Semantic and Lexical Organization. Hrsg. von Adrienne Lehrer/Eva Federkittay. Hillsdale: Erlbaum 1992, S. 21–74. 14 Meer, Elke van der: Mentale Repräsentationen von Alltagstexten. In: Zeitschrift für Psychologie 201, 1993, S. 375–391, hier S. 377. 15 Ebd., S. 378.
Autorschaft, Schreiben und das Erzählen von Geschichten
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menfasst. Erzählen bedeutet Narration, die in der Linguistik als ein Typ bzw. als eine Grundform der Textbildung angesehen wird, welche durch »wahrnehmungspsychologische Grundkonstellationen« motiviert ist.16 Alter, also der Mitteilende, will beim Erzählen das Wahrgenommene im zeitlichen Ablauf darstellen. Die Vertextungsstrategie steuert dabei die Wahl der sprachlichen Formen »auf einer hohen Abstraktionsebene«.17 Versucht man nun die kommunikative Situation des urgeschichtlichen Menschen zu skizzieren – so weit kann man zurückgehen, wenn Fragen von Autorschaft diskutiert werden –, dann ist anzunehmen, dass die Kommunikation zunächst auf Grundbedürfnisse des Daseins ausgerichtet war und sich das Erzählen als bevorzugte Vertextungsstrategie in einem längeren historischen Prozess ausbildete. Hans-Werner Eroms stellt dann auch den archetypischen Charakter des Erzählens heraus, bei dem es darum geht, »Sachverhalte der Vergangenheit [zu] übermitteln«.18 Beim Erzählen wird daher »Vergangenes in eine gegenwärtige diskursive Situation« eingebracht. Als »Grundeinheit des Erzählens« gilt für Eroms das ›Ereignis‹. Dabei kann das ›Vergangene‹ »real oder fiktiv sein, der Wahrheitsgehalt muss über die erzählend verketteten Ereignisse nachprüfbar sein können«.19 Auch für Heiko Hausendorf ist eine Erzählung die »in Form einer Diskurseinheit realisierte verbale Rekonstruktion eines Ablaufs realer oder fiktiver Handlungen oder Ereignisse, die im Verhältnis zum Zeitpunkt des Erzählens zurückliegen oder zumindest (wie z. B. in Zukunftsromanen) als zurückliegend dargestellt werden«.20 Durchweg wird also auf das ›Ereignis‹ als zentrale Kategorie des Erzählens verwiesen. Die Ereignisse werden in ihrem Ablauf rekonstruiert, weswegen sie durchweg perspektiviert sind und in einer chronologischen Abfolge präsentiert werden.21 Offensichtlich ist, dass in den Bestimmungen zum Erzählen nicht nur das rekonstruktive Moment her16 Eroms, Hans-Werner: Stil und Stilistik. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt 2008, S. 80. 17 Ebd., S. 107. Bei der Frage danach, was denn nun das Erzählen ausmacht, wird sowohl in diversen Arbeiten zur Erzählforschung wie auch in ausgewählten evolutionspsychologischen Arbeiten wiederholt auf Überlegungen von William Labov und Joshua Waletzky zurückgegriffen. Beide haben in einem für die Soziolinguistik maßgeblichen Beitrag darauf verwiesen, dass die »einfachsten und grundlegenden narrativen Strukturen in mündlichen Versionen persönlicher Erfahrung« zu finden sind und eher nicht bei den »Produkten geschulter Geschichtenerzähler« (Labov, William/Waletzky, Joshua: Erzählanalyse. Mündliche und persönliche Erfahrung. In: Literaturwissenschaft und Linguistik. Hrsg. von Jens Ihwe. Frankfurt/ Main: Athenäum Fischer 1973, S. 28–127, hier S. 78). 18 Eroms, Stil und Stilistik. 2008, S. 82. 19 Ebd. 20 Hausendorf, Heiko: Vertextungsmuster Narration. In: Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Bd. 2. Hrsg. von Klaus Brinker/Gerd Antos/Wolfgang Heinemann/Sven F. Sager. Berlin u. a.: de Gruyter 2000, S. 369–385, hier S. 373. 21 Vgl. Eroms, Stil und Stilistik. 2008, S. 88.
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vorgehoben wird, sondern auch der Umstand, dass es darum geht, gewonnene Erfahrungen zu kommunizieren, mithin Erinnerungen in eine Form zu bringen.22 In evolutionspsychologischer Hinsicht hat Eckart Voland das Geschichtenerzählen in Verbindung mit einer Besonderheit des menschlichen Geistes gebracht, dem »kognitiven Imperativ«. Dieser zwingt den Menschen »zu einer plausiblen, kohärenten Konstruktion des Abbilds des Weltgeschehens, ohne Erklärungslücke, ohne irrationale Inseln. Menschen können Kontingenz, Irrationalität und kausale Ungewissheit offenbar nicht gut aushalten, weil nicht Verstandenes Angst erzeugt«.23 Aus diesem Grund sei das Gehirn ein »permanent arbeitender Geschichtengenerator«. Es gehe nämlich darum, in Konfabulationen »plausible Erklärungen für all jenes zu liefern, das ansonsten unverstanden bliebe«.24 Damit ist für das Geschichtenerzählen und entsprechend für das Schreiben das Merkmal der Kohärenz betont. An dieser Stelle erscheint der Hinweis dringlich, dass das Geschichtenerzählen den Kern einer ›Wissenschaft vom Erzählen‹ bildet, und dies ist die Narratologie. Jörg Schönert hat herausgestellt, dass die Narratologie über die Textwissenschaften hinaus »einen ihr gemäßen Gegenstands- und Aufgabenbereich in allen Kommunikationen und kulturellen Manifestationen [findet], die als ›Geschichten‹ (als verknüpfende Darstellung von Zustandsveränderungen) angesehen werden können oder solche ›Geschichten‹ einschließen«.25 Insofern besitzt die Narratologie für den hier diskutierten Zusammenhang von Schreiben, Text und Autorschaft eine zentrale Bedeutung, und dies nicht nur, weil sie die – wie auch immer – narrativ orga22 An diesem Punkt treffen sich Narratologie, Soziolinguistik, Neurophysiologie, Evolutionspsychologie, kognitive Literaturwissenschaft und kulturwissenschaftlich orientierte Erinnerungsforschung. Grundsätzlich gilt, dass Erinnerungen keine wirklichkeitsgetreuen Abbilder des Vergangenen schaffen können. Es ist immer nur eine teilweise, unvollständige, ja mitunter sogar eine deformierte Rekonstruktion der Vergangenheit möglich. Der Blick auf das Vergangene ist durch ebenjene aktuelle Situation bestimmt, in der erinnert wird. 23 Voland, Eckart: Homo naturaliter religiosus. Umrisse des soziobiologischen Arguments. In: Gewalt und Opfer (Mythoseikonpoiesis). Hrsg. von Anton Bierl/Wolfgang Braungart. Berlin/ New York: de Gruyter 2007, S. 293–315, hier S. 296. 24 Ebd. Wenn von einem »permanent arbeitenden Geschichtengenerator« die Rede ist, dann muss es unterhalb von universellen Plots Grundstrukturen von (fiktionalen) Geschichten geben. Konsens herrscht hierbei insofern, als Ereignis und Handlung als jene Grundkonstituenten von Geschichten gelten. Handlungen werden durch Verben (Handlungskern) bezeichnet. Handelnde Personen übernehmen die Rolle des Handlungsträgers. Die Handlung schließlich verändert einen Gegenstand (Handlungsgegenstand) oder schafft etwas Neues (Ergebnis der Handlung). Handlungen geschehen unter bestimmten Umständen, sie können durch Zeit, Ort, Art und Weise sowie bestimmte Gründe geprägt sein. Hier ließe sich ein Hinweis zu den Grundbegriffen der Handlung narrativer Texte bzw. zur Oberflächenstruktur der Handlung ergänzen: Ereignis, Geschehen, Geschichte und Motivierung. 25 Schönert, Jörg: Was ist und was leistet Narratologie? Anmerkungen zur Geschichte der Erzählforschung und ihrer Perspektiven. In: literaturkritik.de, H. 4, 2006, S. 1–7, hier S. 1.
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nisierten Texte zum Gegenstand der Analyse macht. Wenn vom Geschichtenerzählen die Rede ist, dann muss freilich einschränkend darauf aufmerksam gemacht werden, dass im Zuge der Avantgarde insbesondere ab Beginn des 20. Jahrhunderts genau dieser Ansatz von Autorschaftskonzepten aufgebrochen worden ist. Es geht eben nicht mehr darum, eine kohärente Geschichte zu erzählen, insofern erfolgt eine Absetzung vom klassischen Erzählen. Diese Überlegung hatte Folgen für die Herausbildung und den Wandel von Autorschaftskonzepten bis weit ins 20. Jahrhundert. Nur ein Exempel soll diese Veränderungen anschaulich machen. Christa Wolf hat die Abkehr vom klassischen Erzählen für ihre Poetologie Mitte der 1960er Jahre explizit herausgestellt und im Gespräch von 2010 noch einmal bestärkt: »Ich erzähle eigentlich keine Geschichten. Natürlich finden sich solche auch, gewissermaßen anekdotenhaft. Mein Vorhaben besteht aber eben nicht darin – wie [es] dies bei den meisten Autoren der Fall ist und wie es auch die Leser gern haben –, eine Geschichte im klassischen Sinne zu erzählen. Eine Geschichte, die ihren Anfang hat, ihren Höhepunkt, Wendepunkte, eine Ende.«26
Mit »Juninachmittag« (1967), also ab Mitte der 1960er Jahre, setzt Christa Wolf ihre Tendenz in Richtung eines modernen Erzählens konsequent fort, denn eigentlich handelt es sich bei dem Text um eine Art Bewusstseinsstrom einer IchErzählerin.27 Bereits mit dem Einstieg und einer rhetorischen Frage wird darin die Erwartungshaltung des Lesers unterlaufen und stattdessen eine ›Vision‹ für die neue Art des Erzählens herausgestellt. Ganz in diesem Sinne findet sich die rhetorische Frage, die sogleich beantwortet wird: »Eine Geschichte? Etwas Festes, Greifbares, wie ein Topf mit zwei Henkeln, zum Anfassen und zum Daraus-Trinken? Eine Vision vielleicht, falls sie verstehen, was ich meine. Obwohl der Garten nie wirklicher war als dieses Jahr.«28
Schon mit dem Textanfang ist also unübersehbar auf den Umbau von Christa Wolfs Autorschaftskonzept bzw. ihre Poetik verwiesen, denn eine chronologisch ablaufende Geschichte wird nicht mehr geliefert. »Lesen und Schreiben« (1968) und »Nachdenken über Christa T.« (1968) markieren weitere Stufen dieses Ausund Umbaus, die natürlich mit individuellen und gesellschaftlichen Veränderungen zu tun haben oder eben mit den »inneren« und »äußeren Bedingungen« 26 Gansel, Carsten: »Zum Schreiben haben mich Konflikte getrieben«. Gespräch mit Christa Wolf. In: Carsten Gansel. Literatur im Dialog. Gespräche mit Autorinnen und Autoren. Hrsg. von Norman Ächtler. Berlin: Verbrecher Verlag 2015, S. 311–334, hier S. 319. 27 Siehe dazu ausführlich Gansel, Carsten: Erinnerung, Aufstörung und »blinde Flecken« im Werk von Christa Wolf. In: Christa Wolf. Im Strom der Erinnerung. Hrsg. von Dems. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, S. 15–42. 28 Wolf, Christa: Juninachmittag. In: Erzählungen. Hrsg.von Ders. Berlin/Weimar: AufbauVerlag 1985, S. 36.
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des Schreibens. Das von Christa Wolf entwickelte poetische Prinzip setzt nunmehr darauf, erzählerisches Ich und Autorsubjekt eng aneinanderzurücken. Für die Autorin spielt daher neben den »drei fiktiven Koordinaten der erfundenen Figuren« jene »›wirkliche‹ des Erzählers« eine entscheidende Rolle. Dies ist die »Koordinate der Tiefe, der Zeitgenossenschaft, des unvermeidlichen Engagements, die nicht nur die Wahl eines Stoffes bestimmt, sondern auch seine Färbung«.29 Die neue Art und Weise des Erzählens wird dann später von der Autorin mit dem Begriff der »subjektiven Authentizität« gefasst. Der Wandel des Erzählkonzepts von Christa Wolf ist ein Beleg dafür, in welcher Weise es im Entwicklungsprozess zu Veränderungen in den Poetologien und damit im Status von Autorschaft kommen kann. Wenn für Christa Wolf das Prinzip der »subjektiven Authentizität« maßgeblich wird, dann bedeutet dies, dass sie Erzählerfiguren entwirft, die über eine hohe Selbstreflexivität verfügen. Diskutiert man Vergleichbares mit Blick auf Konzepte bzw. Texte von anderen Autorinnen und Autoren, dann bietet es sich an, bestimmte Inszenierungstypen von Schreibprozessen und -situationen zu entwerfen. Klar ist, dass es sich dabei jeweils um Formen der Fremd- und Selbstreflexion handelt und das künstlerische In-Szene-Setzen von Schreibsituationen als Beobachtung zweiter Ordnung fungiert. Gegenwärtig lassen sich – auch in narratologischer Perspektive – folgende Typen in den Bereichen Literatur und Film unterscheiden: – Typ 1: Autoren/Erzählerfiguren beobachten sich selbst (Selbstreflexion/-irritation, z. B. Tagebücher, Briefe). Frage: Wie explizit und aus welcher Distanz erfolgt die Selbstbeobachtung? – Typ 2: Beobachter (Erzähler, Figuren) werden beim Beobachten ihrer selbst beobachtet (Darstellung von Schreib-/Reflexionsprozessen durch übergeordnete Erzähler). Frage: Wie werden Schreibprozesse inszeniert (z. B. Nähe, Distanz, Kommentierung, Sprachgebrauch)? – Typ 3: Erzählerfiguren beobachten ihre Umwelt (Fremdreflexion ›schreibender‹ Erzählertypen). Frage: Inwieweit wird Schreiben/Schrift zum Medium der Wahrnehmung von ›Welt‹? Wie explizit erfolgt die Auseinandersetzung mit der Medialität des Schreib- als Reflexionsprozess? – Typ 4: Beobachter werden beim Beobachten ihrer Umwelt beobachtet (s. o.: Darstellung von Schreib-/Reflexionsprozessen durch übergeordnete Erzähler). Frage: Wie werden Schreibprozesse inszeniert (z. B. Nähe, Distanz, Kommentierung, Sprachgebrauch)?
29 Wolf, Christa: Lesen und Schreiben. In: Fortgesetzter Versuch. Aufsätze, Gespräche, Essays. Hrsg.von Ders. Leipzig: Reclam 1979, S. 7–40, hier S. 31.
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Schreibfluss – Schreibstörungen – Schreibblockaden
Nun gehen die bisherigen Überlegungen von einer idealen Situation aus, nämlich »gelungenen« Schreibprozessen. Dass beim Schreiben allerdings keineswegs jene Momente dominieren, die man als »Flow« kennt – also als das Gefühl der Beglückung angesichts eines mentalen Zustands der erfolgreichen Kreation eines Textes –, ist bekannt. Vielmehr finden sich in Literatur und Film häufig Versuche, sich mit den Ursachen für Schreibhemmungen und Schreibblockaden (›writers block‹) sowie ihren Folgen auseinanderzusetzen. Ein frühes Beispiel für eine Schreibblockade findet sich in E.T.A. Hoffmanns spätem Text »Des Vetters Eckfenster« (1822). Als Hoffmann den Text Anfang April 1822 schrieb, war er bereits schwer krank und an einen Lehnstuhl gefesselt. Insofern hat die Erzählung einen autobiografischen Kern. Grundsätzlich geht es darin aber um einen alten Dichter, der aufgrund seiner Erkrankung an das Haus und sein Zimmer gefesselt ist. Erzählt wird die Geschichte von einem Ich-Erzähler (Vetter 2), dem Vetter des Dichters (Vetter 1). Die Krankheit des – sagen wir – »Dichtervetters« sorgt gleichwohl zunächst dafür, »den raschen Rädergang der Phantasie« zu hemmen. Die Folge ist, dass der Vetter (so der Ich-Erzähler) »mir allerlei anmutige Geschichten erzählte, die er des mannigfachen Wehs, das er duldete, unerachtet, ersonnen«.30 Allerdings – und das ist das Problem – ist es dem Dichtervetter nicht möglich, die Geschichten aufzuschreiben, denn er hat das, was man eine Schreibblockade nennt. Der Ich-Erzähler notiert: »Aber den Weg, den der Gedanke verfolgen mußte, um auf dem Papier gestaltet zu erscheinen, hatte der böse Dämon der Krankheit versperrt. Sowie mein Vetter etwas aufschreiben wollte, versagten ihm nicht allein die Finger den Dienst, sondern der Gedanke selbst war verstoben und verflogen. Darüber verfiel mein Vetter in die schwärzeste Melancholie. […] Seit der Zeit ließ sich mein Vetter weder von mir noch von irgendeinem andern Menschen sehen. Der alte grämliche Invalide [gemeint ist hier eine Art »Krankenwärter« – C. G.] wies uns murrend und keifend von der Tür weg wie ein beißiger Haushund.«31
Der Vetter, der »nach Schriftsteller- und Dichtersitte« im »schönsten Teil der Hauptstadt« in einem Eckhaus – so die Einschätzung – »ziemlich hoch in kleinen niedrigen Zimmern wohnt«, ist nun wider Erwarten an einem Markttag besserer Gesundheit, sodass der Ich-Erzähler (Vetter 2) seinen Vetter aufsucht und von ihm animiert wird, vom Eckfenster aus das Markttreiben zu beobachten. Der IchErzähler setzt sich also wie ihm geheißen auf ein kleines Taburett, das im
30 Hoffmann, E.T.A.: Des Vetters Eckfenster. In: Hoffmanns Werke in drei Bänden. Bd. 2. Erzählungen. Märchen. Berlin/Weimar: Aufbau-Verlag 1982, S. 301–329, hier S. 301. 31 Ebd., S. 302.
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Fensterraum Platz hat, schaut auf den Platz und bringt seinen Eindruck wie folgt auf den Punkt: »Der Anblick war in der Tat seltsam und überraschend. Der ganze Markt schien eine einzige, dicht zusammengedrängte Volksmasse, so daß man glauben mußte, ein dazwischengeworfener Apfel könne niemals zur Erde gelangen. Die verschiedenen Farben glänzten im Sonnenschein, und zwar in ganz kleinen Flecken; auf mich machte das den Eindruck eines großen, vom Winde bewegten, hin und her wogenden Tulpenbeets, und ich mußte mir gestehen, daß der Anblick zwar recht artig, aber auf die Länge ermüdend sei.«32
Als der Ich-Erzähler diesen Eindruck dem Vetter mitteilt, schlägt selbiger ob der nicht hinreichenden Sensibilität die Hände über dem Kopf zusammen, und es entwickelt sich ein Gespräch, das narratologisch interessant aufgebaut ist. Der Point of View wechselt und der Ich-Erzähler gibt nachfolgend ohne Kommentar den Dialog der beiden wieder. Auf die erste Einlassung des Ich-Erzählers antwortet der Vetter scheinbar entrüstet und liefert genau das, worum es im weiteren Verlauf des Dialogs gehen wird, nämlich seine Kunstauffassungen sowie Maxime des Schreibens mitzuteilen: »Der Vetter: Vetter, Vetter! [N]un sehe ich wohl, daß auch nicht das kleinste Fünkchen von Schriftstellertalent in dir glüht. Das erste Erfordernis fehlt dir dazu, um jemals in die Fußsta[m]pfen deines würdigen lahmen Vetters zu treten, nämlich ein Auge, welches wirklich schaut. Jener Markt bietet dir nichts dar als den Anblick eines scheckichten, sinnverwirrenden Gewühls des in bedeutungsloser Tätigkeit bewegten Volks. Hoho, mein Freund, mir entwickelt sich daraus die mannigfachste Szenerie des bürgerlichen Lebens, und mein Geist, ein wackerer Callot oder moderner Chodowicki, entwirft eine Skizze nach der anderen, deren Umrisse oft keck genug sind.«33
Die Fähigkeit des »Schauens«, mithin der genauen Beobachtung, ist für den Vetter die Grundlage, um Geschichten davon zu entwerfen, was sich zwischen den Personen, die sich auf dem Markt begegnen, möglicherweise ereignet. Die Konstellation von E.T.A. Hoffmanns Erzählung ist dann auch fast zwei Jahrhunderte später entsprechend modernisiert der Ansatz für die Grundstruktur eines Films unter der Regie von Gus Van Sant geworden, mit Sean Connery in der Hauptrolle, nämlich »Finding Forrester« (2000). In dem Film geht es um William Forrester, der vor Jahrzehnten einen herausragenden Roman geschrieben hat, aber seitdem in einer Schreibkrise steckt und keinen weiteren Text veröffentlichen konnte. Dementsprechend hat er sich zurückgezogen und beobachtet die Außenwelt – wie bei E.T.A. Hoffmann – einzig vom Fenster seiner Wohnung aus, etwa Baseball spielende Jungen auf dem Platz vor seinem Haus. Die Gruppe der 32 Ebd. 33 Ebd., S. 304. E.T.A. Hoffmann knüpft hier an jene Positionen an, die er in den Gesprächen zur Sammlung »Die Seraionsbrüder« (1819–1822) entworfen hatte.
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Jungen weiß um den Beobachter am Fenster, darum haben sie Forrester den Spitznamen »Fenster« gegeben. Ähnlich wie bei E.T.A. antizipiert Forrester in einer Filmsequenz, was unten auf dem Spielfeld geschieht. »Der Ball ist verloren«, notiert er vorausahnend und wenig später wird einer der Spieler – nachdem sein Pass missglückt ist – enttäuscht ausrufen: »Der Ball ist verloren.«34 Aber der alte Dichter ist dennoch nicht die Hauptfigur des Films, im Zentrum steht vielmehr der begabte 16-jährige Jamal, der durch die Bekanntschaft mit Forrester in die Poetik des Schreibens eingeführt wird. In beiden Fällen – der Erzählung von E.T.A. Hoffmann aus dem Jahre 1822 ebenso wie dem Film aus dem Jahre 2000 – geht es um Dichterfiguren, die nicht mehr schreiben können, aber gleichwohl wissen, worauf es beim Schreiben ankommt. In »Finding Forrester« geschieht dies in Anlehnung an die Biografie von J. D. Salinger, der mit »The Catcher in the Rye« (1951) Weltruhm erlangte, aber seit Beginn der 1960er Jahre nichts mehr publizierte und von der Öffentlichkeit zurückgezogen lebte. Hinter der Schreibkrise von Forrester im Film und Salinger in der Realität steckt ein Motiv, das Andreas Bernard die »Ökonomie der Worte« genannt hat und so umschreibt: »Ein Dichter, der mit seinem ersten schmalen Buch bereits alle Versprechen der Literatur eingelöst hat und seitdem schweigt, befeuert den Glauben an die Möglichkeit des reinen Werks. In dieser einzigartigen Konstellation der Literaturgeschichte, noch unbeschädigt von den Wucherungen der Eitelkeit und des Erwartungsdrucks, ist das Gesagte für einen Augenblick in eins gefallen. Alles, was danach kam – das Geschwätz der Rezensionen und Interviews. Das Drängen auf Fortsetzung – drohte diese Reinheit des Schreibens zu infizieren, und nur im beständigen Rückzug scheint sie sich bewahren zu können.«35
Die hier entworfene Variante der Schreibhemmung und des Rückzugs aus der Öffentlichkeit – weil mit dem ersten Werk bereits alles in höchster Vollendung gesagt ist – stellt auch in diachroner Hinsicht die absolute Ausnahme dar, aber gerade darum eignet sie sich in besonderer Weise für filmische Inszenierungen. Weitaus häufiger und eigentlich der Normalfall sind Störungen im Schreibfluss und Schreibblockaden. Auch darum stellt sich immer mehr die Frage, worum es sich bei Schreibstörungen und dem sogenannten writers block eigentlich handelt und wie man dem theoretisch beikommen kann.
34 Vgl. dazu die instruktive Besprechung von Bernard, Andreas: Des Lehrers Eckfenster. Das Hollywood-Kino beschäftigt sich mit dem Standort des Dichters in der Gesellschaft. In: Süddeutsche Zeitung, 10./11. 03. 2001. 35 Ebd.
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4.
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Die ›Kategorie Störung‹ und das Schreiben
Offensichtlich ist man beim Nachdenken über die angedeuteten Schreibphänomene auf die ›Kategorie der Störung‹ verwiesen. In neueren Ansätzen der System-, Kommunikations- und Medientheorie sowie auch der Sprach- und Literaturwissenschaften wird die ›Kategorie Störung‹ nicht mehr nur als Dysfunktion, als Hindernis oder Unfall für den und im Zeichentransfer betrachtet, sondern ihr wird eine produktive und gleichsam stabilisierende Bedeutung zugeschrieben.36 Als Marker von Grenzen sorgen Störungen für eine fortgesetzte Anpassung an die aktuellen Bedingungen von Kommunikation. Dies gilt sowohl für den Bereich des zwischenmenschlichen Informationsaustausches als auch für soziale Systeme. Deutlich wird zudem, dass die unterschiedlichen Ansätze das ›System Kultur‹ mit seinen künstlerischen Hervorbringungen als besonderen Ort und bevorzugtes Medium von Störungen betonen. Eine kultur- und gesellschaftswissenschaftliche Theorie der Störung kommt – so kann man folgern – ohne die Verbindung von Systemstörung und Systemstabilisierung nicht aus.37 In diesem Kontext umfasst die Kategorie der ›Störung‹ Phänomene, die als auslösende Faktoren individuellen wie gesellschaftlichen Entwicklungs- und Wandlungsprozessen vorausgehen, indem sie 1) einen reibungslosen Kommunikationsprozess behindern und das auf eine Weise, dass 2) die Bedingungen von Kommunikation – also ihre Medialität, ihre diskursiven Regeln – evident und zum Gegenstand selbstreflexiver systemischer Introspektion werden, also 3) Anlass bieten für Akte erneuerter und erneuernder Selbstverständigung und damit 4) die Dynamisierung und Flexibilisierung von (Sinn-)Grenzen notwendig machen. Systemische Stabilität ist dabei zu verstehen als Resultat kontinuierlicher semiologischer bzw. diskursiver Korrektur- oder Anpassungsleistungen sozial interagierender Entitäten gegenüber Störungen aller Art. Insofern ist ›Störung‹ auch als ein Medium gesellschaftlicher (Selbst-)Verständigung zu verstehen. 36 Vgl. dazu die an der Universität Gießen seit 2008 laufenden Arbeiten zur ›Kategorie Störung‹. Es sei an dieser Stelle auf jene Beiträge verwiesen, die für die nachfolgend entwickelte Argumentation maßgeblich sind. Siehe dazu u. a.: Gansel, Carsten/Ächtler, Norman (Hrsg.): Das ›Prinzip Störung‹ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Berlin/New York: de Gruyter 2013; Gansel, Carsten (Hg.): Störungen in Literatur und Medien. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes. H. 4/2014. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014; Gansel, Carsten (Hg.): Trauma-Erfahrungen und Störungen des ›Selbst‹. Mediale und literarische Konfigurationen lebensweltlicher Krisen. Berlin: de Gruyter 2020. 37 Vgl. diesen Teil bei Gansel, Carsten: Störungen in Literatur und Medien (Vorwort). In: Störungen in Literatur und Medien. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, H. 4/ 2014. Hrsg. von Dems. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, S. 313–314, hier S. 313; sowie Ders.: Zur ›Kategorie Störung‹ in Kunst und Literatur – Theorie und Praxis. In: Störungen in Literatur und Medien. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes. H. 4/ 2014. Hrsg. von Dems. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, S. 315–332.
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Um sich der hier zur Diskussion stehenden Problematik um Schreibstörungen theoretisch nähern, sei einmal mehr auf Ludwig Jägers Ansatz im Kontext mit der ›Kategorie Störung‹ verwiesen.38 Jäger geht in seiner sprachtheoretischen Betrachtung von der Überlegung aus, dass Störungen und ihre transkriptive Bearbeitung »ein zentrales Verfahren der sprachlichen Sinnproduktion darstellen«. Und dies auch in den Fällen, wo es sich um sogenannte pathologische Defekte der Kommunikation handelt.39 Von diesen Überlegungen ausgehend, unterscheidet Jäger zwei Formen von Störung: Der erste Typ hat sich aus der Rezeption von Shannons Flussdiagramm der Kommunikation in Kybernetik und Medientheorie entwickelt.40 Unter dem Begriff des ›Rauschens‹ (noise) werden hier Phänomene bestimmt, die als »Differenz zum Signal«41 zu verstehen sind, als mediale Hindernisse für ungestörte Kommunikation. Als Beispiele für Störfaktoren dieser Art sind u. a. das Eigenrauschen von Radioempfängern, Bildstörungen im TV oder Funklöcher im Mobilfunknetz zu nennen, aber auch das Räuspern, ein Versprecher oder Missverständnisse in gesprochener Rede.42 Gegenüber diesem Begriff von Störung als Unfall im Verständigungsvorgang (»Störungu(nfall)«) und als selbstreferenzieller Modus von Medialität beschreibt Jäger eine andere Form von Störung, der er eine »konstruktive Funktion« im 38 Die nachfolgende Darstellung basiert auf einem Beitrag des Verfassers, der Aspekte der ›Kategorie der Störung‹ in Hinblick auf das Handlungs- und Symbolsystem Literatur diskutiert. Da die Überlegungen für die im Folgenden entwickelte Argumentation grundlegend sind, wird auf sie erneut zurückgegriffen. Siehe Gansel, Carsten: Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ›Störung‹ – Möglichkeiten der Anwendung für Analysen des Handlungsund Symbolsystems Literatur. In: Das ›Prinzip Störung‹ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Hrsg. von Carsten Gansel/Norman Ächtler. Berlin/New York: de Gruyter 2013, S. 31–56. 39 Jäger, Ludwig: Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen. In: Performativität und Medialität. Hrsg. von Sybille Krämer. München: Fink 2004, S. 35–73, hier S. 41. Einen weiteren produktiven Ansatz vonseiten der Sprachwissenschaft hat Christina Gansel entwickelt. Im Zusammenhang mit Fragen der Textlinguistik zeigt sie, wie Irritationen zur »Überprüfung von Kommunikationsmöglichkeiten« und damit zur Veränderung der Struktur von Texten einer Textsorte führen können. Der Begriff der Irritation wird dabei in Anlehnung an Niklas Luhmanns Evolutionstheorie mit den Mechanismen der Evolution (Variation und Selektion) sowie der Funktion evolutionärer Prozesse (Restabilisierung) in Verbindung gebracht (vgl. Gansel, Christina: Textsortenlinguistik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011). 40 Vgl. Schüttpelz, Erhard: Eine Ikonographie der Störung: Shannons Flussdiagramm der Kommunikation in ihrem kybernetischen Verlauf. In: Transkribieren – Medien/Lektüre. Hrsg. von Ludwig Jäger/Georg Stanizek. München: Fink 2002, S. 233–280. 41 Kümmel, Albrecht: Störung. In: Grundbegriffe der Medientheorie. Hrsg. von Alexander Roesler/Bernd Stiegler. München: Fink 2005, S. 229–235, hier S. 230. 42 Zu Artikulations- und anderen Störungen in psycho- und neurolinguistischer Forschung vgl. Springer, Luise: Störung und Repair. Diskursive Verfahren der Verständigungssicherung. In: Signale der Störung. Hrsg. von Albrecht Kümmel/Erhard Schüttpelz. München: Fink 2003, S. 43–57.
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Kommunikationsprozess beimisst. Diese zweite Ausprägung ist für den hier betrachteten Zusammenhang von Relevanz. Ihr konstruktives Potenzial entfalten diese Störungen, indem sie als »Auslöser der Bearbeitung von Redesequenzen im Interesse der Klärung der Redeintention« wirken.43 Derartige transkriptive Störungen (»Störungt(ranskriptiv)«) sind nicht mehr nur als ein den Informationsaustausch behinderndes und die sprachlichen Signifikanten aus dem Zustand ihrer medialen Transparenz reißendes ›Rauschen‹, sondern als »Produktivitäts-Prinzip sprachlicher Sinngenese« zu begreifen.44 Die »Timeout-Phasen«, die solche Unterbrechungen generieren, lösen den reziproken Vorgang von kritischer Verstehensanstrengung und reflexiver Selbstlektüre überhaupt erst aus. Dies ist ein Vorgang, der beim Schreiben eigentlich permanent eine Rolle spielt. Allein der Umstand, dass Autorinnen und Autoren während des Schreibens Korrekturen vornehmen und dadurch von einem Text in den meisten Fällen zahlreiche Fassungen existieren, unterstreicht die Bedeutung der »Time-out-Phasen«. Um ein Beispiel zu geben: Von der den »deutsch-deutschen Literaturstreit« auslösenden Erzählung »Was bleibt« (1979/ 1990) von Christa Wolf finden sich in deren Nachlass elf Manuskriptteile (Signaturen 816 bis 826), die vom 25. März 1979 bis zum November 1989 reichen. Ein Vergleich der verschiedenen Fassungen zeigt, dass die Unterstellung von Kritikern, die Autorin habe die Erzählung 1989 umgeschrieben und den Wendeverhältnissen angepasst, schlichtweg falsch, ja denunziatorisch gewesen ist. Denn: Die Grundstruktur der Erzählung wie auch die zentralen stofflich-thematischen Linien mit den entsprechenden Vernetzungen lagen bereits im Sommer 1979 vor. Bei den nachfolgenden Bearbeitungen vom November 1989 handelt es sich lediglich um kleinere sprachliche Korrekturen, die den Inhalt bzw. die Botschaft des Textes nicht tangieren.45 Ludwig Jäger geht nun weiter davon aus, dass »kommunikative Verläufe« in mindestens »zwei Zuständen« existieren können: Das ist einerseits ein Zustand der Ungestörtheit. In dieser Situation sind die »verwendeten sprachlichen (symbolischen) Mittel als solche nicht thematisch, weswegen ein unmittelbares ›looking through‹ auf die Semantik des Kommunizierten möglich ist«. Einen derartigen kommunikativen Zustand bezeichnet Jäger als »Zustand der medialen Transparenz«, der eine Situation beschreibt, in der das »jeweilige Zeichen/Medium mit Bezug auf den Gehalt, den es mediatisiert (distribuiert, archiviert, konstituiert) verschwindet, transparent wird«.46 Wendet man diese Überlegung 43 Jäger, Störung und Transparenz. 2004, S. 46. 44 Ebd., S. 41. 45 Vgl. Gansel, Carsten: Erinnerung, Aufstörung und »blinde Flecken« im Werk von Christa Wolf. In: Christa Wolf. Im Strom der Erinnerung. Hrsg. von Dems. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, S. 15–42. 46 Jäger, Störung und Transparenz. 2004, S. 60.
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auf das Schreiben an, entsteht eine Situation, in der eine Autorin oder ein Autor sich in einem Schreibfluss befindet und das Fixierte in dieser Form akzeptiert. Vom beschriebenen Zustand setzt Jäger andererseits einen »Zustand der Unterbrechung des Transparenz-Modus« ab. Dabei kommt ein »›looking at‹ auf bestimmte thematisierte Ausschnitte der Rede in ihrer materialen Präsenz« zustande, weil diese aus dem »kommunikativen Verlauf gelöst und Gegenstand transkriptiver Bearbeitung werden«.47 Transkription meint insofern nach Jäger den Übergang von der Störung zur Transparenz. Eine Störung würde in diesem Sinne ein transkriptives Verfahren der Remediation in Gang setzen, bei dem das »Zeichen/Medium als (gestörter) Operator in den Fokus der Aufmerksamkeit tritt«.48 Ausgehend davon wird Störung wie folgt gefasst: »Störung soll also […] jeder Zustand im Verlauf einer Kommunikation heißen, der bewirkt, dass ein Medium (operativ) seine Transparenz verliert und in seiner Materialität wahrgenommen wird, und Transparenz jeder Zustand, in dem die Kommunikation nicht ›gestört‹ ist, also das Medium als Medium nicht im Fokus der Aufmerksamkeit steht.«49
Der Zustand der Störung wird von daher unter Bezug auf Alfred Schütz als das »Relevantwerden des Mediums« verstanden und der »Zustand der Transparenz« als sein »Wiedereintritt in den Modus der Vertrautheit«.50 Es ist also die funktionale Kette von Störung–Transkription–Transparenz, die »die Prozesse kultureller Semantik in Gang hält und stabilisiert«, so Jäger.51 Wenn Jäger vom »Relevantwerden des Mediums« spricht, dann sind damit genau jene Phasen gemeint, in denen Autoren beim Schreiben der Texte gewissermaßen innehalten, den Schreibprozess unterbrechen und möglicherweise im Zweifel darüber sind, auf welche Weise sich Handlung und Figuren weiterentwickeln, wo eventuell ein Wechsel des Schauplatzes ansteht oder sich der Point of View ändern sollte. Auch gehört es zu den zentralen Fragen, wie ein Textanfang gestaltet wird oder wer die Geschichte erzählt. Jede dieser narratologischen Entscheidungen – unabhängig davon, wie weit die Geschichte bereits erzählt ist – kann kurzzeitige Schreibpausen zur Folge haben, aber auch zu Schreibblockaden, ja zu einem ›writers block‹ führen. So problematisch das im Einzelfall sein mag, letztlich handelt es sich bei diesen Phasen um Prozesse, die zum Schreiben notwendigerweise dazugehören. Die Gründe dafür können freilich sehr unterschiedlicher Art sein. Nachfolgend sei dies an zwei Beispielen exemplifiziert.
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Ebd., S. 60–61. Ebd., S. 61. Ebd., S. 62. Ebd., S. 63. Ebd., S. 65.
32
Carsten Gansel
5.
Zwischen Rausch und Schreibstörung – Hans Fallada und die Originalfassung von »Kleiner Mann – was nun?« (1932)
Im Frühjahr 2016 erschien Hans Falladas Roman »Kleiner Mann – was nun?« erstmals in der Originalfassung, die um ein Drittel länger ist als jener Text, der 1932 im Rowohlt Verlag publiziert wurde und zum Welterfolg avancierte.52 Es soll an dieser Stelle aber nicht um einen Fassungsvergleich gehen, sondern vielmehr – auf der Grundlage der im Archiv aufgefundenen Urfassung – um das Wechselspiel zwischen Schreibrausch und Schreibblockade. Fallada hatte am 19. Oktober 1931 mit dem Schreiben an seinem Roman begonnen. Und bereits am 19. Februar 1932, nach der erstaunlich kurzen Zeit von vier Monaten, war der Roman vollendet. In welchen Abständen die einzelnen Teile des Romans entstanden und wie es um Korrekturen stand, lässt sich anhand des Urmanuskripts nachvollziehen. Hinzu kommt, dass man anhand des handschriftlichen Originals und der Einträge am linken Rand genau erfassen kann, an welchem Tag welche Kapitel oder Teile des Romans entstanden. Grundsätzlich gilt für den Autor Fallada: Wenn er schrieb, dann arbeitete er ungemein konzentriert und wie im Rausch. Bis zum 3. November 1931 war Fallada in einer Art Flow bereits bis zur Seite 100 gekommen, dann legte er eine Schreibpause ein, und bis zum 25. November müssen die restlichen zehn Seiten entstanden sein, denn mit dem 25. November lagen das »Vorspiel« sowie der erste Teil des Romans vor. Ende November begann er bereits mit dem zweiten Teil, der Berlinhandlung. Es folgte eine konzentrierte Arbeitsphase, in der Fallada täglich um die sechs Seiten schaffte. Auch hier gab es zwischen dem 30. November und dem 4. Dezember kürzere Pausen. Aber ab dem 8. Dezember schrieb Fallada erneut wie im Rausch. Doch mit der Seite 234 brach die handschriftliche Fassung ab. Fallada geriet in eine Schreibpause, die zur Krise auswuchs. Warum das so war, lässt sich durchaus nachvollziehen. Der Autor hatte seine Hauptfiguren Pinneberg und Lämmchen bis zu jenem Punkt geführt, wo ihr Kind geboren wird: der »Murkel«, wie sie es liebevoll nennen. Entsprechend beendete Fallada das Kapitel mit einer für das junge Paar beglückenden Szene, die sich in der Buchfassung findet: »Und Pinneberg warf noch einen Blick auf seinen Sohn und ging zu Lämmchen, und Lämmchen strahlte ihm entgegen und flüsterte: ›Ist er nicht süß, unser Murkel? Ist er nicht schön?‹ ›Ja‹, flüsterte er. ›Er ist süß! Er ist schön!‹«53
52 Gansel, Carsten: Von Robinson Crusoe, Charlie Chaplin und den Nazis. Das wiederentdeckte Originalmanuskript von Hans Falladas »Kleiner Mann – was nun?« (Nachwort). In: Hans Fallada. Kleiner Mann – was nun? Erstmals in der Originalfassung. Berlin: Aufbau-Verlag 2016, S. 485–552. 53 Ebd., S. 259.
Autorschaft, Schreiben und das Erzählen von Geschichten
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Nachdem Fallada also in der erstaunlich kurzen Zeit von etwa zwei Monaten bereits zwei Drittel des Romans geschafft hatte, war er von der Chronologie seiner Geschichte an einem Punkt angelangt, bei dem es selbst für einen so fleißigen und eruptiven Schreiber angeraten schien, eine Schreibpause einzulegen und über den weiteren Verlauf der Handlung nachzudenken. Es musste folglich mit Notwendigkeit zu einer »Time-out-Phase«, also einer transkriptiven Störung kommen, die in diesem Fall aber keineswegs eine Behinderung des Schreibens darstellte, sondern bei der es sich im Sinne von Ludwig Jäger um ein »Produktivitäts-Prinzip sprachlicher Sinngenese« handelte.54 Die »Time-outPhase« motivierte den Vorgang einer kritischen Verstehensanstrengung und führte nolens volens zu einer reflexiven Selbstlektüre von Fallada. Das hatte nachvollziehbare Gründe: Mit der Geburt des Murkel änderte sich die Figurenkonstellation insofern, als Pinneberg eine Familie zu versorgen hatte, womit sich der Existenzdruck für ihn weiter erhöhte. Aber auch an der Konzeption der Figur Lämmchen mussten notwendige Veränderungen vorgenommen werden, denn sie war nun Mutter, womit sich ihre alleinige Konzentration von Pinneberg zu einem Großteil auf den Murkel verlagerte. Diese Gegebenheiten der Geschichte hatte Fallada zu berücksichtigen. Insofern wäre es überzogen, von einer Schreibkrise zu sprechen, auch wenn er später einen solchen Eindruck zu erwecken suchte. Dies mag einmal mehr mit der Auffassung zusammenhängen, dass es für das Erscheinungsbild eines Autors in der Öffentlichkeit abträglich ist, wenn die Leser den Eindruck gewinnen, das Schreiben sei ein Spaziergang und ein Roman würde ohne krisenhafte Zustände entstehen. In einem undatierten Vortragsmanuskript von sieben Seiten, das vermutlich 1932 entstand und für den Rundfunk gedacht war, sprach Fallada entsprechend von seinen Qualen und davon, dass er nicht mehr vorwärtskam und er deshalb »mitten im Winter, im halben Dezember« auf die Insel Hiddensee fuhr. Hier sei dann die Schreibblockade, der ›writers block‹, gelöst worden. »Es ist wie ein Rausch«, so Fallada, »ich überschreite mein Quantum, ich schreibe an einem Tag das zweifache, das dreifache Pensum.«55 Sachlich betrachtet, kann man sagen, dass der Zustand der Störung bzw. die Schreibpause dazu geführt haben, dass Fallada das »Relevantwerden des Mediums« erlebt. Mit der Lösung des Problems um die veränderte Figurenkonstellation von Pinneberg und Lämmchen gerät er dann in den »Zustand der Transparenz« und in den für seine Autorpersönlichkeit charakteristischen Schreibrausch.
54 Ebd., S. 41. 55 Fallada, Hans: Meine Damen und Herren. Vortragsmanuskript. o. J. In: Hans-Fallada-Archiv. Feldberg. Signatur N 6, Blatt 3.
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6.
Carsten Gansel
Schreibstörung und -qual: Hans Werner Richter und »Die Geschlagenen«
Hans Werner Richter ist im kulturellen Gedächtnis vor allem als Spiritus Rector der für die deutsche Literatur nach 1945 maßgeblichen Gruppe 47 verankert. In der Gegenwart sind seine Romane und Erzählungen inzwischen eher weniger bekannt.56 Dabei gehört sein erster Roman »Die Geschlagenen«, der 1948 erschien, zu den wichtigsten Antikriegsromanen nach 1945. Um den Inhalt des Textes geht es an dieser Stelle nicht, vielmehr wird auf den Schreibprozess und die damit in Verbindung stehenden Schreibhemmungen und -blockaden eingegangen. Nachdem die Entscheidung gefallen war, dass es ein »Zeitroman« über die Jahre des Zweiten Weltkriegs werden sollte, fand Richter keine adäquate Form, denn das »Was« und »Wie« des Erzählens funktionierte nicht. Einige Jahre später hat Hans Werner Richter den Entstehungsprozess des Romans erinnert und dabei auch die Gründe für die aufgekommenen Schreibhemmungen angedeutet.57 Die literarische Darstellung sei nicht das geworden, »was sie sein sollte«, weder »die Landschaft, noch eine Straße und schon gar nicht die Personenbeschreibungen«. Und weiter reflektiert der Autor im Typoskript: »Ob ein Feldwebel, ein General oder ein Unteroffizier, ob dick, dünn, groß, klein, krumm, gerade, lang, sie sahen alle gleich aus, einer wie der andere.«58 Immer wieder musste Richter den Schreibprozess unterbrechen und »Time-out-Phasen« einschieben. Es kam demnach im Sinne von Ludwig Jäger zu transkriptiven Störungen. Richter schrieb die ersten Kapitel, »warf sie weg, schrieb neu und jedesmal wurde alles kürzer, fiel diese oder jene Beschreibung [weg]«.59 So sei der Text »mehr und mehr zu einer Art Sprechroman, einem Dialogroman« geworden. In den Monaten Januar, Februar und März 1948 entstand dann jenes Manuskript, aus dem Hans Werner Richter auf der dritten Tagung der Gruppe 47 im April 1948 in Jugenheim las. Allerdings fiel der Roman dort durch, der Text wurde zerrissen. Nach diesem frustrierenden Leseerlebnis vor der Gruppe 47 warf Richter »den größten Teil des Manuskripts in den Papierkorb«, es blieb wenig von der ursprünglichen Fassung übrig »und auch das Wenige strich ich noch radikal zusammen«, so Richter. Dann kam es erneut zu einer längeren 56 Zum Roman und seiner Entstehung siehe Gansel, Carsten: »Krieg im Rückblick des Realisten« – Hans Werner Richters »Die Geschlagenen«. In: »Es sind alles Geschichten aus meinem Leben«. Hans Werner Richter als Erzähler und Zeitzeuge, Netzwerker und Autor. Hrsg. von Carsten Gansel/Werner Nell. Berlin: Erich Schmidt 2011, S. 10–26. 57 Richter, Hans Werner: Die Entstehung des Romans »Die Geschlagenen« oder von den Schwierigkeiten, mit Klischees fertig zu werden (Typoskript). In: Hans-Werner-Richter-Archiv, Stiftung Archiv der Akademie der Künste (HWR), Signatur 72/86/563. 58 Ebd., S. 5. 59 Ebd., S. 6.
Autorschaft, Schreiben und das Erzählen von Geschichten
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»Time-out-Phase«. Erst im Mai setzte sich der Autor wieder ans Schreiben, er wechselte den Ort und quartierte sich in einem Haus in Altenbeuern in Oberbayern ein. Aus Furcht vor klischeehafter Darstellung ließ Richter nunmehr »fast jede Beschreibung weg oder kürzte und straffte sie so, daß ein Klischee gar nicht mehr entstehen konnte«.60 Auf diese Weise kam nach Richter das zustande, »was man später ›Kahlschlagsprosa‹ nannte«.61 Gleichwohl seien die Schreibqualen unbeschreiblich gewesen und erst ein Gasthof in Altenbeuern habe den ›writers block‹ gelöst: »Erst als ich … mit einem Maler, der ebenfalls in dem Haus wohnte, in dem ich schrieb, ein paar Schnäpse getrunken hatte, schien alles leicht. Betrunken von den Schnäpsen, von der Julihitze und von nunmehr, in diesem Zustand, klaren Erfolgsaussichten, setzte ich mich am Spätnachmittag an die Schreibmaschine. Und jetzt lief es, ein ganzes Kapitel entstand, eine Liebesgeschichte, wie sie schöner auch Hemingway nicht schreiben konnte. Glücklich ging ich ins Bett. Es war spät geworden. Aber ich hatte, so glaubte ich, das Geheimnis des Schreibens für mich entdeckt. Ich durfte nicht nüchtern sein. Ein paar Schnäpse genügten und schon rasselte die Schreibmaschine, arbeitete die Phantasie, und formte sich die Sprache zu plastischen Sätzen.«62
Die Ernüchterung folgte am nächsten Tag. Richter musste erkennen, dass das Geschriebene unbrauchbar war: »Ich las es mit Entsetzen, aber auch mit Scham. Es war Kitsch, was ich geschrieben hatte. Courths Mahler hätte es nicht besser gekonnt. Auch da schien der Mond und die Sterne funkelten und die Dächer lagen im Silberglanz. Dabei nannte sich das Haus, in dem ich wohnte, ›Eichendorff-Haus‹, und in dem Haus spukte noch das Dichterideal ›Carossa, Binding, Bonsels‹. Etwas davon mußte mit dem Schnaps auch in meine Prosa geflossen sein, obwohl ich doch nüchtern kalt, klar und unsentimental schreiben wollte: Krieg im Rückblick des Realisten. Dieses Kapitel verbrannte ich im Garten. Und dann begann ich wieder zu schreiben, mühevoll, qualvoll, so wie es bis zu diesem Tag gewesen war.«63
Was Richter hier ausführlich beschreibt, ist das, was man eine Störung nennen kann. Dabei geschah genau das, was Niklas Luhmann in anderem Zusammenhang zur ›Kategorie Störung‹ herausstellt: Es setzt ein Vorgang ein, bei dem die Wahrnehmung auf die entsprechenden Störstellen gelenkt wird und diese zum Gegenstand der Auseinandersetzung werden. Anders gesagt, es wird ein »Informationsverarbeitungsprozess in Gang« gesetzt. Das ist ein gänzlich nachvollziehbarer Vorgang, denn psychische Systeme, zu denen auch Autoren während eines Schreibprozesses gehören, reagieren auf Störungen bzw. Irritationen, indem sie die Wahrnehmung auf die entsprechende Störstelle (den Text bzw. die 60 61 62 63
Ebd., S. 8. Ebd. Ebd., S. 8f. Ebd.
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Carsten Gansel
Passage im Text) lenken und diese zum Gegenstand einer Selbstreflexion machen: »Man fragt zurück, man thematisiert eine Störung«, so Luhmann.64 Der Zustand der Störung führt dann entsprechend zum »Relevantwerden des Mediums«. Genau dies gilt auch für Hans Werner Richter, der weiter am Text arbeitet: Er kürzt zunächst zurückhaltend, dann streicht er radikal, er lässt Beschreibungen weg, er komprimiert erneut. Und im Ergebnis entsteht dann etwas, das »eigentlich kein Roman [ist], sondern mehr eine große Reportage, die ich bald gut, bald schlecht, bald mittelmäßig fand«.65 Hans Werner Richters selbstkritische Einschätzung änderte nichts daran, dass der Roman »Die Geschlagenen« ein Erfolg wurde und auch international Beachtung fand. Trotz der offensichtlichen Anerkennung war Richter sich seiner Poetologie nicht sicher. Sein Erzählkonzept, das dem autobiografisch grundierten Geschichtenerzählen einen entscheidenden Stellenwert zuwies, erschien ihm unkünstlerisch. Dies hing nicht zuletzt damit zusammen, dass sich nach dem Ausschluss der Moderne in der Zeit des Nationalsozialismus zwischen 1933 und 1945 nunmehr im Westen ein Literaturbegriff etablierte, der sich vom klassischen Geschichtenerzählen geradezu distanzierte. Die entstehenden »äußeren Rahmenbedingungen« für das Schreiben verunsicherten nicht nur einen Autor wie Hans Werner Richter und führten in der Folgezeit zu neuen Schreibkrisen und Schreibblockaden. Daran hat sich bis in die Gegenwart nichts geändert. Was sich allerdings gewandelt hat, ist die Rolle von Autorinnen und Autoren in einer Informations- und Mediengesellschaft.
64 Luhmann, Niklas: Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg: Carl Auer Verlag 2006, S. 127 (3. Auflage). 65 Richter, Die Entstehung des Romans »Die Geschlagenen«, S. 9.
I. Autorschaft – reflektieren und narrativieren
Anna Baccanti
»Cursed, cursed creator!« – Autorschaft zwischen Autonomie und monströser Schöpferkraft in Mary-Shelley-Filmen
1.
Einleitung
Schriftsteller und Schriftstellerinnen sind seit den Anfängen des narrativen Kinos ein beliebtes Sujet.1 Diese Tatsache mag überraschen, da der langwierige, oft unspektakuläre Schreibprozess als besonders ›unkinematisch‹ gilt.2 Der Versuch, sich mit der Kamera dem schöpferischen Prozess zu nähern, ist nämlich mit großen Schwierigkeiten in der Umsetzung verbunden: Wie können Kreativität, Gedanken oder Inspiration gefilmt werden? Dennoch – oder deshalb – sind Filme über Autoren und Autorinnen sehr beliebt, insbesondere in der Form biografischer Filme über historische Figuren, sogenannte Biopics. Diese populären Filme nehmen an der Konstruktion von Literaturgeschichte teil und spielen eine zentrale Rolle im kollektiven Verständnis von Autorschaft und Kreativität. Literarische Biopics bieten deshalb einen wichtigen Einblick in weitverbreitete Vorstellungen von Autorschaft und in deren Wandlungen. In diesem Artikel werde ich zwei Filme über Mary Shelley, die Autorin von »Frankenstein. Or, The Modern Prometheus«, analysieren und die Filme nach ihrem sehr unterschiedlichen Verständnis von Autorschaft hinterfragen. Der erste Film, »Mary Shelley« (2017) von Haifaa Al-Mansour, ist ein konventionelles Biopic, das als Folie für die Diskussion des zweiten, sehr unkonventionellen Films, Ken Russells »Gothic« (1986), dienen soll.3 Interessant am Ersten ist vor 1 Die älteste erhaltene literarische Filmbiografie ist wahrscheinlich »If I Were King« (1920) des Regisseurs James Gordon Edwards mit William Farnum in der Hauptrolle als der französische Dichter François Villon. Von früheren, auch experimentelleren Versuchen, den Schreibprozess zu filmen, sind heute leider nur Standfotos erhalten, so z. B. von Georges Méliès »Shakespeare Écrivant La Mort de Jules César« (1907). 2 Vgl. dazu Buchanan, Judith: Introduction. Image, story, desire: the writer on film. In: The Writer on Film. Screening Literary Authorship. Hrsg. von Judith Buchanan. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2013, S. 3–49, hier S. 3–4. 3 Al-Mansour, Haifaa: Mary Shelley [Film]. UK/LUX/USA/IRL: Gidden Media, Parallel Film et al., 2017; Russell, Ken: Gothic [Film]. UK: Virgin Vision, 1986 (Zeitangaben zu den Filmzitaten werden im Folgenden parenthetisch im Fließtext angemerkt).
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Anna Baccanti
allem seine Stellung innerhalb des Genres des Frauen-Biopics, das ich kurz erläutern möchte. Dennis Bingham konzeptualisiert in seiner ausführlichen Studie »Whose Lives Are They Anyway?«4 Biopics über Männer und über Frauen sogar als zwei unterschiedliche Genres. Innerhalb der Geschichte des Genres sind Frauen nicht nur numerisch weniger vertreten als ihre männlichen Gegenstücke und auf ganz bestimmte Rollen beschränkt, wie George Custen deutlich in Bezug auf das klassische Hollywood zeigt.5 Auch setzen laut Bingham Frauen-Biopics generell (mit sehr wenigen Ausnahmen) ihren Fokus auf das Leiden und Scheitern der Protagonistin: »This book […] sees biographies of men and women as essentially different genres, as criticism of literary biography has also tended to do. Films about men have gone from celebratory to warts-and-all to investigatory to postmodern and parodic. Biopics of women, on the other hand, are weighted down by myths of suffering, victimization, and failure perpetuated by a culture whose films reveal an acute fear of women in the public realm.«6
Dabei bildet die Unvereinbarkeit zwischen privatem und öffentlichem Leben den zentralen Konflikt: »Female biopics play on tensions between a woman’s public achievements and women’s traditional orientation to home, marriage, and motherhood. In consequence, female biopics often find suffering (and therefore) drama in a public woman’s very inability to make her decisions and discover her own destiny.«7
In den letzten Jahren sind Frauen verstärkt ins Zentrum der Biopic-Produktion gerückt. Damit wird oft der explizite Versuch unternommen, bisher vernachlässigte Figuren zu würdigen und und in der »History according to Hollywood« zu kanonisieren. Abgesehen von den kommerziellen Überlegungen, die eine solche Verschiebung begründen mögen,8 kann dies als Teil des breiten feminis4 Bingham, Dennis: Whose Lives Are They Anyway? The Biopic as Contemporary Film Genre. New Brunswick: Rutgers UP 2010. 5 Custen, George F.: Bio/Pics. How Hollywood Constructed Public History. New Brunswick: Rutgers UP 1992. In den ausführlichen Tabellen dokumentiert Custen, dass mehr als 60 % der in Biopics zwischen 1927 und 1960 porträtierten Frauen unter die Kategorien »Entertainer«, »Paramour« und »Royalty« fallen, während jeweils nur ca. 1 % zu den Kategorien »Government/politics« und »Explorer/Adventurer« zählt. Von den 49 Künstler-Biopics aus dieser Zeit haben nur sieben davon Frauen als Protagonistinnen – wenn man auch Biopics über Paare mitzählt. Vgl. S. 256–257. 6 Bingham, Whose Lives Are They Anyway? 2010, S. 10. 7 Ebd. S. 213. 8 Statistische Studien legen nahe, dass Filme mit Frauen in den Hauptrollen in den letzten Jahren bessere Ergebnisse im Box Office erzielt haben: Female-led films outperform at box office for 2014–2017. (letzter Zugriff: 16. 06. 2020). Detailliertere Analysen der Haupt- und Nebenrollen in großen Filmproduktionen zeigen eine
»Cursed, cursed creator!«
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tischen Projekts betrachtet werden, Frauen zur kulturellen Sichtbarkeit zu verhelfen. Dieses Projekt nimmt im Falle von Autorinnen eine besondere symbolische Bedeutung an, denn, wie Séan Burke angemerkt hat, »It would scarcely be an exaggeration to say that the struggles of feminism have been primarily a struggle for authorship – understood in the widest sense as the arena in which culture attempts to define itself«.9Als Beispiel eines neueren Biopics, das genau dieses Thema behandelt, kann »Colette« (Wash Westmoreland, 2018) genannt werden, in dem die französische Schriftstellerin dafür kämpft, dass ihr die Autorschaft der erfolgreichen Claudine-Romane anerkannt wird, die zunächst unter dem Namen ihres Mannes veröffentlicht wurden. Viele zeitgenössische biografische Filme über Schriftstellerinnen und andere kreative Frauen versuchen, das Leben ihrer Protagonistinnen zu würdigen, ohne in die Genrefalle der »Abwärtsbahn« von Erniedrigung und Scheitern zu gelangen, welche das klassische Frauen-Biopic kennzeichnet.10 Solche Filme sind aber immer noch mit einem doppelten männlich kodierten Diskurs konfrontiert: mit den kurz beschriebenen Konventionen des Genres einerseits und mit der langen Tradition des Geniegedankens andererseits, der Frauen historisch aus dem schöpferischen Prozess ausschließt und seinerseits die Darstellung in vielen Biopics noch stark prägt. Neuere, explizit revisionistische Biopics neigen dazu, sich in ihren Repräsentationen kreativer Frauen auf einem Spektrum zwischen den zwei Polen der Aneignung und Ablehnung von Genrekonventionen zu bewegen: Auf der einen Seite übernehmen manche Biopics über Frauen die Konventionen des klassischen (Männer-)Biopics und übertragen das heroische Narrativ des ›großen Mannes‹ auf Frauen, um deren Status als große Künstlerinnen zu betonen. Damit verwischen sie die Grenzen zwischen Männer- und Frauen-Biopic, die Bingham so scharf zieht. Ein erfolgreiches Beispiel dafür ist »Frida« (Julie Taymor, 2002): Obwohl Schmerz und Krankheit im Zentrum dieser Filmbiografie von Frida Kahlo stehen, stilisiert Taymor das Leben der mexikanischen Künstlerin als eine triumphale Verwandlung von Leid in große Kunst – sogar ihr Tod erscheint hier als ein Siegeszug und ein Kunstwerk, und die Figur der Künstlerin nimmt transzendentale Züge an.11 In diesem Sinne erinnert immer noch von Männern dominierte Welt, in der jedoch die Anzahl der von Frauen besetzten Rollen tendenziell steigt. Vgl. Lauzen, Martha M.: It’s a Man’s (Celluloid) World: Portrayals of Female Characters in the Top Grossing Films of 2019. (letzter Zugriff: 16. 06. 2020). 9 Burke, Séan: Section 1: Introduction. In: Authorship. From Plato to the Postmodern. A Reader. Hrsg. von Séan Burke. Edinburgh: Edinburgh UP 1995, S. 145–150, hier S. 145. 10 Bingham spricht in diesem Kontext von einer typischen »downward trajectory«. Bingham, Whose Lives Are They Anyway? 2010, S. 221. 11 Für ausführliche Analysen des Films »Frida«, u. a. bezüglich der christologischen Symbolik, sei auf das entsprechende Kapitel verwiesen in Polaschek, Bronwyn: The Postfeminist Biopic.
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»Frida« an klassische Künstlerfilme wie »Lust for Life« (Vincente Minelli, 1956), der das Leben des ›leidenden Künstlers‹ schlechthin behandelt: Vincent Van Gogh. Auf der anderen Seite lehnen manche Frauen-Biopics das Narrativ des ›großen Mannes‹ und die damit verbundenen Genrekonventionen ganz ab und suchen nach alternativen Darstellungsweisen, z. B. indem sie als kollektive Biopics eine Pluralität der Stimmen einführen und Mikroerzählungen gegenüber einer typischen (film)biografischen ›großen Erzählung‹ bevorzugen. »The Hours« (Stephen Daldry, 2002) verbindet beispielsweise in seiner unkonventionellen, fragmentierten narrativen Struktur die Biografie einer kanonischen Autorin wie Virginia Woolf mit dem Leben anderer (fiktionaler) Frauen an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen historischen Zeiten.12 Oft verbinden zeitgenössische Biopics Aspekte dieses klassischen Filmgenres mit innovativeren (wenn auch nicht gerade subversiven) Elementen: Der Film »Hidden Figures« (Theodore Melfi, 2016) erzählt z. B. die Geschichte von drei afroamerikanischen Mathematikerinnen, die in den 1960er Jahren bei der NASA arbeiten und für die Anerkennung ihrer Leistung gegen eine doppelte Diskriminierung – als Frauen und als Schwarze – kämpfen müssen. Der Titel des Films verweist dabei bereits auf dessen Programm, nämlich die Verdienste von bisher vergessenen oder ›versteckten‹ Figuren würdigen zu wollen. Während der Film die Geschichte der Protagonistinnen, entgegen der Genrekonventionen, auch hier als kollektiven Kampf einer solidarischen Gruppe inszeniert und Protagonistinnen wählt, die von der ›Norm‹ der klassischen Biopic-Figuren abweichen,13 rekurriert er gleichzeitig auf den feierlichen Ton der klassischen Biopics über große (männliche) Wissenschaftler sowie auf typische narrative Elemente wie z. B. eine Version der ›Gerichtsszene‹, in der sich die Hauptfigur gegen ihre Gegner beweisen muss. Viele der zitierten Frauen-Biopics weisen nicht nur ›vermischte‹ Charakteristiken auf, was ihre Stellung innerhalb oder außerhalb der filmischen Genrekonventionen angeht, sondern auch eine gleichsam ›vermischte‹ ideologische Narrating the Lives of Plath, Kahlo, Woolf and Austen. Basingstoke: Palgrave Mcmillan 2013; siehe außerdem Olsin Lent, Tina: Life as Art/Art as Life. Dramatizing the Life and Work of Frida Kahlo. In: Journal of Popular Film & Television, 2007, S. 68–76. 12 Interessanterweise wurde »The Hours« von manchen als feministischer Film gefeiert, aber gleichzeitig – gerade aus einer feministischen Perspektive heraus – aufgrund der Darstellung von psychischer Krankheit kritisiert, ähnlich wie der formal konventionellere Film »Sylvia« (Christine Jeffs, 2003) über die amerikanische Autorin Sylvia Plath. Lorraine Sim kann als eine der schärfsten Kritikerinnen genannt werden. Siehe Sim, Lorraine: Writers and Biographical Cinema. In: Australian Feminist Studies, 2006, H. 51, S. 355–368; und ebd.: »No ordinary day«. The Hours, Virginia Woolf and everyday life. In: Hectate, 2005, H. 31, S. 60–70. 13 »The degree to which white, North American or European males of the twentieth century have dominated this canon is staggering […]« (Custen, Bio/Pics. 1992, S. 78).
»Cursed, cursed creator!«
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Haltung, besonders in Bezug auf feministische Positionen. Um gerade diese Spannung zu beschreiben, ist Bronwyn Polascheks Begriff des postfeministischen Biopics sehr hilfreich – ein Subgenre, das nach Polaschek all die bisher genannten Filme einbezieht und sich sowohl vom ›klassischen‹ Frauen-Biopic als auch vom explizit feministischen Biopic unterscheidet: »While some contemporary female biopics remain mired in the outdated conventions of the genre, and recent feminist biopics overtly reject these conventions, the postfeminist biopic uneasily combines elements from both, and overlays them with a postmodern deconstruction of grand narratives of any sort […].«14
So können postfeministische Biopics z. B. den feministischen Diskurs aufnehmen und die sozial sanktionierte Beschränkung der Frau auf die häusliche Sphäre kritisieren sowie gleichzeitig die heterosexuelle Beziehung als zentrales Ereignis und wichtiges Element im Leben und in der Identitätsbildung der Protagonistin darstellen. Die dadurch entstehende Spannung kann als ideologisch widersprüchlich kritisiert oder als eine Steigerung der Komplexität in der Darstellung des Lebens von historischen Frauen willkommen geheißen werden – oder beides gleichzeitig, was wiederum gut zu der ›postfeministischen‹ Position passen würde. Madeleine Dobie spricht von einer ideologischen Spaltung, oder »ideological splitting«15, (ideological splitting), die sie zunächst im britischen Heritage Film identifiziert, die aber generell in vielen historischen Filmen, inklusive Biopics, zu finden ist. Dobie schreibt, dass diese Filme »gesture toward the social and political concerns of feminism, but also venture into the wellcharted territory of another genre of film: the date movie or romantic comedy«.16 Diese Beobachtung trifft auch auf »Mary Shelley« zu, wo die Konstruktion der Autorin auf widersprüchlichen kulturellen Auffassungen fußt: Einerseits betont der Film die Suche nach Autonomie und Selbstbestimmung der Protagonistin, andererseits rekurriert er auf die narrativen Genrekonventionen der romantischen Komödie und des klassischen Frauen-Biopics, in denen die Liebesgeschichte alle anderen Bereiche überschattet.
14 Polaschek, The Postfeminist Biopic. 2013, S. 163. 15 Dobie, Madeleine: Gender and the Heritage Genre. Popular Feminism Turns to History. In: Jane Austen & Co: Remaking the Past in Contemporary Culture. Hrsg. von Suzanne R. Pucci/ James Thompson. Albany: State University of New York Press 2003, S. 247–260, hier S. 215. 16 Ebd.
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Anna Baccanti
Mary Shelley
Die saudi-arabische Regisseurin Haifaa Al-Mansour zeigt in ihren Filmen ein besonderes Interesse für Geschichten weiblicher Emanzipation, und »Mary Shelley« (2017) ist dabei keine Ausnahme. Wie ihre anderen Werke »Wadjda« (2012) und »The Perfect Candidate« (2019) erzählt auch ihr Film über die Autorin von »Frankenstein« von einem Kampf gegen gesellschaftliche Konventionen. »Mary Shelley« ist ein gutes Beispiel für die Aneignung des klassischen feierlichen Männer-Biopic: Der Film zelebriert die Autorin als Originalgenie und spannt einen narrativen Bogen von der Überwindung externer, vor allem gesellschaftlicher Hürden hin zum künstlerischen Triumph. Gleichzeitig nimmt die Liebesgeschichte eine viel zentralere Stellung ein als im klassischen MännerBiopic. »Mary Shelley« lässt sich daher auch sehr gut als postfeministisches Biopic analysieren, das eine Form der ideologischen Spaltung aufweist. Im Skript sind ausdrücklich feministische Ideen eingebettet, die u. a. durch die zahlreichen Verweise auf Mary Wollstonecraft – Mary Shelleys Mutter und Vorreiterin der Frauenbewegung – den Feminismus als Dialogfeld und ideologischen Kontext des Films etablieren. Das bereits angesprochene ideological splitting zeigt sich einerseits in der Einbettung feministischer Thematiken in die Konventionen ideologisch tendenziell konservativer Genres wie das klassische Biopic und die romantische Komödie, in denen die Zentralität der heterosexuellen Beziehung affirmiert wird. Andererseits (und vielleicht auf subtilere Art) lässt sich eine ideologische Spannung in der Darstellung von Kreativität feststellen: Mary wird als geniale Schriftstellerin zelebriert, wobei der Film aber auf Topoi zurückfällt – wie z. B. die Alternative zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion –, die innerhalb des historischen Geniediskurses den Ausschluss der Frauen aus dem Bereich der schöpferischen Aktivität rechtfertigen. »Mary Shelley« erzählt chronologisch den Werdegang der Protagonistin (gespielt von Elle Fanning), von ihrem 16. Lebensjahr bis zur Publikation von »Frankenstein« einige Jahre später, und ihre turbulente Liebesgeschichte mit dem Dichter Percy B. Shelley (Douglas Booth). Der Film präsentiert sich in seiner Mise en Scène und durch die typischen Paratexte, die Ort und Zeit konkretisieren, als historisch akkurate Darstellung.17 Schon durch seinen Titel – identisch mit dem Namen der Hauptfigur – und das Werbematerial positioniert sich »Mary Shelley« in der Tradition des klassischen Biopics mit all den Ansprüchen auf Authentizität, die das Genre begleiten.18 17 Vgl. dazu Custen, Bio/Pics. 1992, S. 51ff. 18 Auch Nieberle betont, dass das Biopic, obwohl es ein fiktionales Genre ist, »nicht ohne die narrativen und ästhetischen Mittel des ›Authentischen‹ auskommen will« (Nieberle, Sigrid: Literaturhistorische Filmbiographien. Autorschaft und Literaturgeschichte im Kino. Berlin: de Gruyter 2008 (Medien und kulturelle Erinnerung; Bd. 7), S. 27).
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Gemäß der in der Genreforschung beschriebenen Strukturen entwickelt der Film eine doppelte Plotlinie19: die Liebesgeschichte und parallel dazu den professionellen Werdegang als Schriftstellerin. Die Liebesgeschichte mit Percy bildet den Fokus des Films, vor allem im ersten Teil, und treibt die Geschichte stärker voran als die literarische Arbeit Marys. Im Kontrast zur typischen, von Bingham beschriebenen »downward trajectory« vieler Frauen-Biopics endet »Mary Shelley« mit einem doppelten Erfolg: der Versöhnung mit dem Geliebten Percy und der Publikation von »Frankenstein«. Der Film weist mehrere Lese- und Schreibszenen auf. Die visuelle Inszenierung folgt dem Modell, das Hila Shachar als »contemporary literary biopic template of representation«20 identifiziert und auf Filme wie »Becoming Jane« und »Shakespeare in Love« zurückführt. Die charakteristische Bildsprache des zeitgenössischen Biopics konzentriert sich insbesondere auf kleinste Details im Arbeitszimmer des/der Schriftsteller*in, auf ästhetisierte Aufnahmen von verschiedenen Schreibgeräten und auf Nahaufnahmen des/der Autor*in in meditativer Haltung.21 All die Inhalte der Schreibszenen werden in »Mary Shelley« durch ein Voiceover wiedergegeben – ein typisches Mittel, um den Eindruck zu erwecken, in die ›Innerlichkeit‹ des/der Autor*in einführen zu können. Die hier auffällige massive Verwendung vom Voiceover ist damit verbunden, dass der Film weitgehend auf die eigentliche Visualisierung von Marys Imaginationswelt verzichtet – mit Ausnahme von drei Traumsequenzen. In den ersten beiden Träumen bzw. Albträumen geht es um Marys Kind, das noch im Babyalter stirbt. Die dritte Traumsequenz – die einzig wirklich ›fantastische‹ – scheint als Inspirationsmoment für »Frankenstein« zu dienen. Durch den Bezug auf Henry Fuselis Gemälde »Der Nachtmahr« ist diese Szene deutlicher als die anderen als Albtraum markiert und enthält eine Hommage an Ken Russels »Gothic«, in dem das unheimliche Bild prominent vorkommt. Eine detailliertere Analyse dieser Traumsequenzen würde den Umfang dieses Aufsatzes sprengen. Interessant zu bemerken ist aber, dass diese Traumsequenzen sich weder von der visuellen Gestaltung her vom Rest des Films absetzen noch durch den Schnitt deutlich als Träume markiert sind, da der Übergang als unsichtbarer Schnitt erfolgt. Dies entspricht der generellen Tendenz im zeitgenössischen literarischen Biopic, die 19 Taylor beschreibt, wie das Biopic neben dem episodischen Karriereplot den stärker narrativkausal ausgerichteten Subplot der Liebesgeschichte braucht. (In vielen Frauen-Biopics nimmt aber der romantische Plot die zentralere Stellung ein.) Taylor, Henry McKean: Rolle des Lebens. Die Filmbiographie als narratives System. Marburg: Schüren 2002 (Züricher Filmstudien; Bd. 8), S. 124. 20 Shachar, Hila: Screening the author. Cham: Palgrave Macmillan 2019 (Palgrave studies in adaptation and visual culture), S. 15. 21 Vgl. auch Buchanan, The Writer on Film, S. 5.
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Grenze zwischen der ›Realität‹ und der Imaginationswelt des/der Autor*in verschwimmen zu lassen.22 Dadurch ergibt sich in »Mary Shelley« eine Spaltung in der Darstellung von Marys innerer Welt: Die Schreibszenen geben ihre Gedanken sprachlich wieder, während die Traumszenen sie visuell darstellen. Besonders relevant für diesen Artikel ist die Tatsache, dass dies auch auf die literarische Imagination zutrifft, genauer auf die Idee für »Frankenstein« im dritten Albtraum. Hier folgt Shachar Shelleys Selbstdarstellung – und folglich dem romantischen Klischee einer ›unbewussten‹ und unkontrollierbaren Imaginationskraft – und inszeniert die erste Intuition für den Roman als einen lebhaften Traum, eine Vision »with a vividness far beyond the ususal bound of reverie«, wie Shelley schreibt.23 Inhalt der Vision ist genau der Augenblick, in dem Frankenstein – den Shelley in ihrer Beschreibung vom Traum bezeichnenderweise »artist« nennt24 – seine Kreatur zum Leben erweckt. Im Folgenden werde ich mich auf die Analyse der Schreibszenen konzentrieren. Am Anfang des Films schreibt die als naiv dargestellte Mary Geistergeschichten. Der Film wird sogar mit einer Schreibszene eröffnet, die auch die ›gotische‹ Atmosphäre etablieren soll, in der Mary am Grab ihrer Mutter schreibt. Ihr Vater, William Godwin, selbst Schriftsteller, hält davon nicht viel: »This is the work of an imitator«, sagt er ihr. »Rid yourself of the thoughts and words of other people, Mary. Find your own voice« (09:02–09:12). Diese Worte geben erstens einen Hinweis auf den Gang der Erzählung, die in Marys Verfassen eines originellen Werkes kulminiert; zweitens gewähren sie Einsicht in die Autorschaftskonzeption des Films, der ein autonomieästhetisches Ideal verfolgt. In allen darauffolgenden Schreibszenen (bis auf die Niederschrift von »Frankenstein«) schreibt Mary keine fantastischen Geschichten mehr, sondern ihr Tagebuch. Die Hinwendung zu sich ist als ein Prozess des Erwachsenwerdens und der Selbstfindung dargestellt, der, zusammen mit den schmerzhaften Lebenserfahrungen, die im Tagebuch reflektiert werden, zur Verfassung einer ›reiferen‹ Geistergeschichte – »Frankenstein« – führen wird. Auffallend an der Mise en Scène dieser Tagebuchschreibszenen ist, dass auf Marys Schreibtisch fast immer Spiegel vorkommen. Als Schminkspiegel – typisch ›weibliches‹ Attribut – geben sie einerseits einen Hinweis darauf, dass Mary keinen eigens zum Schreiben dienenden Tisch hat, während Percy in einem separaten Zimmer arbeitet. Andererseits weist der Spiegel darauf hin, dass Mary 22 Marcus, Laura: The Writer in Film. Authorship and Imagination. In: The Writer on Film. Screening Literary Authorship. Hrsg. von Judith Buchanan. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2013, S. 35. 23 Shelley, Mary: Introduction to Frankenstein, Third Edition (1831). In: Ebd.: Frankenstein. The 1818 text, contexts, criticism. Hrsg. von J. Paul Hunter. New York/London: Norton 2012. 2. Aufl. (A Norton Critical Edition), S. 168. 24 Ebd.
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über sich selbst schreibt. In Bezug auf ein Tagebuch mag diese Tatsache selbstverständlich erscheinen. Interessant ist aber, dass der Film das gleiche Bild in Bezug auf »Frankenstein« benutzt, dessen Manuskript ebenfalls vor einem Spiegel entsteht. Obwohl die Niederschrift von »Frankenstein« erst gegen Ende des Films erfolgt, tauchen zahlreiche Zitate aus dem Roman schon an früheren Stellen im Drehbuch auf. Die meisten davon kommen im Voiceover vor, und zwar als Marys Tagebucheinträge. Sie spiegeln daher ihre Gefühle und ihre aktuelle persönliche Situation. Die frisch verliebte Mary schreibt z. B. nach ihrer Liebesflucht mit Percy »All around me I see bliss« (41:45). Dieser Satz wird später im Film in der Schreibszene von »Frankenstein« wieder aufgenommen. Hier wird aber der im Roman von der Kreatur gesprochene Satz mit einer Ergänzung versehen, welche die Bedeutung völlig verändert (und nun nicht nur die Gefühle der verzweifelten Kreatur, sondern auch Marys Liebeskummer ausdrückt): »Everywhere I see bliss, from which I alone am irrevocably excluded«25 (1:33:32–1:33:45). Später in Genf, nach einem Streit mit Percy und nachdem Lord Byron Marys Schwester, die schwangere Claire, verstoßen hat, schreibt Mary »Men appear to me as monsters«. Diese Aussage ist in »Frankenstein« Elisabeth zugeteilt und erfolgt nach dem ungerechten Todesurteil gegen Justine. In diesem Zusammenhang ist das Wort »men« in seiner Bedeutung als »Menschen« zu verstehen, während die filmische Mary sich in ihrem Tagebuch offensichtlich auf Männer bezieht.26 Insgesamt kann festgestellt werden, dass durch die im Drehbuch verwobenen intertextuellen Bezüge, die das private Tagebuch und den Roman gewissermaßen gleichsetzen, »Frankenstein« als unmittelbares Ergebnis von Mary Shelleys Leben dargestellt wird: Das Leben fließt direkt in die Literatur ein – wenngleich mit Bedeutungsverschiebungen. Solche Kontext- und Bedeutungsverschiebungen sowie die Tatsache, dass die verwendeten Zitate von unterschiedlichen Romanfiguren gesprochen werden, werden jedoch nur durch einen Vergleich mit dem »Frankenstein«-Text ersichtlich. Im Film unterscheidet sich die Darstellung nämlich gar nicht von Marys Tagebucheinträgen: Sie schreibt immer über sich selbst. Die kurze Szene, in der Mary den Roman »Frankenstein« verfasst, ist im Film in einen Moment der Krise positioniert. Gleich nach der Rückkehr aus Genf, wo sie den Sommer mit Percy, Byron, Claire und Dr. Polidori verbracht hat, ist Mary noch tief erschüttert vom Tod ihres Kindes und auf dem Tiefpunkt ihrer Beziehung mit Percy, dem im Rahmen der Handlung indirekt die Schuld an diesem
25 Vgl. Shelley, Frankenstein. 2012 [1818], S. 68. 26 Vgl. ebd., S. 63.
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Tod gegeben wird.27 Mary schreibt den Roman in einem plötzlichen ›kreativen Flow‹. Musik treibt die Szene voran in wachsender Spannung, während im Voiceover Textauszüge aus dem Roman zu hören sind. Währenddessen rekapituliert eine Montagesequenz Momente aus Marys Leben (bzw. Szenen aus dem Film) – auch hierdurch fließt also ihr Leben direkt in den Roman ein. Besonders bedeutend ist, dass diese Schreibszene von einer Schuss-Gegenschuss-Sequenz eingeführt wird, die Marys Blick auf die leere, neben dem Schreibtisch stehende Wiege zeigt (1:32:16–1:32:24). Dieses Detail nimmt mit der Analogie von biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion eine lange »Frankenstein«-Interpretationslinie auf, die sich auf Mary Shelleys Beschreibung des Romans als »my hideous progeny«28 stützt. Mit diesem Schnitt suggeriert der Film aber auch eine Kausalität zwischen dem Tod des Kindes und dem Verfassen des Romans. Schnell schlägt damit der Versuch einer feministischen Darstellung des Lebens Mary Shelleys in alte Motive um, die historisch als Argumente benutzt wurden, um Frauen aus dem Bereich des künstlerischen Schaffens auszuschließen. Die Verbindung zwischen dem Verlust des Kindes und der literarischen Aktivität scheint nämlich in einer Kompensationsthese zu liegen: Künstlerische und literarische Werke seien ein Ersatz für die Fähigkeit, Kinder zu gebären – und daher tendenziell Männern vorbehalten.29 (Al-Mansours Entscheidung, Marys zweites Kind, William, der kurz vor der Verfassung von »Frankenstein« geboren wurde, völlig aus der Erzählung auszublenden, verstärkt sogar den Eindruck einer gewollten Verbindung zwischen Kinderlosigkeit und Schreiben.)30 Bisher haben wir also gesehen, dass der Film »Mary Shelley« so konstruiert ist, dass Zitate aus »Frankenstein« retroaktiv in die Darstellung von Marys jungen Jahren eingefügt werden. Das Resultat ist, dass der Roman »Frankenstein« als direktes Ergebnis von Marys Leben dargestellt wird. Al-Mansour liefert aber auch auf andere, noch explizitere Art eine extrem biografistische Interpretation von 27 Wie es in Biopics oft der Fall ist, werden in »Mary Shelley« verschiedene Ereignisse und Figuren zusammengeführt und verdichtet. 1816, im Jahr der Verfassung von »Frankenstein«, hatte die historische Mary Shelley bereits ein erstes, frühgeborenes Baby nach wenigen Tagen verloren und ein zweites Kind, William, gehabt. Ein drittes Kind, Clara, wurde 1817 geboren und starb nach ca. einem Jahr. Aus dramaturgischen Gründen beginnt die filmische Mary nach dem Tod ihres ersten Kindes, hier Clara genannt, an »Frankenstein« zu arbeiten. Die wenige Monate alte Clara wird trotz Marys Protest Regen und Kälte ausgesetzt, als die Familie aus der Wohnung fliehen muss, um Percys Gläubigern zu entkommen. Percys finanzielle Not und sein Mangel an Verantwortung führen daher im Film zum Tod des Babys. 28 Shelley, Introduction. 2012 [1831], S. 169. 29 Der Geschichte dieser Art von Argumentation und der Rolle, die sie im stark gegenderten Geniediskurs spielt, geht Battersby in ihrem Buch »Gender and Genius« nach: Battersby, Christine. Gender and Genius: Towards a Feminist Aesthetics. London: Women’s Press 1989, S. 73f. 30 Vgl. Fußnote 26.
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»Frankenstein«: Von mehreren Figuren im Film wird Mary mit der monströsen Kreatur ihres Romans gleichgesetzt, die sich einsam und verlassen fühlt – Marys Leiden soll dabei auf Percys Untreue zurückgehen. Folglich wird Percy als Victor Frankenstein gedeutet: egoistisch und voller Hybris. In den wenigen Diskussionen über »Frankenstein«, die im Film vorkommen, wird der Roman auf das Leiden der Kreatur reduziert – und das Leiden der Kreatur wird als ein autobiografisches Element interpretiert. Marys literarische Leistung wird also als die Fähigkeit dargestellt, persönliches Leiden in Kunst umzuwandeln. Dies ist typisch für das neuere, postfeministische Biopic und beispielsweise auch in »Frida« zu beobachten: Das Leiden der Protagonistin soll nicht ignoriert werden, ganz im Gegenteil, die patriarchale Unterdrückung wird als Quelle dieses Leidens explizit hervorgehoben. Gleichzeitig versuchen Filmemacher*innen, nicht in die Genrefalle der berüchtigten »downward trajectory« zu tappen. So wird der persönliche Schmerz in einen künstlerischen Triumph umgewandelt und stilisiert. Die vom Film betriebene Identifikation Marys mit der Kreatur ist jedoch gar nicht so eindeutig, wenn man die für das Tagebuch verwendeten FrankensteinZitate analysiert. Diese zeigen, dass eigentlich eine Vermischung aus vielen Perspektiven vorliegt: Nicht nur die Kreatur, sondern auch Victor Frankenstein, Walton und Elisabeth sprechen aus Marys ›Tagebuch‹. Es stellt sich also heraus, dass die intertextuellen Bezüge im Film dem Film selbst in seiner Interpretation von »Frankenstein« (Mary als Kreatur, Percy als Victor) widersprechen – nicht jedoch in der Grundannahme, dass »Frankenstein« ein direktes Ergebnis von Mary Shelleys Lebenserfahrung sei. Andere Folgen der Assoziationen Marys mit der Kreatur und Percys mit Victor Frankenstein werden im Film nicht angesprochen – so z. B. die Tatsache, dass nach dieser Logik Percy als ›Schöpfer‹ von Mary gelten sollte. Dies würde nämlich den Bemühungen des Films widersprechen, bei jeder Gelegenheit die absolute Originalität von »Frankenstein« hervorzuheben und jeglichen Einfluss von Percy auf das Werk auszuschließen (dieser Punkt wird besonders betont, als Mary Percys ›Verbesserungsvorschläge‹ vehement ablehnt). Diese Insistenz auf alleinige Autorschaft Marys hat u. a. zur Folge, dass die Beziehung mit Percy nie als eine kreative Partnerschaft dargestellt wird, sondern eine rein sentimentale bzw. erotische Verbindung bleibt. Dies ist kohärent mit der Idee von Autorschaft, die vom Film vertreten wird. Nicht nur Originalität (»find your own voice«) wird emphatisch hervorgehoben, sondern auch Fragen, die mit dem Konzept zusammenhängen, das heute als geistiges Eigentum bezeichnet wird. Das Thema des geistigen Eigentums bzw. der Anerkennung der Autorschaft wird mehrmals im Laufe des Films angesprochen und entwickelt sich zu einem zentralen Konflikt, als »Frankenstein« endlich veröffentlicht wird. Da sich kein Verleger findet, der bereit ist, das Buch unter
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Marys Namen – einer Frau! – zu publizieren, erscheint es schließlich anonym und mit einem Vorwort von Percy, das ihn als Autor vermuten lässt. Die Frage nach dem Urheberrecht wird auch in Bezug auf Dr. Polidoris Erzählung »The Vampyre« debattiert, die unter Byrons Namen veröffentlicht wird. In beiden Fällen weckt der Film Sympathie für die Figuren, deren Namen zum Vorteil der berühmteren Dichter ›ausradiert‹ wurden. Sowohl Mary als auch Dr. Polidori bringen im Film ihre Empörung zum Ausdruck, aber während beim Arzt die Empörung mit Resignation einhergeht, ist Mary entschlossen, für die Anerkennung ihrer Autorschaft zu kämpfen. Der letzte Teil des Films kreist um Marys Kampf für die Anerkennung ihrer Autorschaft – hier als der gedruckte Name auf einem Buch verstanden. Die Schwierigkeiten, mit denen Frauen dabei konfrontiert waren (und teilweise bis heute sind), werden im Film in den Szenen betont, in denen Mary einen Verleger nach dem anderen aufsucht, als junge Frau aber kaum wahrgenommen und sicherlich nicht ernst genommen wird. Durch diesen Fokus greift »Mary Shelley« eine zentrale Thematik sowohl der feministischen Bewegung als auch vieler zeitgenössischer Biopics über Autorinnen auf, deren Anliegen darin besteht, den Namen der Protagonistin einem breiten Publikum gegenüber zu etablieren und damit zur Anerkennung ihrer Autorschaft beizutragen. Das moderne Konzept von geistigem Eigentum entwickelt und verfestigt sich in Europa zu Urheberrechtsgesetzen gerade in Mary Shelleys Zeit. Es ist tiefsten mit der Idee des Genies verbunden, die in der Romantik einen Höhepunkt erreicht.31 Insofern verbindet der Film durch dieses Thema gerade die zwei Epochen, die er anspricht: die Romantik mit ihrer Genieideologie (ohne jedoch die Misogynie dieses Diskurses explizit anzusprechen) und die Gegenwart, in der der Kampf für Anerkennung der Autorschaft als feministisches Anliegen gefeiert wird. Dies ist ein typisches Merkmal historischer Filme im Allgemeinen: Die Vergangenheit dient primär als Folie, um die Interessen der Gegenwart zu thematisieren. Am Ende triumphiert Mary. Percy gibt bei einer Lesung unerwartet zu, dass sie die eigentliche Autorin von »Frankenstein« sei. In dem Moment tritt sie aus dem Hinterzimmer heraus und in die Öffentlichkeit – eine Version der öffentlichen Gerichtsszene, die im klassischen Biopic den Triumph der Hauptfigur endgültig bestätigt. Dieser Augenblick führt auch zu einer Versöhnung zwischen Mary und Percy. Generell setzt das Happy End des Films auf Versöhnung sowie auf eine Beilegung aller Konflikte und Spannungen. »Frankenstein« wird unter Marys 31 Siehe dazu z. B. Ortland, Eberhard: Urheberrecht und ästhetische Autonomie. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 2004, Bd. 52, H. 5, S. 773–792; oder Bosse, Heinrich: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. Paderborn/München: Schöningh 1981.
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Namen neu aufgelegt, und die prominente Ausstellung des Buches in William Godwins Schaufenster scheint auch eine Versöhnung zwischen Mary und ihrem Vater zu implizieren. Selbst die Schlusstitel, die den Betrachter über Percys vorzeitigen Tod informieren, verderben nicht das Happy End, sondern scheinen vielmehr die Ewigkeit ihrer Liebe zu bestätigen. In diesem Sinne könnte der versöhnliche Film »Mary Shelley« nicht unterschiedlicher sein als »Gothic« – ein Film, der weder thematisch noch ästhetisch auf Versöhnung setzt und ein Gefühl anhaltender Bedrohung hinterlässt.
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Das Horrorfilm-Biopic-Hybrid vom britischen Regisseur Ken Russell (1927– 2011), das 1986 ins Kino kam und sich heute als Kultfilm über eine treue Fangemeinde freut, wurde u. a. »a virtuoso exercise in bad taste«32 genannt. Solche Urteile sind für Russell, Enfant terrible des britischen Kinos der 1970er und 1980er Jahre, gar nicht ungewöhnlich: Sein ganz persönlicher und exzentrischer Pastiche-Stil, in dem auch »Gothic« gedreht ist, ist surreal, satirisch, vulgär und gewollt campy. Russell wurde vor allem aufgrund seiner unorthodoxen biografischen Filme über Künstler und Komponisten berühmt und ist eine wichtige Figur in der ›alternativen‹ Geschichte der Filmbiografie. Von klassischen Biopics kann dabei nicht die Rede sein, denn Russell will weniger das ›echte‹ Leben seines Subjekts rekonstruieren, sondern vielmehr seine eigene, ganz persönliche Interpretation dieses Lebens liefern.33 Der für das Biopic charakteristische Anspruch auf Authentizität fällt damit weg. »Gothic« imaginiert eine stürmische Nacht im kalten Sommer 1816, in der beim legendären Schreibwettbewerb zwischen Mary Shelley, Percy Shelley, Lord Byron und Dr. Polidori der erste Keim für »Frankenstein« entstanden sein soll. Für diesen Film über eine Schlüsselszene der englischen Literaturgeschichte bedient sich Russell eines Klischees des Horrorgenres: Eine Gruppe von Freunden ist während eines Gewitters in einem Spukhaus gefangen. Schauplatz ist Byrons Genfer Villa, die Russell als klaustrophobische Geisterbahn inszeniert, wobei die Zuschauer*innen durch die Räume geführt werden, in denen sich 32 Cochran, Peter: The Life of Bryon, or Southey was Right. In: Byromania. Portraits of the Artist in Nineteenth- and Twentieth-Century Culture. Hrsg. von Frances Wilson. Basingstoke: Palgrave Macmillan 1999, S. 63–76, hier S. 69. Cochran geht noch weiter: »Gothic is about its director’s Artaudian desire to make us puke into our popcorn, go mad, rape and murder the cinema attendants, burn the building down, and then rush naked into the night to see what’s on Channel Four« (ebd., S. 68). 33 Vgl. auch Van Eecke, Christophe: Pandaemonium. Ken Russell’s Artist Biographies as Baroque Performance. Maastricht: Maastricht University Library 2015, S. 11.
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verschiedene ›Attraktionen‹ befinden, z. B. Automaten, die meist mit einem ›Buh-Effekt‹ plötzlich sichtbar werden. Für die Frage nach der Darstellung von Autorschaft ist an diesem Film besonders bemerkenswert, dass es keine einzige Schreibszene gibt. Dennoch ist »Gothic« explizit ein Film über den künstlerischen Schaffensprozess. Das Moment der literarischen Erfindung ist aber auf andere Elemente verlagert, insbesondere auf Visionen und Angstfantasien. Die Ereignisse in der Villa Diodati sind in einen Rahmen eingebettet: Am Anfang und am Ende des Films sind außerhalb der Villa Touristengruppen zu sehen. In der ersten Szene sind es neugierige Menschen des 19. Jahrhunderts, die den berüchtigten Lord Byron mit Ferngläsern beobachten; am Ende des Films sind es Zeitgenossen von Ken Russell (und vom intendierten Publikum), die an einer Heritage-Tourism-Führung teilnehmen. Diese Rahmenkonstruktion weist darauf hin, dass es sich hier nicht nur um einen Horrorfilm oder einen historischen Film über den literarischen Schaffensprozess handelt (dieser Beitrag konzentriert sich dennoch auf den letzteren Aspekt): In »Gothic«, wo die romantischen Dichter als Rockstars auftreten, erforscht Russell auch die Idee vom Celebrity Cult – im 19. und im 20. Jahrhundert – und positioniert sich kritisch gegenüber der Mode vom Heritage Tourism der Thatcher-Zeit und damit indirekt gegen den als konservativ empfundenen Heritage Film.34 Wichtig für diesen Artikel ist die Tatsache, dass die Rahmenkonstruktion den voyeuristischen Charakter der Touristen, aber auch der Filmzuschauer, hervorhebt. Die eigentlichen Ereignisse des Films werden dadurch als eine Art Show präsentiert: Gegen Anfang schlägt Byron sogar vor, den neugierigen Leuten genau das »vorzuführen«, was sie von seiner Reputation erwarten (10:12). Der exzessiv performative Aspekt des Films wird dadurch von Anfang an in den Vordergrund gestellt. Soweit von einem Plot die Rede sein kann, wäre er wie folgt: Die fünf Hauptfiguren lesen zum Zeitvertreib Geistergeschichten – aus »Fantasmagoriana«, einer französischen Anthologie deutscher Geistergeschichten – und kommen dadurch auf die Idee, selbst eine zu schreiben. So beginnt der berühmte 34 Obwohl es interessant wäre, Ken Russells Filmbiografie nach seiner politischen Position in Bezug auf die Tradition des Biopics und des Kostümdramas zu untersuchen und unter diesem Aspekt mit »Mary Shelley« zu vergleichen, würde es den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Daher beschränke ich mich darauf, zustimmend eine Beobachtung von Van Eecke zu zitieren und für eine ausführlichere Analyse auf den entsprechenden Artikel zu verweisen: »[…] Gothic can be read as a commentary on the cheapening of heritage in a culture that treats it as a marketable commoditiy and a purchasable experience. Russell’s film revels in everything that the ›good taste‹ promoted by conservative Thatcherism and exemplified […] by the genteel heritage film in the Merchant/Ivory mode would sniff at: flashy editing, hyperactive cinematography, loud music, and generous dollops of nudity« (Van Eecke, Christophe van: Phantasmagoria: Ken Russell’s Gothic (1986) as Neo-Victorian Meta-Heritage Film. In: Neo-Victorian Studies 12, 2019, H. 1, S. 135–156, hier S. 150).
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Wettbewerb. Nachdem aber alle glauben, ein Gespenst gesehen zu haben – eine Illusion, hervorgebracht von einem brennenden, vom Blitz getroffenen Baum –, hat Byron eine noch bessere Idee: Die Macht der Imagination sei noch stärker als die Macht des Blitzes und könnte »lifeless thoughts« zum Leben erwecken: »To create ghost stories is nothing […]. But to create a ghost!« (24:50–24:59) Bezeichnenderweise bleiben Mary und Dr. Polidori – die Einzigen aus der Gruppe, die tatsächlich eine Geschichte schreiben werden – bei diesem Gespräch etwas abseits. Byron, Percy und Claire entscheiden, eine Séance zu veranstalten, an der alle teilnehmen,35 um Geister zum Leben zu erwecken. Diese sollen die Gestalt der tiefsten Ängste der einzelnen Gruppenmitglieder haben: »Conjure up your deepest darkest fear … call that fear to form, to life!« (28:11–28:19) Im Laufe des Films häufen sich dann – scheinbar – die übernatürlichen Ereignisse. Eine gefährliche Kreatur, die eine übelriechende Schleimspur hinterlässt, scheint in der Villa herumzugeistern und die Gruppe zu bedrohen. Haben die jungen Romantiker durch ihre spiritistischen Spiele wirklich eine dunkle Macht ins Leben gerufen? Die interessanteste Charakteristik von »Gothic« ist die Verwischung der Realitätsebenen, die in einem Kontext kollektiver Panik geschieht: Während am Anfang die Mindscreens – also die Visualisierungen der von den Figuren imaginierten Szenen, etwa beim Lesen der Geistergeschichten – durch ihre bläuliche Farbe als solche markiert sind, wird es im Laufe des Films immer schwieriger zu unterscheiden, wo es sich um ›Realität‹ und wo um Traum, Halluzination, Vision, Erinnerung oder erotische Fantasie handelt. Die Realität und die Visionen der unterschiedlichen Figuren überlagern sich derart, dass eine Art kollektiver Angstvision entsteht – so könnte natürlich auch die bösartige ›Kreatur‹ interpretiert werden, die in dieser Nacht zum Leben erweckt wird.36 Diese Form kollektiver Angstvision wird bezeichnenderweise von der gemeinsamen Lektüre der Geistergeschichten am Anfang des Films vorweggenommen, in denen sich nicht nur die sich abwechselnden Leserstimmen, sondern auch die Imaginationen der unterschiedlichen Leser ergänzen und überlagern. Anders als in »Mary Shelley« werden hier ständig die Imaginationswelten der unterschiedlichen Figuren visualisiert. Die Grenzen zwischen ›Realität‹ und Imagination sind dabei wie gesagt flüssig, und die unterschiedlichen Welten 35 Interessanterweise bleibt Claire als einzige Nichtschreibende der Gruppe aus dieser kollektiven Leistung der Séance ausgeschlossen, denn sie wird durch eine epileptische Attacke wörtlich aus dem Kreis herausgeschleudert. 36 Nur für einen Augenblick (42:28) ist in nicht intern fokalisierter Kamera tatsächlich ein Monster zu sehen. Im gesamten Aufbau des Films betrachtet, wird jedoch eher nahegelegt, dass das Monster von den Filmfiguren imaginiert wird, und diese kurze Einstellung scheint mir nicht genug, um behaupten zu können, dass die Kreatur real ist. Letztendlich erzeugt der Film diese Ambiguität, die für den erfolgreichen Horroreffekt zentral ist.
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scheinen ständig ineinanderzugreifen. Diese Verwischung der Grenzen wird primär durch Assoziationsmontagen erreicht: Während der Lektüre einer Geschichte über ein Gespenst hören wir Marys Stimme als Voiceover und sehen ihre innere Vorstellung, in der sie selbst in der Erzählung vorkommt. Als das Gespenst, das eine Rüstung trägt, sein Visier hochklappt, ist nicht ein Gesicht zu sehen, sondern mit Blutegeln bedecktes Fleisch. Wir sehen Mary (als Figur in der Geschichte) schreien, aber wir hören sie nicht. Stattdessen hören wir eine schreiende männliche Stimme. Das Bild schneidet abrupt zu einer Aufnahme von Byron, der schreit, und dann zu einer Aufnahme eines mit Blutegeln bedeckten Reistellers, den Polidori Byron als Scherz serviert hat. Damit liefert Russell eine sehr effektive Darstellung einer immersiven Leseerfahrung, speziell einer Leseerfahrung von Horrorgeschichten, wo die Angst die Grenzen der fiktionalen Narration sprengt und in die ›echte‹ Welt der Leser*innen gelangt. Diese Art der Unzuverlässigkeit, welche Realität und Imagination ununterscheidbar macht, wird auf narrativer Ebene dadurch eingeführt, dass die Filmfiguren massiv Drogen einnehmen, und zwar Laudanum, eine im 19. Jahrhundert beliebte Opiumtinktur. Die Drogeneinnahme liefert eine rationale Erklärung für die Visionen und die Massenhysterie, die als das Ergebnis psychoaktiver Substanzen interpretiert werden können; gleichzeitig nimmt sie den Filmzuschauer*innen die Möglichkeit, den ontologischen Status der darauffolgenden Bilder klar einzustufen. Bemerkenswert ist, dass Mary als Einzige kein Laudanum trinkt, sondern höflich das Glas ablehnt und stattdessen Wasser trinkt. Mary ist somit sowohl das stabilisierende Bewusstsein innerhalb des Films wie auch die Identifikationsfigur – sie fungiert gewissermaßen als genretypisches Final Girl, wobei sie nicht im wörtlichen Sinne als Letzte am Leben bleibt, sondern als letzte ihren Verstand behält. Trotzdem bleibt sie von den übernatürlichen Ereignissen bzw. den Hirngespinsten nicht verschont, ganz im Gegenteil: Ihr ist der letzte und grausamste ›Kampf‹ gegen das Monster – ihre Ängste – vorbehalten. Die letzte Sequenz von Visionen, die klar Marys Perspektive entstammen, und die ich gleich genauer untersuchen werde, bildet gewissermaßen den Kern des Films. Wie bereits erwähnt, ist es wichtig, dass diese Sequenz nicht mit der psychoaktiven Wirkung vom Laudanum erklärt werden kann. Irgendwann während der schrecklichen Nacht kommt die Gruppe zur Einsicht, dass sie wirklich eine gefährliche Kreatur zum Leben erweckt hat. Hier wird noch deutlicher als in anderen Szenen Marys Sonderstellung betont, vor allem ihre kritische Position gegenüber der romantischen Hybris der Dichter in der Gruppe. Im Gespräch kommt nämlich der Topos vom künstlerischen Schaffen als Ersatz für die Gottesfigur vor. »We are the gods now. We have dared to call ourselves ›creators‹«, worauf Mary antwortet: »Our punishment is that we have created. But created what?« (57:24–57:33) In dieser Szene werden also Genie-
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diskurse der Zeit verhandelt, wobei Mary die Position der ›femininen‹ englischen Romantik verkörpert, wie sie von Anne K. Mellor beschrieben worden ist. Laut Mellor feiere die ›maskuline‹ Romantik – vertreten vor allem, aber nicht ausschließlich, von männlichen Autoren – die Entwicklung des autonomen Selbst und schätze die Fantasie, die Leidenschaft, das Gefühl und das erotische Verlangen über die Vernunft; sie verherrliche die poetische Imagination sogar als göttlich und feiere den Triumph des menschlichen Geistes über die Natur. Im Gegensatz dazu fördere die ›feminine‹ Romantik, u. a. von Mary Shelley vertreten, die Rationalität, die Besonnenheit und die Selbstbeherrschung, sie begreife die Familie und die Gemeinschaft als Grundlage des sozialen und politischen Staates.37 Schließlich entscheiden Shelley und Byron, dass die Kreatur nur durch eine zweite Séance wieder verbannt werden kann. Mary weigert sich, am zweiten Ritual teilzunehmen, und zertrümmert sogar den Totenkopf, den Byron als ›Katalysator‹ benutzt. Für sie werden daher die Ängste dieser Nacht nicht verbannt werden – sie leben in ihrem Roman »Frankenstein« weiter.38 Nachdem Mary von dieser zweiten Séance wegrennt, befindet sie sich plötzlich in einem dunklen, runden Raum mit sechs Türen, der möglicherweise ihr Unbewusstes verkörpert (1:13:00). Die Türen öffnen sich nacheinander, wie von Geisterhand, auf unterschiedliche Szenen. Es folgt eine lange Montage aus tragischen, den biografischen Fakten entnommenen Ereignissen, die Mary noch bevorstehen. Sie betreffen ihre schwierigen Geburten sowie den Tod ihrer Kinder und der Personen, die ihr nahestehen: Percy, der im Golf von La Spezia ertrinkt, Byron, von Blutsaugern fast ausgesaugt, Polidori, der sich selbst vergiftet, und Claires Tochter. Anfangs erschrocken, gibt sie allmählich einer traurigen Resignation nach. Sie scheint bloß eine passive Zuschauerin in der Tragödie ihres eigenen Lebens zu sein. Auffallend an diesen Visionen ist das Überwiegen von Angstszenarien, die mit Geburt und Mutterschaft verbunden sind, womit auch hier die Thematiken von 37 Mellor, Anne Kostelanetz: Thoughts on Romanticism and Gender. In: European Romantic Review: NASSR 2011: Romanticism and Independence 2012, H. 3, S. 343–348, hier S. 345. Mellor betont, dass die Begriffe »maskuline« und »feminine« Romantik ideologisch konstruierte Ausdrücke und keine biologischen Begriffe sind. Mit anderen Worten: Ein Mann kann sich den Hauptgrundsätzen der weiblichen Romantik anschließen, so wie eine Frau die Werte der maskulinen Romantik vertreten kann. Vgl. auch Mellor: Romanticism and Gender. New York/London: Routledge 1993. 38 Sigrid Nieberle beschreibt diese Szene in psychoanalytischen Begriffen: »Erst mit einer erneuten Bündelung der Hände in einer Wiederholung der Séance soll das Unheimliche, das ›Angst vor irgend etwas‹ erzeugt, zurückgedrängt werden. Nur für Mary wird es keine Verdrängung geben, denn sie unterbricht das Ritual und setzt damit erneut Ängste aus dem Unbewußten frei« (Nieberle, Sigrid: Das Grauen der Autorschaft: Angstnarrationen im literarhistorischen Biopic. In: The Germanic Review: Literature, Culture, Theory, vol. 79, no. 2, 2004, S. 115–134, hier S. 124).
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Kreation und Prokreation, die in »Frankenstein« verhandelt werden, ihren Platz finden. Weitere Visionen stammen aus den Angstimaginationen der anderen Figuren: so z. B. Byrons Angst vor den Blutsaugern, die Polidori in seinem Scherz genutzt hat, oder Percys Albtraum, lebendig begraben zu werden, der in früheren Gesprächen im Film thematisiert wurde. Mary scheint also nicht nur die Zukunft sehen zu können, sondern auch die Fähigkeit zu erlangen, in die »deepest, darkest fears« der anderen zu schauen. Mary versucht, sich umzubringen, um die traurige Zukunft, die sie gesehen hat, noch abzuwenden, wird jedoch im letzten Moment von Percy davon abgehalten. Am nächsten Morgen, nach dem Sturm, ist die Atmosphäre in der Villa Diodati völlig verändert. Byron, in der Sonne sitzend, will Mary beruhigen: »There are no ghosts in daylight« (1:19:24). Mary aber hat eine andere, schreckliche Erkenntnis aus dieser Nacht gewonnen: »Our creature. It will be there, waiting in the shadows. In the shape of our fears. Until it has seen us to our death« (1:17:37–1:17:51). In diesem Kontext schildert sie Byron und Polidori auch die Idee für ihre Geschichte über eine Kreatur, die ihren Schöpfer verfolgt – »Frankenstein«. Der Epilog mit den Touristen aus dem 20. Jahrhundert bestätigt Marys Angst: Von der körperlosen Stimme der Führung, die als innerdiegetisches Voiceover fungiert, erfahren wir vom frühzeitigen Tod der jungen Romantiker und ihrer Kinder. Von der Gruppe bleiben nur Mary und Claire länger am Leben. Die Kreatur – so die Andeutung –, die sie in dieser Nacht zu sehen geglaubt hatten, hat sie wörtlich und nicht nur im symbolischen Sinne (als Angst) bis zum Grab verfolgt. Vielleicht verfolgt sie sogar noch das Filmpublikum: »But something created that night 170 years ago lives on, still haunting us to this day: Mary Shelley’s ›Frankenstein‹« (1:20:47–1:20:53). Der Film suggeriert, dass Marys Visionen dieser Nacht die Grundlage für »Frankenstein« bilden. In gewisser Weise nimmt also auch »Gothic« Shelleys Behauptung ernst, die Idee für den Roman sei ihr in einem »lebhaften« Traum bzw. in einer Vision gekommen – interessanterweise schreit Mary nach ihrer Vision, als Percy sie zu beruhigen versucht: »I was awake, I was awake!« (1:17:08) Hier haben die Inhalte der Visionen jedoch nicht direkt mit dem ›klassischen‹ frankenstein’schen Bild des Wissenschaftlers zu tun, der die Kreatur zum Leben erweckt – anders als bei Al-Mansour, welche Shelleys Traumbeschreibung wörtlich nimmt. Vielmehr versucht Russell durch diese Sequenz, wie Van Eecke bemerkt, die Struktur der literarischen Imagination bzw. des Schöpfungsprozesses darzustellen: »The hallucinations are also an attempt to visualise the internal processes or, if you will, the work of genius that happened inside Mary Shelley’s psyche in the moments she conceived of a work of art. And it is at this point, of course, that the mise-en-abyme does its work because, by presenting us with a stream of images that is an attempt to capture
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on film something of the structure of the process of artistic creation, the film not only presents the process of artistic creation but also comments upon it.«39
Durch den Fokus auf Marys Visionen als Quelle der literarischen Erfindung, wobei die Szenarien vor allem um Mutterschaftsängste und Verlust von Familienmitgliedern bzw. Freunden kreisen, bestätigt »Gothic« ein Autorinmodell der Schauerromantik, das, wie Sigrid Nieberle schreibt, »sie als Chronistin des häuslichen Terrors und alltäglichen Wahnsinns beschreibt, wohingegen Shelley mit ihrem Frankenstein und den darin verhandelten wissenschaftlichen Diskursen jedoch gerade aus diesem Modell ausgebrochen ist«.40 In dieser Hinsicht unterscheidet sich »Gothic« gar nicht so stark vom konventionelleren Biopic »Mary Shelley«. Die Ideen von Autorschaft, die hier vertreten werden, sind jedoch, wie ich zeigen will, fast diametral entgegengesetzt. Bemerkenswert an der Darstellung von Autorschaft in »Gothic« ist die Idee, dass aus kollektiver Imagination kollektive Autorschaft entstehen kann. Der Schöpfungsakt der (Angst-)Kreatur – und folglich des literarischen Werkes, das aus ihr hervorgeht – besteht nämlich primär aus der kollektiven Leistung der Séance, die das Unheimliche hervorruft. Für Nieberle hat diese kollektive Autorschaft sogar »stellvertretend die gesamte Epoche der (Schwarzen) Romantik – imaginiert in einer einzigen Nacht – zu verantworten«.41 Angst und literarische Imagination sind dabei untrennbar miteinander verwoben: Die Angst wird von literarischen Quellen verursacht – von den Geistergeschichten, die am Anfang des Abends die Gruppe in der Villa in einen Zustand der Angst versetzen – und hat dann wiederum ein literarisches Werk zur Folge, nämlich »Frankenstein«. Der Film nimmt auch die im gleichnamigen Roman vorzufindende Skepsis gegenüber einer unkontrollierten Imagination auf, die als Charakteristik der ›femininen‹ Romantik bereits erwähnt wurde. Die Frage, was passiert, wenn die ›Kreatur‹ bzw. die Imagination außer Kontrolle gerät, wird in »Gothic« genauso wie in »Frankenstein« mit einem Horrorszenario beantwortet. Neben den offensichtlichen stilistischen Unterschieden, die nicht größer sein könnten, zeigen sich in »Gothic« vor allem an diesen zwei Ideen – erstens der Gedanke kollektiver Autorschaft und zweitens eine gewisse Angst vor den Kräften der Imagination – deutliche Unterschiede zu »Mary Shelley« im Umgang mit dem Thema der künstlerisch-literarischen Kreativität. Während Al-Mansour Originalität und Autonomie feiert, entwirft Russel ein Szenario, in dem das Kunstwerk aus dem Kollektiv entsteht und in dem die exzessive Autonomie der Imagination lebensbedrohlich wird. Bezeichnend ist auch die völlig unterschiedliche Verwendung von Zitaten aus und Anspielungen auf »Frankenstein«. 39 Van Eecke, Pandaemonium. 2015, S. 218. 40 Nieberle, Das Grauen der Autorschaft. 2004, S. 129. 41 Ebd., S. 124.
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Diese werden in »Gothic« nämlich nicht von Mary, sondern von den anderen Figuren ausgesprochen. Auch einzelne Ideen, die in Frankenstein einfließen werden, kommen von Percy, Byron und Polidori.42 Insgesamt setzt »Gothic« also viel weniger auf die absolute Originalität Mary Shelleys. Im Gegensatz zu den Ideen autonomer Autorschaft und geistigen Eigentums, wie sie in Al-Mansours Biopic vorzufinden sind, entwirft Russell ein Modell kollektiver Autorschaft bzw. ein Intertextualitätsmodell, das sich nicht nur auf die vielen Anspielungen auf »Frankenstein« und auf verschiedene Gothic Novels stützt – zitiert werden u. a. »Das Schloss von Otranto«, »Vathek« und »Der Mönch« –, sondern auch auf die filmischen Zitate: »Gothic« enthält nämlich zahlreiche Anspielungen auf die Filmgeschichte, vor allem Hommagen an Klassiker des Horrorgenres wie Hammers Dracula-Serie.43 Darüber hinaus ist in diesem Kontext der Dialog zu nennen, den Russell mit der Kunstgeschichte eröffnet, indem er Gemälde wie Fuselis »Der Nachtmahr« direkt zitiert und in die Handlung einbaut oder Louis Édouard Fourniers »L’Enterrement de Shelley« als Tableau vivant aufstellt. Dieses alternative Autorschaftsmodell kann wiederum als eine Reflexion über die kollektive Produktionsweise des Films betrachtet werden. Eine solche Interpretation wird auch auf der filmtechnischen bzw. filmästhetischen Ebene suggeriert, auf der bei Russell die Machart des Films sehr stark hervorgehoben wird, u. a. indem ständig Verbindungen zur Filmgeschichte gezogen werden. Drei Aspekte können hier als besonders wichtig genannt werden: erstens der PasticheStil und die visuellen Zitate aus anderen Filmen, zweitens die Einbeziehung von protofilmischen Techniken wie einer Laterna magica im Vorspann und drittens (aber nicht zuletzt) die explizite Hervorhebung der Montagetechnik. Ich werde die letzten zwei Punkte genauer erläutern, beginnend mit der Montage. Montage meint hier nicht nur eine Schnitttechnik, die möglichst ›unsichtbar‹ sein soll, wie es die Regeln des konventionellen Hollywoodfilms vorgeben. Russell lässt diese filmische Grundtechnik ausdrücklich in den Vordergrund treten. Öfters bedient er sich der Assoziationsmontage, an Eisenstein orientiert, in der eine symbolische oder metaphorische Verbindung zwischen zwei verschiedenen Bildern erzeugt wird.44 Diese Zusammenstellung von Heterogenem, 42 Stellvertretend für zahlreiche intertextuelle Bezüge können die Worte genannt werden, die im Film von Percy ausgesprochen werden und indirekte Zitate aus »Frankenstein« darstellen: »I surrounded myself with the instruments of life, beckoning the spark of creation«; »Ah Shelley, the modern Prometheus«, verspottet ihn daraufhin Polidori (Russell, Gothic. 17:07– 17:15). Vgl. »I collected the instruments of life around me, that I might infuse a spark of being into the lifeless thing that lay at my feet« (Shelley, Frankenstein. 2012 [1818], S. 35). 43 Weil »Gothic« so stark die Filmgeschichte reflektiert, bezeichnet Van Eecke ihn als »filmheritage film« (Van Eecke, Phantasmagoria. 2019, S. 138). 44 Vgl. Van Eecke, Pandaemonium. 2015, S. 235 für eine genauere Ausführung über die Verwendung der assoziativen Montage bei Ken Russell.
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die die technischen Voraussetzungen und Möglichkeiten des filmischen Mediums betont, erinnert an die Zusammenstellung von Frankensteins Kreatur. Auch hier geht es um das Zusammennähen von ›toten‹ Stücken, um ein ›lebendiges‹ Ganzes zu erschaffen – sei es das bewegte Bild oder die Kreatur. Eine Verbindung zwischen der Filmtechnik und der Grundidee von »Frankenstein« wurde bereits vom Filmhistoriker Noël Burch beobachtet. Er identifiziert einen »FrankensteinKomplex« in den protokinematischen Erfindungen des 19. Jahrhunderts – nicht allzu weit entfernt von Mary Shelleys Zeit. So schreibt er über einen der Pioniere der Chronofotografie, Étienne-Jules Marey: »Technologically speaking, Marey’s efforts […] lie in the direct line of the great Frankensteinian dream of the nineteenth century: the recreation of life, the symbolic triumph over death.«45
Diese Interpretation wird von den Äußerungen von Mareys Assistenten bestätigt, die verblüffende Ähnlichkeiten zu Marys Monolog über ihr totes Kind in »Gothic« aufweisen, in dem sie sagt, dass sie zu allem bereit wäre, um dieses Kind ins Leben zurückzubringen: »How many people would be happy if they could only see once again the features of someone now dead. The future will see the replacement of motionless photographs, frozen in their frames, with animated portraits that can be brought to life at the turn of a handle. […] We will do more than analyse, we will bring back to life.«46
Genau diese Vorgeschichte des Kinos spielt in »Gothic« und im dichten intertextuellen Geflecht des Films eine prominente Rolle. Das Einbeziehen von Techniken aus dieser Vorgeschichte hat Van Eecke überzeugend dargestellt. Er spricht von einer »appropriation of late-Victorian early film and proto-film techniques and aesthetics that provides […] self-conscious reflexivity«47 und analysiert z. B. die Verwendung einer Laterna magica bzw. Phantasmagorie48 und der Tableaux vivants als derartige im Film eingebaute Techniken. Generell entfaltet »Gothic« eine deutliche Jahrmarktästhetik, die auf eine Form populärer Unterhaltung Bezug nimmt, welche tief mit der frühen Geschichte des Kinos verbunden ist. In diesen Kontext ist auch die Inszenierung der Villa als Spukhaus und die Konstruktion des Films als Reise durch eine Geisterbahn zu situieren – 45 46 47 48
Burch, Noël: Life to those Shadows. Berkeley: University of California Press 1990, S. 12. So schreibt Georges Demenÿ im Jahr 1892. Zitiert in: Burch, Life to Those Shadows, 1990, S. 26. Van Eecke, Phantasmagoria. 2019, S. 138. Die Phantasmagorie war eine beliebte Jahrmarktsattraktion, die im späten 18. Jahrhundert eingeführt wurde. Phantasmagorien waren eine Art Geistershow, bei denen auf Glas gemalte Bilder auf eine Fläche in einem abgedunkelten Raum projiziert wurden. Durch das Aufstellen des Projektors auf Schienen war es möglich, ihn hin- und herzubewegen, wodurch das projizierte Bild größer oder kleiner wurde und die Illusion von Bewegung entstand. Vgl. Van Eecke, Phantasmagoria. 2019, S. 139–140.
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wobei die Prominenz von Automaten und mechanischen Puppen als ›Attraktionen‹ ihrerseits eine Anspielung auf »the great Frankensteinian dream« dieser Zeit darstellen. In Anlehnung an Burch kann behauptet werden, dass Russells »Gothic« durch die Hervorhebung der Montage und die Anspielungen auf die Anfänge des Kinos die gemeinsame Quelle vom Filmmedium und von Frankensteins Kreatur vorführt: den Traum der Erschaffung von Leben – oder zumindest dessen Illusion im bewegten Bild. Schließlich bilden Russells Pastiche-Stil und die Betonung der Intertextualität auch eine deutliche Parallele zu den poetologischen Äußerungen von Mary Shelley, die in der Einleitung zur überarbeiteten Ausgabe von Frankenstein zu finden sind. Dort schreibt sie: »Invention, it must be humbly admitted, does not consist in creating out of void, but out of chaos; the materials must, in the first place, be afforded: it can give form to dark, shapeless substances, but cannot bring into being the substance itself.«
Durch die Konzeption von kollektiver, auf Intertextualität basierender Autorschaft und insbesondere durch seine Machart, beinhaltet »Gothic« eine performative Umsetzung dieser poetologischen Position. Form und Inhalt des Films sind miteinander verflochten: Auf einer allgemeineren Ebene handelt es sich nämlich um einen Film über das (literarische oder filmische) Schaffen durch das ›Montieren‹ von Material, das bereits vorhanden ist, wie Mary Shelley schreibt. Dies veranschaulicht Russell durch die Verwendung der Montagetechnik und durch die Integration anderer Filme sowie Bücher und Gemälde in »Gothic«. Die Montage evoziert aber auch auf einer spezifischeren Ebene das literarische Werk, um das es in diesem Film geht – »Frankenstein«: Das Zusammensetzen der Kreatur aus toten Teilen kann nämlich, wie wir gesehen haben, als eine Allegorie für die Beschaffenheit und die Funktionsweise des Films im Allgemeinen gesehen werden. »Gothic« enthält daher sowohl Momente der Selbstreflexion über den kreativen Prozess (kollektiv und kompilatorisch) als auch eine Portion Selbstreflexion zum Medium Film. Abschließend können die unterschiedlichen Darstellungen von Autorschaft und der Autorinfigur in »Mary Shelley« und in »Gothic« in Anlehnung an Mellors Unterscheidung von maskuliner und femininer Romantik zusammengefasst werden. Al-Mansour macht sich mit »Mary Shelley« das Ideal der maskulinen Romantik zu eigen, indem sie die vollständige Autonomie – auf der persönlichen wie auf der literarischen Ebene – ihrer Protagonistin feiert und sie als originelle Schöpferin und Eigentümerin ihres Werkes zeigt. In dem Versuch, Mary Shelley als (post)feministische Heldin zu inszenieren, eignet sich AlMansour nicht nur die Konventionen des klassischen Männer-Biopic an, sondern auch die Diskurse der maskulinen Romantik. Russell hingegen, der in »Gothic« beide romantische Positionen zum Ausdruck bringt, lädt durch die im
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Film angelegte Identifikation mit Mary das Publikum ein, eine kritische Stellung gegenüber der romantischen Hybris von Shelley und Byron einzunehmen. Die Skepsis gegenüber der ungezähmten Imagination und die Betonung der familiären Sphäre positionieren »Gothic« in der Tradition der femininen Romantik und damit auch näher an den poetologischen Auffassungen der historischen Mary Shelley – trotz des offensichtlichen antirealistischen Charakters des Films.
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Internetseiten (letzter Zugriff: 16. 06. 2020). (letzter Zugriff: 16. 06. 2020).
Lea Reiff
»A Cruel, Cruel, Capricious God« – Chuck Shurley als Autor, Gott, Prophet und transmediale Vermittlungsinstanz
»Endings are hard. Any chapped-ass monkey with a keyboard can poop out a beginning. But endings are impossible. You try to tie up every loose end, but you never can. The fans are always gonna bitch, there’s always gonna be holes. And since it’s the ending, it’s all supposed to add up to something. I’m telling you, they’re a raging pain in the ass.«1
So informiert der Schriftsteller Chuck Shurley, alias Carver Edlund, in einem Voiceover zum Ende der letzten Folge von Staffel 5 der US-amerikanischen Primetime-Serie2 »Supernatural«3 in direkter Anrede die Zuschauer. Mit Episode 22 endet unter dem Titel »Swan Song« mehreres: eine Staffel, ein narrativer Bogen (»Arc«), von dem der Zuschauer im Nachhinein erfährt, dass er die gesamten ersten fünf Staffeln der Serie umfasst hat, und nicht zuletzt die Ära von Eric Kripke, der die Serie begründet hat und bislang als Showrunner4 für das Tagesgeschäft zuständig war. Die angesprochene Episode leistet genau das, was Chuck Shurley reflektiert: Sie verknüpft offene Handlungsstränge und präsentiert – als Stimme der zitierten Autorfigur – sogar eine Art Epimythion, denn es heißt im Folgenden:
1 »Swan Song«. Drehbuch: Eric Kripke. Regie: Steve Boyum. Darsteller: Jensen Ackles, Jared Padalecki, Misha Collins, Rob Benedict. Produzenten: Eric Kripke, Robert Singer. Supernatural. Staffel 5, Folge 22. The CW Television Network. USA, 2010. Fernsehserienepisode. 36:52– 37:18 (Minuten- und Sekundenangaben unter Angabe der Episodennummer (5.22) fortlaufend im Text). 2 Zum Begriff »prime-time-serial« (PTS) und seiner Geschichte siehe Newman, Michael Z.: From Beats to Arcs. Toward a Poetics of Television Narrative. In: The Velvet Light Trap 58, 2006, S. 16–28, hier S. 16. 3 Supernatural. Produzenten: Eric Kripke, Robert Singer. The WB Television Network (2005– 2006)/The CW Television Network (ab 2006), USA, 2005–heute. Fernsehserie. 4 Vgl. Newman, From Beats to Arcs. 2006, S. 16: »A program is overseen by a showrunner who reviews all of the scripts and guides the storytelling.« Zur Einteilung von »Supernatural« in »showrunner eras« siehe Favard, Florent: Angels, Demons and Whatever Comes Next. The Storyworld Dynamics of »Supernatural«. In: Series. International Journal of TV Serial Narratives IV, 2018, H. 2, S. 19–26.
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»So what’s it all add up to? It’s hard to say. But me, I’d say this was a test for Sam and Dean. And I think they did alright. Up against good, evil, angels, devils, destiny and God himself. They made their own choice. They chose family. And, well, isn’t that kind of the whole point?« (5.22, 40:05–40:34)
Etwa eine Sekunde lang ist daraufhin Chucks Computerbildschirm zu sehen, auf dem (begleitet vom Klang einer Tastatur) die Worte »THE END« (5.22, 40:35– 40:36) erscheinen. Chuck fasst zusammen: »No doubt, endings are hard. But then again, nothing ever really ends, does it?« (5.22, 40:42–40:50) Er sitzt auf einem Stuhl, den rechten Arm lässig über die Rückenlehne geworfen, trägt ein helles Hemd und seine Haare sind ordentlich gekämmt. Vor ihm auf dem Tisch stehen neben dem Computer eine leere Flasche und ein leeres Glas – der Prozess des Trinkens scheint damit ebenso beendet wie sein Manuskript und das Finale der fünften Staffel. Nach getaner Arbeit löst sich Chuck in weißen Rauch auf und der Arbeitsplatz des Schriftstellers bleibt verwaist zurück. Eine explizite Erzählerstimme im Voiceover ist für »Supernatural« ungewöhnlich und gehört nicht zu den intrinsischen Normen (narrativen Konventionen) der Serie. Nach Jason Mittell handelt es sich bei solchen »intrinsic norms« um poetologische Prinzipien und Erzählstrategien, »that get established as typical within that particular narrative. […] [I]ntrinsic narrative norms allow a series to establish its own style and train viewers to comprehend pattern«.5 Zusätzlich wird die Poetologie einer Fernsehserie Mittell zufolge von extrinsischen Regulativen bestimmt: »[…] institutional pressures on television storytelling constitute extrinsic norms that range beyond any one program.«6 Im Unterschied zu einem Roman, dessen Seitenzahl offen ist, und einem Film, dessen Dauer nur grob um die zwei Stunden beträgt, ist die Laufzeit der Episode einer Primetime-Serie ebenso präzise festgelegt7 wie ihre Unterteilung in vier gleich große Werbeblöcke und die damit korrespondierende Aufteilung der Handlung in vier Akte,8 die jeweils mit einem starken »curtain«9, einem spannungsreichen Moment, enden müssen, das die Aufmerksamkeit der Zuschauer*innen auch über die Werbepause hinweg bindet. Um solche extrinsischen
5 Mittell, Jason: Film and Television Narrative. In: The Cambridge Companion to Narrative. Hrsg. von David Herman. New York: Cambridge University Press 2007, S. 156–171, hier S. 166. 6 Ebd. 7 Vgl. ebd., S. 161–162. 8 Vgl. ebd., S. 165; Newman, From Beats to Arcs. 2006, S. 21. Zur »rigidity of the format« und den entsprechenden Normen sowie Rahmenbedingungen siehe auch García, Alberto N.: A Storytelling Machine. The Complexity and Revolution of Narrative Television. In: Between VI, 2016, H. 11 (Mai), S. 1–25. (letzter Zugriff: 02. 09. 2019), S. 3–4. 9 Terminologie nach Newman, From Beats to Arcs. 2006, S. 21.
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Normen herum hat das Fernsehen eigene Erzählstrategien und Formate entwickelt.10 Wie die meisten Primetime-Serien der 2000er11 startete »Supernatural« am 13. September 2005 auf »The WB« als prädominant episodische Serie (»series«12) mit prozeduraler Struktur: Jede Episode dreht sich um ein eigenes ›Monster der Woche‹, das im ersten Akt (»set-up«) eingeführt und im letzten Akt (»resolution«) getötet wird.13 Die Brüder Sam und Dean Winchester reisen in einem Chevrolet Impala des Baujahres 196714 durch die USA und töten gefährliche übernatürliche Wesen, wie sie es von Kindesbeinen an gelernt haben. Zu Beginn der meisten Episoden wird diese grundlegende Prämisse in einer einleitenden Rückblende (»Recap«15) mit Deans Stimme wiederholt: »Saving people, hunting things. The family business«16. Handlungsstränge, die über mehr als eine Episode hinweg fortgeführt werden und sogenannte »season arcs«17 bilden, sind zunächst eher schwach ausgeprägt: In der ersten Staffel suchen und finden die Winchesters ihren Vater John, der seinerseits den Mörder ihrer Mutter jagt – den gelbäugigen Dämon Azazel. In der folgenden Staffel, die mit Johns Tod aufgrund eines Paktes mit eben diesem Dämon beginnt, entdeckt Sam, dass er übernatürliche Kräfte besitzt und damit nicht allein ist. Am Ende der Staffel muss Sam nach Azazels Pfeife tanzen und in einer Art Battle Royale gegen andere übersinnlich Begabte bis auf den Tod kämpfen. Er stirbt, Dean schließt einen Teufelspakt, um ihn zurückzuholen, und hat zu Beginn von Staffel 3 vereinbarungsgemäß nur noch ein Jahr zu leben. Der Versuch, seinen Tod zu verhindern, ist der narrative Bogen, 10 Vgl. Mittell, Film and Television Narrative. 2007, S. 165: »Television programmers have established narrative norms that use commercial breaks to structure plots, providing markers for suspenseful moments and signaling act breaks within the story.« 11 Siehe dazu ebd., S. 163–164. 12 Siehe z. B. ebd., S. 163: »Episodic series present a consistent storyworld, but each episode is relatively independent – characters, settings, and relationships carry over across episodes, but the plots stand on their own, requiring little need for consistent viewing or knowledge of diegetic history to comprehend the narrative.« García (A Storytelling Machine. 2016, S. 4–5) spricht von einer »stand-alone series«, Newman (From Beats to Arcs. 2006, S. 16) von einem »episodic format«. 13 Zu Benennung und Funktion der »Acts« siehe Newman, From Beats to Arcs. 2006, S. 21. 14 Zur Bedeutung des Chevy Impala als »un-credited third Winchester« und »neoreligious object« siehe Howell, Charlotte E.: The Gospel of the Winchesters (And Their Fans). Neoreligious Fan Practices and Narrative in »Supernatural«. In: Media, Fans, and the Sacred. Kinephanos 4, 2013, H. 1, S. 17–31, hier S. 23–25. 15 Zu verschiedenen Formen des »Recapping[s]« und deren narrativer Funktion siehe Newman, From Beats to Arcs. 2006, S. 18–19. 16 Ab Episode 1.4, »The Phantom Traveler«. 17 Vgl. García, A Storytelling Machine. 2016, S. 9; Mittell, Film and Television Narrative. 2007, S. 165. García schreibt diese strukturelle Innovation der Serie »Buffy the Vampire Slayer« (sieben Staffeln, 1997–2003) zu. Unter »arcs« versteht Newman (From Beats to Arcs. 2006, S. 23) »character arc[s]«: »arc is plot stated in terms of character. An arc is a character’s journey from A through B, C, and D to E.«
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der Staffel 3 zusammenhält – Sam scheitert im Staffelfinale und Dean fährt zur Hölle, aus der er in der ersten Episode der folgenden Staffel wiederum gerettet wird. In den Staffeln 4 und 5 lässt sich mit zunehmender Serialisierung18 schließlich ein deutlicher Handlungsstrang (»running plot«19) erkennen, der nicht nur diese beiden Staffeln, sondern auch die vorhergehenden drei miteinander verknüpft:20 Es ist nichts weniger als die drohende Apokalypse. Als Sam sechs Monate alt war, träufelte Azazel sein eigenes Blut in den Mund des kleinen Kindes und tötete anschließend seine Mutter. Das Dämonenblut verleiht Sam nun übersinnliche Fähigkeiten und stärkt seinen Körper, damit der ehemalige Erzengel Lucifer von ihm Besitz ergreifen und – gemäß der Prophezeiung – einen Endkampf gegen seinen Bruder Michael führen kann. Der vorherbestimmte Körper (»vessel«) für Michael ist Sams Bruder Dean. Von Engeln und Dämonen gebeten, gedrängt und kunstvoll dahingehend manipuliert, die ihnen zugedachten Rollen anzunehmen, versuchen die Winchesters mit aller Kraft, die Apokalypse zu verhindern. Am Ende der vierten Staffel befreit Sam dennoch aus Versehen Lucifer aus einem magischen Käfig, in dem er seit seinem Fall gefangen war. Am Ende der fünften Staffel wird die Apokalypse schließlich doch noch erfolgreich abgewendet. Eric Kripke, Showrunner der ersten fünf Staffeln und Urheber der Serie, erklärte in Interviews wiederholt, zuerst drei, dann fünf Staffeln von »Supernatural« geplant zu haben, nach denen die Serie enden sollte.21 »But then again, nothing ever really ends, does it?« (5.22, 40:45–40:50), wie sein Autorenteam Chuck Shurley sagen lässt. Das Interesse von Fans und Kritikern an den Plänen des Showrunners ist bezeichnend: Nirgendwo zeigt sich das Verschwinden eindeutig zuweisbarer Autorschaft so deutlich wie anhand einer Fernsehserie. Die Drehbücher der 18 Vgl. García, A Storytelling Machine. 2016, S. 6: »Today it is almost impossible to find these two narrative structures [»series« und »serial« – L. R.] in all their purity«; ebd., S. 8: »[…] it is customary that the most ambitious contemporary series combine, from an artistic point of view, elements of both the serial and stand-alone episodes. Robin Nelson has called this hybridization ›flexi-narrative‹, and Jason Mittell has studied it under the category of ›Complex-TV‹.« 19 Im Unterschied zu einem »anthology plot« – »a central story that concludes in the episode« – ein »framework […] [that] prolongs itself over many episodes«; ebd., S. 9. Terminologie nach Innocenti, Veronica/Pescatore, Giugelmo: Los modelos narrativos de la serialidad televisiva. In: La balsa de la medusa 6, 2011, S. 31–50, hier S. 34. Wie viele andere anfangs hauptsächlich episodisch-prozeduralen Serien hat sich »Supernatural« zu einer Mischform mit stärkerem Fokus auf »running plots« entwickelt; vgl. García, A Storytelling Machine. 2016, S. 10. 20 Vgl. Favard, Angels, Demons and Whatever Comes Next. 2018, S. 21: »The said ›plan‹ is not made explicit until the beginning of season four, when the macro-questions leading an increasingly serialized plot become more and more cosmographical […].« Favard bezeichnet dieses Vorgehen im Sinne einer »regressive causality« (ebd.) als »stealth-teleological approach« (ebd., S. 20). 21 Vgl. ebd., S. 21.
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einzelnen Episoden werden von mehreren Autoren verfasst, deren Arbeit vom Showrunner gesteuert wird. Produziert wird die Serie demnach von einem Kollektiv. Die jeweils konkret beteiligten Personen werden zwar im Abspann namentlich genannt, eine Verknüpfung von Werk und Autor erweist sich jedoch als schwierig. Dass trotzdem ein Bedürfnis nach einer eben solchen Verknüpfung besteht, zeigt sich am Vorhandensein von Interviews und Statements, in denen der Showrunner – im konkreten Fall also Eric Kripke – die Rolle eines individuell greifbaren Autors einnimmt. Die Fragen, die an diesen Pseudoautor gestellt werden, entsprechen weitestgehend der Definition, die Michel Foucault im Rahmen der »moderne[n] Literaturkritik« dem Begriff »Autor« zuschreibt: »Autor ist derjenige, durch den gewisse Ereignisse in einem Werk ebenso wie deren Transformationen erklärt werden können, deren Deformationen, deren verschiedene Modifikationen (und dies durch die Autorbiographie, die Suche nach der individuellen Sichtweise, die Analyse seiner sozialen Zugehörigkeit oder seiner Klassenlage, die Entdeckung seines Grundentwurfs). Der Autor ist ebenso das Prinzip einer gewissen Einheit des Schreibens, da alle Unterschiede mindestens durch Entwicklung, Reifung oder Einfluß reduziert werden. Mit Hilfe des Autors kann man auch Widersprüche lösen, die sich in einer Reihe von Texten finden mögen.«22
In der Rolle des Autors soll der Showrunner eine einheitliche Betrachtung der fünf Staffeln »Supernatural« ermöglichen, für die er vertragsgemäß verantwortlich zeichnet, und nicht zuletzt die Einheitlichkeit und Konsequenz übergeordneter Handlungsstränge, d. h. der Running Plots, auch dort verbürgen, wo diese für den Zuschauer nicht erkennbar sind, wo Brüche, Widersprüche und die von Chuck erwähnten »holes« auftreten. Kripkes Plan, auf den das Interview zu sprechen kommt, soll erklären sowie Sinn und Einheit stiften. Es kann nicht der zum Autor deklarierte Showrunner sein, der in der Serie selbst »spricht«. Indem er jedoch einer diskursiven Funktion im Foucault’schen Sinne seinen Namen leiht, erfüllt er neben einer »klassifikatorischen Funktion« – verbunden mit der Zuschreibung eines bestimmten »Wertniveau[s]«, einer bestimmten »stilistische[n] Einheit«23 und eben einem konkret fassbaren Plan des Geschehens – vor allem das Bedürfnis der Fangemeinde nach Einheitlichkeit. Bei »Supernatural« handelt es sich allerdings um eine Serie, die nicht nur eine Genrebezeichnung im Titel trägt und damit quasi paratextuell den Anspruch auf Aneignung und Reflexion der dazugehörigen Codes erhebt, sondern auch um ein dichtes Geflecht aus Zitaten und popkulturellen Anspielungen in puncto Bild, Sprache und Sound, die jede Episode zu einem komplexen Gewebe aus Ver22 Foucault, Michel: Was ist ein Autor? In: Michel Foucault. Schriften zur Literatur. Aus dem Französischen von Karin von Hofer und Annelise Botond. Frankfurt/Main: S. Fischer 1988, S. 7–31, hier S. 21. 23 Ebd., S. 21.
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weisen, zu einer dichten Textur macht, in der – im Sinne eines »vielheitlichen Schreiben[s]«, um mit Roland Barthes zu sprechen – zwar »alles zu entwirren, aber nichts zu entziffern«24 ist. Trennt man dieses Textgewebe auf, »wie eine Laufmasche einen Strumpf auftrennt«25, könnte man zu einer einzelnen Episode von rund 45 Minuten Laufzeit (ohne Werbeunterbrechung) ohne Weiteres mehrere hundert Seiten Herkunftsnachweise zu intermedialen Bezügen produzieren. Betrachtet man diese Art des Schreibens (und Verfilmens) wie Barthes »als kontratheologisch, als zutiefst revolutionär«26, so verwundert die vereinheitlichende Zuschreibung an einen Showrunner-Autor in der Rezeption umso mehr: In der Funktion eines Autors, der durch Offenlegung eines präexistenten Plans den Sinn seines »Textes« vereinheitlicht und dessen teleologische Ausrichtung offenbart, spielt dieser Showrunner letztlich die Rolle eines Autorgottes. Sobald Eric Kripke mit dem Ende der fünften Staffel sein Amt aufgibt, kann er auch diese Funktion(en) nicht mehr ausüben. Wie der fiktive Autor Chuck Shurley löst auch er sich als Steuerungsinstanz gewissermaßen in Rauch auf. In der vierten und fünften Staffel von »Supernatural«, als durch das Hervortreten eines Running Plots das Bewusstsein einer Fremdsteuerung auch intradiegetisch entsteht, werden verschiedene Vorstellungen von Autorschaft ebenso thematisiert wie die Verfasstheit der Fernsehserie als Text. Für den Handlungskomplex der Staffeln 1 bis 5 bildet die – verhältnismäßig spät auftretende – Figur Chuck Shurley den meta- und autoreflexiven Nexus, anhand dessen verschiedene Autorschaftskonzepte, Schreibprozesse, Rezeptionsphänomene27 und mediale Spezifika verhandelt werden. Eingeführt wird die Figur in Episode 4.18 unter dem Titel »The Monster at the End of this Book«28, in der Sam und Dean von einer Buchreihe namens »Supernatural« erfahren, die ihre Leben detailliert beschreibt. 24 Barthes, Roland: Der Tod des Autors. In: Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006, S. 57–63, hier S. 62. 25 Ebd. 26 Ebd. 27 Vgl. Howell, The Gospel of the Winchesters. 2013, S. 19: »With ›The Monster at the End of this Book,‹ Supernatural’s hyperconsciousness extends into the world of its own fandom.« Die komplexen Wechselbeziehungen zwischen der Serie (»canon«) und Fanwerken, insbesondere Fanfiction (»fanon«), können im Rahmen dieses Artikels nicht nachvollzogen werden. Siehe dazu Felschow, Laura E.: »Hey, Check It Out, There’s Actually Fans«. (Dis)empowerment and (mis)representation of Cult Fandom in »Supernatural«. In: Transformative Works and Cultures 4, 2010, [o. S.]; Herbig, Art/Herrmann, Andrew F.: Polymediated Narrative. The Case of the »Supernatural« Episode »Fan Fiction«. In: International Journal of Communication 10, 2016, S. 748–765; Howell, The Gospel of the Winchesters. 2013; Torrey, K. T.: Writing the Winchesters. Metatextual Wincest and the Provisional Practice of Happy Endings. In: Journal of Fandom Studies 2, 2014, H. 2, S. 163–180. 28 »The Monster at the End of this Book«. Drehbuch: Julie Siege. Regie: Mike Rohl. Darsteller: Jensen Ackles, Jared Padalecki, Misha Collins, Rob Benedict. Produzenten: Eric Kripke, Robert Singer. Supernatural. Staffel 4, Folge 18. The CW Television Network. USA, 2009.
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Bereits diese Offenbarung erfolgt in einem metareflexiven Spiel mit intrinsischen Normen der Fernsehserie: Dem prozeduralen Schema der meisten Episoden entsprechend, betreten die Winchesters als FBI-Agenten verkleidet einen Comicladen und stellen ein bereits etabliertes Set an Fragen, um festzustellen, ob dort übernatürliche Aktivitäten stattfinden.29 Zur Überraschung der Brüder – und wohl auch der Zuschauer – erkennt der Ladeninhaber zwar das Muster, nicht aber die Identität seiner Besucher als Monsterjäger. Er glaubt, Sam und Dean seien LARPer, d. h. Live Action Role Players, und hätten sich als die Protagonisten der Buchreihe »Supernatural« verkleidet, von der er ihnen im Folgenden einige Bände verkauft. Es handelt sich um billig produzierte Pulp Fiction, die der Ladeninhaber aus dem »Bargain Bin« heraussuchen muss. »It was a series«, erläutert er. »Didn’t sell a lot of copies though. Kind of more of an underground cult following« (4.18, 1:37–1:45). Weitere Recherchen der Winchesters ergeben, dass der Name des Autors, Carver Edlund, ein Pseudonym ist. Sie finden ihn erst nach einem Besuch bei seiner inzwischen insolventen Verlegerin. Eine Konfrontation mit dem Schriftsteller ergibt, dass dieser eigentlich Chuck Shurley heißt und nie aufgehört hat zu schreiben. Die neuesten Bände seiner Buchreihe wurden zwar nicht verlegt, liegen jedoch als Manuskripte vor. Es stellt sich heraus, dass Chucks neuestes Manuskript proleptisch und damit prophetisch ist, denn darin sagt er einen Großteil der Ereignisse voraus, die im weiteren Verlauf der Episode stattfinden werden, obwohl zumindest Dean mit aller Kraft versucht, ihr Eintreten zu verhindern. Woher Chuck sein Wissen hat, offenbart schließlich der Engel Castiel: Chuck ist ein Prophet und schreibt an einem neuen Neuen Testament, dem »Winchester Gospel«30. Was er schreibt, tritt ein, weil es vorherbestimmt und sein Schreibprozess göttlich inspiriert ist. Bereits aus dieser Zusammenfassung der histoire wird deutlich, dass Chuck eine Fülle von Autorschaftskonzepten in sich vereint. Er schreibt eine Horrorserie, die er selbst als »bad writing« (4.18, 11:57–11:58) bezeichnet und die im Stil einer »Pulp Fiction«-Reihe aufgemacht ist. Gleichzeitig ist er ein »Prophet of the Lord« (4.18, 25:34–25:36) und es ist sicherlich kein Zufall, dass der Inhaber des erwähnten Comicladens seine Fans als »cult following«31 bezeichnet. Chucks Fernsehserienepisode (Minuten- und Sekundenangaben unter Angabe der Episodennummer (4.18) fortlaufend im Text). 29 Zu dieser Konvention, die auf die Serie »The X-Files« (11 Staffeln, 1993–2002 und 2016–2018) zurückgeht, siehe Favard, Angels, Demons and Whatever Comes Next. 2018, S. 21. 30 Dean: »What, like a new New Testament?« (SN, 4.18, 26:38); Castiel: »One day, these books, they’ll be known as the Winchester Gospel« (SN 4.18, 26:40–26:43). 31 Zur neoreligiösen Qualität von Fanpraktiken siehe Howell, The Gospel of the Winchesters. 2013. In ihrem Artikel analysiert sie »the unique way in which the show (and strains of
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Pseudonym Carver Edlund vereint darüber hinaus die Nachnamen zweier Mitglieder von Eric Kripkes Autorenteam, Jeremy Carver und Ben Edlund, in sich und verweist somit auf die Welt außerhalb der Fiktion, in der es eine Fernsehserie namens »Supernatural« gibt, die vom Showrunner Eric Kripke konzeptuell gesteuert wird. Als in seiner Person zusammengefasste Vielheit verschiedener Personen steht er zudem für ein Autorenkollektiv. Chucks Auftreten im Finale der fünften Staffel verkompliziert das Bild zusätzlich, denn dass er am Ende der Episode in funkelndem weißem Rauch verschwindet, nachdem er zuvor als expliziter Erzähler im Voiceover in Erscheinung getreten ist, lässt darauf schließen, dass es sich bei ihm nicht nur um den Autor einer Buchreihe, sondern auch um den Urheber der gleichnamigen Fernsehserie handelt: Da die Teleologie des Running Plots eine heilsgeschichtliche ist, also um Gott höchstpersönlich.32 Gemäß Michael Z. Newmans Feststellung, dass die poetologische Makrostruktur der »Arcs«, der episodenübergreifenden Handlungsbögen, am Ende einer Staffel gemeinsam gelöst wird,33 und der korrespondierenden Erzähltechnik, innerhalb einer Episode eine thematische Prämisse über mehrere Handlungsstränge in einem »thematic parallelism«34 zu bearbeiten, fließen in der Figur Chuck Shurleys mehrere Themen und Motive zusammen, die für die Staffeln 1 bis 5 paradigmatisch waren: Dies sind vor allem die teils theologisch, teils säkular verhandelte Frage nach Prädestination und freiem Willen sowie die damit zusammenhängende Auseinandersetzung mit abwesenden, aber mächtigen Vaterfiguren. Beide Themen und die dadurch aufgeworfenen Konflikte erscheinen in »Supernatural« insbesondere im Apokalypsenarrativ der Ära Kripke in struktureller Dopplung: Sams und Deans Vater, John Winchester, ist selbst zu Lebzeiten meist abwesend, bestimmt aber nichtsdestotrotz häufig ihre Handlungen, was immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen den Brüdern führt. Analog zu dieser Konfiguration leiden die Engel unter der Abwesenheit Gottes und versuchen, seine Rückkehr zu erzwingen, indem sie die lange prophezeite Apokalypse auslösen, die mit einem Zweikampf zwischen den Brüdern Lucifer und Michael – wohlgemerkt in den Körpern von Sam und Dean Winchester – enden soll. Es ist das Wort des Deus absconditus, der zugleich abwesender Vater ist, das die Handlung bestimmt, und die Ära Kripke endet laut Erzählerkommentar mit der erfolgreichen Emanzipation Sams und Deans, aber discourse created by its fans) implies fan engagement and participation as (neo-)religious«; ebd., S. 18. 32 Letzteres ist seit Episode 11.20 (»Don’t Call Me Shurley«) mehr als bloße Vermutung, da sich Chuck darin als Gott offenbart. Im Rahmen einer Betrachtung der Autorschaftsinszenierungen in der ›Ära Kripke‹ kann diese wesentlich spätere Entwicklung jedoch außen vor gelassen werden. 33 Vgl. Newman, From Beats to Arcs. 2006, S. 25; dort mit Bezug auf die Serie »Gilmore Girls«. 34 Ebd., S. 21.
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auch des Engels Castiel von dieser Determination: »Up against good, evil, angels, devils, destiny and God himself. They made their own choice. They chose family« (SN, 5.22, 40:17–40:34), wie Chuck in seinem Epimythion formuliert. Getreu der intrinsischen Norm der Dopplung wird die Diskussion um Freiheit vom leitenden Willen des abwesenden Vaters in Episode 5.22 auch von Lucifer und Michael aufgegriffen, als sie sich zum Endkampf auf dem Stull Cemetary in Lawrence, Kansas, einfinden. Sam hat Lucifer von seinem Körper Besitz ergreifen lassen, in der Hoffnung, die Kontrolle über sich selbst rechtzeitig zurückzugewinnen, um gemeinsam mit ihm zurück in den höllischen Käfig zu springen. Dean hingegen hat Michael jeden Zugriff verweigert, sodass dieser seinem Bruder nun im Körper von Adam – einem unehelichen weiteren Sohn John Winchesters – gegenübersteht: Lucifer: »A part of me wishes we didn’t have to do this.« Michael: »Yeah. Me too.« Lucifer: »Then why are we?« Michael: »Oh, you know why. I have no choice after what you did.« Lucifer: »What I did? What if it’s not my fault?« Michael: »What is that supposed to mean?« Lucifer: »Think about it. Dad made everything. Which means he made me who I am. God wanted the devil.« Michael: »So?« Lucifer: »So why? And why make us fight? I just can’t figure out the point.« Michael: »What’s your point?« Lucifer: »We’re going to kill each other. And for what? One of dad’s tests. We don’t even know the answer. We’re brothers. Let’s just walk off the chessboard.« Michael: »I’m sorry, I – I can’t do that. I’m a good son and I have my orders.« Lucifer: »But you don’t have to follow them.« […] Michael: »You made our father leave.« Lucifer: »No one makes dad do anything. He is doing this to us« (5.22, 26:19–27:53).
Ähnlich wie Sam Winchester, der sich seinem Vater zu dessen Lebzeiten stets widersetzte, ruft auch Lucifer zur Rebellion auf, aber Michael weigert sich, das »Schachbrett« zu verlassen. Das »Schachbrett« eignet sich deshalb vordergründig als Metapher, weil die Spielzüge und damit alle Handlungen darauf durch Regeln vorgezeichnet sind und von einem Spieler durchgeführt werden, was als Tertium Comparationis gelten kann. Es verweist auf externe – d. h. göttliche – Prädestination. Nexus aller Handlungsstränge sind jedoch trotz allen medialen Differenzen schriftlich fixierte Texte: Die Bibel mit der Offenbarung des Johannes und der »Winchester Gospel«. Da es sich in beiden Fällen um Prophetien handelt, dienen diese Texte zugleich auch als Drehbücher: Wie Schauspieler in einer
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Fernsehserie sollen die Figuren die ihnen zugedachten Rollen spielen.35 Der Gott der Offenbarung und Chuck als Verfasser des »Winchester Gospel[s]« fungieren folglich als Autoren bzw. Autorenteam. Als solches können sie die Figuren allerdings nur begrenzt fernsteuern. Sobald sich die Schauspieler mit dem Skript bekannt machen, tut sich die Möglichkeit auf, davon abzuweichen. Konflikte sind in dieser Konstellation vorprogrammiert. Um den Stellenwert des »Winchester Gospel[s]« für die episoden- und staffelübergreifenden Handlungsstränge der Ära Kripke zu bestimmen, ist zunächst eine nähere Betrachtung, gewissermaßen ein Close Viewing, der Episode 4.18 notwendig, in der Chuck als Figur eingeführt wird. Nachdem Sam und Dean von der Existenz der Buchreihe »Supernatural« erfahren haben – die ebenso wie die Fernsehserie im Jahr 2005 erschien –, recherchieren sie online auf der Website des Verlags »Flying Wiccan Press«36. Darauf sind insgesamt 24 Bände gelistet, was ungefähr der Zahl von Episoden entspricht, die eine US-amerikanische Primetime-Serie pro Staffel enthält.37 Die Cover der Bände sind gezeichnet und tragen die Titel einiger Episoden der Fernsehserie »Supernatural« aus den Staffeln 1 bis 3. Bis Band 15 der Buchreihe folgen die Titel weitestgehend chronologisch denen der Serie; sie entsprechen den Episoden 1–16 der ersten Staffel, einzig Episode 3 ist dabei ausgespart. Die Titel der Bände 16–24 hingegen sind in ihrer Korrespondenz mit der Fernsehserie deutlich eklektischer: Band 16: »Salvation« = Episode 1.21 (27. 04. 2006) Band 17: »Bloodlust« = Episode 2.03 (12. 10. 2006) Band 18: »Croatoan« = Episode 2.09 (07. 12. 2006) Band 19: »Heart« = Episode 2.17 (22. 03. 2007) Band 20: »Sin City« = Episode 3.04 (25. 10. 2007) Band 21: »Fresh Blood« = Episode 3.07 (15. 11. 2007) Band 22: »Mystery Spot« = Episode 3.11 (14. 02. 2008) Band 23: »Jus in Bello« = Episode 3.12 (21. 02. 2008) Band 24: »No Rest for the Wicked« = Episode 3.16 (15. 05. 2008)
Die Annahme, es handle sich ausnahmslos um Episoden, die den Handlungsstrang ›Apokalypse‹ vorantreiben, scheint naheliegend und ließe sich insbesondere für die Bände 20 sowie 22 bis 24 belegen. Es fällt jedoch auf, dass
35 In Episode 5.8 versucht der Erzengel Gabriel, den Protagonisten diese Botschaft eindrücklich zu vermitteln, indem er sie in verschiedene Fernsehprogramme (von einer Sitcom über eine Arztserie bis hin zur prozeduralen Krimiserie) versetzt. Diese Programme können Sam und Dean jeweils erst dann verlassen, wenn sie sich in die ihnen zugedachten Rollen fügen und ›mitspielen‹. »Changing Channels«. Drehbuch: Jeremy Carver. Regie: Charles Beeson. Darsteller: Jensen Ackles, Jared Padalecki. Produzenten: Eric Kripke, Robert Singer. Supernatural. Staffel 5, Folge 8. The CW Television Network. USA, 2009. Fernsehserienepisode. 36 4.18, 2:53; rechts oben auf der Website. 37 Vgl. García, A Storytelling Machine. 2016, S. 3.
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sämtliche Buchtitel aus Staffeln entlehnt sind, die sich noch nicht durch ein starkes, klares Hervortreten dieses Running Plots auszeichnen. Dies gilt insbesondere für die episodisch-prozedural strukturierte Staffel 1, aus der über die Hälfte der Titel stammen. Demgegenüber wurde aus der laufenden Staffel 4, in der der Running Plot in den Vordergrund zu treten beginnt bzw. im Sinne des Wortes ἀποκάλυψις (Apokalypsis) in Episode 4.1 (»Lazarus Rising«) offenbart wird, kein einziger Episodentitel übernommen. Die Buchserie projiziert also nachträglich einen übergreifenden Handlungsstrang auf die drei ersten Staffeln, in denen dieser noch nicht angelegt oder nicht klar erkennbar ist. Die episodische erste Staffel wird rückwirkend in eine teleologische Makrostruktur integriert und in einen größeren erzählerischen Zusammenhang eingepasst. Diese nachträgliche Sinnstiftung durch Einführung einer teleologischen, pseudoheilsgeschichtlichen Struktur wird an der zunächst pseudonymen Autorenfigur Carver Edlund festgemacht. Der Autor soll »Widersprüche lösen« und »eine[] gewisse[] Einheit des Schreibens« garantieren, wie Foucault für den Autorschaftsbegriff der »moderne[n] Literaturkritik« festhält.38 Dies ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass der Autor der Reihe später als ein »Prophet of the Lord« (SN, 4.18, 25:34–25:36) erscheint, der seine Inspiration durch göttliche Visionen empfängt, die er im Schlaf erhält.39 Anstatt die Ereignisse seinen Visionen getreu wiederzugeben, hat Chuck Shurley alias Carver Edlund auf Ebene der histoire eine Auswahl getroffen und gewissermaßen eine eigene Staffel »Supernatural« zusammengestellt. Als Medium eignet sich »Pulp Fiction« dafür hervorragend, denn es steht in seiner Serialität nicht nur den poetologischen Prinzipien der Fernsehserie am nächsten, sondern lebt im 21. Jahrhundert auch hauptsächlich in den fantastischen Genres Sciencefiction, Fantasy und Horror fort.40 Chuck scheint seine Visionen zunächst für bloße Träume zu halten und nicht zu wissen, dass ihr Inhalt einer intradiegetischen »Realität« entspricht. Nach der von Wolfgang Iser getroffenen Unterscheidung wird »Imaginäres in eine bestimmte Gestalt«41 mittels intentionaler Akte des Fingierens – Selektion und (Neu-)Kombination – überführt. Auf diese Weise ereignet sich in Form der Buchreihe zwar ein »Realwerden des Imaginären«, es wird jedoch nichts »Dif-
38 Foucault, Was ist ein Autor. 1988, S. 21. 39 So in der Eingangssequenz von Staffel 4.18, 00:00–00:15. 40 Vgl. Mittell, Film and Television Narrative. 2007, S. 163. Neben Einzelfällen wie Joanne K. Rowlings »Harry Potter« (sieben Bände zwischen 1997 und 2007) oder George R. R. Martins »A Song of Ice and Fire« (fünf Bände zwischen 1996 und 2011) zeichnen sich vor allem Heftromane und billig produzierte sogenannte Trivialliteratur durch Serialität aus. 41 Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, S. 21.
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fuse[s] in bestimmte Vorstellungen«42 überführt, sondern eine bereits sehr konkrete Vorstellung – die in Gestalt von Träumen als Imaginäres erscheint – zerstückelt, selektiert und nach den Produktionsprinzipien einer Fernsehserie in Form einer Buchreihe aus dem Segment Trivialliteratur rekombiniert. Da die Traumvisionen (das Imaginäre) der fiktiven Realität der Diegese entsprechen, wiederholt die Buchreihe »lebensweltliche[] Realität«43, ohne diese vollständig zum Zeichen für etwas anderes zu machen.44 Die »Irrealisierung von Realem«45 im doppelten Akt des Fingierens ist unvollständig, die »realweltliche« Referenz nur durch die collagenhafte Verfasstheit und die mediale Transformation von der Serie (zum Traum) zum Buch gebrochen. Dass Chuck gewissermaßen als idealer Zuschauer der Fernsehserie im Traum alles gesehen hat, was in den ersten Staffeln einschließlich von zwei Dritteln der laufenden Episode 4.18 geschieht, wird deutlich, als Sam ihn zu sich in ein Motel bestellt, um ihn zu fragen, ob er weiß, dass Sam sich hinter dem Rücken seines Bruders mit der Dämonin Ruby trifft und Dämonenblut trinkt, um seine übersinnliche Begabung zu stärken: Sam: »Uh … I was just wondering how much you know. About me.« […] Chuck: »Oh. You wanna know if I know about the demon blood.« Sam: »You didn’t tell Dean.« Chuck: »I didn’t even write it into the books. I was afraid it’d make you look unsympathetic.« Sam: »Unsympathetic?« Chuck: »Yeah, come on, Sam. I mean, sucking blood? You gotta know that’s wrong« (4.18, 21:22–21:54).
Obwohl Chuck jede einzelne Episode der Fernsehsendung genau kennt, trifft er in seinen Büchern eine Auswahl, die bestimmten produktionsästhetischen Prinzipien folgt, die ähnlich wie im Falle einer Fernsehserie extrinsischen Gesetzen des kommerziellen Erfolgs zu unterliegen scheinen. Die Buchreihe »Supernatural« unterscheidet sich demnach sowohl inhaltlich als auch medial von der gleichnamigen Fernsehserie und eröffnet eine metadiegetische Ebene der Narration. Während die Buchreihe einerseits von Carver Edlund, einem auf Autorenvielheit verweisenden, unter Pseudonym agierenden Poeta faber, nach Grundsätzen handwerklichen Schreibens verfasst wird, steht sie andererseits auch in einem engen Referenzbezug zur Diegese. Hinter dem pseudonymen Dichterhandwerker verbirgt sich der inspirierte Prophet Chuck Shurley, für den 42 43 44 45
Ebd., S. 22. Ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 23.
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das Imaginäre und das Reale dergestalt zusammenfallen, dass die Opposition von Fiktion und Wirklichkeit gleichzeitig wieder eingesetzt und gebrochen wird. Zwischen Metadiegese und Diegese besteht daher Verwechslungsgefahr, zumal Episode 4.18 sich im Zwischentitel selbst – in Abweichung von einer weiteren intrinsischen Norm – mittels des Schriftzugs »Supernatural by Carver Edlund« (4.18, 2:12–2:20) als einen (bislang nicht erschienenen!) Band der Buchreihe ausgibt, und Chuck nicht nur als Autorfigur, sondern auch als Erzählinstanz in Erscheinung tritt: einerseits als intradiegetisch-heterodiegetischer Erzähler der Metadiegese, andererseits als extradiegetisch-homodiegetischer Erzähler der Diegese. Neben einer Verschmelzung der geradezu gegensätzlichen Autorschaftskonzepte des Poeta faber und Poeta vates findet auch eine Gleichsetzung von Autorfigur(en) und Erzählinstanz(en) statt. Mit Ausnahme kleiner Teile der Episode 4.18 sowie der erwähnten Folge 5.22 hat »Supernatural« keinen expliziten extradiegetischen Erzähler, wie er im Medium Fernsehen als Voiceover in Erscheinung treten kann. Es dominiert ein extradiegetisch-heterodiegetischer Erzähler-Showrunner, der von der Anordnung der histoire über die Auswahl der Kameraeinstellungen bis hin zum Soundtrack die Gestaltung des discours bestimmt.46 In Episode 4.18 beginnen die Grenzen zwischen den verschiedenen diegetischen Ebenen jedoch zu verschwimmen, also dehnbar und permeabel zu werden. Intradiegetisch fungiert die Figur Chuck Shurley als Erzähler der metadiegetischen Romane »Supernatural«. Deren histoire ist nicht identisch mit der histoire der Diegese, aber vom Plan des extradiegetisch-heterodiegetischen ›Showrunners‹ inspiriert, denn die Figur Chuck kennt in ihrer Funktion als Prophet die Fernsehserie und weiß demnach nicht nur genauso viel wie ein aufmerksamer Zuschauer, sondern kennt auch bereits große Teile der laufenden Episode, die für alle anderen Figuren noch in der Zukunft liegen. Als dieses Mehrwissen verschriftlicht wird, beginnt die Buchreihe als proleptische Prophezeiung auf die Handlung zurückzuwirken, denn Sam und Dean richten ihre Handlungen danach aus wie nach einer Blaupause. Nachdem Chuck in seinem neuesten Manuskript, das im Verlauf der Episode entsteht, beschrieben hat, dass die mächtige Dämonin Lilith in die Stadt kommen und mit Sam eine Nacht voller »fiery demonic passion« (SN, 4.18, 14:06) verbringen wird, unterhalten sich die Brüder darüber, wie sie mit diesem Vorwissen umgehen sollen:
46 Laut Jason Mittell »a distinctive narrative voice«: »Typically, films employ non-diegetic techniques such as camera movements, edits, and soundtrack music to represent aspects of the storyworld and guide our reactions to onscreen events. […] the actual viewpoint presented is outside the world of the narrative, mirroring the way a literary extradiegetic narrator presents a scene to readers«; Mittell, Film and Television Narrative. 2007, S. 160.
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Dean: »Hey, this could be a good thing. I mean, if this is what puts us on the path to Lilith, then all we gotta do is get off the path.« Sam: »How do you mean?« Dean: »It’s a blueprint of what not to do. I mean, if the pages say that we go left …« Sam: »… Then we go right.« Dean: »Exactly. We get off book, we never make it to the end. It’s opposite day« (SN, 4.18, 16:59–17:16).
Nach dem Vorbild griechischer Tragödien erweist sich im weiteren Verlauf, dass es unmöglich ist, die prophezeiten Ereignisse abzuwenden. Lilith, die im »Red Motel« erscheinen sollte, erscheint letztlich im »Toreador Motel«, einem Stundenhotel, in dessen Leuchtreklame des Namens »Toreador« durch eine elektrische Störung alle Leuchtbuchstaben bis auf R, E und D ausfallen. Die Missverständlichkeit und folgliche Unausweichlichkeit der Vorhersage liegen einerseits in einer unzulässigen Gleichsetzung von Diegese und Metadiegese, die von einer direkten Referenzialität ausgeht, wo eine solche aufgrund partieller Akte des Fingierens, der »Irrealisierung von Realem«47, nicht mehr ungestört bestehen kann. Da Chuck als prophetischer Poeta vates zu diesem Zeitpunkt jedoch vorgibt, die Protagonisten durch Offenbarung seines Vorwissens unterstützen zu wollen, und somit eigentlich keine Selektion nach produktionsästhetischen Kriterien mehr betreiben dürfte, ergibt sich andererseits der Verdacht, dass er seine Traumvision entweder falsch interpretiert oder absichtlich fehlgedeutet hat: Sam und Lilith finden sich zwar (wie zuvor gezeigt und vorgelesen) auf einem Bett wieder – allerdings nicht in »fiery demonic passion« sexueller Art, sondern in der Absicht, den jeweils anderen zu töten. Der fehlgeschlagene Versuch, Chucks Prophezeiung zu entgehen, der das staffelübergreifende Thema von Prädestination und freiem Willen aufgreift, wirft außerdem die Frage auf, wer eigentlich die histoire und deren Anordnung im discours bestimmt: In der realen Welt außerhalb der Fiktion ist es das Autorenteam um Eric Kripke, doch intradiegetisch sorgt die Verschachtelung von Figuren und Erzählinstanzen für Verwirrung, sobald Ersteren bewusst wird, dass sie gesteuert werden. Ein extradiegetisch-heterodiegetischer Erzähler-Showrunner wird von ihnen als Prototyp des abwesenden Vaters48 (als Deus absconditus) wahrgenommen, der den Gang der Ereignisse durch pseudobiblische Prophetie steuert, aber selbst nicht als handelnde Figur in Erscheinung tritt. Durch Chucks Visionen dringt das Skript dieser extradiegetischen Instanz in die Ebene der Diegese ein und eröffnet eine metadiegetische Ebene, für die wiederum Chuck als intradiegetisch-heterodiegetischer Erzähler fungiert. In seinen Büchern tritt er selbst nicht als Figur in Erscheinung. Das Schreiben bricht gerade 47 Iser, Das Fiktive. 1991, S. 23. 48 Lucifer bezeichnet Gott als »Dad«; andere Engel nennen ihn »our father«.
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in dem Augenblick ab, in dem Chucks Auftritt innerhalb des Manuskripts erfolgen müsste. Als Chuck zum ersten Mal auf Sam und Dean trifft, bedeutet ihr Erscheinen für den Pulp-Propheten49 eine Überschreitung diegetischer Grenzen, denn er setzt sie mit den Figuren seiner Buchreihe gleich und ist gerade dabei, in seinem neuen Manuskript auf eben diese Begegnung hinzuschreiben. Die entsprechende Szene beginnt in Chucks Haus, das in dunklen Farbtönen eingerichtet ist und mit vorgezogenen weißen Gardinen von der Außenwelt und damit von der Diegese abgeschottet scheint. Ein Drucker spuckt einige Seiten aus und Chuck erscheint in Boxershorts, Unterhemd und einem längs gestreiften blau-grauen Bademantel – ein Outfit, das in einer ganzen Reihe filmischer Zitate anklingt und u. a. auf die Verfilmung von Stephen Kings »Secret Window, Secret Garden« durch David Koepp aus dem Jahr 2004 zurückverweist –,50 seine kurzen Haare sind verstrubbelt, er hält eine Getränkedose in der Hand, isst Junk Food und trägt eine Lesebrille mit dicken schwarzen Rändern. Vor Chucks Computer stehen u. a. ein Dosenbier und ein offener Pizzakarton auf seinem Schreibtisch. Er nimmt die Seiten aus dem Drucker und liest laut daraus vor: »Sam and Dean approached the rundown … [korrigiert mit Bleistift] approached the ramshackle house with trepidation. Did they really want to learn the secrets that lay beyond that door? Sam and Dean traded soulful looks. Then, with determination, Dean pushed the doorbell … with forceful determination« (4.18, 7:10–7:46).
Die intra- und metadiegetischen Erzählungen verlaufen parallel, sodass durch die verführerische Gleichschaltung der Ebenen die Illusion von Isochronie zwischen der erzählten Zeit und der Erzählzeit entsteht. Zugleich vollzieht sich durch die Illusion von Isochronie ein narratologischer Vergleich der Medien Roman und Fernsehserie, denn während Chuck aus seinem Manuskript vorliest, sieht man Sam und Dean die beschriebenen Handlungen durchführen und kann so die gestischen bzw. mimischen Entsprechungen von »trepidation«, »soulful looks« und »determination« ebenso direkt nachvollziehen wie die Vorstellung des Showrunners davon, wie ein »ramshackle house« aussieht.51 Es steckt auffällig viel Post im Briefkasten, was ebenso wie Chucks Kleidung darauf schließen lässt, dass er nicht oft vor die Tür geht und die Abgeschlossenheit seiner Existenz betont. Chuck ist eine intradiegetisch agierende Figur, wird jedoch als einsied-
49 Charlotte E. Howell bezeichnet Chucks »Gospel of the Winchesters« als »Pulp Religion«; Howell, The Gospel of the Winchesters. 2013, S. 19. 50 Verfilmt wurde die Novelle unter dem Titel »Secret Window«. 51 Zu den »basic mechanisms of storytelling […] within literary versus moving-image narratives« siehe Jason Mittells Vergleich des Romans mit der 1939er-Verfilmung des »Wizard of Oz«; Mittell, Film and Television Narrative. 2007, S. 157–162.
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lerischer Autor in einer Weise inszeniert, die ebenso wie das kurze Voiceover einen extradiegetischen Erzählerautor in Personalunion suggeriert. Nachdem Chuck die Passage vorgelesen hat, schnaubt er abwertend, wirft die Seiten auf den Tisch, nimmt seine Lesebrille ab und stützt den Kopf auf die Hand. In diesem Augenblick klingelt es an der Tür und er sieht sich mit Sam und Dean konfrontiert. Zunächst hält er sie für überenthusiastische Fans. Erst als sie ihm ihren Nachnamen nennen, identifiziert er sie mit den gleichnamigen Figuren der Metadiegese, da es sich dabei um ein weiteres Element privilegierten Wissens handelt, das er seinen eigenen Lesern verschwiegen hat: Dean: »Well, nice to meet you. I’m Dean Winchester and this is my brother Sam.« Chuck: »Last names were never in the books. I never told anybody about that. I never even wrote that down« (SN, 4.18, 9:38–9:50).
Die Situation bringt Chuck dazu, seine eigene Rolle als Schriftsteller zu reflektieren. Aus Chucks Perspektive sind der Sam und Dean der metadiegetischen Ebene seiner Buchreihe identisch mit den diegetischen Protagonisten der Fernsehserie und die Begegnung mit ihnen ist folglich metaleptisch. Da er seine Figuren vermeintlich zum Leben erweckt hat, betrachtet er sich als einen ›auctor‹ im eigentlichen Sinne – als einen Schöpfer, und damit als einen, wohlgemerkt nicht den einen Gott: Chuck: »Well, there’s only one explanation: Obviously, I’m a god.« Sam: »You’re not a god.« Chuck: »How else do you explain it? I write things and then they come to life? Yeah, no, I’m definitely a god. A cruel, cruel, capricious god. The things I put you through. The physical beatings alone.« Dean: »We’re still in one piece.« Chuck: »I killed your father. I burned your mother alive. And – and then you had to go through the whole horrific deal again with Jessica.« Sam: »Chuck.« Chuck: »All for what? All for the sake of literary symmetry. I toyed with your lives, your emotions, for entertainment.« Dean: »You didn’t toy with us, Chuck, okay? You didn’t create us« (4.18, 10:04–10:44).
Was sich in diesem Dialog artikuliert, sind eben jene Fragen von Theodizee und Prädestination, die in struktureller Dopplung ein zentrales Thema der Ära Kripke darstellen. Da Gott durch Chuck als Autor imaginiert wird, löst sich das theologische Problem an dieser Stelle in eine Frage poetischer Regeln und intrinsischer Normen auf, wofür Chuck sich aus seiner vermeintlichen Autor-GottPerspektive heraus entschuldigt: »I am so sorry. I mean, horror is one thing – but to be forced to live bad writing. I – I – If I would’ve known it was real, I would have done another pass« (4.18, 10:52–11:03).
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Die Winchesters glauben jedoch nicht, dass Chuck ein oder gar der eine Gott sein könnte, sondern geben sich mit Castiels Erläuterung zufrieden, er sei ein Prophet – eine Rolle, von der Chuck bereits wusste, bevor Sam und Dean an seiner Tür klingelten und bevor er sich selbst als Gott imaginierte, wie er selbst zugibt: Dean: »Did you know about this?« Chuck: »I, uh, I might have dreamt about it.« Dean: »And you didn’t tell us?« Chuck: »It was too preposterous. Not to mention arrogant. I mean, writing yourself into the story is one thing, but as a prophet? That’s, like, M. Night52-level douchiness.« Dean [zu Castiel]: »This is the guy who decides our fate?« Castiel: »He isn’t deciding anything. He’s a mouthpiece, a conduit for the inspired word.« Dean: »The Word? The Word of God? What, like the new New Testament?« Castiel: »One day, these books, they’ll be known as the Winchester Gospel.« Dean & Chuck: »You’ve gotta be kidding me« (SN, 4.18, 26:10–26:45).
Chucks Funktion als Prophet ist es demnach, das (Vor-)Wissen eines extradiegetisch-heterodiegetischen Showrunner-Erzähler-Gottes auf Basis von Visionen mittels Eröffnung einer metadiegetischen Ebene auf der Ebene der Diegese zu vermitteln. Sein Schreiben ist auf den ersten Blick nach platonischem Verständnis inspiriert; er fungiert als Medium, als Mittler göttlicher Wahrheit, die ihm ihn Gestalt von Traumvisionen im Schlaf zukommt. In dieser Funktion kann er tatsächlich nicht der Autor sein, der das Schicksal der Figuren auf der ihm gleichgeordneten diegetischen Ebene bestimmt. Castiel zufolge haben seine Bücher als »Winchester Gospel«, und damit als Botschaften dieses Autors, allerdings eine besondere Qualität: »What the prophet has written can’t be unwritten. As he has seen it, so it shall come to pass« (SN, 4.18, 27:34–27:45). Der Versuch, Chucks Vorhersagen zu entgehen, misslingt tatsächlich, und seine Traumvisionen inszenieren ihn ebenso als Sprachrohr Gottes, wie sein Pseud52 Zum Werk M. Night Shyamalans, das sich insbesondere durch Plot-Twists auszeichnet, gehören die Filme »The Sixth Sense« (1999), »After Earth« (2013) sowie die Fernsehserie »Wayward Pines«. Neben M. Night vergleicht sich Chuck auch mit dem Schriftsteller Kurt Vonnegut (SN, 4.18, 11:35–11:48). Meta- und intertextuelle Verweise und Anspielungen dieser Art sind in »Supernatural« in Wort, Sound und Inszenierung an der Tagesordnung. Das »hyperconsciousness« (Howell, The Gospel of the Winchesters. 2013, S. 19) der Serie als Bestandteil des Genres »supernatural drama« zeigt sich allein schon daran, dass sie eine Genrebezeichnung als Titel trägt und dadurch implizit den Anspruch erhebt, dieses Genre in seiner Gesamtheit abzubilden. Vgl. Petersen, Line Nybro: Renegotiating Religious Imaginations Through Transformations of »Banal Religion« in »Supernatural«. In: Transformative Works and Cultures 4, 2010, [o. S.]: »[…] inter- and metatextuality heighten the viewers’ imaginative awareness by placing the main characters both inside and outside the diegesis of the series.«
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onym, Carver Edlund, ihn als Sprachrohr des außerfiktionalen Autorenteams der Serie inszeniert. Chucks Präsenz ist folglich trinitarisch: Als diegetische Figur verfasst er unter seinem Pseudonym billige »Pulp Fiction«, als Prophet ein neues Evangelium und als Showrunner-Gott das Skript der Fernsehserie selbst. Sein Pseudonym entlarvt die Dreiheit als Dreieinigkeit: Als Autor der Romanserie »Supernatural« nennt Chuck sich Carver Edlund und verkörpert somit in innerfiktionaler Spiegelung der außerfiktionalen Welt das Autorenteam der Fernsehserie, hinter dem wiederum der Showrunner Eric Kripke steht und das über den eigentlichen Plan, das Drehbuch, verfügt. Wie beim Autorenteam samt Showrunner handelt es sich auch bei Chuck um eine personelle Vielheit. Was er in seiner Funktion als Autorprophet schreibt, ist allerdings nicht identisch mit dem Drehbuch der Serie. Dieses Drehbuch bzw. dessen Verfilmung wird Chuck Shurley in der Funktion als Autorgott zugeschrieben. Auszüge aus diesem Skript vermittelt dieser Autorgott durch göttliche Visionen auf die Ebene der Diegese, wo er sie als Carver Edlund durch Selektion und Kombination neu arrangiert und sie den Protagonisten in Form billig produzierter »Pulp Fiction« und unveröffentlichter Manuskripte zugänglich werden. Die Zuschreibung des Drehbuches an einen Autorgott und dessen Offenbarung erfolgen innerhalb der Serie gerade dann, als dies bekannt werden muss, um eine Auflehnung gegen die Prädestination durch schriftliche Offenbarungen zu inszenieren. Diese Rebellion läuft jedoch zwangsläufig ins Leere, denn das Skript, gegen das sich die Figuren erfolgreich wehren, ist nicht das der Diegese, ja nicht einmal das der Metadiegese, sondern vielmehr der Fahrplan, dem die Engel folgen und der sich an der biblischen Apokalypse des Johannes orientiert: eben die Spielregeln des »Schachbretts«, das Lucifer verlassen möchte. Innerhalb des eigentlichen Drehbuchs, als dessen Urheber der mit einem bislang unkonkreten, extradiegetisch-heterodiegetischen Erzähler gleichgesetzte Showrunner-Gott inszeniert wird, handelt es sich dabei jedoch nur um einen spezifischen Handlungsstrang, auf dessen Verlauf und Ausgang die Figuren keinerlei Einfluss haben können. Die Fleischwerdung des Showrunner-Gottes auf Ebene der Diegese in Gestalt seines eigenen Propheten ist temporär und wird von den Serienprotagonisten aufgrund des Verwirrspiels mit Autoridentitäten auch nicht als solche erkannt. Der diegetischen Figur Chuck Shurley werden – abgesehen von seinen Visionen und seinem besonderen heilsgeschichtlichen Status – keine übernatürlichen Fähigkeiten zugeschrieben. Ein solches göttliches Eingreifen findet in der vierten und fünften Staffel zwar deutlich erkennbar statt, die Hand Gottes wirkt dabei aber unsichtbar und völlig außerhalb der fiktionalen Weltordnung. »The Monster at the End of this Book« schließt mit einer Szene, die den Titel der Episode zu erhellen scheint. Chuck hat eine Vision, in der er das Ende von
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Staffel 4 vorhersieht: die Freilassung Lucifers aus seinem Käfig in Episode 4.22, dem Staffelfinale. Es ist eben diese Episode mit dem vielsagenden Titel »Lucifer Rising«, in der erstmals ein nicht personalisierter göttlicher Eingriff ins Geschehen stattfindet. Nachdem Sam aus Versehen Lucifers Käfig geöffnet hat, sind er und Dean mit dem Teufel in einem Kloster eingesperrt und haben keine Möglichkeit zu entkommen. Ein unsichtbarer Deus ex machina teleportiert sie vom Kloster in ein Flugzeug. Dieselbe unsichtbare Hand lässt bis zum Ende der fünften Staffel Castiel zwei Mal wiederauferstehen, nachdem er von Raphael und Lucifer in Stückchen gesprengt wurde, und ein Mal Bobby Singer – eine Vaterfigur für Sam und Dean, die nach einem der Executive Producers der Serie benannt wurde. Auf Basis dieser Beobachtungen kann es kaum zufriedenstellen, Lucifer als titelgebendes Monster am Ende des Buches zu identifizieren, zumal der Episodentitel vollständig demjenigen eines Bilderbuches für Kinder entspricht, das Oliver Jahraus in einem Aufsatz als Paradebeispiel für Autoreflexivität dient:53 »Die Geschichte geht so: Sie handelt von Grobi [im Original Grover – L. R.], einem kleinen kuscheligen Monster aus der Sesamstraßenmannschaft, das die Hauptfigur in einem Buch ist, das den Titel trägt: Das Monster am Ende dieses Buches. Grobi selbst hat ein Medienbewusstsein; er weiß, dass er die Hauptfigur des Buches ist, zumindest, dass er darin vorkommt. Daher kann er sich auch über den Titel des Buches […] Gedanken machen. Das Medium reflektiert sich selbst.«54
Grobi, der »eine immense Angst vor diesem Monster hat, das der Titel prophezeit«, versucht »die Rezeption anzuhalten«, indem er dem realweltlichen Leser das Umblättern erschwert, was selbstverständlich nicht gelingen kann. »Am Ende kommt es, wie es kommen muss. Es [Grobi – L. R.] kommt – Hegel lässt grüßen – zu sich. Am Ende des Buches steht das Monster. Aber das Monster, jeder hat es vermutet, ist Grobi selbst.«55
Eine solche Selbstbegegnung widerfährt Lucifer nicht; der Figur kann auch kaum Medienbewusstsein unterstellt werden. Und das »Buch«, an dessen Ende gemäß dem Episodentitel ein Monster stehen soll, heißt laut Episodenzwischentitel »Supernatural by Carver Edlund« (4.18, 2:12–2:20) – genauso wie die Buchreihe/ Fernsehserie in ihrer Gesamtheit. Das Ende des »Buches« kann demnach nicht mit dem Ende von Episode 4.18 zusammenfallen, sondern nur mit dem Ende der 53 Stone, Jon/Smollin, Mike: The Monster at the End of this Book. Starring Lovable, Furry Old Grover. New York: Golden Press 1971. 54 Jahraus, Oliver: Autoreflexivität. In: Theorie – Prozess – Selbstreferenz. Systemtheorie und transdisziplinäre Theoriebildung. Hrsg. von Oliver Jahraus und Nina Ort. Konstanz: UVK 2003, S. 69–106, hier S. 70. 55 Jahraus, Autoreflexivität. 2003, S. 71.
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Serie, die dem genannten Autor zugeschrieben wird. Carver Edlund ist jedoch nur ein Aspekt der Trinität aus Pulp-Fiction-Schreiber, Prophet und Showrunner-Gott, der durch sein Pseudonym auf das realweltliche Autorenteam und den dahinterstehenden bzw. dieses verkörpernden Showrunner Eric Kripke verweist. Die Zersplitterung der Figur wird, wie gezeigt wurde, am Ende der Episode 5.22 in die Dreieinigkeit zurückgeführt. Die Autorfigur verschwindet wieder in die Transzendenz, nachdem auf ihrem Computerbildschirm die Worte »THE END« (5.22, 40:35–40:36) erschienen sind, und zwar genau zum Ende der Staffel, nach deren Abschluss Eric Kripke sein Amt als Showrunner niederlegt. Das Monster muss folglich am Ende des Staffelfinales in Episode 5.22 zu suchen sein, das sowohl die Autorfigur als auch den realweltlichen Showrunner verpuffen lässt: Selbst oberflächlich betrachtet ist dieses nicht Lucifer, sondern Sam Winchester, der nach dem endgültigen Verstummen des Autorgottes ohne Seele aus der Hölle wiederkehrt. Es ist (könnte man sagen) aber auch der Autorgott, der sich durch seine Inkarnation auf Ebene der Diegese mittels eines Prozesses der »fortgesetzte[n] Selbstwiederholung«56, die verschiedene Autorschaftskonzepte durchexerziert, selbst einholt, um anschließend hinter den »Text« zurückzutreten. Nach Chucks Verschwinden setzt sich die Serie ohne explizite Autorschaftszuweisung fort: »[n]othing ever really ends« (5.22, 40:45–40:50). Was den Protagonisten gelingt, ist also, die ihnen zugedachten Rollen als Leihkörper für Lucifer und Michael nicht zu spielen, das drohende Weltende abzuwenden und sich von einem pseudo-biblischen Drehbuch zu emanzipieren, dem die Engel folgen wollen und nicht müssen. Die drastischen, scheinbar willkürlichen Eingriffe einer unsichtbaren göttlichen Macht unterstützen sie dabei. Chucks Resümee »They made their own choice« (SN, 5.22, 40:17–40:34) wird dadurch ad absurdum geführt. Seine Reflexion über die Schwierigkeit, am Ende einer Serie – oder des Staffelfinales – alle offenen Handlungsstränge auf eine Weise zu verknüpfen, die ihnen nachträglich irgendeine Form von tieferem Sinn oder zumindest eine klare Botschaft verleiht, verweist bereits auf die Brüchigkeit dieses Zusammenhangs: »The fans are always gonna bitch, there’s always gonna be holes« (5.22, 36:52–37:18). Die Zuweisung von Sinn oder Bedeutung liegt damit letztlich nicht beim Autorgott, bei einem Autorenkollektiv oder dem Showrunner, die alle in Chucks finalem Kommentar zusammenfließen, sondern beim Zuschauer. Dementsprechend kann der Autorgott seine eigene Deutung des multidimensionalen »Winchester-Gospel« auch nur im Konjunktiv anbieten (»But me, I’d say this was a test for Sam and Dean. And I think they did alright« [Hervorhebung – L. R.]) und muss sie letztlich mit einem Fragezeichen versehen. Bereits der Umstand, dass Chuck am Ende der fünften Staffel – nicht etwa inszeniert als Pulp-Prophet, sondern als Autorgott – das letzte Wort behält, 56 Ebd.
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betont den Status der Diegese als etwas Gemachtes, als eine Fiktion, die nur deshalb existieren kann, weil in der außerfiktionalen Realität ein Drehbuch verfasst und in Form eines Primetime-Serials verfilmt wurde. Auf der Basis explizit reflektierter produktionsästhetischer Prinzipien wird das Schicksal der Protagonisten demnach ebenso von den extrinsischen Normen des Formats bestimmt wie von etablierten intrinsischen Normen der Serie und dem Skript, das der jeweils aktuellen Folge zugrunde liegt. Für fiktive Figuren ist es kategorisch unmöglich, sich gegenüber dem Drehbuch selbstständig zu machen. Durch unvollständige, letztlich nur illusorische Metalepsen und Verweise auf die außerfiktionale Realität, die Showrunner Eric Kripke über sein Autorenteam als Gottvater der Diegese inszeniert, rückt diese Unmöglichkeit deutlich in den Fokus. Über den freien Willen, den die Protagonisten durch ihr vorgebliches Abweichen vom Drehbuch angeblich ausüben, können sie aufgrund ihres fiktionalen Status’ letztlich überhaupt nicht verfügen. Irgendeiner Autoreninstanz – und sei es in Form von Fanfiction – müssen sie zwangsläufig unterworfen sein, um existieren zu können. Die Auffindung des Autors – oder besser: die Offenbarung eines fiktionalen Showrunner-Gottes – verleiht den besprochenen Episoden kein »letzte[s] Signifikat«57, um mit Roland Barthes zu sprechen. Da es das erklärte Ziel der Engel war, mittels eines prophezeiten Endkampfes zwischen Lucifer und Michael nach dem pseudobiblischen Drehbuch der Apokalypse die Rückkehr ihres AutorGott-Vaters zu erzwingen, der das Geschehen leiten und ihm Sinn verleihen sollte, haben die Winchesters gemeinsam mit dem Engel Castiel als ›Team Free Will‹ gegen eben diese Sinnzuweisung durch den Autorgott als Vater und Ursprung seines Werkes rebelliert. Paradoxerweise kann diese Rebellion nur erfolgen, sobald und weil der Autorgott zumindest in seiner metadiegetischen Offenbarung für die Figuren sicht- und greifbar wird. Eine Rebellion kann jedoch nur intradiegetisch erfolgen; nicht einmal die extradiegetische Erzählinstanz wird davon berührt. Der Durchbruch von der Fiktion in die Lebenswirklichkeit, auch in Form der nur vermeintlichen Metalepse zwischen Metadiegese und Diegese, bleibt unmöglich und illusionär, was diese harte Grenze geradezu schmerzlich ins Licht der Aufmerksamkeit rückt. Indem die Multidimensionalität der Figur Chuck Shurley sowie ihre doppelte Präsenz als Erzählinstanz auf extra- und intradiegetischer Ebene zur Auseinandersetzung mit der Grenze zwischen Fiktionalität und Faktizität anregen, werden die pseudotheologischen Kernfragen der ersten fünf Staffeln »Supernatural« an die außerfiktionale Realität und damit an den Zuschauer zurückverwiesen: Welcher Autorgott verfasst das Drehbuch dieser Wirklichkeit(sfiktion)? Und ist es möglich, sich davon zu
57 Barthes, Tod des Autors. 2006, S. 62.
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lösen? Letztlich ist es am Zuschauer, da ein Deutungsangebot zu machen, wo der Autorgott an der finalen Sinnzuweisung scheitert bzw. scheitern muss.
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Live-Archive und fluide Paratexte – Twitter als inszenierbares Notizbuch für Schriftsteller*innen
1.
Twitter – eine neue Form des Paratextes
Am 11. Juli 2019 schrieb die Schriftstellerin und Essayistin Berit Glanz auf Twitter: »Ich bin erkältet und müsste eigentlich dringend schreiben, mein Kind mariniert den Tisch und sich selbst in Erdbeermarmelade, wir hören sehr laut Al Green und die Sonne scheint durchs Fenster.«1
Auf den ersten Blick handelt es sich hierbei um die Beschreibung einer Alltagssituation durch eine Privatperson, wie man sie zu Tausenden jeden Tag in der Timeline des sozialen Netzwerkes Twitter findet. Längst hat sich Twitter als ein digitaler Raum etabliert, in dem Menschen ihr Leben in Form von Bildern, Videos, kurzen Animationen (sogenannten GIFs2) und natürlich vor allem als Text in einer Art digitalen Tagebuch mit jeweils maximal 280 Zeichen publik machen. Twitter ist wie auch Instagram und inzwischen TikTok mit einem jeweils eigenen medialen Fokus zum Ort der diarischen, digitalen Selbsterzählung geworden, viel mehr noch als Facebook. Die strukturelle Zugänglichkeit macht Twitter gerade im Vergleich zu Facebook3 zu einem öffentlichen Ort, dadurch entsteht auch eine 1 Glanz, Berit (@beritmiriam) am 11. 07. 2019. (letzter Zugriff: 20. 05. 2020). 2 GIF steht für Graphics Interchange Format und bezeichnet ein Dateiformat, in dem mehrere Bilder als Animation dargestellt werden können. 3 »Während bei Facebook nur reziproke Beziehungen möglich sind, d. h. beide Nutzer einer ›Freundschaft‹ zustimmen mu¨ ssen und keine einseitige ›Befreundung‹ erfolgen kann, ermöglicht etwa Twitter auch asymmetrische Beziehungen, indem ein Nutzer einem anderen ›folgen‹ kann, ohne dass dieser umgekehrt dasselbe machen muss« (Kneidinger-Müller, Bernadette: Soziale Netzwerk Seiten. Die Digitalisierung sozialer Beziehungen. In: Handbuch Soziale Praktiken und Digitale Alltagswelten, hrsg. von Heidrun Friese/Marcus Nolden/Gala Rebane/Miriam Schreiter, Wiesbaden 2020, S. 70). Während Facebook trotz zunehmender Offenheit weiterhin vor allem ein persönliches Netzwerk von Freund*innen und Bekannten darstellt, ist Twitter allein von seiner strukturellen Ausgangslage her zu einem Kommunikationsraum geworden, in dem Öffentlichkeit die Norm und Privatheit die Ausnahme darstellen.
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diskursive Offenheit der geposteten Statusmeldungen. Twitter ist in diesem Sinne ein idealer Ort, um sich selbst zu publizieren und das eigene Leben öffentlich zu machen.4 Wer konsequent twittert, narrativiert auf eine bestimmte Art auch sein Leben und erstellt eine Identität von sich, die in einen öffentlichen Kommunikationsraum exportiert und in den Diskurs gestellt wird: Tweets werden geteilt (retweetet), anerkennend mit einem Herzsymbol versehen (gefavt) und kommentiert. In diesem Sinne sind sie rezeptionsaktiv und können von den Rezipierenden in neue Zusammenhänge gestellt und somit anders semantisiert werden. Twittern praktiziert als Selbsterzählungsmodus eine Form des interaktiven Storytellings. Stephan Porombka beschreibt diesen digital-narrativen Umgang mit der eigenen Identität als einen Lebensstil: »Wer wirklich twittert, lebt mit dem Programm. Twitter bietet keine Geschichte mit Anfang und Ende. Es ist eine Erzählmatrix, in der man drin ist und die man fortschreibt. Immersive Storytelling und Liquid Storytelling haben die alten Erzählmuster abgelöst. Die Timeline markiert die Lebenszeit.«5
Dass es angesichts dieser Form einer Selbstnarrativierung fruchtbar sein kann, sich mit literaturwissenschaftlichen und textanalytischen Methoden dem Phänomen des Twitterns zu nähern, erscheint offensichtlich. Hier werden Erzählweisen ausprobiert, die in dieser Form noch nicht lange möglich sind und sich in einem Bereich manifestieren, der weitab von traditionellen Varianten des literarischen Erzählens angesiedelt ist. Doch auch in einer anderen Hinsicht, die vielleicht nicht in der gleichen Form naheliegend ist, ist das Twittern von literaturwissenschaftlicher Relevanz: als eine neue Form des Paratextes. Der Bereich, dem ich mich hier nähern möchte, betrifft die Twitter-Aktivität von Schriftsteller*innen, die zwar vorrangig auf dem traditionellen Weg literarische Texte als Bücher bei Verlagen oder als Beiträge in literarischen Zeitschriften publizieren, gleichzeitig aber in ihrem privaten und beruflichen Alltag Twitter nutzen. Auf diese Weise schreiben sie im öffentlichen Raum des sozialen Netzwerkes einen kontinuierlichen und interaktiven Paratext zu ihrem Werk, der strukturelle und funktionale Parallelen zu Notiz- und Tagebüchern oder Fotoalben aufweist. Während diese unter Umständen literaturwissenschaftlich relevanten Artefakte aus dem Besitz von Autor*innen aber in den meisten Fällen erst als Teil des Nachlasses in Archiven für die Literaturwissenschaft nutzbar werden, zeichnet sich die Twitter-Timeline von Autor*innen durch ihre Gleichzeitigkeit und direkte Zugänglichkeit aus. 4 Siehe dazu auch: »For example, it has been routinely accepted that Twitter data are ›public‹ and users should have no expectations of privacy while using it« (Buchanan, Elizabeth A.: Ethics in Digital Research. In: Handbuch Soziale Praktiken und Digitale Alltagswelten, S. 379). 5 Porombka, Stephan: Die nächste Literatur. Anmerkungen zum Twittern. In: Netzkultur. Freunde des Internets. E-Reader. Technologie-Evolution. 30. November 2013, S. 44.
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Als Gérard Genette sein Standardwerk »Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches« Ende der 1980er Jahre verfasste, konnte er die Entwicklungen, die sich für die Möglichkeiten der öffentlichen Selbstinszenierung von Schriftsteller*innen im Zuge der Digitalisierung ergeben würden, noch nicht vorhersehen. Bis es gegen Ende der 1990er Jahre für jeden, der über einen Internetanschluss verfügte, möglich wurde, einen privaten Blog einzurichten und damit selbst Inhalte im Netz zu produzieren, waren Schriftsteller*innen darauf angewiesen, dass Zeitungen über sie berichten und Fernseh- bzw. Radiosendungen sie einladen. Nur so konnte ein großer Teil der Epitexte (Paratexte), die nicht gemeinsam mit dem literarischen Text, den sie begleiten, erscheinen, veröffentlicht werden. Eine mögliche Veränderung im Bereich des Paratextes ist allerdings auch schon in Genettes Monografie angelegt: »Die Mittel und Wege des Paratextes verändern sich ständig je nach den Epochen, den Kulturen, den Autoren, den Werken und den Ausgaben ein und desselben Werkes, und zwar mit bisweilen beträchtlichen Schwankungen.«6
Folgt man dem Ansatz von Genette in dem Sinne, dass »[a]lles, was ein Schriftsteller über sein Leben, seine Umwelt oder das Werk der anderen sagt oder schreibt, […] paratextuelle Relevanz besitzen«7 kann, bedarf es in logischer Folge auch einer Betrachtung der Social-Media-Nutzung von Schriftsteller*innen, um herauszufinden, wie sich dieses digitale Text-Bild-Konvolut unter dem Überbegriff Paratext einordnen und literaturwissenschaftlich nutzbar machen lässt. Dass eine generelle Neubewertung des Paratextkonzepts in Hinblick auf die digitale Gegenwart des Internets sinnvoll ist, merkt Christian Dinger mit Blick auf Verlagshomepages und Autor*innenblogs an: »Insbesondere auf dem Gebiet des Epitexts finden sich heute im Internet zahlreiche neue Möglichkeiten für Verlag und Autor, das jeweilige Werk zu präsentieren, zu bewerben oder mit Zusatzmaterial zu versehen.«8
Dinger setzt sich in seinem Beitrag vorrangig mit Epitexten auseinander, die in einem offiziellen Rahmen erscheinen, also auf Blogs der Autor*innen oder auf Verlagshomepages, und die demnach weniger interaktiv und fluide sind als Statusmeldungen auf Twitter und in einem teilweise redaktionellen Kontext erscheinen. Während Paratexte, die auf Verlagsseite lanciert werden oder auf einem Blog der Autor*innen erscheinen, einen Status einnehmen, der ver6 Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989, S. 11. 7 Ebd., S. 330. 8 Dinger, Christian: Die Ausweitung der Fiktion. Autofiktionales Erzählen und (digitale) Paratexte bei Clemens J. Setz und Aléa Torik. In: Sich selbst erzählen: Autobiographie – Autofiktion – Autorschaft. Hrsg. von Sonja Arnold/Stephanie Catani/Anita Gröger/Christoph Jürgensen/Klaus Schenk und Martina Wagner-Egelhaaf. Kiel: Ludwig 2018, S. 372.
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gleichbar wäre mit Zusatzmaterial, das zu einem Roman herausgegeben wird, erzeugen paratextuelle Twitter-Posts eine Art der simultanen Beobachtersituation: Die Autor*innen gewähren Einblick in ihren Alltag und werden dadurch beim schriftstellerischen Arbeiten beobachtet. Man stößt durch Tweets demnach auf einen Text-Bild-Feed, in dem die Autor*innen als Privatperson mit öffentlicher Funktion auftreten, sodass die Grenze zwischen Leben und Werk porös wird und Twitter eine paratextuelle Funktion zugewiesen werden kann. Es entsteht eine Art interaktives Live-Archiv. Dabei kommt es zu der Entwicklung eines Geflechts aus in Verlagen und Magazinen veröffentlichter Literatur und einem kontinuierlichen interaktiven Paratextspiel zwischen Autor*in und Leser*in im digitalen Raum, das letztlich auch unser Konzept davon, was wir als abgeschlossenes Werk wahrnehmen, tangieren kann. Da Twitter einen Kommunikationsraum darstellt, der prinzipiell für jede Textsorte offen ist, bedarf es bei einer solchen Analyse des Twitter-Verhaltens von Schriftsteller*innen einer Unterscheidung zwischen Tweets, die vorrangig aus Gründen des Marketings im Zuge einer Buchveröffentlichung gepostet werden, und solchen, die aus einer alltäglichen Nutzung des Netzwerkes resultieren. Zwar kann es in beiden Fällen zu einer Thematisierung von Autorschaft und des eigenen literarischen Werkes kommen, jedoch mit divergierenden Schwerpunkten, die im Verlauf einer Analyse auch differenziert betrachtet werden müssen. Eine Betrachtung der Nutzung von Twitter zu Marketingzwecken im Literaturbetrieb wäre ebenso eine lohnenswerte Analyse, die im Zuge dieses Beitrags jedoch außen vor gelassen wird. Bei den hier relevanten Autor*innen Berit Glanz und Sasˇa Stanisˇic´ handelt es sich daher um Schriftsteller*innen, für die Twitter im Sinne Porombkas Lebenszeit markiert. Ihre Nutzung des sozialen Netzwerkes geht weit über die Möglichkeiten zur Aufmerksamkeitserzeugung aus ökonomischen Zwecken hinaus und kann daher als digitales Notiz- und Tagebuch im Selbsterzählungsmodus betrachtet werden.
2.
Inszenierung von Autorschaft
Dieser konsequente Umgang mit dem sozialen Netzwerk zeigt sich schon in dem zu Anfang zitierten Tweet von Berit Glanz. Die Verfasserin stellt darin leicht erkennbar eine Alltagssituation aus ihrem Leben als Schriftstellerin und Mutter dar, in der das Schreiben als kreative Tätigkeit, die Konzentration und Fokussierung benötigt, zumindest für den Moment erschwerten Bedingungen unterliegt und verhindert wird – sieht man vom Verfassen des Tweets einmal ab. Die Thematisierung der eigenen Tätigkeit als Schriftstellerin erscheint hier nur in der Peripherie der Aufmerksamkeit. Im Zentrum stehen der Alltag mit dem Kind und die eigene Erkältung, die das Schreiben für den Moment verhindern.
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Trotz der Betonung der akuten Unmöglichkeit des Schreibens handelt es sich hierbei aber dennoch um die Thematisierung der eigenen Rolle als Autorin. Im Vordergrund steht dabei die Situation, dass sich Glanz auch als Schriftstellerin in ein Gefüge aus Sorgearbeit, Anforderungen des (familiären) Alltags und auch dadurch entstehenden körperlichen Symptomen wie Erkältungserscheinungen einfügt. Auf diese Weise stellt sie sich nicht nur als Autorin, sondern auch als Privatperson in einen öffentlichen Diskurs über Literatur. Sie verändert so die Perspektive auf sich selbst als Verfasserin literarischer Texte. Das Schreiben erscheint in diesem Moment nicht mehr als genialischer Akt der Kreativität, der einer spontanen Eingebung folgt, die sofort niedergeschrieben werden kann, sondern vielmehr als ein Teil des Alltags, der bewältigt werden will. Es kommt daher zu einer Art Entauratisierung der Rolle als Schriftstellerin, indem Schreiben als eine Tätigkeit dargestellt wird, die sich wie jede andere auch in den Alltag einpassen muss und die mit Sorgearbeit bzw. anderen Aufgaben in Konkurrenz steht. Diese Dekonstruktion etablierter Vorstellungen des literarischen Schreibens geschieht durch einen Blick hinter die sprichwörtlichen Kulissen der Literaturproduktion im Sinne einer Ästhetik der inszenierten Privatheit, die in Teilen der sozialen Medien vorherrscht. Dadurch wird u. a. ein Einblick in den Arbeitsalltag konstruiert, der im Falle von Schriftsteller*innen eine paratextuelle Relevanz bekommen kann. Einige Monate vor der Veröffentlichung seines autobiografischen Romans »Herkunft« twitterte der Autor Sasˇa Stanisˇic´ ein Foto einer Seite des Manuskripts, die (so der Anschein) mit etlichen handschriftlichen Anmerkungen und Korrekturen des Lektorats versehen war, und kommentierte die Abbildung ironisierend mit »WENN JEMAND SAGT SIE SCHREIBEN ABER GUT«.9 Mit der Publikation dieses Fotos legt Stanisˇic´ für mehrere zehntausend Follower*innen auf Twitter einen Teil des Arbeitsprozesses an einem literarischen Werk offen. Während es sich bei Glanz um eine inszenierte Privatheit handelt, die sich aber konkret auf die literarische Produktion bezieht, vollzieht Stanisˇic´ die Inszenierung eines Arbeitsprozesses, die gleichzeitig Privatheit suggeriert. Indem der Autor potenzielle Leser*innen vor der Veröffentlichung des Romans in dessen Entstehungsprozess miteinbezieht, bereitet er nicht nur implizit die Publikation des nächsten Werkes öffentlichkeitswirksam vor, sondern gewährt auch Einsicht in einen professionellen Vorgang des Arbeitsalltags eines Schriftstellers, der zumeist nicht im öffentlichen Raum geteilt wird. Hervorzuheben ist zudem, dass es zu einer Demonstration der eigenen Imperfektion kommt, indem der Autor offenlegt, wie viele Korrekturen und Än9 Stanisˇic´, Sasˇa (@sasa_s) am 12. 09. 2018. (Versalien im Original). (letzter Zugriff: 20. 05. 2020).
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derungsvorschläge das Lektorat des Verlags selbst bei einem Manuskript eines erfolgreichen Schriftstellers wie Stanisˇic´ vornimmt. Er verkehrt auf diese Weise durchaus etablierte und traditionelle Formen der Schreibinszenierung ins Gegenteil und unterläuft die genieästhetisch geprägte Vorstellung eines Autors, der im solitären Schaffensrausch ein geniales Werk verfasst. Diese Form des Künstlermythos beschreibt »Kondensate kultureller Selbstverständigung«10, die sich aus Autorbildern zusammensetzen, die seit Jahrhunderten Vorstellungen davon prägen, wie Kunst – und damit auch Literatur – geschaffen wird. Wie solche etablierten Mythen Realitäten der Literaturproduktion verschleiern, zeigt ein kurzer Exkurs zur Rezeption des weltberühmten Romans »On the Road« (1957) von Jack Kerouac, den dieser der populären Legende nach in drei Wochen des manischen Schreibens fertiggestellt habe, getippt auf eine lange Rolle Papier, um im Rausch des Erzählens nicht absetzen zu müssen. In seinem Vorwort zum 2007 erschienenen »Original Scroll«, der ursprünglichen Fassung des Romans, berichtet auch der Herausgeber Howard Cunnell, wie ihm diese Legende von einem Freund berichtet wurde: »Kerouac was high on Benzedrine when he wrote On the Road, Alan told me, and he wrote it all in three weeks on a long roll of Teletype paper, no punctuation.«11 Der Text, den Kerouac aber in diesen Wochen geschrieben hatte, ist 1957 nicht in der Form erschienen, er wurde wie jeder andere Roman vor der Publikation überarbeitet, lektoriert und insbesondere im Falle von »On the Road« teilweise signifikant verändert: »He did a good bit of revision, and it was very good revision. Oh, he would never, never admit to that, because it was his feeling that the stuff ought to come out like toothpaste from a tube and not be changed, and that every word that passed from his typewriter was holy.«12
Diese Darstellung von Kerouacs Lektor Malcom Dowley widerspricht jedoch grundsätzlich Kerouacs Vorstellung einer Poetik der sogenannten Spontaneous Prose. Bei einer Schreibweise, die ganz auf den spontanen Gedanken setzt und eine nachträgliche Bearbeitung ablehnt, waren im Selbstverständnis des Autors Korrekturen oder gar ein Lektorat nicht vorgesehen. Dass diese aber dennoch ein bedeutender Teil des Veröffentlichungsprozesses waren, tritt in den meisten Fällen hinter der Inszenierung eines vermeintlich authentischen Schreibprozesses zurück.
10 Begemann, Christian: Der Körper des Autors. Autorschaft als Zeugung und Geburt im diskursiven Feld der Genieästhetik. In: Autorschaft: Positionen und Revisionen, 2002, S. 61. 11 Cunnell, Howard: Fast This Time. Jack Kerouac and the Writing of On the Road. In: Kerouac, Jack: On the Road. The Original Scroll, hrsg. von Howard Cunnell. London: Penguin 2007, S. 1. 12 Cowley, Malcom zitiert nach: Windblown World. The Journals of Jack Kerouac 1947–1954. Hrsg. von Douglas Brinkley. New York: Penguin 2006, S. XXV.
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Eine solche Perspektive auf das literarische Schreiben wird durch Berit Glanz und Sasˇa Stanisˇic´ auf jeweils eigene Art und Weise implizit dekonstruiert. Weder gibt Stanisˇic´ vor, seine Wörter seien holy und bedürften keiner Korrekturen, noch will Glanz den Eindruck erwecken, sie schreibe ihre Texte in einem ungestörten Schaffensrausch ohne Unterbrechungen durch die Aufgaben des Alltags. Beide dekonstruieren durch eine bestimmte Inszenierung von Autorschaft in den sozialen Medien eine populäre Sicht auf das literarische Schreiben und stellen sowohl das Alltägliche als auch das Private des Arbeitens und Lebens als Autor*in zur Schau, sodass ein zeitgemäßes und vermutlich realitätsnäheres Bild des Daseins als Schriftsteller*in im 21. Jahrhundert entsteht. Der literarische Text und das Schreiben treten aus dem sprichwörtlichen stillen Kämmerlein heraus und stellen sich schon im Produktionsvorgang in den offenen Diskurs der Rezeption, wie die Reaktionen auf Twitter beweisen. Damit verändert sich die öffentliche Wahrnehmung von Schriftsteller*innen in einer Weise, die der Literatur generell den Nimbus eines unantastbaren Kunstwerkes nimmt, das damit gleichzeitig auch entauratisiert wird. In den Fokus gerückt werden stattdessen Arbeitsschritte, Schreibumstände und auch Scheitern.
3.
Notizbuch als öffentliches Archiv und Erweiterung des Werkes
Wenn Autor*innen Twitter so verwenden wie Sasˇa Stanisˇic´ und Berit Glanz, indem sie mit dem Programm leben und dessen Timeline ihre Lebenszeit markiert, dann verschränken sich im digitalen Live-Feed der Autor*innen Arbeitsprozesse, Tagebuchminiaturen, literarische Spielereien, Diskussionen und Recherchearbeit. Die Timeline wird zum öffentlichen Notiz- und Tagebuch, in dem Recherche und Ideen festgehalten werden, und zum Ort des sichtbaren Nachdenkens und Ausprobierens. Dadurch entsteht ein Archiv an Tweets, das für die Literaturwissenschaft interessant wird, da den Statusmeldungen in dem Moment eine paratextuelle Relevanz zugewiesen werden kann, wenn sie von Autor*innen stammen. Damit nehmen diese Tweets eine vergleichbare Position ein wie Briefe und Notiz- bzw. Tagebücher von Schriftsteller*innen analoger Zeiten, die als Paratexte literaturwissenschaftliche Arbeit unterstützen und initiieren können.13 Ein Beispiel dafür, wie sich diese paratextuellen Verbindungen zwischen dem Werk und der Timeline zeigen können, ist eine Folge zusammenhängender 13 Wenn im Folgenden von »Archiv« die Rede ist, dann ist damit nicht eine Institution gemeint, die Nachlässe, Manuskripte und andere Archivmaterialien aufbewahrt und zur Verfügung stellt, sondern die Gesamtheit von Texten einer Schriftstellerin oder eines Schriftstellers, die verfügbar und literaturwissenschaftlich nutzbar ist. Der Begriff ist somit metaphorisch zu verwenden, da in diesem Fall auch weitere Spezifika des Archivs wie eine Aufbereitung oder Sicherung zunächst nicht gegeben sind.
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Tweets, ein sogenannter Thread, von Sasˇa Stanisˇic´. Der Autor begann den Thread am 25. April 2018 und führte ihn bis zum 28. April 2018 täglich weiter. Es handelte sich dabei vorrangig um teilweise kurz kommentierte Reisefotos eines Besuchs in Visˇegrad, dem Heimatort seiner Großeltern im heutigen Bosnien-Herzegowina.14 Was im alltäglichen Twitter-Feed im Frühling 2018 wie der gewöhnliche Bericht eines im deutschsprachigen Raum prominenten Twitter-Nutzers über eine Familienreise aussah, ist retrospektiv betrachtet auch ein vom Autor veröffentlichter Paratext zu seinem autobiografischen Roman »Herkunft«, der etwa ein Jahr darauf erschien. Während schriftliche Zeugnisse wie Tage- und Notizbücher, Fotos oder Ähnliches von Autor*innen nicht grundsätzlich zur späteren Veröffentlichung oder wenigstens zur Einsicht durch Literaturwissenschaftler*innen gedacht sind und somit meistens erst nachträglich einen paratextuellen Status erhalten können, geraten öffentliche Statusmeldungen von Autor*innen in den sozialen Medien in eine doppelte Funktionssituation. Sie sind nicht nur Teil einer Selbstnarration und Identitätskonstruktion im digitalen Raum, sondern sie erhalten durch ihre instantane15 öffentliche Zugänglichkeit bereits im Moment des Verfassens eine zweite Funktion, nämlich eine paratextuelle. Sie sind entweder von Anfang an mitgedachte Erweiterungen der literarischen Texte oder sie werden diese im Laufe des Entstehungsprozesses. Die Grenze zwischen der Privatperson, die wie tausende andere ihren Alltag narrativiert, und dem öffentlichen Autor Stanisˇic´, der einen Paratext zu seinem entstehenden Werk publiziert, verschwimmt und verschwindet schließlich, weil die Parameter von privat und öffentlich in den sozialen Medien per se neu ausgehandelt und umgedeutet werden. Dadurch ergeben sich neue Herausforderungen für die Literaturwissenschaft, weil die Grenzen des literarischen Werkes poröser werden – es (er)wächst aus dem Buch selbst heraus. Diese paratextuelle Erweiterung des Werkes lässt sich exemplarisch an einer Stelle in Stanisˇic´’ »Herkunft« feststellen: »Der Himmel am Morgen des 27. April 2018 ist klar. Wir laden den Proviant ein, Rada wird nach Großmutter sehen. Um acht sind wir unterwegs. Die Strecke führt durch den Osten Bosniens, der als Hochburg serbischer Nationalisten gilt.«16
An dieser Stelle lässt sich die paratextuelle Funktion der im Jahr zuvor geposteten Fotos von der Reise nach Bosnien-Herzegowina deutlich markieren. Sie stellen 14 Stanisˇic´, Sasˇa (@sasa_s) vom 25.04. bis 28. 04. 2018. (letzter Zugriff: 20. 05. 2020). 15 Siehe zu dem Begriff des »Instantanen« u. a.: Frohmann, Christiane: Instantanes Schreiben. (letzter Zugriff: 20. 05. 2020). 16 Stanisˇic´, Sasˇa: Herkunft. München: Luchterhand 2019, S. 259.
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rückblickend nicht nur die Dokumentation einer privaten Reise, sondern auch eine Publikation von Recherche dar, wodurch ihnen literaturwissenschaftliche Relevanz zugewiesen werden kann. Die Tweets sind demnach auch als Teil eines Schreibprozesses zu betrachten, was aber erst im Nachhinein erkennbar wird. Durch ihre Veröffentlichung stehen sie in direktem Bezug zu dem autobiografischen Roman. Sie authentifizieren das literarische Werk, weil sie einen Teil der Recherchearbeit aufdecken und den Inhalt des autobiografischen Textes teilweise verifizieren: Ein Foto des Threads vom 27. April 2018 deutet darauf hin, dass der Himmel an diesem Tag tatsächlich klar war.17 Strukturell ähnlich verhält es sich auch mit der Erzählung »Die Hände des Moderators« von Berit Glanz18, wobei in diesem Fall der Werkbezug deutlicher markiert werden kann. Auch hier finden sich Tweets der Autorin, die eine paratextuelle Funktion zu dem literarischen Text aufweisen. Die Idee zu der Sciencefiction-Erzählung, in der es um die Transplantation von Händen in einer nahen Zukunft geht, entstand aus einem Tweet der Twitter-Nutzerin Christina Dongowski (@tinido)19, in dem sie einer Aussage des Physikers und Fernsehmoderators Joachim Bublath zustimmte. In dem anschließenden Gespräch zwischen @tinido, dem Nutzer @SenorFuck (der Klarname ist nicht bekannt) und Berit Glanz, das sich in den Kommentaren unter dem Ausgangs-Tweet entspann, äußerte @SenorFuck, dass er sich nur noch an die Hände von Joachim Bublath erinnere.20 Das diente Glanz zur Inspiration. Die Autorin kommentierte den Tweet von @SenorFuck mit: »›Bublaths Hände‹ wäre so ein verdammt guter Titel für einen Essay, eine explosive Mischung aus Nostalgie, Chemie und Röhrenfernseher.«21 Dass aus dieser ersten Idee für einen persönlichen Essay später die fiktionale Erzählung »Die Hände des Moderators« wurde, machte Glanz selbst publik, als der Text schließlich im Frühjahr 2019 in der Zeitschrift »Metamorphosen« erschien.22 Die Entstehung eines literarischen Textes von der Inspiration zu einer Idee, die aber schließlich in anderer Form (als zunächst gedacht) umgesetzt wird, läuft in den meisten Fällen nicht öffentlich ab und ist noch seltener als simultanes Re17 Stanisˇic´, Sasˇa (@sasa_s) am 27. 04. 2018. (letzter Zugriff: 20. 05. 2020). 18 Glanz, Berit: Die Hände des Moderators. In: Metamorphosen 24 – Glitch. Berlin: Verbrecher 2019, S. 70–81. 19 Dongowski, Christina (@TiniDo) am 06. 03. 2018. (letzter Zugriff: 20. 05. 2020). 20 Anonymus (@SenorFuck) am 06. 03. 2018. (letzter Zugriff: 20. 05. 2020). 21 Glanz, Berit (@beritmiriam) am 06. 03. 2018. (letzter Zugriff: 20. 05. 2020). 22 Glanz, Berit (@beritmiriam) am 29. 05. 2019. (letzter Zugriff: 20. 05. 2020).
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zeptionserlebnis vorzufinden. Für die Leser*innen bleibt für gewöhnlich nur der final publizierte Text und unter Umständen das nachträglich aufbereitete Narrativ seiner Entstehung. Da aber Glanz Twitter als Notizbuch, Inspirationsquelle und Diskursraum nutzt, wird dieser Prozess auf dem Weg zu einem fertigen literarischen Text in einen öffentlichen Kommunikationsraum gestellt. Der Vorgang wird dadurch gleichzeitig zu einem gewissen Grad interaktiv, weil die Entstehung der Erzählung nicht allein im Kopf der Autorin geschieht, sondern teilweise öffentlich verhandelt wird. Während der Arbeit an dem Text twitterte die Autorin: »Ich schreibe gerade eine Erzählung über eine Handtransplantation in der Zukunft.«23 Unter diesem Tweet finden sich zahlreiche Links und Hinweise von anderen Twitter-Nutzer*innen zu Artikeln, die das Thema Transplantationen behandeln und diskutieren. Für eine Autorin wie Glanz fungiert das soziale Netzwerk damit auch als digitales Notizbuch und Diskursraum. Beides kann sie kreativ für die literarische Arbeit nutzen: Sie hält Rechercheergebnisse fest, publiziert sie aber auch gleichzeitig und stellt sie zur Diskussion. Damit wird bereits im Entstehungsprozess des Textes ein interaktiver Paratext geschaffen, indem ein Teil des Schreibprozesses öffentlich geschieht und zum kollaborativen Arbeiten wird. Unter diesen Umständen eröffnen sich der Literaturwissenschaft neue Zugänge in Hinblick auf die Entstehung von literarischen Werken in Zeiten von Social Media und Online-Alltag. In dem Maße, wie seit etwa zwei Jahrzehnten die Grenzen zwischen privat und öffentlich einer Neubewertung und Umdeutung unterzogen werden, gilt das auch für den Status von Tweets, die in einem öffentlichen Raum publiziert und nicht ausschließlich in Bezug auf ein literarisches Werk gelesen werden können, es aber gleichzeitig paratextuell begleiten.
4.
Teilhabe an Rezeption
Diese hybride Form der Kommunikation, die Bereiche des Privatlebens und der professionellen Sphäre so weit verschränkt, dass eine Trennung quasi unmöglich wird, führt schließlich auch dazu, dass sowohl der Prozess der Produktion literarischer Texte in Teilen diskursiv geschieht als auch der der Rezeption. Diese interaktive Rezeption von Literatur auf Twitter vollzieht sich nicht nur unter den Leser*innen, sondern bezieht auch die Autor*innen mit ein, die dadurch teilweise den Prozess der Rezeption ihrer literarischen Werke aktiv begleiten. Insbesondere Berit Glanz gestaltet auch nach der Publikation ihres Romans »Pixeltänzer« das Gespräch über den Text in den sozialen Medien aktiv mit. In 23 Glanz, Berit (@beritmiriam) am 13. 03. 2019. (letzter Zugriff: 20. 05. 2020).
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der digitalen Öffentlichkeit von Twitter kommunizieren die Leser*innen mit der Autorin und teilen ihre Rezeptionserlebnisse mit ihr. Glanz wiederum kommentiert und teilt diese Reaktionen, indem sie sie u. a. in einem Thread, der über einen langen Zeitraum hinweg immer wieder aktualisiert wurde, in ihrer Timeline sammelt. Der Roman habe ein »Eigenleben« entwickelt, leitet die Autorin den Thread ein und postet darunter Tweets von Leser*innen, in denen diese ihre Rechercheergebnisse zur Handlung von »Pixeltänzer« zeigen, Fotos von Handlungsorten posten, die sie besucht haben, oder der Autorin und der TwitterÖffentlichkeit anderweitig von ihren Leseerfahrungen berichten.24 Ein Leser veröffentlichte beispielsweise ein Selfie, das er mit einer App bearbeitet hatte, die einer Anwendung ähnelt, die auch in dem Roman vorkommt. Das Foto zeigt ihn mit digital hinzugefügten Katzenohren und einer Katzenschnauze.25 Auch die Autorin selbst lebt mit dem Inhalt ihres Romans öffentlich weiter. Ein Tweet von Glanz etwa zwei Monate nach Erscheinen des Romans zeigt zwei Fotos: Auf dem einen sieht man die Ganzkörpermaske der Avantgardekünstlerin und historischen Person Lavinia Schulz, die eine der Protagonistinnen in »Pixeltänzer« ist, auf dem anderen ist die Autorin selbst mit einer digitalen SelfieMaske zu sehen.26 Die Kommentierung dieser beiden Fotos mit der Bildüberschrift »Knapp 100 Jahre nach Lavinia Schulz …« deutet eine spielerische Verbindung zwischen der Figur und der Autorin an und verweist zugleich auf die Veränderung von Masken durch die Digitalisierung. Damit greift Glanz auch noch nach der Publikation des Romans in dessen Rezeption ein und erweitert die Fiktion des literarischen Textes um einen Bezug zu ihr als Verfasserin. Auch wenn der Romantext selbst abgeschlossen ist und nicht mehr verändert wird, lässt die Autorin den literarischen Text nicht unberührt und greift aktiv in die Rezeption ein, indem sie mit dem Stoff weiterlebt. Sie reflektiert den Inhalt ihres Romans immer wieder neu und stellt Bezüge zu einer außerfiktionalen Realität her, was nolens volens die Grenze zwischen der realen Autorin und dem fiktionalen Werk poröser werden lässt. Zwar wird diese aktive Beteiligung am Gespräch über den eigenen Roman bei Stanisˇic´ weniger deutlich, dennoch führt auch sein Roman »Herkunft« ein digitales Eigenleben auf Twitter, wo beispielsweise ein Leser in Form einer Playlist einen Soundtrack zur Lektüre erstellt hat.27 In beiden Fällen, bei Glanz noch mehr 24 Glanz, Berit (@beritmiriam) am 27. 08. 2019. (letzter Zugriff: 20. 05. 2020). 25 Matzkeit, Alexander (@matzkeitalex) am 11. 08. 2019. (letzter Zugriff: 20. 05. 2020). 26 Glanz, Berit (@beritmiriam) am 09. 09. 2019. (letzter Zugriff: 20. 05. 2020). 27 Buljubasic, Mirza (@booyabasic) am 18. 10. 2019. (letzter Zugriff: 20. 05. 2020).
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als bei Stanisˇic´, zeigt sich in der interaktiven Beteiligung der Leser*innen im sozialen Netzwerk eine Form des sogenannten Social Reading, die darauf hindeutet, dass der literarische Text von den Leser*innen erweitert und im Zusammenspiel mit den Autor*innen weitergedacht wird.
5.
Digitale Herausforderungen für die Literaturwissenschaft
Dieses Zusammenspiel zwischen Autor*innen und Leser*innen lässt sich als eine Form der Autor*in–Leser*in-Produktivität betrachten, die Thomas Ernst als eine Interaktion beschreibt, in der »die Leser an der Produktion eines literarischen Textes partizipieren: durch Finanzierung und Beobachtung der Schreibprozesse, durch Kommentare oder konkretes Mitschreiben«.28 Das Phänomen des Social Reading ist damit in diesem Fall nicht allein eine Kommunikation über die Rezeption von Literatur innerhalb der Gruppe der Leser*innen, sie schließt auch die Autor*innen selbst mit ein.29 Die Literatur, die hierbei nicht nur rezipiert wird, sondern auch teilweise entsteht, kann unter gewissen Umständen als das Ergebnis einer Poetik gesehen werden, bei der das literarische Schreiben auf einer von digitalen Parametern bestimmten Arbeitsweise basiert. Sowohl bei »Herkunft« als auch bei »Pixeltänzer« und »Die Hände des Moderators« handelt es sich um Literatur, die sichtbar im digitalen Alltag ihrer Verfasser*innen entsteht und in Teilen ein Ergebnis der Autor*in-Leser*inProduktivität darstellt. Eine solche Form des literarischen Schreibens fordert die Literaturwissenschaft zur Neubestimmung diverser Konzepte heraus: »But we also need to reemphazise foundational concepts, repeatedly interrogating the manner by which the screen transforms the way we read and write.«30
James O’Sullivan bezieht diese Erkenntnis grundlegend auf sogenannte Electronic Literature, also auf Literatur, die vorrangig digital produziert und vor allem auch publiziert wird. Sie gilt aber bis zu einem gewissen Grad auch für Literatur, die traditionell über Verlage und Buchhandlungen ihren Weg zu den Leser*innen findet, sofern die Autor*innen einen Teil der Produktion des literarischen Textes im digitalen Raum im Austausch mit ihren Follower*innen 28 Ernst, Thomas: Der Leser als Produzent in Sozialen Medien. In: Grundthemen der Literaturwissenschaft: Lesen. Hrsg. von Alexander Honold/Rolf Parr, unter Mitarbeit von Thomas Küpper. Berlin u. a.: de Gruyter 2018, S. 497. 29 Die Bundeszentrale für politische Bildung definiert den Begriff Social Reading als »online geführter, intensiver und dauerhafter Austausch über Texte« (Pleimling, Dominique: Social Reading – Lesen im digitalen Zeitalter). (letzter Zugriff: 20. 05. 2020). 30 O’Sullivan, James: Towards a Digital Poetics. Electronic Literature & Literary Games. London: Palgrave Macmillan 2019, S. 66.
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begleiten und diesen nach der Publikation interaktiv erweitern. Denn, was O’Sullivan über Electronic Literature feststellt, gilt nicht nur speziell für diese eng gefasste literarische Gattung, sondern wird darüber hinaus auch angewendet, wenn sich Lese- und Schreibprozesse in den digitalen und interaktiven Raum verlagern: »Electronic Literature, by facilitating a multiplicity of interactions, has shifted the reader from passive observer to active participant, or what di Rosario calls a ›readerspectator-actor‹.«31
In dem hier dargestellten Zusammenspiel zwischen Leser*innen und der Autorin beim Beispiel von Berit Glanz’ Erzählung und ihrem Roman »Pixeltänzer« werden die Leser*innen von passiven Rezipierenden, die allein ein Buch lesen, zu aktiven Betrachter*innen der Rezeption anderer und selbst zu Akteur*innen einer eigenen Rezeption. Auch wenn die sozialen Netzwerke über Twitter hinaus längst auch zu einem Raum der gemeinsamen Leseerfahrung geworden sind und aus dem ehemals einsamen Vorgang des Lesens ein Gemeinschaftserlebnis geschaffen haben32, wird dieser Prozess im Falle von Glanz’ literarischer Arbeit durch die Autorin insbesondere auf Twitter bestärkt und begleitet, wodurch Autorin und Leser*innen gemeinsam den literarischen Text über das Buch hinaus paratextuell erweitern. Dass es auch in den sogenannten Neuen Medien Paratexte gibt, die Primärtexte als »heteronomer Hilfsdiskurs« begleiten, ist keine per se neue Erkenntnis. Nicht nur Christian Dinger hat in seiner Analyse der Blogs von Clemens J. Setz und Aléa Torik und den Verlagshomepages dargelegt, wie Paratexte im Internet aussehen können, auch Annika Rockenberger hat bereits vor einigen Jahren eine klassifikatorische Definitionserweiterung des Paratextbegriffs in Hinblick auf Neue Medien vorgenommen.33 Rockenberger weist dabei auch auf die definitorischen Schwierigkeiten hin, die dem Begriff schon als Neologismus in der Studie von Genette innewohnten und die ihn bis heute verunklaren.34 Einer definito31 Ebd. 32 In den letzten 15 Jahren hat sich eine weitverzweigte Online-Lesecommunity entwickelt, die sich nicht nur auf Twitter, sondern vorrangig auf speziellen Social-Reading-Plattformen wie »Lovelybooks«, »Goodreads« und »Mojoreads« über Literatur austauscht und eine öffentliche Kommunikation über Gelesenes entstehen lässt, die unabhängig von etablierten Strukturen des Feuilletons geschieht. Siehe dazu: Neuhaus, Stefan: »Leeres, auf Intellektualität zielendes Abrakadabra«. Veränderungen von Literaturkritik und Literaturrezeption im 21. Jahrhundert. In: Literaturkritik heute. Tendenzen – Traditionen – Vermittlung. Hrsg. von Heinrich Kaulen/Christina Gansel. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, S. 43–57. 33 Vgl. Rockenberger, Annika: »Paratext« und Neue Medien. Probleme und Perspektiven eines Begriffstransfers. In: PhiN. Philologie im Netz, 76, 2016, S. 20–60. 34 Die beiden grundlegenden Kriterien für die Klassifikation als Paratext macht Rockenberger an der funktionalen Heteronomie und der Autorisation durch den Autor fest (vgl. ebd., S. 24f.). Für Genette spielt vor allem die Autorisation eine entscheidende Rolle, auf die er im
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rischen Neuausrichtung bedarf die Ausweitung des Paratextkonzepts vor allem dann, wenn es sich nicht mehr um Texte handelt, deren ausschließliche Funktion in der rezeptionsleitenden Begleitung eines Primärtextes liegt. Auch Rockenberger verweist darauf, dass sich ein Paratext durch seine »unterstützende Dienlichkeit, diese einseitige Abhängigkeit und funktionale Ausrichtung auf etwas Anderes« auszeichnet, und leitet daraus auch »die Raison d’Être des Paratextes« ab.35 Im Falle der Tweets von Glanz und Stanisˇic´ entsteht jedoch eine Sammlung aus Text- und Bildmaterial, das zwar ohne Zweifel eine paratextuelle Relevanz haben kann, das jedoch nicht zwingend intentional als Paratext zu einem literarischen Werk veröffentlicht wird. In den drei analysierten Bereichen der Präsenz der beiden Autor*innen auf Twitter werden daher Entwicklungen offenbar, die das Verhältnis der Akteure im literarischen Feld maßgeblich verschoben haben und die den literaturwissenschaftlichen Blick auf Literatur, Autorschaft und Rezeption sowie schließlich auch auf das, was als Paratext wahrgenommen und betrachtet wird, beeinflussen müssen. Funktionale Heteronomie und Autorisation müssen als die grundlegenden Kriterien für einen Paratext nach Genette zwar schon länger in Zweifel gezogen werden, sie stammen jedoch vor allem aus einer Zeit und einem medialen Umfeld, in dem den Leser*innen keine oder nur wenig relevante Möglichkeiten zur Darstellung einer Rezeptionserfahrung gegeben waren und in dem auch den Autor*innen signifikant weniger Optionen zur Veröffentlichung zur Verfügung standen. Die fortschreitende Entwicklung des Web 2.0 im Laufe der letzten Jahrzehnte hat jedoch eine besondere Form des Rezipierenden entstehen lassen: den sogenannten Prosumer, der nicht allein konsumiert, sondern auch produziert36 und damit User-generated Content erzeugt. Damit greifen Leser*innen zunehmend in den Kontext eines literarischen Textes ein und kreieren auf diese Weise Rezeptionszeugnisse von paratextueller Relevanz. Gleichzeitig sind Schriftsteller*innen eben als Prosumer immer häufiger auch privat Teil einer digitalen Online-Community in sozialen Medien und geben Fragmente ihres privaten und beruflichen Alltags in einem Kommunikationsraum preis, der nicht ihnen allein vorbehalten ist.
Verlauf seiner Studie immer wieder zurückkommt: »Der Standpunkt des Autors, ob er nun gültig ist oder nicht, ist Teil der paratextuellen Praxis, er beseelt sie, inspiriert und begründet sie« (Genette, Paratexte. 1989, S. 389). Entscheidend ist jedoch, dass Genette seinen eigenen Eingrenzungen des Paratextes wiederholt widerspricht, wenn er z. B. ein »Faktum, dessen bloße Existenz, wenn diese der Öffentlichkeit bekannt ist, dem Text irgendeinen Kommentar hinzufügt oder auf seiner Rezeption lastet« (ebd., S. 14), als faktischen Paratext bezeichnet. 35 Rockenberger, »Paratext« und Neue Medien. 2016, S. 24. 36 Vgl. Penke, Niels: #instapoetry. Populäre Lyrik auf Instagram und ihre Affordanzen. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 2019, Vol. 49 Issue 3, S. 452f.
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Dadurch wird das herkömmliche Prinzip einer Autor*in, der*die im sprichwörtlichen stillen Kämmerlein einen Roman schreibt und ihn über einen Verlag veröffentlicht, bevor die Leser*innen überhaupt davon wissen und die Kritiker*innen sich dazu äußern können, aufgelöst. Die Präsenz von Schriftsteller*innen in den sozialen Medien kann somit als paratextuelles Element der Rezeption direkten Einfluss auf die Wahrnehmung des Werkes und der Autor*innenperson in der Öffentlichkeit nehmen. Berit Glanz stellt sich als Autorin in einen Kontext aus familiärem Alltag, Muttersein und damit verbundener Sorgearbeit. Sasˇa Stanisˇic´ schreibt nicht im Geheimen, sondern offenbart Arbeitsschritte und teilt Recherchetätigkeiten, die wiederum von anderen Nutzer*innen kommentiert werden. Nach der Publikation ist der literarische Text zwar in sich abgeschlossen, der Inhalt lebt jedoch als Objekt der Rezeption weiter, wird in andere Räume transferiert, erweitert oder multimedial begleitet. Die Herausforderung für die Literaturwissenschaft, die an dieser Stelle in Hinblick auf den Umgang mit dem paratextuellen Material entsteht, ist u. a., dass es sich um ein instabiles Textkonvolut handelt, das zunächst nicht fixiert ist. Die hier zitierten Tweets könnten bis zur Veröffentlichung dieses Textes theoretisch für die Allgemeinheit nicht mehr zugänglich sein; sei es, weil die Autor*innen sie selbst entfernt haben oder weil sie aus technischen Gründen nicht mehr verfügbar sind. Ebenso können die Äußerungen, denen hier paratextuelle Relevanz zugesprochen wird, jederzeit in neue Kontexte gestellt und von den Autor*innen selbst bzw. anderen User*innen um Kommentare erweitert werden. Damit sind es fluide Paratexte, die im Rahmen einer entsprechenden Forschung beobachtet werden müssen und worauf reagiert werden muss. Gleichzeitig sollte diese Fluidität allen Beteiligten bewusst sein und in analytische Überlegungen miteinbezogen werden. Ebenso kann es Aufgabe von Archiven sein, diese Paratexte zu sichern, zu beobachten und entsprechende Sicherungen zu erneuern, wenn sie sich verändern. In dieser Hinsicht muss sich die Literaturwissenschaft in Teilen ihres Forschungsbereiches von der Vorstellung fixierter Textbestände verabschieden und sich an die Affordanzen der Textgenese im digitalen Raum anpassen.
6.
Literatur
Primärliteratur Anonymus: Tweets unter https://twitter.com/SenorFuck. Buljubasic, Mirza: Tweets unter https://twitter.com/booyabasic. Dongowski, Christina: Tweets unter https://twitter.com/TiniDo. Glanz, Berit: Tweets unter https://twitter.com/beritmiriam.
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Simon Sahner
Glanz, Berit: Die Hände des Moderators. In: Metamorphosen 24 – Glitch. Berlin: Verbrecher 2019. S. 70–81. Glanz, Berit: Pixeltänzer. Frankfurt/Main: Schöffling 2019. Matzkeit, Alexander: Tweets unter https://twitter.com/matzkeitalex. Stanisˇic´, Sasˇa: Herkunft. München: Luchterhand 2019. Stanisˇic´, Sasˇa: Tweets unter https://twitter.com/sasa_s.
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Live-Archive und fluide Paratexte
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Amelie Meister
»Ich bin Schriftsteller« – Autorgenese und Selbstwirksamkeit in Wolfgang Herrndorfs »Arbeit und Struktur«
1.
Einleitung
Wenige Wochen nach der Diagnose einer Hirntumorerkrankung 2010 erlebt der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf einen manischen Anfall und lässt sich in eine psychiatrische Klinik einweisen. Dort fragt man ihn: »Fällt Ihnen auf, wie schnell Sie sprechen?« Der Schriftsteller antwortet: »Ja, ich denke aber auch schnell. Ich schreibe auch schnell, ungefähr dreimal so schnell wie sonst, und zehnmal so viel.«1 Für den damals noch wenig bekannten Wolfgang Herrndorf wird, wie sein Freund Holm Friebe es in einem Nachruf formuliert, »der Tumor zum Turbo«2. Die erschütternde Kontingenzerfahrung löst eine Wandlung aus und der ehemals eher zögerliche Autor, dessen Perfektionismus ihn oft von der Fertigstellung seiner angefangenen Romane abgehalten hat, nimmt die Arbeit an selbigen augenblicklich wieder auf und stellt nicht einmal ein halbes Jahr später bereits das erste Manuskript fertig. Parallel beginnt er, ein Blogtagebuch zu schreiben, das ursprünglich nur für den Freundeskreis gedacht ist, nach etwa einem halben Jahr dann aber auf Drängen seines sozialen Umfeldes doch öffentlich zugänglich gemacht wird. Nach Herrndorfs Suizid 2013 erscheint »Arbeit und Struktur« dem ausdrücklichen Wunsch des Autors folgend als gedruckte Ausgabe bei Rowohlt3 und ist heute neben »Tschick« dessen meistgelesenes und meistbesprochenes 1 Herrndorf, Wolfgang: »Arbeit und Struktur«. Berlin: Rowohlt 2013, S. 10 (Seitenangaben fortlaufend im Text). 2 Friebe, Holm: Der Mann, der aus der Welt gefallen ist. Welt online. Springer Verlag 2013. (letzter Zugriff: 15. 10. 2020). 3 Ausführlicher zur Transformation von Blog zu Buch und zur Bedeutung der zwei medialen Erscheinungsformen vgl. Michelbach, Elisabeth: ›Dem Leben wie einem Roman zu Leibe rücken‹. Wolfgang Herrndorfs Blog und Buch »Arbeit und Struktur« zwischen digitalem Gebrauchstext und literarischem Werk. In: Das digitalisierte Subjekt. Grenzbereiche zwischen Fiktion und Alltagswirklichkeit. Textpraxis. Digitales Journal für Philologie. Münster 2016. (letzter Zugriff: 15. 10. 2020).
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Buch. Es kommt – so die erste These – zu der ›Expressproduktion‹ einer Autorpersona, wobei die Aspekte der öffentlichen Sichtbarkeit und des finanziellen Erfolgs für Herrndorfs Verständnis von Autorschaft eine entscheidende Rolle spielen. Dabei – und das ist die zweite These – zeigt sich, dass »Arbeit und Struktur« von erheblicher auktorialer Souveränität geprägt ist, obwohl der Erzählerprotagonist die beschriebenen Geschehnisse entsprechend des genrebedingten Anspruchs der Faktizität nur bedingt beeinflussen kann. Wann immer möglich, nimmt der Text Lebensereignisse des Autors vorweg und demonstriert die schreibend errungene Souveränität eines tödlich Erkrankten, dessen zentrales Anliegen die selbstwirksame Abrundung seiner Werk- und Lebensgeschichte zu sein scheint.
2.
Endlich etwas sein
Über die frühen Jahre seines künstlerischen Arbeitens schreibt Wolfgang Herrndorf 4: »Damals wusste ich ja keine Sekunde, wohin mit mir und meinem Leben, lief immer so mit und kam mir vor wie der letzte Mensch […]. Heimlich vor mich hingeschrieben […] 2002 dann die ›Plüschgewitter‹ [Herrndorfs Debütroman, Anm. d. Verf.], die mir meiner Meinung nach aufhelfen sollten, endlich irgendetwas zu sein (Schriftsteller), 5000 Euro für 10 Jahre Arbeit, null Auflage trotz guter Kritiken in SZ und FAZ, am Gefühl, nicht existenzberechtigt zu sein, änderte das alles natürlich nichts« (S. 337).
In der Rückschau benennt der Autor ein schon damals bekanntes Bedürfnis danach, »irgendetwas zu sein«, und eigentlich nicht nur irgendetwas, sondern Schriftsteller. Gleichzeitig reflektiert er seine damals wenig zielführende »heimlich vor sich hin«- schreibende Arbeitsweise und die daraus resultierende Unklarheit über den eigenen Status als Künstler. Uwe Wittstock trifft einen entscheidenden Punkt mit seiner Feststellung: Er »erntete erste Anerkennung, zunächst aber noch mit wenig Erfolg.«5 Genau diese Unterscheidung zwischen Anerkennung und Erfolg scheint für die Entwicklung von Herrndorfs Autorschaft zentral zu sein. Während Anerkennung auch abseits der Öffentlichkeit ausgesprochen werden kann, so ist Erfolg abhängig von einem Moment der weitreichenden Sichtbarkeit und damit, ganz banal, auch von vorzeigbaren 4 Mit »(Wolfgang) Herrndorf« ist im Folgenden das Tagebuch-Ich gemeint, das offenkundig nicht vollständig mit dem realen Autor gleichgesetzt werden kann. Dieser Umstand wird nur noch an entscheidenden Stellen hervorgehoben und ansonsten als bekannt vorausgesetzt. 5 Wittstock, Uwe: Wolfgang Herrndorf. Wenn der Tod das Tempo vorgibt. In: FOCUS Magazin Nr. 40 (2012). (letzter Zugriff: 15. 10. 2020).
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Verkaufszahlen. Der ideelle Lohn in Form von guten Kritiken in den renommierten Feuilletons von »SZ und FAZ« erzeugt allein kein Gefühl von Existenzberechtigung. Schriftsteller zu sein, bedeutet für Herrndorf offenbar auch, als Schriftsteller sichtbar zu werden und vom Verkauf der Bücher leben zu können. Dabei können »5000 Euro für 10 Jahre Arbeit« wenig ausrichten. Tatsächlich war Herrndorf der Öffentlichkeit lange Zeit relativ unbekannt und eher ein Insidertipp unter Literaturkennern. Die niedrigen Verkaufszahlen sind dabei zwei verschiedenen Umständen geschuldet: Zum einen war Herrndorf vor 2010 weder als Autor noch bei seinen früheren Tätigkeiten als Kunstmaler medial wirklich greifbar – vermutlich nicht zuletzt deshalb, weil er viele gängige Vermarktungs- und Inszenierungspraktiken, wie Interviews und TV-Porträts, ablehnte.6 Zum anderen hatte Herrndorf vor der Krebsdiagnose schlichtweg zu selten Bücher veröffentlicht, um im literaturkritischen Diskurs präsent zu bleiben. (Zwischen dem Erscheinen des Debütromans »In Plüschgewittern« 2002 und dem seines zweiten Textes, dem Erzählband »Diesseits des Van-Allen-Gürtels« 2007, liegen ganze fünf Jahre.) Beides ändert sich schlagartig mit der Krebsdiagnose und mit »Arbeit und Struktur«: Mit dem Blogtagebuch gewährt der Autor intime Einblicke in seine Krankheitsgeschichte und macht sich als Person somit öffentlich. Erstmals kann von einer – wenn auch sehr kontrollierten – Inszenierung von Autorschaft die Rede sein. Das diaristische Schreiben dient als solches der Erzeugung einer Schriftstelleridentität und gleichzeitig berichtet der Text über die beschleunigte fiktionale Textproduktion des Autors, welche ihrerseits Bedingung für die Genese des schriftstellerischen Selbstverständnisses ist. Herrndorf hatte zu Beginn der Nullerjahre das Schreiben noch zögerlich als seine »neue, aeh – Taetigkeit«7 bezeichnet und etwas später in einem Interview mit Jörn Morisse zu Protokoll gegeben: »Ich muss nur einen dreizeiligen Absatz von mir lesen, der Unsinn ist, und ich frage mich, ob […] nicht alles, was ich jemals gesagt und gesprochen habe, vollkommen uninteressant ist.«8 Doch nach der Veröffentlichung von »Tschick« bereitet ihm der Satz »Ich bin Schriftsteller« (S. 104) offenbar keinerlei Probleme mehr; das Gefühl, »endlich etwas zu sein«, ist zusammen mit dem Erfolg eingetreten. 6 Vgl. z. B. Rüther, Tobias: Independence Day. Über das Werk von Wolfgang Herrndorf. In: Wolfgang Herrndorf: Gesamtausgabe, Bd. 3, Berlin: Rowohlt 2015, S. 586; Lorenz, Matthias N.: Wolfgang Herrndorf. Ein Forschungs- als Problemaufriss. In: ›Germanistenscheiß‹. Beiträge zur Werkpolitik Wolfgang Herrndorfs. Hrsg. von Matthias N. Lorenz. Berlin: Frank & Timme Verlag für wissenschaftliche Literatur 2019, S. 9–29, hier S. 21. 7 Schulz, Frank: »Malen ist für mich wie Zahnarzt ohne Betaeubung«. Über Wolfgang Herrndorf als Illustrator. In: Das unbekannte Kapitel. Wolfgang Herrndorfs Bilder. Hrsg. von Sebastian Möller/Andreas Schäfer/Regina Wetjen. Dortmund: Verlag Kettler 2017, S. 120. 8 Herrndorf, Wolfgang: Es ist ja nicht so, dass man auf einer Kunsthochschule was lernt. In: Morisse, Jörn/Engler, Rasmus: Wovon lebst du eigentlich. Vom Überleben in prekären Zeiten. München/Zürich: Piper 2007, S. 128–140, hier S. 136.
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3.
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Fertigschreiben
Im Frühjahr 2010, die letzte Romanveröffentlichung liegt bereits wieder drei Jahre zurück, befindet sich Herrndorf nach der Diagnose des hochaggressiven Glioblastoms im Krankenhaus und reflektiert dort seine bisherige schriftstellerische Tätigkeit: »[…] ich denke mit Verzweiflung an meine eigenen Projekte. Ich habe dreieinhalb Romane angefangen in den letzten Jahren […]. Die[] Überarbeitung habe ich […] immer wieder in Angriff genommen und mich in immer neuem Material verloren, im jugendlichen Bewusstsein, noch ewig zu leben. Könnte jemand das für mich fertig schreiben?« (S. 105)
Konfrontiert mit der Aussicht auf einen vorzeitigen Tod, drängen sich Fragen auf, die im Idealfall erst am Ende eines langen Lebens stehen: ›Wer bin ich gewesen? Welche Bedeutung hat mein Leben gehabt?‹ Ein solcher Moment der Abschlussbilanz rückt schlagartig in die unmittelbare Zukunft des noch jungen (45jährigen) Künstlers und bestimmt fortan dessen Arbeitsprogramm. Das, als was Herrndorf gelten will, nämlich Autor, muss er so schnell wie möglich werden und so gilt Herrndorfs erster Gedanke dem »Fertigschreiben«, wobei er sogar in Erwägung zieht, selbiges seinen schriftstellerisch tätigen Freunden zu überantworten. Die Vorstellung, ein Großteil seiner Arbeit, deren letztendliche Fertigstellung er immer für selbstverständlich gehalten hatte, könne unvollendet bleiben, stellt ein existenzielles Problem für Herrndorf dar. Konsequenterweise formuliert er den ambitionierten Vorsatz: »Ich werde noch ein Buch schreiben, […] egal wie lange ich noch habe« (S. 107). Bislang hatte Herrndorf, so dessen Freund Robert Koall, »stundenlang über Kommata oder über Syntax diskutieren« können, worüber er auch »Deadlines verstreichen« ließ9. Doch kaum aus dem Krankenhaus entlassen, beginnt der Schreibmarathon eines völlig veränderten Schriftstellers. »Das Erste, was ich zu Hause mache: Ich öffne die Dateien zum Jugendroman, um zu schauen, ob von da aus gestartet werden kann. […] Beim Blick in diese Dateien jetzt zum ersten Mal der Eindruck: Ich kann das, ich habe keine Mühe mehr, mich für einen Ton zu entscheiden […] ich hau das in einem Monat zusammen, wenn’s sein muss« (S. 112f.).
Der »imaginäre Countdown«10 erzeugt auf einmal einen Willen zum Abschluss und die bislang so zögerliche Arbeitsweise Herrndorfs wandelt sich in eine neue, auf das Ergebnis fokussierte. Motivation liefert dabei der Eindruck »Ich kann 9 Koall, Robert/Machowecz, Martin/Schirmer, Stefan: Interview mit Dramaturg Robert Koall. ›Der Schock ist weg‹. In: Die Zeit, Nr. 46, vom 08. 11. 2012, S. 14. (letzter Zugriff: 15. 10. 2020). 10 Koall, Der Schock ist weg. 2012.
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das«, welchen Herrndorf auch aus der Reevaluation seines ganz frühen Schaffens abzuleiten vermag. So liest er Erzählungen aus seinem Band »Diesseits des VanAllen-Gürtels« von 2007 noch einmal Korrektur, »[u]m zu gucken: Lohnt sich das überhaupt? Kann ich das? Oder mache ich lieber eine Weltreise? Aber die Geschichte ebenfalls völlig okay, sogar gut (und überraschenderweise ziemlich genau das, was ich schreiben wollte, während ich über der Fahnenkorrektur immer dachte: Das ist nicht zu zehn Prozent das, was es sein soll). Mir schleierhaft, wie ich damit in Klagenfurt gegen den handwerklich grotesken und pathetischen Tellkamptext verlieren konnte« (S. 23).
Der Autor vergleicht seinen aktuellen Eindruck vom eigenen Schaffen mit dem von früher und relativiert seine einst kritischere Einschätzung. Dabei gewinnt er eine grundsätzliche Überzeugung von der Qualität seines Schreibens und bringt selbige öffentlich im Blog zum Ausdruck – und das, obwohl er sich damit kritikanfällig macht und riskiert, als selbstgerecht verurteilt zu werden. Indem er sich mit Schriftstellerkollegen wie Uwe Tellkamp vergleicht, gegen den er 2004 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb angetreten war, lotet er (gemäß Bourdieu) seine Position im Feld des Literaturbetriebs aus. Folglich gilt es nun, das eigene Selbstbild als Schriftsteller in Einklang zu bringen mit dem tatsächlich sichtbaren schriftstellerischen Ertrag. Auf der posthum unter Verantwortung von Herrndorfs Witwe Carola Wimmer erstellten Homepage des Künstlers heißt es: »Man konnte der Eindruck gewinnen, Wolfgang habe zu dieser Zeit nicht viel gearbeitet. Aber das Gegenteil war der Fall. […] seine Neigung zur Selbstkritik hatte sich mit den Jahren nicht gemildert, eher verschlimmert. Die Projekte wurden umgeschrieben, verworfen, wieder aufgenommen – aber nicht fertig gestellt.«11
Herrndorf hatte auch früher schon ›Textmasse‹ produziert, davon zeugen auch die in »Arbeit und Struktur« thematisierten Rohfassungen und Projektskizzen sowie nicht zuletzt seine schriftstellerische Tätigkeit in diversen Internetforen, doch hatte er kaum Bücher vollendet und sich als Autor entsprechend kaum hervorgetan. Hatten bis dato handwerkliche Präzision und stilistischer Feinschliff oberste Priorität, rückte nun der Aspekt des Wahrgenommenwerdens mehr ins Zentrum und Herrndorf berichtete: »Ich hacke alles in der Geschwindigkeit runter, in der ich es denke, und schicke es ohne Korrektur ab!« (S. 116) So sollte etwa auch »Tschick« um jeden Preis rechtzeitig fertig werden, damit der Roman für einen Jugendbuchpreis berücksichtigt werden konnte:
11 Wimmer, Carola (verantwortlich für Seiteninhalt). (letzter Zugriff: 15. 10. 2020).
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»Das wollen wir doch erst mal sehen, ob sie beim Deutschen Jugendbuchpreis12 ein rasend schnell zusammengeschissenes Manuskript von einem durchredigierten unterscheiden können« (S. 63).
Auf einmal ist die Institution Literaturpreis für den Autor, der dem Literaturbetrieb bislang skeptisch gegenüberstand,13 von größter Relevanz und als sich herausstellt, dass der Preis in dem Jahr nicht ausgeschrieben wird, kommt dies für Herrndorf einer Katastrophe gleich: »[…] gestern der Anruf in Oldenburg: Die Ausschreibung für den Jugendliteraturpreis ist ausgesetzt, keine Haushaltsmittel […]. Völliger Tonusverlust, Müdigkeit, kann den ganzen Tag kaum stehen« (S. 64).
Die psychisch stabilisierende Wirkung entsteht nicht durch das Schreiben selbst, sondern ist an den Effekt des Sichtbarwerdens gekoppelt und versagt, sobald dieser Effekt ausbleibt. Auch im Kontext der Entstehung seines Romans »Sand« wird von Herrndorfs veränderter Arbeitsweise14 berichtet: »Früher hätte mir alles, vom fehlenden Komma bis zum Logikfehler, schlaflose Nächte beschert, ich hätte mindestens noch einen Fluglotsenstreik eingebaut, um die drei fehlenden Tage, die Michelle braucht, um dem Polen im Flugzeug begegnen zu können, zu erklären. Aber heute: scheiß drauf. Richtige Fehler, falsche Fehler. Wenn der 23. August 1972 ein Dienstag war: Katastrophe. Wenn an diesem Tag die Sonne schien, obwohl sie nicht schien: egal. […] Mit einigem anderen haben sie mir den Perfektionismus rausoperiert« (S. 256).
Die Unterscheidung zwischen »richtigen« und »falschen« Fehlern ist Ausdruck eines Pragmatismus, dementsprechend sämtliche Fehler ihrer Schwere nach geordnet und die weniger gravierenden zugunsten des Vorankommens hingenommen werden. Herrndorfs früheren Ansprüchen folgend dürfte kein Handlungselement, kein Ereignis unmotiviert erscheinen und es müssten – was beinahe neurotisch anmutet – narrative Entscheidungen, wie etwa die Integrierung eines »Fluglotsenstreiks«, zur Gewährleistung einer hieb- und stichfesten Logik getroffen werden, selbst wenn sie für den Plot sonst nicht weiter relevant sind. 12 Hier dürfte der »Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis« gemeint sein. Auch im folgenden Zitat spricht Herrndorf vom »Jugendliteraturpreis«, verweist aber konkret auf einen Anruf aus Oldenburg. Der »Deutsche Jugendliteraturpreis« der Leipziger Buchmesse wird Herrndorf 2011, also ein Jahr später, zugesprochen. 13 Vgl. Anm. 6. 14 Direkt nach der Fertigstellung von »Tschick« schreibt Herrndorf: »Seit Tagen versuche ich, in den Krimi reinzukommen, […] Ungleich schwerer als beim Jugendroman, wo ich den Erzähler einfach reden lassen konnte. Hier verliere ich immer wieder völlig den Überblick, starke Konzentrationsstörungen, ändere die Datei nach stundenlanger Arbeit zurück auf Anfang« (S. 70). Die Arbeit am neuen Projekt »Sand« erweist sich zunächst als schwieriger, was nicht zuletzt dem vergleichsweise düsteren Sujet und dem komplexen Plot zuzuschreiben ist. Später setzt sich dann aber auch hier der neue Vollendungswille durch, wie oben gezeigt.
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Zumindest von dieser Art bremsenden Perfektionismus’ fühlt sich Herrndorf wie von einem bösartigen Tumor befreit. Damit markiert er die Krankheitsdiagnose explizit als entscheidenden und plötzlichen Wendepunkt im Verlauf seiner Karriere. Im Zusammenhang mit dem Ziel der beschleunigten Veröffentlichung spielt auch die mediale Beschaffenheit des parallel zu den Romanen entstehenden Blogs eine bedeutende Rolle. Wiederstrebt zwar das prozesshafte, offene Format des Blogs der Maxime des Abschließens, so birgt es doch den Vorteil der unmittelbaren Sichtbarwerdung. Denn »[d]ie verfassten Texte können sofort veröffentlicht und der Leserschaft zugänglich gemacht werden«.15 Herrndorf habe anfangs überlegt, dass »das Blog […] ja als Ersatz dienen [könne], falls die Lebenszeit für einen Roman nicht mehr reichen sollte« (S. 444).16 Während die Vollendung bei jedem neuen großen Publikationsprojekt ungewiss ist, sorgt das Blog »Arbeit und Struktur« für tagtägliche Minipublikationen, durch die der Autor sichtbar bleibt. Zum Ende hin wird neues Textmaterial nur noch für das Blog produziert, welches letztlich selbst als literarisches Textportal innerhalb des Lebenswerkprojekts enorme Bedeutung erlangt. Dennoch wird das Blogprojekt immer wieder als eine dem Romanschreiben nachrangige Parallel- und Ersatzhandlung deklariert, wodurch sich Herrndorf wiederholt im Rechtfertigungszwang sieht. Vier Monate vor seinem Tod schreibt er: »Wenn ich noch eine Chance sähe, Isa fertigzustellen, wäre mit dem Blog Schluss […] Rückkehr zur ursprünglichen Mitteilungsveranstaltung für Freunde und Bekannte […]. Statt alle Fragen zu beantworten und Zeit zu sparen, kostet es mich welche« (S. 405).17
Dass Herrndorfs letzter Roman »Isa« (»Bilder deiner großen Liebe«) unvollendet bleibt, stellt sich hier als Ergebnis einer pragmatischen Entscheidung dar, da eine ästhetisch befriedigende Abrundung des Manuskripts aufgrund des krankheitsbedingt schwindenden Sprachvermögens ohnehin aussichtslos ist. Trotzdem arbeitet Herrndorf mithilfe seiner Lektoren weiter an dem bereits bestehenden Textmaterial für »Isa« und zwar bis wenige Tage vor dem Ende. Sein vorletzter Blogeintrag lautet: »Passig und Marcus kommen. Lesen ›Isa‹, halten es für machbar« (S. 425). Das Kriterium der Machbarkeit bezieht sich hier allerdings nicht mehr auf die Werkvollendung, sondern auf die Frage nach einem denk15 Michelbach, ›Dem Leben wie einem Roman zu Leibe rücken‹. 2016, S. 120. 16 Ähnlich äußert sich der BBC-Journalist Ivan Noble, der ebenfalls nach der Diagnose eines Glioblastoms ein öffentliches Blogtagebuch führt: »I also very much wanted to use the diary to maintain my link with my job if I was not well enough to work.« Wann immer die Krankheit die eigentliche Arbeit einschränkt, fixiert das Blog den Link zwischen dem Schreiber und dessen Beruf(-ung), indem es ihn unmittelbar öffentlich in Erscheinung treten lässt, ohne dass sonstige Textprodukte entstehen. (letzter Zugriff: 15. 10. 2020). 17 Vgl. dazu auch Michelbach, ›Dem Leben wie einem Roman zu Leibe rücken‹. 2016, S. 107.
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baren Publikationsmodus für das bislang Erarbeitete. Der Roman wird Ausdruck eines selbstbestimmten und wohl kalkulierten Bekenntnisses zum Unfertigen, worin wiederum eine gewisse Abgeschlossenheit liegt.
4.
Das Notizbuch und andere Initiationsakte
Die Genese des vollwertigen Schriftstellers wird in »Arbeit und Struktur« durch die Schilderung einiger symbolisch aufgeladener Handlungen markiert, die sich als regelrechte Initiierungsmomente interpretieren lassen. So berichtet Herrndorf: »Zu Hause begeistertes Auf- und Umräumen der Wohnung, […] stelle den Computer ans Fenster und frage mich, warum ich fünfzehn Jahre in der dunklen Ecke gesessen habe. Ach ja: Damals hab ich noch gemalt. Da brauchte ich auch Licht« (S. 24).
Herrndorf verabschiedet hier die Zeiten des Malens genauso wie die Zeiten der Unsichtbarkeit, wobei der kurze Moment des Bedauerns ob der vermeintlich verlorenen »fünfzehn Jahre in der dunklen Ecke« die Euphorie des Wandels nicht trübt. Das Schreibgerät rückt buchstäblich ins Licht, sodass die innere Transformation gespiegelt wird in der Transformation der Produktionsstätte. Das Bedürfnis nach einer räumlichen Entsprechung von außen und innen korrespondiert mit dem Bedürfnis nach einer sichtbaren Validierung vonseiten der Öffentlichkeit, die dem neu gewonnenen schriftstellerischen Selbstkonzept Legitimation verleiht. Ein anderer Initiationsmoment18 zeigt sich im Kauf eines Notizbuches: »Am 3. März kaufe ich mir am Alexanderplatz ein Notizbuch. Ich habe nie eins besessen, Dinge immer auf kleine Zettel, Bierdeckel, Fahrkarten notiert […] Autor mit Notizbuch: Schien mir immer eine Spur zu eitel für einen Behelfsschriftsteller wie mich. Jetzt ist der Wunsch danach übermächtig« (S. 115).
Im Zuge des Kontingenzerlebens entwickelt der »Behelfsschriftsteller«, dem schon das Notizbuch bislang »zu eitel« vorkam, ein Selbstverständnis von sich als daseinsberechtigtem Autor, welches sich im plötzlich »übermächtigen« Wunsch nach einem Notizbuch äußert. Dabei handelt es sich wohl kaum zufällig um ein Notizbuch der legendären Marke »Moleskine«, die mit Künstlern wie Sartre, Hemingway und Van Gogh in Verbindung gebracht wird, sodass der Autor sich hier in künstlerische Traditionslinien einreiht. Die Bedeutsamkeit des Notizbuches, mithin das dringende Bedürfnis einer Fixierung seiner Gedanken über 18 Vgl. hierzu auch Lang, Lena: Wolfgang Herrndorfs Weblog »Arbeit und Struktur«. Die Analyse schriftstellerischer Inszenierungspraktiken im Literaturunterricht. In: Literatur im Unterricht 16. Jg., H. 3. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2015, S. 267–283, hier S. 214.
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sein sterbliches Selbst hinaus, akzentuiert Herrndorf zusätzlich, indem er unmittelbar nach dem Kauf einen Hinweis auf 150 Euro Finderlohn in das Buch einträgt. Der Konflikt in dieser Phase der entstehenden Autorschaft besteht in der Diskrepanz zwischen prinzipiellem schriftstellerischen Potenzial und tatsächlich realisiertem Textprodukt, also zwischen Idee und Material. Das mit dem Finderlohn bereits angedeutete Problem der Ephemeralität der (noch) nicht fixierten geistigen Leistung wird über das Bild des Notizbuches immer wieder ausführlich durchgespielt. So ergreift Herrndorf »die panische Angst, das rettende Notizbuch, dessen Inhalt [er sich] nicht merken kann, könnte aus Versehen verloren gehen«, und er berichtet von seinen Gegenmaßnahmen: »Ich male deshalb eine weitere 1 vor den Finderlohn. Weil mir 1150 Euro selbst ein wenig sonderbar vorkommen, schreibe ich in Klammern noch »kein Witz« dahinter; und noch während ich versuche, mich auf diese Weise gegen einen Verlust abzusichern, wird mir plötzlich klar und immer klarer, […] dass ich selbst es bin, der die Aufzeichnungen vernichten wird […]. Ich weiß nicht, wie ich mich vor der Störinstanz in meinem Innern schützen soll. Erst der in den frühen Morgenstunden auftauchende Gedanke, das Buch zum Copyshop zu tragen, drei vollständige Kopien zu erstellen und Kathrin und Philipp und einem noch zu grabenden Loch in der Erde je ein Exemplar zur Aufbewahrung zu übergeben, beruhigt mich zuletzt« (S. 129f.).
In erster Linie gilt es, das Notizbuch und damit das Werk wie auch die Schriftstelleridentität gegen destruktive Kräfte im Autor selbst (die Selbstzweifel, den hemmenden Perfektionismus) abzusichern. In dem Bild der Vervielfältigung und der Weitergabe zur Aufbewahrung offenbart sich dabei ein Wunsch nach Fixierung und Dissemination des Werkes. Die imaginierte ›Grablegung‹ des Buches verweist auf den bevorstehenden vorzeitigen Tod durch Suizid, doch steht dieses Bild keineswegs für ein ›Verschwindenlassen‹. Viel eher scheint die Idee an kindliche Rituale anzuknüpfen wie das Vergraben von Kostbarkeiten, von Schätzen, auf dass diese später einmal wiedergefunden werden, entsprechend liegt im Tod auch das Potenzial der metaphorischen Konservierung. Allzu passend wirkt in dieser Hinsicht der Umstand der von Johann Adelung angenommenen etymologischen Verwandtschaft von Grab/graben und schreiben, die er aus der Beschaffenheit frühester Schreibmaterialien, wie Meißeln und Steintafeln, ableitet: »Da die älteste Art des Schreibens darin bestand, daß man die verlangten Züge in einen festen Körper grub, so bedeutet γραφίνη [»graphein« Anm. d. Verf.] im Griech. und to grave im Engl. auch schreiben, woraus durch Vorsetzung des Zischlautes das Lat. scribere und unser schreiben geworden [sind].«19 19 Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, S. 765–766. (letzter Zugriff: 15.10. 2020).
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Das Grab steht damit für die überdauernde Gravur, das Einschreiben in die Literaturgeschichte. In einer Mise-en-abyme-Struktur wird das Moleskine-Notizbuch nicht nur zum Symbol für das Gesamtwerk, sondern auch für die Autorfigur selbst, die mit dem Buch im Buch dem Vergessen und Vergessenwerden trotzt und die sich selbst durch die diaristische Aufzeichnungspraxis vor der Gefahr des schriftstellerischen Stillstands, also vor der »Störinstanz [im] Innern«, bewahrt. Die identifikatorische Verknüpfung vom Autor mit dessen Notizbuch wird durch einige Fotografien im Text auch visuell hergestellt. »[T]he inserted photos are so-called selfies; the angle and quality of the images suggest that they have been taken with the built-in camera of Herrndorf ’s laptop computer.«20 Außer dem Moleskine ist auf dem Foto entsprechend meistens das Gesicht oder die Hand des Autors zu sehen (siehe Abb. unten sowie S. 119, 128, 136), der sich im Moment der Bildaufnahme an seinem Arbeitsplatz vor seinem Schreibgerät befindet. Mithin pochen diese Fotografien darauf, dass Herrndorfs Autorbild von ihm selbst (Selfie), unterbrochen allein durch seinen eigenen Blick und sein Schreiben, vermittelt werden soll.
5.
Nachruhm
Im Kontext dieser Beobachtungen stellt sich die Frage, welche Rolle der Begriff des Nachruhms spielt, zu dem sich Herrndorf nur ein einziges Mal (relativ zu Beginn seiner Aufzeichnungen) nach einem Gespräch über den Tod Robert Gernhardts, der einige Jahre zuvor an Krebs gestorben war, äußert: »Mir nicht klar, wie man aus dieser Nachruhm-Sache irgendeinen Trost ziehen kann. Ich arbeite nur, um zu arbeiten« (S. 85). Nun ist es ein Anliegen des vorliegenden Beitrags, herauszustellen, dass Herrndorfs Arbeit dezidiert auf messbaren Erfolg ausgerichtet ist, was der oben zitierten Äußerung zu widersprechen scheint. »[O]bwohl er nicht auf Nachruhm spekulieren mag, […] arbeitet er mit Blick auf eine Zukunft« und offensichtlich »einer Konstruktion des posthumen Ich zu«21, so Elke Siegel. In der Tat scheint das Statement »Ich arbeite nur, um zu arbeiten« auf den ersten Blick nicht 100-prozentig der Wahrheit zu entsprechen, doch kann es auch als Ausdruck maximaler Diesseitsbezogenheit gelesen werden. Herrndorf, der jegliche transzendentale Orientierungen für sein Leben ablehnt (vgl. S. 22, 54) und unermüdlich das jenseitige ›Nichts‹ betont (vgl. S. 94, 110–111), 20 Schmidt, Nina. The Wounded Self. Writing Illness in Twenty-First-Century German Literature. Rochester/New York: Camden House 2018, S. 153. 21 Siegel, Elke: ›Die mühsame Verschriftlichung meiner peinlichen Existenz‹. Wolfgang Herrndorfs »Arbeit und Struktur« zwischen Tagebuch, Blog und Buch. In: Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge 26, 2016, H. 2, S. 348–372, hier S. 361.
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empfindet offenbar die Idee, als Verstorbener gerühmt zu werden, nicht als tröstlich. Tröstlich ist für ihn viel eher das diesseitige Erleben der eigenen Sichtbarwerdung, der Abschluss seiner Projekte vor seinem Tod, den er erklärtermaßen selbst erwirken will, sobald es ihm nicht mehr möglich ist, zu arbeiten – daher auch die Eile im Arbeitsprozess. Entsprechend scheint es weniger um die »Konstruktion des posthumen Ichs« zu gehen als um die Konstruktion eines (ganz bestimmten) diesseitigen Ichs bzw. um eine abgerundete Darstellung der lebendigen ›literarischen Erscheinung Wolfgang Herrndorf‹. Angesichts der hergestellten Verknüpfung von Autorgenese mit Suizid offenbaren sich Parallelen zu einem anderen deutschen Schriftsteller, der sich (genauso wie Herrndorf) in Berlin das Leben genommen hat – allerdings 200 Jahre früher: ebenfalls durch einen Kopfschuss, ebenfalls an einem Ort am Wasser und übrigens nur etwa 20 Kilometer von Herrndorfs Todesort entfernt. Die Rede ist von Heinrich von Kleist und seinem gemeinsam mit Henriette Vogel begangenen Suizid am Wannsee. Auch wenn sich die beiden Literaten in Hinblick auf deren gesundheitliche Verfassung, das Medium der Selbstinszenierung und auch in vielerlei anderer Hinsicht stark unterscheiden, findet doch erstens bei beiden eine weitgehend abgeklärte sprachliche Vorbereitung auf den Selbstmord statt, welche später einmal untrennbar mit dem posthumen öffentlichen Autorbild verbunden ist; und zweitens lässt sich durch die Gegenüberstellung der sich jeweils manifestierenden Haltung zum Konzept des Nachruhms die vergleichsweise eher geringe Fixierung auf posthume Anerkennung bei Herrndorf erkennen. Der Kleist-Biograf Günter Blamberger versteht den Abschiedsbriefwechsel zwischen Vogel und Kleist »als Teil einer grandiosen Inszenierung […], mit der Kleist seine Rezeptionsgeschichte selbst präformiert hat« und fügt hinzu, der Autor habe »es wohl nötig [gehabt], sich um seinen Nachruhm zu kümmern«.22 Kleist habe »zu Lebzeiten kaum Erfolg« gehabt und führe gar seine »ökonomische Notlage«23 und seinen »Misserfolg als Dichter«24 ausdrücklich als Beweggründe für seinen Suizid an; Herrndorf hingegen erlebt seinen Triumph noch selbst. Während also Blamberger schlüssig argumentieren kann, Kleists Abschiedsinszenierung folge »einer kalkulierten Ökonomie des Opfers«25, erscheint ein solches Verständnis für den Fall des bereits zu Lebzeiten erfolgreichen und ohnehin moribunden Herrndorf – obwohl dieser freilich auch eine bewusste Inszenierung seines Suizids vornimmt – weniger treffend.
22 Blamberger, Günter: Freitod am Wannsee. Heinrich von Kleist und Henriette Vogel 1811. In: Ökonomie des Opfers. Literatur im Zeichen des Suizids. Hrsg. von Günter Blamberger und Sebastian Goth, Morphomata 14. München/Paderborn: Fink 2013, S. 219–233, hier S. 219. 23 Ebd., S. 225. 24 Ebd., S. 227. 25 Ebd., S. 220.
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Erfolgsvisionen
Innerhalb der Textstruktur von »Arbeit und Struktur« erzeugt eine in sich geschlossene »Rückblende« (eigentlich eine Sammlung von Rückblenden, Teil 1– 10, S. 97–149), die die Chronologie der Einträge durchbricht, den Eindruck von erhöhter Literarizität und postuliert damit das Primat der Autorautorität über den Anspruch der Faktizität. Es handelt sich um eine klassische narrative Technik der nachträglich zwischengeschalteten, gebündelten Hinführung zur Situation der Textentstehung. Erzählt wird die Vorgeschichte von den ersten Krankheitssymptomen über die Diagnose bis hin zur Einlieferung in die Psychiatrie, mit der wiederum der Gesamttext beginnt. Anders als im gewöhnlichen Blogmodus besteht in diesem Einschub, in dem auch vom Kauf des Notizbuches berichtet wird, eine größere Differenz zwischen dem erlebenden und dem erzählenden Tagebuch-Ich. Letzteres besitzt einen Wissensvorsprung, hat es doch bereits das erste Exemplar von »Tschick« in den Händen gehalten (vgl. S. 90), und ahnt, dass das Projekt ›Fertigschreiben‹ gelingen wird. In der »Rückblende« häufen sich Schilderungen von Zukunftsvisionen bezüglich der Schriftstellerkarriere, die entsprechend vor dem Hintergrund der vergrößerten Erzähldistanz bewertet werden müssen. Der Autor schafft sich einen Raum, in dem er faktuale Ereignisse der Vergangenheit so darstellen kann, dass sie logisch zum Beginn seines Blogschreibens und zur Entstehung der Autorschaft hinführen. »Weil ich in meinem Leben immer noch einmal aus meiner Einzimmerhinterhofwohnung ohne Ausblick rauswollte, setze ich eine Mail an Rowohlt auf, in der ich vorschlage, sie könnten die Rechte an meinem Lebenswerk für eine sechsstellige Summe erwerben, in dem vollen Bewusstsein, noch nie mehr als zwischen 1000 und 2000 Exemplare eines Hardcovers verkauft zu haben. Ich gebe aber an, damit zu rechnen, von nun ab bis zu meinem Lebensende mindestens alle drei Monate ein neues Buch rauszuhauen […]. Das schreibe ich genau so in die Mail, ein, wie ich finde, ganz lustiges Angebot an den Verlag. […] Nach einigen Minuten lösche ich sie wieder. Der Größenwahn, der aus Worten wie Lebenswerk leuchtet, ist mit Händen zu greifen« (S. 117).26
Beschrieben wird hier ein ›Vorher‹, das geprägt ist von geringen Verkaufszahlen und verknüpft wird mit der beengenden Vorstellung der »Einzimmerhinterhofwohnung ohne Ausblick«. Demgegenüber steht die Vision eines ›Nachhers‹, innerhalb derer der noch größenwahnsinnig anmutende Begriff Lebenswerk zumindest gedacht werden kann. Auch wenn Herrndorf die E-Mail an Rowohlt nicht abschickt, bewahrheitet sich später doch exakt, was er sich ausmalt. Binnen eines Jahres wird er zum »six figure author« (S. 199), einem Autor, der jährlich sechsstellige Beträge verdient, und knackt damit die vorausgedachte Marke. Die 26 Dieser Abschnitt ist als einer von wenigen allein im Buch, nicht aber im Online-Blog zu finden.
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2015 posthum erschienene Gesamtausgabe seiner Werke scheint nachträglich den einst vorsichtig gewagten Gedanken an ein Lebenswerk zu legitimieren. Während sich üblicherweise die Idee eines solchen Lebenswerkes eher in der Rückschau auf sich über Jahre hinweg akkumulierende Texte eines Autors konstituiert, erklärt Herrndorf die Vorstellung prospektiv zu seinem Arbeitsprogramm. Herrndorf entwirft mithin Zukunftsszenarien, die etwa ein Jahr später Realität werden. Auf die Schlagworte »Wohnungsgröße« und »Verkaufszahlen« kommt Herrndorf später erneut zu sprechen, wenn er berichtet: »Gerade werden die Filmrechte [für »Tschick«, Anm. d. Verf.] verhandelt. Und das ist vielleicht der Punkt, wo ich dann doch so eine Art Ressentiment empfinde: 25 Jahre am Existenzminimum rumgekrebst und gehofft, einmal eine 2-Zimmer-Wohnung mit Ausblick zu haben. Jetzt könnte ich sechsstellige Summen verdienen, und es gibt nichts, was mir egaler wäre« (S. 182).
Lena Lang liest die Textstelle als Gestus »interesselosen, anti-ökonomischen Dichtertums« und argumentiert, Herrndorf bediene »das Bild vom armen Künstler, der sich unabhängig von finanziellen Interessen für seine Kunst aufopfert«.27 Tatsächlich scheint aber genau das Gegenteil gemeint zu sein, wird doch in der ersten Textstelle (S. 117) das Interesse an Verkaufszahlen als Erfolgsund Statusmarkierung relativ unverblümt geäußert. Das Ressentiment bezieht sich viel eher darauf, dass der Durchbruch zu spät erfolgt ist, mithin erst zu einem Zeitpunkt, an dem Geld nur deshalb »egal« ist, weil zu wenig Zeit bleibt, die finanzielle Sorglosigkeit auszukosten.28 Das Dilemma besteht darin, dass Herrndorf das komfortablere Leben zu gut gefällt, denn spätestens nach dem Umzug in eine größere Wohnung mit Dachterrasse »ist alles so schön, dass [er] nicht mehr sterben will«, und das »Erwachen mit herrlichem Blick über rosigem Frühhimmel und gleichzeitig starken Kopfschmerzen [ist] jetzt unrelativierbar scheiße« (S. 334). Zwar wird berichtet, Herrndorf habe zum Leben nicht viel gebraucht und zeitweise von 6.000 Euro im Jahr gelebt29, und es entsteht zugegebenermaßen zu keiner Zeit das Bild eines Menschen, dem materieller Besitz sonderlich viel bedeutete, doch verheimlicht »Arbeit und Struktur« keineswegs Herrndorfs Freude über den mit dem Erfolg wachsenden Lebenskomfort und verbirgt auch nicht die offenbar wachsende Akzeptanz für die ökonomische Komponente des Literaturbetriebs, mithin das Bedürfnis, das ›Gelesenwerden‹ in Verkaufszahlen widergespiegelt zu sehen. Holm Friebe verrät in einem Nachruf:
27 Lang, Wolfgang Herrndorfs Weblog. 2015, S. 218. 28 Vgl. auch: »C. sucht immer noch […] nach einer Wohnung für mich. Toll, wenn man plötzlich Geld hat. Und deprimierend, was soll ich mit einer Terrasse? Es kommt kein Sommer mehr« (S. 279). 29 Vgl. Wittstock, Wenn der Tod das Tempo vorgibt. 2012.
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»Spät gestand er, dem Geld wirklich nie etwas bedeutete, mir ein ungeahntes bürgerliches Sentiment: Es bereite ihm ein gutes Gefühl, seiner Frau Carola, die selbst erfolgreiche Schriftstellerin und Kinderbuchautorin ist, eine ordentliche Summe hinterlassen zu können. Auch einige seiner engen Prekariatsfreunde wurden testamentarisch bedacht.«30
Eine gewisse Messbarkeit des Erfolgs sorgt für ein versöhnliches Gefühl des Abschlusses, das sich allein durch den Akt des Schreibens wohl nicht einstellen würde: »Daß der Verlag praktisch jeden Tag anruft und neue Auflagen meldet, beruhigt mich und gibt mir das Gefühl abgeschlossen zu haben« (S. 161).
7.
Kontrolle »[›Arbeit und Struktur‹] makes a mockery of illusions of autonomy […] – illusions that the writer Herrndorf too nonetheless indulges in.«31
Wie Nina Schmidt beobachtet, ist »Arbeit und Struktur« die autobiografische Erzählung eines Künstlers, der sich bewusst Fantasien von Autonomie und Kontrolle hingibt, wobei er aber die Illusion derselben entlarvt und konkret thematisiert. Zentral ist dabei eine Textstelle, die bereits vielfach als repräsentativ für das autobiografische Schreiben Herrndorfs interpretiert worden ist.32 Einige erstaunliche Details sind allerdings bislang unbemerkt geblieben. »Das Gefasel von der Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses und der Unzulänglichkeit der Sprache spare ich mir, allein der berufsbedingt ununterdrückbare Impuls, dem Leben wie einem Roman zu Leibe zu rücken, die sich im Akt des Schreibens immer wieder einstellende, das Weiterleben enorm erleichternde, falsche und nur im Text richtige Vorstellung, die Fäden in der Hand zu halten und das seit langem bekannte und im Kopf ständig schon vor- und ausformulierte Ende selbst bestimmen und den tragischen Helden mit wohlgesetzten, naturnotwendigen, fröhlichen Worten in den Abgrund stürzen zu dürfen wie gewohnt –« (S. 292).
Ein Blick auf die Syntax dieses Abschnitts offenbart Besonderheiten: Die Textstelle beginnt mit einem kurzen Nebensatz, an den sich eine (im Buch) neunzeilige (!) Subjektgruppe anschließt, der kein finites Verb folgt und erst recht kein Punkt, sondern nur ein Gedankenstrich. Nun sind satzartige Konstruktionen
30 Friebe, Der Mann, der aus der Welt gefallen ist. 2013. 31 Schmidt, The wounded self. 2018, S. 143. 32 Vgl. u. a. Burk, Maximilian: ›Dem Leben wie einem Roman zu Leibe rücken‹. Wolfgang Herrndorfs Blog »Arbeit und Struktur«. In: Wolfgang Herrndorf. Hrsg. von Annina Klappert. Weimar: VDG 2015, S. 85–100; oder Michelbach, ›Dem Leben wie einem Roman zu Leibe rücken‹. 2016.
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ohne finites Verb nicht per se ungewöhnlich für Herrndorf 33, doch sticht die hier zitierte heraus. Es handelt sich um ein ausuferndes, komplexes Geflecht aus Reihungen und Relativsätzen, die im Verlauf vergessen lassen, dass man die ganze Zeit nur ›das Subjekt liest‹, womit die »Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses« formal demonstriert wäre. Das Ende des Subjekts kann Herrndorf – wie auch sein eigenes Ende – an dieser Stelle eben nicht »ausformulieren«. Die Sprache, das ist im abgebrochenen Satz zu spüren, ist unzulänglich, nicht nur im üblichen Sinne, als dass sie nicht alles auszudrücken vermag, was erlebbar, wahrnehmbar und fühlbar ist, sondern auch unzulänglich für Herrndorfs konkrete Zwecke. Seine Geschichte lässt sich nicht allein mit Worten beenden, es bedarf dazu einer Pistole. Das Beschreiben eines Todes ist nicht dasselbe wie eine Tötung. Die Illusion der Kontrolle im Text erleichtert aber vorläufig das Arbeiten und den Prozess des Abschließens. Obwohl der Erzähler immer wieder die Grenzen der Kontrolle aufzeigt, die sich literarisch-narrativ auf ein realweltliches Leben ausüben lässt, gelingt es Herrndorf dennoch, sich ein relativ hohes Maß an Selbstwirksamkeit zu ›erschreiben‹: Insgesamt wirkt der Tag für Tag entstehende Text seiner Prozesshaftigkeit und seinen Faktualitätsansprüchen zum Trotz durchkomponiert und vorausgeplant, was allerdings auch dem Umstand geschuldet sein dürfte, dass die Blogeinträge jeweils einen Monat verspätet veröffentlicht und zwischenzeitlich lektoriert wurden. Herrndorf arbeitet mit Programm und klaren Zielvorstellungen, was ihn aber scheinbar viel Kraft kostet: Er berichtet wiederholt von einem Gefühl der »Depersonalisation« (S. 272f.), das sich vor allem während epileptischer Anfälle einstellt. Bezeichnend ist, dass sich dieser »Ich-Verlust« (S. 273) – übrigens wohl ein typisches neurologisches Symptom – zeitweise dadurch äußert, dass die Personalpronomen »ich« oder »mich« »nur [noch] unter Schreien und Zucken« (S. 129) aufs Papier gebracht werden. Mithin werden Ich-Gefühl und die Fähigkeiten des Schreibens bzw. des Verbalisierens aneinandergekoppelt, wobei auch die Beschreibung eben dieses Zustands der Depersonalisation Schwierigkeiten bereitet: »[…] dann schwindet alles dahin. Kein Ich, kein Ding, kein Gefühl. Anstrengend ist das anschließende Sich-wieder-materialisieren-Müssen […] Seit zwei Wochen suche ich nach besseren Worten, vergeblich. Vielleicht, weil im Moment kein Beschreiber mit dabei ist« (S. 272–273).
Das Pathologische des Zustands besteht also darin, selbst nicht mehr der Beschreiber des eigenen Lebens zu sein. Nicht mehr in Distanz zum eigenen Selbst 33 Vgl. z. B. S. 293: »Ich Handball, sie Volleyball, sommerliche Wärme, große Aufregung, und dann plötzlich diese Geräusch-Baustelle?«
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treten zu können, um sich so dessen Existenz zu versichern. Im Umkehrschluss bedeutet jede Anstrengung, sich selbst zu (be-)schreiben, sich also in der Schrift zu materialisieren: ein Festhalten am Ich. Diesem Zweck dient u. a. ein imaginiertes Kontrollsystem, das Herrndorf in Form einer »sehr plastisch vorgestellten Walther PPK in [s]einem Kopf installier[t]« (S. 118). In der Fantasie des Autors schießt eine Pistole zielsicher auf »jeden unangenehmen aufkommenden Gedanken« (S. 118), wodurch es gelingt, lähmende Todesängste zu verdrängen und ungestört konzentriert weiterzuarbeiten. Die Übertragung des eigenen Willens auf die »plastische« Vorstellung einer greifbaren Waffe erlaubt die Abspaltung eines analytisch beobachtenden Ichs von dem durch Todesangst bedrängten Selbst. Dabei hat sich Herrndorf sicher nicht zufällig ausgerechnet für das Modell »Walther PPK« entschieden: Es ist die Schusswaffe des ungeheuer souveränen fiktiven Geheimagenten James Bond. Diese zuerst nur imaginierte Waffe erscheint in einem zweiten Schritt als Zeichnung im Notizbuch, die Herrndorf im oben beschriebenen Selfie-Format abfotografiert und so den BlogleserInnen zeigt. Zuletzt kommt die Waffe in ihrer materialisierten Form zum Einsatz: als die tatsächliche tastbare Pistole34, die Herrndorf sich frühzeitig illegal beschafft, um sich schlussendlich damit das Leben zu nehmen. Der Gedanke wird zum Text, der Text wird zur Realität.
Abb. 1: »Arbeit und Struktur«, S. 119, Farbfotografie: https://www.wolfgang-herrndorf.de/2010 /10/rt5/. © VG Bild-Kunst, Bonn 2020.
34 Dabei handelt es sich allerdings um ein anderes Modell: einen Smith & Wesson Revolver, Kaliber 357 Magnum.
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Bei Philippe Lejeune (2014) heißt es: »Das Tagebuch wird zur Waffe. […] Solange ich schreibe, lebe ich noch.«35 Bei Herrndorf wird die Verknüpfung von Schreiben und Waffe konkretisiert und über das rein Metaphorische hinausgetrieben. Der Autor berichtet davon, wie er bei der Arbeit zur Beruhigung »die Magnum neben [sich] auf de[n] Schreibtisch« (S. 372) legt. Wie schon die imaginierte Walther PPK, so »beschützt« auch die reale Waffe Herrndorfs Arbeit, erinnert ihn an seine Selbstwirksamkeit und bewahrt ihn vor dem Selbst- und Realitätsverlust: »Ich schlafe mit der Waffe in der Faust, ein sicherer Halt, als habe jemand einen Griff an die Realität geschraubt. Das Gewicht, das feine Holz, das brünierte Metall. Mit dem MacBook zusammen der schönste Gegenstand, den ich in meinem Leben besessen habe« (S. 247).
Das Schreibgerät (MacBook) und die Pistole – mithin der schriftstellerische Akt und der Akt der Selbsttötung – werden parallelisiert und die zwei Vorstellungen, sowohl das schreibende als auch das geschriebene Ich auszulöschen, fließen ineinander. Dabei fällt besonders die ästhetisierende Beschreibung der tödlichen Waffe aus »feinem Holz« und »brüniertem Metall« ins Auge. Die Gegenstände wirken nicht nur wie bei Lejeune gegen den Tod, sondern sie wirken auch für den Tod und entwickeln durch ihre Symbol- und Wirkkraft einen eigenen ästhetischen Wert, den Herrndorf betont, wenn er die beiden Gegenstände als konkurrenzlos ›schön‹ bezeichnet.
8.
Selbstermächtigung im Wahnsinn
In den letzten Abschnitten der »Rückblende« wird die Spannung zwischen schriftstellerischer Hoheit und Faktualitätsanspruch noch einmal auf andere Weise ausgestaltet: Herrndorf, der Protagonist, gerät nach einigen manisch durchgearbeiteten Nächten in einen euphorischen Wahnzustand, in dem er zu der Überzeugung kommt, »in die Zukunft sehen« (S. 132) zu können und die »Weltformel« (S. 131ff.) gefunden zu haben. Er lädt seine Freunde zu einer Versammlung ein, um vor ihnen eine »große, literarisch bedeutsame und tief bewegende Rede zu halten« (S. 126), die er aber bis zu dem Zusammentreffen nie schreibt, da er immer wieder davon abgehalten wird und letztlich glaubt, sie auf seltsame Weise bereits aufgeschrieben zu haben. »Um 17:01 sitze ich in dem Restaurant Kamala in der Oranienburger Straße und habe von der großen Rede noch immer kein Wort geschrieben, was mir angesichts der Geschwindigkeit, mit der ich nun unterwegs bin, wenig Kopfzerbrechen bereitet.
35 Lejeune, Philippe: »Liebes Tagebuch«. Zur Theorie und Praxis des Journals. Hrsg. von Lutz Hagestedt. München: belleville 2014. S. 410.
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Während ich aufs Essen warte, schreibe ich probeweise eine Seite in mein Moleskine, und die Sätze schießen nur so heraus. Kontrollblick: makellose Prosa. Blick auf die Uhr: noch immer 17:01. Ich rechne das Tempo, in dem ich jetzt arbeite, hoch auf alles andere und stelle fest, daß ich meine angefangenen Romanprojekte alle zu Ende schreiben kann. Wenige Monate reichen. Bilder meiner kurzen, aber glanzvollen Karriere ziehen vor meinem inneren Auge vorüber« (S. 132).
Herrndorf schildert hier das wahnhafte Erleben stillstehender Zeit. Worte »schießen« mühelos als »makellose Prosa« auf das Papier, ohne dass auch nur eine Minute vergeht. Es entsteht ein Kontrastbild zu dem systematisch und kontrolliert vorgehenden, eher am Handwerk bzw. an der technischen Perfektion orientierten Poeta faber, wie Herrndorf sonst beschrieben wird. Für einen kurzen Moment zeigt sich ein genialischer Parallel-Herrndorf, ein Poeta vates, aus dem die Literatur wie von selbst fließt. In der Forschung ist wiederholt auf Parallelen zu bekannten wahnhaften literarischen Geniefiguren wie auch Schriftstellerpersönlichkeiten hingewiesen worden. Johannes Odendahl (2017) etwa untersucht eine nicht von der Hand zu weisende Ähnlichkeit zu Adrian Leverkühn aus Thomas Manns »Doctor Faustus«, den eine syphilitische Infektion des Gehirns zu künstlerischen Großtaten befähigt.36 Lena Lang (2016) unternimmt den naheliegenden Vergleich mit Fer36 Odendahl, Johannes: »Ein Jahr in der Hölle, aber auch ein tolles Jahr«. Krankheit als schöpferische Stimulanz? Teufelspakt-Motive in Wolfgang Herrndorfs »Arbeit und Struktur«. In: Literatur im Unterricht 18. Jg., H. 3. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2017, S. 165–182. Interessant sind auch Odendahls Hinweise auf Textstellen, die Assoziationen mit einem Teufelspakt bzw. einem Pakt mit einem »transzendenten Geschäftspartner« (Odendahl, S. 173) zulassen (»Gib mir ein Jahr, Herrgott, an den ich nicht glaube, und ich werde fertig mit allem« [S. 22]). Die Rolle der Mächte, die diese ›Fristverlängerung‹ gewähren, übernehmen dabei die »Medizin und medizinische[r] Statistik« (Odendahl, S. 173). Passenderweise bezeichnet Herrndorf einen seiner Ärzte, den er besonders schätzt, als »Gott« (S. 23; Odendahl, S. 173). Odendahls Interpretation gerät allerdings in Schieflage, wenn er »die [heikle] Frage nach der Wahlfreiheit und damit die nach der Schuld« stellt, ansonsten könne bei einem Teufelspakt nicht von Sünde und Verfehlung die Rede sein: »Ganz frei kann auch er [Herrndorf] sich nicht vom Gedanken an eine persönliche Mitschuld an seinem Verhängnis machen. Es gibt eine Textstelle im Blog – eine einzige nur – , die in dieser Hinsicht aufhorchen lässt: ›Geträumt von einer amerikanischen Studie, die nachweist, dass Alleinsein Krebs macht. Wusste ich aber schon.‹ (S. 91)« (Odendahl, S. 176). Odendahl übersieht, dass der restliche Text einen extrem rationalen Menschen präsentiert, der an den Zufall glaubt und an ›Genlotterie‹ (vgl. S. 181). Besonders problematisch ist jedoch, dass Odendahl über mehrere Seiten versucht, herauszustellen, dass Herrndorf eine bedenkliche »Neigung zum Rückzug aus sozialen Bindungen« (S. 176) besitzt, und dabei Begriffe wie »Einsamkeitspathos« und »schicksalhaft auferlegte[n] Liebesverzicht« (S. 179) bemüht. Tatsächlich ist »Arbeit und Struktur« nicht zuletzt ein Buch über innige Freundschaften. Herrndorf ist fast nie allein. Nicht im Krankenhaus, nicht beim Baden im See, nicht beim Fußballspielen, nicht in der Stammkneipe – und selbst beim Arbeiten ist er regelmäßig von Freunden umgeben. Dankbar wendet er sich an sie: »Ich wünsche euch, wenn eure Stunde kommt, dass ihr Freunde habt, wie ihr es seid« (S. 55). Wenn Herrndorf – und darauf stützt sich Odendahl – schildert, dass Freunde ihm kurzzeitig Narzissmus und Arbeitsfixierung (z. B. S. 283) vorwerfen, dann zeigt
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nando Pessoas Protagonisten/Alter Ego Bernardo Soares aus »Das Buch der Unruhe«.37 Naheliegend nicht zuletzt deshalb, weil Herrndorf selbst »Fernando Pessoa« als Titel für einen Abschnitt seiner Rückblende wählt (S. 135). Es scheint sich um ein bewusstes Spiel mit solcherlei Narrativen zu handeln. Zwar darf von der grundsätzlichen Faktizität der wahnhaften Episoden ausgegangen werden – immerhin wird Herrndorf faktisch in eine psychiatrische Klinik aufgenommen –, jedoch erfolgt die Darstellung des Wahnsinns in der »Rückblende« aus einer Retrospektive, die »dem Autor sehr viel mehr Abstand zu den berichteten inneren Erlebnissen [erlaubt]«, was aus einem erhöhten Maß an Literarizität und Geformtheit38 und einem geringeren Authentizitätsanspruch resultiert. Dass sein Wahnerleben keineswegs präzedenzlos ist, dürfte dem belesenen Schriftsteller bekannt gewesen sein. »Die Klischeehaftigkeit seines Handelns ist ihm durchgängig bewusst«39, bemerkt Lena Lang und verweist auf Herrndorfs postmanische Feststellung, »dass man als Individuum auf diese Belastung nicht individuell reagiert, sondern superkonventionell, mit geradezu normiertem verrückten Verhalten« (S. 149). Im Nachwort zu »Arbeit und Struktur« stellen die Herausgeber klar: »Diese Leistung [die Vollendung der Romanprojekte] ist nur zu einem kleinen Teil den im Blog beschriebenen manischen Phasen zu verdanken. In beiden Büchern steckten zum Zeitpunkt der Diagnose schon mehrere Jahre Arbeit. Herrndorfs Schreiben beschleunigte sich vor allem, weil er schnellere Entscheidungen traf, anstatt wie früher monatelang Varianten jedes Satzes durchzuprobieren« (S. 443).
Das meiste Textmaterial war demnach schon vor der Diagnose entstanden. Der Wahn entfesselt nicht, wie etwa Odendahl es versteht, Herrndorfs Kreativität und der kurzzeitig erlebte Zustand vom mühelosen Kunstschaffen ist nicht die eigentliche Quelle der schriftstellerischen Leistung. Viel eher ist diese Episode als emphatische Markierung eines Einschnitts zu verstehen, als Anstoßmoment des beschriebenen Wandels vom »Vor-sich-hin-Schreiben« zur »Literaturproduktion«. Zwei Prozesse, die sich nicht in dem Vorhandensein dies einen Menschen, der selbst kleine zwischenmenschliche Verfehlungen seinerseits reflektiert, weil er ständig sozial eingebunden ist. Nicht zuletzt ignoriert Odendahl eine der bedeutendsten Nebenfiguren im Blog, nämlich »C.«, die Kinderbuchautorin Carola Wimmer, die Herrndorf nach der Krebsdiagnose noch geheiratet hat. »C.« wird als enge Vertraute dargestellt, die bis zum Schluss an Herrndorfs Seite ist. Sie umarmt und tröstet ihn, erhält aber auch Unterstützung von ihrem Partner, als sie diese selbst benötigt, weil ihr Vater im Sterben liegt. Herrndorf als einen Autor zu bezeichnen, der »am besten leben kann, solange er nicht liebt« (Odendahl, S. 178) und »[d]essen existentielle Einsamkeit ihn auszeichnet, ausgrenzt und adelt« (Odendahl, S. 179), erscheint mir absurd. 37 Lang, Wolfgang Herrndorfs Weblog. 2015, S. 215f. 38 So wird der Einschub etwa nicht wie der restliche Text durch tagebuchtypische Datierungen, sondern durch romanhaft anmutende Überschriften strukturiert. 39 Lang, Wolfgang Herrndorfs Weblog. 2015, S. 216.
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oder Nichtvorhandensein von Kreativität, sondern durch ihre jeweilige Ausprägung des Pragmatismus unterscheiden. Im Anschluss an den Erleuchtungsmoment geht Herrndorf aber technisch wie eh und je aufgrund seiner Berechnungen pragmatischer vor und ermöglicht so einen Abschluss seiner zuvor bereits konzipierten Romanprojekte. Die »Bilder [s]einer kurzen, aber glanzvollen Karriere«, die Herrndorf wahnhaft vor sich vorüberziehen sieht, fungieren als Leitvisionen und bestimmen wenige Jahre später tatsächlich das öffentliche Bild des Autors. Zuvor muss die Figur Herrndorf jedoch ins klare Denken zurückkehren, denn sie hat sich in einer Textschleife verfangen, ähnlich derer, die der Autor Herrndorf mit seiner Rückblende erzeugt.40 »[…] die Weltformel ist ein Zirkelschluss, …, Hölle, und jetzt kommt der Text schon wieder, mein Text, der große Text. Aber vielleicht ist es ein literarischer Text? Ja natürlich […] Ich bin in meinem eigenen Text, […] ich habe ihn schon aufgeschrieben, er steht in meinem Kopf, ich schreibe ihn jetzt in mein Moleskine, dann fahre ich zu Holm und lese ihn vor, […] ich muss dringend zu Holm ich darf jetzt nicht sterben […] große Gegenkräfte versuchen, mich von der Verkündung meiner Erkenntnisse abzuhalten« (S. 136–137).
Im entscheidenden Moment des Auftritts schließlich, so die albtraumhafte Klimax der Episode, ist die »große Rede«, also der Text, natürlich nirgendwo auffindbar. Herrndorf verliert jegliche Kontrolle, beginnt verzweifelt »zu schreien« (S. 141) und es folgt die Einweisung in die Psychiatrie – womit der Ablauf der Ereignisse wieder am Ausgangsmoment bzw. der Eröffnungsszene des Textes angelangt ist. Die Spannung zwischen Existenz und Nichtexistenz des »großen« Textes verschwimmt mit der Existenz und Nichtexistenz des geistig noch zurechnungsfähigen Autors, der sich in seinem eigenen literarischen Text befindet, welcher ihm zu entgleiten droht bzw. gar nicht zu existieren scheint. In diesem Moment konkretisiert sich die Furcht vor den »Gegenkräften« der Krankheit, die »die Verkündung [s]einer Erkenntnisse« (mithin die Fertigstellung seines Lebenswerkes) bedrohen – schließlich sind die Manuskripte von »Tschick« und »Sand« zu diesem Zeitpunkt unvollendet und Herrndorfs ›Durchbruch‹ steht somit noch bevor. Bei genauer Lektüre fällt auf, dass Herrndorf, was er später zu vergessen scheint, tatsächlich Notizen unter der Rubrik »Die große Rede« gemacht hatte, die entsprechenden Seiten später aber aus dem Notizbuch wieder herausreißt und seine Tat damit begründet, »weil etwas in meinem Innern mir sagt, dass es sich um schreckliche Banalitäten handelt« (S. 124). In diesem Zweifel an der Rede konzentrieren sich alle Zweifel an der eigenen Autorschaft, die es in diesem Moment endgültig zu überwinden gilt. Bei der Rekapitulation der Er-
40 Vgl. Burk, ›Dem Leben wie einem Roman zu Leibe rücken‹. 2015, S. 88.
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eignisse ganz am Ende der Schilderungen in der »Rückblende« reißt Herrndorf schließlich die erzählerische Gewalt vollständig an sich. Er behauptet nun entgegen jeglicher realweltlichen Logik des zeitlichen Nacheinanders: »Überflüssig zu erwähnen, dass der bei Holm von mir verzweifelt gesuchte Text später doch noch aufgetaucht ist: Es ist dieser Text« (S. 149). Herrndorf behauptet, der in der erzählten Vergangenheit von ihm vernichtete und später gesuchte Text sei identisch mit dem gerade eben von ihm geschriebenen. Es kommt zum Eindruck einer zeitweisen Erlösung: »[D]ieser Text«, mit dem auch »Arbeit und Struktur« als Ganzes gemeint sein kann, hat als schriftstellerische Identitätsfixierung nicht, wie es zuerst scheint, versagt, sondern ist qua auktorialer Beschluss (temporaler Paradoxa zum Trotz) wieder aufgetaucht. Die Autorfigur hat damit die letzte entscheidende Probe bestanden.
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Abschließen
Herrndorfs mehrfach zum Ausdruck gebrachtes Anliegen, sein Sterben selbst in die Hand zu nehmen und damit nicht nur auf Textebene, sondern auch ›im wahren Leben‹ weitgehend selbstwirksam zu agieren, vergleicht er damit, »den tragischen Helden mit wohlgesetzten, naturnotwendigen, fröhlichen Worten in den Abgrund stürzen zu dürfen wie gewohnt« (S. 292). Das Tröstliche an diesem Gedanken besteht nicht nur in der Autonomie des Sterbens, sondern auch in der literaturgeschichtlich gewachsenen Ästhetik des Heldentodes, mit dem Herrndorf seinen Suizid hier parallelisiert. Einen Text mit einem »wohlgesetzten« Tod, dem endgültigsten aller Ereignisse, enden zu lassen, birgt einen stilistischen Reiz. Auch wenn Herrndorf (wie oben erläutert) stets sein Bewusstsein darüber betont, dass vollkommene Kontrolle eine Illusion ist und dass Text und Leben nicht ohne Weiteres gleichzusetzen sind, so wird dennoch das Ende von »Arbeit und Struktur« wie als Vorbereitung auf den Suizid sehr bewusst rechtzeitig als solches gestaltet, bevor der Verfasser die Fähigkeit dazu verliert. Anna Katharina Neufeld (2016) bemerkt pointiert: »Mitte Juli 2013 inszeniert Herrndorf auf der Textebene seinen Tod. So spricht er am 16. 7. 2013 von sich und C. als ›vergangen‹: ›Es gibt uns nicht mehr. Wir sind schon vergangen.‹ Drei Tage später äußert er sich nicht nur über den Ort, an dem er gerne begraben sein möchte, er schreibt bereits von sich in der Vergangenheitsform: ›[…] wenn es nicht vermessen ist, vielleicht ein kleines aus zwei T-Schienen stümperhaft zusammengeschweißtes Metallkreuz mit Blick aufs Wasser, dort, wo ich starb.‹«41
41 Neufeld, Anna Katharina: Zwischen Sprachzerfall und Spracherhalt. Zum paradoxen Stimmengefüge in Texten von Tom Lubbock und Wolfgang Herrndorf. In: Hermeneutische Blätter, 2016, H. 2., S. 80–92, hier S. 85.
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Neufeld weist außerdem auf den vom Autor beobachteten »Tod einer Libelle am 23. 7. 2013« (also ca. einen Monat vor Herrndorfs Tod) hin, der sich, so Neufeld, »wie seine eigene Beerdigung […], die er selber durchführt«, liest42: »Die Libelle, die ich gestern am Terrassenfenster sah und der ich den Weg ins Freie mehrfach gewiesen hatte, bis sie für mich nicht mehr zu finden war./Jetzt liegt sie auf den Fliesen. Ich beobachte das Wunderwerk auf dem Boden. Es liegt in den letzten Zügen. Nur ein Beinchen zuckt noch. […] Sie ist tot. Ich schiebe den Leichnam in eine Streichholzschachtel. Mit C. bestatte ich die Libelle am Ufer« (S. 423).
Die knapp erzählte Szene besitzt eine interessante Ähnlichkeit mit den Schilderungen in dem berühmten Essay »Death of a Moth« von Virginia Woolf, deren Leben bekanntermaßen ebenfalls in einem suizidalen Tod endete, der ihr Autorinnenbild unwiderruflich geprägt hat.43 Der Tod eines im Wohnungsinneren gefangenen Insekts – bei Woolf ein tagaktiver Nachtfalter – wird zum Gegenstand intensiver Beobachtung und Anteilnahme. Die Schreibenden begleiten jeweils das unbedeutende (»insignificant«) Wesen in dessen letzten Lebenssekunden und bezeichnen es dabei als »Wunderwerk« bzw. »marvellous«44. »The possibilities of pleasure seemed […] so enormous […] that to have only a moth’s part in life, […] appeared a hard fate«,45 schreibt Woolf und bestaunt »this gigantic effort on the part of an insignificant little moth, against a power of such magnitude«.46 Woolfs anhand des Insekts entwickelte Gedanken betreffen einerseits die unterschiedlichen »part[s] in life« individueller Lebewesen – mithin deren unterschiedliches Bedeutungsgewicht für den Verlauf der Geschichte –, sie thematisieren aber andererseits auch die Genussmomente des Lebens und die dabei stets über allem stehende, überwältigende Macht des Todes. Diese Überlegungen werden bei Herrndorf, dessen wenige noch folgende Einträge ab hier immer knapper werden, nicht mehr verbalisiert. Sie kommen aber im Akt der Grablegung des (gar nicht) so unbedeutenden Tieres und im intertextuellen Zusammenhang zum Vorschein. Solchermaßen begegnet der Text dem Problem der »›strukturellen Offenheit zum Ende hin‹, die [sich in] jeder autobiografischen Erzählung aus der Un-
42 Ebd. 43 Woolf war vermutlich stark depressiv und ging weniger planvoll vor als Herrndorf: Erst ihr zweiter Suizidversuch (sie ertränkte sich) gelang. Ausführlicher zu den Umständen von Woolfs Suizid, vgl. Liebrand, Claudia: »[T]he rest is narrative and speculation«. Virginia Woolfs Tod. In: Ökonomie des Opfers. Literatur im Zeichen des Suizids. Hrsg. von Günter Blamberger und Sebastian Goth, Morphomata 14. München/Paderborn: Fink 2013, S. 299– 323. 44 Woolf, Virginia: The Death of the Moth. In: Dies.: The Death of the Moth and Other Essays. London: The Hogarth Press 1981, S. 10. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 11.
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möglichkeit heraus [dazu] eignet, den eigenen Tod zu schildern«.47 Der letzte Eintrag Herrndorfs am 20. 08. 2013 besteht nur aus einem einzigen Wort: dem Namen »Almut« (S. 425). Gemeint ist die deutsche Autorin und Sängerin der Lassie Singers, Almut Klotz, die wenige Tage zuvor ihrem Krebsleiden erlegen war. Im Bewusstsein um die »Uneinholbarkeit der eigenen Todeserfahrung«48 verhandelt Herrndorf hier somit stellvertretend das Sterben einer Anderen. Am Ende bleibt nur noch ein Name, der wie der Name auf einem Grabstein in seiner isolierten Erscheinung auf die Einsamkeit verweist, die jedem Sterben letzten Endes innewohnt. Ein nüchterner Punkt hinter dem Namen markiert – wie die Kugel im Kopf – das irreversible Ende der Erzählung. Nur sechs Tage später – dem Ende des Blogschreibens folgend – nimmt Herrndorf sich am Ufer des Hohenzollernkanals in Berlin das Leben. »Der Tod«, so Michelbach, »widerfährt dem Subjekt Herrndorf nicht, sondern ist der Endpunkt einer durch den Autor Herrndorf geschriebenen Geschichte, die das Subjekt bloß in die Tat umsetzt«.49 Er hatte zuvor schriftlich Vorgaben verfasst, wie nach seinem Tod mit dem Blog zu verfahren sei. U. a. wünscht er sich ein Nachwort inklusive einer »medizinisch-fachlichen« (S. 445) Schilderung seines Suizids: »Wie es gemacht wurde; wie es zu machen sei. Oder bei Misserfolg eben: Wie es nicht zu machen sei. […]« (ebd.).50 Seine Lektoren und Freunde Marcus Gärtner und Kathrin Passig erfüllen seinen Wunsch und berichten von einem sorgfältig komponierten ›Bilderbuchsuizid‹ zum idealen Zeitpunkt und durch souveränen Einsatz einer Waffe, die Herrndorf schon seit Langem eigenhändig zum Symbol seiner auktorialen Wirkkraft erhoben hatte.
10.
Literaturverzeichnis
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47 Michelbach, Dem Leben wie einem Roman zu Leibe rücken. 2016, S. 126. 48 Zorn, Johanna: Sterben lernen. Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes. Tübingen: Narr Francke Attempto 2017. 49 Michelbach, Dem Leben wie einem Roman zu Leibe rücken. 2016, S. 126. 50 Der Wunsch erinnert an Goethes »Werther«, dessen Vorgehen bei der Selbsttötung nach Verstummen des Protagonisten ebenfalls sachlich und genau geschildert wird. Werthers Todesschuss sitzt bekanntlich nicht perfekt, weshalb er noch einen Todeskampf austragen muss, es handelt sich also um eine Darstellung dessen, »[w]ie es nicht zu machen sei«.
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Stephanie Willeke
Schriftstellerische Inszenierungspraktiken und autofiktionale Schreibreflexionen im Weblog »Turmsegler« von Benjamin Stein
1.
Vorüberlegungen zur Autorschaft im Kontext von Internetliteratur
»Totgesagte leben länger« – in kaum einem literaturtheoretischen Zusammenhang ist dieses Sprichwort passender als hinsichtlich der Diskussion um die Autor*inneninstanz, die im Kontext der Etablierung des Internets als Massenmedium Ende des 20. Jahrhunderts erneuten Aufschwung erfuhr. Während Definitions- und Positionskämpfe für das literarische Feld geradezu charakteristisch sind,1 entzündet sich die Diskussion hier besonders an der Form der Internet- bzw. Netzliteratur, also an literarischen Texten, deren Existenzbedingung besonders durch das Merkmal der Hyperlinkstruktur an das digitale Medium geknüpft ist.2 So wird das Feld nun bespielt von zwei sich diametral entgegenstehenden Haltungen mit entsprechender Distinktionsrhetorik: Auf der einen Seite stehen die »Kulturapokalyptiker«3, die in dieser technischen Entwicklung das Indiz eines nicht mehr aufzuhaltenden Kulturverfalls sehen, wie z. B. Dieter E. Zimmer, der konstatiert, dass aufgrund der für die Internetliteratur charakteristischen Aufhebung linearen Erzählens – er nennt es ein »zerfahrenes Zappen von Schnipsel zu Schnipsel« – diese Form der Literatur nicht zur »Schärfung der Wahrnehmung und des Denkens, sondern zu deren Abstump-
1 Vgl. Jürgensen, Christoph/Kaiser, Gerhard: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Heuristische Typologie und Genese. In: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte. Hrsg. von Christoph Jürgensen/Gerhard Kaiser. Heidelberg: Winter 2011, S. 9–30, hier S. 9. 2 Vgl. Simanowski, Roberto: Lesen, Sehen, Klicken: Die Kinetisierung Konkreter Poesie. In: Digitalität und Literalität. Zur Zukunft der Literatur. Hrsg. von Harro Segeberg/Simone Winko. München: Wilhelm Fink 2005, S. 161–177, hier S. 162. 3 Jürgensen, Christoph: Ins Netz gegangen – Inszenierungen von Autorschaft im Internet am Beispiel von Rainald Goetz und Alban Nikolai Herbst. In: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte. Hrsg. von Christoph Jürgensen/Gerhard Kaiser. Heidelberg: Winter 2011, S. 405–422, hier S. 405.
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fung«4 beitrage. Ein anderer Vertreter ist Christian Benne, der in der »Zeit« formuliert, dass die »Literatur im Netz« eine »Totgeburt«5 sei. Auf der anderen Seite befinden sich vor allem poststrukturalistische Theoretiker*innen, die frohlockend die theoretischen Prämissen von u. a. Roland Barthes, Michel Foucault und Jacques Derrida, besonders hinsichtlich einer Veränderung der »tradierten Rollen und Funktionen von Autor und Leser«6, nun endlich auch innerhalb der literarischen Praxis verwirklicht vermuten. Denn scheinbar sind es nicht mehr die Autor*innen allein, die als Urheber*innen über den Text bestimmen, sondern sie werden zu Produzent*innen, indem sie durch Hyperlinks, die den Rezipierenden die Möglichkeit eröffnen, eigene Pfade durch den literarischen Text zu gehen und ihn damit gewissermaßen mitzugestalten, und durch oftmals anonymisierte oder pseudonymisierte kollaborative Schreibprojekte als Einzelpersonen in den Hintergrund treten.7 Oder mehr noch: In dieser Fluchtlinie wird von einigen Theoretiker*innen sogar die von Barthes den Autor*innen zugewiesene Funktion des Mischens bezweifelt, da die Rezipierenden innerhalb des Hypertextes dazu in der Lage seien, die Texte selbst zusammenzufügen.8 Auch Schriftsteller*innen schalten sich in diese Diskussion ein. So hat beispielsweise Thomas Hettche, der 1999 mit der Online-Anthologie »Null« eins der ersten wichtigen literarischen Internetprojekte mitinitiiert hat, einen Artikel für die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« geschrieben, in dem er sich gegen das, von ihm zumindest so empfundene, ›Aufschwatzen‹ neuer Medienformate wehrt und gegen Netzliteratur Stellung bezieht, nicht nur weil deren Charakteristika wie Nicht-Linearität und Intertextualität auch in Form von gedruckter Literatur aufzufinden seien, sondern auch weil sich die Halbwertszeit von Literatur durch das Internet deutlich verkürze. Zudem wird das Verhältnis von Autor*in und 4 Zimmer, Dieter E.: Die Bibliothek der Zukunft. Text und Schrift in den Zeiten des Internet. Hamburg: Hoffmann und Campe 2000, S. 57. 5 Benne, Christian: Lesen, nicht klicken. Literatur im Internet? Eine irrige Vorstellung. Sprachkunst braucht Kritik. In: Die Zeit, 1998, Nr. 37, vom 03. 09. 1998, S. 73. 6 Winko, Simone: Lost in hypertext? Autorkonzepte und neue Medien. In: Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Hrsg. von Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matías Martínez/Simone Winko. Tübingen: Niemeyer 1999, S. 511–533, hier S. 512. In diesem Beitrag wird es nicht um die im Zuge von internetbasierter Literatur eventuell neu zu konzipierende Rolle der Rezipient*innen gehen, daher verweise ich exemplarisch auf den Sammelband: Lesen X.0. Rezeptionsprozesse in der digitalen Gegenwart. Hrsg. von Sebastian Böck/Julian Ingelmann/Kai Matuszkiewicz/Friederike Schruhl. Göttingen: V&R unipress 2017. 7 Vgl. dazu u. a. Künzel, Christine: Einleitung. In: Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien. Hrsg. von Christine Künzel/Jörg Schönert. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 9–23, hier S. 21. 8 Vgl. dazu Simanowski, Roberto: Autorschaft und digitale Medien. Eine unvollständige Phänomenologie. In: Medien der Autorschaft. Formen literarischer (Selbst-)Inszenierung von Brief und Tagebuch bis Fotografie und Interview. Hrsg. von Lucas Marco Gisi/Urs Meyer/Reto Sorg. München: Wilhelm Fink 2013, S. 247–262, hier S. 249.
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Leser*in in den Blick genommen, indem Hettche konstatiert, dass die seit dem 18. Jahrhundert etablierten und vor allem sinnvollen Regeln, wie die Unterscheidung von Text und Kommentar oder auch von Autor*innen und Werk, im Verschwinden begriffen seien.9 Eine polemische Erwiderung auf diesen »kunstreaktionären Artikel«10 folgte kurz darauf in der Wochenzeitung »Der Freitag« von Alban Nicolai Herbst, der den sehr erfolgreichen Literaturblog »Die Dschungel. Anderswelt« betreibt. Neben zahlreichen hier angeführten Argumenten für Netzliteratur geht es auch um den, so Herbst, von Hettche monierten, durch das Internet beförderten Personenkult. Herbst erwidert: »Es [das Netz – S. W.] relativiert den Kult sogar, schon weil sich der Autor […], etwa in kommentierbaren Blogs, angreifbarer macht, als ein Hettche das ertrüge: Zu offen würde benannt, was er absichern will: nicht Qualität, sondern Macht.«11 Neben der abgesprochenen oder eben attestierten ästhetischen Qualität von Netzliteratur evoziert so auch die Diskussion um die Rolle der Autor*innen zwei gegensätzliche Positionen, deren Kluft laut Simone Winko sowohl aus divergierenden »text- und medientheoretischen Konzeptionen« als auch aus einer »Theorie-Praxis-Differenz« resultiere: »Theoretisch totgesagt, lebt ›der Autor‹ in verschiedenen Funktionen auch in den neuen Medien weiter, teilweise sogar, unter Ausnutzung der neuen technischen Möglichkeiten, mit extremer ausgeprägtem Personenkult als unter traditionellen Bedingungen linearer Texte.«12 Auch wenn die endgültige Verabschiedung der Autor*innen im Zuge internetbasierter Literatur kaum haltbar ist, nehmen technische Innovationen durchaus Einfluss auf die traditionelle Trias von Autor*in – Text – Leser*in. Im Zuge der »massenkulturellen Unterhaltungsangebote« verschiebt sich der Wettbewerb innerhalb des literarischen Feldes, indem nun »das Spezifische des Angebots ›Literatur‹ gegenüber den konkurrierenden medialen Angeboten«13 auszuloten und herauszukristallisieren ist. Dabei stellt das Internet jedoch nicht lediglich ein weiteres Konkurrenzmedium für die Literatur dar, wie z. B. das Radio oder das Kino, sondern es handelt sich hierbei vielmehr um ein »die Materialität aller anderen Medien überformende[s] Leit- und Universalmedium[]«14, das eben 9 Vgl. Hettche, Thomas: Wenn Literatur sich im Netz verfängt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 09. 04. 2010. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). 10 Herbst, Alban Nicolai: Ein ärgerliches Schisma. In: Der Freitag vom 15. 04. 2010. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). 11 Ebd. 12 Winko, Lost in hypertext? 1999, S. 512. 13 Jürgensen, Ins Netz gegangen – Inszenierungen von Autorschaft im Internet. 2011, S. 406. 14 Segeberg, Harro: »Parallelpoesien«. Buch und/oder Netzliteratur? In: Digitalität und Literalität. Zur Zukunft der Literatur. Hrsg. von Harro Segeberg/Simone Winko. München: Wilhelm Fink 2005, S. 11–27, hier S. 15 [Herv. im Original].
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auch eigene Texte generiert und intermedial anreichert.15 Ein gesteigerter Konkurrenzkampf ist in diesem Kontext zudem unter den Literaturschaffenden auszumachen, denn auch etablierte Autor*innen stehen hier in direktem Vergleich mit Laien, die sich als Schriftsteller*innen ausprobieren und so gleichsam an den ›Torhütern‹ des literarischen Betriebs vorbei publizieren können. Daneben ist aber auch zu betonen, dass gerade durch das Internet sowohl neue Formen literarischer Konfigurationen als auch neue Möglichkeiten der Selbstinszenierung von Schriftsteller*innen entstehen,16 verstanden als »jene textuellen, paratextuellen und habituellen Techniken und Aktivitäten […], in oder mit denen sie öffentlichkeitsbezogen für ihre eigene Person, für ihre Tätigkeit und/ oder für ihre Produkte Aufmerksamkeit erzeugen«.17 Diese Praktiken sind dezidiert auf »öffentliche Resonanzräume« hin ausgerichtet und zielen auf »die Markierung und das Sichtbar-Machen einer sich abgrenzenden, wiedererkennbaren Position innerhalb des literarischen Feldes«18 ab. Dabei ist zentral, dass diese »Strategien der Selbst-ERFINDUNG und Selbst-Sicherung«19 nicht das Gegenteil von Authentizität sind,20 sondern dass sich in einem spezifischen Medium die Person in der Inszenierung enthüllt.21 Diese Praktiken der »Sicht15 Nicht nur technische Innovationen wie das Internet nehmen Einfluss auf die Veränderung von Autorschaftskonzeptionen seit dem Ende des 20. Jahrhunderts, sondern auch andere Faktoren: »Soziologische Generationsunterschiede, ein multimedialer Literaturbetrieb, der Einfluss elektronischer Medien auf die literarische Öffentlichkeit, eine veränderte Medienrezeption und Vereinheitlichungstendenzen einer globalen populären Kultur spielen in diesem Prozess wichtige Rollen« (Biendarra, Anke S.: Autorschaft 2.0: Mediale Selbstinszenierung im Internet (Deutschland/USA). In: Globalisierung und Gegenwartsliteratur. Konstellationen – Konzepte – Perspektiven. Hrsg. von Wilhelm Amann/Georg Mein/Rolf Parr. Heidelberg: Synchron 2010, S. 259–280, hier S. 259). Daneben sind auch die sich wandelnden Bedingungen der Marktwirtschaft besonders erwähnenswert, die den literarischen Betrieb stark determinieren, sodass »Schriftsteller gezwungen [sind], das eigene Buch und sich selbst als Ware zu vermarkten« (ebd., S. 261). 16 Vgl. Paulsen, Kerstin: Von Amazon bis Weblog. Inszenierungen von Autoren und Autorschaft im Internet. In: Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien. Hrsg. von Christine Künzel/Jörg Schönert. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 257–269, hier S. 258. 17 Jürgensen/Kaiser, Schriftstellerische Inszenierungspraktiken. 2011, S. 10. 18 Ebd. 19 Becker, Barbara: Selbst-Inszenierung im Netz. In: Performativität und Medialität. Hrsg. von Sybille Krämer. München: Wilhelm Fink 2004, S. 413–429, hier S. 416 [Herv. im Original]. 20 Dies macht beispielsweise Gerhard Kaiser deutlich: »Auch fungiert der Begriff der ›Inszenierungspraktiken‹ nicht als kulturkritischer, pejorativer Gegenbegriff zu diversen ›Authentizitäts‹-Vorstellungen im Sinne von ›Täuschung‹« (Kaiser, Gerhard: »Proust, Joyce and myself« – Zur Analyse von schriftstellerischen Inszenierungspraktiken am Beispiel des späten Thomas Mann. In: Doing Contemporary Literature. Praktiken, Wertungen, Automatismen. Hrsg. von Maik Bierwirth/Anja Johannsen/Mirna Zeman. München: Wilhelm Fink 2012, S. 169–189, hier S. 173). 21 Becker führt weiter aus, dass das jeweilige Medium eine Eigendynamik besitze, der sich die medial inszenierende Person aussetze (Becker, Selbst-Inszenierung im Netz. 2004, S. 416).
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barmachung und Präsenzsteigerung«22, die auch »ein Bestreben nach dem Dauerhaften« offenbaren und mit Thomas Homscheid auf eine »Automonumentalisierung«23 abzielen, haben eine lange Tradition, werden durch das Internet aber insofern noch gesteigert, als die nun potenziell zu erreichende Öffentlichkeit, auf die die Inszenierungspraktiken ja dezidiert ausgerichtet sind, unendlich groß ist und das Internet verschiedene »Medien der Autorschaft« wie das Interview und den Vortrag, also mit Urs Meyer gesprochen »intrikate Textformen«, die »seltsam zwischen autobiografischem und fiktivem Schreiben«24 changieren, kombiniert und so auch weiterentwickelt. In diesem Gefüge entfalten sich schriftstellerische Inszenierungspraktiken sowohl in Verlagshomepages und kommerziellen Websites, die vor allem für Informations- und Vermarktungszwecke genutzt werden, als auch in Foren und Mitschreibeprojekten, die die Autor*innen in Produktionsprozessen von internetbasierter Literatur inszenieren.25 Viele literarische Weblogs, um die es im Folgenden primär geht, stellen in dieser Hinsicht ein Hybrid dar, das einerseits Informationen über die Autor*innen bereithält sowie deren analoge Literatur bewirbt und in dem andererseits internetbasierte Literatur produziert und somit die »Inkohärenz der Hypertext-Kommunikation«26 verdeutlicht wird. Meine nun zu entfaltende These gliedert sich in zwei zusammenhängende Aspekte: Zum einen soll gezeigt werden, dass der von dem Schriftsteller Benjamin Stein betriebene Weblog »Turmsegler« ein Schreibort ist, der die Selbst-
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Diese Feststellung ist natürlich insofern einsichtig, als unterschiedliche Medien spezifische, die Inszenierungspraktiken beeinflussende Merkmale besitzen. Diese Überlegung könnte aber auch andersherum formuliert werden: Die sich inszenierenden Personen können bestimmte Medien gerade aufgrund dieser Eigendynamiken explizit auswählen. Eine strikte Trennung der jeweils eigenen Struktur bzw. der Spezifika der Medien wird darüber hinaus in dem Leitmedium Internet zumindest teilweise aufgehoben. Homscheid, Thomas: Automonumentalität – oder: Wie man sich zum literarischen Denkmal macht. Überlegungen zu produktionsästhetischen Strategien zeitgenössischer Autoren. In: Doing Contemporary Literature. Praktiken, Wertungen, Automatismen. Hrsg. von Maik Bierwirth/Anja Johannsen/Mirna Zeman. München: Wilhelm Fink 2012, S. 153–168, hier S. 155. Ebd., S. 154. Mit Bezug auf »produktionsästhetische Strategien und Konzepte […], derer Autoren sich bedienen, um zunächst gemäß einer ›Ökonomie der Aufmerksamkeit‹ Gehör zu finden und sich über Texte, Paratexte und Kontexte dauerhaft im öffentlichen Diskurs zu halten«, versteht Homscheid unter Automonumentalisierung »ein autorzentriertes Paradigma, das Techniken, Performanzen und Inszenierungen des Sich-Einschreibens in ein kulturelles Gedächtnis zusammenfassen soll« (ebd.). Meyer, Urs: Tagebuch, Brief, Journal, Interview, Autobiografie, Fotografie und Inszenierung. Medien der Selbstdarstellung von Autorschaft. In: Medien der Autorschaft. Formen literarischer (Selbst-)Inszenierung von Brief und Tagebuch bis Fotografie und Interview. Hrsg. von Lucas Marco Gisi/Urs Meyer/Reto Sorg. München: Wilhelm Fink 2013, S. 9–15, hier S. 9. Vgl. Paulsen, Von Amazon bis Weblog. 2007, S. 258. Meyer, Tagebuch, Brief, Journal, Interview, Autobiografie, Fotografie und Inszenierung. 2013, S. 12.
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darstellung des Autors in besonderer Weise befördert, was sich in Form der Inszenierung eines starken Autorschaftskonzepts manifestiert.27 Zum anderen soll dargelegt werden, dass Stein seine »produktionsgeleitete Reflexion des Schreibprozesses«28 im Sinne einer Poetik des »Turmseglers« als Transgression zwischen seinem Leben und seinen Texten bzw. als autofiktionales Spiel inszeniert, wodurch er nicht nur den Text, sondern auch sich selbst fingiert29 und dabei die Diskursebenen in einem Schwebezustand der Unbestimmtheit hält. Diese Konzeption offenbart nicht nur eine Verbindungslinie zwischen Steins analogen Werken und seiner digitalen Arbeit, sondern soll auch als ein solches Schreibexperiment verstanden werden, was wiederum auf die inszenierend eingenommene Position des starken Autors verweist.
2.
Der literarische Weblog »Turmsegler«
Weblogs bezeichnen heute vornehmlich Webseiten zu grundsätzlich beliebigen Themen, die von Einzelpersonen oder mehreren Betreiber*innen geführt werden.30 Dabei nutzen sie interne und externe Verlinkungen: Während Erstere die Seiten des eigenen Blogs miteinander verknüpfen, was mit einer Komplexitätssteigerung des Textes sowie in Bezug auf die Rezeptionsbedingungen mit einer 27 Das hier aufgerufene starke Autorschaftskonzept lehnt sich an Florian Hartlings theoretische Überlegungen zu den Autoren-Typen im Dispositiv Internet an. Er führt aus, dass neben kollaborativen, marginalisierten und dissoziierten Autorschaftskonzepten im Kontext der Internetliteratur auch ein ›klassisches‹ Verständnis von Autorschaft virulent sei, das an die »traditionelle Konzeption des ›Autors als Genie‹ anknüpft« (Hartling, Florian: Literarische Autorschaft. In: Literatur und Digitalisierung. Hrsg. von Christine Grond-Rigler/Wolfgang Straub. Berlin/Boston: de Gruyter 2013, S. 69–93, hier S. 82). Dieses Selbstverständnis zeichnet sich besonders dadurch aus, dass die Autor*innen »eine sehr ausgeprägte Vorstellung der Bedeutung ihrer Arbeit [haben], sie geben Interpretationsarten sogar vor und versuchen, jeden Aspekt der Literaturproduktion, vermittlung und rezeption zu kontrollieren. […] Je strikter die Kontrolle über die imaginierte Welt ausfällt, desto stärker ist auch das eigene Autorverständnis« (ebd., S. 79). Vgl. dazu auch: Hartling, Florian: Der digitale Autor. Autorschaft im Zeitalter des Internets. Bielefeld: transcript 2009. 28 Robert, Jörg: Poetologie. In: Handbuch literarische Rhetorik. Hrsg. von Rüdiger Zymner. Berlin/Boston: de Gruyter 2015, S. 303–332, hier S. 303. 29 Vgl. Wagner-Egelhaaf, Martina: Einleitung: Was ist Auto(r)fiktion? In: Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion. Hrsg. von Martina Wagner-Egelhaaf. Bielefeld: Aisthesis 2013, S. 7–21, hier S. 9. 30 Vgl. zur Internetliteratur- und Weblogforschung u. a.: Simanowski, Roberto: Interfictions. Vom Schreiben im Netz. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002; Scheucher, Christine: Figuren des Unmittelbaren. Zur Fortschreibung der Avantgarden im digitalen Raum. Berlin: Weidler 2007; Schmidt, Jan: Weblogs. Eine kommunikationssoziologische Studie. Konstanz: UVK 2006; Hautzinger, Nina: Vom Buch zum Internet? Eine Analyse der Auswirkungen hypertextueller Strukturen auf Text und Literatur. St. Ingbert: Röhrig 1999; Heibach, Christiane: Literatur im elektronischen Raum. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003.
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»Zunahme möglicher Lesarten«31 einhergeht, führen externe Links zumeist zu anderen Blogs, was eine sogenannte Blogosphäre konstituiert und zugleich ein Charakteristikum der Hypertexte in Form von Intertextualität pointiert, durch die sie sich mittels einer Verweisstruktur zu anderen Texten in Beziehung setzen und sich so kontextualisieren.32 Hiermit ist auch das Moment der Selbstreferenzialität angesprochen, durch das sich Blogs auszeichnen und worauf auch die strukturelle Verwandtschaft mit Tagebüchern hindeutet: Beide beinhalten eine fortlaufende und zugleich fragmentarische Erzählstruktur, die nicht auf ein konkretes Ende hin geschrieben ist; sie sind beide zwar persönlich, aber zumindest wenn sie von Autor*innen geführt werden, auch im Hinblick auf eine (mögliche) Publikation geschrieben,33 was sowohl eine spezifische Form der IchDarstellung34 als auch signifikante Praktiken der schriftstellerischen Inszenierung impliziert.35 Das die beiden Textsorten unterscheidende Medium ist indes 31 Winko, Lost in hypertext? 1999, S. 524. 32 Vgl. ebd. 33 Vgl. Berghofer, Simon: Dialogizität und [Inter]textualität im Internet. Zur kommunikativen Textgenese in literarischen Blogs. Eine theoretische Annäherung mit Bezug auf Rainald Goetz, Joachim Lottmann und Alban Nikolai Herbst, S. 50. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). 34 Vgl. Jürgensen, Ins Netz gegangen – Inszenierungen von Autorschaft im Internet. 2011, S. 407. 35 Neben einer Vielfalt innovativer literarischer Konfigurationen werden auch etablierte Formen in Blogs und der Internetliteratur tradierend fortgeführt. Dies gilt nicht nur für das Tagebuchschreiben, sondern auch für andere Formen, wie Nünning und Rupp exemplarisch anhand der »Beschreibung des Bloggens als neue Form des Bewusstseinsstroms« festhalten (Nünning, Ansgar/Rupp, Jan: ›The Internet’s New Storytellers‹: Merkmale, Typologien und Funktionen narrativer Genres im Internet aus gattungstheoretischer, narratologischer und medienkulturwissenschaftlicher Sicht. In: Narrative Genres im Internet. Theoretischer Bezugsrahmen, Mediengattungstypologie und Funktionen. Hrsg. von Ansgar Nünning/Jan Rupp/Rebecca Hagelmoser/Jonas Ivo Meyer. Trier: WVT 2012, S. 3–50, hier S. 4). Thomas Ernst benennt in diesem Zusammenhang noch »die Anekdote, die kritische Essayistik, das politische Manifest oder kurzprosaische Formen« (Ernst, Thomas: Weblogs. Ein globales Medienformat. In: Globalisierung und Gegenwartsliteratur. Konstellationen – Konzepte – Perspektiven. Hrsg. von Wilhelm Amann/Georg Mein/Rolf Parr. Heidelberg: Synchron 2010, S. 281–302, hier S. 291). Dagegen konstatiert er aber auch, dass für die »großen Erzählgenres des literarischen Kanons (wie Roman, Erzählung oder Novelle)« (ebd.) die Blogeinträge aufgrund ihrer kurzen und schnellen Form nicht geeignet seien. Abgesehen davon, dass ein ganzer Bereich des literarischen Kanons – die Lyrik – hier unerwähnt bleibt, obwohl sie mit dem dargelegten Kriterium der ›kurzen‹ Blogeinträge korrespondiert, und gerade die Länge von z. B. der Novelle in der literarischen Praxis kaum auf eine Norm festzulegen ist (was übrigens auch für die Länge der Blogeinträge gilt, die keinesfalls immer kurz sind), wird hier eine typische Form des literarischen Online-Publizierens übersehen, die auf eine lange Tradition zurückgeht: die Fortsetzung. Dies ist nicht nur ein Merkmal von Benjamin Steins literarischen Texten, die er im Blog oft an aufeinanderfolgenden Tagen veröffentlicht und durchnummeriert, sondern beispielsweise auch für Elfriede Jelineks ›Privatroman‹ »Neid«, den sie ausschließlich auf ihrer Homepage publizierte. Letzterer ist auch ein Beleg dafür, dass
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relevant, denn Betreiber*innen literarischer Weblogs verwenden es zumeist nicht nur, sondern reflektieren auch dessen ästhetische Möglichkeiten. Dabei zeichnen sich Blogs nicht nur durch die Merkmale internetbasierter Literatur aus – sie sind interaktiv, multimedial und nicht-linear –, sondern sie weisen im Gegensatz zu Tagebüchern auch eine explizite Gegenwartsnähe auf, sodass die Rezipierenden in eine Situation versetzt werden, die es ihnen ermöglicht, die Werkgenese mitverfolgen – und ggf. eben auch kommentieren – zu können. Diese Aspekte sind auch für den Blog »Turmsegler« bedeutsam, der sich in neun mitunter überschneidende Bereiche gliedert, darunter die sogenannten »Seiten«, die mit eher statischem Charakter der unidirektionalen Informationsvermittlung dienende Angaben subsumieren, wie das Impressum, das Benjamin Stein als Betreiber des Blogs benennt und über dessen Langzeitarchivierung im Deutschen Literaturarchiv Marbach sowie im Projekt Dilimag der Universität Innsbruck Auskunft gibt.36 Ein Bereich der Internetseite, der hier von besonderem Interesse ist, umfasst die »Kategorien«, denen weit über 1.400 Beiträge zugeordnet sind, die zusätzlich von Tags als einer weiteren hyperlinkbasierten Navigationsmöglichkeit begleitet werden, wobei nicht alle Tags eine eigene Kategorie bilden – so finden sich z. B. unter den einzelnen Beiträgen häufig die Namen anderer Schriftsteller*innen verschlagwortet, sie bilden aber keine der insgesamt 23 Kategorien. Neben der umgekehrten Chronologie der Posts und der fast immer freigeschalteten Kommentarfunktion sind gerade diese Möglichkeiten der dynamischen Verknüpfung unterschiedlicher Einträge und dementsprechend auch verschiedener Informationen charakteristisch für Weblogs. Das breite inhaltlich-thematische Feld der Kategorien wird bereits durch deren Überschriften offenbar: Sie sind mit Steins Romantiteln überschrieben, mit Gattungsbezeichnungen, mit anderen Medien wie Film und Fotografie oder auch mit dem Begriff Poetik. Die einzelnen Beiträge können auch mehreren Kategorien zugeordnet sein, was zum einen die dynamische Netzstruktur des Blogs durch hypertextuelle Verbindungen besonders hervorhebt, zum anderen aber auch deutlich den Blogautor Stein in einer kohärenz- und sinnstiftenden Funktion zeigt, indem er die Kategorien initiiert und durch die vorgenommene Zuordnung die Zusammenhänge, Beziehungen und Querverbindungen zwischen den einzelnen Textbausteinen erst generiert.37 sich die einzelnen Einträge keinesfalls immer durch einen geringen Textumfang auszeichnen. Vgl. Elfriede Jelineks Homepage: (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). 36 Vgl. Stein, Benjamin: Impressum. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). 37 Vgl. zu dieser Funktion auch Winko, Lost in hypertext? 1999, S. 528. Allein anhand dieser Funktion kann schon argumentiert werden, dass sowohl die von der einen Seite unterstellte Beliebigkeit der Internetliteratur als auch der von der anderen Seite postulierte Befreiungs-
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Dabei stellt dieses Verfahren nicht nur die technische Seite des Blogs dar, sondern manifestiert sich ferner auf inhaltlicher Ebene, denn der »Turmsegler« ist als eine digitale und multimediale Schreibwerkstatt konzeptualisiert, in der auch literarische Texte Steins gepostet und mit Materialien wie Fotografien, Dokumentationen und Audiodateien unterlegt werden. Die Textauszüge stellt Stein durch die Kommentarfunktion stets implizit, durch Fragen an ›die Turmsegler‹, z. B. in Bezug auf die Verständlichkeit,38 oder durch Dialogaufforderungen wie »Hört eigentlich noch jemand mit?«39 aber auch vermehrt explizit zur Disposition. Zudem finden sich in den einzelnen Beiträgen Reflexionen über das literarische Schreiben und die damit einhergehenden Emotionen wie Angst40, Frustration41, »Katastrophenstimmung«42 oder Freude43 sowie Berichte über konkrete Produktionsschritte im Zusammenhang der Publikation seiner analogen Werke, beispielsweise die Prozesse des Lektorats, das Stein als »Demutsübung«44 bezeichnet.
3.
Schriftstellerische Inszenierungspraktiken im »Turmsegler«
Obwohl viele Posts von Benjamin Stein, der unter Klarnamen innerhalb seines Blogs agiert, einen direkten Bezug zu seinem Privatleben aufweisen, inszeniert er sich hier primär als Literaturrezipierender und schaffender. Zwar werden diese beiden Aspekte durchgehend beibehalten, allerdings ist eine Verschiebung wahr-
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schlag der Rezipierenden im Kontext des Verfahrens der Hyperlinkstruktur deutlich zu kurz greifen. Vgl. exemplarisch: Stein, Benjamin: »So geht das nicht« vom 1. Februar 2008. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020); Ders.: »Mittelgambit« vom 30. Januar 2011. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). Stein, Benjamin: »Die Leinwand (Z.03)« vom 7. März 2008. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). Vgl. Stein, Benjamin: »Mit Haien und Rochen Auge in Auge« vom 3. Juli 2008. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020); Ders.: »Wear it like a crown« vom 21. Dezember 2010. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). Vgl. Stein, Benjamin: »Am offenen Herzen« vom 12. November 2008. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). Stein, Benjamin: »Horror der Zielgeraden« vom 25. September 2008. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). Beispielsweise: »Das Verhör-Kapitel zu schreiben, macht einen Heidenspaß« (Stein, Benjamin: »Dramaturgie eines Verhörs (II)« vom 7. Oktober 2008. [letzter Zugriff: 20. 10. 2020]). Stein, Benjamin: »Lektorat (IV)« vom 17. November 2008. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020).
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zunehmen:45 Während der Initiationsgedanke für den »Turmsegler« darauf abzielte, anstatt lediglich eine Blog-Sammlung von Gedichten und Prosa-Exzerpten zu archivieren, ein reflektierendes Lesen verschiedener literarischer Texte anderer Autor*innen zu dokumentieren,46 bildet der Blog schon bald darauf ein eigenes ästhetisches Laboratorium. Entsprechend dieser literaturaffinen Rahmung weisen die Einträge Steins auch kaum Charakteristika der für viele digitale Formate typischen Schreibweisen des Gesprochenen oder eine größere Anzahl von Tippfehlern auf, sondern unterliegen den Maßstäben der Schriftsprache,47 was den Konstruktionscharakter der hier veröffentlichten Posts, die einer Sondierungs- und Reflexionsarbeit unterliegen, schon auf sprachlicher Ebene hervorhebt.48 Auffällig ist zudem, dass viele Beiträge verschiedene Textebenen beinhalten, die jeweils unterschiedlich markiert sind. So werden Zitate mit einem vertikalen Strich in Blocksatz eingerückt und in einer helleren Schriftfarbe vom übrigen Text abgesetzt. Auch Steins eigene Kommentare, die z. B. seine Schreibreflexionen zum Ausdruck bringen, werden mittels eines optischen Hinweises hervorgehoben, indem sie mehrenteils mit der Grafik von drei Punkten »•••« beginnen. Seine literarischen Textauszüge werden indes nicht gesondert ausgewiesen. Ein Merkmal der im Weblog angelegten Autorinszenierung Steins umfasst die Deutungshoheit über seine eigenen Texte. Dies zeigt sich dann, wenn Stein selbst Interpretationen und Deutungsaspekte seiner literarischen Werke vorgibt, was den Blog auch in seiner paratextuellen Funktion hervorhebt, die auf die Rezipient*innenlenkung und damit auf Vermittlungsprozesse sowohl des »Turmseglers« als auch seiner analogen Texte ausgelegt ist. In diesem Sinne konstatiert auch Claudia Öhlschläger: »Fast ist man geneigt, den literarischen Weblog als 45 Vgl. Stein, Benjamin: »Turmsegler bei DILIMAG« vom 17. August 2009. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). 46 Vgl. z. B. Stein, Benjamin: »Ein Fall fürs Archiv« vom 15. Mai 2009. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). 47 Dies wird von Stein auch expliziert, wenn er den Unterschied zwischen den Blogeinträgen im »Turmsegler«, die eine besondere Sorgfalt erfordern, und Tweets bzw. Facebook-Posts deutlich macht, die nebenbei verfasst werden könnten (vgl. Stein, Benjamin: »Kurzer Monatsrückblick« vom 31. März 2012. [letzter Zugriff: 20. 10. 2020]; vgl. Ders.: »Pinocchio in Leipzig« vom 19. März 2012. [letzter Zugriff: 20. 10. 2020]). 48 Cornelius Puschmann verdeutlicht, dass der Schreibstil in verschiedenen Blogs deutlich variiert, was von den Blogger*innen bzw. deren Professionalisierungsgrad im Sinne der Schreiberfahrung abhänge, aber auch von dem verfügbaren Genrerepertoire, das in den Blog einfließe, von den vorgestellten Rezipient*innen und den kommunikativen Zielen, die mit dem Blog verfolgt würden (vgl. Puschmann, Cornelius: Technisierte Erzählungen? Blogs und die Rolle der Zeitlichkeit im Web 2.0. In: Narrative Genres im Internet. Theoretischer Bezugsrahmen, Mediengattungstypologie und Funktionen. Hrsg. von Ansgar Nünning/Jan Rupp/Rebecca Hagelmoser/Jonas Ivo Meyer. Trier: WVT 2012, S. 93–114, hier S. 104–111).
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einen Paratext in Großformat zu bezeichnen, als eine ins Zentrum gestellte Fußnote, die die Ordnung der Dinge umkehrt, indem sie die Peripherie zum Zentrum macht.«49 Beispiele für diese paratextuelle Funktion finden sich in zahlreichen Einträgen des Blogs und zu allen literarischen Texten von Stein – so wird u. a. angeführt, dass die 22 Kapitel der »Leinwand« eine Reminiszenz an seinen Roman »Das Alphabet des Rabbi Löw« sowie an die 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets darstellen,50 es wird die Bedeutung des Figurennamens Amnon Zichroni erörtert51 oder Stein legt offen, welche Personen sich hinter den Namen seiner Danksagung im Roman »Replay« verbergen.52 Die Konzeption einer starken Autorschaft korrespondiert zudem mit der Darstellung Steins als Teil des literarischen Betriebs. Ein Beitrag, der die Leipziger Buchmesse thematisiert, führt dies exemplarisch vor: »Der Strahlkraft, die man doch braucht für solche Präsentationstage, ist eine solche [emotional belastete – S. W.] Gemütslage nicht eben förderlich. Aber sind wir nicht Profis unterdessen? Da gelingt das lockere Lächeln eben doch, der charmante Smalltalk, der Vortrag, die geschmeidigen Antworten auf alle möglichen Sorten von Fragen. Und es wurde auch besser im Laufe der Tage. Dafür verantwortlich waren die angenehmen Wieder- und Neubegegnungen, intensive freundschaftliche Gespräche mit meinem Lektor, Dummheiten und Ernstschwätzen mit Kollegen.«53
Dieser Blick hinter die sonst verschlossenen Kulissen – nicht nur in Bezug auf seine Person und seine Tätigkeiten, sondern auch mittels zahlreicher namentlich angeführter Akteur*innen in den literarischen Betrieb – wird flankiert und unterstützt von einem Foto, eine allgegenwärtige Praxis im »Turmsegler«, das seine Suggestionskraft durch die Perspektive der Aufnahme aus dem nichtöffentlichen Messebereich heraus auf den Messestand des Beck-Verlags noch potenziert. Die Ästhetik des Schnappschusses verstärkt die Flüchtigkeit dieses Einblicks. Dass dieses Bild aber wohl mehr als ein nur zufällig entstandenes Foto ist, zeigt sich an der Reihe der Autorenfotos im Hintergrund an der Wand – das Verlagsporträt von Stein bildet das Zentrum des gesamten Fotos.
49 Öhlschläger, Claudia: Zum Konzept literarischer Weblogs. In: spa_tien. Zeitschrift für Literatur 6 (2008), S. 57–73, hier S. 73. 50 Vgl. Stein, Benjamin: »Die Rechnung wird präsentiert« vom 3. August 2008. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). 51 Amnon verweise auf Amnesie, Zichroni auf das hebräische Wort ›erinnern‹, sodass es sich hier, ebenso wie bei Wechsler, um einen »ganz und gar symbolische[n] Namen« handele (Stein, Benjamin: »Zichroni vs. State of Israel« vom 15. Januar 2009. [letzter Zugriff: 20. 10. 2020]). 52 Vgl. Stein, Benjamin: »Danksagungen und andere Knobeleien« vom 10. Februar 2012. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). 53 Stein, Pinocchio in Leipzig. 2012.
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Indes setzt sich der Schriftsteller auch an vielen Stellen dezidiert kritisch mit den Instanzen des literarischen Betriebs auseinander. Dies ist nicht zuletzt hinsichtlich der Funktion des »Turmseglers« bedeutsam, da hier nicht nur an den »traditionellen Ordnungsagenturen«54 vorbeigeschrieben wird, sondern Stein sich mit dem Blog auch einen Raum schafft, in dem er eine Sprecherposition in Aushandlung mit den etablierten Instanzen des Systems einnimmt. Offenkundig wird dies besonders dann, wenn Stein verschiedene Rezensionen seiner analogen literarischen Texte in seinem Blog nicht nur zitiert oder verlinkt, sondern auch bewertet.55 Dies gilt sowohl für seine lobende56 als auch für seine kritische und korrigierende57 Stellungnahme, was nochmals die bereits angesprochene einge54 Dies hält Zintzen für literarische Blogs im Allgemeinen fest. Zintzen, Christiane: Blogliteratur: Medium oder Message? Am Beispiel der Plattform litblogs.net – Literarische Weblogs in deutscher Sprache. In: (Ver)Führungen. Räume der Literaturvermittlung. Hrsg. von Meri Disoski/Ursula Klingenböck/Stefan Krammer. Innsbruck/Wien/Bozen: Studien Verlag 2012, S. 84–104, hier S. 94. 55 Neben den Rezensionen zu seinem eigenen literarischen Werk kritisiert Stein die Instanzen des literarischen Betriebs auch in einem anderen Kontext. Grundlage für seinen Roman »Die Leinwand« ist der Skandal um Binjamin Wilkomirskis Buch »Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948«, mit dem sich Stein auch im »Turmsegler« dezidiert auseinandersetzt. In diesem Kontext referiert er die einzelnen Schritte des Skandals um Wilkomirski und kommentiert anschließend: »Kaum liegen die Fakten auf dem Tisch, beginnt das literarische Establishment (Agentur, Verlage, Feuilleton) mit Unterdrückungsversuchen. Der Artikel kann in ›passagen‹ nicht erscheinen, wird jedoch in der ›Weltwoche‹ veröffentlicht. Als Verschweigen nicht mehr hilft, wird das Buch nicht etwa vom Markt genommen. Im Gegenteil – ein handfester Skandal ist schliesslich verkaufsfördernd! Was Ganzfried hier an Machenschaften beschreibt, könnte leicht reichen, nie wieder in einem so genannten ›Publikumsverlag‹ veröffentlichen zu wollen« (Stein, Benjamin: »… alias Wilkomirski« vom 12. Januar 2008. [letzter Zugriff: 20. 10. 2020]). Vgl. zu Benjamin Steins literarischer Verarbeitung des Skandals im Roman »Die Leinwand«: Willeke, Stephanie: Der unzuverlässige Zeuge – Störungen im Erinnerungsdiskurs ›Shoah‹. In: Trauma-Erfahrungen und Störungen des ›Selbst‹: Mediale und literarische Konfigurationen lebensweltlicher Krisen. Hrsg. von Carsten Gansel. Berlin/Boston: de Gruyter 2020, S. 209–228. 56 Vgl. beispielsweise: »Außerordentlich gern habe ich gelesen, was Ijoma Mangold über ›Die Leinwand‹ schreibt […]« (Stein, Benjamin: »Religion ist kein Wunschkonzert« vom 8. April 2010. [letzter Zugriff: 20. 10. 2020]). 57 Hier sei nur exemplarisch der Kommentar Steins zur Rezension von Verena Auffermann angeführt: »›Die Leinwand‹ ist mein dritter veröffentlichter Roman [und nicht der zweite, wie Frau Auffermann schrieb – S. W.]. Der Autor, auf dessen Fall die Figur Minsky Bezug nimmt, heißt nicht Benjamin Wilmorski sondern Binjamin Wilkomirski. Minsky war nie Patient von Amnon Zichroni. Dass die Presse dies fälschlich wieder und wieder behauptete, hat Zichroni die Existenz gekostet. Das ist ein zentrales Thema im Zichroni-Strang der ›Leinwand‹. Frau Auffermann macht es den Journalisten von damals nach, pikant. Dass es sich schließlich bei dem Showdown in Moza nicht um einen Mord gehandelt haben kann, weil sowohl Zichroni als auch Wechsler ihre Versionen der Geschichte nach diesem Ereignis erzählen, ist der Aufmerksamkeit der Rezensentin auch entgangen. Schade eigentlich. Wenn dieser im Tenor so positive Beitrag auch noch sachlich richtig gewesen wäre … Naja, sagt mein Schwager oft:
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nommene Deutungshoheit über seine Texte unterstreicht. So schreibt er beispielsweise über die Buchbesprechung der »Leinwand« in der »Süddeutschen Zeitung«: »Jetzt kann man nur hoffen, dass bald jemand Burkhard Müllers Vermutung widerspricht, Zichroni und Wechsler könnten die selbe Person sein. Gewagte These. Zichroni ist immerhin 15 Jahre älter als Wechsler …«58 Noch energischer und in Hinblick auf die Autorinszenierung interessant ist die Kommentierung der Rezension seines Romans »Replay« durch Lothar Müller, ebenfalls in der »Süddeutschen Zeitung«. Dieser attestiert dem literarischen Text u. a. die »sprachliche[] Konvention eines gängigen realistischen Softpornos« und bezeichnet es als ein »müßiges Spiel«, wenn der Protagonist Ed Rosen »seine jüdische Herkunft und Identität hervorkehrt«.59 Stein leitet seine Bemerkung damit ein, dass die »Süddeutsche Zeitung« sieben Monate nach Erscheinen den Roman »Replay« nun »zur Kenntnis, wenn auch nicht wirklich wahr« genommen habe. Nachdem Stein die Rezension seinerseits kritisiert hat, verweist eine Kommentatorin auf den Goethe zugesprochenen Satz: »[M]an solle einem Kritiker nur antworten, wenn der behauptet, man habe ein Dutzend silberner Löffel gestohlen.«60 Stein reagiert umgehend auf diesen Einwurf und konstatiert, dass der Rezensent hier eben nicht ausschließlich das literarische Werk, sondern ihn als Autor mit kräftigem Vokabular angreife, daher »sei eine ebenso persönliche Erwiderung in aller Kürze gestattet«.61 Dies verweist nicht nur auf die Sprecherposition Steins in seinem Blog, sondern impliziert auch eine Kopplung von Kunstwerk und Autor, auf deren Trennung Stein zuvor im Kontext des Romans »Die Leinwand« noch vehement bestanden hatte. So finden sich zwei Blogeinträge, die sich als Reaktion auf die erfolgreiche Publikation dieses Romans dezidiert mit Steins Leben beschäftigen. Er moniert hier persönliche Fragen und die Methoden des Etikettierens durch Journalisten, wobei sich seine Kritik besonders auf zwei Aspekte bezieht: auf die Frage nach seinem jüdischen Glauben62 und auf das »Eindringen des öffentlichen Interesses in die Privatsphäre von Literaten«, das er als ein »neueres Phänomen« bezeichnet: »Heute, so scheint es, muss man als Autor den Seelenstripper geben, als wäre man selbst das
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Man kann nicht alles haben« (Stein, Benjamin: »Die Finten der Identität« vom 7. Juli 2010. [letzter Zugriff: 20. 10. 2020]). Stein, Benjamin: »Gegenfüßler auf schwankendem Boden« vom 22. Februar 2010. (letzter Zugriff: 20. 10.2020). Stein, Benjamin: »Hölle ohne Feuer« vom 27. August 2012. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). Ebd. Ebd. »Denn das jüdische wie das deutsche Verhältnis zu dieser Frage ist nach der Shoah und bis heute ein – um es gelinde zu sagen – neurotisch belastetes, wenn nicht Schlimmeres« (Stein, Benjamin: »Der Autor als Seelenstripper« vom 3. Juni 2010. [letzter Zugriff: 20. 10. 2020]).
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›Kunstwerk‹ und nicht die Literatur, die man vorgelegt hat. Das ist eine bedenkliche Entwicklung. Der Literatur oder auch nur ihrem Verständnis dient das sicher nicht.«63 Trotzdem führt er in diesem Zusammenhang recht ausführlich aus, dass bzw. in welchen Schritten er zum Judentum konvertierte: »Das erste Mal ›konvertiert‹ bin ich mit 21, leider reformiert, so dass ich, als ich nach München kam, vom Rabbinat zu hören bekam: Sie können nicht Gemeindemitglied werden, denn Ihre Papiere können wir nicht anerkennen. Ich überspringe die Details, kann aber versichern, dass für mich absolut zutrifft, was Jan Wechsler über sich sagt: ›Ich habe Erfahrung darin, ein Leben für ein anderes aufzugeben.‹ Hinter mir liegen zwei ›Konversionen‹, ich habe meine Frau dreimal heiraten dürfen: bürgerlich (2001), reformiert (2002) und dann noch einmal orthodox hier in München (2004).«64
Dieses zunächst inkonsistent wirkende Verhalten, wenn Stein einerseits die Relevanz biografischer Details aus dem eigenen Leben für die Textinterpretation explizit verneint und andererseits dem Bedürfnis nach einer solchen Referenzialisierbarkeit im Rahmen des literarischen Blogs aber dennoch nachkommt, stellt das Merkmal der Autofiktion, ein reziprokes Verhältnis der Klassifikationskategorien des Autobiografischen und Fiktionalen, besonders deutlich heraus. Denn Stein konstruiert im Sinne einer Selbsterzählung hier nicht nur einen Ausschnitt aus seinem Leben,65 sondern er zitiert in diesem Gefüge seine Figur Jan Wechsler – also seinen eigenen Roman – und stellt darüber hinaus auch noch eine Verbindung zwischen sich und der Figur her. Hiermit ist der zweite, die Poetik des »Turmseglers« betreffende Teil meiner These angesprochen: die inszenierte Verschränkung von Leben und literarischem Werk.
4.
Verschränkungen von Leben und Fiktion als ästhetische Praxis
Eine Verbindung von Steins Leben und seiner Literatur manifestiert sich im Blog auf zumindest drei Ebenen: der expliziten Reflexion dieses Zusammenhangs, der Darstellung in praxi und als ein auf den Hyperlinks basierendes strukturelles Element. Die reflektierende Ebene wird besonders in der Auseinandersetzung Steins mit Positionsbestimmungen anderer Autor*innen deutlich, wie beispielsweise in seinen metareflexiven Überlegungen über das literarische Bloggen 2011 anlässlich der Publikation von Alban Nicolai Herbsts Buch »Kleine Theorie des Lite-
63 Ebd. 64 Ebd. 65 Vgl. zur Theorie autobiografischer Texte als Konstruktion: Wagner-Egelhaaf, Martina: Autobiographie. 2. aktual. und erw. Aufl. Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 60–65.
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rarischen Bloggens«.66 Neben zahlreichen technischen und strukturellen Aspekten des Weblogs, die sich Steins Meinung nach auch in der Poetologie des Bloggens niederschlagen müssten,67 wird an dieser Stelle auch das Gravitationszentrum der Debatte um internetbasierte Literatur in den Blick genommen: das Verhältnis von Autor*in und Leser*in. Dies liegt insofern nahe, als Herbst eine radikale Position der Grenzaufhebung sowohl zwischen diesen Kategorien als auch zwischen Fakt und Fiktion vertritt, indem er sein eigenes Leben konsequent als Roman begreift und alle im Blog kommentierenden Rezipierenden, ebenso wie der Autor selbst, »zu Figuren in diesem Roman« werden.68 In Abgrenzung zu der Poetologie von Herbst bringt Stein für sich zum Ausdruck: »Weder möchte ich die Leser permanent zu Besuch in meinem Arbeits- oder gar Wohnzimmer haben, noch möchte ich permanent in deren Leben zugegen sein. Eher als Gast auf einen inspirierenden Besuch, der natürlich gern auch lange nachwirken darf.«69 Damit wird hier eine explizit separierende Auffassung der Kategorien Autor*in und Leser*in deutlich, die wiederum mit der inszenierten starken Autorrolle Steins korrespondiert. Die ebenfalls von Herbst postulierte Verschränkung von Leben und Fiktion wird indes an anderer Stelle expliziert, nämlich wenn Stein den Artikel »Ichzeit« von Maxim Biller in der »Frankfurter Allgemeine Zeitung« kommentiert und in diesem Kontext seiner eigenen Affinität zu autodiegetischen Erzählern nachgeht. Biller schreibt über Rainald Goetz, der mit »Abfall für Alle« 1998 den ersten Vorläufer literarischer Weblogs verfasst hatte, dass es für Goetz keinen Unterschied zwischen seinem Leben und seinem Werk gebe. Dazu führt Stein an: »Ich möchte nach wie vor nicht jedes meiner Bücher durchleb(t hab)en müssen. Allerdings bin ich auch nach wie vor unsicher, ob es vermeidbar ist.«70 Steins Haltung zu dieser Verschränkung von Leben und Kunst, von Fakt und Fiktion ist also nur vermeintlich ablehnend, klammert er 66 Vgl. Stein, Benjamin: »Kleine Theorie des Literarischen Bloggens« vom 17. Oktober 2011. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). 67 Stein schlägt beispielsweise ein Weblog-Wiki-Hybrid vor und macht sich Gedanken über den Traffic, vor allem im Kontext von Möglichkeiten der Bindung von Rezipierenden, aber auch über den Umgang mit Trollen, die in Herbsts Blog häufig auftreten und dann auch den Beitrag von Stein über Herbsts Poetologie kommentieren (vgl. ebd.). 68 Vgl. zum poetologischen Konzept des literarischen Bloggens bei Alban Nicolai Herbst u. a.: Herbst, Alban Nicolai: Kleine Theorie des Literarischen Bloggens. Bern: etkbooks 2011; Ders.: Schöne Literatur muss grausam sein. Aufsätze und Reden I. Berlin: Kulturmaschinen 2012; Kreknin, Innokentij: Kybernetischer Realismus und Autofiktion. Ein Ordnungsversuch digitaler poetischer Phänomene am Beispiel von Alban Nicolai Herbst. In: Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion. Hrsg. von Martina Wagner-Egelhaaf. Bielefeld: Aisthesis 2013, S. 279–314. 69 Stein, Kleine Theorie des Literarischen Bloggens. 2011. 70 Stein, Benjamin: »Die Literatur der Ichzeit« vom 24. Oktober 2011. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020).
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diese Synthese mit dem Nachsatz doch wieder ein, macht sie sogar potenziell zum Kriterium für (sein) literarisches Schaffen. In diesem Sinne beantwortet Stein auch die Frage eines Rezipienten, ob er die Ich-Form präferiere, weil er damit näher am Text oder näher bei sich sei: »Näher an der Figur, die spricht, würde ich sagen. Manchmal so nah, dass es zu Vermischungen kommt.«71 Und in einem anderen Post schreibt er: »Ich kann mich nicht erinnern, je in einer Situiation [sic!] gewesen zu sein, in der Leben und Literatur so eng beieinander waren. Alles, so scheint es mir, was im Moment geschieht, gehört zu meinem Leben. Es könnte aber ebenso Teil des Romans sein. Wie geht man um damit?«72 Neben solchen reflektierenden Passagen, die einerseits »das Leben im Licht des Textes wahrnehmbar [machen] und andererseits die Textproduktion als Teil des beschriebenen Lebens [begreifen]«73, stellen zahlreiche Beiträge das Ineinandergreifen von Leben und literarischem Werk im Sinne eines evozierten Konnexes zwischen dem Autor und seinen Figuren auch als ästhetische Praxis aus. Sie stehen vornehmlich im Zusammenhang der Romangenese der »Leinwand«, deren zentrales Thema eben diese Interferenz in Verbindung mit Identitätsfragen ist, wodurch ein intermediales Beziehungsgeflecht zwischen Roman und Blog deutlich erkennbar wird. In der entsprechenden Blog-Kategorie »Die Leinwand« wird dann auch von Stein in einem metareflexiven Gestus angekündigt, dass hier nun alle Beiträge zusammengefasst werden, die um das Buchprojekt kreisen, wie z. B. seine Recherchereise nach Israel, und er damit mehr als ursprünglich geplant von seinem Buch preisgeben wird.74 In diesem Sinne beginnt der Beitrag »Nach Jerusalem« mit den zunächst rein persönlich anmutenden Informationen, dass Stein am Donnerstagabend in Tel Aviv landen und von dort weiter nach Herzliya reisen wird, um dann am Freitag am Meer zu sein.75 Auch im darauffolgenden Eintrag »Alles fügt sich zusammen« dominiert zunächst Persönliches, wie die Information, dass der Koffer gepackt und eine Verabredung für den Schabbat in Ofra getroffen sei. Nach der Auflistung fünf potenzieller Romanfiguren fährt Stein fort: »Die Hauptfigur, mit deren Einführung der Text auch beginnen wird, ist Amnon Zichroni, der besagte Analytiker auf seinem ›Ausstiegstrip‹. Er hat seinen Koffer gepackt. Morgen wird er gegen 18:30 Ortszeit, aus Zürich kommend, in Tel Aviv eintreffen. Gut möglich, dass ich ihm begegne, denn ich sollte nur wenige Minuten vor ihm dort landen. Er wird nach Herzliyah reisen, um einen seiner 71 Ebd. 72 Stein, Benjamin: »Überschneidungen« vom 21. Februar 2008. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). 73 Wagner-Egelhaaf, Was ist Auto(r)fiktion? 2013, S. 12. 74 Vgl. Stein, Benjamin: »Nach Jerusalem« vom 25. Dezember 2007. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). 75 Vgl. ebd.
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Schüler zu besuchen, der inzwischen an der dortigen Universität lehrt. Er wird tags darauf im Meer baden und gegen Mittag nach Ofra aufbrechen, um dort Schabbat zu verbringen …«76
Nicht nur die Parallelität der Handlungen des Packens und Reisens, sondern auch die Möglichkeit eines Treffens verbinden den Autor mit seiner gerade als eine solche ausgewiesenen Figur. Durch die unterschiedliche Rahmung – erst privat, dann literarisch – zeigt Stein den Transformationsprozess seines Schaffens auf und führt so das Spiel von Fakt und Fiktion deutlich vernehmbar vor, stellt dabei aber auch die vermeintlich eindeutige Beobachterposition bzw. Referenzialisierbarkeit als konsistentes Orientierungsmuster in Frage. Dies wird im Folgenden noch weitergesponnen: So habe Amnon Zichroni Benjamin Stein in Tel Aviv durch einen Taxifahrer einen Zettel zukommen lassen77 und für ihn einen Brief im Hotel abgegeben, in dem er Vorschläge für eine eventuell passende Mikveh macht, ein rituelles Tauchbad, das Stein als wichtiges Motiv des Romans dient.78 Noch weiter wird diese vermeintliche Kontaktaufnahme im Kontext einer Postkarte fingiert: Stein berichtet im Beitrag »Eine Karte aus Jerusalem«, dass die an seine Kinder adressierte Karte von seiner Recherchereise nun zu Hause eingetroffen sei. Dabei habe ein Zettel auf der Rückseite der Postkarte mit folgendem, im Blog durch die übliche Zitatmarkierung hervorgehobenen Inhalt geklebt: »Lieber unbekannter Freund, ich darf Sie doch so nennen? – Sie bedauern vielleicht, dass wir keine Gelegenheit hatten, uns in Yerushalayim persönlich zu treffen. Aber das sollten Sie nicht. Es ist mir sehr recht, dass Sie zunächst selbst versuchen, sich ein Bild von mir zu machen, bevor ich Sie mit meinem Bild von mir bekannt mache. Ich bin sicher, wir werden uns bald von Angesicht zu Angesicht gegegenüberstehen [sic!]. Ich grüsse Sie herzlich Ihr Amnon Zichroni«79
Dieser, wie Stein es ausdrückt, »rätselhafte« Umstand lässt die Figur in ihren Handlungen nicht nur wie eine reale Person erscheinen, sondern ruft an dieser Stelle auch den Unmut eines »Turmsegler«-Lesers hervor: »Mein lieber: Mit Vergnügen habe ich deine Reise nach Jerusalem verfolgt, und gelesen was du da erlebt und beschrieben hast. Ich habe Dir sogar die immer wieder kehrenden 76 Stein, Benjamin: »Alles fügt sich zusammen« vom 26. Dezember 2007. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). 77 Vgl. Stein, Benjamin: »18 Jahre Verspätung« vom 27. Dezember 2007. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). 78 Vgl. Stein, Benjamin: »Massadah« vom 1. Januar 2008. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). 79 Stein, Benjamin: »Eine Karte aus Jerusalem« vom 14. Januar 2008. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020).
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›eben nicht stattgefundenen‹ Treffen und die klandestinen Hinweise, die du scheinbar bekommen hast, nicht krumm genommen, weil ich sie für eine literarische Freiheit deines neuen Projektes hielt. Aber langsam gehst Du zu weit :) Postkarten des Unbekannten zu dir nach Hause? Was kommt als nächstes?«80
Deutlich wird hier, dass der Rezipient die bisherigen Blogeinträge, die die Recherchereise thematisieren, im Rahmen eines Fiktionspaktes – und damit als fiktiv – decodiert hat. Eine solche Lesart könnte auch für diesen Eintrag geltend gemacht werden, führt Stein hier doch eigentlich die Liste der fiktiven Kontaktaufnahmeversuche der Figur Zichroni lediglich fort, allerdings mit dem signifikanten Unterschied des erzählten Raumes. So scheint sich der hier artikulierte Bruch vor allem in der Einbettung des Privaten, des eigenen Zuhauses (im Gegensatz zur Recherchereise in Israel) in diesem Blogeintrag zu manifestieren, was einen, vom Rezipienten allerdings zurückgewiesenen, referenziellen Pakt eines autobiografischen Diskurses evoziert. Genau hier wird die Spezifik der Autofiktion nach Frank Zipfel deutlich, die gerade die Unmöglichkeit der eindeutigen Zuordnung in einen dieser beiden Bereiche umfasst. Er führt dazu aus: »Damit jedoch bleibt die Unterschiedlichkeit der beiden Pakte gewahrt, man könnte sogar sagen, dass der Leser gerade durch das Hin und Her zwischen dem einen und dem anderen auf die Spezifik der beiden Pakte aufmerksam gemacht wird.«81 So kann der Kommentar als Ausdruck einer Störung des Rezeptionsprozesses gelesen werden, der dieses Changieren bzw. die Uneindeutigkeit implizit deutlich macht. Nicht nur das Abstecken der Grenzen des Normalfeldes literarischer Praxis durch den Rezipienten ist hier von Bedeutung, sondern auch die Reaktion Steins auf diesen Einwand. Er beruft sich zum einen auf seine in dem Blog ebenfalls aktiv kommentierende Ehefrau als Zeugin und postet zum anderen ein Bild, auf dem die Karte mit einem handschriftlich geschriebenen hebräischen Text abgebildet ist, mit dem Hinweis, nun »alle Materialien, die den Wahrheitsgehalt [seines] Berichts stützen könnten, hier [zu] dokumentieren«.82 Gleich zwei Merkmale des Blogs werden dadurch bedeutsam: Zum einen stellt die Kommentarfunktion die Interaktionsmöglichkeiten zwischen Autor und Leser*innen aus, sodass die Rezipierenden Steins Texte kommentieren und umgekehrt der Autor auf diese Kommentare reagieren kann, was Einfluss auf den Inhalt des »Turmseglers« nimmt,83 und zum anderen wird das Einbinden in80 Ebd. 81 Zipfel, Frank: Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität? In: Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomenen des Literarischen. Hrsg. von Simone Winko/Fotis Jannidis/Gerhard Lauer. Berlin/New York: de Gruyter 2009, S. 285–314, hier S. 306. 82 Stein, Eine Karte aus Jerusalem. 2008. 83 Nicht nur an diesem Beispiel, sondern auch an zahlreichen anderen Stellen im »Turmsegler« wird der Einfluss der Interaktion mit den Rezipierenden deutlich (und im Falle von Herbsts
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termedialer Elemente genutzt. Letzteres ist in diesem Kontext besonders signifikant, dient das Bild hier doch der Beglaubigung der Schrift und stellt so eine Grenzüberschreitung zwischen der auf dem Foto vermeintlich abgebildeten Realität und der Fiktion her, wodurch diese Bereiche verschränkt werden und somit das literarische Grundmotiv des Romans der unauflösbaren Vermischung von Fakt und Fiktion noch potenzieren. Die zugeschriebene Beweiskraft des Fotos, die größer zu sein scheint als die der Schrift, wird durch die explizierte intermediale Ebene ebenso kritisch reflektiert wie die »Tautologie einer ›eindeutigen Wahrheitsfindung‹«84 insgesamt. Das Zusammenspiel von Foto und Text findet sich auch im Kontext des zweiten autodiegetischen Erzählers85 aus der »Leinwand«, wenn Stein nicht nur ein Bild des Koffers von der Figur Jan Wechsler postet, sondern auch eine Ähnlichkeit zwischen dem abgebildeten und seinem eigenen Arbeitszimmer konstatiert und erklärt: »Nun wäre es ja allerdings gut möglich, dass Wechsler etwas sehr intensiv mit mir zu tun hat.« Oder sogar: »Wenn ich mir seinen [Wechslers – S. W.] Namen so recht auf der Zunge zergehen lasse, könnte es sogar sein, dass er es darauf angelegt hat, sich meiner Identität zu bemächtigen.«86 Interessanterweise beginnt der Eintrag »Ein Koffer (2)« mit Steins durch drei Punkte grafisch markiertem Hinweis: »••• Vielleicht ist es ja für den einen oder anderen von Interesse, was geschah, nachdem ich die Tür geöffnet hatte …«87 Der Schriftsteller benutzt damit das Personalpronomen in der 1. Person Singular, um eine Handlung der Figur Wechsler zu beschreiben. Zusätzlich werden hier auch Verbindungen innerhalb des Blogs erzeugt, indem der nun folgende Romanauszug einen internen Link enthält:
84
85 86 87
Weblog wird dies sogar zum ästhetischen Prinzip erhoben), sodass der pauschalen Aussage zumindest vorsichtig widersprochen werden muss, dass die »interaktive Gleichberechtigung zwischen Autoren und Lesern im ›Social Web‹ […] mindestens für den Bereich der Weblogs eine Fiktion [ist]« (Ernst, Weblogs. Ein globales Medienformat. 2010, S. 291). Zwar gibt Stein die Themen durch seine Posts durchaus vor und die Kommunikation zwischen Autor und Leser*innen ist selbstverständlich auch nicht hierarchiefrei, aber trotzdem eröffnet sich im Blog ein Raum des Austausches, der auch vernehmbare Auswirkungen auf den Inhalt des Blogs hat. Schmidt, Nadine J.: Zeitgemäße Poetik? Literarische Weblogs und der Gegenwartsroman. Zu Alban Nikolai Herbst und Benjamin Stein. In: Poetik des Gegenwartsromans. Hrsg. von Nadine J. Schmidt/Kalina Kupczyn´ska. München: edition Text+Kritik 2016 [= Text+Kritik Sonderband], S. 126–139, hier S. 132. Da es sich bei dem Roman um die besondere Form eines sogenannten Flipbooks handelt, gibt es zwei aufeinander zulaufende Erzählstränge mit je einem autodiegetischen Erzähler. Stein, Benjamin: »Ich wüsste nicht …« vom 14. Juli 2008. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). Stein, Benjamin: »Ein Koffer (2)« vom 3. Februar 2008. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020) [Herv. d. Verf.].
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»Ich vermisse keinen Koffer, sagte ich. [Jan Wechsler – S. W.] Das kann nicht sein, erwiderte der Kurier. Warten Sie, hier steht es: 3. Januar, TUIfly Tel Aviv/München. Sie haben den Verlust angezeigt, als der Koffer eine Stunde nach der allgemeinen Gepäckausgabe noch nicht aufgetaucht war. Sie haben das doch unterschrieben.«88
Dieser Link führt zum letzten Post über Steins Recherchereise nach Israel, der von seiner Abreise am 3. Januar berichtet sowie die Information beinhaltet, mit TUIfly von Tel Aviv nach München geflogen zu sein.89 Damit ist bereits die dritte, nämlich strukturelle Ebene angesprochen, auf der Verbindungslinien zwischen Steins Werken und seinem Leben gelegt werden, was diesen Zusammenhang durch das Merkmal der Intertextualität im Sinne eines Verweissystems noch potenziert. An dieser Stelle soll nur ein weiteres Beispiel herausgegriffen werden, indem einem bestimmten Hyperlinkpfad exemplarisch gefolgt wird. Ein externer Link des metareflexiven Beitrags »Ein bibliophiler Schatz«90 führt auf eine Seite des Verkaufsportals »Amazon«, auf der die u. a. von Stein 2007 herausgegebene und literarische Weblogs thematisierende Sonderausgabe der Literaturzeitschrift spa_tien zum Kauf angeboten wird. Im Kontext seiner Reflexionen über seinen Blog schreibt Stein in dem Zeitschriftenartikel, dass der »Anteil am Turmsegler, den meine neue eigene literarische Produktion ausmacht, […] denkbar gering« sei, aber durch das Lesen und Schreiben der »poetische Motor« schnurre.91 Anschließend werden drei Beiträge aus dem Blog zitiert, deutlich an der Grafik der drei Punkte erkennbar, die Stein auch zur Markierung seiner Texte im digitalen Medium gebraucht. Der erste zitierte Post trägt den Titel »1000 Seiten cummings«, den er im Dezember 2006 als zehnten Beitrag in seinem Blog veröffentlichte und der die (Un-)Möglichkeit, bestimmte Bücher in Bibliotheken zur Zeit der DDR auszuleihen, beschreibt.92 Durch die Zitatstruktur verweist das gedruckte Sonderheft auf den »Turmsegler«, in dem wiederum drei Jahre später mittels eines gesetzten Links auf das Sonderheft verwiesen wird. Dieser Zirkel wird aber noch erweitert, denn entgegen der zum damaligen Zeitpunkt zutreffenden Aussage Steins, dass der »Turmsegler« kaum eigene literarische Texte beinhalte, findet dieser Post fast wörtlich
88 Ebd. 89 Vgl. Stein, Benjamin: »Abflug« vom 4. Januar 2008. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). 90 Stein, Benjamin: »Ein bibliophiler Schatz« vom 18. April 2010. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). 91 Stein, Benjamin: Der poetische Motor. In: spa_tien. Zeitschrift für Literatur 4 (2007) [= Sonderausgabe. Literarische Weblogs. Hrsg. von Markus A. Hediger/Benjamin Stein/Hartmut Abendschein], S. 79–87, hier S. 81. 92 Vgl. Stein, Benjamin: »1000 Seiten cummings« vom 4. Dezember 2006. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020).
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Eingang in den 2010 publizierten Roman »Die Leinwand«.93 Während dessen Textgenese im »Turmsegler« kommentierend begleitet wurde, findet sich jedoch keine Verlinkung dieses Beitrags zu der entsprechenden Blog-Kategorie »Die Leinwand«. Dadurch wird nicht nur die mal markierte, mal unmarkierte Verbindung zwischen analogem und digitalem Schreiben deutlich, sondern auch die autofiktionale Schraube wird nochmals weitergedreht, wenn Stein, der in der DDR aufwuchs, in dem Beitrag »5 things«94 im Kontext einer Challenge in der Blogosphäre fünf Dinge aus seinem Leben auflistet, die niemand über ihn weiß. Der dritte Punkt lautet: »Mit 17 war ich so naiv, dass mir sowas passieren konnte«95, wobei ein hier verlinktes Wort auf eben diesen Eintrag »1000 Seiten cummings« führt. Das bedeutet dezidiert nicht, dass eine biografistische Lesart an den literarischen Text angelegt werden soll, sondern hier wird vielmehr ein »autofiktionales Identitätsspiel« deutlich, in dem der Autor innerhalb des stets mitausgestellten Ästhetisierungsprozesses der Subjektivierung die Aspekte Werk und Leben in einem literarischen Verfahren aufeinander bezieht und die Klassifikationskategorien von Fakt und Fiktion, Leben und Werk im Zustand der Unbestimmtheit hält.96
5.
Schlussüberlegungen: »… nach meiner Überzeugung ist die Fiktion die wahrhaftigste Form von Wirklichkeit«
So kann festgehalten werden, dass im Blog »Turmsegler« – entgegen eines im Kontext der Netzliteratur prognostizierten Verschwindens der Autor*innen – das Konzept einer starken Autorrolle inszeniert wird, das eine unzensierte Stimme Steins im Sinne der Deutungshoheit über seine eigenen Texte und damit einhergehend eine Machtposition im literarischen Feld impliziert. Zudem wird der eine transgressive Kopräsenz ausstellende Konnex von Leben und Fiktion im Blog in praxi vorgeführt und reflektiert. Die digitale Form wird dabei mit dem Inhalt verschränkt und dient der prozesshaften Weiterführung des Grundthemas der analogen Literatur, was den Blog zu einem »romanpoetologischen Experimentierfeld«97 macht. Aber mehr noch: Der Blog als Formungs- und Formierungsmedium von Sinn zeichnet sich durch ein inszeniertes Unbestimmtheits93 Vgl. Stein, Benjamin: Die Leinwand. Wechsler-Teil. München: dtv 2012, S. 34–37. 94 Stein, Benjamin: »5 things« vom 1. Januar 2007. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). 95 Ebd. 96 Vgl. zu den theoretischen Überlegungen in diesem Kontext: Schaffrick, Matthias/Willand, Marcus: Autorschaft im 21. Jahrhundert. In: Theorien und Praktiken der Autorschaft. Hrsg. von Matthias Schaffrick/Marcus Willand. Berlin/Boston: de Gruyter 2014, S. 3–148, hier S. 55. 97 Schmidt, Zeitgemäße Poetik? Literarische Weblogs und der Gegenwartsroman. 2016, S. 127.
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moment aus, indem Referenzbezüge in dem autofiktionalen Spiel ebenso hinterfragt werden wie die von den Rezipierenden eingenommene Beobachterposition, was dazu führt, dass sich die Logiken der Differenz von Fakt und Fiktion im Ästhetisierungsprozess innerhalb einer permanenten Aushandlung befinden. Auf die genau darauf abzielende Frage eines Lesers »Wie meint ihr das denn jetzt? Ist das ein Buch oder ist dass [sic!] die Realität? Wenn es ein Buch ist strebt die Geschichte nach einer wahren Begebenheit?«, antwortet Benjamin Stein: »Es handelt sich um einen Auszug aus einem Buch und nach meiner Überzeugung ist die Fiktion die wahrhaftigste Form von Wirklichkeit.«98
6.
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Stein, Benjamin: »Religion ist kein Wunschkonzert« vom 8. April 2010. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). Stein, Benjamin: »Ein bibliophiler Schatz« vom 18. April 2010. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). Stein, Benjamin: »Der Autor als Seelenstripper« vom 3. Juni 2010. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). Stein, Benjamin: »Die Finten der Identität« vom 7. Juli 2010. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). Stein, Benjamin: »Wear it like a crown« vom 21. Dezember 2010. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). Stein, Benjamin: »Mittelgambit« vom 30. Januar 2011. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). Stein, Benjamin: »Kleine Theorie des Literarischen Bloggens« vom 17. Oktober 2011. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). Stein, Benjamin: »Die Literatur der Ichzeit« vom 24. Oktober 2011. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). Stein, Benjamin: »Danksagungen und andere Knobeleien« vom 10. Februar 2012. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). Stein, Benjamin: »Pinocchio in Leipzig« vom 19. März 2012. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). Stein, Benjamin: »Kurzer Monatsrückblick« vom 31. März 2012. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). Stein, Benjamin: »Hölle ohne Feuer« vom 27. August 2012. (letzter Zugriff: 20. 10. 2020). Stein, Benjamin: Die Leinwand. München: dtv 2012. Wagner-Egelhaaf, Martina: Autobiographie. 2. aktual. und erw. Aufl. Stuttgart/Weimar: Metzler 2005. Wagner-Egelhaaf, Martina: Einleitung: Was ist Auto(r)fiktion? In: Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion. Hrsg. von Martina Wagner-Egelhaaf. Bielefeld: Aisthesis 2013, S. 7–21. Willeke, Stephanie: Der unzuverlässige Zeuge – Störungen im Erinnerungsdiskurs ›Shoah‹. In: Trauma-Erfahrungen und Störungen des ›Selbst‹: Mediale und literarische Konfigurationen lebensweltlicher Krisen. Hrsg. von Carsten Gansel. Berlin/Boston: de Gruyter 2020, S. 209–228. Winko, Simone: Lost in hypertext? Autorkonzepte und neue Medien. In: Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Hrsg. von Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matías Martínez/Simone Winko. Tübingen: Max Niemeyer 1999, S. 511–533. Zimmer, Dieter E.: Die Bibliothek der Zukunft. Text und Schrift in den Zeiten des Internet. Hamburg: Hoffmann und Campe 2000. Zintzen, Christiane: Blogliteratur: Medium oder Message? Am Beispiel der Plattform litblogs.net – Literarische Weblogs in deutscher Sprache. In: (Ver)Führungen. Räume der Literaturvermittlung. Hrsg. von Meri Disoski/Ursula Klingenböck/Stefan Krammer. Innsbruck/Wien/Bozen: Studien Verlag 2012, S. 84–104.
Schriftstellerische Inszenierungspraktiken und autofiktionale Schreibreflexionen
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Zipfel, Frank: Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität? In: Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomenen des Literarischen. Hrsg. von Simone Winko/Fotis Jannidis/Gerhard Lauer. Berlin/New York: de Gruyter 2009, S. 285–314.
Rita Rieger
Zur Inszenierung kooperativer Autorschaft – Imperative künstlerisch-wissenschaftlicher Schreibszenen in Anne Teresa De Keersmaekers und Bojana Cvejic´s »A Choreographer’s Score«
1.
Einleitung
In den vergangenen Jahren konturiert die Beschäftigung mit Praktiken und Prozessen des Schreibens verstärkt die kontrovers diskutierten Konzepte von Autor, Text und Werk. Dabei stellt sich die Frage, inwiefern Schreibszenen als Versuchsanordnungen wissenschaftlicher wie künstlerischer Selbstbestimmung, als Bühne und Experimentierfeld von Autorisierungsstrategien sowie Legitimation von Autorschaft zu verstehen sind.1 Im Kontext dieser Debatten widmet sich der vorliegende Beitrag mit »A Choreographer’s Score« (2012–2014) einem in vielfacher Hinsicht aufschlussreichen Werk: Zum einen resultiert die dreibändige ›Buch-mit-Video-Veröffentlichung‹ der Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker und der Musik- und Tanzwissenschaftlerin Bojana Cvejic´ aus einer mehrjährigen Zusammenarbeit, die der gängigen, zumeist einsam vorgestellten Schreibszene eine dialogische Schreibszene entgegenstellt und auch mit der geläufigen, an eine Person gebundenen Konzeptualisierung von ›Autor‹ durch die künstlerisch-wissenschaftliche Kooperation bricht. Zum anderen fordert »A Choreographer’s Score« durch eine collageartige Montage verschiedener Texte – wie Interviewtranskripte, Grafiken, Fotografien, handschriftliche persönliche Notizen und Briefe der Choreografin, literarische Textfragmente, Programme und internationale Artikel der Tanzkritik – sowie durch die Kombination der Medien Buch und DVD den mit der Konzeptualisierung von Autorschaft verbundenen Werkbegriff heraus. Dass es sich jedoch um ein systematisch arrangiertes Material handelt, das über die bloße Transkription des Interviews zwischen De Keersmaeker und Cvejic´ hinausgeht, zeigt nicht nur die Buchpublikation, sondern auch die begleitenden DVDs, die neben den aufgezeichneten Interviews zwischen Choreografin und Wissenschaftlerin auch ältere Inter1 Vgl. Lubkoll, Claudia/Öhlschläger, Claudia: Einleitung. In: Schreibszenen. Kulturpraxis – Poetologie – Theatralität. Hrsg. von Claudia Lubkoll/Claudia Öhlschläger. Freiburg i. Br./ Berlin/Wien: Rombach 2015, S. 9–21, hier S. 9.
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Rita Rieger
viewausschnitte mit der Choreografin sowie Dokumentarfilmausschnitte, Probenaufnahmen und Demonstrationsbeispiele beinhalten. Während die Heterogenität des Materials die Vorstellung eines Werkes infrage stellt, stützt (wie gezeigt werden soll) sowohl die Einführung eines eigenen Begriffs zur Bezeichnung dieses Arrangements als ›book-cum-video‹ wie auch die Schilderung einzelner Szenen der Zusammenarbeit die Werkhaftigkeit.2 Basierend auf Ansätzen der Schreibforschung sowie anschließend an die neuere Autorschaftsdebatte, konzentriert sich die literaturwissenschaftliche Analyse dieses Beitrags daher auf die Inszenierung von Autorschaft als künstlerisch-wissenschaftliche Kooperation. Dabei gehe ich von der Annahme aus, dass gerade das wechselseitige Unterbrechen, Stören und Ineinandergreifen verschiedener Schreibhandlungen ein gemeinschaftliches Konzept von Autorschaft befördert, das durch die Schöpfung eines innovativen Formats zum Ausdruck kommt.3 Wie noch zu zeigen sein wird, kennzeichnet die dokumentarische, explorative und performative Funktion des Schreibens das künstlerische ebenso wie das forschende Schreiben. Um diese Ähnlichkeiten festzuhalten, bedarf es jedoch auch einer Konturierung der Unterschiede, die über eine Charakterisierung der jeweiligen Einzelpositionen erfolgt. Die wissenschaftliche Schreibszene findet ihren paradigmatischen Ausdruck in den jeweils nur von Bojana Cvejic´ signierten Einleitungen der drei Bände, während im gefilmten 2 Aktuelle literaturwissenschaftliche Studien verdeutlichen, dass neben dem Autorbegriff auch der Werkbegriff eine Reaktualisierung erfährt. Da an dieser Stelle nicht näher auf den Werkbegriff eingegangen werden kann, dieser jedoch in engem Zusammenhang mit einer modernen Konzeptualisierung von Autorschaft steht, sei stellvertretend auf Werner Wolfs Vorschlag eines flexiblen, prototypensemantisch konzeptionalisierten, moderaten Werkbegriffs verwiesen, der folgende Merkmale aufweist: »Autorbezug, komplexe ästhetische Strukturiertheit, Individualität, Einmaligkeit, Begrenztheit und Abgeschlossenheit, Dauerhaftigkeit und Überzeitlichkeit u. a. durch die Öffentlichkeit von Anlage und Rezeption«, wobei Wolf betont, dass in konkreten Fällen für eine Klassifizierung als ›Werk‹ nicht alle Merkmale vorhanden sein müssen (Wolf, Werner: ›Du texte à l’œuvre‹? Zur Sinnhaftigkeit der Restauration bzw. Wiederverwendung des Werkbegriffs als eines Grundkonzeptes nicht nur der Literaturwissenschaft. In: Das Werk. Zum Verschwinden und Fortwirken eines Grundbegriffs. Hrsg. von Lutz Danneberg/Annette Gilbert/Carlos Spoerhase. Berlin/München/Boston: de Gruyter 2019, S. 379–396, hier S. 390 und 394). 3 ›Störung‹ wird, wie es Carsten Gansel mit Rekurs auf Niklas Luhmann vorschlägt, in ihrer Produktivität als konstruktives Moment verstanden, das in unterschiedlichen Intensitätsgraden auftreten kann. Im vorliegenden Beitrag dominiert Störung im Sinne einer »Aufstörung«, also einer Aufmerksamkeit erregenden Unterbrechung, die sich als integrierbar erweist (vgl. Gansel, Carsten: Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ›Störung‹ – Möglichkeiten der Anwendung für Analysen des Handlungs- und Symbolsystems Literatur. In: Das ›Prinzip Störung‹ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Hrsg. von Carsten Gansel/Norman Ächtler. Berlin: de Gruyter 2013, S. 31–56, hier S. 35). Dabei stellt sich die Frage, inwiefern die aus der Konfrontation von Wissenschaft und Kunst resultierenden Störungen als produktive Faktoren in das jeweilige System integriert werden können, indem sie die Fortsetzung autopoietischer Operationen von Kunst und Wissenschaft fördern.
Zur Inszenierung kooperativer Autorschaft
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Video nur Anne Teresa De Keersmaeker zu sehen ist und ihre Narrationen, grafischen Visualisierungen und Bewegungsdemonstrationen das choreografische Schreiben charakterisieren. Im Zentrum der »Scores« steht jedoch die Transkription des Interviews zwischen der Choreografin und der Tanz- und Musikwissenschaftlerin, aus der ein Großteil der dialogischen Textorganisation resultiert. Konsequenterweise stützt sich der hier vorgeschlagene heteronome Autorschaftsbegriff weniger auf die Rückbindung an ein oder mehrere distinkte Autorsubjekte als auf einen zwischen Selbst- und Fremdbestimmung oszillierenden mehrphasigen theatralisierten Schreibprozess, dessen Ergebnis als ein mehreren Individuen zugerechnetes Werk wahrgenommen bzw. vermarktet und im gewählten Beispiel auch explizit als gemeinschaftliches Produkt präsentiert wird. Um dies zu zeigen, wird zunächst der ›Autor‹ als zentrale Kategorie von Kunst und Wissenschaft eingeführt sowie über Theorien des Schreibens in ihrer Inszenierbarkeit vorgestellt. Hierbei wird besonders auf die Rolle des Autornamens und auf die Imperative des methodisch-reflektierten Schreibens sowie des Einschreibens in Diskurse als zentrale Komponenten für eine Inszenierung der kooperativen Autorschaft eingegangen.4 Der zweite Teil des Beitrags widmet sich der Analyse dieser Inszenierung und fokussiert auf die Imperative des künstlerisch-wissenschaftlichen Schreibens als Basis einer geteilten Autorschaft, die sich etwa in der namentlichen Nennung beider Autorinnen, in der Inszenierung eines originellen Werkes sowie in der Kombination verschiedener Schreibverfahren und der Schilderung künstlerisch-wissenschaftlicher Schreib-Szenen5 als methodisch operierende Verfahren innerhalb spezifischer Diskurse abzeichnen.
4 Um das kulturelle Wissen, das in Schreibszenen vermittelt wird, für die Literaturgeschichte fruchtbar zu machen, schlägt Rüdiger Campe in seinem wegweisenden Aufsatz vor, statt nach »Darstellungsformen der ›Schreib-Szene‹ nach den Imperativen ihrer Inszenierung« zu suchen, da Anweisungen – wie zu schreiben sei – an die Festlegung eines Rahmens und eines Darstellungs- wie auch Deutungsraumes der Szene des Schreibens gebunden sind (vgl. Campe, Rüdiger: Die Schreibszene, Schreiben. In: Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte. 2. Aufl. Hrsg. von Sandro Zanetti. Berlin: Suhrkamp 2015, S. 269–282, hier S. 275). Zu den Imperativen des forschenden Schreibens siehe Hoffmann, Christoph: Schreiben im Forschen. Verfahren, Szenen, Effekte. Tübingen: Mohr Siebeck 2018, S. 60–61. 5 Martin Stingelin meint mit Schreib-Szene die Thematisierung, Problematisierung und Reflexion des Schreibens, während die Schreibszene gemäß Rüdiger Campes Ansatz die historisch und individuell veränderliche Konstellation des Schreibens als instabiles Ensemble, bestehend aus Semantik, Technologie und Körperlichkeit, bezeichnet (vgl. Stingelin, Martin: ›Schreiben‹. Einleitung. In: »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. Hrsg. von Martin Stingelin. München: Wilhelm Fink 2004, S. 7–21, hier S. 15).
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2.
Rita Rieger
Moderne Autorschaft in Kunst und Wissenschaft
Die Kategorie des ›Autors‹ ist heute für wissenschaftliche wie auch für literarische Texte zentral, da in beiden Bereichen komplexe Intentionen textförmig zum Ausdruck gelangen, die auf personal gedachte Instanzen beziehbar sein müssen, um glaubhaft und verantwortet zu erscheinen.6 Autorschaft – soweit der Konsens – erweist sich als heterogene Kategorie, die seitens der Künstlerinnen und Künstler stets aufs Neue inszeniert und seitens der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stetig neu ausverhandelt werden muss. Dennoch scheinen spezifische Vorstellungen autonomieästhetischer Autorschaft zu dominieren, die sich in Schreibreflexionen zu Topoi verdichten wie etwa im Rückzug in die Einsamkeit7 oder im fehlenden Körperbezug, sieht man von Thematisierungen ab, in denen sich der Körper der oder des Schreibenden durch Abweichungen in den Vordergrund drängt, oder aber von spezifischen Schreibpraktiken, die auf einer Übertragung körperlicher Bewegung in Schrift beruhen, wie es in der Notation choreografischer Werke der Fall ist.8 Diese Tilgung des Körpers als Resultat einer Selbst- oder Fremdzensur beschreibt Roland Barthes in seinem kurzen Text »De la parole à l’écriture« (1974), worin er eine Szene der Transkription skizziert: 6 Vgl. Steiner, Felix: Wissenschaftliche Autorschaft zwischen Zeitschrift und Handbuch. In: Theorien und Praktiken der Autorschaft. Hrsg. von Matthias Schaffrick/Marcus Willand. Berlin/Boston: de Gruyter 2014, S. 567–593, hier S. 568. Zur Vernachlässigung der Kategorie ›Autor‹ im wissenschaftlichen Schreiben sowie zur Unterscheidung von ›Schreiber‹, ›Verfasser‹ und ›Autor‹ siehe Hoffmann, Christoph: Schreiber, Verfasser, Autoren. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 2017, H. 91 (2), S. 163– 187. 7 Dass sich in vielen dieser Schreibszenen weder die schreibende Person allein an einem Ort befindet noch selbst schreibt, legt Michael Ott anhand von Diktier-Szenen bei Goethe, Schiller und Kleist dar (vgl. Ott, Michael: »Setze dich. Schreib.« Diktier-Szenen bei Schiller und Kleist. In: Schreibszenen. 2015, S. 191–213, hier S. 191). 8 Auch Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die sich mit Tanz beschäftigen, ziehen mitunter verstärkt Analogien zwischen physischen Bewegungen und Schreibpraktiken wie Paul Valéry als einer der prominentesten Vertreter der Tanzphilosophie. Siehe dazu Rieger, Rita: Paul Valérys tänzerische Schreibpraktiken. Analogie als Analysekategorie zwischenräumlicher Bewegungen. In: Schreibprozesse im Zwischenraum. Zur Ästhetik von Textbewegungen. Hrsg. von Jennifer Clare/Susanne Knaller/Rita Rieger/Renate Stauf/Toni Tholen. Heidelberg: Winter 2018, S. 229–245. In Bezug auf choreografische Schreibpraktiken vgl. Brandstetter, Gabriele: Schriftbilder des Tanzes. Zwischen Notation, Diagramm und Ornament. In: Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen. Hrsg. von Sybille Krämer/ Eva Cancik-Kirschbaum/Rainer Totzke. Berlin: Akademie Verlag 2012, S. 61–77; Notationen und choreographisches Denken. Hrsg. von Gabriele Brandstetter/Franck Hofmann/Kirsten Maar. Freiburg i. Br./Berlin/Wien: Rombach 2010; Rieger, Rita: Das Schreiben von und über Tanz. Schrift-Bewegungs-Relationen in zeitgenössischen Tanztexten. In: Schreibforschung interdisziplinär. Praxis – Prozess – Produkt. Hrsg. von Susanne Knaller/Doris Pany-Habsa/ Martina Scholger. Bielefeld: transcript 2020, S. 223–240.
Zur Inszenierung kooperativer Autorschaft
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»Nous parlons, on nous enregistre, des secrétaires diligentes écoutent nos propos, les épurent, les transcrivent, les ponctuent, en tirent un premier script que l’on nous soumet pour que nous le nettoyions de nouveau avant de le livrer à la publication, au livre, à l’éternité. N’est-ce pas la ›toilette du mort‹ que nous venons de suivre? Notre parole, nous l’embaumons, telle une momie, pour la faire éternelle, comédie de l’écriture, s’inscrire quelque part.«9
Mehr als Verschriftung des gesprochenen Wortes inkludiert transkriptives Schreiben mehrere Verfahren: ein Niederschreiben, Umschreiben, Reinschreiben, das über die Interpunktion das Geschriebene neu rhythmisiert, über Streichungen und Ergänzungen vom Gesprochenen abweicht und die Funktion des Schreibens – mit Foucault gesprochen – als kulturelle Selbstdisziplinierungstechnik verdeutlicht. Wie Barthes anmerkt, geht in der Skription nicht nur die ›Unschuld‹ der rhetorischen Taktik, sondern auch die unmittelbare Theatralität des gesprochenen Wortes verloren: Überleitungen und Wortfetzen mit phatischem oder interpellatorischem Charakter werden unter dem kritischen Auge der (Selbst-)Lektüre gestrichen – insbesondere aber verschwindet im Zuge der Niederschrift der Körper in einer ›Falltür‹.10 Gewonnen wird hingegen eine Art Inszenierung der Ideen, eine Art Theater intellektueller Rollen, die nicht länger von einer körperlichen, lebendigen Präsenz überlagert werden. Der Körper, der im mündlichen Gespräch als ›zu präsent‹ erscheint, kehrt im schriftlichen Dialog nur indirekt in der Musikalität einzelner Wörter und Wortkombinationen, der Rhythmik syntaktischer Strukturen oder in einem durch Interpunktionszeichen und typografische Varianz bewusst visuell gestalteten Schriftbild wieder. Es mag daher nicht verwundern, dass dem Körper in modernen Autorschaftskonzepten kein prominenter Stellenwert zugewiesen wird. Zum markantesten Merkmal von (literarischer) Autorschaft, wie sie sich seit spätestens dem 18. Jahrhundert konsolidierte und weitestgehend noch immer hält, avancierte hingegen das Kriterium des Eigenen unter den Stichworten der Originalität, stilistischen Individualität und Genialität, wenngleich im Zuge der 9 Barthes, Roland: De la parole à l’écriture. In: Ders.: Œuvres complètes. Tome III. 1974–1980. Hrsg. von Éric Marty. Paris: Éd. du Seuil 1995, S. 48–51, hier S. 48. Deutsche Übersetzung: »Wir reden, man nimmt uns auf, eifrige Sekretärinnen hören unsere Äußerungen ab, säubern sie, schreiben sie nieder, interpunktieren sie, erstellen daraus ein erstes Skript, das uns vorgelegt wird, damit wir es aufs neue reinigen, bevor es der Veröffentlichung, dem Buch, der Ewigkeit überantwortet wird. Ist das nicht die ›Totenwäsche‹, der wir gerade gefolgt sind? Wir balsamieren unsere Rede wie eine Mumie ein, um sie zu verewigen. Denn man muss doch wohl seine Stimme ein wenig überdauern; man muß sich doch durch die Verstellung der Schrift irgendwo einschreiben« (Barthes, Roland: Von der Rede zum Schreiben. In: Ders.: Die Körnung der Stimme. Interviews 1962–1980. Aus dem Französischen von Agnès Bucaille-Euler/ Birgit Spielmann/Gerhard Mahlberg. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, S. 9–13, hier S. 9 [Herv. im Original]). 10 Vgl. Barthes, De la parole à l’écriture. 1995, S. 48–49.
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Theoretisierung des Schreibens im 20. Jahrhundert – angefangen bei Roland Barthes und Michel Foucault – diese Komponente vermehrt die Rolle eines kontingenten Elements in der kulturellen Konzeptualisierung von Autorschaft übernimmt.11 Neben diesem ersten ästhetisch-ideologischen Merkmal charakterisiert Michael Wetzel moderne Autorschaft darüber hinaus zweitens über das psychologisch-hermeneutische Merkmal, das an eine Intentionalität oder Authentizität durch die biografische Setzung einer Werkeinheit gebunden ist. Zu diesem gesellt sich als dritte Komponente das juridisch-ökonomische Kennzeichen, das den Eigentumsanspruch am Werk markiert, dessen Urheberschaft durch Institutionen und Verwertungsrechte gewahrt wird.12 Wie Wetzel anmerkt, impliziert eine derartige Charakterisierung von Autorschaft sowohl die Geschlossenheit der Repräsentation wie auch die Rückgebundenheit des Werkes an die Instanz des Autors. Herausgefordert wird diese auf drei Säulen ruhende Bestimmung moderner Autorschaft dann, wenn die Geschlossenheit der auktorialen Ordnung gesprengt wird, wie etwa durch Formen gemeinschaftlicher Autorschaft, durch wissenschaftliche, nicht an ein Werk gebundene Schreibprojekte oder durch Schreibkonzepte, die statt des genialischen den handwerklichen Aspekt des Schreibens hervorheben.13 Insbesondere Letztere hinterfragen ein Autorschaftssystem, das den scriptor, compilator oder commentator vom auctor über die Involviertheit des schreibenden Subjekts im kreativen Prozess unterscheidet.14 Denn das Ab-, Um- und Neuschreiben, Recherchieren, Arrangieren, Kommentieren und Entwerfen stellen verschiedene Verfahren15 künst11 Vgl. Foucault, Michel: Qu’est-ce qu’un auteur. In: Michel Foucault. Dits et écrits. 1954–1988. I. 1954–1969. Hrsg. von Daniel Defert/François Ewald. Paris: Gallimard 1994, S. 789–821; Barthes, Roland: La mort de l’auteur. In: Ders.: Œuvres complètes. Tome II 1966–1973. Hrsg. von Éric Marty. Paris: Éd. du Seuil, S. 491–495. Zur Autorschaftsdebatte im Anschluss an Roland Barthes siehe auch die Beiträge in: Autorschaft. Positionen und Revisionen. Germanistisches Symposion der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Hrsg. von Heinrich Detering. Stuttgart: Metzler 2002; Autorschaft und Interpretation: methodische Grundlagen einer philologischen Hermeneutik. Hrsg. von Carlos Spoerhase. Berlin/New York: de Gruyter 2007; sowie in: Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Hrsg. von Fotis Jannidis/ Gerhard Lauer/Matías Martínez/Simone Winko. Tübingen: Niemeyer 1999. 12 Vgl. Wetzel, Michael: Der Autor zwischen Hyperlinks und Copyright. In: Autorschaft. 2002, S. 278–290, hier S. 287. 13 Vgl. Herrmann, Britta: »So könnte dies ja am Ende ohne mein Wissen und Glauben Poesie sein?« – Über »schwache« und »starke« Autorschaften. In: ebd., S. 479–500, hier S. 480. 14 Diese aus dem 13. Jahrhundert stammende Differenzierung geht auf Bonaventura zurück und wird in der zeitgenössischen Autorschaftsdebatte vielfach wieder aufgegriffen. Vgl. Wetzel, Der Autor zwischen Hyperlinks und Copyright. 2002, S. 278–290, hier S. 286; oder auch Woodmansee, Martha: Der Autor-Effekt. Zur Wiederherstellung von Kollektivität. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hrsg. von Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matías Martínez/Simone Winko. Stuttgart: Reclam 2009, S. 301–302. 15 Mit ›Verfahren‹ beziehe ich mich auf Christoph Hoffmanns Ansatz, »das Vorgehen im Schreiben« in den Mittelpunkt zu stellen, »so weit es sich aus den Aufzeichnungen herleiten lässt« (Hoffmann, Schreiben im Forschen. 2018, S. 47 [Herv. im Original]).
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lerischen wie wissenschaftlichen Schreibens dar, die sich nur vordergründig an einem modernen Verständnis von Autorschaft reiben. Zu einem Verfahren, d. h. zu einem Instrument, wird Schreiben jedoch erst, wenn es eine spezifische Form des Vorgehens annimmt. Dies kann, so Christoph Hoffmann, auf einer vorgegebenen Methode aufbauen oder sich spontan in der Praxis ausbilden.16
3.
Schreibszenen und inszenierte Autorschaft
Roland Barthes richtete bekanntlich in »La mort de l’auteur« (1968) seine Kritik nicht gegen jeglichen Autorbezug, sondern insbesondere gegen eine Autorkonzeption, die als letztgültige Deutungsinstanz der (hermeneutischen) Textrezeption gesehen wird, wie sie etwa in der explication de texte lange Zeit praktiziert wurde.17 Barthes konzipiert den Text nicht länger als Botschaft eines ›AutorGottes‹, sondern als mannigfaches Geflecht kultureller und sprachlicher Zitate, deren Vielfalt sich in einem mehrdimensionalen Raum entfaltet: »Nous savons maintenant qu’un texte n’est pas fait d’une ligne de mots, dégageant un sens unique, en quelque sorte théologique (qui serait le ›message‹ de l’Auteur-Dieu), mais un espace à dimensions multiples, où se marient et se contestent des écritures variées, dont aucune n’est originelle: le texte est un tissu de citations, issues des mille foyers de la culture.«18
Dass Barthes durch die Hervorhebung der dynamischen und räumlichen Aspekte des Schreibens den Autor nicht ganz zum Verschwinden verurteilt, wird – wie vielfach bemerkt – in seinen späteren Texten wie etwa »La préparation du roman« (2003) deutlich, wenn die Autorfigur unter den Vorzeichen der Lust zu Schreiben oder des Schreibenwollens wieder zurückkehrt. Im Schreibenwollen (scripturire) treten Schreibimpuls und Schreibhandlung in eine autonyme Beziehung, so Barthes, weshalb das Schreibenwollen auch nur im literarischen Schreiben zum 16 Vgl. Hoffmann, Christoph: Eingrenzen, verfügen, ordnen, entfalten. Schreibverfahren im Forschen. In: Knaller/Pany-Habsa/Scholger, Schreibforschung interdisziplinär. 2020, S. 19– 30, hier S. 22. 17 Weiterführend dazu siehe Neumann, Maik: Der Autor als Schreibender. In: Theorien und Praktiken der Autorschaft. Hrsg. von Matthias Schaffrick/Marcus Willand. Berlin/Boston: de Gruyter 2014, S. 263–286, hier S. 264. 18 Barthes, Roland: La mort de l’auteur. In: Ders.: Œuvres complètes. Tome II 1966–1973. Hrsg. von Éric Marty. Paris: Éd. du Seuil, S. 491–495, hier S. 493–494. »Heute wissen wir, dass ein Text nicht aus einer Reihe von Wörtern besteht, die einen einzigen, irgendwie theologischen Sinn enthüllt (welcher die ›Botschaft‹ des Autor-Gottes wäre), sondern aus einem vieldimensionalen Raum, in dem sich verschiedene Schreibweisen (écritures), von denen keine einzige originell ist, vereinigen und bekämpfen. Der Text ist ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur« (Barthes, Roland: Der Tod des Autors. Aus dem Französischen von Matías Martínez. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. 2009, S. 185–193, hier S. 190).
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Rita Rieger
Ausdruck gelangen könne und sich dem wissenschaftlichen Schreiben verweigere.19 Inwiefern sich jedoch auch in wissenschaftlichen bzw. künstlerisch-wissenschaftlichen Schreibszenen Spuren des scripturire finden lassen, soll die im zweiten Teil enthaltene Analyse der Schreibszenen in »A Choreographer’s Score« zeigen. Neben diesem Wunsch ist es jedoch gerade die Charakterisierung des Schreibens als weitreichende Kulturtechnik, als kollektiv erworbene und individuell ausgeübte kulturelle Praktik, die es ermöglicht, Schreibszenen hinsichtlich ihrer Schlüsselfunktionen in Leben und Literatur zu untersuchen, da sie (wie Gerhard Neumann eindrücklich beschreibt) sowohl kulturell bedingt als auch kulturbildend wirken. In beiden Fällen generieren Schreibszenen – unabhängig von der konkreten Schreibörtlichkeit – einen Deutungsraum aus sich heraus, der die Möglichkeit bietet, verschiedene Formen der Selbst- und Weltwahrnehmung spielerisch umzusetzen und Individualität zu schaffen.20 Bezogen auf bereits etablierte oder noch nach Legitimation suchende Autorschaft entfalten Schreibszenen einen Darstellungsraum, der mannigfaltige Konzeptualisierungen und Inszenierungen von (personal gedachter) Autorschaft ermöglicht.21 Eine Entsprechung finden dieser Inszenierungscharakter bzw. die Theatralität von Autorschaft in den theatermetaphorischen Schlüsselbegriffen der Schreibtheorien, die Schreiben als Ensemble heterogener Elemente bezeichnen, einzelne Schreibszenen vergleichen, die Rollenverteilung analysieren oder Fragen nach der Rahmung und Regieführung der Szene aufwerfen22 – allesamt Komponenten, welche die Position des Autorsubjekts stützen oder aber unterminieren können. ›Autorschaft‹ meint in diesem Beitrag daher nicht nur die Bedingungen, unter denen eine Person im Sinne der Autonomieästhetik die Rolle der originellen Schöpferin eines Werkes übernimmt, vielmehr bezieht sich Autorschaft auf eine Reihe verbundener Aktivitäten resp. auf ein Repertoire an Praktiken, Techniken und Funktionen des Schreibens, das kulturell und historisch variabel gedacht und rezipiert wird sowie sukzessive von einer einzelnen Person, aber auch in Zusammenarbeit von mehreren Personen simultan oder in Folge durchgeführt werden kann und das Merkmal der Inszenierbarkeit aufweist. Von nicht geringer
19 Vgl. Barthes, Roland: La préparation du roman I et II. Notes de cours et de séminaires au Collège de France 1978–1979 et 1979–1980. Texte établi, annoté et présenté par Nathalie Léger. Paris: Éd. du Seuil 2003, S. 32–33. 20 Vgl. Neumann, Gerhard: Die Schreibszene. Im Leben und in der Literatur. Ein Aperçu. In: Schreibszenen. 2015, S. 25–29, hier S. 25–27. 21 Siehe dazu den Beitrag von Gerhard Neumann zur »Theatralität der Zeichen. Roland Barthes’ Theorie einer szenischen Semiotik.« In: Szenographien. Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Gerhard Neumann/Caroline Pross/Gerald Wildgruber. Freiburg i. Br.: Rombach 2000, S. 65–112; sowie die von ihm verfasste »Einleitung« in: ebd., S. 11–32. 22 Vgl. Stingelin, Schreiben. 2004, S. 19.
Zur Inszenierung kooperativer Autorschaft
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Bedeutung erweist sich in der Inszenierung einer so konzeptionalisierten Autorschaft der Name des Autors oder der Autorin.
4.
Die Rolle des Autornamens in Wissenschaft und Kunst
Der Name des/der Autor*in erweist sich als historisch gewachsener zentraler Imperativ zur Markierung von Autorschaft, der – folgt man Michel Foucault – mit der Ausdifferenzierung von Wissenschaft und Kunst erhöhte Relevanz erhielt: Während im Mittelalter etwa literarische Texte auch anonym als solche akzeptiert wurden, forderten wissenschaftliche Texte der Kosmologie, Medizin oder Naturwissenschaften die Markierung durch den Namen eines Autors, um als glaubhaft anerkannt zu werden.23 Mit der Ausdifferenzierung der Wissenschaften im 17. und 18. Jahrhundert vollzog sich hingegen ein Chiasmus, der die Auktorialität wissenschaftlicher Texte weniger über den Namen als über ihre Zugehörigkeit zu einem systematischen Ensemble bestimmte und den Namen des Autors für den Verweis auf spezifische Theoreme, Propositionen oder etwa pathologische Syndrome reservierte. Der literarische Diskurs hingegen fragte spätestens ab diesem Zeitpunkt nach dem Namen des Autors, der sich (wie auch der Eigenname) zwischen den Polen der Beschreibung und der Bezeichnung bewegt.24 In Foucaults kulturfunktionaler Beschreibung fungiert der Name als Klassifikator und Referenzpunkt, der es ermöglicht, verschiedene Texte und Werke in Beziehung zu setzen und auf die Charakteristika eines spezifischen Diskurses, sei es im Bereich der Kunst oder der Wissenschaft, zu verweisen.25 Bereits die gemeinsame Nennung der Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker und der Musik- bzw. Tanzwissenschaftlerin Bojana Cvejic´ als Autorinnen eines Werkes indiziert die Konfrontation zweier kultureller Systeme: Kunst und Wissenschaft, mit zum Teil unterschiedlichen Diskursen, Praktiken und Imperativen des Schreibens. Für die Konzeptualisierung dieser kooperativen Autorschaft an der Schnittstelle von Choreografie und Tanzwissenschaft lohnt es sich daher, näher auf Anschlussstellen beider Systeme einzugehen, die sich im ästhetischen Aspekt wissenschaftlichen Schreibens sowie in den methodischen Schreibverfahren des choreografischen Schreibens abzeichnen.
23 Vgl. Foucault, Michel: Qu’est-ce qu’un auteur. In: Michel Foucault. Dits et écrits. 1954–1988. I. 1954–1969. Hrsg. von Daniel Defert/François Ewald. Paris: Gallimard 1994, S. 789–821, hier S. 799–800. 24 Vgl. ebd., S. 800. 25 Vgl. Foucault, Qu’est-ce qu’un auteur. 1994, S. 796–798.
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5.
Rita Rieger
Methode und Performativität des Schreibens
Bekanntlich folgt wissenschaftliches Schreiben einer »Poetologie der Objektivität«26 bzw. einer ›Poetologie der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit‹, zieht man die literaturwissenschaftliche Terminologie als Referenzpunkt heran. Gemeint ist damit die Hervorhebung eines methodisch-reflektierten Herangehens im Problemlösen und in der Erkenntnisproduktion. Die methodisch-reflektierte Schreibweise wissenschaftlicher Texte wirkt sich in der Organisation des Textes dahingehend aus, dass dieser vielfach einem in verschiedenen Disziplinen gängigen Schema folgt: Zu Beginn wird eine Forschungslücke diagnostiziert, die mittels einer explizit gemachten wiederholbaren und nachvollziehbaren Herangehensweise an das Forschungsobjekt und den daraus resultierenden Evidenzen geschlossen wird. In Hinblick auf die Analyse von »A Choreographer’s Score« lässt diese Beobachtung zweierlei außer Acht: zum einen, dass jeder Bewegungsnotation ein analytisches Moment vorausgeht, und zum anderen, dass auch wissenschaftliches Schreiben ästhetischen Prinzipien folgt, sich wissenschaftliche Texte somit nicht allein auf ihren propositionalen Gehalt reduzieren lassen. Um der bisherigen Vernachlässigung der performativen Qualitäten wissenschaftlicher Texte entgegenzuwirken, schlägt Felix Steiner konsequenterweise die Berücksichtigung dieser Performativität auch in der Konzeptualisierung von Autorschaft im Wissenschaftssystem vor: »Unter dem [wissenschaftlichen – R. R.] Autor ist also eine personal zu denkende Instanz zu verstehen, die mit dem Text beigebrachte Intentionen verantwortet, mit dem Begriff der Autorschaft das Prinzip der dargestellten Verantwortung, welches sich auf die Gleichzeitigkeit von Performativität und Konstativität im Text beziehen lässt.«27
Ein Aspekt der Performativität wissenschaftlicher Texte ist an die Markierung des Autorsubjekts gebunden, die je nach soziokulturellen oder disziplinären Praktiken die Position durch eine Bindung der Aussagen an ein »Ich« im Text ausstellt (wie etwa im anglofonen Sprachraum) oder aber möglichst ausblendet (wie es in der deutschsprachigen Wissenschaftslandschaft vielfach der Fall ist).28 Eine dialogische Struktur, wie sie in »A Choreographer’s Score« bewusst gewählt wurde, stärkt einerseits die Vorstellung einer personal gedachten Autorinstanz, die in den Austausch mit anderen tritt, andererseits verhindert der im Dialog beständig wechselnde Bezugspunkt des Aussagesubjekts die Rückbindung an 26 Vgl. Steiner, Wissenschaftliche Autorschaft. 2014, S. 568–569. 27 Ebd., S. 569. 28 Vgl. ebd., S. 571. Hierbei sollte erwähnt werden, dass die Erforschung des wissenschaftlichen Schreibens bislang eine Schwerpunktsetzung im Bereich des naturwissenschaftlichen Schreibens aufweist, wohingegen geistes-, kultur- und sozialwissenschaftliche Schreibpraktiken erst jüngst verstärkt untersucht werden.
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eine singulär gedachte Autorinstanz. Diese doppelte Wirkungsrichtung der Dialogizität setzt sich noch fort, wenn der historische Fachkontext hinzugezogen und das Werk gleichsam auf seine Einschreibung in bestehende Diskurse oder hinsichtlich deren Erneuerung untersucht wird.
6.
Diskursive Anbindung und Diskurserneuerung
Die Einschreibung in wissenschaftliche Diskurse durch die »Anbindungen der eigenen Aussagen an jene der Scientific-Community« kann als weitere Anforderung an das wissenschaftliche Schreiben bezeichnet werden, die im Idealfall einen Dialog im Text anstößt.29 Voraussetzung für diese dialogische Akkulturation – und das macht sich besonders zu Beginn der Karriere bemerkbar – ist, dass der Text bereits einer epistemischen Autorposition zugeschrieben werden kann.30 Mit dieser Praxis der Autorzitationen im wissenschaftlichen Schreiben tritt, wie Schaffrick und Willand anmerken, verstärkt ›Autorität‹ als performativer Effekt von Autorschaft auf den Plan. Denn »[a]uctoritas als Eigenschaft des auctor bedeutet Glaubwürdigkeit, Verantwortlichkeit, Urheberschaft, aber auch den Einfluss und die Vorbildlichkeit einer Person«.31 Oder anders formuliert: Die Funktion wissenschaftlicher Autorschaft beschränkt sich in den Worten Foucaults nicht darauf, eine Quelle anzugeben, sondern agiert als gewisses ›Glaubwürdigkeits‹-Indiz (»un certain indice de ›fiabilité‹«) bezogen auf erfahrungsgestützte Techniken und Forschungsobjekte, die in einer spezifischen historischen Situation Verwendung finden.32 Innovative Schreibprojekte, die sich beispielsweise zwischen Wissenschaft und Kunst oder allgemein zwischen den Disziplinen bewegen, erweisen sich in dieser Hinsicht als janusköpfig, da sich ihre Verweisrichtung zerstreut. Sie bergen durch das Übertreten eigener Fachgrenzen einerseits die Gefahr einer Instabilisierung bereits anerkannter Autorpositionen, andererseits entfalten sie durch die Kooperation oder das Einschreiben in andere wissenschaftliche und/oder gesellschaftliche Bereiche aber auch das Potenzial, die eigene Position neu zu konturieren und die Reichweite der präsentierten Erkenntnisse auszudehnen. Die Besonderheit von »A Choreographer’s Score« liegt nun darin, dass weder der künstlerischen noch der wissenschaftlichen Schreibposition ein Privileg zuerkannt wird: Das gemeinsame Schreibprojekt lässt sich weder als (auto-)biografische Rekonstruktion berühmter Choreogra29 Ebd., S. 583. 30 Vgl. ebd., S. 584. 31 Schaffrick, Matthias/Willand, Marcus: Autorschaft im 21. Jahrhundert. Bestandsaufnahme und Positionsbestimmung. In: Theorien und Praktiken der Autorschaft. Hrsg. von Matthias Schaffrick/Marcus Willand. Berlin/Boston: de Gruyter 2014, S. 3–148, hier S. 51. 32 Vgl. Foucault, Qu’est-ce qu’un auteur. 1994, S. 800.
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fien mit einer wissenschaftlichen paratextuellen Rahmung noch als tanz- und musikwissenschaftliche Studie mit beigefügtem Interviewtranskript und weiterem umfangreichen Quellenmaterial einordnen. Die damit einhergehende Enthierarchisierung wird durch die Offenlegung des Schreibprozesses verdeutlicht, aus der die Lesenden erfahren, dass die Narrationen der Choreografin erst durch die Fragen der Tanz- und Musikwissenschaftlerin angestoßen werden und sich nicht allein ihrer eigenen Logik folgend entfalten. Bojana Cvejic´ beschreibt dieses Verfahren in der »Introduction« des ersten Bandes wie folgt: »My first task was to draft questions for the first interview on the basis of my analysis of the work, which was further shaped by the material I examined and selected from the archive of Rosas. The first interview was a conversation triggered by these questions, a dialogue where De Keersmaeker and I try to lay out the work and all that constitutes it. […] This interview is the moment when De Keersmaeker recollects not only the exact circumstances that precipitated her decisions, but also the feelings, moods, events, places, people, and stories that make up the life-fabric of processes of creation.«33
7.
»A Choreographer’s Score«: künstlerische und wissenschaftliche Schreib-Szenen im Dialog
Die in »A Choreographer’s Score« entworfenen Schreib-Szenen sind auf unterschiedlichste Weise dialogisch gehalten. Gerade diese Dialogizität führt die instabile Position eines als singulär gedachten Autorsubjekts vor Augen, da sich mit jeder Frage bzw. Antwort das Aussagesubjekt sowie die Adressatin ändern. Die der mündlichen Rede geschuldete dynamische Struktur erfährt in der Transkription des Interviews insofern eine Variation, als die beiden Gesprächspartnerinnen fiktionalisiert werden und die Lesenden als dritte Adressaten hinzukommen. Damit ändern sich auch die zugeschriebenen Rollen: Während die Interviewsituation zwischen Choreografin und Wissenschaftlerin einem verbreiteten Aufbau von Tanztraktaten folgt – ein*e Tanzmeister*in vermittelt sein/ihr Wissen und Können an eine*n wissbegierige*n Schüler*in –, verschiebt sich dieser Wissensvorsprung bzw. Wissensmangel in der Lektüre auf das Verhältnis der Autorinnen zu den Lesenden.
33 Cvejic´, Bojana: Introduction. In: Anne Teresa De Keersmaeker & Bojana Cvejic´: A Choreographer’s Score. Fase, Rosas danst Rosas, Elena’s Aria, Bartók. Brüssel: Mercator Fonds 2012, S. 7–19, hier S. 11.
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Das ›&‹ als Markierung geteilter Autorschaft
Bereits auf dem Buchcover werden die Namen der beiden Autorinnen genannt, wodurch diese für die Schöpfung des choreografisch-wissenschaftlichen Projekts und die Übernahme der Verantwortung für die darin enthaltenen Aussagen einstehen. Während das ›by‹ als biografischer und bibliografischer Operator des nachfolgenden Text- und Videomaterials fungiert und eine deklarative Funktion hinsichtlich der Attribuierung von Autorschaft erhält,34 verweist das »&« auf die Verteilung der Autorschaft auf mehr als eine Person. Vergleicht man die Gestaltung der drei Werktitel, lässt sich zudem eine Spezifizierung des zwischen 2010 und 2014 realisierten Schreibprojekts dahingehend feststellen, dass das gemeinschaftliche Konzept und die einzelnen Choreografien im Verlauf der Zusammenarbeit eine unterschiedliche Gewichtung zu erhalten scheinen: Während der erste Band die kooperative Autorschaft durch die Nennung beider Namen und den Verweis auf die Textsorte mit dem Zusatz ›A Choreographer’s Score‹ als Werk mit Originalitätsanspruch grafisch hervorhebt, verlagert sich dieser poetologische Bezug ab dem zweiten Band in den Untertitel. Stattdessen werden ab dem zweiten Band die choreografierten Stücke wie etwa »En Atendant & Cesena« (2013) durch die Erstnennung und den größeren Schriftgrad akzentuiert.35 Ab dem zweiten Band wird das gewählte multimediale Publikationsformat in den Einleitungen als bereits etablierte Publikationsform, als »bookcum-video«36, bezeichnet.
9.
Ein »book-cum-video« – deklarierte Originalität
Das systematisch arrangierte Werk – bestehend aus in sich geschlossenen Texten, Interviewtranskripten, Grafiken, Fotografien, Programmen, professionellen Korrespondenzen und handschriftlichen persönlichen Notizen der Choreogra34 Zur Bedeutung des ›by‹ bzw. ›von‹ als Markierung von Autorschaft siehe Hoffmann, Schreiber, Verfasser, Autoren. 2017, S. 175. 35 Eine direkte Gegenüberstellung der Schriftzüge und ihrer abweichenden Gestaltung verdeutlicht die unterschiedliche Akzentuierung, unabhängig davon, ob die Covergestaltung seitens der Choreografin, der Wissenschaftlerin oder des Verlags in dieser Form vorgeschlagen wurde. Bd. 1: »A Choreographer’s Score. / Fase, Rosas danst Rosas, Elena’s Aria, Bartók / by Anne Teresa De Keersmaeker / & Bojana Cvejic´«; Bd. 2: »En Atendant & Cesena / A Choreographer’s Score / by Anne Teresa De Keersmaeker / & Bojana Cvejic´ / Record book by Michel François«; Bd. 3: »Drumming & Rain / A Choreographer’s Score / by Anne Teresa De Keersmaeker & Bojana Cvejic´«. Dabei zeichnet sich auf dem Cover jeweils das erstgenannte Element des Titels durch Fettdruck und einen größeren Schriftgrad aus. 36 Cvejic´, Bojana: Choreography of En Atendant and Cesena in Score. In: Anne Teresa De Keersmaeker & Bojana Cvejic´: En Atendant & Cesena. A Choreographer’s Score. Brüssel: Mercator Fonds 2013, S. 7–15, hier S. 7.
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fin sowie internationalen Artikeln der Tanzkritik – wird von mehreren DVDs begleitet, die ähnlich der Printversion die aufgezeichneten Interviews durch ältere Interviewausschnitte mit der Choreografin sowie Filmpassagen, Probenaufnahmen und Demonstrationsbeispiele durchbrechen. Auf einen ersten Blick scheint das Buch einer wissenschaftlichen Schreib- und Präsentationsweise zu folgen, wohingegen im audiovisuellen Medium die Inszenierung des choreografischen Schreibens hervorsticht. Denn während die Paratexte des Buches wie das Inhaltsverzeichnis, die tanz- und musikwissenschaftliche Einleitung von Bojana Cvejic´, das Glossar zu De Keersmaekers Tanzidiom oder die explikativen Fußnoten vordergründig eine analytisch kommentierende Rolle der Wissenschaftlerin suggerieren, präsentiert das Videomaterial der DVDs eine auf einer Schultafel schreibende Künstlerin, die in einer Retrospektive ihre Choreografien analysiert, deren Schaffensprozess erzählt und mit bunter Kreide nachzeichnet.37 Als primäre auktoriale Schreibhandlung des Videomaterials kann De Keersmaekers Narration gelten, die aus einer gesprochenen Rede besteht und von einer anderen Person oder durch die technische Errungenschaft von Spracherkennungssoftware von einer Maschine verschriftet wird. Das Surplus dieser Form von Aufzeichnung im Video gegenüber der schriftlichen Transkription liegt in den die Rede begleitenden explikativen Gesten, in der Mimik oder in der Veränderung der Stimmlage: allesamt nonverbale Komponenten, die im Text ausgespart bleiben. Die Vorteile des gewählten multimedialen Formats reflektiert Bojana Cvejic´ in einem metareflexiven Kommentar zur Genese des Werkes in der Einleitung des ersten Bandes, nicht ohne auf Roland Barthes’ Überlegungen in »De la parole à l’écriture« anzuspielen: »[T]he discrepancy between la parole and l’écriture is also conditioned by the two different media. The written word compensates for a precision that the spoken word sometimes lacks; the video demonstrates the movement that can’t be described enough, but has to be performed. The choreographer’s parole fleshes out the account with affective tones of storytelling that the text is numb to.«38
Der intertextuelle Verweis auf Roland Barthes’ kurzen Text »De la parole à l’écriture« verdeutlicht, dass sich die beiden Autorinnen auch auf einer reflexiven Ebene mit dem Prozess der Transkription als einem Verfahren des gemeinsamen Schreibprojekts auseinandergesetzt haben. Während Barthes seine Überlegungen anhand des Diktierens anstellt, handelt es sich in der Übertragung vom 37 Während das Buch also die Dominanz einer wissenschaftlichen Autorschaft nahelegt – nicht zuletzt dadurch, dass der schriftliche Text nach wie vor als das Medium der Wissenschaft gilt –, unterstreicht das Video durch die ungebrochene Kameraeinstellung auf De Keersmaeker die physische Präsenz der Autorin und damit die Autorschaft der Choreografin. 38 Cvejic´, Introduction. 2012, S. 12.
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gesprochenen in das geschriebene Wort in »A Choreographer’s Score« nicht um ein Diktat im eigentlichen Sinne, da die beiden Autorinnen gleichermaßen sowohl sprechende als auch schreibende Rollen übernehmen. Die Problematik des in der ›Falltür‹ verschwindenden Körpers besteht jedoch auch in dieser Transkriptionsszene. Dem wirkt das Videomaterial insofern entgegen, als es die körperliche Präsenz der Choreografin festhält. Im Buch wiederum finden sich visuelle Gegenmaßnahmen, die mittels typografischer Varianz – des Wechsels von Passagen in Fettdruck und unmarkiertem Fließtext – Spuren der Körperlichkeit zweier Sprech- bzw. Schreib- und in diesem Fall auch Autorsubjekte legen. Davon abgesehen veranschaulicht das Heranziehen und Kombinieren heterogener medialer Formate eine gängige choreografische Praxis der Bewegungsvermittlung und wird sowohl als notwendiger wie auch produktiver Zugang der choreografischen und tanzwissenschaftlichen Analysen vorgestellt. Im der Transkription vorgelagerten tanzwissenschaftlichen Paratext des zweiten Bandes hingegen wird die Originalität dieses neuartigen Arrangements zudem explizit als »book-cum-video« bezeichnet: »Without attempting either to quench the thirst for a sequel or drastically diverge from the previous volume, outdoing its precedent for the sake of novelty, De Keersmaeker and I carry on with the same mission here: to elucidate and demonstrate the choreographic writing that created, this time, En Atendant and Cesena. The book-cum-video recomposes the two choreographies in words, photographs, drawings, schemes, diagrams, performance recordings, documentation.«39
Dass eine Rückbindung des künstlerischen Schreibens40 – geteilt in choreografisches (Tanzstücke) und tanztheoretisches Schreiben (Tanzpoetik) – an die Autorin De Keersmaeker und des wissenschaftlichen Schreibens an die Musikund Tanzwissenschaftlerin Bojana Cvejic´ zu kurz greift, veranschaulichen die eingestreuten Schreib-Szenen, welche die Zusammenarbeit und das daraus resultierende Werk gerade durch ihre Problematisierung erst analysierbar gestalten. Hauptcharakteristikum dieses gemeinschaftlichen Schreibprojekts ist (wie bereits erwähnt) die Annahme, dass die Unterbrechung eines spezifischen Schreibverfahrens nicht nur zu einer Destabilisierung der Einzelautorposition führt, sondern diese performativ auch vorführt und damit die Grundlage für die Konzeptualisierung einer gemeinschaftlichen Autorschaft an der Schnittstelle von Wissenschaft und Kunst anhand von konkreten, reflektierten Schreibpraxen bildet. 39 Cvejic´, Choreography of En Atendant and Cesena in Score. 2013, S. 7. 40 Kunst wird hier im Anschluss an Niklas Luhmanns systemtheoretischen Ansatz als Überbegriff für Tanz, Literatur, Malerei, Film etc. verwendet. Vgl. Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995.
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Kombination verschiedener Schreibverfahren
Choreografien veranschaulichen auf eindringliche Weise eine paradoxe Handlung, die Literatur gemeinhin befasst, nämlich das Einfangen von flüchtigen Bewegungen, Handlungen oder Gedanken durch die Notation und deren gleichzeitige Entfaltung im Text. Der Umstand, dass sich die verbalsprachliche Beschreibung von Bewegungen und tänzerischen Handlungen für die Vermittlung von Choreografien nur bedingt eignet, trägt zum Innovationsdrang von Tanztexten bei. Konsequenterweise kombiniert Anne Teresa De Keersmaeker zumindest fünf verschiedene Verfahren des Über-Bewegung-Schreibens: erstens die verbalsprachliche Figuration von Bewegung, deren deskriptive Elemente häufig in Narrationen eingebettet sind. Anhand einer retrospektiven Analyse von »Fase, Four Movements to the Music of Steve Reich« (1982) beschreibt De Keersmaeker etwa den Kreis, die Drehung, das Gehen und die an den Wachsblock erinnernde Gravur der Füße am Boden als zentrale Elemente ihrer frühen Tanzpoetik, wie sie in der Choreografie der zweiten Bewegung »Violin Phase« zum Ausdruck kommt: »Apart from turning, the movement is comprised of walking and printing steps that circumscribe a territory and draw patterns.«41 Dass Schreiben die Zeit bis zu einem gewissen Grad aufheben kann, verdeutlichen die Bein- und Fußbewegungen, die im sandigen Untergrund der Bühne sichtbare, länger andauernde Spuren hinterlassen und die vorangegangenen Bewegungen wieder aufflackern lassen, wenngleich sich die von Armen, Kopf und dem gesamten Körper in den Raum gezeichneten Bewegungsmuster dort nicht einschreiben. Das choreografische Schreiben wird darüber hinaus zweitens anhand der Transposition von tänzerischer Bewegung in formalen Schemata veranschaulicht: »3 x A, 1 x B, 2 x A, 1 x B, 1 x A, 1 x B, 1 x A, 2 x B, 1 x A, 3 x B, / 1 x C, 2 x B, 1 x C, 1 x B, 1 x C, 1 x B, 2 x C, 1 x B, 3 x C etc.«42 Solche aus Buchstaben- und Zahlenkombinationen bestehende Schemata geben in De Keersmaekers Schreibpraxis vor allem einen Einblick in die zeitliche Abfolge der Choreografie, lassen den intendierten Aussagegehalt ohne zusätzliche Explikationen jedoch im Dunkeln. Ein drittes Schreibverfahren bildet die grafische Visualisierung der räumlichen Ausdehnung von Bewegung, die mittels geometrischer Formen und Pfeile 41 De Keersmaeker, Anne Teresa/Cvejic´, Bojana: A Choreographer’s Score. Fase, Rosas danst Rosas, Elena’s Aria, Bartók. Brüssel: Mercator Fonds 2012, S. 27. 42 Ebd., S. 28. Dabei steht jeder Buchstabe dieser rhythmischen Reihe für eine Bewegung, die im Video vorgezeigt und in der Buchpublikation verbalsprachlich abstrahiert wird, die Zahl wiederum verweist auf die Wiederholung und damit auf die Dauer einzelner Bewegungen: »[I]f we name the first movement ›A‹, I repeat A a few times and then add a new movement ›B‹, repeating A and B until B gradually pushes A out« (ebd.).
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die Raumteilung und Bewegungsrichtung kondensieren. Als viertes Verfahren lassen sich die fotografischen Abbildungen einzelner Bewegungen und als fünftes die physische Demonstration vor der Kamera dokumentieren. Letztere weisen über eine poetologische Funktion im choreografischen Schreibprozess insofern hinaus, als sie dem Entwurf der Choreografien nachgelagert sind – sowohl die Fotografien als auch die physische Demonstration halten Bewegungssequenzen einer bereits entworfenen Choreografie im Sinne des Werkes fest. Im Kontext der künstlerisch-wissenschaftlichen Kooperation referieren sie auf das gemeinsame Projekt des »book-cum-video«. Derart werden die Narration und damit das gesprochene Wort, welches die Grundlage sowohl der im Interview induzierten choreografischen Schreib-Szene als auch des überarbeiteten Transkripts des Dialogs darstellt, nicht nur durch die Fragen der Wissenschaftlerin, sondern auch durch Visualisierungstechniken unterbrochen, die ihrerseits durch die Kombination von Wort- bzw. Alphabetschrift, Fotografien, numerischen Schematisierungen und grafischen Darstellungen einzelner Bewegungen einerseits ein phonographisches Schriftverständnis unterwandern, andererseits verschiedene technische Medien wie etwa die Fotokamera als ›Schreibgeräte‹ funktionalisieren. Der unmittelbare Effekt dieses Zusammenspiels unterschiedlicher Verfahren liegt in einer Unterbrechung gewohnter Schreib- und Lesemuster, da die einzelnen Darstellungsmodi einmal den Verweischarakter abstrakter Zeichensysteme, ein anderes Mal die visuelle Bildinformation akzentuieren. Bisweilen wird der Schreibprozess auch auf die Lesenden ausgedehnt, wenn diese im Text konkret dazu aufgefordert werden, zum Videomaterial zu wechseln. Die Kontrastierung dieser verschiedenen choreografischen Schreibverfahren verdeutlicht überdies, dass jede Bewegungsschilderung auf einer spezifischen Perspektive beruht und damit eine Analyse impliziert. Dabei ergänzen sich die gewählten Medien insofern, als die Bild-Text-Konstellationen in einer Weise angeordnet sind, dass die sprachlichen Passagen jeweils Übergänge beschreiben, die in den Bildern nicht gezeigt werden. Während die Schemata auf die zeitliche Abfolge der Bewegungen Bezug nehmen und die Grafiken das Beschreiben des Raumes durch Bewegung vermitteln, kürzen die eingefügten Fotoreihen eine rein sprachliche, potenziell langatmige, detaillierte Beschreibung der Bewegung ab. Die im Text etwa lediglich mit »swinging the legs«43 bezeichnete Bewegung in der Schilderung von »Violin Phase« wird erst durch die Fotoreihe präzisiert und in ihren raumgreifenden Richtungen vorstellbar. Während das Buch die unterschiedlichen Darstellungsformate sukzessive teilweise in einer schön geformten Handschrift aneinanderreiht, werden im Video neben einer verbalsprachlichen Beschreibung oder Narration die Bewe43 Ebd., S. 27–28.
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gungen physisch demonstriert und aufgrund der begrenzten Schreibfläche der Schultafel dort mit bunter Kreide aufgezeichnet, überschrieben und wieder gelöscht.44 Das wissenschaftliche Schreiben folgt hingegen einer anderen Systematik, wie im Folgenden gezeigt wird.
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Künstlerisch-wissenschaftliche Schreib-Szene
Während die wissenschaftliche Schreibposition von Bojana Cvejic´ im Videomaterial in den Hintergrund rückt und als anonyme Stimme aus dem Off ertönt, stützt die Buchpublikation die Autorposition der Tanz- und Musikwissenschaftlerin, indem Cvejic´ als Einzelautorin der »Introduction« – wie ihr Text im ersten Band betitelt wird – auftaucht.45 In allen drei Bänden übernimmt dieser in sich geschlossene Text, der zwischen paratextueller Hinführung zum Werk und wissenschaftlichem Teil eines interdisziplinären Schreibprojekts oszilliert, neben der analytischen auch eine proleptische sowie resümierende Funktion hinsichtlich der im Band enthaltenen Narration zu Entstehung, Umsetzung und Wirkung von Anne Teresa De Keersmaekers Choreografien. Mit den einführenden Erklärungen und der leserentlastenden Vorausschau auf das folgende Textmaterial verweist die Einleitung einerseits ganz auf die inhaltliche Ebene des Haupttextes. Andererseits reflektiert Cvejic´ retrospektiv auch das Verfertigen von Buch- bzw. DVD-Veröffentlichung und stellt damit die choreografischwissenschaftliche Schreibszene in den Vordergrund. Verglichen mit der dialogischen Struktur des transkribierten Interviews im Haupttext, zeichnet sich dieser in sich abgeschlossene Text als eine Art monologische Vorrede durch einen hohen Grad an Organisiertheit und Texteinheit aus. Die »Introduction« enthält nicht zuletzt Hinweise zur Lektüre und nennt als Ziel des Werkes – neben der Aufzeichnung von Choreografien aus der Perspektive der Choreografin – die Vermittlung von Erkenntnissen an ein breites tanzinteressiertes Publikum.46 Als besonders markant erweist sich die wissenschaftliche Organisiertheit des Textes im ersten Band:47 Die Forscherin verortet hier das kollaborative Projekt im tanzwissenschaftlichen Diskurs. Dazu stellt sie es in die Tradition der ersten 44 Vgl. exemplarisch die erste DVD Fase. Hrsg. von Rosas. Brüssel: Mercator Fonds 2012 [00:22:47–00:25:41]. 45 Die weiteren Titel der vorangestellten wissenschaftlichen Studien von Cvejic´s lauten »Choreography of En Atendant and Cesena in Score« (Bd. 2) und »Drumming and Rain in a Choreographic Score« (Bd. 3). 46 Vgl. Cvejic´, Introduction. 2012, S. 18. 47 Dort wird die Publikation als erstes Resultat eines im Jahr 2010 begonnenen Forschungsprojekts bezeichnet und die Genese auf De Keersmaekers Wunsch, ihre frühen Choreografien aufzuschreiben, zurückgeführt (vgl. ebd., S. 7).
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international rezipierten Tanzaufzeichnungen, die mit Thoinot Arbaus »Orchésographie« (1588) und Jean-George Noverres »Lettres sur la Danse et sur les ballets« (1760) zitiert werden, und situiert »A Choreographer’s Score« auch im aktuellen europäischen tanzwissenschaftlichen Diskurs, der seit dem Millennium wieder verstärkt nach ›Modi der Dokumentation, Archivierung und Vermittlung von zeitgenössischem Tanz‹ sucht.48 Insgesamt folgt Cvejic´s Aufsatz einem in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen gängigen Schema: Nach der Diagnostizierung einer Forschungslücke wird diese mit den im Text beigebrachten Evidenzen geschlossen. Neben der seit den Anfängen der Tanzschriften konzedierten und nach wie vor gegebenen Herausforderung, eine auch für Laien verständliche Aufzeichnungsform für Choreografien zu präsentieren, wird »the lack of self-reflective writing that would illuminate choreography as an authorial poetics«49 als Desiderat genannt. Mithilfe eines methodischen Vorgehens soll diese Lücke durch »A Choreographer’s Score« geschlossen werden. Die genannte Methode wird dahingehend spezifiziert, dass sie den künstlerisch-wissenschaftlichen Zugang des gemeinsamen Schreibprozesses offenlegt und chronologisch in drei Arbeitsphasen unterteilt: erstens der choreografisch und tanzwissenschaftlichen Analyse der Choreografien, zweitens der systematischen Ergänzung der Studien durch illustrative Interviews, Grafiken und Zusatzmaterialien und drittens durch das Einfügen tanzästhetischer und -poetologischer Überlegungen von Anne Teresa De Keersmaeker.50 Zudem wird das eingangs kritisierte Fehlen einer selbstreflexiven Position in der Beschäftigung mit Choreografie auf die wissenschaftliche Tätigkeit ausgeweitet und auch auf einer metareflexiven Ebene der »Introduction« eingelöst, indem Cvejic´ die verschiedenen choreografisch-wissenschaftlichen Schreibhandlungen ebenfalls drei Phasen zuordnet, die per Analogie das wissenschaftliche Schreiben als auktoriale Handlung erhellen könnten. In einer ersten Phase erstellte die Wissenschaftlerin – ausgehend von Tanzaufzeichnungen, Live-Performances und Archivmaterial – ein flexibles Skript mit Leitfragen für das Interview. Die Interviewsituation selbst wurde als dialogische Unterrichtseinheit inszeniert, wie das in den DVDs enthaltene Videomaterial unschwer erkennen lässt. Dieses Setting wird auch für die weiteren Bände beibehalten. Die Kamera richtet sich auf eine mobile Schultafel und einen Stuhl (in einem an48 Zitiert werden Trisha Browns Schriften, publiziert als »Early Works 1966–1979« (2005); das »Siobhan Davis Archive«, online seit 2007; William Forsythes auf CD-ROM veröffentlichte »Improvisation Technologies« (1999); »Emio Greco / PC Inside Movement Knowledge« (2008) oder William Forsythes digitale interaktive Publikation von »Synchronous Objects« (2009). Vgl. Cvejic´, Introduction. 2012, S. 7. 49 Ebd., S. 8. 50 Ebd., S. 8–9.
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sonsten leeren Raum), auf dem De Keersmaeker sitzt. Die Fragen der Tanzwissenschaftlerin erfolgen (wie bereits erwähnt) aus dem Off.51 Die erste wissenschaftliche Schreibphase umfasst die Tätigkeiten der Recherche, Selektion, Konzeption und auch des Rückgriffs auf externes Expertenwissen, denn Cvejic´ erwähnt, dass für die Bearbeitung der Interviewvideos die Filmemacher Olivia Rochette und Gerard-Jan Claes hinzugezogen wurden. Das choreografisch-wissenschaftliche ›Schreiben‹ verlässt damit den Text als privilegiertes Medium der Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnis und umfasst auch das Videomaterial, selbst wenn die technische Umsetzung ausgelagert wurde. Die zweite Schreibphase wird als Komposition und Textedition bezeichnet. Ausgehend von der Transkription des gefilmten Videos, verfasst Cvejic´ den Text, der in einer Revisionsphase von ihr durch Fotos und von De Keersmaeker durch illustrative Zeichnungen erweitert wird. Die dritte Phase wird als »Finalizing« reflektiert und besteht in der Selektion und Integration von Archivmaterial wie persönlichen Notizen der Choreografin oder Tanzkritiken, die als Authentizitätsmarker und externe Zeugen auftreten. Eine eindeutige Zuschreibung der verschiedenen Aktivitäten dieser Phase zu einer der beiden Autorinnen wird nicht geleistet. Bezogen auf den Aufbau des Werkes »A Choreographer’s Score«, wird der gemeinschaftliche Haupttext des transkribierten Interviews somit durch zwei Positionen gerahmt, die jeweils die Einzelautorschaften von De Keersmaeker und Cvejic´ unterstreichen. Einmal durch die Signatur der »Introduction« von Cvejic´, das andere Mal durch die Nennung von De Keersmaeker als Autorin der Choreografien in den Tanzkritiken und Programmen sowie durch Auszüge aus ihren persönlichen Notizen und Briefen. Bevor der einleitende wissenschaftliche Teil mit einer Bibliografie der zitierten Werke endet, verdeutlicht die Forscherin, dass es sich bei den in Folge präsentierten Choreografien nicht um die autorisierte, an die Intention der Künstlerin gebundene Werkinterpretation handelt, sondern um eine Einführung in De Keersmaekers Poetik, um eine Hinführung zur Episteme des Tanzes52 sowie um die Beschreibung der zentralen ästhetischen Prinzipien in De Keersmaekers Choreografien.53
51 Die jeweiligen Aufzeichnungen fließen in die weitere Gestaltung der »Scores« ein, indem das Skript für das zweite Interview auf Basis des ersten gefilmten Dialogs zwischen Choreografin und Wissenschaftlerin erstellt wird. 52 Vgl. Cvejic´, Introduction. 2012, S. 18. 53 Vgl. Cvejic´, Choreography of En Atendant and Cesena in Score. 2013, S. 9.
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Konklusion
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein zentrales Charakteristikum von »A Choreographer’s Score« in einer selbstreflexiven Konfrontation verschiedener Schreibverfahren und Medien liegt, deren unterbrechende Wirkung ästhetisch produktiv gemacht wird und dadurch für die Inszenierung einer kooperativen Autorschaft an der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft herangezogen werden kann. Zu den präsentierten Verfahren des Schreibens zählen neben dem systematischen Sammeln, Selektieren, Kommentieren, Arrangieren vor allem das Transkribieren, das mit Rekurs auf Roland Barthes insbesondere auf den fehlenden Körperbezug in modernen Autorschaftskonzepten hinweist. Diesem Mangel wird durch eine differenzierte typografische Gestaltung der Rederepliken im Buch sowie durch das Videomaterial entgegengewirkt. Ebenso wie die Fragen der Wissenschaftlerin De Keersmaekers Narration unterbrechen und zugleich auch initiieren, stellen die visuellen Elemente im Text oder die Montagen von Filmausschnitten im Video ein produktiv-unterbrechendes Moment dar. Aus dieser vielschichtigen dialogischen Schreibweise resultiert ein Werk, das eigene ästhetische Qualitäten aufweist und die literarische Gattung der Tanzpoetiken um ein neues multimediales Format – ein »book-cumvideo« – bereichert. Dabei wird die den einzelnen Phasen und Schreibpositionen zugeschriebene Autorität durch das Wechselspiel der choreografischen und wissenschaftlichen Perspektive sowie der verschiedenen Medien destabilisiert. Die Deklaration der beiden Autorinnen auf dem Buchcover und der Verweis auf sie als Urheberinnen im Impressum der Publikation stellen hingegen einen Akt der geteilten Zuschreibung des juridisch-ökonomischen Kennzeichens von Autorschaft dar. »A Choreographer’s Score« präsentiert sich nicht nur als eine Form von Autorschaft, die durch das In-Szene-Setzen einer produktiven Verbindung choreografischer und wissenschaftlicher Schreibverfahren mit der Vorstellung von ›Autor‹ als eine personale Instanz bricht. Vielmehr stößt das Werk durch die kritische Reflexion der Zusammenarbeit in Schreib-Szenen eine Konzeptualisierung moderner Autorschaft an, die neben dem ästhetischen, auf die Originalität bezogenen Kriterium, neben der biografischen Setzung eines Werkes und neben dem juridisch-ökonomischen Merkmal die Berücksichtigung der gewählten Schreibpraktiken einfordert. Dazu zählen etwa der Wunsch zu schreiben und dessen systematische Durchführung sowie die Beachtung der Performativität des Werkes, die sich beispielsweise in der Rückholung des Körpers in den Text sowie in der Positionierung der Autorsubjekte innerhalb bestehender Diskurse oder aber in deren Erneuerung äußert.
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Urania Milevski
Von der Schreibszene zur Streitszene – Rekonstruktion(en) von Schreibprozessen bei Arno Holz und Johannes Schlaf
1.
Einleitung »Der wahrhaft schöpferische Dichter ist ein Konduktor der großen Lebens- und Schicksalsgewalten. Was unmittelbar einschließt, daß er seine Funktion nicht, oder doch nur vorübergehend, mit einem anderen teilen kann.«1
Vier Jahrzehnte nach der Zusammenarbeit mit Arno Holz formuliert Johannes Schlaf diese Feststellung und zieht ein Fazit in Hinblick auf gemeinsames Schreiben im Allgemeinen und seine geteilte Autorschaft im Speziellen. Heute gehören insbesondere die von beiden gemeinsam verfasste Prosaskizze »Papa Hamlet« (1889) und das Drama »Die Familie Selicke« (1890) zum deutschsprachigen Literaturkanon, ebenso wie Arno Holz und Johannes Schlaf als eines der wenigen Autorenkollektive. Schlafs Befund, der gemeinsames Schreiben nur bedingt und vor allem nur kurzzeitig gegeben sieht, wird vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen besser lesbar. Denn die geteilte Autorschaft mit Holz, die 1888 mit »Die kleine Emmi« begann und 1892 mit der Anthologie »Neue Gleise« ihren »natürlichen Abschluss«2 fand, wurde 1898 zum Gegenstand eines Streits, in dem bis 1909 mehrere »letzte[] Wort[e]«3 gesprochen wurden und der 1 Schlaf, Johannes: Zur Frage der dichterischen Zusammenarbeit. In: Shakespeare-Jahrbuch 1933, S. 105. 2 Holz, Arno/Schlaf, Johannes: Neue Gleise. Gemeinsames von Arno Holz und Johannes Schlaf. In drei Theilen und einem Bande. Berlin: F. Fontane & Co. 1892, S. 5. 3 Vgl. Schlaf, Johannes: Mentale Suggestion. Ein letztes Wort in meiner Streitsache mit Arno Holz. Stuttgart: Axel Juncker 1905. Wie man am Eingangszitat erkennt, war Schlafs Broschüre keinesfalls das »letzte Wort«, das in der Streitsache Holz/Schlaf gesprochen wurde. Nach 1905 erlosch allerdings das öffentliche Interesse an den Stellungnahmen der Autoren zusehends, was sich darin äußerte, dass es schwieriger für sie wurde, Verleger für ihre Streitschriften zu finden. Uwe Wirths These von der engen Beziehung zwischen Schreib-, Druck- und Editionsszene kann so um die »Streitszene« ergänzt werden, zumindest, wenn diese in verlegten Streitschriften resultiert. Vgl. Wirth, Uwe: Die Schreib-Szene als Editions-Szene. Handschrift und Buchdruck in Jean Pauls »Leben Fibels«. In: »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. Hrsg. von Martin Stingelin. München: Wilhelm Fink 2004, S. 157.
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in literaturgeschichtlichen Darstellungen bis heute nachhallt. Wie das gemeinsame Schreiben, das Holz und Schlaf vor dem Bruch als harmonische gemeinsame Schreibszene4 öffentlich orchestriert und inszeniert hatten, wurden dann auch die Streitszenen in Artikeln und Broschüren publik ausgetragen. Die von Holz und Schlaf initiierte literarische Strömung, die später als konsequenter Naturalismus in die Literaturgeschichte einging, wurde vom zeitgenössischen Publikum kontrovers diskutiert.5 Die Veröffentlichung von »Papa Hamlet« zusammen mit zwei weiteren »Studien«6 – »Ein Tod« und »Der erste Schultag« – war noch unter dem Pseudonym Bjarne Peter Holmsen geschehen, um die deutsche Literaturszene auf die Probe zu stellen. Holz und Schlaf wollten damit die beispielsweise von Michael Georg Conrad sehr prominent vertretene Hypothese der Vorliebe des deutschen Kulturbetriebs für fremde Literaturen widerlegen.7 Ihre Veröffentlichung als Übersetzung aus dem Norwegischen auszugeben, zeigte später auf, dass die negativen Besprechungen ihres Textes weniger in einer abschlägigen Haltung zum Deutschen als vielmehr in der Ablehnung einer Literatur begründet waren, die sich einem konsequenten Realismus und modernem »Naturwollen«8 verpflichtet sah. Ein Nebenschauplatz dieser öffentlichen Debatte um den ästhetischen Wert von »Papa Hamlet«, »Die Familie Selicke« und den übrigen Gemeinschaftstexten des Autorenduos war nach deren Bekanntwerden die geteilte Autorschaft von 4 In der Definition nach Campe ist damit die Deskription des Zusammenspiels von Autor*innen, Sprache, Instrumentalität und Gestik gemeint, »die die Grenze der Unterscheidungen in Richtung auf den Körper oder auf Materialität überquert«. Davon abzugrenzen ist die SchreibSzene als »nicht-stabiles Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste« (vgl. Campe, Rüdiger: Die Schreibszene, Schreiben. In: Schreiben als Kulturtechnik. Hrsg. von Sandro Zanetti. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2012, S. 270f.). Stingelin spricht im Anschluss an Campe von der Unterscheidung zwischen harmonischer Schreibszene und der Schreibszene als Momentaufnahme eines Schreibens, das sich »thematisiert, problematisiert und reflektiert« (vgl. Stingelin, Martin: ›Schreiben‹. Einleitung. »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. Hrsg. von Martin Stingelin. München: Wilhelm Fink 2004, S. 15). 5 Ingo Stöckmann bezeichnet diese sehr umfassende Kritik der Zeitgenossen, teils Akteur*innen der Strömung selbst, als singuläres Problem in der deutschsprachigen Literaturgeschichte: »Bis heute gilt der Naturalismus als Exempel einer Moderne, die an ihren eigenen Ansprüchen gescheitert ist« (Stöckmann, Ingo: Naturalismus. Stuttgart: Metzler 2011, S. 1). 6 Franzius, Bruno [Holz, Arno/Schlaf, Johannes]: Vorwort zu »Papa Hamlet«. Leipzig: Carl Reissner 1889, S. 9. 7 »[S]ie kommen zu uns, die Franzosen und Engländer und Russen und tutti quanti mit ihren Werken, weil wir ihnen die Hände und Füße breiten, weil wir ihnen die besten Plätze auf unserem Markte einräumen, weil wir sie den eigenen Landsleuten vorziehen und sie als die hehren Muster preisen […]« (Conrad, Michael Georg: Ketzerblut. Sozialpolitische Stimmungen und kritische Abschlüsse. München: M. Poeßl 1893, S. 8). Vgl. Holz, Arno/Schlaf, Johannes: »Die Familie Selicke«. Drama in drei Aufzügen. Berlin: Wilhelm Issleib (Gustav Schuhr) 1890, S. V. 8 Holz/Schlaf, »Die Familie Selicke«. 1890, S. VI.
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Holz und Schlaf. Es löste offensichtlich Irritationen aus, dass sich nicht eine, sondern zwei Personen gleichermaßen für ein literarisches Werk verantworteten. Schon in der ersten ausführlichen Rezension zum »Papa Hamlet«-Band gab Karl Küchenmeister alias »Kaberlin« im »Magazin für die Litteratur des In- und Auslandes« Arno Holz als Urheber an, während der noch unbekannte Johannes Schlaf lediglich in einer kurzen Notiz in der Fußnote erwähnt wurde: »Johannes Schlaf soll ebenfalls, aber nur im zweiten Grad, an der Arbeit beteiligt sein.«9 In der übrigen, detaillierten Besprechung werden die Texte ausschließlich vor dem Hintergrund des bisherigen Schaffens von Arno Holz diskutiert, dem Küchenmeister große Wertschätzung entgegenbringt. Seinen Artikel beendet er mit den Worten: »Arno Holz ist also nicht nur derjenige Dichter, welcher dem Realismus neue Bahnen erschlossen, sondern er ist auch bis jetzt noch der Einzige, der mit voller Sicherheit bis an die vorläufig erreichbare Grenze in Stoff und Form vorgehen kann. Als Künstler eine große Individualität, fordert er gänzliche Unterwerfung, ehe sich die Feinheiten seiner Kunst im Genusse erschließen.«10
Diese vollkommene Ignoranz des Mitautors ist in ihrer Vehemenz die Ausnahme. Doch auch in späteren Publikationen lassen sich Rezensenten und Philologen nicht nehmen, ihre Einstellung zu den »litterarischen Brüder[n]«11 Holz und Schlaf auszuführen, indem entweder der eine oder der andere als ›eigentlicher Künstler‹ und treibende Kraft stilisiert wird. In den Formulierungen schwingt Wertschätzung oder Abneigung gegenüber Holz oder Schlaf mit: Im Gegensatz zu Küchenmeister, der Holz für den Genius hält, vertritt beispielsweise Richard M. Meyer in »Die deutsche Litteratur des Neunzehnten Jahrhunderts« (1900) mal mehr, mal weniger polemisch die Meinung, Holz sei ein Blender, der mit seiner Kunsttheorie und seiner Literatur alten Wein in neuen Schläuchen verkaufe. Mit viel argumentativem Aufwand wird Schlaf dabei im direkten Vergleich mit Holz als besserer Literat und überzeugenderer Künstler dargestellt: »Schlaf ist wirklich, was der rasche Anempfinder Holz nur sein möchte: ein moderner Mensch.«12 Eine Passage aus Schlafs Novelle »In Dingsda« (1892) liest Meyer sogar als programmatisches Manifest und bezeichnet sie als »die reiffste Formulierung, zu der die junge Schule [des Naturalismus – U. M.] gekommen ist«13, während er für die (tatsächlich) theoretische Schrift von Holz, »Die Kunst« (1891), geradezu verächtliche Worte findet. 9 Kaberlin [Küchenmeister, Karl]: Neurealistische Novellen. In: Magazin für die Litteratur des In- und Auslandes 58, 1889, 45, S. 713. 10 Ebd., S. 716. 11 Meyer, Richard M.: Die deutsche Litteratur des Neunzehnten Jahrhunderts. Berlin: Georg Bondi 1900 (Das Neunzehnte Jahrhundert in Deutschlands Entwicklung; Bd. III), S. 818–826. 12 Ebd., S. 820. 13 Ebd., S. 821.
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Der Anlass für dieses philologische Nullsummenspiel ist nicht etwa ein »Gewissensentscheid«14, den alle Zeitgenossen treffen mussten, wie es Helmut Scheuer in seiner biografischen Studie zu Holz versteht. Ich möchte dafür vielmehr ein allgemeines Kunstverständnis des 18. und 19. Jahrhunderts verantwortlich zeichnen, das sich dem Genie verpflichtet sieht und hier weiterhin wirkt.15 Dies wird in Meyers Text beispielsweise deutlich ausformuliert: Ein genuin schöpferischer Akt ist im Kollektiv unmöglich, ein wahres, d. h. neuartiges und innovatives, Kunstwerk »vollbringt der Genius in seinem unbewußten Drange«.16 Dass der Genius natürlich nur in Einzahl walten kann, scheint in Meyers Verständnis in der Natur der Sache zu liegen: Das Gemeinschaftswerk von Holz und Schlaf hält er deswegen zwar für interessant, aber dennoch weder für neu noch für innovativ. Dieses traditionelle Kunstverständnis, das vor dem Hintergrund einer Genieästhetik operiert, sorgt dafür, dass gemeinsames Schreiben von den Zeitgenoss*innen nur als »Grenzfall oder Paradox«17 verstanden und kollaborative Literaturprojekte selten kanonisiert werden.18 Für den vorliegenden Aufsatz soll jedoch vor allem wichtig sein, dass Holz und Schlaf auf diese Zuschreibungen aus dem literarischen Feld mit der Thematisierung ihres gemeinsamen Schreibens reagierten. Die folgenden Ausführungen orientieren sich strukturell ebenfalls an der Zäsur des Zerwürfnisses 1898 und fragen nach den Imperativen der Inszenierung der unterschiedlichen Schreib-Szenen, wie sie Campe fasst: »Kann man, ließe sich folgern, das, was die ›Schreib-Szene‹ an positivem Wissen, an Kulturgeschichte der Literaturgeschichte anzubieten scheint, unmittelbar in einzelnen Zügen fassen, wenn man statt nach Darstellungsformen der ›Schreib-Szene‹ nach den Imperativen ihrer Inszenierung sucht? Erfolgt die Anweisung, wie zu schreiben sei, nicht vor der Festlegung eines Rahmens, eines Darstellungsraumes der ›Szene‹ für das ›Schreiben‹, so daß die Frage der Kontextualität des Schriftthemas in die des szenischen Rahmens des Schreibens verlegt wird?«19
14 Scheuer, Helmut: Arno Holz im literarischen Leben des ausgehenden 19. Jahrhunderts (1883– 1896): eine biographische Studie. München: Winkler 1971, S. 100. 15 Peter Sprengel bezeichnet es als ein vor allem »bürgerliches Kunstverständnis«. Davon abzugrenzen sei der frühromantische Genius, der als »Gabe zum Aufgehen in einer anderen Individualität« verstanden werden kann (vgl. Sprengel, Peter: Literatur im Kaiserreich: Studien zur Moderne. Berlin: Erich Schmidt 1993, S. 92). 16 Meyer, Die deutsche Litteratur. 1900, S. 823. 17 Vgl. Sprengel, Literatur im Kaiserreich. 1993, S. 92. 18 Wie in Kritik und Forschung über kollaborative Literaturprojekte um 1900 gesprochen wird und welche Auswirkungen das auch in praxeologischer Hinsicht auf die heutige germanistische Forschung und Edition hat, ist Gegenstand einer größeren Studie der Autorin, die aktuell im Entstehen ist. 19 Campe, Die Schreibszene, Schreiben. 2012, S. 275.
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Als konkrete Anweisung kann ein bestimmtes Verständnis von Kunst im engeren Sinne natürlich nicht gelten. Stattdessen möchte ich Campes »Imperative« vielmehr als jene Normen und Regeln verstanden wissen, die hinter dem jeweiligen Verständnis von eigener, fremder und gemeinsamer Autorschaft stehen. Diese Normen und Regeln können in unterschiedlicher Funktion innerhalb der Schreib-Szene auftauchen, implizit als Hintergrundannahme fungieren oder explizit als Argument für oder gegen die eigene (Haupt-)Autorschaft. Es geht im Folgenden also nicht um eine Critique Génétique, die anhand verschiedenster Zeugnisse versucht, den tatsächlichen gemeinschaftlichen Schreibakt zu rekonstruieren,20 sondern um Holz’ und Schlafs Thematisierung des eigenen, des anderen und des gemeinsamen Schreibens. Die von Holz und Schlaf vor 1898 verfassten Texte sollen in diesem Zusammenhang als transmediale Inszenierung ihrer gemeinschaftlichen Schreibszene gedeutet werden. Anhand der von Holz allein verfassten Schrift »Die Kunst« sowie der gemeinsamen Arbeiten »Neue Gleise« und »Der geschundene Pegasus« (1892, Bildergeschichte) wird gezeigt, wie Holz und Schlaf strategisch operieren, um dem vorherrschenden traditionellen Kunstbegriff ein kollaboratives Schöpfungskonzept entgegenzusetzen. Als die Co-Autorschaft im Streit endet, weil sich Schlaf in der »Zukunft« als »eigentlichen Autor der ›Familie Selicke‹«21 bezeichnet, wird die harmonische Schreibszene zum umstrittenen Gegenstand. Beide Autoren überdenken den Rahmen ihres gemeinsamen Schreibens, die Rollenzuschreibungen und den Ablauf ihres Arbeitens. Die vormalige Schreibszene wird zu einem »nicht-stabile[n] Ensemble«22, deren Brüchigkeit von Rüdiger Campe verdeutlicht wird (auf den die Schreibweise »Schreib-Szene« zurückgeht mit dem Bindestrich als bewusste Sollbruchstelle). Als diese verhandelbare Schreib-Szene wird sie zum Gegenstand zahlreicher öffentlicher 20 Natürlich ist auch ein bestens dokumentierter Schreibprozess kein Garant für eine umfängliche Rekonstruktion des gesamten Schreibprozesses. Vgl. Grésillon, Almuth: Über die allmähliche Verfertigung von Texten beim Schreiben [Jahr]. In: Schreiben als Kulturtechnik. Hrsg. von Sandro Zanetti. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2012, S. 153. Zu den Möglichkeiten einer produktiven Kombination von Schreibprozessforschung, Critique Génétique und Kulturpoetik vgl. Clare, Jennifer: Textspuren und Schreibumgebungen. In: Textpraxis 13, 2017. (letzter Zugriff 01. 10. 2020). 21 Schlaf, Johannes: Weshalb ich mein letztes Drama zerriß. In: Die Zukunft 24, 1898, S. 565. Peter Sprengel impliziert, dass es bei der Streitsache Holz gegen Schlaf weniger um das gemeinsame Werk als vielmehr um eine gemeinsame Freundin gegangen wäre. In Emilie Wittenberg sollen beide Autoren verliebt gewesen sein, sie wurde aber letztlich die Frau von Holz. Vgl. Sprengel, Peter: Auf dem Weg zur »Blechschmiede«. Holz und Schlaf als »Klapphornisten«. Mit neunzehn Klapphorn-Gedichten auf Postkarten an Emil Richter (1890/91). In: Hofmannsthal-Jahrbuch zur europäischen Moderne 2, 1994, S. 84; vgl. Scheuer, Arno Holz. 1971, S. 124f. 22 Campe, Schreibszene, Schreiben. 2012, S. 270.
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Reinszenierungen durch Holz und Schlaf. Dabei wird nicht nur das gemeinsame Schreiben, sondern auch das Schreiben des jeweils anderen zum Gegenstand der Kritik. Der mediale Fokus verengt sich auf die Streitschrift und der Geniegedanke des 18. und 19. Jahrhunderts wird im entbrennenden Streit um das gemeinsame Werk desto vehementer reanimiert.
2.
Gemeinsames Schreiben I: Kollaboration, Kunstbegriff und Kunstproduktion in der Theorie
Arno Holz und Johannes Schlaf gelten gemeinsam als Begründer des sogenannten konsequenten Naturalismus, doch wird die literaturtheoretische Basis dieser Programmatik zumeist Holz aufgrund seiner 1891 erschienenen Schrift »Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze« zugesprochen. Der Text, den er Johannes Schlaf widmete,23 gibt an, ein völlig neues Verständnis von Kunst zu ermöglichen, das der Verfasser »selbständig, aus eigener Kraft, und im Widerspruch mit all seinen Vorgängern«24 entwickelt habe. Holz, der sich zeitlebens an der Literaturwissenschaft und der Literaturkritik abarbeitete,25 dessen eigene Bildung allerdings nicht institutionell erworben war, distanzierte sich betont von der deutschen Literaturwissenschaft und schloss sich der französischen (also Émile Zola, Hippolyte Taine sowie Jules und Edmond de Goncourt) an. Sein Kunstgesetz wurde immer wieder auf die quasimathematische Formel »Kunst = Natur – X« heruntergebrochen, die ausformuliert auf dem folgenden Grundsatz fußt: »Die Kunst hat die Tendenz, wieder die Natur zu sein. Sie wird sie nach der Massgabe ihrer jeweiligen Reproductionsbedingungen und deren Handhabung.«26 Holz entwickelte diese Programmatik anhand verschiedener Beobachtungen, die die Kunstproduktion im Allgemeinen und das eigene Schreiben im Besonderen betrafen. Sein Ansatz entspricht einem modernen Verständnis von (Natur-)Wissenschaft, das er generell auf die Kunst und speziell 23 Johannes Schlaf ist als Kunsttheoretiker deutlich weniger bekannt geworden, obwohl er sich zeitlebens intensiv mit dem Naturalismus als Kunstprogramm und »Lebensanschauung« auseinandergesetzt hat. Vgl. Kafitz, Dieter: Naturalismus als Weltanschauung. Zur Kunstauffassung von Johannes Schlaf. In: Deutsche Dichtung um 1890. Beiträge zu einer Literatur im Umbruch. Hrsg. von Robert Leroy/Eckart Pastor. Frankfurt/Main: Peter Lang 1991, S. 75. 24 Holz, Arno: Die Kunst, ihr Wesen und ihre Gesetze. Berlin: Wilhelm Issleib (Gustav Schuhr) 1891, S. 1f. 25 »Der revolutionäre Anspruch von Arno Holz ku¨ ndet von zwei Motivationen: nicht epigonal zu sein und keinesfalls den Eindruck erwecken zu wollen, man ignoriere die Tradition. Das zeigt sich im Werk selbst und in der Theorie« (Nebrig, Alexander: Disziplinäre Dichtung. Philologische Bildung und deutsche Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Berlin/Boston: de Gruyter 2013, S. 177f.). 26 Holz, Die Kunst. 1891, S. 93.
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auf die Literatur überträgt. Dazu legt er (Schreib-)Prozesse offen und dokumentiert Beobachtetes, um schließlich von der Wiederholung auf ein allgemeingültiges Gesetz zu kommen. Als Versuchsobjekt inszeniert er sich dabei selbst: »Freilich wird dabei nicht zu vermeiden sein, dass ich dem Leser ab und zu auch mit allerhand Intimitäten aufwarte; dass ich ihn öfter und tiefer in meine Werkstatt sehn lasse, als dies sonst bei uns Schriftstellern wohl üblich ist.«27 Vor allem anhand des eigenen Schreibens führt er aus, dass ein Kunstwerk als Ergebnis des menschlichen Schaffens einerseits geprägt ist von dem Entstehungsmilieu, das die Wahrnehmung des Künstlers lenkt und beeinflusst, und andererseits von dessen Handhabung eines etwaigen Instrumentariums. Indem er das Bild eines Kindes als Beispiel für einen künstlerischen Schaffensprozess heranzieht und die dabei gewonnenen Erkenntnisse auf die Literaturproduktion anwendet, lässt er ein Kunstverständnis erkennen, das Roland Barthes einzig bei Mallarmé zu finden glaubt: Holz »empfindet« Literatur durchaus als Sprache und unterzieht die Schreibgeste einer genaueren Betrachtung.28 Holz kommt mit Bezug zum eigenen Schreibprozess zu einer Erkenntnis, die später von Flusser ausformuliert wird: Nicht nur die Sprache ist Instrument der Kunst – also »Zeichen (Buchstaben), eine Konvention (Bedeutung der Buchstaben), Regeln (Orthographie), ein System (Grammatik), ein durch das System bezeichnetes System (semantische Kenntnis der Sprache)« –, sondern auch die materialen Aspekte der Kunst wie »eine Oberfläche (Blatt Papier), ein Werkzeug (Füllfeder)« sowie »eine zu schreibende Botschaft (Ideen) und das Schreiben«29 gehören zum künstlerischen Akt dazu. Alle aufgezählten Aspekte sind als Einflussfaktoren auf den künstlerischen Prozess verantwortlich dafür, dass eine solche ideale Annäherung des Kunstprodukts an die Realität nur punktuell und niemals in Gänze stattfinden kann.30 Das Offenlegen des eigenen Schreibens im Dienste einer literaturtheoretischen Diskussion wird von Holz als Ausnahmefall hervorgehoben und mit der konkreten Absage an eine etwaige Genieästhetik verknüpft: 27 Ebd., S. 7. 28 Barthes, Roland: Schreiben, ein intransitives Verb? In: Schreiben als Kulturtechnik. Hrsg. von Sandro Zanetti. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2012, S. 240. Zum autonomen Kunstsystem der Moderne und ihren Akteuren vgl. Schumacher, Yves: Allegorische Autoreflexivität: Baudelaire, Mallarmé, George, Holz. Würzburg: Königshausen & Neumann 2016. 29 Flusser, Vilém: Die Geste des Schreibens. Schreiben als Kulturtechnik. Hrsg. von Sandro Zanetti. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2012, S. 261f. 30 Holz’ Feststellungen sind immer wieder als naive Übertragung von Natur in Kunst verstanden worden, die man im konsequenten Naturalismus verwirklicht sah – nicht nur von Meyer. Vgl. Meyer, Die deutsche Litteratur. 1900, S. 819f. Tatsächlich bezieht Holz aber den Menschen als Prisma, in dem die Realität zum Kunstwerk hin gebrochen wird, mit ein. Benjamin Specht fasst diesen Umstand im Begriff der »Empirisierten Transzendentalpoesie« zusammen. Vgl. Specht, Benjamin: ›Empirisierte Transzendentalpoesie‹. Wirklichkeits- und Subjektbegriff in Poetik und Lyrik bei Arno Holz. In: KulturPoetik 17, 2017, H. 1, S. 62–80.
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»Wir sind eben der Mehrzahl nach leider eine ziemlich kleinkrämrige Gesellschaft, sehr besorgt für uns und heillos eitel, und lieben es nicht, wenn man uns im Negligee ertappt. Alles, nur sich nicht hinter die Coulissen kucken lassen! Das ist so recht das A und O unsrer Weisheit. Und ich glaube, ich fürchte, ich argwöhne, die Schuld daran trägt jener Esel, der zum ersten Mal auf den Einfall kam, sich das Wörtchen ›Genie‹ zu construiren!«31
Was Holz im Folgenden referiert, ist sein Werdegang als Schriftsteller, dessen Anfang geprägt ist von der Lyrik, in der er selbst noch dem Geniegedanken huldigte.32 Es sind die eigenen literaturtheoretischen Überlegungen und die Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Literaturszene,33 die Holz dazu animieren, die Lyrik später zugunsten der Prosa aufzugeben. Der Übergang allerdings fällt ihm schwer, die Produktion erlahmt. Das Schreibprojekt, das ihn aus dieser »Krise[]«34 holen soll, ist ein Roman, dessen Schreibszene Holz in naturalistischer Manier entwirft, beginnend mit dem Ausruf: »Ich lebe den Abend noch immer!«35 Nun vor den Toren Berlins in Niederschönhausen am Schreibtisch sitzend, beschreibt Holz das kalte Wetter draußen, die behagliche Wärme drinnen und schließlich das »blendendschöne[] Papier«, das er mit »neuer, spitzer Perryfeder und chinesischer Tusche«36 bearbeitet. Einer Ad-hocNiederschrift der ersten Sätze folgt eigenen Angaben zufolge ein erstes Lesen des Geschriebenen: Nicht alles, was dort zu lesen ist, hält Holz für gut. Es ist die Unterscheidung zwischen den literarisch wertvollen und den wertlosen (oder zumindest neutralen) Sätzen, die für erste Überlegungen zu seiner Kunsttheorie herangezogen werden. Interessant ist dabei, dass diese Theorie in Holz’ Verständnis auf einer Ebene steht mit Schreibwerkzeug und Sprache. Die Theorie erst ermöglicht es, »als Künstler meine Mittel zu beherrschen«37, statt sich ihnen im Schreiben zu ergeben. Dies steht der Inszenierung einer genialischen Schreibszene, wie sie z. B. bei Goethe zu finden ist, diametral gegenüber. In 31 Holz, Die Kunst. 1891, S. 7. 32 Vgl. beispielsweise folgende Zeilen: »Nein, mitten nur im Volksgewühl, / Beim Ausblick auf die grossen Städte, / Beim Klang der Telegraphendrähte / Ergiesst ins Wort sich mein Gefühl. // Dann glaubt mein Ohr, es hört den Tritt / Von vorwärts rückenden Kolonnen, / Und eine Schlacht seh ich gewonnen,/Wie sie kein Feldherr noch erstritt. // Doch gilt sie keiner Dynastie, / Auch kämpft sie nicht mit Schwert und Keule– / Galvanis Draht und Voltas Säule / Lenkt funkensprühend das Genie« (ebd., S. 19). 33 Beispielsweise referiert Holz auch vernichtende Kritiken: »Als das Buch, in dem er, für etwaige Sammler von solchen Kuriositäten, nebst mehreren hundert anderen Gedichten von mir noch heute zu finden ist, erschienen war (Das Buch der Zeit. Lieder eines Modernen. Zürich 1885), rieth mir der Berliner Kladderadatsch, der sich daraufhin meiner sehr annahm: Essigfabrikant zu werden« (ebd., S. 14). 34 Ebd., S. 52. 35 Ebd., S. 53. 36 Ebd. 37 Ebd., S. 57.
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»Dichtung und Wahrheit« inszeniert dieser sie beispielsweise als ›Musenkuss‹, also spontane Kunstproduktion, die das »inwohnende dichterische Talent«38 hervorbringt. Die Verse fließen ihm unwillkürlich aus der Hand, der man durch die kluge Wahl des Schreibgeräts – besser ein willfähriger Bleistift als eine widerspenstige Feder – jedwedes Hindernis im Vorwege ausräumt.39 Dem »Eigenwillen des Schreibwerkzeugs«40 wird bei Holz nun die Theorie als vermittelndes Moment beigegeben, um die Sprache zur modernen, d. h. naturnahen, Kunst zu machen. Die im Anschluss dargelegte Schreibszene (dieses Mal mit Schlaf gemeinsam) schließt an diese theoretischen Vorüberlegungen an. Sowohl die gemeinsame Neigung der Autoren als auch die experimentelle Ausgangslage, die Theorie und Praxis verzahnt, ermöglichen erst die Co-Autorschaft – so zumindest inszeniert es Arno Holz. Diese chronologische Abfolge (d. h. erst Entwurf der Theorie, dann theoriegeleitetes Schreiben), die Holz nahelegt und von der Rezeption entsprechend übernommen wird, wird von Schlaf zunächst nicht berichtigt, später allerdings konsequent verneint.41 Der Mythos der Vorläufertheorie eines konsequenten Naturalismus, die von Holz ausging, war dennoch implementiert; und die in der Folge dargelegte Schreibszene kann als meist zitierte der Naturalismusforschung gelten. Es ist auch ebenjene Beschreibung der gemeinsamen Schreibszene, die von den Autoren wieder aufgenommen wird, um den ersten Teil von »Neue Gleise« einzuleiten.
38 Goethe, Johann Wolfgang von: Dichtung und Wahrheit (1811–1830). In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hrsg. von Erich Trunz. Bd. 10. München: C. H. Beck 1966, S. 79. 39 »Auch beim nächtlichen Erwachen trat derselbe Fall ein, und ich hatte oft Lust, wie einer meiner Vorgänger, mir ein ledernes Wams machen zu lassen und mich zu gewöhnen, im Finstern durchs Gefühl das, was unvermutet hervorbrach, zu fixieren. Ich war so gewohnt, mir ein Liedchen vorzusagen, ohne es wieder zusammenfinden zu können, daß ich einigemal an den Pult rannte und mir nicht die Zeit nahm, einen quer liegenden Bogen zurecht zu rücken, sondern das Gedicht von Anfang bis zu Ende, ohne mich von der Stelle zu rühren, in der Diagonale herunterschrieb. In eben diesem Sinne griff ich weit lieber zu dem Bleistift, welcher williger die Züge hergab: denn es war mir einigemal begegnet, daß das Schnarren und Spritzen der Feder mich aus meinem nachtwandlerischen Dichten aufweckte, mich zerstreute und ein kleines Produkt in der Geburt erstickte« (ebd., S. 79f.). 40 Stingelin, ›Schreiben‹. 2004, S. 9. 41 In seiner Streitschrift »Mentale Suggestion« führt Schlaf hinsichtlich der theoretischen Arbeiten von Holz aus, dass diese erst nach dem ersten Gemeinschaftswerk »Die kleine Emmi« in Angriff genommen worden seien. Vgl. Schlaf, Mentale Suggestion. 1905, S. 25. Helmut Scheuer rekonstruiert anhand unterschiedlicher Zeitzeugnisse, dass die Reihung, wie sie von Schlaf korrigiert wird, stimmt. Er formuliert die Hypothese, dass sich die Zusammenarbeit mit Schlaf »für Holz als eine Möglichkeit erweist, sich von der Depression zu befreien« (vgl. Scheuer, Arno Holz. 1971, S. 98).
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3.
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Gemeinsames Schreiben II: »Neue Gleise« (1892)
1892 veröffentlichten Arno Holz und Johannes Schlaf die Anthologie »Neue Gleise«. Sie versammelten darin alle gemeinsam geschaffenen Werke, also sowohl bereits veröffentlichte wie auch noch gänzlich unbekannte Texte, die neu arrangiert das gesamte Gemeinschaftswerk als »ein einziges grosses Experiment«42 präsentieren sollten. Jeder der drei Teile ist mit einem eigenen Vorwort versehen, das schlaglichtartig etwas Kontext zur Produktion und Rezeption der Texte liefert. Das erste Vorwort schließt sich eng an die Ausführungen von Holz in »Die Kunst« an, indem Teile des Textes zitiert werden sowie die übrigen Ausführungen dem semantischen Feld des Experiments verpflichtet sind, die auch im theoretischen Text eine zentrale Rolle spielen. Das gemeinsame Werk der »Firma« Holz und Schlaf wird als »geglückt« verstanden und mit naturwissenschaftlicher Metaphorik in seiner Innovation hervorgehoben:43 »Kein Homunculus war unserer Retorte entschlüpft, kein schwindsüchtiges, bejammernswerthes Etwas […], sondern eine neue Kunstform hatten wir uns erkämpft, eine neue Technik dem deutschen Drama, unseren Gegnern zum Trotz, die sich triebsicherer senkt in das Leben um uns, keimtiefer als die bisherige […].«44
Florian Gelzer hat zu Recht dafür plädiert, »Neue Gleise« in seiner Konzeption und Anlage als eigenständiges Kunstwerk zu betrachten, statt die Anthologie als bloßen Wiederabdruck der bereits publizierten Texte mit flankierenden Ergänzungen zu sehen.45 Mit Blick auf den Band als Bestandteil der strategischen Inszenierung des gemeinsamen Schreibens wird die singuläre Setzung von »Neue Gleise« zusätzlich plausibel. Paratexte wie die hier verfassten Vorworte, aber auch Überschriften und Fußnoten – darauf hat Uwe Wirth hingewiesen – sind Bestandteile einer spezifischen Editionsszene. Sie »reflektieren am Rahmen«46, im vorliegenden Fall stecken sie ihn sogar konsequent ab, indem sie auf die Genese des gemeinsamen Schreibprodukts rekurrieren und zeitgleich intertextuelle Verweise auf bereits publizierte poetologische und essayistische Texte streuen. Zunächst werden die Umstände, unter welchen die gemeinsame Literatur entstanden ist, veranschaulicht, wie es das naturalistische Programm vorgibt: »Unsre kleine ›Bude‹ hing luftig wie ein Vogelbauerchen mitten über einer wunderbaren Winterlandschaft, von unsern Schreibtischen aus, vor denen wir dasassen bis an die Nasen eingemummelt in grosse, rothe Wolldecken, konnten wir fern über ein 42 43 44 45
Holz/Schlaf, Neue Gleise. 1892, S. 5. Ebd. Ebd. Vgl. Gelzer, Florian: »Ein einziges grosses Experiment«. Zu Arno Holz’ und Johannes Schlafs »Neue Gleise« (1892). In: Sprachkunst XXXIX, 2008, 1, S. 37–57. 46 Wirth, Schreibszene als Editionsszene. 2004, S. 158.
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verschneites Stück Haide weg, das von Krähen wimmelte, allabendlich die märchenfarbensten Sonnenuntergänge studiren, aber die Winde bliesen uns durch die schlechtverkitteten kleinen Fenster von allen Seiten an, und die Finger waren uns trotz der vierzig dicken Presskohlen, die wir allmorgendlich in den Ofen schoben, oft so frostverklammt, dass wir gezwungen waren, unsre Arbeiten schon aus diesem Grunde zeitweise einzustellen.«47
Im Folgenden werden Ort und Zeit konkretisiert, »Nieder-Schönhausen im Winter 1887 bis 1888«,48 und so als Aspekte vom »Schreib-Fall«49 sichtbar. Das Prekäre der Dichterexistenz ist ebenfalls Gegenstand der Darstellung: Die Unterkunft ist zugig und kalt, man spaziert eine Stunde durch Schnee und Eis nach Berlin, um dort preiswert Mittag zu essen, und rauchte auch einmal eine »Guirlande«, wenn »der ›Tobak‹ ausging«.50 Der Aschenbecher steht zum Zwecke des anhaltenden Rauchens auf einem runden Tischchen zwischen den beiden Schreibtischen. Die Produktivität der Schreibenden wird aus den Effekten dieses Rauchens sichtbar, wenn ausgeführt wird, dass der ehemals »schneeweisse[] Hermeskopf« zum Ende des Schreibprozesses schwarz ist vom Tabakqualm.51 Auf den konkreten Schreibprozess kommt erst das Vorwort zum zweiten Teil zu sprechen, das Holz’ Replik auf die bereits angesprochene Rezension Küchenmeisters in großen Teilen zitiert. Holz wolle, schreibt er dort, die gemeinsame Arbeit »zu gleichen Hälften«52 verteilt wissen und nimmt im weiteren Verlauf seiner Replik detailliert Bezug auf die gemeinsame Literaturproduktion: »Eine langjährige Freundschaft, verstärkt durch ein fast ebenso langes, nahestes Zusammenleben, und gewiss auch nicht in letzter Linie beeinflusst durch gewisse ähnliche Naturanlagen, hat unsere Individualitäten, wenigstens in rein künstlerischen Beziehungen, nach und nach geradezu kongruent werden lassen! Wir kennen nach dieser Richtung hin kaum eine Frage, und sei sie auch scheinbar noch so minimaler Natur, in der wir auseinandergingen. Unsere Methoden im Erfassen und Wiedergeben des Erfassten sind mit der Zeit die vollständig gleichen geworden. Es giebt Stellen, ja ganze Seiten im »Papa Hamlet«, von denen wir uns absolut keine Rechenschaft mehr abzulegen vermöchten, ob die ursprüngliche Idee zu ihnen dem einen, die nachträgliche Form aber dem anderen angehört, oder umgekehrt. Oft flossen uns dieselben Worte desselben Satzes gleichzeitig in die Feder, oft vollendete der eine den eben angefangenen Satz des anderen. Wir könnten so vielleicht sagen, wir hätten uns das Buch gegenseitig »erzählt«; wir haben es uns einander ausgemalt, immer deutlicher, bis es endlich auf dem Papier stand. Uns nun nachträglich sagen zu wollen, das gehört dir und 47 48 49 50 51 52
Holz/Schlaf, Neue Gleise. 1892, S. 148. Zitiert nach Holz, Die Kunst. 1891, S. 149. Holz/Schlaf, Neue Gleise. 1892, S. 3. Campe, Schreibszene, Schreiben. 2004, S. 272. Holz/Schlaf, Neue Gleise. 1892, S. 4. Zitiert nach Holz, Die Kunst. 1891, S. 150. Ebd. Ebd., S. 93. Zitiert nach Holz, Arno: Brief an Kaberlin. Sprechsaal des Magazins. In: Magazin für die Litteratur des In- und Auslandes, 58, 1889, 47, S. 749.
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das dem anderen, liegt uns ebenso fern, als es in den weitaus meisten Fällen auch thatsächlich kaum mehr zu ermitteln wäre.«53
Die erste, äußerst interessante Beobachtung an dieser Thematisierung des gemeinsamen Schaffens ist sicherlich, dass das Schreiben als konkrete Begrifflichkeit zwar Leerstelle bleibt, in Umschreibung aber als amalgamierende Praktik der Schreibszene angesprochen wird.54 Im Gegensatz zur Szene in »Die Kunst«, in der der räumlich-geografische Rahmen geschildert wird, welcher hinsichtlich des eigentlichen kollaborativen Schreibprozesses Nähe und Synchronität impliziert,55 wird hier der konkrete Schreibprozess ausformuliert. In der Thematisierung von Holz geht es um einen methodischen Zweischritt: »Erfassen« und »Wiedergeben des Erfassten«. Dieses Wiedergeben wird mit dem Verb »fließen« durchaus in die Nähe eines genialischen Dichtermoments gerückt, ergänzt durch eine mündlich konnotierte Korrekturpraxis: Die Erwähnung des gegenseitigen Erzählens betont die Gleichrangigkeit der Beteiligten, während der Satz »[W]ir haben es uns einander ausgemalt, immer deutlicher, bis es endlich auf dem Papier stand« eine Übertragung auf einen anderen Kunstbereich vornimmt. Das sprachliche Ausdifferenzieren wird dabei zur Korrekturschleife, die in der endgültigen materialen Form – auf dem Papier – ihren Abschluss findet. Planung, Formulierung und Reformulierung gehen hier also offenbar ineinander über, wenn auch die oben angesprochene Differenzierung auf einen zweigeteilten Schreibprozess schließen lässt – das, was Hayes und Flower unter »Planen« und passenderweise »Übersetzen« fassen.56 Lehnen spricht in diesem Zusammenhang von einer »konversationellen Schreibinteraktion«,57 die mündliche Planung und schriftliche Produktion kombiniert. Ausgerichtet ist das ganze Projekt auf das finale Produkt, zumindest in der
53 Ebd. S. 93. 54 Vgl. Campe, Schreibszene, Schreiben. 2004, S. 270. 55 Felix Woitkowski kategorisiert kollaboratives Schreiben nicht nach der Anzahl der beteiligten Personen, sondern nach insgesamt fünf Kriterien. Zwei davon sind Ort (Nähe vs. Distanz) und Zeit (synchron vs. asynchron). Vgl. Woitkowski, Felix: Kollaboratives und literarisches Schreiben im Internet. Münster: LIT 2012, S. 14 und S. 17. 56 Hayes, John R./Flower, Linda S.: Identifying the Organization of Writing Processes. In: Cognitive Processes in Writing. Hrsg. von Lee W. Gregg/Erwin R. Steinberg. Hillsdale: Routledge 1980, S. 12f. 57 Lehnen, Katrin: Kooperative Textproduktion. Zur gemeinsamen Herstellung wissenschaftlicher Texte im Vergleich von ungeübten, fortgeschrittenen und sehr geübten SchreiberInnen. Bielefeld: Universität Bielefeld 2000, S. 1. Sie bezieht sich dabei auf Dausendschön-Gay, Ulrich/Gülich, Elisabeth/Krafft, Ulrich: Gemeinsam schreiben. Konversationelle Schreibinteraktionen zwischen deutschen und französischen Gesprächspartnern. In: Textproduktion: neue Wege in der Forschung. Hrsg. von Gerd Antos/Hans P. Krings. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 1992, S. 219–256.
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Darlegung von Holz.58 Nicht nur das freundschaftliche Verhältnis der beiden CoAutoren ist dabei maßgeblich für das Gelingen des literarischen Schreibens, sondern auch deren Ähnlichkeit: Individualität wird hier zugunsten von Kongruenz aufgegeben, weil nur so Gemeinsames entstehen kann. In der ebenfalls 1892 erschienenen Bildergeschichte »Der geschundene Pegasus« erhalten diese Ausführungen durch die Medienkombination zusätzliche Plastizität.
4.
Gemeinsames Schreiben III: »Der geschundene Pegasus« (1892)
»Der geschundene Pegasus: Eine Mirlitoniade in Versen von Arno Holz und 100 Bildern von Johannes Schlaf« ist die letzte gemeinsame Veröffentlichung von Holz und Schlaf. Die Bildergeschichte verweist sowohl auf Wilhelm Busch als auch auf die komische Heldenepik in der Tradition der sogenannten Jobsiade von Carl Arnold Kortum.59 Sie war aber vor allem als »Illustrirtes Klapphorntagebuch«60 gedacht: Beide Autoren werden in den Zeichnungen Schlafs in jedem Bild mit gestreiften Tröten dargestellt, französisch »Mirlitons«, die als Referenz auf die sogenannte Klapphorndichtung lesbar werden. Klapphornverse – seit 1925 nennt man sie in Deutschland auch »Limerick«61 – verbinden die Posse mit dem Sprachspiel. Im deutschen Sprachraum entstanden sie aus einem durchaus ernst gemeinten, aber unfreiwillig komischen Gedicht von Friedrich Daniel, das 1878 in den »Fliegenden Blättern« erschienen war. Dessen erste Strophe wurde zum Archetyp der Nonsensdichtung um 1900. Sie lautete: »Zwei Knaben gingen durch das Korn; Der Andere blies das Klappenhorn.
58 Lehnen unterscheidet kollaboratives Schreiben nach zwei Modellen: der »Planungs- und Voraussetzungsorientierung« und der »Aufschreib- und Produktorientierung«. Diese Differenzierung nimmt Woitkowski als Kriterium der Zielorientierung in sein Kategorisierungsraster auf (vgl. Lehnen, Kooperative Textproduktion. 2000, S. 93; Woitkowski, Kollaboratives und literarisches Schreiben. 2012, S. 17). 59 Die sogenannte Jobsiade war durch Frank Wedekinds politische Lieder im »Simplicissimus« in aller Munde, die tagespolitische Themen aus der Perspektive des trinkfreudigen Nachtwächters Hieronymus Jobs behandelten (vgl. Wedekind, Frank: Gedichte aus dem »Simplicissimus«. Hrsg. von Urania Milevski. Göttingen: Wallstein 2019). 60 So lautete der Arbeitstitel des Projekts, das Holz in einem Brief an den gemeinsamen Freund Emil Richter skizzierte. Vgl. Arno Holz an Emil Richter, August/September 1891. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung, Nachlass Holz, Erg. 1, M. 16, Blatt 30f.; zitiert nach Sprengel, Auf dem Weg zur »Blechschmiede«. 1994, S. 81. 61 Köhler, Peter: Limerick. In: Reallexikon deutsche Literaturwissenschaft. Hrsg. von Georg Braungart/Harald Fricke/Klaus Grubmüller/Jan-Dirk Müller/Friedrich Vollhardt/Klaus Weimar. Berlin: de Gruyter 2007, S. 427.
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Er konnt’ es zwar nicht ordentlich blasen, Doch blies er’s wenigstens einigermaßen.«62
Holz und Schlaf hatten gemeinsam mit Emilie Wittenberg (Holz’ späterer Frau) in den Jahren 1890/91 insgesamt 19 Postkarten mit solchen Klapphornversen an den gemeinsamen Freund Emil Richter gesandt. Ihr ursprünglicher Plan sah vor, auf Basis dieser Postkarten (und zu dritt) eine Publikation aus Versen und Karikaturen vorzubereiten.63 Von diesem Plan wandten sie sich ganz offensichtlich nach und nach ab, einzig die Eröffnung des Bandes erfolgte schließlich in bester »Klapphorntradition«: Zu sehen sind Holz und Schlaf, die sich an einem kleinen Tischchen gegenübersitzen, vor sich Papier und Tinte, die Schreibgeräte hinter den Ohren. Holz, ganz unverkennbar mit seinem runden Haaransatz und der Nickelbrille, hat einen Gänsekiel hinter dem Ohr. Hinter Schlafs Ohr steckt wiederum ein Federhalter. Statt zu schreiben, blasen sie in ihre Tröten, umschwirrt von Fliegen.64 Die Verse dazu lauten: »Zwei Knaben hier mit viel Plaesir Mißbrauchen Feder und Papier Und blasen möglichst mit Elong Das Klopp-Klipp-Klapphornmirlitong.«65
Im zweiten Bild haben die beiden ihre Tröten unter dem Arm und halten die Ergebnisse ihrer Arbeit in Richtung der Betrachtenden. Die Verse dazu kündigen den Inhalt der Geschichte an. Es soll offenbar um das gemeinsame Schreiben der beiden gehen, das im Titel schon als »Schinden« des Dichterrosses Pegasus und im zweiten Vers der ersten Strophe als »Mißbrauch« deklariert wird. Die Bildergeschichte thematisiert also satirisch überformt das Zusammenleben und Zusammenschreiben der beiden unangepassten Autorenfiguren. Deren gezeichnete Alter Egos sind ausgestattet mit den Zügen der realen Persönlichkeiten, im Vergleich mit den übrigen Figuren fällt allerdings deren zwergenhafter Wuchs auf. Gezeigt wird, dass der zentrale Moment des gemeinsamen Dichtens nur im Idealfall erreicht werden kann, vorbereitet durch ausgiebige Spaziergänge, ausreichend Kaffee und Tabak, die nötige Ruhe und – nicht zuletzt – durch Vorkommnisse, die die Fantasie beflügeln. Alles Übrige ist bestimmt vom täglichen Kampf mit Störfaktoren der literarischen Produktion (wie lärmenden Kindern, Vögeln, Putzfrauen und Soldaten) sowie mit der eigenen Positionierung im literarischen Feld, an der Holz und Schlaf gut gelaunt scheitern.
62 Köhler, Peter: Poetische Scherzartikel. Stuttgart: Reclam 1991, S. 80. 63 Vgl. Holz, Erg. 1, M. 16, Blatt 30f. in: Sprengel, Auf dem Weg zur »Blechschmiede«. 1994, S. 81. 64 Holz, Arno/Schlaf, Johannes: Der geschundene Pegasus. Eine Mirlitoniade in Versen von Arno Holz und 100 Bildern von Johannes Schlaf. Berlin: F. Fontane & Co. 1892, S. 1. 65 Ebd.
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Abb. 1: Holz/Schlaf: Der geschundene Pegasus. 1892, Bild 2, S. 1.
Die Schreibszene selbst wird durch die eingangs inszenierte symbolische Parallelisierung von Klapphorn bzw. Feder gerahmt und kommt nur in einer Zeichnung zur Ausgestaltung. Erst hier, auf Seite 9, erhalten die Schwänzchen auf
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Höhe des Gesäßes, mit welchen beide Figuren auf jeder Seite ausgestattet sind und die eine Art Eigenleben führen, Bedeutung:
Abb. 2: Holz/Schlaf: Der geschundene Pegasus. 1892, Bild 2, S. 9.
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»So dieserweise angeregt Man schließlich dann des Dichtens pflegt. Es theilt sich mit der höh’re Schwung Der Hinterhemdenzipfelung. Der Kaffee dampft, der Knaster schmeckt, Es summt das häusliche Insekt. Dazu von Phantasiegestalten Ein oben angedeutet Walten.«66
Nicht in der »Natur« des Dichters sitzt der »höh’re Schwung«, der für die literarische Schöpfung verantwortlich ist, sondern in der »Hinterhemdenzipfelung«. Aus dem metaphysischen, formlosen Genius wird damit ein physischer Alltagsgegenstand: ein Hemd, das noch dazu aus der Hose hängt.67 Die Nachlässigkeit der Kleidung gehört damit nicht nur zur Inszenierung der Literaten als Außenseiter in einer Gesellschaft, die in unterschiedlichen Modediskursen zwischen Reformkleidung und Uniform den öffentlichen Körper maßregelt,68 sie scheint auch als sensibler Körperfortsatz auf die Ereignisse zu reagieren, in die die Figuren verwickelt sind. In der mitgeteilten Schreibszene wellenförmig nach oben gereckt (und einer Fliege einen Platz zum Ausruhen bietend), scheinen die »Zipfel« am Dichten direkt beteiligt zu sein. An anderer Stelle reflektieren sie durch ihre temporär zerknickte Form den Schaden, den Holz und Schlaf nach der Prügelei mit dem wenig geschätzten Dichterkollegen Adolf Christian Gottlieb Schnulze genommen haben.69 Auch die hier präsentierte Schreibszene nimmt die von Holz dargelegte konversationelle Schreibinteraktion auf, die durch Synchronität und Nähe der beteiligten Autoren geprägt ist. In der Zeichnung, die eine ganze Seite einnimmt, sitzen Holz und Schlaf einander zugewandt am Tisch, vor sich dampfenden Kaffee. Das »Walten« der literarischen Figuren, das in dünneren Strichen die obere Hälfte der Zeichnung einnimmt, geht von den Autoren aus, was durch eine 66 Ebd., S. 9. 67 Ob das Hinterhemd eine deutliche Abgrenzung zum »ledernen Wams« (Goethe, Dichtung und Wahrheit [1811–1830]. 1966, S. 79) in Goethes bereits erwähnter genialischer Dichterszene sein soll, bleibt zu diskutieren. Verweise auf Goethe tätigten sowohl Holz als auch Schlaf vielfach in ihrem Oeuvre. 68 Zu Modediskursen zwischen 1880 und 1914 vgl. Bertschik, Julia: Mode und Moderne. Kleidung als Spiegel des Zeitgeistes in der deutschsprachigen Literatur (1770–1945). Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2005, S. 85–179. Zur Performativität von Mode vgl. Lehnert, Gertrud: Mode als kulturelle Praxis. In: Kleiderfragen. Mode und Kulturwissenschaft. Hrsg. von Christa Gürtler/Eva Hausbacher: Bielefeld 2015, S. 29–44. Der reale Arno Holz hätte sich keineswegs so nachlässig gekleidet, betont Scheuer: »Holz war ein Pedant, führte sich bürgerlich auf, entsprach äußerlich keineswegs der Vorstellung von einem ›Bohemien‹« (vgl. Scheuer, Arno Holz. 1971, S. 104). 69 Holz/Schlaf, Der geschundene Pegasus. 1892, S. 26.
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Art Denkblase angedeutet wird, deren Ursprung an den Mündern von Holz und Schlaf positioniert ist. Die Blicke beider sind nach oben gerichtet. Holz hat die Kaffeetasse angesetzt, die Feder steckt weiterhin hinter seinem Ohr. Schlaf jedoch hält seinen Federhalter in der Hand und ist offenbar dabei, das vor sich liegende Papier zu bearbeiten, auf dem in großen Lettern »Familie Selicke« steht. Es ist nicht unüblich, dass sich in einem einzelnen Bild einer Bildergeschichte mehrere Ereignisse wiederfinden lassen, die auf diese Weise kausale Abhängigkeiten in einer temporalen Verdichtung wiedergeben.70 Und so funktioniert auch diese Momentaufnahme der Zusammenarbeit von Holz und Schlaf als Reduktion und zeitliche Verdichtung gleichermaßen. Denn auf der einen Seite bleibt der eigentliche Prozess des Schreibens außen vor: Selbst wenn man davon ausgeht, dass kein Schreibprozess linear verläuft,71 ist doch unbestritten, dass er mehr beinhaltet als das (gemeinsam) Fabulierte aus der Luft, wo es über den Köpfen wallt, zu greifen und auf Papier zu bannen. Die Überarbeitungsphase kommt auf der anderen Seite nicht zur Ausgestaltung, während die Teilprozesse des »Planens« und »Übersetzens« ineinanderfallen.72 Die Zeichnung Schlafs illustriert und idealisiert dieses harmonische Bild des gemeinsamen Schreibens, in dem einerseits die schöpferischen und dokumentierenden Tätigkeiten gleichzeitig zur Darstellung kommen und andererseits das ganz konkrete Moment des Schreibens und das der Überarbeitung als Leerstellen verbleiben. Retrospektiv betrachtet, liegen in dieser Inszenierung der gemeinsamen Schreibszene einige der zentralen Streitpunkte bereits offen und manifestieren sich im Bild des schreibenden Schlafs und des Kaffee schlürfenden Holz’.
5.
Um Gemeinsames streiten: Schreib-Szenen aus Streitschriften (1898–1909)
Ausgangspunkt des Streits zwischen Holz und Schlaf ist ein Artikel, den Schlaf in Hardens Zeitschrift »Die Zukunft« veröffentlichte: In »Weshalb ich mein letztes Drama zerriß« macht Schlaf seinem Ärger darüber Luft, dass sein Stück »Die Feindlichen« weder vom Theater zur Aufführung noch vom Verlag zur Veröf-
70 Mit Bezug auf den Comic ist dieser Vorgang vielfach Gegenstand der Forschungsdiskussion. Vgl. McCloud, Scott: Understanding Comics. The Invisible Art. New York: Harper Collins 1994, S. 94–118; Groensteen, Thierry: Comics and Narration. Übersetzt von Ann Miller. Jackson: University Press of Mississippi 2013; Bicker, Mathis/Friederich, Ute/Trinkwitz, Joachim (Hrsg.): Prinzip Synthese: Der Comic. Bonn: Weidle 2011. 71 Vgl. Grésillon, Über die allmähliche Verfertigung von Texten beim Schreiben. 2012, S. 158. 72 Hayes/Flower, Identifying the Organization of Writing Processes. 1980, S. 12f.
Von der Schreibszene zur Streitszene
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fentlichung gebracht wurde. Auf seine Anfragen erhielt er Absagen,73 die er aufgrund seiner bisherigen literarischen Leistungen für falsch hält: »Man berücksichtige: ich bin, wie ich hier verrathen will, der Initiator unserer neuen dramatischen Richtung. Nicht nur die vorbereitenden Studien, die das neue Drama bereits in seiner ersten Entwickelung enthalten, wie die ›Papierne Passion‹ und ›Krumme Windgasse 20‹ stammen eigentlich und in erster Linie aus meiner Feder, sondern – wie ich hier offen und ausdrücklich bemerkt werden soll, in einem Augenblicke, wo ich der dramatischen Produktion vielleicht für immer Valet sage oder wenigstens die weitere Veröffentlichung von Dramen aufgebe – ich muß mich auch als den eigentlichen Autor der ›Familie Selicke‹ bekennen. Ich war es, der das neue Drama aus erst vorbereitenden und anderweitigen Anregungen, die ich von Arno Holz empfing, eigentlich erst herausgestaltete.«74
Auch wenn es Schlaf um seine Reputation ging und der Streit mit Holz lediglich eine Art Kollateralschaden seiner Bemühungen darum darstellte, wurden die Gräben zwischen beiden in der Folge zusehends tiefer. Holz konterte zunächst, ebenfalls in der »Zukunft«, indem er aus der gemeinsamen Briefkorrespondenz zitierte. Dabei hebt er vor allem die Ausgangssituation hervor, in der sich beide befanden: »Der Eine von uns war damals blind, der Andere lahm. Und nun zu kommen und zu sagen, der Blinde ist daran Schuld gewesen, daß der Lahme das Ziel erreichte, oder umgekehrt, ist meinem Dafürhalten nach gleich lächerlich.«75 An einem Vergleich, den Holz anstrengt, entbrennt das Streiten um die vorrangige Autorschaft besonders: Er skizziert die gemeinsame Autorschaft als Ehe, in der er selbst der Mann und Schlaf die Frau gewesen sei. »Unsere Funktionen waren nicht die selben, aber gleich wichtig.«76 Was sich aus heutiger Sicht nach einer emanzipierten Grundeinstellung anhört, ist vor dem zeitgenössischen Verstehenshintergrund von Schlaf als kaum verdeckter Versuch gewertet worden, sich die Federführung im gemeinsamen Schreiben zuzuordnen.77 Dem Schlagabtausch in unterschiedlichen Zeitschriften folgen schließlich sogar verlegte Streitschriften: von Holz »Johannes Schlaf: Ein nothgedrungenes Kapitel« (1902, 2. Aufl. 1909) sowie von Schlaf »Noch einmal ›Arno Holz und ich‹« (1902), »Mentale Suggestion. Ein letztes Wort in meiner Streitsache mit Arno Holz« (1905) und schließlich »Diagnose und Faksimile. Notgedrungene Berichtigung eines neuen, von Arno Holz gegen mich gerichteten Angriffes« 73 Neben dem Direktor des Lessingtheaters Otto Neumann-Hofer und dem Direktor des Deutschen Theaters Otto Brahm wird auch der Fischer-Verlag adressiert und schließlich sogar der Kollege Gerhart Hauptmann, der ihm hätte helfen müssen. Vgl. Schlaf, Weshalb ich mein letztes Drama zerriß. 1898, S. 565f. 74 Ebd. 75 Holz, Arno: Johannes Schlaf. In: Die Zukunft 25, 1898, S. 163. 76 Ebd. 77 Vgl. Schlaf, Noch einmal »Arno Holz und ich«. Berlin: Carl Messer 1902, S. 4; Schlaf, Mentale Suggestion. 1905, S. 10ff.
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(1906). Aus der Inszenierung einer harmonischen Schreibszene in Form einer konversationellen Schreibinteraktion, die Literatur aus dem Gespräch heraus entwickelt und dazu die Basis zweier gleichschwingender künstlerischer Existenzen braucht, wird im Streit um die Texte eine Schreib-Szene, die sich weniger auf die Rahmung als auf den Prozess konzentriert. Das eigentliche Schreiben wird in Teilprozesse zerlegt, deren Verantwortlichkeiten jeweils neu verhandelt werden: Aus der Rechtfertigung des unkonventionellen »group writing« kommen Holz und Schlaf zur Verteidigung eines »interactive writing«,78 bei welchem Kooperation nur durch Arbeitsteilung zustande kommt.79 Diese Arbeitsteilung liegt allerdings nicht in gemeinsamen Absprachen oder Planungsprozessen begründet, sondern in den Anlagen der beteiligten Autoren. In Schlafs Verständnis war Holz vor allem »Techniker und formalistischer Virtuose […], mit phänomenalen Gefühl für sprachliche Harmonie, baute er einen Satz an den anderen, unter virtuosester, wenn nicht raffinirtester Gruppirung der Worte nach ihrem Laut- und Klang-, nach ihren plastischen und koloristischen Suggestionswerten«.80 Im Umkehrschluss attestiert er ihm allerdings Unvermögen außerhalb der Lyrik und hinsichtlich größerer literarischer Formen, wofür ihm das »Compositionstalent«81 fehle. Schlaf hingegen wird von Holz zwar eine »künstlerische Begabung«82 attestiert, allerdings mit gleichzeitiger Betonung, dass es ihm an sonstigen »Fähigkeiten«83 zur Schöpfung innovativer Literatur fehle. Aus dem dialogischen Modus der gemeinsamen Schreibszene wird ein hierarchisierter, wenn Holz seinen Co-Autor mit einem Instrument vergleicht, das er selbst gespielt habe.84 Damit rückt er ihn außerdem in die Nähe jener von Flusser ausformulierten Aspekte einer Schreibszene, die vom Schreibenden beherrscht werden müssen85 – und stilisiert sich selbst zum orchestrierenden Genie. Für den konkreten Schreibprozess unterscheidet Holz Szenarien, in welchen bereits Text vorhanden war, der umgearbeitet wurde, von solchen, die Literatur ganz neu erschufen:
78 Vgl. Murray, Denise E.: Collaborative writing as a literacy event: implications for ESL Instruction. In: Collaborative Language Learning and Teaching. Hrsg. von David Nuan. Cambridge: University Press 1992, S. 101f. Louth, Richard/McAllister/McAllister, Hunter A.: The Effects of Collaborative Writing Techniques on Freshman Writing and Attitudes. In: Journal of Experimental Education, 61, 1993, 3, S. 217; Lehnen, Kollaborative Textproduktion. 2000, S. 150. 79 Vgl. Woitkowski, Kollaboratives und literarisches Schreiben. 2012, S. 16. 80 Schlaf, Noch einmal »Arno Holz und ich«. 1902, S. 8. 81 Ebd. 82 Holz, Arno: Johannes Schlaf. Ein nothgedrungenes Kapitel. Zweyte vermehrte Auflage. München: R. Piper 1909, S. 14. 83 Ebd. 84 Vgl. ebd. 85 Flusser, Die Geste des Schreibens. 2012, S. 261f.
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»Sobald er genügend ›imprägniert‹ war, änderten wir unsere Methode und arbeiteten nun nicht mehr bereits ›Fertiges‹ um, sondern einigten uns über ein Thema, durchsprachen dieses genau, Schlaf skizzierte danach die erste Niederschrift und aus dieser formte ich dann das Definitive. Dies entsprach, wie ich sofort hinzusetze, nicht etwa einer Bequemlichkeit von mir, sondern geschah auf Wunsch Schlafs, der sich zu einem ›gegenseitigen Diktat‹, wie es meinem Naturell am entsprechendsten gewesen wäre, nicht fähig erklärte.«86
Mit dieser Reformulierung negiert Holz die vormals inszenierte Szene der konversationellen Schreibinteraktion und degradiert Schlaf einzig zum Dokumentar erster Skizzen, während das »Definitive« wiederum der Feder von Holz entstammt. Diese Darstellung deutet zurück auf die Illustration aus dem »Geschundenen Pegasus«, die die Autoren mit unterschiedlichen Schreibgeräten zeigt. Der widerständige, aber repräsentative Gänsekiel Holz’ wird nun zum Kontrast des kooperativen Federhalters Schlafs und die Niederschrift zum ersten Entwurf, direkt aus der wallenden Fantasie entnommen. Auch Schlaf beansprucht jedoch für sich die Vorherrschaft über den Schreibprozess: »Ich bebrütete die Idee für mich und teilte sie dann Holz ausführlich mit. Danach setzen wir uns an den Schreibtisch zu gemeinsamer Niederschrift, die genau in der Art der ›Kleinen Emmy‹ stattfand. D. h. ich gab Satz für Satz den Duktus, wir beide erwogen und formten, und ich schrieb dann die definitive Fassung nieder, die Holz mir diktierte. Zunächst war es so, daß Holz, nachdem ich ihm den Sinn eines Satzes an die Hand gegeben, diesen Satz baute. Zuweilen forderte er auch mich auf, selbst den Satz zu bauen; für gewöhnlich lag mir das aber nicht. […] Um so mehr, als ich selbst zur Formulierung die völlig einheitliche und konzentrierte Stimmung, ›den dichterischen Trance‹ von nöten gehabt hätte […]. Das war gerade für mich, den eigentlichen Schöpfer desselben, unmöglich; so Tisch an Tisch mit meinem Publikum und Kritiker. Kein rechter Dichter kann frei formen und schaffen, wenn ihm beständig dazwischen kritisiert wird.«87
Das gemeinsame Schreiben wird hier zum Hemmschuh der genialischen Dichtung und Holz weniger zum Co-Autor als vielmehr zu »Publikum und Kritik« degradiert, womit er aus dem engeren Produktionsprozess ebenfalls implizit herausgenommen wird.88 Die synchrone Schreibszene, vormals dargelegt als Usus des gemeinsamen Schreibens, ist in den folgenden Diskussionen eher Ausnahme als Regel. »Die 86 Holz, Johannes Schlaf. 1909, S. 15. 87 Schlaf, Mentale Suggestion. 1905, S. 8f. 88 Das Modell Hartlings verweist zwar auf den Leser als »Mit-Schöpfer des Textes«, in dem Zusammenhang darf diese rezeptionsästhetische Komponente aber wohl keine Rolle gespielt haben (vgl. Hartling, Florian: Der digitale Autor. Autorschaft im Zeitalter des Internets. Bielefeld: transcript 2009, S. 267; vgl. Woitkowski: Kollaboratives und literarisches Schreiben. 2021, S. 14).
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Papierne Passion« sei »von Schlaf nicht in Berlin, sondern in Magdeburg zu Papier gebracht worden«89, schreibt Holz, der diesen Wechsel zum asynchronen Modus mit einem hierarchisierenden Gestus verbindet, indem er sich selbst als Lehrmeister, Schlaf aber als seinen Schüler bezeichnet.90 Auch Schlaf betont die getrennte Arbeitsweise bei der Schöpfung von »Die Papierne Passion« und legt weiterhin dar, dass er in allen Teilprozessen federführend gewesen sei: Der Text basiere auf einem »Erlebnis, das sich im wesentlichen genau wie es heute da steht, in der Wirklichkeit abgespielt hat«91 und auch alle Fassungen seien von ihm erstellt worden. Einzig Kürzungen »im Zwischen- und Referat-Milieu«92 habe Holz vorgenommen. Die Darlegung dieses Arbeitsprozesses dient Schlaf argumentativ dazu, sich selbst als zentralen Schöpfer zu positionieren und zu zeigen, »daß also ich es war, der gab und Holz es war, der empfing«93, die Geschlechter in der literarischen Ehe, so wie sie Holz geschildert hatte, demnach zu vertauschen sind. Damit plädiert Schlaf nicht nur für sich als (eigentlichen) Genius des Duos, sondern spricht Holz im Folgenden diese Stellung auch explizit ab.94 In »Noch einmal ›Arno Holz und ich‹« inszeniert er dazu eine ganz eigene Schreibszene, die abgelöst von Holz »die Gestaltung von Charakteren« als »seelischen Vorgang« beschreibt.95 Sie weist deutliche Parallelen zum ›Musenkuss‹ aus Goethes »Dichtung und Wahrheit« auf und soll letztendlich Schlafs Dichternatur unter Beweis stellen. Im Schlagabtausch zwischen den vormaligen Co-Autoren Holz und Schlaf werden nicht nur Rollenzuschreibungen und Rollenverteilungen in der gemeinsamen Literaturproduktion diskutiert, sondern auch deren Wertigkeit vor dem Hintergrund eines Kunstverständnisses, das nun auf einmal nicht mehr so modern daherkommt. Wo Holz noch in seiner »Kunst« vollmundig formulierte, dass er »an ›Genies‹ […] ebenso wenig [glaube], wie an Krokodile, die tanzen können«,96 stilisiert er sich selbst zu einem. Wo Schlaf die gemeinsame Schreibszene in »Der geschundene Pegasus« noch als Gleichklang illustrierte und sich über Genieavancen lustig machte, betont er nun die eigene Urheberschaft, indem er Holz als ewig Schreibblockierten darstellt. Der Wandel der Schreibszene zur Schreib-Szene vollzieht sich somit über mehrere Aspekte hinweg: Der ehemals dialogische Modus wird zu einem hierarchischen, dessen Rangfolge umstritten bleibt, weil beide Akteure sich selbst als 89 90 91 92 93 94 95 96
Holz, Johannes Schlaf. 1909, S. 19. Ebd. Schlaf, Mentale Suggestion. 1905, S. 13. Ebd. Ebd., S. 10. Vgl. ebd., S. 24, S. 27. Schlaf, Noch einmal »Arno Holz und ich«. 1902, S. 12. Arno Holz: Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze. Berlin 1891. S. 8.
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maßgeblich verantwortlich für das Endprodukt sehen. Das synchrone Dichten in unmittelbarer Nähe, das als zentrales Moment der Schreibszene inszeniert wurde, wird im Streit zur absoluten Ausnahme der in der Regel asynchronen Zusammenarbeit. Die Thematisierung des gemeinsamen Schreibens dient nach dem Zerwürfnis nicht mehr der Distanzierung von einem Kunstverständnis, das Co-Autorschaft ablehnt, sondern vielmehr der eigenen Positionierung in einem Diskurs, der Kunstwerke als Einzelleistungen versteht. Die Argumentation für eine gleichberechtigte Literaturproduktion wird zu diesem Zweck gänzlich aufgegeben.
6.
Schluss
Das Gemeinschaftswerk von Arno Holz und Johannes Schlaf gilt als Kern des Naturalismus und gehört außerdem zu den wenigen Beispielen kanonisierter Literatur mit mehreren Autor*innen. Nicht nur die Literatur, die die Autoren verfassten, musste vor einem zeitgenössischen Publikum in ihrer Modernität bestehen, auch für die kollaborative Autorschaft mussten Holz und Schlaf öffentlich einstehen. Dies taten sie bis 1898 in Form einer gemeinsamen Argumentationslinie, die über unterschiedliche Textsorten und Medien hinweg operierte und in deren Mittelpunkt die Darstellung einer harmonischen gemeinsamen Schreibszene stand. Diese Schreibszene wurde als konversationelle Schreibinteraktion inszeniert, in der die Autoren als gleichberechtigte Schöpfer in unmittelbarer Nähe zueinander an einem synchronen, dialogischen Schreibprozess partizipieren. Holz und Schlaf stellen damit, so konnte gezeigt werden, dem vorherrschenden Geniegedanken ein kollaboratives Schöpfungskonzept entgegen. Nach ihrem Zerwürfnis 1898 wird die harmonische Schreibszene zur Streit- und damit zur fragilen Schreib-Szene, die in steter Aushandlung begriffen ist. Holz und Schlaf rekonstruieren den gemeinsamen Schreibprozess in unterschiedlichen Streitschriften, berichtigen dabei die Darstellung des anderen und überschreiben sie sogar, wo es ihnen nötig erscheint. Sowohl Holz als auch Schlaf unterziehen das gemeinsame Schreiben einer deutlich detaillierteren Darstellung, um sich selbst über den jeweils anderen zu erhöhen, sie verkehren die vormals betonte zeitliche bzw. örtliche Nähe in Distanz und beschreiben Teilprozesse des gemeinsamen Schreibens als Einzelleistungen. Indem sie den jeweils anderen als Schöpfer ausschließen, implizieren sie sich nicht nur selbst als Genie, sondern zeigen auch die Rückbesinnung auf den vormals wenn nicht negierten, so doch ridikülisierten Geniegedanken. Die Betrachtung des gemeinsamen Schreibens in Abgrenzung zum Streiten um das gemeinsam Geschaffene zeitigt neue Erkenntnisse, selbst bei einem so gut erforschten Feld wie dem der Zusammenarbeit von Arno Holz und Johannes
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Schlaf. Gerade die Kombination von Erkenntnissen aus der Schreibprozesstheorie und der Forschung zur Schreib-Szene kann den Blick schärfen auf Strategien der Rechtfertigung kollaborativen Schreibens. Literatur, die von mehr als einer Person geschrieben wurde, ist als erklärungsbedürftiger Spezialfall ein Gegenstand, an dem Mechanismen der Rezeption, Wertung, Edition und Forschung aufgezeigt werden können. Schlaf resümiert in seinem Artikel zur dichterischen Zusammenarbeit: »[W]irklich produktive Zusammenarbeit wird sich meist da ereignen, wo die allgemeine Entwicklung der Dichtung in ein ganz wesentlich neues Stadium eintritt.«97 Inwieweit das zutrifft, wird noch zu zeigen sein.
7.
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97 Schlaf, Zur Frage der dichterischen Zusammenarbeit. 1933, S. 103.
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Gesa Singer
Autorreflexion und Herausgeberfiktion – Inszenierte Autorschaft bei Sevgi Özdamar und Abbas Khider
1.
Einleitung
Der vorliegende Beitrag soll kontrastiv die Formen der Selbstinszenierung von zwei Autoren deutschsprachiger interkultureller Literaturen näher in den Blick nehmen und dabei ihre unterschiedliche Inszenierung von Schreibprozessen bzw. Autorschaft intensiver analysieren. Emine Sevgi Özdamars Erzählband »Mutterzunge« (erschienen 1990) thematisiert die brüchige sprachliche Identität der Ich-Erzählerin sowie ihre Selbstfindung als Schriftstellerin zwischen der türkischen und der deutschen Kultur. Anhand von Abbas Khiders Roman »Der falsche Inder« (2008) soll gezeigt werden, dass der althergebrachte literarische Topos von der Herausgeberfiktion auch und gerade in zeitgenössischen Texten interkultureller Prägung sehr produktiv ist. Mit der dadurch entstehenden verdoppelten Autorschaft verschafft sich der Autor viele Spielräume, um unterschiedliche Erlebnisbereiche auszuloten und sich zugleich davon zu distanzieren: »Aber was soll ich sagen? Dass ich ein Manuskript gefunden habe, in dem meine eigene Geschichte zu finden ist, geschrieben von einem Fremden namens Rasul Hamid? […] Alles wohl mehr als unrealistisch, ja sogar lächerlich« (Abbas Khider: »Der falsche Inder« 2008, S. 153). »Einwanderung ist schon immer passiert, sie ist keine Ausnahme, sondern Normalität, und es gibt dieser Tage kein gesellschaftliches Feld mehr, das nicht von der Migration auf die eine oder andere Weise beeinflusst worden ist.«1
1 Terkessidis, Mark: Komplexität und Vielheit. In: Erfahrungen – Ideen – Reflexionen. Hrsg. von Marc Hill/Erol Yildiz. 2018. Open access Triedere.pdf, S. 73–80, hier S. 76 (letzter Zugriff: 06. 09. 2020).
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2.
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Auswahl der Werke in Hinblick auf Schreibinszenierung
Aus dem weiten Bereich der interkulturellen Literaturen und ihren Autorinnen und Autoren eine Auswahl zu treffen, die kontrastierend genug ist, um neue Erkenntnisse zu gewinnen, und in der die Inszenierung selbst nicht so augenfällig thematisiert wird wie z. B. Feridun Zaimoglu im Vorwort zu »Kanak Sprak«, gestaltete sich ebenso reizvoll wie schwierig, denn bei mehreren interkulturellen Autor*innen ist eine solche Metaebene mehr oder weniger anwesend und wird den Leser*innen merklich bewusst gemacht, sodass die Autor*innen ein höheres sprachliches und literarisches Vermögen besitzen als ihr Figuren. Zunächst möchte ich mit Heidi Rösch eine Unterscheidung vornehmen, die wesentlich ist, um sich im Feld der interkulturellen Literaturen eine grob geordnete Übersicht zu verschaffen: – Migrationsliteratur: Migrationsthematik im Werk, aber nicht in der Biografie von Autor*innen – Migrantenliteratur: Literatur von Autor*innen mit Migrationshintergrund (Migrationsthematik nicht zwingend).2 Im Bereich dieser vielfältigen interkulturellen Literaturen ist darüber hinaus zu beobachten, wie die gesellschaftlichen Prozesse der Ab- und Aufwertung zu ihrer sukzessiven Etablierung auf dem deutschsprachigen Literaturmarkt beigetragen haben und welche Diskurse die Genese sowie Rezeption dieser Literaturen bestimmt haben. »Es hat über 30 Jahre gedauert, bis aus der Gast-Arbeiterliteratur […], aus der Literatur der Betroffenheit, propagiert in eigens gegründeten Vereinen und Verlagen, aus der Ausländer- und Migrantenliteratur, ausgezeichnet mit dem Adelbert-von-ChamissoPreis, eine inter- und synkulturelle Literatur erwuchs, deren Autorinnen sich nicht mit einer Nische im Literaturbetrieb oder einer germanistischen Schublade zufrieden geben, sondern selbstbewusst ihren Platz im kulturellen Leben einfordern.«3
Die Diskussion um die Abschaffung des Adelbert-von-Chamisso-Preises4 sowie die Selbstwahrnehmung, Selbstinszenierung und Vermarktung einiger der mit diesem Preis in der Vergangenheit geehrten Autoren hat darüber hinaus deutlich gemacht, wie relevant und sensibel das biografische Element der eigenen Mi-
2 Vgl. Rösch, Heidi: Deutschunterricht in der Migrationsgesellschaft. Eine Einführung. Stuttgart: Metzler 2017, S. 72. 3 Laudenberg, Beate: Inter-, Trans- und Synkulturalität deutschsprachiger Migrationsliteratur und ihre Didaktik. München: Iudicium. 2016, S. 103. 4 Vgl. (letzter Zugriff: 06. 09. 2020).
Autorreflexion und Herausgeberfiktion
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grationserfahrung bzw. derjenigen der Elterngeneration in diesen literarischen Sektor und seine mediale, öffentliche und akademische Resonanz hineinspielt.5 In einem umfassenderen gesellschaftlichen Kontext sind migrantische Erfahrungen und interkulturelle Literaturen interessant und lehrreich, da sie einen Aspekt der Pluralität in einer postmigrantischen Gesellschaft abbilden. »Die postmigrantische Gesellschaft ist von Ambivalenzen und Unsicherheiten geprägt, was sie konfliktreich macht: gleichzeitig beinhaltet sie das Versprechen einer radikalen, über das Migrantische hinausweisenden Utopie der Gleichheit, die außerhalb der Herkunft verhandelt wird.«6 Man kann somit mit Wolting festhalten, »[…] dass im Medium der Literatur der Gesellschaft am Beispiel von Figuren Identitäten zur Diskussion gestellt werden […], denn das Symbolsystem der Literatur reagiert schnell und seismographisch auf gesellschaftliche Veränderungen, die aufgenommen und durch die Autorinnen und Autoren auf subjektive Weise verarbeitet werden«.7
Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass interkulturelle Literaturen auf dem deutschsprachigen Literaturmarkt inzwischen gewissermaßen als Avantgarde angesehen werden können, da sie zur Debatte um Literaturkritik sowie zum literarischen akademischen Kanon wesentliche neue Beiträge geleistet haben.8
3.
Emine Sevgi Özdamar
Die Ich-Erzählerin in Emine Sevgi Özdamars Erzählband »Mutterzunge« beschließt, Arabisch zu lernen, da sie die Sprache als Bindeglied zu ihrem Großvater sieht, der noch Arabisch konnte; sie hingegen hatte lateinische Buchstaben gelernt, die unter Atatürks Regierung eingeführt wurden. In Berlin trifft sie den Schriftgelehrten Ibni Abdullah und von ihrer Beziehung handelt die Erzählung »Großvaterzunge«: 5 Der Chamisso-Preis wurde 2017 zuletzt verliehen, weil man keine Notwendigkeit mehr sah, Autoren mit Migrationshintergrund eigens auszuzeichnen. Vgl. Hillgruber, Katrin: Adelbertvon-Chamisso-Preis. Wegen Erfolgs eingestellt. Tagesspiegel.de vom 01. 03.2017. (letzter Zugriff: 06. 09. 2020). 6 Foroutan, Naika: Die postmigrantische Perspektive. Aushandlungsprozesse in pluralen Gesellschaften. In: Erfahrungen – Ideen – Reflexionen. 2018, S. 15–27, hier S. 25. 7 Vgl. Wolting, Monika: ›Identität kann nur als ein Problem existieren‹. Zu Identitätskonstruktionen in der Gegenwartliteratur. Einleitung. In: Identitätskonstruktionen in der deutschen Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Monika Wolting. Göttingen: V&R unipress 2017, S. 12f. 8 Vgl. Singer, Gesa: Von Betroffenheit zur Avantgarde. Themen, Diskurse und Wirkung deutschsprachiger interkultureller Literatur im Kontrast zur Exilliteratur. In: Narrationen in Bewegung. Deutschsprachige Literatur und Migration. Hrsg. von Margarita Blanco Hölscher/ Christina Jurcic. Bielefeld: Aisthesis 2019, S. 111–121.
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»Als ich zum ersten Mal vor Ibni Abdullahs Tür stand, hatte ich drei Wörter in meiner Mutterzunge. Sehen, Lebensunfälle erleben, Arbeiter, ich wollte zurück zum Großvater, daß [sic!] ich dann den Weg zu meiner Mutter und Mutterzunge finden könnte. Ich habe mich in meinen Großvater verliebt. Die Wörter, die ich die Liebe zu fassen gesucht hatte [sic!], hatten alle ihre Kindheit«9,
schreibt die Ich-Erzählerin rückblickend. Ihre Rolle als untergeordnete Schülerin nimmt sie sehr demütig ein, und aus dem Lehrer-Schülerin-Verhältnis entwickelt sich eine Liebesgeschichte: »Ich saß in einer Hälfte, [in der anderen – G. S.] unterrichtete er für Orientalisten die arabische Schrift, zwischen den Unterrichten kam er zu der Hälfte des Schriftzimmers, schaute auf mich, als ob ich eine seltene Blume wäre, schaute in meine Augen, aus seinem Herz kamen so viele ›Achs‹ raus, er kochte, wir essen, dann machte er die Schriften auf, sagte: ›Das wirst Du jetzt lernen‹« (S. 25).
Das Wissensgefälle sowie die hierarchisch-patriarchalische Struktur ihrer Beziehung werden durch einige physische Attribute sowie Elemente der Raumgestaltung verstärkt, die allerdings durch das Aufbrechen der Liebe aus ihrem Gefüge geraten: »At one point, Ibni Abdullah divides the study with a curtain, a key moment in terms of religion and space in the text. ›curtain‹ is one possible translation of ›hijab‹ and hence Brigit Haines and Margaret Littler read this as a symbolic veiling to bring order into Ibni Abdullah’s life after his relationship with the protagonist has turned it upside-down.«10
Die seelische und emotionale Zuneigung zu ihrem Lehrmeister, den sie zugleich wie ein Kind sieht und liebt, mündet in eine widersprüchliche Unterwerfungshaltung, welche die Ich-Erzählerin einerseits erfüllt, andererseits zutiefst verunsichert und hilflos werden lässt. »Ich konnte aus diesem Zimmer nicht mehr raus. Ibni Abdullah ging nach seinen Schriftunterrichten abends weg, ich zog den Vorhang zur Seite, saß mit Schriften in dieser Moschee, die Schriften lagen auf dem Teppich, ich legte mich neben sie, die Schriften sprachen miteinander ohne Pause mit verschiedenen Stimmen, weckten die eingeschlafenen Tiere in meinem Körper, ich schließe die Augen, die Stimme der Liebe wird mich blind machen, sie sprechen weiter, mein Körper geht auf wie ein in der Mitte aufgeschnittener Granatapfel, in Blut und Schmutz kam ein Tier raus« (S. 26).
In diesen Passagen erkennt man die poetische Formung der Narration, welche eine eigene Qualität besitzt und sich durch die Erlebnisse der Ich-Erzählerin 9 Özdamar, Emine Sevgi: Mutterzunge. Erzählungen. Berlin: Rotbuch Verlag 2013 [zuerst erschienen 1990], S. 47 (Seitenangaben fortlaufend im Text). 10 Twist, Joseph: Sacred and Secular Spaces: Emine Sevgi Özdamar’s das Leben ist eine Karawanserei and Großvater Zunge. In: Schwerpunkt/Focus: Emine Sevgi Özdamar. Hrsg. von Paul Michael Lützeler/Thomas Kniesche. Tübingen: Stauffenburg 2018 (Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch., Bd. 17), S. 165–185, hier S. 176.
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hindurch intensiviert. Ibni Abdullah hält sie streng zum Lernen an und sagt: »Wenn du das Gefühl hast, daß [sic!] du gut gelernt hast, mußt [sic!] du unbedingt noch mindestens zweihundertfünfzigmal die Wörter wiederholen, wenn du das heute mit Geduld lernst, werde ich heute Nacht meine Nacht hier verbringen« (S. 33). Ihrer Leidenschaft und Traurigkeit dieser unmöglichen Liaison verleihen beide Protagonisten Ausdruck, indem sie arabische und türkische Ausdrücke miteinander vergleichen, und während nebenan aus dem Qur’an rezitiert wird, träumt die Protagonistin von einem türkischen Liebeslied. Die ungleiche Liebe entwickelt sich zu einer seelischen Obsession der Protagonistin, die ihrem Geliebten und Lehrmeister völlig ergeben ist. Ihn aber plagen Schuldgefühle, und seine anfängliche Liebessehnsucht wandelt sich in Zurückweisung und Verschlossenheit. Diese problematische und leidenschaftliche Beziehung endet traurig und dramatisch, aber die Protagonistin bewahrt den Sprachschatz, den sie erhalten hat, sowie ihr Selbstverständnis als »Wörtersammlerin« (S. 50). Nachdem Ibni Abdullah die Protagonistin unter schrecklichen Umständen verlassen und sie sich schließlich aus der selbstgewählten Gefangenschaft dieser Liebe befreit hat, wirft sie zwar die Schriften in einem dramatischen Akt weg; doch die Erinnerung löscht sie nicht, sondern behält sie im Gedächtnis, und davon legt die Erzählung Zeugnis ab.11 Die Ich-Erzählerin schafft sich eine eigene sprachliche Umgebung, die man nach Homi Bhaba als Third Space (dritten Raum) bezeichnen könnte: »As the narrator discovers and describes the link between Turkish and Arabic, she creates a ›Third Space‹, where these languages meet and where she can grasp the changing nature of Turkish as a result of its contact with Arabic. The space enables her to emphasize the open and ambiguous nature of her existence as a migrant writer and of her writing by developing a ›Third Language‹ – a language that denies the idea of linguistic purity and incorporates the different roots and ›routes‹ of the narrator’s heterogeneous identity instead.«12
Das hohe Maß an sprachlicher sowie existenzieller Heterogenität, welches die Protagonistin erlebt, kennzeichnet das Gesamtwerk von Emine Sevgi Özdamar; und so kann man zusammenfassend sagen, dass in diesem Erzählband exemplarisch die Selbstinszenierung einer Autorin ablesbar wird, deren Autorschaft 11 Dabei ist auch die spirituelle Komponente dieser Beziehung zu berücksichtigen: »Sufism provides a context in which the spirituality and the sexual emancipation of the narrator are mutually compatible; as Haines and Littler comment, the protagonists’s experience of unio mystica with Ibni Abdullah during a large part of the story resonates with ›the Sufi desire to overcome the painful separation from God‹« (Twist: Sacred and Secular Spaces. 2018: S. 177). 12 Matthes, Frauke: Beyond Boundaries? Emine Sevgi Özdamar’s MutterZunge and V.S: Naipaul’s The Enigma of Arrival as Creative Processes of Arrival. esharp issue 5, 2005 pages 1–14; S. 7. (letzter Zugriff: 06. 09. 2020).
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brüchig und verletzlich wirkt, aber von einer immensen literarischen Ausdruckskraft und Selbstgewissheit zeugt.13
4.
Abbas Khider
In Abbas Khiders Roman »Der falsche Inder« findet der Ich-Erzähler während einer Zugreise ein auf Arabisch geschriebenes Manuskript, welches den Titel »Rasul Hamids Aufzeichnungen« trägt.14 Fortmann-Hijazi schreibt dazu: »Im Gegensatz zur Binnengeschichte, in der sich der metadiegetische Erzähler auf eine mehrjährige lebensbedrohliche Flucht aus dem Irak begibt, erzählt die Rahmenhandlung von einer unbeschwerlichen Reise, die der intradiegetische Erzähler antritt.«15 Die Herausgeberfiktion ist ein in der Literaturgeschichte verbreiteter Topos, und dass er in einem zeitgenössischen Roman interkultureller Prägung aufgegriffen und weiterverarbeitet wird, zeugt vom Kenntnisreichtum des Autors und von einem hohen Grad an literarischem Gestaltungsvermögen.16 Auf einer Zugreise in Deutschland also findet der Ich-Erzähler das oben erwähnte Manuskript, das die turbulente Lebensgeschichte des Irakers Rasul 13 Die Erzählungen sind dabei nicht frei von Humor; wenngleich sich dieser eher in Özdamars Romanwerk äußert. Vgl. Boog, Julia: Anderssprechen. Vom Witz der Differenz in Werken von Emine Sevgi Özdamar, Felicitas Hoppe und Yoko Tawada. Würzburg: Königshausen & Neumann 2017 (Reihe Interkulturelle Moderne. Hrsg. von Ortrud Gutjahr, Bd. 6). Die nomadische Dispositon (vgl. Budde, Jannica: Interkulturelle Stadtnomadinnen. Inszenierungen weiblicher Flanerie- und Migrationserfahrung in der deutsch-türkischen und türkischen Gegenwartsliteratur am Beispiel von Aysel Özakin, Emine Sevgi Özdamar und Asli Erdogan. Würzburg: Königshausen & Neumann 2017 [Studien zur deutsch-türkischen Literatur. Hrsg. von Michael Hofmann, Bd. 7]) der Ich-Erzählerin, die sowohl ihre Umwelt als auch herausfordernde Begegnungen erkundet und dabei bereit ist, ihren Erfahrungs- und Wortschatz auch durch schmerzhafte Erlebnisse anzureichern, ist hier überdeutlich. 14 Während »Der falsche Inder« (2013) die Herausgeberfiktion als zentrales Motiv nutzt und dabei die Tradition dieses literarischen Motivs mit der Vervielfachung und gewissermaßen mit der Austauschbarkeit migrantischer Geschichten verbindet, führt »Ohrfeige« (2017) das Beispiel eines Individuums vor Augen, dessen Flucht vor Krieg, Folter und Unsicherheit in einen endlosen Kampf mit der Bürokratie und der Willkür der deutschen Ausländerbehörde mündet. 15 Fortmann-Hijazi, Sarah: Gehen, um zu erinnern. Identitätssuche vor irakischem Hintergrund: Sherko Fatah, Semier Insayif und Abbas Khider. Bielefeld: Aisthesis 2019, S.176. 16 Vorbilder finden sich u. a. bei Miguel der Cervantes (»Don Quijote«), Daniel Defoe (»Robinson Crusoe«), Novalis (»Heinrich von Ofterdingen«), Johann Gottfried Schnabel (»Insel Felsenburg«), zudem in der englischen Romantradition sowie in den von Goethe als Briefroman konzipierten ›Die Leiden des jungen Werther‹. Vgl. auch Wirth, Uwe: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E.T.A. Hoffmann. (Trajekte. Eine Reihe des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin. Hrsg. von Sigrid Weigel/Karlheinz Barck). Paderborn: Wilhelm Fink 2008.
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Hamid enthält: eine von Krieg, Flucht, Abenteuern und Reflexionen gespickte Narration, die den Ich-Erzähler ebenso wie die Leserschaft des Romans augenblicklich in den Bann zieht.17 Laut Fortmann-Hijazi »[…] führt der Autor die Frage nach dem Verhältnis von Fakt und Fiktion ein, indem er seinen Ich-Erzähler der Rahmenhandlung die erzählerische Gestaltung des gefundenen arabischen Manuskripts kommentieren lässt und sich für den Ich-Erzähler die Frage nach dem eigentlichen Urheber des Manuskripts stellt.«18 Denn der Ich-Erzähler stellt gegen Ende der Lektüre des Binnentextes fest, dass die in dem Manuskript beschriebenen Erlebnisse von Kriegswirren, einer odysseehaften Flucht, Gefängnissen und Liebeserlebnissen sowie insbesondere der Wunsch, dem Erlebten literarischen Ausdruck zu verleihen, seinen eigenen Erfahrungen entsprechen. Das Thema des literarischen Schreibens nimmt einen großen Raum in der Narration ein und kann somit als durch den Autor vermittelte Selbstinszenierung des Schreibens aufgefasst werden. Besonders hatte die Lyrik auf den Manuskriptschreiber gewirkt und sein eigenes Schreiben angeregt, daher reflektiert er: »Seitdem schreibe ich fast täglich. Ich bin eine echte Schreibmaschine geworden. Aber über die Frage, wieso ich schreibe, habe ich lange Zeit nicht nachgedacht. Erst vor Kurzem: Schreiben hatte immer etwas mit meinem Innenleben zu tun, das mich unaufhörlich dazu zwang. Dabei haben sich drei Phasen ergeben, die mir jedoch gar nicht bewusst waren. Am Anfang schrieb ich und dachte, durch dieses Schreiben könne ich meine Gefühle in Worte fassen. Wie eine Art Blitzableiter, der mich vor seelischen Niederlagen schützen sollte. Wenn mich ein Schicksalsschlag traf, schrieb ich und erfuhr so eine Erleichterung, als wären die Blitze, die meine Seele durchzuckten, auf das Papier abgeleitet worden. In der zweiten Phase glaubte ich, mit dem Schreiben die Welt verändern zu können. Genau wie ein Revolutionär, aber eben nicht mit der Waffe, sondern mit dem Bleistift. Daran glaubte ich wirklich sehr lange. Letztlich gelangte ich zu der Überzeugung, dass ich mich durch mein Schreiben selbst verstehen kann.«19
Die psychischen Vorgänge des literarisch-autobiografisch Schreibenden werden weiter ausgeführt: »Wenn ich schreibe, sehe ich alles wie beim ersten Mal und versuche es genau nachzufühlen und neu zu begreifen. Ich bin nun Schüler und Lehrer zugleich. Ich unterrichte
17 Die Tatsache, dass die Leserschaft mit einem vermeintlich auf Arabisch geschriebenen Text konfrontiert wird und es keine sprachliche Verstehensbarriere gibt, aber an keiner Stelle auf einen Übersetzungsvorgang hingewiesen wird, trägt zum facettenreichen fiktionalen Spiel mit der Herausgeberillusion (da der Herausgeber ja offenbar den Text ins Deutsche übertragen haben muss) bei. 18 Fortmann-Hijazi, Gehen, um zu erinnern. 2019, S. 176. 19 Khider, Abbas: Der falsche Inder. Roman. München: Random House, 4. Aufl. 2013, S. 24–25 (Seitenangaben fortlaufend im Text).
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mich und lerne von mir. Und so kam ich auf die verrückte Idee, meine eigene Geschichte aufzuschreiben. […] Trotz meiner früheren Vielschreiberei habe ich es lange Zeit nicht geschafft, meine eigene Geschichte tatsächlich aufzuschreiben, mit den unzähligen Menschen, Städten, Kriegen, Aufständen, Toten, Frauen und Katastrophen in meinem Leben« (S. 25).
Nachdem die Rahmenhandlung erst gegen Ende der Narration wiedereingesetzt hat, kommentiert der Ich-Erzähler verwirrt und erschüttert: »Aber was soll ich sagen? Dass ich ein Manuskript gefunden habe, in dem meine eigene Geschichte zu finden ist, geschrieben von einem Fremden namens Rasul Hamid? […] alles wohl mehr als unrealistisch, ja sogar lächerlich« (S. 153). Und weiter: »Wie kann es sein, dass einer einfach meine Geschichte aufgeschrieben und in einem Umschlag ausgerechnet neben mir abgelegt hat? Wenn einer meine Geschichte gestohlen hat, wieso hat er sie dann ausgerechnet mir zukommen lassen? Und die vielen Einzelheiten in meinem Leben, die außer mir niemand kennen kann« (ebd.).
Der Ich-Erzähler der Rahmenhandlung selbst reflektiert über seine unmöglichen Schreibversuche. »Schon lange hegte ich den Wunsch, meine Fahrt auf dem Geisterschiff, meine Odyssee, niederzuschreiben. Nie habe ich es geschafft. Immer wieder, seit mindestens fünf Jahren, versuchte ich einen Anfang. Und immer wieder hörte ich auf, weil ich nicht überzeugt war, weil mir die Erzählstruktur fehlte, weil ich einfach nicht zufrieden war. Ich wusste immer genau, was ich aufschreiben wollte, aber eben nicht wie!« (S. 154)
»Khider spricht stellvertretend für viele Flüchtlinge aus dem Nahen Osten – zumindest wirft er einen anderen Blick auf das Flüchtlingsdrama an den Grenzen Europas.«20 Mit seinen Schilderungen wirft Abbas Khider, der Autor, ein Schlaglicht auf die zermürbende Situation etlicher Geflüchteter, deren Traum von einem besseren Leben in Frieden sich angesichts ihrer ungewissen Zukunft sowie der sprachlichen und behördlichen Barrieren vielleicht nie erfüllen wird.21
20 Hilmes, Carola: »Jedes Kapitel ein Anfang und zugleich ein Ende.« Abbas Khiders fiktionalisierte Lebensbeschreibung. In: Identitätskonstruktionen in der deutschen Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Monika Wolting. Göttingen: V&R unipress 2017, S. 135–146, S.136. 21 Der Autor insinuiert dabei auch die Idee, dass andere Geflüchtete möglicherweise eigene Tagebuchaufzeichnungen und Romanfragmente verfasst haben, die den Erfahrungen des Autors bzw. seiner Romanfigur teilweise entsprechen oder sich mit ihnen vergleichen lassen. »Ich glaube, mein Problem besteht darin, dass ich nicht freiwillig gereist bin. Ich bin kein Tourist. Nur ein Flüchtling. Eine fliehende Taube, die vollkommen blind war. Sie konnte zwar fliegen, wusste aber nicht genau, wohin. Ich war gezwungen, meine Heimat für immer zu verlassen, so viel stand fest. Aber eigentlich wusste ich doch gar nicht, was ich woanders tun sollte! Ich musste nur überleben und damit genug. Der Eintritt ins Exil war eine lange Straße in der Leere, die ich das ganze Leben bekämpfen musste« (S. 73).
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Es ist sicher auch kein Zufall, dass der Autor dieses Manuskripts einen Namen mit deutlich religiösem Anklang trägt: »Rasul« bedeutet im Arabischen ›Gesandter‹ oder ›Sendbote‹ – eine Zuschreibung, die im Islam insbesondere für den Propheten Mohammed sowie andere Propheten gebraucht wird. »Hamid« bedeutet so viel wie ›Gepriesener‹ oder ›Preisenswerter‹, was ebenfalls starke religiöse Implikationen aufweist, da es sowohl eine Bezeichnung als auch ein Name ist, die/der im arabischen Sprachgebrauch ebenfalls mit dem Leben des Propheten Mohammed und seiner Nachfolge in Verbindung steht. Trotz der deutlich weltlichen Abenteuer und Probleme, die der Manuskriptautor erlebt, könnte man also interpretieren, dass er sinnbildlich und exemplarisch (wenn nicht gar prophetisch) für das Leiden und die Wirrungen vieler anderer steht, die ein ähnliches Schicksal erlebt haben. Auch ist er dadurch, dass seine Erlebnisse in Worte gefasst wurden, zwar kein Vorbild, dafür aber ein Abbild seiner Zeitgenossen, die keine Gelegenheit zu schreiben finden. Ohne einem simplen Autobiografismus zu verfallen, kann man davon ausgehen, dass manche Elemente der Handlung sowie Figurengestaltung eingeflossen sind, zumal der Autor in Selbstzeugnissen und Interviews ausdrücklich auf seine eigene Migrationserfahrung verweist.22 Weder die Herausgeberfigur noch der Binnentextverfasser können als Round Character gelten und dadurch, dass die Unzuverlässigkeit der Autorschaft auf fiktionaler Ebene spielerisch verhandelt und sogar potenziert wird, wirkt der Roman möglicherweise auf der Rezeptionsebene auf manche Leser verwirrend. Andere wiederum mögen darin die Verallgemeinerbarkeit sowie Vervielfachung von Fluchterfahrungen erkennen, die zwar auch von anderen deutschsprachigen Autoren verarbeitet werden23, hier aber insbesondere auf den Verfasser Abbas Khider als Persona hindeuten. Die Herausgeberfiktion ist ein in der Literaturgeschichte weltweit verbreitetes literarisches Motiv; und die Fiktion eines als Manuskript vorgefundenen Textes, der durch den Ich-Erzähler berichtet bzw. herausgegeben wird, bietet Spielräume für vervielfachte Migrationsgeschichten. Für seinen Roman »Der falsche Inder« wurde Abbas Khider erstmals 2010 der Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis verliehen, 2017 wurde er abermals mit dem Preis für sein Gesamtwerk ausgezeichnet. Der von Arata Takeda verwendete Begriff des »fiktionalen« Herausgebers24 kann überdies produktiv sein, um einen Herausgeber zu bezeichnen, der trotz seiner Nichtidentität mit dem Autor im Verhältnis zu seinem Leser Realität beansprucht. 22 (letzter Zugriff: 06. 09. 2020). 23 Vgl. Fortmann-Hijazi, Gehen, um zu erinnern. 2019. 24 Takeda, Arata: Die Erfindung des Anderen. Zur Genese des fiktionalen Herausgebers im Briefroman des 18. Jahrhunderts. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 15.
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Mit Rekurs auf Gérard Genettes25 Unterscheidung narrativer Ebenen kann das Phänomen der Herausgeberfiktion ansatzweise beschrieben werden, während Stanzels26 strukturalistischer erzähltheoretischer Ansatz die Mehrstufigkeit nicht berücksichtigt. »Durch ihre Kombination aus dem Rahmentext eines fiktiven Herausgebers und dem von ihm ›veröffentlichten‹ Binnentext läßt sich die Herausgeberfiktion in die Gruppe der mehrstufigen Erzählungen einordnen.«27 Mommertz nimmt darüber hinaus eine Unterscheidung zwischen Rahmenerzählung und Herausgeberfiktion vor: »Während bei der Rahmenerzählung der Erzähler der Binnenerzählung selbst zwangsläufig anwesend ist, er dem Leser also im Rahmen in persona präsentiert wird, muß [sic!] der Verfasser des Binnentextes in einem Werk mit Herausgeberfiktion in dessen Rahmentext nicht auftreten – er kann sogar anonym bleiben oder bereits verstorben sein.«28
Mommertz’ Analyse englischsprachiger Romane der Neuzeit kommt in Hinblick auf die Unterscheidung zwischen einfacher Rahmenerzählung und Herausgeberfiktion zu folgendem Ergebnis: »Demnach zeichnet sich […] die Rahmenerzählung durch Kontinuität aus, bei der Herausgeberfiktion hingegen kommt es zu einem Bruch, da der Akt der Binnentextgenese im Regelfall nicht geschildert wird.«29 Meiner Auffassung nach lässt Abbas Khider in »Der falsche Inder« die Leser überdies (auf fiktionale Weise) am Vorgang der Binnentextgenese teilhaben – und das ist das Überraschende dieser Erzählkonstruktion, die Einblicke in und Vermutungen über die Erfahrungswelt des Autors ermöglicht. »Zwischen der Figurenrede – Rasul Hamids Erinnerungen – und der Positionierung des Autors klafft eine Lücke, die Interpretationsspielräume eröffnet.«30 Eine Gesprächssituation mit dem Leser entsteht: »Dabei sieht der Leser in gewisser Weise dasselbe wie der fiktive Herausgeber, ein Objekt (Papier), auf dem sich der Text befindet; je geringer die erzählenden Momente im Text des Herausgebers sind, desto mehr Eigenleistung muß [sic!] der Leser bringen, wenn er sich eine fiktive (Rahmen-)Welt vorstellen möchte.«31 Der Vorgang der Meta-
25 Genette, Gérard: Die Erzählung. München: Wilhelm Fink 1994. 26 Stanzel, Franz K.: Theorie des Erzählens. 6. unveränderte Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995. 27 Mommertz, Stefan: Die Herausgeberfiktion in der englischsprachigen Literatur der Neuzeit. Berlin: Dissertation.de Verlag im Internet. 2003, S. 35. 28 Ebd., S. 39. 29 Ebd., S. 39–40. 30 Hilmes, »Jedes Kapitel ein Anfang und zugleich ein Ende.« 2017, S. 138. 31 Mommertz, Die Herausgeberfiktion in der englischsprachigen Literatur der Neuzeit. 2003, S. 41.
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fiktionalisierung schafft somit absurderweise vermeintlich mehr Nähe zum Autor-Ich.
5.
Knappe Konklusion
Aspekte von Selbstfindung, Selbstinszenierung und (fiktionalisierte) Autorreflexion bieten beide hier vorgestellten Autoren in ihrem Œuvre. Bei Özdamar ist es zudem eine spannungsreiche Sprachmischung, die zur Einzigartigkeit ihrer Texte beiträgt, während Khiders Narration durch metafiktionalisierende Elemente eine vermeintlich größere Nähe der Leserinnen und Leser zum Autor-Ich schafft. Abschließend soll festgehalten werden, was die Lektüre und literaturwissenschaftliche Untersuchung der Texte von Özdamar und Khider sowie vieler anderer migrantischer Autoren wertvoll macht: »Wenn Integration oder Inklusion oder Chancengleichheit gelingt, dann wird die Gesellschaft nicht homogener, nicht harmonischer und nicht konfliktfreier.«32 Die Komplexität und Qualität der Selbstreflexion und Selbstinszenierung der hier erörterten Texte und ihrer Verfasser weisen ihnen einen besonderen literarischen Wert zu.
6.
Bibliografie
Primärliteratur Khider, Abbas: Der falsche Inder. Roman. München: Random House, 4. Aufl. 2013. Khider, Abbas: Ohrfeige. Roman. München: Hanser 2017. Khider, Abbas: Deutsch für alle. Das endgültige Lehrbuch. München: Hanser 2019. Khider, Abbas im Interview »Ich habe eine Mauer um mich herum gebaut«. Der Schriftsteller Abbas Khider über Heimat, Exil und seinen neuen Roman »Ohrfeige«, der unter Asylbewerbern spielt. 07. 02. 2016, 21:00 Uhr Kaspar Heinrich. (letzter Zugriff: 06. 09. 2020). Özdamar, Emine Sevgi: Mutterzunge. Erzählungen. Berlin: Rotbuch Verlag 2013 [zuerst erschienen 1990].
32 El-Mafaalani, Aladin: Das Integrations-Paradox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2018, S. 76. Davon zeugt auch Khiders ironische Auseinandersetzung mit den Hürden der deutschen Sprache: Khider, Abbas: Deutsch für alle. Das endgültige Lehrbuch. München: Hanser 2019.
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Sekundärliteratur Boog, Julia: Anderssprechen. Vom Witz der Differenz in Werken von Emine Sevgi Özdamar, Felicitas Hoppe und Yoko Tawada. Würzburg: Königshausen & Neumann 2017 (Reihe Interkulturelle Moderne. Hrsg. von Ortrud Gutjahr, Bd. 6). Budde, Jannica: Interkulturelle Stadtnomadinnen. Inszenierungen weiblicher Flanerieund Migrationserfahrung in der deutsch-türkischen und türkischen Gegenwartsliteratur am Beispiel von Aysel Özakin, Emine Sevgi Özdamar und Asli Erdogan. Würzburg: Königshausen & Neumann 2017 (Studien zur deutsch-türkischen Literatur. Hrsg. von Michael Hofmann, Bd. 7). El-Mafaalani, Aladin: Das Integrations-Paradox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2018. Foroutan, Naika: Die postmigrantische Perspektive. Aushandlungsprozesse in pluralen Gesellschaften. In: Erfahrungen – Ideen – Reflexionen. Hrsg. von Marc Hill/Erol Yildiz. 2018. Open access Triedere.pdf, S. 15–27 (letzter Zugriff: 06. 09. 2020). Fortmann-Hijazi, Sarah: Gehen, um zu erinnern. Identitätssuche vor irakischem Hintergrund: Sherko Fatah, Semier Insayif und Abbas Khider. Bielefeld: Aisthesis 2019. Genette, Gérard: Die Erzählung. München: Wilhelm Fink 1994. Haines, Brigit/Littler, Margaret: Contemporary Women’s Writing in German: Changing the Subject. Oxford University Press 2004. Hillgruber, Katrin: Adelbert-von-Chamisso-Preis. Wegen Erfolgs eingestellt. Tagesspiegel.de vom 01. 03. 2017. (letzter Zugriff: 06. 09. 2020). Hilmes, Carola: »Jedes Kapitel ein Anfang und zugleich ein Ende.« Abbas Khiders fiktionalisierte Lebensbeschreibung. In: Identitätskonstruktionen in der deutschen Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Monika Wolting. Göttingen: V&R unipress 2017, S. 135–146. Laudenberg, Beate: Inter-, Trans- und Synkulturalität deutschsprachiger Migrationsliteratur und ihre Didaktik. München: Iudicium. 2016. Matthes, Frauke: Beyond Boundaries? Emine Sevgi Özdamar’s MutterZunge and V.S: Naipaul’s The Enigma of Arrival as Creative Processes of Arrival. esharp issue 5, 2005 pages 1–14. (letzter Zugriff: 06. 09. 2020). Mommertz, Stefan: Die Herausgeberfiktion in der englischsprachigen Literatur der Neuzeit. Berlin: Dissertation.de Verlag im Internet. 2003. Rösch, Heidi: Deutschunterricht in der Migrationsgesellschaft. Eine Einführung. Stuttgart: Metzler 2017. Singer, Gesa: Von Betroffenheit zur Avantgarde. Themen, Diskurse und Wirkung deutschsprachiger interkultureller Literatur im Kontrast zur Exilliteratur. In: Narrationen in Bewegung. Deutschsprachige Literatur und Migration. Hrsg. von Margarita Blanco Hölscher/Christina Jurcic. Bielefeld: Aisthesis 2019, S. 111–121. Stanzel, Franz K.: Theorie des Erzählens. 6. unveränderte Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995. Takeda, Arata: Die Erfindung des Anderen. Zur Genese des fiktionalen Herausgebers im Briefroman des 18. Jahrhunderts. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008.
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Terkessidis, Mark: Komplexität und Vielheit. In: Erfahrungen – Ideen – Reflexionen. Hrsg. von Marc Hill/Erol Yildiz. Open access Triedere 2018 pdf, S. 73–80 (letzter Zugriff: 06. 09. 2020). Twist, Joseph: Sacred and Secular Spaces: Emine Sevgi Özdamar’s das Leben ist eine Karawanserei and Großvater Zunge. In: Schwerpunkt/Focus: Emine Sevgi Özdamar. Hrsg. von Paul Michael Lützeler/Thomas Kniesche (Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch., Bd. 17). Tübingen: Stauffenburg 2018, S. 165–185. Wirth, Uwe: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E.T.A. Hoffmann. (Trajekte. Eine Reihe des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin. Hrsg. von Sigrid Weigel/Karlheinz Barck). Paderborn: Wilhelm Fink 2008. Wolting, Monika: »Identität kann nur als ein Problem existieren«. Zu Identitätskonstruktionen in der Gegenwartliteratur. Einleitung In: Identitätskonstruktionen in der deutschen Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Monika Wolting. Göttingen: V&R unipress 2017, S. 9–18.
Anastasia Keppler
Elfriede Jelinek – Die Schriftstellerin als Parasit
1.
Einleitung
Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Schreiben und Autorschaftsbild gehört zu einer Konstante im Schaffen von Elfriede Jelinek. Nicht nur in theoretischen Essays und Interviews thematisiert sie die eigene Position als Schreibende, sondern auch in Romanen und Theatertexten wird die metatextuelle Reflexion des Schreibens eingeflochten. Im Laufe ihrer Karriere hat Jelinek unterschiedliche Strategien der Selbstdarstellung aufgegriffen und im Einklang mit den aktuellen Werken diverse Autorschaftsmasken anprobiert. Die ausgewählten Autorschaftsbilder finden oft Ausdruck in den metaphorischen Bezeichnungen, die Jelinek für sich selbst oder ihre Texte erfindet. Als Paradebeispiel kann der Begriff Textfläche dienen, der aktiv in der Forschung rezipiert wurde und nicht nur Auskunft über die Beschaffenheit der Texte gibt, sondern auch einiges zum Bild der Autorschaft beiträgt. Der Begriff wurde sogar direkt für die Charakterisierung der Schriftstellerin umgemünzt und sie infolgedessen als »Textflächenfrau«1 bezeichnet. Auch die von Jelinek geliebten intertextuellen Strategien der Textherstellung beeinflussen sehr stark ihre eigene Positionierung als Autorin. Eine der letzten expliziten Selbstbezeichnungen findet man im Essay »Das Parasitärdrama« von 2011: Darin bezieht sich die Bezeichnung Parasit gleichermaßen auf die Texte (Parasitärdramen) und auf die Schriftstellerin selbst (die Parasitärdramatikerin). Der Begriff Parasit besitzt eine lange metaphorische Verwendungstradition, in deren Geschichte sich mehrere Bedeutungsverschiebungen ereignet haben, die in unterschiedlichen Kontexten reaktiviert werden können. Durch die Verwendungsgeschichte besitzt die Figur des Parasiten eine besondere Leistungsfähigkeit und kann »mit Komplexität
1 Sucher, Curt B.: »Die Textflächenfrau« In: Süddeutsche Zeitung vom 19. 05. 2010. https:// www.sueddeutsche.de/kultur/die-dramatikerin-elfriede-jelinek-die-textflaechenfrau-1.896879-0 (letzter Zugriff: 10. 05. 2020).
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befrachtet werden […], ohne ins Beliebige oder Verschwommene abzugleiten«.2 Bereits bei Serres in seiner umfassenden Theorie des Parasitären werden unterschiedliche Bedeutungsschichten in diesem Bild kombiniert: »ein Gast, der die Gastfreundlichkeit mißbraucht, ein unvermeidliches Tier und die Störung einer Nachricht.«3 Der Begriff kann aber durchaus weitere Bedeutungsaspekte annehmen und gleicht somit »einer Chiffre oder einem Platzhalter, der metonymisch ganze Szenen vertritt«4. Bei Jelinek kommen in dieser Figur diverse Denkbilder zusammen, die in ihrer früheren Selbstpositionierung fokussiert wurden, ohne miteinander zu konkurrieren. Das Denkbild des Parasiten kann somit auch bei Jelinek als ein Codewort für das Autorschaftsbild gelesen werden, das in unterschiedliche Richtungen entfaltet werden kann. Es gehören Aspekte des weiblichen Schreibens, der Zitierästhetik, der Medienrezeption dazu, es kann auch als eine Zusammenführung der vorherigen Metaphorisierungen der Leseund Schreibprozesse gelesen werden. Um einzelne Bilder, die in diesem Begriff in einer sehr komprimierten Form vorkommen, entfalten zu können, lohnt es sich, die vorherigen Beiträge zur Inszenierung der eigenen Autorschaftsposition anzuschauen.
2.
Die Frau als Parasit
Das größte Thema, das in Jelineks Selbstinszenierung immer viel Platz eingenommen hat und auf sehr unterschiedliche Art und Weise zum Ausdruck gekommen ist, ist die Position der Frau in der Gesellschaft. Die Verbindung mit der Figur des Parasiten ist auf den ersten Blick nicht eindeutig und wird in keinem Text explizit gemacht. Doch weisen beide Diskurse einen breiten Überschneidungsbereich bei der Position der Abhängigkeit auf, was zwar keine Gleichstellung, aber eine Vergleichbarkeit bedeutet. So wie der Parasit nicht ohne seinen Wirt überleben kann, wird die Überlebensfähigkeit der Frau in Abhängigkeit zu den Leistungen des Mannes gestellt. Es wird dabei nicht nur die ökonomische Dependenz thematisiert, auch intellektuell oder künstlerisch scheint die Frau auf das männliche Genie angewiesen; die Sexualität der Frau wird in Abhängigkeit zum männlichen Blick gesetzt. Diese Klischees aus dem patriarchalen Weltmodell bilden einen nährhaften Boden für Jelineks Frauenfiguren. Anstatt den stereotypen Bildern die Gegenbilder entgegenzusetzen, nutzt Jelinek alle angebotenen Klischees parasitär aus. Durch die übermäßige Anhäufung und Über2 Gehring, Petra: Der Parasit: Figurenfülle und strenge Permutation. In: Die Figur des Dritten: ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Hrsg. von Eva Eßlinger. Frankfurt/Main/Berlin: Suhrkamp 2010, S. 180–192, hier S. 184. 3 Serres, Michel: Der Parasit. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2016, S. 20. 4 Gehring, Der Parasit. 2010, S. 188.
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spitzung werden die tradierten Bilder ad absurdum geführt und so subversiv bekämpft. Solche Frauenbilder finden sich in den Romanen und Theatertexten Jelineks, ihre eigene Figur grenzt sie aber nicht von diesen Bildern ab, sondern überträgt die Frauendarstellungen aus ihren Texten nicht selten auf sich selbst. Diese Strategie der Selbstinszenierung hat oft zur autobiografischen Lesart ihrer Texte geführt.5 Es ist aber eine umgekehrte Bewegung vorstellbar: die Fiktionalisierung der eigenen Figur, das Verschmelzen der Autorin mit dem eigenen Werk. Als Beispiel kann die berüchtigte Fotoserie für den »Stern« dienen, für die sich Jelinek ans Bett fesseln lässt. Im Kontext der Veröffentlichung des Romans »Lust« wurde sie in vielen Interviews aufgegriffen als Versuch, auf das »wahre« Bild von Jelinek zu kommen und den Roman entsprechend autobiografisch zu deuten. Solche Selbstinszenierungen lassen sich aber auch als eine Art Paratext deuten, der die Aussage des Romans intensiviert. Auch die zahlreichen biografischen Aussagen – darunter die krankhaften Beziehungen mit der Mutter, die tragische Geschichte des Vaters oder die psychischen Störungen – konstruieren das von den Medien erwartete Autorinbild und »ordne[n] sich teils soziologischen, teils psychoanalytischen, teils feministischen Perspektiven unter«.6 Die Autorin scheint solche »Belegerzählungen« eher dafür zu nutzen, sich hinter dem entstandenen typisierenden Bild zu verstecken, als darin ihr Leben herauszustellen. Insbesondere in den Interviews sieht man, dass diese biografischen Elemente ganz unterschiedliche Bilder untermauern und dass Jelinek sich grundsätzlich sehr gerne von den Interviewern lenken lässt und jede provokative Frage dankend annimmt. So liest man in einem Interview mit André Müller, wie jede Frage, die auf das Biografische abzielt, vorschnell bejaht wird.7 Im gleichen Interview bereut sie erst ihre »Offenheit« (»Schrecklich! Ich habe mich von Journalisten so oft ausziehen lassen.«8), rela-
5 Vgl. Tacke, Alexandra: »Sie nicht als Sie«: Die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek spricht »Im Abseits«. In: Autorinszenierungen: Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien. Hrsg. von Christine Künzel/Jörg Schönert. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 191–207, hier S. 195. 6 Vogel, Juliane: Oh Bildnis, oh Schutz vor ihm. In: Gegen den schönen Schein: Texte zu Elfriede Jelinek. Hrsg. von Christa Gürtler/Alexander von Bormann. Frankfurt/Main: Verlag Neue Kritik 2005, S. 142–156, hier S. 149. 7 Als gute Beispiele können folgende Aussagen dienen: »In Ihrem Roman ›Die Klavierspielerin‹ bezeichnen Sie die Heldin als ›formlosen Kadaver‹, ›schlaffen Gewebesack‹, […]. Sind das Sie? JELINEK: Ja, das bin ich in meinem Selbsthaß.« Oder: »Die Frau im Buch zerschneidet sich mit einer Rasierklinge die Scheide. JELINEK: Das habe ich wirklich getan«. Müller, André/Jelinek, Elfriede: Ich lebe nicht. (letzter Zugriff: 15. 06. 2020). 8 Ebd.
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tiviert das aber anschließend wieder, denn »das waren Äußerungen, aus denen man trotzdem über mich nichts erfuhr. Was ich sonst sage, sind Stilisierungen«.9 Die öffentlichen Selbstdarstellungen eröffnen somit ein Spielfeld mit den medialen Fremdzuschreibungen, der eigenen Biografie und dem literarischen Schaffen. Das Zusammenwirken von Text, Selbstinszenierung und medialen Charakterisierungen erzeugt eine Ambivalenz, »eine Pluralität möglicher Autorschaftsentwürfe […], die sich jedoch gegenseitig widersprechen und relativieren«.10 Ob die literarischen und journalistischen Texte von dem Leben der Autorin speisen oder ob die Texte als Wirte für die parasitäre Selbstdarstellung dienen, bleibt nicht nur unklar, sondern grundsätzlich unmöglich zu definieren. Wie in Serres Modell sind die Positionen Wirt, Gast und Parasit prinzipiell austauschbar und verändern sich mit den Bewegungen im System.11 Das parasitäre Autorschaftsbild ist somit nicht als eine stabile Konstruktion betrachtbar, sondern oszilliert ständig zwischen diversen Bedeutungsmöglichkeiten und kann an keinem konkreten Punkt festgemacht werden. »Der Parasit hat nun keine Beziehung mehr zu einer Station, sondern zu einer Relation«12: Die Autorin als Parasit baut somit ihr Selbstbild nicht auf ihrer Biografie oder den Texten auf, sondern setzt den Fokus auf die Beziehungen zwischen verschiedenen Elementen.
3.
Sekundäre Autorschaft
Das Problem der Frauenposition in der patriarchalen Gesellschaft wird insbesondere in Bezug auf das weibliche Schreiben zugespitzt. »Das weibliche Sprechen ist«, so Jelinek, »eine phallische Anmaßung, etwas, das für sie [die Frau] eben nicht vorgesehen ist«.13 So stellt sie schon 1996 das Problem der weiblichen Autorschaft in den Raum. In der Selbstpositionierung als Autorin attackiert Jelinek immer wieder die tradierten Rollenzuschreibungen, indem sie die üblichen Attribute, die als Opposition zum männlichen Genie herausgebildet wurden, subversiv anwendet. Die aus dem 18. Jahrhundert kommende Auffassung des Schriftstellers als Genie bringt die Dichotomie des Männlichen und des Weiblichen, der Produktion und bloßer Reproduktion mit sich. Die Reproduktion, die Ausnutzung des bereits Vorhandenen, wird in Anbetracht der schrift-
9 10 11 12 13
Ebd. Dröscher-Teille, Mandy: Autorinnen der Negativität. Hannover: Wilhelm Fink 2017, S. 61. Vgl. Serres, Der Parasit. 2016, S. 37. Ebd., S. 55. Roeder, Anke/Jelinek, Elfriede: Überschreitungen: Ein Gespräch mit Elfriede Jelinek. (letzter Zugriff: 10. 01. 2020).
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stellerischen Produktion eher als Negativzeichen angesehen. Jelinek stellt aber die Reproduktion als ästhetisches Modell ganz prominent in den Vordergrund. Das Essay »Anmerkung zum Sekundärdrama« kann als poetologisches Manifest angesehen werden, das explizit diese Strategie im Rahmen der weiblichen Autorschaft beschreibt. Das Sekundäre als Begriff vereint in sich gleich beide Aspekte: das Sekundäre zum einen als Sekundärliteratur, also das Nachträgliche, Kommentierende, nicht Selbstständige, und zum anderen als das andere Geschlecht, als Verweis »auf die biblischen Ursprünge der patriarchalen Ordnung, die die Frau als Sekundärwesen, das aus der Rippe des Mannes geschaffen wurde, dem Mann unterordnet«.14 Das Essay präsentiert den Schreibprozess zunächst als rein pragmatische Produktion. Die Sekundärdramen werden auf Anfrage hergestellt und stellen ein Pendant zu den klassischen Stücken dar, mit denen sie parallel auf einer Bühne inszeniert werden sollen. Die Sekundärdramen werden praktisch als Gebrauchsgegenstand, als eine clevere Verkaufsstrategie der Künstlerin, die damit »auf der sicheren Seite«15 sein will, angepriesen. Schon in dieser Formulierung wird die prekäre Stellung der weiblichen Autorinnen deutlich, die eine Autorität der kanonisierten Werke brauchen, um die Aufführungskonstanz sicherzustellen. Den Sekundärdramen werden so Schritt für Schritt die Attribute der künstlerischen Produktion entzogen: Der Nutzen steht im Vordergrund, die Stücke sind eine »neue Geschäftsidee«16 für den Theaterbetrieb. Die Ewigkeit oder mindestens die Dauerhaftigkeit wird auch abgesprochen: »Nichts davon muß ewig halten. Nichts davon soll ewig halten.«17 Sogar das richtige Verständnis der Ausgangswerke kann nicht vorausgesetzt werden: »Es wird aber daran scheitern, daß ich auch diesmal, wie üblich, wieder die Angabe des jeweiligen Klassiker nicht verstehe (oder nicht richtig) und entweder zu einem ganz anderen, falschen Stück das richtige Sekundärdrama schreibe oder, wahrscheinlicher, das Originaldrama nicht verstehe und dann was total Falsches dazuschreibe.«18
Der Diskurs des Nichtverstehens und die Selbstinszenierung als eine radikale Antiintellektuelle wird von Jelinek oft als eine Art Abwehrreaktion, als eine Bewegung gegen Kanonisierung und Versteinerung benutzt. Aussagen wie »tut
14 Kovacs, Teresa: Drama als Störung. Elfriede Jelineks Konzept des Sekundärdramas. Bielefeld: transcript 2016, S. 121. 15 Jelinek, Elfriede: Anmerkung zum Sekundärdrama. (letzter Zugriff: 13. 07. 2020). 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Ebd.
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mir leid, ich bin dumm wie Brot«19 finden sich fast in jedem Interview. Durch diese vermeintliche Selbstverkleinerung werden aber auch die »hochwertigen« Quellen wie philosophische Schriften und kanonisierte Werke auf eine Ebene mit den anderen benutzten Versatzstücken wie Werbung oder Kommentare in den sozialen Netzwerken gebracht. Es wird dazu noch stärker auf den Materialcharakter der verwendeten Texte hingewiesen, durch das angekündigte Nichtverstehen können die Texte nur als sinnentleertes Sprachmaterial benutzt werden. In dem Essay wird diese Haltung durch die überspitzte, unernste Darstellung der Schreib- bzw. Überarbeitungsprozesse unterstützt. Dafür kleidet sich Jelinek in die stereotypen Weiblichkeitsvorstellungen und spricht davon, den Klassikern eine Dauerwelle zu verpassen, sie zu blondieren oder aufzunorden20. Ähnlich hat sie die intertextuell angeeigneten philosophischen Texte als eine »durchsichtige Denkbluse«21 beschrieben. So wird auf die fingierte Oberflächlichkeit des Schreibprozesses hingewiesen. Diese Verschränkung von Weiblichkeitsattributen und schriftstellerischen Tätigkeiten gipfelt in der Behauptung: »Das nimmt eine Menge Druck von mir, uff, und so bin ich froh, das Sekundärdrama erfunden zu haben, zu meiner eigenen Entlastung und zur Belastung der Großen.«22 In dem Essay wird klar, dass Jelinek die tradierten Vorstellungen von sich als einer zarten, zierlichen Frau – oder fragilen und zerbrechlichen Autorin – subversiv für die Kritik an dem männlichen literarischen Kanon benutzt. Hinter dieser vermeintlich bescheidenen Position und Koketterie verbirgt sich ein mächtiger destruktiver Ansatz und eine starke Selbstpositionierung als Schreibende. Durch die vorgegebene Inszenierungssituation der Sekundärdramen, die auf der parallelen Präsenz beider Texte auf der Bühne insistiert, werden die Vorlagentexte von Sekundärdramen nicht bestätigt, sondern direkt angegriffen und infrage gestellt. Bezeichnend ist dabei die Auswahl von Prätexten, denn in den Sekundärdramen dienen nicht wie üblich die antiken Stücke als Vorlage, sondern die wahrscheinlich wichtigsten Stücke aus dem deutschsprachigen Kanon wie »Urfaust« oder »Nathan der Weise«. Das Netz der parasitären Verhältnisse wird somit erweitert: Nicht nur die Beziehung zwischen den Texten und der eigenen Biografie wird parasitisch ausgenutzt, sondern auch die kanonisierten klassischen Werke, an die sich Jelineks Texte parasitär anknüpfen, sowie die kanonisierten Autorenbilder, die mit dem falschen Bescheidenheitsgestus für die eigene Positionierung daher19 Müller, André/Jelinek, Elfriede: Ich bin die Liebesmüllabfuhr. (letzter Zugriff: 15. 06. 2020). 20 Vgl. Jelinek, Anmerkung zum Sekundärdrama. 21 Jelinek, Elfriede: Der faule Denkweg. (letzter Zugriff: 18. 06. 2020). 22 Jelinek, Anmerkung zum Sekundärdrama.
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kommen. Hier wird der metaphorische Missbrauch der Gastfreundlichkeit evident, die kanonisierten Texte werden herangezogen, um sie gegen sich selbst zu kehren, vielmehr, um das ganze System, in dem diese Texte entstanden sind, infrage zu stellen. Die Thematisierung der Autorinnenposition greift Jelinek auch im Essay »Das Parasitärdrama« wieder auf: Zum einen versteckt sie sich erneut hinter dem Bild der schwachen, ängstlichen Frau: »[D]ann können wir, mein Wirt, […] und ich selbst, nett gemeinsam auftreten, ich mit meinem Parasitärdrama in meiner zitternden Hand, er, der hinkende Wirt, mit mir an der Hand, denn ich fürchte mich ja immer.«23 Zum anderen wird die Wertlosigkeit der weiblichen Kunstproduktion bzw. -reproduktion wieder unterstrichen. Die Parasitärdramen werden wie Sekundärdramen als etwas Flüchtiges dargestellt, weil sie sich fest an ein Ereignis tackern und somit »die Verderblichkeit der verderbenbringenden Realität«24 auf die Bühne bringen. Die fingierte Schwäche und Zerbrechlichkeit sind somit Teile einer subversiven Strategie, um eine starke Autorinposition zu vertuschen und die medialen Vorstellungen ins Wanken zu bringen. Die Paradoxien der Selbstinszenierung bekommen neue Facetten, das eigene Schreiben aus der weiblichen Position wird zuerst in die Abhängigkeit von den kanonisierten männlichen Autorenbildern gestellt, die aber gleich im nächsten Schritt bekämpft und wertlos gemacht werden.
4.
Parazitieren
Das Problem des weiblichen Schreibens wird im Essay »Das Parasitärdrama« zwar wieder aufgenommen, es wird dabei aber weniger auf die explizit weibliche Seite des Schreibens eingegangen, sondern vielmehr die für das ganze Schaffen typische Intertextualitätsästhetik erläutert und im Zeichen des Parasiten zusammengeführt. Jelinek erzeugt den Eindruck der radikalen Antioriginalität ihrer Texte: »[I]ch sage immer das, was alle sagen, was die anderen sagen, ich warte, bis sich etwas Neues mir darbietet, und dann werfe ich es in denselben leeren Abgrund, in den auch Sie alles werfen, was Sie nicht brauchen können.«25 Ihre Stücke sind »aus den vorgefundenen Versatzstücken anderer Diskurse zu-
23 Jelinek, Elfriede: Das Parasitärdrama. (letzter Zugriff: 13. 07. 2020). 24 Ebd. 25 Jelinek, Elfriede: Die Schutzbefohlenen. In: Die Schutzbefohlenen. Wut. Unseres. Reinbek: Rowohlt 2018, S. 9–98, S. 106.
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sammengesetzt«26, nicht mal die Bezeichnung »Parasitärdrama« ist eine originelle Erfindung, sondern wird von einem Kritiker parasitisch appropriiert. Parasit sein heißt hier, auf Kosten der anderen leben. Ein Parasit muss keine Erfahrungen selbst machen, keine Informationen sammeln. Alles Nötige wird als Pakete der Wirklichkeit regelmäßig an die Parasitärdramatikerin nach Hause geliefert.27 Der Schreibprozess wird somit nicht mehr als tatsächliches Schreiben dargestellt, sondern als ein Zusammensetzen von Vorhandenem, das von jedem durchgeführt werden könnte: »[W]ieso interessiert das Parasitärdrama (vielleicht tut es das ja gar nicht), wenn sich jeder jeden Tag sein eigenes schreiben könnte, sogar viele, unzählige davon?«28 Beiläufig das eigene Schreiben als etwas Unnützliches darstellend, inszeniert sich Jelinek als ideale Verkörperung eines Scripteurs, eines Aufschreibers, der keine Verfügungsgewalt über den Textsinn hat. Sie verstehe nicht nur die benutzten Ausgangswerke oft nicht, sie wisse sogar manchmal gar nicht, was für Stimmen in ihre Theaterstücke mit hineinkommen: »Das ist mein Schreiben, nichts wissen und auch nicht wissen, was ein andrer gesagt hat, den ich dennoch sprechen lasse.«29 Im Vergleich zu den Sekundärdramen wird der Aspekt der Unselbstständigkeit somit mit negativeren Konnotationen belegt. Während das Sekundärdrama als eine Begleitung präsentiert wurde, die zwar nicht original ist, sich aber immerhin auf die eindeutige Autorität bezieht und somit durch die »zitierte Autorität«30 eine gewisse Wertigkeit beanspruchen kann, beziehen sich die Parasitärdramen auf Massenmedien. Die angebliche Minderwertigkeit des Wirtes verschärft somit die Vergänglichkeit der Stücke, was die Gattungsbezeichnung »Drama« gleich infrage stellt: »Dem Ereignis macht das gar nichts, aber das Drama, das dann kein wirkliches Drama mehr sein kann, bringt es um, weil es nur andauert, solang man sich an das Ereignis erinnert.«31 Die fremden Worte, die Jelinek benutzt, sind nicht nur allen verfügbar und dabei nicht wertvoll, sondern scheinen auch keiner Auswahl unterzogen zu werden. Die Texte, die sie später in eigenen Stücken nutzt, hört und liest sie »nein, 26 Weingart, Brigitte: Parasitäre Praktiken. Zur Topik des Viralen. In: Über Grenzen: Limitation und Transgression in Literatur und Ästhetik. Hrsg. von Claudia Benthien. Stuttgart: Metzler 1999, S. 207–230, hier S. 207. 27 Vgl. Jelinek, Das Parasitärdrama. 28 Ebd. 29 Jelinek, Elfriede: Textflächen. (letzter Zugriff: 19. 06. 2020). 30 Fleig, Anne: Zitierte Autorität – Zur Reflexion von Autorschaft in Rosamunde, Ulrike Maria Stuart und den Sekundärdramen. In: »Machen Sie was Sie wollen!«: Autorität durchsetzen, absetzen und umsetzen: Deutsch- und französischsprachige Studien zum Werk Elfriede Jelineks. Hrsg. von Delphine Klein/Aline Vennemann. Wien: Praesens 2017, S. 148–157, hier S. 149. 31 Jelinek, Das Parasitärdrama.
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nicht zufällig, sondern weil ich es hier gebraucht habe, dennoch zufällig, ich wollte es ja gar nicht hören, es hätte auch von etwas ganz anderem die Rede sein können, dann hätte ich, der Parasit, halt genau das gebraucht«.32 Ähnlich verhält sie sich bereits bei dem Sekundärdrama »Abraumhalde«, wenn sie in der Vorbemerkung zum Stück schreibt, es könnte »als Hintergrund zu einer Aufführung von ›Nathan‹ (oder einem ähnlichen Stück)«33 laufen. Das scheinbar Wahllose und das Ungefilterte machen aber den tatsächlichen Angriffspunkt umso deutlicher und lassen vermuten, dass konkrete Werke oder Ereignisse weniger im Vordergrund stehen als die grundsätzliche Konstruktion der Hierarchien des Kanons oder die diskursiven Strategien der Massenmedien. Die fremden Textelemente werden aber nicht einfach direkt übernommen, sondern erfahren durch die Neukontextualisierung, die Wortspiele oder die minimalen Eingriffe in den Text eine starke Bedeutungsverschiebung – sie werden nicht zitiert, sondern parazitiert.34 Sehr intensiv lässt sich das in »Die Schutzbefohlenen« beobachten, wenn die zahlreichen Übernahmen aus der Broschüre »Zusammenleben in Österreich« die pathetische Demokratierhetorik umkehren oder ins Lächerliche überführen. So wird das erste demokratische Prinzip »Meine Freiheit endet dort, wo die Freiheit der anderen beginnt«35 bei Jelinek folgendermaßen in den Text integriert: »Die Freiheit endet dort, wo Ihre beginnt, jawohl, aber Ihre beginnt nicht, dafür werde ich schon sorgen, und meine endet nicht. So. Ihre endet, bevor sie beginnt, und meine beginnt überhaupt immer und endet nie. So. Nein. Nicht so! Bitte kommen Sie mir nicht so!«36 Das Parazitierte deckt die Doppelmoral auf und zeigt die Unzulänglichkeit der so übermittelten Wertvorstellungen.
5.
Fressen und wuchern
Während Jelinek sich in »Anmerkung zum Sekundärdrama« als Geschäftsfrau, aber auch als eine schwache, zerbrechliche Autorin inszeniert hat, werden im Essay »Das Parasitärdrama« für die Selbstpräsentation Bilder aus dem Feld des Biologischen ausgewählt. Jelinek bezeichnet sich als Parasitärdramatikerin oder 32 Ebd. 33 Jelinek, Elfriede: Abraumhalde. (letzter Zugriff: 10. 07. 2020). 34 Vgl. Krapp, Peter: Der Parasit des Parasiten. In: Eingriffe im Zeitalter der Medien. Hrsg. von Hannelore Pfeil/Hans-Peter Jäck. Rostock: Hanseatischer Fachverlag für Wirtschaft 1995, S. 43–53, hier S. 50. 35 Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres: Zusammenleben in Österreich: Werte, die uns verbinden. (letzter Zugriff: 10. 07. 2020), S. 12. 36 Jelinek, Die Schutzbefohlenen. 2018, S. 28.
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gar als Parasit und vergleicht sich mit dem Schwein, das »im Ungenießbaren nach irgendwas stöber[t]«.37 Am Ende vom Essay wird das Bild eines von Misteln befallenen Baums platziert, was zunächst auf die organische Interpretation des Begriffs Parasit deutet. Jelinek greift hier teilweise auch die antiken Wurzeln des Wortes auf – Parasit als jemand, der am gleichen Tisch speist –, kombiniert sie aber mit der gegenwärtigen biologischen Bedeutung und den dazugehörigen negativen Konnotationen. Der aktuelle metaphorische Gebrauch des Begriffs hat bereits eine Verwendungstradition: Historisch wurde Parasit oft als Beleidigungswort benutzt, um die radikale Fremdheit auszudrücken, aber auch die abstoßende Vorstellung von Schmutz und Ekel zu erregen. Jelinek unterstützt diese Konnotation mit grotesken Bildern: »Der Wirt wird sagen, wo ein Tisch freigeworden ist, ich warte geduldig, daß mir etwas zugewiesen wird, aber das kleckere und sabbere ich dann total voll, bis kein freies Fleckchen mehr übrig ist. […] Dann fresse ich wie das Schwein von vorhin, und sogar das, was mir aus dem Mund fällt, wird noch aufgehoben und weiter gefressen, so machen Parasiten das.«38
Die Schreibszenen bei Jelinek sind oft Einverleibungsszenen. Sie bilden praktisch den Gegenpol zu den leichtsinnigen Verkleidungen in die »Denkblusen« oder frisieren von Klassikern, die oben als bevorzugte Strategie der Selbstdarstellung angesehen wurden. Sie unterstützen aber gleichzeitig die andere, nicht seltener verwendete Seite des Autorinbildes: Jelinek als Domina, ihr Männerhass, ihre Aggressivität. Die Bilder stellen in der Regel die raubgierigen Szenen des Textzerreißens dar: Das Fressen ist immer präsent, die verwendeten Texte werden metaphorisch zerfleischt und finden als blutige Fetzen Eingang in Jelineks Stücke. »Etwas blättert vor sich hin […] und plötzlich stoße ich mit einem unhörbaren Schrei auf eine Stelle herunter, die ich gerade erblickt habe, reiße sie mir, noch tropfend und blutig und eklig, heraus, verleibe sie mir ein, […] und dann schaue ich sofort weiter […], ob ich etwas davon verwenden kann und betoniere es in mein eigenes Schreiben ein.«39
Der Schreibprozess ist untrennbar mit dem Lesen – also Einverleiben – verbunden und wird entsprechend mit körperbezogenen Prozessen parallelisiert: »Ich fresse und fresse. Ist ja klar, daß alles nur Bauch sein soll. Alles ist mein Inneres, aus dem ich jetzt freizügig spende.«40 Das parasitäre Fressen ist aber kein
37 Jelinek, Das Parasitärdrama. 38 Ebd. 39 Jelinek, Elfriede: Lesen. (letzter Zugriff: 07. 07. 2020). 40 Jelinek, Elfriede: Im Wettbewerb. (letzter Zugriff: 10. 07. 2020).
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restloses Verschlingen,41 der maßlose ungefilterte Konsum provoziert eine genauso ungemäßigte Produktion. Parasit sein bedeutet Wuchern, der Parasit »hält nicht ein mit Essen, Trinken, Schreien, Rülpsen; er hört nicht auf, tausenderlei Geräusche zu machen und den Raum mit seinem Wuchern und seinem Getöse zu erfüllen. Der Parasit ist Expansion, er läuft, er wächst. Er dringt ein und besetzt. Und plötzlich quillt er über diese Seiten hinaus.«42
Die Produktion der Parasitärdramen setzt entsprechend keine Selektion voraus. »Ich kann nichts auslassen. Es muß alles hinein«43, bekennt sich Jelinek zu ihrem expansiven Textherstellungsverfahren. Die Parasitärdramen wuchern auf dem nahrhaften Boden der Massenmedien, sie lassen keine Stelle frei und nehmen sich einfach, was sie vorfinden.44 Der Schreibprozess und die daraus resultierenden Texte sind nie abgeschlossen und somit nicht abgrenzbar – man denke beispielsweise an das Stück »Die Schutzbefohlenen«, das nach dem vierten Zusatztext mit dem Titel »Ende« dennoch einen weiteren Zusatztext erhalten hat. Die Publikation auf der eigenen Website erlaubt Jelinek die willkürliche Veränderung oder Ausdehnung der Texte, die von dem Leser nicht eindeutig identifizierbar sind. Die Ästhetik ähnelt ihrer Quelle; die Nachrichten in der Dauerschleife kommen mit ihren leicht variierenden Wiederholungen in die höchst redundanten Theatertexte, die erst für die konkrete Realisierung auf der Bühne angeschnitten und abgegrenzt werden. Für die Rezeption bedeutet das aber auch, dass die Texte nicht auf eine (oder auch mehrere) konkrete Aussage(n) hinauslaufen, sondern dass erst die Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen den Sinn konstituieren. Das Eigentliche bleibt unausgesprochen, die Textwege führen auf den ersten Blick weg von dem Ziel, »zwischen Wort und Sache bewirkt irgendein Parasit, daß man abschweift«.45 Die Abschweifungen verhindern die konkrete Aussage, der Text wird aber zum Hintergrund, der die Kontur des Unsagbaren zeichnet: »Ich gehe nicht auf den Kern, den ich nicht kenne, ich weiche ihm großräumig aus, und deswegen muß ich immer soviel Text schreiben«,46 erklärt Jelinek. Die Texte bilden somit die Grenzen vom Unausgesprochenen, lassen es besser zum Vorschein kommen, ohne es je zu berühren. Mithilfe von entlehnten Materialien wird ein Negativraum kreiert.
41 42 43 44
Vgl. Gehring, Der Parasit. 2010, S. 188. Serres, Der Parasit. 2016, S. 389. Jelinek, Das Parasitärdrama. Vgl. Jelinek, Elfriede: Grußwort nach Japan. (letzter Zugriff: 07. 05. 2020). 45 Serres, Der Parasit. 2016, S. 48. 46 Jelinek, Das Parasitärdrama.
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Um einen Eindruck von einer solchen Abschweifung zu geben, wird hier ein Ausschnitt aus »Die Schutzbefohlenen« zitiert: »Wir waren vorhin und sind immer noch bei den Müttern und den Kindern im Alter, nein, bei den Kindern, die niemals alt werden, und bei den Müttern, die tot sind, nein, wir stoßen geistig hier an unsre Grenzen und müssen professionelle Hilfe in Anspruch nehmen, und das sind die Angestellten dieser Kirche und jetzt die des Klosters, wo Sie uns haben liegen sehen, ja, nette Menschen, hilfsbereit, sagen Sie es ruhig weiter! Aufgabenteilung und Unterstützung sind wichtig, das gilt nicht nur der Verantwortung der Familie gegenüber, die wir nicht mehr haben, kein Wunder, daß Sie uns verantwortungslos nennen, Parasiten an Ihrem Körper, der jederzeit bereit, Schmarotzer zu melden, die ihren Rotz über das schöne Land schmieren, ja, uns zu melden, uns melden sie noch, wenn wir schon hingesunken sind, uns zu melden, bloß weil wir hier sind, anwesend, obwohl wir Verantwortung gegenüber der Familie hätten, aber alles, was wir an Familie haben, ist hier, hier bei uns, nämlich nichts und niemand, und wir haben auch nichts. Fremde für Fremde. Maß für Maß. Taschenlampe für Nacht.«
Als Ausgangspunkt dient hier wieder eine Stelle aus der Broschüre »Zusammenleben in Österreich«, die die Aufgabenverteilung im Staat bildlich darstellen sollte.47 Die friedliche Metapher der Familie zerstört Jelinek bereits durch die Umstellungen und Vermischungen am Anfang; durch das Einbeziehen der konkreten Situation in der Votivkirche und die Hasspostings aus dem Netz wird die ursprüngliche Aussage der Broschüre konterkariert. Die verzweifelte Lage der Flüchtlinge kommt nur in Nebensätzen flüchtig zum Ausdruck, stellt aber die gesamte demokratische Rhetorik auf den Kopf. So lenkt die Parasitärdramatikerin die Aufmerksamkeit von den einzelnen Ereignissen oder Tatsachen auf die Relationen dazwischen.
6.
Störung
Neben der biologischen Bedeutung besitzt der Begriff Parasit noch eine kommunikative, die bei Jelinek genauso stark zum Ausdruck kommt. Ausgehend von dem französischen bruit parasite deutet Serres den Begriff Parasit als »ein[en] Bruch, eine Unterbrechung, eine Störung der Kommunikation«.48 Störung kann als eine der zentralen ästhetischen Kategorien in Jelineks Schaffen angesehen werden.49 Eine sehr intensive Auseinandersetzung damit lässt sich bei ihren Sekundärdramen beobachten, wo das Prinzip Störung nicht nur als Verfahren der 47 Vgl. Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres: Zusammenleben in Österreich, S. 26. 48 Serres, Der Parasit. 2016, S. 11. 49 Eine ausführliche Analyse der Sekundärdramen in Bezug auf die Kategorie Störung findet man bei Teresa Kovacs (Kovacs, Drama als Störung. 2016).
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Textproduktion fungiert, sondern auch als obligatorisches Element der Inszenierung festgelegt ist. Im oben betrachteten Zitierverfahren ist der aufstörende Aspekt von Jelineks Textherstellung sichtbar – die Umkontextualisierungen sowie die Eingriffe in die übernommenen Textteile stören die ursprüngliche Nachricht. Wie Stephanie Kratz formuliert, wird hier »die weibliche Kehrseite eines männlichen Zitierverfahrens [aufgerufen]: Elfriede Jelinek zitiert nicht, sie produziert Echos«.50 Die kommunikationstheoretische Bedeutung der Störung unterstreicht aber noch einmal, dass es bei den parasitären Entlehnungen nicht um eine einseitige destruktive Bewegung geht, sondern dass der Parasit durch die Verstörung eine neue Ordnung schafft: »Er verwirrt die alte Reihe, die Folge, die Botschaft, und er komponiert eine neue.«51 In dem oben zitierten Abschnitt wirkt die Verstörung dynamisierend auf das erstarrte System der deklarierten gesellschaftlichen Wertvorstellungen. Durch die Wortverdrehungen und die Neuzusammensetzung wird das System hinterfragt und werden dessen Lücken aufgedeckt. Der Nachdruck solcher Aufstörungen besteht auch darin, dass der Parasit dem System inhärent ist – »[k]ein System ohne Parasit«52 – und es somit nicht von außen, sondern mit dessen eigenen Mitteln verändert. Eine neutrale Abschreiberin ist Jelinek also nicht: In vielen ihrer Stücke kommt auch eine identifizierbare Autorininstanz zu Wort, die sehr wohl eine Meinung hat. Den Beschuldigungen der »Sinnentleerung und Sinnvervielfachung«53 kann man paradoxerweise gerade die Entstehung des neuen Sinns entgegensetzen. Dem Gestus des Zurücktretens und der Selbstinszenierung als neutraler Reproduktionsinstanz stehen die starke Autorinposition und die Bekämpfung der tradierten Rollenvorstellungen gegenüber. Der Begriff Parasit ermöglicht aber, diese scheinbar widersprüchlichen Positionen unter einem Dach zusammenzubringen und somit ein plastisches Autorschaftsmodell zu erschaffen.
50 Kratz, Stephanie: »Meine lieben Zitate«: Von babylonischen Mauern, Nachbarskindern und fremden Planeten bei Elfriede Jelinek. In: Anführen – Vorführen – Aufführen: Texte zum Zitieren. Hrsg. von Volker Pantenburg/Nils Plath. Bielefeld: Aisthesis 2002, S. 255–271, hier S. 261. 51 Serres, Der Parasit. 2016, S. 283. 52 Ebd., S. 26. 53 Kovacs, Drama als Störung. 2016, S. 104.
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Literaturverzeichnis Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres: Zusammenleben in Österreich: Werte, die uns verbinden. (letzter Zugriff: 10. 07. 2020). Dröscher-Teille, Mandy: Autorinnen der Negativität. Hannover: Wilhelm Fink 2017. Fleig, Anne: Zitierte Autorität – Zur Reflexion von Autorschaft in Rosamunde, Ulrike Maria Stuart und den Sekundärdramen. In: »Machen Sie was Sie wollen!«: Autorität durchsetzen, absetzen und umsetzen: Deutsch- und französischsprachige Studien zum Werk Elfriede Jelineks. Hrsg. von Delphine Klein/Aline Vennemann. Wien: Praesens 2017, S. 148–157. Gehring, Petra: Der Parasit: Figurenfülle und strenge Permutation. In: Die Figur des Dritten: ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Hrsg. von Eva Eßlinger. Frankfurt/ Main/Berlin: Suhrkamp 2010, S. 180–192. Jelinek, Elfriede: Abraumhalde. < http://elfriedejelinek.com/farhalde.htm> (letzter Zugriff: 10. 07. 2020). Jelinek, Elfriede: Anmerkung zum Sekundärdrama. (letzter Zugriff: 13. 07. 2020). Jelinek, Elfriede: Das Parasitärdrama. (letzter Zugriff: 13. 07. 2020). Jelinek, Elfriede: Der faule Denkweg. (letzter Zugriff: 18. 06. 2020). Jelinek, Elfriede: Grußwort nach Japan. (letzter Zugriff: 07. 05. 2020). Jelinek, Elfriede: Im Wettbewerb. (letzter Zugriff: 10. 07. 2020). Jelinek, Elfriede: Lesen. (letzter Zugriff: 07. 07. 2020). Jelinek, Elfriede: Textflächen. (letzter Zugriff: 19. 06. 2020). Jelinek, Elfriede: Die Schutzbefohlenen. In: Die Schutzbefohlenen. Wut. Unseres. Reinbek: Rowohlt 2018, S. 9–98. Kovacs, Teresa: Drama als Störung. Elfriede Jelineks Konzept des Sekundärdramas. Bielefeld: transcript 2016. Krapp, Peter: Der Parasit des Parasiten. In: Eingriffe im Zeitalter der Medien. Hrsg. von Hannelore Pfeil/Hans-Peter Jäck. Rostock: Hanseatischer Fachverlag für Wirtschaft 1995, S. 43–53. Kratz, Stephanie: »Meine lieben Zitate«: Von babylonischen Mauern, Nachbarskindern und fremden Planeten bei Elfriede Jelinek. In: Anführen – Vorführen – Aufführen: Texte zum Zitieren. Hrsg. von Volker Pantenburg/Nils Plath. Bielefeld: Aisthesis 2002, S. 255– 271. Müller, André/Jelinek, Elfriede: Ich bin die Liebesmüllabfuhr. (letzter Zugriff: 15. 06. 2020).
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Müller, André/Jelinek, Elfriede. Ich lebe nicht. (letzter Zugriff: 15. 06. 2020). Roeder, Anke/Jelinek, Elfriede: Überschreitungen: Ein Gespräch mit Elfriede Jelinek. (letzter Zugriff: 10. 01. 2020). Serres, Michel: Der Parasit. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2016. Sucher, Curt B.: Die Textflächenfrau. (letzter Zugriff: 10. 05. 2020). Tacke, Alexandra: »Sie nicht als Sie«: Die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek spricht »Im Abseits«. In: Autorinszenierungen: Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien. Hrsg. von Christine Künzel/Jörg Schönert. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 191–207. Vogel, Juliane: Oh Bildnis, oh Schutz vor ihm. In: Gegen den schönen Schein: Texte zu Elfriede Jelinek. Hrsg. von Christa Gürtler/Alexander von Bormann. Frankfurt/Main: Verlag Neue Kritik 2005, S. 142–156. Weingart, Brigitte: Parasitäre Praktiken. Zur Topik des Viralen. In: Über Grenzen: Limitation und Transgression in Literatur und Ästhetik. Hrsg. von Claudia Benthien. Stuttgart: Metzler 1999, S. 207–230.
Christina Rossi
Von der reflektierten Autorschaft zur Autoreflexivität – Daniel Kehlmanns Erzählung »Du hättest gehen sollen« als Prosa über poetologische Diskursivität
1. Die Selbstreflexion eines Schriftstellers ist weder ein Phänomen der Gegenwartsliteratur, noch ist sie an das Format der Poetikdozentur oder des poetologischen Essays gebunden. Das mediale und öffentliche Interesse an ihr ist ungebrochen und die Konfrontation des Schriftstellers mit Fragen nach dessen Motiven und Motivationen selbst im Zuge wissenschaftlicher Literaturvermittlung kein Tabu. Sie verlangt dem Schriftsteller vieles ab, allen voran: Auskunft zu geben über das, was sich auch ihm häufig entzieht. Bereits Edgar Allen Poe formuliert im Jahr 1846 in seinem poetologischen Essay »The philosophy of composition«, dass die meisten Dichter es grundsätzlich ablehnten, Leser einen Blick hinter ihre Kulissen werfen zu lassen, auf den »unreifen Zustand der mühevoll ausgearbeiteten, hin und her schweifenden Gedanken«.1 Im Literaturbetrieb der Gegenwart ist unter anderem Juli Zeh bekannt für ähnliche, ja weitaus deutlichere Aussagen.2 »Ich habe keine Poetik. Niemand hat eine Poetik, jedenfalls nicht, solange er Bücher schreibt. […] Poetik klingt, als wüsste der Autor, was er da tut – dabei weiß er bestenfalls, was er getan hat. […] Auf typische Journalistenfragen wie ›Woher nehmen Sie Ihre Ideen?‹ […] dürfte es eigentlich immer nur eine Antwort geben: ›Weiß ich nicht.‹«3 Recht passend lässt sich an diese Worte der Beginn von Daniel Kehlmanns bereits 2006 in Göttingen vorgetragener Poetikvorlesung anfügen: »Ich habe keine Ahnung.«4 Kehlmann sagt im weiteren Verlauf seiner Rede, das literarische Milieu dränge Schriftsteller in 1 Poe, Edgar Allan: Die Philosophie dichterischen Schaffens. Übersetzt von Adolf Strodtmann. Hamburg: Hoffmann & Campe 1862, S. 32. (letzter Zugriff: 25. 05. 2020). 2 Vgl. Zeh, Juli/Oswald, Georg M.: Aufgedrängte Bereicherung. Künzelsau: Swiridoff 2011, S. 7– 11; Vgl. Zeh, Juli: Treideln. Frankfurt/Main: Schöffling & Co. 2013, S. 12–21. 3 Zeh, Treideln. 2013, S. 11, 20. 4 Kehlmann, Daniel: Diese sehr ernsten Scherze. Zwei Poetikvorlesungen. In: Ders.: Lob. Über Literatur. Reinbek: Rowohlt 2010, S. 125–168, hier S. 125.
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die Rolle der selbstbewussten Auskunftgeber, obgleich sie doch eine Auskunft gar nicht geben könnten. Zugleich macht Kehlmann dieses Dilemma zu (s)einem literarischen Thema: Er veröffentlichte gemeinsam mit seiner Poetikvorlesung zahlreiche Essays, im Rahmen derer er immer wieder – gerade auch poetologische – Texte anderer Autoren in seinen eigenen poetologischen Diskurs einfließen lässt. In seiner Prosa setzt er überdies zunehmend Schriftstellerfiguren in Szene – allen voran Leo Richter in »Ruhm« und »Leo Richters Porträt«.5 Und trotz seiner geäußerten Vorbehalte (»Mißtrauen Sie Interviews gebenden Autoren«)6 hat Kehlmann auch immer wieder über eigene literarische Einflüsse und Vorbilder gesprochen. In einem seiner zahlreichen Interviews äußerte er, der US-amerikanische Schriftsteller E. L. Doctorov habe beispielsweise seinen Stil stark beeinflusst, und er hebt dessen Roman »Andrew’s Brain« mit den Worten hervor: »Man liest das Buch und kennt sich zunächst gar nicht richtig aus, und alles wirkt sehr merkwürdig und ein bisschen aberwitzig, und dann kommt man erst drauf, dass das Ganze das psychologische Porträt eines sehr verstörten Erzählers ist. Und dieser Erzähler ist selber die Hauptfigur.«7 Kehlmanns Interesse am Schriftsteller als literarischer Figur ist insofern keineswegs als ein autofiktionales zu begreifen. In der Darstellung fokussieren Kehlmanns Texte gerade auf die immanenten Konflikte dieser Figur. In seiner 2009 publizierten sehr kurzen Prosa »Leo Richters Porträt« wird dies erstmals deutlich. Der Text erzählt vom regelrechten Kampf des Schriftstellers Leo Richter gegen einen Journalisten, der an einem großen Porträt über ihn arbeitet. Richter wehrt immer wieder ab. »Er habe es sich anders überlegt, ihm sei es lieber, das Porträt werde nicht verfasst. Seine Zeit lasse es nicht zu, und überhaupt sei es mit seiner Auffassung vom Künstlerdasein nicht vereinbar, die eigene Person in die Öffentlichkeit zu rücken. […] Wie Proust es so schön formuliert habe, seien Bücher das Produkt eines anderen Ich, bitte keine Diskussion, dies sei endgültig!«8 So realisiert die Figur Leo Richter zum Ende des Textes, dass es nun »endgültig zu viel Spiegelung war: Schreiben, ja, aber nicht über mich und keine Porträts, die davon handeln, wie ich schreibe, und schon gar nicht Geschichten, in denen ich Porträts erfinde, die von mir handeln […]«.9
5 Einen weiteren Überblick über diese Figuren gibt Ina Paul in: Paul, Ina Ulrike: Autorfunktion, Autorfiktion: Schriftstellerfiguren bei Daniel Kehlmann. In: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch. Schwerpunkt Daniel Kehlmann. Hrsg. von Paul Michael Lützeler/Thomas W. Kniesche. Tübingen: Stauffenberg 2017, S. 77–99. 6 Kehlmann, Diese sehr ernsten Scherze. 2010, S. 5. 7 Ellmenreich, Maja: Daniel Kehlmann im Gespräch. In: Deutschlandfunk vom 22. 07. 2016. (letzter Zugriff: 25. 05. 2020). 8 Kehlmann, Daniel: Leo Richters Porträt. Reinbek: Rowohlt 2009, S. 24. 9 Ebd., S. 39.
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Mit der Frage nach der Darstellbarkeit des Schriftstellers und nach dessen (einer Reflexion de facto teilweise unzugänglichen) Tätigkeit wird mehr oder weniger subtil auch die Frage nach dem Sinn und Zweck einer solchen Reflexion gestellt. Und so wie Juli Zeh in ihrer ersten Poetikvorlesung danach fragt, welchen Nutzen die Zuhörer oder Leser einer solchen eigentlich konkret haben,10 so legen einige Kehlmann’sche Inszenierungen der Schriftstellerfigur letztlich doch die Fragestellung nahe, welche Konsequenz die poetologische Selbstreflexion eigentlich für den Schriftsteller selbst hat. Verändert sich sein Schreiben in dem Moment, in dem er sich klarmacht und der Öffentlichkeit erklärt, welches die Motive, Umstände, Probleme, Grundlagen und Eigenheiten seiner schriftstellerischen Tätigkeit sind? Ermöglicht oder fördert die Klärung der eigenen Grundlagen den Schreibprozess erst, oder wirkt sie eher wie eine Fessel und löst bisweilen sogar eine Schreibblockade aus? Kann ein Schriftsteller nach einer solchen Selbstbefragung noch derselbe sein wie zuvor, und kann er weiterschreiben wie vorher? Was passiert, um diese Frage sogleich auf den Akt des Erzählens zu beziehen, mit dem Erzähler und dem Erzählprozess, wenn ein Erzähler sich während des Erzählens beobachtet und hinterfragt – dabei womöglich sogar im Bewusstsein poetologischer Diskurse und Konzepte handelnd? Genau dieser Frage, so die These dieses Beitrags, widmet sich Daniel Kehlmanns Erzählung »Du hättest gehen sollen« aus dem Jahr 2016. Diese kurze Prosa lässt sich entlang der Inszenierung der schriftstellerischen Selbstreflexion und ihrer Folgen regelrecht als poetologischer Schlüsseltext Kehlmanns lesen.
2. In »Du hättest gehen sollen« macht ein junger Mann mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter Urlaub in einem Ferienhaus in den Bergen. Er ist Drehbuchautor und möchte im Urlaub an seinem Filmskript mit dem Titel »Beste Freundinnen 2« arbeiten – die Fortsetzung seines ersten und einzigen erfolgreichen Drehbuches. Das Ferienhaus, anonym über »Airbnb« gemietet, beginnt bald, ihm ein ungutes Gefühl zu vermitteln. Ungereimtheiten treten auf, im Dorf werden Geschichten von verschwundenen Urlaubern erzählt. Dem Protagonisten erscheinen Gegenstände und Räume, die zuvor nicht existierten. Er unterliegt optischen Täuschungen, die erst Irritation, dann Panik in ihm auslösen. Bald ist er sich seiner eigenen Wahrnehmung und schließlich seiner eigenen Existenz nicht mehr sicher. Der Text endet offen und verweist auf seinen Beginn zurück. Der Protagonist des Buches hat insofern eine Doppelrolle, als er Erzähler und Autor zugleich ist: Im Tagebuchstil dokumentiert er den Alltag des Ferienaufenthalts in 10 Vgl. Zeh/Oswald, Aufgedrängte Bereicherung. 2011, S. 12.
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einem Notizbuch. Parallel hierzu schreibt er im selben Notizbuch weiter an seinem Drehbuchskript. Beide Textarten gehen immer wieder ineinander über und sind miteinander verflochten. Der Leser erlebt den Erzähler also als Erzähler und zugleich als Autor einer Binnenfiktion – die als Filmskript eine spezifische Virtualität adressiert. Auch der Erzähler erlebt sich selbst bewusst in diesen beiden Rollen. Das tangiert zunächst erst einmal recht allgemein seine Kompetenzen als Erzähler, zunehmend dann auch sein Bewusstsein für den eigenen Erzählprozess und schließlich mit dem Voranschreiten des Buches seine Identität zwischen den Instanzen des Erzählers und des Schriftstellers und zwischen den Ebenen der Fiktion und der Wirklichkeit. Diese Entwicklung nimmt bereits mit dem Beginn des Buches ihren Lauf: »Jana und Ella fahren auf dem Tandem die Landstraße entlang. Die Sonne scheint, die Halme wogen, heitere Musik. Ella am Lenker, Jana breitet die Arme aus, Großaufnahme: Glücklich blinzelt sie in die Sonne. Dann fährt das Rad über einen Stein, kommt von der Straße ab und fällt um. Schmerzensschreie. Die Musik bricht ab, Schwarzblende, Anfangstitel. Setzt gleich den richtigen Ton.«11 Diese ersten Sätze des Buches führen zugleich in die erste Drehbuchszene ein. Der Beginn des Buches korreliert also mit dem Beginn des Schreibprozesses des Autors der Binnenebene. Diese Ebene wird mit einem metaleptischen Bruch in Form der Reflexion der dramaturgischen Effekte durch den Erzähler am Ende dieses Zitates verlassen. Auf diese Weise mischt sich hier schon in das Erzählen ein Kommentieren des eigenen Erzählens, das die angewandten Mittel und die intendierten Effekte des Erzählvorgangs, den der Erzähler sehr bewusst gestaltet, betrifft. Ähnlich verhält es sich in einer weiteren Passage, in der er über das Verhalten seiner Figuren nachdenkt: »Also, wie reagiert Jana? Wir wissen, wie impulsiv sie ist. Jeder erinnert sich an ihren Wutanfall im ersten Teil […]. So etwas muss wieder geschehen, aber anders, weil alle darauf warten. Diesmal bleibt Jana ruhig. Das ist es! Alle erwarten den Wutanfall, aber er kommt nicht!«12 Der Erzähler definiert auch hier die erwarteten Effekte des Erzählten als oberste Motivation für die Gestaltung des Textes. Das »Eigentliche« seines Schreibens, so wird zugleich deutlich, liegt im gezielt produzierbaren Effekt. Der Erzählprozess wird als ein berechneter und bewusster Vorgang dargestellt, um funktional zweckmäßiges Unterhaltungsmaterial zu generieren. Zugleich vermittelt das Beherrschen dieser Strategien dem Erzähler den Selbstwert eines kompetenten Schriftstellers. So bekräftigt der Erzähler wiederholt seine Herrschaft über den eigenen Text – über die Figuren, die Dynamik von Erzählstrategie und deren Wirkung, über rhetorische und sprachliche Mittel. Als er die visuellen Eindrücke bei seiner 11 Kehlmann, Daniel: Du hättest gehen sollen. Reinbek: Rowohlt 2016, S. 7. 12 Ebd., S. 15f.
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Ankunft am gemieteten Ferienhaus beschreibt, sinniert er: »Gerade hat die Sonne sich hinter der Wolke hervorgeschoben, sodass der Himmel nun in schmerzhafter, gleißender, herrlicher Helligkeit zerrinnt. Oder sind das zu viele Metaphern? Die Sonne schiebt sich doch nirgendwohin, der Wind schiebt die Wolke weg, und natürlich zerrinnt der Himmel keineswegs. Aber in schmerzhafter, gleißender, herrlicher Helligkeit, nicht schlecht.«13 Als unbedingter Teil der schriftstellerischen Selbstreflexion weist der hier artikulierte Anspruch, die Sprache bewusst, anders und neu zu verwenden, den Erzähler in Kehlmanns Text als einen sich diesem genuin literarischen Anspruch stellenden Autor aus, kumuliert aber insofern bezüglich poetologischer Selbstreflexion erneut mit Aspekten der Produziertheit von Literatur, als Erstere Letztere erst ermöglicht und gerade nicht als implizite, zwingende Konsequenz genialischer künstlerischer Intuition inszeniert wird. Der Erzähler reflektiert sich hier nun aber zugleich nicht mehr als Autor der Binnenfiktion, sondern als Erzähler der ersten Fiktionsebene. Dieser – erneut metaleptische – Bruch irritiert auch die Situierung von Autor und Erzähler, denn der Erstere ist dem Letzteren funktional hierarchisch übergeordnet. Das Buch spiegelt dies in seiner Handlung, indem mit der Ankunft im Ferienhaus der zunehmende Verlust der räumlichen Selbsterfahrung des Erzählers einsetzt. Dieser macht hier mehrere irritierende Erfahrungen, allen voran die des vermeintlichen Verlustes des eigenen Spiegelbildes: Er sieht in der abendlichen Glasscheibe des Panoramafensters den Raum, in dem er sich befindet, doch er selbst fehlt im Spiegelbild der Raumkulisse. Der Versuch, sich selbst wahrzunehmen, misslingt – selbst in der Spiegelung bzw. der Reflexion. Ungläubig starrt der Erzähler mehrere Momente lang in die Scheibe. Schließlich sieht er seine einzig mögliche Reaktion darin, sofort aufzuschreiben, was er gerade sieht bzw. nicht sieht: »Schreib es auf, damit du dich erinnerst, damit du niemals behaupten kannst, es wäre bloß Einbildung gewesen. Aber schon während ich das schreibe, denke ich, dass es Einbildung gewesen sein muss.«14 Das Schreiben dient dem Erzähler nur so lange als funktionale Zeugenschaft der erlebten Wirklichkeit, als er selbst an diese glaubt. Schon einige Zeilen zuvor heißt es: »Langsam, schau genau hin. Wenn du genau hinschaust und alles aufschreibst, wirst du es ». Dieser Satz endet in der Leere, die auch typografisch durch Leerzeichen bis zum Zeilenende vollzogen ist. In dieser ergänzungsoffenen Komposition erscheinen all die leeren Zeilen und Seiten, die das Buch zunehmend füllen – bzw. gerade nicht füllen –, wie ein Sammelsurium all dessen, was sich durch den Autor nicht verstehen und versprachlichen lässt. Das Schreiben hilft ihm nicht über den vermeintlichen 13 Ebd., S. 8. 14 Ebd., S. 35f.
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Selbstverlust hinweg, weil die Sprache das Wirkliche gerade nicht zu erfassen vermag – dieser aber liegt die schon scheiternde (ebenfalls sprachliche) Reflexion zugrunde. Diese Erkenntnis der fundamentalen Nichtentsprechung von Sprache und Wirklichkeit tritt in Kontrast zu dem scheinbar der Wahrheit verpflichteten Tagebuchstil, den der Erzähler pflegt, vor allem aber ist sie beinahe ein Gemeinplatz im Rahmen von Poetikvorlesungen und hier jedem Dichter auf eine andere Weise bewusst und bedeutsam. Insofern besitzt es doch Ironie, wenn der Erzähler nach einigen vermeintlich tiefgründigen Gedanken über die eigene Existenz in Raum und Zeit schließlich resümiert: »Worte. Sie treffen nicht, wie es wirklich ist.«15 Das Wirklichsein – diese Idee, sogar dieser Satz mag Kehlmann-Lesern aus anderen Werken bekannt vorkommen. Die Phrase »ich fühlte mich unwirklich« findet sich so bzw. ganz ähnlich bereits u. a. in »Ruhm«16 und in »Der fernste Ort«17. Motivisch hielt die Idee der (Un-)Wirklichkeit schon in Kehlmanns Debüt »Beerholms Vorstellung«, überdies zentral in »F« und in »Tyll« im Rahmen des Magier- bzw. Illusionskünstlerthemas Einzug. In »Ruhm« findet sich sogar eine der oben zitierten Passage frappierend ähnliche Textstelle (»Worte reichten nicht aus, um zu beschreiben, wie es wirklich war«).18 Die Idee des Wirklichseins steht auch in all diesen Büchern in Verbindung mit einem Erzähler, der die eigene Existenz zwischen Fiktion und Realität reflektiert. Die Wirklichkeit, die Kehlmanns Erzähler meinen, ist als vermeintlich höhere Fiktionsebene jeweils eine eigene Wirklichkeitsfiktion: Sie suggeriert eine gesteigerte Lebensnähe der fiktiven Figuren, weil diese ihr eigenes »In-der-Welt-Sein« anzweifeln. Sie zweifelt damit aber natürlich auch die scheinbar reale Wirklichkeit des Lesers an, kehrt die Perspektiven und Ebenen um. Immer wieder kreisen das Schreiben und das Erzählen auch in »Du hättest gehen sollen« um diese Idee des Wirklichseins, mithin um die Frage, wie etwas eigentlich – eben jenseits der Fiktion – ist. Ein Sprechen über ein solch eigentliches Wirklichsein zeigt sich schon vordergründig in der Darstellung des Familienlebens des Protagonisten. Dieses entspricht einem sehr modernen Klischee – dem chaotischen, nervenaufreibenden Familienalltag junger Eltern. Der Erzähler vollzieht ein scheinbar entideologisiertes »Reden darüber, wie es 15 Ebd., S. 86. 16 Kehlmann, Daniel: Ruhm. Reinbek: Rowohlt 2009 (»Im Frühsommer seines neununddreißigsten Jahres wurde der Schauspieler Ralf Tanner sich selbst unwirklich«, S. 79; »[…] und ich wußte im nachhinein nicht mehr, ob nur mein unordentliches Gedächtnis schuld oder ob die Wirklichkeit selbst in Verwirrung geraten war«, S. 166; »›Das alles passiert nicht wirklich‹, sagte sie. ›Oder?‹ – ›Hängt von der Definition ab.‹ Er zündete sich eine Zigarette an. ›Wirklich. Dieses Wort heißt so viel, daß es gar nichts mehr heißt‹«, S. 200). 17 Kehlmann, Daniel: Der fernste Ort. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001 (»Er spürte, wie eine Wirklichkeit sich in eine andere schob und zurückwich […]«, S. 145). 18 Kehlmann, Ruhm. 2009, S. 30.
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wirklich ist« – denn der Alltag der jungen Familie dreht sich im Urlaub in Wirklichkeit eben nicht um harmonisches Zusammensein, sondern primär um nervliche Anstrengung, gegenseitige Vorwürfe und die Frage, wo man dabei selbst – mit einem eigenen Geltungsanspruch, eigenen Bedürfnissen und Freiheiten – bleibt. So wird genau diese Frage, wo man selbst bleibt, mithin wie und wo man eigentlich wirklich ist, doppeldeutig relevant, nämlich in Bezug darauf, wie sie in der Raumstruktur des Textes gespiegelt wird: Die Figuren verschwinden im Verlauf der Erzählung nach und nach. Darin wird nun wieder auf das Dilemma des Schriftstellers rekurriert, der in bzw. zwischen verschiedenen, im Text räumlich inszenierten, Welten, lebt – im Buch etwa zwischen der familiären und der genuin individuell-eigenen, zwischen der existenziell-beruflichen und der künstlerisch-inspirierten. Das Changieren zwischen verschiedenen Welten – letztlich auch zwischen den Dimensionen der Selbstverortung – findet in den Wirklichkeitsfiktionen, die Barthes’schen Realitätseffekten entsprechen,19 ein erzählerisches Äquivalent.20 Dabei wird durch den Verweis auf kontingente Wirklichkeitsdetails eine direkte Verbindung zwischen einem aufgerufenen Realitätsdetail (das in einer semiotischen Konzeption des Realitätseffektes dem Signifikanten entspricht) und der Wirklichkeit als generellem Referenzgegenstand etabliert, und zwar unter Umgehung des Signifikats, d. h. der Aussage über die Welt, die etwa als Plot vermittelt wird.21 Doch die referenzielle Semantik der Wirklichkeitsverweise bleibt weitgehend irrelevant, weil ihre Funktion primär darin besteht, dem Leser selbstreferenziell die eigene Wirklichkeitsqualität zu suggerieren. Diese Ideen lassen sich wiederum an die schriftstellerische Selbstreflexion der Erzählung anknüpfen, und so lässt sich der Text auch im Sinne einer durchaus ironischen Figuration eines Schriftstellers als Werk eines Blenders lesen, der über das eigene Schreiben spricht, ohne wirklich »etwas zu sagen« – oder wie wiederum Juli Zeh es formuliert: »Aber wir haben von unseren Politikern gelernt, dass man lieber das Blaue vom Himmel herunter erzählt, als zuzugeben, dass man keine Ahnung hat.«22 Es wird insofern etwas als Poetik aus19 Barthes, Roland: Le degré zéro de l’écriture. Paris: Editions du Seuil 1968; Barthes, Roland: »L’effet de re´el«. In: Litte´rature et re´alite´. Hrsg. von Roland Barthes/Leo Bersani/Philippe Harmon et al.: Paris: Editions du Seuil 1982, S. 81–90; Reckwitz, Erhard: Realismus-Effekt. In: Metzler Lexikon Kultur- und Literaturtheorie. Hrsg. von Ansgar Nünning. Stuttgart: Metzler 2004, S. 562. 20 Realistische Literatur, an die der Erzähler der ersten Fiktionsebene mit seinem vermeintlich der objektiven Wahrheit verpflichteten Tagebuchstil anschließt, bezieht sich in einer intensiven Weise auf kulturelle Codes, die Anknüpfungen an Weltwissen im Kunstwerk ermöglichen, etwa in Form von Verweisen auf alltagsweltliche Kenntnisse von Naturwissenschaft, Psychologie oder Medizin, und auch (besonders relevant für andere Romane Kehlmanns) durch das Auftauchen historischer Personen in literarischen Texten, das Barthes sogar als »effet superlatif de réel« bezeichnet, vgl. Reckwitz: Realismus-Effekt, 2004, S. 562. 21 Vgl. ebd. 22 Zeh, Treideln. 2013, S. 20.
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gegeben, das dieser entweder der Sache, dem eigenen Anspruch oder dem Wahrheitsgehalt nach nicht entspricht, und hieraus ergibt sich erneut eine Dissonanz zwischen verschiedenen – räumlich imaginierbaren – Schichten: dem (reflexiv und diskursiv) Geäußerten und dem (inkommensurablen und unbewussten) Wirklichen, dem (öffentlich) Dargestellten und dem (unbekannten) Eigentlichen. Denn zweifellos hat auch die Auskunft über das eigene Schreiben, über das tatsächliche Entstehen des Werkes, erneut mit Aussagen darüber zu tun, »wie die Dinge wirklich sind« – Dinge, die sich eben nicht aus dem Text heraus ergeben, über die ein Schriftsteller aber sprechen soll. Eine Rhetorik des »Eigentlichen« nutzt dementsprechend nicht nur Juli Zeh (»Dabei ist in Wahrheit kein Autor Herr über das Wie seines Schreibens […]«),23 sondern auch Daniel Kehlmann (»[…] und dabei wird man doch Schriftsteller, weil man eigentlich gar nichts weiß«).24 Und die Idee des »Eigentlichen« wird auch in »Du hättest gehen sollen« sowohl in Form der Dilemmata des Schriftstellers als auch durch die Dissonanzen zwischen (durch ihn gestaltete oder gestaltbare) Räume, Perspektiven und Diskurse konturiert.
3. Die Anordnung der zwei Fiktionsebenen und der insofern permanent mögliche hypothetische Schluss – vielleicht ist das Extradiegetische immer schon diegetisch? – bezieht zugleich den Leser in die Dilemmata des Erzählers mit ein. Der Leser ist nicht nur Schöpfer seiner Imagination, die sich auf die Fiktion des Textes bezieht, sondern auch Schöpfer einer realen Wirklichkeit, nämlich der eigenen Lebensgeschichte. In Anlehnung an gegenwärtige Achtsamkeitstrends, die Kehlmann übrigens auch in seinem dieser Erzählung vorangegangenen Roman »F« am Ende tangiert,25 lässt der Text auch eine noch weiter gedachte Variante der hier auf den Schriftsteller zugeschnittenen Fragestellung zu: Wie lebt man, wenn man immerzu darüber nachdenkt, wer man ist und wie man sein Leben genau führt – und wie andere es tun, und wie das alles wirkt? Eine aus solchen Reflexionen potenziell folgende »Handlungshemmung«26 skizzierte in der Literatur bereits Schiller in seiner Figur des Wallensteins, der monologisiert: »Wohin denn seh ich plötzlich mich geführt? / Bahnlos liegts hinter mir, und eine Mauer / Aus meinen eignen Werken baut sich auf.«27 Entsprechend der Rückschau auf das erst 23 24 25 26
Ebd. Kehlmann, Diese sehr ernsten Scherze. 2010, S. 150. Vgl. Kehlmann, Daniel: F. Reinbek: Rowohlt 2013, S. 374–376. Vgl. Safranski: Goethe & Schiller. Geschichte einer Freundschaft. München: Hanser 2009, S. 215. 27 Schiller, Friedrich: Wallensteins Tod. Stuttgart: Reclam 1954, S. 10.
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durch Reflexion und Bewertung zur Fixierung gewordene eigene – damals naive oder arglose – Handeln wird auch der Versuch der Selbstfixierung durch Zuschreibungen für den Erzähler in Kehlmanns Erzählung regelrecht zum Gefängnis, die Selbstzuschreibung letztlich zur Fremdzuschreibung. Auch Roland Barthes wollte einmal selbst einen Roman schreiben. Er scheiterte schon am Beginn und kam nicht über Skizzen hinaus. Ähnlich ergeht es Kehlmanns Protagonist als Autor seines Filmskripts: Im Verlauf des Buches verliert der anfangs seiner selbst noch so sichere Protagonist zunehmend die Macht über das, was er tut, und zugleich die Sicherheit über sich selbst. Er verliert sich selbst im Erzählen, und er verliert letztlich das Erzählen selbst. Roland Barthes schrieb aber immerhin eine Reflexion dieses Scheiterns auf: 2008 wurde der daraus entstandene Essay unter dem Titel »Die Vorbereitung des Romans« ins Deutsche übertragen.28 Barthes geht dabei verschiedenen – teilweise ganz profanen – Fragestellungen nach, beispielsweise: »Wie schreibe ich? Mit welchem Material? An welchem Ort, an welchem Tisch?« Genau dies thematisiert auch der Erzähler in »Du hättest gehen sollen« auf den ersten Seiten: »Es passt gut, dass ich hier oben ein neues Notizbuch anfange. Neue Umgebung, neue Ideen, ein neuer Anfang. Frische Luft.«29 Wie auch Barthes widmet sich der Erzähler zunächst der optimalen Vorbereitung seines Erzählens. Dass seine Bedingungen sich aber nicht ohne Weiteres an die Ideale, die er imaginiert, anpassen lassen, sondern seiner Lebensrealität unterliegen, steht auf einem anderen Blatt und dokumentiert erneut sein Dilemma als Schriftsteller: »Gerade als ich weiterschreiben wollte, sind sie reingekommen [seine Frau und seine Tochter – C. R.]. Und wenn sie im Raum sind, kann ich mich nicht konzentrieren.«30 Die Erfahrung einer Schreibhemmung durch interne oder externe Faktoren evoziert wiederum eine Reflexion – sowohl bei Barthes als auch bei Kehlmanns Erzähler – der Momente des Übergangs vom Schreibenwollen zum Schreibenkönnen. Eine solche Schwelle scheint vor allem für den Erzähler Kehlmanns durch praktische Aspekte bedingt, doch im Scheitern der Schreibarbeit erweist sich diese, nun nicht mehr wie zuvor als funktionaler Produktionsprozess inszeniert, als auch von anderen Bedingungen abhängig. Es gelingt ihm aus Gründen, die ihm scheinbar selbst verborgen bleiben, nicht, sein Drehbuch, das er schreiben will und aus Geld- und Zeitdruck auch schreiben muss, tatsächlich zu verfassen. Sein erstes Drehbuch hingegen, unbefangen niedergeschrieben, war noch ein voller Erfolg. Damals war der Protagonist noch in keiner Rolle gefangen, heute hingegen hält er sich selbst für einen bedeutenden Schriftsteller. Dass sie das nicht erkenne, wirft er seiner Frau vehement vor. Abfällig äußert er sich über 28 Barthes, Roland: Die Vorbereitung des Romans. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008. 29 Kehlmann, Du hättest gehen sollen. 2016, S. 7. 30 Ebd., S. 9.
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einen Kinderbuchklassiker in Reimform, den seine Tochter wiederholt vorgelesen bekommen möchte: »Wer schreibt dieses Zeug, dachte ich, wie lebt man, wie kommt man aus mit sich, wenn man solche Dinge verfasst?«31 Einerseits etabliert der Erzähler hier selbst eine Dissonanz – die zwischen dem Schreiben des Schriftstellers und dessen Lebensführung – und verbindet diese mit selbstreflexiven Aspekten (»wie kommt man aus mit sich«), andererseits ist es tatsächlich der Erzähler selbst, der sich angesichts seines Schreibens, seines Beste-Freundinnen-Drehbuches, genau diese Frage stellen könnte. Der Gedankengang des Protagonisten besitzt einen sehr ironischen Subtext, weil er gerade das Gegenteil dessen nahelegt, was wirklich ist. So wird durch das erzählerische Mittel der Ironie auch in den Text (gleich einer zweiten Ebene) semantisch eine Dissonanz zwischen Dargestelltem und Wirklichem eingezogen: Entsprechend der Frage des Wirklichseins stehen den Ansichten des Erzählers jeweils die tatsächlichen, wirklichen Umstände gegenüber – oder eben die als wirklich suggerierten oder fingierten. Aus der durch den Erzähler als Schriftsteller in seinem Horizont realisierten Möglichkeit der Selbstreflexion ergibt sich zwingend deren Unmöglichkeit, in der Folge erscheint diese Selbstreflexion als eine permanent ihr Gegenteil bewirkende, jedenfalls nicht gerade der Enthüllung oder Erforschung von Wahrheit und Wirklichkeit dienende Praktik. Diese Ironie betrifft auch weitere Aspekte. Sein Drehbuch bezeichnet der Erzähler als »Werk«,32 seinem Auftraggeber hat er mitgeteilt, er ziehe sich in eine einsame Hütte in den Bergen zurück, um zu schreiben – von Hand, natürlich.33 Das alles entspricht sehr der Attitüde eines Schriftstellers. Es entspricht aber vor allem dem Klischee der Attitüde eines Schriftstellers. Entsprechend der ironisch gebrochenen Selbstwahrnehmung des Erzählers hält dieser es für geniale künstlerische Inspiration, alltägliche Eindrücke zu neuen Drehbuchszenen zu transformieren. Zwar sammelt und skizziert er hier und dort Ideen, doch diese bleiben alle zusammenhanglos und fragmentarisch – und auch Barthes fragt in seinem Essay im Übrigen gerade danach, wie aus verstreuten Ideen ein Textkontinuum werde. Die Frage nach der Herkunft des literarischen Stoffes spielt auf ein weiteres schriftstellerisches Klischee und Sujet der poetologischen Selbstreflexion an. Kehlmann hat dies bereits in seinem Roman »Ruhm« sowie seiner kurzen Prosa »Leo Richters Porträt« thematisiert: In beiden Texten wird dem fiktiven Schriftsteller Leo Richter die Frage nach der Herkunft seiner Ideen gestellt.34 In Form der in »Du hättest gehen sollen« inszenierten Inspiration aus
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Ebd., S. 69. Ebd., S. 10f. Vgl. ebd., S. 11. Kehlmann: Leo Richters Porträt, S. 34f. (»Danach saß er wie immer an einem zu kleinen Tisch, und es kamen die üblichen Leute und wollten Widmungen, oder sie fragten, ob er morgens
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dem Alltäglichen wird die Frage zwar scheinbar implizit beantwortet – diese Inspiration bringt dem Protagonisten aber noch kein Werk, sondern lediglich zusammenhanglose und belanglose Skizzen ein.35 Diese Diskrepanzen etwa zwischen Schreibenwollen und Schreibenkönnen, zwischen Plan und Umsetzung, zwischen Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung, zwischen noch Unwirklichem und gewolltem Wirklichen bilden allesamt Dilemmata der poetologischen Selbstreflexion des Erzählers in seiner Rolle als Autor, und sie rekurrieren neben Barthes auf weitere literaturhistorisch gewordene poetologische Diskurse. In der Gestalt des Erzählers werden bei Kehlmann insofern auch literaturtheoretische Paradigmen der Autorschaft ausgetragen: die Position Platons, in dessen Augen Dichtung der Inspiration und der Eingebung unterliegt (dem sogenannten Musenkuss), und die Position Aristoteles’, dessen Dichter praktisches und theoretisches Wissen über seinen Gegenstand besitzen muss, damit dieser die bestmögliche Wirkung erzielt.36 Dieser Dichter kennt die Traditionen und Motive, er arbeitet, seine Dichtung ist Handwerk. Auch Edgar Allan Poe greift diese beiden konträren Konzepte in seinem bereits eingangs zitierten Essay »The philosophy of composition« auf. Seine Position entspricht recht klar der aristotelischen – er statuiert am Beispiel seines eigenen Textes, dass gute Literatur berechnet und geplant angelegt sein müsse; ein Dichter dürfe erst zu schreiben beginnen, sobald er das Ende seiner Handlung kenne sowie den Effekt, den er beabsichtige. Diesem sei dann das ganze erzählerische Repertoire funktional unterzuordnen.37 Hin- und hergerissen zwischen Genieästhetik und Poeta doctus, dem gelehrten Dichter, sieht Kehlmanns Erzähler sich auch insofern in einem Dilemma der eigenen Verortung, als er sich in diesem traditionellen Antagonismus zu situieren versucht. In dieser ambivalenten Situierung lässt sich die diskursive Selbstreflexion des Erzählers aber nicht im Sinne eines Gelingens oder Scheiterns beurteilen (ihre Inszenierung ist auch nicht daraufhin angelegt), vielmehr lässt sie sich vor allem in Hinblick auf ihre Praktik und deren Resultat bewerten. Das »Werk« – ein fertiger Text – kann jedenfalls auf beiden Fiktionsebenen nicht zu Ende gebracht werden. Es wird überdies nahegelegt, dass sich der Erzähler im Prozess der künstlerischen Selbstreflexion selbst autodestruktiv verliert: Die Selbstreflexion oder abends arbeite, woher seine Ideen kämen und warum er noch nie einen Roman geschrieben habe«). 35 Die Ironie dieses Umstands erinnert im Übrigen an die gemeinsamen Reflexionen Goethes und Schillers zum Dilettantismus in der Kunst – und an Schillers Resümee, es reiche für einen Künstler eben noch nicht aus, ein interessantes Subjekt zu sein oder sich dafür zu halten, vgl. Safranski: Goethe & Schiller, S. 229. 36 Vgl. Gaier, Ulrich: Wozu braucht der Mensch Dichtung? Anthropologie und Poetik von Platon bis Musil. Stuttgart: Springer 2017, S. 19–63. 37 Vgl. Poe, Die Philosophie dichterischen Schaffens. 1862, S. 36–42.
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des Erzählers mündet in einen Prozess der Auflösung, der sich gerade am Bild des Hauses zeigt. Der Verlust der eigenen Identität ist, um noch einmal an Roland Barthes anzuknüpfen, im Eigentlichen auch Inhalt dessen Essays »Die Vorbereitung des Romans«, der nicht dem Werk selbst, sondern dem Weg des Autors zu seinem Werk gewidmet ist. Die Konzeption des Erzählers und seine Konfrontation mit dem eigenen künstlerischen Schaffen werden in Kehlmanns Prosa mit verschiedenen traditionellen und poststrukturalistischen Ideen um Autorschaft verknüpft und zeigen damit beinahe schon Züge einer poetologischen Diskursanalyse, auch übrigens in ihrer Tendenz, gerade nicht auf Wirklichkeit und deren Abbildung zu referieren, sondern auf andere (darunter auch eigene) poetologische Diskurse.
4. Unter den zahlreichen Essays, die Daniel Kehlmann über Schriftstellerkollegen und deren Werke publiziert hat, ist auch einer über Stephen King – und zwar über dessen poetologischen Essay »Vom Schreiben«. Dieser, laut Kehlmann, »kluge Text« gebe Auskunft darüber, dass King ein intuitiv arbeitender Autor sei, der sich kaum selbst befrage.38 Kehlmann zeigt sich in seinem Text überdies enttäuscht darüber, dass Kings Selbstreflexion offenbar keine Früchte trug, denn er äußert, dass King mit seinen folgenden Büchern weiter das Wohlbekannte, das Klischee pflege –39 ein Gedanke, der die Erwartung impliziert, ein Schriftsteller müsse nach der Selbstreflexion anders schreiben als zuvor. King wiederum ist bekannt als ein Autor, der mehr Wert auf Effekte und Leserlenkung denn auf eine literarisch avancierte Sprache legt. Vor allem aber bildet sein Roman »Shining« durchaus einen Kontext zu »Du hättest gehen sollen«. Die Anspielungen innerhalb der Erzählung an das Genre des Horrorfilms realisieren sich in Anlehnung an diesen Roman Kings allen voran im Raumkonzept des Geisterhauses. Überdies setzen sie ein Geistermotiv fort, das Kehlmann seit seinem Debütroman »Beerholms Vorstellung« in Form von Magie, seit »Die Vermessung der Welt« dann auch in Form von Geistererscheinungen immer wieder aufgegriffen, das gerade in jüngerer Zeit noch weiter Einzug in Kehlmanns Werk gehalten hat, etwa im Theaterstück »Geister in Princeton« und in dem TV-Krimi »Das letzte Problem«, dessen Drehbuch Kehlmann geschrieben hat.40 Mit diesem motivischen 38 Vgl. Kehlmann, Daniel: Kein ehrlicher Rock ’n’ Roll. Stephen King: Puls. In: Ders.: Lob. Über Literatur. Reinbek: Rowohlt 2010, S. 35–42, hier S. 41. 39 Vgl. ebd., S. 36, 41. 40 Vgl. Markovics, Karl/Kehlmann, Daniel: Das letzte Problem. 2019. Hier tritt eine (Kehlmann durchaus ähnlich sehende) Figur auf, die nur für den Protagonisten sichtbar ist bzw. in dessen Zwiesprache mit ihr inszeniert wird und in dessen Vorantreiben der Handlung – der Auf-
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Konzept, das bereits in verschiedenen Kontexten rezipiert wurde,41 versetzt Kehlmann auch die in »Du hättest gehen sollen« aufgeworfenen Ideen zu reflektierter Autor- und Erzählerschaft in ein atmosphärisches Setting des Ungewissen. Norman Mailer übrigens, so zitiert Daniel Kehlmann selbst in seiner Göttinger Poetikvorlesung, nannte seinen poetologischen Essay, in dem er über das eigene gespaltene Verhältnis von Autor- und Erzählerschaft sowie die Rollen der Selbstreflexion und der Selbsterkenntnis im Prozess des Erzählens spricht, überdies »The Spooky Art« – »die gruselige Kunst« –, ein Titel, der Kehlmann (wie er bekennt) sehr gefällt.42 Kehlmanns literarische Verbindung des Horrorgenres mit der poetologischen Selbstreflexion allein ist mit oder ohne diesen soeben zitierten Kontext vielsagend und lässt sich weiterdenken. So kann die Inszenierung von Räumlichkeit in »Du hättest gehen sollen« jenseits des »Horrors«, der in der Textfassung Kehlmanns weit weniger zum Tragen kommt als in der Hollywood-Verfilmung des Buches aus dem Jahr 2020, schlichtweg auch als Weg des Autors zu seinem Werk gelesen werden. Dementsprechend bildet die Raumkonzeption des Textes sowohl im Kontext der fantastischen Literatur als auch in Relation zu philosophischen Erkenntnistheorien eine funktionale Achse, die sich im Text mit der Reflexion von Autorschaft verbindet und dieser den Raum in die poetologische Autoreflexivität eröffnet. Die Raumerfahrungen des Protagonisten dieser Prosa destabilisieren den Konnex zwischen einer empirischen Realität und einer transzendentalen Identität und lassen damit jegliche verlässliche Epistemologien in sich einstürzen.43 Die raumzeitlichen Irritationen im Text stellen für den Leser nicht nur Hindernisse der Kohärenzbildung dar, sondern werden gerade als solche für den Erzähler problematisch inszeniert. Die Unschlüssigkeit des Lesers,44 die durch die fantastische Literatur aktiviert und instrumentalisiert wird, ergibt sich somit aus der Unschlüssigkeit des Erzählers.
41
42 43 44
klärung eines Mordfalls – eingebunden ist. Diese als Geist oder Erscheinung, aber auch als Erzähler (oder Autor) interpretierbare Figur gibt sich zunächst untergeordnet und zurückhaltend-passiv, erweist sich letztlich aber als machtvoll, aktiv handlungstreibend – und fragt zuletzt: »Es ist schön, wenn man der ist, der die Fragen bekommt und die Antworten geben kann. Also wer bin ich? Wundert es sie gar nicht, dass ich immer da bin?« Vgl. hierzu etwa Marx, Friedhelm: Dunkle Geschichten. Daniel Kehlmanns Gespenster. In: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch. Schwerpunkt Daniel Kehlmann. Hrsg. von Paul Michael Lützeler/Thomas W. Kniesche. Tübingen: Stauffenberg 2017, S. 57–76; Rickes, Joachim: Daniel Kehlmann und die lateinamerikanische Literatur. Würzburg: Königshausen & Neumann 2012. Kehlmann, Diese sehr ernsten Scherze. 2010, S. 135. Vgl. May, Markus: Zeit- und Raumstrukturen (Chronotopen/Heterotopen). In: Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hrsg. von Hans Richard Brittnacher/Markus May. Stuttgart: Springer 2013, S. 583–593, hier S. 584. Vgl. Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur. Berlin 2013: Wagenbach, S. 34f.
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Die konkurrierenden Wirklichkeitsebenen entsprechen dem Dilemma des sich verschiedenen Welten zuordnenden Schriftstellers. Die Unschlüssigkeit rekurriert hier nicht auf eine Unmöglichkeit, sondern auf die Idee der Instabilität, die einem Oszillieren zwischen zwei Welten, Zuständen oder Ebenen entspricht. Sie spiegelt sich im Text auch insofern, als das im Entstehen begriffene Filmskript die Inszenierung einer anderen, fiktionalen Welt betrifft, dessen Konstitution durch die Instabilität seines Schöpfers selbst instabil ist. Die Fiktionsebene des Films wird durch das Präsentieren des Skripts in seinem Entstehungsprozess, durch die Darstellung einer nicht fertigen und noch nicht gefertigten Virtualität, die sich durch den Erzähler – ihren Schöpfer – noch steuern und frei gestalten lässt, zum Gegenbild der Lebenswirklichkeit des Erzählers. Diese Wirklichkeit des Erzählers konturiert sich räumlich in einem Haus, das an Derridas Idee des postmodernen Gebäudes erinnert. Dieser war an einem städtebaulichen Großprojekt in Paris beteiligt. Er wirkte an der Seite des Schweizer Architekten Bernard Tschumi beim Umbau der Großschlachterei La Villette mit und hatte mit dem amerikanischen Architekten Peter Eisenman über ein weiteres Projekt diskutiert. Derrida konzipierte seine Idee des postmodernen Gebäudes als ein polymorphes, das kein Zentrum habe, das unabgeschlossen und immer veränderbar bleibt.45 Bemerkenswerterweise erscheint so auch das Haus, das der Erzähler in Kehlmanns Text bewohnt: Es entstehen neue Räume und Gänge, die es scheinbar vorher nicht gab und die auch wieder verschwinden – die Fensterfronten lassen es zugleich völlig offen erscheinen. Dieses Haus wird als Standort des Erzählers begriffen und ist in der Lage, selbst zu einer erzählenden Komponente zwischen Fluktuation und Fixierbarkeit, zwischen Wirklichkeit und Erscheinung zu werden. Der Standort des Erzählers in diesem Haus thematisiert die Notwendigkeit, sich selbst zu situieren sowie sehen zu können, die Möglichkeit, sich an einem Ort jenseits von Erkenntnis aufhalten zu können, die Verheißung, Zuschreibungen zu entsprechen und sie zugleich im eigenen Denken verlassen zu können, und mit der immer parallel aufkeimenden Unmöglichkeit all dieser Ideen letztlich die Freiheit, keine Ahnung (und keine Poetik) haben zu müssen.
5. »Ich habe vor den Studenten an der Filmakademie letztes Jahr behauptet, dass man alles über seine Figuren wissen muss, ganz besonders, wo und wie sie aufgewachsen sind, aber die Wahrheit ist, dass ich das nur gesagt habe, weil es in 45 Vgl. Stiegler, Bernd: Theorien der Literatur- und Kulturwissenschaften. Paderborn: Schöningh 2015, S. 84–85.
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den Lehrbüchern steht. Ich habe nicht die geringste Ahnung […] und es interessiert mich auch nicht.«46 Die Nachlässigkeit seiner Figurenkonzeption wird vom Erzähler in »Du hättest gehen sollen« nicht nur reflektiert, sondern auch inszeniert: »Lass eine Nebenfigur zweimal das Wort Firmament verwenden. Mehr braucht man nicht, schon hat man sie charakterisiert.«47 Ähnlich wie Kehlmann über Figuren aus einem Werk eines anderen Schriftstellers schreibt, die er aufgrund ihrer Stereotypie kritisch »Spielfiguren« und »Erfüllungsgehilfen des Autors« nennt,48 so sind auch die Figuren dieses Buches auf beiden Fiktionsebenen höchst stereotyp konstruiert – und schon die Figurenkonstellation des Buches, »Vater – Mutter – Kind«, erinnert an das Lieblingsrollenspiel aller Kindergartenkinder. So verwundert es auch nicht, dass Sigrid Löffler dem Text in ihrer Rezension vorgeworfen hat, seine Figuren seien leblos. Kehlmanns Erzähler hält sich für einen genialen Künstler, doch er produziert nur Klischees, sowohl in Form seines Drehbuches als auch in Gestalt seiner poetologischen Verortungen. Zudem gestaltet er auch die erste Fiktionsebene als deren Protagonist mithilfe von Stereotypen. Löfflers Vorwurf richtet sich freilich gegen Kehlmann und nicht gegen den Erzähler des Buches, aber der Vorwurf trifft sowohl auf den Autor der Binnenfiktion als auch auf den Erzähler der Fiktion als auch auf Daniel Kehlmann selbst zu. Nur lässt sich das in dieser Lesart des Buches kaum als ein Mangel bewerten. Denn sollte Kehlmann, dessen Erzählung von Löffler überdies als »schwache Erzählung mit alten Motiven«49 gelesen wurde, genau das beabsichtigt haben, dann kann man das ganze Buch auch als Effekt einer höchst anspielungsreichen erzählerischen Selbstironie bezeichnen. Und dann ist es nicht weiter verwunderlich, dass diese Erzählung bisher nicht als poetologischer Schlüsseltext Kehlmanns gelesen wurde. Die Erzählung gleicht nämlich tatsächlich einer Kumulation traditioneller Schemata und bekannter Motive – und zwar gerade solcher, die eng mit Kehlmanns eigenem Schreiben verbunden sind. In der Erzählung wird ein Großteil der narrativen Verfahren und Ideen aufgenommen, derer sich Kehlmann selbst als Autor von Werk zu Werk immer wieder bedient: Brüche in Raum und Zeit, Reflexionen der eigenen vermeintlichen Unwirklichkeit, das Spiel mit Fiktionsebenen, die – wie übrigens der Erzähler dieses Textes selbst bekennt – »Rückblende in die Kindheit? Alter Trick, konventionell, zuverlässig«50 sowie auch das Spiegelmotiv, bekannt aus Büchern wie »Der fernste Ort« und »Ruhm«. Auch diesbezüglich hat sich Sigrid Löffler em46 47 48 49
Kehlmann, Du hättest gehen sollen. 2016, S. 14. Ebd., S. 9. Kehlmann, Kein ehrlicher Rock ’n’ Roll. 2010, S. 39. Löffler, Sigrid: Schwache Erzählung mit alten Motiven. In: Deutschlandfunk Kultur vom 21. 10. 2016. (letzter Zugriff: 25. 05. 2020). 50 Kehlmann, Du hättest gehen sollen. 2016, S. 14.
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pört, die Spiegelmetapher sei vom vielen Gebrauch bei Kehlmann schon ganz ausgelaugt.51 Im Text kumuliert und reflektiert der Erzähler all diese »Kehlmann’schen« Verfahren. In der metafiktionalen Thematisierung des Erzählprozesses erfüllt die Erzählung damit de facto auf allen Ebenen des Textes exakt das, wovon sie erzählt, gerade indem sie erzählt. Aus der Fiktion über eine reflektierte Autorschaft ist so ein Manifest literarischer Autoreflexivität geworden, die dem Erzähler und letztlich sogar dem Autor entgegen seiner Bemühungen um Herrschafts- und Deutungsansprüche die tatsächliche Macht über seinen Text abspricht und diesen – in Wirklichkeit – als ein autopoetisches System zeigt. Die Frage nach der Möglichkeit, der Notwendigkeit und dem Sinn, vor allem aber nach der Konsequenz der Selbstreflexion eines Schriftstellers für sein Schreiben beantwortet sich damit aus jedem seiner Texte heraus von selbst.
Literaturverzeichnis Barthes, Roland: Le degré zéro de l’écriture. Paris: Editions du Seuil 1968. Barthes, Roland: »L’effet de re´el«. In: Litte´rature et re´alite´. Hrsg. von Roland Barthes/Leo Bersani/Philippe Harmon et al.: Paris: Editions du Seuil 1982. Barthes, Roland: Die Vorbereitung des Romans. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008. Ellmenreich, Maja: Daniel Kehlmann im Gespräch. In: Deutschlandfunk vom 22. 07. 2016. (letzter Zugriff: 25. 05. 2020). Gaier, Ulrich: Wozu braucht der Mensch Dichtung? Anthropologie und Poetik von Platon bis Musil. Stuttgart: Springer 2017. Kehlmann, Daniel: Der fernste Ort. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001. Kehlmann, Daniel: Ruhm. Reinbek: Rowohlt 2009. Kehlmann, Daniel: Leo Richters Porträt. Reinbek: Rowohlt 2009. Kehlmann, Daniel: Kein ehrlicher Rock ’n’ Roll. Stephen King: Puls. In: Ders.: Lob. Über Literatur. Reinbek: Rowohlt 2010, S. 35–42. Kehlmann, Daniel: Diese sehr ernsten Scherze. Zwei Poetikvorlesungen. In: Ders.: Lob. Über Literatur. Reinbek: Rowohlt 2010, S. 125–168. Kehlmann, Daniel: F. Reinbek: Rowohlt 2013. Kehlmann, Daniel: Du hättest gehen sollen. Reinbek: Rowohlt 2016. Löffler, Sigrid: Schwache Erzählung mit alten Motiven. In: Deutschlandfunk Kultur vom 21. 10. 2016. (letzter Zugriff: 25. 05. 2020). Markovics, Karl/Kehlmann, Daniel: Das letzte Problem. 2019.
51 Vgl. Löffler: Schwache Erzählung mit alten Motiven.
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Marx, Friedhelm: Dunkle Geschichten. Daniel Kehlmanns Gespenster. In: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch. Schwerpunkt Daniel Kehlmann. Hrsg. von Paul Michael Lützeler/Thomas W. Kniesche. Tübingen: Stauffenberg 2017, S. 57–76. May, Markus: Zeit- und Raumstrukturen (Chronotopen/Heterotopen). In: Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hrsg. von Hans Richard Brittnacher/Markus May. Stuttgart: Springer 2013, S. 583–593. Paul, Ina Ulrike: Autorfunktion, Autorfiktion: Schriftstellerfiguren bei Daniel Kehlmann. In: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch. Schwerpunkt Daniel Kehlmann. Hrsg. von Paul Michael Lützeler/Thomas W. Kniesche. Tübingen: Stauffenberg 2017, S. 77–99. Poe, Edgar Allan: Die Philosophie dichterischen Schaffens. Übersetzt von Adolf Strodtmann. Hamburg: Hoffmann & Campe 1862. (letzter Zugriff: 25. 05. 2020). Reckwitz, Erhard: Realismus-Effekt. In: Metzler Lexikon Kultur- und Literaturtheorie. Hrsg. von Ansgar Nünning. Stuttgart: Metzler 2004, S. 562. Rickes, Joachim: Daniel Kehlmann und die lateinamerikanische Literatur. Würzburg: Königshausen & Neumann 2012. Safranski: Goethe & Schiller. Geschichte einer Freundschaft. München: Hanser 2009. Schiller, Friedrich: Wallensteins Tod. Stuttgart: Reclam 1954. Stiegler, Bernd: Theorien der Literatur- und Kulturwissenschaften. Paderborn: Schöningh 2015. Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur. Berlin 2013: Wagenbach. Zeh, Juli/Oswald, Georg M.: Aufgedrängte Bereicherung. Künzelsau: Swiridoff 2011. Zeh, Juli: Treideln. Frankfurt/Main: Schöffling & Co. 2013.
II. Schreibstörung – Schreibblockade – Schreibfluss
Nadine Bieker / Kirsten Schindler
Wenn Autorinnen Kinder bekommen – Mutterschaft als Schreibblockade
»Und während sie als Teenager erwartet hatte, eines Tages Mutter zu werden, sah sie darin nun keine mögliche Zukunft mehr: Für sie bedeutete Kinder zu kriegen, ›die Zahl der Menschen, die ohne Rechtfertigung auf der Welt sind, zu vermehren‹. Ob aus theoretischen oder authentischen Gründen – Beauvoir verstand ihre Entscheidung für die Kinderlosigkeit als ihre Bestimmung: wie eine Nonne, ›wenn sie sich entschlossen hat, für alle Menschen zu beten, auf die Produktion einzelner verzichtet‹. Sie wusste, dass sie Zeit und Freiheit benötigte, um zu schreiben. So, wie sie es sah, erfüllte sie, ›indem ich kinderlos blieb, meine natürliche Bestimmung‹«.1
1.
Einleitung
In ihrem autobiografischen Text »Stillleben« (2018) skizziert die Journalistin und Autorin Antonia Baum folgendes Dilemma: »Auf meiner Seite des Bettes hing ein gerahmtes Bild des Schriftstellers Paul Bowles, in dem Bild ein Zitat von Bowles: ›Um einen Roman zu schreiben, muss man alleine sein.‹ Ich hatte es mal aufgehängt, um meinen Freund und mich daran zu erinnern. Gelangte ich wieder bei der Frage an, ob ich schreiben und Mutter sein könne, googelte ich Schriftstellerinnen und ob sie Kinder hatten. Ich weiß da jetzt sehr gut Bescheid. Männer interessieren mich nicht, Männer dachte ich, können aufstehen und gehen. Virginia Woolf, keine Kinder Colette, ein Kind Sylvia Plath, zwei Kinder Natalia Ginzburg, fünf Kinder (!) Irmgard Keun, ein Kind (hat nach der Geburt kaum mehr geschrieben, was aber auch am Alkohol gelegen haben kann) Ingeborg Bachmann, keine Kinder Joan Didion, ein Kind Elfriede Jelinek, keine Kinder Siri Hustvedt, ein Kind 1 Kirkpatrick, Kate: Simone de Beauvoir. Ein modernes Leben. München: Piper 2020, S. 141.
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Sibylle Berg, kein Kind Zadie Smith, zwei Kinder Hatte ich einen schlechten Tag, dachte ich nachts am Fenster an die Schriftstellerinnen, die keine Kinder hatten, und sah noch lange auf den Hof. War es ein guter Tag, dachte ich an die Schriftstellerinnen mit Kindern und schloss bald das Fenster, weil ich es für möglich hielt, schlafen zu können.«2
Mutterschaft und Schreiben – so der Tenor dieses kurzen Ausschnitts – vertragen sich augenscheinlich nicht: Sie sind, wenn sie denn gemeinsam auftreten, in besonderer Weise bemerkenswert und stellen selten gelebte Normalität dar. Als Frau Autorin zu sein, findet eher nicht gleichzeitig mit Mutterschaft und noch weniger aufgrund der Rolle als Mutter statt, sondern kann trotzdem existieren. Möglicherweise ist aber auch die Quantität, die Anzahl der Kinder, entscheidend. Lauren Sandler betitelt ihren Text in »The Atlantic« von 2013 mit »The Secret of Being Both a Successful Writer and a Mother: Have Just One Kid«.3 Und auch Alice Walker gibt auf die Frage danach, ob Autorinnen Kinder bekommen sollten, als Auskunft: »They should have children – assuming this is of interest to them – but only one.«4 Und selbst bei nur einem Kind gilt: (Erfolgreiche) Autorinnen erscheinen eher weniger fürsorglich (mütterlich). In der Beschreibung von Susan Sontags Verhältnis zu ihrem Sohn wird Mütterlichkeit zu einer Leerstelle: »She was not a mom,« writes Sigrid Nunez of Susan Sontag in »Sempre Susan«. »Every once in a while, noticing how dirty [her son] David’s glasses were, she’d pluck them from his face and wash them at the kitchen sink. I remember thinking it was the only momish thing I ever saw her do.«5 Interessant ist dabei auch die scheinbar zwangsläufige Gleichsetzung von mütterlich und fürsorglich bzw. das Kümmern darum. Aber jedes Kümmern kostet Zeit. Dies ist eines der Dilemmata, vor denen sich unsere Autorinnen stehen sehen. Dabei müssen sie diesen Widerspruch gar nicht zwangsläufig selbst so wahrnehmen, denn er wird durch die Rollen als gegeben gesetzt. Auch das Thema Mutterschaft muss von ihnen als Autorin gar nicht selbst benannt, sondern kann an sie herangetragen werden. Im Februar 2020 wird ein Interview mit der Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie im »Zeit-Magazin« veröffentlicht und darin die Autorin zur »Debatte« befragt:
2 Baum, Antonia: Stillleben. München: Piper 2018, S. 27. 3 Sandler, Lauren: The Secret of Being Both a Successful Writer and a Mother: Have Just One Kid. (letzter Zugriff: 22. 06. 2020). 4 White, Evelyn C.: Alice Walker: A Life. Norton 2004. 5 Sandler, The Secret of Being Both a Successful Writer and a Mother: Have Just One Kid. (letzter Zugriff: 22. 06. 2020).
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»ZEIT: Unter Schriftstellerinnen gibt es seit längerem eine Debatte über Mutterschaft und Kreativität. […] Haben Sie über diese Frage auch mal nachgedacht? Adichie: Nicht wirklich. […] Ich kann die Sorgen aber nachvollziehen. Mutter zu sein hat Folgen für meine Kreativität, denn um Kunst zu machen, braucht man eine gewisse Portion Egoismus. […] Ich habe unsere Tochter sechs Monate gestillt, den körperlichen Aspekt kann man nicht wegreden. Du veränderst dich für immer, die Zeit, die du für dich hast, schrumpft. Die Folge ist, dass du nicht so kreativ bist, wie du sein könntest. Du schreibst weniger, als du es sonst getan hättest« (Interview mit Chimamanda Ngozi Adichie, »Zeit-Magazin« vom 06. 02. 2020).
In unserem Beitrag wollen wir dem Verhältnis von Mutterschaft und Autorschaft auf die Spur kommen. Es geht uns darum zu klären, worin die Beteiligten selbst Herausforderungen erkennen, wie sie Autorschaft und Mutterschaft verhandeln und welche Wechselbeziehungen sie annehmen. Dabei scheint für uns das Konzept der Schreibblockade eine denkbare Scharnierfunktion einzunehmen. Es greift dann, wenn das Thema des Nicht-Schreiben-Könnens perpetuierend in unterschiedlichen Zusammenhängen benannt und von Einzelnen als konstitutiv für das Verhältnis von Mutterschaft und Autorschaft gerahmt wird. Für unseren Beitrag wählen wir einen bestimmten methodischen Zugang. Wir nutzen autobiografische Texte, in denen Autorinnen ihr (mögliches) Muttersein zum Thema machen. Wenngleich Selbstauskünfte, beispielsweise in Interviews, einen etablierten Zugang zu Schreiberfahrungen darstellen (vgl. beispielsweise zu retrospektiven Interviews Dengscherz 2017, zu Expert*inneninterviews Dreyfürst 2017, zu Selbstauskünften und ihrer Rolle für Schreibertypen Ortner 2000), so werden diese Auskünfte doch meist erst forscherseitig hervorgebracht. Autobiografische Texte, die zugleich auch ästhetische Produkte sind, entsprechend fremd zu nutzen, ist in der (linguistisch dominierten) Schreibforschung bislang kaum üblich.6 Wir versprechen uns davon, einen Zugang zu subjektiven Theorien der Beteiligten zu eröffnen, der mehrere Perspektiven umfasst bzw. auf verschiedene Konzepte gerichtet ist: einerseits auf die Vorstellung von Mutterschaft und die Überlegungen dazu, was (professionelles) Schreiben auszeichnet und unter welchen Bedingungen es stattfinden kann, und andererseits darauf, wie Mutterschaft und Schreiben in ein Verhältnis gerückt werden können. Warum autobiografische Texte für unsere Zwecke dienlich sind, wird deutlich, wenn wir deren Spezifika näher beleuchten.
6 Vgl. aber Lehnen, Katrin/Schindler, Kirsten: »Schreib um dein Leben« – Filmische und literarische Schreibepisoden als didaktische Lehrstücke. In: »Aus alt mach neu« – schreibdidaktische Konzepte, Methoden und Übungen. Festschrift für Gabriela Ruhmann. Hrsg. vom Schreibzentrum der Ruhr-Universität Bochum. Bielefeld: Universitäts-Verlag Webler 2017, S. 137–158.
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Autobiografische Texte – autobiografisches Schreiben
Wie erzählt eine zur Mutter gewordene, eine sich im Zustand des Mutterwerdens befindende oder eine das potenzielle Muttersein verhandelnde Autorin sich und anderen davon, (bald) Mutter und Autorin gleichzeitig zu sein, dies zu wollen oder eben auch nicht. Welche Bedeutung und Funktion kommen einer solchen Erzählung zu, wenn das erzählende Ich innerhalb und außerhalb der erzählten Welt existiert? Spiegelt das Erzählen dieser Frauen über ihr Sein und Werden als Mutter und/oder Autorin gesellschaftliche Vorstellungen, Möglichkeiten und Begrenzungen wider? Verändert dieses Erzählen die Vorstellung des Mutterund/oder Künstlerinnenseins und kann dazu beitragen, diese Seinsformen kompatibel zu machen? Die Besonderheit der hier vorgestellten Texte ist der Realitätsbezug durch Übereinstimmung zwischen Schreiberin und Erzählerin. Autobiografische Texte, wie wir sie für die Analyse verwenden, ermöglichen, Hinweise auf bzw. Rückschlüsse zur schreibenden Person herzustellen. Paul de Man erklärt für die Autobiografie: »[D]aher die neue Aufmerksamkeit für die literarische Autobiographie, in der ein Schlüssel zum Verständnis des Selbst gesucht wird […].«7 Geht es also um ein aktuelles Verständnis von Mutterschaft, dann kann in dieser Verhandlung, wie sie der autobiografische Text ermöglicht, ein genuiner Kern der Suche nach dem eigenen Selbstverständnis, der gesellschaftlichen Aushandlung dieser Rolle sowie der Hinterfragung der grundsätzlichen Notwendigkeiten eben dieser ausgemacht werden: Was heißt es im 21. Jahrhundert, Mutter zu sein, für die Frauen selbst und im gesellschaftlichen Gefüge? In welchem Verhältnis steht diese Mutterrolle zu der Autorinnenrolle?
2.1.
Autobiografie
»Schreiben heißt also sich zeigen, sich sehen lassen, sein eigenes Gesicht vor dem des anderen erscheinen lassen.«8
Nach Foucault ist dem Schreiben bereits schon Subjektivität und Selbstoffenbarung inhärent, aber so wie Foucault es formuliert, geschieht dies zunächst implizit. In der Autobiografie wird diese Subjektivität dann explizit, und zwar auf zweierlei Weise: durch den Akt des Schreibens selbst (den Schreibprozess) sowie durch die Konstitution dieser Textform (das Schreibprodukt). In der Autobio7 Man, Paul de: Semiologie und Rhetorik. In: Performance. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Hrsg. von Uwe Wirth. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2019, S. 140. 8 Foucault, Michel: Über sich selbst schreiben. In: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. IV: 1980–1988. Hrsg. von Michel Foucault. Frankfurt/Main: Suhrkamp [1983] 2005, S. 515.
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grafieforschung gilt bis heute Lejeunes Definition, Autobiografie als »[r]ückblickende Prosaerzählung einer tatsächlichen Person über ihre eigene Existenz« zu verstehen, wenn sie den »Nachdruck auf ihr persönliches Leben und insbesondere auf die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt«.9 Die Autobiografie geht aber über das Persönliche hinaus. Wagner-Egelhaaf konstatiert, dass jedes Individuum, weil es ein sozialgeschichtliches ist, geprägt ist von den gesellschaftlichen Verhältnissen seiner Zeit – und seines Raumes, so muss hinzugefügt werden. Damit verweist der*die Autobiograf*in durch die Erzählung folglich immer auch auf die gesellschaftlichen Bedingungen seiner*ihrer Zeit.10 Jeder Autobiografie liegt also ein Dualismus von Subjektivität und gesellschaftspolitischer Zweckmäßigkeit zugrunde.11 Der autobiografische Text wird durch seine*ihre Schreiber*in zum Spiegel der Zeit, er verfolgt gleichsam einen eigenen Zweck: »Autobiographien sind Bühne der Selbstdarstellung, sie zielen auf ein bestimmtes Publikum und oftmals verfolgen sie spezifische Zwecke.«12 Die Autobiografie ist – so lässt sich zusammenfassen – immer Ausdruck der Auseinandersetzung des*der Autor*in mit dem »Geheimnis [seiner*ihrer] Existenz«13, dient »als eine Art Zeugenaussage«14 und wird dadurch ein »Indikator gesellschaftspolitischer Prozesse«.15
2.2.
Textauswahl
Doch was ist das Geheimnis der Existenz der hier vorgestellten Autorinnen? Welchen Zweck verfolgen sie? Worum geht es diesen Frauen mit ihren Texten, wofür legen sie Zeuginnenschaft ab? Welches Narrativ wird hier erzeugt? Wie wird das Narrativ entfaltet bzw. an welchen Stellen und wie wird es infrage gestellt? Ausgangspunkt unserer Analysen sind Texte dreier Autorinnen. Die hier vorgestellten Autorinnen Antonia Baum, Sheila Heti und Maggie Nelson bilden – wenngleich sie aus unterschiedlichen Sprach- und Kulturkreisen stammen – ein weitgehend homogenes Milieu ab, das im 21. Jahrhundert verortet ist und sich 9 Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994, S. 14. 10 Vgl. Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, S. 27. 11 Bieker, Nadine: Autobiographisches Erzählen als Vehikel inklusiven Lernens? – Anmerkungen zu Édouard Louis’ Roman Das Ende von Eddy. In: Der inklusive Blick II – Kinder- und Jugendliteratur im Fokus. Hrsg. von Gabriele von Glasenapp/Daniela A. Frickel/Andre Kagelmann/Andreas Seidler: Frankfurt/Main: Peter Lang 2019 (Kinder- und Jugendkultur, -literatur und -medien. Theorie – Geschichte – Didaktik; 119), S. 358. 12 Wagner-Egelhaaf, Autobiographie. 2000, S. 7. 13 Ebd., S. 44. 14 Holdenried, Michael: Autobiographie. Stuttgart: Reclam 2000, S. 40. 15 Wagner-Egelhaaf, Autobiographie. 2000, S. 30.
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als privilegiert, akademisch bzw. städtisch beschreiben lässt. Sie selbst sind westeuropäische bzw. amerikanische (US-amerikanische, kanadische) weiße Frauen – in der Selbstbezeichnung. Diese Auswahl ist bewusst begrenzt, ermöglicht ein kleines Korpus (ein Close Reading) und somit eine genaue Analyse der Argumentationslinien der Autorinnen. Konkret geht es um Baums »Stillleben« (2018), Nelsons »Argonauten« (2015) und Hetis »Mutterschaft« (2018). Alle drei Texte sind breit rezipiert und diskutiert worden, womit ein weiteres Argument für die Textauswahl vorliegt. »Stillleben«, »Mutterschaft« und »Argonauten« sind nicht als Romane ausgewiesen. Wir könnten sie als Autobiografien oder auch mit Roland Barthes als Biographeme16 beschreiben, als Ausschnitte eines Lebens also, welche durch die Betrachtung dieses Lebens aus einer bestimmten Perspektive fokussiert werden; wobei sich insbesondere Nelsons Text einer Genrezuordnung verweigert und auch als (politischer) Essay oder wissenschaftliche Auseinandersetzung betitelt wird. Die Perspektive ist in allen drei Texten die Auseinandersetzung mit der bevorstehenden oder potenziellen Mutterschaft. Konkret bedeutet diese Perspektive aber für alle drei Frauen etwas anderes. Wenngleich sie sich alle im grundlegenden Tenor, vor allem in der gesellschaftlichen stark verankerten Perspektive auf die Rolle der Frau als Mutter ähneln, so haben sie doch in Nuancen unterscheidende Perspektiven auf Mutter- und Autorschaft. Antonia Baum ist in dem erzählten Zeitraum in Erwartung eines Kindes. Damit steigt auch ihre Sorge, sobald sie Mutter sei, nicht mehr schreiben zu können. »Die Angst als Mutter nicht mehr schreiben zu können, erschien mir komplett lächerlich. Aber was sollte ich machen, sie war anwesend, sie war gewissermaßen eine meiner Topängste. Irgendwo musste ich mich bei ihr angesteckt haben ohne es zu bemerken, irgendetwas musste diese Angst erzeugt haben. Vielleicht kam die Angst von Männern wie Paul Bowles. Männer, die einsam am Strand sitzend auf Literaturkalendern abgebildet werden, zusammen mit Zitaten wie ›Um einen Roman zu schreiben, muss man alleine sein‹.«17
Maggie Nelson reflektiert ebenfalls über den Zustand des Mutterseins, hier aber bereits aus der eigenen biografischen Rückschau, die vor allem Zeugnis ablegt über einen Prozess der Selbstermächtigung: »Winnicott räumte ein, dass die Anforderungen gewöhnlicher Zuwendung beängstigend wirken können für manche Mütter, die sich sorgen, eine solche Hingabe würde sie gleichsam ›hirntot‹ machen. Die Dichterin Alice Notley geht noch einen Schritt weiter: ›er ist geboren und ich bin erledigt – fühle mich, als dürfte/ ich nie mehr sein, wäre nie geboren // Zwei Jahre später lösche ich mich wieder aus / und bekomme ein weiteres Kind … zwei Jahre ohne Spur von mir.‹ 16 Barthes, Roland: Sade, Fourier, Loyola. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986, S. 13. 17 Baum, Stillleben. 2018, S. 27.
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Ich habe das nie so empfunden, aber ich bin eine alte Mama. Ich hatte beinahe vier Jahrzehnte Zeit, um zu mir selbst zu werden, bevor ich 2018 damit experimentierte, mich auszulöschen.«18
Sheila Heti befindet sich in dem erzählten Zeitraum in einer Phase, in der sie lediglich analytisch (und nicht konkret wie Baum) aushandelt, was es bedeuten würde, Mutter zu werden: »Gestern haben Miles und ich ein langes Gespräch über Künstlerinnen und das Kinderkriegen geführt. Er verbreitete sich ausführlich über das Ammenmärchen von den Freuden der Elternschaft und meinte, in Wirklichkeit sei sie doch eine harte Fron. Und warum sollten Menschen, die anderes zu tun hätten, zudem noch diese Fron leisten? Warum überhaupt jemand? Dann fuhr er fort, wie viel Zeit es koste und dass es einen praktisch aussauge, das Elternsein, denn es sei der perfekte Job – sehr schwer, aber nur du kannst ihn erledigen. Und ist es beim Kunstmachen nicht ganz genauso?, fragte er. Wenn du diese existenzielle Befriedigung aus dem Elternsein schöpfen könntest, würdest du dann noch das gleiche Verlangen spüren, Kunst zu machen?«19
Die drei Texte belegen damit drei Perspektiven in Form von Selbstauskünften, wie Mutterschaft und Schreiben in ein Verhältnis gerückt werden können. In allen drei Fällen scheint das Verhältnis fragil und das Gelingen des Schreibens nicht sicher voraussetzbar zu sein, Schreibblockaden werden daher erwartet bzw. sind erwartbar.
3.
Schreiben, Schreibbedingungen und Schreibblockaden
Die Schriftstellerin Berit Glanz (siehe auch den Beitrag von Simon Sahner in diesem Band) beschreibt in einem Tweet vom Juli 2019 eine typische Alltagsszene ihres Familienlebens. Sie stellt diese Szene in Kontrast zu der eigentlich anste18 Nelson, Maggie: Argonauten. Berlin: Hanser 2015, S. 48. 19 Heti, Sheila: Mutterschaft. Hamburg: Rowohlt 2018, S. 52.
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henden Aufgabe des Schreibens und – das erzeugt eine gewisse Widersinnigkeit – formuliert bzw. be-schreibt sie in einem Tweet. Es scheint also – zumindest in dem Verständnis der Autorin Berit Glanz – eine Differenz zwischen dem begleitenden Schreiben via Twitter (für Troy Hick und Daniel Perrin ein »writing by the way«20) und dem Schreiben eines (literarischen) Textes zu geben; nur Letzteres verdient dann augenscheinlich auch die Benennung »Schreiben«. Die Frage, was genau, also welche kognitiven, sprachlichen, sozialen, kreativen und motorischen/medialen Tätigkeiten als Schreibhandlungen zu verstehen sind, stellt sich nicht nur bei Berit Glanz’ Tweet, sondern wird auch in der Schreibforschung umfänglich diskutiert und je nach Perspektive bzw. Schreibgegenstand neu verhandelt. In den Arbeiten von John Hayes und Linda Flower21 wird ein holistischer Schreibprozess modelliert, der planende, formulierende und überarbeitende Teilhandlungen ebenso umfasst wie die Schreibumgebung, das Aufgabenumfeld, den bislang produzierten Text sowie Motivation, Gedächtnis und Wissen des Schreibenden. Schreiben kann aber auch ausschließlich die Hervorbringung von Buchstaben (Wörtern, Sätzen) meinen und ist dann nicht primär auf einen Text gerichtet (Bachmann und Becker-Mrotzek sprechen hier vom Verschriften gegenüber dem Vertexten22) bzw. andersherum können sich Textproduzierende – wie beispielsweise beim Diktieren – ausschließlich auf die Textproduktion beziehen und vernachlässigen dann die motorischen, medialen und sprachrichtigen Aspekte des Schreibens.23 Gerade bei jüngeren Schreibenden gilt es, die komplexe Schreibhandlung zu zergliedern und einzelne Teilfähigkeiten zu üben bzw. zu unterstützen.24 Bei den Autorinnen, die als professionell Schreibende gelten, ist das Schreiben auf die Produktion von (literarischem) Text bezogen. Diese Textproduktion findet unter spezifischen, teils schwierigen Bedingungen statt, das Schreiben ist glei20 Hicks, Troy/Perrin, Daniel: Beyond single modes and media: Writing as an ongoing multimodal text production. In: Handbook of Writing and Text Production. Hrsg. von Eva-Maria Jakobs/Daniel Perrin. Berlin: de Gruyter 2014, S. 231–253. 21 Hayes, John R.: »Modeling and Remodeling Writing«. Written Communication 29 (3), S. 369– 388. (letzter Zugriff: 04. 07. 2020). Hayes, John R. (1996): »A new framework for understanding cognition and affect in writing«. In: The science of writing: Theories, methods, individual differences, and applications. Hrsg. von Michael Levy/Sarah Ransdell. Mahwah: Lawrence Erlbaum 1996, S. 1–27. Hayes, John R./ Flower, Linda S.: Identifying the Organization of Writing Processes. In: Cognitive Processes in Writing. Hrsg. von Lee W. Gregg/W. Steinberg/R. Erwin. Hillsdale: Lawrence Erlbaum 1980, S. 3–30. 22 Bachmann, Thomas/Becker-Mrotzek, Michael: Schreibkompetenz und Textproduktion modellieren. In: Forschungshandbuch empirische Schreibdidaktik. Hrsg. von Michael BeckerMrotzek/Joachim Grabowski/Torsten Steinhoff. Münster: Waxmann 2016, S. 191–205. 23 Merklinger, Daniela: Schreiben lernen durch Diktieren: Theoretische Grundlagen und Praxisbeispiele für Diktiersituationen. Berlin: Cornelsen 2012. 24 Fix, Martin: Texte schreiben. Paderborn: Schöningh 2008.
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chermaßen privat wie öffentlich. Beim Ergebnis des autobiografischen Textes erfüllt das Schreiben zugleich mehrere Funktionen: Es dient der Beschreibung und Klärung eigener Lebensumstände (epistemisches Schreiben), ist auf Leser*innen gerichtet, legt Zeugnis von gesellschaftlichen Bedingungen ab (adressatenorientiertes und soziales Schreiben) und besitzt ästhetische Qualitäten (künstlerische Tätigkeit). Um in dem oben genannten Sinne schreiben zu können, bedarf es neben kognitiven, kreativen und sprachlichen Voraussetzungen auch medialer und räumlicher Bedingungen, also z. B. einen Ort zu haben, an dem geschrieben werden kann: Das kann beispielsweise »a Room of One’s Own«25 sein, also ein kleiner, multifunktionaler Tisch in einer beengten Wohnung26, oder auch ein Hotelzimmer an der französischen Mittelmeerküste (Moritz 201627 über Simone de Beauvoir). Einen wie auch immer gearteten Ort zum Schreiben zu haben, ist nicht nur notwendige Bedingung der Schreibtätigkeit, sondern die Analyse von Schreiborten ist in den letzten Jahren auch ausführlich mit Blick auf die Gestaltung von Schreibprozessen geführt worden28, davon zeugt beispielsweise die Dokumentation von Schreibtischen.29 Neben dem fehlenden Ort bzw. Raum mag es unseren Autorinnen auch an Zeit fehlen, um ihre Schreibvorhaben umzusetzen. Aber es sind nicht ausschließlich diese äußeren, weniger veränderlichen Bedingungen, die zum Hindernis werden. Gisbert Keseling30, der sich als Hochschullehrender ausführlich mit Schreibblockaden seiner Studierenden beim wissenschaftlichen Schreiben beschäftigt hat, verortet diese im Prozess des Schreibens zum einen als Ausdruck fehlender Passung (das Schreiben wird zu früh begonnen, das Lesen in fremden Texten kann nicht beendet werden, der eigene Arbeitsfokus ist unscharf) und zum anderen als Beweis für den Mangel an Schreibstrategien. Eine Schreibblockade im Keseling’schen Sinne zeigt sich darin, »dass es zwischen dem Schreibverhalten der zeitweise blockierten und dem Schreibverhalten der nicht blockierten Autoren in der Tat gravierende Unterschiede gab, dass aber auch die Letzteren oft mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten. Aber während die blockierten Autoren angesichts der Schwierigkeiten vorübergehend oder ganz kapitulierten, suchten die nicht blockierten nach Lösungen und konnten den Schreibprozess fortsetzen.«31 25 Woolf, Virginia: A Room of one’s own. London: Hogarth Press 1929. 26 Stelling, Anke: Schäfchen im Trockenen. München: btb 2018. 27 Moritz, Rainer: Der schönste Aufenthalt der Welt: Dichter im Hotel. München: Knesebeck 2016. 28 Vgl. beispielsweise Lehnen/Schindler, »Schreib um dein Leben«. 2017, S. 137–158. 29 U. a. bei Koelbl, Herlinde: Schreiben! 30 Autorenporträts. München: Knesebeck 2007; Schlie, Tanja: Wo Frauen ihre Bücher schreiben. München: Thiele 2014. 30 Keseling, Gisbert: Die Einsamkeit des Schreibers. Wie Schreibblockaden entstehen und erfolgreich bearbeitet werden können. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2014. 31 Ebd., S. 11.
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Ergänzt werden können diese Überlegungen durch den Ansatz von Rose32, der zusätzlich emotionale Motive als Auslöser von Schreibblockaden benennt: Probleme bei der Selbstregulation, eine (allzu kritische) Bewertung des eigenen Schreibens oder eine fehlende Motivation (z. B. keine Vorstellung der Relevanz des eigenen Textes). In jedem Fall sind Schreibblockaden gravierend, im Falle von Autor*innen, die entsprechend ihren Lebensunterhalt damit bestreiten, sind sie zugleich existenziell. Welche Gründe führen die Autorinnen selbst nun konkret auf: Warum können sie nicht schreiben bzw. inwiefern steht das Nichtschreiben in Bezug zum Miss- bzw. Gelingen der Vereinbarkeit von Autorschaft und Mutterschaft?
4.
Autorschaft und Mutterschaft
Wenngleich nicht in allen Textpassagen die Bezugnahme von Autorschaft und Mutterschaft verhandelt wird bzw. im Fokus steht, wollen wir uns gerade auf diese Passagen konzentrieren, in denen die Konzepte ins Verhältnis gesetzt werden. Daraus lässt sich auch ableiten, wie Autorschaft und Mutterschaft von den Autorinnen selbst wahrgenommen und inkorporiert werden.
4.1.
Misslingend
Autorschaft und Mutterschaft können in dieser Gleichzeitigkeit misslingen. Das Misslingen scheint uns begründet zu sein; durch eine Inkompatibilität zwischen den von außen an die Autorinnen herangetragenen und gleichwohl auch selbst verinnerlichten Vorstellungen der beiden Konzepte. Worin begründet sich diese Inkompatibilität? Sie scheint zunächst einmal darin zu liegen, dass sich Zeit, Raum und Thema nicht gleichermaßen auf Autorschaft und Mutterschaft erstrecken können – das mag einerseits ganz praktische Gründe haben, kann aber andererseits auch in der fehlenden Passung der Bilder von Autorin und Mutter begründet sein. Greifen wir noch einmal das eingangs zitierte Textfragment von Baum heraus: »Die Angst als Mutter nicht mehr schreiben zu können, erschien mir komplett lächerlich. Aber was sollte ich machen, sie war anwesend, sie war gewissermaßen eine meiner Topängste. Irgendwo musste ich mich bei ihr angesteckt haben ohne es zu 32 Rose, Mike: Schreibblockaden verstehen. In: Schreiben. Grundlagentexte zur Theorie, Didaktik und Beratung. Hrsg. von Stephanie Dreyfürst/Nadja Sennewald. Opladen: Verlag Barbara Budrich 2014, S. 193–212; Ders.: Writer’s Block: The Cognitive Dimension. Carbondale: Southern Illinois University Press 1984.
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bemerken, irgendetwas musste diese Angst erzeugt haben. Vielleicht kam die Angst von Männern wie Paul Bowles. Männer, die einsam am Strand sitzend auf Literaturkalendern abgebildet werden, zusammen mit Zitaten wie ›Um einen Roman zu schreiben, muss man alleine sein‹.«33
Laut Baum entsteht eine Unmöglichkeit, als Mutter zugleich Autorin zu sein, dadurch, dass das Schreiben der (vermeintlich) notwendigen physischen Bedingung des Alleinseins bedarf. Für das Schreiben muss die schreibende Person also ungestört sein. Als Mutter, so die Annahme, ist das Alleinsein aber geradezu unmöglich. Ein Kind benötigt die Fürsorge der Mutter, die weithin umfassend und grenzenlos ist. Baum enttarnt dieses vermeintliche Missverhältnis zwar durchaus als Narrativ, kann sich dem aber nicht entziehen. »Und es blieb kompliziert. Das Baby im Bauch und das Schreibproblem im Kopf, fragte ich mich, ob ich mir im Jahr 2016 wirklich noch die gute alte Geschichte von der Trennung der Sphären in privat (Frau) und öffentlich (Mann) erzählen müsste, von schöpferischen Explosionen (Männer) und dem Erhalt des Lebens, das von Frauen garantiert wurde, die an der Basis arbeiten, auf der Erde, mit Erde an den Händen. Ich beschloss, nicht daran zu glauben.«34
Das Schreibproblem sitzt also im Kopf, während das Baby im Bauch ist. Mutterschaft gehört für sie, trotz des heftigen Widerstreits, den sie spürt, wohl nach wie vor zur Sphäre der Privatheit. Diesen Widerstreit scheint die Autorin so stark zu inkorporieren, dass die Schwangerschaft zu einer Form von Schreibblockade führt, wobei Erstere dafür nicht im engeren Sinne verantwortlich ist: »Es waren noch ein paar Wochen bis zur Geburt, und ich versuchte noch schnell einen Roman anzufangen, um meine Angst zu besiegen, dass ich, wenn das Baby da war, nicht mehr würde schreiben können oder gar wollen. Ich wusste recht bald, dass mein Versuch aussichtslos war, konnte es aber nicht lassen«35 (ebd. 48).
Das Vorhaben selbst – noch schnell einen Roman anzufangen (und idealerweise zu beenden) – ist dabei von vornherein zum Scheitern verurteilt. Im Sinne von Keselings Ansatz zeigt sich hier die fehlende Planungsphase (Was ist z. B. Thema des Romans?) als ursächlich für eine Schreibblockade. Die geradezu überstürzt umzusetzende Idee, einen Roman zu schreiben, um sich selbst zu beweisen, dass dies möglich sei, bedingt geradezu die Unmöglichkeit des Vorhabens. Anders zeigt sich das in dem von Nelson dargestellten Missverhältnis: »Der Raum füllte sich mit dem Klang einer zutiefst intellektuellen Frau, die eine andere auseinander nahm. […] Krauss vernichtete Gallop dafür, dass sie ihre persönliche 33 Baum, Stillleben. 2018, S. 27 [Hervorhebung – N. B./K. S.]. 34 Ebd., S. 72f. [Hervorhebung – N. B./K. S.]. 35 Ebd., S. 48.
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Situation als Forschungsgegenstand verwendete […] Aber ich glaubte, die unausgesprochene Aussage ihrer Argumentation war, dass Gallops Mutterschaft ihr den Verstand weggefault hatte, sie berauscht hatte mit dem Narzissmus, der einen davon überzeugt, dass eine äußerst banale Erfahrung, die zahllose andere Menschen teilen, auf irgendeine Weise einmalig wäre oder auf einmalige Weise interessant.«36
Mutterschaft wird zur Ausblendung aller anderen Themen. Der Mutter wird abgesprochen (begründet durch die Mutterschaft), sowohl die Kapazitäten als auch die intellektuellen Fähigkeiten für relevante Forschung zu besitzen. Das, was die Frau als Intellektuelle und Forscherin ausgezeichnet hat, wird durch die Mutterschaft ausgelöscht. Eine Identität als Forscherin – neben der wahrnehmbaren Rolle als Mutter – wird ihr nicht gestattet. Zugleich weist das Zitat auf einen zweiten Aspekt hin: Mutterschaft als Thema eigne sich nicht für künstlerische/wissenschaftliche Auseinandersetzungen, es sei zu banal, um auf diese Weise diskutiert zu werden. Bei Heti zeigt sich eine weitere Dimension des Nichtgelingens: »Dann fuhr er fort, wie viel Zeit es koste und dass es einen praktisch aussauge, das Elternsein, denn es sei der perfekte Job – sehr schwer, aber nur du kannst ihn erledigen. Und ist es beim Kunstmachen nicht ganz genauso?, fragte er. Wenn du diese existentielle Befriedigung aus dem Elternsein schöpfen könntest, würdest du dann noch das gleiche Verlangen spüren, Kunst zu machen? Er sagt, man könne entweder als Künstler großartig sein und als Eltern medioker oder umgekehrt, aber nicht beides zugleich, weil sowohl die Kunst als auch das Elternsein die gesamte Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch nähmen.«37
Da Mutterschaft und Autorinnenschaft (diesem Beispiel folgend) die gleichen Antriebsgründe, Gelingens- und Rahmenbedingungen zugrunde liegen, löschen sie sich jeweils aus. Als Künstlerin ist es daher nicht mehr notwendig, Mutter zu sein. Als Mutter braucht es nicht mehr die anstrengende Tätigkeit als Künstlerin. Mutterschaft und Autorschaft sind als Konzepte deckungsgleich und daher nicht addierbar.
4.2.
Gelingend
Heti kommt am Ende des Schreibprozesses ihres Textes »Mutterschaft« zu dem Schluss, dass für sie eine Rolle als Mutter nicht denkbar ist. Baum, die gleichwohl durchgängig in ihrem Text die Problematik der Unvereinbarkeit dekliniert, ist durchaus schreibend tätig, wie allein ihr Text »Stillleben« zeigt, intellektuell löst sie die Problematik in ihrem Text aber nicht auf. Einzig Nelson löst sich aus dem 36 Nelson, Argonauten. 2015, S. 54 [Hervorhebung – N. B./K. S.]. 37 Heti, Mutterschaft. 2018, S. 52f. [Hervorhebung – N. B./K. S.].
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Dilemma, Mutterschaft und Autorschaft sei nicht verhandelbar. Dabei wird sie selbst zum Role Model, das die eben noch widersprechenden Seinsformen vereinbart: »Und dann sitze ich als schwangere Ausschneidepuppe an einer ›prestigeträchtigen New Yorker Universität‹ und halte einen Vortrag über Grausamkeit. Während der Fragerunde hebt ein bekannter Theaterautor seine Hand und fragt: Ich kann nicht umhin zu bemerken, dass Sie bald ein Kind empfangen werden – wie haben Sie es in Ihren Umständen geschafft, an diesem düsteren Gegenstand [Sadismus, Masochismus, Grausamkeit, Gewalt usw.] zu arbeiten? Na klar, denke ich mir und stemme mein Knie gegen das Podium. Es ist doch immer Verlass darauf, dass der alte, weiße Patrizier die Lady, die da spricht, an ihren Körper erinnert, so dass ja niemandem das wilde Spektakel dieses Oxymorons entgeht: Eine Frau, die denkt.«38
Die Situation, auf die Nelson hier referiert, stellt sich konkret so dar: Nelson ist schwanger und hält einen Vortrag über das Buch, das sie aktuell zum Mord an ihrer Tante verfasst. Dabei wird Nelson entgegengebracht, dass doch genau das eigentlich nicht möglich sei. Denn als Schwangere könne oder vielleicht solle Frau sich nicht mit solchen Themen beschäftigen. Nelson gelingt es aber nun, sich dem zu widersetzen, was von außen an sie herangetragen wird: Sie ermächtigt sich durch Reflektion dessen, was geschieht, und erkennt die ihr zugewiesene Rolle als ein Konstrukt, das nicht zwangsläufig ausgefüllt bzw. bedient werden muss. Ihre Bildung, ihr Wissen um das, was ihr genau dort widerfährt, ermöglicht es ihr, sich (stellvertretend für alle Mütter) dem vermeintlichen Dilemma zu widersetzen und es in ihrem Text zu dekonstruieren. Maggie Nelson benennt die Irrationalität – genau wie auch Antonia Baum –, ist aber in der Lage, diese für sich selbst und damit stellvertretend für andere zu überwinden. Auch an anderer Stelle gelingt es Nelson, das Argument, dass Mutterschaft und Schaffensprozesse nicht vereinbar sind, auszuhebeln (die Textstelle knüpft an die oben zitierte Stelle aus Nelsons Text zur Beschämung von Jane Gallop an): »Krauss verhielt sich, als müsse Gallop sich schämen. […] Allerdings war ich Feministin genug, um jegliche automatisierte Verbannung des Weiblichen oder des Mütterlichen aus dem Reich intellektueller Weisheit abzulehnen. Und wie ich mich erinnere, verbannte Krauss nicht einfach nur; sie beschämte, stellte bloß.«39
Nelson nutzt ihr als Feministin geschultes Gespür dafür, sich den Automatismen und Stereotypen zu entziehen. Notwendig dafür ist die Benennung und Dekonstruktion der (Vor-)Urteile. Dann können selbst praktische Herausforderungen gemeistert werden:
38 Nelson, Argonauten. 2015, S. 118 [Hervorhebung – N. B./K. S.]. 39 Ebd., S. 55.
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»Einmal schrieb ich, dass ich die Hälfte eines Buches im betrunkenen Zustand geschrieben hätte, die andere im nüchternen. Bei diesem hier schätze ich, dass neun Zehntel der Wörter im ›freien‹ Zustand geschrieben wurden, das verbleibende Zehntel, während ich an der Brustpumpe von Krankenhausausmaßen angeschlossen war: Wörter strömten in die eine Maschine, Milch strömte in die andere.«40
Um Mutterschaft und Autorschaft gelingend zu gestalten, scheinen uns drei Bedingungen notwendig: 1. Mutterschaft muss aus dem Raum des ausschließlich Privaten entlassen werden. Dies geschieht allein durch die Existenz aller drei Texte, wird aber ausschließlich bei Nelson auch inhaltlich eingelöst. 2. Mutterschaft kann nicht mehr die Identität der Frauen bestimmen, die Kinder bekommen, sondern muss zu einem (unter mehreren) Bestandteil ihres Menschseins werden. Verschiedene (in diesem Fall zwei) Seinsformen/Rollen werden dann nicht mehr von Beginn an als widersinnig, sondern als möglich vorstellbar. 3. Autorschaft muss als ebenso fluider Zustand wie offener Entwicklungsprozess gefasst werden, somit als eine Entwicklung, die durch unterschiedliche Einflüsse (u. a. Mutterschaft) ausgelöst wird.
5.
Schluss
Für alle drei Autorinnen stellt Mutterschaft eine Wahl dar, die es zu begründen gilt (Heti entscheidet sich mit dem Schreiben des Buches dagegen, ein Kind zu bekommen) und die mit Konsequenzen verbunden wird. Trotz der eigenen (erfolgreichen) Tätigkeit zeigen die Texte ein schwer erfüllbares Modell von Mutterschaft und Schreiben als eine intime, störungsanfällige und geniebezogene Auseinandersetzung, die es zunächst einmal zu überwinden gilt. Praktisch überwinden sie diese Vorstellungen, was durch das jeweils vorliegende Buch deutlich wird, tatsächlich inkorporiert haben sie diese Vorstellung aber nur bedingt: »Und ich beschloss außerdem, nie, niemals über das Kinderthema zu schreiben.«41 Aus diesem Konglomerat von Mutterschaft und Autobiografie ergeben sich Anknüpfungspunkte aus unterschiedlichen Perspektiven: die gesellschaftliche Rolle der Frau, das Bild von Mutterschaft oder das Bild einer weiblichen Künstlerfigur. Ausgeklammert haben wir in unserem Beitrag die oben benannten Dimensionen des (Kultur-)Raumes und der Zeit (Epoche). Dazu müssten Auskünfte 40 Ebd., S. 129f. 41 Baum, Stillleben. 2018, S. 72f.
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von Autorinnen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen, sozialen, kulturellen Gruppen und auch autobiografische Zeugnisse aus unterschiedlichen Zeiten gesammelt und verglichen werden.
Literatur Primärliteratur Baum, Antonia: Stillleben. München: Pieper 2018. Heti, Sheila: Mutterschaft. Hamburg: Rowohlt 2018. Kirkpatrick, Kate: Simone de Beauvoir. Ein modernes Leben. München: Piper 2020. Nelson, Maggie: Argonauten. Berlin: Hanser 2015. Stelling, Anke: Schäfchen im Trockenen. München: btb 2018. Woolf, Virginia: A Room of one’s own. London: Hogarth Press 1929.
Sekundärliteratur Bachmann, Thomas/Becker-Mrotzek, Michael: Schreibkompetenz und Textproduktion modellieren. In: Forschungshandbuch empirische Schreibdidaktik. Hrsg. von Michael Becker-Mrotzek/Joachim Grabowski/Torsten Steinhoff. Münster: Waxmann 2016, S. 191– 205. Barthes, Roland: Sade, Fourier, Loyola. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986. Bieker, Nadine: Autobiographisches Erzählen als Vehikel inklusiven Lernens? – Anmerkungen zu Édouard Louis’ Roman Das Ende von Eddy. In: Der inklusive Blick II – Kinder- und Jugendliteratur im Fokus. Hrsg. von Gabriele von Glasenapp/Daniela A. Frickel/Andre Kagelmann/Andreas Seidler: Frankfurt/Main: Peter Lang 2019 (Kinderund Jugendkultur, -literatur und -medien. Theorie – Geschichte – Didaktik; 119), S. 347–363. Man, Paul de: Semiologie und Rhetorik. In: Performance. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Hrsg. von Uwe Wirth. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2019, S. 140– 158. Dengscherz, Sabine: Retrospektive Interviews in der Schreibforschung. In: Qualitative Methoden in der Schreibforschung. Hrsg. von Melanie Brinkschulte/David Kreitz. Bielefeld: wbv 2017, S. 139–158. Dreyfürst, Stephanie: Expert*inneninterviews. Eine qualitativ-empirische Methode für die Schreibforschung. In: Qualitative Methoden in der Schreibforschung. Hrsg. von Melanie Brinkschulte/David Kreitz. Bielefeld: wbv 2017, S. 159–185. Fix, Martin: Texte schreiben. Paderborn: Schöningh 2008. Foucault, Michel: Über sich selbst schreiben. In: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. IV: 1980–1988. Hrsg. von Michel Foucault. Frankfurt/Main: Suhrkamp [1983] 2005, S. 503–521.
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Hayes, John R.: »Modeling and Remodeling Writing«. Written Communication 29 (3), S. 369–388. (letzter Zugriff: 04. 07. 2020). Hayes, John R.: »A new framework for understanding cognition and affect inwriting«. In: The science of writing: Theories, methods, individual differences, and applications. Hrsg. von Michael Levy/Sarah Ransdell. Mahwah: Lawrence Erlbaum 1996, S. 1–27. Hayes, John R./Flower, Linda S.: Identifying the Organization of Writing Processes. In: Cognitive Processes in Writing. Hrsg. von Lee W. Gregg/Erwin R. Steinberg. Hillsdale: Lawrence Erlbaum 1980, S. 3–30. Hicks, Troy/Perrin, Daniel: Beyond single modes and media: Writing as an ongoing multimodal text production. In: Handbook of Writing and Text Production. Hrsg. von Eva-Maria Jakobs/Daniel Perrin. Berlin: de Gruyter 2014, S. 231–253. Holdenried, Michael: Autobiographie. Stuttgart: Reclam 2000. Keseling, Gisbert: Die Einsamkeit des Schreibers. Wie Schreibblockaden entstehen und erfolgreich bearbeitet werden können. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2014. Koelbl, Herlinde: Schreiben! 30 Autorenporträts. München: Knesebeck 2007. Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994. Lehnen, Katrin/Schindler, Kirsten: »Schreib um dein Leben« – Filmische und literarische Schreibepisoden als didaktische Lehrstücke. In: »Aus alt mach neu« – schreibdidaktische Konzepte, Methoden und Übungen. Festschrift für Gabriela Ruhmann. Hrsg. vom Schreibzentrum der Ruhr-Universität Bochum. Bielefeld: UniversitätsVerlag Webler 2017, S. 137–158. Merklinger, Daniela: Schreiben lernen durch Diktieren: Theoretische Grundlagen und Praxisbeispiele für Diktiersituationen. Berlin: Cornelsen 2012. Moritz, Rainer: Der schönste Aufenthalt der Welt: Dichter im Hotel. München: Knesebeck 2016. Ortner, Hanspeter: Schreiben und Denken. Berlin: de Gruyter 2000. Rose, Mike: Writer’s Block: The Cognitive Dimension. Carbondale: Southern Illinois University Press 1984. Rose, Mike: Schreibblockaden verstehen. In: Schreiben. Grundlagentexte zur Theorie, Didaktik und Beratung. Hrsg. von Stephanie Dreyfürst/Nadja Sennewald. Opladen: Verlag Barbara Budrich 2014, S. 193–212. Sandler, Lauren: The Secret of Being Both a Successful Writer and a Mother: Have Just One Kid. (letzter Zugriff: 22. 06. 2020). Schlie, Tanja: Wo Frauen ihre Bücher schreiben. München: Thiele 2014. Wagner-Egelhaaf, Martina: Autobiographie. Stuttgart/Weimar: Metzler 2000. White, Evelyn C.: Alice Walker: A Life. Norton 2004.
Yuuki Kazaoka
Ingeborg Bachmanns Gedichtfragment »Narrenwort« – Zur lyrischen Thematisierung der Schwierigkeit mit dem literarischen Schaffen
1.
Einleitung
Der vorliegende Beitrag behandelt Ingeborg Bachmanns Gedichtfragment »Narrenwort«. Zunächst soll einleitend eine Erläuterung zum Gedichtfragment als Forschungsgegenstand gebracht und auch die Fragestellung definiert werden. Darauf folgt im Hauptteil eine Analyse des Gedichts. Des Weiteren wird vor den Schlussfolgerungen diskutiert, wie das Wort »Narr« von anderen, mit Bachmann verbundenen Schriftstellern literarisch verwendet wird. Zunächst wird kurz darauf eingegangen, wie das Gedichtfragment mit dem Thema »Schreiben, Text und Autorschaft – Zur Thematisierung, Inszenierung und Reflexion von Schreibprozessen« konkret im Zusammenhang steht. Das Gedicht wird dabei aus der Perspektive »Formen der Schreibstörung«1 untersucht. Zu den verschiedenen Formen der Schreibstörung gehört auch jenes spezifische Schreibproblem, mit dem Ingeborg Bachmann in den 1960er Jahren konfrontiert war: Wie Bachmanns literarischer Nachlass zeigt, versuchte die Schriftstellerin damals immer wieder, Gedichte zu schreiben, konnte diese aber nicht vollenden. Ein Teil des lyrischen Textbestands im Nachlass wurde im Jahr 2000 als Gedichtsammlung »Ich weiß keine bessere Welt« veröffentlicht. Auch das Fragment »Narrenwort« wurde in diesen Band aufgenommen. Der Bedeutungsumfang des Begriffs Schreibstörung ist groß. In Bachmanns Fall sind wir mit der Schwierigkeit, Gedichte zu schreiben, konfrontiert. Die im Beitrag verfolgte Herangehensweise ist die genaue Textanalyse, d. h., dass rhetorische Figuren (etwa Metapher oder Akkumulation) und deren Effekt im Gedichtfragment intensiv analysiert werden. Da es um ein Fragment geht, ist man mit unvollendeten, unklaren Textstellen konfrontiert. In diesem Fall ist die
1 Diese Perspektive wurde in der Tagung »Schreiben, Text und Autorschaft – Zur Thematisierung, Inszenierung und Reflexion von Schreibprozessen in ausgewählten Medien und historischen Selbstzeugnissen« vorgeschlagen.
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Yuuki Kazaoka
präzise kommentatorische Arbeit sehr hilfreich. Durch die Untersuchung soll der Schreibprozess des Gedichtfragments nachvollziehbarer werden. Die Fragestellung dazu lautet: Wie hat Bachmann ihre eigene Schreibsituation literarisch reflektiert? Oder mit anderen Worten: Mit welchen literarischen Mitteln hat die Autorin die Reflexion über die schwierige Situation des Schreibens in das Gedichtfragment integriert? Den Herausgebern der Gedichtsammlung »Ich weiß keine bessere Welt« zufolge entstand »Narrenwort« wahrscheinlich zwischen 1962 und 1964. Weil sich Bachmann in dieser Zeit von Max Frisch trennte und sich ihre Gesundheit verschlechterte, werden die damals verfassten Gedichtfragmente meist vor allem in diesem biografischen Zusammenhang gelesen. Aber die Texte sind motivisch nicht auf die bloße äußere Lebensgeschichte, wie eben etwa eine gescheiterte Liebesbeziehung, eine Trennung oder auch gesundheitliche Probleme, zu reduzieren.2 Ein Beispiel dafür bietet gerade das Gedicht »Narrenwort«. Hier wird Bachmanns Schwierigkeit zu schreiben in den Mittelpunkt gestellt, wodurch sich die Dichterin auch mit deren Ursachen auseinandersetzt.
2.
Edierte Fassung und Handschrift
Ich möchte nun, wie angekündigt, das Gedichtfragment ausführlich analysieren. Für diesen Zweck sei es zunächst einmal vollständig zitiert: Edierte Fassung Das Narrenwort
Handschrift Frau Bachmann
eine Halde das Wort schlug nieder mit Steinen in dieser Halde, gekarrt das Echo, karrte ich’s nicht 5 heraus und wieder, rufe zu uns, im Anfang war es nicht, es war am Ende.
Wo dann wie war das Wort, noch Das Narrenwort nicht mehr möglich eine Halde das Wort 5 dort schlug es nieder mit Steinen in dieser Halde, behämmert gekarrt das Echo, karrte ich’s nicht heraus und wieder, rufe zu uns,
2 Zum Überblick über die Rezeption dieser Gedichtsammlung siehe Larcati, Arturo/Schiffermüller, Isolde: Einleitung. In: Ingeborg Bachmanns Gedichte aus dem Nachlass. Eine kritische Bilanz. Hrsg. von Arturo Larcati/Isolde Schiffermüller. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2010, S. 7–18, hier S. 7–12. Dort wird beschrieben, wie vorherrschend die biografische Lektüre ist und wie sich die Forschung zu dieser Tendenz verhält.
Ingeborg Bachmanns Gedichtfragment »Narrenwort«
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(Fortsetzung) Edierte Fassung 10 Die Gnade Morphium, aber nicht die Gnade eines Worts die Gnade Weißbett frischleinen, aber nicht 15 die Gnade Handhalten Noch hielt keine Hand, kein Wort, die Gnade3
Handschrift 10 im Anfang war es nicht, es war am Ende. Die Gnade Morphium, aber nicht 15 die Gnade eines Worts die Gnade Weißbett frischleinen, aber nicht die Gnade Handhalten Noch hielt keine Hand, kein Wort, die Gnade
Das Gedicht »Narrenwort« ist nicht als Typoskript, sondern als Handschrift überliefert. In der Gedichtsammlung »Ich weiß keine bessere Welt« findet sich neben der edierten Fassung auch ein Faksimile der Handschrift. Die textlichen Streichungen werden von den Herausgebern im Anmerkungsteil verzeichnet. Die edierte Fassung ist also eher als Leseausgabe zu verstehen. Auf der linken Seite obiger Darstellung wird die edierte Fassung gezeigt, auf der rechten meine Transkription des Faksimiles. Im Anmerkungsteil zu »Narrenwort« verzeichnen die Herausgeber nur die ersten drei gestrichenen Zeilen sowie das weitere gestrichene Wort »behämmert« (Z. 6 der Handschrift). Es gibt aber noch weiteren Textbestand, der weder in der edierten Fassung noch im Anmerkungsteil registriert wird. Konkret geht es um die ersten beiden Wörter, »Frau Bachmann«, die wahrscheinlich einer fremden Hand zuzuschreiben und später hinzugefügt worden sind. Ernst Osterkamp kritisiert, dass der Anmerkungsteil der Gedichtsammlung die Worte »Frau Bachmann« übergeht. Für die Entstehungsgeschichte des Gedichtfragments kann dieser Eintrag, so Osterkamp, jedoch Aufschluss geben.4 Darüber hinaus wurde vor dem Wort »schlug« (Z. 5 der Handschrift) ein weiteres Wort geschrieben und gestrichen, meiner Lesung nach das Wort »dort«. Auch nach dem Wort »schlug« findet man ein gestrichenes Wort, das die Herausgeber ignorieren, und zwar »es«. Das Gedicht gliedert sich in der edierten Fassung in zwei Strophen. Es lässt sich in der Handschrift ein vergrößerter Zeilenabstand nach der Zeile »es war am
3 Bachmann, Ingeborg: Narrenwort. In: Dies.: Ich weiß keine bessere Welt. Unveröffentlichte Gedichte. Hrsg. von Isolde Moser/Heinz Bachmann/Christian Moser. München/Zürich: Piper 2000, S. 55. 4 Vgl. Osterkamp, Ernst: Wer ein Messer im Rücken hat, dem fällt keine gepfefferte Metapher ein. In jeder gesperrten Hinterlassenschaft wittert die Lesergemeinde ein furchtbares Geheimnis: Gedichte aus dem Nachlaß von Ingeborg Bachmann. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. Dezember 2000, L14.
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Ende« feststellen, der in der edierten Fassung durch eine Leerzeile zwischen den Zeilen 9 und 10 wiedergegeben wird.5
3.
Erste Strophe – die Schwierigkeit des Schaffens, die durch das Bild des Steins und das Bibelzitat charakterisiert wird
In der ersten Strophe wird auf die Situation des Schreibens Bezug genommen. Die Sprechinstanz versucht, sich an das literarische Schaffen, den Umgang mit den Worten, zurückzuerinnern, aber es gelingt ihr nicht, an das Frühere anzuknüpfen und auf dieselbe Weise literarisch zu schreiben wie in der Vergangenheit. Die ursprünglichen ersten drei Zeilen, die dieser Szene entsprechen, werden aber in der Handschrift wieder gestrichen: »Wo dann wie / war das Wort, noch / nicht mehr möglich«. Diese Frage klingt inhaltlich an ein anderes Blatt aus der Gedichtsammlung an: »Meine Gedichte sind mir abhanden gekommen. / Ich suche sie in allen Zimmerwinkeln.«6 Die nächsten Zeilen, d. h. die ersten Zeilen der edierten Fassung, sind im Präteritum gehalten, da es sich dabei um einen Rückblick auf die frühere Schaffensphase handelt. Hier wird der Bildbereich des Steinmetzen bzw. eines Steinbruchs evoziert und mit dem literarischen Schaffen in Beziehung gesetzt. In Zeile 2 fehlt das Subjekt und das Wort ›ich‹ wäre hinzuzudenken. Das sprachliche Bild des Steinmetzen ist auch in Gedichten anderer Autoren der Nachkriegszeit öfter zu finden. In dem Gedicht »Wege« von Rose Ausländer taucht beispielsweise ein ähnliches Bild auf: »Geh / in den Steinbruch / der Wörter.«7 Paul Celan verwendet ebenfalls oft Wörter aus dem Bildbereich ›Stein‹ und setzt sie mit dem lyrischen Schaffen in Verbindung – so etwa in dem Gedicht »Den verkieselten Spruch«.8 Wirft man einen Blick in die Literaturgeschichte, findet sich häufiger die Tendenz, den Stein oder das Gestein mit dem literarischen Schaffen zu verbinden.9 Bachmanns »Narrenwort« übernimmt also durchaus ein verbreitetes Bild. Das ›Wort‹ bzw. die Sprache wird hier als erratische Substanz betrachtet, an die die Sprechinstanz mit Gewalt herangehen muss. Die Sprache ist dabei sowohl Gegenstand (»Halde«) als auch Werkzeug
5 Zitate im Folgenden orientieren sich an der Zeilenzählung der edierten Fassung. 6 Bachmann, Ingeborg: [Meine Gedichte sind mir abhanden gekommen]. In: Dies., Ich weiß keine bessere Welt. 2000, S. 11. 7 Ausländer, Rose: Wege. In: Dies.: Gesammelte Werke. Hrsg. von Helmut Braun. Frankfurt/ Main: S. Fischer 1988, Bd. 7, S. 191. 8 Celan, Paul: Den verkieselten Spruch. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hrsg. von Beda Allemann/ Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rudolf Bücher. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983, Bd. 2, S. 79. 9 Vgl. Schellenberger-Diederich, Erika: Geopoetik. Studien zur Metaphorik des Gesteins in der Lyrik von Hölderlin bis Celan. Bielefeld: Aisthesis 2006.
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(»schlug nieder mit Steinen«). Das gestrichene Wort »behämmert« spielt neben dem Verbum ›niederschlagen‹ auf den strengen Umgang mit der Sprache an. Mary A. Cudahy analysiert diese Stelle und interpretiert sie wie folgt: »[…] the poet is guilty of some violence against words, and words, in return, offer no ›mercy‹. The poet stoned and beaten her beloved language into submission […].«10 Dieses harte Verhalten der Sprechinstanz weckt jedoch Assoziationen zu Bachmanns Verwendung des Wortes ›zerschreiben‹. Dieses bekannte Verbum wird in einem Interview von Bachmann so – und damit ganz anders als in seinem ursprünglichen Sinn – verwendet: »[…] da kann ein Schriftsteller sich nicht der vorgefundenen Sprache, also der Phrasen, bedienen, sondern er muß sie zerschreiben. Und die Sprache, die wir sprechen und fast alle sprechen, ist eine Sprache aus Phrasen.«11 Darüber hinaus werden in der ersten Strophe auffallende Nomina eingesetzt, und zwar »Halde« (zweimal), »Wort« (zweimal inklusive der gestrichenen Stelle), »Echo«, »Anfang« und »Ende«. Betont wird durch die Spitzenstellung die »Halde«, eine Anhäufung von Gesteinsmaterial. Dass die Sprechinstanz das Wort mit einer Halde vergleicht, legt nahe, dass »das Wort« als Pars pro Toto für ›die Sprache‹ steht. Indem in dieser Zeile nur zwei Nomina und ihre Artikel auftauchen, diese also eine Ellipse bilden, wird der Vergleich umso eindringlicher. Die Formulierung »in dieser Halde« (Z. 3) suggeriert, dass die Sprechinstanz nun vor derselben Halde steht, an der sie sich einst zu schaffen gemacht hat, als ob sie sich davon überzeugen möchte. In diesen Bildraum wird ein weiterer Vergleich hineingebracht, nämlich »Wort« und »Echo«. Das »Wort« wurde einst von der Sprechinstanz im übertragenen Sinne niedergeschlagen oder zerbrochen. Die »Halde« wäre demnach die im Interview angesprochene ›vorgefundene Sprache‹, an der sich die Sprechinstanz nicht einfach ›bedienen‹ kann. Was sie hier einmal weggetragen hat, war bloß ein »Echo« darauf. Das »Echo« kann als die literarische Resonanz oder Reaktion auf die phrasenhafte Alltagssprache gesehen werden. Die Sprechinstanz positioniert sich durch die Aussage »das Echo, karrte ich’s nicht« gegenüber jener im Interview erwähnten »Sprache, die wir sprechen und fast alle sprechen«. Mitten darin (Z. 6) wagt die Sprechinstanz, das »Wort« aufzugreifen: »rufe zu uns.« Dieser Ruf oder Appell reminisziert an das Gedicht »Ihr Worte«, weil auch dort die Sprechinstanz die Worte anspricht: »Ihr Worte, auf, mir nach!, / und sind wir auch schon weiter, / zu weit gegangen, geht’s noch
10 Cudahy, Mary A.: »Drafts of Pure Time«: Ingeborg Bachmann’s Hidden Poems. In: Interdisciplinary Journal for Germanic Linguistics and Semiotic Analysis 9, 2004, Nr. 2, S. 219–247, hier S. 231–232. 11 Interview mit Ekkehart Rudolph am 23. März 1971. In: Bachmann, Ingeborg: Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews. Hrsg. von Christine Koschel/Inge von Weidenbaum. München/Zürich: Piper 1983, S. 84.
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einmal / weiter, zu keinem Ende geht’s.«12 In diesen Zeilen wird von Bachmann erneut das Pronomen ›uns‹ – nicht ›mir‹ – ausgewählt. Durch dieses »uns« wird auch die Leserschaft miteinbezogen. Das Pronomen »es« in den Zeilen »im Anfang / war es nicht, / es war am Ende« bezieht sich auf dieses »Wort«, so wie an dieser Stelle auch im Johannes-Evangelium »das Wort« kommt (Joh 1,1). Die erste Strophe schreibt demgemäß diese biblische Formulierung um: »im Anfang / war es nicht / es war am Ende.« Die Sprache also ist am Ende bzw. es ist die Sprechinstanz, die mit ihr am Ende zu sein droht. Wie Martin Nicol bemerkt,13 wird von Goethe dieses bekannte Bibelzitat in »Faust« aufgenommen.14 Nicol weist zudem darauf hin, dass auch Benn diesen biblischen Ausdruck bearbeitet, nämlich »Im Anfang, in der Mitte und am Ende ist das Wort«,15 und vergleicht Benns Variation vom Bibelzitat mit Bachmanns Zeile. Die Besonderheit von Bachmanns Gedichtfragment besteht eben hierin: Die schwierige Schreibsituation geht von dem sprachlichen Bild der Steinhalde aus und mündet in das Bibelzitat ein. Mit diesem Zitat wird nun aber nicht nur das literarische Schreiben problematisiert, sondern auch die Sprache selbst kommt ins Spiel. Die problematische Situation des Schreibens ist mit dem Misstrauen gegenüber der Sprache eng verknüpft. Man kann auch argumentieren, dass erst das Nachdenken über die Sprache die ›Schreibstörung‹ auslöst; die Sprechinstanz zeichnet sich durch einen sehr kritischen Zugang zur Sprache aus. Berücksichtigt werden muss außerdem, woher dieses Misstrauen rührt. Ein Hintergrund dafür ist in der sogenannten Sprachskepsis16 der Literaturgeschichte und der Philosophie zu finden. Bachmann befasste sich bekanntlich lange mit Hofmannsthal und Wittgenstein. Hofmannsthals berühmten »Chandos-Brief« untersucht Bachmann beispielsweise in den »Frankfurter Vorlesungen« und über Wittgen12 Bachmann, Ingeborg: Ihr Worte. In: Dies.: Werke. Hrsg. von Christine Koschel/Inge von Weidenbaum/Clemens Münster. München/Zürich: Piper 1978, Bd. 1, S. 162–163, hier S. 162. 13 Vgl. Nicol, Martin: Mehr Gott wagen. Predigten und Reden zur dramaturgischen Homiletik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019, S. 71–72. 14 Vgl. Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Eine Tragödie. In: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998, Bd. 3, S. 9–364, hier S. 44. 15 Benn, Gottfried: Doppelleben. In: Ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. In Verbindung mit Ilse Benn. Hrsg. von Gerhard Schuster. Stuttgart: Klett-Cotta 1991, Bd. 5, S. 83–176, hier S. 162. 16 Nach dem Reallexikon, das keinen eigenen Artikel zur Sprachskepsis führt, wird die Sprachkritik, die mit jener gleichgesetzt wird, als »Beurteilung und Bewertung des konkreten Sprachgebrauchs, einer Sprache bzw. der Sprache überhaupt« definiert (Meyer, Urs: Sprachkritik. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. von Jan-Dirk Müller gemeinsam mit Georg Braungart/Harald Fricke/Klaus Grubmüller/Friedrich Vollhardt/Klaus Weimar. Berlin/New York: de Gruyter 2003, Bd. 3, S. 479–482, hier S. 479).
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steins Sprachphilosophie verfasst sie den bekannten Essay »Sagbares und Unsagbares«. Nicht nur die traditionelle Sprachskepsis, sondern auch die zeitgenössische Sprachkritik – etwa Klemperers »LTI« oder »Aus dem Wörterbuch des Unmenschen« – üben einen bestimmten Einfluss auf Bachmanns Misstrauen. In der Tat finden sich in ihrem Nachlass entsprechende Entwürfe zur Sprachkritik.17 Wenn man die ganze Gedichtsammlung berücksichtigt, ergibt sich noch ein anderer Aspekt: Wie das titellose Gedichtfragment »[Meine Gedichte sind mir abhanden gekommen]« typischerweise zeigt, versucht die Sprechinstanz, den Schmerz in Worte zu fassen, jedoch gelingt dies nicht: »Weiß vor Schmerz nicht, wie man einen Schmerz / aufschreibt, weiß überhaupt nichts mehr.«18 Die Sprache taugt nicht mehr dazu, die Erfahrung der Sprechinstanz zu beschreiben. Dieses Argument hat Klaus Dieter Post bereits auf ähnliche Weise ins Treffen geführt.19 Die Konfrontation mit einer solchen existenziellen Situation ermöglicht den grundsätzlichen kritischen Blick auf die Sprache.
4.
Zweite Strophe – von der Krankenhaussituation zur Reflexion über das Schreiben: »Noch hielt / keine Hand, kein Wort«
Zum Schluss der ersten Strophe verflicht sich der Sprachverlust mit der biblischen Sprache. Eben auf diese Stelle folgt die ungewöhnliche Wortkombination »Die Gnade Morphium«, die die zweite Strophe eröffnet. Diese Wortkombination wird auch in anderen Gedichtfragmenten, wie »Gloriastrasse« (Blatt Nr. 167)20, »Gloriastrasse« (Blatt Nr. 311 sowie 311a)21 und »Alla piu umile, alle piu umana, alla piu sofferente« (Blatt Nr. 173 sowie 331)22, verwendet, wie Rameder zeigt.23 In den beiden Fragmenten mit dem Titel »Gloriastrasse« ist diese Kombination zentraler, weil beide jeweils mit ihr beginnen. Das religiöse Wort »Gnade« hängt sprachkontextuell mit den vorangehenden Zeilen »im Anfang / war es nicht, / es war am Ende« zusammen. Das Wort »Morphium« hingegen verweist zwar auf 17 Bachmann, Ingeborg: [Entwürfe zur politischen Sprachkritik]. In: Dies.: Kritische Schriften. Hrsg. von Monika Albrecht/Dirk Göttsche. München/Zürich: Piper 2005, S. 368–377. 18 Bachmann, [Meine Gedichte sind mir abhanden gekommen]. 2000, S. 11. 19 Post, Klaus Dieter: »Sehr ihr, Freunde, seht ihrs nicht!« Ingeborg Bachmanns Nachlaß-Zyklus Ich weiß keine bessere Welt im Spannungsfeld von Verstörung und poetischer Reflexion. In: Grenzgänge. Studien zur Literatur der Moderne. Festschrift für Hans Jörg Knobloch. Hrsg. von Helmut Koopmann/Manfred Misch. Paderborn: Mentis 2002, S. 273–295, hier S. 281. 20 Vgl. Bachmann, Ingeborg: Gloriastrasse. In: Dies., Ich weiß keine bessere Welt. 2000, S. 54. 21 Vgl. ebd., S. 55. 22 Vgl. Bachmann, Ingeborg: Alla piu umile, alle piu umana, alla piu sofferente. In: ebd., S. 116. 23 Vgl. Rameder, Isabella: Ich habe die Gedichte verloren. Ingeborg Bachmanns lyrische Texte aus dem Nachlaß und ihre Beziehung zum Todesarten-Projekt. Klagenfurt/Wien/Ljubljana/ Sarajevo: Wieser 2006, S. 45.
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Bachmanns Lebensgeschichte, nämlich auf ihre Klinikaufenthalte nach der Trennung von Max Frisch, sollte aber nicht auf die biografische Lektüre reduziert werden. Außerdem geht dieser Medikamentenname etymologisch betrachtet auf den griechischen Gott des Traums zurück: Morpheus. Das Morphium, sofern es in Verbindung mit dem Traum oder sogar dem Albtraum betrachtet wird, nimmt andere Texte Bachmanns – etwa Malinas Traumkapitel – vorweg. »Die Gnade Morphium« wird in der Tat als Morphiumrausch in einem anderen Blatt variiert und sogar in »Malina« eingebettet,24 allerdings geht dabei die auffällige Wortkombination verloren. Die Sprechinstanz stellt also die »Gnade Morphium« der »Gnade eines Worts« gegenüber. Die zweite Strophe widmet sich einerseits der »Gnade«, die auf die medizinische Pflege zurückgeht – wie etwa in der Formulierung »Weißbett frischleinen« angedeutet –, andererseits dem Zwischenmenschlichen: dem ›Wort‹ (Z. 12) bzw. dem »Handhalten« (Z. 15). Klaus Dieter Post erblickt hier auch die Verschränkung zwischen zwei qualitativ verschiedenen Dimensionen, die die gesamte Gedichtsammlung durchwirken. Er berührt eine Zeile eines anderen Gedichtfragments – und zwar »Mild und Leise« (Blatt Nr. 161) – und macht auf den »Kontext« »zwischen der körperlichen und der sprachlichen Destruktion«25 aufmerksam, die sich durch die Gedichtsammlung ziehen. Die ersten sechs Zeilen der zweiten Strophe, Z. 10–15, bilden einen bestimmten Rhythmus, strukturiert durch die wiederkehrende Wendung »aber nicht«. Die Aufzählung der Wörter, also die Akkumulation, macht die verzweifelte Situation der Sprechinstanz deutlich. Die letzten beiden Zeilen brechen diesen Fluss. Neben dem »Wort« rückt hier die »Hand« in den Vordergrund. Mit dem Wort »Handhalten« lässt sich die Nähe eines anderen in einer Krankenhaussituation oder auch eine Geste der Versöhnung verbinden. Das »Handhalten« birgt außerdem Assoziationsmöglichkeiten zu einem Diktum Celans: »Nur wahre Hände schreiben wahre Gedichte. Ich sehe keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Händedruck und Gedicht.«26 Zwischen »kein Wort« und »die Gnade« gibt es in der Handschrift einen auffällig großen Abstand. Durch diesen Abstand wird deutlich, dass in dieser Zeile eigentlich das Objekt fehlen könnte: Was die »Hand« und das »Wort« halten soll, wird demnach nicht erwähnt. Erst die Edition legt nahe, dass »die Gnade« als Akkusativobjekt fungiert. Man kann 24 Vgl. Bachmann, Ingeborg: Malina. In: Dies.: »Todesarten«-Projekt. Kritische Ausgabe. Unter Leitung von Robert Pichl hrsg. von Monika Albrecht/Dirk Göttsche. München/Zürich: Piper 2005, Bd. 3.1, S. 558. Vgl. Rameder, Ich habe die Gedichte verloren. 2006, S. 70. 25 Post, »Sehr ihr, Freunde, seht ihrs nicht!« 2002, S. 283. In Bezug auf »Narrenwort« argumentiert Post, dass »die Vision eines göttlichen Logos« »in eine Negativ-Utopie der Endzeit übersetzt« wird (ebd., S. 285). 26 Celans Brief an Hans Bender vom 18. Mai 1960. In: Celan, Gesammelte Werke. 1983, Bd. 3, S. 177–178, hier S. 177.
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hingegen auch für plausibel halten, dass ›halten‹ hier in seiner intransitiven Variante verwendet werden sollte (Hand und Wort halten nicht) und dass danach die prägende anaphorische Wendung »Die Gnade …, aber nicht die Gnade …« weiter fortgesetzt werden sollte, das Gedichtfragment an dieser Stelle jedoch abgebrochen wurde. Die zweite Strophe scheint insgesamt weit entfernt von der vorangegangenen Reflexion über das literarische Schreiben. Doch wenn in den letzten beiden Zeilen weder »Hand« noch »Wort« die Sprechinstanz retten konnte – wessen Hand und Wort kommen dafür infrage? Die »Hand« und das »Wort« gehören einerseits zu einer anderen Person, die ihre Hand zur Rettung nach der Sprechinstanz ausstreckt. Andererseits geht es um die Hand und das Wort der Sprechinstanz selbst. In diesem Fall wäre die »Hand« jene, die das Gedicht schreibt. Auch wenn die Hand und das Wort auf eine andere Person hinweisen, so bleibt dennoch die Konnotation zum literarischen Schreiben. »Noch hielt / keine Hand, kein Wort«: Damit wären wir wieder beim Sprachzweifel und der Schreibstörung angelangt. Betrachtet man das Gedichtfragment aus der Sicht der Wortarten, so ergibt sich ein weiterer wichtiger Aspekt: Die erste Strophe besteht aus 45 Wörtern (inklusive der gestrichenen Textstelle), darunter sind acht Wörter Nomina, während in der zweiten Strophe etwa die Hälfte der Wörter (elf von 26) Nomina sind. Wenn man einen Blick auf die Verba wirft, werden in der ersten Strophe sechs davon verwendet. Im Gegensatz dazu begegnet uns in der zweiten Strophe nur ein einziges Verbum. Vielleicht lässt sich auch an dieser Verwendungsweise der Wörter etwas erkennen: Jene offenkundige Änderung der Schreibweise ließe sich so deuten, dass die Sprechinstanz anders – also mit neuen, alternativen Worten – zu sprechen versucht. Ob diese anders gestalteten Worte funktionieren, ist jedoch nicht klar, weil das Gedicht abgebrochen wird. Eben diese Stockung kann möglicherweise die Antwort geben: als Verzicht auf das Weiterschreiben oder als Hinweis auf ein Unterwegssein.
5.
Über den Gedichttitel
Um Bachmanns Reflexion des literarischen Schreibens inmitten der krisenhaften Situation nachzuzeichnen, möchte ich zuletzt auf den Gedichttitel »Narrenwort« eingehen. Der Titel »Narrenwort« bezeichnet ja das Gedicht in seiner Gesamtheit, und die Sprechinstanz würde sich somit distanziert selbst als Narr ansehen. Wenn die Sprechinstanz »Die Gnade Morphium« sagt, ist aus dieser Aussage ein bitterer Ton heraushörbar. Da das Gedichtfragment durch biblische Wörter und Formulierungen geprägt ist, kann der Narr im religiösen Kontext begriffen werden. Dort taucht er vornehmlich im Vergleich mit dem Weisen auf, wie etwa in
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dieser Prediger-Bibelstelle: »Die Worte aus dem Munde des Weisen bringen ihm Gunst; aber des Toren Lippen verschlingen ihn selber. Der Anfang seiner Worte ist Narrheit und das Ende verderbliche Torheit« (Pred 10,12–13). Das thematische Wort Narr findet man auch in anderen Gedichten Bachmanns, beispielsweise in »An die Sonne« oder »Heimweg«, beide aus dem Jahr 1956, die zu der im selben Jahr erschienenen zweiten Gedichtsammlung »Anrufung des Großen Bären« gehören. In diesen zwei Gedichten wird Narr auf einander ähnliche Weise gebraucht: »Weil die Nacht mit Kometen prahlt und in mir einen Narren sucht, […]«27, heißt es in »An die Sonne«, während »Deck mir, Nacht, die Augen / mit dem Narrenhut«28 zwei Zeilen aus »Heimweg« lauten. Bemerkenswert ist, dass sich in beiden Gedichten die personifizierte Nacht mit dem Narren verbindet. Die Zeile aus »An die Sonne« verrät, dass die Nacht den Narren in der Sprechinstanz paradoxerweise erweckt. Wenn die beiden Gedichte auch im Zusammenhang mit dem literarischen Schaffen gelesen werden, so wird die Nacht offenkundig als Figur geschildert, die schöpferische Kraft verleiht. Man findet darüber hinaus eine weitere Ähnlichkeit in Bezug auf den Narren: Interessanterweise wird dieser in beiden Gedichten in der Schlussstrophe eingesetzt. Das ist ein Hinweis darauf, wie sehr die Narrenfigur jeweils akzentuiert wird. Darüber hinaus beweist Bachmanns »Ein Monolog des Fürsten Myschkin zu der Ballettpantomime ›Der Idiot‹«29 ihre Auseinandersetzung mit der Narrenfigur in der frühen Schaffensphase. Der Narr steht nicht nur für die Dummheit, sondern spricht in der literarischen Tradition – so etwa in der Tragödie »King Lear« – bekanntlich auch oft die Wahrheit aus. Bachmann beschäftigt sich in mehreren Texten mit dem Wahrheitsbegriff, z. B. in dem Gedicht »Was wahr ist« oder in ihrer Rede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden »Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar«. Vielleicht ist auch der Narr im Titel ihres Gedichtfragments ein besonders wahrheitsliebender. In einer Fassung des Gedichts »Böhmen liegt am Meer«, die in den 1960er Jahren entstanden ist, greift Bachmann erneut den Narren auf: »[…] Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land, ich grenz, wie wenig auch entgrenzt, an alles immer mehr, ein Böhme, ein Vagant, ein Narr, […]«30
27 Bachmann, Ingeborg: An die Sonne. In: Dies., Werke. 1978, Bd. 1, S. 137. 28 Bachmann, Ingeborg: Heimweg. In: ebd., S. 104. 29 Vgl. Bachmann, Ingeborg: Ein Monolog des Fürsten Myschkin zu der Ballettpantomime ›Der Idiot‹. In: ebd., S. 62–79. 30 Bachmann, Ingeborg: Letzte, unveröffentlichte Gedichte, Entwürfe und Fassungen. Edition und Kommentar von Hans Höller. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, S. 101 (Blatt Nr. 213).
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Hier definiert sich die Sprechinstanz explizit als Narr. Im Vergleich zu den beiden Gedichten aus den 1950er Jahren gibt es also eine Steigerung in der Identifikation der Sprechinstanz mit einer Narrenfigur. Die Bezeichnung »Narr« ist doppeldeutig. Als Selbstdefinition haftet dem Wort einerseits Trostlosigkeit an; andererseits kommt der Narr als Außenseiter, frei von der Gesellschaft, der Wahrheit oft näher. Abschließend sei ergänzt, wie der Narr in der zeitgenössischen Literatur dargestellt wurde. In Heinrich Bölls Buch »Ansichten eines Clowns« galt das Interesse dem »Bühnennarren«.31 In seiner Erzählung geht es darüber hinaus darum, dass der Bühnennarr »mit der älteren Figur des Berufsnarren« »verschmilzt«, »denn Schniers Clownexistenz ist nicht nur Schauspielerei, sondern Möglichkeit eines freiheitlichen Daseins in einer nivellierten und mechanisierten Welt, deren Kritiker und Widerpart Schnier im alten Sinn des Motivs ist«.32 Bachmanns thematisches Vokabular bewegt sich durchaus in dieser zeitgenössischen Strömung. Auch ihr bekanntes Pierrot-Zitat aus »Malina« kann in diesem Kontext verstanden werden: »Aber in diesen Stadtpark, über dem für mich ein kalkweißer Pierrot mit überschnappender Stimme angetönt hat […] kommen wir höchstens zehnmal im Jahr […].«33 Das Verhältnis der Künstler – nicht nur Schriftsteller, sondern auch Maler usw. – zum Clown wurde bereits vielfach zum Thema der Forschung.34 Durch den Vergleich Künstler/Clown wird z. B. das Außenseiterdasein des Ersteren hervorgehoben. Dieses Bild des Künstlers wird wahrscheinlich nicht nur durch die Künstler selbst, sondern auch durch die Forschung perpetuiert und verstärkt. Aber damals in den 1960er Jahren verhält es sich tendenziell nicht so: Der Künstler, hier besonders der Schriftsteller, wirkt engagiert in der Gesellschaft. Die Rolle des Schriftstellers sowie die Aufgabe der Literatur in der Gesellschaft werden intensiv diskutiert. Bachmanns »Narrenwort« entstand also zu einer Zeit, als die Gesellschaft die Worte des Schriftstellers im Sinne sozialer Veränderung erwartete und in Beschlag nahm – zeitgleich und auf andere Weise beschäftigte sich Bachmann auch mit der Existenz des Schriftstellers.
31 Frenzel, Elisabeth: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 6., überarb. u. ergänzte Aufl. Stuttgart: Kröner 2008, S. 564. 32 Ebd. 33 Bachmann, Malina, 2005, S. 281. 34 Vgl. Starobinski, Jean: Portrait de l’artiste en saltimbanque. Genève: Skira 1970. (Ich berufe mich auf die japanische Übersetzung.)
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Ein weiterer Blick auf den Narren
Das Wort Narr steht in der Literaturgeschichte z. B. mit Sebastian Brants »Narrenschiff« oder Till Eulenspiegel in Verbindung. Auch das Kompositum »Narrenwort« wird in anderen Texten früher gebraucht.35 Dieses Wort weckt verschiedene Assoziationen – im Folgenden werden drei Beispiele angeführt, die mit Bachmanns literarischem Schaffen zusammenhängen. Erstens ist Nietzsches Gedicht »Nur Narr! Nur Dichter!« zu berücksichtigen. Die Forschung hat wiederholt auf Nietzsche-Zitate in Bachmanns Werken aufmerksam gemacht.36 Auch in der Gedichtsammlung »Ich weiß keine bessere Welt« wurden Textstellen gefunden, die sich auf Nietzsche beziehen.37 In dessen Gedicht werden »Narr« und »Dichter« sowohl im Titel als auch im Text immer wieder nebeneinandergestellt. Dieser Vergleich ist zwar analog in Bachmanns Fragment zu bemerken, es gibt jedoch zugleich einen großen Unterschied. In Nietzsches Gedicht wird der »Dichter« als »Adler« charakterisiert, »der lange, / lange starr in Abgründe blickt, / in seine Abgründe« und »plötzlich« »auf Lämmer« stößt.38 In Nietzsches Vorstellung reflektiert der Dichter somit über sich selbst und stellt sich als Außenseiter den anderen gegenüber. Ein solches oder ähnlich geartetes Bild taucht in Bachmanns Gedichtfragment hingegen nicht auf. Ihr »Narrenwort« zielt (wie bereits analysiert) eher auf den dichterischen Umgang mit der Sprache ab. Die Sprechinstanz opponiert gegen die in der ersten Strophe angesprochene phrasenhafte Sprache. Zweitens scheint Franz Kafkas Beschäftigung mit dem Narren39 sehr wichtig, wenn man Bachmanns Rezeption von Kafkas Werken ins Kalkül zieht. In der Forschung wurde bereits aus intertextueller Sicht die vorliegende Gedicht-
35 Vgl. Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Nachdruck. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1984, Bd. 13, Sp. 385. 36 Vgl. Eberhardt, Joachim: Bachmann und Nietzsche. In: »Über die Zeit schreiben«. 3. Literatur- und kulturwissenschaftliche Essays zum Werk Ingeborg Bachmanns. Hrsg. von Monika Albrecht/Dirk Göttsche. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 135–155. 37 Vgl. Carpi, Anna Maria: »Ich habe wie die Wilden geliebt«. Ingeborg Bachmanns poetischer Nachlass. In: Ingeborg Bachmanns Gedichte aus dem Nachlass. Eine kritische Bilanz. 2010, S. 135–141, hier S. 139. 38 Nietzsche, Friedrich: Dionysos-Dithyramben. In: Ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari. Berlin: de Gruyter 1969, 6. Abt, Bd. 3, S. 373–410, hier S. 377. 39 Wie Kurt Krolop zeigt, ist für Kafka der Narrenbegriff entscheidend, während sich im Verlauf seines Lebens aber die Bedeutung des Narren ändert. Die Narrenfigur verbindet sich schließlich mit dem literarischen Schaffen. Vgl. Krolop, Kurt: Kafkas vollkommener Narr und Goethes entsetzliches Wesen. Variationen zu zwei Tagebuchthemen. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1989.
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sammlung »Ich weiß keine bessere Welt« im Vergleich zu Kafkas Werken diskutiert.40 In den »Frankfurter Vorlesungen« zitiert Bachmann bekanntlich Kafkas Brief vom 27. Januar 1904 an Oskar Pollak. Die von Bachmann erwähnte Briefstelle lautet: »Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben. Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Das glaube ich.«41
Der Brief geht im Original aber noch weiter. Wie Kurt Krolop bemerkt,42 setzt sich Kafka im selben Brief auch mit dem Narren auseinander: »Aber Du bist ja glücklich, Dein Brief glänzt förmlich, ich glaube, Du warst früher nur infolge des schlechten Umganges unglücklich, es war ganz natürlich, im Schatten kann man sich nicht sonnen. Aber daß ich an Deinem Glück schuld bin, das glaubst Du nicht. Höchstens so: Ein Weiser, dessen Weisheit sich vor ihm selbst versteckte, kam mit einem Narren zusammen und redete ein Weilchen mit ihm, über scheinbar fernliegende Sachen. Als nun das Gespräch zu Ende war und der Narr nach Hause gehen wollte – er wohnte in einem Taubenschlag –, fällt ihm da der andere um den Hals, küßt ihn und schreit: danke, danke, danke. Warum? Die Narrheit des Narren war so groß gewesen, daß sich dem Weisen seine Weisheit zeigte.«43
Während bei Nietzsche das Verhältnis von Narr und Dichter zum Thema wird, braucht Kafka auf der persönlichen Ebene den Narren, um sich distanziert zu betrachten und selbst zu definieren. Als drittes Beispiel ist Georg Büchner zu nennen. Es ist bekannt, dass Bachmann in ihre Rede zur Verleihung des Büchner-Preises explizit dessen Erzählung »Lenz« integriert hat und auch anhand ihres Nachlasses die häufige Lektüre von 40 Beispielsweise assoziiert Anton Reininger »Meine Zelle« mit Kafkas »Das Urteil«. Vgl. Reininger, Anton: »Meine Gedichte sind mir abhanden gekommen«. Das Problem der ästhetischen Distanz in Ingeborg Bachmanns Gedichten aus dem Nachlass. In: Ingeborg Bachmanns Gedichte aus dem Nachlass. Eine kritische Bilanz. 2010, S. 57–86, hier S. 82. 41 Kafka, Franz: Briefe 1902–1924. Hrsg. von Max Brod. Frankfurt/Main: S. Fischer 1958, S. 27– 28. Bachmann hat einige Sätze, und zwar »wie Du schreibst« sowie »Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord« ausgelassen. Vgl. Bachmann, Ingeborg: Frankfurter Vorlesungen. In: Dies., Kritische Schriften. 2005, S. 253–349, hier S. 280. 42 Vgl. Krolop, Kafkas vollkommener Narr und Goethes entsetzliches Wesen. 1989, S. 8–9. 43 Kafka, Briefe 1902–1924. 1958, S. 27–28.
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Büchners Texten zu belegen ist.44 Hinzu kommt, dass es in Bachmanns Privatbibliothek mehrere Ausgaben von Büchners Werken gibt.45 Es ist hier also nicht nur ein einzelner Text Büchners bezüglich der Auseinandersetzung mit dem Narren in Erwägung zu ziehen. Beispielsweise firmiert als Motto für »Leonce und Lena« ein Satz von Shakespeare über den Narren: »O wär ich doch ein Narr! / Mein Ehrgeiz geht auf eine bunte Jacke. (Wie es euch gefällt.)«46 Auch im Gespräch zwischen Leonce und Valerio wird über den Narren reflektiert.47 Wie die Bezeichnungen »Narrenhaus« oder »Narrenturm« implizieren, verbindet sich der Narr hier mit dem Wahnsinn. Doch nicht nur die Figur Lenz in Büchners gleichnamiger Erzählung, sondern auch der Charakter Woyzeck wird in dieser Weise als Narr angesehen. In der Tat wird er im Theaterstück so bezeichnet.48 Bachmanns persönliche Erfahrung –ein Praktikum in der Nervenheilanstalt Am Steinhof – mag auch einen gewissen Einfluss auf ihre Wortwahl gehabt haben. Ihr Gedichttitel ist also auch im Rahmen der Verbindung zwischen Narr und Wahnsinn zu betrachten.
7.
Schlussfolgerung
Das Gedichtfragment »Narrenwort« schildert die Schwierigkeit mit dem lyrischen Schreiben. Im sprachlichen Bild des Steinmetzen übernimmt »Narrenwort« eine literarische Tradition dahingehend, das Wort, also die Sprache, mit dem Stein zu vergleichen. Interessant ist, dass in das Gedicht ein Bibelzitat integriert wird. Die Störung des literarischen Schreibens wird also mit der biblischen Sprachwelt in Zusammenhang gebracht. An diesem Punkt wird das Problem der Sprache als solches virulent. Konkret gesagt wird die Überlegenheit, die das Bibelzitat der Sprache zuordnet, infrage gestellt. Mit anderen Worten vertieft die Sprechinstanz das Thema – hier das Hindernis des Schreibens – und gelangt zu einer Kritik an der Sprache selbst. Bachmanns ›Schreibstörung‹ verbindet sich so mit ihrer tiefen Skepsis gegenüber der Sprache. Die auffällige Wortkombination »Gnade Morphium« sowie die in der zweiten Strophe deutlich geänderte Schreibweise fungieren anscheinend als Alternative, die diese schwierige Situation zu überwinden versucht. Das Vokabular der Me44 Vgl. Bachmann, »Todesarten«-Projekt. 2005, S. 549. 45 Vgl. ebd., S. 595. 46 Büchner, Georg: Leonce und Lena. In: Ders.: Werke und Briefe. Gesamtausgabe. Hrsg. von Fritz Bergemann. Wiesbaden: Insel 1958, S. 113–147, hier S. 115. In Bachmanns Privatbibliothek findet sich diese Ausgabe. Vgl. Bachmann, »Todesarten«-Projekt. 2005, S. 595. 47 Vgl. Büchner, Leonce und Lena. In: Ders., Werke und Briefe. 1958, S. 117. 48 Beispielsweise spricht der Soldat Andres die Hauptfigur Woyzeck mit dem Wort »Narr« an (Büchner, Georg: Woyzeck. In: ebd., S. 149–175, hier S. 164).
Ingeborg Bachmanns Gedichtfragment »Narrenwort«
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dizin, aus dem die erwähnte Wortkombination zum Teil stammt (der andere Teil ist die Sprache der Religion), ist anders beschaffen als die herkömmliche poetische Sprache, wie sie sich z. B. in der Metapher des Steins in der ersten Strophe zeigt. Die Wortgruppe in der zweiten Strophe scheint eher entfernt vom konventionellen lyrischen Schreiben und erinnert an die Worte in »Keine Delikatessen«: »[…] mit der Verzweiflung / […] / über das viele Elend, / den Krankenstand, die Lebenskosten, / werde ich auskommen.«49 Dass im Gedichtfragment dieser Wechsel der Stilart und der Syntax stattfindet, ist bedeutsam. Womöglich kann die Dynamik der Schreibweise die Schwierigkeit, mit der sich die Sprechinstanz konfrontiert sieht, durchbrechen.50
8.
Literaturverzeichnis
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49 Bachmann, Ingeborg: Keine Delikatessen. In: Dies., Werke. 1978, Bd. 1, S. 172–173, hier S. 172. 50 Ich möchte mich hier für die kontinuierliche Unterstützung von Prof. Dr. Arno Dusini, Caroline Scholzen und Laura Tezarek bedanken. Ohne ihre Hilfe hätte ich diesen Aufsatz nicht verfassen können.
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Ingeborg Bachmanns Gedichtfragment »Narrenwort«
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Schreiben als Widerstand gegen den Tod – Elias Canetti über Beruf und Berufung des Dichters
In der für sein Selbstverständnis als Autor programmatischen Rede »Der Beruf des Dichters« (1976) umkreist Elias Canetti die Frage, welche gesellschaftliche Funktion Dichtung nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, der Aushöhlung der Sprache durch die faschistische Propaganda und dem Zivilisationsbruch der Shoa noch beanspruchen kann. Den Ausgangspunkt seiner Reflexion bildet die Notiz eines anonymen Autors, der sich angesichts des Kriegsausbruchs im Jahr 1939 sein »komplette[s] Versagen« als Dichter eingesteht: »›Es ist aber alles vorüber. Wäre ich wirklich ein Dichter, ich müßte den Krieg verhindern können.‹«1 Canetti räumt ein, dass die Formulierung eines derart hohen Anspruchs an die Literatur nicht zu Unrecht im Verdacht der idealistischen, realitätsfernen »Großsprecherei« steht, »die […] einen mit Mißtrauen erfüllt«.2 Er erkennt jedoch im resignativen Eingeständnis des Scheiterns eine moralische Dimension, die seiner Einschätzung nach nicht einer kalkulierten Selbstinszenierung entspringt. In der verzweifelten Selbstanklage drückt sich für Canetti vielmehr der »irrationale Anspruch« auf »Übernahme einer fiktiven Verantwortung« für »alles in Worten Faßbare« aus.3 Dieses rational nicht begründbare Verantwortungsgefühl erwächst, so Canetti, aus der Erfahrung der »Verwandlung«,4 d. h. aus der Erfahrung einer psychophysischen Metamorphose, die den Menschen in einen gewaltfreien Austausch mit der belebten bzw. unbelebten Natur sowie mit anderen Menschen treten lässt. Der Dichter ist daher laut Canetti »Hüter der Verwandlungen […], Hüter in zwiefachem Sinn«.5 1 Canetti, Elias: Der Beruf des Dichters. München/Wien: Hanser 1995, Bd. 6, S. 360–371, hier S. 274. 2 Ebd., S. 362. 3 Ebd., S. 363. 4 Zum Begriff der Verwandlung vgl. Canetti, Elias: Masse und Macht. München/Wien: Hanser 1994, Bd. 3, S. 397–455. Zur ethischen Dimension der Verwandlung vgl. einführend Menke, Christoph: Die Kunst des Fallens. Canettis Politik der Erkenntnis. In: Einladung zur Verwandlung. Essays zu Elias Canettis Masse und Macht. Hrsg. von Michael Krüger. München/ Wien: Hanser 1995, S. 38–67. 5 Canetti, Der Beruf des Dichters. 1995, S. 364.
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Die erste Dimension seines Selbstverständnisses als Autor bezieht sich auf das Verhältnis der modernen Literatur zum »literarische[n] Erbe der Menschheit«,6 dessen Reichtum an Verwandlungen – Canetti nennt hier exemplarisch die »Metamorphosen« Ovids – zu bewahren und mit neuem Leben zu erfüllen sei. Aufbauend auf den Forschungen der Ethnologie, die die »mythischen Erfahrungen« archaischer Völker vor dem Vergessen gerettet habe, müsse der moderne Dichter deren unerschöpfliches »geistiges Erbe« wiederbeleben, damit es eine »Auferstehung zu unserem Leben« erfahren könne.7 Diese kulturbewahrende Arbeit am mythischen Erbe der Menschheit bildet für Canetti die Grundlage für die zweite Dimension seiner literarischen Praxis, nämlich für die Erfüllung der moralischen Verpflichtung des Dichters, die im abendländischen Denken vorherrschende Blindheit gegenüber den Strukturen der Macht zu bekämpfen. Da die abendländische Philosophie- und Wissenschaftstradition die paranoide Dimension der Macht nicht angemessen reflektiere, sei sie anfällig für deren menschenverachtende Logik, die ihr ideologisches Zentrum in der Verherrlichung des Todes besitze. Die Arbeit an seinem philosophischen Hauptwerk »Masse und Macht«, in dem er eine umfassende Analyse und Kritik machtförmiger Sozialstrukturen zu leisten versucht, macht Canetti bewusst, dass aufgrund der tief im menschlichen Seelenhaushalt verankerten Disposition, skrupellos Gewalt für die Absicherung des eigenen Überlebens einzusetzen, auch die entschiedenste Todesfeindschaft stets Gefahr läuft, der wahnhaften Dynamik der Macht zu verfallen (1). Daher experimentiert Canetti mit unscheinbaren, ›kleinen‹ Formen der Textproduktion, die er als ästhetische Gegengewichte zur totalisierenden Herrschaftslogik der Macht begreift. Insbesondere in Aufzeichnungen, Merk- und Tagebüchern ist, so Canetti, der identitätslogische Systematisierungszwang so weit gelockert, dass sich flüchtige Einfälle, Ideen und Gedankenspielereien, in denen sich die Lust an der Verwandlung ausdrückt, gegenüber der bewussten, auf eine bestimmte Wirkung berechneten Steuerung des Schreibprozesses behaupten können (2). In diesem von Spontaneität geprägten Schreibprozess erfahren auch Schreibblockaden und -störungen eine positive Auf- und Neubewertung. In »Wortanfällen«,8 die Canetti zum Niederschreiben sinnfreier Wortfolgen motivieren, wird der Schriftsteller zu einer Art Medium, durch das Massen von asignifikanten Zeichen fließen, die von jeglicher kommunikativen Funktion entkoppelt zu sein scheinen (3). Diese Textformen und Schreibexperimente (so verschiedenartig sie auch sein mögen) drehen sich – wie abschließend zu erläutern sein wird – allesamt um die für Canettis Werk zentrale Frage, welche Widerstandsressourcen die 6 Ebd. 7 Ebd., S. 366. 8 Zum Begriff vgl. Canetti, Elias: Wortanfälle. München/Wien: Hanser 1995, Bd. 6, S. 254–258.
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Literatur im Kampf gegen die gesellschaftliche Akzeptanz des Todes zu aktivieren vermag (4).
1.
Canettis Macht- und Erkenntniskritik
Das abendländische Denken von Aristoteles über Francis Bacon bis hin zur Moderne weist, so Canetti, aufgrund der es leitenden begriffslogischen Systematisierung und wissenschaftlichen Auflösung von vieldeutigen Mannigfaltigkeiten eine strukturelle Verwandtschaft zu hierarchischen Machtformationen auf. Die strenge Klassifizierung und empirische Kontrolle von Wahrnehmungen, Beobachtungen und Interpretationen, die das wissenschaftliche Denken seit Aristoteles prägen, dienen laut Canetti nur vordergründig der neutralen Erfassung der Wirklichkeit. Hinter den vielfältigen »Prozeduren der Verknappung, der Ausschließung und Einschließung, der endlichen Definition von Regeln und der Erweiterung der streng definierten und begrenzten empirischen Fakten«9 verberge sich vielmehr eine Herrschaftsstrategie, die mithilfe künstlicher Begriffs- und Erkenntnisbarrieren Gleichheits- und Solidaritätserfahrungen unterdrücke. Die im ersten Buch der »Politik« betriebene Legitimation der Sklaverei10 bildet für Canetti daher den ideologischen Kern des aristotelischen Erkenntnismodells. Aristoteles entwirft laut Canetti nach dem Vorbild hierarchisch strukturierter Gesellschaftsklassen bzw. -kasten ein System von spezialisierten Wissenschaftszweigen, die streng voneinander getrennt an der Einordnung und Analyse von klar definierten Forschungsobjekten arbeiten sollen: »Sein Denken ist in allererster Linie ein Abteilen. Er hat ein entwickeltes Gefühl für Stände, Plätze und Verwandtschaftsbezeichnungen, und etwas wie ein System der Stände trägt er in alles hinein, was er untersucht. Bei seinen Abteilungen ist es ihm um Gleichmäßigkeit und Sauberkeit zu tun und nicht so sehr darum, daß sie stimmen.«11 Bacon schreibt, so Canetti, diese herrschaftsaffine Konzeptualisierung 9 Friedrich, Peter: Die Rebellion der Masse im Textsystem. Die Sprache der Gegenwissenschaft in Elias Canettis »Masse und Macht.« München: Wilhelm Fink 1999, S. 12. 10 Canettis Kritik an der Sklaverei und ihrer Bedeutung für das aristotelische Denken ist inspiriert durch die Forschungen der Anthropologen Hans Günther Adler und Franz Baermann Steiner, mit denen er während der Zeit im Londoner Exil befreundet war. Zur Bedeutung Adlers und Steiners für Canettis Analyse der Macht vgl. Schüttpeltz, Erhard: Der Auszug aus Ägypten. Zum Vergleich der sozialtheoretischen Schriften von H. G. Adler, Elias Canetti und Franz Baermann Steiner. In: Literatur und Anthropologie. H. G. Adler, Elias Canetti und Franz Baermann Steiner in London. Hrsg. von Jeremy Adler/Gesa Dane. Göttingen: Wallstein 2014, S. 158–175; sowie Adler, Jeremy: »Mensch oder Masse?« H. G. Adler, Elias Canetti and the Crowd. In: Literatur und Anthropologie. H. G. Adler, Elias Canetti und Franz Baermann Steiner in London. Hrsg. von Jeremy Adler/Gesa Dane. Göttingen: Wallstein 2014, S. 176–196. 11 Canetti, Elias: Die Provinz des Menschen. München/Wien: Hanser 1993, Bd. 4, S. 7–367, hier S. 49.
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wissenschaftlicher Erkenntnis in der neuzeitlichen Philosophie fort. Bacon ist laut Canetti »ein systematischer Liebhaber der Macht«,12 der Erkenntnisprozesse in eine strenge Ordnung von Begriffshierarchien einschließt und sie auf diese Weise der grundlegenden Logik machtförmiger Institutionen unterwirft: »Es gibt zweierlei große Geister: offene und geschlossene. Er gehört zu letzteren: er liebt die Zwecke; seine Absichten sind begrenzt; immer will er etwas; und er weiß, was er will. Trieb und Bewußtsein kommen in solchen Menschen zur völligen Deckung. […] Macht in jeder Form ist es, was Bacon interessiert.«13 Canetti lässt, wie diese polemische Kritik an Aristoteles bzw. Bacon zeigt, die Eigenlogik wissenschaftlicher Forschung, also deren Bemühungen um die Herstellung überprüfbaren Wissens, in den Strukturen von Macht und Herrschaft aufgehen. Die abstrakten Erkenntnismodelle systematisch betriebener Forschung glaubt Canetti daher durch die »soziomorphen Symbole stratifikatorischer Gesellschaften abbilden«14 zu können. Die Überzeugungskraft dieser Konstruktion, in der Wissenschaft zum reinen Instrument der Macht erklärt wird, resultiert für Canetti aus der Tendenz der aristotelischen Denktradition, jede Form von Erkenntnis als Herrschaftsbeziehung zu begreifen: »[…] [D]er Gegensatz von Herrschendem und Dienendem tritt überall auf, wo etwas aus mehreren Teilen besteht und eine Einheit bildet […].«15 Canettis soziomorphe Lesart des wissenschaftlichen Denkens erkennt, wie sich zusammenfassend sagen lässt, hinter der Systematisierung und Hierarchisierung von Begriffen und Beobachtungen ein Streben nach Macht, das auf einer extremen Feindschaft gegenüber der elementaren Fähigkeit des Menschen gründet, sich seine natürliche und soziale Umwelt auf dem Weg einer gewaltfreien psychophysischen Metamorphose anzuverwandeln. Die von Aristoteles etablierte Wissenschaftstradition institutionalisiert laut Canetti »Verwandlungsverbote«,16 indem sie die körperliche und affektive Wandlungsfähigkeit des Menschen im Namen einer Pseudoobjektivität bzw. -neutralität diskreditiert: »Das Forschen als Selbstzweck, wie er es betreibt, ist nicht wirklich objektiv. Es bedeutet dem Forscher nur, sich von allem, was er unternimmt, ja nicht hinreißen zu lassen. Es schließt Begeisterung und Verwandlung des Menschen aus. Es will, daß der Körper nicht merkt, was die Fingerspitzen treiben.«17 Der Systematisierungszwang, der das wissenschaftliche Denken bestimmt, entspringt für Canetti somit weniger dem Bemühen um objektive Erkenntnis als einer machtpolitischen Dynamik, die seiner Einschätzung nach in ihrem Kern 12 13 14 15 16 17
Ebd., S. 57. Ebd. Friedrich, Die Rebellion der Masse. 1999, S. 29. Aristoteles: Politik. 4. Aufl. Hamburg: Meiner 1990 (Philosophische Bibliothek; Bd. 7), S. 9. Canetti, Masse und Macht. 1994, S. 453. Canetti, Die Provinz des Menschen. 1993, S. 48.
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eine wahnhafte Dimension aufweist. Sowohl Macht als auch Wissenschaft werden, so Canetti, vom paranoiden Wunsch angetrieben, die Vielfalt der sinnlichen »Erscheinungsformen« zu zerstören und alle Verwandlungen bei Strafe des Todes zu verbieten, um so die »Entwandlung« der fluiden Wirklichkeit zu erreichen.18 Diese paranoide Logik der Macht lässt sich laut Canetti nur durch eine von der Verwandlung beherrschten Ästhetik bekämpfen, die mit unscharfen Analogien und vagen Ähnlichkeitsbeziehungen operiert, um die hierarchische Ordnung der Macht und wissenschaftlichen Erkenntnis zu unterminieren.19 Die ethische Dimension dieses ›unsauberen‹ Erkenntnismodus, der sich gegen die Systematisierung von sinnlichen Wahrnehmungen sperrt, liegt für Canetti in der durch ihn ermöglichten »Entdeckung des Geringen«.20 Die Verwandlung stimuliere ein Gefühl des Erbarmens für dasjenige, das sich nicht der totalisierenden Logik systematischer Erkenntnis füge und daher marginalisiert und verdrängt werde: »Das Hoffnungsvolle an jedem System: was von ihm ausgeschlossen bleibt.«21 Die Ästhetik der Verwandlung und der mit ihr verbundene ethische Anspruch, die Erkenntnis aus dem Zwangssystem hierarchischer Machtstrukturen zu befreien, stehen dabei vor einer doppelten Herausforderung, die Canetti ins Zentrum seiner literarischen Praxis rückt. Erstens haben machtförmige Institutionen über Jahrtausende hinweg eine erdrückende soziale Realität geschaffen, die die Anwendung bzw. Androhung von Gewalt als etwas absolut Selbstverständliches und Natürliches erscheinen lässt. Die fehlende gesellschaftliche Ächtung des Todes lässt jede Hoffnung auf seine Überwindung als naiv erscheinen und droht daher, einem fatalistischen Einverständnis mit den monströsen Strukturen der Macht Vorschub zu leisten: »Wie sollte es keine Mörder geben, solange es dem Menschen gemäß ist zu sterben, solange er sich nicht dafür schämt, solange er den Tod in seine Institutionen eingebaut hat, als wäre er ihr sicheres, bestes und sinnvollstes Fundament? –«22 Zweitens erfordert laut Canetti die Kritik der Macht eine kaltblütige und unbarmherzige Analyse, die keine Rücksicht auf den allzu menschlichen Wunsch nimmt, die trostlose Wirklichkeit der Macht zu idealisieren. Stattdessen gilt es, so Canetti, die Macht des Todes auch in der eigenen 18 Ebd., S. 448. 19 Zur paranoiden Dimension der Macht vgl. die instruktiven Ausführungen bei Schneider, Manfred: Kritik der Paranoia. Elias Canetti und Karl Kraus. In: Der Überlebende und sein Doppel. Kulturwissenschaftliche Analysen zum Werk Elias Canettis. Hrsg. von Susanne Lüdemann. Berlin/Freiburg/Wien: Rombach 2008, S. 189–213 (Rombach Wissenschaften: Litterae; Bd. 150). 20 Canetti, Elias: Georg Büchner. München/Wien: Hanser 1995, Bd. 6, S. 311–322, hier S. 321 [Herv. im Original]. 21 Canetti, Die Provinz des Menschen. 1993, S. 320. 22 Canetti, Elias: Die Fliegenpein. Aufzeichnungen. München/Wien: Hanser 2004, Bd. 5, S. 7– 112, hier S. 54 [Herv. im Original].
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literarischen Praxis schonungslos aufzudecken. Erst auf Basis einer radikalen Selbstbefragung und -kritik lasse sich eine Ethik vorsichtig in den Blick nehmen, die dem Tod sowie den gewaltgeladenen Institutionen der Macht die gesellschaftliche Anerkennung entziehe: »Es geht mir nicht um seine Abschaffung, die nicht möglich sein soll. Es geht mir um die Ächtung des Todes.«23
2.
Schreiben als Dialog
Den Widerstand gegen den Tod als existenzielles Grundthema seines Schreibens verarbeitet Canetti im Rahmen unterschiedlichster Textsorten. Der Roman »Die Blendung«, die Dramen (insbesondere »Die Befristeten«), die Essays, Charakterskizzen und vor allem die dreibändige Autobiografie sowie das philosophische Hauptwerk »Masse und Macht« thematisieren aus verschiedenen Perspektiven die Allgegenwärtigkeit hierarchischer Machtstrukturen und menschenverachtender Ideologien der Ungleichwertigkeit, deren Legitimitätsstrategien laut Canetti auf der gesellschaftlichen Akzeptanz des Todes beruhen. Die »textuelle Diskontinuität« und »formale Heterogenität«24 seines Werkes verweisen auf Canettis Bemühen, ein ästhetisches Gegengewicht zur homogenisierenden Logik der Macht und zu ihrer paranoiden Verurteilung der von der Verwandlung generierten Vielfalt an sinnlichen Erscheinungen zu schaffen. Im Folgenden sollen anhand des Essays »Dialog mit dem grausamen Partner« drei private Formen der Textproduktion – die Aufzeichnungen, die Merk- und die Tagebücher – in den Blick genommen werden, denen Canetti auf jeweils verschiedene Weise eine machtkritische Dimension zu entlocken versucht.
2.1.
Die Aufzeichnungen
Machthaber können laut Canetti auf die Drohung des Todes sowie den Einsatz von Gewalt nicht verzichten, da ohne deren destruktive Kraft der durch die Verwandlung generierte Reichtum an sinnlichem Schein die machtstabilisierenden Strukturen hierarchischer Sozialgebilde gefährden würde. Bei seinem Versuch, diese untrennbare Beziehung von Tod und Macht umfassend und schonungslos zu analysieren, steht Canetti vor dem Dilemma, dass eine solche Analyse, wie er sie mit »Masse und Macht« zu leisten versucht, einerseits ein 23 Canetti, Elias: Das Buch gegen den Tod. Hrsg. von Sven Hanuschek/Peter von Matt/Kristian Wachinger. München/Wien: Hanser 2014, S. 186 [Herv. im Original]. 24 Görbert, Johannes: Poetik und Kulturdiagnostik. Zu Elias Canettis »Die Stimmen von Marrakesch«. St. Ingbert: Röhrig 2009 (Schriftenreihe der Elias Canetti Gesellschaft; Bd. 6), S. 12 [Herv. im Original].
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erhebliches Maß an systematischer Begriffsarbeit erfordert, dass aber andererseits die für eine fundierte Kritik notwendige Systematik auf formaler Ebene einen elementaren Mechanismus der Macht (nämlich die Diskursregulierung und -verknappung) reproduziert: »Wie kann etwas gut sein, das so vieles bewußt ausschließt.«25 Der unerbittliche Zwang der selbst »auferlegten Arbeit« droht, so Canetti, den Schreibprozess zu einem Spiegelbild der Lebens- und Menschenfeindlichkeit der Macht werden zu lassen, denn »jedes Wort, das man dort anfügt, wo man schon seit langem fortgesetzt hat, [hat] in seiner gefügigen Anpassung, seiner Servilität die Farbe einer erlaubten und banalen Hölle« (S. 144). Die zahllosen Aufzeichnungen kurzer spontaner Einfälle, die Canetti parallel zur Arbeit an »Masse und Macht« produziert, befreien ihn von der einseitigen Konzentration auf die Kritik der Macht und bewahren ihn davor, zum »Sklave[n] seiner Absicht« (ebd.) zu werden. Bei der spontanen Niederschrift kurzer Notizen kann der Schriftsteller der »Vielfalt seiner Anlagen nachgeben und wahllos verzeichnen, was ihm durch den Kopf geht« (ebd.). Die Aufzeichnungen in ihrem spontanen und häufig auch widersprüchlichen Charakter verdeutlichen »die Verwandlungsfähigkeit als Grundkategorie«26 von Canettis literarischer Praxis, indem sie ein labyrinthisches Textgeflecht produzieren, das sich der bewussten Kontrolle und Organisation durch den Autor entzieht. Der Dichter wird, so Canetti, zum »willigen Spielball seiner Einfälle« (ebd.), die aber gerade aufgrund ihrer Unkalkulierbarkeit ein starkes Freiheits- und Glücksgefühl auslösen. Der literarische Wert dieser privaten Aufzeichnungen, die ohne Absicht auf eine spätere Publikation entstehen, zeigt sich laut Canetti erst nach vielen Jahren, in denen sie ohne weitere Bearbeitung unbeachtet liegen gelassen werden. Dank dieses Verfahrens entstehe eine emotionale Distanz zu den spontan produzierten Notizen, die sie »wie von einem anderen Menschen« (ebd.) erscheinen lasse. Die Aufzeichnungen verlieren auf diese Weise ihren privaten Charakter und können »plötzlich Sinn für andere haben« (ebd.), was für Canetti ihre Publikation rechtfertigt.
2.2.
Die Merkbücher
Während sich Canettis Erläuterungen zur machtkritischen Funktion der Aufzeichnungen um die Frage drehen, inwiefern begriffslogische und argumentative Systematisierungen eine Affinität zur Logik von Macht und Herrschaft aufwei25 Canetti, Elias: Dialog mit dem grausamen Partner. München/Wien: Hanser 1995, Bd. 6, S. 142–158, hier S. 144 (Seitenangaben fortlaufend im Text). 26 Kaszynski, Stefan: Reservoire der mythischen Wortkunst. Zur Identität der aphoristischen Aufzeichnungen von Elias Canetti. In: Elias Canetti. Hrsg. von Kurt Bartsch/Gerhard Melzer. Graz: Droschl 2005 (Dossier; Bd. 25), S. 19–39, hier S. 31.
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sen, konzentrieren sich seine Reflexionen zu den Merkbüchern auf die Problematik der Zeit. Diese begreift er nicht als natürliche Dimension physikalischer Prozesse, sondern als Herrschaftsinstrument, das der Etablierung und Aufrechterhaltung hierarchischer Machtstrukturen dient. Jeder souveräne Machthaber versucht laut Canetti eine chronologische Ordnung der Zeit zu institutionalisieren, die vom Apparat seiner Bürokratie penibel überwacht und in Form standardisierter Zeiterfassungssysteme (Chroniken, Kalender) dokumentiert wird: »Man könnte sagen, daß die Ordnung der Zeit das vornehmste Attribut aller Herrschaft sei.«27 Als wichtigsten Grund für die Einführung einer geregelten Überlieferung, die mit einem Modell quantitativer, berechenbarer Einheiten operiert, führt Canetti die Koordinationsfunktion der Zeit an. Die Entstehung größerer Sozialgebilde, in denen nicht mehr wie in nomadisch lebenden Stämmen persönliche Kontakte zwischen den einzelnen Gruppenmitgliedern bestehen, geht laut Canetti mit der Etablierung abstrakter Steuerungsmechanismen wie einer standardisierten Zeiterfassung einher, die die sozialen Interaktionen von persönlicher Bekannt- oder Verwandtschaft entkoppeln. Dieser praktische Nutzen einer streng regulierten Zeitordnung werde aber durch den maßlosen Machtwunsch der Herrscher überlagert. Hinter dem Verlangen von Machthabern, ihren Namen im Kalender z. B. als Bezeichnung für einen Monat verewigt zu sehen, vermutet Canetti das paranoide Phantasma, alle anderen Menschen zu überleben: »Denn die eigentliche Absicht des wahren Machthabers ist so grotesk wie unglaublich: er will der Einzige sein. Er will alle überleben, damit ihn keiner überlebt.«28 Da sich dieses Phantasma in der Realität nicht vollständig verwirklichen lässt, versuchen Machthaber, ein kompensatorisches Ordnungssystem zu etablieren, in dem sie zumindest in symbolischer Form ihre Überlebenssucht befriedigen können. Sie streben daher, wie Canetti am Beispiel von monarchischer Herrschaft erläutert, danach, dass die Ordnung der Zeit mit ihrem Leben selbst zusammenfällt: »Sie waren die Zeit, zwischen einem und dem andern stand die Zeit still, und solche Zwischenperioden – Interregna – suchte man auf eine möglichst geringe Dauer zu beschränken.«29 Die private Aufzeichnungsform der Merkbücher entspringt nun genau diesem Bedürfnis des Menschen, sich »nach dem Vorbild der ganzen Menschheit« einen »eigenen Kalender« zu schaffen, in dessen linearer Zeitrechnung »Sicherheit und Wunsch nach langem Leben« (S. 145) zusammenfallen. Da dieser Wunsch nach einem langen Leben für Canetti untrennbar mit dem aggressiven Verlangen, andere Menschen zu überleben, verbunden ist, scheinen die Merkbücher auf den 27 Canetti, Masse und Macht. 1994, S. 471. 28 Canetti, Elias: Macht und Überleben. München/Wien: Hanser 1995, Bd. 6, S. 113–129, hier S. 122f. [Herv. im Original]. 29 Canetti, Masse und Macht. 1994, S. 473.
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ersten Blick wenig geeignet für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Macht. Canetti räumt ihnen aber dennoch eine wichtige Stellung in seiner schriftstellerischen Praxis ein, da sie in doppelter Hinsicht den Kalender von seiner Funktion befreien, die für die Reproduktion hierarchischer Sozialgebilde erforderliche Struktur der chronologischen Zeit zu dokumentieren. Erstens üben die Merkbücher laut Canetti keine vereinheitlichende Wirkung aus, da sie den Verlauf der Zeit bzw. Geschichte nicht in einem für alle Mitglieder einer Gemeinschaft gültigen Kalender zusammenfassen. Stattdessen vervielfältigen sie die Zeitrechnung, indem sie jedem Menschen eine individuelle Dokumentation seines Lebens ermöglichen: »Nun lebt niemand, der auf solche Merkbücher nicht ein Recht hätte. Jeder ist der Mittelpunkt der Welt, aber eben jeder, und nur weil die Welt von solchen Mittelpunkten voll ist, ist sie kostbar.« (S. 146) Diese Dezentrierung des Kalenders verrückt zweitens die Wahrnehmung der Zeit, die in den Merkbüchern eine qualitative Dimension erreicht. Die knappen Markierungen besonderer »Gedenktage« (S. 145), die der Erinnerung an lebensprägende Ereignisse (wichtige Begegnungen mit anderen Menschen, Geburts- und Todesfälle, inspirierende Lektüren etc.) dienen, durchbrechen die rein quantitative Anhäufung von Zeiteinheiten. Sie bilden die Keimzelle für eine Beschäftigung mit der eigenen Lebensgeschichte, auch wenn sie aufgrund ihres für Außenstehende kryptischen Charakters noch keine literarische Bedeutung besitzen. Aus diesen Ereignissen entspringt aber laut Canetti ein autobiografisches Erzählen, das nicht auf den mit der Macht verwachsenen Überlebenswunsch fixiert ist, sondern im Gegenteil Widerstand gegen den Tod leistet, indem es das eigene Leben sowie das Leben der Menschen, denen der Schreibende im Laufe seines Lebens begegnete, vor dem Vergessen bewahrt: »Keinen wollte ich überleben, und so sind sie alle in mir.«30
2.3.
Die Tagebücher
Im Essay »Dialog mit dem grausamen Partner« nehmen die Ausführungen zu den Tagebüchern den größten Raum ein, da sie – stärker noch als die Merkbücher und Aufzeichnungen – für Canetti ein unverzichtbares Instrument der Psychohygiene darstellen, ohne dessen Hilfe ihm die Arbeit an seinen literarischen und philosophischen Texten nicht möglich wäre. Als ein Mensch, der sich durch die »Heftigkeit seiner Eindrücke« auszeichnet, aber »diese Anlage nicht bekämpft, weil es ihm um das Herausheben, um die Schärfe und Konkretheit aller Dinge zu tun ist« (S. 142), benötigt Canetti die affektmildernde Schreibroutine, die ihm das Führen von Tagebüchern bietet. Die Verschriftlichung von Eindrücken, Gefühlen 30 Canetti, Das Buch gegen den Tod. 2014, S. 125 [Herv. im Original].
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und Gedanken wirkt sich, so Canetti, beruhigend aus, da die niedergeschriebenen Sätze im positiven Sinn eine Entfremdung von der Unmittelbarkeit der intensiven Erregungen erzeugen: »Der Satz ist immer ein anderes als der, der ihn schreibt. Er steht als Fremdes vor ihm, eine plötzliche feste Mauer, über die sich’s nicht springen läßt.« (Ebd.) Die ungeordnete Vielfalt der Tagebuchnotizen erschafft eine Art »Labyrinth« (ebd.), in das die unerträglichen Intensitäten eingeschlossen werden. Diese Entlastung von intensiven Affektspitzen ist jedoch laut Canetti nur von kurzer Dauer, da das Tagebuch das Chaos an Empfindungen und Gedanken nicht in Vergessenheit geraten lässt. Es stört aufgrund der konservierenden Wirkung der Schrift den »natürlichen Verklärungsprozeß einer Vergangenheit, die sich selbst überlassen bleibt, es hält einen wach und bissig« (S. 143). Auch wenn Canetti betont, dass Tagebücher (z. B. in Form von Reiseerinnerungen, wie er sie selbst mit »Die Stimmen von Marrakesch« verfasst) für die Publikation bestimmt sein können, sieht er ihre wichtigste Funktion in der Schärfung des Bewusstseins für psychische Vorgänge, die insbesondere in persönlichen Krisenzeiten von besonderem Wert sei: »Im Tagebuch spricht man zu sich selbst. Wer das nicht kann, wer eine Zuhörerschaft vor sich sieht, sei es auch eine späte, sei es eine nach seinem Tod, der fälscht.« (S. 147) Es liegt an dieser Stelle der Einwand nahe, dass auch Selbstgespräche extrem anfällig für Selbsttäuschungen und -beruhigungen sind, da ihnen der Widerstand fehlt, den ein soziales Gegenüber mit seinen Gedanken und Überzeugungen in die Kommunikation einbringt. Für Canetti stellt dieses Fehlen eines realen Gesprächspartners jedoch keinen Mangel dar, da er Tagebüchern eine dialogische Dimension zuschreibt. Sie inszenieren seiner Einschätzung nach einen Dialog mit einer virtuellen innerpsychischen Beobachterinstanz, die über eine unheimliche Entdeckungskraft verfügt. Das dialogische Gespräch findet mit einem »fiktiven Ich« (S. 148) statt, das sich mit einem Maximum an Geduld und Neugierde alle Gedanken des Autors anhört. Jedoch ist diese virtuelle Instanz »nicht nur geduldig«, sondern auch »bösartig«, da sie dem Autor »nichts durchgehen« lässt und alles »durchschaut« (S. 149). Diese Strenge des fiktiven Gesprächspartners beruht, so Canetti, auf seinem untrüglichen »Instinkt für Regungen der Macht oder der Eitelkeit«, der nie fehlgeht, da die virtuelle Instanz ja »einen durch und durch kennt« (ebd.). Die Unerbittlichkeit dieser in Bezug auf psychische Prozesse allwissenden Instanz hat für die schonungslose Selbstreflexion den »besondere[n] Vorteil«, dass sie »keine eigenen Interessen vertritt« (ebd.). Darin unterscheidet sie sich laut Canetti von der inneren Gewissensstimme bzw. dem Über-Ich, die als psychische Beobachterinstanzen moralisches Fehlverhalten sanktionieren, indem sie starke Schuldgefühle auslösen. In der Tradition Friedrich Nietzsches deutet Canetti das Gefühl der Schuld als Subjektivierung und Verinnerlichung
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von amoralischen Machtverhältnissen.31 Wer sich schuldig fühlt, idealisiert, wie Canetti in »Masse und Macht« ausführt, seine eigene Ohnmacht. Das Gefühl der Schuld diene dazu, die traumatische Erfahrung absoluter Machtlosigkeit zu verdrängen, die aus dem Ausgeliefertsein an eine überlegene Instanz resultiere: »Eine Schuld bedeutete ursprünglich, daß man in der Macht eines anderen war. Ob man sich schuldig fühlt oder als Beute, kommt im Grunde auf dasselbe hinaus.«32 Das Gewissen mit seiner gnadenlosen Verurteilung moralischen Fehlverhaltens ist, so die Pointe von Canettis Überlegungen, aufgrund dieser Beziehung von Macht und Schuld keine neutrale, interessenlose Instanz, sondern weist eine irreduzible Blindheit gegenüber seiner Herkunft aus der Ordnung der Macht auf. Das fiktive Ich, mit dem Canetti in seinen Tagebüchern einen intensiven Dialog führt, ist hingegen nicht auf die Rolle des inneren Moral- und Tugendwächters beschränkt. Es kann auch »zum scharfäugigen Tröster« (S. 150) werden, der den Autor vor überzogenen Selbstanklagen und -beschuldigungen bewahrt, ihm Mut zuspricht und mit treffendem Spott die narzisstische Dimension moralischer Selbstverurteilung entlarvt. Der virtuelle Gesprächspartner übt aber nicht nur diese relativierende Funktion aus, sondern verfügt auch über ein großes Reservoir an Rollen, in die er zu schlüpfen vermag. Er praktiziert – im Gegensatz zur lust- und illusionsfeindlichen Instanz des Gewissens – eine Ethik des Spiels, die moralischen Normen und Werten nicht ihren Ernst, aber ihre den Prozessen der Macht verwandte Starrheit nimmt: »In diesem Spiel könnte er, wenn es ihm nur gelingt, schließlich eine feinere moralische Sensibilität erlangen, als die üblichen Vorschriften der Welt sie ihm bieten. Denn diese sind darum für die meisten tot, weil sie nie spielen dürfen, ihre Starre nimmt ihnen ihr Leben« (S. 151). Diese spielerische Dimension des Dialogs mit dem »grausamen Partner« (S. 142), die das Zwanghafte moralischer Normen in produktiver Weise relativiert, macht Canetti für seine unter dem Titel »Der Ohrenzeuge« veröffentlichten Satiren fruchtbar, in denen er in der Tradition Theophrasts fünfzig Charaktere mit ihren moralischen Schwächen beschreibt, ohne dabei eine tiefergehende Analyse der Motive zu bieten, die hinter den satirisch überzeichneten Verhaltensregelmäßigkeiten liegen. »Die Schuldige« bekennt sich z. B. zu »jedem Ver-
31 Zu Canettis Rezeption von Nietzsches Moralkritik vgl. Schott, Hans-Joachim: Der unteilbare Andere. Studien zur literarischen Reflexion psychotischer Grenzerfahrungen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2020 (Konnex; Bd. 30), S. 418–421; sowie D’Angelo, Mariapia: Elias Canetti. Sein dichterisches Selbstverständnis in Konfrontation zu Friedrich Nietzsche. München: Utz 2005 (Münchner Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft; Bd. 5). 32 Canetti, Masse und Macht. 1994, S. 410.
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brechen unter der Sonne«;33 sie hält mit eisernem Willen an ihrer Überzeugung fest, eine furchtbare Schuld auf sich geladen zu haben und dafür eine harte Strafe zu verdienen. Mit Vertretern des Realitätsprinzips hat sie keine guten Erfahrungen gemacht, da diese ihre Selbstanklagen nicht gelten lassen: »Sie braucht nur den Mund zu öffnen und man hält sie für unschuldig.«34 Ihr Problem besteht im Unterschied zur Ausgangskonstellation von Kafkas »Der Prozess« nicht darin, dass sie von einer anonymen, ungreifbaren Instanz schuldig gesprochen wird, ohne sich gegen konkrete Vorwürfe zur Wehr setzen zu können, sondern dass ihr Bedürfnis nach Schuld und Strafe keine Stütze in ihrer sozialen Erfahrungswirklichkeit findet. Canetti bietet in der Charakterskizze der »Schuldige[n]«, die sehnlichst die »Strafe, die man ihr schuldet«, erwartet und sie »dankend entgegenzunehmen« beabsichtigt,35 keine (moral-)psychologische Erklärung für das befremdliche Verhalten. Er entwickelt nicht, wie dies z. B. Freud in seiner Metapsychologie zu leisten versucht,36 eine kritische Psychopathologie des Schuldgefühls, sondern hält sich an die Oberfläche der Erscheinung, um die Autodestruktivität überzogener Schuldgefühle kenntlich zu machen. Der ständige Perspektivenwechsel, den der Katalog der fünfzig Charakterskizzen bietet, steht dabei nicht im Gegensatz zur Moral. Er stellt vielmehr ein ästhetisches Verfahren dar, das – wie am Beispiel des Dialogs mit dem virtuellen Gesprächspartner in den Tagebüchern erläutert – Spiel und (Selbst-)Kritik der Moral verbindet, um die begriffliche und diskursive Analyse zu vermeiden, die Canetti einer irreduziblen Machtblindheit und -hörigkeit verdächtigt.37
33 Canetti, Elias: Der Ohrenzeuge. Fünfzig Charaktere. München/Wien: Hanser 1995, Bd. 2, S. 247–340, hier S. 274. 34 Ebd. 35 Ebd., S. 275. 36 Für Freud entspringt der Zwang des Über-Ichs manisch-depressiven Pathologien. Vgl. Freud, Sigmund: Das Ich und das Es. Hrsg. von Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey. 9. Aufl. Frankfurt/Main: S. Fischer 2001, Bd. 3, S. 273–330, hier S. 296–306. 37 Dass sich Canetti bei seiner Kritik fragwürdiger Moralzwänge am Modell von Theophrasts Charakterskizzen orientiert, ist in diesem Kontext alles andere als ein Zufall, denn Theophrast arbeitet im starken Kontrast zu Aristoteles nicht mit Motivanalysen, die die verborgenen Ursprünge von Verhaltensmustern aufzudecken versuchen, sondern hält sich an die beobachtbaren Regelmäßigkeiten menschlicher Interaktionen. Er bietet damit ein Gegenmodell zu der von Canetti kritisierten Wissenschaftstradition, die in der Nachfolge des Aristoteles die Vielfalt sinnlicher Erscheinungen durch begriffliche Systematiken zu ordnen versucht. Zu den unterschiedlichen Ansätzen der Charakteranalyse bei Aristoteles und Theophrast vgl. Diggle, James: Theophrastus: Characters. Cambridge: Cambridge University Press 2004 (Cambridge classical text and commentaries; Bd. 41), S. 5–9.
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3.
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Wortanfälle – die Präsenz der Masse in der Sprache
Die privaten Textformen der Aufzeichnungen, Merk- und Tagebücher, die Canetti ohne Absicht auf eine Publikation zur Reflexion persönlicher Erfahrungen nutzt, verhandeln (wie gezeigt) auf unterschiedliche Weise das Phänomen der Macht, das sich im Zwang zum systematischen Denken, der chronologischen Struktur der Zeit sowie der Beziehung von Ohnmacht und Schuld manifestiert. Auffällig an den drei analysierten Textformen ist, dass sich in ihnen zwar auch die Strukturen der Macht einschreiben, dass aber deren Wirkung durch die Kraft der Introspektion und Reflexion stark eingeschränkt wird. Die private Sphäre bietet dem Denken und Schreiben eine Art Schutzraum, in dem die starren, lebensfeindlichen Organisationsstrukturen der Macht eine Deaktivierung erfahren. Die Aufgabe des Dichters besteht laut Canetti in diesem Kontext darin, gesellschaftliche Prozesse, die von der Logik der Macht bestimmt werden, in die private Sphäre zu übersetzen: »Es geht um eine Art von Übersetzung des Einen ins Andere, nicht eine Übersetzung, die man sich als freies Spiel des Geistes aussucht, sondern eine, die so unaufhörlich wie notwendig ist, von den Konstellationen des äußeren Lebens erzwungen und doch mehr als Zwang.«38 Die Übersetzung des Allgemeinen ins Private ist, wie Canetti in der zitierten Passage andeutet, zwar noch vom Zwang der Macht erfüllt, geht aber über diesen hinaus und weist daher eine emanzipatorische Dimension auf. Im Unterschied zur apodiktischen Verurteilung und Kritik der Macht in »Masse und Macht« fällt daher die Beschreibung von Machtprozessen und -strukturen in seinen privaten Aufzeichnungen deutlich differenzierter aus. Während er z. B. in seinem philosophischen Hauptwerk das Geheimnis »im innersten Kern der Macht«39 verortet und entsprechend als ein elementares Instrument von Machthabern in hierarchischen Sozialgebilden identifiziert, begreift er es im Essay »Dialog mit dem grausamen Partner« als unverzichtbare Dimension der Höflichkeit, ohne die ein gesitteter zwischenmenschlicher Umgang nicht möglich wäre. Das Geheimnis deutet Canetti als sozialverträgliches Instrument der Affektregulation, denn es ermöglicht seiner Einschätzung nach die effektive Abfuhr von affektiven Erregungen, die in den sozialen Interaktionen schnell in Gewalttätigkeiten umzuschlagen drohen: »Alle die Gespräche, die man in der Wirklichkeit nie zu Ende führen, weil sie in Gewalttätigkeiten enden würden, alle die absoluten, schonungslosen, vernichtenden Worte, die man anderen oft zu sagen hätte, schlagen sich hier nieder. Hier bleiben sie geheim, denn ein Tagebuch, das nicht geheim ist, ist keines […]« (S. 151).
38 Canetti, Wortanfälle. 1995, S. 258. 39 Canetti, Masse und Macht. 1994, S. 343.
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Das Geheimnis besitzt aber nicht nur diese wertvolle Regulationsfunktion, die die sozialen Folgeschäden unkontrollierter Affektausbrüche verhindert, sondern schützt die private Sphäre auch vor den Zumutungen und dem Zugriff der Macht. Während seines durch den Nationalsozialismus erzwungenen Exils in London macht die deutsche Sprache für Canetti eine wesentliche Dimension seiner privaten Sphäre aus, da sie für ihn zu einer »Geheimsprache« avanciert, die er »nur noch für sich verwendet«.40 Dass Canetti das Deutsche als einen persönlichen Schutzraum betrachtet, in dem er seine literarischen und philosophischen Arbeiten entwickelt, ist auf den ersten Blick überraschend, da er in seiner Autobiografie das Erlernen der deutschen Sprache als traumatischen Prozess beschreibt. Als seine Mutter nach dem frühen und unerwarteten Tod ihres Ehemannes mit ihren Kindern in den deutschsprachigen Raum umzieht, treibt sie Canetti mit einer primitiven, auf Befehlen beruhenden Didaktik zur schnellen Sprachaneignung an. Sie zwang ihn »in kürzester Zeit zu einer Leistung, die über die Kräfte jedes Kindes ging«.41 Diese Lernerfahrung prägt nicht nur Canettis Bezug zur deutschen Sprache, die er als eine »unter wahrhaftigen Schmerzen eingepflanzte Muttersprache«42 begreift, sondern zur Sprache überhaupt, in der in Form von Befehlen die Drohung des Todes allgegenwärtig sei.43 Jeder Befehl etabliert laut Canetti ein hierarchisches Verhältnis zwischen Sender und Empfänger, enthält stets ein »Todesurteil und seine erbarmungslose Furchtbarkeit«,44 auch wenn die Todesdrohung in den alltäglichen sprachlichen Interaktionen selten in Reinform, sondern – wie im Fall der mit Zwang operierenden Didaktik von Canettis Mutter – gewöhnlich in abgemilderter symbolischer Form auftritt.45 Dass für Canetti trotz der traumatischen Lernerfahrungen der Gebrauch der deutschen Sprache im Londoner Exil »so selbstverständlich [ist] wie Atmen und Gehen«,46 ist der Erinnerung an seinen verstorbenen Vater geschuldet. Seine Eltern, die beide des Deutschen mächtig waren, nutzten während ihrer gemeinsamen Zeit im bulgarischen Rustschuk die für ihr Umfeld fremde, unverständliche Sprache, um sich zu verständigen: »Sie liebten sich sehr in dieser Zeit 40 Canetti, Wortanfälle. 1995, S. 254. 41 Canetti, Elias: Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. München/Wien: Hanser 1994, Bd. 7, S. 90. 42 Ebd. 43 Zu Canettis Analyse der Beziehung von Mütterlichkeit, Spracherwerb und Gewalt vgl. Fuchs, Anne: The Deeper nature of My German. Mother Tongue, Subjectivity, and the Voice of the Other in Elias Canetti’s Autobiography. In: A Companion to the Works of Elias Canetti. Hrsg. von Dagmar Lorenz. New York: Camden House 2004, S. 45–60; sowie Bollacher, Martin: »Spaniole« und »deutscher Dichter«. Elias Canettis Verhältnis zum Judentum – zur Muttersprache. In: Text+Kritik 28, 2005, S. 92–103, insbesondere S. 95–97. 44 Canetti, Masse und Macht. 1994, S. 358. 45 Zur Bedeutung des Befehls für die Aufrechterhaltung hierarchischer Sozialgebilde vgl. ebd., S. 355–393. 46 Canetti, Wortanfälle. 1995, S. 254.
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und hatten eine eigene Sprache unter sich, die ich nicht verstand, sie sprachen deutsch, die Sprache ihrer glücklichen Schulzeit in Wien.«47 Hinter dem unbarmherzigen Druck, den seine Mutter bei der Vermittlung der deutschen Sprache ausübte, stand, so Canettis Vermutung, ihr verzweifelter Wunsch, wieder einen Gesprächspartner in der untrennbar mit der Liebe zu ihrem verstorbenen Mann verbundenen Sprache zu haben: »Sie wußte sich keinen Rat, sie fühlte sich ohne ihn verloren, und versuchte so rasch wie möglich, mich an seine Stelle zu setzen. Sie erwartete sich sehr viel davon und ertrug es schwer, als ich zu Anfang ihres Unternehmens zu versagen drohte.«48 In dieser privaten Erfahrungskonstellation, in der Erinnerung, Begehren und Gewalt untrennbar ineinander verwoben sind, spiegelt sich laut Canetti die komplexe Beziehung von Sprache und Macht. Jenseits der rational rekonstruierbaren Bedeutungs- und Sinndimension sprachlich vermittelter Kommunikation existiert, so Canetti, ein »Agon von Worten, der sich unabhängig von ihrem Sinn ereignet«.49 Die Verdrängung der deutschen zugunsten der englischen Sprache, die Canetti im Londoner Exil aufgrund alltagspraktischer Anforderungen vornehmen muss, löst einen Kampf zwischen den beiden Sprachen aus, der sich in den von Canetti selbst als pathologisch empfundenen Wortanfällen entlädt: »Kein Wunder, daß sie sich manchmal rächt und einen mit Schwärmen von Worten überfällt, die isoliert bleiben, sich zu keinem Sinn zusammenfügen und deren Ansturm für andere so lächerlich wäre, daß er einen nur zu noch größerer Heimlichkeit zwingt.«50 Die deutschen Worte leisten Widerstand gegen ihre Verdrängung, indem sie sich in den Wortanfällen zu einer Masse formen. In diesem rebellischen Massenphänomen ist laut Canetti für einen kurzen Moment der Druck, der aufgrund der Exilsituation auf den Worten lastet, aufgehoben. In den vordergründig pathologisch anmutenden Wortanfällen artikuliert sich ein Protest des Schreibenden gegen eine als ungerecht empfundene Machtkonstellation, wie auch die folgende Episode aus Canettis Autobiografie verdeutlicht. Im Sommer 1925, am Tag vor seinem 20. Geburtstag, wird Canetti zum ersten Mal von einem Wortanfall überwältigt. Er schreibt in großem Tempo das Wort ›Geld‹ nieder, um das sich kurz zuvor ein heftig geführter Streit mit seiner Mutter drehte. Unter Anführung einer angeblichen finanziellen Notsituation verweigert sie ihm eine lange versprochene Reise ins Karwendelgebirge, auf der Canetti sich mit Freuds Massenpsychologie auseinanderzusetzen beabsichtigt. Der Wortanfall, in dem Canetti das verhasste Wort in großen Massen zu Papier bringt, setzt 47 48 49 50
Canetti, Die gerettete Zunge. 1994, S. 33. Ebd., S. 90. Canetti, Wortanfälle. 1995, S. 258. Ebd., S. 257.
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ein, als ihm eine weitere Diskussion aufgrund der Entschlossenheit seiner Mutter nicht mehr Erfolg versprechend erscheint. In ihm verbinden sich Wut, Enttäuschung und Trotz zu einem Affektgemisch, dessen Intensität für Canettis Mutter dermaßen erschreckend ist, dass sie – auf Anraten eines Arztes, der bei Canetti einen Ödipuskomplex diagnostiziert – dem Urlaub doch noch zustimmt.51 Wortanfälle können aber nicht nur ein Mittel sein, um eine (subjektiv) erfahrene Ungerechtigkeit zu artikulieren, sondern weisen, so Canetti, auch in literarischer Hinsicht eine produktive Dimension auf. Denn das blitzschnelle Niederschreiben von isolierten Worten, die sich zu keinem sinnerfüllten Text formen, löst nach seiner Einschätzung Denk- und Schreibblockaden auf. Es ermöglicht ein Bewusstwerden für die Einzigartigkeit von Worten, für ihre Integrität jenseits diskursiver Ordnungssysteme und Klassifizierungen: »Vielleicht sollte ich auch erwähnen, daß es mir sehr widerstrebt, Worte zu zerbrechen oder in irgendeiner Weise zu entstellen, ihre Gestalt ist für mich unantastbar, ich belasse sie intakt.«52 Die Wortanfälle löschen die Singularität der einzelnen Worte nicht in einer gesichtslosen Masse aus, sondern erzeugen eine Intensitätslandschaft, in der jedes Wort mit einer »besonderen Art von Leidenschaft geladen«53 ist.
4.
Schreiben und der Widerstand gegen den Tod
In den unwillkürlich auftretenden Wortanfällen sind zwei Triebkräfte wirksam, die laut Canetti unverzichtbare Widerstandsressourcen im Kampf gegen die gesellschaftliche Akzeptanz des Todes bilden: der nicht zu unterdrückende Wunsch nach Bildung einer Masse und ein extrem geschärftes Bewusstsein für den Wert und die Würde der einzelnen Massenelemente. Die Achtung vor der Bedeutung des einzelnen Wortes verbindet sich mit dem Drang, eine unendliche Masse aus gleichen bzw. ähnlichen Worten zu schaffen. Diese Spannung zwischen der Logik der Masse, die die Individualität ihrer Elemente auslöscht, um ein größtmögliches Maß an Gleichheit zwischen ihnen herzustellen, und dem moralisch aufgeladenen Verantwortungsgefühl für die Einzigartigkeit »unver-
51 Vgl. zu dieser Episode Canetti, Elias: Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921–1931. München/Wien: Hanser 1993, Bd. 8, S. 131–136. Zur Bedeutung dieses Konflikts mit der Mutter für Canettis Auseinandersetzung mit der Theorie des Ödipuskomplexes vgl. Pfabigan, Alfred: »Das ist gut für den Ödipus.« Anmerkungen zu Canettis »Ausbruch« am 24. Juli 1925. In: Interkulturalität und Intertextualität. Elias Canetti und Zeitgenossen. Hrsg. von Maja Razbojnikova-Frateva/Hans-Gerd Winter. Dresden: Richter 2007, S. 105–116. 52 Canetti, Wortanfälle. 1995, S. 256. 53 Ebd.
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sehrte[r] Worte«54 betrifft nicht nur eine sehr spezielle private Schreibpraxis, sondern verweist für Canetti auch auf grundlegende Entwicklungstendenzen moderner Gesellschaften, insbesondere auf deren Verhältnis zum Tod und zu hierarchischen Machtstrukturen. Die Moderne ist laut Canetti vom Triumph des den gesamten menschlichen Gefühlshaushalt beherrschenden Wunsches bestimmt, die vorhandenen Ressourcen und Güter sowie die Anzahl der Menschen ins Unendliche zu steigern. Die Entfesselung der Produktivkräfte und das exponentielle Anwachsen der Weltbevölkerung sind, so Canetti, ihrem »innersten Wesen« nach »friedlich«,55 da nach seiner Einschätzung die sich in ihnen niederschlagende »Tendenz zur Vermehrung«56 inkompatibel ist mit der Zerstörungssucht paranoider Machthaber. Die modernen Massengesellschaften unterminieren, so Canettis Hoffnung, die hierarchischen Strukturen, ohne die die Ordnung der Macht nicht aufrechterhalten werden kann, indem sie in historisch einzigartiger Weise umfassende Gleichheitserfahrungen produzieren. Diese in der Masse erlebte Gleichheit stimuliere das revolutionäre Verlangen, in einer radikalen Umkehrung die demütigenden Befehls- und Gehorsamskonstellationen, die in machtförmigen Institutionen herrschen, zu zerstören: »Eine große Zahl von Menschen schließt sich zusammen und wendet sich gegen eine Gruppe von anderen, in denen sie die Urheber aller Befehle sehen, an welchen sie seit langem getragen haben. […] Sind es Arbeiter, so kann es jeder Unternehmer sein, an Stelle derer, für die sie wirklich gearbeitet haben.«57 Wie das Zitat erkennen lässt, zeichnen sich die Protestbewegungen von Massen durch eine irreduzible Blindheit aus, da sie nicht auf der rationalen Analyse von Machtstrukturen, sondern auf affektiven Prozessen beruhen, bei denen die möglichst schnelle Entlastung von psychischen Drucksituationen im Vordergrund steht. Daher bedürfen sie laut Canetti der Ergänzung um ein Bewusstsein für den absoluten Wert des einzelnen Lebens. Dieses Bewusstsein ist seiner Einschätzung nach das wichtigste »Erbteil des Christentums – und auf etwas andere Weise auch das des Buddhismus«.58 Auch wenn die Glaubensgewissheiten der Religionen unter den Bedingungen einer postmetaphysischen Moderne an Bedeutung verlieren, so haben sie doch laut Canetti für den modernen Menschen den »Wunsch nach Unzerstörbarkeit« gerechtfertigt, sodass jeder im geschützten Raum seiner Privatsphäre »sich selbst [als] ein[en] würdige[n] Gegenstand der Klage« betrachtet.59 Die menschliche Sehnsucht nach Unsterblichkeit zu achten und sie gegen den allgegenwärtigen 54 55 56 57 58 59
Ebd. Canetti, Masse und Macht. 1994, S. 554. Ebd., S. 555. Ebd., S. 388. Ebd., S. 556. Ebd.
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Zynismus der Macht zu verteidigen, ist für Canetti kein rational begründbares Vorhaben, sondern entspringt der in verschiedenen Religionen, Mythen und Glaubenstraditionen gewachsenen und in der Moderne fortwirkenden Grundüberzeugung, dass dem Tod mit aller Entschlossenheit die gesellschaftliche Anerkennung entzogen werden muss. Die nach der Veröffentlichung von »Masse und Macht« einsetzende Beschäftigung Canettis mit Fragen des autobiografischen Schreibens lässt sich in diesem Zusammenhang als ein Versuch verstehen, das ethische Potenzial des z. B. im Christentum angelegten Erbarmens mit dem »Kleinsten«, »Naivsten« und »Ohnmächtigsten«60 in seiner literarischen Praxis zu aktualisieren, um auf diese Weise Widerstand gegen die soziale Akzeptanz des Todes zu leisten. »Das tausendfältige Leben«, das der Dichter auf dem Weg der Verwandlung in sich aufnimmt, »gibt ihm die Kraft, sich dem Tod entgegenzustellen und wird darin zu etwas allgemeinem. Es kann nicht Sache des Dichters sein, die Menschheit dem Tode auszuliefern«.61
5.
Literaturverzeichnis
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60 Canetti, Der Beruf des Dichters. 1995, S. 367. 61 Ebd., S. 371.
Schreiben als Widerstand gegen den Tod
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Carsten Gansel
Schreibblockade und Hypnose – Wie Heinrich Gerlachs Roman »Durchbruch bei Stalingrad« (1945/2016) neu entstand und zur »Verratenen Armee« wurde
1.
Einleitung
Heinrich Gerlach ist in der deutschen Öffentlichkeit seit 2016 wieder ein Begriff. Die Publikation seines bis dahin verschwunden geglaubten Romans »Durchbruch bei Stalingrad« (1945/2016) fand eine umfangreiche Rezeption, und innerhalb einer kurzen Zeit ergaben sich Übersetzungen ins Holländische, Französische und Englische. Auch die Rechte für eine Übersetzung ins Russische wurden vergeben.1 Die breite Resonanz, die der Roman erfuhr, machte den in den letzten Jahrzehnten vergessenen Autor und Zeitzeugen wieder bekannt. Das Buch hatte Heinrich Gerlach in sowjetischer Kriegsgefangenschaft im Sommer 1943, ein halbes Jahr nach der Katastrophe, begonnen, und mit dem Kriegsende am 8. Mai 1945 setzte er den Schlusspunkt. Danach war der Autor in verschiedenen Kriegsgefangenenlagern, 1949 wurde das Romanmanuskript vom sowjetischen Geheimdienst konfisziert und war bis zu seiner nach jahrzehntelanger Recherche erfolgten Wiederauffindung in einem russischen Militärarchiv verschlossen.2 1 Gerlach, Heinrich: Durchbruch bei Stalingrad. Roman. Hrsg., mit einem Nachwort und dokumentarischem Material versehen von Carsten Gansel. Berlin: Galiani 2016. Siehe die Übersetzungen: Gerlach, Heinrich: Doorbraak bij Stalingrad. Bezorg door en met een nawoord van Carsten Gansel. Amsterdam 2017; Ders.: Éclairs lointains Percée Stalingrad. Edition, postface et appareol critique par Carsten Gansel. Paris 2017; Ders.: Breakout at Stalingrad. With an Appendis bei Carsten Gansel. London 2018. 2 Das Urmanuskript wurde im Februar 2012 vom Verfasser in einem russischen Archiv wiedergefunden und in einem aufwendigen Prozess zur Edition beim Galiani Verlag (Berlin) gebracht. Siehe dazu im Weiteren ausführlich Gansel, Carsten: Nach 70 Jahren aus der Kriegsgefangenschaft zurück – Heinrich Gerlachs Roman »Durchbruch bei Stalingrad« und seine abenteuerliche Geschichte. In: Gerlach, Heinrich: Durchbruch bei Stalingrad. Roman. Hrsg., mit einem Nachwort und dokumentarischem Material versehen von Carsten Gansel. Berlin: Galiani 2016, S. 519–693. 2017 wurde dann ebenfalls Gerlachs zweiter Roman »Odyssee in Rot« bei Galiani mit einem umfangreichen Nachwort ediert. Siehe dazu Gansel, Carsten: Widerstandsheld, Vaterlandsverräter, wacher Demokrat und Zeitzeuge? – Heinrich Gerlach, seine Odyssee durch die sowjetischen Gefangenenlager und sein Schicksal in der sich neu
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Carsten Gansel
Es ist mehrfach in Beiträgen darauf verwiesen worden, dass gerade Ereignisse, die in Verbindung mit Kriegen stehen, zu einer traumatischen Störung führen können. Dies erklärt, warum der Traumabegriff in den Literatur- und Kulturwissenschaften in den letzten Jahren gerade auch dort genutzt wird, wo das Erinnern an Krieg, Holocaust, Flucht, Vertreibung oder Migration eine Rolle spielt.3 In der Psychotraumatologie sind Untersuchungen zu Traumafolgestörungen nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland – anders als in den USA – weitgehend ausgeblieben und eigentlich finden sich erst in der Gegenwart Arbeiten zu Kriegstraumatisierungen.4 Inzwischen ist erwiesen, dass das Erfahren von traumatischen Ereignissen eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) zur Folge haben kann. Das Erleben eines Traumas zieht – darüber herrscht in der Forschung Einigkeit – eine Intrusion nach sich, die sich in unwillkürlichen und belastenden Erinnerungen ausdrückt.5 Daraus entsteht ein Vermeidungsverhalten, bei dem die bedrängenden Erinnerungen abgeschaltet werden. Teilamnesien sind die Folge, wobei das Erinnerte unscharf rekonstruiert wird. Zu formierenden Bundesrepublik. In: Gerlach, Heinrich. »Odyssee in Rot. Bericht einer Irrfahrt«. Hrsg. von Carsten Gansel. Berlin: Galiani 2017, S. 691–915. Die nachfolgende Darstellung hat ihre Grundlage in den beiden Editionen sowie den Nachworten. Zudem liegt dem Beitrag ein Forschungspapier des Verfassers zugrunde, das für einen Forschungsaufenthalt an der Cornell-University im Frühjahr 2017 vorgelegt und dort mit den Kolleginnen und Kollegen diskutiert wurde. Siehe Gansel, Carsten: Kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung im (versuchten) Dialog mit den Kognitions- und Neurowissenschaften? – Drei Fallbeispiele (Cornell 2017, unv.). 3 Siehe bereits: Assmann, Aleida: Erinnerungsorte und Gedächtnislandschaften. In: Erlebnis – Gedächtnis – Sinn. Authentische und konstruierte Erinnerung. Hrsg. von Hanno Loewy/ Bernhard Moltmann. New York: Campus 1996, S. 13–29; Bohleber, Werner: Adoleszente Gewaltphänomene. Trauma, Krisen und Sackgassen in der jugendlichen Entwicklung. In: Bindung, Trauma und soziale Gewalt. Psychoanalyse, Sozial- und Neurowissenschaften im Dialog. Hrsg. von Marianne Leuzinger-Bohleber/Rolf Haubl/Micha Brumlik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, S. 121–142; Bohleber, Werner: Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse. In: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und Ihre Anwendungen 54 (2000), S. 797–839; Weigel, Sigrid: Télescopage im Unbewussten. Zum Verhältnis von Trauma, Geschichtsbegriff und Literatur. In: Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster. Hrsg. von Elisabeth Bronfen/Birgit R. Erdle/Sigrid Weigel. Köln: Böhlau 1999, S. 51–76. 4 Bode, Sabine: Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen. Stuttgart 2004; Kuwert, Philipp/Freyberger, Harald J.: Sexuelle Kriegsgewalt: Ein tabuisiertes Verbrechen und seine Folgen. Trauma & Gewalt. Forschung und Praxisfelder, H. 2, S. 10–16. Siehe auch: Boothe, Brigitte: Das Narrativ.: Biografisches Erzählen im psychotherapeutischen Prozess. Stuttgart: Schattauer 2011. 5 Siehe dazu den vom Verfasser verantworteten Band: Trauma-Erfahrungen und Störungen des ›Selbst‹. Mediale und literarische Konfigurationen lebensweltlicher Krisen. Hrsg. von Carsten Gansel. Berlin: de Gruyter 2020. Darin u. a.: Ders.: Störungen des ›Selbst‹ – Trauma-Erfahrungen und Möglichkeiten ihrer künstlerischen Konfiguration – Vorbemerkungen, S. 17–25; sowie Ders.: Das ›Trauma Stalingrad‹ verarbeiten und neu erinnern – Heinrich Gerlachs Dokumentarroman »Durchbruch bei Stalingrad« (1945/2016) und erinnerungstheoretische Aspekte, S. 171–196.
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den Vermeidungsstrategien gehört auch die Scheu, »Aktivitäten durchzuführen bzw. Orte aufzusuchen, die an das Trauma erinnern«.6 Nun ist aus der kulturwissenschaftlichen Erinnerungsforschung bekannt, dass bevorzugt das erinnert wird, was das eigene Selbst stärkt, anderes wird nicht erinnert, verzerrt, umgebaut oder vergessen. Dies hängt damit zusammen, dass Personen darauf aus sind bzw. darauf aus sein müssen, vergangene Erfahrungen in ein sinnstiftendes Verhältnis zur jeweiligen Gegenwart zu setzen, weil es nur dann möglich wird, das Ich zu stärken. Wenn es dem erinnernden Ich nicht gelingt, seine Erinnerungen sinnstiftend an gegenwärtige persönliche oder gesellschaftliche Bedingungen, Bedürfnisse, Werte und Normen anzukoppeln, kann die eigene Identität in Frage gestellt sein, ihre Stabilität und Kohärenz werden untergraben.7 Hinzu kommt die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit, das erfahrene Trauma narrativ zu konfigurieren. »Eine im klinischen Sinne traumatisierte Person«, so die Forschung, »kann nicht über eine traumatische Erfahrung berichten. Sie ist noch nicht aus der traumatischen Szene heraus getreten; es hat, im wörtlichen Sinn keine Ex-Position stattgefunden. Die Person selbst ist vielmehr das Trauma. Eine räumliche Verortung und zeitliche ›Vergeschichtlichung‹ hat nicht stattgefunden«.8
Traumatisierte Menschen haben daher große Schwierigkeiten, sich auf einen »narrativen Prozess einzulassen«, weil die Erinnerungen ihnen schlichtweg »nicht als Geschichten zugänglich sind«.9 Dies stellt auch Cathy Caruth in kulturwissenschaftlicher Perspektive heraus.10 Klaus Latzel, darauf ist mehrfach hingewiesen worden, hat dieses ›Unvermögen‹ zur Narration in einer Untersuchung von Feldpostbriefen deutscher Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg festgehalten und herausgestellt, dass die Dimension des Erlebten das übersteigt, was der Einzelne zu verarbeiten in der Lage ist. Die Folge sei, dass solche Er6 Maercker, Andreas (Hrsg.): Symptomatik, Klassifikation, Epidemiologie. In: Posttraumatische Belastungsstörungen. Hrsg. von Andreas Maercker. Vollständig überarb. u. aktual. Aufl. Heidelberg: Springer 2013, S. 13–34, hier S. 14, 17. 7 Siehe Neumann, Birgit: Erinnerung, Identität, Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer »Fictions of Memory«. Berlin u. a.: de Gruyter 2005. 8 Neuner, Frank u. a.: Narrative Exposition. In: Posttraumatische Belastungsstörungen. Hrsg. von Andreas Maercker. Vollständig überarb. u. aktual. Aufl. Heidelberg: Springer 2013, S. 327–350, hier S. 329. 9 Ebd., S. 328. Narrationen werden in der klinischen Traumataforschung verstanden als »bilderreiche, anschauliche, gefühlsmäßig packende Erzählungen, die innere Zusammenhänge des Ablaufs der Ereignisse nachvollziehen. Dazu werden die verfügbaren Informationen aus dem autobiographischen Gedächtnis abgerufen, also die Antwort auf das ›Wann‹ und ›Wo‹« (ebd.). 10 Siehe Caruth, Cathy: Unclaimed Experiences. Trauma, Narrative and History. Baltimore: Johns Hopkins University Press 1996; sowie Dies.: Trauma. Explorations in Memory. Baltimore: Johns Hopkins University Press 1995; Caruth, Cathy: Trauma and Experience. Introduction. In: Caruth, Cathy: Trauma. Explorations in Memory. Baltimore: Johns Hopkins University Press 1995, S. 3–12.
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Carsten Gansel
lebnisse als »unbearbeiteter Rohstoff durch das Gedächtnis« geistern.11 Was Latzel hier beschreibt, betrifft in besonderer Weise die Stalingradkatastrophe, die vielfach zum Gegenstand des Erzählens in einer bestimmten Färbung wurde.12 Die historischen Fakten sind bekannt: Von den 300.000 Soldaten der 6. Armee kommen 91.000 in Gefangenschaft und nur 6.000 von ihnen werden Jahre später nach Deutschland zurückkehren. Es handelt sich hier zweifellos um traumatische Ereignisse, die zu einer Störung des Selbst führen und mit ihren grausamen Details nur schwer narrativ zu konfigurieren sind. Darum soll es nachfolgend am Beispiel des Stalingradromans von Heinrich Gerlach »Durchbruch bei Stalingrad« gehen.13
2.
Heinrich Gerlach und das Trauma Stalingrad erinnern und erzählen – die Schreibblockade
Von den Folgen, die Klaus Latzel beschreibt, war auch der Autor Heinrich Gerlach betroffen. Rückblick: Er kommt zunächst schwer verwundet in das erste Lager nach Beketowka. Über weitere Stationen gelangt Gerlach schließlich in das Speziallager 27 in Lunjowo bei Moskau. Hier gehört er im September 1943 zu den Gründungsmitgliedern des Bundes Deutscher Offiziere (BDO), der sich mit dem Nationalkomitee »Freies Deutschland« zusammenschließt. Heinrich Gerlachs Engagement im BDO kann nicht verhindern, dass ihm immer wieder die traumatischen Erlebnisse der Katastrophe von Stalingrad vor Augen stehen. Er sieht eine Chance, sich vom Trauma zu befreien: im Schreiben! Gerlach ist mithin in der Lage, sich auf einen narrativen Prozess einzulassen. Er beginnt mit Tagebuchnotizen, kommt aber damit nicht voran, weil sich das Geschehen verdichtet, ja in zunehmendem Abstand an Monstrosität gewinnt und sich die Dringlichkeit 11 Latzel, Klaus: Vom Kriegserlebnis zur Kriegserfahrung: Theoretische und methodische Überlegungen zur erfahrungsgeschichtlichen Untersuchung von Feldpostbriefen. In: MGM 56/1997, S. 1–30, hier S. 14f. Siehe dazu Gansel, Carsten: Zwischen Störung und Affirmation? Zur Rhetorik der Erinnerung im Werk von Günter Grass. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie, Sonderheft. Berlin: Erich Schmidt 2012, S. 173–198. 12 Siehe Ächtler, Norman: Generation in Kesseln. Das Soldatische Opfernarrativ im westdeutschen Kriegsroman 1945–1960. Göttingen: Wallstein 2013. 13 Zu Fragen der ›Kategorie Störung‹ siehe Gansel, Carsten: Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ›Störung‹ – Möglichkeiten der Anwendung für Analysen des Handlungs- und Symbolsystems Literatur. In: Das ›Prinzip Störung‹ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Hrsg. von Carsten Gansel/Norman Ächtler. Berlin/New York: de Gruyter 2013, S. 31–56; Ders.: Erinnerung, Aufstörung und »blinde Flecken« im Werk von Christa Wolf. In: Christa Wolf – Im Strom der Erinnerung. Hrsg. von Carsten Gansel. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, S. 15–42; Ders.: Zur ›Kategorie Störung‹ in Kunst und Literatur – Theorie und Praxis. In: Störungen in Literatur und Medien. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, H. 4/2014. Hrsg. von Carsten Gansel. Göttingen 2014, S. 315–332.
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der Verarbeitung der Erlebnisse zudem ständig steigert. Gerlach entscheidet sich daher im Herbst des Jahres 1943, von den tagebuchartigen Einträgen auf die epische Form zu wechseln und auf diese Weise weiterzuerzählen. Dazu braucht er nicht nur Figuren, sondern auch Schauplätze sowie eine zeitliche Abfolge der Ereignisse. Das alles hat Gerlach bereits, denn mit Stalingrad und der Zerschlagung der 6. Armee ist die ›histoire‹, das ›Was‹ der Darstellung, in gewisser Weise vorgegeben. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai 1945 setzt er den Schlusspunkt unter seinen Stalingradroman, für den er nur ca. 18 Monate benötigt hat. Im November 1945, der Zweite Weltkrieg ist seit sechs Monaten beendet, kommt es auf Befehl von Stalin zur Auflösung des BDO und des Nationalkomitees »Freies Deutschland«. Für Gerlach beginnt eine Odyssee durch verschiedene Gefangenenlager; sein dickes Manuskript, das mit Schusterzwirn zusammengebunden ist, versteckt er dabei im Rucksack und kann es so vor dem Zugriff des sowjetischen Geheimdienstes bewahren. In freien Minuten arbeitet er im Geheimen weiter daran: Er streicht, verbessert und ergänzt die Darstellung (Abb. 1).
Abb. 1: Zwei Manuskriptseiten der Urfassung mit handschriftlichen Korrekturen (S. 20/21).
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Doch im Mai 1949 wird das 614 Seiten starke Manuskript vom sowjetischen Geheimdienst beschlagnahmt; alle Versuche, das Romanmanuskript zurückzuerhalten, scheitern. Als Heinrich Gerlach dann endlich am 22. April 1950 aus der Gefangenschaft entlassen wird, kommt er ohne das Manuskript auf dem Schlesischen Bahnhof in Berlin an. Die bewegende Episode bildet den Abschluss von Heinrich Gerlachs zweitem Roman »Odyssee in Rot«. Nach fast 11 Jahren sieht der Autor endlich seine Frau und seine Kinder wieder: »Langsam stieg er die Treppe hinauf zur Sperre. Auf der Schulter den Luftwaffenrucksack […]. Die Beine wurden ihm schwerer und schwerer. Da war die Sperre. Darüber die große Bahnhofsuhr. Und dahinter, in den Winkel an den Schaltern gedrückt wie in Furcht, eine Frau … Breuer ging auf die Frau zu. Ein Junge stand neben ihr, so groß wie sie selbst. Eine Kinderzeichnung, Baum und Haus, und zwei gelbe Sonnen darüber. Zwei Sonnen, die einen Bunker von Stalingrad erhellten … ›Er wird eingesegnet‹, sagte Irmgard und drückte den Jungen an sich. ›Morgen wird er doch eingesegnet!‹ Und nun weinte sie. Es war 23 Uhr 04 …«14
Heinrich Gerlachs Tochter, Dorothee Wagner, hat später bestätigt, dass sich das Geschehen bei der Rückkehr des Vaters genauso abgespielt hat.15 Ab Sommer 1951 – Heinrich Gerlach wohnt mittlerweile mit seiner Familie in Brake bei Bremen – macht er sich an die Rekonstruktion seines Stalingradromans. Doch er hat das, was man einen »writers block« nennt. Er schafft es weder, das Manuskript zu erinnern, noch, die »episodischen Erinnerungen« um Stalingrad aufzurufen. Die Verbindung zwischen »subjektiver Zeit, autonoetischem Bewusstsein und dem sich erfahrenden Selbst« kommt nicht zustande. In dieser Situation stößt Gerlach auf eine Reportage in der »Quick« vom 13. Oktober 1950. Sie stammt von dem Münchner Arzt Dr. Karl Schmitz und trägt den Titel »Der unbewußte Auftrag«. Schmitz schildert hier Möglichkeiten, über Hypnose verschüttete Erinnerungen hervorzuholen.16 Mit dem Beitrag ist Gerlachs Hoffnung geweckt, vielleicht doch noch seinen verlorenen Kriegsroman erinnern zu können. Entsprechend wendet sich Gerlach im Januar 1951 an Dr. Schmitz mit der Anfrage, ob der ihm bei der Wiederherstellung seines Romans helfen könne. Dabei schildert er in einem Brief die Situation, die jeweils eintritt, wenn er versuche, den Text zu erinnern: »Ich habe mich an den Versuch einer Rekonstruktion gemacht, aber auch dieser Versuch ist fehlgeschlagen. Bei jedem Versuch schiebt es sich wie ein Schleier davor. Es geht nicht! Bis auf einen Abschnitt, der mir besonders am Herzen lag, die Schilderung des
14 Gerlach, Heinrich: Odyssee in Rot. Hrsg., mit einem Nachwort und dokumentarischem Material versehen von Carsten Gansel. Berlin: Galiani 2017, S. 684. 15 Gansel, Carsten: Gespräch mit Dorothee Wagner und Ingeborg Gerlach, der Schwiegertochter von Heinrich Gerlach, im August 2012. 16 Der unbewusste Auftrag. In: Quick vom 13. 10. 1950, S. 1429–1432.
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Weihnachtsabends 1942. Diesen Abschnitt konnte ich in den Weihnachtstagen des vorigen Jahres (1950) in starker Gemütsbewegung in einer halben Stunde ohne jede Korrektur niederschreiben.«17
Heinrich Gerlach fragt nun bei Schmitz nach, ob der es für möglich halte, »einen ›Bewußtseinsinhalt‹ [,] wie den geschilderten auf hypnotischem Wege so lebendig werden zu lassen, daß man ihn niederschreiben kann«.18 Schmitz hat sofort großes Interesse an einer Therapie von Gerlach. Sein Buch »Was ist – was kann – was nützt Hypnose«? steht kurz vor der Veröffentlichung, und er sieht die Möglichkeit, mit einem spektakulären Experiment für die Hypnose als Heilmethode zu werben.19 Nachdem Sigmund Freud die Hypnose als therapeutisches Verfahren verworfen hatte, begann sie in Deutschland Anfang der 1950er Jahre gerade erst wieder populär zu werden. Gleichwohl warnt Schmitz Gerlach davor, zu große Hoffnungen zu haben. Es handle sich hier um ein »großes hypnotisches Experiment«. Er sehe aber durchaus eine Möglichkeit, »die Erlebnisse [,] vielleicht vollständig wiedererleben zu lassen«, und von daher würde er den Versuch wagen.20 Da Heinrich Gerlach zu diesem Zeitpunkt über keine hinreichenden finanziellen Mittel verfügt, kommen beide auf die Idee, die Illustrierte »Quick« für das Vorhaben zu gewinnen und ihr die Geschichte gewissermaßen exklusiv zu verkaufen. Der Plan geht auf und die Illustrierte finanziert sowohl die Reise, als auch den Aufenthalt in München. Dort trifft Heinrich Gerlach am 15. Juli 1951 ein, er geht sofort in das Verlagshaus der »Quick« und unterzeichnet einen vorbereiteten Vertrag, der folgende Klausel enthält: »Sie unterziehen sich einer Behandlung durch den Münchener Arzt Dr. K. Schmitz, Jahnstr. 20, mit dem Ziel, die Möglichkeit zur Rekonstruktion des von Ihnen genannten Manuskripts zu erlangen … Der Umfang, in dem wir uns Herrn Dr. Schmitz gegenüber verpflichten werden, unterliegt allein unserer Entscheidung …«21
Jahre später erinnert sich Heinrich Gerlach daran, dass er 1951 das Angebot der »Quick« als eine für alle Beteiligten einmalige Gelegenheit angesehen hatte:
17 Dieses Zitat aus dem Brief von Heinrich Gerlach stammt aus einem Vortrag, den Karl Schmitz zehn Jahre später vor der deutschen Sektion der internationalen Gesellschaft für ärztliche Hypnose in Lindau (03. 05. 1962) gehalten hat und der dann infolge der Tagung veröffentlicht wurde. Der Beitrag gibt einen guten Einblick in den Ablauf der Therapiesitzungen. Siehe Schmitz, Karl: Hypnose und schriftstellerisches Schaffen. Bericht über die Wiedererinnerung eines Romans. In: Praxis der Psychotherapie, 8. Jg., 1963, S. 82–88. 18 Ebd., S. 83. 19 Siehe Schmitz, Karl: Was ist – was kann – was nützt Hypnose? Der Weg zur inneren Freiheit aus Experimenten, Erfahrungen und menschlichen Dokumenten. München: J. F. Lehmanns 1951. 20 Schmitz, Hypnose und schriftstellerisches Schaffen. 1963, S. 83. 21 Schrieb er ›Stalingrad‹ in Hypnose? In: Frankfurter Illustrierte vom 15. 03. 1958, S. 2–3, S. 38– 47, hier S. 39.
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»Im ganzen empfand ich diesen Vertrag als gerecht und vorteilhaft für [die] Beteiligten. Die Illustrierte konnte in jedem Fall mit einem interessanten Bericht rechnen. Dr. Schmitz würde das gewiß nicht geringe Honorar für Behandlung und späteren Bericht erhalten (er hat von der Illustrierten 1750 DM bekommen), und außerdem war für ihn die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Auswertung des Experiments gegeben. Und mir verblieb die Hoffnung, vielleicht auf diesem Wege mein Manuskript schnell wiederzugewinnen.«22
In einer Aufsehen erregenden und groß aufgemachten Reportage berichtet die »Quick« dann über das Experiment. Am 26. August 1951 erscheint der Sensationsbericht. Die Schlagzeile, die sich den Lesern in großen Lettern darbietet, lautet: »Ich weiß wieder, was war …«. Der Untertitel lüftet dann das sensationelle Geheimnis: »Rußland-Heimkehrer erhält durch Hypnose-Behandlung sein Gedächtnis zurück«.23 Eingeführt wird die Reportage mit dem Verweis auf die Gefangennahme bei Stalingrad, die Odyssee durch Gefangenenlager und das Verwischen der Erinnerungen an diese traumatisierende Zeit: »Im achten Jahr seiner Gefangennahme bei Stalingrad, nach Jahren in russischen Kriegsgefangenenlagern, die ihn zermürbt haben, kehrt er in seine Heimat an der Weser zurück. Wie ein grauer Schleier sind ihm die Jahre der Gefangenschaft, immer undeutlicher verschwimmen die Bilder. Ineinander gleiten die Ereignisse, die Jahre, die Landschaften. Verwischen sich. Wie war es doch? Er weiß es nicht mehr. Da erreicht ihn der Brief eines Kameraden, in dem von einem Manuskript die Rede ist, das er von Gerlach bei seiner Entlassung mitbekommen hat. Er habe es der Frau des Kameraden nicht übergeben können. An der Grenze sei ihm der Roman, ein Packen Blätter von ein paar Hundert Seiten, abgenommen worden. Gerlach erinnert sich. Ja – ein Manuskript über die Tage von Stalingrad. Er hat es sich in der Gefangenschaft von der Seele geschrieben. Aber wie war das alles?«24 (Abb. 2)
Freilich war es nicht so, dass Gerlach seine Jahre in der Gefangenschaft oder gar die Existenz seines Stalingradromans vergessen hatte. Zum Experiment selbst vermeldet die Reportage Folgendes: »Auf die Einladung von Quick kommt er [Gerlach – C. G.] nach München, und in dreiwöchiger Behandlung (Bild oben) vollzieht sich das Wunder: Die Jahre, die in den Abgrund des Vergessens gesunken sind, tauchen wieder auf. In erregten Ausbrüchen, die der Arzt oder seine Assistentin mitschreiben, in ersten eigenen Aufzeichnungen, die Gerlach im Hypnosezustand selbst aufs Papier kritzelt, kehren die Erlebnisse zurück, zum zweitenmal entstehen einzelne Szenen und Kapitel des Romans. Über die dunkle Schlucht verlorener Jahre spannt sich von neuem die Brücke des Bewußtseins. Nach drei
22 Ebd., S. 39f. 23 Ich weiß wieder, was war … Rußland-Heimkehrer erhält durch Hypnose-Behandlung sein Gedächtnis zurück. In: Quick vom 26. 08. 1951, S. 1109–1111, 1131, hier S. 1109. 24 Ebd.
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Abb. 2: Reportage aus der Illustrierten »Quick«: Aufmacher der ersten Seite mit Fotos, die Dr. Schmitz und Heinrich Gerlach während der Hypnosesitzung zeigen.
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Abb. 3: Reportage aus der Illustrierten »Quick«: Seite Zwei mit Fotos, die Dr. Schmitz, seine Sekretärin und Heinrich Gerlach während der Hypnosesitzung zeigen.
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Wochen kehrt Heinrich Gerlach in seine Heimat zurück und schreibt sich nun zum andernmal die Erlebnisse von Stalingrad von der Seele.«25
3.
Heinrich Gerlachs Schreibblockade und die Hypnose
Es soll nun an dieser Stelle genauer auf den Vorgang des Entstehens der Neufassung in den Jahren 1951 bis 1956 eingegangen werden, bei dem das Hypnoseexperiment eine entscheidende Rolle spielte und zu neurophysiologischen Fragestellungen führte, die bis heute nicht geklärt sind. Nicht zuletzt ist der Zusammenhang zwischen Hypnose und Erinnerung aufgerufen, und es geht um den Prozess des Einspeicherns von Ereignissen im Gedächtnis und ihren Abruf. Heinrich Gerlach setzt nach seiner Rückkehr große Hoffnungen auf die Hypnose. »Damit glaubte ich mein beschlagnahmtes Manuskript rekonstruieren zu können und der Arzt Dr. Schmitz bejahte die Möglichkeit, daß ich jede einzelne Seite des Manuskriptes wieder sehen und abschreiben könne«, so seine Einlassung. Letztlich erweist sich diese Hoffnung als trügerisch und Gerlach resümiert: »Nur ein einziges Mal aber wurde dieses Ziel erreicht. In der Sitzung vom 29. Juli 1951 sah ich eine Textstelle genau vor mir und konnte sie abschreiben. Es waren etwa zehn Zeilen. Sonst aber kamen während der Hypnose nur Stichworte zusammen, die mitgeschrieben wurden. Aus diesen Mosaiksteinchen konnte ich später mühsam etwa 150 Seiten meines Manuskriptes gestalten.«26
Es bleibt die Frage, ob und wie nun die Rekonstruktion des Romans mithilfe der Hypnose funktionierte und was die Ergebnisse waren. Die Problematik, warum Gerlach nicht in der Lage war, die Ereignisse um Stalingrad erneut zu erinnern, hängt mit dem Erlebten zusammen und führt auf das, was bereits als posttraumatische Belastungsstörung gefasst war. Gleichwohl ist er fähig, die traumatischen Erlebnisse von Stalingrad in eine romanhafte Form zu überführen, mithin narrativ zu konfigurieren und zu »bearbeiten«. Anders gesagt: Gerlach gestaltet die Ereignisse und bringt sie in eine für ihn »erträgliche« Form. Der Akt des Aufschreibens bzw. Konfigurierens hat dann aber zur Folge, dass Gerlach die »erinnernde Verfügbarkeit« über die bearbeiteten Lebensteile verliert. Die literarische Darstellung erfüllt insofern eine psychische Heilungsaufgabe, sie fungiert im Sinne einer »Deckerinnerung« und verdrängt die Primärerfahrungen bzw. Urerlebnisse. Doch Gerlach weiß, dass er von Stalingrad »niemals loskommen würde«. Der Bericht über die Ereignisse schien ihm die »Aufgabe zu sein«, um derentwillen er »noch einmal davon gekommen war«.27 Gerlach wird 25 Ebd., S. 1429. 26 Schrieb er ›Stalingrad‹ in Hypnose? 1958, S. 3. 27 Ebd.
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sich darüber klar, dass es nur einen Weg gibt; er steht vor der Aufgabe, das »614 Seiten starke Manuskript noch einmal zu schreiben«.28 Weihnachten 1950 beginnt er mit dem Versuch: »In den Weihnachtstagen 1950 rekonstruierte ich die Weihnachtsszene im Dubinskij-Bunker, die mir ganz besonders am Herzen lag, fast im genauen Wortlaut der alten Fassung.«29 Da Gerlach nicht mit der Urfassung vergleichen konnte, stellt sich die Frage, wie er sich dessen sicher sein konnte. Aber unabhängig davon wird mit Blick auf die Neurophysiologie klar, dass es leichter gelingt, Gedächtnisinhalte abzurufen bzw. zu rekonstruieren, wenn man sich in einem spezifischen emotionalen Zustand befindet.30 In diesem Fall hat die Atmosphäre des Weihnachtsfestes eine emotionale Bewegtheit produziert. Dass das Erinnern besonders gut funktioniert, hängt auch damit zusammen, dass der »Zustand während des Abspeicherns dem während des Abrufs nahekommt«.31 Die Forschung spricht vom zustandsabhängigen Gedächtnis. Gerlach gelingt es also, die Weihnachtsepisode aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren. Gleichzeitig ist dieser Abruf »von einer schweren seelischen Erschütterung [begleitet]. Mir graute davor, mir das Buch noch einmal in dieser Weise abringen zu müssen«.32 Man wird – in der Terminologie der Neurophysiologie – davon ausgehen können, dass die erhöhte Stresssituation, in die sich Gerlach durch die Erinnerung versetzte, zu einem verstärkten Ausstoß von Stresshormonen führte (Glucocorticoide), die dann die Regionen der Amygdala und des Hippocampus blockierten und weiteres Erinnern zunächst unmöglich machten. Aus diesen Gründen war es durchaus ein Weg, über die Hypnose die Blockade zu lösen, da es dabei darum ging, einen »höchst fokussierten und vertieften geistigen Zustand« hervorzurufen, der die »Ablenkung durch konkurrierende Gedanken und Empfindungen minimiert«.33 Man spricht von einer »Hypnotic suggestion«. Die Hypnose bedient sich dabei der »starken Wirkung von Aufmerksamkeit und Suggestion«, um eine »breite Vielfalt von subjektiv als zwin-
28 Ebd. 29 Ebd. 30 Diese Erkenntnisse finden sich bereits bei Richard Semon Anfang des 20. Jahrhunderts. Siehe Ders.: Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens. Leipzig: Wilhelm Engelmann 1904. Siehe dazu auch Markowitsch, Hans J./Staniloiu, Angelica: Neurophysiologie und Hirnbildung des mnestischen Blockadesyndroms. In: Narrative Bewältigung von Trauma und Verlust. Hrsg. von Carl Eduard Scheidt u. a. Stuttgart: Schattauer 2015, S. 52–63. 31 Markowitsch, Hans J./Staniloiu, Angelica: Neurophysiologie und Hirnbildung des mnestischen Blockadesyndroms. In: Narrative Bewältigung von Trauma und Verlust. Hrsg. von Carl Eduard Scheidt u. a. Stuttgart: Schattauer 2015, S. 52–63, hier S. 54. 32 Schrieb er ›Stalingrad‹ in Hypnose? 1958, S. 38. 33 Oakley, David A./Halligan, Peter W.: Hypnotic suggestion: Opportunities for cognitive neuroscience. In: Trends in Cognitive Sciences, Vol. 13, No. 6, S. 264–270, hier S. 264.
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gend empfundenen Erfahrungen und Verhaltensweisen zu erzeugen, zu verändern und zu verstärken«.34 Wie lief nun der Vorgang des Wiedererinnerns ab? 1. Um einen Einstieg zu finden, gab Schmitz in einer ersten Hypnose Gerlach zunächst den Impuls, den Beginn des ersten Kapitels »zu schauen«, also direkt das Manuskript zu erinnern. Während der Hypnose brachte Gerlach nur einen einzigen Satz zu Papier, noch dazu in einer kläglichen und kaum leserlichen Schrift. Nach dem Aufwecken aus der Hypnose mit dem Ergebnis konfrontiert, erinnerte er sich daran, dass dieser Satz die erste Fassung des Romananfangs gewesen sei, die etwa im Sommer 1943 entstand, dann aber mehrfach überarbeitet wurde. Der Satz lautet: »In der Gegend zwischen Wolga und Don hatte der Winter seine Spähtrupps vorausgesandt. Ein schneeloser Frost hatte die Wege …«35 2. Das Resultat zeigt, dass es mit dieser Methode unmöglich sein dürfte, ein Manuskript von mehr als 600 Seiten wiederherzustellen. Schmitz versuchte daher, seine Versuchsperson, Gerlach, jeweils in eine hypnotische Versenkung zu bringen und »die Erlebnisse des Winters 42/43 nach und nach in der Hypnose wiederleben zu lassen«.36 Dies bedeutet, nicht das Manuskript und seine Seiten wurden erinnert, sondern zunächst die Wirklichkeit in Stalingrad. Auf das erinnerte Ereignis wurde in der nächsten Sitzung zurückgegriffen. Auf diese Weise sollte der »weitere Handlungsverlauf suggestiv lebendig gemacht werden«. Dabei wurde Gerlach jeweils nach zehn Minuten der Hypnose aufgeweckt. Er war dann in der Lage, das Erinnerte bis zu einem Punkt wiederzugeben, an dem die Erinnerung abbrach. Danach wurde Gerlach erneut in einen hypnotischen Zustand gebracht. 3. Die Sitzungen, die jeweils etwa zweieinhalb Stunden dauerten, lieferten auf diese Weise eine Reihe von Fortsetzungen, die von Dr. Schmitz’ Sekretärin mitstenografiert wurden. Dabei handelte es sich keineswegs um eine durchgestaltete Erzählform, es waren »mehr Stichworte mit Überschneidungen, manchmal mit Rückgriff auf frühere Szenen«. Schmitz selbst schätzt ein, dass es »alles andere als ein fertiges Manuskript war«, was auf diese Weise entstand, sondern »nur der wiederbelebte Rohstoff zu einem solchen«. In den 23 Sitzungen war mithin »Erlebnismaterial angehäuft« worden. Wichtig ist der 34 Ebd. 35 Schmitz, Karl: Heilung durch Hypnose. München: Lehnen Verlag 1957, S. 37. In der Urfassung des Romans, die vielfach überarbeitet wurde, heißt es dagegen: »In der Steppe zwischen Wolga und Don hatte der Winter seine Spähtrupps vorausgesandt. Die ungewöhnliche Wärme der ersten Novembertage war um den 6. herum einem schneelosen Frost gewichen, der den Schlamm der endlosen Wege in Asphalt verwandelt hatte« (Gerlach, Heinrich: Durchbruch bei Stalingrad. Roman. Hrsg., mit einem Nachwort und dokumentarischem Material versehen von Carsten Gansel. Berlin: Galiani 2016, S. 11). 36 Schmitz, Hypnose und schriftstellerisches Schaffen. 1963, S. 82–88, hier S. 84.
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folgende Hinweis des Psychiaters: »Dieser Stoff war nun schriftstellerisch zu verarbeiten.«37 Heinrich Gerlach selbst fasst seine Beobachtungen während der Hypnose zwei Tage vor dem Ende des Experiments am 28. Juli 1951 zusammen: »Zu Beginn der Versuche war ich voller Zweifel. Diese Zweifel traten in der Versenkung in Erscheinung in Form von Gedankenfetzen, die seitlich als farbige Blitze in die Bewußtlosigkeit hineinflackerten, einmal auch in Gestalt eines kichernden Kobolds, der vom Hinterkopf her rief: ›Ätsch, es ist ja alles Quatsch!‹ – Während der Versenkung bin ich im Zustand einer Bewußtseinsspaltung. Ich weiß, daß ich bei Dr. Schmitz sitze und daß er auf mich einredet, zugleich aber erlebe ich mich in der jeweils durch die Hypnose herbeigeführten Situation der Vergangenheit. Beide Bewußtseinsinhalte wechseln in ihrer Stärke jeweils nach der Tiefe des Schlafes. – Einmal während eines sehr tiefen Schlafes hatte ich das Gefühl, ich hätte mich aus mir selbst herausgehoben und schwebte etwa 50 cm über meinem schlafenden Körper. Zugleich war der Eindruck da, daß es nur eines kleinen Anstoßes bedürfe und ich würde in völlige Dunkelheit versinken. Das Ergebnis war angenehm und leicht. Die Erinnerungen an mein Buch erlebe ich in ganz undeutlicher Form. Meistens erlebe ich die Vorstellungsbilder wieder, die mir seinerzeit beim Schreiben des Buches vorschwebten. Bei Szenen, die stark auf persönlichen Erlebnissen beruhen, werden auch diese Erlebnisse unmittelbar wieder lebendig, z. T. unter starken Gemütsbewegungen. Manchmal blättere ich in dem Manuskript selbst, sehe die Farbe und Beschaffenheit des Papiers und kann ganze Zeilen vom Blatt ablesen und kann sehr genau sehen, auf welchen Seiten eine bestimmte Szene beschrieben ist. Diese Erlebnisse setzen sich unmittelbar nach dem Erwachen fort und gewinnen während des Erzählens noch an Deutlichkeit. […] Die Beschreibung der nach dem Aufwachen geschauten Bilder erfolgt langsam, unbeholfen, an die ursprüngliche stilistische Formung habe ich gewöhnlich keine Erinnerung. Alles rollt vor mir ab, wie ein ganz langsamer Film.«38
Gerlachs Notizen bzw. Stichworte lassen Rückschlüsse auf das zu, was sich beim Wiedererinnern durch Hypnose ergibt: Offensichtlich werden keine ›Gedanken‹, sondern ausschließlich ›Ereignisse‹ in Bildern neu belebt, die sich im Gedächtnis bzw. im »irrationalen Unbewussten« (so die Psychoanalyse) befinden. Das Wiederaufleben dieser »unbewussten Vorstellungen« des ehemals Erlebten bildet die Grundlage für das Wiedererinnern, was dann schließlich auch Gedanken hervorruft.39 Anders gesagt: Gerlach erinnert in der Hypnose Bilder und versucht diese nach dem Aufwachen zu beschreiben. Und noch etwas anderes scheint sich 37 Ebd., S. 88. 38 Gerlach, Heinrich: Eigene Beobachtungen während des Experiments. In: Archiv der Kassenärztlichen Vereinigung München. Ohne Signatur (unv.). Ich danke der Kassenärztlichen Vereinigung für die Unterstützung. 39 Siehe dazu auch Schmitz, Karl: Heilung durch Hypnose. München 1957, S. 37ff.; sowie Ders.: Hypnose und schriftstellerisches Schaffen. Bericht über die Wiedererinnerung eines Romans. In: Praxis der Psychotherapie, 8. Jg., 1963, S. 82–88.
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mit Blick auf die Arbeitssitzungen abzuzeichnen: Ein »freier Abruf« der Informationen aus dem Gedächtnis – so die in der Neurophysiologie bekannte erste Zugangsmöglichkeit zum Erinnerten – ist Gerlach nicht möglich, daher kommt es über die Ergebnisse der Hypnosesitzungen mit der Fixierung von Stichworten dazu, dass sukzessive über die Stufen »Abruf mit Hinweisreizen« schließlich ein »Wiedererkennen« von Teilen einsetzt.40 Gerlachs Psychiater Dr. Schmitz ging (der Psychoanalyse folgend) von der Überzeugung aus, dass alles, was wir gelernt haben, aus »Sinnesempfindungen von Situationen« besteht, z. B. von »gelesenen, gehörten, gefühlten« Momenten, wobei das »Allermeiste […] längst aus dem Bewußtsein entschwunden« ist. »Aber«, so Schmitz, »im Geheimen wirken alle diese UbV [unbewussten Vorstellungen – C. G.] weiter und regieren unsere Anschauungen, unser Wirken und Können.«41 Sina Kühnel und Hans Markowitsch, die sich auch mit Fragen des Vergessens auseinandersetzen42, gelangen abschließend zu einer zurückhaltenderen Einschätzung, was das Einlagern von Erlebtem im Gedächtnis betrifft: »Auch wenn wir das ursprünglich vorhandene Wissen nicht mehr bewußt abrufen können, gibt es allem Anschein nach doch noch Spuren in unserem Gedächtnis, die durch erneutes Lernen wieder aktiviert werden können. Es ist demnach unklar, ob wir Informationen tatsächlich vergessen oder ob das Wissen und die Erinnerungen nicht nur eine Stufe absinken und für uns bewusst – zeitweise oder langfristig – nicht mehr greifbar sind.«43
Allerdings – der Hinweis auf das ›Lernen‹ ist in dieser Hinsicht bedeutsam – rekurrieren Kühnel/Markowitsch hier vor allem auf (›normale‹) Vergessensprozesse, die a) das prozedurale Gedächtnis, b) das Priming, c) das perzeptuelle Gedächtnis und d) das Wissenssystem betreffen. Es geht in diesem Zusammenhang gerade nicht um das episodisch-autobiografische Gedächtnis, das bei Gerlach betroffen ist. Denn genau hier sind jene ›Ereignisse‹ (Handlungen,
40 Markowitsch, Hans J./Staniloiu, Angelica: Erinnerung und Erinnerungsblockaden aus psychologisch-neurowissenschaftlicher Sicht. In: Erzählen über Kindheit und Jugend in der Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Carsten Gansel/Norman Ächtler/Bettina Kümmerling-Meibauer. Berlin: OKAPI 2019 (2. Aufl. 2020), S. 29–49, hier S. 38–39. Markowitsch/Staniloiu verweisen darauf, dass das ›Wiedererkennen‹ das Gehirn am wenigsten beansprucht. Dies zeige sich daran, »dass alte Menschen und hirngeschädigte Personen häufig noch recht gut Wiedererkennungsleistungen aufweisen«. (»Ist die Hauptstadt von Laos Phnom Pen, Viengthong oder Vientiane?«) Anders sei dies beim »aktiven Generieren von Material, das vor allem ein gesundes Stirnhirn erfordert«. Hier seien die Leistungen defizitär (ebd., S. 39). 41 Schmitz, Heilung durch Hypnose. 1957, S. 40. 42 Es geht hier u. a. um spezifische Fragen des Vergessens im Zusammenhang mit der Zerfallshypothese (Erinnerungen verblassen mit der Zeit) sowie mit der Interferenzhypothese (altes und neues Wissen beeinflusst bzw. überlagert sich gegenseitig und führt zu Störungen). 43 Kühnel, Sina/Markowitsch, Hans J.: Falsche Erinnerungen. Die Sünden des Gedächtnisses. Heidelberg: Spektrum 2009, S. 89.
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Räume, Personen) verortet, die Gerlachs Stalingradnarration anbelangen. Hans Markowitsch hat im Zusammenhang mit der Verständigung um das GerlachManuskript nunmehr allerdings die Position von Schmitz als durchaus zutreffend gekennzeichnet: »Das mit dem ›nichts vergessen‹ ist ein genauso schwieriges wie interessantes Thema. Tatsächlich glaube ich mehr als meine Ko-Autorin, Frau Kühnel, dass wir, so lange unser Gehirn gesund ist, nichts verlieren, wenngleich wir vieles nicht spontan abrufen können – oder in Extremfällen nur unter Hypnose, mittels spezieller Therapieverfahren u. ä.«44
Es nimmt daher nicht wunder, dass in der Gegenwart die Hypnose im Zusammenhang mit Forschungen der kognitiven Neurowissenschaft erneut Interesse erfährt. Die aktuellen Studien zeigen, wie die »Manipulation von subjektivem Bewußtsein im Labor durch Hypnose Einsichten in Mechanismen des Gehirns bieten kann, die bei der Aufmerksamkeit, der Motorik, der Wahrnehmung von Schmerzen, Überzeugungen und der Volition (Willenskraft) involviert sind«.45 Zurück zu Gerlach: Wenn Schmitz später darauf verweist, dass Gerlach leicht zu hypnotisieren war, dann ist dies ein Indiz dafür, dass es einen Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsstruktur und Erinnerung geben kann.46 Wenngleich man trotz vielfältiger Bemühungen in den letzten Jahrzehnten bislang keine psychologischen Korrelate für eine sogenannte unterschiedliche Suggestibilität bei Menschen gefunden hat, bestätigen neueste Forschungen gleichwohl, dass es Beziehungen »zwischen Suggestibilität und geistigem Vertieftsein« sowie einer »zu Phantasien geneigten Geistesverfassung, Kreativität und Empathie« zu geben scheint.47 Dies trifft in hohem Maße auf Heinrich Gerlach zu. Anzunehmen ist zudem, dass der Versuch der Rekonstruktion des Romans nur erfolgreich sein konnte, weil sich das früher Erlebte bei Heinrich Gerlach stark im Speichergedächtnis eingeprägt hatte und jeweils an konkrete Erlebnisse um Stalingrad gebunden war. Der Versuch, das verlorene Buch zu rekonstruieren, endet am 30. Juli 1951. In 23 ausgedehnten Sitzungen hatten Schmitz und Gerlach umfangreiches Material zusammengetragen. Nach Schmitz’ Einschätzung lag der »Inhalt von 2 Hauptteilen des ehemaligen Manuskripts« vor. Da das Urmanuskript drei Teile hatte, seien entsprechend »zwei Drittel aus dem Vergessenen herausgehoben« worden. Er ging davon aus, dass auf diese Weise die »Erinnerung energisch angestoßen 44 In einem E-Mail-Austausch 2016/2017 wurden diverse Aspekte der Hypnose und des Erinnerns diskutiert. E-Mail von Hans J. Markowitsch an Carsten Gansel (29. 03. 2017). 45 Oakley, David A./Halligan, Peter W.: Hypnotic suggestion: Opportunities for cognitive neuroscience. In: Trends in Cognitive Sciences, Vol. 13, No. 6, S. 264–270, hier S. 264. 46 »Glücklicherweise«, notiert Schmitz, »hatte Herr G. die Eignung zu tiefer Hypnose, was für diese Aufgabe absolut notwendig war« (Schmitz, Heilung durch Hypnose. 1957, S. 37). 47 Ebd., S. 566.
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war und daß der restliche Teil sich im Laufe der Verarbeitung selbst ergeben würde, wie sich das ganz allgemein bei Erinnerungen ergibt«.48 Die »Quick«-Reportage, die im ersten Teil durch die abgedruckten Fotos einen plastischen Eindruck vom Verlauf der Sitzungen lieferte, wurde abgerundet durch einen Bericht von Dr. Schmitz, der spannungsreich ausgewählte Episoden des Experiments schilderte. Das Gesamtergebnis fasste er für die »Quick«-Leser so zusammen: »Aus tausend Einzelheiten entsteht von neuem das verlorene Manuskript, seine vergessenen Grundlinien wurden ebenso wieder klar. Die angestrengte Arbeit dieser Behandlung war also nicht umsonst. Besser als wir vermuten konnten, hat sich das Dunkel gelichtet. Ein Bericht [,] bestätigt, daß jetzt auch die Erinnerung von selbst wieder erstarkt ist. So haben wir die Gewißheit, daß alles wiedererstehen wird, vielleicht besser und abgeklärter [,] als es vorher gewesen ist.«49
Mit dieser Vision fuhr auch Heinrich Gerlach nach Brake an die Weser zurück und machte sich an die Rekonstruktion seines Romans über Stalingrad. Die Hoffnung allerdings, nunmehr rasch mit der Fertigstellung des Textes voranzukommen, erfüllte sich nicht. Auch der Plan von Gerlach, schon 1952 die Rekonstruktion des Romanmanuskriptes abschließen zu können, ließ sich nicht umsetzen. Ende April 1952 hatte er erst 90 Seiten wieder geschrieben. Heinrich Gerlach arbeitete weitere vier Jahre an der Wiederherstellung des Buches. Seine Tochter, Dorothee Wagner, hat in einem langen Gespräch und in einem umfangreichen Brief vom Juli 2012 die Arbeitsweise ihres Vaters in den Jahren nach der Hypnose erinnert. »Von Anfang an«, so die Tochter, »bezog mein Vater andere Menschen in seine Schreibarbeit ein. Er ließ sich erzählen, fragte nach und las vor. Anregungen und Kritik nahm er an. […] Bei der Neufassung beteiligte mein Vater die Familie und hielt engen Kontakt zu Freunden und anderen ehemaligen Gefangenen. Viele kamen zu Besuch. Dabei ging es immer um Stalingrad und die Gefangenschaft. Mein Vater verfolgte alle Veröffentlichungen darüber und studierte historische Quellen über den Krieg, soweit sie damals zugänglich waren.«50 Dass sich die Arbeit an der Neufassung verzögerte, hing auch damit zusammen, dass sich Heinrich Gerlach nach 11 Jahren Krieg und Gefangenschaft erst wieder in den Schulbetrieb einarbeiten musste. Nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft war er zunächst an einer Volksschule in Berlin tätig. Am Gymnasium in Brake/Unterweser hatte er ab 1951 eine Stelle als Studienrat. Er unterrichtete die Fächer Deutsch und Latein in der Oberstufe, das waren zwei Korrekturfächer, die einen hohen Aufwand an Vor- und Nachbereitung erforderten. Zudem kämpfte er mit Problemen, vor 48 Schmitz, Hypnose und schriftstellerisches Schaffen. 1963, S. 88. 49 Ich weiß wieder, was war … 1951, S. 1131. 50 Brief von Dorothee Wagner an Carsten Gansel (24. 07. 2012), S. 4.
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denen alle Spätheimkehrer standen: »Mein Vater musste sich in das Familienleben erst wieder einfinden«, erinnert die Tochter Dorothee Wagner. »Da blieb kaum Zeit zum Schreiben, dazu nutzte er die Ferien.«51 Erst im Herbst 1956 konnte Heinrich Gerlach das fertige Manuskript an die Nymphenburger Verlagshandlung in München geben, die aus dem Originaltitel »Durchbruch bei Stalingrad« den für die 1950er Jahre klangvolleren Titel »Die verratene Armee« machte.
4.
Abschluss
Unbeantwortet bleibt die Frage: Hat Schmitz nun Heinrich Gerlach a) die realen Erlebnisse des Winters 1942/43 in Stalingrad erinnern lassen oder aber b) deren (fiktionale) literarische Verarbeitung und Darstellung? Hans Markowitsch beantwortet die Frage so: »Ich mache es Ihnen nicht einfacher, wenn ich sage, vermutlich lässt sich das gar nicht trennen – ob er Gerlach nach Stalingrad oder zu seinem Ms. zurückführte. Da beides im Gedächtnis (Gehirn) ist, kann es nicht sauber getrennt werden. Es wäre zwar einmal die direkte und einmal die ›Metaebene‹ des Erinnerns, aber beide Ebenen werden sich vermutlich mischen.«52
Abschließend zu Heinrich Gerlach und dem »Durchbruch bei Stalingrad«: Klar ist, dass beide Fassungen des Stalingradromans letztlich auf die episodisch-autobiografischen Erinnerungen von Heinrich Gerlach zurückgehen. Als er die Urfassung schreibt, steht ihm die Katastrophe allerdings noch direkt vor Augen, denn er beginnt mit ersten Notizen bereits im Herbst 1943, wenige Monate nach der Kapitulation der 6. Armee. Dies ist angesichts der Traumatisierung, die Stalingrad auch für Gerlach bedeutet hat, ein kurzer Zeitraum, was nicht ohne Folgen für das Erinnern sein konnte und sich auf das Erzählen auswirken musste. Gerlach wählt entsprechend keinen narrativen Modus, mit dem ein Abstand zum Erzählten hergestellt würde, sondern er setzt im Gegenteil auf das, was man dramatischen Modus nennt, und erzählt weitgehend ohne Distanz. Gerade dort, wo die Schrecken des Kriegs über die verzweifelten Soldaten hereinbrechen, geht die Präsenz des Erzählers zurück, wodurch eine unmittelbare Nähe zum erzählten Geschehen entsteht. Bei der Darstellung der Stalingraderlebnisse dominiert im Original – so zeigt sich – eine Mischung aus epischem Bericht und Dialog. Es bleibt wenig Raum für eine kritische Reflexion. Das hat Gründe: Kognitionspsychologisch werden in der Originalfassung sogenannte Felderin-
51 Ebd. 52 Markowitsch/Gansel, E-Mail-Austausch 2017.
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nerungen, field memories, inszeniert. Solche Felderinnerungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie die vergangenen Ereignisse tendenziell »aus der ursprünglichen Perspektive des damaligen Erlebens rekonstruieren«. Anders ist das bei den sogenannten Beobachtererinnerungen, observer memories genannt. Hier geht es um Erinnerungen, in denen wir uns vorrangig als »distanzierte Beobachter« verhalten und auf diese Weise »modifizierte Versionen des ursprünglichen Ereignisses« produzieren, das wir »anfänglich aus einer Feldperspektive wahrgenommen haben«.53 Dass im »Durchbruch bei Stalingrad« Felderinnerungen dominieren und in der »Verratenen Armee« eher Beobachtererinnerungen, wird auch dadurch belegt, dass in der Urfassung stärker auf ein personales Erzählen gesetzt wird und somit die Erfahrungen des erlebenden Ichs auf der Handlungsebene im Vordergrund stehen. Ein genauer Blick auf die Urfassung und die handschriftlichen Korrekturen – darauf kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden – zeigt, in welchem Maße Gerlach gerade hier korrigiert und nach einem Sprachstil gesucht hat. Dies lässt neurophysiologisch folgenden Schluss zu: In Abhängigkeit von der Dimension des Erlebten bzw. Erfahrenen kommt es zu einem emotionaleren Erzählen. Das »Wie« des Erzählens wiederum, also der discourse, spielt dann im weiteren Verlauf für die Rezeption eine entscheidende Rolle. Die »Art und Weise des Erzählens«, so Hans Markowitsch, »kann aus einer Erzählung ein Erlebnis machen. Dafür sind durch Sprache erzeugte Elemente der Emotionalität, des Mitfühlens, der unmittelbaren Vorstellung des Geschehens entscheidend.«54
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Hans-Christian Stillmark
»Mommsens Block« – eine Schreibstörung bei Heiner Müller
Der Beitrag versteht sich als Umschreibung einer Schreibblockade des Dramatikers Heiner Müller, die aus unterschiedlichen Momenten gespeist ist: Es werden darin zeitliche, epochen- und gattungsspezifische sowie biografische Umstände erfasst, die ein nicht einfach zu überschauendes Konvolut erzeugt haben, das wiederum Signale für eine postmoderne Schreibsituation generiert. »Mommsens Block«1 ist von der Textsorte her ein Hybrid, changiert also zwischen den literarischen Gattungen. Der Text ist in der Müller-Werkausgabe des Suhrkamp-Verlags der Lyrik zugeordnet. Verstörend ist in diesem Zusammenhang, dass der »henschel Schauspiel«-Theaterverlag daran die Aufführungsrechte beansprucht.2 Der Text wird im Internet teilweise als Leseprobe angeboten und ist dabei als Stück ausgewiesen. Er wäre demnach auch als Drama les- oder aufführbar. Diese Gebrauchsweise ist zwar heute, da man zunehmend Romane für die Bühne bearbeitet, nicht mehr ganz so ungewöhnlich, angesichts der Machart des Textes aber doch. Sicher, Müller selbst hat solchen Gebrauchsweisen zwischen den Genres schon früher vorgearbeitet, denken wir an »Bildbeschreibung« – ein für die damalige Zeit (1982) inkommensurables Drama. Und bei der Szenenfolge »Wolokolamsker Chaussee« (1985–1987) sticht das Balladeske deutlich heraus – aber ohne dass es sich bei diesem Stück um eine Ballade handelt. Wie später noch zu sehen sein wird, werden für die Autorschaft des Textes ebenso unklare Verhältnisse von Müller organisiert. Dass derartige Ungereimtheiten und Unentschiedenheiten programmatisch für Müllers Arbeit sind, soll hier nur als Arbeitsstandpunkt konstatiert werden. Um mit den biografischen Ursachen zu beginnen: Müllers Text kann im Zusammenhang mit unserem Thema auch als ein autotherapeutisches Dokument zur Krankengeschichte des Autors gelesen werden. Dem Dramatiker war schon einige Jahre bewusst, dass er gesundheitliche Probleme hatte, die sein Leben 1 Müller, Heiner: Mommsens Block. In: Ders.: Werke 1. Die Gedichte. Hrsg. von Frank Hörnigk. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, S. 257–263 (Seitenangaben fortlaufend im Text). 2 Vgl. (letzter Zugriff: 30. 07. 2020).
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verkürzen würden. Ab den 1990er Jahren häufen sich in Müllers Werk Texte, die seine Krebserkrankung erwähnen und mitunter auch direkt thematisieren. »Mommsens Block« ließe sich durchaus in eine Serie einfügen, worin das Bewusstsein um die Begrenztheit des eigenen Lebens in den letzten Schaffensjahren zum Gegenstand des Schreibens wird. Es liegt auf der Hand, dass die Themen »Krankheit« und »Sterben« zu dem Komplex »Schreibstörung« sehr gut passen und sich miteinander in diesem Falle gegenseitig generieren. Zur Erklärung von Müllers Schreibstörung reicht dieser Bezug allerdings nicht aus. Die Entstehungszeit von »Mommsens Block« ist mit dem Dezember des Jahres 1992 angegeben. Müller gehörte in dieser Zeit dem Direktorium des Berliner Ensembles an. Er teilte sich die Intendanz mit Matthias Langhoff, Fritz Marquardt, Peter Palitzsch und Peter Zadek – diese namhafte Leitungsgemeinschaft brachte dem Haus jedoch nicht wirklich Erfolg ein. Immerhin hatte Müller zugleich das Amt des Präsidenten der Akademie der Künste (Ost) inne, was nach den Jahren der Ausgrenzung in der DDR zusammengenommen als großartiger persönlicher und künstlerischer Erfolg zu bewerten ist. An der Wende von den 1980er zu den 1990er Jahren war er sicherlich der bedeutendste Dramatiker in Deutschland. Die ihm zu Ehren durchgeführte Schau »Experimenta 7« in Frankfurt/Main machte ihn über die Grenzen als europäischen Autor und Theatermann berühmt. Seine Inszenierungen, allen voran »Hamlet« am Deutschen Theater im Jahre 1990, unterstrich seine Strahlung in die Welt. In krassem Widerspruch dazu scheint die Schreibblockade zu stehen, die nach 1990 Müllers Befinden empfindlich beeinträchtigte. In Gesprächen und Interviews hatte Müller wiederholt seine Absicht geäußert, ein Drama zur jüngsten deutschen Geschichte – er nannte es u. a. auch versuchsweise eine »[p]roletarische Tragödie«3 – zu verfassen, was ihm damals verwehrt blieb. Das Ausbleiben einer tragfähigen dramatischen Struktur und der Zweifel an den eigenen Möglichkeiten unter den Bedingungen eines hohen öffentlichen Erwartungsdrucks führten zu »Mommsens Block«. Das Langgedicht liest sich wie eine Rechtfertigung Müllers. Gerade in den ersten Jahren nach der Wende wartete das deutsche Feuilleton geradezu ungeduldig auf ein Drama zur jüngsten deutschen Geschichte. Die Nachfrage war damals zumeist an den Begriff des »Wenderomans« gekoppelt, was jedoch Müllers Intentionen überhaupt nicht entsprach. Die unmittelbare Entstehung von »Mommsens Block« hängt eng mit Müllers Lektüre von Theodor Mommsens »Römischer Geschichte« und speziell dem Teil über die Kaiserzeit zusammen, dessen Band 1992 erstmals als philologisch-kritische Rekonstruktion eines Textes, den Mommsen so nie verfasst hatte, her-
3 Müller, Heiner: Anmerkung zu Wolokolamsker Chaussee. In: Ders.: Stücke 5. Werke 3. Hrsg. von Frank Hörnigk. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, S. 247.
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ausgegeben worden war.4 Vor allem das Nachwort und der Kommentar von Barbara und Alexander Demandt schienen Müller besonders angeregt zu haben.5 Müller bekannte später: »Der Anlaß für diesen Text war natürlich das Erscheinen dieses Bandes. […] Dies war das erste Mal, daß ich so viel erfuhr über die Schreibblockade von Mommsen. Der Punkt hat mich natürlich interessiert. Es war also ein ganz subjektiver Anlaß.«6
Den Herausgebern von Mommsens »Römischer Geschichte« Barbara und Alexander Demandt zugewandt, unterstrich Müller: »Ihr Buch war für mich eine Gelegenheit, über mich selbst zu schreiben in der Maske von Mommsen. Ohne das Buch wäre es überhaupt zu nichts gekommen.«7 Dem Entstehungskontext war auch Müllers Affinität zu Denkmälern zuträglich. Er hatte, wie u. a. Jan-Christoph Hauschild8 schilderte, zu Beginn der 1990er Jahre an mehreren Skulpturen- und Landschaftsprojekten gearbeitet und war insofern für das Genre »Denkmal« stark sensibilisiert. Die Rückholung der Marmorstatue des Historikers Theodor Mommsen in den Vorgarten der Humboldt-Universität zu Berlin liest sich wie eine Korrespondenz zu Müllers Text. Der Sockel des Denkmals war seit der Restauration des ansonsten in der DDR verborgenen Bildnisses im Jahre 1988 als »Block« sichtbar, was durch die Rückholung am 23. Mai 1991 aufgehoben wurde.9 Müllers Interesse an Fragmenten traf hier auf die Wiedereinsetzung eines Denkmals, das zu DDR-Zeiten eingehaust war, während ein paar hundert Meter weiter ein Prestigeobjekt der DDR-Regierung – nämlich das Denkmal von Marx und Engels, das 1986 errichtet wurde – nach der Wende nun aber wie aus der Zeit gefallen wirkte. Müllers Bildband »Ein Gespenst verlässt Europa«10, der mit Fotografien von Sibylle Bergemann zur Entstehung des schon immer umstrittenen Denkmals von Karl Marx und Friedrich Engels seit 1975 versehen war, legte gleichnishaft den Rückbau des ganzen Kommunismus als System nahe. Verstörte bei der Errich4 Mommsen, Theodor: Römische Kaisergeschichte. Nach den Vorlesungsmitschriften von Sebastian und Paul Hensel 1882/86. Hrsg. von Barbara/Alexander Demandt. München: C. H. Beck 1992. 5 Vgl. Die Unschreibbarkeit von Imperien. Theodor Mommsens römische Kaisergeschichte und Heiner Müllers Echo. Hrsg. von Wolfgang Ernst. Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 1995. Besonders ertragreich darin: Ernst, Wolfgang: Der Kontext und das Monument. Theodor Mommsens Römische Kaisergeschichte, das Berliner MommsenDenkmal und Heiner Müllers Mommsens Block (ebd., S. 13–42). 6 Heiner Müller in der Podiumsdiskussion am 21. Dezember 1993. In: ebd., S. 86f. 7 Ebd., S. 87. 8 Vgl. Hauschild, Jan-Christoph: Heiner Müller. Reinbek: Rowohlt 2000, S. 131. 9 Vgl. (letzter Zugriff: 30. 07. 2020). 10 Müller, Heiner: Ein Gespenst verlässt Europa. Fotografien von Sibylle Bergemann mit einem Nachwort von Peter Voigt. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1990.
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tung die passive Sitzhaltung speziell der Marx-Figur schon die Betrachter, so liest sich nach der Implosion des Sozialismus die Figurengruppe wie der Ausdruck eines Ernüchterungs- und Enttäuschungsschocks. »Ent-Täuschung« war ein Grundgefühl für die Anhänger des Sozialismus gerade unmittelbar nach der Wende. Die chiastische Gegenläufigkeit zur Wiedereinsetzung Mommsens an seinen ursprünglichen Ehrenplatz ließ Müller und Bergemann mit dem Motiv des gespenstigen Wiedergängers spielen. Der Sturz von Denkmälern bzw. deren Errichtung im Zusammenhang mit der wandlungsreichen Geschichte von Imperien ist für Heiner Müller seit Langem ein vertrauter Topos gewesen. Ich will hier nur an den vierten Akt von Müllers Endspiel »Die Hamletmaschine«11 erinnern, wo sich die Bevölkerung im Ohr eines gestürzten Diktatorendenkmals eingerichtet hat. Das Denkmal erinnert aufgrund seiner außerordentlichen Dimension an das Stalin-Denkmal, welches in Budapest von »Stalins bestem Schüler«12 Mátyás Rákosi aufgestellt (und 1956 als ein Höhepunkt des Volksaufstands gestürzt) worden war. »Das Denkmal liegt am Boden, geschleift drei Jahre nach dem Staatsbegräbnis des Gehaßten und Verehrten von seinen Nachfolgern in der Macht. Der Stein ist bewohnt. In den geräumigen Nasen- und Ohrlöchern, Haut- und Uniformfalten des zertrümmerten Standbilds haust die ärmere Bevölkerung der Metropole.«13
Es sei darauf hingewiesen, dass in Zeiten von politischen Umbrüchen die symbolischen Ressourcen einer Gemeinschaft generell infrage gestellt werden. Umbenennung von Straßen und Plätzen, Stürze von Denkmälern, Abriss von bis dahin Geheiligtem und Verehrungswürdigem, Bildersturm bis hin zum totalen Bilderverbot sind in solchen Krisen als ikonoklastische Praktiken mit unterschiedlichsten Ausprägungen sehr häufig zu beobachten. Hinzuzufügen ist, dass das auch den Kanon im Bereich der literarischen Symbolik betrifft und nicht zuletzt hat Müller in eben diesen Jahren in seinem Gedicht »Fernsehen« eine umfassende Selbstkritik geschrieben, die die Distanzierung vom eigenen Frühwerk mit seinen Übersetzungen von Stalin-Hymnen beinhaltet. Mit Grausen erkannte sich der Autor damals in seinen frühen Werke wieder und angesichts dessen befiel ihn sogar ein Todeswunsch: »Welches Grab schützt mich vor meiner Jugend«14 Auch eine solche Erschütterung mag bei bestimmten Schriftstellern
11 Vgl. Müller, Heiner: Die Hamletmaschine. In. Ders.: Werke 4. Die Stücke 2. Hrsg. von Frank Hörnigk. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001, S. 549f. 12 So bezeichnete er sich selbst und verstand dies als höchste Auszeichnung. 13 Ebd., S. 550. 14 Vgl. u. a. Stillmark, Hans-Christian: Bemerkungen zu Heiner Müllers Gedicht »Fernsehen« In: Diyalog. Interkulturelle Zeitschrift für Germanistik Organ des türkischen Germanistenverbandes GERDER Konya 2017. , S. 48–56 (letzter Zugriff: 24. 08. 2020).
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eine Schreibblockade auslösen. Müllers Publikationen und Auskünfte steigern sich jedoch quantitativ in dieser Zeit. Ziemlich knapp beantwortet Müller in »Mommsens Block« die im Text eingangs gestellte Frage, weshalb der berühmte Historiker Theodor Mommsen den vierten Band seiner »Römischen Geschichte« nicht selbst geschrieben hat. Diese vielfach bewunderte Reihe Mommsens existierte eigentlich nur als Torso. Sie umfasste die Anfänge Roms bis zur Zeit Caesars in drei Bänden und ließ, wie schon erwähnt, die Kaiserzeit aus, um mit dem fünften Band, der den Untergang Roms schilderte, das Werk abzuschließen. Zu dem Historiker Theodor Mommsen nur so viel: Er war der zweite Nobelpreisträger für Literatur (!) 1902. In der Begründung des Komitees hieß es: »[…] dem gegenwärtig größten lebenden Meister der historischen Darstellungskunst, mit besonderer Berücksichtigung seines monumentalen Werkes ›Römische Geschichte‹«15. Ein Torso wurde also nobilitiert – das ist sicher genauso ungewöhnlich wie die Verleihung des Literaturnobelpreises an einen Historiker, was die große Bewunderung seines Werkes nur unterstreicht. Seine Statue wurde in Konkurrenz zu seinem antisemitischen Widersacher Heinrich von Treitschke im Jahre 1909 vor der Friedrich-Wilhelm- Universität (seit 1949 Humboldt-Universität) zu Berlin aufgestellt. Während des Zweiten Weltkriegs wurden beide Denkmäler eingehaust, um sie vor Beschädigungen zu schützen. Während Treitschkes Statue zu DDR-Zeiten eingeschmolzen wurde, konnte nach 1989 das Denkmal von Mommsen wieder aufgestellt und an seinen alten Platz befördert werden. Im Titel des vorliegenden Beitrags ist bereits angezeigt, dass hier von einer Paradoxie die Rede ist, denn Mommsens Blockierung stellt zugleich eine Schreibstörung des Dramatikers Heiner Müller dar, die aber wiederum, indem sie eine Schreibstörung beschreibt, zeigt, dass sie selbst keine ist. Die Paradoxie geht in ihrem Kontext aber über die intertextuelle Referenz zu Mommsen hinaus. Sie ist zugleich eine historische Reminiszenz an Hugo von Hofmannsthals berühmten Chandos-Brief, in dem sich der angebliche Lord Chandos im Jahre 1603 an seinen vermeintlichen Mentor Francis Bacon wendet und ihm mit unglaublicher Eindringlichkeit sein komplettes Scheitern angeblich infolge einer Sprachstörung eingesteht. Hofmannsthals Brief aus dem Jahre 1902 markierte eine Wende im Schaffen des damals jungen und vielversprechenden Autors. Es ist zu vermuten, dass Müllers Schreibstörung ähnliche Bezüge aufweist, erinnert man sich daran, wie Hofmannsthal/Chandos seine Blockade einst zum Ausdruck brachte. Er formulierte: »Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu den15 Vgl. (letzter Zugriff: 30. 07. 2020).
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ken oder zu sprechen.«16 Um den Unterschied sogleich festzuhalten: Geht Hofmannsthal von einer grundsätzlichen Dichotomie zwischen Sprache und Wirklichkeit aus, so ist Müllers Blockade von anderer Qualität. Seine Schreibstörung geht auch nicht gänzlich in der von Herausgeber Wolfgang Ernst17 benannten »(Un)Schreibbarkeit von Imperien« auf, Müller geht es vielmehr um die »Unbeschreibbarkeit von Erfahrung«. Aufschlussreich ist seine Bemerkung in der Diskussion mit Ernst, Lämmert, Kittler und anderen: »Ich merke immer wieder, wie schwer es ist, über Geschichte zu schreiben. Es fallen einem keine Dialoge mehr ein. Man denkt nur noch an Zitate, wenn man über Geschichte schreibt. Das ist auch bei diesem Text [gemeint ist »Mommsens Block« – H. C. S.] deutlich zu sehen. […] Warum ist das so? Ich weiß es nicht, aber ich weiß, daß es so ist. Die Unbeschreibbarkeit von Erfahrung nimmt zu.«18
Im Vergleich zu Hofmannsthals Gründungsurkunde der deutschsprachigen Moderne ist Müllers Selbstanalyse im Gewand Mommsens mit einem ausgeklügelten intertextuellen Manöver versehen, das am ehesten auf die Debatte zur Postmoderne hinweist. Gewidmet ist »Mommsens Block« einem bekannten postmodernen Theoretiker, der aber zu jener Zeit in Deutschland nur Eingeweihten wirklich vertraut war: »für Felix Guattari« (S. 257). Guattari verstarb im August 1992, seine posthum erschienenen Studien zu den drei Ökologien konnte Müller noch nicht kennen, allerdings seine »Schizoanalyse« und seine »Wunschenergie«19 sowie die mit Gilles Deleuze entwickelte Figur des »Rhizom«20. Einiges davon wird der Rotbuch- und Merve-Autor Heiner Müller mit Sicherheit rezipiert haben. Bedenkt man die vielfältigen Verweisungen und intertextuellen Anspielungen bzw. Analogien, so stellt »Mommsens Block« auf seine Art unzweifelhaft auch ein Rhizom im Sinne von Deleuze/Guattari dar. Eine weitere, vielleicht auch nur zufällige Analogie zu Lord Chandos, Francis Bacon und Hugo von Hofmannsthal ist in der zeitlichen Verortung von Müllers Text zu sehen: 1993, also rund 600 Jahre nach dem fiktionalen Brief des Lord Chandos, wird »Mommsens Block« in der »Drucksache Nr. 1« vom Berliner Ensemble veröffentlicht. Diese »Drucksachen« waren mit der Intendanz Müllers verbundene Schriften, die einen gewissen Arbeitsheftcharakter aufwiesen, dabei nicht ganz so perspektiviert und adressiert waren wie Brechts »Versuche«, worin u. a. eine Radiotheorie und das »Lehrstück« als neuer Stücktypus entwickelt 16 Hofmannsthal, Hugo von: Ein Brief. In. Ders.: Der Brief des Lord Chandos. Erfundene Gespräche und Briefe. Hrsg. von Lorenz Jäger. Frankfurt/Main: S. Fischer 2002, S. 25. 17 Vgl. Anm. 4. 18 Heiner Müller in der Podiumsdiskussion am 21. Dezember 1993. In: Ernst, Unschreibbarkeit. 1995, S. 81. 19 Guattari, Félix: Schizoanalyse und Wunschenergie. Guerilla in der Psychiatrie. Bremen: Edition Subversion, Verlag Impuls 1979. 20 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Rhizom. Berlin: Merve 1977.
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wurden, aber doch einem experimentellen Denken, Schreiben und Spielen verschrieben. Es erschienen bis zu Müllers Tod im Jahre 1995 zwanzig »Drucksachen« im Alexander Verlag. Man kann es auch so formulieren: Diese Hefte zielten auf eine neuartige, mit dem Theater verbundene Kommunikation in der Gesellschaft, die nicht mehr den Zensurbedingungen der DDR unterworfen war und die sich kritisch gegenüber den nunmehr kapitalistischen Vermarktungszwängen abzusetzen versuchte. Ebenso galt es, den beginnenden Turns in Hinblick auf die medialen Veränderungen Tribut zu zollen und traditionelle Kommunikationsweisen infrage zu stellen. Sie bereiteten dergestalt auch den Regiecollagen sowie den sehnlichst erwarteten neuen Stücken des Dramatikers Heiner Müller den Boden. Krankheit und Tod des Autors verhinderten bekanntlich diese weiterführenden sozialen und ästhetischen Innovationen. Es überrascht daher nicht, dass Müller am 21. Dezember 1993 gemeinsam mit Historikern, Altphilologen, Medien- und Literaturwissenschaftlern auf der Probebühne des »Berliner Ensembles« eben diesen Text »Mommsens Block« auf eine besondere Weise darbot. Die Beteiligten (einschließlich des Dramatikers Müller) veranstalteten mit dem Publikum eine Exegese des Textes und stellten ihn in unterschiedliche Kontexte, wobei inhaltlich vor allem die Beschreibbarkeit und die Darstellbarkeit von Imperien für die Geschichtsschreibung und für die Literatur herausragende Rollen spielten. Müllers Schreibhemmung, seine Blockade, dies sei hier herausgestellt, wurde in dieser Konstellation eher peripher behandelt und geriet etwas in den Hintergrund der Argumentationen. Primär kam man immer wieder auf Theodor Mommsen und die Umstände seiner Schreibhemmung zurück. Die Kommunikation zwischen Kunst und Wissenschaft hatte bekanntlich im Berliner Ensemble durch die »Brecht-Dialoge« eine gewisse Tradition. Der erste Brecht-Dialog 1968 widmete sich thematisch der Problematik »Politik auf dem Theater« und es überrascht nur bedingt, dass Müller seine Arbeit in einem neuen medialen Format darbot. Mit dieser Darbietung kam die Präsentation seines Textes auch einer theatralischen Form nahe. Es sei betont, dass die Veranstaltung vor Publikum im Theater stattfand, dass der Text durch den Autor vorgetragen wurde und dass WissenschaftlerInnen verschiedener Disziplinen selbigen Text in neue Sinnbezüge stellten und ihm ungewöhnliche Fragestellungen abgewannen. Die theatralische Dimension, die ohne Schauspieler erreicht wurde, hatte durch den Einbezug des Publikums in den Meinungsaustausch interaktiven Charakter. Das Aufschreibesystem (Friedrich Kittler war als Dialogpartner anwesend) »Langgedicht« wurde auf diese Weise aus seinen bisherigen wirkungsästhetischen Grenzen in eine neue mediale Umgebung transformiert. Insofern kann man auch davon sprechen, dass hier zwar keine dramatische, dennoch aber eine theatralische Aufführung stattfand, was der eingangs unentschiedenen gattungsmäßigen Zuordnung eine weitere Dimension abgewinnt.
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Beachtlich ist auch – um noch einmal auf den Vergleich mit Hofmannsthal zurückzukommen, wo der vermeintliche Autor Chandos als Historiker, als Philosoph oder als Künstler fungierte und seinen Text seinem Mentor Francis Bacon zueignete –, dass Müller seinen Text ebenso an einen philosophischen Vorgänger, nämlich an den 1992 verstorbenen Félix Guattari adressiert und diesem sein Gedicht ausdrücklich gewidmet hatte. Verwirrend sind aber die kommunikativen Adressierungen insgesamt: Guattari ist als Philosoph bekannt, die Hauptgestalt Mommsen als literarisch ambitionierter Geschichtsschreiber, der epische Erzähler (alias das lyrische Subjekt alias der Autor Heiner Müller) hat sich am ehesten als Dichter, Dramatiker und Verfasser von Geschichtsdramen verstanden … Analogien über Analogien: ein wahres Fest für Intertextuelle und weitere Sprachspurensucher. Die Tendenz zu der pluralen Identität, mit der Müller als Autor operierte, bekräftigt das postmoderne Denken und Schreiben, in das er sich ja sehr frühzeitig (genauer 1979) mit dem Text »DER SCHRECKEN DIE ERSTE ERSCHEINUNG DES NEUEN – Zu einer Diskussion über Postmodernismus in New York« als DDR-Bürger (!) eingemischt hatte. Müller nimmt dabei auch die französische Debatte um den »Tod des Autors«, die er in »Hamletmaschine« von 1976 auf seine Art fortführte, en passant mit in den »Block«, ohne dies allerdings expressis verbis auch auszuweisen. Auch der »Tod des Autors« – mittlerweile fast ein postmodernes Ritual – ist eine kontextuelle Bedingung der Müllerschen Schreibstörung. Mit Blick auf das komplexe Verweisspiel Müllers soll eine wichtige These aus seinem Beitrag zur Postmoderne hier auf die ›hohe Kante‹ für später gelegt werden: »Die Literatur ist eine Angelegenheit des Volkes (Kafka).«21 Weiter zu den Kontexten: Müller überschrieb seinem Text ein Motto, das er offensichtlich dem Nachwort zur Ausgabe von Mommsens Geschichtswerk entnommen hatte. Es entstammt einem Brief, den Mommsen an James Bryce 1898 schrieb: »What authorities are there / beyond Court tittle tattle / (Mommsen an James Bryce 1898)« (S. 257), was so viel bedeutet wie: »Welche Autoritäten gibt es jenseits des Hofgeplappers?« Auf diese eher rhetorische Frage antwortet der gesamte Text Müllers. Die Frage ist zwar wichtig, eine Antwort darauf ist aber weder für Mommsen noch für Müller in Sicht. Jene Frage stand auch im Zentrum der Diskussionsrunde um »Mommsens Block« auf der Probebühne des Berliner Ensembles im Dezember 1993 mit dem Autor. Die dort versammelten Historiker, Philologen Kommunikations- und Literaturwissenschaftler arbeiteten sich immer erneut an dem Gegensatz ab, den auch Mommsen für sein Scheitern benannte und der verkürzt so dargestellt werden kann: ›Geschichte‹ – zumal von 21 Müller, Heiner: DER SCHRECKEN DIE ERSTE ERSCHEINUNG DES NEUEN – Zu einer Diskussion über Postmodernismus in New York. In: Ders.: Werke. Bd. 8. Schriften. Hrsg. von Frank Hörnigk. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005, S. 208.
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Imperien – kann nicht mehr in Form von individuellen Persönlichkeiten und deren Entwicklung erzählt werden, sie entzieht sich dem Handeln von Individuen und ist nur noch als Bewegung der Institutionen nachzeichenbar. Mommsen, der sich selbst nicht vorrangig als Geschichtsschreiber verstand, sondern als – wenn man so will – eingreifender Politiker, dem die Geschichte für die Gestaltung der Gegenwart etwas ›sagt‹, formulierte es mit Alexander Demandts Worten so: »Er sagte: Ich habe eine Aufgabe übernommen, der ich nicht gewachsen war. Ich habe versagt. Und zwar deswegen, weil mein eigentlicher Beruf der eines Politikers gewesen wäre. Er war, wie er sagte, von ganzem Herzen ein animal politicum. Daß er das, was er eigentlich hätte werden sollen, nicht werden konnte (und das schrieb er schon 1858), schob er in gewisser Weise der Nation zu, der er angehörte, die er immer ohne Frage bejaht hat, von der er aber bezweifelte, daß sie in der Lage wäre, ihn ein Wort mitreden zu lassen. Er machte den Deutschen zwei Vorwürfe: Der eine war der Dienst im Gliede, d. h. die deutsche Disziplin, der zweite der politische Fetischismus, das Jagen nach unerreichbaren utopischen Idealen. […] Das eine ist wie das andere unfähig für Politik, den Deutschen fehlt dafür das Augenmaß […]«22
Heiner Müller hat ein Jahrhundert später unter ganz anderen Vorzeichen und angesichts eines anderen Imperiums, das zusammengebrochen war, ähnliche Versagensängste, die sich in seiner Schreibblockade zeigen, was aber nur auf den ersten Blick wie eine Wiederholung aussieht. Auch er kennt die Erfahrung, von der Politik ausgeschlossen zu sein: Sein Publikationsverbot und die politische Wirkungslosigkeit seiner Stücke (»Im allgemeinen tun sie [die Theater – H. C. S.] mit meinen Stücken nichts«23) hat er als Konstante seines Schreibens in der DDR erfahren und auch so öffentlich kritisiert. Später, nach der Wende im Westen angekommen, macht er ähnliche Erfahrungen trotz der medialen Aufmerksamkeit, die ihm entgegengebracht wurde. Zweifellos hatte er den »deutschdeutschen Literaturstreit« so verstanden, dass die Literatur von den Positionierungen der Politik ausgeschlossen blieb. Die Titel seiner gesammelten poetologischen Stellungnahmen verraten mehr als nur seine Skepsis: »Gesammelte Irrtümer« erschien in drei Bänden von 1986 bis 1994 im Verlag der Autoren.24 Publizierte er seine politischen Ansichten einschließlich seiner ätzenden Analysen 1990 noch unter dem apostrophierten Titel »Zur Lage der Nation«25, so
22 Alexander Demandt in der Podiumsdiskussion am 21. Dezember 1993. In: Ernst, Unschreibbarkeit. 1995, S. 80. 23 Müller, Heiner: Ein Brief. In: Ders.: Schriften. 2005, S. 175. 24 Vgl. Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer 1–3. Frankfurt/Main: Verlag der Autoren 1986– 1994. 25 Vgl. Müller, Heiner: »Zur Lage der Nation«. Heiner Müller im Interview mit Frank M. Raddatz. Berlin: Rotbuch Verlag 1990.
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begriff er sich ein Jahr später schon, wie auch der Titel seiner gesammelten Interviews lautete, »Jenseits der Nation«.26 Es ist in Müllers Äußerungen der unmittelbaren Wendezeit überaus interessant zu sehen, wie stark er noch einem utopisch verfassten Projekt verbunden war. Er problematisierte in der Phase nach dem Zusammenbruch des Machtmonopols der SED, also noch bevor die Perspektive der deutschen Einheit unabweisbar war, die Rolle von Utopien, die der Gesellschaft eine alternative Gestalt zumessen sollte, als die, die mit einem Beitritt zur BRD verbunden gewesen wäre. Es käme darauf an, dem Terrorismus die Utopie zu entreißen und der alternativen Gesellschaft eine neue ökonomische, ökologische, politische und soziale Fundierung auf demokratischem Wege zu bereiten.27 Nur wenige Monate später sind diese Überlegungen mit der deutschen Einheit als Beitritt der fünf »neuen Länder« perdu. Der Geschichtsphilosoph Heiner Müller sieht sich nunmehr isoliert in einer Art Elfenbeinturm, das politische Handeln ist an andere Akteure übergegangen. Die DDR-Bevölkerung hat vor allem die Absicht, den Rückstand in Hinblick auf Konsum gegenüber den westdeutschen Brüdern und Schwestern aufzuholen – eine Utopie, die für sie erreichbar zu sein scheint. Die Intellektuellen, die sich einer anderen Perspektive verschrieben haben, ziehen sich aus dem politischen Gestaltungsraum zurück. Es ist daher kein Wunder, dass Müller sich mit Theodor Mommsen, der aus ganz anderen Gründen als er von der Politik des kaiserlichen Deutschen Reiches ausgeschlossen war, plötzlich in einer ähnlichen Situation sah, wie sie abgemildert aber auch James Bryce in England erlebte. Bryce war ebenso wie Mommsen ein Historiker, aber auch Jurist und Politiker. Er verfasste 1864 das Werk »The Holy Roman Empire« und befand sich mit Mommsen als Spezialist für römische Geschichte sozusagen auf Augenhöhe. Gleichwohl wandte auch er sich im Laufe seines Lebens von der Historiografie ab und wirkte später als Jurist, Botschafter und Politiker. Das Schreiben bezog auch er nicht mehr vorrangig auf die Geschichte. Für beide gilt wohl die eingangs von Müller formulierte Skepsis: »Kein Verlaß auf die Literatur« (S. 257). Mommsen, Bryce, aber auch andere Dichter einschließlich Müller vereint die Empfindung der »Geschichte als Last« (ebd.). Wenn man daran erinnert, dass der Historiker Helmut Kohl sehr häufig in jenen Tagen des gerade vereinten Deutschlands vom »Mantel der Geschichte« sprach, den es zu fassen gelte, so eröffnet sich ein weiterer Blick auf den Kontext, in dem das Nachdenken Müllers situiert war. War für Kohl die jüngste Wendung in der Geschichte ein Glücksfall, so empfand Müller diesen Umschwung als Niederlage, wenn nicht sogar als Katastrophe. 26 Vgl. Müller, Heiner: »Jenseits der Nation«. Heiner Müller im Interview mit Frank M. Raddatz. Berlin: Rotbuch Verlag 1991. 27 Vgl. Müller, Heiner: Dem Terrorismus die Utopie entreißen. Alternative DDR. In: Ders.: »Zur Lage der Nation«. 1990, S. 9–24.
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»Trauer« und »Wut«, die er beispielsweise in seiner Rede zur Entgegennahme des Kleistpreises formulierte,28 überwiegen bald in seinen publizistischen Äußerungen sowie in seinen zumeist lyrischen Stellungnahmen des Werkes. Je klarer die Richtung auf die deutsche Einheit wird, um so deutlicher werden die resignativen Züge in Müllers Statements. Seine bittere Satire von einem »KohlMausoleum im Teutoburger Wald«29 kann als Zeichen seiner Ohnmacht gelesen werden, denn seinem wirksamen politischen Handeln wurde zunehmend der Boden entzogen. Sein Hoffen, obwohl er auch das öffentlich infrage stellte, galt lange einer Alternative auf deutschem Boden, die vom »Gespenst des Kommunismus« (Marx) inspiriert war. Müller ist dagegen klug genug, um zu sehen, dass sein utopisches Denken keine Adressaten hat. Bissig formuliert er im Rückgriff auf Hanns Eisler (nicht ohne Ironie ist hier der Komponist der Nationalhymne der DDR von ihm ›verwendet‹ worden): »[…] die Revolution oder der Sozialismus hätten erst eine Chance, wenn den Arbeitern die Hummersuppe aus den Ohren rauskäme.«30 Im Gegensatz zu der Erfolgsgeschichte der deutschen Wiedervereinigung sind die genannten Dichter eher angewidert vom »Court tittle tattle« (S. 257), zugleich aber fasziniert vom »Tanz der Vokale / Auf den Gräbern gegen die Schwerkraft der Toten / Und ihre Angst vor der ewigen Wiederkehr« (ebd.). Das eingebaute Nietzsche-Wort von der ewigen Wiederkehr des Gleichen verweist auf einen weiteren Zeitgenossen Mommsens, dem das Schreiben, ja sogar das Denken, nicht mehr gelang. Es wird noch weiter unten im Text von Nietzsche die Rede sein. Hier nur so viel: Das intertextuelle Textmanöver zu Nietzsche schließt hier zur Schizoanalyse nach Guattari auf. Es handelt sich bei dieser Ökosophie weniger um eine bestimmte Philosophie als um einen Bereich der psychoanalytischen Praxis. Sie zielt demnach auf ein ökologisch aufgeklärtes Handeln, das im Sinne des marxistischen Paradigmas der sozialen Revolution die Verbindung von Ökonomie, sozialer Sphäre und einer sich der Uniformität entziehenden Individualität berücksichtigt. Guattari kritisiert den von ihm bezeichneten »weltweiten integrierten Kapitalismus« scharf und hält fest: »[E]s wird auf die ökologische Krise nur in planetarischem Maßstab eine wirkliche Antwort geben, und nur dann, wenn sich eine authentische politische, soziale und kulturelle Revolution vollzieht, die die Ziele der Produktion materieller wie immaterieller Güter neu ausrichtet.«31
Anders als im Zielpunkt politischen Handelns, wie es die marxistischen Parteien des »realen Sozialismus« verstanden, worin der Einzelne im »Klassenbewusst28 Vgl. Müller, Heiner: Deutschland ortlos. Anmerkung zu Kleist. In: Ders.: Schriften. 2005, S. 382. 29 Müller, Lage. 1990, Umschlag. 30 Ebd., S. 92f. 31 Guattari, Félix: Die drei Ökologien. Hrsg. von Peter Engelmann. Wien: Passagen 2019, S. 13.
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sein« seine Individualität verliert, geht es bei Guattari um die Einheit von Differenzierung und solidarischem Handeln. Für den an der Praxis interessierten Autor, Intendanten und Akademiepräsidenten Heiner Müller lässt sich Geschichte, Politik und Schreiben nicht (mehr) miteinander in eine produktive Verbindung bringen. Schreiben? Was? Für wen? »Schon CÄSARS TOD ZU SCHILDERN hatte er [Mommsen – H. C. S.] /wenn er gefragt wurde nach dem ausstehenden / Vierten Band NICHT MEHR DIE LEIDENSCHAFT« (S. 257). Mit der Aufgabe des Schreibens stellen sich für Mommsen die Fragen neu: »ICH WEISS JETZT / LEIDER WAS ICH NICHT WEISS Zum Beispiel Warum / zerbricht ein Weltreich Die Trümmer antworten nicht« (S. 258). Bemerkenswert an dieser Stelle ist nicht nur der Inhalt, sondern auch die Form: Die Häufung der Versverstöße und das Fehlen der korrekten (genormten) Satzzeichen tendieren zu einem Ausstieg aus der Sprachgemeinschaft, der Müller schon einmal in der Krise vor der »Hamletmaschine« drohte. Mitten in seinem synthetisch montierten Stück »Traktor« formulierte der Autor einen Kommentar zum Text, der das »Ganze« an die Grenze zum Unspielbaren führte: »Das Gefühl des Scheiterns, das Bewußtsein der Niederlage beim Wiederlesen der alten Texte ist gründlich. […] Das Bedürfnis nach einer Sprache, die niemand lesen kann, nimmt zu, Wer ist niemand. Eine Sprache ohne Worte. Oder das Verschwinden der Welt in den Wörtern […].«32
Die zitierte Krise, die sich auf die Situation von 1974 bezieht, ist insofern interessant, als sie sich vor der Biermann-Affäre ereignete, in einer Phase der Honecker-Zeit, die unter den Intellektuellen als Tauwetterperiode erlebt wurde. Mithin ist so einiges in der Periodisierung der DDR-Kultur, die den Einschnitt vor allem mit dem Biermann-Ereignis verortet, noch zu überdenken (dies nur am Rande). Einerlei – rund zwanzig Jahre später taucht das gebremste Denken, die Isolation erneut auf: »Wer ins Leere schreibt braucht keine Interpunktion« (S. 260). Der Text ist wiederum gespickt von Majuskeln, die auf eine andere Bezugsebene (welche?) verweisen, die Verse sind im Enjambement zerbrochen. Diese Brüche wiederholen damit die inhaltliche Aussage, dass ein Weltreich zerbrochen ist. Auch hier zeigt sich die Analogie von Mommsens Studienobjekt zu der Lebenszeit von Müller. Die Frage nach dem Warum des Zusammenbruchs des Sozialismus am Ende der 1980er Jahre lässt sich bis heute keineswegs komplett beantworten. Am Handeln von den großen Individuen ist die Entwicklung nicht mehr festzumachen. Es ist vielmehr die Ohnmacht Einzelner angesichts der politischen Bewegungen beschreibbar. Es stottern die Texte, würde ein Dichter formulieren. Die Gründe für den Zusammenbruch sind bis heute vielseitige Streitpunkte bei den Historikern und in den Politikwissenschaften. 32 Müller, Heiner: Traktor. Fragment. In: Ders.: Werke 4. Die Stücke 2. 2001, S. 491f.
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Mommsens Krankheit wäre eine Hypothese, die den Block verursacht habe: Die Diagnose lautet (im Gedicht mit Majuskeln geschrieben) »HEIMWEH DES GEISTES NACH DEM UN/SICHTBAREN REICH« (S. 258). Dieses Heimweh scheint der Sentenz verwandt zu sein, die bei Volker Braun zur gleichen Zeit in seinem Wendedrama »Iphigenie in Freiheit« beschrieben wurde. Besagtes »HEIMWEH DES GEISTES …« wird bei Braun in Anlehnung an den alten Goethe-Text zum Wunsch, »[d]as Land der Griechen mit der Seele suchend«33 (S. 16) zu finden. Bei Braun bekommt dieses »UNSICHTBARE REICH« noch eine weitere Dimension: »Vorbei die Langeweile Griechenlands. Das öde Feld belebt sich, meine Seele.«34 Erinnert sei da an Brauns Stück »Die Kipper«, als dort die damals skandalöse Bemerkung fiel vom »langweiligsten Land der Welt«, womit die DDR gemeint war. Um auf das Verweisspiel von Müller zurückzukommen: Mommsens und Müllers »UN/SICHTBARES REICH« sind different. Während sich Mommsens »UN/SICHTBARES REICH« »[…] AUF DEN LANDSTRASSEN DER PHILOLOGIE« (S. 258) ansiedeln musste, befand sich Müllers »UN/ SICHTBARES REICH« eher im Nirwana der philosophisch unterfütterten Utopie und wurde zeitweilig Kommunismus genannt. Das »UN/SICHTBARE REICH« wurde so gedacht, wie es Marx im kommunistischen Manifest als Assoziation beschrieb, in der die »freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«.35 Demgegenüber stellt Müller in seinem Gedicht den frommen Dilthey, der von einer Villa bei Neapel und einem anderen Reich träumt, das unter dem Namen Christentum firmiert. Müller dazu: »EIN KÖHLERGLAUBE« (ebd.). Alle genannten Autoren, die in der Formel des UN/ SICHTBAREN REICHs erfasst worden sind, vereint wiederum eine verwandte Formel: »Der Traum von Italien ist ein Traum vom Schreiben« (S. 259). Es geht dabei (wie bereits gesagt) um das Schreiben, das nicht gelingt. Der inneren Blockade, die Mommsen erfasste, weil er den vierten Band seiner Römischen Geschichte nicht zu Papier brachte, kommt der Wohnungsbrand »im Haus Mommsen Machstraße acht« (S. 258) zu Hilfe. 40.000 Bände plus Handschriften gingen dabei verloren, das Ausmaß kolportiert Nietzsche in einem Brief an Peter Gast. Nietzsche gesteht – auch im Sinne von Müllers Alter Ego – »›[es] drehte sich mir das Herz im Leibe um, und noch jetzt leide ich physisch, wenn ich dran denke. Ist das Mitleid? Aber was geht mich Mommsen an? Ich bin ihm gar nicht gewogen‹« (S. 260). Um der Sache willen empfindet Nietzsche Mitleid und ebenso ›um der Sache‹ willen wird dies von Müller erwähnt. Fragt sich nur, was ist hier mit »der Sache« 33 Braun, Volker: Iphigenie in Freiheit. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990, S. 16. 34 Ebd., S. 9. 35 Marx, Karl/Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei. (29. Aufl.) Berlin: Dietz 1967, S. 68.
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gemeint? Eingestreut in Mommsens Block, ist des Beschreibers frommer Wunsch: »Und ich wollte Sie könnten Kafka lesen Professor« (S. 262). Der Verweis auf Kafka, der die Literatur als »Angelegenheit des Volkes« bezeichnete, ist mehr als nur ein intellektuelles Textmanöver. Es zeigt noch einmal Müllers utopische Idee von einer »Kunst ohne Anstrengung, mit der Menschheit auf Du«36, wie er sie in seinem Beitrag zur Postmoderne bereits 1976 entwarf. Dass Kafka seine Literatur dem Feuer ausliefern wollte, wiederholt in gewisser Weise den Unfall bei Mommsen in der Machstraße. Der erwünschte (Kafka) und der tatsächliche Brand (Mommsen) stehen im Kontinuum weiterer Katastrophen, die im Zweiten Weltkrieg laut Müller weitere Brände schufen: »Ihre Akademie der Wissenschaften / Vom Sturz der asiatischen Despotie Produkt / Einer falschen Lektüre und fälschlich genannt / Sozialismus nach dem großen Historiker / Des Kapitals Den Sie nicht wahrgenommen haben / Arbeiter in einem andern Steinbruch« (ebd.). Die Linie, die Müller hier von Mommsen über Kafka, sodann über Lenin/Stalin bis hin zu Marx zieht, wurde in der wirklichen Geschichte als ein »Strickmuster der roten Cäsaren« bezeichnet. Sie ist als Bogen vom Römischen Reich bis in das zaristisch geführte Sowjetimperium gespannt, der mit »Soldatenstiefeln« »SEINEN Text« skandierte. Auf eine knappe Formel ist auf diese Weise das Misslingen der marxschen Theorie gebracht. Letztere wiederholt sich schließlich als »DER GROSSE OKTOBER DER ARBEITERKLASSE […] War ein Sommergewitter im Schatten der Weltbank / Ein Mückentanz über Tartarengräbern« (S. 262). Die überbordende Häufung der Metaphern, die Symbole für die imperialen Eroberungen und Reiche bilden, findet ihren Zielpunkt schließlich in einem Dialog von den aktuellen »Helden der Neuzeit […] Lemuren des Kapitals Wechsler und Händler« (ebd.). Dass hier noch einmal an Fausts Sterbeszenerie erinnert wird, geschieht freilich auch nicht zufällig, da die Erfindung des (Papier-)Geldes durch Mephisto doch zu einer neuen Religion geworden ist. Geld ist dann auch in diesem Dialog zwischen zwei Bankern die aktuelle Sinngebung von Wirklichkeit. Vom Medium des Textes wird der Dialog, der einmal Tragödien oder andere Dramen fundierte, abqualifiziert als: »Tierlaute Wer wollte das aufschreiben / Mit Leidenschaft Haß lohnt nicht Verachtung läuft leer« (S. 263). Hier begreift Müller erstmals die Schreibhemmung Mommsens, den er nun »Genosse Professor« (ebd.) nennt. Was sich schon lange angedeutet hat, geht nun in der Formel vom »Genossen« auf: Die Identitäten des Autors und die des Historikers Mommsen überlappen sich bis zur Deckungsgleichheit. Beiden gemeinsam ist dabei: »Wissend der ungeschriebene Text ist eine Wunde / Aus der das Blut geht das kein Nachruhm stillt, ein Schmerz in meinem wie lange noch atmenden Körper« (ebd.). Selbst nach der Nobilitierung, die Mommsen zuteilwurde, kann Erfolg den eigentlichen Schmerz nicht auf36 Müller, Schrecken. 2005, S. 209.
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wiegen. Die Literatur oder – wie es Müller bereits 1979 im Stück »Der Auftrag« den Verräter Debuisson formulieren lässt – »[…] meine Sache ist eine verlorene Sache […] die Poesie war schon immer die Sprache der Vergeblichkeit […]«.37 Das Schreiben ist damit zur Wirkungslosigkeit verdammt. Was am Ende der 1970er Jahre vielleicht noch provokant genug war, um eventuelle Gegenkräfte bei den Ausführenden oder dem Publikum zu erzeugen, scheint nun bittere Gewissheit zu sein. Zusammengefasst lässt sich feststellen: Müllers Schreibstörung, die sowohl die Form wie auch den Inhalt des Schreibens erfasst, ist nicht zu beheben. Sie geht über Jahrhunderte hinweg. Vor allem ist dieser Umstand dem geschwundenen Sinnhorizont von geschichtlich verantwortlichem Handeln zuzurechnen. Das »unsichtbare Reich« ist nicht einmal mehr in den Signifikanten aufzufinden. Es bleibt unsagbar oder mit Volker Brauns Worten in seinem Gedicht »Das Eigentum«: »Und unverständlich wird mein ganzer Text.«38
Literaturverzeichnis Braun, Volker: Das Eigentum. In: Grenzfallgedichte. Eine deutsche Anthologie. Hrsg. von Anna Chiarloni/Helga Pankoke. Berlin/Weimar: Aufbau 1991. Braun, Volker: Iphigenie in Freiheit. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990. Die Unschreibbarkeit von Imperien. Theodor Mommsens römische Kaisergeschichte und Heiner Müllers Echo. Hrsg. von Wolfgang Ernst. Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 1995. Guattari, Félix: Die drei Ökologien. Hrsg. von Peter Engelmann. Wien: Passagen 2019. Guattari, Félix: Schizoanalyse und Wunschenergie. Guerilla in der Psychiatrie. Bremen: Edition Subversion, Verlag Impuls 1979. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Rhizom. Berlin: Merve 1977. Hauschild, Jan-Christoph: Heiner Müller. Reinbek: Rowohlt 2000. (letzter Zugriff: 30. 07. 2020). Hofmannsthal, Hugo von: Ein Brief. In. Ders.: Der Brief des Lord Chandos. Erfundene Gespräche und Briefe. Hrsg. von Lorenz Jäger. Frankfurt/Main: S. Fischer 2002. (letzter Zugriff: 30. 07. 2020). Marx, Karl/Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei. (29. Aufl.) Berlin: Dietz 1967. Mommsen, Theodor: Römische Kaisergeschichte. Nach den Vorlesungsmitschriften von Sebastian und Paul Hensel 1882/86. Hrsg. von Barbara/Alexander Demandt. München: C. H. Beck 1992. 37 Müller, Heiner: Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution. In: Ders.: Werke 5. Die Stücke 3. 2002, S. 31 und S. 37. 38 Braun, Volker: Das Eigentum. In: Grenzfallgedichte. Eine deutsche Anthologie. Hrsg. von Anna Chiarloni/Helga Pankoke. Berlin/Weimar: Aufbau 1991, S. 109.
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Müller, Heiner: Anmerkung zu Wolokolamsker Chaussee. In: Ders.: Stücke 5. Werke 3. Hrsg. von Frank Hörnigk. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002. Müller, Heiner: Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution. In: ebd. Müller, Heiner: DER SCHRECKEN DIE ERSTE ERSCHEINUNG DES NEUEN – Zu einer Diskussion über Postmodernismus in New York. In: Ders.: Werke. Bd. 8. Schriften. Hrsg. von Frank Hörnigk. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005. Müller, Heiner: Deutschland ortlos. Anmerkung zu Kleist. In: ebd., S. 382. Müller, Heiner: Ein Brief. In: ebd., S. 175. Müller, Heiner: Die Hamletmaschine. In. Ders.: Werke 4. Die Stücke 2. Hrsg. von Frank Hörnigk. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001. Müller, Heiner: Traktor. Fragment. In: ebd. Müller, Heiner: Ein Gespenst verlässt Europa. Fotografien von Sibylle Bergemann mit einem Nachwort von Peter Voigt. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1990. Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer 1–3. Frankfurt/Main: Verlag der Autoren 1986–1994. Müller, Heiner: »Jenseits der Nation«. Heiner Müller im Interview mit Frank M. Raddatz. Berlin: Rotbuch Verlag 1991. Müller, Heiner: Mommsens Block. In: Ders.: Werke 1. Die Gedichte. Hrsg. von Frank Hörnigk. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, S. 257–263. Müller, Heiner: »Zur Lage der Nation«. Heiner Müller im Interview mit Frank M. Raddatz. Berlin: Rotbuch Verlag 1990. Müller, Heiner: Dem Terrorismus die Utopie entreißen. Alternative DDR. In: ebd., S. 9–24. Stillmark, Hans-Christian: Bemerkungen zu Heiner Müllers Gedicht »Fernsehen« In: Diyalog. Interkulturelle Zeitschrift für Germanistik Organ des türkischen Germanistenverbandes GERDER Konya 2017. , S. 48–56 (letzter Zugriff: 24. 08. 2020). (letzter Zugriff: 30. 07. 2020).
III. Gespräche über das Schreiben
Carsten Gansel / Gerhard Wolf
»Wir haben ja laufend über unsere Arbeit gesprochen« – Ein Gespräch über »Herzenssachen« und wie jemand seinen Weg findet
Carsten Gansel. Sie sind noch vom Gymnasium in Bad Frankenhausen als Flakhelfer eingezogen worden und gerieten in den Zweiten Weltkrieg. Es folgte amerikanische Gefangenschaft, nach der Entlassung haben Sie 1947 das Abitur gemacht. Es folgte der Einsatz als Neulehrer, und 1949 begannen Sie mit dem Studium der Germanistik und Geschichte in Jena. Gerhard Wolf. Das muss ich etwas präzisieren. Ich wurde als Oberschulhelfer eingesetzt. Das war etwas Anderes als Neulehrer. Die Neulehrer wurden länger ausgebildet. Es wurden damals zusätzlich Kurse eingeführt für Oberschulhelfer. Man wurde ein viertel Jahr in einem Fach getrimmt und konnte dann arbeiten. Ich wollte eigentlich Deutsch machen, kam da aber nicht rein in den Kurs, und stieg in Biologie ein. Ich war dann also Biologielehrer, mit 19 Jahren, und die Schüler sind kaum jünger gewesen. Entscheidend war: Man bekam die Zusicherung, dass in dem Fall, da man das zwei Jahre lang macht, einen Studienplatz sicher hat. Das war wichtig, denn ich war kein Arbeiterkind. CG. Wir müssen ergänzen, dass in der SBZ und dann in der DDR Kinder, deren Eltern man von der sozialen Herkunft der Arbeiterschaft beziehungsweise der Arbeiterklasse zurechnete, bevorzugt zum Studium zugelassen wurden. Es ging, wie es damals hieß, um die »Brechung des Bildungsprivilegs«. GW. Ja. Christa war auch kein Arbeiterkind, und sie wurde zuerst nicht zum Studium angenommen. Da fuhr ihr Direktor von Bad Frankenhausen zum Kulturministerium nach Weimar, und er sagte, sie müssen diese begabte junge Frau aufnehmen. Und Christa wurde aufgenommen. Wir bekamen kein Stipendium nur eine Studienbeihilfe. Das war weniger. Ich kam etwa 14 Tage später in Jena beim Studium an, weil ich noch auf einem Kulturbundlehrgang gewesen war. Aber zurück zu der Zeit als Oberschulhelfer beziehungsweise Lehrer. Es war eine Einheitsschule in Schlotheim, also eine 12-Jahresschule, alle Jahrgänge bis zum Gymnasium befanden sich unter einem Dach. Es waren noch zwei, drei
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andere Oberschulhelfer dort. Es gab damals noch keine Lehrbücher. Ich musste mir entsprechend selbstständig Material besorgen und bezog die Schüler dabei mit ein. Das war eine sehr gute Atmosphäre. Zum 80. Geburtstag hat mir eine Gruppe von damals noch ein Schreiben geschickt und gratuliert. CG. Das spricht für sich. Wir wollen auch hier ansetzen und den nächsten Schritt ins Auge fassen, von dem Sie schon sprachen, das Studium in Jena. In Jena lernten Sie Christa Wolf, ihre spätere Frau, kennen. 1951 kam die Hochzeit und als die erste Tochter kam, Annette, musste Geld verdient werden. Sie haben ihr Studium abgebrochen und sind zum Mitteldeutschen Rundfunk in Leipzig gegangen. GW. Das war eigentlich eine ganz gute Entscheidung. CG. Warum eine gute Entscheidung? GW. Es war so, dass ich mit meinen vier Semestern Germanistik den meisten Redakteuren dort voraus war. Vorgebildet durch die Realismustheorien von Georg Lukács. Ich kannte natürlich seine Bücher oder seinen Beitrag »Es geht um den Realismus«. CG. Georg Lukács’ Aufsatz ist damals in der Zeitschrift »Das Wort« erschienen, die in Moskau herauskam. Lukács war in der frühen DDR die wohl wichtigste Autorität in Hinblick auf Literatur und Theorie. GW. Ja. Bei Lukács war alles ideologisch determiniert. In der Redaktion des Rundfunks waren nur Leute, die aus der Nazizeit unbescholten waren. Wie eine Frau Aenne Keller und ein Dr. Richter. Die Leute hatten von der gegenwärtigen Literatur wenig Ahnung. Ich erinnere, dass der Mitteldeutsche Verlag fast zur gleichen Zeit wie im Westen Wolfgang Koeppens »Tod in Rom« herausgebracht hat. Und wir machten dazu beim Mitteldeutschen Rundfunk eine Sendung. Die Leitungsmitglieder des Senders waren Antifaschisten, die wie Karl Adolfs im KZ gewesen waren oder wie Heinz Zöger im Zuchthaus gesessen hatten. CG. Der Einstieg in den Rundfunk war, wie Sie gesagt haben, eine gute Entscheidung. Aber dennoch, immerhin haben Sie ein Studium aufgegeben, auf das Sie hingearbeitet hatten. Und Sie wussten damals nicht, wie und ob es weiter gehen würde. GW. Naja, das stimmt. Aber ich kam auf diese Weise in die Literatur, zunächst natürlich als Hilfsredakteur. Aber ich habe mich dort beim Rundfunk relativ schnell zurechtgefunden und ich bin dadurch überhaupt erst in dieses literari-
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sche Milieu hineingewachsen. Das wäre an der Universität so mit Sicherheit nicht gewesen. Christa konnte zum Glück weiter studieren bei Hans Mayer in Leipzig. Und ich war also beim Rundfunk. CG. Wir sprechen jetzt, das muss ich noch einmal nachfragen, vom Mitteldeutschen Rundfunk in Leipzig. GW. Ja. Und ich muss mich da ganz gut bewährt haben. Ich lernte Georg Maurer kennen, das war der wichtigste Mann des Literaturinstituts in Leipzig, er schrieb schon Sendungen und dort entstand dann eine Freundschaft mit ihm. Ich habe später beim Mitteldeutschen Verlag sämtliche seiner Bücher herausgegeben. Ich wiederhole es: Ich wuchs regelrecht rein in das literarische Milieu. Das ging gar nicht so sehr lange, bis es zu dieser komischen Geschichte kam. CG. Welche komische Geschichte? Ich erinnere, dass Sie dann schon in Berlin waren. Die Stadt war bekanntlich in unterschiedliche Zonen und in Ost- und Westberlin geteilt. Und die DDR existierte seit Oktober 1949. GW. Ja. Aber zur komischen Geschichte: Es ist 1951 gewesen, dass die Masurenallee, in der bis dahin noch der Berliner Rundfunk Ost war, von den Engländern umzingelt wurde. CG. Der Ost-Rundfunk war im Westen, denn die Masurenallee gehörte zum Westen. GW. Genau. Es wurden nur noch Leute raus und niemand mehr hineingelassen, denn es hatte sich dort ein Republikflüchtiger, wie es hieß, der eigentlich zum Rias wollte, dorthin verlaufen. Die haben ihn dort festgehalten, und das war der Grund dafür, dass die Engländer die Allee zumachten. Das war eine eigenartige Situation, es wurden dann Konserven reingebracht zum Rundfunk, um durchzuhalten. Letztlich war dies mit ein Anlass, das Staatliche Rundfunkkomitee zu gründen. CG. Mit der Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 wurden auch entsprechende Senderstrukturen aufgebaut und der Berliner Rundfunk befand sich – wie gesagt – in der Masurenalle im Westteil der Stadt. Das war das frühere Haus des Rundfunks am Funkturm. Von hier aus hatte Goebbels bis zum Schluss Durchhalteparolen senden lassen. Und nachdem die Rote Armee Berlin befreit hatte, nutzte sie das Gebäude, das nicht zerstört war, sofort zum Aufbau eines neuen Senders. Das war der Berliner Rundfunk. Als dann die westlichen Alliierten in Berlin ankamen, da
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wurde Berlin entsprechend der Vereinbarungen in Jalta aufgeteilt. Und nun lag dieser Ostsender im Westen. GW. Das stimmt. Und das konnte so nicht weiter gehen. Aber das Problem war: Man musste einen Gebäudekomplex finden. In der Nalepastraße war ein großer Gebäudekomplex, eine geplante Fabrik, das wurde alles umgebaut und 1953 war es fertig. Aber vorher wurden Notunterkünfte gesucht, und wir waren zunächst in einem großen Regattahaus in Grünau direkt an der Rennstrecke untergebracht, bis das Haus in der Nalepastraße fertig war. Das wurde schnell alles umfunktioniert, sodass man Aufnahmen machen konnte. Letztlich wurden drei Sender gegründet, der Deutschlandsender, Berliner Rundfunk und Radio DDR, und ich kam Gott sei Dank zum Deutschlandsender, was sehr schön war, weil das eben noch eine deutsche Kultur war, und das war natürlich ein tolles Sprungbrett. CG. Sie waren ja zu diesem Zeitpunkt bereits in Berlin. GW. Ja. Ich musste in Berlin zur Untermiete wohnen. Christa wohnte in Leipzig, es kam das Kind, und sie wartete jedes Wochenende auf mich. CG. Also sind Sie gependelt. GW. Ja, so oft ich konnte, meistens jede Woche. Später hatte ich in Köpenick ein Zimmer. CG. Vermutlich zur Untermiete. GW. Ja, ja, das waren damals alles noch Nachkriegszeiten, Wohnungen gab es keine. Von heute aus gesehen war das alles sehr seltsam, auch mit dem Rundfunk. CG. Inwiefern seltsam? GW. Ich meine den Rundfunk, denn ein Rundfunkhaus gab es noch gar nicht. Da war alles im Aufbruch. Seltsam auch insofern, als 1953 der 17. Juni kam und die Streiks begannen, da war das Haus gerade eröffnet. Gottlob haben die Streikenden nicht gewusst, was da untergebracht war. Wir haben unsere Sendebänder noch von Grünau dort in die Nalepastraße gefahren und kamen manchmal mitten in die demonstrierenden Massen rein. Es war sogar so, das weiß ich noch, dass in Weißensee an einer Kreuzung amerikanische Offiziere den Verkehr regelten, das waren schon irre Zustände. CG. In der Tat war der Rundfunk – damals wie heute – ein wichtiges Medium.
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GW. Ja. Wir brachten die Bänder noch rein in den Rundfunk. Ich erinnere auch, dass Brecht seinen Brief zum 17. Juni machte, den Ernst Busch verlesen sollte. Aber der wurde gekürzt. Es wurden nur die drei Sätze verlesen, in denen er seine Treue zur SED zum Ausdruck brachte, alles Andere wurde unterschlagen. Später, als ich ihn mal sprechen wollte, da sagte er: »Ich denke doch nicht daran, ich müsste ja eine weiche Birne haben, um mit Ihnen zu reden.« Ich sagte: »Das haben doch keine kleinen Literaturredakteure verantwortet mit ihrem Text.« Na gut, wir haben später wieder Sendungen mit ihm gemacht. CG. Historisch ist im Kontext mit dem 17. Juni 1953 Brechts Gedicht »Die Lösung« wichtig geworden, in dem er auf Kubas (Kurt Barthels) Beschimpfung der Arbeiter reagierte, die vermeintlich das Vertrauen der Regierung enttäuscht hätten. GW. Kuba nannte sich Kuba, weil er nicht mit Max Barthel verwechselt werden wollte, einem NS-nahen Dichter. Kuba war im Exil in England gewesen, und dort hatte er Erich Fried kennengerlernt. Dem gefielen seine Gedichte. Die waren gut. Etwa »Mäuseballade«. Erich Fried holte Kuba aus der jungen linken Sozialdemokratie im englischen Exil zur FDJ. Das hat er mir einmal erzählt. CG. Weil Sie Erich Fried ansprechen. Erich Fried hat von 1953–1968 bei der BBC einen politischen Kommentar verantwortet. »Persönliche Beobachtungen« hießen die, intern nannte man sie bei der BBD »Intimus«. In den »Intimus-Sendungen« sprach er jeweils am Montag etwa acht Minuten zu Zuhörern aus der DDR über politische, philosophische oder kunstkritische Themen. Wir haben dazu ein größeres Projekt geplant. GW. Ja, wir haben die Sendungen von Fried immer abgehört. Mit Fried waren wir auch befreundet. Ich erinnere mich an eine Tagung in Graz zum weiblichen Schreiben. Erich Fried und Christa waren auf dem Podium. Das war eine ganz angeheizte Stimmung in dem Saal. Man kam gar nicht mehr zu Wort. Und es gab Anwürfe gegen Fried. Und der schrie dann: »Seid Ihr denn verrückt«. Der Saal tobte. Und Fried war mit sich unzufrieden und fragte sich: »Bin ich denn so ein Macho?« CG. Genau, an diese Episode von der Tagung in Graz, daran erinnert Christa Wolf in ihrer Rede auf Erich Fried zum 65. Geburtstag. Wir haben die Rede im Rahmen der Projektvorbereitung gelesen. Christa Wolf spricht auch davon, dass sie sich wegen der aufgeheizten Stimmung im Saal nach einem Notausgang umgesehen hat. Aber lassen Sie uns zurückkommen auf Kuba. Bertolt Brecht reagierte auf Kubas Beschimpfung, dass die Arbeiter das Vertrauen der Regierung enttäuscht hätten, mit einem Gedicht. Er fragte, ob es dann nicht besser sei, dass die Regie-
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rung das Volk auflöste und sich ein anderes wählte. Brechts »Lösung« kann bis heute gelten, wenn Regierende nicht mit »ihrem« Volk zufrieden sind. Dafür haben wir ja durchaus auch in der Gegenwart Beispiele. Aber zurück zu Ihnen. Sie sprachen davon, dass Sie zum Glück zum Deutschlandsender kamen. Warum zum Glück? GW. Genau. Es war ein Glück. Ich kam durch den Deutschlandsender sehr viel mit westdeutschen Autoren in Berührung. Denn, wer bei den Kommunisten lesen wollte, der konnte das. Aber viele wollten das gar nicht. Es erschienen etwa die ersten Bücher von Heinrich Böll, wir konnten ihn Ende 1956 sogar in Köln besuchen. Von da an gab es die Bekanntschaft zu Böll. CG. Also waren Sie selbst bei Heinrich Böll? GW. Ja, er wollte wissen, was wir für Leute sind. CG. Das ist natürlich interessant und spricht für Heinrich Böll, der sich selbst ein Bild machen wollte. Denn: Autoren aus der DDR waren in den 1950er Jahren noch für Viele im Westen – Sie sagten es – schlichtweg Kommunisten, und mit denen sprach man nicht. GW. Stimmt. Daher wollte ein Teil der Autoren von uns nichts wissen, aber Böll, der wollte. Zuerst haben wir bei ihm zu Hause geklingelt und dann gingen wir in ein Café. Wie gesagt, seitdem gab es die Bekanntschaft und wir standen immer in Kontakt, die ganzen Jahre. Wir haben ja im Rundfunk auch viel von ihm gesendet und er konnte zufrieden sein. CG. Wie ging es weiter? Es gab schon bald den nächsten Einschnitt in der DDR, 1956. GW. Ja, 1956 und der berühmte Essay von Hans Mayer. Der sollte gesendet werden, aber leider hatte ihn vorher noch jemand anderes gelesen. Ich hatte ihn als verantwortlichen Redakteur abgezeichnet und saß im Presseclub in Berlin. Das war da, wo heute die Diestel ist, da war über eine ganze Etage der Presseclub. Und am Nebentisch saß Peter Huchel und sagte: »Da habt ihr euch wieder was Schönes geleistet, den Maier rauszuschmeißen und irgendein Rindvieh zu lesen«. Das wusste ich gar nicht. Ich hatte gedacht, das läuft mit dem Beitrag von Hans Mayer. CG. Es ging um Hans Mayers Beitrag, der den unscheinbaren Titel »Zur Gegenwartsfrage unserer Literatur« trug und der gesendet werden sollte. Es war im Kern
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eine sehr kritische Abrechnung mit dem Stand der DDR-Literatur. Der Beitrag wurde nicht gesendet, aber er erschien im »Sonntag«, der Wochenzeitung des »Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands«, um einmal den gesamten Namen des Kulturbundes zu nennen. In der DDR hieß er ja bis 1989 dann nur »Kulturbund«. GW. Genau. Der Beitrag erschien im »Sonntag«, den ja Heinz Zöger leitete, der Text war schon im Druck. Das war übrigens dann später einer der Anklagepunkte gegen Heinz Zöger in seinem Prozess. So bewegt waren die Zeiten damals, um das zu illustrieren. CG. Genau. Heinz Zöger wurde mit der sogenannten Harich-Janka-Gruppe, das ist ein Thema für sich, dann zu 30 Monaten Zuchthaus verurteilt. Danach ging er in die Bundesrepublik. Sie haben Jahrzehnte später, 2000, die Trauerrede auf Heinz Zöger gehalten. Sie findet sich in Ihrem neuen Band »Herzenssache«, der gerade erschienen ist. Wie ging es weiter?
Abb. 1: Gerhard Wolf am Schreibtisch.
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GW. Ich hatte weiter viele Kontakte zu westdeutschen Autoren. Mir fällt HansUllrich Nossack in Hamburg ein. Zu dem schrieb Christa eine sehr schöne Besprechung. Sie studierte damals bei Hans Mayer, fing aber auch schon mit ersten Rezensionen an, die wir zum Teil gesendet haben oder die sie anders publizieren konnte. Ich habe dann von 1954–56 meine zweite Studienhälfte in Berlin gemacht und es dort auch beendet. Christa ging 1953 zum Schriftstellerverband als wissenschaftliche Mitarbeiterin. CG. Bei wem haben Sie studiert in Berlin? GW. Bei Alfred Kantorowicz. CG. Genau. Alfred Kantorowicz war Professor für deutsche Literatur an der Humboldt-Universität. Er hat sich vor allem mit Exilliteratur und Heinrich Mann beschäftigt und auch die Ausgabe von Heinrich Mann in der DDR verantwortet. GW. Ja. Aber ich habe über Louis Fürnberg geschrieben und das Examen dazu gemacht. Kantorowicz war damit auch ganz einverstanden. Aber er ging dann schon bald, 1957, in den Westen. Im Grunde war er auch kein Germanist, aber es gab gute Assistenten an der Uni, und ich glaube, er wollte mich sogar als Assistenten gewinnen. Aber ich bin, Gott sei Dank, beim Rundfunk geblieben und habe dort weiter kleine Sendungen machen können. Ich wurde dann sogar Leiter der Kulturpolitik im Deutschlandsender, aber dann kamen die Ereignisse mit Ungarn 1956, und damit brachen die meisten Verbindungen nach Westdeutschland ab. Viele wollten nichts mehr mit dem kommunistischen Rundfunk zu tun haben. Es war auch die Zeit der Prozesse von Harich und Janka. Ab diesem Zeitpunkt wollte ich keine Karriere mehr beim Rundfunk machen. Ich bin dann 1957 ausgeschieden. Ich wurde freiberuflich. CG. Das war für die DDR, damals jedenfalls, ein gar nicht so gewöhnlicher Schritt. Denn Sie waren nicht Autor, sondern eigentlich Kritiker und Journalist und auch Wissenschaftler. Wie hat das funktioniert? GW. Mir kam damals entgegen, dass ich eine Ausstellung zum 50. Geburtstag von Louis Fürnberg gemacht hatte und später konnte ich mit der Witwe zusammen die Ausgabe dazu herausbringen. Fürnberg war mit 48 Jahren gestorben. Seine Frau erzählte mir, dass er, als er beim ersten Infarkt zusammenbrach, sagte: »Die Prozesse«. Und er meinte die Slánský-Prozesse von 1951. Sein Vorgesetzter, der Botschafter Fischel, wurde erschossen wurde und seinen Freund Eduard Goldstücker verurteilte man zunächst zu lebenslang. Ich glaube, dass für eine ganze Reihe von Autoren, die in der DDR lebten, der 20. Parteitag der KPdSU 1956 in
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der Sowjetunion wie ein Schock wirkte, der neben einer befreienden Wirkung auch gesundheitliche Folgen hatte. Brecht starb 1956 mit 58 Jahren, Johannes R. Becher 1958. Der in die DDR übergesiedelte F.C. Weiskopf schon vorher, 1955. Weiskopf war auch nicht alt, Mitte 50. Weiskopf kam mit Fürnberg 1953 in die DDR, was für sie eine Erlösung war, denn Weiskopf war Botschafter der CSSR in China. Man hatte ihn im Zusammenhang mit den Slánský-Prozessen zurückgerufen und verhört. CG. Aber auch Fürnberg hat mit Ihnen nicht über den Slánský-Prozess gesprochen. GW. Nein, über die Prozesse hat er nicht gesprochen. Ich glaube, er wollte die jungen Leute nicht damit belasten. Er wollte ihnen das ersparen. Fürnberg war froh, dass es eine Generation gab, die sich für das interessierte, was er und andere Autoren der älteren Generation machten. Er unterstützte junge Autoren. So entstand eine kleine Reihe für junge Autoren beim Volksverlag Weimar, aber es sind dann doch nur um die drei Bände erschienen. CG. Sie haben also die Ausstellung zu Fürnbergs 50. Geburtstag gemacht. Wie ging es weiter? GW. Die Ausstellung, das war ein erster Ansatzpunkt, und darauf konnte ich erst einmal aufbauen. Bis ich zwei Jahre später als Außenlektor zum Mitteldeutschen Verlag ging. Ich war damit aus dem ganzen Institutionenbereich raus. Ich habe manchmal auch Sendungen geschrieben. Meine Verbindungen zum Rundfunk waren also lose noch da, aber ich wollte in diesem Hause – wie gesagt – keine Karriere machen, das war vorbei. Von daher also die Entscheidung, freischaffend zu arbeiten. CG. Und Christa Wolf, wie lief es bei ihr in dieser Zeit. Sie ging ja zunächst auch in den Verlagsbereich. GW. Christa hatte ein kurzes Intermezzo als Cheflektorin beim Verlag »Neues Leben«, was überhaupt nicht ihre Sache war. Sie traf da auf alt eingesessene Lektoren, die sie gar nicht haben wollten. Christa hat das nur eine kurze Zeit gemacht und sie ging dann wieder weg, war dann noch kurz bei der »Neuen Deutschen Literatur«. Und dann ist eigentlich der »Bitterfelder Weg« ein Anstoß gewesen, dass wir sagten, wir wollen uns noch einmal verändern, wir wollen irgendwo ins Industriezentrum um Halle. CG. Bis 1957 war Christa Wolf noch wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Schriftstellerverband, davon sprachen wir schon. Danach die kurze Zeit beim
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»Neuen Leben« und dann bis 1959 Redakteurin bei der wichtigen Zeitschrift »Neue Deutsche Literatur«, die auch vom Schriftstellerverband verantwortet wurde. Können wir noch einmal einen Punkt machen und zu Ihnen zurückkommen. Auch, weil Sie mehrfach davon sprachen, dass Autoren aus dem Westen dann nach 1956 nichts mehr mit dem kommunistischen Radio zu tun haben wollten. Es ist eine Frage, die Uwe Johnson gestellt wurde, als er 1959 in den Westen »umgezogen« war, wie er immer sagte. Sein Gesprächspartner fragte ihn, ob er von der Dialektik beziehungsweise vom historischen Materialismus oder pauschal vom Marxismus etwas gelernt und für sich mitgenommen habe. Und Johnson antwortete mit »Ja«. Und dann stellte er sachlich-analytisch heraus, dass die Denkwege dieser Schule jetzt für eine breitere Auswahl an Denkmöglichkeiten sorgen würden. Nun ist ja Johnson – wie auch Christa Wolf – in Leipzig mit Hans Mayer in Berührung gekommen, beide waren seine Schüler. Wie ist das für Sie gewesen mit den »Denkwegen«. Haben Sie davon profitiert? GW. Johnson hat das sehr gut auf den Punkt gebracht. Eine Auswahl an Denkmöglichkeiten. Das betraf auch Christa und mich. Für sie war Hans Mayer natürlich eine Offenbarung. Mayer war damals jemand, der frei las. Und: In Jena waren sehr seltsame Leute, die möchte ich gar nicht alle erwähnen, da war Albert Malte Wagner, ein aus dem Exil in England zurückgekehrter Mann, der Professor wurde. Der leitete einige Jahre in Jena die Germanistik. Eigentlich war er kein Germanist. Solche Leute wurden von Hans Mayer überhaupt nicht anerkannt. Als Christa zu ihm kam, da wollte er sie zunächst gar nicht in sein Seminar aufnehmen, weil sie, wie er meinte, aus dieser untergeordneten Germanistik aus Jena kam. Aber sie hat es dann sehr schnell geschafft und machte 1953 ihr Examen bei ihm. Christa hatte Mayer sogar vorgeschlagen, über die Gegenwartsliteratur, die DDR-Literatur zu schreiben. Aber da sagte Mayer: »Das sind doch alles nur rot angestrichene Gartenlauben, das ist nichts für Sie«. Und so hat sie über Hans Fallada geschrieben. Zu dieser Arbeit hatte sie später keine große Beziehung, aber sie hat sich sehr fleißig mit dem Gesamtwerk von Fallada beschäftigt und die Arbeit wurde von Mayer mit »Eins« bewertet. Bei Uwe Johnson war das sehr schnell klar, dass er ein wichtiger Schüler werden würde. Bei Christa trat das erst viel später ein, das war noch nicht so erkennbar. Aber sie war eine sehr gute Schülerin und Mayer hatte natürlich sehr gerne berühmte Schüler. Irmtraud Morgner war auch eine. Und wenn sie von Marxismus sprechen, dann war ein wichtiger Berührungspunkt auch Ernst Bloch, aber er ging ebenfalls weg mit dem Mauerfall. Wir waren mit ihm bis zu seinem Tod verbunden. CG. Weil Sie von Hans Mayer sprechen. Als ich 1990 begann, für den Aufbau Verlag die zwei Bände zu Johannes R. Becher zu edieren und dafür in den Archiven saß, im Schriftstellerverband oder im Zentralen Parteiarchiv, das damals an der
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Ecke Wilhelm-Pieckstraße war, da hatte ich auch Kontakt mit Hans Mayer. Und er schrieb mir, dass Becher ein Glücksfall für die DDR-Kultur und die Literatur gewesen sei. Bei allem, was kritisch zu Becher zu sagen ist. GW. Becher wollte immer, dass eine Auswahl seiner Lyrik im Westen erscheint. Das ist nie gestattet worden. CG. Stimmt, zu Lebzeiten Bechers nicht. Aber Hans Mayer hat 1975 bei Suhrkamp dann einen Band Gedichte gemacht. Darin ist auch Bechers Gedicht »Turm von Babel«. Das war dann 1991 auch der Titel von Hans Mayers »Erinnerung an eine Deutsche Demokratische Republik«. GW. Ja. Genau. Aber der Gedichtband, den Hans Mayer mit Gedichten von Becher 1975 herausgab, erschien erst nach Bechers Tod. Becher ging es zu Lebzeiten um eine Auswahl der besten Gedichte. Leider hat Becher sich früh vom Expressionismus abgewandt und viel zu viel geschrieben. Seine »Poetische Konfession« ist noch viel interessanter als das, was er an Gedichten geschrieben hat. CG. Das sehe ich auch so. Bechers »Poetisches Prinzip«, das ist Mitte der 1950er Jahre im Aufbau Verlag erschienen. Becher geht hier auch seinem Schweigen und der Tatsache nach, dass die Literatur einem Thema ausgewichen sei, nämlich der Auseinandersetzung mit Stalin. Ein Schriftsteller müsse das Gedächtnis bewahren, vor allem auch darüber, was ab 1936 in der Sowjetunion unter Stalin geschehen sei. Das hat Becher geschrieben, aber letztlich streicht er diese sehr wohl selbstkritischen Passagen nach der Verhaftung von Harich und Janka. GW. Ja. Ich habe noch einmal über Becher geschrieben, über das Erzählgedicht »Mein Atelier«. Da sind ja gute Gedichte auch aus seiner Moskauer Zeit dabei. Die Angst vor dem Verschwinden. »Klopft es nachts an Deine Tür« – das hat mich interessiert. Sonst war Becher nicht mein Fall. Brecht in ganz anderer Weise natürlich schon. CG. Genau. Becher geriet 1936 ebenfalls ins Visier des Großen Terrors. Einmal wegen seiner Frau, die als Trotzkistin galt und zum anderen, weil er die bekannte Sitzung des sowjetischen Schriftstellerverbandes zu früh verlassen hatte. Dort wurden die Todesurteile der ersten »Moskauer Schauprozesse« bestätigt. Als ich mich Anfang 1990 mit Becher beschäftigt habe, da dominierte die kritische Sicht. Eben weil er auch später so viel verschwiegen hat. Heute würde ich das differenzierter sehen. Es war für Becher, aber nicht nur für ihn, eine tragische Situation. In Deutschland die Nazis an der Macht, dann der Hitler-Stalin-Pakt, später der
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Beginn des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion. Aber zurück zu Fürnberg. Die Ausstellung, die Sie gemacht haben, 1959. Die Ausstellung hieß »Der Menschheit Träumer«, glaube ich. GW. »… und Soldat«. Furchtbarer Titel. Leider wurde Fürnberg immer festgelegt auf die Zeile: »Die Partei, die Partei, die hat immer Recht«. Ich habe bei Faber & Faber vor einigen Jahren noch einmal einen Band gemacht mit den besten Gedichten von Fürnberg. Dieser Satz mit der Partei, worüber man sich später lächerlich gemacht hat. Fürnberg hatte das damals zum Trotz geschrieben, 1951, weil man ihn nicht eingeladen hatte zum Parteitag in der CSSR. Und das wurde dann fast zu einer DDR-Hymne, obwohl in Prag geschrieben. Der arme Kerl ist auf dieses Gedicht festgelegt worden. Gerade jetzt ist ein Band erschienen, den Ulrich Kaufmann und Harald Heydrich beim quartus-Verlag herausgegeben haben, der sehr viele Details enthält, die bisher unbekannt waren. »Louis Fürnberg. Texte zu Leben und Werk« heißt das Buch. CG. Genau. Das ist ein schöner Band, der ältere und neuere Text enthält, auch von Ihnen und Christa Wolf. Zu Recht wird darauf aufmerksam gemacht, dass Louis Fürnberg eigentlich einer der zu Unrecht vergessenen Autoren des 20. Jahrhunderts ist. Vieles über ihn ist gar nicht mehr bekannt. Etwa, dass Fürnberg aus einer deutsch-jüdischen Familie stammt und in Karlsbad groß wurde. Bis 1939 lebte er in Prag, und nach dem Einmarsch der Nazis versuchten er und seine Frau zu fliehen, wurden aber verraten. Seine Frau kam frei, er aber wurde durch verschiedene Gefängnisse geschleift. Schließlich konnte man ihn freikaufen und beide kamen über England nach Palestina. GW. Ja, er war in Palestina. Kam zurück. Dann hat er Glück gehabt. 1952. Sein Botschafter wurde, wie ich schon gesagt habe, erschossen. CG. Sie meinen den Slánský-Prozess 1952, der Schauprozess auf Geheiß Stalins gegen führende Mitglieder der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei. GW. Ja, genau. Fürnberg sagte immer: »Man hat mich vergessen«. Sein Freund Goldstücker wurde zu lebenslänglich verurteilt. Zum Glück wurde er begnadigt. Den habe ich kennengelernt 1958, als ich Franci Faktorová kennenlernte. CG. Erstaunlich ist, dass auch Günter Gaus im Gespräch mit Ihnen, das er im Rahmen der Reihe »Zur Person« 2003 geführt hat, auch wieder Fürnberg auf dieses eine Gedicht festlegt.
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GW. Ja, darum ist es auch schön, dass eine Studentin über ihn eine Examensarbeit schreiben wird. Und ich habe vorgeschlagen, dass sie das politische Zeug erstmal weglassen soll und sich die Literatur von Fürnberg vornimmt, also die »Mozartnovelle« oder »Fest des Lebens«. Also das, was er sonst gemacht hat. Dass man mal wegkommt von dem Klischee mit der Partei, was natürlich dazu gehört, aber eben nur ein Teil ist. CG. Sie sprechen es an. Eduard Goldstücker lernten Sie 1958 kennen. Und auch Franci Faktorová. Beide waren bei der Zeitschrift »Literární noviny«. Sie haben darüber in Ihrem Essay geschrieben, dem »Memorial für Franci Faktorová« in Ihrem neuen Buch »Herzenssache«. Über den Slánský-Prozess ist aber nicht gesprochen worden, schreiben Sie in Ihrem Essay. GW. Ja. Das hat man damals zunächst hingenommen, auch in meiner ersten Arbeit zu Fürnberg wird der Slánský-Prozess nur mit wenigen Zeilen erwähnt. Man konnte über das, was geschehen war, nicht wirklich offen reden. Auch bei Fürnberg wurde darüber nicht gesprochen, er hat das ausgespart. Sein Bruder war in Buchenwald ermordet worden. Über solche Dinge sprach er ebenfalls nicht. Fürnberg hat sich gefreut, dass da eine neue Generation war, die auf die alte zuging. Es gibt schöne Briefe an mich und Christa. Für uns war er ein väterlicher Freund und wir waren wirklich doll befreundet. CG. Das Phänomen des Nicht-Sprechens und Schweigens, das ist für diese schrecklichen Ereignisse im Kontext mit dem Stalinismus ohnehin kennzeichnend. Es betrifft ja auch die Jahre des Großen Terrors. Sie waren damals Anfang 30, also noch ein junger Mann im Vergleich zur älteren Generation, und sind mit dieser Generation, die Faschismus, Exil, Stalins Gulags, Weltkrieg, Holocaust erfahren und erlebt hat, bekannt geworden. Aber weiter gearbeitet haben Sie dann mit der jungen Generation. Zunächst aber erstmal eher theoretisch, nämlich zur Lyrik. Gemeinsam mit Rainer Kunze haben Sie einen Band gemacht zu »Fragen des lyrischen Schaffens«. GW. Ja, ja. Da ist auch etwas von Becher dabei und ein Gedicht von Brecht, das eigentlich einer Frau zugeschrieben wird, das ist darin enthalten. CG. Kann man sagen, dass Ihnen die Lyrik immer näher war als die Prosa? GW. Ja, auf jeden Fall. Das hat mich mit Fürnberg auch verbunden. Ich war von sehr früh an ein Rilke-Fan. Ganz früh habe ich Rilke gelesen, noch vor der Oberschule. Meine Mutter starb bereits, als ich zehn Jahre alt war; mein Vater war sehr sprachohnmächtig, der hat mit mir nie über meine Mutter gesprochen. Ich
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war also auf mich alleine gestellt und ich habe ein Notizbuch, da habe ich notiert, dass ich schon mit 14/15 Jahren Rilke Gedichte gelesen und notiert habe. Überhaupt waren Gedichte mein Halt und ein bisschen die bildende Kunst. Das waren zwei Pfade. Ich war zwar kein guter Zeichner, aber in Kunstgeschichte bekam ich immer eine »Eins« und von daher kam diese Berührung mit der Lyrik. Das hat mich zu Fürnberg gebracht, der sich ja in »Bruder Namenlos« damit auseinandersetzt. CG. Der Untertitel lautet auch »Ein Leben in Versen«. GW. Ja. Darauf habe ich auch die Studentin hingewiesen und auf die Krankengeschichte, die er ganz zum Schluss geschrieben hat, die aber Fragment blieb. Von hier aus einmal den Fürnberg zu betrachten, das ist interessant. Also einen anderen Weg zu gehen und das zu betrachten, was er außerhalb des Parteilichen geschrieben hat. Wobei das Jüdische kaum eine Rolle gespielt hat. Er war überhaupt nicht gläubig, er wurde als Kommunist verfolgt. Und erst als er hörte, dass die Angehörigen, der Vater, der Bruder umgekommen sind, da hat es ihn betroffen. Es gibt dann in Palestina die ersten Gedichte, die darauf hinweisen, dass er Jude ist. Das hat bis dahin in seinem Leben gar keine Rolle gespielt. Wobei seine Frau aus einer reichen jüdischen Familie kam. Er hat immer im Scherz gesagt, er habe eine Kapitalistentochter geheiratet. Na ja, Fürnberg, das war eine ganz wichtige Figur für mich. CG. Durch Fürnberg sind Sie zur Lyrik gekommen? Also, zuerst Rilke, dann hat Fürnberg das verstärkt. GW. Und zur Musik bin ich durch Fürnberg gekommen. Er setzte sich ans Klavier und spielte Dvorˇák. Fürnberg komponierte ja selber. Das war natürlich für mich eine Offenbarung. Für mich, der aus einer sehr kleinen Provinz, aus Bad Frankenhausen, kam und aus einem Elternhaus, das mit Kunst überhaupt nichts zu tun hatte, weder mit Literatur noch Kunst. Und dann war für mich ganz wichtig, als jemand, der nie in der FDJ irgendwie eingebunden war, der »Kulturbund zur Demokratischen Erneuerung Deutschlands«. Da war ich ganz früh schon mit dabei. Das war ja der Versuch, bürgerliche Leute einzubinden in den Neuaufbau der Gesellschaft. Ich war schon in Bad Frankenhausen als Schüler im Kulturbund und auch später als Lehrer. Da war ich sogar Vorsitzender des Kulturbundes. Durch diesen Kulturbund kam ich zu Lehrgängen nach Bad Sarow. Auf diese Weise war ich mit den ganzen Leuten bekannt, mit Klaus Gysi, mit Abusch, mit Becher. Mit allen diesen Leuten, die in der Kultur eine Rolle spielten. Der junge Mann aus der hintersten Provinz lernte also die Größen kennen, die zu den Kongressen kamen. Ich sah das Brechttheater – auch das war eine große Of-
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fenbarung für mich. Brecht kam auch mit dem »Hofmeister« nach Weimar. Brecht, das war ein wichtiger Bezugspunkt für mich. Später kam Arnold Zweig dazu, der wiederum mit Fürnberg bekannt war. Durch den Kulturbund lernte ich also diese ganze linke Emigration kennen, die aus dem Exil in die DDR gekommen war. CG. Welchen Eindruck hatten Sie von diesem Kreis, wenn Sie sich zurückerinnern? Waren das gesprächige Leute, interessiert und aufgeschlossen. Oder waren die eher arrogant und sich ihrer Bedeutung bewusst? GW. Das war sehr unterschiedlich. Becher war ziemlich unnahbar, hat mit uns nicht viel im Sinn gehabt, während andere mehr auf uns zugingen. Rudolf Leonard, den niemand mehr kennt, machte mal einen Kulturbundlehrgang, da war ich dabei. Ich wusste natürlich, dass er Gedichte geschrieben hatte. Später habe eine große Anthologie zur Exilliteratur gemacht, die leider nicht erschienen ist. Sie umfasst die verschiedenen Facetten des Exils von ganz links bis ganz rechts. CG. Warum ist daraus nichts geworden? GW. Das hing mit mir selbst zusammen. Ich wollte gern die bildende Kunst dazu nehmen, aber das war sehr aufwendig, auch mit den Rechten. Und letztlich ist das eingeschlafen, aber die Anthologie liegt so gut wie fertig da. Und die ist deshalb sehr interessant, weil es im Westen eine Anthologie gab, die hieß »Transit« von Walter Höllerer. Am Rande liefen dokumentarische Texte als Kommentare mit, etwa von Klaus Mann. Das habe ich genutzt. Ich habe das Heftchen noch. CG. Sie sagten es, Sie hatten eine starke Affinität zur Lyrik und Sie haben sich darauf spezialisiert. Zudem konnten Sie dann beim Mitteldeutschen Verlag, auf den wir ja bereits verwiesen haben, die Lyrik betreuen. GW. Genau, ich konnte jetzt beim Mitteldeutschen Verlag die ganze Lyrik machen. Das war so: Ich habe einen recht streitbaren Essay geschrieben in der »Neuen Deutschen Literatur«, in der NDL. Der hieß »Sieg der Dilettanten«, das war so Mitte der 1950er Jahre – 1954, 1955. Die Berliner Zeitung, die hatte eine gute Rubrik. Die druckte immer ein Gedicht auf ihrer Kulturseite ab, aber leider waren sehr schlechte Gedichte dabei, geradezu dilettantische. Es waren aber auch schwache Gedichte von Günter Kunert und von Reiner Kunze dabei, die fielen nun mit unter meine Kritik. Daraufhin haben die sich empört. Ich habe die beiden dann später kennengelernt, habe ja mit Kunze Gedichtbände gemacht,
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mit Kunert später auch. »Tagwerke« beim Mitteldeutschen Verlag, später beim Aufbau Verlag. CG. Also die waren Ihnen dann nicht böse hinterher? GW. Nö, die waren da reingerutscht in die Rubrik. Leider aber hat die Berliner Zeitung das Vorhaben dann abgebrochen. Ich hatte gehofft und gesagt, dass sie doch mal Gedichte von Peter Huchel oder Georg Maurer machen sollen. Warum bemüht man sich nicht um die gute Lyrik. Nein, die Rubrik wurde geschlossen, das waren so typische DDR-Geschichten. Ich wurde dadurch aber bekannt und konnte viele Kontakte knüpfen. Auch beim Mitteldeutschen Verlag. Schließlich kam jetzt die ganze Tauwetterperiode durch Abrechnung mit Stalin. Es gab in Moskau die großen Lesungen mit Jewtuschenko auf dem Gorki Platz. CG. Das muss man mit Blick auf die Geschichte und jene sagen, denen der Begriff »Tauwetter« nichts mehr sagt – heute. Mit »Tauwetter« war jene Phase in der Sowjetunion bezeichnet, die nach dem Tod Stalins und den Enthüllungen Chruschtschows über Stalins Verbrechen einsetzte. Wir sprachen vorhin davon, vom Großen Terror ab Mitte der 1930er Jahre. Chruschtschow, spielte im Rahmen der Entstalinisierung eine wichtige Rolle. Als er selbst dann 1964 von Breschnew entmachtet wurde, soll er gesagt haben: »Wenn Ihr mich absetzt und ich heute hier den Raum verlasse, dann gehe ich nach Hause und weiß, dass ich nicht erschossen werde. Das war es wert«. Die »Tauwetterphase« reichte über einige Jahre, und es gab Reformen in der Sowjetunion. Und Jewtuschenko, das sind die großen LyrikLesungen vor Tausenden, auch in großen Stadien. Einzigartig. Dann die Liedermacher wie Wladimir Wysotzki und Bulat Okudschawa. GW. Genau. Das alles, das schwappte über auf die DDR. Und hier kamen die großen Talente auf, die in den Arbeitsgemeinschaften junger Autoren waren. CG. Volker Braun und andere. GW. Ja, in Cottbus Joochen Laabs und Volker Braun. Ich lernte die kennen und in Berlin war es Karl Mickel, dann Sarah und Rainer Kirsch. Das war eine ganze Garde begabter junger Leute, die zum Teil auch bei Georg Maurer studiert hatten. Mit Georg Mauer habe ich später alle Bücher beim Mitteldeutschen Verlag gemacht. Also die Jungen, aus ihnen wurde schließlich das, was man die »Sächsische Dichterschule« genannt hat. Mit den meisten waren wir, Christa und ich, befreundet und es war immer eine realistische, aber kritische Lyrik, die mit dem sozialistischen Realismus im angedachten Sinne eigentlich nicht so viel zu tun hatte. Volker Braun sollte schon wegen des Gedichts »Jazz« mal aus dem Studium
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fliegen. Man musste schon sehr viele Sachen gegen Widerstände durchsetzen. Und auf diese Weise sind die Freundschaften und Verbindungen zu Autoren entstanden. Man wollte gemeinsam bestimmte Dinge machen. Adolf Endler gehörte auch dazu. CG. Von Leuten, die die DDR und den Literaturbetrieb nicht kennen, wird immer eine recht vereinfachte Sicht transportiert. Die Behauptung, dass Lektoren und andere Instanzen in Verlagen und Ministerien Zensur geübt hätten. Aber es war wohl in den meisten Fällen genau das Gegenteil. Autor und Lektor versuchten ein Projekt, also die Texte, die sie für gut hielten, durchzubekommen, mithin zu veröffentlichen. Und es ging nicht darum, sie zu verhindern. Was nicht heißt, dass es nicht auch solche Lektoren gab. GW. Genau, sicher hat es das auch gegeben, Zensur. Das hing ja immer von den Personen ab, die miteinander zu tun hatten. Aber in meinem Fall, war das Gegenteil der Fall, wie Sie gesagt haben. Wir haben versucht, mit den Leuten vom »Amt für Literatur« zu diskutieren, um einen Band durchzubekommen. Manchmal ging es um lächerliche Sachen, etwa um Liebesgedichte, die vermeintlich anstößig waren. »Alphabet des Morgens« hieß ein Band, da war ein Liebesgedicht mit dabei, da hieß es in dem Gedicht »Noctorno«: »… die Nacht/ sie band uns an die Stange der Lust«. Da sagte ausgerechnet die Lektorin vom »Amt für Literatur«: »Na, die Stange der Lust, das ist doch Pornographie.« Aber es war natürlich eine Metapher. Solche lächerlichen Diskussionen fanden statt, aber so war es halt – damals. Es wurde fast um jeden Band gerungen. Manchmal flog ein Gedicht raus und ich sagte: »Na gut, das kriegen wir nicht durch, aber der ganze Band ist gerettet.« Volker Braun hat den Besuch bei Kurt Hager einmal in einem Gedicht beschrieben. CG. Der Band »Alphabet des Morgens« war von Bernd Jentzsch. Ich glaube, es war sein Debüt. War Jentzsch nicht auch aus dem Umfeld von Hans Mayer? GW. Ja, Mayer hatte ihn einmal wegen einer Bemerkung, die ihm unstatthaft erschien, nach Jena verbannt. Das tat ihm leid. Jahrzehnte später, also nach 1989, sprach er sich für ihn aus. Jentzsch wurde dann zum Direktor des Literaturinstituts berufen. CG. Sie sprachen Kurt Hager an, der war in der DDR Mitte der 1960er Jahre Mitglied des Politbüros und Chef der Ideologischen Kommission, später dann Sekretär für Kultur, also die wichtigste Person in Kulturangelegenheiten bis 1989. Er spielte im Kontext mit Volker Brauns »Hinze-Kunze-Roman« eine gewisse verhindernde Rolle, wenn man das mal so sagen kann.
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GW. Kann man so sagen. CG. Aber nochmal zu Volker Braun und dem Gedicht, das Sie ansprachen. GW. Volker Braun hat das später beschrieben. »Empfang beim Würdenträger« oder so ähnlich hieß das. CG. Sie meinen das Gedicht »Empfang«, das ist in den 1970 Jahren erschienen. GW. Ja, da redet ihm der Würdenträger alle Konflikte weg und im Text heißt es: »Und als ich unten stand, da schrumpfte ich auf die Größe einer Laus«. Um Gottes Willen, Laus. Da haben wir aus der Laus eine Maus gemacht und bei der nächsten Ausgabe war es wieder die Laus. Also von heute aus gesehen, ging es um furchtbar lächerliche Dinge. CG. In der Tat. Haben Sie einmal überlegt, selbst Gedichte zu schreiben oder haben Sie welche geschrieben? GW. Das soll man lieber nicht erinnern. Das ist Lektoren-Poesie. Ich wusste, wie es gemacht wird, habe eins sogar mal veröffentlicht irgendwann. Gott sei Dank habe ich dann selbst gemerkt: das waren Fürnberg-Gedichte. Es gibt auch heute Leute, die gute Essayisten sind und dann Gedichte schreiben, und ich sage: »Hättest du es besser gelassen.« CG. Also Sie hatten selbst nicht die Intention zum Schreiben von Lyrik oder Prosa? GW. Nein. Ich wusste, was ich mache, wenn ich etwas mache. Ich merkte schnell, das ist überhaupt nicht mein Metier und habe das sehr schnell aufgegeben. CG. 1967 haben Sie dann in der Reihe »Schriftsteller der Gegenwart« beim Verlag Volk und Wissen eine Biographie zu Johannes Bobrowski veröffentlicht und 1971 kam »Beschreibung eines Zimmers« raus. Der Untertitel sagte schon, worum es ging: »13 Kapitel über Johannes Bobrowski«. Ich habe das Buch dabei. GW. Ich habe zuerst diesen Band für »Volk und Wissen« geschrieben und merkte, dass das Bobrowski nicht gerecht wird. Und ich habe dann wochenlang in seinem Zimmer gesessen und alles angeschaut und von da aus versucht, seine Welt zu beschreiben. Man wusste ja vorher mit den Begriffen wenig anzufangen. Es gibt von mir eine Gesamtschau über DDR-Literatur und westdeutsche Literatur. Und da kommt Bobrowski zwar schon vor, aber man merkt, dass ich das, was er geschrieben hat, nicht wirklich erfasst habe. Die westdeutsche Sache war
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deshalb wichtig, weil ich unheimlich viel zitiert habe in dem Band aus Texten, die es in DDR nicht gab. Enzensberger und Bachmann beispielsweise. Von manchen Urteilen möchte ich gar nicht mehr sprechen, aber darum geht es auch nicht. Wichtig war, dass ich gesehen habe, welches die Talente waren und eben aus den Texten zitiert habe. Von Enzensberger etwa aus »Landessprache«. Insofern ist das Bändchen interessant, denn es waren alles Bücher, die es in der DDR damals noch nicht gab. CG. Mit dem Band bei »Volk und Welt« haben Sie aber auf jeden Fall einen Anfang gemacht. Man darf nicht vergessen, dass Bobrowski damals in der DDR gar nicht so bekannt war. Er starb 1965 und 1967 war schon der Band von Ihnen da in der Reihe, das ist eigentlich nicht der Normalfall gewesen. GW. Ja, das ist richtig. In dem Band habe ich mich ihm, wie gesagt, genähert. Der Teil über »Litauische Claviere« ist schon ganz gut, das andere so germanistisches Zeug. Ich merkte, das reicht nicht. Zumal: Ich hatte ihn persönlich kennengelernt und wir hatten verabredet, dass wir uns treffen. Aber er ist zu früh gestorben an dieser Bauchfellentzündung. Ich habe mich dann hingesetzt und gelesen und gelesen. Ich kannte das doch alles gar nicht, was er geschrieben hat – oder dass er vor 1945 noch brave Gedichte schrieb. Einige wurden im Inneren Reich publiziert. Und 1951 hat er vollkommen neu angesetzt. CG. Ihre Frau, also Christa Wolf, hat sich von der Literaturkritik zur Prosaautorin entwickelt, während Sie den – sagen wir – reflektierenden Weg gegangen sind. So haben Sie junge Autoren entdeckt und mit denen Bücher gemacht. Schon seit Ende der 1950er Jahre. GW. Stimmt. Die kamen zu uns, die Autoren, in die Wohnung. Von Werner Bräunig gibt es eine schöne Schilderung, wie er bei uns war und was da ablief. Christa backt da sogar noch Fischfilet oder so etwas Ähnliches und wir diskutieren. Das ist ein sehr schöner Beitrag, der in einem der ersten Almanache des Mitteldeutschen Verlags abgedruckt ist. Den müsste man mal raussuchen. CG. Ich kenne diesen Text von Bräunig. In dem Beitrag zu Bräunigs »Rummelplatz« habe ich darauf verwiesen. Wir haben uns in unserem langen Gespräch vor einigen Jahren darüber ausgetauscht. Sie hatten mich auf eben diesen Text aufmerksam gemacht, das muss 2013 gewesen sein, also auch schon wieder sieben Jahre her. Ich war dann im Archiv. Aber den Text von Bräunig, den haben Sie mir – glaube ich – sogar per Fax geschickt, nämlich: »Der Autor und sein Lektor«. Bräunig schreibt davon, wie schwierig es ist, dass ein Autor und ein Lektor sich finden, also zusammenpassen. Und er schreibt davon, dass Sie sein erster Lektor
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waren und er Sie am Schwielowsee getroffen hat. In dem Text kommt dann auch Christa Wolf vor, und das, was Sie soeben angedeutet haben, dass sie gut Käsestangen und Steinbuttfilets macht. GW. Ja, ein schöner Text. Ich hatte Werner Bräunig herausgebracht mit Gedichten und einer ersten Geschichte, »Waffenbrüder«, die war nicht ganz so doll. CG. Genau. Darüber standen Sie auch im Austausch. Und auch zu »Rummelplatz«. Darüber haben wir damals ebenfalls gesprochen. GW. Ja, aber bei »Rummelplatz«, da war ich nicht mehr sein Lektor. CG. Genau. Aber Sie haben maßgeblich den Roman und seine Struktur mit angestoßen. Es gibt einen Brief von Ihnen an Werner Bräunig, da schreiben Sie in etwa, dass Sie nicht wüssten, wie er weiter über die Wismut Themen schreiben solle, aber der nächste Schritt, das müsse der von der Skizze zur Fabel sein. Das war Ihr Ratschlag an Bräunig damals. Und er hat Ihren Rat befolgt. GW. Na ja, sicher. Ja, am Anfang, da war ich noch beteiligt. CG. Da wir vom Beginn bei jungen Autoren sprechen. Wie haben Sie den Anfang von Christa Wolf empfunden? Sie haben junge Autoren gefördert. Wir sprachen gerade über den schönen Text von Bräunig, »Der Autor und sein Lektor«. Und jetzt war ihre Frau plötzlich auch eine junge Autorin. Wie hat das funktioniert. Haben Sie sie lektoriert von Anfang an? GW. Na ja, es gab diese erste Geschichte, von der sie sich später distanziert hat, die »Moskauer Novelle«. Da erzähle ich jetzt etwas, das noch nicht bekannt ist. Die eigentliche Liebesgeschichte fing 1954 an. Christa war auf ihrer ersten Auslandsreise in Ungarn und dort verliebte sie sich in einen bulgarischen Autor. Und er in sie. Christa und ich, wir waren ja sehr vertraut, und sie hat mir das sofort in Briefen mitgeteilt. Und nun kommt es: Da existiert sogar ein Manuskript, das ebenfalls bisher nicht bekannt ist, und das heißt »Budapester Novelle«. Das ist die eigentliche Liebesgeschichte und sie hat dann daraus diese »Moskauer Novelle« gemacht. Der Pavel in der Novelle, das ist übrigens der Vorname des bulgarischen Autors. Christa hat dann den Text ideologisch aufgeladen, aber sich später davon distanziert. »Sinn und Unsinn von Naivität« heißt der Beitrag. Also, wie gesagt, die Entstehung der »Moskauer Novelle« ist ganz anders als vermutet. Und ich habe natürlich ihre Entwicklung verfolgt, das war ihr erster Schritt. Aber ihr erstes interessantes Buch war dann der »Geteilte Himmel«, an dem ich natürlich sehr beteiligt war.
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CG. Wir müssen ergänzen, dass die Erzählung »Der Geteilte Himmel« 1963 erschien. Und es war auch der erste große Erfolg von Christa Wolf. Aber inwiefern waren Sie beteiligt? GW. Na, da war ich der Lektor. Die Geschichte sollte nicht zu reportagehaft werden. Da sind zum Beispiel der Prolog und der Epilog, das war meine Idee. Und Christa hat mir den Text dann auch gewidmet. Ich müsste nochmal nachlesen, ich hatte die Form bei Arnold Zweig gefunden, der hatte in einem seiner Texte auch so einen grundsätzlichen Prolog vorangestellt. Nach so etwas haben wir gesucht. Der Text hatte zunächst auch stark reportagehafte Züge, aber es sollte eine Erzählung oder ein Roman werden. Da haben wir lange überlegt. Auch der Titel ist von mir und auch die Idee für den Epilog am Ende. Den Titel, den haben wir dann natürlich nachträglich geschrieben, und auch den Prolog. CG. Eine Nachfrage an dieser Stelle. In einem Brief vom April 1958 fragen Sie Bräunig, ob er nicht Lust habe, eine Reportage zu schreiben. Aber sie müsse literarische Qualität haben, also »keine Zeitungsreportage«, sagen Sie, sondern es solle um eine Arbeit gehen, die erzählerische Elemente, Konflikte aufnimmt und austrägt. Wie war damals Ihre Sicht auf die Reportage. GW. Damals sah ich, glaube ich, die Reportage als eine Art Vorstufe zum eigentlichen Erzählen. Und natürlich habe ich zwischen einer Reportage in der Zeitung und in der Literatur unterschieden. Meine Überlegung in den Gesprächen mit Christa, also zum »Geteilten Himmel« war, dass es zu reportagehaft werden könne, zu wenig eine Geschichte erzählt wird. Es ging ja um eine Brigade, einen Betrieb, es ging um die Produktion. Das sollte erzählt werden, mit Konflikten. Letztlich sollten die reportagehafte Elemente, die durchaus eine Rolle spielen, nicht das eigentliche Erzählen überdecken. Daher also auch der Prolog und der Epilog. CG. Der Prolog, Sie meinen den Teil, in dem die Stadt kurz vor dem Herbst und auch der Himmel als Metapher mehrfach angeschlagen wird. Der Prolog endet mit dem Hinweis, dass die Leute sich wieder daran gewöhnen, ruhig zu schlafen, also eine Art Normalität einzieht, egal, wie man das jetzt gewichtet. GW. Genau. Und auch der Epilog, der fällt etwas heraus. Der Titel hieß zunächst »Zur Zeit der Trennung« und irgendwie war dabei »Wolken teilen den Himmel« oder so ähnlich. Und ich habe dann »Der geteilte Himmel« daraus gemacht. Es war also eine ganz enge Zusammenarbeit. Na gut, es ist sicher nicht ihr bestes Buch. Im Gegenteil, ihr richtiges Schreiben beginnt erst mit »Juninachmittag« und »Nachdenken über Christa T.«. Und in »Lesen und Schreiben«, da schildert
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sie den Übergang zu ihrer neuen Art zu schreiben. Die Essays, die sind wichtig. Da ist Christa natürlich sehr viel selbständiger. Aber das neue Schreiben, das sind natürlich immer die Reflexe auf Auseinandersetzungen gewesen. Ich meine, »Christa T.« ist natürlich die Abrechnung mit dem 11. Plenum. Es geht nicht zuletzt darum, dass damals ganz andere Lebensläufe existierten, als jene, die öffentlich dargestellt wurden. Und wir kannten diese Biographien. CG. Sie sprachen vom 11. Plenum des ZK der SED 1965. Das Plenum war eigentlich als Tagung geplant, auf der es um Wirtschaftsfragen gehen sollte. Walter Ulbricht hatte einen Reformkurs mit der Neuen Ökonomischen Politik eingeleitet. Rückblickend kann man sagen, dass dieser Ansatz ›konservativen Kräften‹ in der SED um Erich Honecker zu weit ging, weil sie den Verlust des Machtmonopols der SED befürchteten. Wir werden sicher darauf noch zurückkommen. Zurück zu Ihrem Hinweis auf die Auseinandersetzungen. In dem Gespräch mit Christa Wolf, dass wir 2010 im Zusammenhang mit dem Uwe-Johnson-Preis geführt haben – also, als wir bei Ihnen in Woserin waren – da fiel in dem Gespräch der Satz: »Konflikte haben mich zum Schreiben gebracht.« GW. Ja, das ist immer so gewesen. Als der »Geteilte Himmel« erschien, da gab es diesen Generalangriff vom damaligen Bezirkssekretär Sindermann. Was Sindermann gesagt hatte, das ging fast wörtlich in die Rezension von diesen beiden Leuten ein, die das geschrieben haben. Da ist dann von Dekadenz die Rede. CG. Ja, ich habe vor vielen Jahren einmal etwas zum »Geteilten Himmel« geschrieben mit dem Titel »Du bist ein weißer Rabe«. Vor unserem Gespräch habe ich das noch einmal gelesen. Auch den Anfang der Erzählung. Aber worauf Sie anspielen, das ist eine der ersten Rezensionen in der »Freiheit« in Halle. Und in der Besprechung, da ist die Rede von schwankenden und kleinbürgerlichen Leuten, die aber in der Darstellung von Christa Wolf positiv erscheinen würden. Und das sei eine dekadente Lebensauffassung, die in etwa der von Christa Wolf entspreche. Also, es ging bei der Kritik unter anderem darum, dass in der Erzählung keine hinreichend positive Darstellung von Vertretern der SED zu finden war. Man darf auch nicht vergessen, dass Horst Sindermann damals der 1. Sekretär der SEDBezirksleitung Halle war. Diese Rezension, von der wir gerade sprechen, die findet sich in dem Band von Martin Reso »›Der Geteilte Himmel‹ und seine Kritiker«. Das ist schon enorm, auch für die DDR, dass eine Erzählung solche Reaktionen ausgelöst hat. GW. Ja genau, das waren schon weitgehende Wirkungen, die der Text erreicht hat. Aber die Kritik, die es auch von Seiten einiger Autoren gab, etwa von Erik Neutsch, das war einer der Gründe, warum wir dann von Halle weg sind. Au-
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ßerdem waren wir mit Konrad Wolf bekannt, der wollte die »Moskauer Novelle« verfilmen. Das Drehbuch lag völlig fertig vor und es sollte gedreht werden, aber die Russen haben es verboten. Das Drehbuch hatten wir bereits mit ihm zusammen entwickelt, also mit Konrad Wolf. Den sowjetischen Entscheidungsträgern war der russische Held zu wenig positiv. Der Film wäre in Moskau gedreht worden und der wäre sicher als Film viel besser gewesen als die Novelle. Allein der Ort und die ganze Atmosphäre hätten vermutlich das entworfen, was in der Erzählung nur angedeutet ist. Das wäre mit Sicherheit ein guter Film geworden. CG. Sie sind aber mit Konrad Wolf in Verbindung geblieben und es kam das nächste Projekt. Wir sprachen schon davon, nämlich »Der geteilte Himmel«. Die Erzählung sollte verfilmt werden und das klappte auch. Ich muss vielleicht nachschieben, dass im Text wie im Film über die Liebe zweier junger Menschen erzählt wird, die an der deutschen Teilung scheitert. Es geht um ihre Träume, Ideale und ihre Suche nach Glück und Selbstverwirklichung. Und man kann eigentlich auch schon erkennen, dass eine Art Einfühlung in die Figuren existiert, eine Vorstufe von dem neuen Schreiben, von dem Sie schon sprachen. Aber zurück zu Konrad Wolf. GW. Ja, es war schön, dass wir trotz des Scheiterns der Verfilmung der »Moskauer Novelle« weiter mit Konrad Wolf Verbindung hatten. Genau, und er hat dann den »Geteilten Himmel« gedreht. CG. In den Hauptrollen waren Renate Blume und Eberhard Esche. Sie haben zusammen mit Christa Wolf am Drehbuch mitgearbeitet. Der Film ist sehr erfolgreich gewesen. Und er konnte einige Jahre nicht gezeigt werden – dann ging es wieder, dann wieder nicht. Es gibt ein Dokument von 1970, das haben wir bei der Tagung zu Ehren von Christa Wolf in Berlin 2014 gezeigt. Es ist die abschlägige Antwort auf den Antrag des VEB Progress-Film-Vertrieb auf eine »Zulassungsverlängerung«, so hieß das. Und in dem Dokument steht, dass die »Zulassungsverlängerung« nicht genehmigt wird mit der Begründung, der Film würde die »Republikflucht«-Thematik einseitig »hochspielen«. GW. Ja, das war so. Ein anderer Film starb mit dem 11. Plenum: »Ein Mann kehrt heim«. Auch da liegt ein Szenarium von uns vor. Er wohnte wirklich in unserer Wohnung in Karlshorst, Stechlinstraße 4, der Sohn eines deutschen Emigranten, der erst jetzt aus der Sowjetunion zurückkam. Und wir machten daraus eine Geschichte, wie schwer es für so einen jungen Mann ist – der war vielleicht Anfang 40 oder Ende 30 –, sich mit einer russischen Frau hier zurechtzufinden. Es ging also darum, wie der Mann jetzt aus der großen Sowjetunion in die kleine
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DDR kommt und mit vielen Problemen nicht zurechtkommt. Das war dann natürlich mit dem 11. Plenum vorbei. Ich bin aber weiter noch Dramaturg bei Konrad Wolf für die Filme »Ich war 19« und »Der nackte Mann auf dem Sportplatz« gewesen. Die Verbindung als Dramaturg habe ich behalten. Bei »Ich war 19«, da lag ich – wenn man die Historie nimmt – auf der Gegenseite, also in der Realität. Ich war noch eingezogen worden in den Krieg. Ich lag also auf der Seite der Oder mit unserer Flakbatterie und drüben auf der anderen Seite, da war sicher die von Konrad Wolf. Die Russen spielten »Rosamunde« und »Werft doch die Waffen weg«, bevor der Großangriff begann. Wir haben da Leitungen gelegt, ich war Telefonist. Also, es war ein Vorteil für die dramaturgische Arbeit, dass ich die damalige Situation von 1945 von der anderen Seite kannte. Also, wir waren mit Konrad Wolf sehr befreundet. Am 11. Plenum war es auch Konrad Wolf, der zu Christa sagte: »Du musst unbedingt sprechen.« CG. Wie ist Christa Wolf eigentlich da hineingeraten, in das ZK? GW. Sie war vorgeschlagen worden von allen möglichen Leuten. Etwa Alfred Kurella. Also, sie stand auf einer Liste. Und, wenn man erstmal drauf stand, dann war es arg schwierig, da rauszukommen. Und sie wollte nun auch nicht »Nein« sagen. Ich war eigentlich dagegen und ich habe gesagt: »Da kommen Dinge auf Dich zu, die kannst Du nicht mehr abschätzen.« Aber Konrad Wolf fand das gut, weil Christa eben aus dem Kunstbereich kam. Und da gab es auch gleich einige Episoden. CG. Können Sie andeuten, welche Episoden Sie meinen? Ich vermute, Christa Wolf hat schnell erfahren müssen, wie das mit dem ZK-Status funktioniert. GW. Genau, wir waren bekannt mit Otto Gotsche, der Sekretär von Ulbricht war. Christa betreute ihn beim Mitteldeutschen Verlag als Außenlektorin. Und sie hatte Auseinandersetzungen mit ihm, weil sie es mit Texten von Gotsche zu tun bekam, die viel zu oberflächlich geschrieben waren. Von da an bestand zwischen ihm und uns eine Spannung. Als Christa als Kandidatin ins ZK kam und einmal zu ihm sagte: »Hat eigentlich schon einmal jemand dem Bericht des ZK widersprochen?« Da schaute er uns groß an und sagte: »Du musst noch viel lernen.« Es gibt von Gotsche auch einen ideologischen Verriss von »Nachdenken über Christa T.«. Der war so schlimm, dass ihn damals niemand drucken wollte. CG. Also, Sie haben Ihrer Frau abgeraten Kandidatin des ZK zu werden? GW. Ja. Und da kamen ja die komischsten Dinge. Wenn man ZK-Mitglied wurde, dann bekam man 250 Mark und eine Pistole.
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CG. Wir wissen, dass sich Erich Apel, der Chef der Zentralen Planungskommission, vor dem 11. Plenum erschossen hat. GW. Na, das weiß man nicht genau, ob er sich wirklich erschossen hat. CG. Stimmt. Er wurde in seinem Büro tot aufgefunden, es heißt, mit einem Kopfschuss. GW. Jedenfalls hat Christa beides abgelehnt. Konrad Wolf sagte: »Das ist gut, dass Du dabei bist«, also im ZK. Und bei der Sitzung vom 11. Plenum, da haben viele gesagt: »Du musst sprechen.« Der Kurt Stern beispielsweise, mit dem waren wir befreundet. CG. Mit dem 11. Plenum und danach, da setzte eine Art politische Kampagne gegen Kunst und Literatur ein. Damit war angezeigt, dass die Reformphase zu Ende ist. Das ist dann auch so wahrgenommen worden von Künstlern. Ich erinnere einen sarkastischen Tagebucheintrag von Brigitte Reimann zum 11. Plenum, in dem sie davon spricht, das sei nun ein »harter Kurs«. Aber wie ist das eigentlich bei Ihnen beiden gewesen? Denn wir sprechen vom Schreiben, von Schreibmotivationen und -krisen. Christa Wolf sprach davon, dass Konflikte sie zum Schreiben gebracht haben. Und nun kam dieser Einschnitt, das 11. Plenum. Ein persönlicher wie politischer Einschnitt. Christa Wolf war die einzige, die eine Gegenposition äußerte. Und es gibt das Tonband, auf dem man hören kann, wie sie wiederholt unterbrochen wird. Etwa von Margot Honecker, die bereits damals Ministerin für Volksbildung war. Das muss Christa Wolf getroffen haben. Gab es eine Schreibkrise? GW. Ja, so war es. Der Dagobert Müller hat sie aus dem Verkehr gezogen. CG. Es geht um Prof. Dr. Dagobert Müller. Das war der Chef der Nervenklinik der Berliner Charité. GW. Ja, Dagobert Müller war auch im Regierungskrankenhaus ein wichtiger Mann. Er hat darüber hinaus auch einige Autoren betreut. Im Zusammenhang mit Christa hat er sie sozusagen aus dem Verkehr gezogen, das war eine Schutzfunktion. Wobei der sehr geschickt war. Er hat die Leute eigentlich bestärkt, bei ihrer Meinung zu bleiben. Das war für sie sehr heilsam. Christa hat übrigens herrliche Geschichten erzählt, die sie dann da erlebt hat, in den 14 Tagen. Da lag eine Frau von einem General, der auf der Ostseite der Mauer immer die Führungen machte. Und sie, also die Frau, wurde dauernd angerufen und beschimpft. Aber man bekam nicht raus, wer und was. Damit sie sich erholen
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konnte, kam sie in diese Klinik. Das war eine komische Sache. Man ging davon aus, dass man den Konflikt weitertragen muss, um ihn zu beherrschen. Sie wurde also ständig nachts angerufen in der Klinik. CG. Aber Christa Wolf kam dann aus der Klinik nach den 14 Tagen zurück. GW. Ja, Christa kam zurück. Sie ist seitdem nie mehr zu Sitzungen des Zentralkomitees erschienen. Es hat gedauert, bis sie wieder schreiben konnte. Und da haben wir gesagt, sie muss etwas darüber schreiben, wie jemand selbst seinen Weg findet. Wir waren ja mit Christa Tabbert sehr befreundet, die war auch Studentin bei Hans Mayer gewesen. Sie hat etwas über Fontane bei Hans Meyer geschrieben. Christa Tabbert ist aber einen ganz anderen Weg gegangen. Sie hat einen Tierarzt geheiratet, bekam drei Töchter. Das machte Christa zur Grundlage für ihren Text. CG. Mit Christa Tabbert sind wir bei der realen Person, also bei dem Stoff für eines der wichtigsten Bücher von Christa Wolf, »Nachdenken über Christa T.«, das 1968 erschien. GW. Ja, Christa hat das alles aufgeschrieben, was eine sehr schwere Sache war. Auch, weil sie diese neue Art des Schreibens für sich gefunden hatte. Der Text wurde aber vom Verlag zunächst vehement abgelehnt. Es gab ein Gutachten vom Verlag, dass Christa wieder gescheitert sei und sie vielleicht gar nicht mehr schreiben wird. Und dann kam noch der Eberhard Günther, der später Verlagsleiter beim Mitteldeutschen Verlag wurde. Aber damals war er noch Angestellter beim »Amt für Literatur«, der Zensurbehörde. Und der sagte auch, dass der Text nicht geht und nicht veröffentlicht werden kann. Und da gab es einen furchtbaren Disput und ich bin ausgerastet und habe ihn beschimpft. Anscheinend hat das irgendwie gewirkt. Christa hat dann noch, glaube ich, das 19. Kapitel dazu geschrieben. Und das war gut so. Schließlich hat das »Amt für Literatur« den Text genehmigt und das böse Gutachten vom Mitteldeutschen war vom Tisch. CG. Es gab bis zum Ende der DDR ja immer zwei Gutachten, ein Verlagsgutachten und ein Außengutachten. Aber, wenn das Verlagsgutachten schon vernichtend war, dann hatte ein Buch keine Chance eigentlich. Denn dann stand der Verlag nicht dahinter. Aber zum Schreiben und zu ihrem Verhältnis beim Schreiben: Sie haben – davon sprachen wir bereits – zu Werner Bräunig bei »Rummelplatz« gesagt: »Du musst von der Skizze zur Fabel kommen.« Wie ist es nun bei Ihnen beiden gelaufen, also bei Christa Wolf und Ihnen, sind Sie der Anreger gewesen?
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GW. Das glaube ich nicht. Ich meine, bei »Christa T.« bot sich das Nachdenken ja an. Und damit war die Struktur gewissermaßen gegeben. Und dann auch das Prinzip, sich selbst einzubringen, »subjektive Authentizität« also. Wir haben ja laufend über unsere Arbeit gesprochen und beim »Geteilten Himmel« bin ich, das sagte ich schon, fast Mitarbeiter gewesen. Aber dann, also später, war das nicht mehr so. Im Gegenteil, ich habe manchmal, wenn Christa etwas Neues schrieb, regelrecht gewartet, bis schon einige Seiten da lagen. Und ich habe heimlich reingeguckt und habe dann gesagt: »Jetzt läuft es.« Also, ich wollte nie zu früh kritisch eingreifen, um da nicht irgendetwas zu zerstören. Ich war immer der Meinung, dass sie das Beste aus sich herausholen soll. CG. Wann waren Sie der Auffassung, dass es läuft? Das ist übrigens eine Frage, die auch im Gespräch mit Günter Gaus eine Rolle spielt. GW. Bei »Kindheitsmuster«, da dauerte es, bis Christa ins Schreiben kam und wusste, wie es weitergeht. Da gibt es 13 Anfänge. Das hat eine französische Germanistin untersucht. Also es dauerte, bis die Struktur gefunden war. ReichRanicki betitelte dann seine Rezension mit »Christa Wolfs trauriger Zettelkasten«. Und Heinrich Böll schrieb dann als eine Art Erwiderung eine Besprechung, in der er Christa und den Roman verteidigt. In Frankreich war es »das« Buch. Übrigens berichtete uns der französische Übersetzer, dass in der englischsprachigen Ausgabe, die in den USA erschien, alle kritischen Bemerkungen zum Vietnam-Krieg gestrichen wurden. Gesagt hatte man uns das nicht. In der Sowjetunion konnte der Roman erst unter Gorbatschow erscheinen, weil wiederum dort die Auffassung bestand, dass die Rote Armee zu schlecht beschrieben worden wäre. CG. Bei »Christa T.« gab es von Marcel Reich-Ranicki die Aussage: »Christa T. stirbt an Leukämie, aber leidet an der DDR«. GW. Ja, deswegen ist das Zerwürfnis entstanden. Die Besprechung kam ins Vorfeld des VI. Schriftstellerkongress 1968. Reich-Ranicki wusste natürlich, dass seine Rezension wahrgenommen wird. Das Buch wurde ein Besteller im Westen und bekam hier drei Jahre keine Nachauflage. Es ist in weiteren Auflagen erst ab 1971 wieder erschienen. Wir hatten den Vertrag mit Luchterhand im Westen gemacht und aus Angst hatte der Verlag in der DDR, also der Mitteldeutsche, den Vertrag nicht unterschrieben, sondern wir konnten ihn unterschreiben. Und wir haben dann die Verträge für die ganzen Auslandsrechte mit der Maschine selbst gedruckt für Luchterhand. Denn der Sachs vom Mitteldeutschen, der hatte Angst, er würde da in etwas hineingeraten. Er war eine ängstliche Person, der hat sich
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auch vom Buch distanziert. Alle haben ihn dafür verachtet, aber er hat es gemacht. Na, das waren diese blöden Zeiten. CG. Und das Zerwürfnis mit Reich-Ranicki, wie kam es zustande? GW. Ja, das wollte ich sagen. Wir waren dann zur Messe in der Bundesrepublik und Reich-Ranicki sagte: »Jetzt müssten wir uns mal sprechen.« Und Christa sagte: »Mit Ihnen möchte ich nicht sprechen.« – und das war es! CG. Und warum wollte Christa Wolf – beziehungsweise warum wollten Sie beide – nicht mit Reich-Ranicki sprechen? GW. Na ja, er hatte durch den Satz »Christa T. stirbt an Leukämie, aber leidet an der DDR« eine ganz bestimmte Interpretation vorgegeben, die in der DDR mit dazu führte, dass der Text stark in die Kritik geriet. Dadurch war eine bestimmte Tendenz in der Bewertung entstanden. Und jetzt wollte er sie sozusagen auf seine Seite ziehen. Das klappte nicht und seitdem war der Laden aus. CG. Er konnte sehr nachtragend sein. GW. Nun, ich glaube, bei »Kein Ort. Nirgends« oder später beim Nachruf, da gab es eine vorsichtige Revision. Aber letztlich ging nach der Absage mit »Christa T.« kein Zug mehr rein. Wenn man einmal bei ihm »Nein« gesagt hatte, war man bei ihm durch und das war nicht mehr zu ändern. CG. Man kann sicher sagen, dass das, was Sie gemeinsam angegangen sind, ein Gemeinschaftsprojekt war, denn Sie standen immer im Austausch. Dieter Schlenstedt hat »Nachdenken über Christa T.« als die Gründungsurkunde der neueren DDR-Literatur bezeichnet. GW. Das wäre natürlich ganz schön, ja. Wobei nicht alle etwas damit anfangen konnten. Strittmatter etwa. Der war auf die Fabel eingeschworen und bei »Christa T.« sind das so Gedankenblätter. Strittmatter, der wollte ein durchgehendes Erzählen haben und nicht dieses hin und her. Also, das war nicht seine Sache. Aber wir waren gut bekannt, sicher nicht befreundet, und haben uns geschätzt. Christa hat den »Tinko« positiv besprochen. Eva Strittmatter fanden wir zunächst nicht so gut: »Ich möchte weiß sein wie mein Hund und in der Dämmerung leuchten.« Na ja. – Aber sie hat dann später mit ihren Gedichten einen Nerv getroffen und ist eine anerkannte Lyrikerin geworden.
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CG. Darüber soll Erwin Strittmatter nicht so erfreut gewesen sein. Es habe da, meinen einige, eine gewisse Konkurrenz gegeben. Bei Ihnen gab es das nie. GW. Nein, nein. Das sagt Christa auch in »Er und ich«. Im Gegenteil. Ich wollte immer: So gut wie möglich sollte sie sein, wie sie nur irgendwie konnte! Und da wurde viel gearbeitet, bis zum Schluss, also etwa bei beim letzten Roman »Stadt der Engel«. Das war ein langer, langer Prozess. Ich weiß noch, es fehlten dann hinten zum Schluss noch die Bezüge zur DDR, da mussten wir nacharbeiten. Oder etwa die Verbindungen zu »Medea« und die »Wüstenfahrt«. Das war nicht einfach. Frühere kleine Teile der Fassung zu »Stadt der Engel« sind in dem Band »Der Worte Adernetz. Essays und Reden« bei der Edition Suhrkamp erschienen. Auch »Wüstenfahrt« gehört dazu. CG. Hat Christa Wolf eigentlich täglich Tagebuch geführt? GW. Kalender täglich und dann Tagebücher. CG. Sie haben ja nie Tagebuch geführt? GW. Nein, ganz wenig mal ein bisschen, aber das kann man vergessen. CG. Die Frage wäre jetzt, warum haben Sie nie Tagebuch geführt und Ihre Frau doch? Gibt es da Gründe? GW. Ich war sicher kein Tagebuchschreiber. Es gibt ganz wenige Notizen, wenn ich mal eine Reise gemacht habe, um etwas festzuhalten – kann ich gar nicht mehr lesen in meiner kleinen Schrift da. Ich habe auch nie in ihre reingeguckt, das war tabu. Das war eine Vertrauenssache, das war ihre Sache. Das hat sie gemacht und das war sehr gut. Bei Brigitte Reimann sind die Tagebücher ja fast wichtiger als die Texte. Das ist bei Christa natürlich nicht der Fall, aber interessante Dinge werden das schon sein. CG. Sie haben nicht daran gedacht, etwas zu veröffentlichen. GW. Schon. Christa hatte mal zu meinem 80. Geburtstag das ganze Jahr über etwas geschrieben. Aber die Kinder meinten, das sei nicht so interessant. Wir haben es gelassen. Man muss überlegen, wo man da einsteigt. CG. Sicher eher in der Gegenwart und bei einer Konfliktsituation.
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GW. Ja, genau. Leider ist das Biermann-Tagebuch verloren gegangen, da waren wir in Ungarn. Und sie hatte es nicht in der Handtasche, weil da immer reingeguckt wurde, sondern in einem Reisegepäckstück und das ist verschwunden. Ich dachte, das ist bei den Stasi-Akten, aber da war es nicht. Das wäre so ein Einstieg gewesen. Da war die ganze Biermann-Geschichte dabei. CG. Das ist in der Tat schade. Aber kommen wir noch einmal auf die Texte zurück. Sie haben im »Nachruf auf Lebende«, diesem Nachlasstext, den Sie herausgegeben haben, notiert, dass das ein Stück gewesen ist, das Christa Wolf in einem Zug geschrieben hat. Also ohne große Unterbrechungen. Das war auffällig, weil das sonst nicht so gewesen ist. GW. Ja, das war sonst nicht so. Das war ein Anfang für »Kindheitsmuster«. Aber wir haben gemerkt: die Geschichte trägt nicht das ganze Buch. Die Veröffentlichung hat Sabine Wolf mir nahegelegt und ich fand das sehr gut. CG. Sabine Wolf ist die stellvertretende Leiterin des Archivs an der Akademie der Künste und sie verwaltet den Nachlass von Christa Wolf. Sabine Wolf hat auch den wunderbaren Briefwechsel von Christa Wolf ediert und herausgegeben. Eine tolle Arbeit. Aber zurück zu »Nachruf auf Lebende«. In dem Text findet sich ein für mich wichtiger Satz. Er gilt für das Dritte Reich, er gilt für die DDR und er gilt ganz genauso für die Gegenwart. Es geht um das Petzen. Also ich meine jene Episode, in der die Mutter die Tochter, also die Ich-Erzählerin, das erste und einzige Mal schlägt, wie es im Text heißt. Sie schlägt ihre Tochter, weil sie petzt: »Sollst Du petzen?«, ruft sie und schiebt hinterher, wo sie das denn her habe. Das Petzen also als Beginn eines Weges ins Verderben. So etwa heißt es im Text. Anders gesagt: Das Petzen ist eine moralische Kategorie. Mit dem Petzen fängt es an, dann kommt das Denunzieren. GW. Na ja, ihre Mutter hat eigentlich nie den Verlust des Hauses und des Lebens, das sie bis zur Flucht geführt hat, verwunden. Und es gab da schon ein ganz klares Wertgefüge in der Familie. Dazu gehörte auch ein stark ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl bei der Mutter. CG. Das gilt auch für Sie, oder? Auch das mit dem Petzen. Das ist nichts, das Sie gut finden würden oder je gefunden haben. GW. Weiß ich nicht, das stand und steht gar nicht zur Debatte für mich. CG. Wir müssen auf Ihren Band zu sprechen kommen, auf »Herzenssache«, der beim Aufbau Verlag erschienen ist. In dem Band sind viele schöne Texte von Ihnen.
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Ich habe ihn hier: Zu Carola Stern, zu Heinz Zöger, zu Stephan Hermlin. Heinz Zöger haben Sie erst später kennengelernt. GW. Ja, Zöger habe ich über Carola Stern kennengelernt. Mit der war er verheiratet. Wir sprachen ja darüber, dass er zunächst beim Rundfunk war und dann Chefredakteur des »Sonntag« und dann verhaftet wurde im Zusammenhang mit Harich und Janka und für einige Jahre ins Gefängnis musste. Danach ist er weg. Später haben die in Benz gewohnt. CG. Es gibt auch einen Text zur Freundschaft von Christa Wolf und Brigitte Reimann. Eigentlich sind Sie es gewesen, der die beiden Frauen zusammengebracht hat. Beide kannten sich vorher, aber zu einer Freundschaft ist es erst später gekommen. GW. Ja, ja, ich habe Brigitte Reimann dort besucht. Das war dieser sehr schöne Kreis um Martin Schmidt. Da sind wir sehr oft gewesen, wir waren befreundet. Es wurden dort Ausstellungen gemacht und wir haben dort mehrfach gelesen. Das waren ja sehr interessante Leute, richtige Bergarbeiter, Ingenieure und der Martin Schmidt war ja mal Pastor gewesen. Das war damals ein toller Kreis, wo man sehr offen reden konnte. Das lief unter dem Deckel des Kulturbundes. Und da habe ich Brigitte getroffen, das war nach der ersten Operation. Ich fand, wie sie mit ihrer Krebserkrankung umgegangen ist und das hinter sich gebracht hat, sehr bravourös. Und ich habe Christa davon erzählt, und da ist dann der Briefwechsel zwischen ihnen entstanden. CG. Wir sprachen soeben gerade von Freundschaft. Sie und Christa Wolf, Sie haben zahlreiche gute und feste Freundschaften aufbauen können. Wie sind die Freundschaften entstanden? GW. Es war meistens so, dass das Interesse darauf gerichtet war, wie sie als Menschen waren und was sie taten. Bei den Schriftstellern ging es um ihre Texte. Bei den Malern darum, was sie malten. So ist zum Beispiel eine Freundschaft und das Buch über den »naiven« Maler Albert Ebert entstanden, der ja nun wirklich ein malender Arbeiter war, aber dessen Bilder überhaupt nichts mit den damals gängigen Vorstellungen zu tun hatten. Ich setzte mich also hin und ließ mir von ihm aus seinem Leben erzählen. Und nach dem Tonband ist dann das Buch entstanden: »Albert Ebert. Wie ein Leben gemalt wird. Beschrieben und von ihm selbst erzählt«. CG. Das ist von 1974. Und wie war es bei Autoren. Sie haben ja eine große Anzahl als Lektor betreut und da entwickelten sich Freundschaften.
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GW. Ja. Dazu gehört beispielsweise Volker Braun, mit dem ich durch seine außergewöhnlichen Gedichte zunächst bekannt wurde, dann mit ihm an den Texten arbeitete, schließlich auch seine Frau kennenlernte und auf dieser Grundlage entstand eine bis heute andauernde Freundschaft. CG. Christa Wolf, Ihre Frau, hatte auch eine Runde mit Autorinnen, mit denen sie befreundet war. GW. Ja, es gab dann später Christa Wolfs Weiberrunde, wo sich befreundete Autorinnen monatlich abwechselnd in ihren Wohnungen trafen und sich über Arbeitsprobleme, Politik und alle Lebensverhältnisse austauschten. Dazu gehörten: Daniela Dahn, Sigrid Damm, Brigitte Burmeister, Gerti Tetzner, Helga Königsdorf, Brigitte Struzyk, Rosemarie Zeplin, die Frau von Günter de Bruyn. CG. Sie als Mann waren nicht dabei. GW. Nein, aber ich habe gekocht, wenn die Frauen bei uns waren. CG. Die Freundschaft von Brigitte Reimann und Christa Wolf existierte ja nicht von Anfang an, sie ist sozusagen gewachsen. Sie kannten sich von einer gemeinsamen Moskaureise. Wobei sie beide ja grundsätzlich verschieden waren. GW. Ja, ja. Brigitte hat Christa zunächst als Konkurrentin empfunden. Während Christa sie seit »Ankunft im Alltag« als interessante Person und Autorin sah. Christa hatte überhaupt keine Rivalitätsgeschichten. Also, sie hat andere Autorinnen nie als Rivalinnen empfunden. Ingeborg Bachmann hat sie verehrt wie sonst was. Ich wüsste kein Beispiel. CG. Wie haben Sie Brigitte Reimann in Erinnerung? GW. Sehr gut. Als sie uns dann besucht hat, fand ich, dass Brigitte eine völlig andere Person war, aber wir haben sie in jeder Hinsicht akzeptiert. So wie sie war und so wie sie lebte und was sie machte. Wir haben Sie in Neubrandenburg auch besucht. Und wie sie mit ihrer Krankheit umging, das war einfach, ich sagte es schon, bravourös. Christa hat sie oft in Buch, also im Krankenhaus, besucht. Die Lebensweisen waren natürlich gänzlich andere. Brigitte hat eine Familie, wie wir es waren, nie gehabt. Christa hat ihre Art sehr anerkannt und sie fand, dass »Franziska Linkerhand« ein richtig gutes Buch war. Und ich finde, wie gesagt, die Tagebücher ganz toll.
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CG. Wir kommen jetzt wieder auf Sie zu sprechen. Wir haben schon über die erste Generation gesprochen, die Sie gefördert und betreut haben, also ich meine Autoren wie Volker Braun, der etwa zehn Jahre jünger als Sie ist. Oder Joochen Laabs, von dem Sie zuerst sprachen. Dann kam eine nächste Generation. Eine Generation, die in etwa die Jahrgänge betraf wie ihre Töchter. Also Autoren, die in den 1950er Jahre geboren wurden wie Bert Papenfuß-Gorek oder Jan Faktor, der ihr Schwiegersohn wurde und ist. Wie kam es dazu, dass Sie sich für diese jungen Leute interessiert haben? GW. Na ja, ich glaube, es gab Anthologien von verschiedenen Verlagen jedes Jahr, wo alle etwas zulieferten. Da wurde ich aufmerksam auf Papenfuß, der war mir in der Anthologie der Interessanteste. Und dann haben wir ihn kennengelernt und unterstützt. Und so kam ich in Kontakt mit der ganzen Szene. CG. Wir sprechen jetzt von der sogenannten Prenzlauer Berg-Szene, also den jungen Autoren, und wir sind damit in den 1980er Jahren. Jan Faktor stand dem Prenzlauer Berg hier und da eher kritisch gegenüber. So erinnere ich das. GW. Na ja, ja und nein. Sascha Anderson konnte er, Gott sei Dank, von Anfang an nicht leiden. Aber er ist auf der anderen Seite auch eingetaucht in die Szene und Papenfuß hat er immer sehr geschätzt. Papenfuß kommt auch in dem neuen Roman »Trottel« von Jan Faktor, also Honza, vor. Er soll bei Kiepenheuer & Witsch erscheinen. CG. Das ging dann weiter. Sie haben die inoffiziellen Zeitschriften, die es in der DDR damals gab, unterstützt und dann haben Sie Ende der 1980er Jahre die wichtige Reihe »Außer der Reihe« beim Aufbau Verlag gemacht. GW. Ja. »Außer der Reihe« konnte ich ab 1988 machen und da sind die wichtigsten jungen Leute dabei. Es sind ja 12 Bände. Die ersten Bände haben sich gut verkauft und die letzten haben sie weggeschmissen, weil es nicht mehr ging. Einige sind dabei, die man vergessen hat. Rainer Schedlinski etwa. Er hat nie mehr etwas geschrieben. CG. Wenn wir von Jan Faktor sprechen, dann müssen wir auch etwas zu Franci Faktorová sagen, also Jan Faktors Mutter, die Sie schon seit Ende der 1950er Jahre kannten. Was hat Sie motiviert diesen Text zu schreiben, »Memorial für Franci Faktorová«? GW. Ja. Wir kennen uns schon sehr lange. Honza hat die Atmosphäre damals in seinem Roman beschrieben. Die drei Frauen, Oma, Mutter und Tante.
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CG. Sie sprechen jetzt von Honza, also Jan Faktor und seinem Roman, der einen nicht ganz leichten Titel trägt, nämlich »Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag«. Das ist ein wundervoller Text, tieftraurig und komisch. Und auch mit autobiographischem Hintergrund.
Abb. 2: Gerhard Wolf im Arbeitszimmer.
GW. Auf jeden Fall. Und Franci haben wir dann früh zu uns eingeladen. Sie hat Christa übersetzt: »Nachdenken über Christa T.« und »Kindheitsmuster«, dann »Kassandra«. Und dann war auch ihre Geschichte bekannt. Sie haben Theresienstadt überlebt und dort viel gelesen. Franci war eine Thomas-Mann-Verehrerin und liebte die deutsche Literatur. Franci hat den Goldstücker dazu geholt und der machte mit Böll dann ein Interview. Also Franci kannte viele Autoren und das hat uns auch sofort verbunden, als wir uns das erste Mal begegnet sind. Zwei Jahre später hat uns Franci dann in Halle schon besucht, da entstand eine Freundschaft. Und Christa und Franci, die haben sich dann auch geschrieben. Wir waren dann 1965, also noch vor dem 11. Plenum, in einem Erholungsheim auf Hiddensee. Und wir konnten da Franci und Honza einladen. Und das weiß
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ich noch, dass Honza auf der Klampfe ein Anarchisten-Lied in diesem Heim spielte. Er hat das heute noch drauf. CG. Dann bin ich gespannt auf Jan Faktors neuen Roman, der einen interessanten Titel hat, »Trottel«. Ich kenne einen Ausschnitt, in dem die Band »Rammstein« eine Rolle spielt. Und Sie, Herr Wolf, haben mir ja hier zur Begrüßung einen Song vorgelegt, den Jan Faktor Ihnen per Fax geschickt hat und den Sie beide sehr gut finden, nämlich »Los«. Den Text hat Till Lindemann geschrieben: »Wir waren namenlos / Und ohne Lieder / Recht wortlos / Waren wir nie wieder / Etwas sanglos / Sind wir immer noch / Dafür nicht klanglos / Man hört uns doch / Nach einem Windstoß / Ging ein Sturm los / Einfach beispiellos / Es wurde Zeit / Los«. Hoffen wir, dass Ihr schöner Band »Herzenssache« richtig »los geht«, um im Bild zu bleiben, und auch Jan Faktors neuer Roman.
Carsten Gansel / Irina Liebmann
»Wir haben uns sehr viel abverlangt, aber die Umstände auch« – Ein Gespräch über das Erzählen und wie ein »dreidimensionales Bild« entsteht
Carsten Gansel: Wir treffen uns hier in einem Café. Es gibt von Ihnen ein Hörspiel aus dem Jahre 1982. Das spielt auch in einem Café. »Sie müssen jetzt gehen Frau Mühsam«. Es spielt in Berlin im Jahre 1934. Im Zentrum steht die Frau des Dichters Erich Mühsam, die in ein Café am Wittenbergplatz kommt. Einige Tage vorher haben die Nazis im KZ Oranienburg ihren Mann, den Dichter Erich Mühsam, ermordet. Creszentina Mühsam ist im Begriff Deutschland zu verlassen, und im Café kommt sie mit einer jungen Kellnerin ins Gespräch. Irina Liebmann: Ja, »Sie müssen jetzt gehen, Frau Mühsam«, das war eines der letzten Hörspiele, das ich in der DDR gemacht habe. Es ist ein Dialog zwischen zwei Frauen. Ich habe lange dafür recherchiert. In der Akademie der Künste liegt Erich Mühsams Nachlass, und der Nachlass, der paßt wirklich in einen Schuhkarton. Es lag da ein Schuhkarton, worin sich ein paar Notizbücher befanden. In den letzten Notizbüchern finden sich Eintragungen, da dachte ich beim Lesen, der hatte doch bestimmt eine Freundin. Und es wäre schön so ein Gespräch zwischen zwei Frauen zu schreiben, weil das meiste, was überhaupt erhalten ist, das sind die Briefe von Zenzl Mühsam an ihren Neffen. Darin steht genau, wann sie aus Berlin abgefahren ist, dass sie die letzten Nächte nicht mehr nach Hause gegangen ist und vom Bahnhof Zoo irgendwie los ist in Richtung Prag. Und bei Mühsam steht immer: im Café »Adler« trifft er sich. Und da dachte ich, das wäre doch gut, so ein Gespräch von der Stimmung, die ich von der Zenzl wusste und diesen Umbruch: die Nazis kommen oder sind schon da. Und wir haben verloren! Und dass sie nicht weiß, wo sie noch bleiben soll, denn das hat sie auch geschrieben in den Briefen, und wenn so ein Café eben sehr früh aufmacht, dann geht sie dahin. Das ist die Situation. Ich habe das für eine klassische Hörspielsituation genutzt, eine Einheit von Zeit und Ort: So wie die Frauen da sitzen und reden, das sind dann 45 Minuten Dialog an einem bestimmten Ort. CG. Es ist – unabhängig vom Hörspiel – anscheinend so, dass Cafés für Sie spannende Orte sind?
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IL. Ja, ich finde sie schön. CG. In Ihrem Text »In Berlin« spielt das Café auch permanent eine Rolle. IL. Stimmt. Ich habe das im Osten sehr vermisst, ein richtiges Café! Mein Gott, wo man sitzen kann. Was hatten wir denn da? Na gut, man konnte überall einen Kaffee bestellen, aber noch nicht einmal ein Frühstück konnte man morgens dazu bestellen, nicht mal ein kleines. Da musste man eben ein Ragout fin nehmen, oder so etwas Ähnliches. Es war einfach nicht geplant, dass man morgens in den Cafés rumsitzt. Und schon gar nicht, dass es schön ist, und dass man verschiedene Zeitungen liest, ja überhaupt Lust hat, Zeitungen zu lesen, weil die unterschiedlich sind. Das habe ich mir immer gewünscht. Ich kann aber nicht sagen, warum ich diesen Wunsch hatte, denn ich bin ja in der DDR aufgewachsen. Offenbar ist das einfach ein menschlicher Wunsch in einer Stadt. CG. Cafés sind ja ohnehin für Leute, die literarisch oder als Reporter tätig sind, spannende Orte, denken Sie an den Anfang von Erich Kästner: »Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter«. Ein typischer neusachlicher Einstieg. IL. Ja, Cafés, das sind neutrale Treffpunkte, in denen nicht gesoffen wird. Denn das war ja das Andere, das waren die Kneipen. Eine Kneipe, das versteht jeder, auch im Osten. Aber ein Café, was wollen Sie mit einem Café? Das war wirklich der Arbeiterstaat, der sich das nicht vorstellen konnte. Das sind doch Penner, die da rumsitzen. Dabei gab es in Berlin schon sehr früh Cafes. Ich habe das einmal recherchiert, da gab es das Café Stehely, das war ein Schweizer, und das war an der Charlottenstraße. Ich habe mir Bilder besorgt vom Café Stehely. Wie sah das eigentlich aus zu seiner Zeit, und da war ich verblüfft – es war ein großes quadratisches Zimmer und die saßen alle am Rand auf Stühlen, als ob da getanzt werden sollte, was aber wohl nicht der Fall war. Es war ein Lesecafé. Mit dem Stehely begann in Berlin eine intellektuelle Kaffeehauskultur. Dazu gehörte auch das Rauchen. Das war in der Öffentlichkeit vor der Revolution von 1848 nicht erlaubt, es war erst danach möglich. Da musste es extra Räume geben im Freien, Tabagie, das war der Begriff dafür, damals gab es noch keine Zigaretten. CG. Genau, das Café und das Rauchen, beides ist miteinander verbunden. Wobei die Zigarette sich so recht wohl erst im 20. Jahrhundert durchsetzte. IL. Die Zigarette ist eine Erfindung, die auch mit dem Film zusammenhängt, mit diesen schicken Stars, das war neu, und das musste erst einmal eingeführt wer-
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den. Vorher wurde Pfeife geraucht und diese Pfeifen hingen in so einem Café oder Restaurant oder eben einer Tabagie. Wenn Sie Stammgast waren, dann hing Ihre Pfeife da, und der Tabak wurde auch dort gekauft und vom Wirt gestopft. Das war praktisch eine Rationierung, damit nicht zu viel geraucht wird, der Staat war zunächst dagegen. CG. Das war im historischen Berlin so. Dort gab es aber auch viele Gartenlokale. IL. Ja, wenn man so ein Gartenlokal hatte oder ein Lokal im Garten, dann war das genial – es ist luftig und man ist draußen, so wie es jetzt wiederkommt, durch Corona. Das ist wirklich lustig. CG. In der »Großen Hamburger Straße« spielt das Café für die Erzählerin auch eine Rolle. Aber lassen Sie uns auf ihr erstes Buch kommen, »Berliner Mietshaus«, das 1982 erschien. Im »Berliner Mietshaus« findet man ganz zu Anfang eine Aussage, die für Ihre Poetologie interessant ist. Sie schreiben hier: »Wenn man an einer Tür klingelt und mit dem Menschen, der öffnet, ins Gespräch kommt, erhält man eine Momentaufnahme von einem ganz bestimmten Punkt in diesem Prozeß«. Und, wenn man dann weiter an anderen Türen klingelt, dann ergibt sich eine – so heißt es – »aus dem einmaligen ins Unendliche gespiegelte Montage solcher Lebensausschnitte, zusammengefasst durch den gemeinsamen Wohnort«. Das war Ihnen, so vermute ich, von Beginn an wichtig, die Momentaufnahme, das Zufällige und die Montage. Wenig später betonen Sie auch, dass Sie kein Frageschema hatten, sondern sich auf den Prozess eingelassen haben. Warum eigentlich dieses Vorgehen? Denkbar wäre durchaus gewesen, wiederkehrende Fragen parat zu haben, die abgewandelt worden wären. IL. Nein, also ein Frageschema hätte ich nie, niemals gewollt! Im Gegenteil, ich sah das so wie einen Weihnachtskalender, eine Tür geht auf und dahinter findet sich eine Überraschung. Und ich war ja auch im Grunde bereits geschult durch Reportagen. Da hatte mich immer das Lebendige interessiert, also das, was ich nicht weiß. CG. Also keine Bestätigung dessen, was Sie schon wissen. Es ging Ihnen wirklich um den Bratkartoffelgeruch des Alltags, wie es einmal heißt. Kann man das so sagen? IL. Ja, aber nicht nur. Ich habe verstanden, dass sich aus der Menge ein Ganzes ergeben muss und das ist vielleicht wahrhaftiger als wenn ich jetzt nur einen Faden rausnehme. Und da komme ich auch in eine dritte Dimension, und es bleibt nicht nur zweidimensional, das war ganz klar. Und erst da erscheint die
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Überraschung und das Sinnliche, das Unabgegrenzte. Darum wollte ich von Anfang an auf das eingehen, was die Leute erzählen wollen. CG. Meinen Sie mit Anfang Ihren Start im Journalismus, mal vereinfacht gesagt? IL. Ja, für meine Reportagen war ich in Betrieben, ich wollte immer in Betriebe gehen. Die DDR war ja so ein werktätiges Land, die Arbeit war das Wichtigste. Ich war von der Hochschule gekommen, wusste darüber gar nichts, ich kam aus einer Akademiker-Familie wie es heute heißen würde, und ich wusste nicht, wie das mit der Arbeit aussieht in den Betrieben. Was machen die da und wie machen die das? Ich war dann sehr, sehr gerne in diesen Betrieben, und das ist vielleicht die wichtigste Erfahrung meiner Arbeit als Journalist, als Reporter gewesen, dass ich die Betriebe der DDR kennenlernte. Erzählt man heute davon, klingt das fast so, als ob man Leuten etwas aus einem Märchenland erzählt. CG. Sie beziehen sich auf die Atmosphäre, die es in den Betrieben in der DDR gegeben hat. IL. Es war ein unwahrscheinlich, wie soll ich das als Außenstehende sagen, kameradschaftlicher Umgangston. Also eine ziemliche Gleichheit und keine Buckelei vor irgendwelchen Obrigkeiten. Im Gegenteil, wenn da einer vorbei ging, aus der oberen Etage, dann wurde das kommentiert, je nachdem wie er bei den Leuten ankam und was er für Beziehungen zu ihnen hatte. Es gab Werkleiter, die waren so was von angesehen, ich würde über einen von ihnen gerne heute noch etwas schreiben. Angesehen aufgrund ihres Könnens und auch ihrer Hinwendung zu ihren Leuten. Im Unterschied zur Gesellschaft heute spielten Statusfragen kaum eine Rolle. CG. Anfang der 1990er Jahre gab es eine Ausstellung in Berlin mit Porträts von Arbeitern, Männern und Frauen. Die blickten voller Selbstbewusstsein in die Kamera. Auch im Wissen um ihre Fähigkeiten. Der Soziologe Wolfgang Engler hat zu dieser Ausstellung geschrieben: »So werden einfache Arbeiter nie wieder blicken«. IL. Ja ganz genau. CG. Das ist ein Punkt, der Leute gegenwärtig hoch sensibel macht, weil sie bemerken, dass je weiter sie in der vermeintlichen Stufenleiter unten stehen, desto mehr werden sie abgewertet. Das frühere Selbstbewusstsein, das ist weg, es ist verschwunden.
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IL. Sie werden einfach gar nicht gesehen. Und wir sollen alle genauso werden, ohne Selbstbewusstsein. Oder, wenn heute etwa gesagt wird, »ach so, und dann hast du Karriere gemacht«. Das ist eine Sehweise, die gab es, meine ich, im Osten gar nicht. Im Gegenteil, die Leute haben gesagt, ich will keine Karriere machen. Denn, wenn ich das noch mache und jenen Posten noch übernehme, dann habe ich viel zu viel Verantwortung. Das brauche ich nicht. CG. Sie kennen sicher den Roman von Erich Loest »Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene«, der 1978 erschien. IL. Nein. CG. Der Roman spielt in den 1970er Jahren und die Hauptfigur, Wolfgang Wülff, weigert sich »Diplomer« zu werden, weil er dann nämlich genau das machen muss, was Sie soeben beschrieben haben. Er müsste als Diplomingenieur mehr Verantwortung tragen, und das will er nicht. Erich Loest hat berichtet, dass dahinter Erfahrungen seiner Kinder standen. Die haben mit 25 Feste gefeiert: »Noch vierzig Jahre bis zur Rente«. Es ging ihnen gar nicht darum, dann in den Westen reisen zu können. Die waren Mitte 20, hatten zu Ende studiert, sie hatten ihre Arbeit, sie waren verheiratet, hatten ein kleines Kind, ein kleines Auto, einen Trabant. Und da meinten sie, dass in den nächsten 40 Jahren nicht mehr viel passiert. IL. Ja, das war auch eine Seite der Arbeitersicht, die der Funktionär ungern sah. Der Arbeiter wollte Arbeiter bleiben. Aber in der Theorie sollte der Arbeiter Teil der herrschenden Klasse werden oder sie sein, und das ist ein großer Widerspruch. Mir ist schon lange klar geworden, dass das Geheimnis der Angehörigen der herrschenden Klasse nicht darin besteht, das sie tolle Wohnungen haben oder Jachten oder sehr viel Geld, sondern dass sie in ihrer Stellung im Produktionsprozess mit jeder Entscheidung auch politische Entwicklungen beeinflussen können. Es geht gar nicht anders, und genau das heißt »herrschende Klasse«. Dies bedeutet, ein Arbeiter kann wirklich nur zur herrschenden Klasse gehören, wenn er in die oberen Schichten der Leitung aufrückt. Und das sollte er ja auch. Aber, wenn er aus seinem Häuschen mit Garten und 10 Hühnern kommt, möchte er das nicht. Und er hat ja auch vollkommen Recht, das sinnliche Leben, das ist viel schöner. Damit kannte er etwas, was die anderen nicht kannten, die im Westen auf zahlreichen Internaten dazu gebracht worden sind, untereinander zu konkurrieren. Das brauchte der Arbeiter im Osten nicht. Er hat eine nette Frau, zwei Kinder, er fährt an die Ostsee am Wochenende und wenn das Auto nicht schlapp macht und er hat gute Kollegen – besser kann es ihm doch gar nicht gehen. In der DDR war sein Abteilungsleiter sein Kumpel, den hat er geduzt. Das wäre bei einem Chef aus dem Westen eher undenkbar. Und
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außerdem will ich noch dazu sagen: Es müssen diese Umstände sehr viele Leute im Westen sehr genau erkannt haben. Ich meine, vor allem daraus ergab sich nach 1989 die Einstellung: »Wir schicken euch alle erst einmal zum Arbeitsamt, und da werdet ihr sehen, was ihr wirklich seid.« CG. Es ist dies ein Vorgang, egal, ob er bewusst oder nicht bewusst in Gang gebracht wurde, der dem Einzelnen das Selbstbewusstsein nimmt! Wer sich anstellen muss, und dies immer wieder, der kommt letztlich zu dem Ergebnis, dass er oder sie nicht gebraucht wird und entsprechend nichts mehr wert ist. IL. Und dies nachdem es in der DDR jahrelang Losungen gab, auf denen in etwa stand: »Ich bin Arbeiter und wer ist mehr?« Man sah Bauarbeiter mit den Helmen auf Türmen und mit stolzem Blick. Aber die konnten doch auch stolz sein, es war ja doch nichts Konstruiertes, die schweren und großartigen Arbeiten, die gab es. Und was haben die nicht alles gebaut, mir wird das ja erst am Ende des Buches »Die Große Hamburger Straße« klar – unglaublich. CG. Sie sprechen von Ihrem letzten Buch, aber bleiben wir erst einmal beim »Berliner Mietshaus«. In der erneuten Auflage aus dem Jahr 2002 findet sich ein Nachwort von Ihnen. Und Sie erinnern darin, dass der sachliche Ton Ihrer 32 Porträts bei seinem Erscheinen der Obrigkeit nicht gefiel, der »ungewohnt kühle Blick wurde bemängelt«. Es fanden sich in dem Buch darüber hinaus Fakten, die zwar in Familien bekannt waren, also in dem, was man kommunikatives Gedächtnis nennt, aber eben nicht im kulturellen, dem staatlicherseits gestützten Gedächtnis vorkamen. Ich denke etwa an eine Episode, da Bruno C. aus dem Vorderhaus davon erzählt, wie er nach dem Gespräch mit Ihnen nachts aufgeschreckt sei und an die Menschen gedacht habe, die im Krieg bei Wilna in den Wald geführt und von der SS erschossen wurden. IL. Ich bin davon überzeugt, dass er damals jemandem von ihnen in die Augen gesehen hat. CG. Er sagt aber »es war die SS, wir waren ja Wehrmacht«. Also, vielleicht war es ein »Trick der Erinnerung«, denn spätestens seit der Wehrmachtsausstellung 1995 wissen wir von den Verbrechen der Wehrmacht. IL. Genau, aber damals, also, als ich das Buch schrieb, da glaubten wir das, und es sollte mich wohl auch beruhigen. CG. Ihr Ansatz damals ist dem von Uwe Johnson verwandt, der der Auffassung war, dass man an den kleinen Leuten besser als an Intellektuellen oder den Großen
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studieren kann, wie die Zeitläufte in das Leben des einzelnen eingreifen. Zu den Großen der Welt falle ihm, wie Heinrich Böll, ohnehin nur ein, dass sie RolexUhren tragen. Deswegen geht es in den »Mutmassungen über Jakob« um Jakob Abs, und der ist Eisenbahner. IL. Ja das war bei mir auch so, immer. CG. Weil man bei den sogenannten einfachen Menschen sehen kann, wie das Leben wirklich läuft. IL. Es ist ja bei uns allen so, jedenfalls bei mir – man lernt, man studiert, man macht irgendetwas Geistiges. Und man hat dabei immer das Gefühl, dass man am richtigen Leben nicht teilnimmt. Über diese Situation gibt es Regale voll mit Texten darüber, was denn heute eigentlich das richtige Leben sein soll. Man fühlt sich im geistigen Bereich nicht lebendig genug, und dann geht man zu denen, von denen man glaubt, die sind lebendiger. Und in der DDR war das wahrscheinlich die körperliche Arbeit in den Betrieben, die einen fasziniert hat. Und ich denke, dass ist auch ein Mangel bei einem selbst. CG. Ich weiß gar nicht, ob ich wirklich in der körperlichen Arbeit das Faszinierende sehen muss. Auch geistige Arbeit kann doch in hohem Maße befriedigen. IL. Ja, bei Autoren, die im Theater arbeiten oder beim Film. Das gegenseitige Beraten, der Austausch, das Entstehen einer Idee, das ist schon eine andere Qualität des Lebens, das kann lebendig sein, die Tatsache, dass man ein Gegenüber hat, dass etwas entsteht. Es muss ja nicht immer so gelehrt sein. Was noch dazu kommt: Wenn ich als Intellektueller so viel Abstand zu den Dingen gewinne, dass ich zu Schlussfolgerungen kommen kann, die mir das Gefühl geben, nicht so in die Geschichte gestürzt werden wie ein Bittsteller auf dem Arbeitsamt, das kann für den Einzelnen ein Gewinn sein, von dem zehrt er dann. CG. Im »Berliner Mietshaus« sind übrigens noch weitere Aspekte angesprochen, über die in der DDR damals eigentlich nicht gesprochen wurde. Es ist die Rede von »Reichsdeutschen«, es sind nicht »Reichsbürger« gemeint, von denen heute immer die Rede ist. IL. Ja. Es ging um die »Reichsdeutschen«, die 1939 von Goebbels aufgefordert wurden, aus Rumänien nach Deutschland zu kommen. CG. Genau. Das »Berliner Mietshaus« berichtet von unbekannten Schicksalen. Sie geben den Bewohnern eine Stimme und die Leser wiederum werden mit Lebens-
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Geschichten konfrontiert, die unbekannt oder am Rande der gesellschaftlichen Verständigung stehen. Mir fällt spontan das Schicksal der Russlanddeutschen ein, von dem in der Gegenwart nach wie vor in Deutschland wenig bekannt ist. Bevorzugt kommen Russlanddeutsche in der Kommunikation dann vor, wenn davon die Rede ist, sie würden in der Mehrheit AfD wählen, was in dieser Pauschalität falsch ist. IL. Das hängt natürlich mit dem Kalten Krieg zusammen, der heute erneuert wird. Als 2017 Veranstaltungen zum hundertsten Jahrestag der Oktoberrevolution geplant wurden, habe ich in einem Gremium, in dem ich mitarbeitete, ein Kolloquium zum Thema »Die religiöse Dimension der russischen Revolution« vorgeschlagen. Das finde ich nach wie vor wichtig. Erstens, weil Russland heute wieder so religiös wird, und es zweitens kein Verständnis für die Orthodoxie gibt, diese geistige Dimension wird ausgeblendet. Es ging mir um die Sprengkraft dieser christlichen Religion. Das scheiterte an dem Einwand: Das ist doch Russland! Müssen wir uns mit Russland beschäftigen? Puuuuutin! Wenn geistig der Rahmen so eng wird, dann kann man auch über Russlanddeutsche nicht reden. Ich habe eine neue Überschrift für unsere Zeit, die jetzt beginnt, sie heißt: »Bildung ist nicht nötig, Fahrrad fahren reicht.« CG. Das »Berliner Mietshaus«, kommen wir erneut darauf, setzt etwas voraus. Man muss einen Zugang zu fremden Menschen finden können. Und ich frage das jetzt auch deshalb, weil das Grundprinzip auch für »Die Große Hamburger« Straße gilt. IL. Ja. Ich hatte durch die Reportagen für die »Wochenpost« gelernt, mit Menschen zu sprechen und einen Zugang zu ihnen zu finden, und das ist ein Schatz. Also, wenn man das kann, dann weiß man natürlich, was man daran hat, denn das ist einfach auch schön, das macht Freude. CG. Das setzt aber mindestens zwei Dinge voraus: Erstens, dass man sich für Menschen wirklich interessiert, und zweitens, dass man zuhören kann. IL. Ja. Und noch ein Drittes kommt hinzu, dass man auch von sich selber etwas preisgibt. Ein reines Abfragen ist da ausgeschlossen. Gerade diese wunderbaren Gespräche mit den alten Frauen, das geht gar nicht, wenn man nicht ebenfalls sagen kann, ich habe auch Kinder oder bei mir war das damals so. Ich muss etwas dazu geben, man kann sich nicht als der Überlegene darstellen, der von oben herab abfragt, wie ist es denn bei dir. CG. Ein vierter Punkt, man darf sich nicht zu wichtig nehmen.
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IL. Ja, ja natürlich. CG. Das gehört dazu, denn sonst hat man ja gar kein Interesse und weiß alles schon. IL. Ja, sonst würde man aber auch nicht losgehen. Die Leute, die sich so wichtig nehmen, die gehen nicht die Treppen hoch und klingeln, das ist ausgeschlossen, das würden die nie machen. Das ist sowieso ein Punkt, man ist ja eigentlich in der Position des Bettlers, und darum war das »Berliner Mietshaus« in meinen Augen der Beweis dafür, dass die Behauptung über eine grauenhafte Stimmung der Unterdrückung in der DDR einfach so nicht zutrifft. Denn es war ja genau umgekehrt. Kaum war es anders, also nach 1989, gingen die Türen nicht mehr auf, die Leute wurden misstrauisch, wurden selber zu Fragenden: »Wer sind Sie eigentlich? Was machen Sie, gehen Sie weg, ich kenne Sie nicht«, und so ähnlich. CG. Sie schreiben es, Anfang der 1980er Jahre haben die Leute Sie eintreten lassen, und sie haben sich geöffnet, sie hatten keinerlei Sorge, dass sie gewissermaßen missbraucht würden. IL. Genau. Anfang der 1980er Jahre, herrschte eine große Offenheit. Natürlich nicht bei allen, ich habe es ja geschrieben. Es gab auch ein Interesse an mir und an der Sache. Wenn ich gesagt habe, ich will ein Buch schreiben über Leute eines Hauses, dann glaubten sie, das sie wichtig genug sind. Die meisten sagten, »ja, ich kann was erzählen«. Die alten Leute natürlich (»ich könnte selber ein Buch schreiben«), ist ja klar. Und es herrschte natürlich auch etwas von Gleichheit. Die haben mich reingelassen, die haben sich nicht geschämt für ihre Wohnung. Das war alles ein Beweis für eine Gesellschaft – ich will nicht sagen der Gleichheit – aber doch, in der Gleichheit angestrebt wurde oder jedenfalls Menschen nicht klein gemacht wurden dafür, was sie haben und wer sie sind. Das ist der Beweis und dass mit mir gesprochen wurde. CG. Sie sagen es an einer Stelle in Ihrem Nachwort zu »Berliner Mietshaus«, Sie hatten immer das Gefühl, mit selbstbewussten Menschen zu sprechen, und zudem hätten Sie das Gefühl der flächendeckenden Überwachung nirgendwo gefunden. IL. Ja das meine ich. Überwacht wurden Leute, die vielleicht dem System hätten schaden können oder für die Öffentlichkeit von Interesse waren. Das ist in der Gegenwart ganz anders, heute kann jeder sich mit dem Internet eine Öffentlichkeit schaffen, damals war das nicht so. Die Menschen in der Breite hat das mit
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dem Überwachen nicht so interessiert. Was hätten sie auch verraten sollen? Dass es regnet? Das ist doch lächerlich. CG. Das, was Sie jetzt über Ihre damaligen Erfahrungen sagen und was das »Berliner Mietshaus« als Dokument sowie mentalitätsgeschichtlich wichtig macht, das widerspricht gegenwärtigen Einschätzungen der DDR. Also, mal vereinfacht: Dass in der Ost-Diktatur überall unterdrückte Gestalten gelebt hätten, die hinterher, also 1989, auf die Couch gelegt werden mussten, weil sie durchweg traumatisiert waren. IL. Genau. Was soll man zu solchen Einschätzungen sagen? Und es kommt noch etwas Anderes hinzu. Ich habe noch nirgendwo einen Roman gelesen, in dem es gelingt, beide Lebensweisen in Ost und West gegeneinander zu halten. Auch bei Uwe Johnson finde ich das nicht, auch nicht im »Dritten Buch über Achim«. CG. Sie meinen damit auch etwa die Frage, welches Deutschland das Bessere ist. IL. Ja, und wo es sich lohnt zu bleiben oder anzukommen. Ich würde bestreiten, dass das bei Johnson herauskommt. CG. Uwe Johnson hat einmal auf die Frage, welches deutsche Staatswesen das bessere sei, geantwortet, dass man sie gar nicht vergleichen könne. Warum? Weil es sich um eine zufällige Alternative handle und keine notwendige. Sie sei nämlich aus den Folgen des Krieges entstanden, die beiden Siegerparteien würden nun versuchen, auf ihren jeweiligen Gebieten, die Nützlichkeit ihrer Art zu leben nachzuweisen. Johnson meint, dass man deswegen nicht vergleichen kann. Aber man könne die Frage stellen, was nützt das der »größten Anzahl von Leuten«. Das sagt er 1962. Es wäre eine Geschichte für sich, heute eine Antwort darauf zu geben. Aber zu Ihrem Einwand, dass sich bei Johnson nichts dazu findet, wo es besser ist, zu leben. Das kommt bei Johnson in meiner Sicht nicht heraus, das würde auch seinem Ansatz widersprechen. Ganz abgesehen davon, dass Johnson – und das wird mitunter vergessen – trotz der Kritik an der DDR die Bundesrepublik, den Kapitalismus, mitnichten als eine Alternative gesehen hat. IL. Ja, rational ist das beschrieben. Aber bei Johnson findet sich – sagen wir – menschlich zwischen dem Achim und Karsch kein wirklicher Vergleich. Wie die da leben, das kommt nicht heraus. Und dies, obwohl immer davon gesprochen wird, dass die beiden Deutschland sein Thema seien und er der »Dichter der beiden Deutschland«. CG. Mit diesem Etikett, »Dichter der beiden Deutschland«, damit könne man ihn jagen, hat Johnson immer wieder notiert.
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IL. Das kann ich gut verstehen, denn er hat es ja wirklich nicht geschrieben. Und eine Gegenüberstellung oder den wirklich ehrlichen Vergleich, wie die Menschen in Ost und West gelebt haben, einen solchen Roman kenne ich nicht. CG. Da fällt mir derzeit auch kein Roman ein, der gewissermaßen auf parallelen Handlungssträngen eine Geschichte erzählt, die in Ost und West gleichzeitig spielt. Jedenfalls nicht in der deutschsprachigen Literatur, die bis 1989 erschienen ist. IL. Aber das wäre ja wichtig, ein Buch, in dem von der Verschiedenheit erzählt wird. Johnson versucht es, aber er schafft es nicht, finde ich. CG. In der Tat. Aber Uwe Johnson gelingt es in seinen Essays. Also etwa in »Berliner Stadtbahn«. Dort spricht er davon, dass die Grenze wie eine literarische Kategorie wirkt. Johnson zeigt in dem Text, was einer Person widerfährt, die in die S-Bahn im Osten einsteigt und in den Westen fährt. Da würde die Person gewissermaßen zwei Ordnungen vorfinden, ja zwei Kulturen, nach denen gelebt wird, hier wie da. Und er verweist dann auf Schemata, die das Denken und Schreiben in Ost und West beeinflussen, auf Klischees, auf politische Indoktrination. Das ist analytisch so scharf, wie es das in der deutschen Literatur ansonsten nicht gegeben hat. IL. Ja, vielleicht, ich habe nicht so viele Bücher dazu gelesen, meine aber, man kommt mit Selbstaussagen oder in Essays nicht an die Problematik heran. Man muss ja eigentlich an dem Leben beteiligt sein. Johnson hat sicher unwahrscheinlich viele und zutreffende Beobachtungen, aber dazwischen liegen dann offenbar wirklich Welten. Also, wie hat sich der Mensch verändert im Osten und im Westen in den 40 Jahren? Es war zwar eine kurze Zeit, aber ich bin überzeugt davon, dass die Menschen doch anders geworden sind. Was denken Sie? CG. Da stimme ich Ihnen zu. Auf jeden Fall. Man kann das an jenen erkennen, die jetzt 50, 60 oder 70 und älter sind. Die DDR-Prägungen führen natürlich dazu, dass die heutige Wirklichkeit vergleichend wahrgenommen wird. Durch das Leben in der DDR, in dem staatlicherseits zahlreiche Begrenzungen markiert wurden, es ideologische Vorgaben gab, Störungen ausgeschlossen werden sollten oder Eingriffe in das Privatleben existierten, sind die Ostdeutschen in nun einmal besonderer Weise in die Lage versetzt, zu vergleichen. Sie sind zu dem geworden, was man Komparatisten nennt! Sie praktizieren die Methode des Vergleichens. Und sie vergleichen auf Grund von Erfahrungen, die sie in der DDR und in den letzten 30 Jahren gemacht haben. Dazu gehört auch die Beobachtung, dass der Meinungskorridor enger wird oder eben das Verhältnis zu Russland, bei dem es deutliche Unterschiede zwischen Ost und West gibt. Und das ist vollkommen normal.
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IL. Ja, natürlich. Und das wird dann das Feld für Propaganda. Wo eben in eine bestimmte Richtung beeinflusst werden soll. CG. Und in Verbindung damit kommt es auch dazu, dass neue Werte und Normen gesetzt werden sollen, denen man auf Grund der eigenen Erfahrung und der Kenntnis der Geschichte schlichtweg nicht zustimmen kann. IL. Woran denken Sie jetzt? CG. Etwa an Positionen, wonach Literatur (wieder) erziehen soll oder »Partei ergreifen« muss. Oder in ihrer Autonomie beschnitten werden soll, weil sie vielleicht gegenüber der Wirklichkeit »unsensibel« ist. Man stelle sich vor, Sie hätten versucht, in der »Hamburger Straße« zu erziehen oder Partei zu ergreifen oder »sensibel« mit der Wirklichkeit umzugehen. IL. Das sehe ich auch so. Aber es ist wirklich für jemanden meiner Herkunft ein weiter Weg, bis man aus freien Stücken dahin kommt überhaupt den Bereich zu sehen, der kunstwürdig ist. (Auslassung) CG. Inwiefern meinen Sie das, wo fängt der Weg an und wo endet er? IL. Naja sagen wir mal, »du musst Partei ergreifen«. Da habe ich immer gleich »Nein« gesagt, denn ich wollte das nicht, wieso auch. Es kommt ja schon in dem Buch »In Berlin« vor, wo mein Vater sagt, man muss sich bekennen. Und ich sage, du vielleicht, ich nicht! Ich bekenne mich zu gar nichts. Jedenfalls dann nicht, wenn man aufgewachsen ist mit Kunst, die sich in den Dienst einer Sache stellt. Für mich ist Majakowski ein gutes Beispiel. Können Sie ihn auf Russisch lesen? CG. Ja, ich kann ihn auf Russisch lesen. IL. Majakowski, das ist ja etwas Tolles, das ist Moderne, die Partei ergreift. Also etwa dieses Gedicht über den sowjetischen Pass. CG. Sie meinen das Gedicht »Verse vom Sowjetpass«? IL. Ja, wo es heißt »cmotrite ssavidujte (seht und beneidet mich!)« – Ich – bin – Bürger der Sowjetunion! Das ist bombig. So ein Eindruck der Moderne, die sehr plakativ ist, dieses ozeanische Gefühl für das Ganze und das Pathos der Parteinahme, aber was sich dahinter auch verbirgt, ist eine fast schon sträfliche Vereinfachung und von da aus ist es ein weiter Weg zu kritischer Bescheidenheit. Denn die Gegenpositionen
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derer, die nur um sich selber kreisen, kann man ja auch nicht gut finden. Jedenfalls dann nicht, wenn man mit Majakowski anfängt. So einen Autor wie Eduard von Keyserling hätte ich ja nie für voll genommen! Das ist vielleicht auch eine Altersfrage, aber ich bitte Sie, irgendwelche adligen Witwen am Strand. Das wäre das allerletzte gewesen als Vorbild. Es ist schon ein weiter Weg. Und ich weiß auch gar nicht, wo ich jetzt stehe. Jedenfalls ist diese kommunistische Erziehung auch eine Erziehung zum Größenwahn in dem Sinne: Wir können alles regeln! CG. War dies so? Würden Sie das sagen, wenn Sie sich jetzt erinnern? IL. Ich denke schon, vielleicht nicht für mich persönlich oder in der Schule, aber letzten Endes läuft es doch darauf hinaus: Ein Mensch wie stolz das klingt, der Mensch kann … CG. Alles bewältigen. IL. Natürlich. Ja, noch dazu der Mensch, der das Richtige mit den richtigen Leuten im richtigen Zusammenhang erkennt. Na, was soll da noch passieren? Das ist doch Größenwahn. CG. Aber es ist auch für den Menschen etwas sehr Aufbauendes, vermittelt zu bekommen: Du schaffst es! IL. Ja gut, aber so latschen auch alle Lemminge in die Grube. CG. Das ist die mögliche Kehrseite! IL. Also ich bin sehr dankbar, dass mir vor Jahren einmal von der GuardiniStiftung eine Mitarbeit angeboten wurde, einzig auf Grund dessen, dass sie die Texte von mir gut fanden. Ich konnte mich mit Religionen auseinandersetzen, die sehr alt sind und auch die Kleinheit des Menschen verstehen. Und mir wurde einmal mehr bewusst: »Kind, bedenke wie kurz ist dein Leben! Und wenn du es schaffst, das für dich passende zum richtigen Zeitpunkt zu tun und nicht erst mit 60 Jahren, dann ist dir schon viel gelungen.« Das Leben ist doch sooo kurz, und was wird einem da von den Kommunisten alles übergeholfen, die ganze Menschheit. Das ist einfach lächerlich, und wenn man das versteht und dann noch einen Sinn hat, für Räume, für Licht, für alles Sinnliche, dann kann man nicht so lospoltern. CG. Deswegen ist die Aussage aus Nikolai Ostrowskis Revolutionsepos »Wie der Stahl gehärtet wurde« von 1934 so verkehrt nicht. Das war ja Schulstoff im
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Deutschunterricht in der DDR: »Das Kostbarste, das der Mensch besitzt, ist das Leben. Es wird ihm nur einmal gegeben«. IL. Ja, das ist richtig, aber es geht dann so weiter, dass du auch die Ehre hast ausgewählt zu werden, für ein Kamikazeflugzeug. CG. Das steht im »Stahl« so nicht. IL. Nein, das nicht. Aber, dass man sich aufopfern soll. CG. Stimmt. Es heißt weiter in etwa, dass man im Sterben zum Ergebnis kommen sollte, man habe das ganze Leben und alle Kräfte für das Schönste hingegeben, nämlich die Befreiung der Menschheit. Das ist das, was Sie gerade angesprochen haben, und wohl ein bisschen zu viel des Guten bzw. Hybris. IL. Ja, deswegen hatte ich ja das Thema vorgeschlagen, mit der russischen Revolution. Diese Oktoberrevolution hat etwas mit dem Weg der Märtyrer zu tun, der Opferung für die Menschheit. Meine Lebenssekunde setze ich ein. Das kapitalistische System ist da viel menschenfreundlicher. Bleibe stehen und schau, wie schön das da draußen ist. Ich lehne das nicht ab. Es ist bisher die Synthese nicht gefunden worden. Wenn ich alle Habenichtse auffordere mir zu folgen, dann werde ich auch eine entsprechende Dynamik erzeugen. Und wo das hinführt, das haben wir gesehen. CG. Im Nachwort zum »Berliner Mietshaus« schreiben Sie, dass Sie davon überzeugt waren, man müsse als Erzählerin nur die Wirklichkeit ernstnehmen und die Bilder, die die Wirklichkeit einem gewissermaßen vor Augen stellt, damit Literatur entsteht. IL. Ja das ist wirklich ein wesentlicher Antrieb meines Schreibens bis jetzt gewesen. Schon für die Reportagen, habe ich lange mit den Leuten gesprochen und sie haben mit mir gesprochen. Ich war darauf immer sehr stolz, denn die Gesprächspartner haben mich ebenfalls ernstgenommen. Da erzählen die ja viel mehr als das, was vielleicht wichtig ist – sagen wir mal – für den Aufbau eines Kraftwerkes oder für ihre Arbeit als Näherin an einem Band. Sie erzählen ja viel, viel mehr, und es war mir gleich klar, das gehört alles dazu. Die Frau, die es nicht geschafft hat, zum Frisör zu gehen, und jetzt ist das Kind krank und alles Mögliche. Also, es muss ein dreidimensionales Bild entstehen. Ich habe mich sehr darum bemüht, das hinzubekommen, gerade auch im »Berliner Mietshaus«. Denn es war zuvor »Guten Morgen, Du Schöne« erschienen, das hatte eine riesige Presse. Wobei ich gar nicht weiß, wie das kam und wodurch.
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CG. Maxi Wanders »Guten Morgen, Du Schöne«, der Band hieß im Untertitel »Protokolle nach Tonband« und erschien 1977. Der Erfolg lag sicher auch darin begründet, dass es um Protokolle ging. Hier erzählten Frauen recht ungeschminkt von ihrem Alltag. Das war etwas Neues in dieser Form damals, ganz anders, als die tollen Frauen-Figuren, die ansonsten in den Medien vorkamen. IL. Es war Dokumentarliteratur, ja. Aber mich hat daran von Anfang an etwas gestört, weil ich ja die Situation des Interviews kannte. Nämlich, dass ich über die Nebenumstände überhaupt nichts erfahre. Das ganze Gespräch kann auf einem Klosett stattfinden, im Rollstuhl oder sonst wo – wenn die Frau das nicht selbst erzählt, dann denke ich vielleicht, das ist eine Turmspringerin, wenn die sich so darstellt. Also, ich fand es grundverkehrt, dass die Interviewerin sich herausnimmt und dass die Nebenumstände fehlen. Das geht aus meiner Sicht überhaupt nicht. Also, wenn ich das erlaube, dass ein Tonbandinterview – gewissermaßen aus dem Off, würde der Filmmensch sagen – eins zu eins gedruckt wird, das ist gleich etwas für die Tonne. So meine Sicht. CG. Warum, worin liegt das Problem? Bei »Guten Morgen, Du Schöne« war ja anscheinend dennoch vieles dabei, was Leser interessant fanden. IL. Mag sein, aber ich finde, da fehlt das Wichtigste. CG. Sie meinen die Stimme der Interviewerin? IL. Ja, auch, aber vor allem: Ich weiß nicht, wer spricht. Ich habe natürlich auch durch meinen Mann, Rolf Liebmann, der Dokumentarfilme gemacht hat und durchaus prägend war, für die Dokumentarfilmleute in der DDR gelernt, wie man vorgehen muss. Er war wie ein Theoretiker, obwohl er das selbst für sich gar nicht in Anspruch genommen hat. Er war aufrichtig und gleichzeitig ein richtiger Intellektueller. Der hat immer wieder gesagt: »Leute, Ihr müsst zeigen, wer spricht!« Denn es war ja im »Augenzeugen«, Defa-Dokufilm, meistens ganz üblich, ich sehe herrliche Getreidefelder, und darüber wird der Ton gelegt – »die Ernte ist in vollem Gange…« oder ähnlich. Die Getreidefelder können aber sonst wo sein, wer spricht, ist auch unklar – nein! Man muss zeigen, wer spricht und wo ich mich befinde. CG. Das machen Sie ja dann auch in einer bestimmten Weise. »In Berlin«, da spricht die Erzählerin permanent von »der Liebmann«. Es wird klar, wer erzählt. »Da geht die Liebmann mit Koffer und Plastikbeutel zur S-Bahn, unten im Tunnel ist eine Schiefertafel aufgebockt, Kreideschrift«. Also, die Umstände werden deutlich, die Person, die erzählt, ebenso.
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IL. Ja, es muss klar sein, wovon reden wir, wer sitzt da mit wem, usw., also es geht gar nicht anders! Zum Beispiel finde ich aus dem »Berliner Mietshaus« das Porträt sehr schön mit der jungen Frau. Wo das Kind spielt, und die junge Frau sagt dann, dass sie sich schon wieder getrennt hat. Sie sei aus dem Urlaub gekommen, und habe schon vom Hof aus auf ihrem Balkon die schmutzigen Gläser gesehen, denn der Freund hätte in ihrer Abwesenheit ein Fest gefeiert. Dazu muss man doch sehen, wie sie da sitzt, so alleine, und wie das Kind spielt, diese Einsamkeit, und der Stolz dann trotzdem. CG. Ja, Sie meinen das Porträt von Angela S. Ich habe es gestern noch einmal gelesen. Angela verdient gerade mal so viel, wie sie in einem Monat verbraucht. So in etwa heißt es im Porträt. Aber eine andere Frage: Würde Ihnen das Prinzip nahe sein, das Christa Wolf für sich entwickelt hat, »subjektive Authentizität« nennt sie das. Also ein Ansatz, der darauf setzt, dass Autorin und Erzähler dicht aneinandergerückt sind? IL. Bei mir rückt das wirklich sehr stark zusammen. Das Buch »In Berlin« konnte ich nicht schreiben, bevor ich nicht den Dreh mit dem Erzähler gefunden hatte, also wie erzählt wird. Rückblickend finde ich jene Stellen am glaubwürdigsten, in denen ich mich von außen sehe. Und das ist »In Berlin« so. Ist das nicht völlig wahnsinnig? Ich wäre nie auf die Idee gekommen, aber die ganze Fremdheit der damaligen Situation, also zu Ende der DDR und um die Wende, um die es in dem Text geht, die steckt da drinnen. Das wusste ich damals nicht, und das wollte ich damals auch gar nicht ausdrücken. Ich wollte aber den passenden Erzählton finden. Und so ist »die Liebmann« daraus geworden. CG. Ein vergleichbarer Blick findet sich übrigens auch bei Volker Braun. In seinem »Eisenwagen«, der Mitte der 1980er Jahre den Zustand jenes Gemeinwesens beschrieb, das einmal mit großen Hoffnungen in Gang gebracht worden war, heißt es in etwa so, ich glaube, das ist korrekt zitiert: »Ich entfernte mich experimentell von mir«, und dann stellt er sich einen Mann vor, der ihm von draußen zusieht. Es geht als um den »fremden Blick«, der ein analytischer ist. IL. Ja, ja, also da sind wir in eine Zeit gekommen, wo wir aus uns selbst herausgetreten sind. Wirklich zum Kotzen, aber was wir erlebt haben, das müsste man nochmal anders ausdrücken: Wir haben uns sehr viel abverlangt, aber die Umstände auch. CG. Sie meinen die Jahre bis 1989 oder wovon sprechen Sie jetzt?
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IL. Ja, ich meine diesen Übergang, diesen freiwilligen Übergang von Ost nach West. Im Grunde ist das freiwillig gewesen. Also, dass diese Vereinheitlichung stattfindet und das man bereit dazu ist. Eigentlich geht das gar nicht. Daher ist »In Berlin« auch ein ganz komisches Buch, aber ich finde es toll, wie finden Sie das? »In Berlin«, also wie wirkt das, wenn Sie heute da reingucken? CG. Ich habe »In Berlin« gelesen, als es erschien. Und es blickt auf die Endzeit der DDR und den Übergang. Die Darstellung der Verhältnisse ist treffend. So haben es viele empfunden. Obwohl Sie die Problematik zwischen »gehen oder bleiben« anders entschieden haben. Sie sind 1988 nach West-Berlin umgezogen, und von daher haben Sie einen anderen Blick, als jene, die in der DDR geblieben sind. IL. Ja, ich wollte damals mit der Zeit mitschreiben, ich habe das in der Neuauflage im Nachwort auch betont. Ich wollte mit der Zeit mitschreiben, weil ich dachte, es wird alles zusammenbrechen. Darum bin ich weggegangen. Und ich dachte, man kann, wie das oft in solchen Zeiten ist, mitansehen, was geschieht, auch sinnlich. Naja, es ist ja praktisch wie eine Operation am eigenen Körper. CG. Da ist etwas dran. Obwohl Sie dann ja von außen geschaut haben. Sie waren ja nicht direkt dabei. IL. Dennoch, das so aufzuschreiben, war eine unwahrscheinliche Anstrengung und eigentlich unbarmherzig. Aber ich muss noch einmal auf eine Frage kommen, die Sie zuerst gestellt haben und die ich nicht ganz beantwortet habe. Es ist so: Ich hatte die Fähigkeit, Gespräche zu führen und das auch einigermaßen zu formulieren. Dabei fiel mir auf, dass es dann Dinge gibt von dem, was Menschen erzählen oder was ihnen geschieht, die bereits perfekte literarische Erzählungen sind. Besser kann man es nicht machen. Das Leben selbst formt das so, wie wir uns das nie ausdenken können. Und die Bestätigung dafür habe ich bei Isaac Singer gefunden. Mein damaliger Freund hat mir dessen Erzählungen mitgebracht, die teilweise auch in der DDR erschienen sind. Die Erzählungen haben mich umgehauen, weil Singer das vollkommen begriffen hatte. Das geht sehr gut mit diesem Hintergrund der eingewanderten Juden, um die es geht, die in dieser modernen Stadt New York ihren Alltag hatten. Gleichzeitig mit einem Gedächtnis, das, wenn Sie so wollen, ein paar tausend Jahre zurückgeht und das zitierbar ist und mit einem Zuhörer, der das alles weiß. Das ist nach wie vor für mich die Messlatte für literarische Qualität. Das gelingt Singer natürlich nur mit seinem Wissen über die Welt. CG. Genau, das ist natürlich für Literatur fundamental. Dass es ein Gegenüber gibt, das ein vergleichbares Wissen von der Welt hat. Nur so kann auch etwas wie
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ein Kanon entstehen, der weitergegeben wird. Aber wenn dieses Wissen um die Welt und um die Geschichten zunehmend verschwindet, dann steht Literatur in Gefahr. Und mehr noch in dem Fall, da Geschichte »denunziert« und einzig aus der Sicht der Gegenwart bewertet wird. Von daher ist vermutlich Singer heute den Wenigsten bekannt, obwohl er den Nobelpreis bekommen hat. IL. Vermutlich. Ich sage ja: Bildung ist nicht nötig, Fahrrad fahren reicht. Aber kennen Sie die Geschichte »Der Fatalist« von Singer? CG. Das ist eine Kurzgeschichte, glaube ich. IL. Ja, ich versuche, die Geschichte jetzt zu erzählen. Sie spielt in Polen. Vielleicht erinnere ich mich falsch. Also, es geht um eine Gruppe junger Leute in einer polnischen Kleinstadt. Der eine hat die große Klappe, er erklärt die Welt und sieht sich als Fatalist. Was geschehen muss, geschieht, so seine Rede. Wirst du noch lange leben, fragen die anderen. Ja, sagt er. Dann kommt einer aus der Gruppe auf die Idee und sagt, »Na ja, in einer halben Stunde kommt der Zug. Dann leg dich doch auf die Schienen, wenn du weißt, dass du überleben wirst, dann macht dir das doch nichts.« Ja, sagt er. Er legt sich hin, den Kopf auf die Schienen, die anderen warten und zittern. Der Zug kommt mit voller Fahrt und bleibt stehen. Der Fatalist steht auf und sagt: »Na seht ihr, ich sage es doch.« CG. Eine Haltung, die einem – wenn man sie denn verinnerlicht – jegliche Aktivität nimmt. Man lässt alles geschehen. Aber inwiefern hat die Geschichte vom »Fatalisten« mit Ihren Geschichten zu tun? IL. Also das ist im Grunde die Essenz einer Novelle, und da dachte ich beim Lesen, was dir die Leute erzählen, ist doch eigentlich auch so. Die besten Geschichten haben eben eine Fallhöhe bis zum Tode, und die werden einem privat erzählt. Und das habe ich dann nie gewagt zu Literatur zu machen. Ich habe auch große Angst davor, weil unser Leben kurz ist, aber ob es ein zweites gibt und ob das vielleicht sehr lang ist, das wissen wir nicht. Wenn dann alle die Menschen, denen ich versprochen habe, ihre innerste Geschichte nicht zu schreiben, auf mich zukommen, dann bin ich der Hölle sicher. Und das möchte ich auf keinen Fall. Also, wenn einer gesagt hat, das wird nicht geschrieben, dann habe ich das nicht geschrieben. Darum sind die besten Geschichten nicht erzählt! CG. Es gibt in der Tat Geschichten, die man vielleicht nur deshalb mitgeteilt bekommt, weil es eine Vertrauensbasis gibt oder weil die aktuelle Situation die – sagen wir – Hemmschwelle herabsetzt oder vermutlich eben beides. Die kann man dann nicht weitergeben, die bleiben weiterhin verschlossen.
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IL. Ja, ich kann das nicht. Es hat Erzählungen gegeben, gerade von den Älteren, wo es um so viel Herzeleid ging, Erlebnisse, mit denen man nie fertig werden kann, auch von der Dramatik her. Da könnten heute welche kommen und die machen daraus ein Hörspiel oder Theaterstück. Zum Kotzen. Ich hätte das nie gewagt. CG. »Herzeleid«, das ist ein Wort, das auch in Ihrer »Großen Hamburger Straße« mehrfach vorkommt. Auch da geht es um Geschehnisse, mit denen man eigentlich nicht fertig werden kann. Aber das Wort allein lässt ahnen, was sich dahinter verbirgt, an Leid und Trauer. IL. Ja, und ich finde auch, das ist ein wunderschönes deutsches Wort, das überhaupt nicht mehr benutzt wird. Wir haben eine so amerikanisierte Sprache, die alles glattbügelt. Arbeit ist Job, Kinder sind Kids, und das macht etwas mit der Sprache. Noch einmal: Nein, das hätte ich nie gewagt. Und darum sind die besten Geschichten keine wirklichen Novellen geworden. Aber mein Ideal war so: Wenn sich eine Tür öffnet, dann muss etwas Erzählbares vorgefunden werden, also von mir. Das Erzählbare, das ist meine Aufgabe. CG. Lassen Sie uns noch einmal auf »In Berlin« zurückkommen und die Operation am offenen Herzen, von der Sie gesprochen haben. Für Uwe Johnson und viele Autoren nach ihm war die Frage »Gehen oder Bleiben« eine ganz entscheidende. In den Westen gehen oder im Osten bleiben. In der »Großen Hamburger Straße« führt die Ich-Erzählerin ganz zu Anfang ein Gespräch mit Eva. Und die Eva fragt, nein, sie ruft: »Wie blöd sind wir denn gewesen!« Und in gewisser Weise vorwurfsvoll: »Mutti hätte es wissen müssen.« Darauf kontert die Ich-Erzählerin, also Irina: »Die hast du doch damals extra rübergeschickt in den Westen«. Also damit sie ihr nachreisen darf. Der Weg in den Westen war also für diese beiden oder diese drei Frauen nicht der richtige? IL. Es hat auch Gründe gegeben, aber ich will das jetzt nicht ausführlich schildern. Ich sehe immer mehr, dass der Grundirrtum bei diesen Fragen darin besteht, dass überhaupt nach Ost und West gefragt wird. Und das meint dann, ich hätte mich zu entscheiden für die andere Seite, für das System im Westen, für die andere Lebensweise. Der Westen, der Osten, durch Nacht zum Licht, aus dem Niederen zum Höheren usw. – Ich meine, dass diese Etikettierung Ost-West auf ein menschliches Leben gar nicht anwendbar ist. CG. Aber es sind doch ganz unterschiedliche Lebensweisen.
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IL. Ja, aber ich muss mich ja vielleicht nicht für die Lebensweise entschieden haben, sondern nur für einen Ort oder für einen Menschen. Und dann kommen immer diese Rechtsträger an und sagen, du hast dich für mich entschieden, du gehörst mir, jetzt steht da gleich der Journalist und der schreibt das auf, du hast dich für uns entschieden und nach 20 Jahren kommt die Frage: War die Entscheidung richtig oder war sie falsch? Aber: Ich habe mich überhaupt nicht für ihn entschieden. Das sagt auch Johnson. Er hat sich nicht für den Westen entschieden. CG. Ja in der Tat. Das ist bekannt, Johnson hat immer davon gesprochen, dass er umgezogen ist. Und da er in der Bundesrepublik nicht ankommen konnte oder wollte, ist er dann in die USA gegangen. IL. Wieso nehmen diese Systeme solche Lebensläufe vollständig für sich in Anspruch? Das ist eine ganz große Unverschämtheit, an der wird die ganze Zeit festgehalten. Erst bringen sie den Einzelnen in eine solche Lage, dass man um so eine Entscheidung nicht herumkommt, und dann nehmen sie die auch noch für sich in Anspruch. Warum? Weil diese Systeme immerzu Punkte sammeln wollen, wie in einer schlechten Beziehung. Es ist wirklich zum Kotzen unser Leben lang also dieses »Weggehen« – was soll das? Nehmen wir mal die Eva. Die will jetzt schon wieder wegziehen, aber jetzt fragt sie keiner mehr. Das arme Mädel packt schon wieder die Koffer, was sagen die Herren und Damen von der politischen Bewertung dazu? Die hatte einen Herzinfarkt, die kann kaum die Treppen hochgehen, und hat sich wieder fest vorgenommen, sie muss aus ihrer Wohnung raus, dabei ist die schön, die ist am Waldrand! Aber sie muss raus. Ja, jetzt haben wir aber nicht mehr den Unrechtsstaat, und da ist es uninteressant, soll sie doch den nächsten Herzinfarkt kriegen, wo sie will, uns egal. Verstehen Sie, was ich meine? CG. Ja, ich verstehe, was Sie meinen. Sie meinen, dass die Entscheidungen, die letztlich sehr persönliche sind, von den Systemen und ihren Vertretern als Votum für das von ihnen verwaltete System genommen werden. IL. So ist es. Es ist unmöglich und unverschämt, dass alles, was in einem bestimmten Zeitraum geschieht, diese Verwalter sich an die Brust heften. CG. Das hängt aber mit der Situation in Deutschland zusammen, dem Kalten Krieg, der sogenannten Systemkonfrontation. Und natürlich einem schrecklichen Krieg zuvor.
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IL. Die Situation in Deutschland ist wirklich eine tragische gewesen und vielleicht heute noch. Das ist nun einmal so nach zwei großen und verlorenen Kriegen, wo keine Familie ungeschoren bleibt, mit besetzten Territorien, mit einem verkleinerten Land. Hier gibt es keine Lebensgeschichte, die davon nicht betroffen wäre. Ja, wer soll denn da jubeln, wo soll denn der richtige Ort sein zum Leben? Das muss doch ein völlig vernagelter Idiot sein, der sagt, ich war hier immer Oberförster, es war hier immer schön, leider blüht an dieser Ecke keine Orchidee mehr. Mehr kann ich dazu eigentlich nicht sagen. Aber selbst dort, und ich kenne das in manchen Forsten, wo wir durch den Wald Pilze suchen gegangen sind, und da ging es immer hoch und runter. Irgendwann habe ich gefragt: Warum geht das hier immer hoch und runter im Wald? – Na das war ein Übungsgebiet für die Flieger! Das sind alles Bombenkrater, haha im schönsten Frieden! Im schönsten Frieden haben sie geübt und im schönsten Frieden haben wir dort Pilze gesucht. Also, das kann mir keiner erzählen, dass Deutschland jetzt der passende Ort ist, wenn man irgendwo bleiben will. Und, wenn ich woanders bin, dann bin ich halt fremd. Das kann mir in diesem kurzen Leben auch nicht gefallen. (Auslassung) CG. Das kann man so sehen. Aber dennoch ist es doch so, das man sich rückblickend schon fragt, wann und wo Entscheidungen richtig waren für einen selbst. Ich will jetzt nicht diesen fast schon unangenehmen Begriff Evaluation gebrauchen. Aber es macht doch die Spezies Mensch aus, dass sie nachdenkt, dass sie erinnert, dass da ein autobiographisches Gedächtnis existiert. Also gibt es schon Fragen, die sich etwa die Eva rückblickend stellt, nämlich die, ob man gehen musste. IL. Naja, rückblickend ist es so, dass keiner wissen konnte, was geschieht. Das schreibe ich auch im Nachwort zu »In Berlin«. Man konnte allerdings wissen, dass der Staat bald zusammenbricht. Rückblickend muss ich sagen: Für mich, aber das dürfen Sie nicht weglassen, für mich war es ein sehr großer Fehler. Es war ein sehr großer Fehler. CG. Würden Sie es begründen wollen, warum? IL. Ja. Man kann sich nicht entwurzeln in diesem Alter. CG. Es hat bei Ihnen aber insgesamt, zumindest von Außen betrachtet, geklappt. IL. Ja. Mir ist dennoch einiges gelungen, und zwar wirklich nur durch eigene Arbeit. Ich musste nicht einmal putzen gehen. Insofern: Ich habe viel Glück gehabt, aber ich hatte auch viel Hilfe. Dafür bedanke ich mich gerne überall, und mein letztes Wort in dem Buch ist ja auch Dankbarkeit. Das finde ich, das kommt
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überhaupt zu kurz in Deutschland. Aber dennoch kann ich für mich sagen, der Wechsel von Ost nach West, er war für mich falsch. Es war richtig doll falsch. CG. »In Berlin« notiert die Erzählerin an einer Stelle: »Irgendwas an Westberlin ist nicht wahr«. Ich habe aber nicht erkennen können, was es ist. IL. Ja, ich habe es leider auch nicht verstanden, nur gespürt. CG. Es ist ein Gefühl, davon ist im Text die Rede. IL. Ja. Das sagen heute auch 20-Jährige, wenn sie in Ost-Berlin leben, dass sie nicht gerne in den Westen der Stadt fahren und die haben vermutlich das gleiche Gefühl. Ich weiß nicht, was das ist. Es findet sich eine Stelle im Buch, da würde ich am liebsten die Scheiben einschmeißen. Das sage ich, und daß ich das ja gar nicht will, weil hier alles so schön ist. Es ist ein Widerspruch. CG. Es heißt im Text, ich habe die Stelle hier: »Die Liebmann steht wie ein Feind vor den Schaufensterscheiben und sieht sich die Bilder der anderen an«. Die Liebmann sieht die Spiegelbilder der anderen und die lächeln alle. Und die Liebmann fragt sich, ob die sich selbst zulächeln. Und sie ruft sich gewissermaßen zur Ordnung. Sei nicht neidisch, so in etwa. In »Letzter Sommer in Deutschland«, um auf diesen Text zu kommen, geht es auch um die Sowjetunion. Konkret um den Zweiten Weltkrieg und die sowjetischen Soldaten. Die Ich-Erzählerin ist in Seelow. Der Ort ist ja für Ostdeutsche, jedenfalls für die meisten, gekoppelt an die Seelower Höhen, also die grausige Schlacht zu Ende des Zweiten Weltkrieges Mitte April 1945. Also, die Ich-Erzählerin stellt fest, dass da auf den Tafeln immer von den Opfern die Rede ist, was in einer Hinsicht stimmt. Aber sie sagt zurecht, dass doch Deutschland das Ganze angefangen hat. Ich habe die Stelle hier. Und dass mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges »ein großes Verbrechen zu Ende gewesen sei, und das könnte doch an einer Stelle auch mal deutlich gesagt werden, verdammt nochmal«. IL. Ich weiß, das ist in Seelow diese Gedenkstätte. Das ist so. Und das kommt so menschlich daher dieser ganze – wie sagt man – Therapeutenstandpunkt. Auch deine Mutter war Opfer, wenn sie dich geschlagen hat, von etwas Anderem. Man darf nicht urteilen, man darf nicht richten, das wird alles so schön zusammen gemischt. Und na klar, alle sind Opfer. Naja irgendwo muss es auch einmal gut sein.
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CG. Das mag sein, aber man darf Ursache und Wirkung nicht vergessen. Wie sagt die Ich-Erzählerin. Deutschland hat das Ganze angefangen. Und das wird ja ansonsten permanent und mit Recht immer wieder betont. IL. Nee, darf man nicht, und man darf auch nicht die Verantwortung für die Tat des Einzelnen vergessen. Immer im großen Rahmen erzählen, das hat ja die DDR gemacht. Ich habe mal so einen Artikel geschrieben darüber, und dass wir über das Jahr 1933 immer in der Schule gelernt haben: »Und dann kamen die Faschisten«. Und da habe ich geschrieben: »Ja, woher kamen die denn, Oma war es nicht und Opa war es auch nicht. Plötzlich waren überall Faschisten«. CG. Was die Erzählerin sagt, das war so um 1997! Die Gegenwart sieht da noch ein wenig problematischer aus. Nehmen wir nur einmal den 8. Mai in diesem Jahr, also 2020. Den Tag der Befreiung, der in der Bundesrepublik bis in die 1980 Jahre Tag der Kapitulation hieß. Wenn man die sich abzeichnenden Tendenzen bei der Bewertung des Zweiten Weltkrieges fortsetzt, dann haben in einigen Jahren einzig die Amerikaner den Krieg gewonnen und die Deutschen von Hitler befreit, mit kleinen Anteilen noch die Engländer und Franzosen. IL. Ja, das hat sich schon vor zehn-fünfzehn Jahren angedeutet. Der Anteil der Sowjetunion am Sieg über den Faschismus wird permanent verkleinert bzw. umgedeutet. Ich sehe das als Teil einer im Unterschied zur Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg grundlegend veränderten Sicht auf die europäische Kultur. Eine solche Sichtweise hat es noch niemals zuvor gegeben, sie lautet: Russland gehört nicht zur europäischen Kultur, und die Sowjetunion schon gar nicht. Mir fällt auch auf, dass selbst die Bezeichnung »Sowjetunion« inzwischen kaum irgendwo in einem Text auftaucht. Der Name wird, wenn möglich, umschrieben. Oder eben weggelassen. CG. Kommen wir einmal auf das Erinnern, das spielt in allen Ihren Texten eine Rolle. Ich denke an eine besondere Stelle, die wiederum einen Bezug zu Johnson möglich macht. In dem Buch »In Berlin« gibt es eine Stelle, wo die Liebmann einen Zaun vor sich sieht, es ist Biesdorf und ein Maschendrahtzaun. Und da steht sie am Gartenzaun, ein Kind von drei Jahren. Das ist Johnson, sozusagen, »das Kind, das ich war«. Letztlich geht es um Ihren Vater, Rudolf Herrnstadt, und was der dem Kind, also Ihnen, erzählt. Hier die Stelle, ich lese sie mal an: »die Liebmann weiß noch genau wie sie seine Hand hielt und neben ihm ging und alles hörte und alles vergaß, hörte und vergaß«. IL. Ja, aber das war später. Der Zaun, das war meine erste Erinnerung an Berlin, die Spaziergänge gehören in eine spätere Zeit, und da geht es um Erlebnisse
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meines Vaters. Mein Vater erzählt mir Dinge, die ich nicht verstehen konnte. Darum hat er es mir ja erzählt, weil es in der Form niemand hören sollte wahrscheinlich, er hat bestimmt laut gedacht. Da war etwa die Sache mit den tschechischen Freunden, die man zum Tode verurteilt hatte. Die waren vorher noch in der Emigration. Dazu gehört Ludwig Frejka. Er wird in Prag hingerichtet. CG. Sie meinen im Slánský-Prozess, der nach dem Muster der Moskauer Schauprozesse angelegt war. Das war 1952 in der Tschechoslowakei. Da spielte auch Noel Field eine Rolle. IL. Ja, 1952. Mein Vater kannte viele dieser Leute, viele waren Freunde. Ich komme darauf, weil mein Vater die aus der Vorkriegszeit kannte, und einige dann aus der Emigration in der Sowjetunion. Dann muss er 1952 lesen, dass das alles Verräter sind, wie soll er damit fertig werden? (Auslassung) Also hat er mir etwas erzählt, Dinge, die ich überhaupt nicht verstehen konnte. Aber eines war klar, was er mir erzählt hat, das war immer Drama und zwar richtiges Drama! Die Geschichten enden mit dem Tod, das ist Shakespeare! Diese Lebensgeschichten der Kommunisten, die sind wirklich unglaublich. CG. Und diese Geschichte, die hat Ihnen Ihr Vater erzählt? Sie waren 1952 etwa 8 bis 9 Jahre alt. IL. Nein, es war später, als wir schon nicht mehr in Berlin lebten, und er in einem Archiv arbeiten mußte, da hatte er Zeit. Und er musste laufen, er hatte ja bloß noch eine Lunge. Wie er das überhaupt gemacht hat, mit offener TBC nach dem Krieg, diese viele Arbeit Tag und Nacht für seine Partei, die ihn dann verraten hat, das weiß ich nicht. Er musste jedenfalls laufen, an die Luft, und ich bin immer sehr gern mitgegangen. Und was ich davon als Kind hatte, war wahrscheinlich ein Zugang zu einer großen Welt. Shakespeare, die Königsdramen, zwar mit anderen Namen, aber immer wirklich volle Pulle. Unglaublich, wirklich unglaublich und darüber erzähle ich auch ein wenig in dem Buch »Die freien Frauen«. Dieser Widerspruch, Shakespeare-Tragödie einerseits, aber es gibt eben auch schöne Episoden in dem Buch. CG. Ja, natürlich. Leben besteht nicht nur aus Shakespeares Tragödien. Aber das, wovon Sie sprechen, also die Gespräche mit Ihrem Vater, das sind natürlich Erfahrungen, die Sie geprägt haben. Bewusst und unbewusst. Man spricht nicht umsonst davon, wie wichtig die sogenannten Primärerfahrungen sind.
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IL. Ja, vieles wird unbewusst weitergegeben. Wie Sie schon gesagt haben, dass ich überall nach einem Café suche, zum Beispiel. Und in dem Buch »Die freien Frauen« lande ich dabei in Katowice – ohne zu wissen, dass dort auch mal Verwandte von uns gelebt haben – am Bahnhof. Bevor ich das schrieb, war ich aber schon einmal mit Freunden dort, nachdem ich Döblins Buch »Reise in Polen« gelesen hatte. Ich wollte auch so eine Reise machen wie Döblin und darüber schreiben. Das war 1980. Aber auch damals wollte ich schon immer nach Katowice, und ich wusste nicht, warum. Und erst als ich dort war, dachte ich dann plötzlich an meinen Vater, an diese Orte, diese Treffen und diese Leute, die erst mal keiner kennt und die dann plötzlich in der Weltpolitik wichtig werden. Kattowitz war genauso ein Ort dafür. CG. Kasan ist auch so ein Ort für Sie. In »Drei Schritte nach Russland« spielt die Stadt in Tatarstan eine wichtige Rolle. Zu vermuten ist, dass es auch nach Kasan persönliche Verbindungen gibt, ja eine genetische Spur. IL. Nicht unbedingt, ich fuhr nach Kasan wegen der Gottesmutter. Mich hat das orthodoxe Christentum interessiert, und ich wollte das sehen. Das ist ja auch eine wunderbare Stadt. CG. Wir kommen noch mal auf »Die Große Hamburger Straße«. Die Jury hat in ihrer Begründung geschrieben, dass in dem Text eine Art Prosanetz geflochten wird, in dem unterschiedliche Zeitebenen kunstvoll miteinander in Verbindung stehen, und die Spanne reicht vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart. IL. Ja, es hat eine bestimmte Struktur. Jeder Text braucht eine Struktur, das möchte ich eigentlich an jede Wand schreiben für die sogenannten Prosaiker, also auch sie brauchen eine Struktur, Klarheit. CG. Sie haben lange darüber nachgedacht, wie die Struktur aussehen soll. Das ist mit Sicherheit kein Zufall gewesen. IL. Wenn man so nah an der Realität arbeitet, dann entspringt die Struktur ja der Realität. Also erstens: Warum liegt dieser Stapel Papier immer noch vor mir, und zweitens: Wer spricht? Also ich komme mit der Straßenbahn aus Pankow in diese Straße, und ich fahre wieder zurück, das ist die eine Ebene und die andere ist, was steht in den alten Aufzeichnungen, und wie sehe ich das heute? Das ist ganz einfach. CG. Genau die Vernetzung der unterschiedlichen Zeitebenen.
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IL. Ja und dadurch – so hoffe ich – wird es für den Leser leichter. Und mir gefallen die Straßenbahnfahrten wirklich gut. Dazu werde ich in meiner Rede zum UweJohnson-Preis noch etwas sagen. CG. Wenn man Ihre Bücher so beisammen sieht, dann sind die auch miteinander vernetzt, eines ergibt sich aus dem anderen und es finden sich Querverbindungen. IL. Ja. Wenn ich das jetzt so sehe, die Bücher, da gibt es wirklich einen logischen Zusammenhang, das ist doch schön, dass nichts so krampfhaft gesucht ist.
Beiträgerinnen und Beiträger
Anna Baccanti, M.A. – Studium der Philosophie und der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin und der Scuola Normale Superiore in Pisa; seit 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Ludwig-Maximilians-Universität München und assoziiertes Mitglied des Doktorandenkollegs Mimesis; 2019 Visiting Scholar an der Columbia University in New York; aktuelles Promotionsprojekt zur Darstellung des kreativen Prozesses in biographischen Filmen. Nadine Bieker, Dr. – Studium der Fächer Deutsch, Sozialwissenschaften und Mathematik an der Universität zu Köln; Promotionsstudium an der a.r.t.e.s Graduate School for the Humanities Cologne 2015–2018; Promotion in Deutscher Philologie (2018); seit 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität zu Köln; Habilitationsprojekt zu einer »Geschlechterreflektierenden Deutschdidaktik«. Letzte Publikationen: Grenzen, die überschritten werden müssen. Julya Rabinowichs »Dazwischen: Ich«. In: Julia Boog-Kaminski/Lena Ekelund/Kathrin Emeis (Hgg.): Aufbruch der Töchter. Weibliche Adoleszenz und Migration in Literatur, Theorie und Film. 2020; Notwendigkeit, Potentiale und Umsetzungsmöglichkeiten einer geschlechterreflektierenden Deutschdidaktik. Gemeinsam mit Kirsten Schindler. In: k:ON »Inklusive Bildung aus fachdidaktischer und fachwissenschaftlicher Perspektive« 2/20. https://journal s.ub.uni-koeln.de/index.php/k_ON/article/view/299/573. Carsten Gansel, Prof. Dr. –, Studium der Germanistik, Slawistik; seit 1995 Professor für Neuere deutsche Literatur und Germanistische Literatur- und Mediendidaktik am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen. Mitglied des P.E.N-Zentrums Deutschland, Vorsitzender der Jury zur Verleihung des Uwe-Johnson-Literaturpreises sowie des Uwe-Johnson-Förderpreises, Sprecher des Beirates der Arbeitsstelle für Lessing-Rezeption (Kamenz). Letzte Publikationen: Carsten Gansel (Hg.): Trauma-Erfahrungen und Störungen des ›Selbst‹. Mediale und literarische Konfigurationen lebenswelt-
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Beiträgerinnen und Beiträger
licher Krisen. Berlin: Walter de Gruyter 2020; Gerhard Sawatzky: »Wir selbst«. Roman. Herausgegeben, mit einem Nachwort und dokumentarischem Material zur Wolgadeutschen Republik und ihrer Literatur versehen von Carsten Gansel. Berlin: Galiani Verlag 2020; Hans Fallada: Warnung vor Büchern. Erzählungen und Berichte. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Carsten Gansel. Stuttgart: Reclam 2021. Yuuki Kazaoka, Dr. – Von 2004 bis 2012 Studium der Germanistik in Sendai und Kyoto, Japan. 2012–2014 Stipendiat des Österreichischen Austauschdienstes. 2016 Promotion über Ingeborg Bachmanns späte Gedichte an der Universität Wien. Seit 2017 Lecturer an der Kitasato University, Japan. Letzte Publikation: Literatur als Gegenmittel zur Mentalität einer ›erkrankten‹ Gesellschaft. Zu Atsushi Nakajimas Essay Takonoki no shitade (Unter dem Pandanus). In: Florian Steger (Hgg.): Jahrbuch Literatur und Medizin 12, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2020, S. 85–106. Anastasia Keppler – Studium der Deutschen Philologie, Pädagogik und Literaturwissenschaft; seit 2019 akademische Mitarbeiterin an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Letzte Publikation: Ewald Palmetshofer. Titelfigur als Leerstelle. In: Agata Mirecka/Natalia Fuhry (Hgg.): Zwischen Harmonie und Konflikt. Paarbeziehungen im europäischen Theater des 20. und 21. Jahrhunderts. Berlin: Peter Lang 2020, S. 159–165. Katrin Lehnen, Prof. Dr. – Studium der Germanistik und Philosophie in Bielefeld, seit 2007 Professorin für Germanistische Sprach- und Mediendidaktik am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seit 2016 Geschäftsführende Direktorin des Zentrums für Medien und Interaktivität (ZMI) an der JLU Gießen, Arbeits- Forschungsschwerpunkte sind digitale Lese- und Schreibpraktiken, Bildung und Literalität in der Mediengesellschaft, wissenschaftliche Textkompetenz, kooperative Textproduktion, materialgestütztes Schreiben. Letzte Publikation: Feilke, Helmuth/ Lehnen, Katrin/ Steinseifer, Martin (Hgg.) (2019): Eristische Literalität. Wissenschaftlich streiten – wissenschaftlich schreiben. Heidelberg: Synchron. Irina Liebmann – Studium der Sinologie, Diplomsinologin, nach Abschluss des Studiums Arbeit als Redakteurin zu Fragen der Entwicklungsländer in der Zeitschrift »Deutsche Außenpolitik«. Seit 1975 freie Autorin. Sie veröffentlichte Alltagsreportagen in der Zeitschrift »Wochenpost«; Hörspiele, Dramen und Prosa. Zahlreiche Preise: Preis der Leipziger Buchmesse, Uwe-Johnson-Preis. Wichtige Publikationen: »Berliner Mietshaus« (1982), »Mitten im Krieg. Erzählungen« (1989), »Quatschfresser«. Theaterstücke (1990), »In Berlin«. Roman
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(1997), »Letzten Sommer in Deutschland«. Roman in rhythmisierter Prosa (1997), »Wäre es schön? Es wäre schön! Mein Vater Rudolf Herrnstadt«. Biographie (2008), »Die schönste Wohnung hab ich schon, was soll denn jetzt noch werden?« Gedichte (2010), »Drei Schritte nach Russland«. Roman (2013), »Das Lied vom Hackeschen Markt. Drei politische Poeme« (2013), »Die Große Hamburger Straße« (2020). Irina Liebmann ist Mitglied der Akademie für Sprache und Dichtung. Amelie Meister – Studium der Schulmusik, Anglistik und Germanistik für das gymnasiale Lehramt; seit 2019 Doktorand im Fach Neuere deutsche Literatur und qualitative Medienanalyse an der Universität Mannheim mit einem Dissertationsprojekt zum Gesamtwerk Wolfgang Herrndorfs (Arbeitstitel: »Ästhetik des Wissens. Studien zu Wolfgang Herrndorfs Texten als Gesamtwerk«); seit 2020 Stipendiatin der evangelischen Studienstiftung Villigst. Letzte Publikation: Der Klagenfurt-Komplex. Die ›Zentrale Intelligenz Agentur‹ beim Wettlesen am Wörthersee. In: Literaturkritik.de, Nr. 9, September 2020. Urania Julia Milevski, Dr. – Studium der Germanistik, Soziologie und Politikwissenschaften an der TU Darmstadt; 2010 bis 2014 Promotion im DFG-Graduiertenkolleg »Dynamiken von Raum und Geschlecht« der Georg-AugustUniversität Göttingen und der Universität Kassel; 2014 bis 2016 Lehrkraft für besondere Aufgaben (Ndl und Medien) an der Universität Kassel; 2016 bis 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin (NdL und Literaturdidaktik) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; 2018 bis 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin (Literaturtheorie) an der Georg-August-Universität Göttingen. Seit 2019 akademische Oberrätin in der Funktion als Lecturer (NdL und Medien) an der Universität Bremen. Letzte Publikation: Frank Wedekind: Gedichte aus dem »Simplicissimus«. Göttingen: Wallstein 2019. Vadium Oswalt, Prof. Dr. – Studium Philosophie, Kunstgeschichte und Musikwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Florenz; danach der Geschichte, Germanistik und Anglistik an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen; 1983–84 Hochschulassistent am Trinity College Dublin/Irland am »Department of Germanic Studies« 1990 Studienrat an einem Gymnasium, 1995 Studienrat a.e. H. im Fach Geschichte an der Pädagogischen Hochschule Weingarten (seit 2000 OSTR.), seit 2004 Professor für Didaktik der Geschichte an der Universität Gießen. 2014 Ernennung zum Herder Chair durch das HerderInstitut-Marburg. Letzte Publikationen: Karten als Quelle und Darstellung – Historische Karten und Geschichtskarten im Unterricht (Frankfurt 2019); Handbuch Geschichtskultur im Geschichtsunterricht (Hrsg. zusammen mit Hans-Jürgen Pandel), Frankfurt 2021.
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Beiträgerinnen und Beiträger
Lea Reiff, M.A. – Studium der Neueren Deutschen Literatur und klassischen Archäologie; seit 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Neuere deutsche Literatur der Philipps-Universität Marburg, AG Frühe Neuzeit und Europäische Aufklärung. Letzte Publikation: »Que suis-je hélas?« (Selbst-)Inszenierung in den Maria Stuart zugeschriebenen Gedichten. Vortrag 2018 beim Klassik-Kolleg Weimar: The Queen’s Two Bodies (im Erscheinen [Jahrbuch für internationale Germanistik, 2021]). Rita Rieger, Dr. – Studium Spanisch und Französisch auf Lehramt; seit 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Kulturwissenschaften der KarlFranzens-Universität Graz und dort seit 2018 Leiterin des FWF geförderten EliseRichter-Projekts »Poetiken der Bewegung. Tanztexte 1800, 1900, 2000«; Lehraufträge an der Karl-Franzens-Universität Graz und der Paris-Lodron-Universität Salzburg. Letzte Publikation: Das Schreiben von und über Tanz. SchriftBewegungs-Relationen in zeitgenössischen Tanztexten. In: Susanne Knaller/ Doris Pany-Habsa/Martina Scholger (Hgg.): Schreibforschung interdisziplinär. Praxis – Prozess – Produkt. Bielefeld: transcript 2020, S. 223–240. Christina Rossi, Dr. – Studium der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft sowie der Rechtswissenschaften in Augsburg und Triest; 2018 Promotion an der Universität Augsburg; seit 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Technischen Universität Dortmund. Letzte Publikationen: Juli Zeh. Divergenzen des Schreibens. Hrsg. von Klaus Schenk/Christina Rossi. München 2021 (im Erscheinen); »Vor dem Schreiben steht die Zugehörigkeitsfrage.« Perspektiven des Exils und des Nachexils im Werk der rumäniendeutschen Schriftsteller Herta Müller und Richard Wagner. In: Bettina Bannasch/Katja Sarkowsky (Hgg.): Exilforschung. Ein Internationales Jahrbuch. Band 38. Berlin: de Gruyter 2020, S. 272–294. Simon Sahner, Dr. – Studium der Deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft und Geschichte und »Neuere deutsche Literatur, Kultur und Medien« in Freiburg; 2017–2020 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Graduiertenkolleg 1767 »Faktuales und fiktionales Erzählen«; seit 2021 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Greifswald; seit 2019 Mitherausgeber des OnlineFeuilletons 54books. Letzte Publikation: »Schluss mit Mythen«. Die Erlebnishaftigkeit des ›Normalen‹ in den Erzählungen von Jörg Fauser. In: Mathis Lessau/ Nora Zügel (Hgg.): Rückkehr des Erlebnisses in die Geisteswissenschaften? Philosophische und literaturwissenschaftliche Perspektiven. Baden-Baden 2019, S. 189–203.
Beiträgerinnen und Beiträger
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Kirsten Schindler, Prof. Dr. – Studium der Geschichtswissenschaft, Romanistik und Wirtschaftswissenschaften an den Universitäten Bielefeld, Rouen und Köln; 2000–2003 Stipendiatin des Graduiertenkollegs »Aufgabenorientierte Kommunikation« an der Universität Bielefeld; 2003 Promotion in der Linguistik; 2003– 2004 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bayreuth; 2004–2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der RWTH Aachen; seit 2007 an der Universität zu Köln; 2015 Habilitation und venia legendi »Deutsche Sprache und ihre Didaktik«. Letzte Publikation: »Multimodalem Erklären im Deutschunterricht«. In: Kölner Online Journal für Lehrer*innenbildung (gemeinsam mit M. Knopp; im Erscheinen). Hans-Joachim Schott, Prof. Dr. – Studium der Germanistik und Philosophie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg; 2012 Promotion; 2019 Habilitation in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft; seit 2020/21 Professor für Soziale Arbeit an der IUBH Internationale Hochschule. Letzte Publikation: Der unteilbare Andere: Studien zur literarischen Reflexion psychotischer Grenzerfahrungen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2020. Gesa Singer, Dr. – Studium der Germanistik und Pädagogik; Promotion 2005; seit 2001 Unterrichtstätigkeit in DaF; 2007–2011 DAAD-Lektorin an der Aristoteles Universität Thessaloniki; 2015–2017 akademische Rätin an der Abteilung für Germanistik der Europa Universität Flensburg; seit 2019 Senior Lecturer und Abteilungsleiterin der German Section, School of Languages and Literatures, UCT University of Cape Town, Südafrika. Letzte Publikation: Internationalisierung der Germanistik durch interkulturelle Didaktik. In: Nicole Colin/Rolf Parr/ Catherine Teissier/Joachim Umlauf (Hgg.): Germanistik – eine interkulturelle Wissenschaft? Synchron Publishers, Heidelberg 2020, S. 43–49. Hans-Christian Stillmark, Dr. –Berufsausbildung mit Abitur zum Maschinenund Anlagenmonteur; ab 1975–1979 Diplomlehrerstudium für Deutsch und Geschichte in Potsdam; 1979–1982 Forschungsstudium Germanistik in Potsdam; Promotion 1982 über Heiner Müllers Poetologie; 1985–1987 wissenschaftlicher Assistent an der Sektion Germanistik/Geschichte im Fachbereich Literaturtheorie; 1987–1990 Lektor für deutsche Sprache und Kultur an der Janus Panonius Universität Pécs/ Ungarn; 1990–2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik/Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam. Letzte Publikation: Peter Weiss erinnernd – Ansichten und Einsichten. Hrsg. von Hans-Christian Stillmark. Berlin: Weidler Buchverlag 2020.
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Beiträgerinnen und Beiträger
Stephanie Willeke, Dr. – Studium der Germanistik und Geschichtswissenschaft; seit 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin (Assistenz) an der Universität Paderborn im Fachbereich Neuere deutsche Literatur und Redakteurin der »Zeitschrift für deutsche Philologie«. Letzte Publikation: Der unzuverlässige Zeuge – Störungen im Erinnerungsdiskurs ›Shoah‹. In: Carsten Gansel (Hg.): Trauma-Erfahrungen und Störungen des ›Selbst‹. Mediale und literarische Konfigurationen lebensweltlicher Krisen. Berlin/Boston: de Gruyter 2020, S. 209–228. Gerhard Wolf – Studium der Germanistik, Diplomgermanist, nach dem Studium bis 1957 Rundfunkredakteur, seit 1957 freischaffend. Seitdem Autor, Essayist Kritiker, Drehbuchautor und insbesondere Lektor. Zahlreiche Monographien und Herausgaben. Dazu gehören: Deutsche Lyrik nach 1945 (1964); Johannes Bobrowski (1967); »Beschreibung eines Zimmers«, »Till Eulenspiegel« (zusammen mit Christa Wolf); Ins Ungebundene geht eine Sehnsucht (zusammen mit Christa Wolf); Wortlaut, Wortbruch, Wortlust (1988); Unsere Freunde, die Maler (1995, zusammen mit Christa Wolf). Herausgabe von Reihe »Märkischer Dichtergarten« (zusammen mit Günter de Bruyn), 1988–1991 »Außer der Reihe«, in der zahlreiche junge Autorinnen und Autoren des Prenzlauer Berges ediert wurden. Zuletzt erschienen: »Herzenssache. Memorial – unvergessliche Begegnungen« (2020).
Weitere Bände dieser Reihe Band 27.1: Carsten Gansel / Katrin Lehnen / Vadim Oswalt (Hg.)
Schreiben, Text, Autorschaft I
Zur Inszenierung und Reflexion von Schreibprozessen in medialen Kontexten 2021. 340 Seiten, gebunden € 55,– D ISBN 978-3-8471-1272-3
Band 26: Eva Rünker
Konstruktionen christlichen Lebens im populären Frühmittelalter-Roman Eine Untersuchung zum Verhältnis von Geschichte und Gegenwart
From the Borderland in the East and Johannes Bobrowski’s Utopia to a Border Aesthetics 2021. 471 Seiten, gebunden € 60,– D ISBN 978-3-8471-1193-1
Band 24: Britta C. Jung
Komplexe Lebenswelten – multidirektionale Erinnerungsdiskurse 2018. 310 Seiten, gebunden € 45,– D ISBN 978-3-8471-0866-5
Band 23: Monika Wolting (Hg.)
Identitätskonstruktionen in der deutschen Gegenwartsliteratur
2020. 493 Seiten, gebunden € 65,– D ISBN 978-3-8471-1195-5
2017. 362 Seiten, gebunden € 50,– D ISBN 978-3-8471-0741-5
Band 25: Sabine Egger / Stefan Hajduk / Britta C. Jung (Hg.)
Band 22: Thomas Hardtke / Johannes Kleine / Charlton Payne (Hg.)
Sarmatien – Germania Slavica – Mitteleuropa. Sarmatia – Germania Slavica – Central Europe Vom Grenzland im Osten über Johannes Bobrowskis Utopie zur Ästhetik des Grenzraums.
Niemandsbuchten und Schutzbefohlene
Flucht-Räume und Flüchtlingsfiguren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 2017. 326 Seiten, gebunden € 50,– D ISBN 978-3-8471-0681-4