Lebendiges Wissen des Lebens: Zur Verschränkung von Plessners Philosophischer Anthropologie und Canguilhems Historischer Epistemologie 9783050056760, 9783050055732

Das vorliegende Buch eröffnet den Dialog zwischen zwei Denkern, deren Arbeiten traditionell völlig unverbunden nebeneina

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German Pages 424 [428] Year 2012

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Danksagung
I. Vorspann
II. Rekonstruktionen: Wege zum lebendigen Wissen des Lebens in Plessners Philosophischer Anthropologie und Canguilhems Historischer Epistemologie
III. Konfrontationen: Die Verkreuzung von Plessners Philosophischer Anthropologie und Canguilhems Historischer Epistemologie
IV. Konstellationen: Das systematische Herz der Begegnung von Historischer Epistemologie und Philosophischer Anthropologie
V. Literatur
Personenregister
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Lebendiges Wissen des Lebens: Zur Verschränkung von Plessners Philosophischer Anthropologie und Canguilhems Historischer Epistemologie
 9783050056760, 9783050055732

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Thomas Ebke Lebendiges Wissen des Lebens Zur Verschränkung von Plessners Philosophischer Anthropologie und Canguilhems Historischer Epistemologie

Philosophische Anthropologie Herausgegeben von Hans-Peter Krüger und Gesa Lindemann Internationaler Beirat: Richard Shusterman (Philadelphia) und Gerhard Roth (Bremen)

Was bisher Leben und Bewusstsein, Sprache und Geist genannt wurde, steht in den neuen biomedizinischen, soziokulturellen und kommunikationstechnologischen Verkörperungen zur Disposition. Diese neuen SozioTechnologien führen zu einer tief greifenden anthropologischen Entsicherung, die eine offensive Erneuerung der Selbstbefragung des Menschen als vergesellschaftetes Individuum und als Spezies herausfordert. Die philosophische Anthropologie reflektiert die Grenzen sowie die interdisziplinären Grenzübergänge zwischen den verschiedenen erfahrungswissenschaftlichen Disziplinen und ihren jeweiligen Anthropologien. Sie behandelt diese Grenzfragen philosophisch im Hinblick auf die Fraglichkeit der Lebensführung im Ganzen. Diese Reihe ist ein Ort für die Publikation von Texten zur philosophischen Anthropologie. In ihr werden herausragende Monographien und Diskussionsbände zum Thema veröffentlicht.

Band 9

Thomas Ebke

Lebendiges Wissen des Lebens Zur Verschränkung von Plessners Philosophischer Anthropologie und Canguilhems Historischer Epistemologie

Akademie Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des DFG-Graduiertenkollegs „Lebensformen und Lebenswissen“

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2012 Ein Wissenschaftsverlag der Oldenbourg Gruppe www.akademie-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Veit Friemert, Berlin Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-05-005573-2 E-Book: ISBN 978-3-05-005676-0

Inhaltsverzeichnis

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I

I. Vorspann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



. Zeitgenössische Diskurse der Life Sciences und ihre Grenzen . . . . . . . . a. Das strukturwissenschaftliche Programm . . . . . . . . . . . . . . . . . b. „Enhancement“ und „converging technologies“ . . . . . . . . . . . . . . c. Leibphänomenologie und „nacktes Leben“ . . . . . . . . . . . . . . . . 2. These und Anlage der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Formung der These: Lebendiges Wissen des Lebens in Helmuth Plessners Philosophischer Anthropologie und der Historischen Epistemologie Georges Canguilhems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Überblick über die weitere Komposition . . . . . . . . . . . . . . . .

  7 2 9 9 36

II. Rekonstruktionen: Wege zum lebendigen Wissen des Lebens in Plessners Philosophischer Anthropologie und Canguilhems Historischer Epistemologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0 A. Plessner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0 Der Primat der Klinik: Vitalismus und ärztliches Denken (922) . . . . . . Die methodische Öffnung zu Phänomenologie und Hermeneutik . . . . . Die Doppelaspektivität der Dinge: Zum Verhältnis von Natur und Wissen . Eine Hypothese über die Lebendigkeit der Erscheinungen: Der Begriff der Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Indikation zur Konstitution. Die Verankerung der epistemischen Differenz von Natur und Leben in Plessners Axiomatik des Organischen . . 6. Der Wendepunkt: Die Deduktion der Vitalkategorien . . . . . . . . . . .

. 2. 3. .

. 0 . 6 .  . 6 . 7 . 77

VI

Inhaltsverzeichnis 7. Der Verkehr von Lebendigem mit Lebendigem: Das Moment der Positionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 8. Die sich auf „sich“ beziehende Struktur des Lebendigen: Zentrierung und Körper-Leib-Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 9. Lebendiges Wissen des Lebens: Die exzentrische Positionalität des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 02

B. Canguilhem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 . Anlauf: Von Bachelard zu Canguilhem . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Feinabstimmung: Der in sich gebrochene Standpunkt der Historischen Epistemologie bei Georges Canguilhem . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Broussais, Comte, Bernard: Canguilhems Kritik am Modell der Kontiuität von Normalem und Pathologischem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Differenz von Natur und Leben: Normalität und Normativität . . . . . . Die organischen Normen beim Menschen oder: Canguilhems „morceau d’anthropologie philosophique“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. La connaissance de la vie: „Vitaler Rationalismus“ als Wissen vom Leben . a. Die kreative Differenz des Lebens: Machine et organisme . . . . . . . . b. Der Appell des Phänomens an die Erkenntnis: Aspects du vitalisme . . . c. Das Auftauchen des biologischen Gesichtspunkts: Le vivant et son milieu 7. „Sich üben im Entziffern und Dekodieren“: Lebendiges Wissen des Lebens bei Canguilhem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. 7 . 30 . 33 .  . . . . .

 66 69 7 82

. 87

III. Konfrontationen: Die Verkreuzung von Plessners Philosophischer Anthropologie und Canguilhems Historischer Epistemologie . . . . . 202 Konvergenz in der Divergenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 a. „Doppelaspekt“ und „dynamische Polarität“: Leben als Hiatus zwischen Identität und Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Dezentrierte Zentren: Die Stellung des Menschen im (?) Leben . . . . . c. Der methodische Einbau der Erfahrungswissenschaften . . . . . . . . . d. Zusammenfassung und Überleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

20 207 22 22

A. Erster Akt: Der Begriff des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 a. Plessner liest Canguilhem: Die Grenzen des Lebenskreises . . . . . . . . 223 b. Canguilhem liest Plessner: Der lebendige Überschuss der psychophysischen Indifferenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

VII

Inhaltsverzeichnis

B. Zweiter Akt: Das Wissen vom Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 a. Canguilhem liest Plessner: Das Zögern der Deduktion . . . . . . . . . . . 27 b. Plessner liest Canguilhem: Der hermeneutische Zirkel der biologischen Normativität und das Geschichtsproblem der Historischen Epistemologie . 29 C. Dritter Akt: Lebendiges Wissen des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 a. Plessner liest Canguilhem: Die Frage nach der Verzeitlichung der Begriffe und die Versöhnung durch den Irrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 b. Canguilhem liest Plessner: Die Antinomie der Absolutheiten und die Pathologie der Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332

IV. Konstellationen: Das systematische Herz der Begegnung von Historischer Epistemologie und Philosophischer Anthropologie . . . . 36 Missing Links: Goldstein und Foucault . . . . . . . . . . . . Das historische Panorama . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Widerstreit und Parallaxe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aussichtspunkte für eine mögliche Ausweitung des Gesprächs . Schlussbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0

Danksagung

Die vorliegende Arbeit wurde im Dezember 200 als Dissertationsschrift an der Universität Potsdam im Fach Philosophie angenommen und am 3.0.20 im Rahmen der Disputation verteidigt. Besonders herzlich und nachdrücklich möchte ich meinem Doktorvater Hans-Peter Krüger danken, der die Entstehung dieses Textes von Anfang an mit großer Geduld, Aufgeschlossenheit und Sensibilität begleitet hat. Ohne den Zuspruch und die wertvollen philosophischen Inspirationen, die ich aus unseren Gesprächen im Laufe der Jahre schöpfen durfte, wäre es mir niemals möglich gewesen, die Arbeit in der nun vorliegenden Gestalt zu realisieren. Die mir jederzeit eingeräumte volle intellektuelle Freiheit und das in mich gesetzte Vertrauen haben mich das Projekt genau in der Weise durchführen lassen, die ich mir gewünscht habe. Hans-Jörg Rheinberger, der diese Studie ebenfalls begutachtet hat, danke ich ebenso von ganzem Herzen für seine Offenheit gegenüber meinem Anliegen und für seine geduldige, umsichtige Betreuung. Es mag durchaus sein, dass sich mein Text zwischen die Stühle und die eingespielten institutionellen Fronten setzt. Umso mehr möchte ich jenen KollegInnen danken, die sich auf die Fragestellung dieses Buches eingelassen und sich die Zeit genommen haben, die These oder einzelne ihrer Aspekte mit mir zu besprechen. Hier danke ich vor allem Henning Schmidgen, der das Projekt nicht nur über Jahre hinweg inhaltlich differenziert mit mir diskutiert, sondern immer wieder auch begutachtet und damit auch auf praktischer Ebene ganz entscheidend zu seiner Entstehung und Weiterentwicklung beigetragen hat. Jean-François Braunstein hat mich während meines Forschungsaufenthaltes in Paris hervorragend betreut und mir manchen unverzichtbaren Denkanstoß gegeben. Für Hinweise, Lektüren und Gespräche geht großer Dank an Ugo Balzaretti, Martino Boccignone, Christina Brandt, Jasper van Buuren, Michele Cammelli, Tobias Cheung, Claude Debru, Heike Delitz, Alexis Dirakis, Wolfgang Eßbach, Anne Fagot-Largeault, Giorgio Fazio, Joachim Fischer, Gunter Gebauer, Thomas Khurana, Dominique Lecourt, Hans-Ulrich-Lessing, Christoph Menke, Jean-Claude Monod, Volker Roelcke, Matthias Schlossberger, Martina Schlünder, Skúli Sigurdsson, Björn Sydow, Guido Tamponi, Patrice Vermeren, Mai Wegener, Monika Wulz, Matthias Wunsch sowie an alle Diskutanten, mit denen ich mich im Rahmen von Kolloquien und Tagungen über mein Vorhaben austauschen durfte. Der Fazit-Stiftung danke ich für das mir gewährte Promotionsstipendium, das mir die Verwirklichung des Projekts überhaupt erst ermöglicht hat. Dem Deutschen Akade-



Danksagung

mischen Austauschdienst (DAAD) bin ich zutiefst für ein Doktorandenstipendium verbunden, auf dessen Basis ich in Paris forschen und Kontakte zu französischen Kollegen knüpfen konnte. Das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (MPIWG) in Berlin hat mir, wofür ich außerordentlich dankbar bin, ein write up grant zur Finalisierung meiner Dissertation bereit gestellt. Allen Angehörigen der von Hans-Jörg Rheinberger seinerzeit geleiteten Abteilung III danke ich für die herzliche, kollegiale Aufnahme und die wundervollen gemeinsamen Monate. Dem Bibliotheksteam des MPIWG möchte ich meinen großen Dank und ein Kompliment für die unschätzbare Unterstützung bei der Literaturrecherche und -beschaffung aussprechen. Ganz aus-und nachdrücklich danke ich dem DFG-Graduiertenkolleg Lebensformen/Lebenswissen an den Universitäten Potsdam und Frankfurt/Oder für die großzügige Übernahme des Druckkostenzuschusses. Herrn Mischka Dammaschke vom Akademie Verlag sei für die verlegerische Realisierung dieses Buchprojekts gedankt. Zuletzt möchte ich an dieser Stelle meiner Familie, vor allem meiner Mutter danken, ohne deren langjährige liebevolle Unterstützung weder mein Studium noch meine Promotion denkbar gewesen wären. Sarah Dederichs, die mir, wie in allen Lebenslagen, so auch während der Ausarbeitung dieses Textes, zur Seite gestanden hat, ist dieses Buch in Liebe gewidmet. Thomas Ebke, Berlin im Januar 202

I. Vorspann

„Mit der Entdeckung der DNA als Träger der Erbinformation ist die Biologie zur einflussreichsten Wissenschaft des ausgehenden 20. und beginnenden 2. Jahrhunderts geworden. Unter dem Oberbegriff „Lebenswissenschaften“ arbeiten heute von der Medizin über die Chemie bis zur Pharmazeutik, von der Landwirtschaft bis zur Ernährungswissenschaft eine Vielzahl von Wissenschaften an der Erforschung des Lebens. Die Lebenswissenschaften betreffen uns alle, ob es um die Vielfalt von Pflanzen und Tieren auf der Erde geht, um gentechnisch veränderte Lebensmittel oder um die Entwicklung neuer Technologien und Produkte, bei der die Wissenschaft der Natur ‚auf die Finger schaut‘“.

Dieses Zitat springt heute noch dem Leser in die Augen, der im Jahr 202 die Internetseiten des Bundesministeriums für Bildung und Forschung aufruft, um sich die Agenda zu vergegenwärtigen, die 200, im sogenannten „Jahr der Lebenswissenschaften“, von politischer Seite ausgegeben wurde. Selbst wenn man unterstellt, dass diese politische Prosa eher zwischen den Zeilen und unscheinbar ein Verhältnis von Leben und Wissenschaft definiert, so wird man an mindestens zwei Stellen doch innehalten müssen. Zum einen wäre da die irritierende Metapher, wonach „die Wissenschaft der Natur ‚auf die Finger schaut‘“. Stellt sie nicht die Weichen für zwei ganz und gar unterschiedliche Szenarien? So können wir einem unnachahmlichen Pianisten auf die Finger schauen, ohne jemals die kühne Hoffnung zu hegen, das filigrane Spiel seiner Hände, ein Wunder an Koordination und Expressivität, dereinst selbst, aus eigener Kraft, wiederholen zu können. Zwischen dem Pianisten und uns liegt eine – vielleicht geniale – Differenz, von der Kant sagt, dass sie niemals „nach irgendeiner Regel gelernt“ (Kant AA V, 308) werden könne, wobei selbst vom Genie zu vermuten ist, „dass es, wie es sein Product zu Stande bringe, selbst nicht beschreiben, oder wissenschaftlich anzeigen könnte, sondern dass es als Natur die Regel gebe“ (ebd.). Soweit das erste sich hier anbahnende Szenario. Aber man kann auch in eine andere Richtung assoziieren. Denn im Verhältnis des Aufdie-Finger-Schauens muss der Abstand zwischen dem, der schaut und dem, der handelt, keineswegs absolut sein. Man nehme eine Lehrer-Schüler-Situation: Hier geht es um eine Unterweisung, die keineswegs ausschließt, dass der Vorsprung, den der Lehrende gegenüber dem Lernenden hat, aufgeholt wird. Anders als im Pianistenbeispiel kann man berechtigte Hoffnung haben, dass sich die Differenz eines Tages schließt und erübrigt. 

Das Zitat ist den Internetseiten des Bundesministeriums für Bildung und Forschung entnommen, einzusehen unter http://www.bmbf.de/de/230.php, Stand 3.0.202.

2

Vorspann

Muss also der Schüler (die Wissenschaft) nur akribisch genug studieren, nur geduldig und tief genug „hinschauen“, um alles, was die Quelle des Wissens (die Natur) zu sagen und zu zeigen hat, seinerseits restlos zu beherrschen? Man kann die Metapher freilich auch ganz anders wenden. Schaut z.B. die Polizei einem Verdächtigen auf die Finger, dann observiert sie, ihrerseits unsichtbar, sein Tun und Lassen. Sie schaut ihm „auf die Finger“, aber nicht aus Bewunderung oder Gelehrigkeit, sondern immer auf dem Sprung, ihm „das Handwerk zu legen“. Oder man denke an das Beispiel aufmerksamer Eltern, die ihrem Nachwuchs „auf die Finger schauen“: Offenbar ist dies kein Verhältnis, in dem der Betrachter sich vom Betrachteten etwas abzuschauen versucht, um es sich selbst anzueignen. Wer einem  so „auf die Finger schaut“ wie Eltern ihren Kindern, dem geht es bekanntlich darum,  zu überwachen, um mögliche unerwünschte Konsequenzen seines Tuns abzuwenden. Will die zitierte Passage also in etwa sagen, die Natur sei ein Reich suspekter, unberechenbarer Phänomene, von denen wenigstens potenziell bedrohliche Effekte zu erwarten sind? Und die Wissenschaft eine Polizei, die ihre schützende Funktion am besten dann auszuüben vermag, wenn sie ständige Überwachung walten lässt und immer zum Eingriff bereit steht? Im Anschluss an Lévi-Strauss hat Hans-Jörg Rheinberger einmal festgehalten, inwiefern die westlichen Kulturen hinter ihrem säuberlich eingerichteten Dualismus zwischen den Ordnungen des Natürlichen und des Künstlichen einen „Skandal“ ahnen (Rheinberger 200a). Weil die Verteilung der Phänomene auf entweder künstliche oder natürliche Entitäten bedingungslos ist, kann im Vorfeld dieses Antagonismus nur ein Un-Grund liegen, ein Ungedachtes, das aus der Innenperspektive des Antagonismus selbst gesehen zu dessen unendlich abwesendem Ursprung gerinnen muss. Die diffuse Ahnung, dass es sich bei dem Dualismus von Natur und Gesellschaft selbst noch um eine kulturelle Setzung, um ein Ge-Setz handelt, bringt die Projektion der „Natur als dem Anderen zu aller menschengemachten Verfassung und Geschichte, als Grenze“ (ebd., 39) in Stellung. Von „Natur“ ist dann im Unterschied zu jener Natur die Rede, die wir in Opposition zur Kultur fixieren; sie bezeichnet den Ursprung, der diese „kulturell eingerichtete“ (ebd., 33) Opposition ermöglicht und sich ihr schon immer entzieht. Für Lévi-Strauss ist die paradigmatische Gestalt dieses „natürlichen Unterschied[s] zwischen Kultur und Natur“ (ebd.) das Inzestverbot: Eine Universalität fordernde Norm, die weder durch einen Widerspruch zu den Naturgesetzen noch durch kulturelle Konventionen begründbar ist, sondern der Natur selbst zu entstammen scheint. Mag sein, dass man in den politischen Text, der soeben als Einstieg gedient hat, nicht gleich hinein lesen muss, was Rheinberger als Asymmetrie zwischen „der Transzendenz einer subjektlosen Natur“ (ebd., 0) und „der Immanenz einer objektlosen Kultur“ (ebd.) schildert. Es genügt vielleicht die zurückhaltendere Beobachtung, dass die Lebenswissenschaften bei dem Vorhaben, ihre eigenen Voraussetzungen und ihre genuinen Gegenstände zu bestimmen, mit einer Asymmetrie der nomoi von Natur und Kultur konfrontiert sind. Aber die angeführte Passage enthält noch eine zweite bemerkenswerte Amphibolie. Sie operiert sowohl mit dem Begriff des Lebens als auch mit dem Begriff der Natur. Heißt es im zweiten Satz des zitierten Textes noch, eine „Vielzahl von Wissenschaften“ arbeite „an der Erforschung des Lebens“2, so schließt der letzte Satz mit der Feststellung, 2

Siehe Anmerkung .

Vorspann

3

Hauptaufgabe der Lebenswissenschaften sei es, „der Natur ‚auf die Finger‘“3 zu schauen. Um im Bild zu bleiben: Erschließt sich das Phänomen des Lebens, wenn das Fingerspiel der Natur ganz und gar durchsichtig geworden ist? Dass lebendige Objekte nicht in einer Analytik der Materie aufgehen, dass sie vielmehr einen Verweiszusammenhang von Ursachen und Wirkungen indizieren und dadurch als auf die Einheit eines Ganzen hingeordnet erscheinen, hat Kant in der Kritik der teleologischen Urteilskraft problematisiert: „Zu einem Körper also, der an sich und seiner innern Möglichkeit nach als Naturzweck beurtheilt werden soll, wird erfordert, dass die Theile desselben einander insgesammt ihrer Form sowohl als Verbindung nach wechselseitig und so ein Ganzes aus eigener Causalität hervorbringen, dessen Begriff wiederum umgekehrt (in einem Wesen, welches die einem solchen Product angemessene Causalität nach Begriffen besäße) Ursache von demselben nach einem Prinzip, folglich die Verknüpfung der w i r k e n d e n U r s a c h e n zugleich als Wi r k u n g d u r c h E n d u r s a c h e n beurtheilt werden könnte.“ (Kant AA V, 373)

Zur Beurteilung der Form einer sich selbst organisierenden natürlichen Entität hat unser endlicher Verstand auf eine „Ursache, deren Vermögen zu wirken durch Begriffe bestimmt wird“ (ebd., 370), zu rekurrieren, die wiederum „nicht im Mechanism der Natur“ (ebd., 369) auffindbar ist. Der Verstand, der in seiner konstitutiven Leistung – der Verknüpfung von Vorstellungen zu Begriffen und von Begriffen zu Urteilen – auf die Subordination von Wirkungen unter bewirkte Ursachen angewiesen ist, trifft am Lebendigen eine paradoxe Reziprozität von Ursachen und Wirkungen an, eine „Verknüpfung [der] idealen Ursachen“ (ebd.), die sich nicht auf mechanische Gesetze auflösen lässt. Folgenschwer ist Kants These, weil die Frage nach der Beurteilung der sich (zweckmäßig) selbst organisierenden Natur im teleologischen Urteil eine kausale Totalität zu bedenken gibt, die nicht wie die materielle Natur analytisch zu bestimmen ist. Es ist aufschlussreich, dieses Kantische Argument einer epistemologischen Differenz zwischen materieller und lebendiger Natur, zwischen Natur und Leben, an das zitierte lebenswissenschaftliche Manifest heranzutragen. Denn in einer Kantischen Perspektive wäre von einer „Lebenswissenschaft“ zu verlangen, dass sie der mechanistischen Erklärungsweise, die ihr (als Wissenschaft) notwendig zukommt, noch eine andere Beurteilung ihrer Gegenstände an die Seite stellt – eine Beurteilung, die den „beiden Phänomene[n] der Unterbestimmtheit des Ganzen durch die Eigenschaften der Teile und der Kausalität der Teile durch das Ganze“ (McLaughlin 989, 62) gerecht würde. Die bisherigen Betrachtungen waren darauf konzentriert, das an den Anfang gestellte Zitat auf das dort suggerierte Verhältnis zwischen Leben und Wissen hin zu befragen. In die zentrale Metapher, die der Text verwendet, wurden einige Spekulationen eingelesen, und zwar mit der Absicht, potenzielle Widersprüchlichkeiten, die auf der begrifflichen Beziehung von Leben und Wissen lasten könnten, aufzuzeichnen. Dieses Vorgehen läuft keineswegs auf die Behauptung hinaus, der vom Bundesministerium mit diesem Text formulierte Forschungsansatz verstricke sich de facto in die skizzierten Aporien. Tatsächlich 3 

Ebd. Die Grenze mechanistischer Analysen der Natur liegt in der Tat genau darin, dass sie nicht plausibel machen können, „warum die Natur als bloßer Mechanismus gerade diese Zusammensetzung der Teile statt einer der tausend anderen möglichen Kombinationen der Teile gewählt haben soll“. (McLaughlin 989, 39).



Vorspann

kam den bis hierher einleitenden Überlegungen allein die Funktion zu, einen ersten Umriss der begrifflichen Komplikationen zu geben, die sich der theoretischen Grundlegung der modernen life sciences in den Weg stellen könnten. Um zu prüfen, ob diese vorläufig „nur“ begriffsanalytisch herausgestellten Ambiguitäten auch empirisch zu Schwierigkeiten für die Einzelwissenschaften führen, sollen im Weiteren einige Forschungsprogramme sondiert werden, die sich mutatis mutandis dem Ensemble der life sciences zurechnen lassen. Denn was, wenn die begrifflichen Unschärfen des Ausgangszitats mehr wären als sprachliche Nachlässigkeiten in einem ministerialen Communiqué? Vorausgeschickt sei noch, dass ich in einem eher lax gehaltenen Verständnis von lebenswissenschaftlichen Projekten sprechen möchte. Die im Folgenden diskutierten Theorien entstammen eher einem Überlappungsbereich, der weder ganz in das Lager der hard sciences noch in jenes Spektrum fällt, in dem gegenwärtig so etwas wie eine „Revitalisierung der Lebensphilosophie“ abzulaufen scheint. Dieses Vorgehen trägt der Einsicht Rechnung, dass es sich beim Begriff des Lebens um einen „Integrationsbegriff“ (Toepfer 200, 70) handeln könnte, der „zwar Empirisches bezeichnet, aber von der empirischen Wissenschaft gleichzeitig vorausgesetzt wird“ (ebd., 8).

. Zeitgenössische Diskurse der Life Sciences und ihre Grenzen a. Das strukturwissenschaftliche Programm Eine Wissenschaftstheorie mit der Ambition, als ihren „Gegenstandsbereich die gesamte Wirklichkeit“ (Küppers 2000, 02) anzusetzen, manövriert in einen Konflikt zum Dualismus von Natur- und Geisteswissenschaften, der seit dem 9. Jahrhundert auch institutionell festgeschrieben steht. Im Gefolge von Diltheys Distinktion zwischen den Naturwissenschaften als erklärende und den Geisteswissenschaften als verstehende Disziplinen variierte und verlagerte vor allem der Neukantianismus die scharfe Trennung der beiden Pole. Windelband etwa ersetzte Diltheys Opposition von Natur und Geist durch die Differenz zwischen Natur und Geschichte: Naturwissenschaften seien als „nomothetische“ (Windelband 9, ), nach Gesetzen ordnende Wissenschaften des Allgemeinen zu definieren, die Geschichtswissenschaften hingegen als „idiographische“ (ebd.), mit konkreten Ereignissen befasste Wissenschaften des Besonderen. Windelbands Umformulierung von Diltheys Trennung der Disziplinen warf durch die Gegenüberstellung von Gesetz und Ereignis neuerlich das Problem auf, ob eine Wissenschaft des Besonderen nicht schlechthin unmöglich sei (siehe das Prinzip des individuum ineffabile bei Aristoteles). 

Diesen Titel trägt ein kenntnisreicher, aber mitunter überfrachteter Literaturbericht von Jürgen Große aus der Philosophischen Rundschau (Große 2006). Siehe auch Kozljanič 200, der „gegen reduktionistisch-naturwissenschaftliche wie verdinglichend-esoterische und/oder metaphysisch-mystfizierende Vereinnahmung […] ein Bewusstsein der Pluralität und Polarität, der Tiefe und Weite des Lebens offenhalten“ (ebd., 23) will. Kozljaničs Publikation hat eher doxographischen Charakter, da sie versäumt, ein kritisches Verhältnis zwischen der lebensphilosophischen Tradition und diversen lebenswissenschaftlichen Verwendungen des Lebensbegriffs herzustellen, was wiederum zur Legitimation der von ihm unterstellten aktuellen Relevanz der Lebensphilosophie unverzichtbar wäre.

Zeitgenössische Diskurse der Life Sciences und ihre Grenzen



Diese neukantianische Debatte um Legitimation und Hierarchie der Natur- und Geisteswissenschaften ist im Hintergrund vorauszusetzen, wenn man sich dem wissenschaftstheoretischen Potenzial der Strukturwissenschaften zuwendet6. In die Traditionslinie von Windelband über Rickert zu Cassirer treten die Strukturwissenschaften mit dem Anspruch ein, „zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften eine Brücke zu schlagen“ (Küppers 2000, 0). Der „Gegensatz ganzheitlicher und analytischer Wirklichkeitserkenntnis“ (ebd., 90) sei von den Neukantianern nicht überzeugend gelöst, sondern durch die Interrogation des Wissenschaftscharakters der Geisteswissenschaften noch verschärft worden. In Absetzung vom Neukantianismus ist der Kern des „strukturwissenschaftlichen“ Unternehmens daher, an der phänomenologischen Idee eines „objektiven Anschauungsganzen“ (ebd., 0) festzuhalten. Bei näherer Betrachtung des Forschungsprogramms drängt sich jedoch die Frage auf, welche Rolle die Verweise auf einen „objektiven Sinnzusammenhang“ (ebd.), der zur Entfaltung des „einheitlichen Wirklichkeitsverständnis[ses]“ (ebd.) unverzichtbar sein soll, genau spielen können. Als Ausgangspunkt für weitere Ausführungen lohnt der Blick auf eine zentrale Definition der Gegenstände und Methoden der Strukturwissenschaften: „Zunächst lässt sich feststellen, dass ein unverwechselbares Kennzeichen aller Strukturwissenschaften darin besteht, dass ihr Gegenstandsbereich die gesamte Wirklichkeit ist. Das heißt, die Strukturwissenschaften suchen nach Gesetzmäßigkeiten, denen abstrakte Strukturen unterliegen, und zwar unabhängig davon, ob sich diese Strukturen in unbelebten oder belebten, natürlichen oder künstlichen Systemen wiederfinden. Der Prototyp einer solchen Strukturwissenschaft ist die Mathematik. […] Zunächst lässt sich ganz allgemein feststellen, dass im Rahmen der strukturwissenschaftlichen Methode von den qualitativen Eigenschaften eines Gegenstandes abstrahiert und die Wirklichkeit durch mathematische Begriffe, Symbole und deren Transformationen ersetzt wird. […] Wissenschaftstheoretisch gesehen, vollzieht sich im Rahmen der Strukturwissenschaften das, was wir eine Erklärung in Form von Analogiemodellen nennen. Und zwar werden die Gesetze dieser Strukturwissenschaften aus realen Gesetzen dadurch gewonnen, dass man alle deskriptiven und empirischen Konstanten eliminiert bzw. durch allgemeine Konstanten ersetzt, während man nur an den logischen und mathematischen Konstanten festhält. Die auf diese Weise gewonnenen Strukturgesetze sind Gesetze, die dieselbe syntaktische Struktur (bzw. logische Form) haben wie die realen Gesetze, aus denen sie abgeleitet sind. Allerdings können sie nun auf mehr als bloß einen Gegenstandsbereich angewendet werden. Hierbei sind für die Frage nach der Einheit der Wissenschaften gerade jene nomologischen Isomorphismen von Bedeutung, die für Gesetze aus ganz unterschiedlichen Wirklichkeitsbereichen gelten.“ (ebd., 02f.)

Soweit sich die „Sprache“ der materiellen Natur zu einer „formalen Taxonomie generativer Strukturen“ (Artmann 2003, 83) expandieren lässt, die allerdings nicht im selben Grad formalisierbar ist wie die mathematische Logik, entsteht eine Konstruktion, die zwischen „Gesetz und Ereignis“ (Windelband) vermittelt, indem sie „für Gesetze aus ganz unterschiedlichen Wirklichkeitsbereichen“ (Küppers 2000, 03) Validität beanspruchen kann. Genau dieser Transmissionsanspruch erweist sich aber als zirkulär: Einerseits liegen die „Strukturen“ der Erkenntnis von empirischen Erscheinungen gerade nicht als Ermöglichungsbedingungen voraus, sondern sie sind umgekehrt von „empirischen Regularitäten“ (ebd.) abgeleitet. Andererseits sollen sich aus diesen abgeleiteten Struk6

Siehe zur geschilderten Problemlage auch Küppers 2000, 89–96.

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Vorspann

turen – oder besser: aus ihrer Syntax – wiederum mathematische Gesetze deduzieren lassen, die dann die Erkenntnis der „Wirklichkeit“ konstituieren. Die Erkenntnistheorie der Strukturwissenschaften schwankt mithin zwischen apriorischen und aposteriorischen Geltungsansprüchen. Vor allem die lebenswissenschaftliche Dimension der Strukturwissenschaften lässt das erläuterte Defizit zu Tage treten. In erster Annäherung wird die strukturwissenschaftliche Bestimmung des Lebendigen innerhalb der idealen Epistemologie der Physik entwickelt: Physikalische Erklärungen führen ein explanandum auf ein explanans zurück, wobei das explanans sowohl Naturgesetze umfasst als auch die individuellen und kontingenten Realumstände, unter denen das explanandum eingetreten ist. Diese Umstände werden als „Randbedingungen“ (ebd., 02) bzw. als „Prämissen zu Gesetzesaussagen“ (ebd.) definiert. Im Fall des lebenden Organismus fungiert die Struktur des DNA-Moleküls als eine „Randbedingung“ im geschilderten Sinne. Die Menge der real ablaufenden biologischen Prozesse existiert – so die Hypothese – dank spezifischer Randbedingungen, die aus der „Menge der physikalisch möglichen Prozesse“ (ebd.) eine begrenzte Anzahl selektieren: „Nach allem, was wir bisher über die Organisation des Lebendigen wissen, treten in der belebten Materie keine Gesetzmäßigkeiten auf, deren Existenz und Gültigkeit nicht auch schon im Bereich der unbelebten Materie nachgewiesen wäre. Die Besonderheit des Lebendigen ist demnach allein in der besonderen Organisationsform der belebten Materie angelegt, und diese wiederum ist der Ausdruck besonderer Randbedingungen. Wollen wir also den Ursprung und die Entwicklung des Lebendigen verstehen, so müssen wir den Ursprung und die Entwicklung exzeptioneller Randbedingungen erklären, nämlich jene, die in Form der DNA-Moleküle den Aufbau und die Funktionen des lebenden Organismus instruieren. (…) Man kann über den einzelnen Organismus hinaus die Organisation des Lebendigen bis hin zu den sozialen Systemen als eine komplexe Hierarchie von Randbedingungen beschreiben, die auf jeder Organisationsstufe eine selektive Funktion ausüben und dadurch jeweils eine eigene informationstragende Ebene begründen.“ (ebd.)

Der strukturwissenschaftliche Ansatz oszilliert haltlos zwischen genetischer Kontingenz und physikalischem Determinismus: Wenn die Realstrukturen durch systemische Gesetze explikabel sein sollen, dann schreiben sich diese Gesetzmäßigkeiten bereits aus dem her, was allererst durch sie erklärt werden soll – nämlich Kontingenz. Die Konzeption der Randbedingungen untersteht durchweg der These einer systemischen Verfassung der Wirklichkeit im Sinne Luhmanns; die Randbedingungen erfüllen die Funktion jener Grenzwerte, die qua „Irritation“ (Luhmann) dem System internalisiert werden. Im Anschluss an den Neukantianismus stellen sich die Strukturwissenschaften der Herausforderung, die Dualismen von Natur/Geist, Natur/Geschichte, Gesetz/Ereignis, Allgemeines/Besonderes, Erklären/Verstehen etc. zu verflüssigen, um eine einheitliche Wirklichkeitsbestimmung abgeben zu können. Vor allem ist dabei der Rückgang auf einen Sinn- und Ganzheitszusammenhang entscheidend, der für die Anschauung, unabhängig von den mathematischen Analysen, gelten soll. Und so sehr die Strukturwissenschaften, Kant reinterpretierend, dessen Konzept einer epistemischen Ganzheit irrtümlich mit der Struktur des synthetischen Apriori kurzzuschließen scheinen7: So sehr stehen durch die 7

Bei Kant sind die Termini der Ganzheit bzw. des Ganzen und der Anschauung in ihrem Wechselverhältnis von derart zentraler systematischer Bedeutung, dass sie im Verbund miteinander der Auflösung der zweiten Antinomie in der „Transzendentalen Dialektik“ der Kritik der reinen Vernunft zu Grunde

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Auseinandersetzung mit den Strukturwissenschaften doch Fragen nach der Rolle eines „Sinn- bzw. Anschauungsganzen“ im Raum. Wenn mithin das Interesse dieses Unterkapitels den Strukturwissenschaften zukam, so deshalb, weil diese mit einer Terminologie operieren, die den Weg zu den maßgeblichen Fragen der vorliegenden Untersuchung weisen.

b. „Enhancement“ und „converging technologies“ Seit Oktober 200 existiert an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg eine „BioethikNachwuchsgruppe“, deren Forschungsprojekt Zur Relevanz der Natur des Menschen in einen Förderschwerpunkt Ethische, rechtliche und soziale Aspekte der modernen Lebenswissenschaften und der Biotechnologie (ELSA) eingegliedert ist. Stärker noch als die Strukturwissenschaften verfügt dieses anthropologisch-bioethische Projekt über einen lebenswissenschaftlichen Kern. Ich beginne meine Darlegungen wiederum mit einem programmatischen Zitat, das stichwortartig das betreffende Forschungsprogramm umreißt: „Durch jüngste Fortschritte biomedizinischer Verfahren ist es möglich geworden, die Natur des Menschen in immer stärkerem Ausmaß in den Bereich technischer Verfügbarkeit und bewusster Veränderbarkeit mit einzubeziehen. Vor diesem Hintergrund ist die übergeordnete Leitfrage dieser Nachwuchsgruppe, ob und in welcher Weise die Natur des Menschen selbst als normative Orientierungsmarke dienlich ist, die über Zulässigkeit und Grenzen solcher Veränderungen Auskunft geben kann. (…) In dieser interdisziplinären Verzahnung werden die folgenden Projektziele bearbeitet: .) Erhebung der normativen Verwendungsweisen der Natur des Menschen in Bezug auf bioethische Problemfelder 2.) Herausarbeitung der im Kontext der Bioethik verwendeten unterschiedlichen Naturbegriffe und der damit verknüpften Vorannahmen 3.) Ermittlung von Reichweite und Grenzen eines normativen Rekurses auf die Natur des Menschen .) Bearbeitung der Relevanz der Natur des Menschen für aktuelle Streitfragen biomedizinischer Ethik.“8

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liegen. Im Kontext dieser Antinomie plädiert Kant dafür, die „Realität im Raum“ tatsächlich als unendlich teilbar aufzufassen, also nicht – wie im Fall der Antinomie der Zeit – von einem indefiniten, sondern einem infiniten Regress vom Bedingten zu den Bedingungen zu sprechen. Der (ins Unendliche) aufgeteilte Charakter der Materie kommt dabei zwar erst im Vollzug einer Teilung zum Vorschein, aber dennoch entstehen die Teile nicht erst qua Teilung. Seine Behauptung, dass die Reihe bedingter Bedingungen ins Unendliche läuft und daher als ein Ganzes gegeben sein soll, kann Kant nur aufstellen, weil er neben der Gegebenheit dieser Ganzheit für den Verstand auch noch eine Gegebenheit des Ganzen in der Anschauung annimmt. Für den Verstand kann eine Ganzheit nur in Teilen vorliegen, d.h. ein analytisches Ganzes sein. Für die Anschauung hingegen präsentiert sich eine Ganzheit in und in Abhebung von den Teilen, d.h. die unendliche Teilbarkeit der Teile (eines Körpers) wird hier in ihrer objektiven Realität phänomenal offenbar, bevor eine faktische Teilung erfolgt. Dieser Argumentationsgang stellt klar, in welcher Weise philosophisch sinnvoll (a priori) von der unendlichen Teilbarkeit der Materie gesprochen werden kann. Dieser bei Kant eminente Zusammenhang von Ganzheitsproblem und Anschauung verdeutlicht, dass die Differenz zwischen synthetischem und analytischem Ganzen – der im strukturwissenschaftlichen Programm nivelliert wird – unbedingt zu berücksichtigen ist. http://www.natur-des-menschen.uniklinik-freiburg.de/projektziel.htm, eingesehen am 3.0.202.

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In einem Atemzug kombiniert das Zitat, als sei das völlig unproblematisch, die Begriffe der Natur des Menschen und der Normativität. Wie man jedoch an dem gegenwärtig wirkmächtigen Paradigma des enhancement feststellen kann, birgt gerade die Verbindung zwischen Anthropologie und Normativität eine unerhörte Brisanz. Was ist unter enhancement zu verstehen? Primär bezieht sich der Begriff des enhancement auf technologische Potenziale der Medizin, kognitive Leistungen von Patienten zu verbessern oder zu „steigern“. Von diesem engeren biomedizinischen Kontext hat sich jedoch längst auch ein technokratisches Programm abgekoppelt, das auf die Maximierung kollektiver sozialer und ökonomischer Kapazitäten geht. Unter diesem Gesichtspunkt ist es nicht überraschend, dass der enhancement-Begriff in die Nähe des social engineering rückt und sich ganz emphatisch auf die Frage der technologisch-maschinellen Assimilation von individuellem und kollektiv-sozialem Organismus hin öffnet9. Das enhancement umfasst „biomedizinische Interventionen“ (Lenk 2002, ), die sowohl therapeutisch im Sinne der Wiederherstellung subjektiver Normen eines Patienten als auch im Sinne von „Verbesserungen“ (ebd.), d.h. des engineering, praktiziert werden können. Dabei stellen sich nicht erst an die zweite Wortbedeutung des enhancement als Verbesserung, sondern bereits an das Problem der Wiedergewinnung von „Gesundheit“ massive Fragen: Wer kann beurteilen, ob ein bestimmter physiologischer Zustand wiederherstellenswert ist? Der leiblichen Selbstwahrnehmung des Patienten kann entgehen, dass sich hinter dem trügerischen, inzwischen eingebüßten Gefühl der Gesundheit schon „damals“ – vor Aufnahme der Therapie – eine latente Krankheit verborgen hat. Den Medizinern wiederum verschließt sich genau jene individuelle Leibeserfahrung des Betroffenen: Die von ihnen qua „Intervention“ herbeigeführten Messwerte garantieren nicht die subjektive Erfahrung des Wohlseins, die aus der Perspektive des Patienten maßstäblich ist. Der zweite näher und kritisch aufzulösende Aspekt des enhancement liegt in der angesprochenen Verschiebung vom Kontext der modernen Biomedizin in den des social engineering. So auffällig es ist, dass die Frage, woher die Normen des Lebendigen rühren, schon in der biomedizinischen Beurteilung keineswegs vorentschieden ist, so überdeutlich ist die Neigung der soziotechnischen Apologeten des enhancement, die subjektiven Ursprünge der Normativität gänzlich auszuschalten. Die Hoheit über die Normen soll den Expertenkulturen überlassen sein. Damit aber ist ein Punkt erreicht, von dem aus die Frage nach der Rolle der lebendigen Normen reformuliert werden kann, und zwar unter anthropologischem Blickwinkel. Vor allem der extreme Diskurs eines enhancement, verstanden nicht als Restitution eines normativen Ausgangspunkts, sondern als Inauguration eines neuen Niveaus, verweist auf eine implizite Anthropologie, die kritisch zu adressieren ist. Die in der enhancement- Problematik, aber insgesamt auf unzähligen Feldern des spätkapitalistischen Liberalismus symptomatische „Kultur der Optimierung“ (Lenk 2006, 66) wäre darauf zu untersuchen, welcher Typ homo unter welchen strategischen Interessen hier imaginiert wird und fabriziert werden soll. 9

Schon die Titel vieler einschlägiger Publikationen umspielen die doppelte Differenz des enhancement zwischen der Wiederherstellung und Neusetzung von Normen einerseits, zwischen individuellem und sozialem Organismus andererseits und deuten damit zugleich an, dass hier auch ein technologisches Dispositiv in Stellung gebracht wird. Siehe Parens 998; Lenk 2002; Lenk 2006; Merkel et al 2006; Opolka/Ach/Schöne-Seifert/Talbot 2007; Clausen 2006; Clausen 2007.

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Das Spannungsfeld des enhancement zwischen Auffassungen über die Normativität des Organischen einerseits und anthropologischen Fluchtpunkten andererseits möchte ich in einem knappen Rückgriff auf jüngere Publikationen zum Thema skizzieren. Ein Blick auf den Sammelband Intervening in the Brain. Changing Psyche and Society (Merkel et al 2006) gibt einen besonderen Aspekt der Diskussion zu erkennen. Die Analysen dieses Bands gruppieren sich um die Frage nach der Legitimierbarkeit hirnchirurgischer Interventionen in das Zentrale Nervensystem. In der Einleitung des Buchs heißt es, ein Schlüsselproblem der Debatte um biomedizinische Interventionen sei „the belief that interventions in the brain are particularly prone to put a person’s integrity in danger, namely the basic idea that the brain is of decisive importance for who and what a person essentially is“ (ebd., ). Dabei verläuft die Argumentation der Autoren wie folgt: Die Anthropologie des Christentums, wonach jeder Mensch eo ipso als Person zu bestimmen sei, ist abzuweisen. In der christlichen Semantik ist es schlechthin unmöglich, sich vorzustellen, worin eine Verletzung der Persönlichkeit eines Menschen bestehen könne, denn auch jener Mensch, dem eine solche Verletzung widerfährt, sei noch immer er selbst, nämlich ein Geschöpf Gottes (ebd., 90 und 27). Angesichts dieses Dilemmas plädieren die Autoren dafür, Kriterien auszuweisen „how to identify and re-identify persons as one and the same at different times“ (ebd., 93). Wer oder was als Person bezeichnet werden kann, müsse durch ein „set of conditions“ (ebd., 92) angebbar sein. Selbst wenn das gesuchte normative Fundament nicht in der Natur des Menschen verankert sein kann, sei es unerlässlich, unter Personen Wesen zu verstehen, die räumliche und zeitliche Veränderungen durchmachen, in diesem Wechsel aber gleichwohl mit sich identisch bleiben0. Um die formale (implizit gleichwohl substanzmetaphysische) Beschreibung der Person als mit sich identische, permanent identifizierbare Entität zu schärfen, gehen die Autoren einen weiteren entscheidenden Schritt – sie begründen den Begriff der Person durch das Prinzip des Selbstbewusstseins: „Now, for someone to be a ‚person‘, i.e. held to be responsible for their actions, they must fulfil at least the cognitive prerequisites for acquiring an understanding of the concept of responsibility: the ability to regard oneself as oneself and so to attribute one’s actions to oneself. That is, a person does not only have consciousness (certain mental states and capabilities which are presupposed by the sheer ability to act), but self-consciousness (having a concept of oneself as the one having these mental states and doing those actions). That a being which is a person must have a concept of itself in turn presupposes cognitive capacities on its part to the extent 0

Bei aller Neigung der Autoren, diese Bedingung als eine sprachlogisch gebotene Bedingung zu deduzieren – „the continuous applicability of the constitutive predicate ‚person‘“ (Merkel et al 2006, 27) – ist hier die aristotelische Substanzmetaphysik im Spiel, wonach die Wahrheit der kategorialen Bestimmungen, die von einem Seienden ausgesagt werden und die Identifizierung dieses Seienden ermöglichen, ihrerseits von einem inhärenten Prinzip abhängt, das einem Seienden seine es spezifierende Bestimmtheit, seine Identität mit sich garantiert. Die sprachlich-kategoriale Ebene der Identifizierung von etwas korreliert bei Aristoteles mit einer metaphysischen Dimension, in welcher sich die Identität dieses etwas, die Substanzialität der Substanz, begründet. Die Autoren von Intervening in the Brain bedienen sich zwar des begriffstheoretischen Arguments „that the continuing applicability of the constitutive predicate ‚person‘ is a necessary condition for a person’s persistence“ (ebd., 276), problematisieren jedoch nicht (wie Aristoteles dies tut), dass die „applicability“ dieses Prädikats einer spezifischen Verfasstheit des so bezeichneten Seienden ontologisch entsprechen muss.

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Vorspann that it is a subject of experiential knowledge and a participant in a community of language users. (…) In the end, all these results may be regarded as summed up quite nicely in Locke’s famous definition of a person as ‚a thinking intelligent Being, that has reason and reflection, and can consider itself as itself, the same thinking thing in different times and places‘.“ (ebd., 27; Hervorhebungen i.O., TE)

Der Begründungszusammenhang, auf den es mir in meiner Rekonstruktion ankommt, zeichnet sich damit in klareren Konturen ab: Die Frage, welchen Normen eine biomedizinische Intervention unterliegt, entscheidet sich, folgt man den Autoren von Intervening in the Brain, daran, ob der Patient, in dessen Gehirn interveniert wird, nach dem Eingriff noch identisch mit demjenigen „Selbst“ ist, das er vor diesem Eingriff gewesen ist. Diese Feststellung führt dazu, dass der Begriff der Identität, der sich in einem ersten Schritt sprachanalytisch als notwendige Bedingung erwiesen hatte, um den Begriff „Person“ als konstitutives Prädikat einzuführen, auf ein Subjekt hin umgestellt wird, das sich eine diachrone Identität mit „sich“ selbst zuschreiben kann. Diese diachrone Identität der Person wird ermöglicht durch die Instanz des Selbstbewusstseins, die gleichzeitig die Quelle moralischen Handelns (und der moralischen Beurteilung eigenen und fremden Handelns) ist. Es ist m.E. völlig angemessen, von einem „stark identitärischen oder ontologischen Sinne“ (Balzaretti 200a, ) dieser Herleitung zu sprechen: „Selbstbestimmung muss nicht bloß Bestimmung durch sich selbst, sondern auch zugleich und immer schon Bestimmung von sich selbst durch sich selbst sein; das Selbst der ‚Selbstbestimmung‘ muss sowohl als Subjekt als auch als Objekt verstanden werden. Der Wille als ‚Urheber‘ der Gesetze muss nicht etwa seine fremde, sondern ‚seine eigene Natur‘, nicht etwa bloß ‚die Erscheinung seiner selbst‘, sondern ‚das eigentliche Selbst‘, ein ‚vernünftiges Wesen‘, bestimmen.“ (Ebd., 2)

Das hier aufkeimende Problem ist fürs Erste ausreichend umrissen: Was, wenn die Frage nach der Normativität nicht ausgeschöpft ist, solange man sich auf das metaphysische Gerüst von Identität, Personalität und Selbstbewusstsein zurückzieht? An diesem Punkt geht es mir nicht darum, die gegenwärtig brennende neurowissenschaftliche Diskussion, die am Horizont all dieser Ausführungen zu erkennen ist, weiter zu überblicken. Vielmehr möchte ich auf einen speziellen Strang innerhalb dieser Diskussion verweisen, der bizarr und abenteuerlich erscheint, aber doch einige handfeste Grenzprobleme generiert. In ihrem Manifest Converging Technologies for Improving Human Performance. Nanotechnology, Biotechnology, Information Technology and Cognitive Science (Roco/Bainbridge 2003) prophezeien Mihail C. Roco und William Sims Bainbridge eine „new renaissance“ (ebd., ), die von der Ko-Evolution von Nanotechnologie, Biotechnologie, Informationstechnologie und Kognitionswissenschaften zu erwarten sei: „We stand at the threshold of a new renaissance in science and technology, based on a comprehensive understanding of the structure and behavior of matter from the nanoscale up to the most complex system yet discovered, the human brain. Unification of science based on unity in nature and its holistic investigation will lead to technological convergence and a more efficient societal structure for reaching human goals. (…) The phrase ‚convergent technologies‘ refers to the synergistic combination of four major ‚NBIC‘ (nano-bio-info-cogno) provinces of science 

Balzaretti bezieht sich hier allerdings nicht auf den geschilderten Kontext, sondern auf Kant. Die Pointe bleibt gleichwohl erhalten.

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and technology, each of which is currently progressing at a rapid rate: (a) nanoscience and nanotechnology; (b) biotechnology and biomedicine, including genetic engineering; (c) information technology, including advanced computing and communications; and (d) cognitive science, including congnitive neuroscience.“ (Ebd., f.)

Hinter dem Akronym „NBIC“ verbirgt sich eine „architecture of sciences“ (ebd., 3). Ausgehend vom atomar-molekularen Grundbau alles Lebendigen (nano) sollen sich Eigenschaften der Nukleotide und Aminosäuresequenzen, aus denen die DNS zusammensetzt, spezifizieren lassen (bio). Die Transkription der DNS zu RNS und die von der RNS vollzogene Umschreibung genetischer Informationen zu Proteinen (info) müsse ihrerseits vorausgesetzt werden, um „the mature human brain as a product of genetics and development“ (ebd., 2) (cogno) funktional zu explizieren2. Das Problem des Lebendigen lässt sich – so die Axiomatik der converging technologies – in diesen vier Schritten restlos auflösen. Zwischen unbelebter und belebter Natur liegt allein eine Differenz in der Komplexität der Organisation. Es springt sofort ins Auge, inwiefern der Diskurs der converging technologies die im Konzept des enhancement angelegten Perspektiven (und Defizite) verschärft: Der Ausgangspunkt dieses Diskurses ist die Überzeugung, dass die in Evolutionmodellen bislang relevante Unterscheidung zwischen biologischer und soziokultureller Natur immer mehr ins Verschwinden gerät. Wir stehen – so die Unterstellung – an der Schwelle zu einem evolutionären Zustand, der die biologische Erstnatur technologisch vollständig beherrschbar und manipulierbar werden lässt3. Dabei ist weniger die positivistische Auffassung von der grenzenlosen wissenschaftlichen Erschließbarkeit der Lebensphänomene das prägende Kennzeichen der converging technologies. Vielmehr ist es die Vision einer neuartigen Ko-Evolution und Konvergenz von Natur und Technik: Und zwar so, dass unter „Natur“ ein längst schon ins Künstliche übergegangener Bereich zu verstehen ist, der in (relativ naher) Zukunft nichts Geringeres ermöglichen wird als „die Ersetzung der natürlichen Evolution des homo sapiens sapiens durch eine technisch gesteuerte Variante“ (Saage 2009, 6) Man kann sich gerade an den Extremen der converging technologies das Problem einer reziproken Überformung von Natur und Technik klar machen, das zugleich ein Problem der Entfundamentaliierung naturaler und kultureller Normen in sich birgt. Natur wird hier nicht mehr als Gebiet einer idealen physis gedacht, die durch das eigenmächtige Wachstum natürlicher Phänomene bestimmt wäre (siehe Karafyllis 2003), sondern als ein kulturelles Konstrukt, das durch begriffliche, wissenschaftliche und technische Interventionen normalisiert wird. Jedoch löst sich die Trennung von Natur und Technik auch auf Seiten des Technischen auf, insofern die Körper, die dem enhancement ausgesetzt werden, darauf programmiert sind, selbst Natur zu werden. Es geht also nicht um die Substitution von Natur durch Technik, sondern um deren komplizierte ontische Konvergenz. Eben mit dieser Einschränkung, dass nicht eine der beiden Dimensionen in der anderen aufgehen, sondern Natur und Technik sich zu einer Hybridform verschränken 2 3

Zur These, „the architecture of the sciences will be built through an understanding of the architecture of nature“ siehe Roco/ Bainbridge 2003, 3. Eine aufschlussreiche philosophische Gesamteinschätzung der converging technologies gibt Saage 2009.

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sollen, wird die Frage nach dem Normativ virulent, denn es ist ungewiss, von welchem „Prinzip“ her – wenn nicht mehr von der traditionellen binären Spaltung von Natur und Kultur – die Natur technisiert und die Technik naturalisiert werden soll. Fest steht, dass die converging technologies dieses Legitimationsproblem der Konvergenz selbst nicht vor Augen haben, „because it [technological convergence, TE] integrates humanity with nature across the widest range of endeavors, based on systematic knowledge for wise stewardship of the planet“ (Roco/Bainbridge 2003, 9). Gerade in der Radikalität und Fundamentalität ihrer Technikaffirmation provozieren die converging technologies die Frage danach, wie das Phänomen einer natürlichen Künstlichkeit geschichtlich gedacht werden könnte. In dieser Hinsicht könnte man den Begriff der Geschichtlichkeit als einen vierten Aspekt des enhancement bestimmen, der analog zu den Stichworten der Normativität, der Anthropologie und der Technologie zugleich paradigmatischen Charakter für die Debatte der Lebenswissenschaften insgesamt hat. Und wer weiß: Vielleicht könnte man durchaus den Gedanken durchspielen, dass es eine nicht-technisierte Natur ebenso wenig gibt wie eine Evolution der Technik, die hinsichtlich der „natürlichen“ Evolution effektlos bliebe. Hans-Jörg Rheinbergers Anspielung, dass „wir also umgekehrt eine Kulturgeschichte der Natur“ (Rheinberger 200a, 32) bräuchten, d.h. erst einmal jene diskursiv-technischen Praktiken verstehen müssten, die das, was wir „Natur“ nennen, konstituieren, könnte hier als Stichwort fungieren. Nach dieser Lagebetrachtung des enhancement-Diskurses, einschließlich der converging technologies als dessen technizistischer Spielart, möchte ich noch kurz zwei Positionen ansprechen, die in der aktuellen philosophischen Rezeption der life sciences große Prominenz genießen. Im Blick stehen die Muster eines „phänomenologischen Dualismus“ und einer Biopolitik des „nackten Lebens“.

c. Leibphänomenologie und „nacktes Leben“ In ihrem Aufsatz Can I be Ill and Happy? (Carel 2007) diskutiert Havi Carel das Paradox des subjektiven Wohlbefindens von Patienten, die an tödlichen Krankheiten leiden. Im Zustand der Krankheit werde der „biological body“ (ebd., 9) an eine Grenze geführt, an der sich verdeutlicht, dass seine Rolle „different from the lived experience of this body“ (ebd.) sei. Die Unterscheidung zwischen body und lived body ist für Carel unumgänglich, um ein Konzept des „guten Lebens“ entwerfen zu können, denn das Faktum der Krankheit und der an die Krankheit gebundenen Leiderfahrung schließe Formen der Selbstverwirklichung, des individuellen Glücks und der Erfahrung von Freiheit radikal aus (ebd., 99f.). Damit ist klar, dass Carels Lösungsvorschlag der „health within illness“ (ebd., 9) auf die Differenz zwischen Körper und Leib rekurriert, wie sie in der phänomenologischen Tradition Husserls und Heideggers etwa durch Maurice Merleau-Ponty, Michel Henry oder (in Deutschland) durch Hermann Schmitz entfaltet wurde. 

Hier kann man auch die Kategorie des Transhumanismus einordnen, die vor allem in polemischen Beiträgen zum enhancement häufig anzutreffen ist. Abgesehen von den erlösungsreligiösen Phantasien mag das Szenario eines „posthumanen Zustands“ vor allem deshalb Faszination auszuüben, weil dieser Zustand zwar noch mit einer Idee von Geschichtlichkeit operiert, jedoch nicht mit einer menschlichen Natur oder Subjektivität, die als invariant gegenüber der Geschichte erscheinen könnte. Zum Transhumanismus siehe Schummer 2006; Kettner 2006.

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Der empirische Umstand, dass nicht zwangsläufig jede(r) Todkranke oder chronisch Kranke das eigene Leben als unerträglich, sondern als erfüllt, lebenswert, selbstbestimmt, glücklich etc. erfahren kann, zeige, so Carel, die Einseitigkeit biomedizinischer Objektivierung. Eine adäquate Konzeption von Krankheit müsse diese hingegen als eine Weise des In-der-Welt-Seins auszeichnen, genauer als „limit case of lived experience, one in which the usual transparency of the biological body is replaced by its constant negative presence“ (ebd., 0). Die apriorische Ebene der Leiblichkeit, von der her die Krankheit erfahren und zum Ausdruck gebracht wird, ist ihrerseits ungegenständlich; sie ist es, die das relative und paradoxe Glück der „health within illness“ garantiert. Havi Carels Argumentation exemplifiziert einen charakteristischen Trend der zeitgenössischen Philosophie der Biologie bzw. der Lebenswissenschaften. In das Problemverständnis der Erfahrungswissenschaften wird eine Differenz von Körper und Leib eingetragen, die ich in kritischer Absicht als phänomenologischen Dualismus kennzeichnen möchte. Meine Kritik an diesem verbreiteten Ansatz, den ich auf das leibphänomenologische Modell Merleau-Pontys zurückführe, soll sich in diesem Unterkapitel auf einige sehr knappe Ausführungen beschränken. Merleau-Ponty entwirft seine Phänomenologie nicht im direkten Anschluss an Husserl. Eher entwickelt er Heideggers kritische Erneuerung der Phänomenologie als Hermeneutik der „faktischen Lebenserfahrung“ weiter, die zwar noch (wie von Husserl proklamiert) „zu den Sachen selbst“ durchdringt, ohne jedoch nach wie vor ein transzendentales cogito zu unterstellen. An die Stelle der noetisch-noematischen Differenz, die sich auf die bewusstseinsimmanente Korrelation von intentionalen Sinngehalten mit intentionalen Vollzügen bezieht, rückt die innerweltliche Differenz von (lebendigem) Selbst und (Lebens-) Welt. Die Phänomenologie erhält hier eine emphatisch vor-theoretische Wendung. Sie ermöglicht Beschreibungen von Erfahrung so, dass diese Beschreibungen selbst der Vollzug von Erfahrung sind. In dieser Rekursivität liegt die entscheidende Demarkation gegenüber der Transzendentalphilosophie und gegenüber Husserl. Im Zuge dieser Umarbeitung der Phänomenologie von einer Korrelationstheorie des Bewusststeins zu einer Theorie der faktischen Lebenserfahrung verdient die theoretische Konstitution wissenschaftlicher Gegenstände aus denselben Gründen Aufmerksamkeit wie die praktisch-poietische Herstellung von Artefakten: Hier wie dort handelt es sich um Verhaltensweisen in der Welt, in deren Vollzug sich der Sinn des Seins von Dasein eröffnen soll. Kurz: Wissenschaftliche Betätigungen haben den Charakter eines Existenzials, sie sind Weisen der Sinneröffnung innerhalb der konkreten Lebenspraxis menschlichen In-der-Welt-Seins. An der leibphänomenologischen Position Merleau-Pontys lässt sich eine zentrale Linie nachzeichnen: Die empirischen Quantifizierungen des Körpers (corps) werden als abkünftig gegenüber der Ebene bestimmt, von der aus die gelebte Erfahrung (bei Carel: „the lived experience“) des Körpers ermöglicht, koordiniert und gleichsam existenziell aufgeladen wird – dies ist die Ebene des Leibs (corps vécu, corps propre), von Merleau-Ponty auch als „beseelte Evidenz“ (Merleau-Ponty 97, 370) apostrophiert. Am Primat der Leiblichkeit ändert es nichts, dass in der Faktizität der Lebenserfahrung Körper- und Leibphänomene ineinander fließen. Im Gegenteil schärft sich durch die für den Menschen charakteristische 

Entsprechend lautet die Überschrift eines Teilkapitels der Phänomenologie der Wahrnehmung (9): „Sein hat nur durch Sinn seine Orientierung“ (Kapitel 2: „Der Raum“, § 7). Siehe MerleauPonty 97, 29–297.



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Durchdringung von Körper und Leib eine existenzielle Grenze, denn so sehr die (z.B. biologische) Referenz auf den Körper als Ding unter Dingen stets ermöglicht wird durch den Leib als gleichsam leibhaftig gewordene Intentionalität6, so sehr lastet auf jeder Thematisierung des Körpers unweigerlich das Stigma, dass „der Eigenleib sich in der Wissenschaft selbst der Behandlung entzieht, der sie ihn unterwerfen will“ (ebd., 96). Der vielversprechende Initialschritt Merleau-Pontys, den Leibbegriff als einen dritten Term neben Körper und Geist zu etablieren7, mündet dennoch in Dualismus: Er entwirft den Leib als ein Existenzial, das präreflexiv und vorprädikativ dem Subjekt Sinnhorizonte erschließt, während er den Körper als bloßes Datum bestimmt, das wir stets nur am eigenen Leib erfahren. Nicht erst die im Spätwerk beschworene Verschlingung von Leib und „Fleisch“ als eine weder körperliche noch leibliche Matrix der Phänomenalität, sondern bereits die Distinktion zwischen Raum und Räumlichkeit macht die Aporetik von Merleau-Pontys Opposition durchsichtig: Mehr als die triviale These, der euklidische Raum „mit seinen absoluten Raumstellen“ (ebd., 7)8 sei ein Derivat gelebter „primordinaler Räumlichkeit, die in jenem Raum sich nur einhüllt, selbst aber eins ist mit dem Sein des Leibes“ (ebd., 78), springt bei Merleau-Ponty nicht heraus. Hinter den wissenschaftlichen Ontologien kommt eine Suche nach Sinn zum Vorschein, was bedeutet, dass in alle wissenschaftliche Rationalität die These eingelesen wird, sie (die Rationalität) habe „endlich jede Berührung mit der perzeptiven Erfahrung“ (ebd., 96), mit der das „objektive Denken“ (ebd., 9) überhaupt erst ermöglichenden Leibgebundenheit, abgeschnitten. In meiner Kritik des phänomenologischen Dualismus kommt es mir nicht etwa auf die Diagnose an, dass die Berücksichtigung der Körper-Leib-Differenz insgesamt ein Problem darstellt. Um überhaupt erst einmal die Besonderheit lebendiger Körper fixieren zu können, ist diese Unterscheidung nötig. Als explanans verstanden, mündet diese Unterscheidung jedoch in Interpretationen, die sich – insbesondere für einen philosophischen Beitrag zu den Lebenswissenschaften – als zu eng gefasst erweisen. Die Hauptkritik zielt also auf Merleau-Pontys Annahme, aus der „Synthese des Eigenleibes“ (ebd., 78) sei die „Genesis der objektiven Welt“ (ebd., 96) abzuleiten. Weil es diesen ganzen Problemkomplex erst noch im weiteren Verlauf der Untersuchung zu konkretisieren gilt, möchte ich an dieser Stelle keine weiter gehende Gegenargumentation entwickeln. Es sei vorläufig nur darauf angespielt, dass es möglich ist, die Körper-Leib-Differenz ihrerseits als ein explanandum zu verstehen. Die Alternative könnte lauten, ein Prinzip oder ein Geschehen plausibel zu machen, vor dessen Hintergrund sich die dynamische Differenz von Körper 6

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Wie erwähnt verwendet Merleau-Ponty den Intentionalitätsbegriff nicht wie Husserl im Sinne eines Korrelationsapriori (Noesis/Noemata), das die Struktur des Bewusstseins fundiert, sondern (heideggerianisch) als eine offene Bewegung des Abzielens auf etwas (die Sinnmöglichkeiten von „Welt“), d.h. allgemein genommen als eine Transzendenzstruktur. Als Schlüsselzitat siehe ebd., 96: „Wir müssen die Alternative, nichts vom Subjekt, oder aber nichts vom Objekt verstehen zu können, zu durchbrechen versuchen. Wir müssen den Ursprungsort des Gegenstandes im innersten unserer Erfahrung selbst aufsuchen, das Erscheinen des Seins zu beschreiben und das Paradox zu verstehen suchen, wie für uns etwas an sich zu sein vermag.“ Merleau-Ponty unterlässt im Übrigen eine historisch-systematische Differenzierung der philosophischen Begriffsgeschichte des Raumes. Ihm genügt die Feststellung, dass die genannten Paradigmen mit einer Bestimmung räumlicher Daten als partes extra partes (Descartes) operieren und die entscheidende Bestimmung des Raums, „unablösliches Korrelat“ (ebd.) der Leiblichkeit zu sein, verfehlen.

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und Leib erst abhebt. Ohne einer differenzierteren Kritik vorzugreifen, lässt sich festhalten, dass die prominenterweise von Merleau-Ponty herausgestellte Einsicht in „die leibliche Quelle der Subjektivität“ (Schmitz 200, 28) ein noch immer verbreitetes Motiv in zahlreichen Publikationen zur Formation der modernen Lebenswissenschaften ist. Diese Publikationen bleiben in aller Regel dem für unableitbar gehaltenen Bruch zwischen Sein und Sinn oder zwischen Körper und Leib verpflichtet und neigen dem Argument zu „that as embodied persons we experience illness primarily as a disruption of lived body rather than as a dysfunction of biological body“ (Carel 2007, 0)9. Die Beschäftigung mit dem phänomenologischen Dualismus führt in die Nähe eines weiteren renommierten Paradigmas, das Schnittstellen zu den Lebenswissenschaften aufweist, jedoch vorrangig in biopolitischen sowie rezenten rechts- und autonomietheoretischen Debatten en vogue ist. Die Rede ist von Giorgio Agambens paradigmenstiftender These über das „nackte Leben“. Agamben, der diesen Begriff vor allem in seiner an Carl Schmitt, Walter Benjamin, Hannah Arendt und Michel Foucault anknüpfenden Studie Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben (Agamben 2002) ins Spiel gebracht hat, definiert das „nackte Leben“ als ein Leben, das „getötet werden kann, aber nicht geopfert werden darf“ (ebd., 8; Hervorhebung i.O., TE). Diese Definition wird von Agamben keineswegs mit unmissverständlicher Klarheit vorgetragen; sie ist vielmehr eingebunden in eine vielschichtige, oft manieristisch überfrachtete Rekonstruktion der avant la lettre „biopolitischen“ Positionen bei Aristoteles, Arendt, Benjamin, Schmitt und Foucault, um nur die Hauptreferenzen zu nennen. Obwohl sich Agambens Rede vom „nackten“ Leben dezidiert nicht auf die zoé (Leben als Gattung) abbilden lassen soll20, lässt er sie in genau diesen Kontext eines „einfachen natürlichen Lebens“ (ebd., 2) einfließen, wenn er die aristotelische Zerfällung der polis in die „einfache Tatsache des Lebens“ (ebd.) (zen) und das „politisch qualifizierte Leben“ (ebd.) (eu zen) als „eine Einbeziehung des ersten in das zweite, des nackten Lebens in das politisch qualifizierte Leben“ (ebd., 6) interpretiert. Bei dieser Widersprüchlichkeit handelt es sich weder um einen logischen Bruch der Argumentation noch um einen Flüchtigkeitsfehler, sondern um eine willentliche Bedeutungsverdoppelung. Es kommt Agamben gerade auf die moderne „Ununterscheidbarkeit“2 des „nackten Lebens“ im Verhältnis zu diversen Semantiken von „Leben“ an. Die moderne Biopolitik, deren Analyse, wie Agamben ausführt, Foucault inauguriert, aber nicht abgeschlossen hat, zeichne sich durch das Ununterscheidbarwerden verschiedenster Lebenssemantiken aus – eine dramatische Krise der Indifferenz. 9

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Neben und im Gefolge von Merleau-Ponty ist die leibphänomenologische Linie von Gabriel Marcel, Michel Henry oder Hermann Schmitz weitergetragen worden, und diese Autoren sind auch die Schwerpunkte der Sekundärliteratur. Zu diesem Feld siehe exemplarisch auch Toombs 988; Dorfman 200; Lanzerath 2000; Gutmann 200a; Albert/Jain 2000; Thurneysen 2000; Lindemann 996. Agamben 2002, 98: „Nicht das einfache natürliche Leben, sondern das dem Tod ausgesetzte Leben (das nackte oder heilige Leben) ist das ursprüngliche politische Element. (…) Es könnte nicht klarer gesagt werden, dass das erste Fundament der politischen Macht ein absolut tötbares Leben ist, das durch seine Tötbarkeit selbst politisiert wird.“ (Hervorhebung i.O., TE) Ebd., z.B. , 9, 00, 20 (hier: „Ununterschiedenheit“), 90, 9 etc.

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Letztlich scheint die argumentative Pointe Agambens darin zu liegen, unter dem „nackten Leben“ etwas anderes zu verstehen als zoé. Sah Foucault das Signum der Biopolitik in einer „Macht, die sich positiv auf das Leben bezieht, es hervorbringt und schützt“ (Muhle 2008, 27), so setzt Agamben dieser Diagnose eine agonale „Struktur der Ausnahme“ (Agamben 2002, z.B. 7, 93) entgegen, in deren Grenzen die zoé ein schon immer „politisiertes“22, der Tötung durch die souveräne Macht preisgegebenes „Leben“ gewesen sei23. Agamben versucht den „Kreuzpunkt“ (ebd., 6) zu bestimmen, in dem „sich die Techniken der Individualisierung und die Prozeduren der Totalisierung berühren“ (ebd., f.) – d.h.: Er nimmt sich vor, jenen Parallelverlauf der Mächte im Zeitalter der Biopolitik, den Foucault nachgezeichnet hat, auf „ein einheitliches Zentrum“ (ebd.) zurückzuführen. Mit dieser Intention gelangt Agamben zur Kategorie des nackten Lebens, „nackt“ dabei sowohl im Sinne seiner Depravierung, seiner Verfügbarkeit als bloß physisches Leben als auch im Sinne einer exklusiven Abhängigkeit des nackten Lebens von der souveränen Macht. Exklusiv ist diese Abhängigkeit, da das nackte Leben getötet, aber nicht geopfert werden darf, auch nicht durch den Souverän, wodurch es den Status einer Heiligkeit erlangt, die selbst die souveräne, aber profane Macht überbietet und entgrenzt2. Mit dieser Einsicht wendet sich Agambens These vom nackten Leben „als etwas, das nur durch eine Ausschließung eingeschlossen wird“ (ebd., 2), hin zu einem sakral aufgeladenen Leben, das bei aller Asymmetrie Auge in Auge mit der souveränen Macht zu stehen kommt und diese durch seine schiere (nackte) Existenz „entsetzt“ (W. Benjamin). Damit kennzeichnet Agamben die doppelte Konstitution des homo sacer als verfluchten und zugleich heiligen Lebens. Die souveräne Macht und das nackte Leben sind die beiden Enden einer immer schon politischen Ermächtigung des Lebens, die einander in dem Maße paradox ermöglichen, in dem sie sich ausschließen. Daraus resultiere, so Agamben, ein „Notstand [,der], wie das Benjamin vorausahnte, zur Regel geworden“ (ebd., 22) sei, ein agonaler Ausnahmezustand, der nicht historische Zufallserscheinung, sondern Prinzip des „historisch-politischen Schicksal[s] des Abendlandes“ (ebd., 9) sei. Eine gewisse Originalität bezieht Agambens Hauptthese über den homo sacer daraus, dass sie die Struktur der souveränen Macht an ihr selbst umkehrt und eine Zweiseitigkeit des Politischen sichtbar macht, die – wie Agamben treffend sieht – in Foucaults Analytik der Macht fehlt, in Schmitts dezisionistischer Politik der Souveränität und in Benjamins Kritik der Gewalt dagegen nur unterschwellig vorkommt. Zumindest dem Anspruch nach 22

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Ebd., 2: „Bedarf die zoé wirklich der Politisierung, oder ist das Politische etwa bereits als ihr wertvollster Kern in ihr enthalten?“ Ebd., 9: „Was die moderne Politik auszeichnet, ist nicht so sehr die an sich uralte Einschließung der zoé in die polis noch einfach die Tatsache, dass das Leben als solches zu einem vorrangigen Gegenstand der Berechnungen und Voraussicht der staatlichen Macht wird; entscheidend ist vielmehr, dass das nackte Leben, ursprünglich am Rand der Ordnung angesiedelt, im Gleichschritt mit dem Prozeß, durch den Ausnahme überall zur Regel wird, immer mehr mit dem politischen Raum zusammenfällt und auf diesem Weg Ausschluß und Einschluß, Außen und Innen, zoé und bios, Recht und Faktum in eine Zone irreduzibler Ununterscheidbarkeit geraten.“ Oder „entsetzt“, wie Agamben unter Aufnahme der Begrifflichkeit aus Benjamins Kritik der Gewalt schreibt (ebd., 7).

Zeitgenössische Diskurse der Life Sciences und ihre Grenzen

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entwirft Agamben mit dem „nackten“ Leben also eine nicht-dualistische2 Denkfigur für das Problem des Lebens. Es geht Agamben nicht darum, das nackte Leben als ein unmittelbares (nicht-identisches) darzustellen, das sich der Politisierung in etwa so entziehen könnte wie Foucaults antike Sorge um sich (Foucault 989). Welche kritischen Konsequenzen sind nun aus Agambens prominentem Modell zu ziehen? Wo liegen systematische Stärken und Schwächen dieses bestimmten (nackten) Lebensbegriffs, der für sich beansprucht, nicht im Vorfeld oder im Nachspiel, sondern in medias res, inmitten der politischen und szientifischen Verfügungszusammenhänge anzusetzen? Im letzten Textabschnitt des Homo sacer nimmt Agamben selbst ein mögliches Forschungsprogramm, das an seine Diagnose anschließen könnte, in Aussicht: „So wenig wie der biopolitische Körper des Abendlandes einfach dem natürlichen Leben des oikos zurückerstattet werden kann, so wenig kann er zugunsten eines anderen Körpers überwunden werden, eines technischen oder vollständig politischen oder gloriosen Körpers, in dem eine andere Ökonomie der Lüste und der Lebensfunktionen die Verflechtung von zoé und bios ein für allemal löst. Vielmehr muß man aus dem biopolitischen Körper, aus dem nackten Leben selbst den Ort machen, an dem sich eine gänzlich in nacktes Leben umgesetzte Lebensform herausbildet und ansiedelt, ein bios, der nur seine zoé ist. (…) Wenn wir dieses Sein, das nur seine nackte Existenz ist, ‚Lebensform‘ [forma-di-vita] nennen, Leben, das seine Form ist und untrennbar von ihr bleibt, dann sehen wir, wie sich ein Forschungsfeld eröffnet, das jenseits der Forschungen liegt, die der Schnittpunkt von Politik und Philosophie, medizinisch-biologischen Wissenschaften und Rechtswissenschaften definiert. Doch zunächst muß man verfolgen, wie innerhalb der Grenzen dieser Disziplinen etwas wie das nackte Leben hat gedacht werden können und auf welche Weise sie im Verlauf ihrer historischen Entwicklung schließlich an eine Grenze gestoßen sind, über die sie nicht hinausgehen können, ohne eine beispiellose biopolitische Katastrophe zu riskieren.“ (Agamben 2002, 97f.)

Diese Schlussüberlegungen werfen noch einmal klares Licht auf den konzeptuellen Grundanspruch Agambens, zugleich jedoch auch auf die Leerstelle seiner Argumentation. Das „nackte Leben“ soll sich, dem Zitat nach, nicht auf einen prä-politischen Ursprung oder eine post-natürliche Zukunft hin bestimmen lassen. Doch dasselbe Zitat verdeutlicht den eigentümlichen Selbstwiderspruch, der Agambens Einsicht in die doppelte Verwicklung des Lebens in Politik und Natur unterminiert. Denn während Agamben auf der einen Seite versucht, eine Politik der Souveränität zu entfalten, die in der paradoxen Symmetrie von souveräner Macht und nicht-opferfähigem Leben das ihr eigene Strukturproblem hat, steht auf der anderen Seite eine Genealogie der politischen Moderne, die von den Variationen, Verschiebungen und Umwertungen des Ausnahmezustands handelt26. Was im 2

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„Nicht-dualistisch“ erstens deshalb, weil Agamben das nackte Leben emphatisch – wenn auch nicht immer überzeugend – von der zoé abgrenzt, die gegen die Vermittlungen, Verdinglichungen und Verwerfungen innerhalb des bios in Stellung gebracht werden könnte (Agambens vermeintliche „Korrektur“ Foucaults beruht gerade darauf, anstatt vom Politischwerden des „natürlichen“ Lebens in der Biopolitik des 9. Jahrhunderts von der inhärenten Politisierung allen Lebens zu sprechen). Und „nicht-dualistisch“ zweitens, weil die Rede vom nackten Leben ohne die Binnendifferenz von Körper und Leib, d.h. ohne den phänomenologischen Dualismus verfährt – die Passagen über Kantorowiczs Zwei Körper des Königs mögen polemisch andeuten, dass Agamben die souveräne Gewalt eher als eine Körper-Körper-Differenz, nicht als Körper-Leib-Differenz denkt. Hier erweist sich Agambens Eklektizismus als fatal: Das Zusammendenken von Souveränitäts-, Totalitarismus- und Gewalttheorie (Schmitt, Arendt, Benjamin) einerseits und historischer Diskursi-

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ersten Schritt als eine systematische Bestimmung der souveränen Macht über das Leben eingeführt wird – „das Politische“ (ebd., 2) als „wertvollster Kern“ (ebd.) der zoé – wird im zweiten Schritt methodisch historisiert und in einen Prozess des Indifferentwerdens von Differenzen eingespeist, an dessen vorläufigem Schluss das Lager als montröser „nomos der Moderne“ erscheint. Genau dieses Oszillieren zwischen einer systematischen Theorie der Souveränität und der historischen Analyse von Diskursen macht Agambens Vorschlag zur Bestimmung der „medizinisch-biologischen Wissenschaften“ (ebd., 98) abwegig. Man müsse einerseits sehen, „wie innerhalb der Grenzen dieser Disziplinen etwas wie das nackte Leben hat gedacht werden können“ (ebd.), andererseits jedoch auch „aus dem nackten Leben selbst den Ort machen, an dem sich eine gänzlich in nacktes Leben umgesetzte Lebensform herausbildet und ansiedelt, ein bios, der nur seine zoé ist“ (ebd., 98). Vor allem diese letzte Formulierung, von der man sich Klarheit wünschen würde, bleibt undurchsichtig27. Agamben hält zwar (verbal) eine geschichtliche Rekonstruktion der Biowissenschaften methodisch für unverzichtbar (ebenso wie eine Diskursgeschichte von Philosophie, Politik und Rechtswissenschaften), doch hätte eine solche Geschichtsschreibung immer nur die Funktion, das Ungedachte dieser Diskurse ex negativo zum Vorschein zu bringen – denn die Untrennbarkeit von zoé und bios sei einer rein historischen Bestimmung schon immer entzogen. Bezeichnenderweise wendet sich Agamben nur an einer konkreten Stelle dem Problemfeld der Biowissenschaften und ihrer juridisch-politischen Grenzen zu. Er zitiert Paul Rabinows Bericht über den an Leukämie leidenden Biologen Edward O. Wilson, der nach der Diagnose der Krankheit damit begonnen habe, „aus seinem Leben ein Forschungs- und Experimentierlabor ohne Grenzen zu machen“ (ebd., 9). Wilsons Beispiel sei ein weiterer Beleg für das Kollabieren stabilisierender Differenzen (zoé/bios, Wissen/ Leben, öffentlich/privat, Staat/Individuum). Es handle sich, so Agamben, um ein „experimental life“ (ebd.)28, das in spezifischer Weise bios und zoé ununterscheidbar mache, also um ein Experimentieren, das aus der Krise der Indifferenz hervorgehe und sie fortführe. Dieser Exkurs demonstriert Agambens unangemessenen Zugriff auf die Lebenswissenschaften. Er reiht sie ein in die historische Verlaufsform eines „Gesetz[es], das den Anspruch erhebt, ganz in Leben aufzugehen“ (ebd., 97). In gewisser Weise steht Agambens eigene Formulierung eines bios, der nicht als seine zoé sei, quer zu seiner Interpretation des Wilson-Beispiels, in dem es um eine zoé gehe, welche nun umgekehrt in den bios hinein- und mit ihm verwachse. Agambens Diagnose der Lebenswissenschaften ist von einer Einseitigkeit, die frappiert, wenn man sie an dem in der Einleitung des Homo sacer erhobenen Anspruch misst, das „nackte Leben“ als intrinsisch politisch denken zu können29. Aber selbst wenn unklar bleibt, was unter „eine[r] gänzlich in nacktes Leben umgesetzte[n] Lebensform“ zu verstehen ist, so bleibt doch hervorzuheben, dass die

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vierung der Macht (Foucault) andererseits geht keineswegs auf, sondern induziert einen konzeptionellen Bruch. Denn was wäre unter einem „bios, der nur seine zoé ist“, logisch zu verstehen? Was könnte Agamben mit der paradoxen Figur meinen, es müsse eine Art und Weise der Lebensführung herausgebildet werden, die „nur“ die natürliche Tatsache des Lebens ist? Ebd., 9. Agamben übernimmt diesen Ausdruck von Rabinow. Um so, gegen Foucault, zu einer nicht-katastrophischen und vormodernen Bestimmung der „Politisierung des Lebens“ zu gelangen.

These und Anlage der Untersuchung

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Frage nach einer strukturellen, nicht erst durch die historischen Diskurse aufgebrachten Verschränkung von Leben und politisch-technischer Macht ein philosophisch aufschlussreicher Anfang sein kann. Das folgende Unterkapitel bildet die Hauptthese dieser Untersuchung heraus: Die Programme und die Aporien der Programme, die bislang rekapituliert wurden, haben das Feld eröffnet, auf dem diese These anzusetzen vermag.

2. These und Anlage der Untersuchung a. Formung der These: Lebendiges Wissen des Lebens in Helmuth Plessners Philosophischer Anthropologie und der Historischen Epistemologie Georges Canguilhems Die einleitenden Kapitel haben im Scherenschnitt eine Reihe von Paradigmen, Methoden und normativen Annahmen umrissen, die im rezenten Diskurs der life sciences bzw. in der philosophischen Auseinandersetzung mit diesem Wissenschaftsensemble Konjunktur genießen. Auf diesem Weg sollten einige fundamentale Aporien illustriert werden. Ein erster Blick auf die Formation der Strukturwissenschaften zeigte, dass hier der Versuch unternommen wird, die Dichotomie von Natur- und Geisteswissenschaften durch die Auszeichnung einer „Einheit der Wirklichkeit“ (B.-O. Küppers) zu unterlaufen. Bei näherer Analyse hatte sich jedoch verdeutlicht, dass die von den Strukturwissenschaften exponierten Randbedingungen, die einen „nomologischen Isomorphismus“ zwischen beschriebener Realität und wissenschaftlicher Beschreibung signieren sollen, in einem Zirkel stehen. Sie werden im gleichen Zug als Derivate und als Aprioris jener Positivitäten veranschlagt, deren Struktur sie repräsentieren sollen. Im folgenden Schritt wurden einige Grundzüge des enhancement-Paradigmas kritisch demonstriert. Ausgehend von der Doppelbedeutung des enhancement als Heilung und Steigerung galt eine erste Beobachtung dem Problem der Normativität. Es wurde gezeigt, dass im enhancement, verstanden als Heilung, die Normen eines Organismus als physiologisch messbare Quantitäten definiert sind. Das nähere Eingehen auf den Kontext der hirnchirurgischen Interventionen mündete in das semantische Feld von Identität, Personalität und Selbstbewusstsein, das von dem betreffenden Diskurs bemüht wird. Doch die katholisch-geistmetaphysische Semantik der Personalität wirkt ebenso anachronistisch wie hilflos, wenn man sie zur Lösung der brisanten Frage beansprucht, von woher sich die Normen einer „Intervention“ begründen können. Ein Seitenblick auf das Projekt der converging technologies flankierte diese Überlegungen zum enhancement durch zwei Punkte: Es ging zum einen um Momente der Konvergenz zwischen lebendiger Natur und technischer Lebensergänzung, zum anderen um die kybernetischen Phantasien unter der Parole eines „Transhumanismus“. Geradezu mit Händen sind in diesen größtenteils USamerikanischen Debatten ein beängstigender Szientismus und eine ungebremste Technokratie zu greifen. Die Kritik eines Theorems, das ich vorläufig als phänomenologischen Körper-LeibDualismus bezeichnet habe, sollte die Aufmerksamkeit ferner auf einen gängigen Modus der philosophischen Reflexion auf die life sciences lenken. Durch die Transformation

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der Intentionalitätsstruktur in Leiblichkeit als Ermöglichung von Erfahrungen mit dem und Verhalten zum eigenen Körper wird, exemplarisch bei Merleau-Ponty, die Sphäre der gelebten Erfahrung von den praktischen Mediatisierungen des Körpers separiert. Die phänomenologische Körper-Leib-Differenz verleiht, soweit sie ihrerseits für nicht weiter begründbar gehalten wird, dem Leib den Status eines Existenzials: Er gerinnt zu einer Instanz des Sinns und des Sinnerlebens. Schließlich trat mit Giorgio Agambens These vom „nackten Leben“ das Problem in den Blick, eine Reziprozität von Leben und Macht zu denken, die nicht historisch diskursivierbar ist, sondern dem Begriff des Lebens selbst inhäriert. Der systematische Reiz dieser Perspektive läge darin, die Einschreibung des bios in den zoé ontologisch, nämlich außerhalb historischer Diskursformationen der Moderne (Foucault) zu begründen – und das hieße: Macht nicht externalistisch als eine dem biologischen Leben äußerliche Verdinglichung zu beschreiben. Stattdessen wäre eine intrinsische Relation von Leben und Macht auszuweisen. Agambens eigenes Paradigma lässt jedoch die wissenschaftliche und geschichtliche Präsenz von Leben in der Moderne unterexpliziert: Sie wird durch sein Drama der exzeptionellen Souveränität überschattet. Ausgehend von diesem Rundumschlag, der ganz ungleichartige, aber doch symptomatische Linien der life sciences und ihrem Echo innerhalb der Philosophie sondierte, lässt sich ein doppeltes Problem aufrollen. In gewissem Maße „arbeitet“ dieses Problem in allen bislang hier inspizierten Positionen, und es klang auch in dem Zitat schon an, das ganz an den Anfang dieser Untersuchung platziert wurde. Demnach könnte man sich erstens fragen, inwieweit die Lebenswissenschaften im Hinblick auf jene Phänomene, die sie als ihre genuinen Forschungsobjekte identifizieren, überhaupt eine Differenz zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem auszeichnen und beherzigen. Ohne eine minimale epistemische Differenz von Natur und Leben scheint auch kein Unterschied der Lebenswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften begründbar zu sein. Genau diese Forderung nach einer Grenze wird jedoch – dies sollte meine Kurzrekonstruktion der Forschung hervorkehren – von der Praxis der life sciences nicht erfüllt. Diese sind vielmehr schon aus methodischen Gründen nicht dafür präpariert, eine qualitative Originalität ihrer Objekte in Betracht zu ziehen. Als Wissenschaften muss auch den Lebenswissenschaften das „Prinzip der geschlossenen Frage“ (dazu Lindemann 2008a) zu Grunde liegen: Sie setzen ohnehin nur das als ihren „Gegenstand“ an, was unter methodisch kontrollierbaren Bedingungen Antworten auf vorab definierte Forschungsfragen generieren kann. Ganz gleich also, was ein Phänomen außerhalb dieses Korsetts, das seine Befragung reguliert, auch sein mag – res extensa oder res vivens30: Innerhalb des Dispositivs „Wissenschaft“ wird es so oder so als eine „Erscheinung festgelegt, deren Auftreten als Antwort auf [eine] Frage verstanden werden muss“ (ebd., 2). Bedenklich ist diese Situation deshalb, weil die Forschung selbst offenbar außer Stande ist, „Objekte“, die sich außerhalb der künstlich eingerichteten Experimentalordnung womöglich 30

Zu dieser Distinktion, die nominell der von mir angebrachten Unterscheidung von Natur und Leben ähnelt, siehe Cheung 2008. Cheung führt die „res vivens“ allerdings als Moment einer neuzeitlichen episteme (der sogenannten „Agentenmodellen“ des Lebendigen) ein. In dem Kontext, den ich verfolge, handelt es sich dagegen um eine auch außerhalb der neuzeitlichen Taxonomie (res extensa/res cogitans/res vivens) wiederfindbare epistemische Unterscheidung.

These und Anlage der Untersuchung

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anders verhalten würden, als sie es innerhalb dieses Dispositivs tun, anders zu behandeln als Objekte, denen dieser Spielraum konstitutionell fehlt. Die epistemische Differenz zwischen Natur und Leben korreliert mit der zweiten Seite des in der Einleitung angetasteten Problems, nämlich dem Verhältnis zwischen Leben und Wissen. In der soeben beschriebenen Logik lag die Aporie darin, dass dem Lebendigen im Verhältnis zum Unbelebten keine Spezifität attestiert werden kann, wenn man es als Objekt wissenschaftlichen Wissens fixiert. Vor allem die Betrachtungen zu den Ensembles der Strukturwissenschaften und der converging technologies deuteten diese Indifferenzierung an. Denkt man dagegen die leibphänomenologische Haltung konsequent zu Ende, kehrt sich der Standpunkt in gewisser Weise um. Man könnte dann sagen: Die Struktur des Lebendigen widersetzt sich insgesamt einer wissenschaftlichen Objektivierung. So aufgefasst, lässt sich zur Relation zwischen der spezifischen Rationalitätsform der Wissenschaften (die dem Prinzip der geschlossenen Fragen folgt) und jenen Entitäten, denen man eine andere Verfasstheit als den unbelebten Dingen zuspricht, bloß ex negativo etwas anmerken: Dass sich nämlich die Wissenschaften vom Leben einer Vermischung in Bezug auf den eigentlichen Charakter der Phänomene, mit denen sie sich konfrontieren, schuldig machen. Das Bild der wissenschaftlichen Vernunft, das sich unter diesem Gesichtspunkt abzeichnen könnte, würde auf den instrumentellen Charakter der Wissenschaften, auf permanente kategoriale Konfusionen und auf die Gewalt ihres methodischen Objektivitätsideals verweisen. Was einer solchen Darstellung fehlt, ist eine positive Lektüre der wissenschaftlichen Rationalität: Denn könnte man den Eintritt spezifisch lebendiger Erscheinungen in den Gesichtskreis der modernen Wissenschaften nicht auch anders beschreiben, d.h. nicht als eine Geschichte der Usurpation und der Selbstermächtigung der instrumentellen Vernunft? Könnte nicht im lebendigen Gegenstand selbst ein Moment liegen, das begründen kann, worin überhaupt die Eigentümlichkeit wissenschaftlicher Praktiken liegt? In zwei Richtungen hinein scheinen sich also, wenn man die gegenwärtige Landschaft der life sciences und der philosophischen Reflexion auf sie überblickt, Aporien abzuzeichnen. Entweder man argumentiert exklusiv mit den Anforderungen und den methodischen Selbstbeschränkungen der Wissenschaft: Dann ist es in der Tat unmöglich, eine Differenz von Lebendigem und Unbelebtem auszuweisen. Oder aber man verteidigt eine radikale Spezifität des Lebendigen: Dann ist die Gefahr groß, ein rein negatives Wissenschaftsverständnis zu erhalten, das sich zuletzt damit begnügt, Körperlichkeit und Leiblichkeit, Sinn und Sein, Fakten und Werte gegeneinander auszuspielen, anstatt sich nach der möglichen Dialektik dieser Oppositionen zu fragen. Aus dem damit konstatierten Dilemma erwächst in der Tat ein fundamental philosophischer Anspruch: Wäre es nicht möglich, eine Perspektive zu entfalten, die eine irreduzible Grenze zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem begründet, ohne das Lebendige im selben Zug als Phänomen zu beschreiben, das sich seiner begrifflichen Erfassung radikal entzieht? Wenn man das Lebendige in seiner Singularität adressieren kann: Lässt sich dann nicht auch eine spezifische Form oder Haltung von „Wissen“ auszeichnen, die das Lebendige in seiner Differenz anspricht? Und wenn es möglich ist, eine Erkenntnis auszubuchstabieren, die lebendige Erscheinungen als lebendig perspektivieren kann: Müsste man dann, in einem weiteren Schritt, nicht auch, wie Michel Foucault einmal formuliert hat, „die Frage nach den Beziehungen der Wahrheit und des Lebens“ (Foucault 988, 7) insgesamt neu aufwerfen? In einer Art dialektischem Blickwechsel könnte man

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fragen, wie das Subjekt jener Erkenntnis, die eine lebendige Konstitution der Dinge darzulegen vermag, seinerseits verfasst ist. Eben an dieser Stelle kommt die wesentliche Formel zum Zug, die ich meiner weiteren Argumentation zu Grunde legen möchte: Was philosophisch geleistet werden muss, um den Dilemmata und Blockaden der aktuellen lebenswissenschaftlichen Diskussion begegnen zu können, ist die Erarbeitung eines lebendigen Wissens des Lebens. Um es noch einmal klar zu machen: Erstens charakterisiert sich eine solche Denkstruktur dadurch, eine epistemische Differenz zwischen Leben und Materie (oder, wenn man so will, zwischen lebendiger und unbelebter Natur) zu präzisieren. Zweitens ist es dieser Struktur eigentümlich, der üblichen (z.B. existenzialistisch oder vitalistisch inspirierten) Entkopplung des Lebensbegriffs von der Dimension des Wissens einen positiven Vorschlag zu den Bedingungen entgegenzuhalten, die ein „Wissen“ erfüllen muss, um Lebendiges als Lebendiges in den Blick nehmen zu können – wobei, wie sich noch bestätigen wird, dieses spezifische „Wissen“ sich nicht mit dem von den operativen Wissenschaften praktizierten deckt. Drittens schließlich zeichnet sich die Denkfigur des lebendigen Wissens des Lebens durch eine dialektische Pointe aus: Sie beschreibt, inwiefern die Subjekte, die von der und um die lebendige Struktur der Dinge wissen, ihrerseits mit dieser Struktur rückvermittelt sind und an ihr partizipieren. In dieser Wendung wird sichtbar, dass die Formel, die ich hier lancieren möchte, einen doppelten Genitiv umfasst: Ein Wissen, dem sich die Lebendigkeit von Objekten erschließt (genitivus obiectivus), hat es immer schon an sich, ein von lebendigen Subjekten ausgeübtes Wissen (genitivus subiectivus) zu sein. Die letzten Ausführungen haben eine Bewegung konturiert, die zu einer philosophischen Kritik an einigen für den aktuellen Diskurs der life sciences symptomatischen begrifflichen Unschärfen und Widersprüchen befähigt. Sie kann diese Kritik eröffnen, weil sie eine notwendige und relevante Komplizierung in das Verhältnis lebendiger Phänomene zum Problem der Erkenntnis einführt. Ich möchte die fürs Erste noch abstrakte Perspektive, die sich im Ausblick auf das begriffliche Potenzial eines lebendigen Wissens des Lebens ankündigt, nunmehr durch die systematische These dieser Arbeit konkretisieren. Sie lautet, dass die Philosophische Anthropologie von Helmuth Plessner (892–98) und die Historische Epistemologie der Biowissenschaften von Georges Canguilhem (90–99) auf zueinander versetzten Wegen und in voneinander gänzlich unabhängigen Kontexten ein solches lebendiges Wissen des Lebens zur Entfaltung gebracht haben. Diese beiden Philosophien bilden zwei nicht aufeinander reduzierbare Systemformen für die dialektische Konstellation, die soeben unter dem Titel des lebendigen Wissens des Lebens exponiert wurde. An diese systematische Postulierung knüpft sich ein historisches Interesse, also das Anliegen, diese beiden Konzeptionen erstmals in einem umfassenden Vergleich aufeinander zu beziehen. Es ist diese Leistung, die mein eigenes Projekt zu erbringen versucht: Die Denkansätze Plessners und Canguilhems, die historisch nebeneinander hergelaufen sind, ohne sich je zu begegnen, sollen so miteinander konfrontiert werden, dass sie sich gegenseitig ergänzen, erhellen und aus den Angeln heben können. Die Struktur des lebendigen Wissens des Lebens dient als das tertium comparationis dieses Vergleichs: Sie hat die Funktion einer Beschreibung, die sowohl den Kern der Philosophischen Anthropologie Plessners als auch den Nukleus der Historischen Epistemologie Canguilhems markiert. Gleichwohl soll meine hermeneutische Strategie auf

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den Nachweis hinauslaufen, dass diese zwei Philosophien – gerade indem man zu einer Beschreibung greift, die für beide zählt – sich disparat zueinander verhalten und in ein agonales Verhältnis treten. Beide Konzeptionen enthalten und differenzieren jene drei Schritte, die soeben als die Bausteine der Figur eines lebendigen Wissens des Lebens vorgestellt wurden: Sie etablieren erstens eine nicht bloß relative, sondern vielmehr absolute Differenz zwischen lebendigen und nicht-lebendigen Entitäten. Zweitens arbeiten sie einen Typ von Erkenntnis oder Wissen aus, der in der Tat die Lebendigkeit von Lebendigem in den Blick zu nehmen vermag, also nicht die methodische Reduktion von Leben auf Materie reproduziert, die den Erfahrungswissenschaften immanent ist. Und sie kulminieren schließlich beide in der These, dass ein Subjekt, dem die Lebendigkeit der Phänomene verständlich ist, seinerseits als lebendiges Subjekt zu fassen ist: Es geht ihnen um eine Erkenntnis von Leben durch Leben, um ein lebendiges Wissen des Lebens. Doch der springende Punkt, der uns im Laufe der Untersuchung wieder und wieder einholen wird, ist der folgende: Plessner und Canguilhem sprecnen in philosophisch verschiedenen Idiomen, wenn sie ihre Vorstellungen des Lebens, des Wissens vom Leben und des um sich selber wissenden Lebewesens artikulieren. Sie gelangen zu Resultaten, die Punkt für Punkt gegenläufig zueinander sind. Mit Plessner muss man darauf bestehen, dass die besondere Dialektik des lebendigen Wissens des Lebens einzig und allein mit den Mitteln der Philosophischen Anthropologie eingelöst werden kann. Strenger genommen: Plessner würde seine Fassung von Philosophischer Anthropologie, die durch einen spezifischen Dreh sowohl von Max Schelers (87–928) als auch Arnold Gehlens (90–976) Philosophischen Anthropologien abweicht, für die angemessene Artikulationsform der Relation eines lebendigen Wissens des Lebens halten. Canguilhem hingegen könnte den Standpunkt vertreten, dass nur eine Historische Epistemologie, d.h. eine „épistémologie française“ (Braunstein 2002, 920 und passim), in Frage kommt, um die drei umrissenen Schritte zu realisieren. Aber auch hier ist eine Präzisierung unumgänglich: Denn Canguilhem vertritt eine Spielart von Historischer Epistemologie, die beispielsweise gegenüber den von Gaston Bachelard (88–962) und Michel Foucault (926–98) konzipierten Varianten eine distinkte Stellung einnimmt. Das Bild, auf das ich zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen Plessner und Canguilhem referieren möchte, ist das einer gewissermaßen blinden, nicht intendierten Symmetrie. Um dieses Argument zu stützen, ist es wichtig, von Anfang an die Scharnierstellen in der Konstruktion des lebendigen Wissens des Lebens zu nennen. Diese Scharniere finden sich sowohl in Plessners Philosophischer Anthropologie als auch in Canguilhems Historischer Epistemologie: Nur zeichnet sich inhaltlich Grundverschiedenes hinter ihnen ab. Da wäre zunächst das spezifische Niveau, auf dem hier wie dort von einem Wissen bzw. einer Erkenntnis des Lebens – einer connaissance de la vie, wie man in Anspielung auf eine wesentliche Publikation Canguilhems3 sagen könnte – die Rede ist32. Wie 3

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Ich zitiere Canguilhems 92 erschienene Sammlung La connaissance de la vie hier nach der deutschen Übersetzung, die von Till Bardoux, Maria Muhle und Francesca Raimondi besorgt wurde. Obwohl diese Übersetzung einige Flüchtigkeitsfehler aufweist, greife ich hier auf sie zurück, um den Fluss der Lektüre zu erleichtern. An Stellen, die mir in der Übersetzung missverständlich oder verzerrend erscheinen, werde ich alternative Lösungen vorschlagen. Meine Dissertation (deren publizierte Fassung Sie hier gerade lesen) war bereits abgeschlossen, eingereicht und begutachtet, da erschien Ende 20 noch Volker Schürmanns Buch Die Unergründlich-

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bereits angemerkt, fällt das „Wissen“, das hier jeweils auf den Plan gerufen wird, nicht mit dem zusammen, was den Erfahrungswissenschaften als das von ihnen produzierte Wissen vom Leben erscheint. Vielmehr haben sowohl Canguilhem als auch Plessner eine fundamentalere Konfrontationsweise mit lebendigen Phänomenen vor Augen, die in die empirischen Objektivierungen von Lebendigem eingeht, aber durch die Empirie selbst nicht aufgedeckt werden kann. keit des Lebens. Lebens-Politik zwischen Biomacht und Kulturkritik (Schürmann 20). Schürmann expliziert hier eine fundamentale Originalität von Plessners Umgang mit dem Begriff des Lebens, auf die auch ich massiv hinweisen möchte, weshalb ein Exkurs zu Schürmanns Buch unvermeidlich ist: Plessner betrachtet „Leben“ nämlich, so Schürmanns These, sehr wohl – in Opposition zu jener wirkmächtigen Tradition, die historisch unter „Lebensphilosophie“ firmiert – als etwas, das legitimerweise durch begriffliches Wissen erfasst werden kann. Teilt Plessner (und mit ihm die spezifische Tradition Dilthey’scher Hermeneutik, die er fortsetzt) die etwa von Bergson stark gemachte Kritik an der mechanistischen Berechenbarkeit des Lebens, so distanziert er sich zudem und im gleichen Zug noch von „jenem Grundmodell, das die Unergründlichkeit des Lebens für begriffliches Erfassen unerreichbar sei“ (Schürmann 20, 27). Indem er das Verstehen der Erscheinungen (z.B.) darauf hin, ob es sich bei ihnen um lebendige respektive nicht-lebendige Phänomene handelt, „nicht vor oder hinter die Sphäre des Feststellbaren verlagert, sondern als das Feststellbare begleitend (mitgegeben) verortet“ (ebd., 96), entwerfe Plessner ein „hermeneutisches Wissen“ (ebd.), das dem erfahrungswissenschaftlich „feststellenden“ (ebd.) Wissen impliziert sei, aber kategorial von ihm differiere. Dieser von Schürmann im Hinblick auf Plessner ausgezeichnete Wissensbegriff konvergiert weitgehend mit dem, was ich als „Wissen vom Leben“ elaborieren möchte. Was Schürmann jedoch historisch nicht sieht – und was auch Plessner zeitlebens verschlossen blieb – ist das Pendant zu diesem hermeneutisch explizierten Wissen, das sich im Rückgang auf Georges Canguilhem als relevant für die französische Theoriesituation rekonstruieren lässt: Hier handelt es sich gerade nicht um eine hermeneutische Relation, sondern um ein Wissen, das historisch-epistemologisch aus den lebenswissenschaftlichen Diskursen selbst (und gegen sie) destilliert wird. Meine Strategie, Plessner und Canguilhem gegeneinander zu lesen – also so, dass sie sich wechselseitig aus ihren historischen Einbettungen herausreißen – muss Schürmanns kommoden Dualismus außer Kurs setzen: Die von Schürmann aufgemachte Gegenstellung zwischen den selbstreflexiven Dialektikern des wahren Unendlichen (Dilthey-Misch-König-Plessner) und den intuitionistischen Proponenten einer bloß schlechten Unendlichkeit (Bergson-Nietzsche-Simmel etc.: Siehe ebd., 2 bzw. 38ff.) scheint mir unpassend. Die strategisch raffinierte Hegelianisierung der Hermeneutik rückt diese freilich in ein philosophisch ungleich günstigeres Licht gegenüber den Irrationalisten, die sich daneben entsprechend alt, nämlich wie vulgarisierte Fichteaner ausnehmen. Abgesehen davon, dass mir Plessners Dialektik vermittelter Unmittelbarkeit mit ihrer relativen Aufwertung der Spontaneität äquivoker zu sein scheint, was ihren möglichen Zuschlag zu Hegel oder Fichte angeht (dazu Collmer 2002, 370), fehlt bei Schürmann die historische Sensibilität für jenen vitalen Rationalismus, der im französischen Kontext von Canguilhem lanciert und durch Foucault weitergedacht wurde (siehe Muhle 2008). Während Schürmann mit der Hermeneutik Dilthey’scher Provenienz lediglich die eine Seite eines Bilds entdeckt, in dem sich das Verhältnis zwischen Wissen und Leben spezifisch neu darstellt, ist es mir darum zu tun, auch die andere, zur ersten äquivalente Hälfte des Bilds auszuzeichnen – nämlich jene Fluchtlinie der französischen Epistemologie, auf der Bachelard, Canguilhem und Foucault agiert haben. Gerade so etwas zu provozieren wie ein (mit Plessner gesprochen) ex-zentrisches Zurücktreten hinter die eingetaktete eigene Hermeneutik ist das Vorhaben, das ich im Hinblick auf die communities der Philosophischen Anthropologie und der Historischen Epitemologie verfolge. In der Nabelschau gewonnene Lobgesänge auf das eigene Paradigma gibt es hier wie dort inzwischen zu Genüge, und vielleicht kann man es sogar als erstes Anzeichen ihrer bevorstehenden Öffnung/ Selbstüberschreitung ins Plurale lesen, wenn der Philosophischen Anthropologie von Schürmann nun die Hegelsche Weihe durchgängig-totaler Selbstreflexivität und Autokritik zuerkannt wird.

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Es ist ein Kernmerkmal beider Konzeptionen – Historische Epistemologie und Philosophische Anthropologie –, in Bezug auf die wissenschaftliche Repräsentation des Lebendigen indirekt zu verfahren: In gewisser Weise halten sich diese Paradigmen hinter den Lebenswissenschaften, gleichsam in deren Rücken auf. Dort stehen sie, um den Praktiken ihrerseits über die Schulter blicken zu können: Nur so vermögen sie ausdrücklich zu machen, was die Wissenschaften präsupponieren, wenn sie ihren Untersuchungsobjekten Lebendigkeit zu-oder aberkennen. Was Plessners Konzeption angeht, so hängt die Möglichkeit dieses zweiten und indirekten Wissens vom Leben – im Unterschied zum wissenschaftlichen Wissen – aufs Engste mit jener Struktur der Personalität zusammen, die seiner Philosophischen Anthropologie insgesamt ihre unverkennbare Wendung verleiht: Nur insofern der Wissenschaftler eine lebendige Person ist, die an einer Mitwelt und nicht nur an einer biologischen Umwelt partizipiert, sind ihm die Aufteilungen zwischen lebendigen und nicht-lebendigen Entitäten allererst durchsichtig33. Aber auch für Canguilhem kommt alles darauf an, daran zu erinnern, dass die Objekte des Wissenschaftlers nicht die des Wissenschaftshistorikers (oder Epistemologen) sind3: Gerade weil der Epistemologe die Praktiken thematisiert, durch die der Wissenschaftler allererst seine Gegenstände erzeugt, deckt sich das epistemologische Wissen nicht mit dem operativen Wissen der Forschung. Hans-Jörg Rheinberger hat in diesem Kontext von der „dritten Ebene der Objektformation“ (Rheinberger 200c, 229) gesprochen, aus der das Unterfangen einer Historischen Epistemologie seine Pointe schöpft3. Kurzum: Es ist im hier interessierenden Kontext entscheidend, zu verstehen, dass die Wissensbegriffe, die ich auf Seiten von Canguilhems Historischer Epistemologie und Plessners Philosophischer Anthropologie herauspräparieren möchte, nicht auf die „empirisch restringierte Anschauung der empirischen Wissenschaft“ (Mitscherlich 2007, 26)36 zu reduzieren sind. Dennoch könnte man die Behauptung aufstellen, dass sich beide Au33

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Diese „quasi-transzendentale“ Ausrichtung von Plessners Denkweise hat Hans-Peter Krüger an verschiedenen Stellen in Erinnerung gerufen. Siehe Krüger 200, z.B. 30–3, 88–89, –, 336– 337; siehe Krüger 2008b, 7. Dazu Canguilhem 979b. In seinem Text La pensée et le vivant spricht Canguilhem programmatisch aus, dass eine Epistemologie der Biologie über einen Erkenntnisbegriff verfügen muss, der komplexer ist als der von der Biologie verwendete. Die Erfahrungswissenschaften haben keine andere Wahl, als analytisch zu verfahren. Sie kommen nicht umhin, eine Reduktion der Komplexität ihrer Objekte (des Lebendigen) vorzunehmen. Darum ist auf einer Metaebene (der Epistemologie) der Sinn des Erkennens („le sens du connaître“) zu problematisieren, der – dies wäre ein Zirkel – nicht in der Erkenntnis selbst gründen kann. Erkenntnis um der Erkenntnis willen sei wie das Lachen um des Lachens willen tautologisch. Siehe Canguilhem 2009, vor allem . Siehe vorgreifend auch Mitscherlich 2007, 22: „Indem er [Plessner, TE] für das natürliche Sein in seiner qualitativen Ausdeutbarkeit eintritt, stellt er sich der theoretischen Erkenntnis nicht entgegen, sondern vertritt ein gegenüber dem neuzeitlichen Wissenschaftsideal breiteres Verständnis von Erkenntnis. Gegenüber der neuzeitlichen Beschränkung der Erkenntnis auf das Gebiet der empirisch überprüfbaren Erkenntnis erbringt Plessner den Nachweis, dass auch die empirisch nicht restringierte Alltagserfahrung Erkenntnis vermittelt. Wie wir gesehen haben, handelt es sich dabei um die Einsicht in die qualitativen Bestimmungen der lebendigen Dinge, die sich der empirisch restringierten Anschauung, auf die sich die empirische Biologie stützt, notwendigerweise entziehen.“ Dazu auch ausführlich Schürmann 20.

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toren mit den Mitteln ihrer Konzeptionen an die operativen Wissenschaften gleichsam anschmiegen: In gewisser Weise wird in beiden Modellen eine naturwissenschaftliche Optik und Bezugsweise auf lebendige Entitäten durchgespielt. Aber hier wie dort läuft schon immer eine zweite Perspektive mit, die nun ihrerseits Friktionen zwischen dem Blick des Naturwissenschaftlers und dem Phänomen, das er als Gegenstand seiner Praxis fixiert, explizit macht. Diese indirekte Argumentationsform, die für beide Denker überaus charakteristisch ist, wird an den unterschiedlichsten Punkten der Untersuchung immer wieder aufscheinen: Und wie sich noch verdeutlichen wird, verbindet sich in beiden Fällen mit diesem indirekten Verfahren zugleich die zentrale philosophische Pointe des gesamten Ansatzes. Denn Plessner zufolge ist die angedeutete perspektivische Verzweigung, d.h. die Möglichkeit eines Perspektivwechsels im Hinblick auf Dinge der Anschauung, systematisch an ein besonderes Verständnis von Personalität geknüpft. Canguilhem hingegen kann diese Pluralität von Gegebenheitsweisen denken, weil sein Projekt einer Historischen Epistemologie verschiedene Temporalitäten und aufeinander irreduzible Niveaus der Objektkonstitution ausdifferenziert. Als Schlüsselleistung der von Plessner und Canguilhem entfalteten Konzeptionen eines Wissens über das Leben sehe ich an, jene nicht-empirische Wissensstruktur, deren Gegenstand das Leben ist, auf die Eigenheit dieses Gegenstands, gleichsam auf dessen lebendige Organisation, rekursiv zurückbezogen zu haben. Die auf diese Weise eröffnete Kritik der Lebenswissenschaften bedeutet nicht allein, ein überempirisches Wissen zu begründen, das sich genuin auf Lebendiges bezieht – vielmehr ist der Modus der Selbstentfaltung dieses Wissens (der Rationalität) seinerseits als lebendig zu explizieren. In genau diesem Sinne wird die connaissance de la vie (Canguilhem), die Erkenntnis des Lebendigen bei Plessner und Canguilhem als ein doppelter Genitiv gewendet, als genitivus obiectivus und als genitivus subiectivus: Das Wissen vom Leben entspringt keinem unendlichen Verstand, es ist kein purifiziertes Wissen de more geometrico, sondern eine Aktivität, die durch eine lebendige Subjektivität generiert wird37. Das Wissen des Lebens, um das es hier geht, ist also nicht nur Wissen über das Leben, sondern ein vom Leben (besser: einem Lebendigen) spezifisch entwickeltes, diesem zugehöriges Wissen. Dieser Gedanke ist das Zentrum eines lebendigen Wissens des Lebens38. Innerhalb der Parallele – zwei ungleichartige Projekte, die sich gleichwohl beide als Entwürfe eines lebendigen Wissens des Lebens kennzeichnen lassen – kommt alles auf 37

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Canguilhem sagt explizit, es gehe ihm um einen „vernünftigen Rationalismus“, der „seine Grenzen anerkennen und die Bedingungen seiner Ausübung einbeziehen muss“ (Canguilhem 2009, 22). Siehe ebd.: „Der Verstand darf sich auf das Leben nur beziehen, wenn er die Originalität des Lebens anerkennt. Das Denken des Lebendigen muss die Idee des Lebendigen dem Lebendigen selbst entnehmen.“ Dazu auch Métraux 200, 32f. Zu dieser ausschlaggebenden Begründungsstruktur siehe für Canguilhems Fall Dagognet 997, –2 oder Borck/Hess/Schmidgen 200, 0. Siehe auch Foucault 988, 67: „Der Biologe erkennt (…) das Markenzeichen seines Objekts. Und zwar eines Objekttyps, dem er selber angehört, denn er lebt, und er manifestiert, er vollzieht diese Natur des Lebenden, er entfaltet sie in einer Erkenntnistätigkeit (…). Der Biologie hat zu erfassen, was aus dem Leben einen spezifischen Gegenstand der Erkenntnis macht, und somit auch, was dazu führt, dass es unter den Lebenden, weil sie Lebende sind, Wesen gibt, die erkennen können und letzten Endes das Leben selbst erkennen können.“

These und Anlage der Untersuchung

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die Einsicht an, dass Plessner und Canguilhem keinesfalls identische Begriffe von Leben und Wissen zu Grunde legen. Sie werfen vielmehr zueinander versetzte Begrifflichkeiten auf, die sich in eine Beziehung wechselseitiger Kritik stellen lassen. Von diesem Ausgangspunkt her lässt sich eine Konkurrenz zwischen der Philosophischen Anthropologie in der spezifischen Variante, in der Plessner sie vertritt39, und der Historischen Epistemologie in ihrer singulären Notation bei Canguilhem herstellen. Plessners Philosophische Anthropologie und Canguilhems Historische Epistemologie konvergieren in einer grundlegenden Intention – ein lebendiges Wissen des Lebens zu entfalten – und bleiben einander dennoch fremd. Dies gibt den Blick frei auf eine umfassende Konfrontation: Wie sind die Beziehungen zwischen Leben und Wissen genau zu denken? Welchen Status weist menschliches Leben auf? Wie sind die Rollen der Technik und des Künstlichen zu bestimmen? Wie verhält sich die Philosophie zu den Erfahrungswissenschaften, vor allem zu den Wissenschaften vom Leben? Was bedeutet die Relation von Leben und Wissen für das Problem der Geschichte? Wie ließe sich das Motiv einer „Geschichtlichkeit des Lebens“ einordnen? Wie ist an die Tradition der Philosophie systematisch anzuschließen, auf welche Denker und welche Strömungen muss rekurriert werden und in welcher Form? Es ist mir wichtig, im Zusammenhang mit der mir vorschwebenden methodischen Konstruktion, die soeben in raschen Zügen noch einmal antizipiert wurde, die Formel von einer blinden Symmetrie zwischen den Autoren noch etwas zu verstärken. In der Tat ist der innerste Kern meines gesamten Anliegens getroffen, wenn man die folgenden Aspekte bedenkt: Der eigentümliche Umstand, dass diese beiden Theoretiker, die sich in vielerlei Hinsicht so nahe standen, füreinander doch unsichtbar waren, ist gleichermaßen systematisch wie historisch begründbar. Die systematische Erklärung geht dahin, dass sich ihre Konzeptionen tatsächlich von Grund auf gegenseitig ablehnen müssen: Nicht genug damit, dass beide die Begriffe des Lebens und des Wissens inhaltlich in ganz heterogener Weise besetzen. Auch ihre Auffassungen zur „Stellung des Menschen“ (Scheler) in Relation zur Ordnung des Lebendigen treten konsequent auseinander. Vor allem aber ist es unvorstellbar, gleichzeitig eine Philosophische Anthropologie und eine Historische

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Die Denkfigur eines lebendigen Wissens des Lebens ist im Hinblick auf Plessner exploriert worden von Hans-Peter Krüger, der auf Plessners Umänderung der kantische Problematik der reflektierenden Urteilskraft verweist. Siehe Krüger 200, 28: „An die Stelle von Kants Urteilskraft, als dem Vermögen zu urteilen, tritt die Untersuchung, wie wir in der Anschauung respektive Wahrnehmung von Phänomenen als lebendigen Phänomenen urteilsfähig werden: Indem nämlich rekonstruiert wird, was wir für diese Erscheinungsweise lebendigen Verhaltens und in ihr schon immer in Anspruch nehmen. Für diese philosophisch-anthropologische Lösungsrichtung von Kants Unterstellung eines Urteilsvermögens sind problemgeschichtlich und systematisch zwei Schritte kardinal, die man die performative Wende der Philosophischen Anthropologie von Lebendigem zu Lebendigem nennen könnte (…).“ [Hervorhebungen im Original, TE] Siehe zu Plessners Grenzgängertum die sehr treffende Charakterisierung in Schürmann 20, 203: „Es ist ein eigen Ding mit Etiketten. Plessners Philosophietypus scheint mir ein sehr singulärer zu sein – und damit wird es ihm nicht gerecht, ihm ein Label wie z.B. Lebensphilosophie aufzukleben. Wenn überhaupt, dann muss dieser Typus als Philosophische Anthropologie angesprochen werden, auf deren Eigenart Joachim Fischer immer wieder zu Recht aufmerksam macht und beharrt. Und noch innerhalb dieser Spezifik kann man m.E. die ausnehmende Besonderheit der Konzeption von Plessner herausstellen.“ [Hervorhebungen i.O., TE]

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Epistemologie zu vertreten – diese beiden Denkansätze können nicht unter einem Dach zusammen bestehen. Eher werden sie einander Schritt für Schritt und Zug um Zug widersprechen. Hier knüpft die historische Perspektive an: Es ist keine Übertreibung, wenn man argumentiert, dass Plessners Philosophische Anthropologie in der französischen Diskussionslandschaft zwischen 90 und 970, d.h. in jenen Jahrzehnten, in denen Canguilhem als prägende Figur in den französischen Diskursen agierte, ohnehin keine Aussicht auf Resonanz gehabt hätte. Dass Plessner bis auf den heutigen Tag keine besondere Beachtung in Frankreich erfährt, ist dabei alles andere als eine unerklärliche Laune der Entdeckungsgeschichte: Vielmehr kann man die philosophische und politische Semantik, die seine Rezeption im Keim ersticken musste, klar rekonstruieren. Die Philosophische Anthropologie ist in gewisser Weise traditionell als eine genuin „deutsche“ Theorietradition eingeschätzt worden, deren Exponenten in der Gunst ausländischer Interpreten weit hinter Heidegger rangierten. Aber auch Canguilhem konnte sich bis in die 970er Jahre hinein nicht die leiseste Hoffnung auf eine unbefangene Rezeption seines Ansatzes in Deutschland machen0. Sehr zu Recht hat man seine Schriften mit einem „‚style français‘ en épistémologie“ (Braunstein 2002), einer veritablen „débat français“ (Redondi/Pilai 989), assoziiert. Seine Texte sind mit den Namen von Autoren durchsetzt, die – paradox genug – aus der französischen Philosophie-bzw. Wissenschaftsgeschichte nicht wegzudenken sind, während sie in der deutschen Literatur kaum einmal (oder nie) in Erscheinung treten. Selbst Foucault schürte mit dem prägnanten (und bewusst verzerrenden) Bild zweier rivalisierender Zweige der französischen Husserl-Rezeption noch die Vorurteile, die Canguilhems Ansatz bis heute heimzusuchen scheinen2. Zumindest ist Foucault nicht ganz unschuldig, wenn die mit Bachelard und Canguilhem konnotierte Tradition der Historischen Episte0



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Es war Wolf Lepenies, der 97 die von Monika Noll besorgte Übersetzung von Canguilhems Hauptwerk, Das Normale und das Pathologische, in die von ihm gemeinsame mit Henning Ritter koordinierte „Hanser Anthropologie“-Reihe aufnahm. 979 legte Lepenies dann auch den Band Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie vor, der verschiedene Artikel Canguilhems aus mehreren Sammelbänden enthält. Zweifellos stehen diese Übersetzungsleistungen jedoch selbst im Kontext eines verstärkten Interesses an Foucault in der BRD, wie allein die Tatsache bezeugt, dass die von Lepenies in die Diskussion gebrachten Übersetzungen keine wirkliche Auseinandersetzung mit Canguilhem in Deutschland losgetreten haben. Das fängt an mit Canguilhems häufigen Bezügen auf den Mathematikhistoriker Jean Cavaillès (903–9), der im kulturellen Gedächtnis Frankreichs sogar eher als mythisch verklärter „résistant“ als durch seine Abhandlung Sur la Logique et la théorie de la connaissance (posthum 97 veröffentlicht; hier 2008; dt. Übersetzung unter dem Titel Über Logik und Theorie der Wissenschaft, Berlin/Zürich 20) seinen bleibenden Platz gefunden hat. Ferner verweist Canguilhem extensiv auf Autoren wie Abel Rey, Lucien Lévy-Bruhl, Léon Brunschvicg, Gaston Bachelard (der sich freilich in Deutschland durchaus einer gewissen Prominenz erfreute), Alain alias Émile Chartier, Victor Cousin, auf Positivisten aus dem Dunstkreis von Auguste Comte (Robin, Littré) etc. Kurzum, man sieht an einer Aufzählung wie dieser Canguilhems Verwurzelung in nationalen Traditionen und Problemstellungen, für die es in der deutschen Landschaft keine Äquivalente gab. Foucault skizziert in dem letzten von ihm selbst imprimierten Text La vie: l’expérience et la science eine „Teilungslinie, die eine Philosophie der Erfahrung, des Sinnes, des Subjekts einerseits von einer Philosophie des Wissens, der Rationalität und des Begriffes andererseits trennt. Die eine Seite ist diejenige von Sartre und Merleau-Ponty; die andere diejenige von Cavaillès, von Bachelard, von Koyré und Canguilhem“ (Foucault 988, 3).

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mologie noch immer in dem Ruf steht, eine spezialistische, methodisch rigorose und spezifisch französische intellektuelle Affäre zu sein. Und dennoch: Auf den ersten Blick kann man kaum fassen, dass diese beiden Protagonisten, die jeweils eine hohe Lebensdauer von über 90 Jahren erreichten und bis ins hohe Alter die wesentlichen philosophischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts verfolgten, einander nicht einmal dem Namen nach kannten. Denn dies lässt sich ohne jeden Zweifel festhalten: Weder in den publizierten Schriften dieser zwei Autoren noch in den unveröffentlichten Materialien findet sich auch nur der vageste Anhaltspunkt dafür, dass sie einander wahrgenommen hätten3. Erstaunlich ist dies vor allem, weil sich der Eindruck einstellt, dass sich Canguilhem und Plessner letztlich nur um Haaresbreite verpasst haben. Da wäre zum einen die illustre Reihe gemeinsamer persönlicher Bekannter bzw. Freunde. Bekanntlich pflegte Plessner intensiven Kontakt zu Frederik Buytendijk, dem niederländischen Verhaltensbiologen und Psychologen, mit dem er im Groninger Exil in den 930er und 0er Jahren gemeinsam im Labor forschte – eine Kooperation, die sich in dem Seite an Seite verfassten einflussreichen Aufsatz über Die Deutung des mimischen Ausdrucks dokumentierte. Buytendijk ist nun durchaus eine wiederkehrende Referenz für Canguilhem: Erwähnt wird er beispielsweise in Canguilhems Aufsatz Le vivant et son milieu, der 92 in den Band La connaissance de la vie aufgenommen wurde, vor allem aber in verschiedenen Aufsätzen aus Canguilhems 968 erschienener Sammlung Etudes d’histoire et de philosophie des sciences6. Zwar hatte Maurice Merleau-Ponty Buytendijks und Plessners Deutung des mimischen Ausdrucks in seinem Buch über Die Struktur des Verhaltens zitiert7. Doch Merleau-Pontys Interesse beschränkte sich auf die phänomenologische Verfahrensweise der Autoren: Dass Plessner unabhängig davon noch eine Philosophische Anthropologie vorgelegt hatte, spielt für ihn zumindest keine Rolle. Anders als Merleau-Ponty referenzialisiert Canguilhem stets ausschließlich Buytendijk – jedoch zu keiner Zeit Plessner. Doch Buytendijk ist nur ein Name in einer ganzen Galerie von Autoren, auf die Canguilhem und Plessner gleichermaßen Zugriff hatten. Man kann hier nicht den Bezug auf Max Scheler verschweigen, der sich in Canguilhems Aufsatz Machine et organisme, ebenfalls enthalten in La connaissance de la vie, findet8. An Plessners Fall gemessen, 3

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In Canguilhems umfangreichem Nachlass, der im Centre d’Archives de Philosophie, d’Histoire et d’Édition des Sciences (CAPHES) in der Rue d’Ulm, Paris, einzusehen ist, findet sich keine Eintragung zu Plessner. Auch Gespräche mit langjährigen akademischen Schülern und Kennern Canguilhems, die ich in Paris geführt habe, lassen keinen anderen Schluss zu, als dass Canguilhem in keiner Weise von Plessner Notiz genommen hat. Aber auch in umgekehrter Richtung existiert nicht das geringste Indiz für eine Rezeption. Die Plessner-Forscher, die ich im Hinblick auf den Vergleich mit Canguilhem in den letzten Jahren konsultiert habe, gehen sämtlich ebenfalls davon aus, dass Plessner Canguilhem nicht kannte. Auch in Carola Dietzes detailreich ausgefeilter Plessner-Biographie (Dietze 2006) fällt der Name Canguilhem an keiner Stelle. Zum Verhältnis Plessner/Buytendijk siehe Boudier 993. Siehe die Stelle unter Canguilhem 2009d, 276. Siehe Canguihem 99b, 320–322; Canguilhem 99d, 38. Zu Canguilhems Verweisen auf Buytendijk siehe (wenn auch knapp) Barbara 2008, 33. Siehe Merleau-Ponty 976, z.B. 67–69. In Machine et organisme zitiert Canguilhem per Fußnote Schelers These, es seien „die am wenigsten spezialisierten Lebewesen (…), die mechanisch am schwierigsten zu erklären sind, denn bei ihnen

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war es um die Übersetzungssituation von Max Schelers Schriften in Frankreich überaus gut bestellt. Seit 9 lag eine französische Übersetzung der Stellung des Menschen im Kosmos durch Maurice Dupuy vor, der 99 sogar eine zweibändige systematische Interpretation von Schelers Gesamtentwurf veröffentlichte9. Und bereits 936 hatte der Surrealist Pierre Klossowski, der sich später auch im Dieu Vivant-Zirkel um Sartre und Camus bewegte und dessen Nietzsche-Interpretation schließlich zu einer zentralen Anregung für Gilles Deleuze werden sollte, Schelers Aufsätze Vom Sinn des Leidens, Vom Verrat der Freude sowie Liebe und Erkenntnis übersetzt (Scheler 936). Eine nennenswerte Scheler-Rezeption lässt sich für die französische Philosophie seit den 930er Jahren allemal konstatieren (siehe Lenz-Medoc 9), und so kann es nicht überraschen, wenn Canguilhem Passagen aus der Stellung des Menschen zitiert. Von einer eigentlichen Befassung mit der Philosophischen Anthropologie Schelers kann hingegen bei Canguilhem nicht die Rede sein: Man kann erahnen, wie unwahrscheinlich eine Registrierung von Plessners systematischen Finessen sein musste, wenn schon Scheler, dessen Werk sich einer durchaus intakten Übersetzungssituation erfreute, vor allem als ingeniöser Phänomenologe, aber streng genommen nicht als Philosophischer Anthropologe gelesen wurde0. Viel erstaunlicher als Canguilhems Kenntnisse zu Buytendijk und Scheler ist aber noch ein Hinweis, der sich wiederum in seinem Text Le vivant et son milieu antreffen lässt. Dort widmet Canguilhem einer 937 erschienenen Studie Dietrich Mahnkes über Pascal und Leibniz einige verknappte Bemerkungen. Wenn davon die Rede war, dass Plessner und Canguilhem sich nur um Haaresbreite und hauchdünn verfehlt haben, so kann man dies sehr gut an der gerafften Passage zu Mahnke festmachen. Denn es war der Mathematikphilosoph Mahnke, „ein deutschnational orientierter Husserl-Schüler“ (Dietze 2006, 9), der 927 Heideggers Extraordinariat in Marburg übernahm – eine Position, die Nicolai Hartmann zwei Jahre zuvor niemand anderem als Plessner in Aussicht gestellt hatte. An einer solchen Koinzidenz kann man ermessen, wie intensiv Canguilhem in die deutsche Philosophie des 20. Jahrhunderts einzutauchen pflegte, und man bleibt verwundert zurück, wenn man bedenkt, dass Canguilhem zwar von dem (auch in der deutschen Philosophiegeschichte durchaus obskuren) Mathematikphilosophen Mahnke, nicht aber von Plessner, einem expliziten Philosophen des Lebendigen, gehört hatte. Auch Hans Driesch und Heinrich Rickert, bei denen Plessner in Heidelberg studiert hatte, finden Erwähnung bei Canguilhem2. Noch einschlägiger ist jedoch definitiv eine

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weden alle Funktionen von der Gesamtheit des Organismus übernommen. Erst mit der wachsenden Differenzierung der Funktionen und der Komplizierung des Nervensystems erscheinen Strukturen, die ungefähre Ähnlichkeit mit einer Machine haben“ (Canguilhem 2009c, 2; Fußnote 3). Canguilhem verweist auf eine Textstelle aus der von Dupuy 9 gelieferten französischen Übersetzung der Stellung des Menschen im Kosmos. Ihr entspricht die Passage in Scheler 966, 23. Siehe Dupuy 99. Mir ist nicht bekannt, ob Canguilhem Dupuys Studie gelesen hat. Eine differenzierte Rekonstruktion von Schelers (philosophisch-anthropologischer) Skepsis gegenüber Nietzsche und Bergson leistet neuerdings François 200. Zu dieser Episode siehe Dietze 2006, 9. Auf Driesch verweist Canguilhem ausführlich in Canguilhem 2009b, z.B. 66, 76. Neben Scheler war es Driesch, bei dem sich Plessner 922 in Köln mit den Untersuchungen zu einer Kritik der philosophischen Urteilskraft habilitierte, und schon in seiner Heidelberger Studienzeit hatte Plessner bei Driesch eine Dissertation in Zoologie über die Physiologie der Seesterne

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andere gemeinsame Bezugsfigur, die sowohl zu Canguilhem als auch zu Plessner Kontakt unterhielt: Nämlich der Neurologe Kurt Goldstein. Claude Debru, Alexandre Métraux, Guillaume Le Blanc und Jean Gayon haben die engen konzeptuellen Verflechtungen zwischen Canguilhem und Goldstein erörtert3. Tatsächlich ist es bemerkenswert, wie aktiv der persönliche und institutionelle Draht dieser beiden Autoren zueinander in den 90er und 0er Jahren war. So akzeptierte Goldstein unter anderem eine Einladung Canguilhems zu einem Kongress für Wissenschaftsphilosophie in Paris 99, und der Einfluss von Goldsteins Konzeption auf Canguilhems Überlegungen ist insgesamt sehr deutlich. Was Plessners Verbindung zu Goldstein betrifft, so vermerkt Carola Dietze, dass die beiden Autoren während Plessners Zeit als Theodor-Heuss-Professor an der New School for Social Research in New York in den frühen 960er Jahren zusammentrafen (Dietze 2006, 2). Goldstein ist in der Tat ein kardinales missing link für den Vergleich zwischen Canguilhem und Plessner: Dass ihm Übertragungsmöglichkeiten zwischen diesen beiden Positionen aufgefallen wären, ist allerdings nicht überliefert. Auch Plessner hatte in dem Rahmen, in dem er die zeitgenössische französische Philosophie rezipierte, keinen Blick für die Arbeiten Canguilhems. Im Vorwort zur zweiten Auflage der Stufen aus dem Jahr 96 nimmt er zwar „manchmal überraschende Übereinstimmungen“ (Plessner 97, III) zwischen den eigenen „Formulierungen“ (ebd.) und Stellen bei Merleau-Ponty oder Sartre wahr, „so dass nicht nur ich [Plessner, TE] mich gefragt habe, ob sie nicht vielleicht doch die Stufen kannten“ (ebd.). Neben weitreichenden systematischen Überlegungen zu Bergson in den Stufen waren Plessner, was die modernere Philosophie betrifft, zweifellos die französischen Verarbeitungen der Phänomenologie und der Existenzialontologie geläufig. Mit Merleau-Ponty und Sartre standen Plessner damit immerhin zwei ehemalige Mitschüler Canguilhems vor Augen, mit denen letzterer einige Jahre lang gemeinsam die Ecole Normale Supérieure (ENS) durchlaufen hatte. Ein weiterer für unser Thema denkwürdiger Umstand hat mit Plessners Bemühungen Mitte der 30er Jahre zu tun, gemeinsam mit niederländischen Kollegen (Hendrik J. Pos, Jan Romein, Buytendijk) ein international vernetztes Zeitschriftenprojekt zu inaugurieren6. Im Zuge der Vorüberlegungen für diese Initiative, für die man den Arbeitstitel Vox critica erwog, waren offenbar, wie Carola Dietze recherchiert hat, unter anderem Alexandre Koyré, Léon Brunschvicg und Lucien Lévy-Bruhl als Autoren im Gespräch7. Hier machen zumindest die Namen einiger Kollegen die Runde, die teils in enger persönlicher

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aufgenommen, die er jedoch abbrach, um zu Husserl nach Göttingen wechseln zu können. Zur Rickert-Referenz siehe Canguilhem 97, 6. Siehe Debru 200, 9–63; Métraux 200, 3ff.; LeBlanc 2002, 3–39; Gayon 998, 309f. Interessant ist eine Briefpassage Plessners, die Carola Dietze in ihrer Plessner-Studie zitiert: „Ich lese mit v[an] Lennep […] beinahe jeden Morgen das Buch von J. P. Sartre L’être et le néant, ein Werk von außergewöhnlicher Tiefe und einer straff durchgeführten Komposition. Hier erfüllt sich die Existenzial-Ontologie in einer neuen psychologia ›rationalis‹. […]“ [Helmuth Plessner an Hendrik J. Pos, 0.2.9. In: UB Amsterdam (UvA), Bijz. Coll., Hs. III; zitiert nach: Dietze 2006, 23]. Dazu Borck/Hess/Schmidgen 200, 2; Lecourt 2008, 3; Chimisso 2008, 3. Dazu Dietze 2006, 23–29. Siehe ebd., 29.

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Bekanntschaft zu Canguilhem standen8, vor allem aber direkte und zentrale Anstöße für seine eigene Position lieferten9. Das Zeitschriftenunterfangen blieb letztlich ein Gedankenspiel, und es muss wohl offen bleiben, inwieweit Plessner inhaltlich über die Arbeiten der ins Spiel gebrachten französischen Kollegen genau informiert war. Wenn man dieser Episode nun schließlich noch hinzufügt, dass Plessner, der nach seiner Rückkehr aus dem niederländischen Exil bekanntlich eine soziologische Karriere einschlug, sogar in Verbindung zu Raymond Aron stand, dann zieht sich in gewissem Sinne die Schlinge gemeinsamer „connections“, die er mit Canguilhem teilt, noch fester zusammen60: Denn Aron und Canguilhem waren in der Tat seit ihren gemeinsamen Jugendjahren an der ENS sehr eng befreundet, und zudem in den 90er und 960er Jahren Kollegen an der Sorbonne6. Wenn man sich vor Augen hält, wie nahe sich, über mehrere Jahrzehnte hinweg, Canguilhem und Plessner in diesem aus gemeinsamen Kollegen oder gar Freunden aufgebauten Beziehungsnetz gekommen sind, so gewinnt die Frage an Interesse, weshalb sie sich trotz all dieser Querverbindungen schließlich doch immer wieder verfehlt haben. Für diese Geschichte verpasster Begegnungen und verstellter Blicke kann man, so scheint mir, eine Erklärung anführen, die auf die Kerne dessen verweist, was Plessner und Canguilhem philosophisch eigentlich vertreten haben. Beide bewegten sich sowohl in lebensgeschichtlichen Kontexten als auch in philosophischen Universen, in denen der je andere unvermeidlich nur in einem „toten Winkel“, an einem aus strukturellen Gründen verdeckten Platz, auftreten konnte62. Es wird noch herauszuarbeiten sein, dass sich die entscheidende Wendung in Plessners Denkrahmen in der Tat an einem spezifischen Verständnis von Personalität, an einem Begriff der Person festmachen lässt. Diese 8

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Canguilhem hatte 927 die 87 von Emile Boutroux verfasste thèse über Descartes aus dem Lateinischen ins Französische übersetzt. Diese Übertragung wurde im selben Jahr unter dem Titel Des vérités éternelles chez Descartes (Boutroux 927) veröffentlicht. Brunschvicg steuerte hierzu das Vorwort bei. Koyré ist ein wichtiger Bezugspunkt in Canguilhem 979a, z.B. 27. Zum Verhältnis von Canguilhem und Koyré siehe Chimisso 2003. 96 korrespondierte Plessner mit René König im Rahmen von Vorbereitungen des Soziologentags der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), der im selben Jahr in Bad Meinberg zum Thema „Tradition“ abgehalten wurde. Plessner fungierte bei dieser Veranstaltung erstmals als Präsident der DGS, als Nachfolger Leopold von Wieses. Aus dieser Korrespondenz, die man dem Briefwechselband I aus René Königs Schriften (König 2000) entnehmen kann, geht hervor, dass Plessner Arons Arbeiten zur Kenntnis genommen hatte. Aron war ein gemeinsamer Wunschkandidat Plessners und Königs für die Tagung, sagte aber schließlich seine bereits zugesicherte Teilnahme ab. Siehe König 2000, z.B. 223, 228, 229. Hierauf auch ein Hinweis bei Dietze 2006, 6. Aron lehrte von 9 bis 968 Soziologie an der Sorbonne; Canguilhem war ebendort von 9 bis 97 Professor für Philosophie und Geschichte der Wissenschaften. Die beiden Kollegen verkehrten miteinander auf freundschaftlichem Fuß seit ihrer gemeinsamen Ausbildung an der ENS in Paris. Und deshalb ist es wohl auch nur konsequent, wenn die einzige Interpretin, die sich beider Autoren systematisch angenommen hat, mit Marjorie Grene eine US-Amerikanerin ist. Es bedurfte vielleicht wirklich eines „transatlantic view“ (Grene 2000), um für Plessner und für Canguilhem ein Auge zu haben. Allerdings behandelt auch Grene die beiden Positionen unabhängig voneinander, ohne auch nur ansatzweise auf Komplementaritäten zu verweisen. Dies geschieht nicht zuletzt deshalb, weil Grene Canguilhem einseitig als Wissenschaftstheoretiker sieht, ohne seine normative Theorie des Lebendigen zu würdigen. Zu Plessner siehe Grene 966; zu Canguilhem siehe Grene 2000.

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Begrifflichkeit, die man heute zu Recht als den wirklich originellen Zug von Plessners Konzeption adressieren kann, ist ironischerweise zugleich der Faktor, der Plessner rezeptionsgeschichtlich zum Verhängnis geworden ist. Wenn Plessner nämlich „im Nachkriegsdeutschland kaum philosophisch inspirierend gewirkt hat“ (Haucke 2000, 8), dann in erster Linie deshalb, weil man seine eigene Pointierung des Personenkonzepts nie recht von Max Schelers numinoser Fassung derselben Kategorie hat auseinander halten können. In gewisser Weise ist allein schon in der deutschen Diskussion, jedenfalls in jener der 920er bis 90er Jahre, untergegangen, dass Plessner keineswegs eine eklektische Neuauflage von Schelers Theorem der Geistperson mit ihrer „Teilhabe am Urseienden“ (Scheler) geliefert hat. Der von Scheler selbst lancierte Plagiatsvorwurf an Plessners Adresse kurz nach Erscheinen von dessen Stufen des Organischen 928 hat das Missverständnis, man könne Plessner und Scheler getrost unter ein-und dasselbe Schulparadigma subsumieren, nur erhärtet63. War schon die deutsche Entdeckungsgeschichte von einer solchen Konfusion beherrscht – um wieviel unwahrscheinlicher musste da eine hellsichtige Lektüre von Plessners Texten in jenen Zirkeln sein, in denen Canguilhem philosophisch beheimatet war. Man muss sich nur klar machen, dass der Import Schelers in die französische Philosophie seit den 930er Jahren unter einer erzkatholischen Note erfolgte. Noch bevor Sartre und Merleau-Ponty in den 90er Jahren auf Scheler zurückgriffen, war dessen Name für französische Ohren mit einem metaphysischen Existentialismus konnotiert, mit einer pathetischen Anthropologie des von Gott zur Freiheit berufenen Menschen: Die sogenannte personalistische Bewegung um Emmanuel Mounier und Jacques Maritain, auch Gabriel Marcel vertrat eine solche Vision, die sich ohne Weiteres positiv auf Schelers Geistmetaphysik stützen konnte. Foucault sprach für die französische Theoriesituation des 20. Jahrhunderts von der Spaltung zwischen einer Philosophie des Konzepts (Bachelard, Cavaillès, Canguilhem) gegenüber einer Philosophie des Bewusstseins (Sartre, Merleau-Ponty): Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, wie etwa Mouniers Manifeste au service du personnalisme (Mounier 936) in dieser Zeichnung untergebracht worden wäre. Dies alles soll nur zeigen, dass ein Theoretiker der Personalität, der noch dazu in (wie auch immer ambivalenter) Beziehung zu Max Scheler stand, historisch gesehen kein sehr realistischer Kandidat für eine Rezeption durch einen Denker war, der sich selbst unter dem Banner einer Historischen Epistemologie verortete. In ähnlicher Weise kann man erläutern, weshalb Canguilhem zu seinen und Plessners Lebzeiten unmöglich Eingang in dessen philosophisches Universum finden konnte. Wiederum war es Foucault, der auf eine eigenartige Reserviertheit Canguilhems schon innerhalb der französischen Diskussion aufmerksam gemacht hat6. Beginnt die erste 63 6

Für eine ausgewogene und differenzierte Bestimmung des Verhältnisses zwischen Plessner und Scheler siehe neuerdings Wilwert 2009, auch Fischer 2008a. Siehe Foucault 2003b, f.: „Daraus ergibt sich ein Paradox: dieser Mann, dessen Werk nüchtern ist, sich absichtsvoll und sorgfältig auf einen besonderen Bereich der Wissenschaftsgeschichte beschränkt, die keinesfalls eine besonders spektakuläre Disziplin darstellt, dieser Mann war in gewisser Weise in Debatten präsent, in denen er sich selbst aufzutreten stets hütete. Aber nehmen Sie Canguilhem weg und Sie verstehen fast nichts mehr von Althusser, vom Althusserianismus und von einer ganzen Reihe von Diskussi-

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vorsichtige Hinwendung zu Canguilhem in Deutschland erst Mitte der 970er Jahre6, im Gefolge der Übersetzung von Das Normale und das Pathologische, so verdankt sich diese Öffnung zum einen dem wachsenden Interesse an Foucaults Verfahren der Diskursanalyse, zum anderen der Debatte um Thomas Kuhns Explikationsmodell zur Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Plessner selbst hat sich zu Foucaults Publikationen, gerade auch zu den Hauptwerken Die Ordnung der Dinge von 966 (hier: Foucault 99) und Die Archäologie des Wissens von 969 (hier Foucault 992), nie geäußert. Die spezifische Abkehr von den Phänomenologien Sartres und Merleau-Pontys, die Foucault dabei (zum Teil zu Recht) auch unter Berufung auf Canguilhem postuliert hatte, ist Plessner verborgen geblieben. Erst in den letzten zehn Jahren gewöhnt man es sich allmählich ab, in Canguilhem wahlweise den berühmtesten „Lehrer Foucaults“, einen „Normalisierungstheoretiker“ (Jürgen Link) oder einen „Medizinhistoriker“ zu identifizieren und stattdessen die konzeptuelle Originalität seiner Position aufzugreifen (dazu Borck/Hess/ Schmidgen 200, ). Wie also hätte Plessner, wenn ihm nicht einmal der schillerndste Autor der epistemologischen Strömung in Frankreich bekannt war, von den Texten jenes weit spröderen Theoretikers wissen können, der selbst im französischen Kontext eher unterschwellig als offen seine Wirkung entfaltete? Mit dieser Anmerkung kann sich der Blick auf die jüngste Gegenwart verlagern. So sehr ich hervorgekehrt habe, dass Plessner und Canguilhem zu Lebzeiten füreinander unsichtbar bleiben mussten, so sehr ist in Bezug auf die aktuelle Forschungslage festzuhalten, dass beide Autoren langsam aber sicher aus den Schatten, die ihre Ansätze so viele Jahre verhüllt haben, heraustreten. Dies gilt zunächst einmal für die jeweils nationalen Horizonte: Denn wenigstens in der deutschen Gegenwartsphilosophie lässt sich durchaus von einer „Renaissance“66 der Philosophischen Anthropologie, und besonders derjenigen Plessners, sprechen. Die Forschung ist inzwischen längst zu Feinunterscheidungen zwischen diversen Varietäten und Ausformungen von Philosophischer Anthropologie vorgedrungen: Anstatt Scheler, Plessner und Gehlen als Vertreter ein-und desselben Projekts einzuschätzen, sind allerorts Bemühungen um Spezifikationen im Verhältnis der einzelnen

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onen der französischen Marxisten. Sie begreifen nicht mehr, was das Besondere an Soziologen wie Bourdieu, Castel, Passeron ausmacht, was sie im Feld der Soziologie charakterisiert. Es entgeht Ihnen ein wesentlicher Aspekt der bei den Psychoanalytikern und insbesondere den Lacaniern geleisteten theoretischen Arbeit. Mehr noch: in der ganzen Diskussion der Ideen, die der Bewegung von 968 voranging, ist der Platz derer leicht auszumachen, die von nahem oder aus der Ferne von Canguilhem geformt worden waren.“ Der eigentliche Pionier der deutschen Canguilhem-Rezeption ist freilich Karl Rothschuh, der seinen französischen Kollegen bereits 962 zu einer medizinhistorischen Tagung nach Münster einlud, nachdem wiederum Canguilhem in seiner Studie über den Reflexbegriff Rothschuhs Geschichte der Physiologie (Rothschuh 93) angesprochen hatte. Man kann allerdings nicht behaupten, dass der Kontakt zu Rothschuh Impulse für eine geschärfte Aufmerksamkeit gegenüber Canguilhems Arbeiten mit sich brachte. Daher setze ich die ersten (und ihrerseits noch fragilen) Anfänge einer Auseinandersetzung mit Canguilhem bei den von Lepenies geleisteten Canguilhem-Ausgaben der 970er Jahre an. Siehe den Sammelband von Gamm/Gutmann/Manzei 200, der bereits im Titel eine solche „Renaissance“ diagnostiziert. Die Philosophische Anthropologie wird systematisch als Forschungsprogramm valorisiert z.B. bei Krüger/Lindemann 2006; Krüger 999; Krüger 200; Krüger 200; Wilwert 2009; Hartung 2008; Fischer 2008a; Neschke/Sepp 2008.

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Denkansätze zu erkennen67. Eine ganz analoge Wandlung vollzieht sich gegenwärtig in der französischen Lanschaft: Man scheint allmählich eine gewisse Autoritätsfürchtigkeit gegenüber Canguilhem abzulegen und das systematische Potenzial seiner Überlegungen ernst zu nehmen68. Man bespricht nicht länger nur die Differenzen, die (z.B.) Canguilhem, Bachelard, Cavaillès und Foucault en bloc von Denkern anderer „Schulen“ der Gegenwartsphilosophie absetzen. Vielmehr kommen innere Differenzierungsoptionen zwischen den genannten Autoren zum Vorschein, und ihre Argumentationen gewinnen individuelles Profil69. Aber das ist nicht alles. Denn mit der Diversifizierung der Rezeption dessen, was „Philosophische Anthropologie“ und „Historische Epistemologie“ jeweils sein sollen, geht ein immer reicher werdendes Übersetzungsrepertoire einher. So hat Henning Schmidgen zahlreiche Texte Canguilhems, vor allem auch seine philosophische Dissertation über Die Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert (9) (hier: Canguilhem 2008), übersetzt70. Zuletzt erschien im Jahr 2009, mit 7 Jahren Verspätung, auch die erste deutsche Übertragung von dem in Frankreich klassischen Aufsatzband Canguilhems La connaissance de la vie (hier Canguilhem 2009). Etwas zögerlicher, aber doch wahrnehmbar verändert sich die Repräsentanz Plessners in Frankreich. Bei Gallimard soll eine Übersetzung von Plessners 928 veröffentlichtem systematischem Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch (hier Plessner 97) in Planung sein. Und es ist vielleicht kein Zufall, wenn dies wohl tête à tête mit einer neuen Ausgabe von Gehlens Schlüsseltext Der Mensch (90) geschehen soll: Dies belegt nur, dass die in diesem Kapitel nachgezeichneten traditionellen Zuschreibungen allmählich zum Verschwinden gebracht werden und Platz machen für differenzierte Bilder der Autoren, die sich womöglich hinter diesen Zuschreibungen verbergen. In diese Aufbruchsstimmung, die zum einen innerhalb der nationalen Forschungstraditionen, zum anderen aber interkulturell feststellbar ist, schreibt sich das Vorhaben, das ich in diesem Text verfolgen möchte, ein. Um es noch einmal kurz zu skizzieren: Im Zentrum der Begegnung post mortem zwischen Plessner und Canguilhem steht die Hypothese, ihre Philosophien seien durch eine gemeinsame Denkstruktur einander verbunden. Beide beschreiben ein Verhältnis zwischen Leben und Wissen, das die Extreme eines Primats des Wissens vor dem Leben und einer Hypostasierung des Lebens über das 67

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Dies gilt in besonderem Maße für Joachim Fischers groß angelegte Bestandsaufnahme Philosophische Anthropologie: Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts (Fischer 2008a). Obwohl Fischers Suggestionsformel von einem „Identitätskern“, der sich bei allen Exponenten der Philosophischen Anthropologie wiederfinden lasse, eine in der Forschung kontroverse Wahl darstellt, kann man dem Autor nicht anlasten, die Divergenzen zwischen Scheler, Plessner, Gehlen, Portmann, Rothacker usw. zu nivellieren. Siehe die Beiträge in Cassou-Noguès/Gillot 2009 und in Fagot-Largeault/Debru/Morange/Han 2008; zudem Braunstein 2002; Chimisso 2008; Rheinberger 2007; Borck/Hess/Schmidgen 200; Balzaretti 200a; Balzaretti 200b; Balzaretti 200c; Schmidgen 2008b; Muhle 2008. Symptomatisch für die Rekontextualisierung und Internationalisierung der Historischen Epistemologie sind auch die Beiträge in Heft  der Cahiers Gaston Bachelard (Guenancia/Perrot/Wunenburger 200), die sich um das Thema „Bachelard et la pensée allemande“ gruppieren. Siehe außerdem den Band Wissenschaft, Technik, Leben. Beiträge zur historischen Epistemologie (Canguilhem 2006) sowie die von Schmidgen übersetzten Canguilhem-Texte in dem Band Gesundheit – eine Frage der Philosophie (Canguilhem 200).

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Wissen unterläuft. Sie entwickeln eine Rationalität des Lebens, „die die Vitalität ihrer Gegenstände, ihrer Objekte, ebenso zur Geltung bringt wie die der beteiligten Subjekte“ (Borck/Hess/Schmidgen 200, 0). Diese Verwandtschaft der Intentionen lässt sich formulieren, und dennoch – so gestaltet sich die These aus – beantworten Plessner und Canguilhem ihr systematisches Problem mit unterschiedlichen Mitteln. Die Rekonstruktion ihrer jeweiligen Philosophien läuft auf ein konfliktuöses Verhältnis, eine Spannung in den Gesamtansätzen zu, keinesfalls auf eine verdeckte, bislang ungesehene Konformität. Wenn sich die vorliegende Untersuchung mithin als Verbindung zweier bislang unverbundener Philosophien über das Wissen vom Leben begreift, so favorisiert sie keine der beiden als die umfassendere oder überlegene. Sie zielt vielmehr auf spezifische Verhältnisse des Überwiegens oder Zurücktretens der beiden Ansätze gegeneinander. Im Blickpunkt steht eine Beziehung, die Elemente der Fremdheit und Nachbarschaft gleichermaßen enthält, ein „parting of the ways“ (M. Friedman), das gleichwohl eine gemeinsame Einsatzstelle markiert. Auch die methodische Funktion der anfangs herausgestellten Aporien, die im modernen lebenswissenschaftlichen Diskurs grassieren, lässt sich nun genauer angeben. Sie sind als eine Art Ouvertüre für das grundlegende Problem zu verstehen, das die gesamte Untersuchung strukturiert: Auf dem hybriden Feld der Lebenswissenschaften – das sich weder metatheoretisch philosophisch noch empirisch konstituiert – gibt es Leerstellen, die das Verhältnis zwischen dem Begriff des Lebens und dem Begriff des Wissens affizieren. An diesen Leerstellen, welche innerhalb der Diskussion nicht überwunden, wohl aber indiziert werden, können Plessners Philosophische Anthropologie und Canguilhems Historische Epistemologie der Biowissenschaften ansetzen, und auch der Vergleich dieser beiden Theorieformen muss bei ihnen anheben. Die beiden Konzeptionen, so die These dieser Studie, antworten auf die geschilderten Aporien in dem Maße, in dem sie die Struktur eines lebendigen Wissens des Lebens ausprägen, dies jedoch auf voneinander ganz abweichenden Grundlagen. Methodisch verhält es sich so, dass die Explikation der konkreten Argumente Plessners und Canguilhems eine gezielte Auseinandersetzung mit den einleitend vorgeführten Aporien einschließt. Durch diese Feststellung sind nun These, Verfahren, methodischer Zusammenhang der Problemstellungen und die Forschungslage, auf welche die Untersuchung zu reagieren versucht, zureichend identifiziert. Das nächste Kapitel soll in einem kurzen Aufriss die Gesamtkomposition der Abhandlung überblicken und begründen.

b. Überblick über die weitere Komposition Im vorangegangenen Abschnitt wurde dargelegt, in welcher Hinsicht Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie und Georges Canguilhems Historische Epistemologie des Lebens für sich in Anspruch nehmen können, als Grundlegungen der modernen Lebenswissenschaften gelten. Beide Philosophien sind – wenngleich dies je Verschiedenes bezeichnet – über drei Stufen der Argumentation errichtet: Sie arbeiten erstens eine qualitative Differenz zwischen dem Begriff der Natur und dem Begriff des Lebens heraus, d.h. sie insistieren auf einer Eigengesetzlichkeit lebendiger Phänomene; zweitens werfen sie die Frage nach dem Leben in Relation zu spezifischen Rationalitäten und einem qualifizierten, nicht in der Empirie herstellbaren Wissen auf, dessen Gegenstand lebendige

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Phänomene sind bzw. sein können; und beide Projekte rekonstruieren drittens, inwiefern der Modus der Selbstentfaltung eines Wissens vom Leben seinerseits als lebendig zu bestimmen ist7. Damit ist ein Niveau erreicht, auf dem von einem lebendigen Wissen des Lebens in einem anspruchsvollen Sinne, nämlich im Sinne eines genitivus obiectivus und genitivus subiectivus, die Rede sein kann: Lebendige Phänomene sind gleichermaßen die Objekte wie die aktiven Urheber, die Subjekte jener Rationalität, die Lebendiges als Lebendiges erfasst. Man mag die Philosophische Anthropologie Helmuth Plessners und Georges Canguilhems Historische Epistemologie des Lebens als Varianten eines vital rationalism72 charakterisieren, soweit man diese Formel nicht durch die termini technici, die sie enthält, missdeutet: Weder geht es bei Plessner und Canguilhem um die Reduktion lebendiger auf natürliche Phänomene und damit auf stabile Objekte wissenschaftlicher Rationalität (rationalism), noch um die Hypostasierung des Lebens über das Wissen im Sinne einer Inkommensurabilität zwischen Dynamischem und Statischem (vitalism). Der strategisch wichtige Einsatz beider Theorien lautet vielmehr, von einer Vitalität des Rationalismus (besser: der Rationalitäten) in dem Sinne zu sprechen, in dem das Lebendige als Instanz gefasst ist, die sich stets in Wissens- und Erkenntniskonfigurationen artikuliert. Insoweit ist Lebendiges stets schon durch „Wissen“ mediatisiert und objektiviert, doch dieses Wissen bezieht sich rekursiv auf sein Objekt zurück: Es ist seinerseits als die Aktivität einer lebendigen Subjektivität zu explizieren73. Meine Interpretation bewahrt fest im Blick, dass sich Plessner und Canguilhem philosophisch aus völlig verschiedenen Universen herschreiben: Über dieses ungleiche Paar zu arbeiten bedeutet, auf zwei unverbundene intellektuelle Genealogien zu stoßen, die 7

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Joachim Fischer stellt heraus, dass die Philosophische Anthropologie nur deshalb als „Doppelkorrektiv des wissenschaftlichen Radikalismus der Biologie und der Kultur- und Sozialwissenschaften“ (Fischer 200, 77) auftreten kann, weil sie über eine „im Ansatz eingebaute Biophilosophie“ (ebd., 79) verfügt. Der Nachweis des „evolutionsbiologischen“ Radikalismus der Biowissenschaften und des „sprachkonstruktivistischen“ Radikalismus der Sozialwissenschaften gelinge nur dann, wenn das Leben als Phänomen bestimmt wird, auf das beide Disziplinen zugreifen, das aber weder in der einen noch der in der anderen erschöpfend erfasst werden kann. Siehe ebd., 60f. Zu einem parallelen Verständnis des Grundansatzes bei Canguilhem siehe Balzaretti 2007, : „Behind Canguilhem’s interest for specific issues of biological epistemology stands the broad project not just of a philosophy of biology but of a ‚biological philosophy‘.“ Analog spricht Henning Schmidgen von einem „biological structuralism[…], a structuralism that reconnects human knowledge to the evolving structures of life“ (Schmidgen 2007, 6 bzw. 23). So der Titel des insgesamt wenig hilfreichen US-amerikanischen Canguilhem-Readers von Delaporte 2000. Für Canguilhem kann man diesen Standpunkt an Hand seiner paradigmatischen Bestimmung der Physiologie geltend machen, welche er als „Wissenschaft von den stabilisierten Lebensäußerungen“ (Canguilhem 97, 0; Hervorhebungen i.O., TE) definiert hat. Erst wenn die Physiologie „im Leben nicht mehr bloß eine stets identische Realität, sondern eine widersprüchliche Bewegung“ (ebd., 0) sehe, sei die konsistente epistemologische Fundierung der Physiologie möglich. Und dabei ist entscheidend, dass die „Stabilisierung“ (ebd.) lebendigen Verhaltens gerade nicht einseitig von der Physiologie induziert wird, sondern dass es eine – später in dieser Untersuchung näher zu klärende – „widersprüchliche Bewegung“ (ebd.) seitens des Lebens selbst ist, welche die „Stabilisierung“ vollzieht. Diesen Punkt weist Balzaretti sehr genau auf, wenn er betont, dass Canguilhem eine „lebendige Wissenschaft von Wertgegenständen“ ausgearbeitet habe, d.h. „eine[r] lebendige[n] Wissenschaft, deren korrelativer Gegenstand Leben ist.“ (Balzaretti 200c, 3 bzw. ; Hervorhebung i.O., TE)

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beide Theoretiker vorfanden und die sich über sie hinaus fortsetzen. Das heißt, die Philosophische Anthropologie in Deutschland hat ein diskursives Vorfeld und eine Nachgeschichte, die mit der Vorgeschichte und den Nachwirkungen der histoire des sciences in Frankreich nichts zu tun hat – und umgekehrt7. Die hermeneutische Strategie der Untersuchung besteht demnach in der Konstruktion eines Problems, auf das sowohl Plessner als auch Canguilhem mit ihren Philosophien des Lebendigen geantwortet haben. Ausgehend von dieser Problemkennzeichnung, die eine Parallelisierung der Vorhaben erlaubt, soll ein weiter verzweigter Vergleich seinen Lauf nehmen, der beide Denkwege in ihrer jeweiligen Eigenständigkeit und ihrer Differenz gegeneinander profiliert. Mit diesem Bemühen verbindet sich der Anspruch, die beiden Positionen in Rücksicht auf eine sie verbindende Intention gegen gemeinsame Kontrahenten abzugrenzen: Diese Demarkationen gegen Dritte vervollständigen den komplexen Nachweis, dass beide Philosophien, so konträr sie auch sind, ein lebendiges Wissen vom Leben zur Basis haben. Aus den genannten Kriterien erklärt sich der Aufbau der Untersuchung. Sie besteht aus drei Partien, die verschiedene Funktionen abdecken: Kapitel II steht unter dem Gesamttitel Rekonstruktionen. Hier werden die Entwürfe Plessners (II.A.) und Canguilhems (II.B.) zunächst einmal unabhängig voneinander nachgezeichnet. Sie werden einander wie zwei in sich geschlossene Blöcke gegenüberstehen, die jeweils ihre eigenen Bedingungen und Mittel besitzen, um die Struktur eines lebendigen Wissens des Lebens auszuformulieren. Der zweiten Partie des Hauptteils, d.h. Kapitel III, ist eine andere Aufgabe zugeordnet, nämlich die Herbeiführung von Konfrontationen. Zeigt Kapitel II, dass wir es bei Plessners Philosophischer Anthropologie und Canguilhems Historischer Epistemologie mit zwei differenten Durchführungen des lebendigen Wissens des Lebens zu tun haben, so geht es nunmehr darum, die beiden Argumentationen Schritt für Schritt nebeneinander zu halten und zu verschränken. Im Wechsel der Perspektiven soll sich das fiktive Gespräch zwischen Canguilhem und Plessner entfalten. Aus diesem Grund setzt sich Kapitel III aus drei „Akten“ zusammen. Einem propädeutisch angelegten Abschnitt (III.1), der sich der Frage nach der Konvergenz in der Divergenz von Historischer Epistemologie und Philosophischer Anthropologie auf grundsätzlicher Ebene stellt, folgt der erste Akt (III.A.). Er konfrontiert die Begriffe des Lebens, die Plessner und Canguilhem jeweils herausgearbeitet haben, miteinander. Während in III.A. zunächst Plessner das erste Wort hat, bevor gleichsam mit Canguilhems Stimme geantwortet wird, kehrt der zweite Akt (III.B.) diese Reihenfolge um und hebt zunächst bei Canguilhems Position an7. In dieser Phase des Disputs werden die 7

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Man bedenke nur, wie peripher für die französische Diskussion der Status Diltheys (im Unterschied zu Husserls Phänomenologie) ist. Plessner situiert sich freilich in einer ganz bestimmten Verästelung von Diltheys Erbe, nämlich in der durch Georg Misch (Misch 99) und Josef König mitgetragenen lebensphilosophischen Verästelung der Hermeneutik (für eine erfolgreich auf Nuancierungen in dieser Tradition zielende Darstellung siehe Schürmann 20). In Deutschland hingegen begegnet man der Genealogie, die in Canguilhems methodischem Hintergrund steht, mit Unverständnis: Wie Cristina Chimisso (Chimisso 2008) nachgezeichnet hat, knüpft Canguilhem an die auf Lucien LévyBruhl und Leon Brunschvicg verweisende Tradition der Wissenschaftsgeschichte an. Diese Figuren sind in der deutschen Rezeption unbeschriebene Blätter. Dieses Vorgehen soll eine allzu fragmentarische Wiedergabe der Gesamttheorien vermeiden und stattdessen gewisse Kontinuitäten innerhalb der Argumentationen hervorheben.

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beiden Notationen gegeneinander gestellt, die sich bei Canguilhem und Plessner für das Problem eines Wissens vom Leben finden. Schließen wird dieser auf die Konfrontationen fokussierte Teil der Untersuchung mit dem dritten Akt (III.C.), der nun wiederum Plessner zum Ausgangspunkt hat. Dieser Abschnitt zeichnet die Wende nach, die impliziert, dass ein Wissen von lebendigen Objekten mit einer bestimmten Pointe zusammenfällt – mit der These nämlich, dass dieses Wissen als Verhalten eines lebendigen Subjekts zu bestimmen ist. Zugleich wird an diesem Punkt der Interpretation durchsichtig werden, inwiefern die Historische Epistemologie und die Philosophische Anthropologie zwei systematisch irreduzible Artikulationen für ein lebendiges Wissen des Lebens darstellen. Für das letzte Kapitel, Kapitel IV, bietet sich als Oberbegriff die Rede von Konstellationen an. Es versucht auszuloten, wie die beiden Denkformen der Historischen Epistemologie und der Philosophischen Anthropologie, die sich historisch und auch im Hinblick auf die von ihnen vertretenen Intentionen radikal fremd bleiben, gleichwohl durch das Problem des lebendigen Wissens des Lebens in systematischer Weise verschränkt sind. Es enthält außerdem eine Betrachtung zu den Rollen Kurt Goldsteins und Michel Foucaults im Licht der Auseinandersetzung zwischen Plessner und Canguilhem (IV.1.). Nach einer gerafften Darstellung der historischen Originalität, die der Vergleich von Philosophischer Anthropologie und Historischer Epistemologie für sich beanspruchen kann (IV.2.), wird die eben antizipierte systematische Konstellierung schließlich durchgeführt (IV.3.). In einem weiteren Abschnitt des letzten Kapitels werden kurz einige „Aussichtspunkte“ (IV.4.), die über die spezifische Fragestellung und Ausrichtung dieser Arbeit hinausweisen, illustriert: Der erste dieser Aussichtspunkte besteht in dem Versuch einer kritischen Übertragung des Potenzials, das aus der Debatte zwischen Plessner und Canguilhem hervorgehen könnte, auf Bruno Latours Programm einer „symmetrischen Anthropologie“. Die zweite Aussicht skizziert die originellen Bezugsweisen auf Kant, die sich von Canguilhem und Plessner her entwickeln lassen. Der letzte Abschnitt (IV.5.) schließlich enthält emblematische Schlussbilder, die noch einmal in nuce an das Verhältnis der beiden hier verhandelten Konzeptionen zueinander erinnern. Nach diesem Aufriss der einzelnen Ebenen dieser Studie möchte ich mich nun dem ersten Zug zuwenden, den Plessner in seiner Philosophischen Anthropologie realisiert, um die Figur eines lebendigen Wissens des Lebens denken zu können: Was mithin zuerst interessiert, ist Plessners Strategie, eine irreduzible Differenz lebendiger Phänomene gegenüber der Dimension des Unbelebten zu ermitteln.

II. Rekonstruktionen: Wege zum lebendigen Wissen des Lebens in Plessners Philosophischer Anthropologie und Canguilhems Historischer Epistemologie

A.Plessner . Der Primat der Klinik: Vitalismus und ärztliches Denken (922) In der Klinischen Wochenschrift spielte sich im Jahr 922/23 unter Medizinern, Biologen, Psychiatern und Philosophen eine Kontroverse über den von Hans Driesch postulierten Vitalismus ab. +Drieschs zentrales Axiom war, dass gerade die Orientierung an den Erfahrungswissenschaften und dem notwendigen methodischen „Dogmatismus, der allem logischen Denken inhärent ist“ (Driesch 909a, 8), eine vitalistische Hypothese unabweislich mache2. Sein berühmtes Experiment der chemischen Isolierung von Zellen des Seeigeleis in der Frühphase der Embryogenese, in deren Folge sich voll entwickelte Seeigellarven herausbildeten, gab Driesch Anlass zu einer Strategie der immanenten Widerlegung des mechanischen Determinismus. Im Unterschied zu Bergson betonte Driesch also nicht die Inkommensurabilität zwischen anorganischer Materie und organischem Leben oder den Primat der Intuition vor dem Intellekt, sondern die Idee, dass „der Organismus nichts als eine selbst mechanische Modifikation des Mechanischen“ (von Weizsäcker 998a, 23) sei. Drieschs grundlegende Position ging davon aus, dass „ein Etwas in dem Verhalten des Organismus“ (Driesch 909b, 3) wirke, „was sich einer anorganischen Auflösung desselben entgegensetzt und uns zeigt, dass der lebende Organismus m e h r ist, als eine Summe oder ein Aggregat seiner Teile (…)“ (ebd.). Im Sinne einer „phänomenologischen Naturphilosophie“ (ebd., ) müsse die Bestimmung organischer Körper und Prozesse daher eine Instanz in Rechnung stellen, die „ n i c h t i m R a u m “ (ebd., 239) wie materielle Ursachen, sondern „ i n d e n R a u m h i n e i n “ (ebd.) wirke, also „Manifestationsorte“  2

Hans Driesch, Philosophie des Organischen. Gifford-Vorlesungen, gehalten an der Universität Aberdeen in den Jahren 1907–1908. Erster Band. Leipzig 909, S. 8. Die Abgrenzung von einem „Vitalismus früherer Zeit“, der „auf schwachen Grundlagen“ geruht habe, weil er es versäumt habe, den „Beweis“ für die Autonomie des Lebendigen zu liefern, war ein explizites Anliegen Drieschs. Siehe ebd., 6. Auf dieser Linie besteht Einigkeit zwischen Driesch und jenen Kritikern, die in der Klinischen Wochenzeitschrift Partei für die naturwissenschaftlichen Fächer nahmen, die „für immer mit den empirisch nicht begründeten Spekulationen gebrochen“ (Martius 922, 9) hatten.

Plessner



(ebd.) in Raum und Zeit besitze, selbst jedoch „von räumlicher Kausalität affiziert“ (ebd.) sei. Driesch führte zur Kennzeichnung dieses Problems der „beiden großen Klassen des Geschehens in der Natur“ (ebd.), einer extensiv geordneten und einer intensiv ordnenden Geschehensform, das prominente Prinzip der Entelechie ein3. Schon im Eröffnungsteil seiner Gifford Lectures hatte Driesch angekündigt, sich „für einige Zeit durchaus im Gebiete des realistischen Empirismus zu bewegen“ (Driesch 909a, 9), zugleich aber den „Wendungspunkt“ (ebd.) in Aussicht genommen, von dem an „unser Studium des Lebens einen Teil der wahren Philosophie zu bilden anfangen“ (ebd.) würde. Die Etablierung der Biologie als „eine[r] unabhängige[n] Grundwissenschaft“ (ebd., 3) der Autonomie des Lebens verläuft also bei Driesch im Übergang zu einer phänomenologischen Naturphilosophie, ein Übergang, der gerade dann zwingend werde, wenn man sich konsequent an der Ordnung des Mechanismus orientiere. Der originelle Schachzug dieses Vitalismus beruht darauf, die Entelechie aus der inneren Konsequenz des Mechanizismus heraus lancieren zu können: Die Entelechie gestattet es, die Integrativität des Lebens in die Gesetzmäßigkeiten der anorganischen Natur und zugleich die qualitative Abhebung von Leben (als Ganzheit) gegenüber Natur (als Summe ihrer Teile) festzuhalten. Es war dieser phänomenologisch inspirierte Sprung im Verhältnis von Erfahrungswissenschaften und Philosophie, der die Autoren der Klinischen Wochenschrift vexierte. Biologie und Medizin drohten durch den phänomenologischen Primat der Anschauung dem „unerhört tief und weit grabenden Rüstzeug des naturwissenschaftlichen Jahrhunderts“ (Martius 922, 9) entrissen zu werden. So erinnerte Martius in seinem Artikel daran, dass die medizinische Praxis neben den mechanistischen Erklärungen allemal auf Anschauung ausgreife, ohne „hinter die Erscheinungswelt zu blicken“ (ebd.; Hervorhebung i.O., T. E.). Dieser Ausschaltung des Vitalismus aus den modernen Naturwissenschaften setzte Oskar Wolfsberg die These gegenüber, der Vitalismus sei „eine Theorie 3





In ihrer Rekonstruktion der Polemik zwischen Driesch und Wolfgang Köhler sowie der DrieschRezeption bei Plessner missversteht Mitscherlich den kausaltheoretischen Status der Entelechie. Driesch spielt keineswegs die Wirkkausalität physikalischer Gesetze gegen die Lenkkausalität der Entelechie aus, und das systematische Problem seiner Position liegt folglich auch nicht darin, „wie der Entelechiefaktor wirke, bzw. wie sich die causa efficiens und die causa finalis zueinander verhalten“. Mitscherlich 2007, 68f. Im Gegenteil schreibt Driesch explizit, es sei „vollkommen absurd“, die Struktur der Entelechie mit „der berühmten „causa finalis“ zu identifizieren. Mit dem Vokabular der „extensiven bzw. intensiven Mannigfaltigkeit“ avisiert Driesch, ähnlich wie später Plessner in den Stufen, eine phänomenologische Umstellung der ontologischen Kausalitätsauffassung des Aristoteles. Mitscherlich verwischt die phänomenologische Differenz zwischen extensiver und intensiver Mannigfaltigkeit (die Driesch einführt) zur ontologischen Differenz von causa efficiens und causa finalis (die er abweist). Siehe Driesch 909b, 326, 327. In dieser Linie reproduziert Mitscherlich unkritisch Plessners Skepsis, wonach Driesch in Ermangelung einer phänomenologischen Methode in der aristotelischen Ontologie stecken bleibe. Thomas Miller verweist auf den massiven Einfluss des Darwinismus in der Frühphase der philosophischen Theoriebildung bei Driesch und argumentiert zugleich, dass „die Entwicklung Drieschs vom Darwinisten zum Vitalisten mit der damals unpopulären Methode exakter Wissenschaftlichkeit in Verbindung zu bringen ist“. (Miller 99, 8). Gregor Fitzi liest Drieschs Vitalismus als „eine Spielart des Determinismus“, die von Anbeginn darauf zielt, „mit dem naturwissenschaftlichen Weltbild in Einklang“ zu bleiben. (Fitzi 2006, 06).

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biologischen Geschehens, die gerade noch der Naturwissenschaft angehört, da sie direkt aus biologischen Tatbeständen abgeleitet ist“ (Wolfsberg 922, 7). Man wird sich nicht darüber wundern, wenn in dieses Spannungsfeld ein Autor intervenierte, der – selbst Sohn eines Mediziners – sowohl ein Studium der Zoologie in Heidelberg bei Driesch absolviert als auch eine philosophische Dissertation unter Husserl in Göttingen aufgenommen hatte: Helmuth Plessner, im Jahr 922 Inhaber eines Lehrauftrags für „Geschichte der neuen Philosophie und Erkenntnistheorie der Naturwissenschaften“ an der Universität Köln6. Für den Problemhorizont, den die vorliegende Arbeit aufspannt, ist es bemerkenswert, dass Plessner Drieschs Vermittlung von Naturwissenschaften und Vitalismus ablehnend gegenüber steht: Mit Driesch ringt Plessner allem voran um eine adäquate Differenz zwischen Natur und Leben. Im Folgenden soll Plessners Auseinandersetzung mit Drieschs Konzeption der Entelechie knapp auf Basis seines 922 geschriebenen Aufsatzes Vitalismus und ärztliches Denken (Plessner 98a, 7–27) rekapituliert werden. Allerdings bereitet der Exkurs zu Driesch erst die Bühne für Plessners ausgefeilten Ansatz der Stufen des Organischen: In seinem Aufsatz über den Vitalismus operationalisiert Plessner noch nicht7 die Begrifflichkeiten, mit denen ihm später die grundstürzende Umstellung der Verhältnisse von Natur und Leben bzw. Leben und Wissen gelingen sollte. Plessners Umgangsweise mit Drieschs Kategorien lässt sich allemal als Dekonstruktion umschreiben. Wenn Plessner daran geht, „Entwicklungsgang und Aufbau des Systems meines Lehrers Driesch“ (ebd., 8)8 nachzuvollziehen, so geschieht dies nicht aus einer der Position Drieschs antagonistisch fremden Perspektive. Vielmehr honoriert Plessner die Punkte, auf die es Driesch in der Beurteilung seiner Experimente ankam: Die Äquipotenz der Zellen, d.h. ihre „Gleichmöglichkeit der Formbildung“ (ebd., 0), im Unterschied zu ihren funktionalen Rollen; der gegenüber der Summe äquipotentieller Elemente eigens abstechende „harmonische“ Ganzheitscharakter des Organismus; die Unfähigkeit mechanischer Systeme, bei Dislozierung ihrer Teilelemente Veränderungen im Ganzen vorzunehmen; die nur eigenpsychisch evidente qualitative Differenz zwischen emittierten Bewegungen und eingegangenen Reizen etc. Plessner konstruiert die Genese der Kategorien, mit denen Driesch die Autonomie des Lebendigen sichern will, in ihrer Plausibilität nach und übersieht auch nicht Drieschs integrierende Bestimmung des Verhältnisses zwischen Natur (als extensiver Mannigfaltigkeit) und dem ordnenden Prinzip einer Lebenskraft (als intensiver Mannigfaltigkeit bzw. Entelechie): „Driesch mußte nachweisen, daß durch Annahme dieser Entelechie bzw. des Psychoids weder die geltenden Gesetze der physischen Natur noch die Grenzen der Naturwissenschaft verletzt werden. Es galt die Verträglichkeit des neuen Faktors, kurz gesagt, mit dem anorganischen Weltbilde und seine notwendige Herleitung aus experimentellen Mitteln zu zeigen. (…) Warum müssen wir den neuen Faktor als intensive Mannigfaltigkeit denken? Damit das oberste Prinzip aller wissenschaftlichen Naturbeschreibung gewahrt bleibt, das Prinzip der eindeutigen Bestimmtheit (…).“ (Ebd., 3) 6 7 8

Zum biographischen Hintergrund siehe Dietze 2006, vor allem 23–98. Diesen Eindruck teile ich mit Mitscherlich 2007, 67–8. Siehe zu Plessners „Stellung zum Vitalismus von Hans Driesch, dem Herr Plessner den breitesten Raum gewährte, um ihn dann, soviel ich sehe, recht entschieden abzulehnen“ von Weizsäcker 998b, 39.

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Plessners Dekonstruktion von Drieschs Vitalismus setzt nicht von Ungefähr an dessen Versuch an, die Gültigkeit der Naturgesetze voll zu konservieren, daneben aber eine weitere Wirkstruktur zu unterstellen, die das extensive Naturgeschehen an eine rein intensive Größe bindet. Die Entelechie greift Driesch zufolge nicht den mechanischen Wirkungsweisen zum Trotz, sondern in Form der Anordnung dieser Wirkungsweisen – nämlich in der spezifisch ganzheitlichen Koordination, die diese Wirkungsweisen am Lebendigen annehmen. Genau in dieser doppelten Anlage von Drieschs Vitalismus lokalisiert Plessner ein logisches Defizit: Lebendige Körper sind auch physische Körper, und zur Explikation der Gesetzmäßigkeiten, denen physische Körper in Raum und Zeit unterliegen, ist es nicht notwendig, das Entelechieprinzip zu veranschlagen9. Wird zur Kennzeichnung des Lebendigen die Entelechie in den Raum der physikalichen Kausalität eingebracht, ergibt sich die Konsequenz, dass die Entelechie den für physische Körper als gültig eingeräumten Kausalzusammenhang unterbrechen muss. Zu diesem Manöver sieht sich Driesch auf Grundlage seiner These genötigt, dass die das Organische organisierende Entelechie Kausalketten, die sich physikalisch völlig lückenlos explizieren lassen, suspendiert. Für Plessner ist dies der Punkt, an dem die Entelechiehypothese einen Widerspruch generiert: Die Entelechie hat, insofern lebendige Körper zunächt als den Naturgesetzen unterliegende Körper definiert werden und für solche Körper das Prinzip der eindeutigen Bestimmtheit konzediert wird, Vorgänge zu erklären, die physikalisch auch ohne sie klärbar sind. Plessner greift das folgende von Driesch verwendete Beispiel auf: Ein Körper, der auf einen elastischen Widerstand trifft und von diesem zurückprallt, kommt an einem bestimmten Punkt seiner Bewegung zum Stillstand und nimmt nach Entfernung des Hindernisses, das die Bewegung unterbrochen hat, seine vorige Geschwindigkeit wieder auf. Driesch interpretiert dieses Phänomen als „die Fähigkeit zu temporärer Suspension anorganischen Geschehens“ (Driesch 909b, 82) und konstatiert: „(…) w e i l sie diese Fähigkeit besitzt, ohne doch eine Energie zu sein, ist Entelechie d a s nicht-physikochemische Agens.“ (ebd.) Dagegen hält Plessner: „Findet der Naturwissenschaftler in dem obengenannten Beispiel, dass entgegen den Gesetzen der Mechanik der Körper an einem bestimmten Punkt seines Weges zum Stillstand kommt, nach gewisser Zeit seinen Weg aber mit der errechneten Geschwindigkeit fortsetzt, so muß er die Widerstände in der betreffenden Zeit energetisch definieren und so seine Rechnung ins Reine bringen oder sagen, dass er die Ursachen nicht begreift.“ (Plessner 98a, 7f.; Hervorhebung i.O., T. E.)

Plessner weist Drieschs Theorem der Suspension von Abläufen, die sich durch mechanische Erklärungen analysieren lassen, rigoros ab, denn: „Die von Driesch real gedachte Entelechie demaskiert sich hier und zeigt ihr wahres Gesicht: eine logische Außerkraftsetzung des Grundprinzips experimenteller Erforschung des Naturgeschehens. (…) Wirkungsweisen bezeichnende Begriffe, mit denen man arbeiten kann, müssen sich durch Experimente bestätigen oder verwerfen lassen. Wenn eine Wirkungsweise der Sus9

Plessner 98a, 8 bzw. 9: „Nur solche Faktoren sind naturwissenschaftlich zugelassen, die uns in Stand setzen, das Naturgeschehen wirklich eindeutig zu bestimmen. (…) Naturwissenschaft treiben, heißt die Spielregeln der eindeutigen Bestimmbarkeit einhalten, sonst nichts.“



Rekonstruktionen pension naturwissenschaftlich diskutabel sein soll, muß sie experimentell nachweisbar oder bestreitbar sein.“ (Ebd., 7 bzw. 9; Hervorhebung i.O., T. E.)

Wie gezeigt, wendet sich Plessner keineswegs gegen die Behauptung einer auf den „Zug nach Synthese und ganzheitlicher Bildung“ (ebd., 2; Hervorhebung i.O., T. E.) gestützten qualitativen Autonomie des Lebendigen gegenüber Unbelebtem. Dass Lebewesen nicht in der Summe ihrer messbaren Eigenschaften aufgehen, sondern in der Anschauung als Träger ihrer Eigenschaften mit erscheinen – das Phänomen der „Verselbständigung des Verhaltens gegenüber der Substanz“ (Weingarten 2006a, 77) –, wird von Plessner mitnichten als ontologische Spekulation disqualifiziert. Er hebt im Gegenteil hervor, die „Darstellung qualitativer Differenzierung nach quantitativen Funktionen“ (Plessner 98a, 20) sei das Forschungsziel der empirischen Biologie, „von dem wir freilich unendlich weit entfernt sind“ (ebd.). Drieschs Vitalismus ist für Plessner allerdings deshalb im Ansatz verfehlt, weil er in der Anstrengung, die Materialität lebendiger Strukturen anzugeben, einen Kategorienfehler begeht. Auf der Ebene der extensiven Mannigfaltigkeit physischer Körper (Natur) gilt naturgesetzlich eindeutige Bestimmtheit. Um nun für die Nichtrelativierbarkeit von Leben auf Natur votieren zu können, lässt sich Driesch jedoch zu der Annahme einer Korrelation zwischen extensiver und intensiver Mannigfaltigkeit hinreißen: Mag auch die physikalische Ordnung, in der sich lebendige Körper als natürliche Körper bewegen, eindeutig bestimmt sein – bei Driesch verdankt sie sich dem zum Trotz eines ordnenden Faktors, der „selbst nicht mehr empirisch erforscht werden“ (Weingarten 2006a, 77) kann, sondern seinerseits die physikalische Ordnung „hat“ (ebd.). Mit diesen Ausführungen vollzieht Driesch nun aber nicht, wie von ihm beanprucht, eine naturphilosophische Grundlegung, sondern eine willkürliche Ontologisierung der Naturwissenschaften. Für Plessner ist eine strikte Aufgabentrennung von Naturwissenschaften und Philosophie unabdingbar: „Aus der Naturwissenschaft kann keine Wesensaussage gewonnen werden, weder die mechanistisch-materialistische noch die vitalistische Lebensdeutung. Naturwissenschaft bestimmt, aber deutet nicht. Sie ist autonom nach ihrer Regel, so wie Philosophie nach der ihrigen, was gegenseitige Beeinflussung und Förderung in der Seele des Forschers keineswegs ausschließt. Man kann Vitalist sein, und der Schreiber dieser Zeilen ist es aus philosophischen Gründen, und muß doch das Ziel der exakten Biologie anerkennen, von dem wir freilich unendlich weit entfernt sind: Darstellung qualitativer Differenzierung nach quantitativen Funktionen.“ (Plessner 98a, 9f.)

Wenn ein Wechselverhältnis natürlicher Quantitäten und lebendiger Qualitäten besteht, so darf es nicht – und hierin liegt der Schlüssel zu Plessners Vitalismuskritik0 – als Grundlage einer Theorie angesiedelt werden, die den Übergang von den Quantitäten zu den 0

Der Crux in Plessners Driesch-Rezeption – den Vitalismus zur Beschreibung der Erscheinungsweise lebendiger Qualitäten, nicht aber zur empirischen Bestimmung von Quantitäten zuzulassen – korrespondiert Eduard Mays Würdigung der Autonomie des Lebendigen als „vorwissenschaftliche Einsicht“. Siehe May 937/38, 37. Wenn Miller über Eduard May schreibt, dieser lasse Befürworter und Gegenpieler von Drieschs Vitalismus „zu ihrem Recht kommen – aber nicht im Sinne einer holistischen Theorie“ (Miller 99, 3), so berührt sich dies mit Plessners Beitrag zu der Debatte.

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Qualitäten ontologisiert. Philosophie (als System der „Erkenntnis der Qualitäten“) hat nicht in naturwissenschaftliche experimentelle Forschung bzw. Analye zu interferieren. Wie lässt sich nun Plessner zufolge eine Epistemologie der Biologie entwickeln, die „das ‚Aus-einem-Gusse-Sein‘“ (ebd., 2) der Lebenserscheinungen im Blick bewahrt, ohne die Frage nach diesem Phänomen in empirische Erklärungszusammenhänge hineinzutragen? Es ist bezeichnend für die frühe Etappe der Plessnerschen Naturphilosophie, dass sich das Problem für Plessner am „Tatbestand der Person“ (ebd.) als Gegenstand „der medizinischen Individualitätsforschung“ (ebd.) festmacht. Definiert Plessner die Person als „diejenige Individualität, (…) deren besondere Merkmale in einem verständlichen Einheitszusammenhang stehen“ (ebd.)2, so zielt er auf eine phänomenologisch informierte Psychiatrie. Am Paradigma der von Scheler, aber auch Kurt Schneider und Wilhelm Haas etablierten „Wesenstypus-Phänomenologie“ (ebd., 22) erläutert Plessner, dass die „Reihe der Verkettung körperlicher Prozesse“ (ebd., 2) mit einer „Reihe des Geschehens durch sinnvoll einsichtige Motivation“ (ebd.) korreliert. Anders als in der vitalistischen Biologie Drieschs hat diese Korrelation jedoch keinen ontologischen, sondern einen phänomenologischen Status: Sie hält die Beschreibung der Seinsstrukturen getrennt von der Frage nach Sinnstrukturen, wie sie einem Bewusstsein erscheinen. Hier kommt ein Stichwort ins Spiel, das in der späteren Konfrontation Plessners mit dem Denken Georges Canguilhems von eminentem Rang sein wird – der Begriff der Klinik: „Theoretisch gehört Vitalismus in die Philosophie, nicht in die Naturwissenschaft, nicht in die Psychologie, da er ebenso wie sein Gegensatz, der Mechanismus, durch Tatsachen weder bewiesen noch widerlegt werden kann. (…) Vitalismus als praktische Überzeugung aber ist Sache des Arztes am Krankenbett, der im Patienten Objekt der Natur und Subjekt eines Geistes, eines Charakters, kurz, eine Person intuitiv zu erfassen und zu behandeln vermag, mit der Wissenschaft, die ewig wechselt und wächst, mit der Klugheit des Herzens, die ewig bleibt.“ (Ebd., 26)

Für die Zwecke der vorliegenden Studie sind drei Punkte von Interesse. Zum einen Plessners Anliegen, den Widerstreit von Vitalismus und Mechanismus zu phänomenologisieren, d.h. als epistemologischen Konflikt einzuklammern. Die Phänomenologie bildet für Plessner das einzig adäquate Terrain, auf dem nach der Evidenz der Qualitäten, die natürliche und in Sonderheit lebendige Körper aufweisen, gefragt werden kann. Zweitens ist bemerkenswert, dass Plessner den Antagonismus von Mechanismus und Vitalismus mit einer strukturellen Ambivalenz in Verbindung bringt, wonach gewisse Entitäten in der Anschauung zugleich als „Objekt der Natur und Subjekt eines Geistes“ vorkommen, aber eine „Nichtüberführbarkeit“ dieser Strukturmomente preisgeben. Und drittens ist es erhellend, wenn Plessner auf diese Schwierigkeit, die er durch seine phänomenologische Umdeutung des Vitalismus entdeckt, mit einer Abhebung von Analyse und Synthese, Sachverhalten und Werten, Ontologie und Phänomenologie, Naturwissenschaft und Philosophie, kurz: mit einem Primat der Klinik reagiert. Wenn sich Plessner für den Abzug des Vitalismus aus dem wissenschaftlichen Wissen und gleichzeitig für seine Rolle als pragmatische Haltung in der Klinik stark macht, so kann man festhalten, dass der Gedankengang des Vitalismus-Aufsatzes den Konflikt  2

Plessner 98a, 20. Ebd.

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zwischen Leben und Wissen noch keiner überzeugenden Lösung zuführt. Um eine qualitative Differenz zwischen Natur und Leben sowie diejenige Struktur stützen zu können, in der Leben Gegenstand wissenschaftlichen Wissens ist, war es vielmehr nötig, eine Grundlagentheorie des Lebendigen zu elaborieren. Den Initialschritt dazu hatte Plessner implizit schon getan: Er beruht auf der Einsicht in den „teils seins-, teils sinngesetzlich bedingte[n]“ (ebd., 2) Charakter lebendiger Erscheinungen.

2. Die methodische Öffnung zu Phänomenologie und Hermeneutik Kritische Rückfragen an Plessners Intervention für einen Primat der Klinik ließen in der Klinischen Wochenschrift nicht lange auf sich warten. Es war der promovierte Mediziner und in Heidelberg bei Windelband philosophisch ausgebildete Viktor von Weizsäcker, der in der ersten Nummer des Jahres 923 Plessners „scholastische Problemverteilung auf Naturwissenschaft, Philosophie und ärztliche Praxis“ (998b, 39; Hervorhebung i.O., T. E.) angriff. Obwohl Plessner Drieschs Aporie einer „vitalistische[n] Theorie biologischer Erscheinungen“ (ebd., 36) nicht iteriere, bleibe er dabei stehen, „den Widerspruch zwischen der originalen Produktivität des Lebens und dem eindeutig bestimmenden Gesetz der Naturwissenschaft in die Philosophie [zu] verschieben“ (ebd.). Weizsäcker behauptet, dass der von Plessner valorisierte Begriff der Person äquivok ist. Definiere man den Begriff der Person mit (dem frühen) Plessner als „diejenige Individualität, deren besondere Merkmale in einem verständlichen Einheitszusammenhange stehen“3, so sei dieses Konzept als ein „metaphysischer Seinsbegriff“ (von Weizsäcker 998b, 36) bestimmt, nicht aber als „die Sachlichkeit eben einer Lebenslage“ (ebd.). Wenn Weizsäcker anmerkt, „die Person des Kranken“ (ebd.) und der „Personalbegriff“ (ebd.) verhielten sich zueinander „wie Wirklichkeit und Wissen“ (ebd.), so lautet sein Hauptvorwurf gegen Plessner, die Differenz von Nominalismus und Realismus auszuhöhlen. In seinem Bemühen, der methodisch kontrollierten Wissenschaftlichkeit des Wissens ein vorwissenschaftliches Anschauungs-Wissen der Klinik gegenüber zu stellen, versuche Plessner vergeblich, das Phänomen des Lebens für das Wissen zu retten. Der Begriff der Person, der aus dieser Verlagerung des Wissensproblems hervorgeht, sei ein Konstrukt, dem die klinischen Realitäten nicht entsprechen. 3 

Plessner 98a, 2. Diese Definition zitiert von Weizsäcker 998b, 363. Ebd., 36: „Eine Wissenschaft, die Sätze enthielte, welche eine richtige ärztliche Handlung hervorbringen müssen, gibt es nicht – dies liegt im Begriff, dass die ärztliche Handlung Wissenschaft ‚anwendet‘, nicht umgekehrt etwa die Wissenschaft ärztliche Handlung erzeugt.“ Weizsäcker spricht Plessner dahingehend Meriten zu, Drieschs Konfusion phänomenologischer und ontologischer Geltungsansprüche kritisch erkannt und umgangen zu haben; zugleich jedoch muss aus Weizsäckers Sicht jedes Vorhaben, der vitalistischen Intuition Raum innerhalb eines (dann zwar nicht analytisch operierenden, wohl aber synthetisch erfassenden) medizinischen Wissens zu geben, als Halbheit erscheinen. Es scheint aber gerade die Pointe der Bemühungen Plessners zu sein, ein „Grenzgebiet der psychophysischen Indifferenz erkenntnistheoretisch zu begründen und in das System der Wissenschaften einzubauen“ (Plessner 98b 0). Siehe ebd.: „Den Schichten und Komplexionsstufen der Wirklichkeit, die wahrnehmungsobjektiv, berechnungsobjektiv im Umfang der ganzen Natur und verständnisobjektiv im engsten Umfang der mitmensch-

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Zwar hat Plessner in seiner Replik auf Weizsäcker sein voraussetzungsreiches Konzept der Person in Schutz genommen. Weizsäckers Kommentar spürt jedoch bei Plessner eine Inkonsistenz auf, die dessen Entwurf einer „teils seins-, teils sinngesetzlichen“ Konstitution des Lebendigen von Innen her heimsucht: Plessner fehlt ein fundamentum in re, eine Dinglichkeit, an der Natur und Leben realiter als ineinander nicht überführbare Aspekte zusammen auftreten. Sein Anspruch, durch den Primat der Klinik die „Objektivität der Sinnesqualitäten“ (Plessner 2003f., 30) auszuzeichnen, entbehrt vorläufig noch eines „Rückhalts an der Wirklichkeit“ (Mitscherlich 2007, 77) der Gegenstände6. Auf dem Hintergrund dieser Diskussion wird der neue Einsatz, den Plessner in den Stufen des Organischen macht, sichtbar. Wie ist es möglich, dass einige Körper „erscheinungsmäßig“ (Plessner 97, 99) eine spezifische Selbstintegration aufweisen und zugleich – als physische Körper – dem Prinzip der eindeutigen Bestimmtheit unterliegen? So wenig der Naturaspekt (die physische Materialität) gegenüber der Eigengesetzlichkeit des Lebens abkünftig ist, so wenig ist der Lebensaspekt (als ein phänomenaler Sachverhalt, d.h. als Erscheinung) auf Natur abbaubar. Als maßgeblich kristallisiert sich heraus, dass Plessner die Frage nach der Abhebung des Lebens- vom Naturbegriff mit einer Reformulierung des phänomenologischen Intentionalitätsproblems verknüpft: Ihn interessiert die Gegebenheitsweise von Objekten für ein auf diese Objekte gerichtetes Bewusstsein, und zwar unter dem Aspekt, dass die Objekte nicht auf die binäre



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lichen Natur ist, entsprechen Funktionsstufen des Subjekts als eigentümliche Voraussetzungen ihrer jeweiligen Gegebenheit.“ Zur philosophischen Verortung Weizsäckers siehe Hagner 2006, 3–336; zum systematischen Vergleich zwischen Plessner und Weizsäcker siehe Rasini 2008a. Plessner 98b, 9: „(…), so waren wir uns durchaus des von Herrn v. Weizsäcker bemerkten Umstands bewusst, dass in dieser Bestimmung logische, erkenntnistheoretische und naturphilosophische (doch nicht eigentlich metaphysische) Funktionen verwandt werden. Ist das aber methodisch unzulässig? Keineswegs. Im Sinne der einfachen Gegebenheit – ohne Anspruch auf metaphysische Entscheidungen – ist die charakteristische Art lebendigen Vorkommens, die wir an den Mitmenschen, im Unterschied zu Tier und Pflanze, beobachten, nur unter Zuhilfenahme sehr verschiedenartiger, dem Erkenntnissubjekt zugehörender Funktionen zu fassen.“ Schon Josef König vertritt in seinem Briefessay zu Plessners Einheit der Sinne die Ansicht, Plessners Argumente für die „Umklappbarkeit der physikalischen Quantitätsansicht in die bewußtseinsimmanente qualitative Ansicht“ könnten nicht überzeugen. Siehe König/Plessner 99, 23. In der Einheit der Sinne ringt Plessner um eine Konstruktion, die, so versteht es König, zeigt, „dass das intentionale Verhältnis [von Subjekt und Objekt, Anm. T. E.] eine in sich selbst gegensinnige (umklappbare, ineinander umklappbare) Verbindung einer physischen und einer psychischen Komponente sein soll“ (ebd., 23). Plessners Leitidee gilt den Sinnesqualitäten als Modi, welche die Wahrnehmung von Phänomenen als physische oder psychische Phänomene ermöglichen, sich selbst aber der Alternative physischer vs. psychischer Konstitution entziehen. An ihnen vollziehe sich vielmehr „psychophysische Indifferenz“ – das „Ineinanderumklappen“ von Außen- und Innenaspekten. König zeigt mit guten Gründen, dass Plessner bei dem „Problem der Möglichkeit des sich-Herausdrehens des Blicks aus S in B [Sein in Bewusstsein, Anm. T. E.]“ (ebd., 23) so lange „zu stark an dem Bild Husserls orientiert“ (ebd., 227) bleibe, so lange er keine Grundlagentheorie der Gegenstände sinnlicher Wahrnehmung entwickle.

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Alternative, entweder physisch oder psychisch konstituiert zu sein, gebracht werden können7. Was es systematisch bedeuten könnte, die Phänomenologie in eine Philosophie einzubeziehen, die nach der genuinen Differenz zwischen Natur und Leben fragt, hat Plessner exemplarisch in seinem ca. 99 ausgearbeiteten Text Lebensphilosophie und Phänomenologie (Plessner 200b) reflektiert. Indem Plessner auf das nicht abgeschlossene, ja kaum begonnene „Gespräch“ (ebd., 23) zwischen Dilthey und Husserl aufmerksam macht – ein Gespräch, „auf dessen Fortsetzung freilich man heute noch wartet“ (ebd.) –, rekonstruiert er eine unbemerkte Affinität zwischen Diltheys Projekt einer Hermeneutik des Lebens und Husserls Phänomenologie als neuer Philosophie: Im Gegenzug zu Kants kopernikanischer Wende habe Husserl „die natürliche Evidenz des Phänomenzusammenhangs“ (ebd., 2) anerkannt und das „Vertrauen zu ihr [der natürlichen Evidenz, T. E.] als methodische Richtlinie hingenommen“ (ebd.). Husserl sei es darauf angekommen, „die originär gebenden Anschauungen im Erleben (…) wiederzugewinnen und freizulegen“ (ebd.), also „‚zu den Sachen selbst‘“ (ebd., 26) vorzustoßen. Dieser Anspruch habe einen Zugang eröffnet, transzendental zu denken, aber deskriptiv zu arbeiten8, also „offen und suchend unter wechselnden Horizonten“ (ebd., 27) die Ermöglichungsbedingungen „originärer Anschauung“ (ebd., 26) zu nominieren. Gemessen an diesem erklärten Ziel sei Husserls „Weg zum transzendentalen Idealismus“ (ebd., 2), den er spätestens seit den Cartesianischen Meditationen (929) eingeschlagen habe, als „um so merkwürdiger“ (ebd.) einzustufen: Offenbar habe Husserl die „Undisziplinierbarkeit und Offenheit phänomenologischer Haltung (…) selbst nicht durchschaut“ (ebd.). Wie Plessner herausstreicht, weist Husserls phänomenologische Fragestellung nach den „originär gebenden Anschauungen im Erleben“ eine unausgeführte Parallele zu Diltheys Hermeneutik auf: Diltheys „Programm“ (ebd., 239) sei es doch gerade, in den „Erscheinungen menschlichen Lebens, gewollt oder ungewollt“ (ebd.), einen Ausdruckscharakter zu erfassen. Diese Ausdrücklichkeit der Erscheinungen selbst werde durch den hermeneutischen Prozess auf Seiten der Subjekte erschließbar. Indem Dilthey „Leben, Ausdruck, Verstehen“ (ebd., 23) zusammendenke, gelange er zu folgender Position: „Im Medium ihrer eigenen Geschichte sind Subjekt und Objekt handelnd und leidend in Mitteilung und Verständnis einander verwandt und füreinander durchsichtig“ (ebd.). Im Anschluss an Plessner muss man darauf bestehen, dass die philosophisch relevante Aufgabe lautet, die Vorhaben Diltheys und Husserls innovativ zu einer neuen Systematik zu verknüpfen. Während bei Dilthey „der Erkenntnissubjekt und -objekt umfassende Le7

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Plessner 98b, 7: „Ein Beispiel für viele: die Farben. Ob auch der physikalische Optiker dem sichtbaren Spektrum Nuance für Nuance bestimmte Wellenlängen kontinuierlich entsprechen lässt, es bleibt damit immer noch unerklärt, warum einem Kontinuum von rein quantitativ ab- bzw. zunehmenden Werten ein Kontinuum rein qualitativ diskreter Werte, Farben im Sinne des Erlebens entsprechen. (…) Zum Erscheinen, zum Aussehen gehört allerdings ein Subjekt, dem etwas erscheint. Und das Subjekt muß aus Fleisch und Blut, mit Sinnesorganen und Nerven und Gehirn begabt sein, wenn ihm Materie erscheinen soll.“ Siehe Plessner 200b, 26f.: „Ihr [der „philosophischen Besinnung“, T. E.] Ziel ist demnach transzendental, ihre Arbeit deskriptiv, nicht systematisch…“

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benszusammenhang (…) gleichermaßen die Bedingungen der Möglichkeit und Wirklichkeit der Gegenstände“ (ebd., 236) liefert, entwickelt Husserl ingeniöse Analysen dafür, wie die verschiedenen Konstitutionsaktivitäten des Bewusstseins erst so etwas wie das Verstehen von „Welt“ ermöglichen. Dilthey rekonstruiert vom Begriff des Lebens her die Bedingungen der Gegenstände, die wir verstehen – er denkt den Ausdruckscharakter der geschichtlichen Welt. Husserl rekonstruiert vom Begriff der Intentionalität her die Bedingungen der Erkenntnis von Gegenständen, insofern diese Korrelate unserer Bewusstseinsvollzüge sind – er denkt eine transzendentale Subjektivität. Mit Nachdruck ist daher für Plessners eigenständiges, Dilthey und Husserl integrierendes Programm festzuhalten: Gefordert ist eine Theorie, die mit Dilthey eine Konstitution der Dinge selbst in Anschlag bringt, wonach diese sich von sich selbst her zeigen, die aber im gleichen Zug mit Husserl auf den konstituierenden Leistungen einer intentionalen Subjektivität insistiert. Zum besseren Verständnis dieser eigentümlichen wie systematisch wegweisenden Doppelausrichtung seiner Philosophie spricht Plessner auch von der Notwendigkeit, die Korrelation von „Komplexionsstufen der Wirklichkeit“ (98b, 9) mit bestimmten „Funktionsstufen des Subjekts als eigentümliche Voraussetzungen ihrer jeweiligen Gegebenheit“ (ebd.)9 zu klären20. Damit schließt sich Plessner nicht dem Manöver Husserls an, die „Transgredienz“ (Husserl) – also die Struktur eines interessenfreien, vorurteilslosen, auf die Erfassung der Objekte selbst gerichteten Bewusstseins – in einem transzendentalen cogito zu verankern. Dass wir (qua Bewusstsein) etwas als etwas vermeinen, kann im Sinne eines Erfahrungs- bzw. Weltverhaltens plausibel gemacht und muss nicht als Erkenntnisverhalten bestimmt werden2. Man kann bereits ermessen, dass Plessner an einer Philosophie interessiert ist, die in doppelter Beziehung von Bedingungen der Möglichkeit handelt: Sie befasst sich zum einen mit der Bedingung, die einem Gegenstand selbst innewohnt, indem sie ihm ermöglicht, als dasjenige zu erscheinen, was er seinem Sein nach ist. Und Plessners Form der Philosophie achtet zum anderen auf die Bedingung, die es einem Subjekt ermöglicht, einen Gegenstand als einen sich ausdrückenden, sich von sich selbst her zeigenden 9 20

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Ebd. Anders als Weizsäcker, dem die Rolle des Vitalismus in einem Kontext des Wissens nicht einleuchtet, stellt Plessner auf jenes Verhältnis des Vermeinens und der Gerichtetheit ab, in dem ein Subjekt (Bewusstsein) gegenüber den (ihm bewussten) Objekten zu stehen kommt. Im Lichte dieser phänomenologischen Konzeption der Anschauung wird auch klar, dass Plessner nicht von Weizsäckers Strategie überzeugt sein kann, den Vitalismus insgesamt von der Kategorie des Wissens zu lösen: Auch die von Weizsäcker gegen das Wissen gewendete „ärztliche Handlung“ impliziert eine Struktur des Vermeinens, die zunächst einmal phänomenologisch, d.h. in einer noetisch-noematischen Relation expliziert werden muss. Siehe Krüger 200, 906: „Es geht auch bei Plessner um das für die Lebensführung ursprüngliche Weltverhalten. Es lässt sich zwar nach ihm nicht mehr als das natürliche wertmäßig auszeichnen, wohl aber als naives Verhalten von der Reflexion unterscheiden, deren Resultate erst zum Erkenntnisprimat und angeblichem Entscheidungsdilemma zwischen Realismus und Idealismus in der dualistischen Philosophie führten. (…) Was Plessner primär an Husserl interessiert hat, ist die intentionale Transgredienzstruktur bewussten Seins, bevor dieses Sein in Produkten reflexiver Trennung thematisiert, solange also die Transgredienzstruktur gelebt wird.“ [Hervorhebung i.O., T. E.]

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Gegenstand zu erkennen22. Um konsistent zu sein, muss Plessner in eine phänomenologische Klärung, „wie sich ein Objekt einem Subjekt darbietet“ (Beaufort 2000, 0) bzw. der „Akte, in denen Objekte gegeben sind“ (ebd.), einsteigen. Priorität hat darum eine Theorie erscheinender Dinge, eine „Wendung zum Objekt“ (Haucke 2000, 28)23 mit der Pointe, dass kein ursprünglich-synthetisches Bewusstsein a priori die Objektivität des Objekts garantiert, sondern umgekehrt die Erscheinungsweise des Objekts Aufschluss über die Konstitution des wahrnehmenden Subjekts gewährt2. In aller Deutlichkeit hat Plessner untermauert, in den Stufen eine „philosophische Hermeneutik“ (Plessner 97, 23) vorlegen zu wollen, die „auf Grund einer Philosophie des lebendigen Daseins und der mit ihm in Wesenskorrelation stehenden Schichten der Natur“ (ebd., 3) ihren Lauf nimmt. Es kann in Rücksicht auf die systematische These dieser Untersuchung nicht hoch genug veranschlagt werden, dass es Plessner damit um eine Philosophie geht, die im Stande ist, eine stringente Relation zwischen Leben und Wissen zu begründen. Worauf es unbedingt ankommt, ist der Übergang von der phänomenologischen Deskription zu einem Niveau der Theorie, auf dem man begründet sagen kann, dass Dinge, die als lebendig erscheinen, auch realiter lebendig sind. Denn es ist zu deduzieren, dass es bestimmte Körper gibt, die erstens in Raum und Zeit quantifizierbare natürliche Körper sind, zweitens der Anschauung als lebendige Dinge erscheinen (also für die Anschauung Leben indizieren), und drittens lebendig sind2. Die Diskontinuität bzw. die Seinsdiffe22

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Gesa Lindemann identifiziert diese doppelte – gegenstandstheoretische und erkenntnistheoretische – Disposition bei Plessner treffend, wenn sie von einem „Prinzip der offenen Frage“ bei Plessner schreibt. Siehe Lindemann 2008a, 23: „In die Erkenntnisrelation wird (…) ein spezifischer Freiraum für das Objekt eingebaut. Es erhält die Möglichkeit der Expressivität, d.h. die Möglichkeit, sein Erscheinen zu gestalten.“ Ebenfalls zuzustimmen ist Lindemanns Argument, Plessner konzeptualisiere einen „rational begründeten verstehenden Zugang zur Natur“ (ebd., 9), der dem „naturwissenschaftlichen Naturverständnis“ (ebd.) immer schon vorgelagert ist. In den Naturwissenschaften gilt das „Prinzip der geschlossenen Frage“ (ebd., 2), insoweit der Freiraum des Gegenstands, einige seiner Aspekte hervorzukehren, andere dem Verständnis zu entziehen, ausgeklammert wird. Vielmehr wird eine begrenzte Anzahl von Kriterien definiert, an denen ein Gegenstand zu messen ist. Plessner spricht selbst von der „Wendung zum Objekt“ in Plessner 97, 72. Siehe Haucke 2000, 30f. Jan Beaufort unterscheidet sorgfältig und nachvollziehbar zwischen „drei Problemebenen“, die Plessner mit seiner Konzeption des Wahrnehmungsdings bewältigt habe. Siehe Beaufort 2000, 8–2. In Abgrenzung zur Empirie, die sich an physikalisch-chemischen Eigenschaften lebendiger Körper orientiert, aber auch über die phänomenologische Deskription hinaus, welche indikatorische Merkmale des Lebendigen feststellt, komme bei Plessner der Naturphilosophie Priorität zu, weil sie eine Deduktion der konstitutiven Wesensmerkmale des Lebendigen leiste. (ebd., ). Beauforts Gesamtlektüre der Stufen ist neben der instruktiven Gegenüberstellung Plessners mit Merleau-Ponty vor allem deshalb bemerkenswert, weil sie argumentiert, dass Plessner eine Konzeption intermediärer, natürlich-gesellschaftlich konstituierter Realität vertrete, deren Hintergrund die „Konstitutionstheorie“ der Stufen bilde. Die Konstitution „hat aber selbst eine Bedingung: diese ist das Leben, das jeden konstituierten Rahmen sprengt. (…) Plessners Philosophie ist nicht Idealismus, sondern Lebensphilosophie“. (ebd.) Es ist interessant, dass Beaufort Plessners Konstitutionsproblem in einer Lebensphilosophie grundiert sieht, aber nicht die Frage aufwirft, ob diese Plessnersche Lebensphilosophie einer weitergehenden Fundierung, nämlich durch die exzentrische Positionalität des

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renz zwischen Natur und Leben ist absolut und lässt sich doch nur markieren, wenn man die „Rückbindung“ (Mitscherlich 2007, 80) des Lebens „an das faktische Bestehen – und d.h. an die physische Dinghaftigkeit“ (ebd.) (der Natur) „nicht abbricht“ (ebd.). Schon der methodische Initialschritt der Stufen, der nicht in medias res lebendige Dinge beschreibt, sondern danach fragt, was in der Wahrnehmung überhaupt als „Ding“ firmiert – schon dieser Initialschritt stellt einen phänomenologisch-hermeneutischen Modus her, einen Modus des Wissens, unter dessen Bedingungen es allererst möglich ist, bestimmte Dinge als lebendig wahrzunehmen und zu prädizieren. Im einleitenden Kapitel der Stufen merkt Plessner an, er ziele auf eine Theorie der „phänomenalen Natur“ (Plessner 97, 3), in deren Grenzen „die Daseinsweisen der Lebendigkeit (…) eine phänomenale Wirklichkeit ausgeprägter Art [bilden]“ (ebd., 36). Keineswegs also arbeitet Plessner mit einer Voraussetzung a priori darüber, was Leben in seinem Kontrast zur Natur sein soll: Er beschreitet vielmehr den Weg einer hermeneutischen Verkomplizierung und konfrontiert den Leser der Stufen von Anfang an mit einer ebenso frontalen wie verschachtelten Analyse der Wahrnehmung des „gewöhnlichen Wahrnehmungsdings“ (ebd., 8)26.

3. Die Doppelaspektivität der Dinge: Zum Verhältnis von Natur und Wissen Wenn der frühe Plessner Sympathien für einen „Primat der Klinik“ hegt, so deshalb, weil die klinische Konstellation Arzt-Patient einen praktischen, nicht-wissenschaftlichen Zugang zu den qualitativen Eigengesetzlichkeiten des Organischen gestattet. Auf dem Feld der methodisch kontrollierten Empirie der Biologie disqualifiziert sich der Vitalismus hingegen, indem er sich in epistemologische Selbstwidersprüche verstrickt. Es ist wichtig zu sehen, dass Plessners Primat der Klinik weiterhin dem Hauptmotiv der „Ästhesiologie“ Rechnung tragen soll, die objektive Realität lebendiger Sinnesqualitäten aufzuweisen27. Der entscheidende Blickwechsel gegenüber dem ästhesiologischen Ansatz der Einheit der Sinne besteht für Plessner in der Frage, welche Strukturbedingung(en) es auf

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Menschen, also durch die Philosophische Anthropologie, bedarf. Mit dieser These skizziert Beaufort eine Position, die – wie noch darzulegen sein wird – eher dem Grundansatz Canguilhems, weniger demjenigen Plessners gerecht wird. Anzusetzen ist also – in Plessners Terminologie gesprochen – bei räumlichen Entitäten als Gegenständen der Wahrnehmung, um an ihnen raumbedingte Konstituenten von nicht raumbedingten Konstituenten zu differenzieren. Wie Mitscherlich treffend bemerkt – und dies expliziert Plessner auch selbst – geht es darum, einem Ding „Räumlichkeit als material bedingte Daseinsweise“ (Mitscherlich 2007, 8) zu prädizieren, es zugleich aber in seiner „dinghaften Einheitsstruktur“ zu kennzeichnen: Es „zeigt sich“ im Raum eine Verweisrelation von Außen und Innen, von Eigenschaften und Eigenschaftsträger (Kern), die gerade nicht mit Räumlichkeit zusammenfällt, sondern in ihr von ihr scharf divergiert. Ein Brief an König aus dem Jahr 92 – als Plessner die Stufen noch unter dem Arbeitstitel der Kosmologie des Lebens projektiert – verdeutlicht, dass der Entwurf einer „regressiven Metaphysik“ im Raum steht, die dasjenige, was empirisch „als Inhalt“ firmiert, „als Bedingung – eines anderen, Voraussetzung“ aufdecken soll. Siehe König/Plessner 99, 72. Siehe ebd.: „Hier werden besonders die durch den kritischen Ansatz bedingten Vorläufigkeiten („Leib“ „Seele“ „Geist“ „Materie“) erläutert und die seltsame Schlußdrehung (vgl. Bügelzimmer in Remscheid) gegenüber der Ausgangsfrage: „Sind die Qualitäten objektiv? Ja Herr, die Modalitäten sind Funktionen der Objektivierung“.

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der Seite eines Gegenstands ermöglichen, so zu erscheinen, dass ihm in einer Situation der „Anschauungsimmanenz“ (König/Plessner 99, 30) die Eigenschaft zugeschrieben werden kann, lebendig zu sein, und zwar „ohne die Einheit des Blicks zu zerstören – ohne also alternative Blickstellung (äußere und Selbstwahrnehmung) zu fordern“ (ebd.). Schließlich erkennt Plessner in der auf anschaulicher Evidenz gründenden phänomenologischen Annahme, dass das „Lebendigsein“ (Plessner 97, 89) eines Körpers „mit anderen Eigenschaften desselben Körpers schon erscheinungsmäßig nicht auf eine Stufe gestellt werden kann“ (ebd.), das „Problem [um das] jede Lebenstheorie im letzten Grund allein bemüht gewesen ist“ (ebd.). Um einen angemessenen Einstieg in Plessners Stufen des Organischen zu schaffen, war es notwendig, die methodisch erforderliche Komplizierung herauszuarbeiten, die Plessner seiner neuen Beschreibung der Singularität von „Leben“ zu Grunde legt. In seiner Kritik an Driesch zeigt Plessner die philosophisch problematischen Konsequenzen eines Ansatzes auf, der – gleichsam aus einem Mangel an phänomenologischer Strenge – dort ontologisiert, wo es allein um die Deskription von Gegebenheitsweisen gehen kann28. Plessners Reaktion auf diesen Sprung besteht in einer Entdramatisierung des Lebensbegriffs: Der Auszeichnung des Lebens schaltet Plessner einen komplexen Exkurs in die Sphäre dessen vor, was er als „Wahrnehmungsding“ (Plessner 97, 8–89) und als „Doppelaspekt“ (ebd., 8) tituliert. Am Anfang steht bei Plessner in der Tat die Sphäre der anorganischen Natur, und das Phänomen des Lebens wird sich von dieser unerwartet in Betracht gezogenen Ordnung erst noch zu differenzieren, in seiner Unterschiedlichkeit unter Beweis zu stellen haben. In einem ersten Schritt ist nachzuvollziehen, wodurch sich, Plessner zufolge, ein „Wahrnehmungsding“ charakterisiert. Mit dem Begriff des Baums z.B. werde nicht die Summe der Blätter oder Äste, auch nicht „Tastdaten und Geruchsdaten“ (ebd.), sondern „eine selbständige Größe“ (ebd.) bezeichnet, der diese sinnlichen Daten als Eigenschaften attribuiert werden. Umgekehrt ist das selbständige Substrat nur vermittels „seiner“ Eigenschaften, nicht unabhängig von ihnen, präsent: „Zum Wesen dieser Struktur gehört infolgedessen, dass die sinnlich-anschaulichen Daten (…) als Eigenschaften ‚von ihm‘ in dieses Ding als mit dessen kernhafter Mitte durch und durch verbunden hineinweisen, ohne sie doch selber restlos zur Erscheinung zu bringen. Das Blatt hat das Grün an seiner Oberfläche, aber das Grün hat nicht auch umgekehrt das Blatt. In diesem Gehabtsein (was hier gleichbedeutend ist mit Gestützt- und Getragensein) spricht sich die Ab28

In zahlreichen Passagen der Stufen insistiert Plessner auf dem unbedingten Geltungsanspruch des Mechanismus, wo es um naturwissenschaftliche Objektivierungen geht. Deutlich ist dies noch im Nachtrag zur dritten Auflage der Stufen von 97. Siehe Plessner 97, 39: „Nach meiner Überzeugung sind die Zeiten des Vitalismus für immer vorbei, der – und ich denke hier in erster Linie an Driesch – das Verständnis der Lebensvorgänge mit den Mitteln physikalischchemischer Analyse für unmöglich erklärt und deshalb einen Faktor ins Spiel bringt (Entelechie), der das, was die Analyse nicht schafft, komplementiert, selbst aber jeder möglichen Analyse sich entzieht. (…) Die Forschung muß freie Bahn haben und ihr muß methodisch die Möglichkeit gelassen sein, Hindernisse mit ihren eigenen logischen Mitteln aus der Bahn zu räumen.“ Auch Mitscherlich stellt klar, dass „Plessner sich in den Stufen zum Mechanismus innerhalb der empirischen Naturwissenschaften bekennt“ (Mitscherlich 2007, 79), ohne sich „der Ideologie, die physikalische und chemische Gesetze zur Grundschicht von Wirklichkeit überhaupt hypostasiert“ (ebd.), anzuschließen.

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hängigkeit der Eigenschaft von der Kernsubstanz des Dinges, die Getragenheit im Unterschied zur Eigenständigkeit anschaulich aus. […] Was von dem Ding reell erscheint und als Baum, Tintenfaß sinnlich belegt werden kann, ist selbst nur eine von unendlich möglichen Seiten (Aspekten) dieses Dinges. Dieses Reelle ist durchaus für die Anschauung das Ding selbst –, aber von einer Seite, nicht das ganze Ding, welches reell überhaupt nie ‚auf ein Mal‘ belegbar ist. Die reell präsente Seite i m p l i z i e r t nur das ganze Ding und erscheint ihm eingelagert, obwohl weder für das ganze Ding noch für die Art und Weise des Eingelagertseins ein sinnlicher Beleg beizubringen ist.“29

Plessners Interesse gilt der Distinktion zwischen den Eigenschaften und dem „Substanzkern“ (ebd., 8) solcher Gebilde, die in alltagsweltlicher Praxis als „Dinge“ wahrgenommen werden. In der vorwissenschaftlichen Anschauung eines Phänomens haben wir den Eindruck, dass die Eigenschaften des Phänomens mit einem gleichsam „in“ diesem Phänomen befindlichen Kern korrespondieren. Sichtbar ist eine phänomenale Differenz, der zufolge Eigenschaften stets auf etwas weisen, was ihnen gegenüber selbständig ist und die Eigenschaften als Eigenschaften „hat“30. Plessner kann seine These, dass „dingkonstituierende Momente und räumliche Momente, (…) obzwar in der Anschauung von einander untrennbar“ (ebd., 8), nicht ineinander aufgehen, durchaus gegen den naturwissenschaftlichen Reduktionismus wenden. Es ist den Naturwissenschaften nämlich unbenommen, die Raumbestimmungen eines Dings physikalisch zu objektivieren. Der „absolute und prinzipielle Zwiespalt“ (Haucke 2000, 36) eines „nie erscheinenden, d.h. nie Außen werdenden Innen und eines nie Kerngehalt werdenden Außen“ (Plessner 97, 88), lässt sich seinerseits nicht räumlich lokalisieren. Dieser absolute Zwiespalt steht vielmehr für eine Sinnrelation in einer durchaus „vorwissenschaftlichen“3 Situation, nämlich in einer Situation der Anschauung: Was der Anschauung als „Eigenschaft“, d.h. als eine Äußerlichkeit erscheint, verweist auf 29 30

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ebd., 82. Dieses Zitat demonstriert sehr gut, dass Plessner eine gegenstandstheoretische Deskription einführt, die nicht von einer räumlichen Differenz zwischen Innen und Außen spricht. Ebd.: „Man mag das Ding wenden, um es herumgehen, es zerschneiden, wie man will: was sinnlich belegbar da ist, bleibt Ausschnitt aus einer selbst nicht auf ein Mal erscheinenden, trotzdem als das daseiende Ganze anschaulich mitgegebenen Struktur.“ Man könnte sagen, dass in Plessners phänomenologischer Beschreibungsform die Ontologie der Naturwissenschaft vorgelagert ist. Denn die Naturwissenschaften haben zwar Objekte zum Gegenstand, die sie als res extensa behandeln, jedoch erscheinen diese Dinge – von der alltäglichen Anschauung her besehen – zunächst als „Dinge“. Die empirischen Wissenschaften überspringen in ihrem methodischen Zugriff (zu Recht und notwendig) die vorwissenschaftliche Anschauung, um zu empirisch kontrollierbarem Wissen über die selektierten Gegenstände zu kommen. Dies schließt aber nicht aus, dass diese Gegenstände auch auf andere, nicht-wissenschaftliche Art „angeschaut“ werden können. Umgekehrt muss eine Theorie über die Erscheinungsweise von Dingen in der Wahrnehmung nicht in Geltung bringen, dass bestimmte Dinge mögliche Gegenstände für wissenschaftliche Objektivierungen sind, denn es gibt keinen Grund, diese wissenschaftlichen Objektivierungen als primär anzusetzen. Dieselben Dinge, die als Gegenstände wissenschaftlicher Erkenntnis definiert und auf ihre Quantitäten reduziert werden, könnten jederzeit auch als Objekte ästhetischer Erfahrung etc. behandelt werden. Man muss also nicht die wissenschaftliche Perspektive auf Physisches berücksichtigen, um zu beschreiben, wie Dinge in ihrer Erscheinungsweise für die Wahrnehmung konstituiert sind. Sehr wohl aber muss die wissenschaftliche Perspektive eingestehen, dass ihr strukturell eine vorwissenschaftliche Form von Dinganschauung vorangeht und dass der wissenschaftli-



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seine Abhängigkeit von etwas, was nicht selbst Eigenschaft ist, sondern Eigenschaften „hat“32. Um die Hauptsache zu benennen: Eine Relation zweier auseinander fallender, „nicht ineinander überführbare[r] Aspekte“ (Plessner 97, 80), welche die „anschauliche Einheit eines Gegenstandes“ (ebd.) keineswegs sprengen, sondern konstituieren, bezeichnet Plessner als „Doppelaspekt“ (ebd. und passim). Wohlgemerkt, Plessner diskutiert den Doppelaspekt „ a n r ä u m l i c h e n G e g e n s t ä n d e n in der Anschauung“ (ebd., 8) lange bevor er einen Zusammenhang zwischen dem Doppelaspekt und der Struktur des Lebendigen aufmacht. Die Frage nach dem Leben wird von Plessner höchst absichtsvoll hinausgezögert und aus seiner Hypothese, was es einem Etwas ermöglicht, als „Ding“ zur Erscheinung zu kommen, heraus gehalten33. Man sollte diesen methodischen Grundzug der Stufen nicht unterschätzen. Indem Plessner mit einer Strukturexplikation von „Dingen“ bzw. Dinghaftigkeit anhebt und aufklärt, welches in der weit gefassten Ordnung der anorganischen Natur die Bedingungen dafür sind, dass etwas als Ding erscheint, gibt er seiner Position eine noch schärfere kritische Spitze gegen den Vitalismus3. Denn Plessner kann nun zeigen, dass schon für

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che Blick von dieser Anschauungsform aus methodischen Gründen abstrahiert. Dazu Haucke 2000, 37. Siehe Grünewald 993, 277: „Das letztere [Plessners These, jedwedes Ding erscheine kraft eines „ontologischen Doppelaspekts“ (Grünewald), T. E.] soll heißen, daß ein jedes Ding nur aufgrund einer Relation zwischen Substanz und Eigenschaft, aufgrund des Verhältnisses von Subsistenz und Inhärenz erscheint, wobei jedoch nur (genauer: allenfalls) die Eigenschaften ‚reell‘ (d.i. durch Empfindungsinhalte repräsentiert) erscheinen, also in einem unmittelbaren Sinne wahrnehmbar sind, während ihr Korrelat, das subsistierende Substrat, in der Erfahrung immer ‚nur‘ vorausgesetzt wird: als nie erscheinender Einheitspol, als Quasi-‚Innerlichkeit‘, als ‚Kern‘, ohne den Erfahrung als Erfahrung nicht möglich ist (und also auch nicht Erscheinung von Gegenständen als Gegenständen). So wie der ‚Kern‘ niemals reell erfahrbar ist, so natürlich auch nicht die (unräumlichen) prinzipiell divergierenden Beziehungen einerseits des Kerns zu seinen in Erscheinung tretenden Bestimmtheiten (Subsistenz), andererseits der Bestimmtheiten zum Kern (Inhärenz).“ [Hervorhebungen i.O., T. E.] Plessner 97, 89: „Wesenscharaktere des Körperdings bleiben die gleichen, ob es sich um nichtbelebte oder belebte Dinge handelt. Frosch oder Palme unterliegen denselben Erscheinungsgesetzlichkeiten der Dinglichkeit (von der breiten Zone durchgehender physikalischer Gemeinsamkeiten zu schweigen) wie Stein oder Schuh.“ Man darf nicht vergessen, dass Plessner die ersten Seiten seines Buches darauf verwendet, das „erlösende Wort“ des Lebens als „das dämonisch Spielende, unbewusst Schöpferische“, als das philosophisch-ästhetische Zeichen der Zeit heraufzubeschwören und auseinanderzunehmen. ebd., 3. Die Lebensphilosophie ist aber so lange nicht entzaubert, bis die Grundlagen für eine Philosophie des lebendigen Daseins umgearbeitet, bis neue methodische Beziehungen zwischen Naturphilosophie, Hermeneutik und Phänomenologie fundiert sind. Plessners systematische Reaktion auf die Lebensphilosophie und auf das Leben als Problem von Philosophie überhaupt scheint mir in gewisser Hinsicht vorbildlich für seinen interpretatorischen Umgang mit Einzelautoren (z.B. Driesch) zu sein: Plessner arbeitet die von ihm im Ganzen kritisierte Position von innen heraus um, bis neue Ausgangsunterscheidungen hervorgebracht sind, an denen gemessen die in Rede stehende Position dann unplausibel und transformationsbedürftig erscheint. Diesem Anspruch folgt Plessners Theorie des Wahrnehmungsdings: Er arbeitet phänomenologisch nachvollziehbar eine Struktur heraus, die zunächst nur für Dinge (nicht für Leben) gelten soll. Indem er im weiteren argumentativen Verlauf den Begriff des Dings in die Definition des Lebendigen einbaut, zwingt Plessner seine potenziellen

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anorganische Gebilde charakteristisch ist, was den Vitalisten zufolge das Singuläre der Organismen darstellt: Auch unbelebte Dinge sind, eben weil sie Dinge sind, mehr als die Summe ihrer Teile. Sie sind, wie Plessner mit Referenz auf die zeitgenössische Diskussion sagt, „Gestalten“ (ebd., 90ff.). Plessner unterschreibt eine zentrale Einsicht der Gestalttheorie, die in den 20er Jahren etwa von Wolfgang Köhler, Max Wertheimer und Kurt Koffka auf breiter Linie vertreten wurde: Dieser Einsicht zufolge sind Gestalten zwar in materieller Hinsicht summativ zusammengesetzt, weisen aber als Erscheinungen eine „innere Geschlossenheit“ auf, eine Differenz, die nicht auf die Summe der materiellen Komponenten zurückführbar ist3. Die Einheitlichkeit des Dings bleibt unabhängig von Änderungen in der materiellen Konstitution, etwa vom Wegfall einer oder mehrerer funktionaler Glieder, gewahrt. Bevor beurteilt werden kann, was „lebendig“ ist, muss Klarheit über zwei Fragen herrschen. Zunächst ist es wichtig zu wissen, „was“ es einem Etwas ermöglicht, als ein „Ding“ zu erscheinen. Diese Frage geht in einem transzendentalen Sinn auf die Bedingungen der Möglichkeit dafür, dass etwas in der Weise gegeben ist, in der es tatsächlich gegeben ist. Und zweitens wirft die Behauptung, etwas erscheine als etwas, die Frage auf, wem etwas als etwas erscheint36. Hier ist eine Präzisierung vonnöten. Obwohl Plessner seine Argumentation auf die Bedingungen der Möglichkeit dafür anlegt, dass etwas in der Anschauung als ein Ding erscheint, geht es ihm nicht – wie der Transzendentalphilosophie und der Phänomenologie transzendentalistischer Provenienz – um Erkenntnisphilosophie. Plessners transzendentale Orientierung soll nicht klären, wie synthetische Urteile a priori möglich sind. Die Unternehmungen Kants und Husserls bemühten sich darum, subjektive Urteile über die Erscheinungswelt zu universalisieren, also in ihrer Objektivität und ihrem Wahrheitsanspruch zu legitimieren.

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Kontrahenten zu zwei problematischen Thesen: Um Plessner zu widersprechen, müsste man entweder leugnen, dass ein „Lebendiges“ überhaupt ein „Ding“ sei (was aber dann?), oder man müsste behaupten, Plessners Beschreibung, was ein „Ding“ ist, sei nicht zutreffend (woraus wiederum nicht folgt, dass Dinghaftigkeit nicht konstitutiv für Lebendiges ist). In jedem Fall geht Plessner insofern radikal vor, als dass er an den Wurzeln einer Position ansetzt, von der er sich abzugrenzen versucht. Ebd., 90. „In der Erscheinung ist die Gesamtgestalt das Primäre, erst der isolierenden Abstraktion wird der Aufbau aus Komponenten bewusst. Ganz bekannt ist aus der Sphäre musikalischer Gebilde, Akkorde und Melodien, oder des mimischen Ausdruckes, daß einer rein und-haften Veränderung im Aufbau des Gebildes eine ganzheitliche Veränderung in seiner erlebten Erscheinung entspricht. Immer zeigt sich der Wahrnehmung ein Phänomen von ursprünglich besonderer Note, das trotz größerer oder geringerer Ähnlichkeit mit anderen Phänomenen seine innere Geschlossenheit nicht aufgibt.“ Siehe auch ebd., 9: „Köhler zeigt an Beispielen etwa elektrischer oder chemischer Vorgänge und Zustände, daß es derart übersummenhafte Gebilde und Wiederherstellungen solcher Gebilde nach Eingriffen im Anorganischen gibt, ja daß ihr Vorkommen gar nichts Außergewöhnliches ist. Nimmt man in einem Dreierkondensatorsystem, dessen Kugeln miteinander leitend verbunden sind, von einer der drei Kugelkondensatoren ein Drittel der Gesamtelektrizitätsmenge weg, so bleibt die Ladungsgestalt mit zwei Drittel der ursprünglichen Elekrizitätsmenge erhalten. Man könnte von einer physikalischen Restitution sprechen. Wiederherstellung eines chemischen Gleichgewichts, einer Tropfenform u.ä. besagen das Gleiche.“ Siehe Beaufort 2000, 3; siehe auch Haucke 2000, 9f.

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Demgegenüber hat Plessners Begriff der Anschauung die Bedeutung einer vorwissenschaftlichen, gleichsam alltagsweltlich-spontanen Sichtweise auf „Gegebenes“. Den Typus von Gegenstandsreferenz, den Plessner für entscheidend hält, kann man sich zunächst weitläufig als innerweltliche Begegnung vorstellen, die Anschauende mit ihnen gegebenen und erscheinenden „Dingen“ machen. Spätestens an diesem Punkt der argumentativen Rekonstruktion empfiehlt es sich, zwei Begriffe voneinander abzuheben, die Plessner selbst nicht durchgängig mit einer formalen Unterscheidung gekennzeichnet hat: die Begriffe „Wahrnehmung“ und „Anschauung“. Denn offensichtlich ist in der Konfrontation mit dem, was Plessner „Wahrnehmungsding“ nennt, weniger die Wahrnehmung als die Anschauung ausschlaggebend. Wie Jan Beaufort zeigt, spielt Plessner in Anlehnung an Husserls Phänomenologie das enge Verhältnis zwischen Anschauung und Intuition aus37. Wenn die Strukturgesetzlichkeit für Dingerscheinungen „durch zentralen Kerngehalt-eigenschaftstragende Seiten bestimmt ist“ (ebd., 88), so muss man diese Struktur stets dahingehend spezifizieren, dass sie buchstäblich „im Blick steht“, dass sich schon immer eine „doppelte Blickführung“ (ebd., 83) vollzogen haben muss, um des Bruchs von Innen und Außen in seiner Absolutheit überhaupt ansichtig werden zu können. Diese „doppelt gerichtete[n] Blickgebung“ (ebd.) ist jedoch nicht identisch mit sinnlicher Wahrnehmung, verstanden als Rezeptivität für „raumzeitlich erscheinende[n] Welt“ (Beaufort 2000, 3). Entscheidend ist, dass es sich um eine „durchgängige synthetische (und eben nicht analytische) Einstellung in der Perspektive des ‚Anschauenden‘“ (Breun 2006, 36) handelt: „Von der Wahrnehmung ausgehend, überschreitet Anschauung deren Grenzen. Während Wahrnehmung auf Wirklichkeit eindimensional, aus einer Blickrichtung, unter einem Aspekt zugreift, zeigt sich der Anschauung ihre doppelaspektive Konstitution.“ (Beaufort 2000, 3)

Dinge, die „kraft des Doppelaspekts“ (Plessner 97, 89) erscheinen, sind somit bei Plessner implizit als Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung und zugleich als solche Gebilde gefasst, die strukturell allein einer phänomenologischen Deskription erschließbar sind. Ein Etwas, das als „Ding“ erscheint, ist im materiell-physischen Sinne immer ein Körper, eine res extensa, die sich in Raum und Zeit datieren lässt und deren Eigenschaften empirisch quantifizierbar sind. Im selben Zug jedoch kann die strukturelle Bedingung dafür, dass dieses Etwas die Erscheinungsweise eines Dings aufweist – und diese Bedingung ist eben seine „Doppelaspektivität“ –, ihrerseits nicht empirisch ermittelt werden38. Die 37

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Siehe folgendes Plessner-Zitat aus der Einheit der Sinne, zitiert nach Beaufort 2000, 0f.: „Intuition ist ein offenes, hinnehmendes, zur Sache ohne viel Umstände, ohne die trübenden und abblassenden Zonen des Grübelns, Vergleichens, Abwägens sich aufschwingendes Verhalten. Die Sinne sind geöffnet, um widerstandslos die Fülle des Seins eindringen zu lassen. Der Mensch vertraut dem natürlichen Licht seiner Vernunft nicht weniger wie der Evidenz seines Gewissens und seines Empfindens. (…) Rein werden in der Anschauung ist sein Ziel, Mittel dazu das Erkraften des durch alle Sinne, durch Instinkt, Gefühl, und Gewissen hindurchtretenden geistigen Blickstrahls.“ Ebd., 87: „Substantielle Kernigkeit, wesenskorrelativ mit Eigenschaftlichkeit der sinnlichen und formalen Dingbestimmtheiten, ist zunächst nur eine besondere Struktur der vollen Dingerscheinung. Sie liegt nicht im reellen Bild der Dingerscheinung und kann überhaupt in keinem möglicherweise reellen Erscheinungsbilde des Dinges aufgewiesen bzw. durch bestimmte gestalthafte Züge gedeckt werden. Allein als Rückhalt und Hintergrund gibt sie den Richtpunkt für die Transgredienz der mög-

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Ebenen der physischen Materialität und der anschaulich präsenten Erscheinungsweise des „Wahrnehmungsdings“ werden von Plessner gegeneinander abgehoben und in ihrer Differenz betont39. Um dort, wo Aspekte in diametralen Gegensatz zueinander treten, Einheit ausmachen zu können, bedarf es einer „konvergente[n] Blickhaltung“ (ebd.)0, d.h. einer Betrachtungsform, die ihrerseits in sich dual und mit sich einheitlich ist. Tatsächlich lässt sich nach dem bislang Erläuterten das naturphilosophische Anliegen, das Plessner in den Stufen systematisch vorträgt, schärfer kennzeichnen. Unter Naturphilosophie versteht Plessner „eine nicht empirisch restringierte Betrachtung der körperlichen Welt, aus der sich die geistigmenschliche Welt nun einmal aufbaut, von der sie abhängt, mit der sie arbeitet, auf die sie zurückwirkt. Eine derartige Betrachtung der Körperwelt und ihrer Erscheinungsweisen gibt die exakte Naturwissenschaft nicht (ebd., 26)“2.

Diese Position Plessners ist grundlegend verändert gegenüber seiner früheren Aufteilung von Naturphilosophie und Naturwissenschaften, wonach letztere Kausalerklärungen der objektiven Quantitäten natürlicher Körper, erstere eine Hermeneutik der (gleichfalls objektiven) qualitativen Erscheinungsweisen natürlicher Körper entwickeln sollten3. Plessners Ausgang vom Objektpol stellt bereit, was ihm zuvor in der Begründung einer disziplinären Differenz zwischen Empirie und Hermeneutik, zwischen Naturwissenschaften und Naturphilosophie fehlte: Nämlich ein fundamentum in re, ein Wirkliches, das „gegen die dualistische Vorentscheidung, etwas müsse entweder physisch oder psychisch bzw. […] materiell oder geistig sein“ (Krüger 200, 907; Hervorhebung i.O., T. E.), indifferent

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lichen Erscheinungen zur (selbst nie voll, sondern nur perspektivisch abgeschattet) erscheinenden anschaulichen Einheit des Dinges.“ Diese Abhebung inkommensurabler Sphären bedeutet nun aber gerade nicht eine Destruktion des Dings: Die Dingstruktur wird durch die Spannung zwischen Aspekten und dem Zentralkern, auf den die Aspekte hingeordnet scheinen, nicht gesprengt. Es wäre absurd, ein Ding als ein fragiles Gebilde zu definieren, das in einer Art ununterbrochener Entropie, einem Ausnahmezustand in Permanenz, erschiene: Als liefe es unaufhörlich Gefahr, in seine Bestandteile auseinanderzubrechen, da seine Innen- und Außenseiten in einem Verhältnis der Polarität stünden. Diese dramatisierende Interpretation der Doppelaspektivität findet man bei Plessner nicht – sie beruht im Übrigen schlicht auf der Verwechslung der räumlichen mit der im Raum erscheinenden, sinnhaften Dimension der Dinge. Vielmehr stellt sich nur über den genannten Richtungsantagonismus „die Einheit der gegenständlichen Struktur“ (ebd., 80) her. Ebd. Stanislaw Kuśmierz interpretiert die Struktur der Doppelaspektivität adäquat, wenn er von einer „Einheit als Dualität“ spricht, „die weder monistisch noch dualistisch gedacht ist“ (Kuśmierz 2002, 22).“Den Hiatus – den Bruch“ (ebd., 97) freizulegen, der nicht bloß okkasionell auftritt, weil er das Andere gegenüber dem Prinzip der Einheit wäre, sondern sich durchhält, weil er selbst die Einheit ist: Diese „Doppelbestimmung“ (ebd., 96) lässt sich durchaus als „Plessners Grundintention“ (ebd.) nachzeichnen. Weniger einleuchtend an der von Kuśmierz entwickelten Rekonstruktion ist jedoch angebliche Affinität Plessners zu Thomas von Aquin, insoweit beide Denker eine ontologische „Identitätsthese von Seele und Geist“ verträten. (Ebd.) Siehe auch Plessners Eintreten für eine „von der Naturwissenschaft und Psychologie unabhängige[…] Theorie der die Natur in ihrem Bildgehalt charakterisierenden Elemente“ [Hervorhebung im Original, T. E.] in Plessner 98c, 7. Siehe Plessner 98a und 98b.

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ist. Die Behauptung, ein Etwas sei durch Doppelaspektivität strukturiert, ist keine Aussage über die materielle Konstitution dieses Etwas als physischer Körper, d.h. über seine Länge, Breite, Größe, seinen Umfang, sein Gewicht etc. Gegenstand von sinnlicher Erfahrung kann ohnehin nur sein, was materialiter durch all diese physischen Eigenschaften ausgezeichnet und insofern im Sinne naturwissenschaftlicher Verfahren objektivierbar ist. Zugleich aber – und hierin ist die Pointe der Überlegung zu sehen – erscheinen diese physischen Körper auf eine bestimmte Weise, nämlich so, dass die Außen- und die Innenseiten der Erscheinung qua Hiatus voneinander geschieden sind und gerade dadurch in einer Verweisrelation aufeinander zu stehen kommen. Zwischen dem Dingcharakter und der physischen Tatsächlichkeit eines Körpers besteht kein Widerspruch. Die quantifizierenden Naturwissenschaften und die qualifizierende Naturphilosophie beziehen sich in scharf getrennten Perspektiven auf ein- und dasselbe Objekt, welches es seinerseits strukturell ermöglicht, in diesen zwei scharf getrennten Perspektiven angesehen zu werden. Dieses Objekt ist (ontisch) und es ermöglicht (nämlich der Wahrnehmung) eine Einheit von Heterogenem, da es kraft des Doppelaspekts in einer anschaulichen Differenz von Quantitäten und Qualitäten erscheint. Für Plessners Begriff der Natur ist mithin die Korrelation zwischen Quantitäten und Qualitäten konstitutiv, wobei diese beiden Ebenen nicht aufeinander abbaubar sind, sondern in Divergenz stehen. Plessners Begriff der Natur stellt keine Überbietung des naturwissenschaftlichen Begriffs der Natur dar. Es geht ihm vielmehr darum, eine spezifische Wechselseitigkeit zwischen empirisch Erklärbarem und hermeneutisch Verstehbarem schon auf der Stufe des Anorganischen als entscheidend einzutragen. Ohne dass deren materiell-physische Konstitution abgeblendet werden könnte, besteht Natur aus „reale[n] Gegebenheiten“ (Beaufort 2000, ), die schon immer „für die Anschauung konstituiert“ (ebd.) sind. Damit möchte Plessner gerade ausschließen, eine von beiden Ordnungen – entweder Quantitäten oder Qualitäten – als fundierende Wirklichkeit zu definieren, aus der sich die je andere Ordnung ableiten ließe. Nun verdeutlicht sich auch, inwiefern mit Plessners Anspruch, „eine Philosophie der Natur im Unterschied (aber nicht in Feindschaft) zur Naturwissenschaft“ (Plessner 97, 26) ins Feld zu führen, eine epistemologische These verbunden ist. Die Bestimmungen des Wahrnehmungsdings und der Doppelaspektivität implizieren, dass die physisch-materielle Beschaffenheit und die phänomenale Erscheinungsweise eines Objekts auf diver

Siehe Plessner 98c, 70: „Eine solche Anschaulichkeit des Wirklichen, welches die Natur ausmacht, besteht. An ihrem Bestehen ändert auch die traditionelle Deutung nichts, dass sie rein subjektiv und ganz auf das Konto der menschlichen Sinnesorganisation zu setzen sei. […] In der Feststellung des Auftretens einer Qualitätsempfindung (etwa einer Farbe) bei inadäquater Reizung (etwa durch Druck) liegt nur der Hinweis auf eine Zusammengehörigkeit der Dimension sinnlicher Anschaulichkeit mit dem Subjekt. Die Zusammengehörigkeit wird missdeutet, wenn sie ausschließlich zu Lasten des Subjekts geht, als ob dieses in seiner psychischen und vitalen Beschaffenheit die Ursache für die anschaulichen Qualitäten des Wirklichen darstellte, als ob es an sich – ohne Rücksicht auf ein Auge, das sieht, ein Ohr, das hört – mit seiner Anschauungsseite nichts zu tun hätte. Auch die Wirklichkeit selbst tritt als der Anschauung zugänglich in die Anschauung ein und kommt in ursprünglicher sinnlicher Wahrnehmung zu derjenigen bildhaften Erscheinung, welche in der Lebhaftigkeit ihrer Farben und Formen, in der Eindringlichkeit ihres Widerstandes, in ihrer zeugenden und vernichtenden Macht dem Menschen unmittelbar als Natur sich aufdrängt.“

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gierenden Seinsebenen liegen. Gleichwohl werden die Seinsebenen aber in ihrer Divergenz durch ein- und dieselbe konvergente Blickrichtung erfasst. Dieses Argument kann nicht aufgehen, solange keine neue Verhältnisbestimmung der Erkenntnismodi konzeptualisiert wird. Entscheidend ist hier, wie Plessner das phänomenologische Denkmoment, das die Erkenntnis der Essenz von Phänomenen unabhängig von den empirischen Bestimmtheiten dieser Phänomene garantiert, in sein Projekt einer „allgemeinen Hermeneutik“ (ebd., 28) einbezieht. Dass Wirklichkeit schon immer ein interpretiertes Geschehen, ein über Deutungen, Gegendeutungen und Folgedeutungen vermittelter, intermediärer Bereich ist, in welchem sich die Verstehensperspektiven unbestimmt vieler Akteure kreuzen – dies ist der Schlüsselgedanke in Plessners innovativem Modell von Erkenntnis6. Plessner hat diesen Anspruch auf eine „Erkenntnis (…), die den Doppelaspekt (…) – nicht etwa aufhebt oder vermittelt, sondern aus e i n e r Grundposition begreift“ (ebd., 32)7, in seinem „Arbeitsplan für die Grundlegung der Philosophie des Menschen“ (ebd., 26-36) zu Anfang der Stufen untermauert. Dort heißt es anhand eines „Beispiel[s] aus dem Gebiet des mimischen Ausdrucksverständnisses“ (ebd., 26): „Naiv betrachtet, liegt der Fall so, dass ich die körperlichen Bewegungen des anderen Menschen, einerlei ob ich sie nun faktisch verstehe oder nicht verstehe, von vornherein als deutbar, als sinnhaft wahrnehme. Mir steht nicht ein bloßer Körper gegenüber, an dem ich bestimmte Bewegungen ablese, sondern ein lebendiger Leib. Es erwächst mir infolgedessen auch garnicht [sic] die Aufgabe, aus den Veränderungen eines Körpers auf bestimmte psychische Ursachen zu schließen, sondern in den Bewegungen des Leibes manifestiert sich die an und für sich schon 

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Die Hermeneutik, die sich Plessner zum Ziel setzt, ist deshalb „allgemein“, weil sie weit über Diltheys Programm einer Kritik der historischen Vernunft hinaus gehen muss. Die primäre Umstellung, die Plessner gegenüber Dilthey reklamiert, liegt in der naturphilosophischen Fundierung hermeneutischer Leistungen und Prozesse. Dazu ebd., 26. In diesem Zusammenhang lässt sich die Leitthese des Buches von Jan Beaufort anführen. Siehe Beaufort 2000, 3: „Plessner geht von der Wahrnehmung und vom Wahrnehmungsding aus, von einer als raumzeitliche Realität erscheinenden Welt. Damit nehmen die Stufen ihren Ausgang von der Wirklichkeit, wie sie unmittelbar begegnet. Die Frage stellt sich, wem Wirklichkeit auf diese Weise unmittelbar begegnet. Die Antwort muß lauten: dem vergesellschafteten, durch Geschichte und Sprache aus der Zentralität der animalischen Position herausgedrängten, dezentrierten oder ‚exzentrierten‘ Menschen. Die unmittelbar dinghaft-real begegnende Welt ist also in Wahrheit eine gesellschaftlich vermittelte Weltperspektive.“ [Hervorhebungen im Original, T. E.] Richtig ist, dass Plessner schon in diesem Zitat aus dem propädeutischen ersten Kapitel der Stufen vom Doppelaspekt des Menschen spricht (ebd.). Die Verhältnisse von Empirie, Ontologie, Phänomenologie, Hermeneutik und Naturphilosophie werden mit Blick auf das Potenzial einer Philosophischen Anthropologie diskutiert, und der von Plessner skizzierte „Arbeitsplan“ gewinnt auch nur in dieser systematischen Hinsicht seine Bedeutung. Allerdings verfährt Plessner, was die Komposition der Stufen betrifft, gerade nicht deduktiv: Er setzt nicht normativ voraus, was unter der (für sein Projekt letztlich entscheidenden) Doppelaspektivität des Menschen zu verstehen wäre, um sodann weitere begriffliche Bestimmungen zu entwickeln. Vielmehr wird der im ersten Kapitel annoncierte Hauptgedanke – den Doppelaspekt menschlichen Daseins (ebd.) als exzentrische Positionalität zu beschreiben – nicht am Beginn, sondern im Finale der Argumentation, im siebten und letzten Kapitel, entfaltet. In meiner Rekonstruktion der Plessnerschen Gedankenfolge möchte ich mich an dieses Verfahren anlehnen, welches sukzessive über eine quasi-dialektische Serie von Bestimmungen zu ihrer philosophisch zentralen Konstruktion gelangt.

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Rekonstruktionen sinnhafte Situation, deren Deutung in dem oder jenem Sinne an bestimmte Kriterien gebunden ist. Der Träger des Leibes wird dabei weder als Körper noch als Seele, sondern als gegen diesen gedanklichen Unterschied indifferent gefasst.“ (Ebd.)

Fakt ist, dass die hier von Plessner umrissene Hermeneutik nicht erst im Kontext lebendiger Phänomene, sondern bei der Bestimmung des Anorganischen zum Zuge kommt, also in der Dingtheorie, die den Auftakt zum dritten Kapitel und damit zur systematischen Argumentation der Stufen darstellt. Vom „Wahrnehmungsding“ weist Plessner nach, dass es weder als res extensa noch als immaterielles Substrat aufgefasst werden kann, sondern sich realiter „gegen diesen gedanklichen Unterschied“ indifferent verhält. Die doppelaspektive Struktur, die Dinghaftigkeit (Dinglichkeit) schlechthin ausmacht, lässt sich nicht auf ein kausales Verhältnis abbilden; tatsächlich liegt auch im alltagsweltlichen Kontakt mit anorganischen Dingen eine „an und für sich schon sinnhafte Situation [vor], deren Deutung in dem oder jenem Sinne an bestimmte Kriterien gebunden ist“. Es gibt eine Erkenntnis bzw. ein Wissen darüber, was ein Phänomen der anorganischen Natur unter dem Gesichtspunkt seiner Erscheinungsweise ist. Diese Erkenntnis kann nicht empirisch abgerufen werden, sondern sie macht umgekehrt eine Anschaulichkeit stark, die von der Empirie methodisch ausgeklammert wird: Dies ist der zentrale Ausgangspunkt für Plessners Konzeption des Wissens. Man sieht gut, wie sehr in dieser Konzeption Phänomenologie und Hermeneutik aufeinander angewiesen sind. Das Moment der Phänomenologie liegt, wie schon ausgeführt, in der Deskription der Gegebenheitsweise eines Phänomens. Zur strukturellen Kennzeichnung dieser Gegebenheitsweise in der Anschauung verwendet Plessner den Begriff der Doppelaspektivität von „Wahrnehmungsdingen“. Der Einsatz der Hermeneutik liegt darin, die unausdrücklichen „Voraussetzungen, Bedingungen und Folgen der Ausgangsinteraktion selbst“ (Krüger 200, 909)8 verständlich zu machen. Auf diesem Weg lässt sich die Behauptung aufstellen, dass die innerweltliche Begegnung mit „Dingen“ stets die Frage mitprovoziert, welche „Anschauungsformen und Kategorien“ (ebd.) investiert werden, „um etwas so und nicht anders verstehen zu können“ (ebd.)9. Die Originalität des Verfahrens besteht darin, dass Plessner in seiner phänomenologischen Beschreibung anschaulich gegebener Sachverhalte eine Aufklärung der Voraussetzungen mitführt, die dem Erscheinen der Sachverhalte jeweils zu Grunde liegen. Jede Beschreibung appelliert an einen anschließenden, rekonstruierenden Schritt, der die Bedingungen der Möglichkeit a priori für die vorausgegangene Beschreibung aufzude8

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Siehe ganz ähnlich Fitzi 2006, 92–97 oder Beaufort 2000, 2: „Anschauungsgehalte sind also auf dem Weg von (sprachlichem) Ausdruck und Deutung vermittelbar, durch Zugrundelegung des deutenden Bewusstseins wird das Anschauungsfeld zu einem interindividuellen Zusammenhang erweitert und vertieft. (…) Naturphilosophie braucht Verstehen und Deutung, damit sie nicht ein Einzelunternehmen bleibt, sondern sich als interindividuelle Praxis entfalten kann. Erst Phänomenologie und Hermeneutik zusammen ermöglichen die Etablierung einer Naturphilosophie als ein der Naturwissenschaft nicht nur gleichwertiges, sondern sie auch fundierendes Unternehmen.“ Wenn etwas als etwas verstanden und bestimmt wird, heißt dies, dass auch andere Festlegungen von etwas als etwas möglich sind. Es gibt eine hermeneutische Unbestimmtheit, der zufolge die vorgenommenen Phänomenbeschreibungen nicht unbegrenzt universalisierbar und rationalisierbar, sondern perspektivisch determiniert sind.

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cken hat0. Und tatsächlich hinterlässt Plessners Darstellung der Doppelaspektivität, wie sie für Dinge konstitutiv sein soll, eine sonderbare Lücke: Die anorganische Gestalt erscheint nicht als abgesetzt gegenüber derjenigen Struktur, die ihre Erscheinung determiniert. Entwickelt man demnach den Begriff des Doppelaspekts auf eine Leerstelle hin, an der er nicht mehr für sich allein stehen kann – und genau dieser zuspitzenden Strategie folgt Plessner (ebd., 88f.) –, so ist ein Punkt markiert, an dem die Frage nach dem Leben sinnvoll anzusetzen vermag.

. Eine Hypothese über die Lebendigkeit der Erscheinungen: Der Begriff der Grenze Nachdem sich das vorige Subkapitel mit den Kategorien der Doppelaspektivität und des Dings beschäftigt hat, die eine erste Klärung von Plessners Bestimmungen der Natur und des Wissens leisten, gilt es nun zu beschreiben, aus welchen Gründen und mit welchen Mitteln Plessner dem Begriff des Lebens einen Platz in dem von ihm hergestellten begrifflichen Gefüge zuweist. Wie gelangt Plessner zu der These einer epistemologischen Differenz, einer Diskontinuität zwischen den Dimensionen der Natur und des Lebens? Weshalb weicht Plessner von der Idee ab, die von den Vitalisten reklamierte Ganzheit des Organischen auf die Gestalt und damit auf einen Einheitstyp umzustellen, der vom Anorganischen bis ins Organische unterschiedslos durchläuft? Und welche Wendung erfährt das (von Plessner zunächst phänomenologisch begründete) Wissen über die Dinge, wenn es sich um spezifisch lebendige Dinge handelt – bzw. genauer: um eine lebendig anmutende Weise, in der ein Ding erscheint? Es ist gerechtfertigt, „die wesenhafte Konformität des absolut Unverträglichen und Artverschiedenen“ (König/Plessner 99, 28) als das 0

Siehe Plessner 97, : „Eine derartige apriorische Theorie (…) hat, so scheint es, mehr Verwandtschaft mit einer Dialektik als mit einer Phänomenologie. Sie geht von einem Grundsachverhalt aus, dessen Realität sie durchaus hypothetisch behandelt, aus und gelangt Schritt für Schritt von einer Wesensbestimmung zur anderen. Die Wesensbestimmungen e rg e b e n sich aus einander, ordnen sich in Stufen, offenbaren sich als ein großer Zusammenhang, der damit wiederum als Manifestation des Grundsachverhalts begriffen wird.“ Auch in diesem Zitat habe ich mit voller Absicht eine wichtige Stelle ausgelassen. Plessner bezeichnet seinen Ansatz nämlich als eine „apriorische Theorie des Organischen“, was ich vorläufig bewusst überspringe, da an diesem Punkt meiner Studie Plessners Frage nach dem Lebensproblem bzw. dem Problem des Organischen noch gar nicht erreicht ist. Für den Moment genügt es, den apriorischen Kern von Plessners Denkform explizit zu machen – dass dieses Apriori wiederum nur einem lebendigen Subjekt, nicht einem transzendentalen Bewusstsein zugeordnet werden kann, ist der springende Punkt in Plessners Argumentation, der jedoch in meiner eigenen Wiedergabe dieser Argumentation erst noch auszuführen ist. Der spezifische argumentative Aufbau der Stufen unterscheidet sich von der Struktur der vorliegenden Untersuchung nicht zuletzt durch Plessners richtungsweisendes Vorwort und das erste Kapitel: Hier nimmt Plessner bereits die Resultate des Gedankenwegs vorweg, der im Gesamttext der Stufen wiederum sukzessive, in einer quasi-dialektischen Steigerung der Bestimmungen entfaltet wird. Ich möchte mich aus hermeneutischen Gründe an diesem quasi-dialektischen Vorgehen orientieren, d.h. die Konsequenzen, die für Plessners Ansatz entscheidend sind, nicht als bekannt voraussetzen, sondern in ihrer Genese nach und nach einholen.

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große „Kapital“ (Mitscherlich 2007, 90) herauszustellen, das Plessner in seine „Neuschöpfung der Philosophie“ investieren kann. Daher empfiehlt es sich, die auffälligsten Charakteristika der Doppelaspektivität in aller Kürze zu vergegenwärtigen. In erster Linie fällt die ontologische Implikation auf, die Plessners Ansatz beim Doppelaspekt beinhaltet. Denn Plessner offeriert seine phänomenologische Entgegensetzung von Kern und Eigenschaften eines Dings durchaus als eine Korrektur klassischer Ontologien, die von einer radikalen Immanenz der Substanz in ihren Akzidenzien sprechen. Ob es sich um eine Substanzontologie aristotelischer oder spinozistischer Provenienz handelt: Dem metaphysischen Theorem der Substanz, die den Akzidenzien deshalb überlegen ist, weil sie nicht – wie letztere – Prädikat einer noch fundamentaleren Substanz sein kann, widerfährt in Plessners Modell insgesamt eine „ironische Verkehrung“ (Haucke 2000, 7). Mit Kant, Hegel und Husserl insistiert Plessner auf dem „Gesetz der notwendigen Einseitigkeit der Erscheinung“ (Plessner 97, 83), wonach dem Seienden buchstäblich nicht durch einen ontologischen Sprung auf den „Grund“ zu gehen ist. Plessner macht klar, worauf die Aspektivität des Doppelaspekts gründet, nämlich auf der Unausweichlichkeit des Akzidentellen: der Eigenschaften. Gerade weil die Akzidenzien als Manifestation der Substanz gedacht werden müssen, ist ihnen bei Plessner der Charakter der Substanzialität eigen, Substanzialität verstanden als „Richtpunkt für die Transgredienz der möglichen Erscheinungen zur (…) erscheinenden anschaulichen Einheit des Dings“ (ebd., 87). Der Versuch, die Substanz als Substanz zu identifizieren, d.h. von ihrer Verwicklung in die Aspekte zu befreien, führt in den infiniten Regress. Die Struktur der Doppelaspektivität ist, wie das Argument der „Seitenhaftigkeit“ zeigt, durchaus als eine Entzugsstruktur zu beschreiben2. Neben das Hauptkennzeichen des Doppelaspekts, inhomogene Momente „in ihrer Divergenz“ (Mitscherlich 2007, 89) aufzudecken und zu bewahren, tritt ein zweites bemerkenswertes Motiv. Wie bereits ausgeführt, eröffnet Plessner seine phänomenologische Analyse mit einer „Wendung zum Objekt“ (Plessner 97, 72)3. Nicht zufällig bleibt in dieser methodischen Operation die Konstitution des Subjekts, das in die innerweltliche Begegnung mit Dingen einbezogen ist, eigentümlich unterbestimmt. Obwohl (oder in

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Genau auf diese Unterschiedenheit der Substanz von den Attributen und Akzidenzien kommt es den Substanzphilosophien durchaus an. Dass Spinoza zufolge allen Erscheinungen die all-eine Substanz inhäriert, hat die Konsequenz eines positiv gedachten metaphysischen Prinzips, das unabhängig vom endlichen Seienden aufgedeckt werden kann und muss. Völlig einleuchtend ist es mithin, die Exteriorisierung des „Innen“ und die substanziale Aufladung des „Außen“ als „Aspektivität: die Substanzialität des Akzidentiellen“ zu bezeichnen und als einen grundlegenden Zug der Argumentation Plessners herauszustellen. Siehe Haucke 2000, . Siehe ebd., 9: „Weil die Substanz in nichts anderem als dem Zusammenhang der Aspekte besteht, ist sie auf deren Mannigfaltigkeit angewiesen und ihrer bedürftig. Gleichwohl bleibt sie Substanz, Mitte, von der die Aspekte abhängig bleiben, denn ohne Zusammenhang, ohne etwas, was sich in keinem der Aspekte erschöpft, was selbst nie Aspekt sein kann, was immer zwischen den Aspekten oder inmitten der Aspektvielfalt raumhaft anwesend ist, sind die Aspekte nichts.“ Siehe auch die vorzügliche Strukturbeschreibung der Doppelaspektivität bei Mitscherlich 2007, 83f. Nach Joachim Fischers Formulierung ist Plessners Thema „die Gegenständlichkeit des fernen Gegenstands, wie er der Wahrnehmung gegenüber gegeben ist“. Fischer 2000, 27.

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dem) Plessner mehrfach die Immanenz der Anschauungssituation hervorhebt, in der sich die Interaktion mit „Dingen“ vollzieht, erzeugt er insoweit eine argumentative Spannung, als dass die Instanz dieser Anschauung inhaltlich nicht eingelöst wird. Man muss aber festhalten, dass Plessner die Frage nach dem Anschauenden der Anschauung mitnichten ab-, sondern strategisch aufschiebt. Bedeutsam ist die Indirektheit des von Plessner eingesetzten transzendentalen Verfahrens. Es geht hier sehr wohl um die Anzeige der Bedingungen, die Erfahrung mit Gegenständen ermöglichen, nicht aber um die Einführung eines transzendentalen Selbstbewusstseins, das den synthetischen Prozessen Einheit gibt6. Eine analoge Geste durchläuft die Struktur von Doppelaspektivität insgesamt: Was hier ins Spiel kommt, ist eine ostentative Vordringlichkeit oder Dominanz des Außen über das Innen. Dieser Punkt lässt sich gut mit Plessners Wende zum Objekt zusammen denken, denn ohne den Anteil eines „Innen“ (hier: der transzendentalen Kapazitäten des subjektiven Bewusstseins) zu leugnen, bezieht sich diese Wendung auf ein Geschehen (hier: die Dingwahrnehmung), an dem das Innen partizipiert, das aber nicht durch das Innen bestimmt wird. Und auch wenn diese Formel hier fürs Erste noch nicht ihren präzisen Sinn gewinnen kann, so lässt sich mit Wolfgang Eßbach eine „anthropologische Außenpolitik“ (Eßbach 99, 7)7 bei Plessner konstatieren, eine „Außengewandtheit“ (ebd. 20), die exteriorisiert8, was in der cartesianischen Hierarchie gerade als immaterielle Substanz auftritt. Bleibt ein drittes und letztes Kriterium für die Struktur des Doppelaspekts schlechthin, d.h. bis auf Weiteres ohne Spezifizierung für den Fall des Lebendigen: Die InnenAußen-Divergenz korrespondiert, und zwar sowohl materiell als auch phänomenal, mit dem Sachverhalt einer Grenze. Strikt betrachtet, lassen sich schon auf der relativ geringen Komplexitätsstufe des anorganischen Dings zwei Hinsichten unterscheiden, in denen 



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Auf diesem Weg frustriert Plessner eine idealistische Erwartungshaltung: Der Überstieg vom Gegenstandsbewusstsein zum Selbstbewusstsein, von der Perzeption zur transzendentalen Apperzeption, findet nicht statt. Seine Methode besteht nicht darin, anonyme Vollzüge an den Platz von Akteuren zu setzen, um sich des idealistischen Paradigmas der Subjektivität (etwa zugunsten einer Prozessphilosophie) zu entledigen. Diese Feststellungen meinen keineswegs, dass Plessner gewissermaßen vorkritisch dem Problem einer transzendentalen Deduktion auszuweichen versucht. Den Erscheinungen ist nicht unkritisch ein Apriori zuzusprechen, so als genüge es, die Dinge so zu nehmen (zu erkennen, zu verstehen und zu prädizieren), wie sie nun einmal „sind“. Umgekehrt liegt die apriorische Struktur, die Plessner nachzuweisen versucht, aber auch nicht in der synthetischen Einheit des Selbstbewusstseins – sie liegt nicht einmal, weiter gefasst, in der Apriorität des Subjekts. Ohne allzu weit vorzugreifen, möchte ich nur andeuten, dass Plessner eine reziproke Deduktion subjektiver und objektiver Ermöglichungen in Angriff nimmt. Vor den Stufen diente der Begriff des „Ausdrucks“ dazu, diese doppelte Apriorität subjektiver und objektiver Modi zu konzeptualisieren. Siehe Plessner 982, 67–29. Zur Relevanz von Plessners „doppelseitiger“ Deduktion siehe Mitscherlich 2007, 02–08. Eßbach bezieht sich zur Erläuterung seines Aufsatztitels Der Mittelpunkt außerhalb auf eine Rezension Walter Seitters zu Plessners Gesammelten Schriften, in der Seitter „den Rand als paradoxe Synthese von Innen und Außen“ anspricht und damit die maßgebliche Denkfigur Plessners genau erfasst. Siehe Seitter 98, 00–0. Von einem „konstitutionellen Externalismus“, der „herausfordert“ und „gefährdet“, ist die Rede bei Gerhardt 2003, 0.

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von einer Grenze die Rede sein kann. Zum einen haben anorganische Körper materiell konstituierte und empirisch quantifizierbare Grenzen9. Zum anderen bedeutet das in der Anschauung offenkundige Auseinandertreten der Innen-Außen-Pole, dass ein anorganisches Objekt einen umrandeten Bereich und einen umrandenden Kontur aufweist. Dieses „nichtraumbedingte“ (Plessner 97, 88), nicht im Raum feststellbare Verhältnis hatte Plessner mit dem Begriff der Doppelaspektivität eigens thematisiert60. Im Gebiet der Anschauung lässt sich also eine Aspektgrenze indizieren, „in welcher der Umschlag zweier wesensmäßig ineinander nicht überführbarer Richtungen erfolgt“ (ebd., 02). Diese Aspektgrenze wiederum ist nicht deckungsgleich mit den faktischen Begrenzungen eines Körpers im Raum; vielmehr divergieren die beiden Grenzbedeutungen so, dass die je eine Seite ihre Unverträglichkeit mit der je anderen Seite ausstellt. Das Konzept der Grenze ist die Crux von Plessners eigenständiger Grundlegung einer Philosophie des Lebendigen: „Die erste Aufgabe erscheint gelöst: am räumlichen Gegenstand der Anschauung die raumbedingten Außen-Innenbezüge von den nichtraumbedingten abzuheben und damit jene Einheitscharaktere zu isolieren, die in konvergenter Blickstellung (d.h. in den Bahnen der sinnlichen Wahrnehmung) erfasst werden und zugleich den divergenten Aspekt des Gegenstands tragen. (…) Das bisher gewonnene Ergebnis wird an Wert gewinnen, wenn es gelingt, Gegenstände ausfindig zu machen, die nicht nur kraft des Doppelaspekts, sondern i m Doppelaspekt erscheinen, bei denen also die Divergenz der gegenstandsbedingenden Sphären selbst den Gegenstand der Anschauung bildet. (…) Körperliche Dinge der Anschauung, an welchen eine prinzipiell divergente Außen-Innenbeziehung als zu ihrem Sein gehörig gegenständlich auftritt, heißen l e b e n d i g .“ (Ebd., 88f.)

An dieser Stelle ist sorgfältig zu unterscheiden: Die Verfasstheit anorganischer Dinge hatte Plessner über eine „absolute Richtungsdivergenz“ (ebd., 02) der beiden Pole „zentrale[r] Kerngehalt-eigenschaftstragende Seiten“ (ebd., 88) näher bestimmt, die nicht konvergiert mit der räumlichen Innen-Außen-Divergenz. Die räumliche Divergenz drückt eine relative, die raumhaft-phänomenale Divergenz eine absolute Inkommensurabilität von Innen und Außen aus. Was die Ebene des Anorganischen angeht, so zeigt Plessner, dass ein Ding immer auch durch die räumliche Innen-Außen-Opposition konstituiert ist. Räumlichkeit bzw. Materialität reichen jedoch als Parameter nicht aus, wenn das Ding als Ding6 angesprochen werden soll – hier wird vielmehr hermeneutisch der absolute Bruch 9

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Definiert man Höhe, Länge und Breite eines physischen Körpers, so zielt die Definition auf einen Punkt im Raum, an dem Dinge „abschließen“, also eine raumbedingte Grenze haben (nämlich in dem Sinne, dass sie – als ausgedehnte Körper – an einem gegebenen Punkt faktisch „zu Ende“ sind). Siehe hierzu Plessner 97, 88f. Mehr noch: Sein Vorschlag lautete, von „Dingen“ könne man nur dann sprechen, wenn Materialität und Sinnstruktur gleichermaßen für entscheidend gehalten würden, also keine der beiden Dimensionen einseitig zum Fundament von Wirklichkeit erklärt würde. Siehe ebd., 00f.: „Anschauliche Grenzen liegen bei allen Dingkörpern dar, wo sie anfangen oder zu Ende sind. Die Grenze des Dinges ist sein Rand, mit dem es an etwas Anderes, als es selbst ist, stößt. Zugleich bestimmt dieses sein Anfangen oder Aufhören die Gestalt des Dinges oder den Kontur, dessen Verlauf man mit den Sinnen verfolgen kann. In den Konturen, innerhalb seiner Ränder ist der Dingkörper beschlossen und als dieser bestimmt, oder, was hier dasselbe heißt, m i t den Konturen, an seinen Rändern ist das Ding als dieses bestimmt.“ Oder, wie Joachim Fischer schreibt, die „Gegenständlichkeit des Gegenstands“ (Fischer 2000, 27), insofern „Gegenständlichkeit“ in einer strukturellen Bedeutung genommen wird. Man könnte dann

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von Sinnrichtungen nach Innen und nach Außen verstanden. Man kann Dinghaftigkeit und Räumlichkeit also als ineinander verschränkt denken, und zwar wie folgt: Beide Aspekte bestehen zusammen, insofern gerade ihre wechselseitige Angewiesenheit die Einheit eines Dings verbürgt. Zugleich wahren sie eine scharfe Distanz gegeneinander, d.h. sie bilden nur insoweit „Einheit“ aus, als dass ihre Ungleichartigkeit und Unvermittelbarkeit voll erhalten bleibt und mit zur Erscheinung kommt. Mithin gibt es eine Rückbezogenheit des Dings auf oder, etwas umständlich gesagt, eine Rückbegründetheit des Dings durch seine Materialität. Die Einheit dieser verschränkten Sphären hatte Plessner auf den Begriff des Doppelaspekts des unbelebten Dings gebracht62. Auf dem Niveau lebendiger Dinge wiederholt sich die geschilderte Argumentation in gesteigerter Form. Das Argument bewegt sich gewissermaßen rekursiv: Plessner beschreibt das lebendige Ding so, dass diesem als spezifischer Zug der phänomenale Doppelaspekt, das Auseinandertreten in zwei widerstreitende Richtungen, zu Eigen ist. Der Doppelaspekt rückt „in Eigenschaftsstellung“ (ebd., 00). Vor allem nach den zuletzt dargestellten Überlegungen kann es nicht verwundern, wenn Plessner auch mit dieser These wiederum die Materialität des Lebendigen, seine Rückbezogenheit aufs Physische, stark macht: „ Ve r l a n g t w i r d a b e r e i n e g e g e n s t ä n d l i c h a l s E i g e n s c h a f t a u f w e i s b a r e G r e n z e , w e l c h e z u g l e i c h A n s a t z z o n e d e r a b s o l u t e n R i c h t u n g s d i v e rg e n z i s t . Diese Grenze muß sowohl Raumgrenze als auch Kontur sein, weil sie ja gegenständlich in der Erscheinung auftreten soll, als auch Aspektgrenze, in welcher der Umschlag zweier wesensmäßig ineinander nicht überführbarer Richtungen erfolgt. Aus dieser Forderung geht hervor, dass die organische Formgrenze a l s G e s t a l t einen übergestalthaften, mit Gestalt nicht erschöpften Charakter haben muss.“ (Ebd., 02)

Methodisch hatte die Einführung des Dingbegriffs einen Begriff der anorganischen Natur eingebracht, der sich nicht auf messbare Quantitäten reduziert. Anorganische Gebilde lassen sich vielmehr als „Gestalten“ definieren: Die Gestalt ist „summenhaft zustandegekommen“ (ebd., 90), doch sie stellt „sich ganzheitlich dar“ (ebd.). Der Gestalt ist es qua Doppelaspektivität möglich, als ontologisch neutral gegenüber einer rein materiellen und einer nur immateriellen Konstitutionsweise zu erscheinen. Diesen Gedanken setzt Plessner nun in die Bestimmung der Grenze des Lebendigen hinein fort, wenn er sie als eine „richtungsneutrale Zone“ (ebd., 00) definiert, die „selbst kein Gebiet einnehmen darf, welches die Ausschließlichkeit des Richtungsgegensatzes aufhöbe und neben das Außen und Innen ein real aufweisbares Zwischen setzte“ (ebd.). Wenn der Doppelaspekt die Realität materieller und immaterieller Bestimmtheiten eines Dings festhält, wenn er die ontologische Beziehung zwischen Quantitäten und Qualitäten in die Schwebe setzt, so wäre seine Pointe verspielt, verstünde man unter der Grenze einseitig ein empirisches

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sagen, es genügt nicht, empirische Angaben zu einem konkreten Gegenstand zu machen (über seine Höhe, Breite, Länge, sein Gewicht, Farbe etc.), wenn man nach der spezifischen Geordnetheit fragt, die ein solcher Gegenstand inklusive seiner vielfältigen empirischen Daten qua Erscheinung „zeigt“. Hier lässt sich abermals die transzendentale Ordnung der Argumentation unterstreichen, der Plessner in der Herausbildung seiner Begrifflichkeit konsequent folgt: Der Doppelaspekt ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass Dinge sowohl (materialiter) eine räumlich-relative Innen-Außen-Divergenz als auch (qua Erscheinung) eine raumhaft-absolute Innen-Außen-Divergenz indizieren.

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Datum oder eine spekulative Figur. Zwar schreibt Plessner der Grenze zu, Bedingung der Möglichkeit dafür zu sein, „dass körperliche Dinge der Anschauung, an welchen eine prinzipiell divergente Außen-Innenbeziehung als zu ihrem Sein gehörig gegenständlich auftritt, lebendig heißen“ (ebd., 0). Die Grenze stellt aber weder ein materiales noch ein spekulatives Apriori dar, dessen Reinheit sich transzendental deduzieren ließe. So sehr sie die psychophysische Indifferenz eines lebendigen Körpers ermöglicht, so sehr muss die Grenze ihrerseits als materielles Datum und immaterielles Transzendental zugleich präsentierbar sein63. Vor diesem Hintergrund ist m.E. Mitscherlichs Auffassung von Plessners „Grenzhypothese“ beizupflichten. Zunächst stellt Mitscherlich mit besonderer Klarheit die eigentümliche „Rückwendung“ (Mitscherlich 2007, 96) oder Rekursivität heraus, wonach ein lebendiges Ding über seine Dinghaftigkeit ausgezeichnet ist6. Das anorganische Ding ist ein Gebilde, das die absolute Kluft zwischen seinen raumhaften und räumlichen Konstituenten ausstellt und gerade darin noch auf Räumlichkeit rückbezogen ist. Es ist Gestalt. Beim lebendigen Ding liegt der Fall so, dass seine räumlich-faktische Begrenzung als Aspektgrenze, d.h. als Diskrepanz von Kern und Eigenschaften, in Erscheinung tritt. Anders als das Anorganische (dasjenige, was „bloß“ Natur ist), ist das Lebendige durch „die Richtungen der Besonderung in sich und gegen Anderes“ (Miterschlich 2007, 96 und passim)6 geprägt. Eine „Doppelbewegung, die aus einer Bewegung in Raum und Zeit besteht, durch die sich der Organismus gegen das Umfeld behauptet, und einer Bewegung des Überschreitens, durch die der Organismus mit dem Umfeld in einen Austausch tritt“ (Lanzerath 2000, 28)66: Wie diese Formulierung festhält, handelt es sich bei der 63

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Ähnlich die Einschätzung bei Fischer 2000, 272f.: „Er [Plessner, T. E.] zieht hier (ungenannt) Hegels idealistische Bestimmung der ‚Grenze‘ (als innere Bestimmtheit, die etwas mit seinem Anderen (Medium) sowohl zusammenschließt als auch davon abscheidet) und Simmels lebensphilosophische Charakterisierung der ‚Grenze‘ (Leben als ‚Mehr-Leben‘ und ‚Mehr-als-Leben‘) in die biologische Konkretion des Organischen, wie sie ihm durch Buytendijks ‚Anschauliche Kennzeichen des Organischen‘ präsentiert war.“ Analog merkt Joachim Fischer an, Plessners „philosophische Biologie“ leiste eine „›Entzauberung‹ des Wortes ‚Leben‘ mit seiner strömenden Suggestivität, indem sie bei der Dinghaftigkeit des Organischen ansetzt, dem belebten ‚Ding‘.“ Fischer 2008a, 76. Die Ausdrücke „Besonderung“ bzw. „Besonderungsrichtung“, mit denen Mitscherlich Plessners Vokabular paraphrasiert, erscheinen mir hilfreich und plausibel. Diese Terminologie bildet scharf die Ambivalenz im Zusammenspiel von aktiven und passiven Komponenten ab, das sich in Plessners gesamter Philosophie des Organischen bis in die exzentrische Positionalität hinein konstitutiv durchhält. Die „Besonderung“ kann zum einen im Sinne eines Verbalsubstantivs gedacht werden: Es gibt einen besondernden Akteur, ein Subjekt, das sich (zu sich selbst und anderem) tätig verhält. Zum anderen liegt aber auch eine „Besonderung in sich“ vor, und zwar im Sinne einer internen Spaltung und Dezentrierung, die das besondernde Subjekt als in sich zweideutig erscheinen lässt. Als Einwand gegen Mitscherlichs Verfahren könnte gelten, dass ihre eigene Terminologie kaum über eine mimetische Funktion hinaus kommt. Sie stellt sich den sachlichen Komplikationen, die Plessner mit seiner Kategorienbildung artikuliert, auf dem Weg neuer begrifflicher Komplikationen: Die Neologismen (wie die Rede von der „Besonderungsrichtung“) dienen als gelungene hermeneutische Präzisierungen, ohne sich jedoch von den Plessnerschen Argumenten, die sie jeweils reproduzieren sollen, kritisch distanzieren zu können. Lanzeraths Studie enthält eine kritische Rekonstruktion von Canguilhems Theorie biologischer Normativität (3–3) ebenso wie eine Diskussion der Differenz von Körper und Leib, wie sie sich

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Realisierung der Grenzen des Lebendigen um Selbstabgrenzung und Selbstentgrenzung, Absicherung und Entsicherung, Abschließung und Aufschließung zugleich. In Plessners Worten: „Verhält sich ein Körper entsprechend der Formel K←K→M zu seinen Grenzen [K=Körper, M=Medium; T. E.], sodaß ihm die Grenzen eigen sind, so muß er als ein Körper erscheinen, der sowohl über ihm hinaus als ihm entgegen ist. (Plessner 97, 27f.)“67

Nicht von ungefähr unterscheidet Plessner in seiner Klärung der Grenze des Lebendigen zwischen den Formeln K←K→M und K←Z→M, wobei Z für eine Zwischensphäre steht, eine virtuelle Zone, die den Übergang zwischen Körper und Medium deshalb ermöglicht, weil sie keiner dieser beiden realen Größen selbst zugehört. Für Plessners Natur- und Lebensphilosophie ist es nun in hohem Grade charakteristisch, wenn Plessner sich gegen die virtuelle Interpretation der Grenze wendet und sich auf den Standpunkt ihrer Materialität stellt. Er vertritt mit Nachdruck die Relation K←K→M. Ihm geht es mit der Bestimmung der Grenze nicht um ein Weder (Körper)-Noch (Medium), sondern vielmehr um ein Sowohl-als-auch: „Ausdrücklich ist in der These festgelegt, dass die Doppelaspektivität gegenständlich am Ding, in Eigenschaftsstellung also, auftreten muß, damit das Ding den Namen eines Lebendigen verdient. […] Die Grenze gehört reell dem Körper an, der damit nicht nur als begrenzter an seinen Konturen den Übergang zu dem anstoßenden Medium gewährleistet, sondern in seiner Begrenzung v o l l z i e h t und dieser Übergang selbst ist. Deshalb wird hier die Grenze seiend […]“ (ebd., 00 bzw. 03).

Plessners Anlauf, das Lebendige über das Problem der Grenze neu zu beschreiben, bewegt sich – und dies unterstreicht Olivia Mitscherlich vortrefflich – in der Doppelseitigkeit68 zwischen der Selbstbezüglichkeit des Lebendigen und seiner Bezogenheit auf die ihn prägende Dinghaftigkeit. Die besondere Verklammerung zwischen der Struktur lebendiger Selbstbesonderung und einem „Wissen um die Wirklichkeit in ihrer irreduziblen Tatsächlichkeit“ (Mitscherlich 2007, 07) gerade nicht los zu lassen, sondern als unhintergehbar aufzufassen – dies zeichnet Plessners Philosophie des Lebendigen aus. Die Korrelativität der Grenze des Lebendigen mit physischen Modi, die am Lebendigen empirisch aufzuweisen sind, darf nicht den Blick dafür verstellen, dass für Plessner „die Grenze innerhalb und außerhalb der Gebiete liegt, die sie begrenzt, und damit zugleich einen Bruch, einen Hiatus zwischen den Gebieten erzeugt, den sie aber im Über-

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von Plessners These der exzentrischen Positionalität des Menschen her ergibt (27–223). Obwohl beide Positionen nicht in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden, legt Lanzeraths Text einige Optionen für eine Kritik Canguilhems via Plessner nahe. Auf diese Konstellation wird noch zurückzukommen sein. Auffällig ist, dass Plessner weiterhin den Akzent auf das Erscheinen von Körpern setzt. Sein kritisches Verfahren, vorschnelle Existenzurteile auszuschließen, bleibt in Kraft: Auch auf der Ebene des Lebendigen greift die phänomenologische Hypothese, die an der Erscheinungsweise der Dinge ansetzt, an den Prozessen ihres Sich-Zeigens, um die Frage nach den „Sachen selbst“ allererst stellen zu können. Siehe hierzu das Kapitel II..b („Die Herausforderung einer doppelseitigen Deduktion der Grenzrealisierung und der Lebensmerkmale“) in Mitscherlich 2007, 02–0.

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gehen gerade aufzuheben sucht“ (Breun 2006, 32f.)69. Für die Grenze ist es konstitutiv, die absolute Scheidung der Sphären, die sie voneinander abgrenzt, fortlaufend zu prozessualisieren, zu dynamisieren und zu temporalisieren, d.h. stets die Aufhebung der Scheidung zu vollziehen70. Einerseits sorgt die Grenze für einen scharfen Schnitt zwischen Begrenzendem und Begrenztem, zwischen Organismus und Umfeld. Andererseits hat sie die Funktion einer Brücke, wenn sie die scharf getrennten Pole in Austausch miteinander bringt. Das Lebendige wiederum fällt nicht mit der Grenze zusammen, sondern ist von ihr abgehoben, insoweit es seine eigenen Grenzen realisiert (vollzieht). Dieser Logik zufolge ist das Lebendige in ein tätiges Verhältnis zur Grenze gesetzt, welche ihrerseits eine Demarkation zwischen Lebewesen und Umfeld herstellt. Im weiteren Verlauf der Betrachtungen wird diese „Hiatusgesetzlichkeit“ (Plessner 97, ), die ich als das movens von Plessners Philosophischer Anthropologie auffasse, noch mehrfach wiederkehren. Ein erster Grundzug der Grenze des Lebendigen ist es, empirische Bestimmungen (von materiellen, physischen Grenzen) inhaltlich mit einzuschließen, also den Rückhalt am Faktischen nicht zu unterlaufen. Ein zweiter Grundzug liegt im vorhin beschriebenen hiatus irrationalis: Die Grenze steht, darin den Doppelaspekt des unbelebten Wahrnehmungsdings verschärfend, für eine absolute Disparität von Sinnrichtungen, d.h. von nicht-materiellen Relationen. Seine Grenzen zu realisieren oder, wie Plessner schreibt, zu „vollziehen“, bedeutet für das Lebendige, in eine durchaus widersprüchliche Bewegung eingelassen zu sein: Eine Dynamik, die das Lebendige „in doppelter Richtung transzendiert, es einerseits über es hinaus setzt (streng genommen: außerhalb seiner setzt), andererseits in es hineinsetzt (in ihm setzt)“ (ebd., 28f.). Aktive und passive Verhaltensmomente schlagen ineinander um, ohne harmonisiert werden zu können7. 69

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Siehe ebd., 33: „Dies führt dazu, dass in der Perspektive des Grenzverhältnisses, die ja aus Gründen des freien Anfangens überhaupt notwendig eingenommen werden muss, die Einheit der polaren Momente nicht anders denn als Bruch, Hiatus oder Kluft verstanden werden kann und verstanden werden muss. Identität liegt also nicht in einem wechselseitigen Ineinanderaufgehen, sondern im Bruch zwischen den Momenten selbst, woraus die Erzeugungsbedingung von Möglichkeiten resultiert, in welchen sich der Bruch als Zwischen in anschaulichen, aufeinander aufbauenden und deshalb der Hermeneutik zugänglichen, zeitlich und räumlich sich erstreckenden Vollzügen realisiert. Diese Paradoxie ist es, die[sic] Plessner die Basis seiner weiteren Arbeit gibt und ihm den Eingang in die Philosophische Anthropologie als einer Ausführung der Philosophie selbst verschafft.“ Breuns wortgewaltiger Duktus – vgl. die übertriebene Hypotaxe auf S. 3 Mitte – lenkt von der wertvollen Einsicht ab, die er in seinem Aufsatz vermittelt: Plessners Problem der Grenze ist, Breun zufolge, ein Äquivalent für Kants Heautonomie, „das heißt jene Freiheit, die dem System aller Gesetzgebungsgebiete noch vorhergeht und dieses allererst ermöglicht, und zwar gerade dadurch, dass sie selbst kein Gebiet hat, auf dem sie gesetzgebend ist, sondern die Gebiete lediglich verbindet“ (ebd., 32). Dies führt Plessner insbesondere mit seinen Interpretationen zum Prozess als Realisierungsmodus der Positionalität, zur dynamischen Form, zu Entwicklung und Wachstum, Altern und Tod etc. aus. Siehe Plessner 97, 38ff. Wird die Grenze von der Dynamik des Umschlags (also vom Doppelaspekt) her gedacht, so impliziert dies, wie Bernward Grünewald zeigt, eine Kritik an der organizistischen Gleichsetzung von Leben mit Ganzheitlichkeit. Siehe Grünewald 993, 278:

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Nimmt man diese Erläuterungen Plessners zum Begriff der Grenze zusammen, so kommt Klarheit in das Verhältnis von Natur und Leben, nach dem die Interpretation des lebendigen Wissens des Lebens in ihrem ersten Schritt fragt. Natur ist bei Plessner primär als eine anschauliche Wirklichkeit gefasst, in der Phänomene als transponierbare Größen erscheinen: als Gestalten, die sich als Einheiten unabhängig von den funktionalen Schwankungen in der Summe ihrer Teile wiederherstellen. Wie Plessner immer wieder unterstreicht, benötige man „Naturwissenschaft und Philosophie, jene zur Ermittlung des materiell-energetischen Substrats quantitative Sachverhalte, diese zum Verständnis der Erscheinungsweise des Substrats qualitative Sachverhalte in Grundrelationen von Subjekt und Objekt begründend“ (Plessner 98b, 8). Plessners Konzentration auf die anorganische Natur vor der inhaltlichen Wende zum Lebendigen ist denn auch weit mehr als lediglich der zentrale Mosaikstein seiner Vitalismuskritik72. Das Problem der Gestalten gibt Plessner einen Schlüssel an die Hand, um das vom Vitalismus reklamierte Privileg des Lebens – ein Ganzes zu sein, das die Summe seiner Teile übersteigt – auf die Stufe der Natur herab zu transformieren. Die Logik der Gestalten umfasst anorganische wie organische Dinge. Durch die Hypothese, dass lebendige Dinge ihre Grenze realisieren, arbeitet Plessner jedoch ein Motiv heraus, das durch die Gestaltform nicht abgedeckt wird: Lebendige Dinge erscheinen als Gestalt und zugleich als versetzt zu ihrer Gestalt. Ist ein Ding als Gestalt bestimmt, so bedeutet dies eine innere Geschlossenheit dieses Dings, seine Konturierung gegen Anderes; ist ein Ding hingegen als „grenzrealisierend“ bestimmt, so bedeutet dies, dass die Grenzlinie, die dieses Ding zu einem in sich geschlossenen (d.h. zu einer Gestalt) macht, Ausdruck dieses Dings im Ganzen ist. Anders: Im Fall des Lebendigen ist die lebendige Gestalt Ausdruck eines Etwas, das Gestalt „hat“. Im Unterschied von natürlichen Dingen bieten lebendige Dinge anschaulich dar, was sie wesentlich sind. Dieser Ausdruckscharakter ist es, dem unter alleinigem Bezug auf den Gestaltbegriff nicht Rechnung getragen werden kann. Manche, aber nicht alle (sondern eben nur die lebendigen) Gestalten verweisen auf das „In ihm selber Sein und Aus ihm selber Sein“ (Plessner 97, 0) dessen, was sich als Gestalt artikuliert. Die nicht relativierbare Differenz zwischen Natur und Leben bei Plessner lässt sich auf die These bringen: „Nur Lebendiges kann Ausdruck haben“ (Schlossberger 2008, 2). Gleichwohl erhält das unterscheidende Kennzeichen des Lebens seine volle Schärfe erst dann, wenn das Gemeinsame, das die Stufe des Lebens mit der Natur verbindet, ernst genommen wird. So bestimmt, kann und muss Natur bei Plessner von Anfang an als ein intermediärer Bereich gelten, ein Bereich, in dem der Ausdruckscharakter lebendiger

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„Wir könnten nun den Verdacht haben, dass wir uns im Kreise gedreht hätten: Was ist denn mit dem Begriff der Grenzrealisierung – gegenüber dem traditionellen Begriff der Ganzheit – gewonnen? Der Vorzug des Begriffs der Grenzrealisierung ist es, dass in ihm schon ein Moment gedacht wird, das üblicher Weise im Begriff der Ganzheit nicht enthalten ist: die Beziehung zum anderen dieses Ganzen, zu seiner Umgebung.“ [Hervorhebung im Original, T. E.] Am Ende von Macht und menschliche Natur (93; hier: 98b) nimmt Plessner vielmehr eine Art Wiederkehr des Anorganischen in Aussicht. Denn mit Plessners Beschreibung des Menschen „als Stoff in der Form des je mein Körper Seins“, der „Durchgegebenheit“ auf eine Schicht, auf der sich der Mensch nicht länger als „Selbst“ fassen kann, taucht ein Motiv der Unbestimmtheit auf, das durch Hermeneutik schlechthin nicht mehr bewältigt werden kann. Siehe Plessner 98b, 227.

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Dinge schon immer von einer Pluralität von Akteuren rezipiert wird, in deren Auslegungen sich ein „Ding“ erst konstituiert73. Hier beginnt der Einsatz einer Naturphilosophie, die sich mit den Methoden der Phänomenologie und der Hermeneutik ausrüstet. Lautet Plessners weiterführende Hypothese im Gefolge seiner Dingkonzeption, dass lebendige Dinge offensichtlich ihre eigenen Grenzen realisieren, wenn sie den Doppelaspekt, der ihre Erscheinung bestimmt, explizit als Eigenschaft ausstellen, so bedeutet dies methodisch die Überschreitung von Phänomenologie und Hermeneutik. Plessners Leitüberlegung fragt also danach, was (d.h. welche konstitutive Bedingung) es einem Ding ermöglicht, als selbstbezüglich, d.h. seine eigenen Grenzen realisierend, zu erscheinen. Dass mit dieser Problematik nicht nur die Natur (in ihrem Verhältnis zum Leben), sondern auch die Phänomenologie (in ihrem Verhältnis zu einem ontologischen Argumentationsanspruch) an eine Grenze geführt wird7, zeigt Plessner an Hand der Differenz von indikatorischen und konstitutiven Wesensmerkmalen des Lebens auf7. Wenn man nämlich annimmt, dass ein Körper – in der Anschauung durch die exponierte Stellung des Doppelaspekts gekennzeichnet –, seine eigenen Grenzen vollzieht und in diesem Vollzug als gegen Anderes und in sich selbst besondert erscheint, so gewinnt man zunächst nur ein Indiz für die Lebendigkeit des betreffenden Körpers. Diese auf Indizien basierende Beschreibung schließt jedoch nicht den Fall aus, dass ein Etwas den Eindruck erzeugt, es sei lebendig, dies de facto aber nicht ist. Da sich Plessners gesamte systematische Argumentation sorgfältig in der Logik von Erscheinungen (im Unterschied zu 73

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Diese Beobachtung entspricht der Hauptthese von Jan Beaufort, Plessners Ansatz sei systematisch als „Konstitutionstheorie“ zu begreifen. Plessner beginne in den Stufen mit einem „Primat des Objekts“, mit der vermeintlich unmittelbaren Dingwahrnehmung, um sodann schrittweise aufzudekken, dass es sich bei den Dingen „um bereits konstituierte Gegenstände[n]“ handelt. Beaufort 2000, 2. Siehe ebd., 23: „Die methodische Abstraktion, die Wahrnehmung immer schon leistet, ist erst einem Wesen exzentrischer Positionalität möglich. Damit ein Ding [sprich: die Natur, Anmerkung T. E.] als real erscheinen kann, muß die Differenzierung von Umwelt und Außenwelt sowie von Innenwelt und Außenwelt erfolgt sein. Das gelingt dem Menschen.“ Dazu ebd., 0: „Welchen einzelnen Wesensmerkmalen der Status zukommt, das Leben bloß anzuzeigen oder aber es zu verbürgen, kann nicht mehr in der Alltagserfahrung bzw. von der Phänomenschau geklärt werden. Hier sind die Grenzen der Phänomenologie bezeichnet.“ Siehe Plessner 97, f.: „Dabei sei ein häufig übersehener Unterschied gemacht zwischen solchen Wesensmerkmalen, die rein die Lebenserscheinung im Sinne des ‚Habitus‘ der Lebendigkeit a n z e i g e n , und den Merkmalen, deren ‚vollständiges‘ Auftreten das wirkliche Vorhandensein eines Lebendigen (‚wirklich‘ nicht im Sinne der Kriterien der empirischen Naturwissenschaft, sondern im Sinne der A n s c h a u u n g ) phänomenal verbürgt. So gibt es sehr charakteristische Bewegungen, die Leben verraten und auch dort vortäuschen, wo der Bewegungsträger unbelebt ist (Papierschlange z.B.). Diese Bewegungen lassen den spezifisch vitalen Bewegungstypus erkennen, der für sich allein zu den ‚anzeigenden‘ Wesensmerkmalen gehört. […] Konstitutive Wesensmerkmale als die Kategorien des Lebendigen können (einzeln und insgesamt) auch nur in der Anschauung erfasst werden. Sie bestimmen das Leben, täuschen es niemals vor. Sie bestimmen aber das Leben als Sein für die Anschauung, haben dagegen mit jenen Seinsschichten, in denen physikalische und chemische Begriffsbildung zuhause ist, unmittelbar nichts zu tun. […] Eine derartige apriorische Theorie des Organischen [bzw. der konstitutiven Wesensmerkmale oder Modale des Lebens, T. E.] hat, so scheint es, mehr Verwandtschaft mit einer Dialektik als mit einer Phänomenologie.“

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Dingen an sich) bewegt, lässt sich die Grenze vorerst nur als Kriterium dafür verwenden, dass etwas als lebendig erscheint. Mit anderen Worten: Die These von der Grenze des Lebendigen kann, obwohl sie von einem phänomenologischen Befund ihren Ausgang nimmt, nicht exklusiv phänomenologisch operieren. Man kommt an den Unterschied zwischen Dingen und Prozessen, die Leben „bloß“ indizieren, gegenüber Dingen und Prozessen, die leben, nicht heran, wenn man sich auf die Deskription anschaulicher Erscheinungsweisen beschränkt. Es ist an diesem Punkt hilfreich, die für Plessner typische Form des philosophischen Fragens in Erinnerung zu rufen, die abermals die Lösungsrichtung für das Problem vorzeichnet: Stets geht es darum, per Rückschlussverfahren die Bedingungen der Möglichkeit dafür anzugeben, dass ein Phänomen für die Anschauung in der Anschauung auf eine spezifische Weise (z.B. als lebendiges Phänomen) gegeben ist. Die Raffinesse dieses Verfahrens liegt nun gerade darin, die Frage nach dem Transzendental nicht einseitig auf die Seite des Subjekts oder der Objekte der Erfahrung hin aufzulösen, sondern davon auszugehen, dass zwischen den „Komplexionsstufen der Wirklichkeit“ (98b, 9) und den „Funktionsstufen des Subjekts als eigentümliche Voraussetzung“ (ebd.) ein je zu explizierendes wechselseitiges Bedingungsverhältnis besteht. Plessners Philosophie verfügt somit über eine transzendentale Struktur, ohne das Apriori der Erfahrung restlos im Subjekt zu verankern. In der Begegnung mit den Phänomenen durchdringen sich die hermeneutischen Aktivitäten des Subjekts und der Ausdruckscharakter des Objekts: Mit der Konsequenz, dass „grundsätzlich ein flankierender Blick, ein seitlich versetzter Blick auf die Subjekt-Objekt-Relation“ (Fischer 2008a, 22)76 aufgerufen wird, um das Apriori der Begegnung zu bestimmen. Nirgends wird dies so deutlich wie in Plessners „Axiomatik des Organischen oder eine[r] apriorische[n] Theorie der organischen Modale“ (Plessner 97, 2), welche die Bedingungen dafür, dass ein physisches Ding als lebendig erscheinen kann, an diesem physischen Ding selbst, an dessen Konstitution, erschließt.

. Von der Indikation zur Konstitution. Die Verankerung der epistemischen Differenz von Natur und Leben in Plessners Axiomatik des Organischen Der systematische Hauptschritt einer Philosophie, die ein lebendiges Wissen des Lebens begründet, hat eine absolute, nicht relativierbare Differenz zwischen Natur und Leben zu markieren. Es ist der Terminus der Grenze, mit dem Plessner genau diese entscheidende Zäsur in Angriff nimmt. Das primäre Charakteristikum von Natur ist die „unmittelbare Anschaulichkeit und Bildhaftigkeit“ (98c, 7) der Dinge, eine Anschaulichkeit, die Plessner vehement gegen den Konstruktivismus verteidigt (ebd., 70). Das Projekt einer Naturphilosophie zielt im Ganzen darauf, die spezifische Realität der Anschauungsge76

Plessners Chiasmus „Versinnlichung des Geistigen, Vergeistigung des Sinnlichen“ aufnehmend, sieht Fischer m.E. sehr klar die Dislokation des Apriori bei Plessner. Das Potenzial, lebendige Dinge als lebendig zu verstehen, gründet nicht vorrangig auf den transzendentalen „Leistungen der Subjektivität“ (Fischer 2008a, 9), oder doch nur insofern, als dass diese Subjektivität ihrerseits „Tatbestand des Lebendigen“ (ebd.) ist. Siehe auch den Begriff des „ferngestellten lebendigen Körpers“ (ebd., 20) oder das Bild der „gegensinnigen Drehbewegung“ (ebd., 2), die „den ›Geist‹ aus dem Organischen herauf -und herausführt“ (ebd.), aber in eben diesem Maß „ins Lebendige (…) versenkt“ (ebd.).

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halte, die Wirklichkeit der von den Naturwissenschaften nicht messbaren Qualitäten natürlicher Dinge, unter Beweis zu stellen77. Naturphilosophisch geht es um die Erkenntnis jener den Erscheinungen immanenten Strukturbedingungen, die ermöglichen, dass „die Wirklichkeit selbst […] als der Anschauung zugänglich in die Anschauung“ (ebd., 7) eintreten kann. In Plessners Kategorien gesprochen, bildet die Natur einen phänomenalen Raum, in dem Doppelaspektivität wirksam und wirklich ist. Unabhängig von ihren materiellen Konstituenten verfügt eine (anorganische wie organische) Gestalt über eine rein anschaulich fassbare Spannung von Kern und Eigenschaften. Solcherart auf das Problem der Erscheinung hin angelegt, steht der Begriff der Natur bei Plessner von Anbeginn in Korrelation zu einem Begriff von Wissen oder Erkenntnis78. In dem Maße, in dem Gestalten nicht in quantifizierbaren Aspekten aufgehen, sondern Qualitäten realisieren, sind die Erkenntnisse, die sich auf Gestalten, d.h. auf Natur beziehen, im Kern nichtempirisch79. Gleichwohl behauptet Plessner die extramentale Wirklichkeit der Qualitäten (Plessners Ausdruck: „Modale“80) sowie, damit verbunden, den Realismus eines Wissens, das sich dieser Qualitäten vergewissert – wodurch klar wird, dass Plessner die phänomenologische Einklammerung der Existenzurteile nicht mittragen kann. Vor diesem terminologischen Hintergrund denkt Plessner, wie gezeigt wurde, den Bruch, der zwischen den Begriffen der Natur und des Lebens verläuft. Leben beruht, so Plessner, „auf dem eigenartigen Verhältnis des Körpers zu seiner Grenze“ (Plessner 97, 23): Wohingegen Natur (Gestalten) durch das relative Nebeneinanderbestehen der faktisch-materiellen Grenze und der anschaulichen Aspektgrenze charakterisiert ist, tritt beim Leben (bei lebendigen Ganzheiten) die materielle Grenze als Aspektgrenze, d.h. im Status einer Eigenschaft heraus. Materielle Grenze und Aspektgrenze erscheinen als miteinander verschränkt. Vom unbelebten Körper lässt sich nicht feststellen, dass er – wie es bei Lebendigem der Fall ist – „zu seiner Seinsweise als Träger einer Grenze“ (Ingensiep 200, 37) wiederum in Beziehung steht. Das Erscheinungsbild des Lebendigen dagegen veranlasst zu dem Schluss, Lebendiges sei gegen seine Umgebung, aber auch gegen „sich“ selbst, nämlich gegen seine eigenen materiellen Bestimmtheiten und gegen seine eigene Gestalt, distanziert. Wird auf diese Weise eine Rückbezüglichkeit des Lebendigen (auf sich) evident, so hängt dies mit dem Umbruch der Richtungen nach Innen und nach Außen zusammen, der in der Grenzrealisierung passiert. 77 78

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Für eine Diskussion von Plessners Natur- im Unterschied zu seinem Lebensbegriff siehe exemplarisch Lessing 2008. Wissen und Erkenntnis sind dabei dezidiert nicht in einem empirischen Sinne zu verstehen, sondern beziehen sich – wie bereits diskutiert – auf ein spezifisches Zusammenspiel von Phänomenologie und Hermeneutik, die sich nun als die Methoden der in Rede stehenden Naturphilosophie spezifizieren lassen. Siehe Kuśmierz 2002, 09– (Kapitel: „Naturwissenschaft und Naturphilosophie“). Siehe Plessner 97, 07: „Unsere Aufgabe ist eine apriorische Theorie der organischen Wesensmerkmale oder, um einen von A. Meyer in Anlehnung an Helmholtz geprägten Ausdruck zu benutzen, eine Theorie der ‚organischen Modale‘, wobei unter Modal im Sinne von Helmholtz eine solche qualitative Letztheit zu verstehen ist, die nicht durch Reduktion auf andere Qualitäten weiter analysiert werden kann. […] Aber wir fassen den Begriff Modal enger, wenn wir es in seiner Q u a l i t ä t für unbedingt unauflösbar und irreduzibel halten und damit sagen, dass es als solches nie aufhört, auch wenn seine physikalischchemischen Bedingungen exakt angegeben worden sind.“

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Wenn Plessners Konzeption ein lebendiges Wissen des Lebens in sich trägt, so bedeutet dies, die bisher entwickelte Differenz zwischen Natur und Leben überschreiten zu müssen. Die Verschiedenheit des Lebens gegenüber der Natur darf nicht Gegenstand einer phänomenologischen Hypothese bleiben und am Kriterium der Erscheinung entschieden werden. Sie muss in der Realität verankert sein und am Kriterium des Seins entschieden werden8. Um den false friend eines Phänomens diskriminieren zu können, das lebendig erscheint, ohne lebendig zu sein, ist der Begriff des Lebens letztlich nur auf dem hohen Niveau einer apriorischen Theorie zu sichern. Die Lebensdifferenz muss sich deduzieren lassen. Die „Theorie der organischen Wesensmerkmale“ bzw. die darin von Plessner vorgetragene Deduktion ist innerhalb Plessners Philosophischer Anthropologie ein Garant dafür, dass man von einem Begriff des Lebens in Differenz zum Begriff der Natur sprechen kann. Aus der Unterscheidung zwischen indikatorischen und konstitutiven Lebensmerkmalen geht hervor, dass die Antwort auf die Frage, was Leben sei, nicht dem Modell der Grenzrealisierung – verstanden als begrifflicher Abstraktion – überlassen werden darf. Es würde eine zirkuläre Begründung in Gang gesetzt: Das, was auf Grundlage unmittelbarer Anschauung als die Bedingung vermutet werden darf, die es einem physischen Körper erlaubt, als lebendiger Körper zu erscheinen, würde irrtümlich als reale Bedingung dafür bestimmt, dass ein Körper de facto lebendig ist. Man würde Plessners transzendentale Problemstellung verkennen und in einem ontologischen Konstruktivismus der Grenze ankommen. Ebenso klar ist allerdings, dass sich der Grenzvollzug nicht als rein empirischer Prozess ausbuchstabieren lässt82. Dieser Versuch würde Plessners phänomenologische Ausgangsunterscheidung zwischen räumlichen und raumhaften Konstituenten 8

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Siehe Ingensiep 200, 36: „Daher ist festzuhalten, dass Plessner ‚Begrenzung‘ als ‚Ausgangspunkt für die Theorie der organischen Modale‘ bzw. als hypothetische ‚Minimalbedingung‘ von ‚Lebendigkeit‘ einführte und betont lebensweltlich bei der ‚visuellen und taktilen Anschaulichkeit‘ physischer Körper einsetzte, um diese dann allerdings in der biophilosophischen Analyse zu übersteigen.“ [Alle von Ingensiep qua Anführungszeichen zitierten Textstellen entstammen den Stufen des Organischen, T. E.] Obwohl Ingensiep zu Recht die interne Notwendigkeit von Plessners „Biophilosophie“ beschreibt, die „betont lebensweltliche“ Annäherung an das Lebendige zu „übersteigen“, unterliegt er dem Missverständnis, Plessner habe für die Grenzvollzüge empirische Äquivalente verlangt. Ingensieps Versuch, „Ausdrücke wie ‚Grenze‘ und ‚Positionalität‘“ (ebd., 37) am Maßstab „moderner Biologie und Biotheorie“ (ebd.) zu messen, läuft auf die These hinaus, Plessner habe das In-Erscheinung-Treten der Grenze durch empirische Abläufe begründet. Dies ist jedoch nicht zutreffend: Es geht vielmehr um die reziproke Herleitung von Grenzrealisierung und empirischen Bestimmungen, d.h. um ihre Herleitung auseinander. Ingensiep ist also m.E. nicht zuzustimmen, wenn er schreibt: „Der Philosoph [Plessner, T. E.] wollte seinen im Grenzbegriff fundierten Positionalitätsbegriff veranschaulicht, wenn nicht gar empirisch bestätigt sehen.“ (ebd., 36) Siehe Plessner 97, : „Richtig ist, dass die organischen Modale, die Wesensmerkmale des Lebens, wie sie uns zunächst die Erfahrung an die Hand gibt, zugleich Grundbegriffe und Themen für einzelne Disziplinen der Biologie bedeuten, so daß ihr anschaulicher Elementarsinn dadurch verdeckt wird. Es ist auch keineswegs ausgemacht, dass der Anschauungsgehalt dieser empirisch gewonnenen Modale jedem Begriffe in gleicher Gegenständlichkeit zugehört. Aber von unten auf, von der Empirie her die Frage aufzurollen, verspricht nicht den geringsten Erfolg. Wohl darf die Orientierung an der Erfahrung nie abreißen, doch soll die Erfahrung hier nicht diktieren. Was wirklich Modal genannt zu werden ver-

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eines Dings und damit den begrifflichen Sinn des Doppelaspekts annullieren. Treffender ist es daher, mit Olivia Mitscherlich von einer „doppelseitigen Deduktion“ (Mitscherlich 2007, 02 und passim) bei Plessner zu sprechen, die stets „beide Erkenntnisrichtungen“ (ebd., ) im Blick bewahrt: die „begriffliche Entfaltung der Grenzrealisierung in ihren Funktionen der Besonderung des Lebendigen und seiner Einheitsbildung“ (ebd., Hervorhebung i.O., T. E.) zum einen, die „Anschauung des Lebendigen in seiner Tatsächlichkeit“ (ebd., Hervorhebung i.O., T. E.) zum anderen. Eine entscheidende methodische Klärung seines Deduktionsvorhabens führt Plessner im siebten Unterabschnitt (Titel: „Definitionen des Lebens“) des dritten Kapitels der Stufen ein. Zunächst kennzeichnet Plessner eine Doppeldeutigkeit, die der Rede von „konstitutiven Wesensmerkmalen“ (Plessner 97, ) des Lebens innewohnt. Der Anspruch, den „Ka t e g o r i a l c h a r a k t e r“ (ebd.) von Sachverhalten zu identifizieren, die sich der Anschauung zeigen, könnte unbesehen in einer Systematisierung von „empirischen Einheiten“ (ebd., 6) enden, „deren Studium Sache des Biologen ist“ (ebd.). „Assimilation, Vererbung, Regulation, Entwicklung, Altern“ (ebd., f.) sind in Plessners Sicht diejenigen vitalen Grundmerkmale, die eine Philosophie der lebendigen Modale „un t e r d e m G e s i c h t s p u n k t“ (ebd., 22) der Grenzrealisierung zu explizieren hat. Vom Standpunkt der Empirie muss diese These zunächst fragwürdig erscheinen, da es sich bei Plessners Beispielen unstrittig um Phänomene und Prozesse handelt, die durch biologische Forschung funktional erklärbar sind. Um Missverständnisse auszuräumen, präzisiert Plessner daher zunächst den Begriff der „Kategorien“. Kategorien seien eben keine „Denkformen, Urteilsweisen, typische Begriffe“ (ebd., 6), sondern „Formen, die weder dem Subjekt noch dem Objekt allein angehören und sie vermöge ihrer Neutralität zusammenkommen lassen. Sind Bedingungen der Möglichkeit des Übereinkommens und der Eintracht zweier wesensverschiedener und voneinander unabhängiger Größen, so dass diese weder durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt sind noch direkt Einfluss aufeinander haben.“ (Ebd., 6)

In diesen Bestimmungen ist Plessners transformierte Transzendentalphilosophie in nuce enthalten: Den Subjekten können Objekte deshalb erscheinen, weil sich beide Pole durch eine „Bedingung der Möglichkeit des Übereinkommens“ in Korrelation befinden. Doch dieses tertium, das beide Seiten „zusammenkommen“ lässt und ihre Interaktion garantiert, ist ein Bindeglied, das sich der einen wie der anderen Seite gleichermaßen entzieht. Man kann dies wie folgt erläutern: Natürlich muss die von Plessner stark gemachte Anschauung der Dinge immer als Anschauung für ein Subjekt (ein Bewusstsein) bestimmt werden, das in dem Maße, in dem es sich auf Dinge bezieht, diese auch konstituiert. Das Subjekt trägt transzendentale Voraussetzungen ein, Ordnungsleistungen, ohne die sich aus der Mannigfaltigkeit sinnlicher Daten die distinkte Einheitlichkeit eines Dings überhaupt nicht abhöbe. Angeschaut wird jedoch – und diese Pointe zeichnet die Doppelaspektivität aus – die Konstitution der Gegenstände selbst, die keineswegs einem Konstruktivismus des anschauenden Subjekts in Rechnung gestellt werden kann. Hinausgehend über die Bedeutung von Erkenntnisbedingungen, die auf Seiten der Subjekte transzendental hergeleitet werden, sind Kategorien also bei Plessner Gegenstandsbedingungen, modale dient, irreduzible Letztheit, Wesensmerkmal, lehrt Erfahrung niemals, sondern setzt es unbewusst bereits voraus.“

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Letztheiten, die sich nur aufklären lassen, wenn man fragt, was ein Ding konstitutiv ist. Die Kategorien, wie Plessner sie definiert, sorgen mithin für eine Disjunktion „zwischen heterogenen Sphären, sowohl zwischen Denken und Anschauung wie zwischen Subjekt und Objekt“ (ebd., 6). Subjekt und Objekt sind aufeinander bezogen nur über einen Bruch, der sie voneinander scheidet. In Plessners Ansatz werden also die transzendentalen Konstitutionsleistungen des Subjekts durch die ontische Konstitution der Objekte umfasst: Der im ersten Schritt phänomenologisch isolierte „Grundsachverhalt“ (ebd., ), wonach Lebendigkeit ein grenzrealisierender Prozess sei, muss im zweiten Schritt systematisch durch „Gesetze des Zusammenhangs zwischen Lebewesen und Umwelt […], material apriorische Gesetze also“ (ebd., 6) in seiner Realität verbürgt werden. Genaugenommen ist es diese reziproke Relation, die Gegensinnigkeit zwischen subjektiv konstituierten Bestimmungen der Realität (des Lebendigen) und der qualitativen Konstitution von (lebendiger) Realität, auf die sich Plessners originäre Fragestellung bezieht83. Wenn man im Anschluss an Jan Beaufort behaupten kann, dass in Plessners Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Lebendigen eine „‚Konstitutionstheorie‘ bzw. ‚Konstitutionsanalyse‘“ (Beaufort 2000, 2) zentral ist, so lässt sich die Bedeutung dieser Theorie nach zwei Richtungen präzisieren: Zum einen gilt Plessners Interesse bei der Deduktion der irreduziblen Letztbestimmungen des Lebendigen einer Erkenntnisbeziehung – dem Apriori eines Subjekts, das qua Anschauung die Erfahrung mit ihm gegebenen Dingen, darunter auch lebendigen, konstituiert. Zum anderen umschließt jedoch die Konstitutionstheorie auch ontologisch das Sein der Dinge, die sich der Anschauung auf gewisse Weise, also im fraglichen Fall: als lebendig zeigen (ebd., 27). Die Theorie geht die Konstitution, die reale Verfassung solcher Phänomene an, von denen die Anschauung hypothesenartig annimmt, sie seien lebendig und realisierten eine Grenze, die sie in sich selbst ab- sowie gegen Anderes aufschließt. In einer Konstitutionstheorie solchen Typs verschränken sich Gegenstandbedingungen und Erkenntnisbedingungen8. 83

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Siehe Grünewald 993, 280f.: „Das zugrundeliegende Problem lautet vielmehr, wie denn in der Welt der Gegenstände, zu der ja auch erkennende Subjekte gehören, so etwas wie Erkenntnis vorkommen kann. Das heißt aber im erkenntnistheoretischen Rahmen: es ist zu fragen, wie denn dasjenige, als was Erfahrungs-Gegenstände gedacht werden müssen (um in der Erfahrung objektiv bestimmbar zu sein), so differenzierbar ist, dass darin auch ein erkennendes Verhältnis zu Gegenständen denkbar wird. Dies aber erfordert es, dass Organismen nicht einfach ‚als seiende Objekte, sondern als lebende Objekte verstanden‘ werden (vgl. ST 0 [66]).“ [Hervorhebungen i.O., T. E.] Dieses Zitat nimmt bereits vorweg, dass sich Plessners Philosophie des Lebendigen als ein lebendiges Wissen des Lebens enthüllen wird: Plessners transzendentale Argumentation dringt bis zu einem Punkt vor, an dem den „Erfahrungs-Gegenständen“ selbst ein Ausdruckscharakter zuerkannt wird, nämlich für den Fall, dass es sich um lebendige Gegenstände handelt. Es kommt, wie Plessner selbst betont, ein „materiales Apriori“ zum Tragen, von dem aus nun umgekehrt gefragt werden kann, wie ein Ausdrucksverstehen des Ausdruckscharakters von Lebendigem möglich ist. Und dieser Gedanke läuft wiederum darauf hinaus, dass die Erkenntnis lebendiger Vollzüge selbst einen lebendigen Vollzug darstellt. Die entscheidende Frage betrifft dann die besondere Organisiertheit eines Lebewesens, das in einer Erkenntnisbeziehung zu dem Selbstausdruck lebendiger Gegenstände steht. Diese Thematik möchte ich an späterer Stelle vertiefen. Zur Wechselbeziehung von Gegenstands- und Erkenntnisbedingungen siehe Grünewald 993, 280. Siehe auch Fischer 2000, 273:

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Für die These dieser Untersuchung ist die beschriebene Relation kardinal. Plessners Theorie der organischen Modale setzt nämlich nicht nur die Grenze fest, die den Begriff der Natur vom Begriff des Lebens ultimativ differenziert. Diese Theorie oder vielmehr die Deduktion, auf der sie aufbaut, weist vor allem nach, dass die Frage nach dem Leben (besser: dem Lebendigen) strukturell nicht unabhängig von einem Erkenntnisverhältnis aufgeworfen kann, nicht ohne Rücksicht auf ein Wissen und den Träger eines Wissens, das sich auf das Lebendige bezieht. Weil das Leben „nicht mehr nur zu sich selbst in Beziehung“ (Lindemann 996, 7), sondern „vielmehr, indem es zu sich in Beziehung ist, zugleich zu seiner Umgebung in Beziehung gesetzt ist“ (ebd.), liegt es stets nur relational vor. Leben ist ein in Mediatisierungen eingelassener Prozess. Insofern ist Volker Gerhardt Recht zu geben, „die kühle Pointe“ (Gerhardt 2003, 39) von Plessners Verfahren in den Stufen äußere sich „darin, dass es [das Verfahren, T. E.] mit seiner die Sinne einbeziehenden Rationalität beim Leben einsetzt“ (ebd.)8. In der entscheidenden Deduktion der Lebensmodale artikuliert sich Plessners „rationale Wendung zum Leben“, die deshalb innovativ ist, weil sie einerseits im Unterschied zur analytischen Rationalität der Empirie eine Realerkenntnis lebendiger Qualitäten ermöglicht und andererseits die vitalistische Position widerlegt, wonach sich das Leben der Erkenntnis radikal entzieht. Meine Darstellung beansprucht nicht, Plessners komplexe Deduktion der Wesensmerkmale des Lebendigen in ihren sämtlichen Teilschritten zu reproduzieren86. Mit Blick auf die grundlegende These dieser Studie erscheint es angebrachter, nur einige Aspekte des Lebensbegriffs selektiv herauszugreifen, die durch Plessners Neuansatz eine Transformation erfahren. Dabei soll es um Plessners Umstellung von Themen gehen, die für den Vergleich von Plessners Konzeption mit derjenigen von Georges Canguilhem besonders aufschlussreich sind, insoweit auch Canguilhem diese Themen reflektiert. Auf diese Weise stellt sich ein Gesamtüberblick über den Begriff und die Philosophie des Lebens her, die Plessner im Zuge seiner Philosophischen Anthropologie vertritt. Die Umänderungen des Lebensbegriffs, zu denen Plessner im Verlauf seiner Deduktion gelangt, müssen schon allein deshalb entfaltet werden, weil sie der Beantwortung dreier noch offener Punkte die Weichen stellen: Erstens ist noch präziser zu erläutern, was unter einem Wissen oder einer Erkenntnis, deren Gegenstand das Lebendige ist, verstanden werden kann; zweitens muss sich erweisen, warum eine derartige (Wissens-) Rationalität, die sich auf lebendige Objekte bezieht, zwingend die Rationalität eines Subjekts sein soll, das seinerseits lebendig ist; und drittens steht das Argument aus, dass Plessner einzig und

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„Der bloßen Phänomenologie des Organischen versucht Plessner eine konstitutionstheoretische Hypothese zu geben.“ Nicht ganz einleuchtend, weil stark abgekürzt, ist allerdings die Begründung, die Gerhardt für seine Interpretation gibt. Denn Plessner „zeigt“ (ebd.) nicht, „dass Leben wesentlich in der Produktion dynamischer Ordnungen besteht, die in sich bereits auf Spontaneität und Plastizität, Historizität und Systemrationalität angelegt sind“ (ebd.) Hier handelt es sich nicht um jene „Momente, aus denen auch die [wessen?, Anmerkung T. E.] jeweilige Lebenswelt hervorgeht“ (ebd.) Anders als es Gerhardts Terminologie suggeriert, sind Plessners ontologische Propositionen über das Leben innerhalb einer quasi-transzendentalphilosophischen, erkenntnistheoretischen Fragestellung gebrochen: Was ermöglicht es, Gegenstände der Erfahrung ihrer Konstitution nach so zu differenzieren, dass eine Referenz auf sie in Form von Erkenntnis überhaupt möglich ist? Dies hat Olivia Mitscherlich minutiös und eindrucksvoll getan. Siehe Mitscherlich 2007, besonders 02–2.

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allein die Philosophische Anthropologie für die begründete Systemform hält, in der sich ein lebendiges Wissen des Lebens zu realisieren vermag.

6. Der Wendepunkt: Die Deduktion der Vitalkategorien Seit Kant hat eine kritische Deduktion in der Philosophie die Aufgabe, die Notwendigkeit und die gesetzmäßige Gültigkeit von Formen zu rechtfertigen, die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung sind und aller Erfahrung vorangehen87. Für die von Plessner herausgearbeitete Problemstellung lässt sich dieser Anspruch folgendermaßen spezifizieren: Wir vermuten auf Grundlage alltäglicher Anschauung, dass ein Ding dann „lebt“, wenn es seine Grenze realisiert, wobei unter der Grenze eine Art Umschlagszone zu verstehen ist, die „gegen den Richtungsunterschied [von Innen und Außen, T. E.] selbst neutral ist und den Ansatz in der einen oder der anderen Richtung erlaubt“ (Plessner 97, 00). Der Vollzug der Grenze ist also, so lautet die Hypothese, Bedingung der Möglichkeit für das Lebendigsein eines Dings. Insofern ein Ding seine Grenze vollzieht, erscheint es sowohl in sich als auch gegen Anderes, gegen ein Außen, abgegrenzt, will sagen: geschieden und in Beziehung. Um jedoch unterscheiden zu können zwischen Phänomenen, die vortäuschen, lebendig zu sein und Phänomenen, die de facto lebendig sind, ist es notwendig, die „Grenzhypothese“ (Mitscherlich) in der Tatsächlichkeit eines lebendigen physischen Dings zu verankern. Es muss ersichtlich werden, dass es letztgültige Merkmale von bzw. Kriterien für Lebendigkeit gibt, die mit der These, Leben sei ein grenzrealisierender Prozess, zur Deckung kommen88. Zu deduzieren ist, dass die konstitutiven Verlaufsformen 87

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Prägnant erläutert Volker Schürmann, dass auch Plessner „entschieden an dem Unterschied und der Nicht-Reduzierbarkeit von Genese und Geltung“ (Schürmann 20, 90) festgehalten habe und gerade deswegen „in einer wesentlichen Hinsicht (…) Transzendentalphilosoph“ (ebd.) sei und bleibe. Mathias Gutmann ist der Auffassung, Plessner sei die Garantie konstitutiver Wesengesetzlichkeiten des Lebens in der Theorie organischer Modale misslungen. Zum Verhängnis werde ihm gerade die Rückbeziehung des Grenzbegriffs auf die empirische Wirklichkeit: Die Deduktion der Modale greife auf „schon (durchaus im besten Sinne empirisch) geltendes Wissen“ zurück, das im nächsten Schritt „auf die Grenze bezogen“ werde. Damit werde die empirische Dimension, die sich aposteriori als Resultat der Grenzrealisierung bewahrheiten soll, bereits als Apriori investiert. Von einer Deduktion könne keine Rede sein, da Plessner mit einer „nachträglichen Subsumption“ arbeite. Siehe Gutmann 200b, 0 (alle Zitate). Ähnlich wie Gutmann beschreibt Michael Weingarten (mit stillschweigenden Bezug auf Plessner) das Problem, eine Naturphilosophie bzw. eine naturphilosophisch durchgeführte Philosophische Anthropologie bediene sich eines „zufällig aufgeraffte[n] biowissenschaftliche[n] Wissen[s]“ und bringe vor allem den „Unterschied zwischen und die Verschiedenheit von philosophischem und einzelwissenschaftlichem Wissen zum Verschwinden“ (Weingarten 200, 6). Gegen Gutmann und Weingarten ist einzuwenden, dass Plessner die Grenze einerseits, die Modale des Organischen andererseits nicht in ein apriori-aposteriori-Verhältnis auflöst. Die Grenze ist nicht als ein formales Apriori gefasst, an dessen Leitfaden sich die Modale durchdeklinieren lassen, und umgekehrt bilden die Modale kein materiales Apriori, das die Grenze naturalisiert. Siehe Plessner 97, 8: „Der Empiriker wird eines Tages erklären können, dass es keine ‚Anpassung‘ mehr gibt, sondern nur noch ‚Regulationen‘, keine ‚Regulationen‘ mehr, sondern nur noch bestimmt geartete, chemisch zu definierende Vorgänge: was an der Modalität ‚Anpassung‘ oder ‚Regulation‘ empirisch ist, hat dann

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von Leben „Ausprägungen einer bestimmten Seinsgesetzlichkeit“ (ebd., ) sind – und umgekehrt: die Grenze als Gesetzlichkeit, die das Leben fundamental auszeichnet, tritt in konkreten Ausprägungen in der Phylogenese und Ontogenese von Organismen auf. Erst wenn dieser in sich gedoppelte89, auf zwei Achsen operierende Nachweis erfolgreich geführt ist, bekommen die „Bestimmungen ihr Recht, […] z.B. die von Bichat gegebene: La vie est l’ensemble des fonctions qui résistent à la mort oder die von Claude Bernard stammende Merkmalsaufzählung: L’organisation, génération, nutrition, l’évolution, caducité, maladie, mort […].“ (Plessner 97, 2)

Im Folgenden überspringe ich, wie es Plessner in der Logik seiner Deduktion gelingt, die Besonderungsrichtung gegen Anderes, also das Über-es-Hinaus-Sein des Lebendigen, im Wechselverhältnis mit den sogenannten „dynamischen“ Lebensmerkmalen zu begründen. Wie Mitscherlich virtuos dargestellt hat, lassen sich die Modale der Prozesshaftigkeit, der Entwicklung und der Alterung als Konstituenten anführen, die Grenzrealisierung ermöglichen und zugleich umgekehrt unter dem Gesichtspunkt der Grenze ermöglicht werden. All diese in der Wirklichkeit eines Lebewesens präsenten Wesensmerkmale lassen sich nämlich mit der Fähigkeit des Lebewesens zusammen denken, „sich über seine Aktualität als physischer Körper hinaus zu setzen und sich dadurch zu entwickeln“ (Mitscherlich 2007, 9). Die Dynamiken, die ein Lebewesen faktisch affizieren, entsprechen dem Umstand, dass dieses Lebewesen im Werden begriffen ist, d.h. immer wird, zugleich aber immer etwas wird. Das Lebendige bildet seine Individualität heraus, indem es einerseits permanent übergeht, d.h. Veränderungen erfährt, die es über „sich“ [bei Plessner: es] hinaus propellieren. Andererseits besteht die Individualität des Lebendigen aber auch darin, dass es „bleibt, was es ist“ (Plessner 97, 38), also inmitten aller Werdensprozesse „unter seiner Gestaltidee“ (ebd.) fortexistiert. „Bleiben, was es ist, Übergehen in das, was es nicht ist (über ihm hinaus) u n d in das, was es ist (in ihm hinein)“ (ebd.): Diese Struktur, die verständlich macht, was es heißt, dass ein Lebewesen sich entwickelt, in Prozesse eingebettet ist etc., verweist auf die Struktur der Grenze, wie Plessner sie hypothesenartig definiert hatte. Analog verhält es sich mit den sogenannten „statischen“ Lebensmerkmalen, die Plessner diskutiert, um die Selbstbezüglichkeit des Lebendigen, also die „Grenzfunktion des In-Ihn-Hinein-Setzens“ (Mitscherlich 2007, 2) an der biologischen Realität dingfest zu machen. In dieser Beziehung sind die relevanten Modale auf Seiten des Lebendigen sein Systemcharakter, seine Selbstregulierbarkeit, seine Organisation und seine Zeithaftigkeit. Zwei dieser Modale möchte ich näher analysieren: Den System- oder Ganzheitscharakter sowie das Modal der Organisation, worunter Plessner zum einen ein spezifisches Ver-

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seine Bestimmung durch Zurückführung erfahren. Nie aber kann die Modalität des Modals davon betroffen werden.“ Die Kennzeichnung von Plessners Deduktion als einer „in sich gedoppelten“ Deduktion stammt von Mitscherlich 2007, 02 und passim. Wie wohl kein zweiter Interpret oder zweite Interpretin sieht Mitscherlich den Hiatus-Charakter in Plessners Deduktionsmethode, der dem Hiatus auf inhaltlicher Ebene korrespondiert. Nicht nur die Gegenstände von Erfahrung stehen in einer Gleichursprünglichkeit von materiellen und immateriellen Aspekten (siehe Doppelaspekt); auch das begriffliche Vorgehen, das die Konstitution dieser Gegenstände bestimmt, gibt beiden Hinsichten der Deduktion (phänomenologische Hypothese/Modale) ihr Recht, ohne eine von ihnen zu bevorzugen. Dazu ebd., .

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hältnis zwischen Organismus und Organen, zum anderen eine spezifische Relation der Organe eines Organismus untereinander fasst. Dabei gilt es, stets den Bezug vor Augen zu haben, der die Problematik der Modale mit dem Ansatz der vorliegenden Studie, also dem Thema eines lebendigen Wissens des Lebens, verknüpft: An der Deduktion der Lebensmodale entscheidet sich, ob es sich realiter so verhält, dass lebendige Dinge ein Verhältnis zu ihrer Grenze haben. Was wir zunächst auf Grundlage phänomenologischer Anschauung bloß postulieren konnten – nämlich dass Lebendiges Eigenschaften aufweist, die rein qualitativer Art sind –, erhielte ein fundamentum in re. Man könnte dann sagen: Was in der Anschauung lebendig auf uns wirkt, hat selbst und tatsächlich die Konstitution des Lebendigen, es ist (ontologisch gesprochen) lebendig. Dies aber würde zweierlei bedeuten: Erstens wäre eine qualitative Differenz zwischen Natur und Leben sicher gestellt, wonach es nicht nur so scheint, sondern so ist, dass sich Lebendiges in seiner Verfassung grundlegend von Natürlichem ausnimmt. Und zweitens wäre es möglich, zu den vitalen Qualitäten, d.h. den anschaulichen, von einem Lebendigen selbst zur Erscheinung gebrachten Charakteristika des Lebendigen, Zugang in Form von Erkenntnis zu haben. Neben den Quantitäten der Dinge, die sich empirisch feststellen lassen, wären die Qualitäten der Dinge, die sich anschaulich erkennen lassen, als gleichursprünglich erwiesen. Auch in ihren rein qualitativen Aspekten sind Lebewesen Objekte von Erkenntnis. Durch ihre dynamischen Lebensmerkmale, so hatte Plessner demonstriert, sind lebendige Dinge stets über „sich“ hinaus versetzt, in Abläufe, deren Ausgang sie nicht antizipieren und denen sie sich nicht verschließen können (siehe das exemplarische Problem der Alterung). Diese Dynamik, die ins Unbestimmte geht, tilgt jedoch nicht das Ding, dem diese Veränderungen widerfahren. Das Ding erhält sich vielmehr sich in dieser Dynamik, ohne den diversen Prozessen des Immer-Anders-Werdens jemals Einhalt gebieten zu können. Entsprechend muss man sich unter den statischen Lebensmerkmalen solche vorstellen, die es einem Lebewesen erlauben, als „in sich“ gesetzt oder „in sich“ geschlossen zu erscheinen. Denn der Begriff der Grenze hat auch die Bedeutung einer „Entgegensetzung des Begrenzten gegen die umgebende Sphäre“ (Plessner 97, ) – nicht nur den Charakter einer prozessualen Hinaussetzung des Lebendigen in die Umgebung. In diesem Sinne stellt Plessner den „hemmenden Sinn der Grenze“ (ebd., 6–7) klar: „Ein Begrenztes macht nicht in der Grenze, sondern sinngemäß v o r ihr Halt. Nur in dieser vollkommenen Hemmung äußert sich die abschließende Funktion, die man nicht einfach der Funktion des Aufschließens bzw. des Überleitens subordinieren darf. Es fehlte ja sonst zur oben näher gegebenen Bestimmung des absoluten Richtungswechsels im Grenzübergang die Voraussetzung.“ (Ebd., 6)

Der Vollzug von Lebendigkeit ist durch das Gegeneinanderlaufen von Begrenztwerden (durch das Außen) und Grenzziehung (gegenüber dem Außen) geprägt. Wie Plessner nun ausführt, impliziert eine solche Beschreibung, dass das Lebendige schon immer „mehr“ ist als die Grenze, an der die beiden Richtungen der Begrenzung ineinander umschlagen. Beispiele der Selbstregulation oder der organischen Restitution von geschädigten oder verlorenen Teilen lassen den Schluss zu, dass ein Lebewesen „zur Stelle seines Seins außerdem noch in Beziehung“ (ebd., 7) steht: „Stellt man sich die Grenze wie eine Haut vor, so liegt diese Haut um ihn, dem die Haut noch als ein Teil seiner körperlichen Existenz angehört.“ (Ebd.)

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Die Rede von der Grenze erhält präzisen Sinn nur im Rückbezug auf einen „‚hinter ihr‘ liegenden Blickpunkt“ (ebd., 6), „um“ den herum die Grenze verläuft. Was die in der Erscheinung konstitutive Ganzheitlichkeit eines Lebendigen angeht, kann Plessner folgende entscheidende Bestimmung einführen: „Es gibt nur eine Möglichkeit, dieses In ihm Sein am Körper manifest werden zu lassen: der Körper ist auf einen in ihm liegenden Zentralpunkt bezogen, der keine räumliche Stelle hat, wohl aber als Zentrum des umgrenzten Körpergebiets fungiert und damit das Körpergebiet zu einem S y s t e m macht. Die Beziehung erstreckt sich auf alle den Körper aufbauenden Elemente (Teile) und auf den Körper als Ganzen. Insofern der Körper in ihm (gesetzt) ist, nimmt diese darin liegende Zentralbeziehung zugleich einen besonderen Charakter an. Es tritt dem Körper ein Punkt gegenüber, i n dem von ihm eingenommenen Gebiet, der trotzdem von unräumlicher Art ist.“ (Ebd., 8)

Auch wenn Plessner es an dieser Stelle nicht eigens betont, so darf man sein Argument über das Wesensmerkmal bzw. das Modal des Systems durchaus als eine kritische Revision des vitalistischen Erbes auffassen. Bichats Diktum, das Leben sei die Ganzheit von Funktionen, die sich dem Tod widersetzen, und Bernards Prinzip der organischen Regulation durch ein „inneres Milieu“ – zwei Positionen, auf die Plessner zuvor angespielt hatte – erscheinen nun in einem durchaus veränderten Licht: Der Ganzheitscharakter des Lebendigen hängt damit zusammen, dass ein lebendiger Körper seine Grenze realisiert. Damit trifft für lebendige Dinge zu, was bei unbelebten nicht gilt: Der „Zentralpunkt“ (Mitscherlich 2007, 22) zeigt sich „als Selbst bzw. als Realsubjekt von eigenständigem Sein“ (ebd.). Da Plessner aber zu dieser Beschreibung im Ausgang von der Grenzhypothese gelangt, enthält seine Interpretation der Ganzheit zwei Gedanken, die einer vitalistischen Begründung trotzen. Erstens ist die systemische Ganzheit des Lebendigen, der strengen Definition der Modale zufolge, angesiedelt „in der besonderen Schicht der Phänomenalität, in welcher die irreduziblen Wasstrukturen, wie überall in der Natur, liegen“ (Plessner 97, 6). Wenn es sich bei der Ganzheit daher um eine Autonomie handelt, die sich „nur einer Kategorialanalyse, […] einer ontologischen Analyse“ (ebd.) erschließt, so lässt sich das Ganzheitsargument gerade nicht vitalistisch gegen die Empirie verwenden: Die Autonomie im Erscheinungsbild steht nicht für ein gründendes Ganzes, das die kausalen und funktionalen Abhängigkeiten, die einen gegebenen Organismus ausmachen, gleichsam harmonisieren würde90. Zweitens interpretiert Plessner die systemische Ganzheitlichkeit des Organischen im Zuge einer Logik der Grenze, will sagen: als den einen Pol eines Spannungsverhältnisses, der unwiderruflich auf einen zweiten, ihn konterkarierenden Pol angewiesen bleibt9. Weil die Grenze eines Dings die Durchdringung von Bewegungs90

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Plessner propagiert nicht die Überlegenheit der unmessbaren Totalität (Synthesis) über die messbare, summarische Totalität von Teilen (Analysis) – wie es Driesch, zu Gunsten einer neuen Fundierung des Vitalismus, mit seiner These einer Suspension der Kausalitäten durch die Wirkkraft des ganzen Organismus getan hatte. Plessner 97, 9: „Einheit in der Mannigfaltigkeit von Teilen ist in doppelter Richtung ein Aufgehen in den Teilen als einer Mannigfaltigkeit und ein aus aller Durchdringung der Teile Zusammengenommensein in einen Zentralpunkt der Verknüpfung; ein durchaus kreisender, in sich zurücklaufender Prozeß des Wechselspiels zwischen den beiden zueinander gehörenden Gegenpolen.“

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richtungen möglich macht, die über dieses Ding hinaus bzw. in es hinein laufen, gibt es notwendig auch einen Punkt oder Ort „in“ dem Ding, der die Abgrenzungsbewegung, die Bewegung des Schließens ermöglicht92. Die besondere Wendung von Plessners Überlegungsgang besteht darin, das absolute Zentrum (das die Schließung ermöglicht) relational zu denken: Als unentbehrlichen Aspekt, aber eben auch nur als Teil eines umfassenderen Geschehens, welches Abschließung und Aufschließung, Abgrenzung und Entgrenzung, Sicherung und Entsicherung zugleich bedeutet. Das „synthetische Zentrum“ (ebd., 6) ist nichts weiter als der „Ausdruck des in ihm Gesetztseins des lebendigen Körpers“ (ebd., 62), der daher keineswegs als in sich fest gegründeter, sondern vielmehr als „verdoppelter“ (ebd., 6) Körper zu begreifen ist. Auf der Suche nach den Grundcharakteren a priori, die belegen, dass ein lebendiges Ding seine Grenzen vollzieht, kommt Plessner auf das Modal der „Organisiertheit des lebendigen Einzeldinges“ (ebd., 6) und, damit einher, auf den „Doppelsinn der Organe“ (ebd.) zu sprechen. In seiner Erläuterung dieser Phänomene knüpft er an die Prämissen an, die schon sein Verständnis der systemhaften Ganzheit des Lebendigen strukturieren: Zum einen sollen die realen Konstituenten lebendiger Dinge so einsichtig gemacht werden, dass sie sich als mit der Idee der Grenzrealisierung verträglich erweisen; zum anderen möchte Plessner vorführen, dass der Vollzug von Grenzen die unhintergehbare Ambivalenz, die mit dem Konzept des Doppelaspekts etabliert worden war, bewahrt und sogar immer expliziter werden lässt93. Kai Haucke gibt den wertvollen Hinweis, dass Plessners Konzeption der Ganzheit die zentrale Bestimmung des Doppelaspekts weiterführt: Die Aspekte (Teile) verweisen auf die Substanz (Kern), die jedem einzelnen Aspekt, aber auch der Gesamtheit aller Aspekte immanent ist. Umgekehrt weist „das innere Wesen selbst den Bruch von Innen und Außen auf“ (Haucke 2000, 79), so dass die Substanz darin, dass sie alle Aspekte fundiert, ihre Unabhängigkeit von den Aspekten einbüßt und selbst Aspekt unter Aspekten wird. In gewisser Hinsicht konnte man diese in sich gebrochene Einheit von Ganzem und Teilen noch als unmittelbare begreifen, so lange es um das Modal des Systems ging. Im Zusammenhang mit der Eigenart des Lebendigen, organisiert zu sein – also in Form eines Organismus aufzutreten, der sich in Organe gliedert – verkompliziert sich demgegenüber das Verhältnis von Ganzem und Teilen, von Habendem und Gehabtem. Es wird indirekter. Plessner schreibt: „Er [der Körper, T. E.] ist alle Organe und er hat alle Organe, so dass i n ihnen sich die verschiedenartigen Elemente z u gemeinsamer Wirkung n a c h einheitlichem Plan zusammenschließen. Das Ganze des Organismus ist nicht nur logisch, sondern ontologisch jener doppelten Abhebung von ihm als physischem Körper fähig, ja er konstituiert sich geradezu in und mit dieser Abhebung, die in den Worten ‚zu‘ und ‚nach‘ gefasst wird. Erst als Einheit von Zweck und Mittel ist der lebendige Körper Ganzheit oder autonomes System.“ (Plessner 97, 7) 92 93

Siehe auch ebd., 7 zum Merkmal des „in ihm Stecken[s]“, „in ihm Hineingesetztsein[s]“ des Lebendigen. Dem entspricht Plessners Vorschlag, die Grenze als einen Punkt aufzufassen, an dem Bewegungsrichtungen über das Ding hinaus und in das Ding hinein gleichzeitig statthaben. Was das Modal der Ganzheit betrifft, so hatte Plessner auf die interne Spaltung abgehoben, die das lebendige Ding selbst durchzieht – nämlich in ein „Subjekt des Habens“ (ebd., 68), ein als real angenommenes „Selbst“ des Lebendigen einerseits, und den materiellen „Körper“ andererseits, der in dieser Hinsicht als ein „gehabtes Objekt“ (ebd.) fungiert.

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Entsprechend fokussiert Plessner die „[…] Gegliedertheit des Körpers in Organe, deren Gesamtheit er ist u n d denen er allen, einzeln und insgesamt, auch wieder gegenüber ist, sodaß er in diesem Gegenüber- oder Durch ihn hindurch Sein seine wirkliche Existenz lebt.“ (Ebd., 70)

Die Organe des Organismus stehen sehr wohl für eine „reale Spezialisierung“ (ebd., 69) des Ganzen. Es herrscht ein Zustand der „Übereinstimmung“ (ebd.) aller Teile mit dem Ganzen, insofern die komplexe Funktionsteilung der Organe bezogen auf das Lebewesen „Mittel: zum Leben“ (ebd.) ist. Als springenden Punkt in Plessners Betrachtung dieser „Organisiertheit“ kann man jedoch festhalten, dass ein Lebewesen vom Charakter eines Organismus auf eine „ontologische Zweideutigkeit“ (Haucke 2000, 86) hin anzusprechen ist: Jedenfalls lenkt Plessner die Aufmerksamkeit auf eine eigentümliche „Verselbständigung der Körperteile zu Organen“ (Plessner 97, 7)9, auf ein Eigengewicht des Vermittelnden dem Vermittelten gegenüber. So sehr der Organismus das „Zu“ und „Nach“ der Organe bestimmt und so sehr er einen Zweck darstellt, dem sich die Organe als Mittel unterordnen, so sehr üben die Organe eine „Macht“ (ebd.) aus, die „sich gegen die für sich (unmittelbar) bestehende Einheit“ (ebd.) des Organismus im Ganzen kehrt. Die Relation von Ganzem und Teilen lässt sich, wie Plessner ausführt, gar nicht aufschlüsseln, solange nicht die „Organe als Träger der Einheit, welche sie zum Ganzen vermitteln, voneinander bzw. vom Ganzen zur Abhebung kommen können“ (ebd.)9. Man kann auch sagen, der „Wesenssachverhalt“ (ebd., 69) der Organisation eines Lebendigen illustriert par excellence, was Plessner mit dem Problem der Grenze zeigen will: Ein lebendiges Ding generiert „E i n h e i t n u r a l s d u r c h A n d e r e s , a l s [es] s e l b s t i s t “ (ebd., 9). Insofern es seine Grenze realisiert – und das meint jetzt: indem es sich zu seiner Grenze verhält – sondert sich das lebendige Individuum gegenüber der Umwelt ab und wird dennoch „G l i e d e i n e s G a n z e n , d a s ü b e r i h m h i n a u s l i e g t “ (ebd.). Wo aber liegt philosophisch die Pointe, wenn Plessner eine Konstitution lebender Dinge deduziert, die sicher stellt, dass Verhaltensweisen, die lebendig scheinen, einem sich verhaltenden Subjekt zugeschrieben werden können, das lebendig ist? Die Antwort hierauf lautet: Innerhalb der philosophischen Systemform, die Plessner vertritt, kann nur eine derartige Deduktion die absolute Differenz zwischen Natur und Leben garantieren. Dem Verständnis, das „anschauende und rekonstruierende Beobachter“ (Krüger 200, 9 9

Siehe ebd., 9: „Die Organe haben ihr Verhältnis zum Körper umgedreht: […]“ Erst im Zusammenhang mit dem Thema des „Lebenskreises“ arbeitet Plessner mit aller Schärfe die Konsequenz dieser Abgehobenheit der Organe von der Einheit des Organismus heraus: Die Organe gehören dem Organismus materiell an, führen aber zugleich Impulse aus der Umwelt in das Innere des Organismus ein. Sie fungieren als Kanäle, die in dem Maße, in dem sie das Zentrum (den ganzen Organismus) nach Außen repräsentieren, auch umgekehrt Fremdeinwirkungen in das Zentrum hinein infiltrieren. Damit verliert der Organismus den Vorrang, ein Ganzes zu sein, das Teile integriert – das Leben erweist sich nun als ein Geschehen, das seinerseits die Organismen übergreift. Ironischerweise sind es also gerade die relativierten Mittel (Organe), die den absoluten Zweck (Organismus) wiederum in ein Mittel zu einem noch umfassenderen Zweck (Leben) verwandeln. Siehe ebd.: „Sie [die Organe, T. E.] machen das Ganze zum Mittel des Lebens, zum Zwischenglied eines Kreises, der nun in Wahrheit sich allein genügt.“

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269) alltagsweltlich von lebendigen Objekten entwickeln, müssen Sachverhalte entsprechen, die in der Realität dieser Objekte selbst verankert sind. Sofern ein solcher Wirklichkeitsbeweis fehlt, bleibt die Grenze eine konstruktivistische Begrifflichkeit, die „nur in den Köpfen der Philosophen“ (Plessner 97, 0) Bestand hat. Gelingt es hingegen, nachzuweisen, dass sich gewisse Grundmodi, die allen lebendigen Dingen auf Erscheinungsebene eigentümlich sind, „u n t e r d e m G e s i c h t s p u n k t “ der Grenzrealisierung begreifen lassen, so bezieht sich der Begriff der Grenze auf eine interne Konstitution der Dinge, auf die Struktur ihres Verhaltens. Man wäre zu dem Urteil berechtigt: Während natürliche, aber nicht-lebendige Körper kraft des Doppelaspekts erscheinen und eine räumliche Umrandung haben, erscheinen lebendige Körper im Doppelaspekt96, und zwar deswegen, weil sie sich zu ihrer Grenze verhalten – die Grenze verstanden als der Punkt, an dem sich die Bewegungsrichtungen von Innen nach Außen und von Außen nach Innen verschränken. Methodisch wie sachlich tritt eine perspektivische Verschiebung des Grenzbegriffs auf den Plan, deren Durchschlagskraft kaum zu überschätzen ist: Als Bedingung der Möglichkeit, in naiv-vorwissenschaftlicher Anschauung Lebendiges vom Unbelebten zu unterscheiden, führte Plessner im ersten Schritt das Kriterium der Grenze ein. Die Grenze stellte sich also zunächst gleichsam auf Seiten eines beobachtenden Subjekts ein, nämlich in Form einer Hypothese über die spezifische Differenz zwischen unbelebten und belebten Objekten. Wie gesehen, treibt dieses subjektive Apriori jedoch an der Stelle über sich hinaus, an der Plessner zwischen indikatorischen und konstitutiven Wesensmerkmalen des Lebens (die mit der Hypothese der Grenze verträglich sein müssen) differenziert. Was sich im zweiten Schritt vollzieht, ist daher eine Hinwendung oder Verlagerung vom beobachtenden und anschauenden Subjekt zu den beobachteten und angeschauten Objekten. Genauer: Es geschieht ein Blickwechsel hin zu den immanenten Bedingungen der Möglichkeit der beobachteten, mutmaßlich lebendigen Gegenstände, so zu erscheinen, dass ihnen eine bestimmte Seinsweise (nämlich lebendig zu sein) angesehen und zugeschrieben werden kann. Die Bedingung der Möglichkeit dafür, das Erscheinungsbild und das Verhalten eines Gegenstands in der Alltagswelt als lebendig zu erfahren, lag, so zeigt sich nun, niemals ganz in der Hand des Subjekts, das die Erfahrung mit dem Gegenstand gemacht hat. Passender ist es, zu sagen, dass in die Interaktion mit lebendigen Gegenständen auch eine transzendentale Gesetzmäßigkeit seitens dieser Gegenstände einfließt – eine Eigengesetzlichkeit, die es dem lebendigen Körper gestattet, sich als lebendig zu zeigen. In den genuinen Kategorien Plessners ausgedrückt: „Ausdrucksverstehen“ und „Ausdrucksverhalten“ spielen ineinander. Die Erkenntnisbedingungen, unter denen wir lebendige Gegenstände erfassen, weisen über sich hinaus auf die Seinsbedingungen des lebendigen Gegenstands97. Oder wie es Hans-Peter Krüger mit Blick auf Kants Proble96 97

Zur Gegenüberstellung „kraft des Doppelaspekts vs. im Doppelaspekt“ siehe ebd., 89. Wie Bernward Grünewald bemerkt hat, müssen wir „uns das Verfahren ja nicht so denken, daß wir von den subjektiven Erfahrungsbedingungen ausgehen, um naiv-ontologisch nach deren Seinsbedingungen zu fragen. Das zugrundeliegende Problem lautet vielmehr, wie denn in der Welt der Gegenstände, zu der ja auch erkennende Subjekte gehören, so etwas wie Erkenntnis vorkommen kann“ (Grünewald 993, 280). Grünewald interpretiert Plessners originäre Fragestellung m.E. zutreffend, wenn er darauf hinweist, dass die „Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung“ (ebd., Hervorhebung i.O., T. E.) von leben-

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matik der Urteilskraft formuliert: Die Frage nach dem Vermögen, dem wir die regelhafte Beurteilung von lebendigen Phänomenen verdanken, weicht bei Plessner einer „(…) Untersuchung, wie wir in der Anschauung respektive Wahrnehmung von Phänomenen als lebendigen urteilsfähig werden: Indem nämlich rekonstruiert wird, was wir für diese Erscheinungsweise lebendigen Verhaltens und in ihr schon immer in Anspruch nehmen.“ (Krüger 200, 28)98

Plessners phänomenologischer Einstieg bei der Gegebenheitsweise eines Objekts für die Anschauung führt somit zwingend auf einen „Seinsunterschied“, der die Ordnung der Dinge selbst betrifft: Es ist möglich und notwendig, solche Phänomene, die die Eigengesetzlichkeit der Grenze aufweisen, von solchen zu unterscheiden, denen die Grenze nicht eigen ist99. Die Ermittlung der Differenz zwischen anorganischer und organischer Natur, zwischen Natur und Leben, lag von Anfang an in der Konsequenz von Plessners phänomenologischer Operation00. digen Gegenständen in den konstitutiven Bedingungen dieser Gegenstände selbst zu suchen sind. Die Erfahrung des Lebendigen wird vom Lebendigen her – genauer: von einer bestimmten Organisationsstufe des Lebendigen – ermöglicht. 98 Selbstverständlich ist es einschlägig für die Fragestellung, die der vorliegenden Studie zu Grunde liegt, wenn Krüger diese Revision der Urteilskraft bei Plessner als „die performative Wende der Philosophischen Anthropologie ins Verhalten von Lebendigem zu Lebendigem“ kennzeichnet. (Ebd., Hervorhebungen i.O. T. E.). Ähnlich ebd., 20. 99 In seiner Kritik an Plessners naturphilosophischem Übergang von indikatorischen zu konstitutiven Lebensmerkmalen dreht sich Mathias Gutmann im Kreis. Gutmann macht bei Plessner eine „sprachlich erzeugte Ontologisierung“ aus (Gutmann 200a, 2): Plessner wandle das determinierende Prädikat „x lebt“ in das modifzierende Prädikat „x ist ein Lebendiges“ um (ebd.,  und passim). Während „x lebt“ die logische „Anzeige einer Verständigung über das Lebendig-Wirken von etwas auf uns“ (ebd., 6) sei, nehme das Urteil „x ist ein Lebendiges“ eine Substanzialisierung vor. Es impliziere, dass unabhängig von der zwischen Sprechern geteilten Form der Rede über lebendige Wirkungen ein x existiert, das lebt, also auch andere als die in Rede stehenden Wirkungen aufweisen könnte. Dagegen hält Gutmann eine Rede von Lebendigkeit, der kein Lebendiges zu Grunde liegen muss (Siehe das Beispiel der lebendigen Bewegungen ebd., f.). Die Aporie von Gutmanns Vorschlag liegt in seiner Rückkehr zu einer methodisch kontrollierten Praxis lebensweltlicher Rede. Methodisch zulässig ist für Gutmann einzig die lebensweltliche Markierung dessen, worüber theoretisch die Rede sein kann – nicht aber die theoretische Markierung dessen, worüber lebensweltlich die Rede ist. Durch Verständigungen über Phänomene, die einer Sprachgemeinschaft lebensweltlich kollektiv zugänglich sind, würden schließlich die „Selbstverhältnisse“ (ebd., 6) der Sprecher entscheidend. Gutmann erkennt nicht, dass sein Ansatz voraussetzt, was Plessner in einer genetischen Theorie erst entwickelt: Was nehmen denn Sprechakteure für die Differenz zwischen lebensweltlicher und theoretischer Rede in Anspruch? Die Verständigung resultiert doch weniger aus kontrollierten „Selbstverhältnissen“ als aus Verhältnissen, die zwischen sprechenden Subjekten und angesprochenen Gegenständen zirkulieren. Und es ist gerade Plessners Pointe, die (auch sprachliche) Beurteilung der Sphäre des Lebendigen als einen Vollzug innerhalb dieser Sphäre aufzuzeigen. Eine derartige Reflexion ist nötig, um in der Alltagswelt zwischen verschiedenen Formen der Rede wählen und wechseln zu können. 00 Eine konzise Darstellung gibt auch Köllner 2006, 280ff. Siehe exemplarisch ebd., 28: „Entscheidend dafür, den cartesischen Dualismus zu überwinden und gleichzeitig eine orientierende Fragestellung für die vorerfahrungsmäßigen Bedingungen zu finden, war folgende Überlegung Plessners: Die Bedingungen können auch in den begegnenden Dingen untersucht werden und müssen sich nicht ausschließlich auf die Erkenntnisleistungen des Bewusstseinssubjekts beziehen (vgl.

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Mit der Ableitung der Kategorien oder Modale des Organischen ist ein veritabler Wendepunkt der Problemstellung erreicht, die diese Untersuchung im Ganzen prägt. Es zeichnet sich ab, dass Plessner das (auf Qualitäten gehende, phänomenologisch-hermeneutisch vermittelte) Wissen von lebendigen Objekten als ein Verhalten konzipiert, das von lebendigen Subjekten ausgeübt wird. Denn die Konsequenz, die aus der Deduktion der Vitalkategorien für das Verhältnis von Leben und Wissen entspringt, ist eine gegenseitige Durchdringung der Erkenntnis- und der Seinsbedingungen lebendiger Dinge: Die Frage, wie es überhaupt möglich ist, einen Gegenstand der Erfahrung als grenzrealisierend (als lebendig) zu erkennen, spiegelt sich in der Frage, was es einem Gegenstand seiner Konstitution nach ermöglicht, seine Grenze zu realisieren. Ein lebendiges Wissen des Lebens als genitivus obiectivus und genitivus subiectivus: Dies ist die Nahtstelle von Plessners Philosophie des Lebendigen0. Im folgenden Teilkapitel möchte ich, um mich dieser Figur eines lebendigen Wissens zu nähern, Plessners Kategorie der Positionalität in Betracht ziehen.

7. Der Verkehr von Lebendigem mit Lebendigem: Das Moment der Positionalität Das Konzept der Positionalität ist innerhalb Plessners Philosophischer Anthropologie das einheitsstiftende Zentrum eines lebendigen Wissens des Lebens02. Am Leitfaden einer transzendentalen Untersuchung von der Art, die Plessner entwickelt, erfährt das Verhält-

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Stufen, 2f.) In der Konsequenz heißt das, Untersuchungsgegenstand sind auch leblose, anorganische Dinge, die – ebenso wie Descartes’, allerdings anthropozentrische, Differenz von Innerlichkeit und Äußerlichkeit – ein Innen-Außen-Verhältnis ihrer Erscheinung aufweisen. Was ist nun mit der Innen-Außen-Differenz gemeint? (…) Damit ist gemeint, dass ein Objekt seine äußere Erscheinungsweise selbstständig einem Beobachter darbietet und mit dem Außen der Oberfläche auf einen inneren Zusammenhang verweist.“ Siehe das „Programm“ bzw. den „Arbeitsplan“ der Stufen des Organischen, wenn es heißt: „In seinem [des „Aspekts“: „Begründung der Lebenserfahrung in Kulturwissenschaft und Weltgeschichte“, T. E.] Mittelpunkt steht der Mensch. Nicht als Objekt einer Wissenschaft, nicht als Subjekt seines Bewusstseins, sondern als Objekt und Subjekt seines Lebens d.h. so, wie er sich selbst Gegenstand und Zentrum ist. Denn in dieser Eigentümlichkeit: zu existieren –, geht er in die Geschichte ein, welche nur die ausgeführte Weise ist, in der er über sich nachsinnt und von sich weiß. Nicht als Körper (wenn mit Körper die von den Naturwissenschaften objektivierte Schicht gemeint ist), nicht als Seele und Bewusstseinsstrom (wenn es sich hier um das Objekt der Psychologie handeln soll), nicht als das abstrakte Subjekt, für welches die Gesetze der Logik, die Normen der Ethik und Ästhetik gelten, sondern als psychophysisch indifferente oder neutrale Lebenseinheit existiert der Mensch ‚an und für sich‘.“ (Plessner 97, 3f.) Schürmann spricht in einer Formulierung, die zugleich den Titel für einen Abschnitt seines Buches über die Unergründlichkeit des Lebens stiftet, von der „Positionalität als materiales Apriori“ (Schürmann 20, 9–9). Die methodisch alles entscheidende Weichenstellung von Plessners Deduktion der Vitalkategorien fasst Schürmann so auf, dass es „einer Kategorie Lebendiges überhaupt [bedarf], die allen je konkreten Begriffen resp. erfahrungwissenschaftlichen Einzelwissen vom Lebendigen je schon als Koordinatenkreuz zugrunde liegt“ (ebd., 92; Hervorhebung i.O., T. E.). Das von Schürmann mehrfach angebrachte Bild vom „Koordinatenkreuz“ (ebd., 9 u. 92) wäre zugleich eine gelungene Illustration dessen, was ich als Verlebendigung eines Wissens, das auf Lebendes referiert, erläutern möchte.

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nis zwischen Leben und Wissen eine Umkehrung: Die Bedingungen, die ein Beobachtersubjekt zur Rekonstruktion lebendiger Dinge und Verhaltensformen in Anspruch nimmt, lassen sich nicht aus einem transzendentalen Bewusstsein auf Seiten des Subjekts deduzieren. Wie der Begriff der Grenze belegt, liegt den anschaulich gegebenen Manifestationen lebendigen Seins eine Eigenaktivität der Phänomene zu Grunde. Die Phänomene verhalten sich grenzrealisierend: Dies gilt zumindest, soweit es sich um Phänomene handelt, die de facto lebendig sind und nicht nur fälschlich prätendieren, lebendig zu sein. Demenstprechend konzentriert sich Plessners Deduktion der Wesensmerkmale des Lebens darauf, die in der Anschauung präsenten Indikatoren von Lebendigkeit mit Blick auf das Verhältnis eines Organismus zu seiner Umwelt zu begründen. Damit ist der Punkt markiert, an dem sich die „Erfahrungsstellung“ (Haucke 2000, 30) des rekonstruierenden Subjekts als bedingt erweist – bedingt nämlich durch die Konstitution der von diesem Subjekt rekonstruierten lebendigen Objekte03. Nachdem fest steht, dass sich lebende Dinge durch die Realisierung ihrer Grenze auszeichnen, ist es nur konsequent, die Fähigkeit einer beobachtenden und sich vergewissernden Instanz, an bestimmten Phänomenen der Außenwelt eine Grenze einzusehen, ihrerseits als exemplarischen Sachverhalt von Grenzrealisierung zu begreifen0. Eine solche These bedarf allemal der genauen Klärung: Was es heißen könnte, dass die Erkenntnis des Lebendigen nicht nur in der Erfassung der Eigenbestimmtheit lebendiger Objekte liegt, sondern zugleich als Aktivität eines lebendigen Subjekts firmiert, vollzieht Plessner nach mit der Kategorie der Positionalität. In der Argumentationsstruktur der Stufen hat der Positionalitätsbegriff seinen Platz zwischen der Bestimmung der Grenze und der Deduktion der Lebensmodale. Wie gezeigt, liegt der Einführung des Grenzbegriffs und der Deduktion ein gemeinsamer Befund zu Grunde: Die Grenze steht für die Möglichkeit, dass ein Ding nicht nur durch den Doppelaspekt geprägt ist, sondern ihn vielmehr als Eigenschaft aufweist, also im Dop03

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Siehe Krüger 200, 268: „Wenn man aufhört, das Bewusstsein als etwas Innerliches zu fassen, […] und stattdessen Bewusstsein als die phänomenologisch im Habitus des Verhaltens zu Tage liegende Verbindung der Lebewesen zu ihrer Umwelt begreift […], dann kann und muss man in der Philosophischen Anthropologie die Immanenzsituation des Bewusstseins als Verhaltensfrage ernst nehmen […].“ [Hervorhebungen i.O., T. E.] Einen Absatz später präzisiert Krüger, man müsse „Bewusstsein (…) als die leibliche Synthesisform des Verhaltens der Lebewesen mit der Umwelt“ (ebd.) beschreiben. Siehe Fischer 2000, 273: „Er [Plessner, T. E.] etabliert dort ‚drüben‘, gegenüber dem sich vergewissernden Subjekt, den Korrelationskontakt von Organismus und Umwelt und wird ab jetzt vom seitlich verschobenen Blickpunkt aus, dem die Korrelation flankierenden Blick des beobachtenden Subjekts, die Erkenntnisbedingungen (Vitalkategorien) und Erfahrungspotentiale (Vitalstufen) dieses Korrelationsverhältnisses zwischen Lebensformen und Lebenssphären als reale Verhältnisse in der Welt beobachten, bis die Figur der ‚exzentrischen Positionalität‘ die Bedingung der Möglichkeit für eine solche Blickstellung einholt.“ Ganz analog konstatiert Krüger für die Philosophische Anthropologie „einen historischen Wechsel in der Position dessen, was gerade als empirischer oder als transzendentaler Schritt zählt“. Siehe Krüger 200, 270. Bei Gesa Lindemann schließlich heißt es, Plessner versuche „zu zeigen, wie das Umweltverhältnis lebendiger Organismen beschaffen sein muß, damit sich in diesem der Vorgang ereignen kann, den man als ‚Verstehen‘ bezeichnet“ (Lindemann 2008a, 2).

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pelaspekt steht. Daher bildet die Grenze eine „richtungsneutrale Zone“ (Plessner 97, 00), welche die Durchdringung gegensinniger Bewegungsrichtungen ermöglicht0. In dem Maße, in dem Plessner nun aber nicht die Grenze selbst als das „lebendige Ding“ anspricht, sondern jenes x oder jene Instanz, welche die (genauer: „seine“) Grenze vollzieht, arbeitet er zwischen dem lebendigen Ding und der Grenze eine Relation des „zu eigen Seins“ (ebd., 29) heraus. Aus dieser Nichtkoinzidenz von Lebendigem und Grenze zieht Plessner die Konsequenz, das Lebendige als über sich (bzw. bei Plessner: „es“) hinaus und in sich („es“) hinein gesetzt zu fassen. Bildet die Grenze den Kreuzungspunkt zweier zueinander gegenläufiger Richtungen, so ist das lebendige Ding seinerseits auf diesen Kreuzungspunkt rückbezogen: Es ist eingelassen in eine ambivalente Dynamik, die es zugleich gegen Fremdes auf- und in sich abschließt. Um diese „Transzendenz in doppelter Richtung“06, die zugleich doppelter Entzug eines stabilen Fundaments ist, terminologisch exakt zum Ausdruck zu bringen, spricht Plessner von der „Positionalität“ des organischen Körpers. Positionalität ist mithin definiert als „derjenige Grundzug seines [des organischen Körpers, T. E.] Wesens (…), welcher einen Körper in seinem Sein zu einem gesetzten macht. (…) In den spezifischen Weisen ‚über ihm hinaus‘ und ‚ihm entgegen‘ wird der Körper von ihm abgehoben und zu ihm in Beziehung gebracht, strenger gesagt: ist der Körper außerhalb und innerhalb seiner.“ (Ebd., 29)

Die Rede von „Positionalität“ hat ihre semantische Raffinesse darin, drei Aspekte ineinander laufen zu lassen, die eine wechselseitige Spannung erzeugen. Erstens verweist der Begriff auf eine aktive Positionierung, eine Positionseinnahme oder -setzung, in jedem Fall also auf einen Vollzug, der durch eine handelnde Instanz ausgeführt wird. Diese Bedeutungskomponente stützt Plessners Aussage, das Lebendige sei gegen „das Feld seines Daseins“ (ebd., 3) abgehoben. Zweitens spielt der Begriff ein passives Moment ein: Positionalität impliziert ein Geschehen, in dem gerade nicht das Prinzip der Subjektivität im Vordergrund steht. Zu denken ist an eine Festgelegtheit „von Außen“, die allem Verhalten desjenigen Körpers, der auf diese Weise „gesetzt“ ist, schon immer vorangeht. Für Plessners Thesenbildung ist dieser passivische Aspekt wichtig, weil er die metaphysisch tradierte Dominanz der Innensphäre über die Außenwelt, aber auch biotheoretisch die Überordnung des Organismus über die Umwelt strukturell unterläuft. Und drittens schwingt im Begriff der Positionalität folgende Doppelsinnigkeit mit: Zum einen ist ein durch Positionalität charakterisierter Körper an eine Position, eine physische Stelle in Raum und Zeit gebunden, so dass die „Lage“ (ebd.) dieses Körpers „in Relation zu anderen Lagen und zur Lage des Beobachters“ (ebd.) verortet werden kann. Zum anderen ist ein positionaler Körper jedoch, in Plessners Vokabular gesagt, nicht nur „raumerfüllend“ (ebd.), sondern auch „raumbehauptend“ (ebd.)07. Ein solcher Körper steht „zu der Stelle ‚seines‘ Seins in Beziehung […] und hat insofern seinen natürlichen Ort“ (ebd., 3f.). 0 06

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Es gibt, anders gesagt, kein physisches Datum, in dem sich die Grenze materialisieren würde. Siehe Plessner 97, 28: „Als Lebewesen tritt das Körperding m i t dem gleichen Doppelaspekt als einer Eigenschaft auf, der infolgendessen das phänomenale Ding in doppelter Richtung transzendiert (…)“ Möglicherweise lässt der Begriff des Behauptens seinerseits eine zweifache Assoziation zu: Er ist gewiss im Sinne einer Bemächtigung zu verstehen, wonach „raumbehauptend“ etwa „einen Platz reklamierend“ oder „von einem Raum Besitz nehmend“ heißen könnte. In zweiter Linie spielt Ples-

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Plessners sonderbarer Neologismus der „Positionalität“ bedeutet einen Durchbruch, der alle folgenden Überlegungen in verändertem Licht erscheinen lässt. Dieser Durchbruch findet statt auf dem Gebiet der Philosophie des Lebens, die Plessner seiner Philosophischen Anthropologie in den Stufen einschreibt. Um ihn mit der notwendigen Schärfe nachzeichnen zu können, ist zunächst an die komplexe Verklammerung08, an die wechselseitige Bezogenheit zwischen den apriorischen Leistungen des (lebendige Objekte wahrnehmenden, verstehenden und rekonstruierenden) Subjekts mit der eigentümlichen Konstitution lebendiger Objekte zu erinnern. Zwar hatte Plessner zu Anfang seiner Untersuchung eine phänomenologische Reduktion eingesetzt, um die Gegebenheitsweise von (zunächst) unbelebten Dingen in der Anschauung strukturell zu erschließen. Nicht zufällig provozierte diese phänomenologische Technik implizit die Frage danach, unter welchen Bedingungen der Möglichkeit diese besondere Gerichtetheit des Blicks auf die Dinge, also die spezifische Intentionalität, mit der Plessners Beschreibung operiert, erfolgen konnte. Wie sich zeigte, trieb Plessner die Antwort auf diese Frage nicht im Sinne der phänomenologischen Dogmatik, nämlich in Richtung auf ein transzendentales cogito als „Sinnesfundament“ voran. Vielmehr insistierte er auf dem „Primat des Objekts“, und zwar derart, dass vom Begriff der Grenze aus eine Konstitutionstheorie der Phänomene ihren Lauf nehmen konnte: Die Grenze, so Plessners Anspruch, sollte sich als Konstituente erweisen, die den lebendigen Dingen selbst zukommt. Sie stellt somit dezidiert kein kognitives Substrat „in den Köpfen der Philosophen“ (ebd., 0) dar. In seiner Axiomatik des Organischen konnte Plessner schließlich entwickeln, dass die Pointe des Grenzbegriffs – das Ineinanderumschlagen der Bewegungsrichtungen in das lebendige Ding hinein und über es hinaus – mit den zentralen irreduziblen Merkmalen von Lebendigkeit (Regulation, Assimilation, Dissimilation, Prozesshaftigkeit, Entwicklung) verträglich ist. Das Grenzproblem und die qualitative Merkmalsstruktur des Lebendigen verweisen aufeinander. In der Kategorie der Positionalität findet Plessner mithin den Ausdruck für die Tatsache, dass lebendige Dinge, indem sie ihre Grenze realisieren, schon immer in eine Distanz zu ihrer Grenze und damit ebenso in sich hinein wie über sich hinaus gesetzt sind. Eigentümliches Resultat dieses Gedankengangs: Ergab sich die Grenze ursprünglich aus der Beschreibung, die ein Subjekt hinsichtlich eines bestimmten Typus von Dingen formuliert, die ihm innerweltlich begegnen, so bewährt sie sich im weiteren Verlauf der Beschreibung als eine Konstituente der Dinge selbst. Die Bedingungen der Möglichkeit, lebendige Objekte als lebendig zu erfahren, lassen sich nicht durch weitere phänomenologische Reduktionen auf Seiten des Subjekts isolieren, bis etwa das transzendentale Bewusstsein als Letztbegründung hervortritt (Husserl). Es geschieht vielmehr ein Übergang – oder besser: ein Umbruch – zwischen Subjekt- und Objektpol, der für Plessners philosophische Bestimmung des Lebens einschneidend ist. Denn nun ist es notwendig, zu der Frage zurückzukehren, was es einem Beobachtersubjekt ermöglicht, lebendige Dinge genau in der Weise zu verstehen, wie diese sich „von sich her“, nämlich unter dem Ge-

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sner jedoch m.E. auch auf ein agonales, konfliktgeprägtes und prozessuales Verhältnis an, das der Körper zu „seiner“ Position im Raum unterhält: Etwa so, wie „man“ sich nur mit Mühe (z.B. „im Leben“, „im Alltag“, „gegen einen Gegner“ etc.) „behaupten“ kann. Auf die Logik der „Ebenenverklammerung“ in der Kategorie der Positionalität weist hin Fischer 2000, 27.

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sichtspunkt ihrer Grenzrealisierung, zu verstehen geben. Jener Standpunkt, den Plessner als Ausgangspunkt seiner Bestimmungen herausstellte – der Standpunkt eines Beobachters, der den Doppelaspekt als Charakteristikum des Objekts einsah – wird nun gewissermaßen durch die Eigengesetzlichkeit der beobachteten Objekte eingeholt und unterlegt: Die Bedingung, die Erkenntnis von lebendigen Gegenständen ermöglicht, kann nur in Rückbezug auf die Bedingung expliziert werden, welche die lebendigen Erkenntnisgegenstände in ihrem Sein ermöglicht09. Oder um es endgültig in die Begriffe zu kleiden, derer sich die systematische These dieser Studie bedient: Das Wissen, dessen korrelativer Gegenstand das Leben ist, ist immer schon lebendiges Wissen, d.h. die „Leistung (…) des in einer bestimmten Ausprägung sich konstituierenden Lebens“ (Beaufort 2000, 206). Freilich muss man, um diesen komplexen Übergang von der Objekt-zur Subjektstellung präzise zu erfassen, die betreffenden Argumente behutsam prüfen. Mit Hilfe eines Zitats aus den Stufen lässt sich noch einmal die Problemlage ausstellen, die der Begriff der Positionalität konkretisiert: „Versucht man sich ein Bild zu machen (…), so kommt man auf die Anschauung, der Körper stecke in ihm selbst. […] Diesem ‚in ihm Stecken‘, ‚in ihm Hineingesetztsein‘ ist die Untersuchung schon begegnet. Bei der Besprechung des Wesensmomentes des ‚in ihm Hineinseins‘ entdeckte sich die Notwendigkeit, dem lebendigen Körper jene ‚Lockerung in ihm selber‘ zuzusprechen, die als Angehobensein den Ausdruck rechtfertigt, den Grundcharakter seines Seins als den der Gesetztheit zu bestimmen. Die Untersuchung wies auf den Zusammenhang dieses Gesetztseins oder Gestelltseins des lebendigen Körpers mit dem Wesensmoment seiner Eingliederung in eine Umgebung hin, auf die er bezogen sei. In dem Bezogensein von Organismus und Umgebungsfeld, die beide gegensinnig zueinander stehen, liegt das den lebendigen vom unbelebten Körper unterscheidende Kennzeichen der Positionalität.“ (Plessner 97, 7)

Leben, bestimmt als Positionalität, bedeutet, sich auf ein nicht selbst gesetztes Geschehen zu beziehen0. Lebendige Körper weisen eine Distanz in und zu sich auf, indem sie zu ihrer Grenze in ein Verhältnis gesetzt sind – wobei die Grenze wohlgemerkt ein „gegensinniges“ (ebd., ) Verhältnis stiftet, eine Antithektik zwischen „den durch sie getrennten und zugleich verbundenen Größen“ (ebd.), zwischen Organismus und Umgebung. Positionalität umschreibt einen Vollzug nach Außen, der stets nur im Wechselspiel mit unvorgreiflichen Einwirkungen von Außen passiert. Auf diese Weise akzentuiert Plessner die vitale Spontaneität als Grundzug des Lebendigen und zugleich seine Determiniertheit durch Fremdes. Plessners Begriff der Positionalität deckt folglich an entscheidender Stelle eine Ambivalenz des Lebens auf: Die Eigenaktivität, durch die sich das lebendige Individuum qua Grenzrealisierung auszeichnet, bricht sich an einem Geschehen, „das sich durch die Individuen hindurchzieht“ (Mitscherlich 2007, 32), das sie also mit einer permanenten Unbestimmtheit konfrontiert. Nimmt man diese Bestimmungen ernst, so wird unübersehbar, dass eine „Anschauung“ (Plessner 97, 22), die „dem Ding gegenüber eine doppelte Richtung nehmen“ 09

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Erneut möchte ich mich an Bernward Grünewalds These orientieren, der „springende Punkt“ bei Plessner sei „die Entdeckung eines schließlich zum erkenntniskonstitutiven Verhältnis differenzierbaren ‚Transzendierungs‘-Verhältnisses auf der (‚mundanen‘, ‚ontischen‘) Gegenstands-Seite des ‚absoluten‘, transzendentalen Transzendierungsverhältnisses“. (Grünewald 993, 28; Hervorhebung i.O., T. E.). Siehe Fischer 2008a, 3.

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(ebd.) kann, bereits eine sehr spezifische Positionsform gegenüber den Dingen zur Voraussetzung hat. In ihrer Doppelaspektivität erscheinen die Dinge so, dass sich dem Blick des Betrachters gewisse Aspekte in dem Maße entziehen, in dem andere sich eröffnen. Dies aber entspricht, wie Plessner nun mit dem Konzept der Positionalität verdeutlicht, exakt der Situation lebendiger Körper: Der lebendige Organismus ist konstitutiv auf eine Umgebung bezogen, die sich ihm radikal entzieht, insoweit sie eine eben nicht gänzlich vom Organismus konstituierte Sphäre bezeichnet. Um Wirklichkeit überhaupt in der Weise verstehen zu können, wie sie sich ihren Qualitäten nach zeigt (d.h. um Doppelaspektivität verstehen zu können), müssen auf Seiten der verstehenden Instanz – die selbst Teil der Wirklichkeit ist – Sinnesmodalitäten aufweisbar sein, die Zugang zu diesen qualitativen Schichten der Wirklichkeit verschaffen. Ein solches Korrelationssystem zwischen den Sinngesetzlichkeiten der phänomenalen Wirklichkeit und den subjektiven Sinngebungsleistungen ist in der Tat mit der Konzeption der Positionalität erreicht. Wenn Lebendiges nämlich nicht nur die Abgrenzung von der Umwelt vollzieht, sondern zu dem Akt dieser Abgrenzung wiederum in Beziehung gesetzt ist, so bedeutet dies, dass auch die Wahrnehmung und die Interpretation von Gegebenheiten in der Umwelt lebendige Verhaltensvollzüge sind. Der Prozess des Verstehens von Positionalität als einem immanenten Strukturgesetz lebendiger Phänomene erweist sich selbst als Ausdruck positionalen Verhaltens. Bereits im zweiten Kapitel der Stufen hat Plessner diese bahnbrechende Konsequenz der Positionalitätsform vorweggenommen: „Es [das Bewusstsein, T. E.] zeigt sich eingebettet in jene Sphären der Existenz, von deren Kategorien oben gesprochen wurde. Die Strukturgesetzlichkeit des Bewusstseins gehorcht streng 

In der Einheit der Sinne hatte Plessner bereits dieses Programm einer Korrelativität zwischen Sinnlichkeit und Sinnen, zwischen den qualitativen Erscheinungen der Natur und den kategorialen Voraussetzungen der Subjekte, diese Qualitäten zu erleben, angebahnt. In den Stufen heißt es rückblikkend auf den Ansatz der Einheit: „Die Ästhesiologie des Geistes verfolgt die Beziehungen zwischen Geist und Natur, d.h. sie erforscht den Menschen als personale Lebenseinheit in allen Schichten seiner Existenz in der von uns horizontal genannten Richtung. Damit sind die Möglichkeiten einer lebenswissenschaftlichen Grundlegung der philosophischen Anthropologie aber nicht erschöpft. Die Frage muß auch in ‚vertikaler‘ Richtung aufgerollt werden, wie sie die naturgewachsene Existenz des Menschen in der Welt als Organismus in der Reihe der Organismen vorschreibt. Das große Problem, welches die psychophysisch indifferente Einheit der menschlichen Person als L e b e w e s e n bietet, verlangt jetzt seine Bearbeitung. Zu diesem Ziel kann der Weg der Ästhesiologie nicht führen. Neue Wege müssen ausfindig gemacht werden, neue Methoden. […] Solange man nicht den Menschen als lebendige Existenz in seiner Naturgewachsenheit einer vorempirischen d.h. nicht spezialwissenschaftlich gebundenen Betrachtung unterworfen hat, kann man nicht hoffen, auf die oben aufgeworfenen Fragen: mit welchen Schichten des Daseins er in Wesenskoexistenz steht und wie er als Lebenseinheit sich und die Welt erfahren muß, eine vollständige Antwort zu erhalten. Die Konstituierung der Hermeneutik als Anthropologie bedarf eines lebenswissenschaftlichen Fundaments, einer Philosophie des Lebens im nüchternen, konkreten Sinne des Wortes.“ (Plessner 97, 36f.) Man sieht hier vorzüglich, dass Plessner über eine Philosophie des Lebens die Grundlagen der Hermeneutik einzuholen versucht. Das Verstehen von Sinngesetzen in der Natur setzt nicht nur eine Korrespondenz von Objektivität und Subjektivität voraus, sondern diese Korrespondenz weist ihrerseits auf die lebendige Verhaltensstruktur als ihre Ermöglichungsbedingung zurück. Diesen Punkt sieht auch Lessing 2008, 7.

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den umfassenderen Strukturgesetzen der Lebenspläne. So gehorcht auch die anschaulich-wahrnehmungsmäßige bzw. die rational-intellektuelle Verbundenheit zwischen Subjekt und Objekt den elementaren Weisen der Eintracht zwischen Lebewesen und Welt. Paul Claudel hat in seiner l’art poétique diesen Zusammenhängen vorahnend die klassische Form gegeben: connaissance est co-naissance.“ (Plessner 97, 67f.)

Die „rational-intellektuelle“ Erkenntnisbeziehung zwischen Subjekt und Objekt ist in den „Beziehungen zwischen Lebenssubjekt und Welt“ (ebd., 68) zu fundieren: Indem Plessner auf diese Weise Rationalität als Vollzugsfigur von Leben denkt, genügt er seiner eigenen Forderung nach einem „lebenswissenschaftlichen Fundament“ (ebd., 36) zur „Konstituierung der Hermeneutik als Anthropologie“ (ebd.)2. Es kann keinen Zweifel daran geben, dass Plessner einen Ansatz konzipiert, der den Menschen „nicht als Objekt einer Wissenschaft, nicht als Subjekt seines Bewusstseins, sondern als Objekt und Subjekt seines Lebens d.h. so, wie er sich selbst Gegenstand und Zentrum ist“ (ebd., 3) aufzufassen versucht3. Im Übrigen trägt das „positionale Prinzip“ (Rasini 2008b, 20) eine durchaus spektakuläre Konsequenz in sich, die fürs Erste nur angedeutet werden kann, bevor sie in Kürze voll sichtbar wird: Plessner zufolge ist das Phänomen des Bewusstseins „nur diese Grundform und Grundbedingung des Verhaltens eines Lebewesens in Selbststellung zur Umwelt“ (Plessner 97, 67). Damit expliziert Plessner das Bewusstseinsproblem systematisch „auf dem Niveau subhumaner lebendiger Körper (also der Tiere)“ (Fischer 2008a, 22). 2

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Man kann dies festhalten und dennoch der These von Olivia Mitscherlich zustimmen, dass die Stufe der exzentrischen Positionalität „die Durchführung der ‚horizontalen‘ Lebensphilosophie als anthropologisch konstituierter Hermeneutik“ unhaltbar macht. Siehe Mitscherlich 2008a, 03. Die Neubeschreibung von Rationalität als Vollzugsweise von Leben ist nicht Plessners letztes Wort: Vielmehr bringt die exzentrische Positionalität eine Verschiebung der Einsichten, die mit der Bestimmung der Positionalität verbunden sind. Auf diese „anthropologische Differenz“ (S. Kuśmierz) gehe ich alsbald ein. In dieser Hinsicht hätte Michel Foucault die Position Plessners sicher als symptomatisch für jene grundlegende Verschiebung gedeutet, wonach philosophisch seit dem späten 8. Jahrhundert nicht mehr das Subjekt (als res cogitans), sondern das Leben in Beziehung zum Problem der Wahrheit steht. Siehe Foucault 988, 7: „Wenn der große cartesianische Bruch die Frage nach den Beziehungen zwischen Wahrheit und Subjekt aufgeworfen hat, so hat das 8. Jahrhundert die Frage nach den Beziehungen der Wahrheit und des Lebens gestellt, die in der Kritik der Urteilskraft und in der Phänomenologie des Geistes ihre ersten großen Formulierungen gefunden haben. Ein Schwerpunkt der philosophischen Diskussion ist seither die Frage: Ist die Erkenntnis des Lebens nicht weiter als eine der Regionen, in denen das allgemeine Problem der Wahrheit, des Subjekts und der Erkenntnis auftritt? Oder zwingt sie zu einer anderen Formulierung dieser Frage? Muss nicht die ganze Theorie des Subjekts neu gefasst werden, wenn die Erkenntnis – anstatt sich der Wahrheit der Welt zu öffnen – eher in den ‚Irrtümern‘ des Lebens wurzelt?“ Foucaults Text stellt wohlgemerkt eine Interpretation des Zusammenhangs von Wissen und Leben bei Canguilhem dar. Ich habe die Passage zitiert, um klarzumachen, dass auch Plessner (und neben ihm, wie ich noch zeigen werde, Canguilhem) ausgehend von der Erkenntnis des Lebens zu einer Reformulierung der „Theorie des Subjekts“ vorstößt. Auch bei Plessner ist das Leben mitnichten auf eine „Region“ reduziert, in der „das allgemeine Problem der Wahrheit, des Subjekts und der Erkenntnis“ seine Rechte geltend macht.

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Nur insoweit ein Lebewesen auf „sich“ rückgewendet und zu seiner Grenze in einen Abstand gerückt ist, kann man sagen, dass es in einem Verhältnis zu Gegenständen, Körpern, Ereignissen, Prozessen etc. außer ihm steht: Auf diese These hin lässt sich das Konzept der Positionalität zuspitzen. Man darf nicht Plessners Ziel außer Acht lassen, mit dieser innovativen Begriffsbildung der zentralen Intuition Diltheys – „Leben versteht Leben“ – ein verändertes Fundament zu geben. Diltheys Schüler Georg Misch zitierend, stellt Plessner von Diltheys Hermeneutik des Lebens anerkennend fest, sie bringe „die Gegenstände, die ihr eigenes Selbst haben, zur Aussprache dieses ihres Wissens von sich selber, des Wissens des Lebens von sich selber (…)“ (Plessner 97, 22). Mit Dilthey hält Plessner daher folgende Diagnose für entscheidend: „Erkenntnissubjekt und Erkenntnisgegenstand gehören demselben Leben der einen menschlichen Sphäre an, deren Objektivationen in Taten und Werken nicht von außen gleichsam an sie herangebracht sind und wie Fremdkörper ihr wesenfremd bleiben, sondern aus ihr selbst hervortreiben, weil es zum Wesen des Lebens gehört, sich zu transzendieren und zugleich die Ergebnisse der Selbsttranszendenz wieder in sich hineinzunehmen und aufzulösen. […] Leben bedeutet für Dilthey (…) eine durch Anschauung und Intellekt und Phantasie und Einfühlungsmäßigkeit erfahrbare und selbst wieder die Erfahrung von sich ermöglichende, erzwingende Größe. Alle unsere Kräfte sind aufgerufen, das Vergangene in seinem Wesen und damit das Leben in seinem Wesen zu erforschen, denn ‚Leben versteht Leben‘ “. (Ebd.; Hervorhebung T. E.)

Die Differenz gegenüber Dilthey, die der Begriff der Positionalität in Plessners Konzeption einbringt, besteht nun darin, dass die Positionalität als Grundlage „einer Erforschung der Strukturgesetze des Ausdrucks“ (ebd., 23) fungieren kann. Diltheys Absicht war es, das Leben als Gegenstand geisteswissenschaftlicher Erfahrung im strengen Unterschied zu naturwissenschaftlichen Erklärungen zu etablieren. Hierzu rekurrierte er auf den Begriff des Erlebens und damit ganz explizit auf eine Dimension der Innerlichkeit. Dagegen kann Plessner mit der Theorie der Positionalität die von Dilthey entwickelte geisteswissenschaftliche Hermeneutik gleichsam auf den Boden natürlicher Sachverhalte zurückholen. Positionalität ermöglicht es einem Lebewesen, seine naturhafte Bedingtheit zu „erleben“ und insofern über seine Naturhaftigkeit schon immer hinaus zu sein. Während Dilthey den Erlebnisbegriff als Signum einer geisteswissenschaftlichen Hermeneutik einführt, legt Plessner eine Perspektive frei, die „geistig-geschichtliche Wirklichkeit u n d Natur in ein und derselben Erfahrungsrichtung“ (ebd., 2) erschließt. 

Georg Misch hat – in gewissem Sinne expliziter als Plessner selbst – darauf hingewiesen, dass eine „Gegenständlichkeit des Begegnenden“ überhaupt nur da besteht, wo es eine „Rückwendung des Lebewesens zu sich“ gibt. In dieser „wirklichen Wendung, die am Lebensverhalten uns verständlich ist“, ist es begründet, dass überhaupt eine Form des Kontakts mit dem „Außen“ erfolgen kann – und worauf komplexere Kontakte, z.B. Bewusstsein und Selbstbewusstsein, allererst aufbauen. Siehe Misch 99, 266 (alle Zitate). Siehe ebd., 26: „Und da ist zunächst eines klar: um Abstand von etwas nehmen zu können, muß man eine Stellung ihm gegenüber einnehmen, eine Position. Das ergibt sich ohne weiteres aus durch Zergliederung des Phänomens, das wir Distanzierung nennen. In die Ferne rücken kann man etwas nur von sich aus, indem man einen Standort einnimmt und also nicht bloß mitgeht mit oder fortgezogen wird von dem, womit man zu schaffen hat, wie das beim Darinnensein im Nexus der Lebensbezüge und des Situationsgefüges der Fall ist. Dies ist rein analytisch feststellbar: zur Möglichkeit der Distanzierung gehört eine Positionalität.“ [Hervorhebung i.O., T. E.]

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Ausgehend vom inzwischen elaborierten Problemstand eines lebendigen Wissens des Lebens lässt sich präziser angeben, wodurch sich bei Plessner das Wissen vom Leben im Sinne des genitivus obiectivus kennzeichnet. Bei dieser Frage ist man in mancher Hinsicht auf die Bedeutung zurückverwiesen, die von Anfang an dem Begriff der Doppelaspektivität in Plessners Argumentation zukommt. Dinge der Wahrnehmung auf ihre Doppelaspektivität hin anzusprechen, heißt nicht, ihre physische Materialität aus den Augen zu verlieren. Es zeigte sich jedoch, dass ein Zugang zu den Dingen, der sich nur auf ihre messbaren Außenaspekte bezieht – also seine physikalisch und chemisch relevanten Aspekte angeht – eine methodisch kontrollierte Reduktion in die Sinnvielfalt der Erscheinungen einführt. Gerade der nicht festgelegte Charakter der Dinge – ihre Eigentümlichkeit, eine Vielzahl von Interpretationsweisen aufzurufen (z.B. ästhetische im Unterschied zu naturwissenschaftlichen Interpretationen) – kann von den Naturwissenschaften nicht thematisiert werden. Der Ansatz bei der Doppelaspektivität schließt die Möglichkeit ein, naturwissenschaftliche Objektivierungen von Dingen vorzunehmen, signiert aber zugleich die Eigengesetzlichkeit der Dinge als Erscheinungen. Aus diesem Grund operiert Plessner durchgängig mit einem weiter gefassten Begriff von Wissen, den er in Form einer Verbindung von Phänomenologie und Hermeneutik absichert. Wie Gesa Lindemann (mit Plessner) klar gestellt hat, nähert sich dieser Wissensbegriff den Dingen unter dem Prinzip einer „offenen Frage“ (Lindemann 2008a, 22), das sich auf den unabschließbaren Bedeutungsspielsraum der Dinge einlassen kann. Für die Naturwissenschaften ist hingegen das Prinzip der „geschlossenen“ Frage unhintergehbar. Plessners Einsicht in die Positionalität des Lebendigen komplettiert dieses Bild vom Problem des Wissens wie folgt: Nicht nur die naturwissenschaftliche Rationalität, sondern auch die von Plessner entfaltete phänomenologisch-hermeneutische Rationalität ist, sofern es um lebendige Dinge geht, unausweichlich mit einem Unbestimmtheitsmoment konfrontiert. Wenn nämlich diejenigen Phänomene lebendig sind, die zu der von ihnen realisierten Grenzziehung gegenüber der Umwelt abermals in Beziehung stehen, so impliziert der Begriff des Lebens einen Vollzug, der als Vollzug strukturell nicht Gegenstand irgendeines Wissens sein kann. Selbst wenn „Wissen“ bedeutet, zu verstehen, dass lebendige Dinge ihre eigene Grenzre realisieren, tritt dieses Wissen im Modus einer Nachträglichkeit auf: Die Pointe der Doppelaspektivität ist gerade, dass die Eigenschaften eines Dings an eine Kernsubstanz appellieren, die stets abwesend bleibt. Eben dieser bemerkenswerten Entzugsstruktur begegnet auch das Wissen vom Leben: Lebendige Ereignisse und Prozesse müssen schon immer als von eime lebendigen Individuum gezogene bzw. realisierte Grenzen gefasst werden. So betrachtet, sind lebendige Vorgänge Ausdruck einer Eigensetzung, eines „freien Anfangs“ oder einer „Tathandlung“ (Fichte), von der ihrerseits kein Wissen mehr möglich ist6. 

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Zu Plessners spezifisch hermeneutischem Wissensbegriff, der sowohl gegen Bergsons Pathos der Unmittelbarkeit als auch gegen das „feststellende“ Wissen der Erfahrungswissenschaften profiliert ist, siehe Schürmann 20. Richard Breun hat im Rückgriff auf Plessners „frühe Rede vom Einsatz des Lebens“, vor allem an Hand von Plessners Schrift Die wissenschaftliche Idee. Ein Entwurf über ihre Form (93), vorgeführt, dass Plessner das Verhältnis zwischen Leben und Wissen von Kants Denkfigur der Heautonomie her bestimmt. Siehe (zum Zitat) Breun 2006, 3.

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Die Argumentation dieses Unterkapitels lief auf die These hinaus, dass Plessner mit dem Konzept der Positionalität zum Problemniveau eines lebendigen Wissens des Lebens vordringt. Gleichwohl sind Zweifel angebracht, ob der Positionalitätsbegriff das Verhältnis zwischen Leben und Wissen ganz zum Tragen bringen kann. Zunächst einmal hat der Begriff der Positionalität einzig die Pointe, das verbindende Merkmal zu sein, das lebendige Dinge und die Beobachter lebendiger Dinge aufweisen7. Es geht um ein Verhältnis, in dem das Lebendige als Subjekt und als Objekt auftritt: Der Positionalitätsbegriff zeigt das selbsttätige, subjektive Moment (der Grenzrealisierung), das ein Lebendiges in den Verkehr mit seinem Umfeld einbringt. Kurzum, mit dem Problem der Positionalität ist die performative Wende von Lebendigem zu Lebendigem erfasst, die eine Schlüsselbewegung in Plessners Philosophischer Anthropologie darstellt. Hier aber ist der blinde Fleck der Begrifflichkeit: Auf der Stufe der Positionalität lässt sich zwar der genuin lebendige Charakter des Kontakts begreifen, in dem Lebewesen zu anderen Lebewesen stehen. Doch dieser lebendige Kontakt oder Verkehr hat nicht ohne Weiteres den Modus eines Wissens: Dass ein durch Positionalität bestimmtes Lebewesen um seine Lebendigkeit und die der ihm begegnenden Objekte weiß: Dies kann nach Lage der Dinge keineswegs behauptet werden. Um die Struktur des lebendigen Wissens des Lebens – genauer: um den doppelten Genitiv dieser Formel – denken zu können, wird es in Plessners Systematik zwingend erforderlich sein, eine anthropologische Differenz einzuführen. Die Systemform, mit der Plessner dem Anspruch auf ein lebendiges Wissen des Lebens gerecht wird, ist die Philosophische Anthropologie. Klar wird diese Priorität der Philosophischen Anthropologie

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Demnach artikuliert sich im Begriff des Lebens eine „Freiheit, die dem System aller Gesetgebungsgebiete noch vorhergeht und dieses allererst ermöglicht, und zwar gerade dadurch, dass sie selbst kein Gebiet hat, auf dem sie gesetzgebend ist, sondern die Gebiete lediglich verbindet“. (Ebd., 2) Mit seiner These, „dass sich das Leben (…) selbst auf den Grund gehen will, um sich zu verstehen, dass es nicht anders kann als in dieser hermeneutischen Weise zu leben, sich auszulegen und darzustellen, wofür es sich hält“ (ebd., ) wendet sich Breun jene Struktur zu, die ich als lebendiges Wissen vom Leben bezeichne. In einem Zitat wie dem folgenden könnte man umstandslos an Stelle von Plessners Namen denjenigen Georges Canguilhems einsetzen: Man würde damit sogar den neuralgischen Punkt der Konzeption Canguilhems treffen. Siehe ebd.: „Das Leben ist aus dem System gewiesen, denn es ist unergründlich, und das Systematische, das sich in Plessners Denken ganz klar zeigt, ist nichts Anderes als der Abglanz des draußen befindlichen, eben lebendigen und nicht begrifflich bestimmbaren Lebens (…) Wie sich der Sonnenstrahl hinter geöffneten Fenstern im Zimmer fängt und nur dessen ‚Einsatz‘ die Gegenstände darin erhellt und ihnen Farben verleiht, ohne als Sonnenstrahl darin aufbewahrt zu sein, hat Plessner das Leben in die Erhellung des Systems und damit in die Erhellung seiner, des Lebens, selbst, in die Aufklärung über sich selbst investiert, ohne es darin aufzubewahren. Darin liegt die einzigartige Darstellungsleistung der Philosophischen Anthropologie.“ [Hervorhebung i.O., T. E.] Positionalität ist nicht die Formel Plessners für eine Reformulierung des Lebensbegriffs – sie ist vielmehr erst der Einstieg, um die verschiedenen Organisationstypen von Leben als Positionalitätstypen aufschlüsseln zu können. Dies bedeutet zwar nicht, dass schlechthin jede Umweltbeziehung eines Organismus ein Wissen von der Umwelt ermöglicht. Jedoch bedeutet es sehr wohl, dass es eine spezifisch ausgezeichnete Stufe von Positionalität gibt, auf der die Umweltbeziehung des Organismus den Charakter von Wissen annehmen kann. Diese Stufe ist die der exzentrischen Positionalität des Menschen.

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jedoch nur dann, wenn sich der Blick für die besondere Rückvermittlung des menschlichen Lebens mit den Niveaus des nicht-menschlichen Lebens8 schärft9. Ich möchte daher zunächst mit Hilfe des Begriffs der zentrischen Positionalität noch einen weiteren und alles entscheidenden Schritt in Plessners Philosophie des Lebens vorangehen, bevor ich nachzeichne, wie Plessner auf der Stufe der exzentrischen Positionalität seine eigene Philosophie des Lebens durch eine Philosophische Anthropologie fundiert.

8. Die sich auf „sich“ beziehende Struktur des Lebendigen: Zentrierung und Körper-Leib-Differenz Womöglich bringt der Begriff der Positionalität am prägnantesten die Grundhaltung der Plessnerschen Philosophie zum Ausdruck. Bislang rekonstruierte die Untersuchung die Genese der sich auseinander herausbildenden Kategorien, die Plessner in den Stufen entwickelt. Was man als Plessners philosophische Haltung bezeichnen könnte, war implizit im Auftreten jeder neuen Stufe präsent: Plessner ist ein Denker der „Verklammerung“ (Fischer 2008a, 36) oder, um Plessners eigene zentrale Formulierung zu gebrauchen, der „Verschränkung“. In der Strategie der Verklammerung geht es darum, zueinander gegenläufige, einander unterbrechende Momente aufzuweisen, die bei aller Widersprüchlichkeit gleichwohl als Aspekte einer dinglichen Einheit bestehen. Doppelaspektivität wird als unhintergehbar aufgezeigt, zugleich aber entfundamentalisiert, indem die radikal auseinandertretenden Aspekte stets an einem konkreten Etwas auftreten: Dieses Konkretum 8

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Siehe Schürmann 20, 92 [Hervorhebungen i.O., T. E.]: „Der Lebensvollzug erweist sich damit als eigentümliche Mitte von Aktivität und Passivität. Plessners Grundanliegen, die besondere und einzigartige Stellung des Menschen in der Welt zu denken und ineins die Depotenzierung dieser ‚Sonderrolle‘ durch die Nebenordnung des Menschen in einer Reihe neben allen anderen Naturkörpern, wird hier auf der Ebene der lebendigen Naturkörper bereits grundgelegt.“ Es sei an die philosophische Zielerklärung erinnert, die Plessner in seinem „Arbeitsplan für die Grundlegung der Philosophie des Menschen“ zum Abschluss des ersten Kapitels der Stufen formuliert. Siehe Plessner 97, 30: „Der Zweck heißt: Neuschöpfung der Philosophie unter dem Aspekt einer Begründung der Lebenserfahrung in Kulturwissenschaften und Weltgeschichte. Die Etappen auf diesem Weg sind: Grundlegung der Geisteswissenschaften durch Hermeneutik, Konstituierung der Hermeneutik als philosophische Anthropologie, Durchführung der Anthropologie auf Grund einer Philosophie des lebendigen Daseins und seiner natürlichen Horizonte; und ein wesentliches Mittel (nicht das einzige), auf ihm weiterzukommen, ist die phänomenologische Deskription.“ Schon dieser Hierarchie lässt sich entnehmen, dass Plessners Denken auf einen Begriff des Lebens zuläuft, der auf „natürliche Horizonte“ zurückbezogen bleibt, also zu seiner Explikation einer Philosophie des Organischen bedarf. Gleichwohl bricht der von Plessner intendierte Lebensbegriff jedoch auch mit der Ordnung des Organischen: Plessner sucht nach dem Prinzip der Geschichtlichkeit des Menschen, und ein solches lässt sich nicht plausibel machen, wenn man das Leben auf seine organische Dimension verengt. Wenn das Projekt einer Philosophischen Anthropologie daher die gegenseitige Durchdringung von Hermeneutik (die durch Philosophische Anthropologie begründet wird) und Natur- bzw. Lebensphilosophie (worauf die Philosophische Anthropologie gründet) einschließt, so hat Plessner selbst dies in seinem Modell von der vertikalen und der horizontalen Achse auf den Punkt gebracht. Dazu ebd., 32.

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hält die widerstreitenden Glieder zusammen, es umklammert sie, ohne dabei ihre Heterogenität aufzuheben oder zu vermitteln20. Plessners Denkfigur der in sich gespannten, Doppelaspektivität ausstellenden Einheit ist philosophisch umso anregender, da sie der konkreten Anschauung sinnlicher Phänomene abgewonnen ist. Es ist eine im besten Sinne unspektakuläre, auf Anschaulichkeit und Innerweltlichkeit hin orientierte Gegenstandstheorie, in deren Fortgang Plessner sein Argument der Doppelaspektivität zur Entfaltung bringt und schrittweise variiert. Schon in seiner basalsten Gestalt drückt der Doppelaspekt eine Unübertragbarkeit der raumhaften (erscheinungsbezogenen) gegenüber den räumlich-materiellen Verhältnissen eines Dings aus, ohne zu negieren, dass ein Ding gerade auch durch seine Räumlichkeit konstituiert ist. Um zu erfassen, was ein Ding als Erscheinung ausmacht, genügt es nicht, seinen Charakter als ausgedehntes materielles Objekt zu sehen: Seiner Erscheinung nach ist das Ding gegen die räumliche Bestimmtheit indifferent, von ihr abgehoben. Dennoch verklammert sich die Ebene des Dings mit derjenigen der res extensa, insoweit ein Ding eben auch Gegenstand, d.h. ausgedehnter physischer Körper ist. Diese Logik setzt sich fort: Erscheinen unbelebte Dinge kraft des Doppelaspekts, also gleichsam als die bloß passiven Träger eines Richtungsbruchs, so scheinen lebendige Dinge im Doppelaspekt zu stehen. Indem ein Lebewesen den Doppelaspekt „in Eigenschaftsstellung“ aufweist, bildet es einen höheren Grad von Einheitlichkeit aus, und zwar deshalb, weil es als Ganzes ein Verhältnis hat zum Bruch der Richtungen über es hinaus und in es hinein. Auch hier gibt es den Rückwurf des Phänomens auf die Stufe, von der es sich zugleich spezifisch abhebt: Lebewesen haben für die Anschauung dinghaften Charakter. Auch ihr Kennzeichen ist, obschon auf gesteigertem Niveau, das Auseinandertreten von Innenund Außenaspekten. Mit dem Begriff der Grenze, die das Lebendige nach Außen öffnet und zugleich nach Innen abschließt, konnte Plessner die Ambivalenz des Doppelaspekts und seiner Entfundamentalisierung fortführen. Der Vorgang der Grenzverwirklichung verlangte, um vollends plausibel zu werden, die Kategorie der Positionalität. So lautete Plessners bislang konkreteste Beschreibung für „Leben“, dass ein lebendiger Körper ein „in ihm hinein, aus ihm heraus g e s e t z t e r “ (ebd., ) ist. Hier macht sich abermals mit Nachdruck ein Moment der Verklammerung und Verschränkung geltend: Das Lebendige ist, wenn es „seine“ Grenze realisiert, in das Außen, dem gegenüber es sich abgrenzt, eingelassen oder ausgesetzt. Der Lebensvollzug lässt sich als ein Geschehen der Auseinandersetzung mit Doppelaspektivität begreifen, und erneut kommt Plessners Grundgedanke durch, dass die Einheit der widerstreitenden Aspekte den Doppelaspekt keineswegs tilgt, sondern ihre Fundierung durch eine wiederum komplexere Stufe notwendig macht. Auf dieser Linie sich potenzierender „Verkomplizierungen der Positionalität und der Doppelaspektivität des Lebendigen“ (Russo 2008, 3)2 bringt Plessner eine weitere Ka20

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Die „Einheit“, die Plessner in seiner Theorie des Doppelaspekts konzipiert, überwindet die radikalen Gegensätze nicht, sie verleiht ihnen vielmehr eine materielle Gestalt, ein fundamentum in re. Plessner selbst hat die Differenz zur spekulativen Dialektik der Vermittlung und Aufhebung klar festgehalten. Siehe Plessner 97, 32. Was die Auseinandersetzung mit Russos Text betrifft, so möchte ich mich auf die Anmerkung beschränken, dass ich seine Grundthese für wenig überzeugend halte. Russo würdigt Plessners Einheit der Sinne, weil sie Bedeutungs-, Sinn-, und Zeichengebung als Formen menschlicher Lebenskoordinierung begreift und in unmittelbarem Zusammenhang mit menschlicher Körperlichkeit sieht. Die

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tegorie zum Einsatz, die höchste Aufmerksamkeit verdient, will man Plessners Begründung eines lebendigen Wissens des Lebens genau klären. Es handelt sich um die Kategorie der geschlossenen, genauer noch: der zentrischen Positionalität. Was ist darunter zu verstehen? Für den Positionalitätsansatz ist die Durchdringung von Organismus und Umgebung charakteristisch, also ein Verhältnis, in dem keine der beiden Seiten über die je andere den unbedingten Primat hat. Dies zeigte sich sehr gut an der Rolle der Organe, die zum einen Flächen der Einwirkung der Außenwelt auf den Organismus, zum anderen Realisierungsmodi der Einheit des Organismus verkörpern. Beachtet man diesen engen Bezug zu den Organphänomenen22, wird klar, dass der Positionalitätsbegriff eine systematische Konkretisierung pflanzlicher, tierischer und menschlicher Organisationsformen zulässt. Bei Pflanzen fällt zunächst das weitgehende Fehlen der organischen Differenzierung auf, vor allem das Nichtvorhandensein eines Zentrums, welches gegenüber den Organen und damit gegenüber der Umgebung Eigenständigkeit aufweisen würde. Plessner spricht von der „offenen Organisationsform“ der Pflanze, um ihre Unselbständigkeit im Verhältnis zu dem sie umgebenden (und integrierenden) Milieu herauszustellen. Während die Pflanze ihrer Umgebung eher unmittelbar und als „unselbständiger Abschnitt“ (ebd., 29) integriert ist, geht in der Sphäre des Tiers eine hochgradig vermittelte Eingliederung in das Milieu von statten. Der Organismus des Tiers fungiert als „selbständiger Abschnitt des ihm entsprechenden Lebenskreises“ (ebd., 226). Plessner erläutert die Verschiebung, die mit der „geschlossenen Positionsform des Tiers“ (ebd.) einher geht, wie folgt: „Dadurch ist der lebendige Organismus als Ganzer nicht mehr unmittelbar die (in ihr selbst natürlich vermittelte!) Einheit der Organe, sondern er ist sie nur auf dem Wege über das Zentrum. Er steht also gar nicht mehr direkt mit dem Medium und den Dingen um ihn herum in Kontakt, sondern lediglich mittels seines Körpers. Der Körper ist die Zwischenschicht zwischen dem Lebendigen und dem Medium geworden. So ergibt sich die Lösung des oben gestellten Problems seiner mittelbaren Eingliederung in den Lebenskreis: das Lebewesen grenzt mit seinem Körper an das Medium, hat eine Realität ‚im‘ Körper, ‚hinter‘ dem Körper gewonnen und kommt deshalb nicht mehr mit dem Medium in direkten Kontakt. Infolgedessen ist der Organismus auf ein höheres Seinsniveau gelangt, das mit dem vom eigenen Körper eingenommenen nicht in gleicher Ebene liegt. Er ist die über die einheitliche Repräsentation der Glieder vermittelte Einheit des Körpers, welcher eben dadurch von der zentralen Repräsentation abhängt. Sein Körper ist sein Leib geworden, jene konkrete Mitte, dadurch das Lebenssubjekt mit dem U m f e l d zusammenhängt.“ (Ebd., 230f.)

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in den Stufen elaborierte exzentrische Positionalität sei ihrerseits „eine Bezeichnungsform“ (ebd., ), d.h. sie greife auf die elementaren Tätigkeiten der Sinnstiftung zurück, die Plessner in der Einheit der Sinne schärfer, weil ohne „innere Verkomplizierung der Logik des Lebendigen“ (ebd., ) erarbeitet habe. Die exzentrische Positionalität stellt, Russo zufolge, lediglich „allgemeine Strukturformeln“ (ebd.) für die bedeutungsgebende Praxis des Menschen bereit. Russos These ist entgegenzuhalten, dass gerade die zentrale Prämisse der Einheit der Sinne – die Korrelativität zwischen transzendentalen und empirischen, subjektiven und objektiven Erfahrungsbedingungen – solange unbegründet bleiben muss, bis sie sich als konstitutiv für das Phänomen der Lebendigkeit nachweisen lässt. Was an Subjekt-Objekt-Korrelation (bzw. Sinn-Sinnlichkeits-Korrelation) in der Einheit der Sinne nur postuliert werden kann, erfährt in der „Logik des Lebendigen“ eine dingliche Fundierung. Zum „positionalen Sinn der organischen Form“ siehe Plessner 97, 28f.

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Was Plessner in seiner Grundcharakteristik der Positionalität bereits vorweggenommen hatte, macht diese argumentative Steigerung, die sich im Übergang von der Positionalität zur geschlossenen oder zentrischen Positionsform einstellt, explizit: Der lebendige Körper ist in seinem Sein ein gesetzter. Das Motiv eines zentralen Fluchtpunkts, eines „Subjekts des Habens“ (ebd., 23), von dem aus die aktive Vermittlung mit der Umwelt vollzogen wird, bildet, wie Plessner selbst erwähnt, ein „Strukturmoment der Positionalität des lebendigen Körpers“ (ebd.). Empirisch angesehen, verfügt ein Lebewesen des geschlossenen Organisationstyps über sensorische im Unterschied zu motorischen Organgruppen sowie über ein Zentralorgan im Unterschied zur Peripherie23. Damit kommt es zu einer signifikanten Verdopplung, die Plessner auf die Differenz zwischen Körper und Leib bringt. Diese Differenz muss hier primär interessieren, denn sie ermöglicht die gesuchte präzisere Antwort auf die noch offene Frage: Was bedeutet es, das lebendige Wissen des Lebens im Sinne eines genitivus subiectivus zu bestimmen, d.h. als Ausdruck und Verhalten einer lebendigen Subjektivität? Es ist eine besondere Art der Selbstgegebenheit, die Plessner mit der Abhebung zwischen Körper und Leib thematisiert. Folgendes Zitat gibt hierüber Aufschluss: „Auf diese Weise bekommt die Mitte, der Kern, das Selbst oder das Subjekt des Habens bei vollkommener Bindung an den lebendigen Körper Distanz zu ihm. Obwohl rein intensives Moment der Positionalität des Körpers, wird die Mitte von ihm abgehoben, wird er ihr Leib, den sie hat. […] Mit diesem Leib existiert das lebendige Ding als mit einem Mittel, einer zugleich verbindenden und trennenden, öffnenden und verdeckenden, preisgebenden und schützenden Zwischenschicht, die in seinen Besitz gegeben ist.“ (Ebd., 23)

Besonders relevant ist Plessners These von der „vollkommenen Bindung“ des Zentralpunkts an die Körpergestalt. Mit dieser Auffassung unterläuft Plessner das Missverständnis einer ontologischen Hypostasierung der Substanz über die Aspekte. Der Leib liegt nicht als eine eigenständige Entität in der Wirklichkeit vor, die man von der Entität „Körper“ unterscheiden könnte. Vielmehr war es schon im Initialschritt, bei der Einführung der Doppelaspektivität des unbelebten Wahrnehmungsdings, entscheidend, das Verhältnis von Substanz und Aspekten als Verweiszusammenhang, als hermeneutische Sinnbeziehung zu konzipieren. Genau diese Figur wiederholt sich im Zusammenspiel von Körper und Leib: Der Körper bezieht sich auf sich selbst als Leib, d.h. als sinngebende, „verbindende und trennende“ Zwischenschicht, die ihn (den Körper) mit seinem Umfeld in Beziehung bringt. Diese Struktur der Selbstgegebenheit lässt sich wiederum nur aufweisen, wo ein gewissermaßen „im“ Körper befindliches, vom Körper abgesetztes Referenzzentrum angenommen wird. Der Leib als die „erlebte Grenzfläche gegen die Umwelt“ (Plessner 2003e, 29) ist dem Körper sensorisch wie motorisch gegeben. „Leib“ ist gewissermaßen diejenige Schicht, die der lebendige Körper im Ganzen „hat“ und die er als sein „Mittel“ in der Interaktion mit dem Umfeld zum Einsatz bringt. Auf dem Niveau der geschlossenen Positionalität begegnen wir also einer Substanz, die, „ohne aufzuhören, Substanz zu sein, Subjektcharakter gewinnt“ (Haucke 2000, 3)2: Einem Körper, der sich als Körper in Form einer Sinnbeziehung erfährt. 23 2

Hierzu Haucke 2000, 27ff. An dieser Stelle ist es hilfreich, die Parallele zwischen Plessners Argument und Frederik Buytendijks Distinktion „Organismus oder Subjekt“ (Buytendijk 98, 3) anzuführen. Die gemeinsame

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Konstitutiv für Lebensphänomene ist, Plessner folgend, ein hiatus irrationalis, ein ultimativer Bruch zwischen dem lebendigen Körper und dem Außen, demgegenüber der Körper sich abgrenzt. Den Begriff der Grenze und den Akt der Grenzziehung interpretiert Plessner ganz im Sinne dieses Hiatus: Die Grenze trennt zwei Momente, sie vindiziert eine Grundverschiedenheit. Zugleich aber stellt sie einen Verkehr, einen Berührungskontakt zwischen den beiden Seiten sicher. Anhand des Problems der Positionalität wurde deutlich, dass Lebewesen zugleich auf dieses Doppelgeschehen bezogen sind. Sie verhalten sich zu dem Bruch, der Trennung und Bezüglichkeit in einem bedeutet. Auf diese Weise kommen Möglichkeiten der Vermittlung des unmittelbaren Aueinanderbrechens von Lebewesen (Innen) und Umfeld (Außen) ins Spiel. Die Lebewesen unterscheiden sich, so Plessners Kerngedanke, nach den Möglichkeiten und Weisen, diese Vermittlung zu vollziehen. Nun verfügen Lebewesen des geschlossenen Organisationstyps dank ihres in sich zentrierten, selbstbezüglichen Charakters über eine gewisse Souveränität, was das Vermittlungsproblem betrifft: Zwischen motorischen und sensorischen Funktionen besteht zwar ein Bruch, doch auf die Pausen und Lücken, die zwischen Handlung und Bewußtheit2 herrschen, kann ein solches Lebewesen seinerseits Bezug nehmen. Es agiert von einem Zentrum der Bewertung her und bezieht sich auf seinen eigenen Körper als Leib, d.h. als eine Sinneinheit. Mit Erreichen der geschlossenen Form lebendiger Organisation nimmt das Problem des lebendigen Wissens des Lebens abermals eine bemerkenswerte Wendung. Ein Lebewesen vom Typ der geschlossenen Organisation bezieht sich auf sein Umfeld – z.B. auf fremde Lebewesen, die Teil deses Umfelds sind – stets „in Beziehung auf sich selbst, in Beziehung auf ein Selbst“ (Haucke 2000, 3). Wenn einem Lebewesen dieses Typs die „Deckung von Merksphäre und Wirkungssphäre“ (Plessner 97, 22) eigentümlich ist, dann heißt dies, dass es die in seinem Umfeld vorkommenden Phänomene „aktionsrelativ“ (ebd.) wahrnimmt. Die Dinge nehmen eine spezifische „Griffigkeit“ (ebd.) an, sie werden als (vom zentrischen Selbst her) greifbare und zugleich als von Außen (auf

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Referenz Plessners und Buytendijks, die als Ko-Autoren der Studie Die Deutung des mimischen Ausdrucks (92) verantwortlich zeichnen, ist Jakob von Uexkülls Funktionskreiskonzeption. Siehe ebd.: „Wir versuchen zu zeigen, daß der Organismus – eine Pflanze, eine Zelle, ebenso ein Gewebe oder ein Organ – eine Bedeutungseinheit darstellt, aber nichts tut, kein auf eine Situation bezogenes Verhalten aufweist. Der in der Beobachtung unmittelbar gegebene Gegensatz Organismus – Subjekt wäre der begrifflichen Gegenüberstellung von Leben und Existieren gleichzusetzen. Wir müssen allerdings den Begriff Existenz nur als einen Bezug zu einer sich im Verhalten zeigenden Situation verstehen und also nicht in dem ausgezeichneten Sinnen, in dem die heutige Anthropologie und Ontologie (Seinslehre) das Existieren meinen: als die nur dem Menschen zukommende Seinsweise.“ Siehe dagegen Misch 99, 29: „Wozu nur kritisch zu bemerken ist, daß der Ausdruck ‚Subjekt‘, die Tiere als Subjekte anzusprechen, hier abwegig ist, da er die Beziehung von Subjekt und Objekt bereits voraussetzt, die grade erst abgeleitet werden soll; wir sagen dafür vorsichtiger: Aktionszentren des Verhaltens. Ebenso werden wir auch den Terminus ‚Objekt‘ [vermeiden] müssen. Aber das Entscheidende bleibt die Zusammengehörigkeit von Lebensform und Umweltform, daß das Tier seine Umwelt sozusagen wie der Embryo die Fruchtblase mit sich trägt.“ Zum „Antagonismus von Handlung und Bewusstheit“ als besonderem Kennzeichen der „zentralistischen Organisation“ siehe Plessner 97, 29ff.

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den Leib) eingreifende Objekte erfahren. Diese Kontakform entspricht ganz exakt dem Grundsachverhalt der geschlossenen Positionalität: Ein Bewusstsein von seiner leiblichen Vermitteltheit mit der Umgebung zu haben und sich von einem wertenden, sinnstiftenden Zentrum aus zu sich selbst zu verhalten. Plessner zufolge stellt dieser in sich gedoppelte Umweltbezug „ganz eigentlich die Situation des Bewussteins“ (ebd., 2) dar, eines Bewusstseins nämlich, das auf „geschlossene, einzelne, relativ konstante, komplexe Dinge“ (ebd., 27) referiert. Plessners Modell der Positionalität führt vor, inwiefern das Verstehen von Leben als Leben aus der internen Konstitution lebendiger Phänomene selbst expliziert werden muss. Auf der Komplexitätsstufe der geschlossenen Positionalitätsform wird eine Struktur von Bewusstsein vorstellig, die sich dem Rückbezug auf ein synthetisches Zentrum verdankt und an die Herausbildung einer Differenz von Körper und Leib gekoppelt ist. Für diese Bewusstseinsform werden die Dinge insofern sinnfällig, als dass sie „auf das Gesamtvitalsystem des Lebewesens relativ bleiben“ (ebd.). Im Zusammenhang mit der Denkweise eines lebendigen Wissens des Lebens ist vor allem der implizite Umkehrschluss bedeutsam, der aus diesem Bewusstseinsbegriff folgt: Der geschlossene oder in sich zentrierte Typ der Organisation ermöglicht kein lebendiges Wissen von, sondern höchstens den lebendigen Kontakt mit Leben. Strukturell entscheidend für ein lebendiges Wissen des Lebens ist die Doppelstellung von Leben als genitivus obiectivus und gentitivus subiectivus26. Es geht um eine solche Erfahrung lebendiger Dinge als lebendig (nicht nur als natürlich), bei der das Subjekt der Erfahrung seinerseits als lebendiges Subjekt (nicht als res cogitans, als erkenntnistheoretisches Substrat, als vernünftiges und sprechendes Wesen, als göttlicher Verstand oder dgl.) durchsichtig wird. Von der geschlossenen Positionalität zeigt Plessner nun, dass sie auf Seiten eines Lebewesens Bewusstseinsleistungen und bewusstes Verhalten ermöglicht. Er zeigt jedoch ebenfalls, dass den derart konstituierten Lebewesen in ihrem Umfeld weder die Eigengesetzlichkeit lebendiger Dinge noch ihr eigenes Zentrum zu Bewusstsein kommen kann – jenes Zentrum, das es dem Körper ermöglicht, sich selbst als Leib zu erfahren: „In dem Verhältnis von Lebewesen und Umfeld, wie es für das höhere Tier kennzeichnend ist, fehlt auf der Seite des Subjekts wie auf der des Feldes die Abgehobenheit von dem selbst nicht mehr Inhalt werdendem Grund des Bewusstseins. Sowohl sich selber ist das Subjekt verborgen – es hat nur seinen Leib und geht in der raum-zeithaften Zentralität subjektiven Lebens auf, ohne es zu erleben, ist von ihm aus reines Mich, nicht Ich – wie auch das Umfeld in seinen Grenzen, das endlich (für den Betrachter von außen), aber nicht begrenzt (für das Tiersubjekt) ist.“ (Ebd.)

Alle Dinge und vornehmlich die lebendigen Dinge zeichnet, wie Plessner seit Beginn seiner Analyse betont hatte, eine Entzugsstruktur aus, „ein Plus an Unsichtbarkeit gegenüber dem reell anschaulichen Tatbestand“ (ebd., 270). Diese Differenz, diese Changierung zwischen Substanz und Aspekten erscheint bei lebendigen Phänomenen als dynamisiert 26

Zum „Bewusstsein als sphärische Einheit von Lebenssubjekt und Gegenwelt“ siehe ebd., 67. Dort heißt es auch: „(…) nicht ist das Bewußtsein in uns, sondern wir sind ‚im‘ Bewusstsein, d.h. wir verhalten uns als eigenbewegliche Leiber zur Umgebung. (…) Bewusstsein ist nur diese Grundform und Grundbedingung des Verhaltens eines Lebewesens in Selbststellung zur Umgebung.“

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und als Moment einer Relation: Lebendiges hat ein Verhältnis zu dem Bruch, der zwischen ihm (dem Lebendigen) und seiner Umgebung herrscht. „Leben“ in seiner minimalen Definition als Positionalität impliziert daher schon immer einen stabilisierenden Vollzug, eine Art ausgleichende Bewegung, wodurch sich das Lebendige zu der Grenze – an der es gleichzeitig noch und nicht mehr „bei sich“ ist – verhält. Was nun die Organisationsstufe der geschlossenen Positionalität betrifft, so zielt Plessners Beschreibung auf folgende Paradoxie: Einerseits liegt mit der geschlossenen Positionalität so etwas wie die souveränste Ausprägung von Leben vor. Das Tier bezieht sich auf seine Umwelt und auf „sich selbst“ unter Einsatz seines Leibs, den es als eine sinnhafte Schicht der Vermittlung mit dem Außen erlebt. Da die Interaktion mit der Umwelt von einem sinngebenden Zentrum aus geschieht und insofern ihm alle Gegebenheiten in der Umwelt als „aktionsrelativ“ erscheinen, erfährt das Tier einen „Primat der Unmittelbarkeit“ (Haucke 2000, 32): Alle Vollzüge des Lebens stellen sich auf dieser spezifischen Stufe als spontane Koordinierungen der Umweltbeziehungen durch einen Organismus dar, als Stabilisierungen, die dem Organismus dank seiner in sich gegründeten, in sich zentrierten Verfassung möglich sind. Andererseits – und dies ist entscheidend – bleiben dem Tier sowohl seine eigene Zentralität als auch die Bestimmtheiten der Phänomene in seinem Umfeld verborgen. Ein Lebewesen von geschlossener Positionalität verkehrt mit anderen Lebewesen, ohne sie in ihrer Spezifität als Lebewesen zu erfahren27. Mehr noch: Dieses Lebewesen ist „ein auf es selber rückbezügliches System, ein Sich, aber es erlebt nicht – sich“ (ebd., 288). Um ein Ding als qualitatives Gebilde von einem ausgedehnten Gegenstand unterscheiden, um lebendige Dinge in ihrer Differenz zu unbelebten erfassen und um verschiedene Stufen des Organischen auseinanderhalten zu können, ist es, Plessners Auffasung nach, schon immer notwendig, einen Sinn für das zu haben, was sich jeweils nicht zeigt. Dieser „Sinn für das Negative“ (ebd.), für „Abwesenheit, Mangel, Leere“ (ebd.), steht dem Tier, wie die Untersuchung seiner Organisationsform enthüllt, nicht zur Verfügung. Es ist seiner ganzen Konstitution nach unfähig, die phänomenologische und hermeneutische Operation auszuführen, mit der die Betrachtung der gesamten Phänomenreihe einsetzte. Der Blick auf die Welt, der sich uns am Beginn der Beobachtungsserie eröffnete, kann nicht der Blick eines Lebewesens zentrischer Positionalität sein. Zu dieser Einsicht verpflichtet den Leser die konstitutionstheoretische Umkehrung, die Plessner inmitten seines Textes vollzogen hatte. Aus alledem ergibt sich, dass Plessner zur stringenten Begründung der Denkfigur eines lebendigen Wissens des Lebens nicht bei der Problemlage der geschlossenen oder zentrischen Positionalität stehen bleiben kann. Zentrische Positionalität ermöglicht es einem Lebendigen weder um die Differenz zwischen Natur und Leben zu wissen noch sich von der Art des eigenen (zentrisch orientierten) Lebensvollzugs zu distanzieren. Diejenige Positionalitätsform, bei der die „performative Wende von Lebendigem zu Lebendigem“ (H.-P. Krüger) den Charakter von Wissen, den „Sinn für’s Negative“ annehmen kann, gilt es noch transparent zu machen. Wer auf diesem Weg mit Plessner den Schritt zur exzentrischen Positionalität des Menschen mitvollzieht, muss einsehen, dass ein le27

Insofern handelt es sich aus der Erlebensperspektive des Tiers stets um „Dinge ohne Sachcharakter“. Siehe Plessner 97, 27.

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bendiges Wissen des Lebens bei Plessner einzig in der Systemform der Philosophischen Anthropologie Halt zu finden vermag.

9. Lebendiges Wissen des Lebens: Die exzentrische Positionalität des Menschen Blickt man von der Bestimmung der geschlossenen und insbesondere der zentrischen Positionalität auf Plessners bisherigen Argumentationsprozess zurück, so lässt sich die eigentümliche Dialektik erkennen, welche die Aufeinanderfolge der dargestellten Phänomenstufen (unbelebt, belebt, positional, offen positional, geschlossen positional) strukturiert. Prinzip der Phänomenabfolge ist eine „rekursive Anwendung der Doppelaspektivität auf sich selbst“ (Haucke 2000, 79): Während das unbelebte Ding in seiner qualititativen Konstitution durch den Doppelaspekt unvermittelt bestimmt ist, bezieht sich das lebendige Ding auf die Tatsache, durch den Doppelaspekt bestimmt zu sein. Dieser Vorgang einer Bezugnahme, die Herausbildung einer Relation zum strukturgebenden Doppelaspekt, lässt sich präziser fassen als die vom Lebendigen vollzogene Realisierung seiner Grenze. Was nun die Möglichkeit einer Binnendifferenzierung des Lebensbegriffs – einer Stufung des Organischen – angeht, so ist abermals die Figur des Rekursiven wirksam. Das Unterscheidungs- und Hierachisierungskriterium verschiedener Stufen des Organischen besteht in der Art und Weise, wie einem Lebewesen die Tatsache, dass es seine Grenze realisiert, gegeben ist. Um ein Beispiel zu nehmen: Gegenüber Pflanzen zeichnen sich Tiere in ihrer Bezogenheit auf die eigene Grenze, d.h. auf sich selbst und auf ihre Umgebung, durch einen ungleich stärkeren Grad an Zentrierung und organischer Spezialisierung aus. Anders als der Pflanze ist dem Tier das Gesetztsein (in es hinein und über es hinaus) gegeben. So sind es im Rückblick vor allem zwei Charakteristika, an denen sich die von Plessner beschriebenen Verhältnisse zwischen den Phänomenen ausrichten: Zum einen arbeitet Plessner mit dem Wechselspiel von Stufen, auf denen Doppelaspektivität virulent ist, und Folgestufen, die eine relative, jedoch in sich gespannte Distanz zu bzw. Einheit von Doppelaspektivität ausbilden28. Entscheidend dabei ist, dass sich die eher „geschlossenen“, Stabilität verleihenden Stufen als transitorisch erweisen, also im je folgenden Schritt stets wieder mit der Dynamik der Doppelaspektivität konfrontiert werden, was zur Herausbildung einer neuen, „unabgeschlossenen“ Stufe führt29. Zum anderen herrscht, neben dem Widerspiel aus zentripetalen und zentrifugalen Tendenzen, eine komplexe Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Diskontinuität vor. Lebewesen sind ausdrücklich als lebendige Dinge gefasst, jedoch zugleich zu ihrer eigenen Dinghaftigkeit auf Distanz gestellt. Ein 28

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Man denke an Plessners These, dass ein Lebewesen im Vergleich zu Unbelebtem stärker als „Ganzheit“ erscheint. Dies ist nach Plessner der Tatsache geschuldet, dass ein Lebewesen Distanz zu dem Doppelaspekt hat, der sein Erscheinungsbild prägt, dass es nicht gänzlich in Doppelaspektivität aufgeht. Was das Leben von der Natur absetzt, ist ein stabilisierendes Moment, ein Zuwachs an Eigenständigkeit oder, etwas bildlich gesprochen, eine Art „Zähmung“ des Doppelaspekts, worunter ja primär der Bruch zwischen den Richtungen nach Innen und nach Außen zu verstehen ist. Plessner expliziert also ein „Gesetz, wonach das Moment der niederen Stufe, als Prinzip gefasst, die nächsthöhere Stufe ergibt und zugleich als Moment in ihr auftritt (‚erhalten‘ bleibt)“. Plessner 97, 290.

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qualitativer Bruch lässt das Lebendige die Reihe der natürlichen Dinge überschreiten: Nicht alles Natürliche, sondern nur spezifisch Lebendiges hat bzw. realisiert seine eigene Grenze. In einer doppel- und gegensinnigen Beschreibung reiht Plessner das Lebendige einerseits in die Kette der Dinge ein, die er andererseits mit der Figur der Grenze ultimativ durchbricht30. Bereits der Wortlaut des Begriffs „exzentrische Positionalität“ artikuliert den neuerlichen Bruch, zu dem der Durchgang durch die Organisationsformen des Lebendigen unweigerlich führen muss: So wie das lebendige Ding auf die Ordnung der Dinge zurückbezogen und an sie rückvermittelt ist, indem es zugleich eine absolute Differenz zu den Dingen aufweist, so ist das menschliche Leben in die Ordnung des Lebendigen eingebettet und „über sie hinaus“ (Plessner 97, 29). Die Dynamik von Vollzug und Brechung, Kontinuität und Diskontinuität, die in der Relation zwischen Natur (Dingen) und Leben (lebendigen Dingen) zum Tragen kam und auf jeder Stufe des Organischen eine Verschiebung einbrachte, reißt in der exzentrischen Positionalität nicht ab: Sie ist vielmehr, wie Plessner schreibt, „bis zum Äußersten durchgeführt“ (ebd.). Alles kommt darauf an, zu verstehen, warum Plessner über das von ihm entfaltete Niveau der geschlossenen Positionalität hinaus fragt. Aus welchem Grund ist es notwendig, der geschlossenen Positionalität gleichsam einen Spiegel vorzuhalten? Was steckt hinter Plessners Strategie, in der Sphäre der geschlossenen Positionalität eine „Möglichkeit“ (ebd., 289)3 hervorzuheben, die sich in dieser Sphäre gleichwohl nicht mehr einlösen, nicht mehr verwirklichen lässt? Man muss bei der Beantwortung dieser Fragen das konstitutionstheoretische Prinzip, das den gesamten Gedankengang der Stufen zusammenhält, vor Augen haben. Maßgeblich für die Konstitutionstheorie ist, wie bereits dargelegt, Plessners Begründung für die Bedingung der Möglichkeit, die es einem anschauenden Subjekt erlaubt, Erfahrung mit lebendigen Objekten zu machen. Vom Begriff der Grenze her, die anfangs als ein durch begriffliche Abstraktion gewonnenes Kriterium fungierte, führte Plessners Weg zu der Untersuchung von Ermöglichungsbedingungen, die auf der Seite der Objekte liegen. Auf diese Weise wurde es möglich, die transzendentalen Bedingungen, die ein Subjekt investiert, wenn es lebendige Dinge als lebendig erfährt, von den Bedingungen her zu denken, die lebendige Dinge in ihrer spezifischen Konstitution auszeichnen. Parallel dazu gelang es Plessner, Positionalität als Grundbestimmtheit lebendiger Dinge einzuführen und verschiedene Organisationsgrade zu unterscheiden, wonach Lebewesen „in sich hinein“ und „über sich hinaus“ gesetzt sein können. Es zeigte sich, dass es in der Kapazität eines Tiers (auf der Stufe der geschlossenen Positionalität) liegt, ein Bewusstsein von im Umfeld präsenten Phänomenen auszubilden und sich „aktionsrelativ“ zu ihnen zu verhalten. Diese Auffassung wiederum implizierte, dass das Tier seinen eigenen Körper als Leib „hat“ und erfährt. 30

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Gewiss kann man die beide soeben erwähnten Motive – den Wechsel zwischen zentripetalen und zentrifugalen Gebilden, die Verschränkung von Kontinuität und Diskontinuität –, vor allem aber letzteres Motiv auf die sehr treffende Formulierung Olivia Mitscherlichs bringen, Plessner denke einen „Kontakt per hiatum“ (Mitscherlich 2007, 33–). Klarerweise geht es bei dieser Figur um den Kontakt nicht minder als um den Hiatus. Siehe ebd., 29 zur „Verwirklichung der Möglichkeit“.

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Die Pointe ist nun die: Indem Plessner den Umschlag vom Subjekt- zum Objektpol der Erfahrung konsequent zu Ende denkt, um auf der Objektseite diejenige Organisationsform auszudifferenzieren, die ein „erkennendes Verhältnis zu Gegenständen denkbar“ (Grünewald 993, 280) macht, wird klar, dass der Blickwinkel auf die Dinge, der am Anfang des ganzen Prozesses steht, in der geschlossenen Positonsform noch immer nicht eingeholt worden ist. Vielmehr wurde in den Anfang etwas investiert und dort wie selbstverständlich in Anspruch genommen, was sich in der systematischen Rekonstruktion der bisherigen Positionalitätsstufen nicht hat wiederfinden lassen: Obwohl die geschlossene Positionalität des Tiers eine zentripetale Regulation der Umwelt durch den Organismus ermöglicht, kann es auf dieser Stufe nicht geschehen, dass lebendige Dinge als lebendige Dinge, d.h. in ihrer Ungleichartigkeit gegenüber anderen Umweltphänomenen, erfahren werden. Dem Tier fehlt der „Sinn für’s Negative“. Im zunächst so unscheinbaren phänomenologischen Blick, dem die spezifische Differenz des Lebendigen evident ist, kann Plessner daher eine Möglichkeit sehen, die sich auf dem bislang komplexesten Niveau der geschlossenen Positionalität nicht realisieren kann. Man darf nicht ignorieren, dass Plessner bei Einführung des Begriffs der exzentrischen Positionalität quasi-transzendental danach fragt, wie ein Lebewesen beschaffen sein muss, dem sein „Leben aus der Mitte“ (Plessner 97, 289), seine „zentralistische Organisation“ (ebd., 29) wiederum gegeben ist. Nachdem er das Missverständnis ausgeschaltet hat, der Mittelpunkt könne insofern reflexiv werden, als dass sich „‚daneben‘, hinter oder vor ihm“ (ebd., 289)32 ein weiterer Mittelpunkt auftue, kann Plessner schreiben: „Damit ist die Bedingung gegeben, daß das Zentrum der Positionalität zu sich selbst Distanz hat, von sich selbst abgehoben die totale Reflexivität des Lebenssystems ermöglicht. Sie ist gegeben ohne widersinnige Verdoppelung des Subjektkerns, lediglich im Sinne der Positionalität. Sein Leben aus der Mitte kommt in Beziehung zu ihm, der rückbezügliche Charakter des zentral repräsentierten Körpers ist ihm selbst gegeben. Obwohl auch auf dieser Stufe das Lebewesen im Hier-Jetzt aufgeht, aus seiner Mitte lebt, so ist ihm doch die Zentralität seiner Existenz bewusst geworden. Es hat sich selbst, es weiß um sich, es ist sich selber bemerkbar und darin ist es I c h , der ‚hinter sich‘ liegende Fluchtpunkt der eigenen Innerlichkeit, der jedem möglichen Vollzug des Lebens aus der eigenen Mitte entzogen den Zuschauer gegenüber dem Szenarium dieses Innenfeldes bildet, der nicht mehr objektivierbare, nicht mehr in Gegenstandsstellung zu rückende Subjektpol. Zu immer neuen Akten der Reflexion auf sich selber, zu einem regressus ad infinitum des Selbstbewusstseins ist auf dieser äußersten Stufe des Lebens der Grund gelegt und damit die Spaltung in Außenfeld, Innenfeld und Bewusstsein vollzogen.“ (Ebd., 290f.)

Wie gesagt: Wenn bei Plessner die Dinge zueinander in einem Verhältnis von Stufen stehen, so heißt dies, dass zwischen zwei aufeinander folgenden Stufen ein qualitativer 32

Eminent wichtig ist, dass Plessner den Gedanken einer „Vermannigfachung des Subjektkerns“ (ebd.) deshalb abwehrt, weil diesem Gedanken die falsche Vorstellung zu Grunde liegt, es gebe materielle Äquivalente für positionale Sachverhalte. Genau diese Fehlinterpretation wollte Plessner bereits bei der Herleitung der Modale des Organischen nachdrücklich ausschließen. Plessner stellt klar, dass ein positionaler Sachverhalt „an einen Vollzug oder eine Setzung gebunden ist“ (ebd., 290). Die „positionale Mitte“ (ebd.) ist folglich auch keine materielle Größe; vielmehr „gibt“ (ebd.) es sie „nur im Vollzug“ (ebd.).

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Bruch, aber immer auch eine Merkmalsstruktur besteht, die beide gemein haben33. Daher ist es keinesfalls bloß ein rhetorisches Spiel, wenn Plessner in Erinnerung ruft, „warum die tierische Natur auf dieser höchsten Positionsstufe [der exzentrischen Positionalität, T. E.] erhalten bleiben muß“ (Plessner 97, 29): Morphologisch bzw. organisch betrachtet, ist der Mensch ein Lebewesen. Im Übergang von der Pflanze zum Tier, von der offenen zur geschlossenen Positionalität, korrespondierte mit der Differenz in den jeweiligen Beziehungen der Organismen zur Umwelt ein deutlicher Sprung ihrer materialen organischen Konstitution. Hingegen gibt es für die exzentrische Positionalität kein materiales Äquivalent3 im Sinne der Überbietung, wie sie der Tierorganismus gegenüber dem Organismus der Pflanze darstellt: Vielmehr ist auch der Mensch in organischer Sicht an die zentrische Positionalitätsform gebunden. Dennoch ist durch die Kategorie der exzentrischen Positionalität der Rahmen, in dem sich Plessners bisherige Perspektive hielt und der zugleich der Problemstellung dieser Arbeit die Richtung gibt – der Rahmen des Lebens – irreversibel gesprengt. Man muss die letzte und entscheidende Konsequenz aus Plessners indirekt-transzendentalem Verfahren ziehen, das in der Beschreibung und Rekonstruktion der lebendigen Erscheinungen laufend am Werk war: Wenn es der ex-zentrische Standort ermöglicht, den bei geschlossener Positionalität vom Verhaltenszentrum her bestimmten leiblichen Vollzug der OrganismusUmwelt-Differenz rekursiv zu erfahren, so kann es sich hier nur um den Standort eines Lebewesens handeln, das nicht länger in „Leben“ aufgeht. An früherer Stelle wurde angemerkt, dass die zentrische Positionalität die souveränste Ausprägung von Leben verkörpert: Dem Tier ist sein eigener Körper, der in Interaktion mit dem Umfeld steht, als Leib gegeben, als eine Schicht der Vermittlung mithin, die von einem wertenden Zentrum aus ihren Sinnbezug empfängt. Leben erscheint auf dieser Seinsstufe als „eine auf ein wertendes Subjekt zentrierte Tätigkeit“ (Balzaretti 200b, ). Tatsächlich zeichnet Plessner mit der Figur der zentrischen Positionalität das Bild einer relativen Symmetrie zwischen Organismus und Umwelt, die sich zwar nur je und je im konkreten Vollzug realisiert und daher fragil ist, die aber dem Lebewesen gleichwohl eine „Totalkonvergenz des Umfelds und des eigenen Leibs gegen das Zentrum seiner Position“ (Plessner 97, 29) ermöglicht. Zur Erinnerung: Diese Fassung von Leben als Symmetrie, Konvergenz oder Balance ergab sich als Resultat aus Plessners indirekt-transzendentaler Vorgehensweise3. Genau 33

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In diesem Sinne kehrt Schlossberger einen Kontrast zwischen Scheler und Plessner auf der einen, Gehlen auf der anderen Seite hervor. Bei Scheler und Plessner liege die Funktion des „Tier-MenschVergleichs“ darin, eine Gemeinsamkeit festzuhalten, um die Differenz „besser zu verstehen“. Siehe Schlossberger 2008, 2. Siehe Krüger 2006a, 29: „Die exzentrische Positionalität, die phänomenologisch anhand von Menschen vorgestellt (Hegel, s.o.) wird, stellt keine in sich homogene und funktionable Struktur dar, wie es die zentrische Positionalität tut, die hänomenologisch anhand von Tieren vorgestellt wird. Die exzentrische Positionalität markiert vielmehr einen Bruch. Diese ‚Hiatusgesetzlichkeit‘ (Plessner 97, 292) betrifft die Zentrierungsrichtungen der Verhaltensbildung. Es geht um den Hiatus zwischen der Exzentrierung der Verhaltungsform in Welt hinaus und deren Rezentrierung auf die zentrische Organisationsform des lebenden Körpers zurück.“ Die Frage danach, was es einem phänomenologischen Bewusstsein ermöglicht, lebendige Phänomene als seine intentionalen Korrelate zu erfahren, machte nämlich bei Plessner einer „Konstitutionstheorie“ (J. Beaufort) Platz, die wie folgt argumentiert: Es liegt in der Konstitution, der struk-

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diese indirekt nach Ermöglichungen fragende Strategie ist es aber auch, mit der Plessner nunmehr das Thema des Lebendigen hinter sich lassen kann: Denn die Möglichkeit, „das, was auf der Tierstufe das Leben nur ausmacht“ (Plessner 97, 29) – die Zentralität und leibhafte Subjektivität des Lebensvollzugs – wiederum zu objektivieren, ist nicht mehr innerhalb der Grenzen des Lebens verankert: „Ist das Leben des Tieres zentrisch, so ist das Leben des Menschen, ohne die Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus ihr heraus, exzentrisch. E x z e n t r i z i t ä t ist die für den Menschen charakteristische Form seiner frontalen Gestelltheit gegen das Umfeld. Als Ich, das die volle Rückwendung des lebendigen Systems zu sich ermöglicht, steht der Mensch nicht mehr im Hier-Jetzt, sondern ‚hinter‘ ihm, hinter sich selbst, ortlos, im Nichts, geht er im Nichts auf, im raumzeithaften Nirgendwo-Nirgendwann. […] Er lebt und erlebt nicht nur, sondern er erlebt sein Erleben. […] Als Ich dagegen, das sich in voller Rückwendung erfasst, sich fühlt, seiner inne wird, seinem Wollen, Denken, Treiben, Empfinden zusieht (und auch seinem Zusehen zusieht), bleibt der Mensch im Hier-Jetzt gebunden, im Zentrum totaler Konvergenz des Umfeldes und des eigenen Leibes. So lebt er unmittelbar, ungebrochen im Vollzug dessen, was er kraft seiner unobjektivierten Ichnatur als seelisches Leben im Innenfeld fasst.“ (Ebd., 29f.)

„Ohne die Zentrierung durchbrechen zu können“, also weiterhin rückvermittelt mit den Formen des organischen Lebens, steht der Mensch nicht nur in der einheitsbildenden Mitte seines Körpers, sondern zugleich außerhalb dieser Mitte. Er ist aus dem Zentrum, das bei zentrischen Lebewesen das leiblich vermittelte Verhältnis zum eigenen Körper und über diesen zur Umwelt garantiert, heraus, zu ihm auf Distanz gesetzt. Die entscheidende Überlegung lautet, dass sich die Differenz zu Körper und Leib sowie zur Einheit beider von keinem „quasi-göttlichen“ archimedischen Standpunkt her schreibt. Plessner denkt die mit der exzentrischen Positionalität auftretende Distanz keineswegs als eine Struktur der Versöhnung. Exzentrische Positionalität ist daher nicht die neu aufgesetzte Formel für reine Vernunft oder Selbstbewusstsein36.Wer die These so liest, übersieht völlig, dass Plessner gegen die Idee eines mit sich identischen letzten Fundaments wiederholt sagt, von wo der Mensch ausgeht, wenn er mit der „totalen Reflexivität des Lebenssystems“ (Plessner 97, 290) konfrontiert ist: Vom Nichts (ebd., 29 und passim). Damit aber ist ein rein strukturelles Moment37 im Spiel, das sich jeder positiven Bestimmtheit und Bestimmbarkeit entzieht: Was das Selbstverhältnis des Menschen und sein Umweltverhältnis ermöglicht, ist eine Art reine Strukturierung oder Potentialität, die sich selbst nicht

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turellen Verfassung des Lebendigen, dass ein Lebewesen das Phänomen der eigenen und fremden Lebendigkeit „erfährt“. Mit dem Begriff der Positionalität kam diejenige Kategorie in Sicht, die zeigt, dass eine lebendige Aktivität (Realisierung einer Grenze) von einer lebendigen (grenzrealisierenden) Substanz aus expliziert werden muss. Leben ist als die Bezüglichkeit eines Lebendigen auf sich selbst und auf anderes und insofern schon immer relational zu nehmen. Für Plessners in Stufen fortschreitende Phänomenologie des Lebendigen bedeutet diese Grundbestimmung: Ab einem bestimmten Punkt der internen Differenzierung entwickelt ein Lebewesen „Bewusstsein“ von seinem Bezug zur Umwelt. Dies ist präzise der Fall bei der geschlossenen oder zentrischen Positionalität: Das Tier hat sich selbst als Leib, mit dem es die Vermittlung zwischen Organismus und Umwelt vollzieht. Diesen Punkt macht auch Haucke 2000, 7. Zur exzentrischen Positionalität als in sich dreifache „Weltstruktur“ bzw. als „Strukturmoment“ siehe Krüger 2006b, 68.

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mehr objektivieren („in Gegenstandsstellung“38 bringen) lässt. Erst jetzt ist Plessners Leser in der Lage, das Sprachspiel, das er am Beginn seiner systematischen Darlegung eingeführt hatte, zu durchschauen: Der anfänglichen „Wende zum Objekt“, mit der Plessner gerade die unanschauliche, abwesende, die sich entziehende Seite als prägend für die Wirklichkeit des Dings aufgedeckt hatte, lag unausgesprochen schon die exzentrische Positionalität zu Grunde. Der methodische Blick, den Plessner hier auf die Dinge warf – und den er auch den Leser auf sie werfen ließ – setzte performativ denjenigen „Sinn für’s Negative“ stillschweigend in Szene, der sich in der Folge auf keiner Stufe des organischen Lebens einlösen ließ. Formulieren wir diese Zäsur in Plessners Ansatz noch einmal neu und in ihrer radikalen Konsequenz für unser Thema. Für Lebendigkeit war der hiatus irrationalis der Grenze konstitutiv: Aspekte, die zueinander in einem Verhältnis der Brechung stehen, werden im individuellen Vollzug von „Leben“ gleichwohl als Einheit verkörpert. Diese Hiatusgesetzlichkeit hält sich durch bis in die Sphäre des Menschen hinein, wo sie nun aber einen qualitativen Umschlag ohne Präzedenz bedeutet39. Der Mensch bildet sein Verhalten nämlich zum einen in der „Rezentrierung auf die zentrische Organisationsform des lebenden Körpers“ (Krüger 2006a, 26), zum anderen in der „Exzentrierung der Verhaltungsform in Welt hinaus“ (ebd.), und gleichzeitig noch angesichts des nicht zu überbrückenden Bruchs, der zwischen diesen beiden Verhaltensrichtungen klafft. In anderer Terminologie: Die lebendige Wendung zum (eigenen und anderen) Leben, die Plessner mit dem Begriff der Positionalität ausfaltet, hat für menschliche Lebewesen nicht mehr den Charakter einer immanent lebendigen Wende. Im Leben (bzw. in sich selbst, in seiner eigenen Mitte) hält sich der Mensch nur um den Preis, dass ihm das Leben keinen Wahrheitsgrund, keine ihn tragende Wirklichkeit stiften kann0. Er ist zugleich unhintergehbar aus seiner Mitte heraus versetzt in eine prekäre, unabschließbare Spannung zu ihr. 38 39

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Plessner 97, 290. Siehe auch Ferrada 99, 232: „Verwirklichung einer Grenze bedeutet ja doch, daß neue Möglichkeiten für den Kontakt mit dem nicht zu sich gehörenden Medium hervortreten, ein Kontakt, der nicht physischer Natur, sondern selektiver, umgestaltender Natur ist. Auf jeden Fall gehört diese Grenze dem Lebewesen. Sie ist es, was das Lebewesen ausmacht, und erst in ihrer Verwirklichung kann es sich entfalten. Der Mensch ist zu einer anderen Grenze emporgestiegen, einer Grenze, die aufgrund der Natur und ihrer besonderen Entwicklung oder Verwicklung zur Austreibung der Natur geführt hat.“ Diese Interpretation der exzentrischen Positionalität nimmt die Hauptthese von Olivia Mitscherlich auf, deren zentraler Impuls für die vorliegende Untersuchung schon mehrfach herausgestellt wurde. Allerdings kann erst jetzt deutlich werden, worin Mitscherlich die systematische Pointe von Plessners „Lebensphilosophie“ sieht: Weil exzentrische Positionalität „durch die Entzogenheit eines letzten Wahrheitsgrundes gekennzeichnet“ ist, gelangt Plessner naturphilosophisch zu keiner positiven Wesensbestimmung des Menschen. Die Naturphilosophie „verweist (…) auf den Schritt in die Geschichtsphilosophie“. Siehe Mitscherlich 2007, 30 (alle Zitate). Indem er in den Stufen ex negativo die Absenz eines Wahrheitsgrunds aufzeigt, kann Plessner jedoch, Mitscherlich zufolge, am Wahrheitsanspruch moderner Philosophie schlechthin festhalten. In dieser Sicht durchschaut Plessner das „Lebensapriori“ (ebd., 2) der Moderne, die ontologische Integration des Menschen ins Leben, als geschichtlich: Die Spezifikation von Phänomenen als lebendige Phänomene und die Spezifikation des Menschen als Lebewesen ist selbst eine geschichtliche Aktivität, die notwendiger Ausdruck menschlicher Exzentrizität ist. Siehe zu diesem Problem auch Mitscherlich 2008a, 97–07.

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Plessners anspruchsvoller „Umweg über die Naturphilosophie“ (Fischer 2008a, ) nimmt ein Finale, das philosophisch umstürzende Kraft hat. Zunächst lief das konstitutionstheoretische Verfahren der Argumentation darauf hinaus, die Minimalbedingung für das Erfahren lebendiger Objekte als lebendig in der internen Verfasstheit des Lebendigen anzusetzen. Dieser spiegelbildlichen Struktur folgend, liegt die Bedingung der Möglichkeit eines Wissens vom Leben nicht im phänomenologisch anschauenden Subjekt, sondern in den Kapazitäten des Angeschauten (des Lebenden) selbst. Plessner trieb dieses Ineinanderumschlagen von Subjekt-und Objektpositionen in der lebendigen Wirklichkeit sogar so weit voran, bis auf dem Niveau der zentrischen Positionalität eine Beschreibung für das Bewusstsein heraus trat, das ein zentrisch organisiertes Lebewesen von sich selbst und seiner Umwelt besitzt. Methodisch ließ sich dieser Durchlauf durch die Stufen des Organischen durchaus als ein Aufwerten des Lebensbegriffs verstehen: Die Einsicht in die psychophysische Neutralität des Lebendigen enthält eine systematische Alternative zum mechanistischen Paradigma der modernen Naturwissenschaft. Mit der Freilegung der exzentrischen Positionalität des Menschen ändert und verkompliziert sich dieses Bild erheblich. Nun liegt zu Tage, dass die in den Stufen beschriebene Konstitution lebendiger Phänomene ihrerseits konstituiert, oder stärker: konstruiert war. Eine Spezifizierung dessen vorzunehmen, was als lebendig gilt, im Kontrast zu dem, was unbelebt erscheint – eine solche Spezifizierung, so zeigt sich jetzt, ist die „Tathandlung“ (Fichte) eines Wesens, das um Bestimmtheiten ringt und sich dabei stets geschichtlich selbst zu bestimmen hat. Wie Richard Breun herausgearbeitet hat, entspricht Plessners Antithetik im Denken der Grenze Kants Heautonomie von Freiheit und System: „Plessner zeigt, wie die Struktur der exzentrischen Positionalität die Bedingung der Möglichkeit von Geschichte ist, auch der geschichtlichen Einsicht in ihre eigene Geschichtlichkeit; die daraus resultierende Notwendigkeit des geschichtlichen Auffassens und Selbstverstehens überhaupt aber führt zur Befreiung im Sinne der Freiheit gegenüber dem System – deshalb bei Dilthey, dessen Programm Plessner fortzuführen sucht, die entscheidende Stellung der Kategorie der Bedeutung, die an das Erinnern gebunden ist und zu einer ‚Explikation‘ des geschichtlichen Verlaufs und dessen Struktur von Erleben, Ausdruck und Verstehen führt, ‚die zugleich Schaffen ist‘. (…) Voraussetzung für die Formulierung und Einlösung dieses Anspruchs war der Durchgang durch das kritische System, von Anfang bis Ende und zurück, und dessen Distanzierung durch ‚Historisierung‘ in der Einstellung der Kritik, das heißt dessen Selbstanwendung. Denn erst diese Mühe führt zur entscheidenden philosophischen Entdeckung, die Plessners Philosophieren trägt, das mit dem vollen Einsatz des Lebens immer auch das ‚Risiko der Selbstvernichtung‘ (I, 0) eingeht, da es doch den Abstand zu sich zum Prinzip macht und so das Leben dem philosophischen Begriff und Begriffensein gegenüber freigibt, umgekehrt aber auch ein System ermöglicht, in dem sich das Leben anschauen kann, eine ‚Objektivation des Lebens‘ (Dilthey) im Ganzen und für das Ganze der in sich gebrochenen Lebendigkeit.“ (Breun 2006, 37 bzw. 38)

Der entscheidende Punkt ist ein doppelter. Erstens kann „Leben“ stets nur in seiner Mediatisierung, in Gestalt systematischer Bestimmungen und hermeneutischer Zuschreibungen thematisch werden. Insofern arbeitet jede Philosophie des Lebendigen nicht mit invarianten, sondern mit volatilen, immer wieder neu zu realisierenden und zu kontrastierenden Unterscheidungen. Die Bestimmung von „Leben“ ist geschichtlich, d.h. sie kann sich auf keinen überhistorischen Wahrheitsgrund stellen. Jetzt erweist sich, dass der

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von Plessner selbst abgeschrittene Parcours durch die Stufenordnung des Organischen alles andere als ein ontologischer Realismus war: „Was als lebendig bezeichnet werden darf“ (Plessner 97, 37), ist nicht Gegenstand einer naturalen Vorgabe, sondern einer je und je neu und anders zu beantwortenden Aufgabe. Zweitens sind diese geschichtlichen Objektivierungen jedoch als Aktivitäten eines Lebendigen aufzufassen, das sich, indem es „doppelt von sich abgehoben ist, selbst auf den Grund gehen will, um sich zu verstehen (…), sich auszulegen und darzustellen, wofür es sich hält“ (Breun 2006, 3). Diese spezifische Lebenslage in der exzentrischen Positionalität versetzt ein Lebewesen in die Situation, sich geschichtlich so zu objektivieren, dass es sich und andere als Lebewesen erfassen kann. Interpretiert man Plessners Theorem der exzentrischen Positionalität auf diesem Weg, d.h. als Ergebnis einer Anwendung von Kants Kritizismus auf sich selbst, so tritt klar hervor, dass Plessner in letzter Konsequenz zwischen System und Freiheit, zwischen Natur und Geschichte ein Verhältnis entwirft, dessen beide Seiten aufeinander verweisen und sich einander entziehen. Hiatus und zugleich Kontakt per hiatum: Diese Verschränkung ist nicht nur die vitale Ambivalenz alles Organischen; sie ist auch, ins Prinzipielle gewendet, diejenige Relation, die Plessner für seine „Neuschöpfung der Philosophie“ beansprucht. Angekommen beim Problem der exzentrischen Positionalität lässt sich nun präzise auf den Begriff bringen, was nach Plessner das Wissen im Sinne des lebendigen Wissens des Lebens ausmacht. Unter „Wissen“ kann Plessner keine formalisierbare, quasi-mathematische Bestimmung der Wirklichkeitsbedingungen lebendiger Phänomene verstehen. Mit der These von der psychophysischen Indifferenz (bzw. der Grenzhypothese) zielt Plessner vielmehr auf eine strenge epistemische Differenz zwischen Natur und Leben ab. In seiner komplexen Form bedeutet Leben, dass einem Lebendigen der Bezug seines organischen Körpers zum Umfeld gegeben ist, d.h. dass dieser Bezug vom Lebendigen selbst leiblich realisiert wird. Plessner setzt das Problem eines Wissens vom Leben genau in dieser Perspektive an. Insoweit ein Lebewesen mit der Tatsache konfrontiert ist, „daß zwischen ihm und dem Umfeld eine durch e s s e l b e r vermittelte Beziehung existiert“ (Plessner 97, 32), weiß es um sich. Anders gesagt, ein Wesen, das ein Wissen vom Leben besitzt, bewegt sich schon nicht mehr in jener „direkten, unmittelbaren Beziehung“ (ebd.) zu sich und zu den Dingen, sondern „weiß von der Indirektheit seiner Beziehung, sie ist ihm als mittelbare gegeben“ (ebd.). Damit verweist das Wissen des Lebens auf die gelebte Aporie, in die der Mensch als Lebewesen unentrinnbar verwickelt ist: Der Mensch erlebt „die durch ihn vermittelte Beziehung zum Umfeld“ (ebd., 329), d.h. die Lebensstruktur, als spontan und unmittelbar. In ein- und demselben Zug jedoch „entdeckt er (…) die Indirektheit und Vermitteltheit seiner unmittelbaren Beziehungen zu den Objekten. Er entdeckt seine Immanenz. Er sieht, daß er faktisch nur Bewusstseinsinhalte hat und daß, wo er geht und steht, sein Wissen von den Dingen sich als Etwas zwischen ihn und die Dinge schiebt.“ (Ebd.)

Mit der hier herausgestellten Figur, dem sogenannten „zweiten anthropologischen Grundgesetz“ (ebd., 32), dem „Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit“ (ebd.), antwortet Plessner auf das Thema eines lebendigen Wissens des Lebens. Vor allem gibt dieses Prinzip eine subtile Begründung, weshalb der Modus des Wissens, das der Mensch von seiner Lebendigkeit hat, ein vitaler Modus sein muss: Denn der Unterschied der

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exzentrischen von der zentrischen Positionalität bedeutet nicht, dass die Unmittelbarkeit der Organismus-Umfeld-Beziehung abgestreift wird. Die „lebendige Unmittelbarkeit“ geht durch den Menschen, der gleichwohl in eine problematische Differenz zu ihr rückt, hindurch, sie durchzieht ihn und wird dennoch immer nur in einer Brechung erlebt. In dem Blick, den ein Lebewesen exzentrischer Positionalität auf sich selbst wirft, liegt eine „vermittelte Unmittelbarkeit“ und damit ein Wissen, das selbst als als Vollzugsfigur, als Ausdruck von Lebendigkeit bestimmt werden muss: „I n d e r R i c h t u n g des erfahrenden, wahrnehmenden, anschauenden, inne werdenden, verstehenden Wissens selber muß dem Menschen die Wissensbeziehung unmittelbar, direkt sein. Hier kann er gar nicht anders als die Sache in nackter Unmittelbarkeit fassen. Weil sie für ihn ist, ist sie an sich. Denn er selbst, das Subjekt, welches hinter (über) sich steht, b i l d e t die Vermittlung zwischen sich und dem Objekt, damit er von dem Objekt weiß. Genauer: das Wissen vom Objekt ist die Vermittlung zwischen sich und ihm. So tilgt die Vermittlung im Vollzug ihn, den Menschen, als das hinter sich stehende vermittelnde Subjekt, es vergisst sich (e r vergisst sich nicht!) – und die naive Direktheit mit der ganzen Evidenz, die Sache an sich gepackt zu haben, kommt zustande. Wie die zwischen Tier und Umfeld gegebene vermittelte Beziehung f ü r e s s e l b s t nicht den Charakter der Mittelbarkeit haben kann, weil es selber ja die Vermittlung zwischen ihm und dem Feld vollzieht (und außerdem dank seiner Zentralität in diesem Vollzug aufgeht), so nimmt auch für den Menschen die durch ihn vermittelte Beziehung zum Umfeld den Charakter der Unmittelbarkeit an.“ (Ebd., 328)

Dem Wissen, das der Mensch als Lebewesen zu seiner eigenen Lebendigkeit fasst, bleibt die „Ausdrücklichkeit als Lebensmodus des Menschen“ (ebd., 323) eingeschrieben. Auf diese Weise erfährt der Mensch die Wissenshaltung, die er zu sich und den Dingen einnimmt, spontan und unvermittelt, als Vollzug seiner eigenen Lebendigkeit2. Man sieht, dass eine Struktur des Ausdrucks3 die lebenden Phänomene und den Menschen gleichermaßen umgreift, wobei Ausdruck bei Plessner stets zweierlei heißt: Wie die Rekonstruktion von Plessners Lebensbegriff gezeigt hat, bringt das Lebendige etwas (eine Substanz, ein Selbst) zum Ausdruck. Zugleich aber ist das Lebendige Ausdruck – im Sinne 

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Ein Missverständnis entsteht, wenn man das paradoxe Zugleich von Vollzug und Brechung übersieht, das die menschliche Stellung auszeichnet. Plessner wehrt ausdrücklich das schiefe „Bild des Darüberstehens“ (Plessner 97, 327) ab, wonach der Mensch „unten“ die Unmittelbarkeit der zentrisch organisierten Organismus-Umfeld-Beziehung auslebe, während er „oben“ transzendent, nicht mehr durch das Unmittelbare kontaminiert sei. Dagegen schreibt Plessner (ebd.): „Um diese Vermittlung durchzuführen und auf seinem [des Menschen, T. E.] Existenzniveau aufrechtzuerhalten, muß sie auch wirklich durch ihn, wie er in ihm drinsteht, hindurchgehen. Sein D a r ü b e r s t e h e n muß die lebendige Unmittelbarkeit zwischen ihm und dem Feld gewährleisten. Seine Abhebung von ihm, kraft deren er Ich zu sich sagen kann und als Ich existiert, wird infolgedessen die Beziehung zwischen ihm und dem Feld so gestalten, daß an ihr die Abhebung zum Vorschein kommt.“ Die problematische Mittelbarkeit des Menschen im Verhältnis zum Leben wird ihrerseits unmittelbar erlebt. Siehe dazu vor allem Plessners These über die Dominanz des Unmittelbaren ebd., 326. Siehe die Beiträge in Accarino/Schloßberger 2008. Vor allem Joachim Fischer insistiert auf dem „Durchziehen dieser naturphilosophischen Dominante bis in die ‚exzentrische Positionalität‘“ hinein. Siehe Fischer 2008b, 27. In diesem Text formuliert Fischer das Anliegen, es müsse endlich „auch einmal die Bedeutung des lebensphilosophischen Ansatzes für die Plessnersche Philosophie ganz ernst“ genommen werden (ebd., 266, Hervorhebung i.O., T. E.). Diesem Appell möchte ich mich durch meine Parallel-Lektüre von Plessner und Canguilhem dezidiert anschließen.

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von „Medium“ oder „Agent“ – eines Sinngeschehens, in das es zwar zurückgebunden ist, das es jedoch nicht vollständig beherrscht. Aber so sehr das Wissen des Lebens, das durch exzentrische Positionalität ermöglicht wird, insofern als lebendig beschreibbar ist, als es selbst einen exponierten Ausdruck von Lebendigkeit darstellt, so sehr muss man die scharfe Differenz beachten, die Plessner zwischen dem lebendigen Ausdrucksverhalten und der „Expressivität als Fundament der Geschichtlichkeit des Menschen“ (Plessner 97, 339) ansetzt. Warum muss Plessner „das Ausdrucksv e r h ä l t n i s des Menschen, in dem er mit der Welt lebt“ (ebd., 30) so radikal vom Ausdrucksgeschehen des Lebens überhaupt separieren und „von vornherein anders als bio-verhaltenswissenschaftlich“ (Krüger 2008a, 2) befragen? Die Antwort hierauf wurde bereits in der Nachzeichnung des Begriffs „exzentrische Positionalität“ umrissen: Für den Menschen hört das Leben auf, eine stabile Vorgabe zu sein. Es eröffnet sich stattdessen als eine Aufgabe, die stets neu begonnen und immer anders bewältigt werden muss. In der Entzugsstruktur, die zwischen dem Menschen und dem Lebensgeschehen herrscht, wird, so könnte man sagen, die Angewiesenheit auf Ausdruck selbst ausdrücklich6. In Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht (93) hat Plessner der konstitutiven Unbestimmtheitrsrelation, in der sich der Mensch zum Leben verhalten muss, eine Wendung gegeben, die seine Depotenzierung des Lebensprimats vollendet: „Das schöpferische Leben darf nur bedeuten die jeweilige menschliche Wirklichkeit, wie sie restlos in unsere Erfahrung eingeht; nicht einmal einen in ihr liegenden Quellgrund, dessen schöpferische Fähigkeit diesseits der Geschichte als eine zeitlos zeitigende Struktur von der Philosophie zu formulieren oder, wenn nicht rational, doch schauend zu fixieren wäre. Das Prinzip, die Unergründlichkeit für das Wissen vom Leben des Menschen verbindlich zu nehmen, weist auf das Verhältnis zwischen dem άπείρο, dem unergründlichen Woher einer geistigen Welt, und dem πέρας dieser Welt, die in einer geschichtlichen Zwangslage geschichtlich dem άπείρο ab



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Siehe Eßbach 99, 30: „Lebewesen in exzentrischer Positionsform sind konstitutionell darauf angewiesen, sich auszudrükken. Sie tun dies durch Mitteilung und Gestaltung. Das unmittelbar Evidente ist für Menschen nur vermittelt über den Ausdruck erreichbar. (…) Mit Plessner gedacht kann es keine Trennung von Wissen und Ausdruck geben. Als von seiner Natur her auf Ausdruck angewiesene Lebewesen können Menschen irren.“ [Hervorhebung von mir, T. E.] Ebd., 32: „ Es fragt sich, ob aus der Exzentrizität ursprünglich – nicht diese oder jene Art von Ausdrucksb e d ü r f n i s , sondern ein Grundzug menschlichen Lebens folge, den man als Expressivität, als Ausdrücklichkeit menschlicher Lebensäußerungen überhaupt bezeichnen muß. Ein derartiger Grundzug macht sich natürlich für den Menschen auch als Zwang geltend, der nicht nur in seinem Leben aufgeht, sondern darin gegen sein Leben angeht, lebend sein Leben führt.“ Siehe Plessner 97, 339: „In der Expressivität liegt der eigentliche Motor für die spezifisch historische Dynamik menschlichen Lebens. Durch seine Taten und Werke, die ihm das von Natur verwehrte Gleichgewicht geben sollen u n d a u c h w i r k l i c h g e b e n , wird der Mensch zugleich aus ihm wieder herausgeworfen, um es auf’s Neue mit Glück und doch vergeblich zu versuchen. Ihn stößt das Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit ewig aus der Ruhelage, in die er wieder zurückkehren will. Aus dieser Grundbewegung ergibt sich die Geschichte. Ihr Sinn ist die Wiedererlangung des Verlorenen mit neuen Mitteln, Herstellung des Gleichgewichts durch grundsätzliche Änderung, Bewahrung des Alten durch Wendung nach vorwärts.“

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gerungen wird. In dieser Perspektive denken heißt in der Richtung des Lebens selber denken, das von Individuation zu Individuation fortschreitet. Die Individuation selber ist erwirkt durch wiederum selbst erwirkte Faktoren.“ (Plessner 98b, 86)7

Der Wortlaut „Wissen vom Leben des Menschen“ taucht hier auf, und Plessner transformiert „das schöpferische Leben“ – dessen „Pantheismus“ (ebd.) er bereits einige Sätze zuvor abweist – herab in „die jeweilige menschliche Wirklichkeit, wie sie restlos in unsere Erfahrung eingeht“. Diese Sätze, mit denen Plessner den Dreischritt exzentrische Positionalität/vermittelte Unmittelbarkeit/Expressivität kompromisslos zu Ende denkt, stehen dafür ein, dass für Plessner ein lebendiges Wissen des Lebens erst auf dem Standpunkt der exzentrischen Positionalität erreicht ist. Wenn also Plessner das Leben in einer „von Individuation zu Individuation“ fortlaufenden Reihe bestimmt und an deren Schluss ein Lebendiges aufweist, das in einen irreversiblen Abstand zum Leben überhaupt, also „jetzt wirklich hinter sich“ (Plessner 97, 29) geraten ist: Welche Durchschlagskraft hat dann diese Position auf die lebenswissenschaftliche Sicht eines Wissens vom Leben und auf deren implizite Aporien? Am Anfang dieser Untersuchung wurde das Vorhaben formuliert, begriffliche Defizite, die in den modernen Lebenswissenschaften eingenistet sind, zu entschärfen. Plessners Systemform einer Philosophischen Anthropologie, in die er die Relation eines lebendigen Wissens des Lebens einfügt, hat an dieser Anforderung ihre Relevanz zu bewähren. Mit einem kurzen Blick auf die Problematik der Mitwelt möchte ich die „lebenswissenschaftliche Konsequenz“ aus Plessners Argumenten ziehen und zugleich meine eigene Rekonstruktion eines lebendigen Wissens des Lebens bei Plessner fürs Erste schließen. Zunächst ist es wichtig, mit Gesa Lindemann an die Paradoxie zu erinnern, die den Menschen angesichts seiner vermittelten Unmittelbarkeit betrifft: „Während für Wesen zentrischer Positionalität feststehen kann, wie sie sich auf ihre Umwelt beziehen, müssen exzentrische Wesen diese ‚Feststellung‘ ihrer Umweltbeziehung erst erreichen. Die Feststellung ihrer Umweltbeziehung erfordert eine Deutung, die entscheidet, ob das, was ihnen begegnet, in der Art und Weise eines unbelebten Dings selbständig gegen die praktischen Erfordernisse ihrer Umweltbeziehung ist, oder in der Art und Weise eines lebendigen Dings oder in der Art und Weise, wie sie für Personalität charakteristisch ist.“ (Lindemann 200, 93f.)

Unterdessen hat sich Folgendes herausgestellt: Körper, die einem Lebewesen von exzentrischer Positionalität als lebendig erscheinen, sind nicht vorfindliche – sie sind notwendig gedeutete, konstituierte Körper. Ein normativer Prozess der Beschränkung schaltet sich in den vermittelt-unmittelbaren Kontakt ein, den exzentrisch positionierte Wesen zu ihrer Umwelt haben. Konsequenterweise führt Plessner daher insofern eine Feinunterscheidung in den Begriff der exzentrischen Positionalität ein, als dass die doppelte Abgehobenheit des Menschen zu sich selber gegenüber der zentrischen Position einen totalen Umbruch des Verhältnisses zur Umwelt bringt (wodurch „Umwelt“ ihrerseits nichts Vorgegebenes mehr repräsentiert). Der dreifachen Gebrochenheit der exzentrischen Po7

Der letzte Satz greift auf, was in dieser Arbeit mit Beaufort als Plessners „Konstitutionstheorie“ expliziert wurde: Die „Individuation“ von Leben auf einer besonderen Organisations- und Komplexitätsstufe verdankt sich, so Plessner, „selbst erwirkten Faktoren“, also einer konstitutiven Tätigkeit des Individuierten selbst.

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sitionalität8 entsprechen drei ineinander greifende Gegenheitsweisen der Umwelt: Die Außenwelt wird als eine von Naturgesetzen bestimmte, gleichsam abstrakte „Welt der Körperdinge“ (ebd., 29) erlebt, in die der Mensch als physischer Körper und integriert ist. Mit „Innenwelt“ bezeichnet Plessner eine „Welt ‚im‘ Leib, das was das Lebewesen selbst“ (ebd.) ist, wobei dieses „Selbst“ wiederum als Seele oder als Erlebnis introspektiv erfahrbar ist. Während Außenwelt und Innenwelt „spezifsche Substrate“ (ebd., 302) umfassen – phyische Körper respektive seelische Erlebnisse – zeichnet sich die „Mitwelt“ durch jene spiegelbildliche Struktur aus, die zur Beschreibung der exzentrischen Positionalität bereits diskutiert wurde: Die Mitwelt eröffnet keinen dritten Bereich der Phänomene, sondern sie erschließt „Personen“, also nach Plessners Definition Phänomene, die zugleich Körper, im Körper und außer dem Körper sind. Was ist das Bedeutsame dieser Situation in der Mitwelt? Bedeutsam ist, dass für Plessner eine Antwort auf die Frage, welche Phänomene in der Mitwelt als „Personen“ aufgefasst werden, nur als Resultat einer kontingenten historischen Zuschreibung gegeben werden kann. Die Antwort auf die Personenfrage steht keineswegs von vornherein zu Gunsten spezifisch menschlicher Personen fest. Im Gegenteil: Da ein Lebewesen exzentrischer Positionalität einen untilgbaren Abstand zu sich erfährt, steht es gleichsam „neben“ den Vollzügen seines Wahrnehmens und Verhaltens sowie zu den Phänomenen, auf die er sich qua Wahrnehmung und Verhalten bezieht. Die Mitwelt konfrontiert das exzentrisch existierende Lebewesen mit der befremdenden Erfahrung, dass der Status der Person mehr und anderes impliziert als „Leibsein und Körperhaben“ (Schlossberger 2008, 23). Personen sind demnach vielmehr Wesen, die sich zu der problematischen Differenz zwischen ihrem Leib und ihrem Körper verhalten und die sich als ein Selbst nur dank der merkwürdigen Verschachtelung erfahren können, wonach sie schon immer außerhalb ihrer selbst sind. In „die Grenzziehungen zwischen lebendigen und unbelebten Dingen“ (Manzei 200, 76)9 wird eine radikale Unbestimmtheit eingetragen. Plessner schreibt: 8

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Siehe Plessner 97, 293: „Positional liegt ein Dreifaches vor: das Lebendige ist Körper, im Körper (als Innenleben oder Seele) und außer dem Körper als Blickpunkt, von dem aus es beides ist. Ein Individuum, welches derart dreifach charakterisiert ist, heißt P e r s o n . Es ist das Subjekt seines Erlebens, seiner Wahrnehmungen und seiner Aktionen, seiner Initiative. Es weiß und es will. Seine Existenz ist wahrhaft auf Nichts gestellt.“ Im hier interessierenden Zusammenhang sind einige Einwände, die Manzei gegen Plessner macht, erhellend. Zwar stellt auch Manzei anerkennend heraus, Plessner habe durch die Freilegung der exzentrischen Positionalität den kontingenten und immer bedrohten Charakter der Personalität erfasst. Doch seine Form der Begründung erlaube es nicht, die realhistorische Genealogie einer dominant gewordenen Anthropologie präzise zu bestimmen. Siehe Manzei 200, 76 bzw. 77: „Dass sich bestimmte Deutungen als sozial dominant erweisen, ist nicht nur der Form der bezeichneten Lebewesen geschuldet, sondern auch eine Frage konkreter Machtverhältnisse. Es gibt jeweils konkret benennbare Gründe individueller wie institutioneller Akteure, bestimmte Deutungen zu präferieren und andere zurückzuweisen. Dass bspw. Heute als ›Organ-, Zell- oder Gendefekte‹ verstanden werden, ist nicht nur eine Frage der Angemessenheit oder Unangemessenheit anthropologischer Deutungen, sondern der Durchsetzung biotechnologischer Interessen in medizinischen sowie alltagsweltlichen Vorstellungen über den menschlichen Körper. […] Ausgehend von den sozialwissenschaftlichen Arbeiten Plessners, wie bspw. Macht und menschliche Natur (Plessner 93), ist es zwar möglich, subjektive Machtbeziehungen als Interaktion zwischen Individuen zu thematisieren,



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„Mensch sein ist an keine bestimmte Gestalt gebunden und könnte daher auch (einer geistreichen Mutmaßung des Paläontologen Dacqué zu gedenken) unter mancherlei Gestalt stattfinden, die mit der uns bekannten nicht übereinstimmt. Gebunden ist der Charakter des Menschen nur an die zentralistische Organisationsform, welche die Basis für seine Exzentrizität abgibt.“ (Plessner 97, 293)

Schon immer ist ein „Ve r f a h r e n der Beschränkung, wie es sich in der Deutung leibhaft erscheinender fremder Lebenszentren abspielt“ (ebd., 30), in Anspruch genommen. Wir wissen, was ein in der Mitwelt erscheinender Leibkörper ist, nur dann, wenn wir ihn aktiv spezifizieren – wobei diese normative Aktivität des Bestimmens allein temporäre und kontingente historische Deutungen einer Relation radikaler Unbestimmtheit hervorbringt. In ihrer Analyse der modernen Intensivmedizin hat Gesa Lindemann das brisante und beunruhigende Potenzial der Philosophischen Anthropologie Plessners eindrucksvoll aktualisiert: Was, wenn „Personalität und Sozialität nicht für die Menschen reserviert sind, sondern es kontingenten Deutungsprozessen anheim[ge]stellt [ist], wie die Grenze zwischen der Sozialwelt und anderem gezogen wird“ (Lindemann 2002, )? Wenn die im Sterben liegenden, an letzte Grenzen geratenen Körper auf unseren Intensivstationen gerade nicht mehr das unmissverständliche Signal geben (können), lebendige Körper zu sein, sondern als „ou-topische“ (ebd., 7) Körper aus den medizinischen und juridischen Urteilssystemen heraus fallen? Lindemann sucht gegenwartstheoretisch den Anschluss an Plessner, da sein Ansatz – obwohl er „die Implikationen dieses Gedankens nie weitergehend entfaltet“ (ebd., ) habe – die von innen heraus paradox gewordene Anthropologie systematisch in eine Soziologie der „doppelten Kontingenz“ (ebd., 37 und passim) überführt, „die die materielle Dimension des sozialen Lebens integrieren kann“ (ebd., 38). Um Plessners radikalen Aufbruch aus der Naturphilosophie in die Dimension der Geschichte rankt auch Olivia Mitscherlichs Studie zur Plessners Philosophie des Lebens (Mitscherlich 2007). Plessner mache Ernst mit seiner Entdeckung, dass der Mensch eine in sich unhintergehbar gebrochene Gestalt ist. Die Bewegung seines Denkens, seine singuläre Spielart von Philosophie sei dadurch charakterisiert, dass Natur- und Geschichtsphilosophie einander einfordern und in der Schwebe halten: Plessners Philosophie ist bei Mitscherlich in einem ganz performativen Sinne Verschränkung, d.h. das agonale Aufeinanderverweisen irreduzibler Differenzen. Erst in dieser neuartigen Dialektik0, die

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strukturelle Macht- und Herrschaftsverhältnisse lassen sich damit jedoch nicht erfassen bzw. erklären.“ Es ist eine berechtigte Frage, ob nicht eine plausible Alternative zu der naturphilosophisch entwickelten Aporie der Personalität in einem Begriff liegen könnte, der in basaler Art subjektive wie strukturelle Objektivierungen gemeinsam beschreiben kann: Eine solche Alternative wäre dann Canguilhems Versuch, im Begriff der Norm eine radikal subjektive Seite (Werte) mit institutionellen Normalisierungen zusammenzudenken. Es ist schade, dass der Plessner-Forschung bislang der kenntnisreiche Versuch Thomas Collmers, bei Plessner eine strukturdialektische Anverwandlung von Hegels Figur der (doppelten) Negativität nachzuzeichnen (Collmer 2002, 36–37), voll und ganz entgangen ist. Collmer argumentiert, „dass Plessner in diesem Buch [den Stufen, T. E.] Dialektik auf eine Dialektik des lebendigen Seins bzw. lebendig Seienden restringiert; anders als bei Hegel, wird Dialektik als Modell nicht weiter totalisiert (…)“ (ebd., 367; Hervorhebung i.O., T. E.). An Plessners „gegen alle Geistmetaphysik“ (ebd., 369) zielender Explikation des exzentrischen Selbst, das gerade nicht mit dem Bewusstseinssubjekt kurzgeschlossen wird, honoriert Collmer eine Nähe zu Hegels Negation der Negation, die von Ples-

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keine Versöhnung mehr leistet, sondern Ambivalenzen als Ambivalenzen aushält, gelingt es Plessner, die menschliche Kondition so zu denken, dass ihr Wirklichkeitsgrund unergründlich bleibt. Aus anderen Gründen und mit anderen Konsequenzen als Gesa Lindemann streicht auch Mitscherlich immer wieder die paradoxe Drehung heraus, die durch Plessners These von der exzentrischen Positionalität einsetzt: „An keiner Stelle findet sich ein positiver Entwurf eines Lebens als ganzer Mensch“ (ebd., 39). Schließlich hat auch Hans-Peter Krüger in seinen Arbeiten zu Plessner die „theoretische Spezifik“ (Krüger 2008b, 7) gewürdigt, die an Plessners Ausarbeitung einer Philosophischen Anthropologie in heutiger Sicht auffällt. Systematisch habe Plessner in der Tat „die allgemeine Integration der erfahrungswissenschaftlichen Anthropologien“ (ebd., ) reklamiert, was zur Sprengung der dualistischen Anlage moderner Philosophie führe. Entscheidend sei nun aber weniger die „anthropologische Kritik der Philosophie“ (ebd.), sondern die Option, auch diese erfahrungswissenschaftlichen Anthropologien noch rekursiv in den Blick zu nehmen und auf ihre unausgeführten Voraussetzungen hin zu kritisieren. Dieses Argument zeigt sehr gut, was es mit der Formulierung auf sich hat, es gehe Plessner um die Möglichkeiten eines Wissens vom Leben, das strukturell anderer Art ist als ein Wissen in empirischem Sinn: In der exzentrischen Positionalität liegt ein Wissen darüber, dass das erfahrungswissenschaftliche Wissen mit Bestimmungen von „etwas“ arbeitet, was sich nie im Ganzen bestimmen lässt. Wie auch immer man zu der soeben skizzierten internen Debatte um die Figur der exzentrischen Positionalität steht: Festzuhalten ist, dass bei Plessner die Phänomene des Lebens überhaupt erst in einer Lage problematisch werden können, die dem Leben nicht mehr immanent ist. Die Interpretation war auf folgenden Nachweis hin zentriert: Helmuth Plessners Stufen des Organischen und der Mensch (928) fundieren ein lebendiges Wissen des Lebens. Den ersten Schritt, der für eine solche Struktur kennzeichnend ist, macht Plessner, indem er phänomenologisch eine Differenz zwischen Natur (Gestalten) und Leben (Ganzheiten) isoliert. Signifikant ist, dass Plessner seinen phänomenologischen Befund – Lebendige Dinge haben ein Verhältnis zu ihrer eigenen Grenze – einer Deduktion unterwirft. Damit macht Plessner eine Inkommensurabilität des Lebens gegenüber der Natur geltend, die nicht bloß indikatorisch, sondern konstitutiv begründet ist. In diesem Initialschritt ist die zweite Stufe eines lebendigen Wissens des Lebens bereits angelegt. Plessner vollzieht eine „rationale Wendung zum Leben“ (V. Gerhardt), in-



sner gegen Ende der Stufen aber wieder fichteanisch verwässert werde, insofern die Situation der vermittelten Unmittelbarkeit einen relativen Vorrang von Spontaneität und instantanter Selbstsetzung postuliere. Collmer fordert hier von Plessner eine methodologische Klärung seiner impliziten Strukturdialektik ein, um das Umknicken von aufgehobener in neuerliche einfache Unmittelbarkeit, das Collmer auch am Ende von Hegels Wissenschaft der Logik diagnostiziert, abzuwenden. Mir scheint allerdings, dass Collmers Hinweis auf „den Rückfall zu einem unmittelbaren Realismus des ‚Zugreifens‘“ (ebd., 370) eine polemische Projektion darstellt, die ebenso fragwürdig erscheint wie sein Bild eines Plessner angelasteten Übergangs „von einer phänomenologisch-typologisierenden Philosophie der Biologie (…) zu einer Art von phänomenologischem Existentialismus“ (ebd.). Während Lindemann Plessners Idee einer sich selbst zu Fall bringenden Anthropologie positiv in das Projekt einer zeitgenössischen Revision der Soziologie wendet, versteht Mitscherlich ihr Motiv der „in sich gebrochenen Lebensphilosophie“ im Sinne einer integrativen Lektüre, die den Exponenten sowohl der „geschichtlich reflektierte Richtung“ als auch der naturphilosophischen Linie Plätze einräumt. Siehe Mitscherlich 2007, .

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dem er die Untersuchung auf die Bedingungen der Möglichkeit desjenigen phänomenologischen Blicks lenkt, der die (unbelebten wie belebten) Dinge in ihrem phänomenalen Eigensinn, d.h. in ihrer psychophysischen Indifferenz, trifft. Es geht Plessner folglich mit Dilthey um einen „Kontakt zwischen dem Subjekt des Erkennens und seinem Objekt, wie ihn die Naturwissenschaften nicht kennen“ (Plessner 2003b, 6). Wie gezeigt, denkt Plessner sein indirekt transzendentales Verfahren bis in die alles entscheidende Doppelstellung von Objektivität und Subjektivität weiter, die im Verhältnis des Lebendigen zu sich liegt. Mit dem Begriff der Positionalität verbindet Plessner den Anspruch, die Bedingungen der Erkenntnis lebendiger Gegenstände aus den Seinsbedingungen dieser Gegenstände heraus zu explizieren. Erst durch diese Umstellung stößt er zur Basis für das hermeneutische Prinzip „Leben versteht Leben, indem es sich erfährt“ (ebd., 7) durch: In einem minimalen Sinn bedeutet Positionalität somit eine Verkehrsoder Interaktionsform, die für Lebendiges spezifisch ist und die unterschiedlich komplexe Formen des Objektbezugs ermöglicht. Dieser Umbruch der Perspektive, der die Möglichkeit eines Wissens vom Leben mit der besonderen Konstitution des Lebendigen rückvermittelt, entspricht der dritten strukturellen Anforderung, nämlich ein lebendiges Wissen des Lebens auszuzeichnen. Das Leben rückt in die doppelte Rolle des genitivus obiectivus und des genitivus subiectivus ein. Vom Terminus der Positionalität her zeigt Plessner zum einen, dass komplexere Positionalitätstypen Realisierungen von Möglichkeiten sind, die auf dem jeweils geringeren Niveau von Positionalität unrealisierbar bleiben. Er beschreibt zum anderen auf der Stufe der zentrischen Positionalität „Bewusstsein als sphärische Einheit von Lebenssubjekt und Gegenwelt“ (Plessner 97, 67). Im Finale seines Buchs setzt Plessner schließlich zu einem „salto mortale“ (F. H. Jacobi) an, der für seine Fassung des Verhältnisses von Leben und Wissen massive Konsequenzen hat. Denn wie sich im Übergang zur exzentrischen Positionalität des Menschen verdeutlicht, kann bei Plessner einzig und allein Philosophische Anthropologie die Artikulationsform für ein lebendiges Wissen des Lebens sein. Nur der Mensch weiß im Vollzug vermittelter Unmittelbarkeit, was Leben heißt – und in seinem Fall heißt Leben, die prekäre Verschränkung von Leibsein und Körperhaben immer aufs Neue herstellen zu müssen. Er weiß dies allerdings nur um den Preis, keinen vitalen Rückhalt im Leben mehr zu besitzen. Er weiß es um den Preis, mit seiner Geschichtlichkeit unabweislich konfrontiert zu sein. Das lebendige Wissen des Lebens ist mithin bei Plessner nicht mehr umrahmt durch die Grenzen des Lebens selbst. Subjekt und Objekt des Lebenswissens ist vielmehr ein Lebewesen, das immer anders aus dem Unergründlichen heraus anheben muss, wenn es dem Leben begegnet.

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B.Canguilhem . Anlauf: Von Bachelard zu Canguilhem Geht die Betrachtung nun von Plessner zu Canguilhem über, so läuft in diesem Übergang eine Perspektive mit, die zeigen soll, dass ihre Theorien einander funktional äquivalent sind, sich aber in ihren inhaltlichen Bestimmungen eigentümlich fremd bleiben. Die Behauptung, die Ansätze würden vergleichbar, insofern beide die Struktur eines lebendigen Wissens des Lebens in sich tragen, setzt keine intensionale Gleichheit der jeweiligen Lebens- und Wissensbegriffe voraus. Die Äquivalenz liegt nicht in der inhaltlichen Bestimmtheit der Begriffe, sie ist vielmehr struktureller Art2. Was sich in dieser Konstellation zu erkennen gibt, ist das Gemälde zweier heterogener Genealogien. Ein vergleichender Blick auf diese Genealogien, in die sich Plessner auf der einen, Canguilhem auf der anderen Seite einschreiben, ist jedoch nicht auf der materialen Basis einer einseitigen oder gar wechselseitigen Rezeption zu gewinnen. Man muss diesen Blick und mit ihm ein grundlegendes Problem, auf das sich beide Philosophien in ihrer Art beziehen (können), erst konstruieren. In gewisser Weise verlangt das Thema also die Strategie einer hermeneutischen Verfremdung: Ich möchte die irreduziblen Differenzen zwischen den beiden Autoren als prägend aufzeigen, zugleich aber mit der Struktur des lebendigen Wissens des Lebens eine Konstruktion vorschlagen, die beide Ansätze umgreift. Dieser Strategie entspricht es, wenn der Zugang zu Georges Canguilhems Philosophie des Lebendigen mit dem Exkurs zu einem Denker beginnt, der für Canguilhem höchst einflussreich, Plessner hingegen nahezu3 unbekannt war. Die Rede ist von Gaston Bachelard (88–962), Canguilhems Vorgänger auf dem Lehrstuhl für Geschichte und Philosophie der Naturwissenschaften an der Sorbonne. Was unter dem terminus techni2

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Canguilhem führt also keinesfalls eine Konstruktion, die sich auch bei Plessner finden würde, anders durch. Er führt eine andere Konstruktion durch als Plessner, auch wenn es eine gemeinsame Benennung gibt, unter der sich beide Konstruktionen berühren. Ich sage nahezu mit Blick auf den erstaunlichen Umstand, dass Plessner Bachelard, wenn auch beiläufig, in Die Frage nach der Conditio humana (96) zitiert. Siehe Plessner 2003b, 70. Plessner bezieht sich hier im französischen Original auf einen Satz aus Bachelards letztem Buch, der 96, also im gleichen Jahr wie Plessners Essay, in Frankreich erschienenen Schrift La flamme d’une chandelle [dt.: Gaston Bachelard, Die Flamme einer Kerze. München 988]. Dies ist ein interessanter Beleg dafür, dass Plessner eine Auseinandersetzung mit Bachelard geleistet hat, noch bevor dessen Hauptwerke – La formation de l’esprit scientifique (938) und La Philosophie du Non (90) – ins Deutsche übertragen wurden, was in beiden Fällen erst 978 geschah. Das angesprochene Bachelard-Zitat hat übrigens das Phänomen der Vertikalität der OrganismusUmwelt-Beziehung bei menschlichen Lebewesen zum Thema. Aufschlussreicherweise entdeckt Plessner also bei Bachelard einen strukturellen Erkundungscharakter des homo sapiens, den Plessner zum Theorem des „Auge-Hand-Felds“ ausbaut. Siehe dazu Plessner 2003b, 69ff. Über diesen beiläufigen Bezug hinaus ist mir kein Rückgriff Plessners auf Bachelard bekannt. Erst in den letzten Jahren intensiviert sich die Diskussion der Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Bachelard und Canguilhem. Schon früh und nachdrücklich hat Dominique Lecourt auf die Abgrenzungen hingewiesen (Lecourt 97, Lecourt 2008). Siehe aktuell Ancet 2008; CassouNoguès/Gillot 2009; LeBlanc 2009; Sabot 2009; Braunstein 2002. Deutschsprachige Publikationen zu diesem Verhältnis, die übrigens nicht zu unterschätzende Konsequenzen für die hiesige Foucault-Rezeption haben könnten, sind noch nicht zu verzeichnen.

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cus der Historischen Epistemologie überhaupt zu verstehen ist, lässt sich konkretisieren, wenn einige Theoreme Bachelards über „die Bildung des wissenschaftlichen Geistes“ (Bachelard 987) nachgezeichnet werden. Gegen Ende wird dieser Grundriss der Historischen Epistemologie einen Zuschnitt auf die besondere Variante erhalten, die Georges Canguilhem vertreten hat. Es war Michel Foucault, der die französische Tradition der Wissenschaftsgeschichte in eine Parallele zur Kritischen Theorie rückte, um beide Bewegungen in der Nachfolge der Aufklärung bestimmen zu können: „In der Wissenschaftsgeschichte in Frankreich wie in der deutschen kritischen Theorie geht es um die Prüfung einer Vernunft, deren strukturelle Autonomie mit der Geschichte der Dogmatismen und der Despotismen beladen ist, einer Vernunft, die folglich nur dann als Freilassung wirken kann, wenn sie sich von ihr selber befreien kann.“ (Foucault 988, 8)

„Eine Rationalität (…), die Universalität beansprucht und sich doch in der Kontingenz entfaltet“ (ebd.): Dieses Paradox der autonomen und zugleich von „Trägheiten und Zwänge“ (ebd.) überlagerten ratio ist, Foucault zufolge, das prinzipielle Thema „der Arbeit Koyrés, Bachelards, Cavaillès’ und Canguilhems“ (ebd.). Die Rationalität der Moderne kann weder ihre spezifischen Gegenstände noch ihre eigenen Fundamente als gegeben hinnehmen. Wenn sich vernünftiges Wissen in das Dilemma hinein verwickelt, Universalität zu reklamieren, während es Phänomene antrifft, die sich den Kriterien vernünftigen Wissens nicht von selbst unterwerfen, dann schlägt die Stunde einer genetischen Theorie des Rationalismus: Nur eine solche Theorie kann angesichts der nachmetaphysischen Asymmetrie zwischen (Vernunft-) Universalität und Kontingenz (des Empirischen) klären, worin „Wahrheit“ besteht. Bachelard stellt und beantwortet diese Schlüsselfrage nach der Rationalität der Moderne auf dem eng umgrenzten Feld der Wissenschaftlichkeit des Wissens. Von Anfang an gilt sein Interesse den regionalen Rationalitäten der zeitgenössischen Naturwissenschaften. Um den Ausgangspunkt für das Unternehmen zu finden, das Bachelard selbst als Epistemologie definiert, muss man sich seine Polemik gegen eine Philosophie des Wissens, der Erkenntnis und der Erfahrung vergegenwärtigen. In einem Referat auf dem Internationalen Kongress zur Philosophie der Naturwissenschaften in Paris 99 konstatiert er: „Wenn ein Philosoph von der Erkenntnis spricht, will er sie direkt, unmittelbar, intuitiv. Das endet damit, daß die Naivität zur Tugend, zur Methode gemacht wird. Man verwirklicht das Wortspiel eines großen Dichters, der in dem Wort ‚connaissance‘ (Erkenntnis) ein ‚n‘ weglässt, um anzudeuten, daß die wahre ‚connaissance‘ eine ‚co-naissance‘ sei (etwas mit der Geburt Erworbenes). Und man verkündet, das erste Erwachen sei schon volles Licht, der Geist besitze eine angeborene Klarheit. Wenn ein Philosoph von der Erfahrung spricht, geht es ebenso schnell; es handelt sich um seine eigene Erfahrung, um die ruhige Entwicklung eines Temperaments. Das endet damit, daß eine persönliche Weltanschauung beschrieben wird, als finde sie naiv den Sinn des ganzen Universums. Und somit besteht die zeitgenössische Philosophie in einem Persönlichkeitsrausch, in einem Originalitätsrausch. Solche Originalität aber gibt vor, radikal zu sein, verwurzelt im Sein selbst; sie signiert eine konkrete Existenz; sie begründet einen unmittelbaren Existenzialismus.“ (Bachelard 97, 2f.) 

Siehe dazu auch Sarasin 2008, 6.

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Die primäre Zielscheibe dieser Kritik ist leicht auszumachen: Bachelard schreibt an gegen die französische Schule der Phänomenologie Husserls, die in Sartre und Merleau-Ponty in den 90er Jahren wirkmächtige Proponenten hatte. Bekanntlich reservierte Husserl für die Phänomenologie die Rolle einer „totale[n] Wissenschaft vom Apriori“ (Husserl 99, 60), welche die Erfahrungswissenschaften – ihres Zeichens „Naivitäten höherer Stufe“ (ebd., 7) – über ihre unausdrücklichen Sinngebungs- und Rationalisierungsleistungen aufklärt. Husserl sieht die Basis für eine Theorie der wissenschaftlichen Erfahrung in einer transzendentalen Untersuchung der Arten und Weisen, in denen Phänomene für ein intentionales Bewusstsein Evidenz erhalten6. Dieses phänomenologische Projekt der Selbstaufklärung des Bewusstseins, das bei Husserl in der Überwindung des modernen Szientismus gipfelt, wendet Bachelard ins Gegenteil7. Der „wissenschaftliche Geist“ soll einer „Psychoanalyse der anfänglichen Irrtümer“ (Bachelard 987, 3) unterzogen werden. Diese Psychoanalyse hat aufzuzeigen, dass die phänomenologischen Gewissheiten der Lebenswelt nicht das Fundament, sondern komplexe Hindernisse (obstacles épistémologiques) des Erkenntnisprozesses darstellen. Bachelard sieht die Zugangsschwelle zum präzisen Verständnis der Umwälzungen in Physik und Chemie seit dem frühen 20. Jahrhundert durch einen „epistemologischen Bruch“ (ebd., 3) markiert: Dieser Bruch schneidet die phänomenologische Evidenz der vorwissenschaftlichen Anschauung von der kontra-intuitiven, diskursiven Logik der modernen Naturwissenschaften ab. Bachelard warnt vor den „affektiven Grundlagen“ (ebd., 9) und der „ganz subjektive[n] Dynamik“ (ebd.), kurzum: vor der hartnäckigen Mythologie des Unmittelbaren, die sich in immer anderen Gestalten an den Ausgangspunkten wissenschaftlichen Wissens einzunisten droht. Das Alltagswissen muss permanent als Scheinwissen diskriminiert werden. Eine der Kerneinsichten Bachelards betrifft den notwendigen Unterschied zwischen natürlichen und wissenschaftlichen Gegenständen. Die eigentümlich produktive Dynamik, wonach wissenschaftliche Objekte „verdinglichte Theoreme“ (Bachelard 97, 9)8 6

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Siehe ebd.: „Die Urbegriffe, die, durch die ganze Wissenschaft hindurchgehend, den Sinn ihrer Gegenstandssphäre und ihrer Theorien bestimmen, sind naiv entsprungen, sie haben unbestimmte intentionale Horizonte, sie sind Gebilde unbekannter, nur in roher Naivität geübter intentionaler Leistungen.“ Wie David Hyder ausführt, schwebte den Inauguratoren der französischen Epistemologie (Bachelard, Cavaillès, Canguilhem, Foucault), die sich als „conceptualists“ identifizierten, eine Rückkehr hinter die „subjectivist side“ der Phänomenologie Husserls zu der in Husserls Frühwerk begründeten „philosophy of science and mathematics“ vor. Siehe Hyder 2003, (alle Zitate). Zur Husserl-Kritik von Cavaillès, die gewissermaßen die Keimzelle der Husserl-Rezeptionen Foucaults und Canguilhems darstellt, siehe auch Sebestik 2008, besonders 33–38. Ebenfalls grundlegend Thompson 2008. Siehe ebd., 20: „Tatsächlich sind hier die Gegebenheiten Resultate. (…) Es handelt sich um nichts weniger als den Vorrang der Reflexion vor der Wahrnehmung, um nichts weniger als die noumenale Bereitung von technisch konstituierten Phänomenen. Die Bahnen, mittels derer die Isotopen im Massenspektroskop getrennt werden, existieren in der Natur nicht; sie müssen technisch hergestellt werden. Sie sind reifizierte Theoreme. Es wird zu zeigen sein, daß etwas, was der Mensch in einer wissenschaftlichen Technik macht […], in der Natur nicht existiert und noch nicht einmal eine natürliche Folge natürlicher Phänomene ist.“ [Hervorhebungen i.O., T. E.] Siehe auch Bachelard 987, 2f.:

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darstellen, wird so lange unbegriffen bleiben, wie an der Beziehung von Erkenntnissubjekten auf Erkenntnisobjekte oder gar an einer Bestimmung der transzendentalen Vermögen der Subjekte festgehalten wird. Bachelard denkt entschieden nicht-kartesisch, nichtkantisch und nicht-phänomenologisch9. Wissenschaftliches Wissen greift also nicht auf vorgegebene phänomenale Wirklichkeit zurück. Es schreibt den Phänomenen, die es als seine Gegenstände definiert (und traktiert), vielmehr aktiv eine „komplexe Rationalisierung“ (Bachelard 987, 8) ein. Nimmt man mit Bachelard die von der Quantenphysik und der Relativitätstheorie vermittelte Lektion der „Verwandlung eines Datums in ein Phänomen, in ein Problem“ (Rheinberger 200b, 3; Hervorhebung i.O., T. E.) ernst, so kommt man nicht umhin, eine „integrale Philosophie der Philosophen“ (Bachelard 980, 28) gegen eine „differenzielle wissenschaftliche Philosophie“ (ebd.) abzusetzen. Bachelards Vorhaben ist die Entfaltung eines quasi-philosophischen Denkens, das seinem spezifischen Gegenstand – dem fortschreitenden Werdensprozess des „wissenschaftlichen Geistes“ der Moderne – gleichursprünglich ist. Die Epistemologie verdankt sich einer Koevolution mit den modernen Naturwissenschaften (also Physik und Chemie); sie wird von der Dynamik ihrer eigenen Untersuchungsgegentände gleichsam angesteckt60. Das Material der Historischen Epistemologie sind also begriffliche Umorientierungen und Brüche, aber auch die nicht zu Ende verfolgten oder neu probierten Experimente oder Techniken, „mit denen Dinge zu Objekte des Wissens gemacht werden“ (Rheinberger 2007, ). Bachelards Auffassung, die modernen Naturwissenschaften seien „angewandter Rationalismus“, hat ihr Echo in einer zweiten Grundannahme. Bachelard stellt das Verhältnis zwischen Theoretischem und Technischem auf die Priorität der Technik um. Er sagt, dass es kein szientifisches Konzept gibt, das nicht per definitionem appliziertes, technisch realisiertes Konzept wäre: „Über die Geschichte und unter ihrem Druck regt sie [die Konzeptualisierung, T. E.] Experimente an, die den historischen Stand des Konzepts deformieren sollen. Im Experiment sucht sie nach Möglichkeiten, das Konzept zu komplizieren, es gegen den Widerstand des Konzeptes

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„Ein einziges Beispiel: das Gleichgewicht schwimmender Körper ist Gegenstand einer vertrauten Anschauung, die ein Geflecht von Irrtümern darstellt. Mehr oder weniger deutlich legt man dem schwimmenden Körper, oder besser dem Körper der auf dem Wasser schwimmt, eine Aktivität bei. Versucht man, mit der Hand ein Stück Holz ins Wasser zu tauchen, so leistet es Widerstand. Nur schwer schreibt man diesen Widerstand dem Wasser zu. Es ist nun recht schwierig, das Archimedische Prinzip in seiner schlagenden mathematischen Einfachheit verständlich zu machen, wenn man nicht zuvor den unsauberen Komplex erster Anschauungen kritisiert und aufgelöst hat. Ohne diese Psychoanalyse der anfänglichen Irrtümer wird man insbesondere niemals verständlich machen, daß der schwimmende Körper und der völlig untergetauchte Körper dem gleichen Gesetz gehorchen.“ [Hervorhebung i.O., T. E.] Siehe zur Descartes-Kritik vor allem Bachelard 980, 22–2. Im Übrigen ist es wenig erstaunlich, dass Bachelards Depotenzierung der Philosophie gegenüber den in der Moderne emanzipierten Naturwissenschaften als Variante eines dialektischen Materialismus’ zugerichtet worden ist. Siehe von Althusser her besonders Lecourt 97 und Macherey 2009b. In dieser Tradition bewegt sich auch Gary Gutting, wenn er feststellt: „Since for Bachelard philosophical conceptions of knowledge and reality arre, quite properly, derivative from the best science of their time, epistemological breaks in scientific thought require corresponding revolutions in philosophy“ (Gutting 200, 86).

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anzuwenden, um so die Anwendungsbedingungen zu verwirklichen, die die Wirklichkeit nicht zustande gebracht hat. An diesem Punkt merkt man, daß die Wissenschaft ihre Objekte verwirklicht, ohne sie jemals ganz fertig vorzufinden. Die Phänomenotechnik erweitert die Phänomenologie. Ein Konzept wird in dem Maße wissenschaftlich, wie es technisch wird, wie mit ihm eine Technik der Verwirklichung einhergeht. Man sieht also deutlich, daß das Problem des modernen wissenschaftlichen Denkens philosophisch gesehen wiederum intermediären Charakter hat.“ (Bachelard 987, )

Zäsuren im Forschungsprozess generieren nicht etwa aus der Einführung neuer Begriffe – vielmehr gibt es hier einen Primat der Technik6. Hans-Jörg Rheinberger hat die Durchschlagskraft beschrieben, die dieser „Doppelaspekt der Beziehung zwischen dem Technischen und dem Theoretischen“ (Rheinberger 2006, 0) entfaltet62. Bachelard geht von einer eigentümlichen Dialektik aus: Der Geist wird durch seine Objektivationen seinerseits dynamisiert. Die Heterogenitäten und Novitäten, die erratisch im historischen Prozess des Wissens entstehen, zeugen daher von der Realisierung, nicht aber der Selbstrealisierung einer wissenschaftlichen Vernunft. Wenn die Technik eine Vermittlung zwischen dem Geist und den Phänomenen darstellt, so haftet dem Geist ein technisch vermittelter Charakter an, der sich nicht begrifflich internalisieren lässt, sondern unauflöslich bleibt. Damit schert Bachelard aus dem Modell der Hegelschen Dialektik des Geistes aus. Es gibt eine „philosophisch nicht ausweisbare Bindung“ (Artmann 2000a, 39) des (quasi) philosophischen Denkens an die Wissenschaften. Der besondere Rationalitätstyp, der die Verflechtung des Noumenalen mit dem Phänomenalen in den zeitgenössischen Wissenschaften sichtbar macht, eben die Epistemologie, entwickelt sich koevolutionär zu diesen Wissenschaften selbst63. 6

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Siehe Diaz-Bone 2007, 3: „Die Phänomenotechnik begreift die zu beobachtenden Phänomene als durch Instrumente mit generiert, die selbst wiederum eine Materialisierung der Theorie sind, unter deren Voraussetzung und für deren Zielsetzungen sie konstruiert wurden.“ Siehe Rheinberger 2006, : „Der erkennende Geist muss sich selber externalisieren, er muss ‚instrumentell‘ werden, denn er ist ebenfalls technisch vermittelt, wie alle seine Begriffe einschließlich der Kategorien der wissenschaftlichen Erkenntnis selbst. Im Ergebnis treten der wissenschaftliche Geist und der wissenschaftliche Gegenstand in eine Beziehung der gegenseitigen Veräußerlichung und zugleich Verinnerlichung. Im Zentrum des epistemischen Ensembles erscheint in der neuzeitlichen Wissenschaft das Instrument: Es ist einerseits eine Verkörperung erworbenen Wissens; andererseits wird mit seiner Hilfe der Gegenstand als Technophänomen hervorgebracht. (…) Das Instrument repräsentiert immer und überall die materielle Existenz eines bestimmten Wissenskorpus. Die Phänomene werden in seinem Horizont als Probleme hervorgerufen, und ihre Einfügung und Anpassung erfordert dann womöglich selbst neue Begriffe. Phänomen und Instrument, Objekt und Erfahrung, Begriff und Methode, sie alle instruieren sich fortlaufend gegenseitig.“ Im deutschsprachigen Raum ist Bachelards Projekt einer Dialektik des wissenschaftlichen Geistes ohne bewusstseins- und subjektphilosophische Fundierung weitläufig auf Unverständnis gestoßen. Joachim Kopper etwa hat kritisiert, Bachelard lasse das Erkenntnisgeschehen in den Wissenschaften unterdeterminiert, indem er es als reinen Vollzug verstehe. In dialektischer Perspektive sei dies eine Inkonsequenz, da die eigenartige Immersion, welche die Epistemologie in die Wissenschaften hinein verwickelt, ihrerseits transzendental deduziert werden müsse. Kopper interpretiert Bachelard als gescheiterten Kantianer. Diese Sichtweise lässt unberücksichtigt, dass Bachelard eine „kopernikanische Wende der Objektivität“ (Bachelard 97, 38) ausgerufen hat, derzufolge der „Rationa-

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In Le nouvel esprit scientifique von 93 fortifiziert Bachelard seine These, dass sich wissenschaftliches Denken in einem konstitutiv unbestimmten Prozess der Korrektur und Revision bewegt, sowohl hinsichtlich der phänomenologischen Gewissheiten des Alltags als auch hinsichtlich der Beziehungen, die eine neu etablierte wissenschaftliche Formation zu den wissenschaftlichen Vorstufen einnimmt, gegen die sie sich wendet6. Wissenschaft vollzieht sich buchstäblich über Urteile, über Aburteilungen von vorwissenschaftlichen Intuitionen und veralteten, nicht länger haltbaren Ständen der Forschung. Mit dieser Figur der Rekurrenz verweist Bachelard auf den Umstand, dass die Dynamik der rationalen Irrtumskorrektur auch solche Wissensformationen mit sich reißt, die zu einem früheren Zeitpunkt selbst den Status rationaler Revision hatten6. Eine spezifisch wissenschaftliche Wahrheit ist also „Richterin über die Vergangenheit und zugleich Angeklagte im fortlaufenden Berichtigungsprozess“ (Rheinberger 2006, 3)66. An dieser Stelle wird der eigentümliche Zug von Bachelards Konzeption der Erkenntnis noch manifester: Bachelard führt eine Normativität ein, mit der alle Akteure ausgestattet sind und die dennoch ihnen allen unverfügbar ist, insofern sie sich nicht auf Dauer stellen lässt. Keine List der Vernunft, die den kontinuierlichen Fortgang zu immer rationaleren, souveräneren Formen des Wissens verbürgt, ist hier am Werk. Stattdessen könnte man von einer „Finalität der Gegenwart“ (Rheinberger 200b, 27) sprechen. Die Werturteile der Wissenschaft legitimieren sich von einem radikalen Präsens her, von einem Standpunkt des hic et nunc67.

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lismus“ immer als Philosophie erscheint, die fortsetzt, aber nie als Philosophie, die a priori anfängt. Siehe Kopper 980, 67–88. Als Gegenposition zu Kopper siehe Artmann 2000a, 3–. Artmanns Missverständnis gegenüber Bachelard liegt jedoch in der deplazierten Erwartung an „Tendenzen semiotischer Ausbildung der Epistemologie, welche im Werk Bachelards noch erheblich blockiert sind“ (ebd., 2). Bachelard 97, 29: „Der Geist hat eine variable Struktur von dem Augenblick an, wo die Erkenntnis eine Geschichte hat. Die menschliche Geschichte mag in allem, was von unmittelbaren Antrieben abhängt, eine ewige Wiederkehr sein; aber es gibt Gedanken, die nicht wiederkehren; dies sind die Gedanken, die berichtigt, erweitert und vervollständigt wurden. Sie kommen nicht in ihr beengtes oder schwankendes Nest zurück. Nun ist aber der szientifische Geist wesentlich eine Berichtigung des Wissens, eine Erweiterung des Rahmens der Erkenntnis. Er beurteilt seine Vergangenheit, indem er sie verurteilt. Wissenschaftlich wird das Wahre als historische Berichtigung eines langen Irrtums, wird die Erfahrung als Berichtigung einer allgemeinen und ersten Illusion gedacht. Jedes intellektuelle Leben der Naturwissenschaft spielt sich dialektisch ab auf diesem Differential der Erkenntnis, an der Grenze zum Unbekannten.“ Für Bachelard steht die Differenz zwischen ratio und Irrtum nicht a priori fest; gewiss ist nur, dass sich Wissenschaft in einer solchen Differenz, die in historischen Verschiebungen immer neu konfiguriert wird, einrichtet. Siehe auch Rheinberger 2007, : „Grundsätzlich riskiert jede wissenschaftliche Wahrheit von heute, als ein Irrtum der Vergangenheit zu enden. Das macht die besondere, geradezu konstitutiv zu nennende Geschichtlichkeit der Wissenschaften aus; sie werden ständig über sich selbst hinausgetrieben und bleiben doch rekursiv, im Sinne einer historischen Kopplung, auf ihre Problembestände bezogen.“ Siehe Bachelard 97, 2: „Es wird jetzt die erzieherische Notwendigkeit sichtbar, eine rückläufige Geschichte zu formulieren, eine Geschichte, die von der Finalität der Gegenwart erhellt wird, eine Geschichte, die von den Ge-

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Ohne Zweifel sind der epistemologische Bruch, das Problem der Phänomenotechnik und der Prozess der historischen Rekurrenz die zentralen Prämissen von Bachelards Reflexion auf das Verhältnis, in dem die modernen Naturwissenschaften zu den Gegenständen ihrer Forschung und Erkenntnis stehen. Vor allem aber lassen sich auf der Folie dieser Begrifflichkeiten zwei Unterschiede genauer darlegen: Zum einen muss eine scharfe Trennung zwischen Wissenschaft und Wissenschaftsgeschichte ins Kalkül gezogen werden. Zum anderen, und verbunden mit der ersten Differenz, ist es notwendig, Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie auseinanderzuhalten. In einem 966 vor der Société canadienne d’histoire et de philosophie des sciences in Montréal gehaltenen Vortrag hat Canguilhem zunächst einen anderen Leitgegensatz, den zwischen Wissenschaft und Wissenschaftsgeschichte, markiert: „Der Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte hat mit dem Gegenstand der Wissenschaft nichts gemeinsam. Der wissenschaftliche Gegenstand, der vom methodischen Diskurs konstituiert wird, ist sekundär – wenn auch kein Derivat – gegenüber dem natürlichen, dem anfänglichen Gegenstand, den man darum auch als Vorwand, als Prä-text, bezeichnen könnte. Die Wissenschaftsgeschichte hat es mit diesen sekundären, nicht natürlichen, kulturellen Gegenständen zu tun, leitet sich aber von ihnen ebenso wenig her wie diese von den natürlichen Gegenständen. Der Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte ist in der Tat die Geschichtlichkeit des wissenschaftlichen Diskurses, sofern sich darin ein Vorhaben ausdrückt, das von innen normiert, dabei jedoch von Zwischenfällen durchkreuzt, von Hindernissen verzögert oder abgelehnt und von Krisen, d.h. von Entscheidungs- oder Wahrheitsmomenten, unterbrochen wird. (…) Der Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte ist also nicht ein bereits gegebener Gegenstand, sondern einer, für den die Unabgeschlossenheit wesentlich ist.“ (Canguilhem 979b, 29f.)68

Mit Bachelard teilt Canguilhem die Beobachtung, wissenschaftliches Wissen hebe nicht bei „dem natürlichen, dem anfänglichen Gegenstand“ an, sondern mit einem epistemologischen Bruch. Stärker zugespitzt, nimmt „die Wissenschaft zum Gegenstand (…), was keine Geschichte hat“ (ebd., 29; Hervorhebung von mir, T. E.). Geschichtlichkeit entsteht erst durch eine normative Intervention in die „natürliche“ Ordnung von Sachverhalten. Gleichwohl ist es bemerkenswert, wenn Canguilhem zwischen den Wissenschaften und den natürlichen Dingen wenn schon keine Ableitungsbeziehung, so doch eine Beziehung des Miteinander-zu-Tun-Habens identifiziert. Er präzisiert damit einen Aspekt, der bei Bachelard eine unklare Rolle spielt: Die Perspektivenverlagerung von der (anschaulichen) natürlichen Ordnung in die diskursiv strukturierte Ordnung wissenschaftlicher Rationalität erscheint bei Canguilhem als ein Kontakt, der Abstoßung und Rückbezogenheit zugleich bedeutet. Die untilgbare Verbundenheit mit dem Vorwissenschaftlichen

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wissheiten der Gegenwart ausgeht und in der Vergangenheit die fortschrittlichen Gestaltungen der Wahrheit entdeckt. So versichert das szientifische Denken sich seiner selbst durch den Bericht über seine Fortschritte.“ Wichtig ist an dieser Konstruktion, dass Bachelard die genealogische Kontingenz der Wissenschaften zusammendenkt mit ihrem permanent teleologischen Selbstentwurf: Die Wissenschaften tragen so etwas wie die Signatur ihrer eigenen Gewordenheit in sich, setzen sich jedoch zugleich auf paradoxe Art über ihre Vorgeschichte hinweg. In dem Maß, in dem eine Wissenschaft den Zustand, in dem ihr normativer Anspruch auf Wahrheit einmal negiert sein wird, nicht antizipieren kann, fordert sie für ihre eigenen Normen einen normativen Status quo ein. Eine systematische Interpretation dieses Texts von Canguilhem bietet Rheinberger 200c.

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hatte Bachelard als Drama einer fortlaufenden Remythologisierung des Rationalen beschrieben69. In Canguilhems Worten: Da Bachelard „von einem dialektischen Sieg des lebendigen Denkens über das träge Gegen-Denken“ (Canguilhem 979a, 3)70 fasziniert gewesen sei, habe er Wissenschaftsgeschichte eher als Illustration einer „Dialektik des Denkens“ (ebd., ) verstanden, als herauszustellen, dass diese Geschichte „selber eine objektive Dialektik ist“ (ebd.). Eine Philosophie des Nein nach dem Vorbild Bachelards „verleihe“ (ebd.) zwar „der Geschichte der Wissenschaften eine dialektische Strukturierung“ (ebd.), sei aber ihrerseits „nicht durch die Dialektik der allgemeinen Geschichte strukturiert“ (ebd.). Wer die Stellen aus den zwei eben zitierten Texten Canguilhems – einmal über den Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte, einmal über Bachelard – zusammen liest, wird die subtil verbalisierte, aber in der Sache radikale Verschiebung Canguilhems gegenüber Bachelard nicht übersehen. Indem Bachelard normativ den totalen Bruch mit „dem anfänglichen Gegenstand“ propagiere, um den Mythos dialektisch in Bann zu schlagen, entgehe ihm, so ließe sich Canguilhems Argument übersetzen, „die Geschichtlichkeit der Wissenschaftsobjekte selbst“ (Rheinberger 200c, 232). Canguilhem würdigt Bachelards systematisches Ziel, eine Dialektik des wissenschaftlichen Geistes zu entwickeln, die keine spekulative Schließung hat, sondern ständig neu verzeitlicht und damit offen gehalten wird. Aber er kritisiert, dass Bachelard zwar die Beziehung zwischen Wissenschaftsgeschichte und den Wissenschaften dialektisch dynamisiert, nicht aber das Verhältnis des wissenschaftlichen Wissens zu seinen Gegenständen. Bachelards Figur des epistemologischen Bruchs kommt über eine negative Bestimmung der vorwissenschaftlichen Psychologismen nicht hinaus. Anders als die internen Irrtümer, die den Wissenschaften in ihrer historischen Such- und Selbstkorrekturbewegung unweigerlich passieren, sind für Bachelard die Irrtümer, die außerhalb, im Vorfeld der wissenschaftlichen Rationalität, begangen werden, nicht zu tolerieren. Canguilhem sieht nun folgenden Punkt sehr genau und sehr kritisch7: Bachelards Dialektik des wissenschaftlichen Geistes ist eine negative Dialektik, insoweit ihr Ausgangspunkt in einer selbst nicht mehr vermittelten Negation der lebensweltlichen Unmittelbarkeit liegt72. Indem er einen Prozess der Ent-Psycholo69

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Siehe Bachelard 987, 0: „Selbst bei einem klaren Geist gibt es dunkle Zonen, Höhlen, in denen Schatten fortbestehen. Auch im neuen Menschen bleiben Spuren des alten Menschen erhalten. In uns führt das 8. Jahrhundert ein heimliches Leben fort; es kann – leider – wieder hervortreten.“ Canguilhems Rede vom „lebendigen Denken“ lässt natürlich aufhorchen. Tatsächlich lautet das Zitat im Zusammenhang, Bachelard komme mit seinem „Begriff von einem dialektischen Sieg des lebendigen Denkens über das träge Gegen-Denken dem biologischen Begriff der Mutation oder dem psychologischen Begriff der Belebung ziemlich nahe“ (ebd.). Canguilhem spielt mit einer von Bachelard unbemerkten Affinität, die zwischen seinem Anspruch auf eine dialektische Prozesstheorie und biologischen Kategorien zur Kennzeichnung lebendiger Sachverhalte herrscht. Auf den polemischen Sinn einer solchen – für Canguilhem typischen – Beobachtung wird im Laufe dieser Arbeit noch näher einzugehen sein. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Canguilhem 99a. Bei Bachelard beginnt die Wissenschaft mit dem polemischen Ausschluss und der totalen Rektifizierung dessen, was das Andere des Wissens verkörpert. Die Antriebskraft der über Heterogenitäten ablaufenden Genese des wissenschaftlichen Geistes ist ein fundamentales Nein – eine normative Negation, die alles daran setzt, ihre Bezogenheit auf die negierten Sachverhalte rigoros abzustreifen.

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gisierung einfordert, postuliert Bachelard einen nicht relativierbaren Antagonismus von Wissen und Nicht-Wissen. Wenn daher die Wissenschaftsgeschichte die „von innen normiert[e]“ (Canguilhem 979b, 30) Dynamik der Wissenschaften zum Gegenstand hat, wobei diese interne Normativität des Rationalen selbst historischen Umbrüchen ausgesetzt ist, so entspringen die Normen bei Bachelard einseitig dem spezifisch wissenschaftlichen Zugriff auf die Welt. Sie entspringen nicht den Wissenschaftsgegenständen, die vielmehr von Anbeginn als phänomenotechnische Konstrukte bestimmt sind. Canguilhem dagegen legt, während er auf der einen Seite Bachelards Verhältnisbestimmung von Wissenschaften und Wissenschaftsgeschichte affirmiert, auf der anderen Seite das dialektische Defizit frei, das entsteht, wenn Wissenschaft allein über den unvermittelten Bruch mit der subjektiven Wirklichkeit, in einer exklusiven Negation, begründet wird. Canguilhems Alternative können lässt sich vorerst nur erahnen: Ihm geht es um eine dialektisch adäquate Aufwertung der Gegenstandsseite in der Wissensstruktur, d.h. um eine Vermittlung von Subjekt und Objekt, die den konstituierenden, nicht nur konstituierten Charakter der Objekte in den Blick nimmt. Die eigentümliche Wertung und Normativität, mit der bei Bachelard der wissenschaftliche Geist die gelebte Wirklichkeit von sich ausschließt, ist keineswegs explanans, sondern explanandum73. Canguilhem wird diese Normativität der Wissenschaften selbst „als Lebenserscheinung“ (Grond-Ginsbach 996, 20) zu denken versuchen7.

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Canguilhem macht darauf aufmerksam, dass im Mittelpunkt von Bachelards Dialektik nicht der logische Widerspruch, sondern Kants Differenz zwischen dem kritischen (bedingten) und unkritischen (unbedingten) Gebrauch rationaler Konzepte liegt. Siehe ebd., 96 bzw. 99: „Cette dialectique procède si peu de contradictions qu’elle a au contraire pour effet rétroactif de les montrer illusoires, non pas certes au niveau de leur dépassement mais au niveau de leur position. Les contradictions naissent non des concepts, mais de l’usage inconditionnel de concepts à structure conditionnelle.[…] A une dialectique logique qui traite les notions comme des choses, Bachelard oppose ‚la psychologie de l’éclaircissement des notions‘.“ Bachelards Aporie liegt also darin, den Prozess der offenen Selbstrevision des wissenschaftlichen Geistes mit der normativen Negation der alltäglichen Irrtümer durch eine selbstmächtige ratio beginnen zu lassen. Dieser Ansatz substanzialisiert beide Pole des Verhältnisses, Wissen und NichtWissen, und greift auf einen Fundamentalantagonismus zurück, der nicht mehr durch die Dialektik der historischen Rekurrenz abgemildert werden kann. Somit entsteht durch die Differenz zwischen Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaft eine problematische Verdopplung des Normativitätsbegriffs, die sich dialektisch nicht aufheben lässt: Auf der Ebene der Wissenschaftsgeschichte ist die Normativität, die eine bestimmte historische Formation für sich beanspruchen kann, volatil und wird in einem Prozess unabschließbarer Revision immer neu entschieden. Auf der Ebene der Wissenschaft hingegen ist die Normativität, mit der Wissen gegen Nicht-Wissen polemisiert, gleichsam substantiell: Diese polemische Differenz nämlich muss, damit sich überhaupt Wissenschaft konstituiert, immer als normativ wirksam und damit als per se rational gesetzt werden. Eine Andeutung dieser Lösung in Richtung auf den Lebensbegriff gibt Canguilhem in seinem Aufsatz über die verschiedenen Auffassungsweisen der Dialektik bei Bachelard. Canguilhem argumentiert hier wie folgt: Da Bachelards Theorem des epistemologischen Bruchs die Rationalisierung (Entpyschologisierung) der Irrtümer als eine stets zu vollziehende Mission begreift, gründet der Bruch auf einer vorgängigen Sphäre der Subjektivität, in der Wissen und Irren gleichursprünglich zueinander stehen. Wenn das Subjekt angesichts der internen Polarität zwischen Wissen und Irrtum das Wissen will, so setzt dies eine Fähigkeit zur Wertung voraus, die gegenüber dem Gegensatz von Wissen und Irren indifferent, weil ursprünglicher ist. Siehe Canguilhem 99a, 206:

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Worin aber besteht der präzise Unterschied zwischen Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie? An einer Stelle der Bildung des wissenschaftlichen Geistes, die Canguilhem zitiert (Canguilhem 979a, 0), gibt Bachelard über diese Differenz Rechenschaft: „Hier wird sichtbar, was die Arbeit des Epistemologen von der des Wissenschaftshistorikers unterscheidet. Der Wissenschaftshistoriker muß die Ideen als Tatsachen nehmen. Der Epistemologe muß die Tatsachen als Ideen nehmen, indem er sie in ein Denksystem einfügt.“ (Bachelard 987, )

„Die Tatsachen als Ideen nehmen“: Dies kann nur bedeuten, die Investitionen (oder besser: Interventionen) herauszustellen, die eine Wissenschaft durchführt, wenn sie Sachverhalte auf Begriffe bringt. Gegenstand der Epistemologie sind die diskursiven und technischen Zurichtungen, die Objekte von dem Zeitpunkt an erfahren, da sie als Forschungsobjekte traktiert werden; die Epistemologie hat also einen Blick für den Wechsel der „Bedingungen für das Erscheinen von Begriffen“ (Lecourt 97, 62; Hervorhebung i.O., T. E.). In der Epistemologie wird somit eine zweite Ebene von Geschichtlichkeit durchsichtig: Diejenige Geschichtlichkeit, der die Wissenschaften selbst dadurch unterliegen, dass sie „ihren“ Gegenständen eine Geschichte einprägen, sie in eine Geschichte (einen Experimentalzusammenhang, eine Forschungshypothese, ein Narrativ) einbetten. Insofern bildet die Epistemologie einen Standpunkt, der innerhalb der Wissenschaftsgeschichte bezogen werden muss, will man plausibel machen, was die Geschichtlichkeit der Wissenschaftsgeschichte selbst fundiert7. Diese Überlegungen lassen den Riss zwischen Bachelards und Canguilhems Varianten von Epistemologie erkennen. Bachelards Konzeption scheint sich am treffendsten als „Epistemologie“ ansprechen zu lassen. Sie folgt der Prämisse, Tatsachen als Ideen, als Realisationen rationaler Programme, als reifizierte Theoreme zu sehen. Die Epistemologie zieht historische Tatsachen auf ihre interne Normativität hin in Betracht. Demgegenüber tritt Canguilhem als Vertreter einer „Historischen Epistemologie“ auf76: Und zwar deshalb, weil Canguilhem, Bachelard überbietend, nach der immanenten Normativität

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„Bachelard continue à utiliser le vocabulaire de la psychologie et de l’interpsychologie pour exposer un rationalisme de type axiologique. Le Sujet divisé dont il présente la structure n’est divisé que parce qu’il est Sujet axiologique.“ Siehe Rheinberger 200c, 229: „Es muß eine dritte Ebene der Objektformation eingeführt werden, um der Tätigkeit des Historikers mit der ihr eigentümlichen epistemologischen Dimension gerecht zu werden.“ Es kann also durchaus einen Typ von Wissenschaftsgeschichte geben, der das Instrument der Epistemologie nicht zum Einsatz bringt: Einen auf große Kontinuitäten bedachten Positivismus, bei Meyerson etwa oder bei Comte. Aber es kann keine Epistemologie ohne Wissenschaftsgeschichte statt finden: Die Epistemologie ist – als Aufweis der rationalen Idee in der historisch registrierbaren Tatsache – eine Form der Kritik, die immer nur dort zum Zuge kommt, wo man Wissenschaftsgeschichte betreibt. Mit dieser Unterscheidung möchte ich eine von Lecourt vorgeschlagene prominente Aufteilung modifzieren. Siehe Lecourt 97, : „Das Anerkennen der Geschichtlichkeit (Historizität) des Gegenstandes der Epistemologie verlangt eine neue Konzeption von Wissenschaftsgeschichte. Die Epistemologie von Bachelard war historisch; die Wissenschaftsgeschichte von George [sic] Canguilhem ist epistemologisch. Beide stellen in unterschiedlicher Weise die revolutionäre Einheit zwischen Epistemologie und Wissenschaftsgeschichte her.“ [Hervorhebung i.O., T. E.]

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fragt, die auf der „dritten Ebene der Objektformation“ (Rheinberger), nämlich der Epistemologie selbst, akut wird. Das Problem lautet, die Normen dessen auszuweisen, der in einem ersten Schritt das Wissen durch den epistemologischen Bruch bestimmt und in einem zweiten Schritt die Geschichte der Wissenschaften als Prozess von Umwertungen und Umschriften betrachtet. Indem Canguilhem die Epistemologie auf sich selbst anwendet, forciert er das Problem einer Geschichtlichkeit, die auch noch der Aktivität des Epistemologen, nicht nur der des Wissenschaftlers, inhäriert. Bachelard unterstellt eine Art intime, „philosophisch nicht ausweisbare“ (Artmann 2000a, 39) Koevolution zwischen der Rationalität der modernen Wissenschaften und der Rationalität des Epistemologen77. Dagegen versucht Canguilhem, die bei Bachelard unplausible Mimesis des wissenschaftlichen Wissens durch das epistemologische Wissen mit Hilfe einer Theorie der Normen zu differenzieren und damit das Problem des Wissens und der Erkenntnis im Ganzen neu zu denken78.

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Lecourt sieht eine „Umkehrung“ (ebd., 6) zwischen Bachelards „historischer Epistemologie“ und Canguilhems „epistemologischer Wissenschaftsgeschichte“ und suggeriert damit eine m.E. überzogene systematische Differenz. Während Bachelard „das Komplexe, Widersprüchliche, […] die Wiederholungen und Verbesserungen“ (ebd., ) des Wissensprozesses aufgewiesen habe, gehe es Canguilhem darum, „die Probleme so herauszukristallisieren – aufzudecken und zu analysieren –, wie sie aufgeworfen oder umgangen, in der wirklichen Praxis der Wissenschaftler gelöst oder aufgelöst werden“ (ebd., 6). Beide Autoren exponieren die Normativität, die jede regionale Wissenschaft immer wieder neu auf die Produktion ihrer eigenen Begriffe verwendet. Diese diskontinuierliche Dialektik werde von Bachelard eher „konstatiert“ (ebd., 9), von Canguilhem hingegen in ihren konkreten Genesen rekonstruiert, also durch eine genuin epistemologische Kritik erfasst (ebd., 6). Im Übrigen begründet Lecourt seine These von einer „Umkehrung“ Bachelards durch Canguilhem mit folgender Anekdote: Als er seine Magisterarbeit über Bachelard anfertigte, habe Lecourt gegenüber Canguilhem, der die Arbeit betreute, erwähnt, er wolle Bachelards Ansatz als „historische Epistemologie“ definieren. Canguilhem habe darauf geantwortet, es handle sich eher um eine „epistemologische Historie“. Siehe Gayon 998, 307. Mir scheint, dass Canguilhem weniger die Umkehrung der Konzeption Bachelards vollbracht hat als deren kritische Verschärfung. Von einer Verschärfung lässt sich sprechen, insofern Canguilhem das Problem der Normen auch für den Standpunkt aufwirft, auf dem Bachelard steht: Für den Standpunkt des epistemologisch verfahrenden Wissenschaftshistorikers nämlich, der die normative Produktion von Begrifflichkeiten in den Wissenschaften untersucht. Für eine analoge skeptische Sicht auf die von Lecourt behauptete Fundamentaldistanz zwischen Bachelard und Canguilhem siehe auch Grond-Ginsbach 996, 20. Siehe auch Lecourt 97, 0: „Ein typisches und entlarvendes Vorgehen: er [Bachelard, T. E.] schiebt also hier der Wissenschaft selbst die Aufgabe zu, die philosophischen Kategorien zu liefern, um seine eigene Tätigkeit zugleich überdenken und klären zu können. Damit verabschiedet er jede schon konstituierte Philosophie und baut sich eine Epistemologie zurecht, die vielleicht nicht gerade der „Pleonasmus der Wissenschaft“ ist, so doch nicht mehr als … deren Metapher.“ [Hervorhebung i.O., T. E.] Siehe Canguilhem 979c, 3: „Die Geschichte nach der epistemologischen Methode des Rückgriffs ist auf der einen Seite in der Lage, einer Form von Wissenschaftsgeschichte Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die sie weder verdammt noch ausschließt, da sie doch – freilich auf einem anderen Abschnitt der Diachronie – nachahmt. Ist sie aber auf der anderen Seite aufgrund ihrer Konzepte und Normen auch imstande, deren mögliche Überschreitung vorwegzunehmen und zu begründen?“

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Nachdem nun die relevantesten impliziten und indirekten Kritikpunkte Canguilhems gegen Bachelard schematisch geschildert sind, lässt sich das Ausmaß der Überlegungen absehen, die Foucault Canguilhem gewidmet hat79. Foucault stützt seine These, Canguilhem habe durch seine Konzentration auf die Geschichte der Medizin und der Biologie „nicht bloß ein relativ vernachlässigtes Gebiet aufgewertet [bzw.] bloß das Feld der Wissenschaftsgeschichte erweitert“ (Foucault 988, 60), sondern „die Disziplin selbst an mehreren wesentlichen Punkten umgearbeitet“ (ebd.), auf eine frappierende Begründung: „Wenn der große cartesianische Bruch die Frage nach den Beziehungen zwischen Wahrheit und Subjekt aufgeworfen hat, so hat das 8. Jahrhundert die Frage nach den Beziehungen der Wahrheit und des Lebens gestellt, die in der Kritik der reinen Vernunft und in der Phänomenologie des Geistes ihre ersten großen Formulierungen gefunden haben. Ein Schwerpunkt der philosophischen Diskussion ist seither die Frage: Ist die Erkenntnis des Lebens nichts weiter als eine der Regionen, in denen das allgemeine Problem der Wahrheit, des Subjekts und der Erkenntnis auftritt? Oder zwingt sie zu einer anderen Formulierung dieser Frage? Muß nicht die ganze Theorie des Subjekts neu gefasst werden, wenn die Erkenntnis – anstatt sich der Wahrheit der Welt zu öffnen – eher in den ‚Irrtümern‘ des Lebens wurzelt? (…) Man versteht, warum das Denken von G. Canguilhem, seine Arbeit als Historiker und Philosoph, in Frankreich ein so entscheidendes Gewicht für alle die gehabt hat, die von unterschiedlichen Gesichtspunkten aus die Frage des Subjekts neu zu denken versucht haben. Die Phänomenologie hat zwar den Körper, die Sexualität, den Tod, die Wahrnehmungswelt in das Feld der Analyse eingeführt. Aber das Cogito blieb zentral und wurde weder von der Rationalität der Wissenschaft noch von der Spezifizität der Wissenschaften vom Leben in seiner Begründungsrolle beeinträchtigt.“ (Ebd., 67)

Foucault positioniert das Vorhaben Canguilhems im Gefolge eines veritablen Großereignisses der Philosophie, nämlich der Wende von den Beziehungen zwischen Wahrheit und Subjekt (Descartes) zu den Beziehungen zwischen Wahrheit und Leben (Kant, Hegel). Zunächst hatte Bachelards „non-cartésianisme, (…) non-kantisme“ (Canguilhem 99a, 20) insofern die entscheidende „Problemumkehr“ (Rheinberger 2007, ) erbracht, als dass er an die Stelle der im Erkenntnissubjekt fundierten „Reflexion des Verhältnisses von Begriff und Objekt […] die Reflexion des Verhältnisses von Objekt und Begriff [rückte], die am zu erkennenden Objekt ansetzt“ (ebd.). So, wie Foucault die Lage darstellt, geht Canguilhem über den Strukturalismus Bachelards dadurch hinaus, dass seine Verlagerung auf die Geschichte der Biowissenschaften einen radikal geänderten Typ der connaissance ans Licht bringe, der mit einer nicht mehr an das cogito gebundenen Neufassung des Problems der Wahrheit zusammenhängt. Man kann Foucaults Diagnose, Canguilhems Standpunkt sei in den Ausläufern der historischen Umwendung vom Subjekt zum Leben angesiedelt, teilen, ihrer Begründung und ihren Konsequenzen jedoch widersprechen80. Zustimmen kann man Foucaults Ein79

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Gemeint ist die Einleitung Foucaults zur 978 erschienenen amerikanischen Übersetzung von Le normal et le pathologique (hier: Foucault 2003b). Ich beziehe mich auf die revidierte Version dieses Textes: Das Leben: die Erfahrung und die Wissenschaft (98) (hier: Foucault 988). Genau diese Strategie steht im Zentrum der Texte Ugo Balzarettis. Siehe Balzraretti 200b und 200c. Balzaretti sieht in der zitierten Foucault-Passage zu Canguilhem „eine meisterhafte Übung in der Kunst, wie man die Philosophie anderer für sich gewinnt und zugleich eine vorbildliche Ausübung akademischen Takts“ (Balzaretti 200c, 3).

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druck, dass Canguilhem dem Lebendigen unter den Gegenständen wissenschaftlicher Erkenntnis eine unvergleichliche Stellung beimisst. Das Wissen vom Leben repräsentiert bei Canguilhem nicht einfach eine Region innerhalb des mechanistischen Wissens, sondern es verweist auf eine Transformation, mit der sich die Bedingungen des Erkennens selbst verwandeln. Wenn aber dasjenige Wissen, dessen korrelativer Gegenstand das Lebende ist, nicht länger mit der mathesis des Mechanismus zusammenfällt, so ist damit noch nicht gesagt, dass es sich ohne Weiteres mit dem strukturalistischen Wissen par excellence, mit einem Wissen ohne Subjekt und Bewusstsein, deckt. Gerade Bachelards strukturalistische Abkehr vom Pol des Bewusstseins, die aus dem Geiste der Negation des Subjektiven eine „Philosophie des Wissens, der Rationalität und des Begriffes“ (Foucault 988, 3) proklamiert, wird bei Canguilhem einer dialektischen Kritik unterzogen8. Für Canguilhem ist, wie sich noch zeigen wird, in Rücksicht auf das Problem des Lebendigen nicht die Zurückweisung des cogito markant, sondern eine spezifische Neuverankerung von Subjektivität. Er weist, von hier aus gesehen, nicht nur die „Differenz des Lebens und der Materie als wissenschaftliche Gegenstände“ (Balzaretti 200c, ), und auch nicht bloß die „Differenz der Wissenschaft des Lebens gegenüber der Wissenschaft der Materie“ (ebd.) aus. Sondern Canguilhem elaboriert eine Differenz, „die zwischen einer lebendigen Wissenschaft besteht, deren korrelativer Gegenstand Materie, und einer lebendigen Wissenschaft, deren korrelativer Gegenstand Leben ist“ (ebd.; Hervorhebungen i.O:, T. E.)82. Die Schlüsselstruktur von Canguilhems Historischer Epistemologie der Biowissenschaften ist eine „lebendige Wissenschaft, deren korrelativer Gegenstand Leben ist“ (Balzaretti). Wie Plessner, aber unter heterogenen Voraussetzungen und mit einer radikal anders ansetzenden Intention, gibt Canguilhem der Relation zwischen Wissen und Leben die Wendung eines lebendigen Wissens des Lebens. In Absetzung von Foucault lässt sich die These formulieren, dass Canguilhem mitnichten eine „Philosophie des Sinns, des Subjekts und des Erlebnisses“ (Foucault 988, 7) durch eine „Philosophie des Irrtums, des Begriffes des Lebewesens als eine andere Annäherung an die Idee des Lebens“ (ebd., 7f.) 8

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Die Argumente dieser dialektischen Kritik sind in diesem Kapitel versammelt worden: Zum einen geschieht bei Bachelard der epistemologische Bruch mit der unmittelbaren Anschauung selbst unvermittelt. Er gibt einer negativen Dialektik der Hindernisse und Unterbrechungen statt, wodurch die vermittelnde (nicht nur vermittelte) und aktive Funktionsweise der Gegenstände (der Objektivität) unterschätzt wird. Wenn Bachelard die sinnliche Unmittelbarkeit deshalb disqualifiziert, weil nicht sein kann, was nicht sein darf – nämlich die Selbstverzögerung der modernen wissenschaftlichen Rationalität –, so beruht dieses Argument auf einem dialektischen Defizit. Zum anderen weist Bachelard die normative Dynamik der Wissenschaften auf, ohne die Normen, die er für diesen Aufweis als Epistemologe selbst in Anspruch nimmt, einholen zu können. Weil bei ihm das Problem der Normativität unterdeterminiert bleibt, gelingt es Bachelard nicht, die Differenz der Referenzebenen von Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaften begreiflich zu machen. Siehe ebd., : „Wird diese dritte Differenz (…) übersehen oder gar verschwiegen, dann ist es nicht mehr zu verstehen, wieso nach Canguilhem die Biowissenschaften und mit ihr [sic] eine biologische Philosophie zugleich auch ins Feld einer Philosophie des Sinnes, der Erfahrung und, wenn nicht des Subjekts, zumindest der Subjektivität im Sinne einer zentrierten und reflexiven Struktur, notwendig fallen müssen. Canguilhems Werk ist ebenso wenig ohne Bezug auf Bergsons Philosophie des données immédates de la conscience (der unmittelbaren Bewusstseinstatsachen, so lautete belanntlich der Titel von Bergsons Abhandlung) als ohne Bachelards und Cavaillès’ spinozistische Begriffsphilosophie zu verstehen.“ [Hervorhebungen i.O. T. E.]

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substituiert hat. Eher geht es um eine Theorie, welche diese beiden gegenläufigen Stränge verschränkt – um einen vitalen Rationalismus83. Im Mittelpunkt dieses Projekts steht das Motiv des Lebendigen als eines in sich zentrierten, normativ agierenden Subjekts8. Im Rückgriff auf die dreifache Differenz, die Balzaretti gegen Foucault stark macht, möchte ich in den folgenden Kapiteln jene drei Fragen auseinander legen, an denen sich auch die Plessner-Lektüre im ersten Teil orientiert hat: Welchen Unterschied zieht Canguilhem zwischen Natur und Leben? Wie ist ein Wissen vom Leben begründbar, das nicht mit dem mathematisierbaren Wissen der Naturwissenschaften zusammenfällt? Auf welche Art wird das lebendige Wissen des Lebens entwickelt – ein Wissen, das auf lebendige Dinge als Objekte referiert und zugleich den Ausdruck eines lebendigen Subjekts darstellt? Dabei stoßen die kommenden Ausführungen auf ein methodisches Problem: Sie müssen sich zum einen auf die Herausarbeitung von Fragen und Antworten beschränken, die für den spezifischen Ansatz Canguilhems kennzeichnend sind. Diese sind gerade nicht die bereits rekonstruierten Fragen und Antworten Plessners. Zum anderen dürfen die relevanten Begrifflichkeiten Plessners aber auch nicht zu sehr in den Hintergrund treten. Würden sie erst in der Zwischenbilanz wieder in Erinnerung gebracht, so klaffte, auf die Proportionen der Untersuchung im Ganzen gesehen, eine zu große Lücke zwischen ihnen und den Begrifflichkeiten Canguilhems. Aus diesem Grund wird eine allusorische Technik eingesetzt: An den Punkten der Canguilhem-Lektüre, die eine Bezugsmöglichkeit zu Plessner bieten, fließen Beschreibungen ein, die Ähnlichkeit mit den im PlessnerKapitel verwendeten Beschreibungen besitzen. Dieses Verfahren lässt Vergleichbarkeiten anklingen, konzentriert sich aber doch darauf, den Denkansatz Canguilhems sachlich völlig unabhängig von Plessner zu rekonstruieren, was zugleich dem historischen (Nicht-) Verhältnis dieser beiden Autoren angemessen ist. Die sich anschließende Zwischenbilanz wird die suggerierten Nähen sodann in einer umfassenden Gegenüberstellung ausdrücklich machen, um desto schärfer die Inkongruenzen einzusehen.

2. Feinabstimmung: Der in sich gebrochene Standpunkt der Historischen Epistemologie bei Georges Canguilhem Liest man Canguilhem als reinen Historiker der epistemologischen Brüche, entziehen sich der polemische Sinn und die argumentative Funktion der Philosophie vitaler Normen und Werte, die er vor allem in Das Normale und das Pathologische exponiert hat8. Wer 83

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A Vital Rationalist: Selected Writings from Georges Canguilhem lautet der Titel eines von François Delaporte 2000 für den amerikanischen Markt herausgegebenen Readers (Delaporte 2000). Delaporte (Hrsg.): A Vital Rationalist. Selected Writings from Georges Canguilhem. New York 2000. Siehe dazu Rabinow 2000, 7 bzw. 9: „Rather, Canguilhem’s tightly written didactic forays display how the life sciences, including the therapeutic ones, have simultaneously elaborated concepts of life and the ways these concepts must be seen as an integrated part of the phenomenon under study: life and ist norms. […] Reason and life are intertwined, not opposed, but neither legislates the other.“ Solche Lesarten finden sich bei Artmann 2000a, 2ff.; Dosse 998, ; Davidson 2003. Auch Bruno Accarino verkennt eklatant die systematische Bedeutung Canguilhems für eine Neudiskussion des Lebensbegriffs, wenn er behauptet, dass „eine Verbindung der Lebensphilosophie

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umgekehrt Canguilhem als Lebensphilosophen à la Bergson rezipiert86, wird den spezialistischen Ton seiner nüchternen Traktate befremdlich finden, in denen der Autor wie selbstverständlich unter Voraussetzung minuziöser Kenntnisse zwischen philosophiegeschichtlich klassischen Problemen und technischen Details naturwissenschaftlicher Analysen hin und her springt. Gegenüber diesen Extrempositionen ist es entscheidend, auf dem in sich gespannten, doppelseitigen Zugang Canguilhems zu insistieren87. Canguilhem nähert sich den lebendigen Phänomenen konsequent unter den Gesichtspunkten begrifflicher Regime bzw. „Phänomenotechniken“ (Bachelard). Sein Blick gilt den diskursiven Überformungen und technischen Mediatisierungen, in denen das Lebendige historisch auftaucht: als Gegenstand einer Wissenschaft, als problematisches Element der Klinik, als Bezugsobjekt einer technischen Praxis. Doch gewinnt Canguilhems Konzeption ihren originalen Zug erst dadurch, dass sie gegen Bachelards epistemologischen Bruch das Moment „einer lebendigen Subjektivität als sinngebendes Bezugszentrum“88 rehabilitiert. Auf diese Weise widersetzen sich die vitalen Phänomene ihrer begrifflichen Erfassung; sie sorgen für Friktionen in den Begriffsbestimmungen und für Interferenzen in den Techniken, die ihrerseits den prekären Umgang mit dem Lebendigen stabilisieren sollen89.

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[Plessners, T. E.] mit der gegenwärtigen lebenswissenschaftlichen, biopolitischen und biotheoretischen Debatte, und insbesondere mit dem Nachlass von Michel Foucault“ (Accarino 2008, 2) wenig lohne, da Foucault „sehr stark an die französische wissenschaftstheoretische Tradition – von Canguilhem zu Bachelard – gebunden“ (ebd., 22) sei. Accarinos leichthin vorgenommene Nivellierung der von ihm erwähnten Autoren bestätigt meine These von einer bedauerlichen Ignoranz der Plessner-Forschung gegenüber Canguilhems Ansatz. Ironischerweise legt man innerhalb der Plessner-Community gesteigerten Wert auf eine Differenzierung zwischen den traditionell zusammen aufgezählten Autoren Scheler, Plessner und Gehlen; aber das Gespür für historische und systematische Feinabgrenzungen innerhalb einer „Denkrichtung“ scheint nicht ohne Weiteres in der Rezeption fremder Traditionen zu funktionieren. In eine solche Richtung tendieren die Arbeiten von Muhle 2008; Borck 2007; Wolfe 2007; Rolf 2006; teilweise auch Dagognet 997. Auch Jean-François Braunstein setzt in seiner Rekonstruktion des „style français“ (Braunstein 2002, 920 und passim) der Epistemologie „un accent particulier (…) sur l’œuvre de Canguilhem, à la fois parce qu’elle est historiquement centrale, et aussi parce que, comme l’a montré François Dagognet, elle oscile entre les ‚deux pôles‘ que représentent son maître Bachelard et son disciple Foucault, entre l’institution et la contestation, entre le ‚positif‘ et le ‚négatif‘, ‚la rationalité et le nietzschéisme‘ (…). En ce sens Canguilhem illustre parfaitement les diverses possibilités, ou, si l’on préfère, les diverses tentations de l’épistémologie française.“ (Ebd., 92) Balzaretti 200a,; siehe eine ähnliche Stelle bei Gérard 200, 9. An exponiertem Ort hat Canguilhem diesen Konflikt wie folgt auf die Spitze getrieben: Die Biologie analysiert materielle Formen, das Leben aber ist in erster Linie nicht Form, sondern die prozessuale „Formierung von Formen [formations des formes]. Das Leben ist eine Ganzheit nicht im analytischen, sondern synthetischen Sinne: Organische Veränderungen sind holistische Veränderungen, Neuorientierungen, die nicht die Summe von Teilen, sondern den Organismen als eine sinn-und einheitsstiftende Totalität, betreffen. Siehe Canguilhem 2009, 9: „Das Leben ist Herausbildung von Formen, die Erkenntnis ist Analyse geformter Materie. Es ist normal, dass eine Analyse niemals über den Prozess der Formierung Rechenschaft ablegen kann und dass man die Originalität der Formen aus dem Blick verliert, wenn man sie bloß als Resultate sieht, deren Komponenten man zu bestimmen trachtet. Da die lebendigen Formen Ganzheiten sind, deren Sinn in dem Streben liegt, sich als solche im Laufe der Konfrontation mit ihrem Milieu zu

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Durch die Eintragung einer Unbestimmtheit, die für das Gegenstandsfeld der biowissenschaftlichen Rationalität konstitutiv ist, sprengt Canguilhem das Erbe Bachelards. Er zeigt, dass sich im Prozess der Konzeptualisierung des Lebendigen die Grundbewegung von Leben überhaupt, nämlich die Bestimmung einer Umwelt nach eigenen Normen, aktualisiert90. Canguilhems Strategie erscheint in einem Horizont, in dem uns, wenngleich mit ganz anders gelagerten Ausgangsfragen, Intentionen, Methoden und Schlussfolgerungen, bereits Plessner begegnete: Auch Canguilhem bringt ein lebendiges Wissen des Lebens zur Entfaltung, auch er beschreibt eine signifikante Doppelstellung, wonach das Leben Objekt und Subjekt eines Wissens ist, das ihm allein zukommt9. Bei tiefer gehender Beschäftigung mit Canguilhems Schriften kann man zu dem Schluss kommen, dass seine biologische Philosophie92 drei zeitlich und sachlich heterogene Stränge93 aufweist, die nicht unbedingt von einem durchgängigen Thema geeint werden.

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verwirklichen, können sie nur in einer Vision, einer Zusammenschau, niemals durch Division, durch Zerteilung, erfasst werden.“ Siehe Balzaretti 200a, : „Die zentrale Frage seiner [Canguilhems, T. E.] Philosophie, deren Antwort ihn erst in die Lage versetzen könnte, dem Projekt einer solchen ‚fröhlichen Wissenschaft‘ gerecht zu werden, wird sodann die nach den Verhältnissen zwischen, einerseits, dem axiologischen Primat, den er einer lebenden und leidenden Subjektivität in ihrem Verhältnis zum Milieu zuerkennt, und andererseits der entgegengesetzten Bewegung eines epistemologischen Bruchs mit der Unmittelbarkeit der subjektiven Erfahrung, in der er mit Gaston Bachelard die Zugangsschwelle zur Wissenschaftlichkeit sieht. (…) Um diesen potentiellen Konflikt zu lösen, versucht er vor allem seine Richtung zu bestimmen: der Gegenstand der Biologie, das Leben als dynamische Wertpolarität, steht nicht in Gegensatz zur Erkenntnis an sich, sondern zu einer Theorie der Erkenntnis, ‚qui procède de la connaissance à la chose‘ (Études d’histoire et de philosophie des sciences, 966).“ Siehe bezogen auf Canguilhems Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert Schmidgen 2007, 22: „Read from an epistemological perspective, the reflex book confronts us with the formation of concepts as a process not any more tied to subjectivity and/or experience, but to life itself. When Canguilhem speaks about the ‚formation of concepts‘, this can be taken in a biological sense. The formation of concepts only seems to take a one-way street: from the subject to the relation between subject and object. In reality, it follows both ways, at least in the case of biology. It also goes from the object to the relation between object and subject. Life produces forms that prepare, that approach the formation of concepts. Long before life scientists start to grasp phenomena by means of technological analogies, long before they come up with drawings that allow for serialization and comparison, life manifested itself in a similar manner. In this sense one could probably speak indeed of ‚structuralism‘ with regard to Canguilhem, a structuralism that reconnects human knowledge to the evolving structures of life. This ‛biological structuralism’ should prompt further investigation of the role of living forms in the formation of scientific concepts.“ Siehe in diesem Sinne Gayon 998 und Wolfe 2007. Demnach hat Canguilhem erstens in Das Normale und das Pathologische (93) eine Philosophie der Medizin entworfen, zweitens mit La Connaissance de la vie (92) und Die Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18 Jahrhundert (9) Studien zur Geschichte der Biologie vorgelegt und drittens in Études d’Histoire et de Philosophie des Sciences (968) sowie in Idéologie et Rationalité dans l’Histoire des Sciences de la Vie (98) eine Historische Epistemologie durchgeführt, die Wissenschaftsgeschichte, Philosophiegeschichte und eine kritische Epistemologie Bachelardscher Provenienz rekombiniert. Dazu Dagognet 98, Une Oeuvre en Trois Temps. In: Revue de Métaphysique et de Morale 90 (1985), S. 29–38. Im Anschluss an Dagognet siehe Gayon 998, 306f.

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Zunächst ist es unumgänglich, die Originalität von Canguilhems thèse im Fach Medizin, Das Normale und das Pathologische (93), herauszustellen. Dieses Buch elaboriert Canguilhems zentrale Unterscheidung zwischen Normalität und Normativität – jene Unterscheidung, die, wie sich bald verdeutlichen wird, Canguilhems Äquivalent für eine absolute Trennung zwischen Natur und Leben repräsentiert.

3. Broussais, Comte, Bernard: Canguilhems Kritik am Modell der Kontiuität von Normalem und Pathologischem Die 97 erschienene deutsche Erstausgabe von Das Normale und das Pathologische (Canguilhem 97) gleicht der 966 in Frankreich veröffentlichten dritte Auflage, welche die sogenannten Neuen Überlegungen zum Normalen und zum Pathologischen (963– 966) mit enhält. Die Textgliederung dieser erweiterten Fassung vermittelt eine erste Ahnung der Argumentationsstruktur: Die ursprüngliche Abhandlung von 93 verfügt über zwei Teile. Der erste Teil hat den Titel Ist der pathologische Zustand nur eine quantitative Abweichung vom Normalzustand? (S. 9–72) und umfasst, nach einer „Einführung in das Problem“ (9–2), unter anderem einen Abschnitt über „Auguste Comte und das „‚Broussais’sche Prinzip‘“ (2–38) sowie einen weiteren Abschnitt über „Claude Bernard und die experimentelle Pathologie“ (38–7). Der zweite Teil der Untersuchung lautet: Gibt es Wissenschaften vom Normalen und vom Pathologischen? (73–6), wobei, wiederum im Anschluss an eine „Einführung in das Problem“ (7–8), vor allem die Abschnitte „Kritische Prüfung einiger Begriffe: das Normale, die Anomalie und die Krankheit; das Normale und das Experimentelle“ (8–00) bzw. „Krankheit, Genesung, Gesundheit“ (00–2) auffallen. Im Appendix von 966 schließlich, den Neuen Überlegungen (9–202), zieht der Abschnitt „Die organischen Normen beim Menschen“ (78–9) besonderes Interesse auf sich. Diese Gliederung suggeriert zweierlei: Erstens scheint man mit einem historischen Part rechnen zu können, dem ein systematischer Part mit positiven Definitionen folgt. Eine Zweiteilung zwischen der Darstellung kritikwürdiger Auffassungen über das Begriffspaar normal/pathologisch einerseits und der Absicherung einer eigenen Konzeption andererseits zeichnet sich ab. Zweitens kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass hier zwischen den Domänen der Philosophie und der Medizin keine eindeutige Trennlinie verläuft. In der Tat ist es das erklärte Ziel Canguilhems, der Philosophie einen Gegenstand zuzuspielen, der ihr „fremd sein muß“ (ebd., ). Mehr noch: Wenn Canguilhem in der Einleitung schreibt, er sehe in der Medizin „eine Einführung in konkrete menschliche Probleme, [d.h.] eher eine Technik oder Kunst im Schnittpunkt verschiedener Wissenschaften als eine Wissenschaft im eigentlichen Sinne“ (ebd.), dann geht er so weit, Philosophie und Medizin einander zu assimilieren9. 9

Le Blanc spricht von einer „possible extension de la méthode médicale à la geste philosophique“ bei Canguilhem und zeigt, dass Medizin und Philosophie zwar Anleihen bei den Wissenschaften machen [„emprunter aux sciences“], aber auf dem Konkreten als einem Ungedachten [„impensé“] bestehen, das dem begrifflichen Denken gegenüber radikal heterogen bleibt [„radicalement hétérogène à la pensée“]. Siehe Le Blanc 998, .

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Von daher kann man das merkwürdige Arrangement von Methoden, das Canguilhem zu Anfang von Das Normale und das Pathologische entwirft, wie folgt lesen: Im Anschluss an Bachelard bezieht Canguilhem den methodischen Standpunkt der Historischen Epistemologie. Sofern Canguilhem diesen Ansatz auf das Feld der Medizin verlagert, fordert er jedoch der Epistemologie einen entscheidenden Schritt ab, durch den sich das Problem verändert. Denn epistemologisch lässt sich zwar durchaus eine Genealogie der Medizin als Wissenschaft nachzeichnen, und Canguilhem diskutiert von Broussais über Comte bis zu Bernard eine lange Tradition der Konzeptualisierung der Medizin als wissenschaftliches Projekt. Gleichwohl bestimmt Canguilhem seinerseits die Medizin nicht als Wissenschaft, sondern als „Kunst des Lebens“ (ebd., 82) bzw. als Technik9. Tatsächlich unterhält die Medizin, wenn ihr „Kernstück“ (ebd., ) in „Klinik und Therapie“ (ebd.) besteht, eine Allianz zur Philosophie, die enger und stärker ist als diejenige zu den Wissenschaften. Dadurch gibt Canguilhem seiner Epistemologie einen polemischen Schub: Die Konstitution der Medizin als Wissenschaft ist eine historische Realentwicklung des 8. und 9. Jahrhunderts, doch sie trägt, so Canguilhem, ein unaufgelöstes Problem in sich, einen strukturellen Irrtum, der sich in der Geschichte der Medizin als Wissenschaft fortlaufend reproduziert96. Ein weiterer Aspekt muss vorausgeschickt werden. Canguilhem versetzt sich und den Leser mit seiner These vom Primat der Klinik mitten in ein Dispositiv, das ganz auf den Menschen zentriert zu sein scheint. Das Normale und das Pathologische hebt auf einem

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Zur Verschränkung von Medizin und Philosophie siehe auch Debru 2007 sowie Pénisson 2008, z.B. 3. Siehe Canguilhem 97, 6: „Für die Medizin gilt dasselbe wir für alle Techniken. Sie ist eine Tätigkeit, die im spontanen Bestreben des Lebewesens wurzelt, die Umwelt zu beherrschen und sie nach ihm spezifischen Werten zu organisieren. Dieses spontane Streben verleiht der Medizin ihren Sinn, wenn nicht sogar jenen kritischen Scharfblick, der sie unfehlbar machen könnte. Eben deshalb verwendet die Medizin, obwohl sie selbst keine Wissenschaft ist, die Resultate aller im Dienste der Lebensnormen arbeitenden Wissenschaften.“ Wie noch zu zeigen sein wird, sieht Canguilhem diesen strukturellen Irrtum der Wissenschaft in einer Unterdeterminierung des Begriffs der Norm. Die in der Physiologie gebrauchte und von der Medizin importierte Kategorie des Normalen im Sinne eines messbaren Durchschnitts ist, so Canguilhem, derivativ gegenüber der „Vorstellung einer Norm im normativen Sinne“ (ebd., 8). Unter der Norm im normativen Sinne versteht Canguilhem eine vom lebendigen Organismus selbst durchgeführte „unbewußte Wertsetzung“ (ebd., 82). Canguilhem weist an Hand von André Lalandes Vocabulaire technique et critique de la philosophie (938) den „etymologischen Irrtum“ (ebd., 86) nach, auf den die Verkennung des Normbegriffs zurückdatiert: Man habe fälschlich einen Zusammenhang zwischen dem Substantiv „Anomalie“ und dem Adjektiv „anormal“ angenommen. Das (so Canguilhem) korrekte Adjektiv zu „Anomalie“ sei „an-omal“, die Negation des griechischen „omalos“ = gleichmäßig, eben, glatt. Von diesem semantischen Feld sei scharf der ursprüngliche Sinn von „norma“ = Regel, Richtmaß zu unterscheiden. Kurz gesagt: Was an der „norma“, der Regel, ausgerichtet ist, muss keineswegs „omalos“, also ebenmäßig und glatt sein. Eher lässt sich (nach Canguilhem) das, was im Sinne der „norma“ normal ist, als dasjenige verstehen, was ist, wie es sein soll. Das Normale verweist auf einen Wert, auf ein Ideal. Die Assimilierung von „(an)omalos“ und gr. „nomos“ = Gesetz habe diese Verbindung des „nomos“/der „norma“ mit der Wertdimension verstellt: Ein deskriptiver Ausdruck sei an die Stelle eines axiologischen Ausdrucks getreten. Siehe dazu ebd., 82ff.

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Gebiet von Tätigkeiten an, die, so scheint es, nur ad hominem Sinn gewinnen: Medizin, Wissenschaft, Philosophie, Technik97. Doch ganz analog zu seiner Argumentation, die das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Technik betrifft, nimmt Canguilhem zur Frage der Beziehungen zwischen spezifisch menschlichem und nicht spezifisch menschlichem Leben eine Haltung der Polemik ein. Der Anthropozentrismus ist zwar das historisch triumphale, aber in der Sache, d.h. für das Problem der Relation von Mensch und Leben, abgeleitete Modell. Polemik als Methode bedeutet bei Canguilhem zu zeigen, dass grundlegende Figuren der Moderne (der Mensch, die Mechanismus, die Wissenschaft) zu ihrer Konstitution gerade solche Kräfte (das Leben, den Organismus, die Technik) voraussetzen, deren Primat sie aberkennen. Die anthropozentrische Szenerie der Klinik und der Wissenschaften wird von Canguilhem auf einen Verkennungsfaktor hin freigelegt: Was der Anthropozentrismus verkennt, ist die Begrenztheit der Subjekte durch das Leben. Canguilhems eigenes Projekt beansprucht, die Biologie gegen die Anthropologie, das Leben gegen den Menschen (wieder) aufzuwerten. Wie bei Plessner geht es bei Canguilhem darum, die spezifische Verschränkung98 des Menschen in und mit der ambivalenten Dynamik des Lebens ernst zu nehmen, eine Dynamik, die den Menschen ebenso durchdringt wie sie ihn distanziert. Canguilhems Hauptanliegen ist, die in der Biologie und Medizin verwendete Unterscheidung zwischen dem Normalen und dem Pathologischen neu zu bestimmen. Er profiliert seinen eigenen Ansatz gegen die Positionen von François Broussais, Auguste Comte und Claude Bernard, wobei Comte und Bernard als „Bannerträger“ (ebd., 2) eines zuerst von Broussais etablierten „Dogmas“ (ebd.) vor Augen gebracht werden. Canguilhem skizziert den Kontext, in dem dieses Dogma oder Prinzip zu lokalisieren 97

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Bei Canguilhem begegnet man also den umgekehrten Fall zu der Strategie, mit der Plessner den Gedanken der exztenrischen Positionalität in den Stufen entfaltet. Zugespitzt kann man sagen, dass bei Plessner die spezifisch menschlichen Interaktionen zu Beginn seiner Argumentation überhaupt nicht explizit sind, wohingegen sie bei Canguilhem als allzu explizit, allzu selbstgewiss erscheinen: Plessners anfänglicher Unterdeterminierung der Eigenheit menschlichen Lebens (aus Gründen der Methode) steht Canguilhems Überdeterminierung menschlicher Verkehrsformen gegenüber. Beide Autoren treffen sich jedoch darin, in die Bilder, die am Anfang ihrer jeweiligen Bücher stehen, ein Moment der Desautomatisierung einzuführen: Plessners „Wende zum Objektpol“ ist nur scheinbar voraussetzungslos und erweist sich als die notwendige Folie, auf der das Problem des Lebens allererst verständlich gemacht werden kann. Und Canguilhem zeigt, dass die Verhältnisse, die auf einen Anthropozentrismus schließen lassen (Klinik), pirmär vitale Verhältnisse sind und nur forcieren, was sich als eine biologische Dynamik fassen lässt. An dieser Stelle verwende ich den Begriff der Verschränkung ausschließlich zur Feststellung eines vorerst recht losen Berührungspunktes zwischen Plessner und Canguilhem. Man hat dem Ausdruck der Verschränkung hier (noch) nicht den spezifischen Sinn beizulegen, den Plessner und Josef König ihm verliehen haben. Ganz im Gegenteil möchte ich hervorheben, dass es Canguilhem zwar auf die eigentümliche Stellung des Menschen im Leben ankommt, dass aber diese Stellung bei Canguilhem durch das Leben diktiert ist. Das Leben hat den Primat über das menschliche Subjekt, das nur Subjekt ist, indem es lebendes Subjekt ist. Eine solche Auslegung der Beziehung von Leben und Mensch lässt sich von Plessner her nicht mitmachen. Siehe programmatisch Canguilhem 2009c, 29: „Aus philosophischer Perspektive ist es weniger wichtig, die Maschine zu erklären, als sie zu verstehen. Und sie zu verstehen heißt, sie in die Geschichte der Menschen einzuschreiben, indem man die menschliche Geschichte ins Leben einschreibt, ohne indes zu verkennen, dass mit dem Menschen eine Kultur erscheint, die nicht auf die bloße Natur reduzierbar ist.“

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ist: Aus dem Geist der nosographischen Klassifikationen des 7. Jahrhunderts, die eine Taxonomie der Krankheiten zugänglich gemacht hatten, war zunächst die pathologische Anatomie Morgagnis (682–77) mit ihrer Korrelierung von Organverletzungen und Symptomgruppen hervorgegangen, und daraus, „seit Harvey und Haller“ (ebd., 2), eine allgemeine Physiologie, welche die Pathologie als einen ihr untergeordneten Zweig behandelte99. Für Canguilhem spitzt die Lehre Broussais’ diese Auflösung der Pathologie in Physiologie zu: „Den Schlußpunkt dieser Entwicklung bildet die Aufstellung einer Theorie des Verhältnisses von Normalem und Pathologischem, derzufolge die pathologischen Phänomene in lebenden Organismen nichts anderes sind als bloß quantitative Abweichungen (nach oben oder unten) von entprechenden physiologischen Phänomenen. […] Das Bedürfnis nach Wiedergewinnung einer Kontinuität – man will mehr erkennen, um besser eingreifen zu können – ist so stark, daß der Krankheitsbegriff sich vollständig zu verflüchtigen droht. Und die Überzeugung, mit wissenschaftlichen Mitteln das Normale wiederherstellen zu können, ist so mächtig, daß ihr schließlich das Pathologische zum Opfer fällt. Die Krankheit ist hier nicht länger Gegenstand der Angst für den gesunden Menschen, sie ist Forschungsobjekt für den Theoretiker der Gesundheit geworden. Im Pathologischen entziffert man nunmehr – wie unterm Vergrößerungsglas – die Wahrheit über den Gesundheitszustand …“ (Ebd., 2f.)

Canguilhem greift „die These von der substantiellen Identität der pathologischen und der entsprechenden physiologischen Phänomene“ (ebd., 2) scharf an, denn „Krankheiten sind somit nichts anderes als das Ergebnis bloßer Intensitätsveränderungen der zur Erhaltung der Gesundheit nötigen Reize.“ (ebd.). Folgt man dem Lehrsatz von Broussais, ist ein Organismus krank genau dann, wenn er ein Übermaß oder einen Mangel an Reizung, an Irritation, indiziert. Eine Krankheit liegt vor, sobald die Modifikation eines relativen Durchschnitts nach „oben“ oder nach „unten“ zu intensiv wird200. Dieses Prinzip hat eine wichtige Konsequenz, die Canguilhem klar benennt: Für Broussais ist der Zustand der Krankheit statistisch messbar, weil er ein faktisch feststellbares „Zuviel oder Zuwenig“ (ebd., 32) bezeichnet. Aus genau diesem Grund erklärt sich das von Broussais reklamierte Abhängigkeitsverhältnis der Pathologie von der Physiologie. Was nun Canguilhems Kritik an Broussais angeht, so genügt es vollauf, den entscheidenden Einspruch festzuhalten: Broussais, der „jede Differenz zwischen normalem und pathologischem Zustand in die Sprache der Quantität übersetzt“ (ebd., 33), vermengt Tatsachen mit Werten. In einer Logik des Zuviel oder Zuwenig ist der Mittelwert, an dem Über- und Unterschreitungen gemessen werden, stets mehr als ein Faktum: Wer darauf verweist, dass ein statistisch ermittelter Durschnitt das Niveau definiere, das für einen individuellen Organismus normal ist, bringt damit den erhaltens- und wünschenswerten Charakter dieses Durschnitts zum Ausdruck. Die Identifikation des Gesundheitszustands 99 200

Zu diesen Zusammenhängen siehe ebd., 20ff. Siehe ebd., 3: „Die Irritation ist nichts anderes als der ‚normale Reiz, verändert durch seine Übertreibung‘ (9: 300). So entzieht etwa der Erstickungsanfall durch das Ausbleiben sauerstoffhaltiger Luft der Lunge das normale Reizmittel. Umgekehrt wird durch eine zu sauerstoffhaltige Luft ‚die Lunge übermäßig gereizt, und dies um so stärker, je reizbarer dieses innere Organ ist; die Folge muß eine Entzündung sein (9: 282).‘“ [Die Zitate, die Canguilhem hier gibt, stammen aus: François-Joseph-Victor Broussais, De l’irritation et de la folie. Paris 828]

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des Organismus mit einer statistischen Größe impliziert die Auffassung, dass diese Größe für den betreffenden Organismus gut ist20. Der Antipode, gegen den Canguilhem in erster Linie anschreibt, ist jedoch weniger Broussais als der Hauptdenker des Positivismus: Auguste Comte202. Erst als Comte „das nosologische Prinzip Broussais’ in den Rang eines allgemeinen Axioms“ (ebd., 26) erhebt und eine systematische Universalisierung dieses Lehrsatzes formuliert, erhält die Theorie des Normalen, die Canguilhem mit seinem Buch auszuhebeln versucht, ihre Signatur. In der 0. Lektion seines Cours de philosophie positive facettiert Comte die von ihm beabsichtigte Weiterentwicklung des Broussais’schen Satzes. Für Comte ist wichtig, dass „le principe éminemment philosophique (…) de notre illustre concitoyen M. Broussais“ (Comte 97, 69), also das Verständnis des Pathologischen als eine graduelle Extension des Normalen, der Krankheit das Potential abspricht, etwas „wirklich Neues“ hervorbringen zu können [„un simple prolongement (…) sans pouvoir jamais produire de phénomènes vraiment nouveaux“, ebd]. Bei Broussais vollzieht sich, Comte zufolge, der Durchbruch der Biologie in ihr positives, verwissenschaftlichtes Stadium. Sie verschafft sich die Erkenntnis der invarianten Gesetze, denen organisierte Körper gehorchen. Wie Canguilhem unterstreicht, ist der Positivismus Comtes am „Ziel einer spekulativen Bestimmung der Gesetze des Normalen“ (Canguilhem 97, 22) ausgerichtet: Es gilt, eine jede Wissenschaft – Comte zählt Astronomie, Physik, Chemie, Biologie und Soziologie (sprich: „soziale Physik“) auf – bis zu dem Punkt zu treiben, an dem sie „enzyklopädisch“ wird, bis ein Ordnungsprinzip ermittelt ist, aus dem sich alle nur möglichen Beziehungen ihrer korrelativen Gegenstände gesetzmäßig ableiten lassen. In der Hierarchie der Wissenschaften, die Comte in seinem Cours entwirft, rangiert die Biologie höher als die Wissenschaften des Anorganischen (Astronomie, Physik, Chemie), aus denen sie sich zwar speist, die sie jedoch dank ihrer komparatistischen Methode auch überbietet203. Comte bestimmt die Biologie 20

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Ebd., 32: „Mehr noch als bei Comte fällt bei Broussais die Unbestimmtheit der Begriffe Übermaß und Mangel auf, ihr impliziter qualitativer und normativer Charakter, der durch ihren Anspruch auf Messbarkeit nur dürftig verdeckt wird. Denn Übermaß oder Mangel gibt es nur in bezug auf ein für gültig und wünschenswert erachtetes Maß, ergo in bezug auf eine Norm. Eine Definition des Anormalen durch das Zuviel oder Zuwenig anerkennt notwendig den normativen Charakter des normal genannten Zustandes.“ Siehe zu diesem Verhältnis Braunstein 200. Besonders hilfreich ist Braunsteins doppelte Aufmerksamkeit für die Geschichts- und die Lebensbegriffe bei Comte und Canguilhem, die jeweils eng zusammenhängen und den Antagonismus, der zwischen diesen beiden Autoren herrscht, erst klar machen. Während nämlich „Comtes Geschichte (…) ganz und gar statisch“ (ebd., S. 280) ist, versteht Comte unter Geschichte einen abenteuerlichen Prozess „der Annäherung von Verständnis von Wahrheit“, der „seine eigene Zeitlichkeit absondert“ (ebd., 28). In Comtes Hierarchie der Wissenschaften ist das Maß für die systematische Überlegenheit einer Wissenschaft die dialektische Reflexivität der Methoden. So internalisiert die Biologie das Methodenarsenal jener Disziplinen, die ihr untergeordnet sind: Visuelle Beobachtung (Astronomie), Experiment (Physik) und taxonomische Klassifikation (Chemie) gehen in die Biologie ein. Die – für Comte – überlegene Reflexivität der Biologie liegt darin, ontogenetische und phylogenetische Vergleiche durchführen zu können, bis sie letztlich die Gesetze eruiert, die das komplexe und schwer überschaubare Feld des Organischen strukturieren. Jede Naturwissenschaft bildet, Comte zufolge,

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als eine synthetische Wissenschaft von sich selbst organisierenden Phänomenen, deren enzyklopädische Integrität nur noch übertroffen wird von der „sozialen Physik“, also der Soziologie als Wissenschaft vom gesellschaftlichen Organismus und den partikularen Organismen, aus denen dieser komponiert ist20. Broussais’ Prinzip verspricht, so Comte, die Reduktion von Dynamik auf Statik und gibt Anlass zu dem berühmt-berüchtigten Hauptsatz des Positivismus, wonach Fortschritt nichts anderes sei als Entwicklung im Sinne der sukzessiven Ausfaltung von Ordnung. Die radikale Spitze, die Comte dem Kontinuitätsaxiom hinzufügt, schlägt indes erst in Comtes zweitem Hauptwerk, dem System der positiven Politik (80–8), zu Buche. Dort heißt es: „Broussais etablierte, dass die Phänomene der Krankheit im Wesentlichen mit denjenigen der Gesundheit, von der sie immer nur durch Intensität sich unterscheiden, koinzidieren. […] Das enzyklopädische Regime wird es [das Verfahren Broussais’, Anm. T. E.] vor allem auf die intellektuellen und moralischen Funktionen ausweiten, auf die das Prinzip Broussais’ noch nicht würdig angewandt wurde, so dass ihre Krankheiten uns in Erstaunen versetzen oder bewegen, ohne uns zu erhellen. (…) Über seine direkte Effizienz für die biologischen Fragen hinaus, wird es, im allgemeinen System der positiven Erziehung, eine glückliche logische Vorbereitung für die hinsichtlich der finalen Wissenschaft analogen Verfahren abgeben. Denn der kollektive Organismus weist wegen seiner höheren Komplikationen noch schlimmere, variiertere und häufigere Troubles auf als diejenigen des individuellen Organismus. Ich fürchte nicht, zu behaupten, dass das Prinzip von Broussais bis dahin ausgeweitet werden muss und ich habe es oft darauf angewandt, um die soziologischen Gesetze zu bestätigen oder zu vervollkommnen.“ (Comte 2007, 2f.)

Wenn die Biologie bei Broussais als eine Ordnungswissenschaft funktioniert, die sich um letzte und haltbare Fundamente der Lebensphänomene, um eine Art Statik des Organischen bemüht, so steht sie bei Comte im Dienst eines anthropozentrischen Herrschaftswissens: Die „soziale Physik“ mit ihrer Leitformel voir pour prévoir besiegelt diesen instrumentellen Dreh vom positiven Wissen zum politischen Dirigismus. Der Traum, dem Comte mit seiner szientistischen Freisetzung der Moderne aus Theologie und Metaphysik huldigt, ist die rationale Totalorganisation der biologischen und sozialen Natur durch den Menschen20. In Comtes anthropologischem Dispositiv206 geht demnach die Soziologie

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eine spezifische Methode heraus, die der betreffenden Wissenschaft ihren positiven Charakter sichert. Siehe dazu von Kempski 97, I–VII bzw. Comte 97, 30ff. In einem Text aus seinem 977 veröffentlichten Aufsatzband Idéologie et rationalité dans l’histoire des sciences de la vie: nouvelles études d’histoire et de philosophie des sciences behauptet Canguilhem, es sei Comte mit seiner These von der radikalen Differenz der Biologie um „la spécifité d’un objet d’investigation échappant à toute analogie essentielle avec l’objet des sciences de la matière“ gegangen. Comte konzipiere die Biologie als „la science abstraite d’un objet général, les lois vitales“ und zugleich als „science synthétique d’une activité fondamentale, la vie“. Siehe Canguilhem 99a, 6. Comte spricht offen davon, den Cartesianismus in die Konsequenz hinein zu treiben, die von Descartes selbst nicht mehr vorgesehen war: Eine Ausweitung der Wissenschaft de more geometrico in die Angelegenheiten der Politik und der Moral. Siehe Le Blanc 2002, 9: „Ce qui est exemplaire dans le raisonnement comtien, c’est que Comte, tout en maintenant l’analogie entre le vital et le social, entrevoit une particularité de la sociologie dans le dispositif anthropo-

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vor der Biologie in Führung. Die Kenntnis der Gesetze, die den Menschen als Lebewesen determinieren, setzt „als Ausgangspunkt oder Ziel oder beides“207 den Menschen voraus. Wissenschaftliche Einsichten (in Gesetze) ordnen sich dem Zweck politischer Voraussichten unter: Diese Umschichtung von der objektiven zur subjektiven Methode, die in der modernen Biologie systematisch realisiert wird208, stellt für Comte den vollen Ausdruck des positivistischen Geistes dar. Die politische Konsequenz der Soziologie als „sozialer Physik“ besteht genau darin, die Gesetze der Natur und des Sozialen zu fassen zu bekommen, um zukünftige Gesetze einrichten und Abweichungen vermeiden zu können. Das Subjekt des zu sich kommenden positiven Wissens aber kann nur das universale Kollektivsubjekt sein – die Menschheit im Ganzen209. Obwohl Comte einen Gedanken von Broussais aufgreift, wird das Problem, auf das sich Canguilhem konzentriert, erst bei Comte geboren. Comte feiert die Idee der Beherrschung der vitalen Normen durch die Wissenschaft (der Biologie), weil die Biologie in die Soziologie eingeordnet werden kann, wodurch sie dem Anthropozentrismus zum Sieg

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logique. (…) La sociologie est décrochée de la biologie par le fait que, contrairement à la biologie qui appréhende le pathologique comme variation quantitative du normal, les pathologies sociales peuvent fonctionner comme des altérations qualitatives, modifiant le rapport structural d’une société à elle-même et non seulement ses éléments constitutifs.“ Siehe die Anmerkung Jürgen von Kempskis in Comte 97, 3. Siehe Comte 2007, 7f.: „Jede Synthese muss subjektiv sein, da die Objektivität immer analytisch bleibt. […] Die anfängliche Subjektivität brauchte also nur relativ zu werden; aber diese radikale Transformation hat das ganze objektive Vorspiel, das sich allmählich seit Thales bis zu Bichat vollzog, erfordert. Denn dafür war es notwendig, das Studium der Naturgesetze vorherrschen zu lassen, das nur hinsichtlich der geringsten Phänomene beginnen konnte, aus denen es sich dann langsam zu den eminentesten ausweitete. Die Vollendung dieser riesigen Vorbereitung führt jetzt dazu, die wahre Subjektivität zu begründen, indem sie die Theologie durch die Soziologie ersetzt. (…) Die Objektivität, die nichts systematisieren konnte, tritt schließlich ihr charakteristisches Amt an, überall die Materialien der der Subjektivität vorbehaltenen Konstruktionen zu liefern. […] Bei den Modernen herrscht die Biologie unwiderruflich vor, indem sie an sich die Kosmologie als notwendige Einführung gemäß der finalen Oberherrschaft der erneuerten Subjektivität angliedert.“ Siehe Balzaretti 2007, 8: „As the law of constancy and homogeneity Broussais’s principle extends rational prognosis to the field of synthetic sciences and, consequently, allows the advent of a regime of volunteer modifications and regulations of vital and social phenomena. At the head of the league of living beings, will Humanity at its final stage lead the struggle against the kingdom of the inorganic, until negativity has been abolished by technique and the final victory of the subjective principle over the objective has been achieved.“ Unnötig zu erwähnen, dass Comtes anthropozentrische Utopie mit Hegels spekulativer Dialektik unverträglich bleiben und deren Kritik provozieren muss. Comte sieht keine Vermittlungsmöglichkeit mehr für die absolute Subjektivität, die im real existierenden Positivismus alle Dimensionen der Objektivität als begriffene in sich internalisiert. Hegels fiktiver Einwand gegen Comte müsste lauten, dass die „Wahrheit“, wie in der Phänomenologie des Geistes gezeigt, in der Vermittlung der komplexesten Subjektmodi mit den komplexesten Objektitätsstufen liegen muss. Diese Wahrheit übersteigt aber schlechthin den Horizont der Subjektivität; sie liegt im Prozess der Bewegung des Begriffs, worin sich der Geist selbst realisiert.

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verhilft20. Comtes Herrschafts- und Machbarkeitsphantasien verdeutlichen unverblümt den Vorteil, den es für den Menschen hat, Gesundheit und Krankheit als Kontinuum zu denken: Diese „Wahrheit“ entspricht dem eminent politischen Motiv, eine Ordnung zu errichten, die zwar graduell modifiziert, aber niemals überschritten, nie wirklich verändert werden kann2. In diesem Zusammenhang ist aufschlussreich, dass Canguilhem an Comtes Absicht zweifelt, eine „wechselseitige Erhellung des Normalen und des Pathologischen“ (Canguilhem 97, 29) zu signieren. Es gebe bei Comte eine nur halbherzig überspielte Präferenz für das Normale, das noch dazu nach dem Bild der Harmonie und damit ästhetisch gedacht werde (ebd.): Der ideale Zustand des gesellschaftlichen Organismus bestehe im Ausgleich der in ihm interagierenden Kräfte, so dass der Organismus durch möglicherweise eintretende Störungen nicht kollabiert, sondern sich über sie hinweg erhält22. Schließlich findet in Das Normale und das Pathologische noch eine dritte Gestalt kritische Erwähnung: Claude Bernard (83–878), der Begründer der experimentellen Pathologie, dessen Ruhm sich vor allem in der Entdeckung der digestiven Funktion der Bauchspeicheldrüse und der Regulation des Blutzuckergehalts durch die Leber begründet. Gegenüber Broussais und Comte markiert Bernard für Canguilhem eine Differenz: Während erstere die Auseinandersetzung mit dem Problem der Krankheit völlig umgangen hätten – in Comtes positivistischer Politik wird die Wirklichkeit des 20

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Neben Comte firmiert in Das Normale und das Pathologische Adolphe Quételet als ein Schlüsseltheoretiker des Positivismus des 9. Jahrhunderts. Tatsächlich lässt sich auf Comtes Denken übertragen, was Joseph Vogl zu Quételets Hauptwerk Physique sociale bemerkt. Siehe Vogl 200, 660: „Hier geht es um die Frage einer Physik der Gesellschaft, um die Frage also, welche stochastischen Prozesse in einer Gesellschaft stecken, was Ereignisse sind, die man erwarten kann, was Ereignisse sind, die mehr oder weniger wahrscheinlich sind.“ Siehe Canguilhem 97, 38: „Denn die mit Allgemeinheitsanspruch ausgestattete Behauptung, die Lebensphänomene würden durch die Krankheit nicht wirklich verändert, dient lediglich zur Rechtfertigung seiner These, dass die Therapie der politischen Krisen darin bestehe, die Gesellschaft auf ihre wesentliche und gleichbleibende Struktur zu reduzieren und Fortschritt nur innerhalb der Variationsgrenzen der durch die soziale Statik gebildeten Naturordnung zu tolerieren.“ Canguilhem bringt gegen gegen Comte zwei weitere Einwände vor. Zum einen sei „die eigentümliche Abstraktheit“ (ebd.) seines Umgangs mit Broussais’ Kontinuitätsthese auffällig. Weil ihm jeder Bezug zur Medizin fehle, bleibe „unklar, von welchem Standpunkt aus Comte behauptet, dass das pathologische Phänomen stets sein Analogon in einem physiologischen Phänomen habe, also nichts absolut Neues sei“ (ebd.). Entscheidend ist die Relativierung der theoria, die von Canguilhem in eine Position der Nachträglichkeit gegenüber einer technischen Konfrontation mit den konkreten Phänomenen versetzt wird. Zum anderen spürt Canguilhem bei Comte, wie schon bei Broussais, eine ungewollte Verdrehung von Quantität in Qualität auf: Comte teile mit Broussais die Vorstellung einer Kontinuität zwischen Normalem und Pathologischem. Da aber ein Kontinuum auf der logischen Differenz zwischen zweier (oder mehrerer) Zuständen beruht, sei das eigentliche und unausgesprochene Thema Comtes die Möglichkeit der Homogenität von Normalem und Pathologischem. Ähnlich wie das Modell der Harmonie setzt aber das Argument der Homogenität ein telos voraus, das nicht mehr faktisch, sondern nur axiologisch begründet werden kann. Canguilhem behauptet daher sogar einen von Comte selbst nicht registrierten Einfluss der vitalistischen Tradition (vor allem avier Bichats), der „die weitreichenden logischen Konsequenzen aus der These von der Identität physiologischer und pathologischer Mechanismen“ (ebd., 38) fortlaufend „konterkariert“ (ebd.).

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Pathologischen schlicht negiert –, nehme Bernard die Krankheit umfassend zum Thema.23. Zwar propagiert auch Bernard die bloß graduelle Unterschiedlichkeit zwischen Normalem und Pathologischem, jedoch ist seine Absicht ist weniger eine universale „Erkenntnis des Normalen“ (Canguilhem 97, 22) als vielmehr „die Besserung des Pathologischen“ (ebd.): „Bernard sieht in der Medizin die Wissenschaft von den Krankheiten und in der Physiologie die Wissenschaft des Lebens. In den Wissenschaften ist es ihm zufolge die Theorie, die die Praxis erhellt und beherrscht. Die vernünftige Therapie muß unbedingt von einer wissenschaftlichen Pathologie getragen sein, und diese wiederum hat sich auf die physiologische Wissenschaft zu stützen.“ (Ebd., 0)

Canguilhems Passagen über Bernard suggerieren die Schlussfolgerung, Bernard habe den Kardinalfehler Comtes gesehen und zu verhindern versucht: den Fehler, Experimente vollends an die Stelle von Erfahrungen treten zu lassen (Le Blanc 998, 33). In der Tat warnt Bernard, der die Physiologie (als Wissenschaft des Lebens) unmissverständlich über die Medizin (als Wissenschaft von den Krankheiten) stellt2, vor einer „falschen Anwendung der Physiologie auf die Medizin“ (Bernard 96, 27). Diese Fehlapplikation liegt im Überspringen der Klinik, in der Unterlassung der ärztlichen Beobachtung. Obwohl die Pathologien für Bernard „in Wirklichkeit nur physiologische Vorgänge sind“ (ebd., 280), ist es unzulässig, auf den experimentellen Schritt zu verzichten, auf jenen Schritt also, mit dem sich die physiologische Determinierung des Pathologischen immer wieder aufs Neue bewähren muss2. Dem ist jedoch hinzuzufügen, dass Bernard ein 23

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Bei Comte findet die experimentelle Analyse von Organismen deshalb keinen dauerhaften Platz, weil es ihm auf den Übergang von Wissen in positiv(istisch)es Vorauswissen ankommt. Die experimentelle Forschung endet, sobald die Statik, auf der die Gesellschaft beruht, erst einmal qua Wissenschaft in all ihren Teilbereichen, von der Dimension des Anorganischen bis hin zum sozialen Organismus, positiv fixiert worden ist. Siehe Comte 97, 63: „Die Wissenschaft besteht aus Gesetzen und nicht aus Tatsachen, obgleich diese allerdings für die Aufstellung und die Begründung der Gesetze unentbehrlich sind. Der positive Geist vermehrt, ohne die überwiegende Bedeutung der beobachteten Wirklichkeit zu verkennen, immer das Gebiet der Vernunft auf Kosten der Versuche, indem er das Voraussehen der Erscheinungen an Stelle der Beobachtung setzt.“ Siehe Bernard 96, 276f.: „Die wissenschaftliche Grundlage der experimentellen Medizin ist die Physiologie; wir sagten es schon oft, und man muß es laut verkünden, denn abseits davon kann es keine wissenschaftliche Medizin geben. Die Kranken sind im Grunde genommen nur physiologische Probleme unter neuen Bedingungen, die es zu determinieren gilt; die Wirkungen der Gifte und Arzneimittel gehen, wie wir sehen werden, auf bloße physiologische Änderungen der Eigenschaften histologischer Elemente unserer Gewebe zurück. Mit einem Wort: die Physiologie muß in der Medizin immer zu Rate gezogen werden, um den Mechanismus der Krankheiten zu verstehen und erklären zu können und ebenso die Wirkung der Arzeneimittel und Gifte. Gerade diese Anwendung der Physiologie scharf herauszuarbeiten, darum handelt es sich hier.“ Ebd., 278: „Deshalb ist es vorläufig klug und vernünftig, bei einer Krankheit alles zu erklären, was man durch die Physiologie erklären kann, und alles, was unerklärlich ist, dem weiteren Fortschritt der Biologie zu überlassen. Diese Art der allmählich fortschreitenden Analyse, die ein Problem der Pathologie erst aufgreift, wenn es der Fortschritt der wissenschaftlichen Physiologie erlaubt, löst nach und nach

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besonders prononcierter Verfechter des Kontinuitätsmodells ist: Experimentalreihen an den Organismen müssen deswegen angestellt werden, weil sie für jeden individuellen Fall das spezifische Korrelat an Normalität ermitteln, das für ein vorliegendes pathologisches Phänomen existiert. Die Experimente erbringen den Nachweis, dass wir im Zustand der Krankheit keinerlei „neues, dem Normalzustand unbekanntes Phänomen vor uns [haben]; keines ist spontane Hervorbringung der Natur“ (Claude Bernard zitiert nach Canguilhem 97, 0f.). Bernards Beispiel ist das Problem des Diabetes: Der Gehalt von Glukose im Blut ist – gerade hierin liegt, Canguilhem zufolge, Bernards „bahnbrechende“ (Canguilhem 97, 2) Entdeckung – „ein normales und konstantes Phänomen des gesunden Organismus“ (Claude Bernard zitiert nach Canguilhem 97, 2). Als Diabetes wird die überhöhte Konzentration von Glukose im Blut bezeichnet, nicht etwa die Präsenz des Blutzuckers (der Glukose) überhaupt. Folglich ist Krankheit immer nur relational, im Verhältnis zu normalen Quantitäten, definiert26. Aus ganz anderem Blickwinkel konvergiert Bernard, der die Frage nach dem Normalen an die Praxis des Experiments koppelt, also doch mit dem Positivismus Comtes, den wissenschaftliche Praktiken und wissenschaftliches Wissen letztlich bloß als Machtmittel des politischen Fortschritts, als Medien der absoluten Ordnung des Sozialen, interessieren: Bernards Experimentbegriff ist sozusagen nicht wahrhaft experimentell, nicht auf die Konfrontation mit radikal Unbestimmtem angelegt. Vielmehr ist das Experiment ein Scharnier zwischen klinisch beobachtbaren Abweichungen und den letzten Endes „puren“ Normen, die den abweichenden Größen korrespondieren27. Zeit für ein kurzes Resümee der Hauptzüge jener Polemik, die Canguilhem gegen Bernard vorträgt28. Canguilhem zufolge verdreht Bernards Konzeption des Normalen die Beziehung zwischen Tatsachen und Werten. Wie zuvor Broussais und Comte ignoriert auch Bernard, dass dem Problem des Normalen eine „Dialektik von Faktum und Wert“

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auf dem Wege der Elimination das Wesentliche der Krankheit heraus, erfasst immer deutlicher ihre Besonderheiten und ermöglicht einen zielstrebigen Einsatz der Therapie mit größerer Sicherheit. […] Wenn man aber stattdessen sich einige mögliche Annäherungen von Pathologie und Physiologie zunutze macht, um die ganze Krankheit auf einmal zu erklären, so verliert man den Kranken aus den Augen, verzerrt das Bild der Krankheit und hält durch eine falsche Anwendung der Physiologie die experimentelle Medizin auf, statt sie zu fördern. […] Das ist gerade das Gegenteil dessen, was vorhin als unsere Aufgabe bezeichnet wurde: man muß erst das ärztliche Problem so, wie es durch die Beobachtung der Krankheit gegeben ist, aufstellen, dann die pathologischen Vorgänge experimentell analysieren, wobei man eine physiologische Erklärung sucht.“ Die Normen des Organischen fallen mit stabilen physiologischen Funktionen zusammen, die in krankhaften Entwicklungen zwar ihr Negativ, ihren negativen Spiegel haben, die sich aber ausgehend von der Krankheit identifizieren und therapeutisch restituieren lassen. Zu dieser Einbettung des Experimentellen in einen physiologischen Normalismus siehe Canguilhem 979e., z.B. 87: „Er [Bernards Text Einführung in das Studium der experimentellen Medizin, T. E.] verdankt seinen Widerhall einer wahrhaft prometheischen Idee der experimentellen Medizin und der Physiologie, denn Claude Bernards experimentelle Methode ist nicht nur ein Code für eine Laboratoriumstechnik, sie ist gleichzeitig der Entwurf einer Ethik. (…) Das Experimentieren enthält schon als Technik eine philosophische Theorie der Wissenschaft vom Leben, die auf eine Philosophie der Einwirkung der Wissenschaft auf das Leben verweist.“ Siehe dazu auch Pénisson 2008, 23ff.; Le Blanc 998, 37ff.

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(Rolf 2006, ) eingeschrieben ist. Diese seltsame Verdrehung hat eine wichtige Konsequenz, die Folgendes bedeutet: So sehr das Modell der Kontinuität zwischen Normalem und Pathologischem rein graduell funktioniert, um den Primat der Wissenschaft (bei Bernard: vor der klinischen Praxis; bei Comte: vor Theologie und Metaphysik) zu fundieren, so sehr schleicht sich bereits in den Ausgangspunkt dieses Modells eine Ambivalenz ein, die zu performativen Selbstwidersprüchen führen muss. Den Selbstwiderspruch Bernards legt Canguilhem wiederum an Hand des Diabetesbeispiels dar. Fakt ist, so Canguilhem, dass die moderne Physiologie mit Gegenbeispielen zu Bernards Annahme eines strikt determinierten Zusammenhangs zwischen dem Auftreten von Diabetes (als Glykosurie, d.h. Ausscheidung von Zucker im Harn) und dem vermehrten Gehalt an Glukose im Blutserum (Hyperglykämie) konfrontiert worden ist. Die Zuckerausscheidung könne auftreten, ohne dass ein erhöhter Blutzuckerspiegel nachgewiesen werden kann, und umgekehrt ist das Vorkommen von Hyperglykämie möglich, ohne notwendig Glykosurie hervorzurufen. Um angesichts dieser Schwierigkeiten Bernards Ansatz überhaupt noch aufrecht erhalten zu können, sei in der zeitgenössichen Physiologie die Annahme einer „Schwellenbeweglichkeit“ (Canguilhem 97, 0) bzw. eines „Verhaltens der Niere“ (ebd.) erwendet worden. Und genau an diesem Punkt konstatiert Canguilhem, dass „man in die Erklärung der Harnausscheidung bereits einen Begriff ein[führt], der nicht vollständig in analytische und quantitative Termini zu übersetzen ist“ (ebd.). Die neue Begrifflichkeit, die zur Formulierung einer vermeintlichen „Wahrheit“ dient, wird in dem Maße unscharf, in dem sie implizit auf eine Dimension der Werte Bezug nimmt – ohne einzubekennen, dass sich der neue Begriff (hier: „Verhalten“) mitnichten auf eine Beschreibung von Fakten reduziert. Bernards Aporie liegt in seinem Anspruch, die Pathologie der Physiologie unterzuordnen, um der Therapie ein streng wissenschaftliches Fundament zu geben. Dies erkläre, weshalb Bernard die Originalität des Lebendigen – dessen „Verhalten“ – in die Kategorien eines mechanistischen Determinismus gezwängt habe. Bei Bernard kann nicht sein, was nicht sein darf29. Canguilhem kehrt immer wieder zu folgender Überlegung zurück: Ein mechanistisches oder positivistisches Programm besitzt entgegen seiner expliziten Intention einen ungedachten Kern, der dieses Programm von innen heraus durchkreuzt. Dieser nichtmechanistische Kern schließt mehreres ein: Das Zugeständnis einer merkwürdigen Uneinholbarkeit des Lebendigen; die Ahnung, dass den lebenden Phänomenen nur in einer prekären Offenheit begegnet werden kann; die Einsicht, dass ein (im strengen Sinne: wissenschaftliches) Wissen dieser Phänomene unmöglich ist. Mit Canguilhem kann man 29

Canguilhem verwendet großes Geschick darauf, bei Bernard ein stillschweigendes Bewusstsein für die Originalität des Organischen, und d.h. auch: für die fatale Blindheit des Mechanismus zu suggerieren. Der Schlüssel dazu sei gerade das Problem des Experiments. Siehe Canguilhem 979e, 8: „Vor Claude Bernard kannten die Biologen nur zwei Möglichkeiten: entweder die materialistische und mechanistische Angleichung der Biologie an die Physik oder die den französischen Vitalisten und deutschen Naturphilosophen gemeinsame Trennung von Physik und Biologie. Der Newton des lebenden Organismus ist Claude Bernard, der erkannte, dass die Möglichkeitsbedingungen der experimentellen Wissenschaft vom Lebenden nicht beim Wissenschaftler, sondern beim Lebenden selber zu suchen sind, dass das Lebende durch seine Struktur und seine Funktionen den Schlüssel zu seiner Entzifferung liefert. Indem er Mechanismus und Vitalismus gleichermaßen verwarf, konnte Claude Bernard die Technik des Experimentierens in der Biologie der Eigenart ihres Gegenstands anpassen.“



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etwa von Bernard behaupten, dieser habe unausgesprochen so etwas wie den Primat der Klinik entdeckt220. Der methodische Wert, den Bernard dem Experiment beimisst, bezeugt es: Die Normen können immer nur in einer Suche erschlossen werden, sie stehen niemals vor, sondern grundsätzlich erst nach dem Experiment, als Resultate, fest. Es gibt hier jedoch noch eine weitere Pointe. Abermals rekurriert Canguilhem auf das Diabetesbeispiel. Für einen betroffenen Patienten geht der Diabetes völlig in seinem erschütterndem Hauptsymptom auf, in der Glykosurie, d.h. der Ausscheidung von Zucker im Harn (Canguilhem 97, 8). In Bernards Determinismus wird das Phänomen partikularisiert, insofern hier unter „Krankheit“ die funktionale Abweichung von einer physiologischen Konstante an einer exakt lokalisierten Region verstanden wird. Das lebende Subjekt, das ein Krankheitssymptom am eigenen Leib bemerkt, erfährt dagegen die Krankheit, wie Canguilhem argumentiert, existentiell, d.h. im Modus eines Werts, und zwar eines massiv negativen Werts22. Auf Seiten des Patienten lässt sich die Krankheit nicht anders denn als „eine veränderte Lebensweise“ (ebd., 7; Hervorhebung i.O., T. E.), als eine negative Überwältigung beschreiben, die sich in den quantifizierenden Zugang des Physiologen nicht übersetzen lässt. An einer solchen Kritik erkennt man Canguilhems Radikalität, die ihn auch in Bezug auf das auszeichnet, was bei ihm als „Primat der Klinik“ gefasst ist: „In der Pathologie hat die Klinik historisch das erste, logisch das letzte Wort. Die Klinik ist nun freilich keine Wissenschaft und wird auch nie eine sein, selbst wenn ihre Mittel immer wirksamer und dabei wissenschaftlich zugleich immer sicherer werden. Die Klinik ist nicht von der Therapie zu trennen, diese aber ist eine Technik der Herstellung und Wiederherstellung des Normalen, deren Zweck – die subjektive Befriedigung über die Durchsetzung einer Norm – dem Richtspruch des objektiven Wissens entzogen ist. Man kann dem Leben auf wissenschaftliche Weise keine Normen diktieren. Das Leben ist vielmehr jene als Polarität agierende Auseinandersetzung mit der Umwelt, die sich normal fühlt in dem Maße, wie sie sich normativ fühlt. Der Arzt hat für das Leben Partei ergriffen. Die Wissenschaft assistiert ihm bei der Erfüllung der aus dieser Parteinahme erwachsenden Pflicht. Der Appell, der an den Arzt ergeht, kommt hingegen vom Kranken. Der Widerhall, den dieser pathetische Appell findet, ist Grund dafür, dass all jene Wissenschaften, mit deren Hilfe die medizinische Technik dem Leben beisteht, pathologisch genannt werden. […] Es gibt keine objektive Pathologie.“ (Ebd., )

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Siehe Debru 200, 32. Siehe die suggestive Passage unter Canguilhem 97, 6: „Muß man daher nicht zu dem Schluss gelangen, dass das Pathologische als solches, nämlich als Zerrüttung des Normalzustands, nur im Gesamtzusammenhang des Organismus und – speziell beim Menschen – des bewussten Individuums zu fassen ist, in dem die Krankheit zu einer Art Übel wird? Der Mensch, der krank ist, lebt wirklich – sogar im biologischen Sinn – ein anderes Leben. Um noch einmal das Beispiel des Diabetes zu nehmen: erkrankt ist hier nicht eigentlich die Niere (an Glykosurie) oder das Pankreas (an Insulinmangel) oder die Hypophyse; erkrankt ist vielmehr der gesamte Organismus: alle seine Funktionen sind verändert, er ist bedroht von Tuberkulose, seine eitrigen Infektionen nehmen kein Ende, seine Glieder versagen wegen Arteriitis oder Gangrän; erkrankt sind Männer oder Frauen: sie sind vom Koma bedroht, leiden oft an Impotenz oder Sterilität, geraten durch eine Schwangerschaft in Lebensgefahr oder weinen – oh Ironie der Sekretion! – süße Tränen. Man kann die Krankheit wohl nur gewaltsam in ihre Symptome zersplittern oder von ihren Komplikationen absondern.“

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Man beachte das vergleichbare (aber nicht ganz so flammende) Plädoyer für einen Primat der Klinik, das Plessner einige Jahre, bevor er die Stufen des Organischen schrieb, vorgetragen hatte (siehe Kapitel II.A. dieser Arbeit). In Vitalismus und ärztliches Denken kam es Plessner auf einen wohl bestimmten Modus des Vitalismus an, der von der Wissenschaft fern gehalten, aber in der Arzt-Patient-Relation eingeübt werden müsse: Wie erläutert, rang Plessner um einen nicht-wissenschaftlichen Zugang zum Lebendigen, der jedoch keinesfalls irrational, bloß an Intuition orientiert, sein sollte. Allerdings ist schon hier im Hinblick auf eine konzeptionelle Diskrepanz zu Canguilhem festzuhalten, dass Plessner in diesem Text den Primat der Klinik an die Frage der Personalität – und explizit nicht an den Begriff des Lebendigen – koppelt. Immerhin macht Plessners Naturphilosophie Anspruch auf eine erhebliche Veränderung der Diskussionsbasis für die These vom Primat der Klinik. Die Philosophie des Lebendigen, zu der Plessner in den Stufen aufbricht, destabilisiert die Rolle des Lebendigen jedenfalls nach zwei Seiten hin: Sie setzt beim Anorganischen an und skizziert gegen Ende in Gestalt des Menschen dasjenige Lebewesen, das in der Ordnung des Organischen, mit der es gleichwohl noch verklammert ist, keinen letzten Rückhhalt mehr findet. An dieser Stelle der Überlegungen ist es angebracht, eine Parallelbewegung zu Kapitel II.A, das sich mit Plessner auseinandersetzte, durchzuführen. Denn nun ist der Hintergrund, vor dem Canguilhem seine epistemische Differenz zwischen Natur und Leben präzisiert, ausreichend scharf zu erkennen.

. Die Differenz von Natur und Leben: Normalität und Normativität Eine physiologische Doktrin, die die Krankheit als Grad auf der Skala der Gesundheit definiert, so dass selbst moribunde organische Prozesse als Schwankungen eines letztlich gesunden, mit sich identischen Zustands erscheinen (Broussais); die Anthropologisierung und Subjektivierung dieser Doktrin sowie die Einordnung der Biologie in die Soziologie mit dem Ziel, nicht nur zu wissen, sondern voraus zu wissen (Comte); eine experimentelle Erschließung der Krankheiten, bei der die Techniken des Experimentierens lediglich das Dogma befestigen, dass sich jeder Krankheitsausdruck in ein gesundes Äquivalent übersetzen lässt (Bernard): Kein Zweifel, dass Canguilhems Neubestimmung des Verhältnisses von Normalem und Pathologischem die Umkehrung dieses ganzen Felds leisten will. Canguilhem formuliert das emphatische Gegenteil zur quantitativen Relation von Krankheit und Gesundheit. Für Canguilhem ist das Verhältnis zwischen Normalem und Pathologischem das Verhältnis zweier Werte, die durch eine „dynamische Polarität“ (ebd., 82f.), einen qualitativen Bruch voneinander getrennt sind. Seine Polemik gegen das Modell der Quantität und Kontinuität, das er bei Broussais, Comte und Bernard aufweist, kreist um den Vorwurf, das Leben in seiner Originalität – seiner Differenz – verfehlt und zu Unrecht als Gegenstand einer Theorie der Natur behandelt zu haben222. Canguilhem 222

Gelegentlich greift Canguilhem auf die Formulierung zurück, das Leben sei als Objekt einer solchen Biologie, die sich selbst auf „die Rolle eines Satelliten“ (Canguilhem 2009b, 9) von Physik und Chemie reduziert, ein annullierter, in seiner „Spezifität“ (ebd.) entwerteter [im Original: „dévalorisé dans sa specifité“] Gegenstand.

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sieht im Leben einen Gegenstand, der die Theorie, durch die er fixiert werden soll, überschiesst und in performative Selbstwidersprüche verwickelt223. Der sensibelste Punkt in Canguilhems Annäherung an den Begriff des Lebens als Norm wurde bereits im Rahmen seiner Kritik am Positivismus erwogen. Canguilhem vertritt die Ansicht, dass die Ausdrücke „Norm“ und „normal“ eine Ambivalenz implizieren: Eine unerkannte dialektische Verschlingung von Tatsachen mit Werten. Ein physiologisches Messergebnis hat niemals den Status einer „reinen“ Tatsache. Vielmehr erscheint die in einer bestimmten Einheit gemessene Tatsache immer im Licht einer als positiv qualifizierten Leistung, einer Vitalität, die an der fraglichen Tatsache abgelesen werden kann22. Canguilhem stellt folgende Provokation auf: „Dadurch, dass der Physiologe einen von ihm physiologisch genannten Zustand untersucht, qualifiziert er ihn bereits, mag er es auch unbewusst tun; er sagt nämlich, dass dieser Zustand eine positive Qualität durch und für das Lebewesen hat. […] ‚Norm‘ ist ein Begriff sui generis, der sich weder in der Physiologie noch anderswo auf einen durch wissenschaftliche Methoden objektiv bestimmbaren Begriff reduzieren lässt. Streng genommen gibt es also keine biologische Wissenschaft vom Normalen. Es gibt allerdings eine Wissenschaft von den als normal geltenden biologischen Situationen und Bedingungen, nämlich die Physiologie. Die Tatsachen, dass man jene Konstanten, deren Gehalt in der Physiologie wissenschaftlich bestimmt wird, als ‚normal‘ wertet, zeugt vom Zusammenhang der Wissenschaft vom Leben mit der Normativität des Lebens und – im Fall der Wissenschaft vom spezifisch menschlichen Leben – mit den biologischen Techniken der Schaffung und Setzung des Normalen, speziell: mit der Medizin.“ (Ebd., 7f. bzw. f.) 223

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Siehe Lindemann 2002, 227: „Die historische Forschung Canguilhems kommt also zu einem Doppelbefund: Um in der Perspektive einer naturwissenschaftlich orientierten Medizin begriffen zu werden, muß das Leben entvitalisiert [ein Ausdruck, den Canguilhem selbst verwendet, Anmerkung T. E.] werden, d.h., das Leben als solches fällt aus der wissenschaftlichen Forschung heraus, und zugleich kann die Forschung den Bezug auf das Leben der Individuen nicht fahren lassen, jedenfalls dann nicht, wenn sie das Ziel beibehält, das Leben zu unterstützen. Was Canguilhem historisch als einen Doppelbefund formuliert, lässt sich mit Hilfe der These, das Leben sei im Verhältnis zum positiven medizinischen Wissen ou-topisch, systematisch zusammenführen: Die Differenz zwischen positivem Wissen von den materialen Bedingungen des Lebens und dem Leben, das aus der Forschung herausfällt und insofern im Verhältnis zum positiven Wissen ou-topisch ist, ist konstitutiv für das moderne Wissen vom Leben.“ Siehe Canguilhem 97, 80 bzw 8f.: „Die moderne Physiologie präsentiert sich als ein Kanon von Funktionskonstanten, die abhängig sind von hormonalen und nervalen Regulationsfunktionen. Diese Konstanten gelten als normal, sofern sie durchschnittliche Merkmale sowie die häufigsten der in der Praxis zu beobachtenden Fälle bezeichnen. Aber sie gelten auch deshalb als normal, weil sie als Idealvorstellung jene normative Tätigkeit mit dem Namen Therapie leiten. Normal sind die physiologischen Konstanten mithin sowohl im statistischen – also deskriptiven – Sinn, wie im therapeutischen – also normativen – Sinn. Herauszufinden wäre, ob die Medizin selber deskriptive und rein theoretische Begriffe zu biologischen Idealvorstellungen umbiegt (und wenn ja, auf welche Weise), oder ob sie nicht vielmehr mit der Übernahme der Vorstellung von konstanten funktionellen Daten und Koeffizienten aus der Physiologie zugleich und wahrscheinlich ohne Wissen der Physiologen die Vorstellung einer Norm im normativen Sinne übernimmt. […] Betont wird schließlich eine ähnliche Begriffsverwirrung in der Medizin, wo der Normalzustand sowohl den üblichen wie den Idealzustand der Organe bezeichnet, da in der Wiederherstellung des ersteren gewöhnlich das Ziel der Therapie besteht.“

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Lassen wir die Anspielungen auf den separaten „Fall der Wissenschaft vom spezifisch menschlichen Leben“ und die Rolle der „biologischen Techniken der Schaffung und Setzung des Normalen“ zunächst bei Seite. Für den Moment soll allein Canguilhems Behauptung im Fokus stehen, dass der Physiologe, „mag er es auch unbewusst tun“, in der Messung der physiologischen Konstanten zugleich über sie hinaus ist. Diese Beschreibung hat ihre Besonderheit gerade darin, dass zwar in den Tatsachen schon immer der Bezug auf Werte aufscheint, dass aber auch umgekehrt die Werte strukturell an die Ordnung der Tatsachen gebunden sind. Das fundamentale Kennzeichen des Lebendigen – nämlich sein bewertendes, Werte hervorbingendes Verhalten22 – tritt im Modus eines Überschusses auf. Canguilhem spielt mit dem objektivierenden Blick einer Wissenschaft, die, wenn sie das Leben zum Gegenstand nimmt, durch diesen Gegenstand selbst an einen Punkt getrieben wird, den sie methodisch nicht beherrschen kann und an dem sie von ihrem Gegenstand überschritten wird. Daher untersucht Canguilhem bestimmte Diskursivierungen des Lebens. Erst dank dieses Kontrasts wird das Leben, seltsam indirekt, als dasjenige auffällig, was permanent auf den Status eines wissenschaftlichen Objekts reduziert wird, was sich aber genau gegen diese Reduktion auf materielle Natur zur Wehr setzt. Canguilhems Epistemologie fasst das Verhältnis zwischen Leben und Natur als einen Kontakt per hiatum: Beide Pole sind aneinander verwiesen und zugleich strukturell nicht ineinander überführbar. Wenn sich Canguilhem daher bei der Ausarbeitung eines Begriffs vom Leben in die Tradition der Wertphilosophie einschreibt226, so muss man seine These dahingehend ergänzen, dass es sich bei den vitalen Werten um unbewusst realisierte Werte handelt. In den Zuständen der Krankheit und der Gesundheit verhält sich der individuelle Organismus bewertend zu einem x – er bewertet ein Geschehen, in das er hinein verwickelt ist, ohne es selbst herbeigeführt zu haben und ohne es vollends beherrschen zu können. In der Klinik sind Arzt und Patient gleichermaßen mit Phänomenen konfrontiert, denen sie im äußersten Fall sprach- und fassunglos gegenüberstehen: Canguilhem spricht von den „Äußerungen des Lebens (allures de la vie)“ (ebd., 38), die in den Aktivitäten des individuellen Organismus’, gleichsam durch diese Aktivitäten hindurch, akut werden. In dieser Relation jedoch darf man die Seite des Lebens (la vie) keineswegs vor dem Lebendigen (le vivant) substanzialisieren. Canguilhem denkt das Problem der Norm relational: Einerseits sind die Normen, die der einzelne Organismus etabliert, nicht arbiträr, sondern verweisen auf das Leben selbst, das sich durch die Zustände des Individuums hindurch anmeldet. Gesundheit und Krankheit sind keine frei gewählten Verfassungen des Indivi22

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Ebd., 8: „Das Leben selbst und nicht erst das medizinische Urteil macht aus dem biologisch Normalen einen Wertbegriff, der mehr als eine bloß statistische Wirklichkeit bezeichnet. Für den Arzt [und den Patienten, Anmerkung T. E.] ist das Leben kein Objekt, sondern eine als Polarität sich äußernde Aktivität, deren spontane Abwehr- und Kampfanstrengung gegen alles mit negativem Wert Behaftete von der Medizin dadurch unterstützt wird, dass diese dem Leben gegenüber eine nur relative, aber unverzichtbare Aufklärung durch die Wissenschaft vom Menschen zuteil werden lässt.“ Siehe dazu exemplarisch LeBlanc 2002, 3–39; Le Blanc 998, ff. Neben Nietzsche ist es vor allem Robert Reininger, der Canguilhems systematische Verbindung von Vitalität und Wert inspiriert hat. Siehe Reininger 96. Siehe zu diesem Kontext Fichant 993, vor allem 0: „La philosophie et expressément philosophie des valeurs.“

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duums. Andererseits tritt „das Leben“ strukturell nur im Modus der Besonderung auf; es äußert sich in den normativen Aktionen, in der Expressivität konkreter Organismen227. Eine der Innovationen von Canguilhems Philosophie ist die Auszeichnung einer Normativität, die ihren Ursprung nicht – wie bei Kant – in einer transzendentalen Subjektivität hat, also als Selbstbestimmung eines im transzendentalen Sinne freien Willens gedacht werden muss. Vielmehr erlaubt es Canguilhems Idee der vitalen Normativität, einen positiven Begriff des Subjekts zu reformulieren228, ohne das Subjekt als letztbegründend zu verstehen. Nach diesem ersten begrifflichen Anlauf ist es möglich, die Formulierung zu interpretieren, die am schärfsten Canguilhems Abgrenzung zwischen Natur und Leben wiedergibt: „Wir meinen, dass es die Medizin als Kunst des Lebens deswegen gibt, weil der lebendige Mensch selber bestimmte Zustände oder Verhaltensweisen, die er der dynamischen Polarität des Lebens entsprechend als negativen Wert fürchtet, als pathologisch und das heißt als zu vermeidende oder zu behebende qualifiziert. In dieser Einstellung zeigt sich nach unserer Meinung, dass der Mensch eine dem Leben eigene spontane Anstrengung all dessen, was seine als Normen begriffene Erhaltung und Entwicklung behindert, mehr oder weniger bewußt weiterführt. […] In der Philosophie versteht man unter normativ jedes Urteil, das ein Faktum von einer Norm her wertet oder qualifiziert; dieses Urteilen aber wird eigentlich jenem anderen untergeordnet, welches die Normen setzt. In seiner vollen Bedeutung heißt normativ: das Normen Setzende. In genau diesem Sinne sollte man unserer Ansicht nach auch von einer biologischen Normativität sprechen.“ (Ebd., 82)

Die spezifische Differenz des Lebens vor der Natur ist bei Canguilhem die Kluft zwischen Normativität und Normalität. Nur Lebendiges ist im Stande, normativ zu agieren, weil es „den Bedingungen gegenüber, unter denen es möglich ist, nicht indifferent bleibt“ (ebd.), sondern „vielmehr eine Polarität und damit eine unbewusste Wertsetzung enthält“ (ebd.). Während natürliche Körper durch Naturgesetze determiniert werden, die „festgesetzt, unveränderlich, konstant und zu jeder Zeit dieselben“229 sind, zeichnen sich 227 228

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Siehe Métraux 200, 32. Siehe auch das Kapitel „L’individualité biologique“ in Le Blanc 2002, 3–39. Hier muss man in der Tat eine starke Opposition zwischen Canguilhem und seinen Schülern markieren, die im Gefolge von Strukturalismus oder Poststrukturalismus die Theorie des Subjekts (wie etwa Pierre Macherey oder Dominique Lecourt) insgesamt hinter sich lassen wollen. Wie sich noch genauer herausstellen wird, hängt Canguilhems Auffassung von Subjektivität sehr eng mit einer Struktur der Zentrierung zusammen. Siehe Badiou 200, 37–3. Dies ein Zitat aus avier Bichat, Recherches physiologiques sur la vie et la mort, zitiert nach Muhle 2008, 90. Maria Muhle spricht eine wichtige Beobachtung aus, die Canguilhems Verhältnis zu Bichat bzw. zu dessen Gegenüberstellung von Natur- und Lebenswissenschaften betrifft. Canguilhem schließt sich Bichat nämlich darin an, dass eine grundlegende Trennung in Natur- und Lebenswissenschaften vorgenommen werden muss. Ausdrücklich jedoch lehnt er dessen Schlussfolgerung ab, die lebendigen Körper formten eine untergeordnete Klasse der natürlichen Körper. Vielmehr gelte das Umgekehrte (ebd., 93): „In der Diskussion um die primäre Stellung der Biologie gegenüber der Physik verteidigt Canguilhem also den Standpunkt, dass die Anerkennung der Originalität des Lebens notwendigerweise mit einem Verständnis der Materie ‚innerhalb‘ des Lebens („comprendre“) oder aus dem Leben heraus

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lebendige Körper durch ein Moment radikaler Instabilität aus: Das Lebendige kann sein „normales Maß“ als den Zustand, in dem eine relative Stabilität naturgesetzlicher Funktionen herrscht, jederzeit ebenso erfüllen wie verfehlen. Nicht in der Physik, der Chemie oder der Mechanik, wohl aber in der Biologie kann es Pathologien geben. Physikalische Körper bedürfen keiner Therapie, und zwar deshalb, weil ihre Normalfunktionen jederzeit (durch den Physiker) restituiert werden können. Bei Lebewesen hingegen ist das, was normal ist – im Sinne einer statischen, physiologisch messbaren Quantität –, Ausdruck einer normativen Dynamik: Die Quantitäten verweisen auf eine Genese, die ihrerseits nicht quantitativ eingeholt werden kann. Canguilhem stellt die „biologische Normativität“ ins Zentrum und macht damit klar, dass es „das Leben selbst und nicht erst das medizinische Urteil“ (ebd., 8) ist, was „aus dem biologisch Normalen einen Wertbegriff [macht], der mehr als eine bloß statistische Wirklichkeit bezeichnet“ (ebd., 8f.). Der Clou dieser Überlegung liegt in dem, was man den maßlosen230 Charakter der Norm nennen könnte: Normativ zu sein bedeutet, das eigene Leben in einer maximalen Sinnbestimmung zu erfahren. In erster Linie wird Normativität von Canguilhem als eine nach oben offene Bewegung konzipiert – eine Dynamik, die keineswegs darauf zielt, sich an Bestehendes anzupassen, sondern darauf, Bestehendes zu sprengen23. Eine Norm zu realisieren bedeutet daher, produktiv von den gegebenen Normen abweichen zu können. Ausgehend von Canguilhems Konzeption der Norm als Überschreitung232 gewinnt auch der Verweis auf die „dynamische Polarität“ zwischen den Begriffen des Normalen und des Pathologischen an Schärfe. Der entscheidende Punkt ist die Diskontinuität des Pathologischen gegenüber dem Normalen. Eindringlich besteht Canguilhem deshalb auf einer präzisen Unterscheidung zwischen dem Anomalen und dem Anormalen. Infolge eines „etymologischen Irrtums“ (ebd., 86) habe sich bis in die anatomischen dictionnaires des 9. und 20. Jahrhunderts hinein das Missverständnis gehalten, das Adjek-

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einhergehen muss („de la vie dans le vivant“). Die Materie und ihre Wissenschaft sind dem Leben immanent, denn das Leben umschließt alles: Eine Wissenschaft der Materie kann nur von dem Standpunkt des Lebendigen aus unternommen werden: Die Lebenswissenschaften sind den Naturwissenschaften vorgängig.“ Canguilhem 97, 32: „Was die Gesundheit ausmacht, ist die Möglichkeit, die das augenblicklich Normale definierende Norm zu überschreiten; die Möglichkeit, Verstöße gegen die gewohnheitsmäßige Norm hinzunehmen und in neuen Situationen neue Normen in Kraft zu setzen.“ Dazu Pénisson 2008, 7. Siehe Muhle 2008, 9: „Nur in seiner Abweichung von der Norm kann das Leben normativ sein, d.h. neue Normen produzieren, die auf eine neue Normalität ausgerichtet sind, deren Stabilität jedoch nie gewährleistet werden kann, da sie sonst zwangsläufig zu einem pathologischen Phänomen würde: Denn das normative Leben ist die Fähigkeit, von den gegebenen Normen abzuweichen und neue zu schaffen. In dieser Fähigkeit besteht der Luxus des Lebens.“ Siehe im direkten Rückgriff auf Canguilhem Waldenfels 987, 89: „Eine Normativität, die nicht durch Anormales beunruhigt und durch Enormes überschritten wird, erstarrt zu einem künstlichen System, das seiner Antriebskräfte beraubt ist. Maße stoßen nicht nur auf andere Maße, die sie einschränken, sondern auch auf ein Übermaß, das sie überschreitet. Ohne einen ‚Glanz, der unverlöschlich aus der Tür des Gesetzes bricht‘, bleibt nur eine Ordnungsmaschinerie, die sich um sich selber dreht und bloß einen Mehrwert kennt, den sie selber verbraucht.“

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tiv „anormal“ sei dem Substantiv „Anomalie“ zuzuordnen. Tatsächlich gehe aber der Audsruck „Anomalie“ auf das griechische anomalos zurück, als Negation von omalos = „das, was gleichmäßig, eben, glatt ist“ (ebd.). Etymologisch davon zu unterscheiden sei griechisch nomos bzw. lateinisch norma im Sinne von „Gesetz“. Versteht man unter Anomalie daher die individuelle Unregelmäßigkeit oder Unebenheit, die ein Organismus anatomisch aufweist, so bedeutet dies keineswegs, dass diese Anomalie per definitionem pathologisch ist: Eine verkrüppelte Hand oder ein dysfunktionales Organ stellen nur dann eine Pathologie dar, wenn sie „im Bewusstsein als Hindernis für die Funktionsausübung, als Beeinträchtigung oder Schädigung verspürt“ (ebd., 89) werden. Erst unter der Bedingung, dass „jemand zuvor in der – selbst wortlosen – Sprache des Lebendigen sich selber oder anderen als anormal erschienen ist“ (ebd.), wird die anatomische Anomalie überhaupt zum Thema, erst dann erscheint sie im Licht einer Krankheit. Die medizinische Befassung mit den Anomalien setzt voraus, dass die fraglichen Anomalien überhaupt „auf die dynamische Polarität des Lebens bezogen“ (ebd.), also von den Organismen, an denen sie auftreten, einer Bewertung unterzogen worden sind. Es besteht „ein zunächst affektives, dann theoretisches Interesse an Anomalien“ (ebd., 90). Das Pathologische, verstanden als axiologische, nicht als morphologisch-anatomische Differenz, ist Ausgangs- und Fluchtpunkt der Wissenschaft vom Lebendigen: „Es gibt kein Normales oder Pathologisches an sich. Auch Anomalie oder Mutation sind nicht per se pathologisch. Sie zeugen vielmehr von möglichen anderen Lebensnormen. Sind diese – gemessen an der Stabilität, Reproduktions- und Wandlungsfähigkeit des Lebens – minderwertiger als die früheren artspezifischen Normen, so gelten sie als pathologisch. Falls sie sich indessen unter gleichwertigen Umweltbedingungen als gleichwertig bzw. unter anderen Bedingungen als höherwertig erweisen, werden sie als normal bezeichnet. Ihre Normalität rührt her von ihrer Normativität. Das Pathologische ist keineswegs das Fehlen jeglicher biologischen Norm, es ist vielmehr eine andere Norm, die gegenüber allen anderen vom Leben abgewehrt wird.“ (Ebd., 96)

Das Pathologische ist gegenüber dem Normalen gleichursprünglich, insofern es keinen abgeschwächten, sondern einen radikal andersartigen Ausdruck biologischer Normativität verkörpert. Aus diesem Grund hat der Wechsel von einer Norm zur anderen – von der Gesundheit zur Krankheit oder umgekehrt – den Charakter eines Umbruchs233. Indem Canguilhem Normativität immersiv denkt, bringt er Comtes positivistische Semantik 233

Siehe LeBlanc 2002, 2f.: „Affirmer que la vie est sans modèle fait un avec sa possibilité de changer de normes, de passer d’une norme à une autre norme. Les normes, en raison même de leur pluralité, éloignent la vie de toute réference à un modèle normative transcendant et l’engagent au contraire dans la particularité des points de vue. Ce point de vue ne doit pas être compris comme une réappropriation par un vivant singulier d’une identité formelle permettant de penser les normes du vivant dans le cadre d’une continuité temporelle. Il suppose au contraire une immersion totale dans une norme singulière dont le passage à une autre norme ne peut qu’impliquer un changement de point de vue, ‚une rupture temporelle‘. La vie est donc soumise à des perspectives qu’aucune perspective ne peut synthétiser. Selon ce perspectivisme, il devient possible de la comprendre en function des passages qu’elle autorise ou interdit. Dès qu’il y a passage d’une norme à une autre qui préserve la capacité de cette nouvelle norme de passer à une autre norme, il y a vie saine. Dès que ce passage est lui-même soumis à une reduction de la capacité à passer à une autre norme, il y a pathologie.“

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der Norm dazu, sich gegen sich selbst zu kehren23. Dies ist die dynamische Polarität des Lebens, dies ist sein Doppelaspekt: Zwischen Gesundheit und Krankheit, zwischen „seinen progredienten und regressiven Verhaltensformen“ (ebd., )23 zieht das Lebendige selbst eine absolute Grenze. Doch handelt es sich um zwei diametral auseinander tretende Erfahrungsaspekte, die gleichwohl beide, und zwar gerade in ihrem reziproken Ausschluss, dem Leben immanent sind. Man könnte sagen: Canguilhem bestimmt das Normale und das Pathologische als binäre Pole „auf Grund e i n e r Erfahrungsstellung“ (Plessner 97, ). Selbst „die Krankheit ist noch eine Lebensnorm“ (Canguilhem 97, 22) und eröffnet eine Perspektive auf das, was „Leben“ in seiner fundamentralen Struktur ist: biologische Normativität236. Man kann nachvollziehen, warum Wolfgang Welsch Canguilhem einer „Tradition des neuzeitlichen Trennungsdenkens“ (Welsch 996, 773) zurechnet, die „den Gedanken radikaler Differenz [fortsetzt]“ (ebd.)237. Paradoxerweise sind beide, das Normale und das Pathologische, Gestalten der biologischen Normativität. Ihr Unterschied stellt sich für Canguilhem so dar, dass die pathologische Verfassung „keine Abweichung von den Bedingungen duldet, unter denen sie Geltung hat“ (Canguilhem 97, 22f.), während das Normale (als das Normative) jenen Spielraum für produktive Abweichungen zulässt. Phänomenologisch bedeutet das, dem Phänomen der Genesung eine neue Beschreibung zu geben. Canguilhem schließt sich Kurt Goldstein an: Gesundwerden heißt nicht etwa die „Wiederherstellung von Früherem“ (ebd., 32), sondern die Eroberung 23

Guillaume LeBlanc spricht davon, dass Canguilhem „à l’intérieur du vocabulaire comtien de la norme“ argumentiert, also „la volonté de puissance nietzschéenne ou (…) l’élan vital créateur bergsonien“ in die Frage nach den vitalen Normen integriert. Siehe ebd., . 23 Siehe ebd., 39: „Die neuen Lebensäußerungen [als diejenigen, „die durch den Bruch mit einer früheren Stabilität erprobt wurden“, Anm. T. E.] lassen sich in zwei Kategorien unterteilen. Die einen konsolidieren sich in neuen Konstanten, deren Stabilität durchaus kein Hindernis bildet, nochmals über sieh hinauszugehen. Es sind dies normale Konstanten mit vorwärtstreibender Kraft. Normal sind sie in der Tat dank ihrer Normativität. Die anderen konsolidieren sich in Konstanten, die das Lebewesen ängstlich vor jeder möglichen Störung zu bewahren trachtet. Auch dies sind noch normale Konstanten, jedoch mit regressiver Tendenz. Sie zeugen vom Tod der Normativität. Darin sind sie pathologisch, wenn auch normal, solange das Lebewesen mit ihnen und durch sie lebt. Kurz, im Augenblick eines Bruchs mit der physiologischen Stabilität, etwa während einer Entwicklungskrise, verliert die Physiologie ihre Rechte, aber durchaus nicht den Faden.“ 236 Siehe Pénisson 2008, : „Or la normativité, une fois mise en rapport avec le normal et le pathologique, n’est pas une simple réduction quantitative. Elle permet d’accéder à une détermination qualitative et positive de ces deux concepts en tant qu’ils désignent des allures différentes de la vie. Le terme d’allure introduit alors une conception du pathologique où ce dernier n’est plus envisagé de façon isolée, c’est-à-dire comme issu d’une déviance par rapport au normal et survenant comme une tare ou une perversion de la vie. Non, ces allures expriment au contraire la polarité dynamique de la vie.“ Ergänzend siehe Muhle 2008, 3 bzw. 7; Balzaretti 200c, 7. 237 Flankierend spricht Welsch in Unsere postmoderne Moderne mit Bezug auf die Philosophie Lyotards von einem „sehr französischen Denken“ bzw. einer „Traditionslinie neueren französischen Denkens, die (insgeheim von Pascal inspiriert) von Bachelard über Canguilhem und Foucault in die Gegenwart reicht und die sich der Kategorie des Bruchs verschrieben hat und allenthalben Diskontinuitäten entdeckt“ (Welsch 993, 2).

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neuer, präzedenzloser Normen238. Dem Leben ist – so der interessante Wortlaut bei Canguilhem – eine „ursprüngliche Unbestimmtheit des Vermögens zur Durchsetzung neuer biologischer Normen“ (ebd., 32)239 eigentümlich. So sehr aber Canguilhem das Leben als Normativität und Normativität als einen Überschuss versteht, so sehr zeichnet sich seine Position durch das aus, was man den Primat der negativen Werte nennen könnte. Um noch einmal zurück auf Canguilhems Argument von der Produktivität des Pathologischen zurückzugreifen: Wenn es stimmt, dass die Krankheit radikal unableitbar ist und dass das Pathologische keine nachrangige, sondern eine andersartige Norm darstellt, dann kann man davon sprechen, dass das Leben produktiv in die Irre geht. Das Leben produziert in der Tat Fehlschläge – Fehler, die nicht etwa vor dem Hintergrund eines „richtigen“ oder „eigentlichen“ Zustands zu definieren sind, sondern ursprüngliche Fehler, Fehlformen, die dem Leben genau so immanent sind wie die unbeschadeten Gebilde des Lebens20. Es ist der Begriff des Monströsen, der diese Verschiebung in Canguilhems Auffassung des Lebendigen besonders illustriert. Das Monströse interpretiert Canguilhem als eine individuelle Abweichung, die am Leben bleibt, obwohl sie die Standards des Leben unterbietet2. Während der Tod als „Beschränkung durch das Außen“ (2009f., 32), als in das Leben einbrechende Grenze erscheint, tritt das Monströse als „Beschränkung durch das Innere“ (ebd.) auf, als eine Figur, die dem Leben im Leben widerspricht. Sobald unser „Bewusstsein“ (ebd., 33) uns einmal soweit geführt hat, „das Leben unter den Verdacht der Exzentrik zu stellen“ (ebd.), wird es schwer fallen, einen sicheren Maßstab dafür anzugeben, wann, d.h. in Form welcher Gestalten, das Leben tatsächlich „zu weit“ geht: Hat ein dreibeiniger Vogel ein Bein zuviel oder nur ein Bein mehr (als die statistische Mehrheit)22? Der Phänomenologie des Monströsen liegt bei Canguilhem die These zu Grunde, dass das Leben konstitutiv eine Struktur des Irrtums aufweist. Ein letzter Mosaikstein ist hinzuzufügen, um Canguilhems Gedankengang ganz zu erschließen. Auf der einen Seite führt das Thema der Normativität nicht nur zu einem Begriff des Lebendigen, sondern zu einem Begriff des Lebens. So ist, Canguilhem zufolge, die Krankheit als ein Vorgang zu verstehen, in dem das Leben dem kranken Subjekt – und dem Mediziner – Werte diktiert, die sich den Kräften des Subjekts völlig entziehen und dem Subjekt eine instabile, unabgeschlossene, endliche Position zuweisen. Auf der anderen Seite ist Canguilhems Rede von Normativität an eine Struktur der Zentrierung 238 239

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Siehe Canguilhem 97, : „Die biologische Normativität ist irreversibel.“ Man sollte nicht vergessen, dass Canguilhem so weit geht, in dieser Unbestimmtheit sogar die Geschichtlichkeit des Lebendigen auszumachen. Siehe ebd., 33: „So ist denn auch das, was der Fuchs frisst, ein Hühnerei und nicht etwa die Chemie der Albuminoide oder die Gesetze der Embyrologie. Da das konkrete Lebewesen in einer Welt konkreter Objekte lebt, lebt es auch in einer Welt möglicher Wechselfälle. Nichts geschieht per Zufall, aber alles in Gestalt von Ereignissen. Eben darin ist die Umwelt unverlässlich. Ihre Unverlässlichkeit ist recht eigentlich ihr Werden, ihre Geschichte.“ Siehe ebd., 2: „Ich würde jetzt [gemeint ist 90, Anm. T. E.] mit noch mehr Nachdruck die These verfechten, dass es an sich und a priori keine ontologische Differenz zwischen gelungenen und verfehlten Gebilden des Lebens gibt.“ Siehe Canguilhem 2009f., vor allem 30. Siehe ebd., 33 für dieses Beispiel.

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gebunden, an die Vorstellung nämlich, dass der Organismus seine vitalen Äußerungen und Verhaltensweisen auf sich selbst als sinngebendes Zentrum hin ordnet. Im Problem der Normativität ist mithin, neben der wechselseitigen Durchdringung von Tatsachen und Werten, eine zweite dialektische Paarung enthalten: Normativität ist eine Relation, an der Subjekt und Substanz partizipieren23. Es ist daher nicht abwegig, wenn Canguilhem – im Anschluss an Goldstein – vom Lebendigen als einem absoluten Bezugszentrum2 spricht, das den biologischen Phänomenen allererst „Sinn“ verleiht. Doch die normative Autonomie des individuellen Organismus ist nicht schrankenlos. Im Gegenteil: Das Lebendige bringt Normen gerade in dem Maß hervor, in dem es in eine fortlaufende Dynamik der „Umstellung, Bewegung oder Verrückung [déplacement]“ (Badiou 200, 3)2, in Prozesse der Dezentrierung eingefasst ist. Das Lebendige ist ein Bezugszentrum, auf das selbst nicht Bezug genommen werden kann, das aber unablässig entgrenzt und disloziert wird. Die vom Organismus aufgestellten Normen befinden sich in ständiger Kollision mit den widrigen Normen der Umwelt26. Daher lässt sich die Einschätzung, die Balzaretti gibt, in jedem Punkt stützen: 23

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Siehe Macherey 2009d, 00: „Dans cette perspective, le vivant est d’abord l’individu ou l’être vivant, appréhendé dans sa singularité existentielle, telle que la révèle de manière privilégiée le vécu conscient de la maladie; mais il est aussi ce qu’on pourrait appeler le vivant du vivant: ce mouvement polarisé de la vie qui, dans tout vivant, le pousse à développer au maximum ce qu’il est en lui d’être ou d’exister.“ Diese von Canguilhem immer wieder thematisierte vitale Ambivalenz wird auch zutreffend auf den Internetseiten des Graduiertenkollegs Lebensformen und Lebenswissen der Universitäten Potsdam und Frankfurt/Oder charakterisiert, wo es heißt: „Neben der an Wittgenstein orientierten Diskussion (Cavell, Thompson) ist die an Canguilhems Vorschlag orientierte Diskussion zu beachten, worin das Leben nicht einfach als Normen unterliegender, sondern als normativ Normen hervorbringender Prozess aufgefasst ist, der den eigenen Bestand an Normen stets auch unterläuft. Es deutet sich hier ein anderes Verständnis von Normativität an, das auf die Dynamik, Immanenz und Brüchigkeit der Formen menschlichen Lebens, der Weisen, wie es sich selbst formt und geformt wird, eingestellt ist.“ Siehe http://www.gk-lebensformen-lebenswissen.de/?mod=forschungsprogramm Siehe Canguilhem 2009d, 266: „Die Biologie muss also zunächst das Lebendige als ein signifikantes Sein auffassen und die Individualität nicht als ein Objekt, sondern als einen Charakter in der Ordnung der Werte. Leben heißt ausstrahlen und das Milieu ausgehend von einem Bezugszentrum organisieren, das selbst nicht auf etwas bezogen werden kann, ohne seine ursprüngliche Bedeutung zu verlieren.“ Siehe die überzeugende Darstellung ebd.: „Wenn das Lebende für Canguilhem immer in irgendeiner Weise vorsubjektiv ist, wenn es eine Disposition ist, von der jedes mögliche Subjekt ausgeht, so deshalb, weil es undenkbar ist, dass man in bezug auf das Subjekt nicht drei wesentliche Begriffe verknüpft, nämlich das Zentrum oder die Zentrierung, die Norm und den Sinn. Dieser Knoten aus Zentrum, Norm und Sinn stellt eine erste Annäherung, eine Art von formalem Schema oder Virtualität des Subjekts dar.“ Dies wird gut beobachtet von Rolf 2006, 9: „Biologische Normalität ist dieser Idee zufolge eine zweideutige Zuständlichkeit, derzufolge der Organismus einerseits über die Fähigkeit des Irritiert- und Betroffenwerdens sowie andererseits über die Potenz zur spontanen Etablierung neuer Lebensnormen gegenüber faktisch erfolgten Irritationen und Läsionen verfügt.“ Ganz nebenbei gefragt: Stellt diese „von Canguilhem im Medium wissenschaftstheoretischer Reflexionen zutage geförderte Zweideutigkeit des Lebens zwischen Normalität und Normativität“ (ebd.)



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„(…) Leben ist immer eine auf ein wertendes Subjekt zentrierte Tätigkeit, wobei diese Zentrierung der offenen Struktur gerecht werden muss, in der [sic!] sie immer schon eingebettet ist. Sie ist im Sinne des Allmittelpunkts des neoplatonischen Mythos der unendlichen Sphäre oder als Zentrierung innerhalb einer offenen Totalität zu denken. Sofern ist sie ganz streng von Formen der Zentrierung abzugrenzen, die die lebendige Struktur der Identität und der Differenz, auf die geschlossene Struktur einer Identität der Identität (wie in der Fichteschen Tradition) oder einer Identität der Identität und der Differenz (wie in der Hegelschen Tradition) reduzieren.“ (Balzaretti 200c, )

Fassen wir zusammen: Im Mittelpunkt von Canguilhems Epistemologie der Biowissenschaften, deren Basis in Das Normale und das Pathologische gelegt wird, steht eine irreduzible epistemische Differenz des Lebensbegriffs gegenüber dem Begriff der Natur. Während natürliche Körper quantifizierbar und ihre Eigenschaften als Tatsachen formalisierbar sind, zeichnen sich lebendige Körper durch den qualitativen Bezug auf Werte aus. Mit Bichat insistiert Canguilhem somit zum einen auf der Opposition zwischen Natur- und Lebenswissenschaften, zum anderen auf der Feinunterteilung der Lebenswissenschaften in die voneinander unabhängigen Zweige der Physiologie und der Pathologie. Die krankhaften Äußerungen des Organischen müssen mit Hilfe einer Disziplin bestimmt werden, die sich von derjenigen unterscheidet, welche die gesunden Artikulationen zum Thema hat. Dieser epistemische Schritt – im hier errichteten Begriffsgerüst zugleich der Initialschritt, der das lebendige Wissen des Lebens in Gang bringt – spiegelt sich bei Canguilhem in der These, „(…) dass das Leben eines Lebewesens, sogar das einer Amöbe, die Kategorien Gesundheit und Krankheit lediglich in empirischer Erfahrung, welche in erster Linie ein Erfahren im affektiven Sinne ist, und nicht über die Wissenschaft kennenlernt. Die Wissenschaft erklärt die Erfahrung, hebt sie aber keineswegs auf.“ (Canguilhem 97, 33)

Wie schon rekonstruiert, ist die absolute epistemische Grenze zwischen Natur und Leben bei Canguilhem polemisch aufgeladen: Das Leben ist dasjenige, was allein im Modus subjektiver Werterfahrung zugänglich werden kann. Wird das Leben der wissenschaftlichen, analytischen Perspektive überstellt, so vollzieht sich, was Canguilhem als „Entvitalisierung des Lebens“ kritisiert: Der Eigensinn des Forschungsobjekts geht einer solchen Perspektive strukturell verloren. Damit zeichnet sich die zweite, die epistemologische Achse von Canguilhems Fragestellung ab: Existiert angesichts des unvermeidlichen Verkennungsfaktors der Lebenswissenschaften überhaupt ein Wissen, das sich auf lebendige Dinge bezieht? Kann es einen rationalen Zugang zum Leben geben – oder bleibt es bei jenem „Erfahren im affektiven Sinne“, das sich ganz in subjektiver Unmittelbarkeit erschöpft? Bevor die Anlage eines möglichen Wissens vom Leben bei Canguilhem präziser untersucht werden soll, ist ein weiterer kurzer Exkurs notwendig: Denn die Frage bleibt, ob – und wenn ja: auf nicht ein Pendant zu Plessners Kategorie der Positionalität dar? Wenn Plessner unter Positionalität versteht, dass ein Lebewesen „gegen seine Umgebung gestellt“ ist, also die Beziehung vom Lebendigen aus „a u f das Feld, in dem es ist, und im Gegensinne (…) zu ihm zurück“ läuft – bedeutet das dann nicht, dass sich das Lebewesen in einer Doppellage der Etablierung eigener Normen und des Betroffenwerdens durch äußerliche Normen befindet? „Raumerfüllend“ und „raumbehauptend“ im gleichen Zug zu sein: Heißt das nicht, normalisiert und normativ zugleich zu sein? Zu allen Zitaten siehe Plessner 97, 3.

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welche Weise – Canguilhem im normativen Geschehen des Lebens dem menschlichen Leben eine exponierte Stellung zuspricht.

. Die organischen Normen beim Menschen oder: Canguilhems „morceau d’anthropologie philosophique“ Canguilhems Interpretation der pathologischen Phänomene läuft auf folgende Pointe zu: Man muss sich von dem anthropozentrischen Wunschgedanken verabschieden, die Krankheit bestünde in einem Mangel an Vitalität. Mit Nietzsche diskreditiert Canguilhem die aristotelische Idee von der Gesundheit als einem rechten Maß, einer goldenen Mitte der Kräfte, die, weil sie die Extreme bannt, einen ontologischen Vorrang genießt. Der verunsichernde Effekt seiner Argumentation entspringt der Zurückweisung des ontologischen Vorzugs der Balance vor den Exzessen. Canguilhems Umschichtung der Beziehungen zwischen Normalem und Pathologischem liegt in der Freisetzung des Pathologischen: Die Krankheit ist gegenüber der Gesundheit keine inferiore, sondern schlicht eine andere Artikulation von Leben, d.h. Normativität. Unter diesem Blickwinkel muss man folgenden Umstand konstatieren: Canguilhems These über das Leben als Normativität trägt den Zug einer „Allgemeinen Biologie“27. Nicht von ungefähr illustriert er sein Argument mitunter am Beispiel der Amöbe oder durch die lakonische Feststellung, es gebe durchaus „Krankheiten des Hundes und der Biene“ (Canguilhem 97, ). Jedoch setzt Canguilhem diese globale Fassung des Lebens konsequent vor einer anthropologischen Kulisse in Szene. Die positivistische Biologie und Medizin des 9. Jahrhunderts waren überzeugt, von Verhältnissen ad hominem zu handeln, d.h. mit Problemen umzugehen, die sich allein für den Menschen ergeben28. Biologie und Medizin sind in diesem Diskurs, wie Canguilhem darlegt, Wissenschaften, 27

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Zu diesem Konzept siehe Laubichler 2006. Henning Schmidgen ruft in Erinnerung, dass zum Ensemble einer „Allgemeinen Biologie“ so unterschiedliche Autoren wie Goldstein, Viktor von Weizsäcker, Buytendijk, Jakob von Uexküll, Driesch, Scheler oder von Bertalanffy zu rechnen sind – auch wenn einige der genannten Theoretiker (z.B. Scheler) diese Theorieform durch systematische Weiterentwicklungen (in Schelers Fall durch die Philosophische Anthropologie) gesprengt haben. Siehe Schmidgen 2008a, VIII. Guillaume LeBlanc zeichnet diese perspektivische Umstülpung der Anthropologie bei Canguilhem scharf nach. Demnach besteht die Hinterlassenschaft Comtes, die von Canguilhem aufgegriffen wird, in einer spezifisch anthropologischen Perspektive, die sich gleichsam aus der Biologie herausgeschält, sich von ihr emanzipiert hat. Wie Comte blickt Canguilhem mithin von der anthropologischen auf die biologische Sphäre zurück. Doch kehrt Canguilhem die anthropologische Perspektive gegen sich selbst, indem er ihren Rückwurf auf das Leben mit Nachdruck klar stellt. Canguilhem revidiert die Überbietung der Biologie durch die Anthropologie, indem er an der Wurzel der Anthropologie das Leben offen legt. Siehe zu dieser Formulierung den Abschnitt „La vie à la racine de l’anthropologie“ in Le Blanc 2002, 3–60. Siehe ebd., 6 : „La grandeur de la philosophie de Canguilhem […] est de construire une philosophie de la vie entièrement réécrite à partir de l’originalité de la perspective humaine, rompant peu a peu avec le perspectivisme comtien qui n’envisage l’organisme social que comme une complexification de l’organisme vivant, réservant l’anthropologie à être un discours en second lieu, lorsque l’anthropologie est confondue avec la sociologie, en troisième lieu, lorsque l’anthropologie est distinguée de la sociologie. La trajectoire de Canguilhem est ainsi, de ce point de vue, la longue histoire d’une

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und als solche Machtmittel einer modernen Subjektivität, die in der Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten des Seienden und dessen technischer Beherrschung die Zeichen ihrer Souveränität über die Natur erblickt. Canguilhems eigenes Projekt ist die direkte, wenngleich verspätete Replik auf die positivistischen Anthropologien Comtes und Durkheims. Im Zentrum dieses Projekts steht folgende Polemik: Historisch konstituiert sich jede Anthropologie über einen blinden Fleck, eine strukturelle Unfähigkeit, der Besonderheit lebendiger Phänomene Rechnung zu tragen. Gegen diese „Lebensvergessenheit“ (Borck 2007, 220)29 schreibt Canguilhem vehement an. Dabei geht es ihm jedoch weniger um den offensiven Angriff auf anthropologische Programme, als vielmehr darum, die Immanenz, die Verwicklung der menschlichen Aktivitäten in die Verläufe des Lebens zu demonstrieren. Ein ums andere Mal schlüft Canguilhem auf den Standpunkt menschlicher Subjekte, um diesen Standpunkt zu degradieren und zu dekonstruieren. Die anthropologische Frage ist bei Canguilhem eingeschrieben in eine Allgemeine Biologie. Die Bestimmung der Stellung des Menschen impliziert stets die Rücksicht auf das Leben als ein Geschehen, das diese Stellung ebenso bedingt wie übersteigt20. An diesem Punkt wird sichtbar, inwiefern das Pathologische, wenn man es mit Canguilhem vom Joch einer Norm a priori befreit, zum Brennpunkt einer „histoire humaine de la vie“ (Le Blanc 2002, 62) werden kann. Im Zustand der Krankheit erfährt der Mensch das Leben als Werden [devenir], als einen offenen und unbestimmten Prozess. Der Mensch ist noch einmal anders als das Tier auf die Tatsache zurückgeworfen, dass das Leben Wendungen nehmen kann, die gegen die vom Lebewesen initiierten Veränderungen, gegen seine Normen, „spielen“2 können. Hier zeigt sich, dass Canguilhem unter Normativität einen Spielraum zur schöpferischen Abweichung versteht: Diejenigen Werte, die uns hier und jetzt binden, durch die Schaffung von etwas Neuem außer Kraft zu setzen. Pathologisch ist demgegenüber der Zustand, der das Lebewesen dazu zwingt, bei

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réforme des rapports entre anthropologie et biologie, d’une anthropologie normée par la biologie à une biologie normée par l’anthropologie.“ Siehe auch Canguilhem 2006b, 30f.: „Der Rationalismus ist eine Philosophie der Nachträglichkeit. Buchstäblich und in aller Strenge genommen würde der Rationalismus, die Philosophie des gelehrten Menschen, darin enden, beim Menschen aus dem Auge zu verlieren, dass er ein Lebewesen ist.“ Thomas Rolf spricht treffend von einem Modell der „Lebensimmanenz“ bei Canguilhem. Siehe Rolf 2006, Die  oder 3. Zu Canguilhems kritischer Spitze gegen die Anthropologie siehe ebd., 3: „Menschliche Normsetzungsakte können so gesehen das Leben nicht als Leben hervorbringen, denn das Leben befindet sich immer schon in voller Entfaltung an dem Ort, an dem anthropologische Normen als Denk- oder Verhaltensregeln hinzutreten, um vorintentional Normatives in explizit (oder auch exakt) Normiertes zu überführen.“ Siehe auch Schmidgen 2006, 62f. LeBlanc 2002, 63: „[…] le devenir de la vie joue contre la capacité de devenir du vivant humain, par les menaces qu’elle introduit dans la multiplicité du sens des normes pour le vivant humain. La pathologie est une modification de la vie qui menace la capacité de modification de l’homme, en réduisant des normes propres. Le devenir de la vie se retourne, dans la pathologie, contre le devenir de la vie humaine, en fixant une orientation au devenir et en réduisant la possibilité humaine des écarts.“ [Hervorhebung von mir, T. E.]

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der geltenden Norm zu verharren: Die Pathologie ist die Beschneidung des Vermögens, über sich hinaus zu gehen, die Blockierung einer im wesentlichen ekstatischen Struktur. Canguilhems Sammlung La connaissance de la vie enthält einen Essay mit dem Titel „Le normal et la pathologique“, der die argumentativen Stationen des gleichnamigen Buchs rekapituliert und in dem Canguilhem Folgendes bemerkt: „Das menschliche Leben kann einen biologischen Sinn, einen sozialen Sinn und einen existenziellen Sinn haben. All diese Arten des Sinns können bei der Bewertung der Veränderungen, die die Krankheit dem menschlichen Lebewesen zufügt, gleichermaßen in Betracht gezogen werden. Ein Mensch lebt nicht nur wie ein Baum oder ein Kaninchen.“ (Canguilhem 2009e, 28f.)

Warum lebt der Mensch nicht „nur“ wie der Baum oder das Kaninchen? Weil er sich als dasjenige Wesen erfährt, das sich zu den vom Leben produzierten Werten (Normen) selbst wertend (normativ) verhält22. In der Position des Menschen verdichtet und verschärft sich das Faktum der Vielfalt, der Pluralität des Lebens: So unbestimmt die Richtung ist, die das Leben eines (nicht nur des menschlichen) Individuums nehmen kann – es münde in den Tod oder schlage aus in die Entfesselung exzessiver Energien – so unbestimmt ist das Verhältnis, das der Mensch zu den vom Leben realisierten Werten gewinnen kann. Die systematische Erkenntnis der Krankheiten ist bloß ein Versuch, den unvordenklichen Wendungen des Lebens zu trotzen; die Erfindung von technischen Geräten zur Linderung der gefährlichen Irrtümer des Lebens ist ein weiterer; der Primat der Klinik, der in der affektiven Sorge um die Endlichkeit des erkrankten Menschen besteht und das immer drohende Ereignis des Todes antizipiert, ist ein dritter Weg23. Daher die Differenz, die bei Canguilhem den Menschen vor dem Tier auszeichnet: Der Mensch ist in der Lage, die Prekarität des Lebens, die alle Lebewesen betrifft und 22 23

Siehe LeBlanc 998, 60ff. Es ist im Übrigen sehr aufschlussreich, dass Thomas Rolf, der die Funktion der menschlichen Praktiken als Potenzierung und (Versuch der) Transzendierung der lebensimmanenten Normativität in der Theorie Canguilhems unterstreicht, einen Zusammenhang zwischen dem Begriff der Norm und dem Begriff der Grenze einführt. Siehe Rolf 2006, 6f.: „Wer diese allem Lebendigen unmittelbar innewohnende Dynamik [der Normativität, T. E.] übersieht, der tendiert dazu, den Menschen aus dem Reich der Natur auszubürgern und die Rede von der Sonderstellung des Menschen im Kosmos idealistisch zu überdehnen; denn aus der Forderung nach einer Sonderstellung wird, wie die Geschichte der Humanwissenschaften zu Genüge beweist, nicht selten die faktische Außenstellung des Menschen im Hinblick auf Lebensbezüge, zu denen er sich – gerade in seiner Eigenschaft als Geistwesen – bald konstruierend, bald negierend, auf jeden Fall jedoch grenzziehend (und d.h.: normierend) verhalten kann.“ Rolf, dessen Arbeitsschwerpunkte, wie das von Scheler inspirierte Vokabular zeigt, nicht nur auf Canguilhems Epistemologie der Lebenswissenschaften, sondern ebenso in der Philosophischen Anthropologie liegen, spielt bereits auf die Parallelen an, die sich zwischen Canguilhem und Plessner entwickeln lassen. Plessners Konzept des Lebendigen als grenzrealisierendes Ding und Canguilhems Fassung der vitalen Normativität sind in der Tat äquivalent. Allerdings stellt sich mitunter der Eindruck ein, dass Rolf von Husserls Spätwerk her beide Denkformen als Spielarten einer „Lebensphänomenologie“ (ebd., ) diminuiert, die für sich das systematische Verdienst beansprucht, im Begriff des Lebens die Dialektik von „Subjektsein für die Welt und (…) Objektsein in der Welt“ (ebd., 38) zu verankern. Einer solchen Zuordnung müsste man erwidern, dass die Ansätze Plessners und Canguilhems nicht die Vollendung, sondern die subtile Kritik der „lebensphänomenologischen Perspektive“ (ebd., 38) des späten Husserl leisten.

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keines privilegiert, als Spiegel seiner eigenen Normativität zu begreifen. Indem ihm die Geschichtlichkeit durchsichtig wird, die dem Leben tout court immanent ist – für alles Lebendige bedeutet das Leben „Erfahrung und Versuch“ (Balzaretti 200c, ; Hervorhebung i.O., T. E.) –, stößt der Mensch zu seiner eigenen Geschichtlichkeit vor2: Der Mensch erfährt sich als aktiver Schöpfer von Normen, als Urheber von Veränderungen in der Welt, aber damit einher als dasjenige „Wesen (…), das sich nie ganz an seinem Platz befindet und dessen Bestimmung es ist, zu ‚irren‘ und ‚sich zu täuschen‘“ (Foucault 988, 69). Hinter Canguilhems Vorschlag, den Menschen als dasjenige Lebewesen zu denken, das den Impuls des Lebens mehr oder minder bewusst „verlängert“2, kann man die Handschrift eines Autors erkennen, dem Canguilhem aus strategischen Gründen eine entscheidende Stellung beimisst: Henri Bergson. In der französischen Tradition war Bergson derjenige, der lange vor Canguilhem „la thèse d’une différence de nature entre l’homme et l’animal“ (Lebrun 993, 208) elaboriert hatte, ohne von dieser Differenz klassisch auf die Souveränität des Menschen über die Natur zu schließen. Bergson hatte den Menschen damit als homo faber gefasst, der nur im Licht seiner technischen Erfindungsgabe als homo sapiens angesprochen werden kann26. Bergson zufolge ist „Bewusstsein“ eine mit den höheren Säugern einsetzende Stufe, die der Prozess des Lebens als schöpferisches Werden aus sich heraus hervorbringt und auf der es gleichsam „zu sich“ kommt. Bergson interpretiert Zerebralität und, davon streng unterschieden, Bewusstsein als Kristallisationen des allumfassenden élan vital. Diese Kristallisationen geben „das Wahlquantum [an], worüber das Lebewesen verfügt“ (Bergson 99, 267; Hervorhebung i.O., T. E.). Bergsons biologische Spekulation bricht radikal mit der Vorstellung des Menschen als animal rationale. Die ratio entzieht sich nicht etwa dem poietischen, auf Schöpfung drängenden élan vital, der alle Lebewesen antreibt – sie ist bloß dessen spezifisch menschliche Kulmination27. 2

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Siehe dazu Séris 993, 90–03, vor allem 97. Siehe auch Delaporte 200, 3: „Man hat damit ein Merkmal, das all diesen menschlichen Tätigkeiten gemeinsam ist: die Möglichkeit des Scheiterns und des Irrtums ist ihrer Geschichte eingeschrieben, und deswegen muß diese Geschichte als ‚Abenteuer, und nicht als Ablauf‘ geschrieben werden. Besteht nicht auch die grundlegende Tendenz des Lebens in einem Aufsichnehmen von Gefahren, d.h. in einer Ausbreitung, einer Überschreitung, und keineswegs in einer Erhaltung? Das Abenteuer ist für die Geschichte das, was die Gefahr für das Leben ist. Und die Geschichte, die weder vom Leben abgeleitet, noch ins Leben projiziert wird, schreibt sich in dieses ein. Diese Philosophie der Handlung wird von einer Auffassung des Lebens gestützt, nach der es aus Vorlieben und Ausschlüssen besteht, also das Gegenteil einer gleichgültigen Beziehung zur Umwelt ist.“ Zu diesem in der Canguilhemforschung weit verbreiteten Motiv der „Extension“ des Lebens in den menschlichen Tätigkeiten siehe u.a. Muhle 2008, 22; Hacking 200, vor allem 22–2 und 26; Gayon 998, 320. Siehe Bergson 993, 02f. Bergson 99, 268f.: „Radikal also ist der Unterschied zwischen dem Bewusstsein auch des intelligentesten Tieres und des Menschen. Denn das Bewusstsein entspricht genau dem Vermögen der Wahl, über welches das Lebewesen verfügt; es ist koextensiv dem Saume möglicher Handlungen, der die reale Handlung einfasst: Bewusstsein ist synonym mit Erfindung und Freiheit. Beim Tier dagegen ist die Erfindung niemals mehr als Variation über das Thema der Routine. Eingesperrt in die Gewohnheiten der Art, gelingt es dem Tier zwar durchaus, diese Gewohnheiten kraft seiner individuellen Initiative zu wei-

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Obwohl Canguilhem interessanterweise in einem gespaltenen Verhältnis zu Bergson steht28, birgt dessen Konzeption des élan vital die für Canguilhem zentrale Inspiration hinsichtlich der eigenartig gebrochenen Position des Menschen im Leben. Das Grandiose an Bergsons Vorschlag liegt darin, das seit Aristoteles tradierte anthropologische Dogma vom Menschen als animal rationale zu Fall zu bringen, zugleich jedoch (gegen Darwin) die Idee einer qualitativen, nicht nur graduellen Differenz zwischen Mensch und Tier durchzuhalten. Diese Differenz wird nicht naturalisiert, sondern in ein neues, realistisches Licht gerückt: Bergson konstruiert eine Philosophie des Lebendigen, die um ein neues Verständnis der Freiheit des Menschen ringt, weil diese nicht mehr durch die göttliche Gabe der Vernunft gedeckt ist29. Alle Lebewesen sind durch den élan vital charakterisiert, d.h. durch eine in und von ihnen verwirklichte Bestrebung, das eigene schöpferische und erfinderische Verhalten gegenüber der Umwelt durchzusetzen. Auch der Mensch verhält sich in diesem Sinne, wie alles Lebende, poietisch-technisch, und doch geschieht in seinem Fall ein qualitativer Umschlag. Die poiesis des Menschen nimmt Antizipationscharakter an, der Mensch wird, wie Bergson unterstreicht, frei gegenüber habitualisierten Verhaltensmechanismen und den eigenen Fabrikationen. Wenn der Mensch Bergson zufolge so etwas wie eine „Sonderstellung“260 im Leben genießt, so deshalb, weil sich in dieser Stellung eine merkwürdige Spiegelung des Lebens ereignet: Die Freiheit, die der Mensch an seinen eigenen Handlungen erfährt, ist nichts anderes als die Freiheit, die sich das Leben als aventure créatrice immer schon nimmt. Durch diesen Seitenblick auf Bergson sind wir bis zum Kern der Überlegungen vorgedrungen, die Canguilhem der Relation von Mensch und Leben widmet. Indem er (in Das Normale und das Pathologische) seine Untersuchung auf die Geschichte der modernen Medizin spezialisiert, fragt Canguilhem nach einem Diskurs, der sich um „konkrete menschliche Probleme“ (Canguilhem 97, ) dreht. Im Verlauf seiner Kritik zeigt Canguilhem nun aber, dass der Mensch, was das Phänomen der Medizin betrifft, keineswegs im Zentrum, sondern an seiner eigenen Grenze steht. An dieser Grenze entdeckt der

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ten; doch entgeht es dem Automatismus nur für Momente, gerade nur lange genug, um einen neuen Automatismus zu schaffen (…). Überall jedoch außer beim Menschen hat sich das Bewusstsein im Netz, durch dessen Maschen es schlüpfen wollte, fangen lassen. Es blieb Sklave der Mechanismen, die es aufgebaut hatte. (…) Der Mensch aber tut mehr, als seine Maschine zu unterhalten; er bringt es dahin, sich ihrer nach Gefallen zu bedienen. Gewiss, er verdankt dies der Überlegenheit seines Gehirns, das ihm erlaubt, eine unbegrenzte Anzahl motorischer Mechanismen zu konstruieren, erlaubt, neue Gewohnheiten unablässig den alten entgegenzusetzen und so des Automatismus Herr zu werden, indem er ihn gegen sich selbst ausspielt.“ Zu Canguilhem und Bergson siehe LeBlanc 200. Canguilhems Ambivalenz gegenüber Bergson wird gut dargestellt von Bianco 2007. Bianco geht auf Canguilhems frühe Aversionen gegen Bergson ein, die 929 bei Gelegenheit einer Rezension von Georges Politzers Klassiker La fin d’une parade philosophique: le bergsonisme deutlich werden. Canguilhems Verurteilung von Bergsons Gleichung zwischen „vie“ und „esprit“ in dieser frühen Phase weicht einer gründlicheren Lektüre aus Anlass eines Bergson-Seminars, das Canguilhem an der Universität Straßburg 92–93 unterrichtet hat. Der Bergson-Kritik, die gebetsmühlenartig den Standardangriff auf Bergsons „Intuitionismus“ wiederholt, muss Bergsons Anspruch auf eine moderne Revision des Freiheitsgedankens freilich entgehen. Dazu Delitz 20.

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Mensch sich selbst als ein spontan wertendes Wesen. Zugleich erfährt er seinen Bezug auf das Leben als eine Relation der Unbestimmtheit: Der Begriff der Krankheit (des Pathologischen) markiert einen Entzug, eine Macht zur Abweichung, die nicht von den menschlichen Subjekten ausgeübt wird, sondern vom „Leben selbst“ herrührt. Canguilhem greift also ein Paradox auf, das schon von Bergson diskutiert wird: Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das den „Wert“ des Lebens erfassen kann, und zwar gerade darum, weil seine eigenen Wertungen von den Irrtümern des Lebens laufend durchkreuzt werden. Man kann es so sagen: Der Mensch weist einen „Sinn für’s Negative“ auf, nicht aber das Vermögen, sich dieser Negativität zu entziehen26. Vielleicht ist gerade an diesem Punkt die indirekte oder immanente Verfahrensweise Canguilhems aufschlussreich. Canguilhem ist mitnichten daran interessiert, seine Texte mit einer systematischen, homogenen Wesensbestimmung des Menschen zu unterlegen262. Vielmehr besteht eines der auffallendsten Kennzeichen seiner ganzen Konzeption darin, zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Lebewesen so etwas wie eine perspektivische Differenz auf das Leben einzuschalten, die zwar nie reflexiv verhandelt, jedoch konsequent thematisiert, besser noch: suggeriert wird. Mit erstaunlicher Sorgfalt hütet sich Canguilhem vor den Registern der Anthropologie. Er verteidigt – was in seinen Texten häufig genug zu argumentativen Verschachtelungen führt – seine Überzeugung von der Immanenz des Menschen im Leben gegen die sprachliche Gefahr ihrer Anthropologisierung. In diesem Sinne bringt Canguilhem eine Theorie der Technik ins Spiel, eine Art Geschichte der Praktiken, Geräte, Maschinen, Mechanismen und Konstruktionen. Diese Theorie der Technik bekleidet im Gesamtansatz Canguilhems einen enormen Rang263. In Machine et organisme heißt es programmatisch: 26

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Siehe Muhle 2008, 227: „Im Hinblick auf den Unterschied zwischen menschlichen und tierischen Prozessen kann diese Wendung in Anlehnung an das von Canguilhem aufgenommene Vokabular Uexkülls folgendermaßen ausformuliert werden: Jedes Tier ist in Bezug auf und für seine Umwelt ein Subjekt. Im Fall des Menschen entsteht die Subjektivität in der bewussten inneren Auseinandersetzung mit der Negativität des Lebens (nur der Mensch kann sich bewusst zu den negativen Werten des Lebens in ein Verhältnis setzen); im Fall des Lebendigen im Allgemeinen entspringt die Subjektivität der Fähigkeit, das äußere Milieu so zu gestalten, wie es für das Leben bestmöglich ist (sowohl der Mensch als auch das Tier setzen sich aufgrund der inneren Normativität des Lebens mit dem Milieu ins Verhältnis und verändern es). Die unterschiedliche Subjektivität definiert sich somit über die Frage, ob sich das Lebendige seiner Normen bewusst ist oder nicht, und nicht über die unterschiedliche Konfiguration des Milieus, die, laut Canguilhem, immer vital ist.“ [Hervorhebung i.O., T. E.] Siehe auch Rabinow 2000, 7. Dazu LeBlanc 2002, 62. So übersieht etwa Maria Muhle die Signifikanz der Technik für das Problem des Menschen. Der Übergang von der vitalen zur sozialen Normativität, den Canguilhem explizit in seinen Neuen Überlegungen von 966 verhandelt, lässt sich nicht klar genug fassen, wenn die Engführung der menschlichen Sphäre auf die Technik außer Acht bleibt. Muhle konstatiert zu Recht, dass Canguilhem von einer „Mimetisierung des Vitalen durch das Soziale“ ausgeht (Muhle 2008, 232). Was die Präzisierung dieser Mimesis betrifft, tut sich Muhle allerdings schwer: Einerseits gesteht sie die Immanenz der sozialen Normativität (des sozialen Organismus) in der vitalen Normativität zu, andererseits macht sie als Vorzug von Canguilhems Mimesis-Ansatz die Wahrung eines spezifischen „Unterschieds zwischen beiden Ordnungen“ (ebd., 236) stark. Was Muhle nicht ausweist, ist die Rechtfertigung für einen derartig in sich gebrochenen Ansatz. Diese Rechtfertigung ergibt

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„Aus philosophischer Perspektive ist es weniger wichtig, die Maschine zu erklären, als sie zu verstehen. Und sie zu verstehen heißt, sie in die menschliche Geschichte einzuschreiben, indem man die menschliche Geschichte ins Leben einschreibt, ohne indes zu verkennen, dass mit dem Menschen eine Kultur erscheint, die nicht auf die bloße Natur reduzierbar ist.“ (Canguilhem 2009c, 29)

Wie man sieht, ist das Projekt durchaus nicht unkompliziert. Ausbuchstabiert fordert die zitierte Stelle eine Hermeneutik der Maschine, wobei „die Maschine zu verstehen“ bedeute, sie in die Geschichte des Menschen „einzuschreiben“ (inscrire), indem (en) die Geschichte des Menschen ihrerseits „in das Leben“ (dans la vie) eingeschrieben werde. Und als wäre dieser Zusammenhang nicht schon kryptisch genug, fügt Canguilhem im Nachsatz eine Präambel hinzu: Das ganze Vorhaben dürfe nicht verkennen, dass „mit dem Menschen“ (avec l’homme) eine Kultur erscheint, die nicht auf „bloße Natur“ (simple nature) reduziert werden könne. So befremdlich die Passage auf den ersten Blick erscheinen mag (denn fällt sie etwa nicht hinter die strenge epistemische Differenz zwischen „vie“ und „simple nature“ zurück, die Canguilhem in Das Normale und das Pathologische erreicht hatte?): Sie umgrenzt eine exakte Aufgabenstellung und enthält, wenn man so will, „Ziel, Weg und Aspekt“ (Plessner 97, 3) eines ambitionierten Programms. Als Weg oder Mittel des Denkens, das Canguilhem hier annonciert, kristallisiert sich eine Theorie der Technik heraus. Die doppelte Pointe dieser Theorie wäre, die Technik aus der Geschichtlichkeit des Menschen heraus zu interpretieren, vor allem aber die Immanenz dieser „histoire humaine“, ihre Einschreibung oder „Verwurzelung“26 im Leben, zu berücksichtigen. Folglich verläuft dieser Weg unter einem besonderen Aspekt: Der geforderte Ansatz soll die menschliche Technik als Fortführung der vitalen poiesis bestimmen, die alles Lebende charakterisiert. Zugleich aber gilt es, die irreduzible Kultur herauszuarbeiten, die sich in der menschlichen Technik verrät: Nur der Mensch nimmt in seinem normativen Verhalten, d.h. in seinem Bewertungsverhalten, Bezug auf die Negativität des Lebens. Letztlich muss die Technik als (immer labile, weil verzeitlichte) normative Antwort des Menschen

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sich, wenn man festhält, dass Canguilhem „das Soziale“ als eine technische Disposition denkt: Die Probleme der Imitation und der Mimesis sind keinesfalls bloße „Metaphern“ (ebd.), sondern stehen für das technische (und damit explizit vitale) Verhalten des Menschen. Canguilhem vertritt mitnichten „eine weitgehende Inkommensurabilität der vitalen und der sozialen Ordnung“ (ebd., ). Er sieht die technische Konstitution des Sozialen und damit die Kontinuität von sozialem und vitalem Organismus. So betrachtet, muss man gegen Muhle darauf bestehen, dass Canguilhem eine Vorgängigkeit des Vitalen für den „Zweck der Gesellschaft und ihrer Institutionen“ (ebd., 236) veranschlagt. Der Ausdruck des enracinement (dt. etwa: Verwurzelung) wird von Guillaume LeBlanc verwendet, um Canguilhems Bestimmung der Stellung des Menschen zu klären. Siehe LeBlanc 2002, 60: „L’enracinement n’implique pas pour autant une perte de la specificité des activités humaines. L’originalité humaine ne se résorbe pas dans son origine vitale. L’enracinement suppose plutôt que les activités humaines comme les activités animales participent d’une matrice commune qu’est la vitalité. La vitalité désigne une présence à la vie à l’intérieur de laquelle l’activité humaine trouve à s’affirmer. Il n’y a pas alors passage de l’ordre vital à l’ordre humain mais affirmation d’une présence à la vie dans l’ordre humain, La visée humaine est référée pour Canguilhem à une visée vitale, supposant la constitution d’une anthropologie biologique.“

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auf die Prekarität des Lebens rekonstruiert werden, als Versuch, eine Unbestimmtheit zu begrenzen, die dem Leben inhäriert26. Was aber wäre das Ziel des ganzen Unterfangens? Die Antwort auf diese Frage birgt eine Überraschung. Canguilhem entwirft nicht einfach einen unkritischen Technizismus, der sich ex negativo in dem Argument erschöpfen würde, dass nicht die Wissenschaft, sondern die Technik den angemessenen, weil performativ „gelebten“ Zugang zum Leben bildet. Vielmehr sieht Canguilhem in der Technik den Schlüssel zu einem alternativen und adäquaten Wissen vom Leben, das mit dem mechanistischen Wissen nichts mehr zu tun hat: „Mit der Entwicklung des Menschen hat das Lebewesen die Methoden und das Bedürfnis wissenschaftlicher Bestimmung des Wirklichen erworben; folglich richtet sich das Streben nach Bestimmung des Wirklichen notwendig auch auf das Leben selbst. Das Leben wird zum Gegenstand der Wissenschaft – oder genauer: es ist historisch erst dazu geworden und es keineswegs immer schon gewesen. In solcher Wissenschaft ist also das Leben sowohl Subjekt (wird sie doch vom lebendigen Menschen betrieben) wie Objekt.“ (Canguilhem 97, 0)

Der Punkt ist, dass „in solcher Wissenschaft“, die sich im Geist des cartesianischen Mechanismus und Anthropozentrismus formiert hat, zwar „das Leben sowohl Subjekt (…) wie Objekt“ ist – doch diese Wissenschaft weiß nicht, was Leben ist. Was aber, wenn die moderne Biologie, anstatt sich weiter an ihren vermeintlichen Antagonismus zur Technik zu klammern, ihre poietische Herkunft entdecken würde? Wenn sie eingestehen müsste, dass sie den „Methoden“ und dem „Bedürfnis“, d.h. der technischen Auseinandersetzung eines bestimmten Lebewesens mit seiner Umwelt entsprungen ist?: „Soweit die Physiologie jene Konstanten und Invarianten zu bestimmen sucht, welche die Wirklichkeit der Lebensäußerungen definieren, ist sie echte Wissenschaft. Dort wo sie indessen die vitale Bedeutung dieser Konstanten im Auge hat und die einen als normal, die andern als pathologisch kennzeichnet, ist sie mehr – und keinesfalls weniger – als eine strenge Wissenschaft. Der Physiologe sieht dann im Leben nicht mehr bloß eine stets identische Realität, sondern eine widersprüchliche Bewegung. Ohne es recht zu merken, betrachtet er das Leben nicht länger mit dem uninteressierten Blick des Physikers, der die Materie erforscht; sein Blick ist vielmehr der eines in bestimmter Weise selber vom Leben durchdrungenen Lebewesens.“ (Ebd., )

Jetzt sieht man, wieso sich Canguilhem zufolge eine Theorie der Technik nicht selbst tragen kann, auch wenn sie aus der cartesianischen Dominanz der Wissenschaft befreit und gegen sie gewendet wird266. Canguilhems Projekt umkreist „die Möglichkeit eines neuen Gesichtspunktes in der Biologie, der einen neuen Bereich eröffnet. Dieser Gesichtspunkt 26

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Siehe Canguilhem 97, 8: „Jede Technik des Menschen, einschließlich seiner Lebenstechnik, gehört in den Zusammenhang des Lebens, d.h. in eine Praxis der Erkundung und Aneignung der Materie, hinein. Nicht weil die menschliche Technik normativ ist, wird auch die Technik des Lebens zum Trost normativ genannt. Sondern weil das Leben in Erkundung und Aneignung besteht, ist es die Quelle alles technischen Tuns.“ Siehe dazu Sebestik 993, z.B. 20. Siehe Schmidgen 2006, 70: „Gerade weil die Technik einen primären Modus darstellt, in dem der Mensch sich alltäglich mit seiner Umwelt auseinandersetzt, kann sie, zumal im Bereich der Biologie, wissenschaftlich nicht das letzte Wort sein. Mechanistische Philosophie und Kybernetik ersparen sich den zeitaufwendigen

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ist kein anderer als die Normativität des Lebens“ (ebd., 89; Hervorhebung i.O., T. E.). Der konstruktive und eigentliche Anspruch, den Canguilhem mit der Idee der Normativität des Lebens und mit der Umkehrung der Gewichte von Technik und Wissenschaft verfolgt267, besteht (bei enger Orientierung an Kurt Goldstein) in der Begründung einer Epistemologie der Biologie268. Im Bann des cartesianischen Mechanismus und unter der Alleinherrschaft der science hat sich – „historisch“, wie Canguilhem schreibt – eine Wende des Lebendigen zum Lebendigen vollzogen, in der das Leben buchstäblich keinen Unterschied macht. Das Organische wird bei Descartes jener Logik des Mechanismus unterworfen, die auch die unbelebte Natur regiert. Die ungeheuerliche Verdrehung des Cartesianismus lautet daher, dass die Natur (einschließlich des Lebens) nach dem Modell der Maschine funktioniert – und nicht umgekehrt. Damit ist das Zentrum dessen markiert, was bei Canguilhem Epistemologie bedeutet: Ausgehend von dem neuen Verständnis des Lebens, das er in Das Normale und das Pathologische entwickelt, geht es Canguilhem um die Umschrift der Geschichte der Wissenschaften vom Leben, die realiter eine Geschichte des Mechanismus gewesen ist. Die mechanistische Biologie bedient sich eines Modells „qui procède de la connaissance à la chose“ (Canguilhem 99b, 3), einer statischen Rationalität, die das Lebendige gemäß ihren eigenen Anforderungen zurichtet. Canguilhems Programm ist im Gegenzug dazu ein Versuch, der Biologie – die, wenn sie mechanistisch fundiert ist, nur der „Satellit“ (Canguilhem 2009b, 9) von Physik und Chemie ist – eine alternative, dem „Gegenstand Leben“ angemessene Rationalität zu verleihen: „Wir unsererseits denken, dass ein vernünftiger Rationalismus seine Grenzen anerkennen und die Bedingungen seiner Ausübung einbeziehen muss. Der Verstand darf sich auf das Leben nur beziehen, wenn er die Originalität des Lebens anerkennt. Das Denken des Lebendigen muss die Idee des Lebendigen dem Lebendigen selbst entnehmen.“ (Canguilhem 2009, 22)

Es stimmt: Canguilhem ist ein „vital rationalist“ (F. Delaporte/P. Rabinow). Er vitalisiert die Geschichte derjenigen Rationalität, die seit der Neuzeit für sich in Anspruch genommen hat, das Leben zu objektivieren, wobei sie sich von der paradoxen Prämisse leiten ließ, dass keine Differenz von Leben und Natur existiert. Zugleich schließt sich durch diese Veränderung des Themas ein Kreis. Denn nun ist einzusehen, in welcher Hinsicht Canguilhem „un morceau d’anthropologie philosophique“ (Debru 200, 30) bzw. „une anthropologie philosophique de la vie ordinaire“ (Le Blanc 2002, 287) geschrieben hat. Mit der Frage nach dem (Leben des) Menschen steht in der Entscheidung, ob sich das Leben weiterhin auf sich selbst im Modus des mechanistischen Szientismus beziehen muss oder ob dieses Selbstverhältnis einen nicht-wissenschaftlichen, subjektiven, technischen

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Durchgang durch die Technik, der Canguilhem zufolge erforderlich ist, um zu wissenschaftlichen Begriffen zu kommen, die dem Gegenstand der Biologie, dem Leben angemessen sind.“ Canguilhem 97, : „Von der direkten Beschäftigung mit der Medizin erhofften wir uns die exakte Formulierung und die Erhellung zweier Probleme: uns interessierte damals nämlich einerseits das Verhältnis von Wissenschaft und Technik und andererseits das Problem der Normen und des Normalen.“ Siehe Schmidgen 2008b, VII; ähnlich Debru 200, 8; Balzaretti 200a, ; Renard 996, f.

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Zug annehmen kann269. Den Blick des Biologen in den Blick eines in bestimmter Weise selber vom Leben aufgeforderten Lebewesens zu transformieren: Dies ist die Losung der Historischen Epistemologie bei Canguilhem270, und der Schauplatz, auf dem diese mögliche Verwandlung sich abspielen kann, ist die Geschichte der vom Menschen erfundenen und kultivierten Techniken. Zur Abrundung dieses Kapitels ist ein Nachtrag notwendig, der klärt, weshalb Canguilhem seine Suche nach einer Epistemologie der Biologie in strikter Differenz zu jeglicher Anthropologie betreibt27. Im Rückblick auf die hier entwickelte Plessner-Lektüre und im Vorblick auf die noch folgende Konstellierung zwischen Canguilhem und Plessner leuchtet keineswegs sofort ein, weshalb eine (Philosophische) Anthropologie nicht als Systemform in Frage kommen kann, um den Weg für die von Canguilhem angezielte Vitalisierung des Wissens zu bereiten. Hatte doch Plessner argumentiert, dass Diltheys hermeneutische Wende zum Leben „nur als philosophische Anthropologie möglich“ (Plessner 97, 28) sei, und dass, was den Aspekt einer solchen philosophischen Anthropologie betrifft,

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Man beachte etwa die Ambivalenz in folgender Formulierung Canguilhems: „Die Lösung, die wir zu begründen versucht haben, hat den Vorteil, den Menschen so beschrieben zu haben, dass er durch die Technik in Kontinuität mit dem Leben steht, bevor der Bruch in den Vordergrund tritt, für den der Mensch durch die Wissenschaft die Verantwortung trägt.“ Canguilhem 2009c, 232. An diesem Wortlaut ist wichtig, dass dem Menschen eine „Verantwortung“ für den „Bruch“ zukommt, der seine Kontinuität mit dem Leben unterbricht. Canguilhems Texte, sein Herausstellen eines Primats der Technik über das Wissen, sind also womöglich „performativ“ zu verstehen, als Aufruf zu und als Anfang einer Revision der Lebensvergessenheit in den Wissenschaften vom Leben. Siehe die vergleichbare Stelle in Canguilhem 2009b, 6: „Der Mensch ist das durch die Wissenschaft vom Leben getrennte Lebewesen, das versucht, durch die Wissenschaft wieder mit dem Leben zusammenzukommen.“ Wie Henning Schmidgen unterstreicht, hat diese perspektivische Verschiebung im Übrigen den Charakter einer Verzeitlichung. Siehe Schmidgen 2006, 70: „Biologie zu betreiben erfordert somit nicht nur, dass wir uns – anders als in der engelsgleichen Mathematik – manchmal als ‚dumm‘ und/oder als ‚Tier‘ empfinden (‚nous sentir bêtes‘, wie es in der Einleitung zu La connaissance de la vie heißt), sondern auch, dass wir eine besondere Fähigkeit zum Timing entwickeln, zur Einfindung in Zusammenhänge von Zeitlichkeit und Erkenntnis.“ Schmidgen verweist auf Canguilhems in Die Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert geäußerte Idee einer „ontologischen, also chronologisch uneinholbaren Antizipation des Wissens gegenüber der mechanistischen Theorie und der Technik, gegenüber der Intelligenz und der Simulation des Lebens“. Siehe Georges Canguilhem, Die Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert, S. 2. So heißt es etwa in den letzten Sätzen des Artikels „Le normal et le pathologique“, enthalten in La connaissance de la vie: „Wir ziehen also die Schlussfolgerung, dass die Humanbiologie und die Medizin notwendige Teile einer ‚Anthropologie‘ sind und dass sie nie aufgehört haben, zu dieser zu gehören. Wir denken jedoch auch, dass es keine Anthropologie gibt, die nicht eine Moral voraussetzt, so dass der Begriff des ‚Normalen‘ in der menschlichen Ordnung stets ein normativer Begriff bleibt, dessen Tragweite im eigentlichen Sinn philosophisch ist “ (Canguilhem 2009e, 308).

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„der Mensch [im Mittelpunkt steht]. Nicht als Objekt einer Wissenschaft, nicht als Subjekt seines Bewusstseins, sondern als Objekt und Subjekt seines Lebens d.h. so, wie er sich selbst Gegenstand und Zentrum ist.“ (Ebd., 3)272

Hier bekundet sich ein Spezifikum des französischen Diskurses: Wenn Canguilhem seinen eigenen Standpunkt gegen den einer „Anthropologie“ ausspielt, so bezieht sich seine Kritik nicht etwa auf eine Bestimmung des Menschen, die sich auf die beiden Achsen einer vertikalen Differenzierung der „naturgewachsenen Stellung in der Welt als Organismus in der Reihe der Organismen“ (ebd., 32) und der horizontalen Differenzierung der soziokulturellen Leistungen, der „Taten und Leiden“ (ebd.) des Menschen, verteilen würde. Was Canguilhem explizit zurückweist, ist vielmehr die genuin französische Semantik von Anthropologie, deren klassischer Ausdruck im Positivismus des 9. Jahrhunderts, in den Konzeptionen Comtes und Durkheims, zu suchen ist. Dieses französische Erbe der Anthropologie steht quer zur deutschen Problemtradition und verhält sich zu ihr inkommensurabel: So begründet sich etwa bei Durkheim die Anthropologie polemisch im Bruch mit der Biologie, ebenso wie sie sich gegen die religiösen und metaphysischen Naturalisierungen des Menschen begründet273. Auf dem konstruktivistischen Horizont zu bestehen, in dem sich alle menschlichen Phänomene bewegen, bedeutet für Durkheim die Verteidigung des Dualismus von Natur und Kultur und die Ablehnung der rassistischen Anthropologien, die sich, zumal in Frankreich, zunehmend durch biologistische Denkfiguren legitimierten27. Aus dieser soziologischen Fundierung der Anthropologie muss freilich jeder Rückgriff auf die Vitalität des Menschen kategorisch ausgeschlossen werden27 – denn die Naturalisierung setzt zu ihrer Ermöglichung eine spezifische soziale Norm, eine bestimmte Form der Vergesellschaftung (das christlich geprägte Abendland, den europäischen Imperialismus etc.) voraus. Für diese ihre eigene Ermöglichung sei die naturalisierende Argumentation jedoch blind. Die französische Diskussion des neunzehnten Jahrhunderts verpflichtete die Anthropologie auf den Primat des Sozialen, um die Säkularität und Pluralität der Moderne gegen die 272

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Siehe auch die einschlägige, weil auf den Voraussetzungscharakter einer „Philosophischen Biologie“ für die philosophische Anthropologie eingehende Stelle unter Plessner 97, 76: „Den Menschen trägt die lebendige Natur, ihr bleibt er bei aller Vergeistigung verfallen, aus ihr zieht er die Kräfte und Stoffe für jegliche Sublimierung. Deshalb drängt von selbst die Forderung nach einer philosophischen Anthropologie auf die Forderung nach einer philosophischen Biologie, auf eine Lehre von den Wesensgesetzen oder Kategorien des Lebens.“ Dies wird klar nachgezeichnet von Tarot 999, vor allem S. 76–83. Siehe Durkheim 970 bzw. 973. Zu Durkheims Plädoyer gegen den Rassismus siehe Mucchielli 200, 63–98. Allerdings deckt Tarot eine Ambivalenz Durkheims im Umgang mit gewissen „métaphores organicistes“ auf. Wie nämlich verhält sich Durkheims Idee, dass der soziale Organismus nach dem Modell des biologischen Organismus’ verfasst ist, zu seinem polemischen Dualismus? Und selbst wenn Durkheim argumentiert, dass die komplexe Organisation des Sozialen durch einen qualitativen Bruch vom biologischen Paradigma der Organisation geschieden ist, so spricht dies noch nicht gegen einen Begriff des Lebens, der Biologisches und Soziales zugleich umfassen kann. Siehe zum Zitat Tarot 999. Eine ähnliche Aporie in der positivistischen Fassung des Zusammenhangs von Biologie und Soziologie konstatiert Policar 2003. Die These, Durkheim habe mitnichten einen Primat der Soziologie vor der Biologie und einen Natur-Kultur-Dualismus konzipiert, entwickelt Mucchielli 200, vor allem 9ff.

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rassistische Mythologie des Biologismus’ und die skandalöse276 Erosion des Dualismus’ in Schutz zu nehmen. Guillaume Le Blanc hat in seiner Monografie (Le Blanc 2002) das – vor allem für deutsche Leser – nicht auf Anhieb klare, subtile Manöver analysiert, mit dem Canguilhem den soeben geschilderten Horizont der Anthropologie verändert. Demnach vollzieht Canguilhem mit Blick auf Auguste Comte die Inversion der positivistischen Überschreitung von Biologie in Soziologie. Comte hatte den Menschen „à la jointure du vital et du social“ (ebd., 0 bzw. 287) verortet: In dem Maße, in dem das durch den Positivismus aufgeklärte moderne Subjekt die Gesetzmäßigkeiten seiner biologischen Existenz wissenschaftlich vollends bestimmen und vorhersagen kann, realisiert es den Primat seiner sozialen Existenz. Den Bereich der Anthropologie sah Comte, wie nach ihm Durkheim, exklusiv in der Soziologie, konzipiert als „soziale Physik“. Canguilhems Verschiebung von Comtes Semantik der Norm – vom Normalen als wissenschaftlichem Gesetz zum Normativen als vitalem Wert – ist also deswegen ein philosophischer coup, weil sie in den französischen Diskurs der konstruktivistischen Sozialanthropologie endlich die Vertikale im Plessner’schen Sinne, die Linie des Lebens, einträgt. Wie Comte und Durkheim hält Canguilhem eine Assimilierung von biologischem und sozialem Organismus für entscheidend. Aber es ist nicht die konstruktivistische Normativität des Sozialen, die das Biologische rationalisiert, sondern die dynamische Polarität und Normativität des Organischen, die den sozialen Bereich fundiert. Der Schlüssel zum Problem der Subjektivität liegt in einer Philosophie des Lebendigen277.

6. La connaissance de la vie: „Vitaler Rationalismus“ als Wissen vom Leben Der zweite Teil von Das Normale und das Pathologische hat eine Frage zum Titel: „Gibt es Wissenschaften vom Normalen und vom Pathologischen?“ (Canguilhem 97, 73). Wie bereits vermerkt, greift Canguilhem bei der Beantwortung dieser Frage zu einer polemischen Option – nein, es kann keine Wissenschaften vom Normalen und vom Pathologischen geben, wenn man erst einmal den Bezug auf Werte erfasst hat, der in diesen Kategorien liegt: „Unseres Erachtens aber gibt es in der Wissenschaft nichts, was sich nicht zuvor auch im Bewusstsein gezeigt hätte (…)“ (ebd., 9; Hervorhebung i.O., T. E.) Wenn es um das Leben geht, gerät das neuzeitliche Projekt der Wissenschaft an einen Gegenstand, der es aus den Angeln hebt. Den Wissenschaften vom Leben, also Biologie und Medizin in ihrer modernen Gestalt, kann mit Canguilhem nur eine abgeleitete Stellung eingeräumt werden278. Doch die sachliche Nachträglichkeit der Wissenschaft steht 276 277

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Siehe abermals Rheinberger 200a. Siehe LeBlanc 2002, 3 bzw. 6: „On comprend pourquoi la philosophie de Canguilhem représente un événement théorique majeur dans une histoire biologique de l’anthropologie. […] De ce renouvellement que la philosophie de Canguilhem fait subir à une histoire de l’anthropologie, il est possible d’en proposer un déroulement critique en fonction de trois concepts, l’individu, la subjectivité, le sujet.“ Ebd., 0: „Dieser Standpunkt, nämlich der der Wissenschaft, ist abstrakt; er verdankt sich einer Auswahl, mithin einer Auslassung. Die Frage danach, was die gelebte Erfahrung der Menschen in Wirklichkeit ist, übergeht ganz einfach, welcher Wert ihr für und durch die Menschen zukommt. Längst vor der

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in grellem Kontrast zu ihrem realhistorischen Vormachtsanspruch: Weil die Wissenschaft vom Leben ihren „Zusammenhang (…) mit der Normativität des Lebens und (…) mit den biologischen Techniken der Schaffung und Setzung des Normalen“ (ebd., 6) getilgt hat, muss man sagen, dass sie ihren Gegenstand entvitalisiert hat. Doch liegt Canguilhem nichts ferner als eine Philosophie des Lebendigen, die dabei Halt macht, den Antagonismus zwischen science und conscience, zwischen wissenschaftlicher Objektivierung und phänomenologischer Unmittelbarkeit, zu dramatisieren. Sein Ansatz wiederholt weder Bergsons romantische Option einer Überbietung des Intellekts durch die Intuition noch die epistemologische Kritik wissenschaftlicher Ideologien, wie sie von Althusser und seinem Kreis279 vorexerziert worden ist. Vielmehr ist die strategische Bedeutung der Immanenz des Lebens bei Canguilhem klarzustellen: Wenn das neuzeitliche Wissenschaftsideal auf der Annahme beruht, dass die Maschine das Modell ist, nach dem der Organismus funktioniert, dann würde die einzige wirklich zwingende Kritik dieser Annahme in dem Nachweis bestehen, dass die Maschine umgekehrt das Phänomen des Organischen konstitutiv (zu und in ihrer Konstitution) voraussetzt. Inmitten des Mechanismus anheben, um die Genese des Mechanismus aus dem Leben nachzuzeichnen – diese Intention ist es, die Canguilhems Relektüre (besser: Umschrift) der Geschichte der Wissenschaften vom Leben den Takt vorgibt. Canguilhem epistemologisiert also das Problem eines Wissens, das „wesentlich durch die Originalität des Lebendigen bestimmt“ (Muhle 2008, 80) ist. Anstatt in Abgrenzung vom wissenschaftlichen Wissen für eine dem Leben angemessene Rationalität bloß zu plädieren, weist er einen derartigen „vital rationalism“ geschichtlich, nämlich über die Rekonstruktion der Episteme, aus280. Canguilhem wählt den schwierigen und anspruchs-

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Wissenschaft sind es die Techniken, Künste, Mythologien und Religionen, die spontane Wertungen des menschlichen Lebens vornehmen. Die Entstehung der Wissenschaft hat an diesen Funktionen nichts geändert; deren unausweichlichen Konflikt mit der Wissenschaft hat freilich die Philosophie zu lösen, die damit ausdrücklich Wertphilosophie wird.“ Es war Althusser höchst persönlich, der – diskurspolitisch durchaus nicht ungeschickt – eine Lektüre von Bachelard, Canguilhem und Foucault vorschlug, deren angebliche Pointe im Einholen der „entire complex reality of history, in all its determinations – economic, social, ideological“ für eine Theorie wissenschaftlicher Rationalität zu finden sei. Die kritische Spitze der genannten Epistemologen sei gegen eine Ideologie der Kontinuität gerichtet, wie sie der Idealismus als repräsentative Philosophie des modernen Bürgertums entwickelt habe, und zwar in Abstraktion von den gelebten Illusionen der Subjekte. Siehe Althusser 96. Althusser betreibt hier eine offensive Politik der Vereinnahmung. Allerdings werden die Grenzen der forcierten ideologiekritischen Lesart, die Althusser auf Canguilhem anwendet, vielerorts offensichtlich; etwa dann, wenn Lecourt und Macherey, beide Schüler Althussers, Canguilhem eine „biologistische Geschichtskonzeption“ mit „notwendigerweise idealistischen Auswirkungen“ vorhalten. Eine solche Kritik beklagt nur, dass nicht harmoniert, was ohnehin nie harmonieren sollte. Siehe dazu Lecourt 97, 76. So beobachtete schon (der Ricœur-Schüler) Mikel Dufrenne in seiner brillianten Rezension von La connaissance de la vie im Jahr 93: „Fidèle à sa conception de l’épistémologie, M. Canguilhem le [gemeint ist ‚le vitalisme‘, Anm. T. E.] développe non en présentant d’emblée une philosophie de la vie; mais en procédant à l’examen des doctrines au long de leur histoire: la philosophie s’emploie à faire confesser à la science la philosophie qui lui est implicite.“ Dufrenne 93, 7.

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vollen Weg „vermittelter Unmittelbarkeit“28. Seine Historische Epistemologie der Wissenschaften vom Leben richtet sich als eine Lebensphilosophie ein, die im Gegensatz zu Bergson oder Nietzsche „zu keinem grundlegenden Konflikt zwischen Leben und Erkenntnis“282 führen muss. Jener schon mehrfach zitierte Rationalismus „qui procède de la connaissance à la chose“ (Canguilhem 99b, 3) wird solange mit sich selbst kontrastiert, bis er in einen „vitalen Rationalismus“ kippt, der „die Idee des Lebendigen dem Lebendigen selbst entnehmen muss“ (Canguilhem 2009, 22)283. Damit gelangt man auf der gedanklichen Linie an, die Canguilhem in den Texten seines erstmals 92 erschienenen Aufsatzbands La connaissance de la vie probiert. Im Folgenden konzentriere ich mich auf drei von fünf Aufsätzen, die in La connaissance de la vie zu einer gemeinsamen Sektion mit dem Titel „Philosophie“ gruppiert sind: Machine et organisme, Aspects du vitalisme und Le vivant et son milieu28. Diese Texte datieren zurück auf Vorlesungen, die Canguilhem 96/7 am erst kurz zuvor von Jean Wahl initiierten Collège philosophique in Paris hielt. In ihrem gemeinsamen Interesse an einer „history of biology“ (Gayon 998, 306) markieren sie, wie Jean Gayon notiert hat, eine „second phase“ (ebd.) in der Theoriegenese Canguilhems. Sie stellen die zweite Stufe der von Canguilhem elaborierten Variante eines lebendigen Wissens des Lebens dar. 28

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Siehe Balzaretti 200, : „Die zentrale Frage seiner [Canguilhems, T. E.] Philosophie, deren Antwort ihn erst in die Lage versetzen könnte, dem Projekt einer solchen ‚fröhlichen Wissenschaft‘ gerecht zu werden, wird sodann die nach den Verhältnissen zwischen, einerseits, dem axiologischen Primat, den er einer lebenden und leidenden Subjektivität in ihrem Verhältnis zum Milieu zuerkennt, und andererseits der entgegengesetzten Bewegung eines epistemologischen Bruchs mit der Unmittelbarkeit der subjektiven Erfahrung, in der er mit Gaston Bachelard die Zugangsschwelle zur Wissenschaftlichkeit sieht.“ Ebd. Das von Balzaretti so genannte „Projekt einer fröhlichen Wissenschaft“ bestünde bei Canguilhem also genau darin, eine Philosophie des Lebendigen zu denken, die die Originalität (Normativität) des Lebendigen verteidigt, ohne in einen aporetischen Antagonismus zur Struktur von Erkenntnis hinein zu geraten. Auch Maria Muhle hat die Transformation, um die es Canguilhem geht, im Blick. Anhand des Ansatzes von Foucault, den sie wiederum überzeugenderweise im Rückgriff auf Canguilhem erhellt, fragt Muhle nach einer „doppelten Rolle des Lebens“. Siehe Muhle 2008, . Was Muhle im folgenden Zitat vom (für Foucault entscheidenden) Konzept der Biopolitik sagt, gilt bei Canguilhem durchaus für das Verhältnis von Leben und Wissen (an Stelle von Biopolitik): „Das Leben ist nicht nur Gegenstand der Biopolitik, es ist zugleich das funktionale Modell, nach dem sich die Macht auf ihren Gegenstand bezieht. Mit anderen Worten: Die Biopolitik bezieht sich in einer Weise auf das Leben, die die Dynamik des Lebens imitiert bzw. aufnimmt. […] Biopolitik bezieht sich nicht nur auf das Leben, sondern funktioniert in einem ganz bestimmten Sinne wie das Leben, sie nimmt seine innere Dynamik auf.“ [Hervorhebungen i.O., T. E.] Die beiden übrigen Sektionen, Méthode und Histoire, umfassen jeweils nur einen einzigen Text: Im ersten Fall „L’expérimentation en biologie animale“, im zweiten Fall „La théorie cellulaire“. Beide Aufsätze werden im Folgenden, obwohl auch sie aufschlussreich für die Problemstellung dieser Untersuchung sind, nicht näher interpretiert. Alexandre Métraux spricht im Zusammenhang mit Machine et organisme, Aspects du vitalisme und Le vivant et son milieu von einer „Miniserie thematisch verwandter Texte“, wobei seine Einschätzung, dass „alle [die genannten drei Aufsätze, T. E.] das vielschichtige und zugleich nicht übermäßig übersichtliche Verhältnis der Philosophie zur Medizin thematisieren“, die spezifischen Motive dieser Texte nicht recht trifft. Siehe Métraux 200, 333.

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Bevor man sich den Argumentationen dieser Artikel im Einzelnen zuwendet, ist es hilfreich, eine Verschiebung zu identifzieren. In gewisser Hinsicht ist Canguilhem mit seinen Studien aus La connaissance de la vie recht nahe an Bachelards Modell von Epistemologie: Untersucht werden die Arten und Weisen, wie regionale Wissenschaften Wahrheitswerte produzieren, aber auch die Phänomenotechniken, mit denen sie ihre Gegenstände allererst konstruieren. Canguilhem nimmt den Standpunkt der Philosophie der Wissenschaftler, nicht den der Philosophie der Philosophen ein. Das Irritierende dieses Verfahrens liegt nun darin, dass Canguilhem im selben Maße, in dem er die historische Dominanz der mechanistischen Rationalität herausstellt, eine scharfe normative Kritik dieser Rationalität erreicht. Die epistemologische Reflexion erhält durch eine Doppelbewegung28, die sich zum einen an die szientifische Rationalität anschmiegt, zum anderen und gleichzeitig aber ihre normative Kritik eröffnet, ihre „eigentümliche Dimension“ (Rheinberger 200c, 229). In La connaissance de la vie bedient sich Canguilhem dieser hybriden Reflexionsform. Sie widersetzt sich ihrem Einbau in eine systematische Theorie, d.h. dem Anspruch, eigene kategoriale Bestimmungen zu entwickeln und gegen alternative Theorien zu verteidigen286. Canguilhem legt keinesfalls (wie Plessner) eine abgesicherte Philosophie des Lebendigen vor; vielmehr untersucht er bestimmte Konstellationen der Wissenschaften vom Leben, die er mit der axiologischen Bestimmung von Leben als Normativität, wie er sie in Das Normale und das Pathologische eingeführt hatte, kontrastiert.

a. Die kreative Differenz des Lebens: Machine et organisme Damit zu Machine et organisme. Canguilhem behauptet zum Einstieg, man habe „fast immer versucht, ausgehend von der Struktur und der Funktion der bereits gebauten Maschine die Struktur und die Funktion des Organismus zu erklären“ (Canguilhem 2009c, 8). In dieser unter „mechanistischen Philosophen und Biologen“ (ebd.) verbreiteten Sichtweise ist die Maschine immer schon „da“. Warum? Weil die Maschine „als materialisiertes Theorem“ gedacht worden sei, entstanden „in concreto durch einen gänzlich sekundären Konstruktionsvorgang (…), durch die einfache Anwendung eines Wissens, das sich seiner Tragweite und seiner Wirkungen gewiss ist ist“ (ebd.). Wenn Canguilhem daher als argumentatives Ziel seiner Abhandlung eine „Umkehrung“ (ebd., 8 und passim) der Tradition ausgibt, um „ausgehend von der Struktur und der Funktion des Orga28

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Alexandre Métraux skizziert demenstprechend eine „Methode des doppelten Zugriffs“, derer sich Canguilhem bediene, um „Erkenntnispakete der biomedizinischen Wissenschaften aufzuschnüren“. Siehe ebd., 327 bzw. 328. Zu Canguilhems „Volten“, seinen „Finessen und Finten im Umgang mit Quellen und Lektüreerwartungen“ sowie zu seiner „fortgesetzten Intervention im Namen philosophischer Unvoreingenommenheit zur Revision feststehender Urteile“ siehe Borck 2007, 2 bzw. 26. Borck muss allerdings vor einer näheren Bestimmung dieses Schreib- und Denktypus’ kapitulieren. Seine Darlegungen zu Canguilhem suggerieren eher ein wildes Denken, eine ekstatische Entgrenzung und Hybridisierung der Disziplinen, die womöglich durch das „Schielen auf prestigeträchtige Stellen in der Hauptstadt“ (ebd., 26) zu erklären sei. Was bei Borck fehlt, ist der Hinweis auf Canguilhems Rückkopplung einer Kritik der Lebenswissenschaften an die epistemische Eigenart des Gegenstands, von dem diese Wissenschaften Rechnung abzulegen versuchen: ein Hinweis auf Canguilhems Sicht des Lebendigen.

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nismus den Aufbau der Maschine zu verstehen“ (ebd.), so führt sein Weg unvermeidlich über eine Neuinterpretation der Technik, insoweit diese nicht länger als ein Derivat der Erkenntnis beschreibbar ist. Canguilhem beginnt mit einer „kurze[n] Erinnerung an elementare Begriffe der Kinematik“ (ebd., 87): „Man kann die Maschine als eine künstliche Konstruktion, als Werk des Menschen definieren, dessen wesentliche Funktion von Mechanismen abhängt. Ein Mechanismus ist eine Konfiguration fester Körper in Bewegung, die so beschaffen ist, dass die Bewegung die Konfiguration nicht zerstört. Der Mechanismus ist also eine Zusammensetzung beweglicher Teile, deren Bewegungen die gleichen Verhältnisse zwischen den Teilen periodisch wiederherstellen […] Der Mechanismus regelt und transformiert eine Bewegung, deren Impuls zuvor auf ihn eingewirkt hat. Ein Mechanismus ist kein Motor.“ (Ebd., 8 bzw. 86)

Diese kinematische Definition enthält die zentrale Aporie der Maschine, auf die es Canguilhem in seinem Text ankommt. Denn wie Canguilhem darlegt, lässt sich durch die Struktur des Mechanismus zwar der Vollzug von Bewegungen erklären – die mechanisch voneinander abhängenden Bestandteile sind einander so zugeordnet, dass sie ihre ursprüngliche Beziehung reproduzieren. Was hingegen durch diese funktionale Definition nicht erklärt wird, ist der Ursprung, die Herkunft der maschinell verarbeiteten Bewegung. Die technische Definition der Maschine betrifft einen funktionalen Ablauf, der Bewegung nach fest stehenden Gesetzen (der Mechanik) perpetuiert, zugleich aber diese Bewegung als ein Datum hinnimmt, das dem Ablauf vorausliegt. Im nächsten Argumentationsschritt zeigt sich Canguilhems Spiel mit raffinierten Umkehrungen. Sein Schachzug besteht darin, gewisse Konzepte, die in der Geschichte der mechanistischen Naturtheorien Verwendung finden, nicht etwa als Formulierungen eines apodiktischen Modells aufzufassen, von dem her das Organische funktional erklärt werden kann, sondern als Annäherungen an die irreduzible Besonderheit des Organischen, sich selbst zu regulieren. Im Anschluss an seine kinematische Definition der Maschine konstatiert Canguilhem (mit rhetorischer Verwunderung): „Wie lässt sich erklären, dass man in Maschinen und Mechanismen (…) ein Modell der Struktur und der Funktionen des Organismus gesucht hat?“ (ebd., 87) Da die Inkommensurabilität zwischen Mechanischem und Organischem deutlich zu Tage liege, so Canguilhem, seien mechanistische Philosophien (und Techniktheorien) historisch zur Einführung von Erklärungen übergegangen, die nicht mehr strictu sensu als mechanistisch zu bezeichnen sind. Canguilhem verweist hier auf einen wissenschaftsgeschichtlichen Sachverhalt, auf das Auftauchen der Vorstellung eines „Motors“ zur Umschreibung der Herzfunktion. Zur Basis dient eine Passage aus „der 696 erschienen Praxis Medica von Giorgio Baglivi (668–707), einem italienischen Mediziner aus der Schule der Iatromechaniker“ (ebd., 89)287. Welcher Schluss lässt sich aus der Tatsache ziehen, dass Baglivi in seiner Abhand287

Die betreffende Textstelle Baglivis, zitiert nach Canguilhem, lautet: „Untersuchen Sie mit etwas Aufmerksamkeit die physische Ökonomie des Menschen: was finden Sie dort? Was sind die mit Zähnen bewaffneten Kiefer anderes als Zangen? Der Magen ist nur eine Retorte; die Venen, die Arterien, das gesamte System der Gefäße sind hydraulische Röhren; das Herz ist eine Triebfeder; die Eingeweide sind nur Filter, Siebe; die Lunge ist nur ein Blasebalg. Was sind die Muskeln, wenn nicht Seile? Was der Augwinkel, wenn nicht eine Rolle? Und so weiter und so fort. Lassen wir die Chemiker versuchen, mit ihren großen Worten von ‚Fusion‘, ‚Sublimation‘,

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lung die Analogie von Organfunktionen und mechanischen Vorrichtungen im Rekurs auf heterogene Typen des Mechanischen illustriert288? Wenn Baglivi das Herz als eine Feder umschreibt, die Feder aber als Motor, d.h. als einen sich selbst (mit Energie) versorgenden, sich selbst tragenden Mechanismus, so wird der schon genannten kinematischen Bestimmung der Maschine durch dieses Bild eine völlig andere Idee zur Seite gestellt: Die Idee nämlich, dass sich die in einem mechanischen Ablauf umgesetzte Energie einer Quelle verdankt, die ihrerseits dem ganzen Ablauf vorausliegt. Das Konzept des Motors übersteigt – wie im übrigen das Konzept des Automaten289 – die mechanische Logik, weil es das Problem einer externen Antriebskraft aufwirft, die der Maschine Energie zuführt, ohne durch die Maschine bedingt zu sein290. Am Beispiel der iatromechanischen Schule weist Canguilhem mithin eine ungewollte Verunklarung des mechanistischen Denkens auf. So sehr sich nämlich die Iatromechaniker explizit in der Nachfolge Descartes’ sehen29, so sehr kann Canguilhem an ihrem Paradigma eine spektakuläre Entdeckung machen: Die Iatromechaniker dokumentieren den finalistischen, ja aristotelischen Kern des cartesianischen Mechanismus. Diese These eines ungedachten Finalismus im Mechanismus ist es, die Canguilhems Neufassung der Relation von Maschine und Organismus in sich zusammenhält. Indem Baglivi den Begriff der Maschine zum Begriff des Motors erweitert, der seine „Energie in dem Moment, in dem [er] benutzt [wird], aus einer anderen Quelle [bezieht] als der tierischen Muskelkraft“ (ebd., 90) bezieht, exponiert er weniger eine Verwandtschaft zu Descartes als vielmehr zu Aristoteles. Im Hintergrund steht hier, so Canguilhem, der aristotelische Vergleich der Bewegungsabläufe der Tiere „mit Teilen von Kriegsmaschinen, zum Beispiel dem Arm eines Katapults, das ein Wurfgeschoss schleudert“ (ebd., 9). Die Pointe dieses aristotelischen Theorems bestehe aber darin, dass es lebendiges Verhalten nicht etwa nach dem Modell der Maschine bemisst. Im Gegenteil dient ein technisches Gerät – das Katapult repräsentiert für Canguilhem einen „Archetyp“ der automatischen Maschine – dazu, einen organischen Vorgang verständlich zu machen. Vor allem wird durch das Bild des Katapults ein uneinholbarer Abstand zwischen der Maschine und ihrem Vorbild, dem Organismus, offen gelegt: Das Katapult bedarf einer „Enerqiequelle (…), deren motorische Wirkungen erst lange nach dem Ende der menschlichen oder tierischen

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‚Präzipitation‘ die Natur zu erklären und so eine eigene Philosophie zu entwickeln; es ist nichtsdestotrotz unbestreitbar, dass all diese Phänomene den Gesetzen des Gleichgewichts, des Keils, des Seils, der Feder und der anderen Elemente der Mechanik gehorchen müssen.“ (Canguilhem 2009c, 88f.) Ebd., 90: „(…) während das Seil ein Übertragungsmechanismus und der Keil ein Transformationsmechanismus für eine gegebene Bewegung ist, ist die Feder ein Motor. Zweifelsohne ist sie ein Motor, der nur zurückgibt, was man ihm zuvor geliehen hat, doch scheint sie im Moment der Handlung unabhängig zu funktionieren.“ Ebd. Dazu Schark 200, 30. Canguilhem präsentiert das Baglivi-Zitat, ohne seine Quelle vorab zu nennen. Vielmehr gibt er folgenden lakonischen Kommentar, nachdem er das Zitat, das er lediglich als Teil „eines bekannten Textes“ ankündigt, eingeschoben hat: „Dieser Text stammt nicht von demjenigen, von dem man es glauben könnte…“ (Canguilhem 2009c, 89). Aus Baglivis Text spricht – aber dies ist wohl kaum überraschend – der Geist des Cartesianismus.

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Kraftanstrengung, die von den Vorrichtungen freigesetzt wird, auftreten“ (ebd., 92). Für den Organismus hingegen gilt, dass der „mechanischen“ Wirkung des Bewegungsorgans eine Tätigkeit zu Grunde liegt, die vom Organismus selbst entfacht wird. Die aristotelische Konzeption berücksichtigt also ein Motiv der Zeitlichkeit, einen Zustand, der die mechanische Bewegung in dem Maße ermöglicht, in dem er ihr nicht zugehört: Die Maschine wird als ein Speicher gedacht, der eine Energiemenge, die ihm von Außen zugeführt worden ist, umsetzt. Was Aristoteles betrifft, so zögert Canguilhem nicht, sogleich auf die am Gedanken der Finalität orientierte, letztlich metaphysische Begründung des Bewegungsphänomens zu sprechen zu kommen292. Aber nicht nur, was die Bindung der lebendigen Bewegung an eine metaphysische causa finalis angeht, tritt die aristotelische Option in den größtmöglichen Gegensatz zu Descartes: „Dieser zeitliche Abstand zwischen dem Moment der Freisetzung und dem der Speicherung der später durch den Mechanismus freigesetzten Energie lässt das Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Wirkungen des Mechanismus und der Aktivität eines Lebendigen in Vergessenheit geraten.“ (Ebd., 92)

Canguilhem konstruiert eine Asymmetrie zwischen Aristoteles und Descartes, die nicht zufällig an der Rolle der Technik ablesbar ist293. Obwohl die Analogie zwischen Organismen und Maschinen für Aristoteles offensichtlich eine zeitliche Differenz dieser beiden Gebilde einschließt, ist nicht zu leugnen, dass bei Descartes „mit einer Deutlichkeit, ja einer Brutalität, die nichts zu wünschen übrig lässt, eine mechanistische Deutung der biologischen Phänomene auftaucht“ (ebd., 93). Canguilhem gibt für diese Verschiebung eine Begründung an, die hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden kann; sie besticht durch ihren polemischen Ton und eine genüsslich zur Schau gestellte Gelehrsamkeit, der es auf alles andere ankommt als auf eine philologisch saubere Descartes-Exegese29. 292

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Ebd., 92: „Jede Bewegung erfordert einen ersten Beweger. Die Bewegung setzt das Unbewegte voraus; was den Körper bewegt, ist der Wunsch, und was den Wunsch erklärt, ist die Seele, so wie das, was das Vermögen erklärt, der Akt ist.“ Der Cartesianismus geht demnach wie selbstverständlich vom Primat der Wissenschaft aus, sieht in der Maschine die bloße Applikation reiner Erkenntnis und hält sie für das Erklärungsmodell, dem das Organische funktional exakt entspricht. Aristoteles hingegen erklärt eine technische Konstruktion nach dem Vorbild des Organischen, wobei seine Beschreibung einer zeitlichen Differenz Rechnung zu tragen scheint: Das Katapult speichert eine Kraft, die ihm von Außen zugeführt wird, während die Energie, die im Muskel umgesetzt wird, an einer anderen Stelle des Organismus, aber doch im Ganzen vom Organismus selbst, generiert werden kann. Dieser Zusammenhang von Natur (bzw. Leben) und Technik wird bei Aristoteles seinerseits nicht mehr durch einen übergreifenden Begriff von Wissenschaft begründet. Canguilhem wählt einen betont abenteuerlichen Interpretationsansatz: Er wendet schlicht eine materialistische Hypothese über die Interdependenz von Theorien mit ökonomischen und politischen Produktionsbedingungen der bürgerlichen Gesellschaft an. Hier verfährt Canguilhem mit deutlichem Augenzwinkern, indem er en passant einige Diskussionen streift, in denen etwa über den Zusammenhang zwischen der antiken Verachtung der Arbeit mit der Militanz der polis respektive mit der Realität der Sklaverei oder über eine Abhängigkeit des mechanistischen Weltbilds von ökonomischpolitischen Produktionsverhältnissen spekuliert wird (Pierre-Maxime Schuhl, Père Laberthonnière, Franz Borkenau, Henryk Grossman). Vor allem Canguilhems Schlenker zur Kontroverse zwischen Borkenau und Grossman, die im Umfeld des ersten Frankfurter Instituts für Sozialforschung und in

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Canguilhem möchte in seinem Text auf eine Konsequenz von enormer Radikalität hinaus: Die cartesianische Axiomatik, die den Menschen als Einheit der beiden strikt dualistisch geschiedenen Substanzen res extensa vs. res cogitans bestimmt und den Körper als Maschine definiert29 – diese Axiomatik der Tier-Maschine sei von Descartes selbst finalistisch im Rückgriff auf einen Artifex Maximus, einen schöpferischen Gott, gedacht, der sich noch dazu bei der Erfindung der Maschine an einem „vitalen Original“ (ebd., 20) habe orientieren müssen296. Was für eine Akzentverschiebung: Descartes habe keineswegs ein Denken entworfen, das die aristotelische causa finalis als metaphysische Illusion aus der Welt schafft. Im Gegenteil finde bei Descartes ein gigantischer Umschlag

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der Zeitschrift für Sozialforschung ausgetragen wurde, ist bemerkenswert. Während Borkenau das mechanistische Weltbild für eine Intellektualisierung des Prinzips der Arbeitsteilung hielt, wandte Grossman gegen Borkenau ein, dass Technisierung und Mechanisierung vormoderne, dem Frühkapitalismus historisch vorgängige Entwicklungen gewesen seien. Die maschinelle Technik sei nicht auf einen Ursprung in der kapitalistischen Wirtschaftsform auflösbar. Grossman zufolge habe Descartes, „anstatt unbewusst die Praktiken einer kapitalistischen Ökonomie zum Ausdruck zu bringen, vielmehr bewusst eine maschinistische Technik rationalisiert“ (ebd., 99). Es ist aufschlussreich, dass Canguilhem sich Grossmans Argument einer Anteriorität der Technik – gegenüber der Ökonomie, aber auch gegenüber der reinen Erkenntnis – auf diskrete Weise anschließt: Auch Canguilhem forciert die These, wenn auch aus Gründen, die keineswegs im Marxismus zu suchen sind, der Cartesianismus sei die nachträgliche Rationalisierung technischer Formationen. Canguilhem bezieht sich auf den Anfang von Descartes’ 662 erschienener Abhandlung Traité de l’homme. Ich zitiere, da diese Stelle für das folgende Argument eminent ist, die entsprechende Passage nach Descartes 969, 3–: „Die Menschen sind – wie wir – aus einer Seele und einem Körper zusammengesetzt. Und es ist erforderlich, dass ich zuerst den Körper für sich und danach auch die Seele für sich beschreibe, und schließlich werde ich darlegen, wie diese beiden Wesen zusammengefügt und vereint werden müssen, damit Menschen entstehen, die uns gleichen. Ich stelle mir einmal vor, der Körper sei nichts anderes als eine Statue oder eine Maschine aus Erde, die Gott formt, so dass sie aussieht wie wir. Und dass er ihr nicht nur äußerlich die Farbe und die Gestalt all unserer Glieder gibt, sondern auch im Innern all die Teile einsetzt, die es braucht, um sie laufen, essen, atmen, kurz alle unsere Körperfunktionen nachahmen zu lassen, von denen man sich vorstellen kann, dass sie direkt aus der Materie stammen und lediglich von der Anordnung der Organe abhängen. Wir sehen Uhren, künstliche Wasserspiele, Mühlen und andere ähnliche Maschinen, die, obwohl sie nur von Menschen hergestellt wurden, ohne Unterlass fähig sind, sich autonom auf ganz unterschiedliche Weise zu bewegen. Mir scheint, ich könnte mir bei ihnen gar nicht so viele Bewegungsarten vorstellen, wie ich sie Gottes Werk zuschreibe, noch ihm so viel Kunstfertigkeit zuschreiben, dass ihr euch nicht vorstellen könntet, dass es noch mehr gäbe.“ Siehe Canguilhem 2009c, 20f.: „Das erste Postulat besagt, dass ein Schöpfergott existiert, und das zweite, dass vor der Konstruktion der Maschine das Lebendige als solches gegeben sei. Anders gesagt, um die Tier-Maschine zu verstehen, muss man sie als etwas wahrnehmen, dem im logischen und chronologischen Sinn zugleich Gott als Wirkursache und ein nachzuahmendes, bereits existierendes Lebendiges als Formund Zweckursache vorausgehen. […] Der kartesianische Gott, der artifex maximus, arbeitet daran, es dem Lebendigen gleichzutun. Das Modell der belebten Maschinen ist das Lebendige selbst. Die Idee des Lebendigen, die von der göttlichen Kunst nachgeahmt wird, ist das Lebendige. Und ebenso wie ein regelmäßiges Viereck in einen Kreis eingeschrieben ist und es des Durchgangs durch das Unendliche bedarf, ist auch das mechanische Artefakt in das Leben eingeschrieben: Um von dem einen auf das andere zu schließen, bedarf es des Durchgangs durch das Unendliche, das heißt durch Gott.“

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in die Metaphysik statt, und zwar in Folge des hypertrophen Versuchs, die Natur insgesamt als Maschine zu denken. Denkt man die Natur als Maschine, so mag man – aber auch dies wäre erst noch zu zeigen – die rein mechanischen Bewegungen aller Phänomene und ihre wechselseitige Abhängigkeit voneinander erklären. Was aber nicht durch die Maschine gedacht werden kann, ist die Erschaffung der Maschine selbst. Die metaphysische Aporie bei Descartes besteht darin, das In-Gang-Setzen der Tier-Maschine nur unter Einführung einer Entität begründen zu können, die das mechanische Prinzip radikal transzendiert. Je mehr sie die kreative Differenz (die Differenz der Kreation), die der Organismus/das Leben uneinholbar vor der Maschine voraus hat, leugnet, desto tiefer verstrickt sich die cartesianische Theorie in einen Antagonismus von Immanenz (der mechanisierten Natur) und Transzendenz (Gottes als schöpferische Entität)297. Aber nicht genug damit, dass Canguilhem Descartes eine Philosophie der Finalität unterschiebt; die eigentliche Pointe der Interpretation ist im vermeintlichen „zweiten Postulat“ des Traité de l’homme impliziert. Was genau behauptet Canguilhem? Er sagt nicht etwa, Descartes habe sich die mechanisierte Natur nur dank eines Schöpfergottes vorstellen können, der die kosmische Maschine nach dem Bilde von Lebewesen eingerichtet habe, die ebenfalls seine Geschöpfe wären. In diesem Falle würde Gott über einen intellectus archetypus verfügen, der das, was er denkt, eben dadurch, dass er es denkt, erschafft. Der kreative, finalistische göttliche Akt wird hingegen von Canguilhem völlig anders gewendet: Er schreibt, der Artifex Maximus arbeite „daran, es dem Lebendigen gleichzutun“ (ebd., 20). Dies aber heißt ungeheuerlicherweise, dass das Lebende schon präsent, schon vorfindlich ist, noch bevor Gott die Tier-Maschine (die Natur) konstruiert. Das Lebendige ist das unvordenkliche telos, zu dessen Nachahmung Gott die Natur mechanisiert. Es ist klar, worauf es Canguilhem mit dieser weit ausholenden metaphysischen Spekulation absieht: Auf die Aufwertung der technischen Tätigkeit vor der reinen Erkenntnis und auf die These, dass „der Antrieb der Technik“ (Canguilhem 2006a, 9), wie er es andernorts formuliert, „in den Erfordernissen des Lebewesens“ (ebd.; Hervorhebung i.O., T. E.) liegt. Es ist hier weder möglich noch notwendig, Canguilhems Gedankengang in Machine et organisme bis zum Schluss mitzugehen298. Festzuhalten ist dies: Canguilhem deckt im 297

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Siehe Muhle 2008, 83: „Descartes verschiebt, so Canguilhem, das Prinzip des Lebens und hebt es in eine Transzendenz, indem er es dem ‚Dieu créateur‘, dem Schöpfergott, zuschreibt, der nach dem Vorbild schon existierender organischer Wirklichkeiten Lebewesen als Maschinen kreiert.“ Zumindest aber ist jener provokante Dreh anzusprechen, mit dem Canguilhem den Kant der dritten Kritik gegen Descartes als einen Denker profiliert, der auf der Unableitbarkeit des Organischen vom Mechanischen „und symmetrisch hierzu“ (ebd., 22) auf der Unableitbarkeit der Kunst bzw. der Technik von der Wissenschaft bestanden habe. Zum einen habe Kant (im §6 der Kritik der teleologischen Urteilskraft) gesehen, dass der Organismus im Unterschied zur Maschine ein Ganzes darstellt, bei dem jedes Teil nicht nur um des Ganzen willen existiert, sondern auch durch das Ganze hervorgebracht zu sein scheint. Canguilhem bringt diese Einsicht lakonisch auf die Formel: „Es gibt keine Uhr zum Herstellen von Uhren“ (ebd.). Zum anderen aber sei sich Kant (im §3 der Kritik der ästhetischen Urteilskraft) über die Differenz zwischen der intentionalen Technik des Menschen von der nicht-vorsätzlichen Technik des Lebens (die Übersetzung von Bardoux, Muhle und Raimondi unter Canguilhem 2009c, 22 ist hier fehlerhaft) im Klaren gewesen. Folglich sind Gebilde, die durch Anwendung theoretischen Wissens angefertigt werden, eben nicht als Kunst bestimmbar:

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Herzen der mechanistischen Tradition eine Haltung auf, die den Primat des Lebens einbekennt. Obwohl das mechanistische Programm seit der Neuzeit die wissenschaftliche Erfassung des Organischen betreibt, trägt dieses Denken zum einen die Ahnung einer uneinholbaren Differenz des Organismus gegenüber der Maschine und zum anderen ein Gespür für die Unvordenklichkeit der Technik gegenüber dem theoretischen Wissen in sich. Jener Rationalismus, der das Leben, indem er es zum Gegenstand von Wissenschaft machte, entvitalisiert hat, wird von Canguilhem mit seinem uneingestandenen vitalen Kern konfrontiert. Was man sehen muss, ist die performative Struktur dieser Historischen Epistemologie Canguilhems: Seine epistemologische Rekonstruktion ist selbst nichts anderes als eine polemische Intervention. Sein Anliegen ist, inmitten einer Geschichte, die „das Leben ohne das Leben (…) erklären will“ (Muhle 2008, 8; Hervorhebung i.O., T. E.), inmitten der Geschichte des sich vollbringenden Mechanizismus also, ein Wissen freizulegen, welches „das Leben aus dem Leben heraus und einer inneren Herausforderung folgend“ (ebd.; Hervorhebung i.O., T. E.)299 erschließt. In dieser Hinsicht kann man die Denkweise, die ein Wissen vom Leben im geschilderten Sinne ins Spiel bringt, als Vitalismus bezeichnen.

b. Der Appell des Phänomens an die Erkenntnis: Aspects du vitalisme Als Epistemologe auf das Wissen vom Leben hinzuweisen, das der Geschichte des Mechanizismus eingeschrieben und zugleich von ihr ausgeschlossen ist, bedeutet, Vitalist zu sein. Das Wissen vom Leben ist nur über eine historische Brechung, nur im Medium der Historischen Epistemologie, artikulierbar, aber diese Epistemologie vollzieht selbst die Anerkennung der vitalen Originalität. Diese eigentümliche These, wonach der Vitalismus „eher ein Anspruch als eine Methode“ (Canguilhem 2009b, 8) und somit immer schon mehr als eine spezifische Schule oder Strömung der Philosophie ist, führt Canguilhem in

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Derjenige, der weiß, „wie der beste Schuh beschaffen sein müsste“ (Kant zitiert nach ebd.), sei kraft dieses Wissens eben noch nicht in der Lage, den Schuh praktisch herzustellen. Der Modus der poiesis unterscheidet sich qualitativ von der theoria. In diesen Denkfiguren Kants sieht Canguilhem Züge einer Philosophie der Technik, die eine originäre Tradition in Deutschland nach sich gezogen habe. Wie selbstverständlich verweist Canguilhem zum Beleg auf Theoretiker wie Paul Krannhals, Alard Du Bois-Reymond, Ernst Kapp oder Eduard von Hartmann, die Kants Motiv einer irreduziblen Qualität der Technik aufgegriffen hätten. Die „deutsche“ Genealogie, die Canguilhem hier eröffnet, ist ein kalkulierter Verstoß gegen die political correctness: Denn die von ihm als veritable Denker der Technik ins Feld geführten Autoren sind nicht nur kryptisch, sondern vor allem politisch belastet – Krannhals’ Weltsinn der Technik etwa war den Nationalsozialisten eine willkommene Legitimierung für ihre technokratische Herrschaftsideologie. Es ist nicht einzusehen, aus welchen Gründen Muhle bei Canguilhem den Versuch ausmacht, „eine Theorie des Lebens, eine Lebenswissenschaft“ (Muhle 2008, 86) zu etablieren. Das historische Problem des Vitalismus besteht für Canguilhem keineswegs darin, dass die „Möglichkeit einer Wissenschaft vom Lebendigen zu Gunsten der Bewahrung seiner Spezifität“ (ebd., 82) über Bord geworfen werden musste. Für Canguilhem muss die Konzeption einer science de la vie nach wie vor zum Scheitern verurteilt sein. Wie Muhle an anderen Stellen richtig sagt, elaboriert Canguilhem „ein Wissen vom Leben aus dem Leben“ (ebd.) – nicht aber eine Lebenswissenschaft. Das Projekt der Lebenswissenschaften ließe sich aus strukturellen Gründen mit Canguilhem niemals fundieren, worin wiederum eine signifikante Differenz zu Plessner liegt. Aber damit greife ich vor.

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seinem Aufsatz Aspects du vitalisme näher aus300. Man wird feststellen, dass Canguilhem auch in diesem Text eine vitalistische Haltung des Denkens verteidigt, jedoch im Vergleich zu Machine et organisme den Ton radikal verschärft30. Es genügt, sich auf die Kernpunkte der Argumentation zu beschränken. Alles in allem stellt Canguilhem drei Aspekte des Vitalismus heraus. Den ersten dieser Aspekte tituliert Canguilhem als „Vitalität“ (ebd., 2) des Vitalismus. Was ist darunter zu verstehen? Wichtig ist zunächst, dass Canguilhem unter dem Begriff „Vitalismus“ heterogene Konzeptionen fasst, die sich keineswegs in eine kollektive Tradition einschreiben oder auch nur aufeinander Bezug nehmen. „Von Hippokrates und Aristoteles bis zu Hans Driesch, Constantin von Monakow und Kurt Goldstein (…), über Jan Baptist van Helmont, PaulJoseph Barthez, Johann Friedrich Blumenbach, avier Bichat und Jean-Baptiste de Lamarck, Johannes Müller und Karl Ernst von Baer sowie, nicht zu vergessen, Claude Bernard“ (ebd.) durchquert Canguilhem „ein ganzes Geflecht von Forschern (…), die oftmals nur blind miteinander kooperierten“ (Schmidgen 2008a, VIII)302. Was dieses disparate Panorama von Denkern und Positionen über Jahrhunderte und kulturelle Grenzen hinweg zusammenhält, ist Canguilhem zufolge weniger ein präzise identifizierbares Lehrgebäude, als vielmehr ein immer wiederkehrender Einsatz – eine Parteinahme. Seit der Antike existiere nicht etwa eine Frontstellung zwischen den Vitalisten und ihren Gegnern; die Frage nach der Eigenheit des Lebens habe in einer historischen Pluralität von Konflikten und in einem Spiel zwischen ständig wechselnden, einander widerstreitenden Theorien Gestalt(en) angenommen303. Diese Antinomien verweisen, so Canguilhem, auf den nicht abschließend bestimmbaren Charakter des Lebens, aber vor allem auf die sich immer wieder zeigende Resistenz des Lebens gegenüber mechanistischen Erklärungssystemen. Wenn es in der Geschichte der Philosophie und der Wissenschaften eine „Zurückkehren zu Positionen [gibt], denen sich das Denken scheinbar definitiv verabschiedet hatte“ (Canguilhem 2009b, 3), so ist diese anachronistische Dynamik „als Ausdruck einer verkannten Dialektik“ (ebd.) zu betrachten, wobei „der Forschungsgegenstand selbst, das Leben, die dialektische Essenz ist“ (ebd.), dessen Strukturen „sich das Denken (…) zu eigen machen muss. Das Leben geht über die Gegensätze von Mechanismus und Vitalismus, Präformation und Epigenese hinaus und setzt sich bis in die Theorie des Lebens hinein fort“ (ebd.) 300 30

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Siehe zur Interpretation dieses Textes Han 2008. Die Fehde zwischen Mechanismus und Vitalismus wird hier gleichsam als ein militanter Konflikt dargestellt, als ein Richtungsstreit, in dem es deshalb keine Vermittlung geben kann, weil nichts Geringeres auf dem Spiel steht als das Leben selbst, d.h. die Zu- oder die Aberkennung eines irreduziblen Status’ des Lebens. Insofern besteht ein dramatischer und wirklich grundlegender Unterschied, ob ein Denker das Leben aus dem Leben heraus oder aber von der Materie her, d.h. unter Ausschluss des Lebens auffasst: Entweder-Oder, Immanenz oder Transzendenz, Leben oder Materie. Schmidgens Bemerkung bezieht sich zwar auf Die Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert, lässt sich jedoch für Canguilhems Verfahrensweise in „Aspects du vitalisme“ bruchlos adaptieren. Siehe auch Muhle 2008, 8. Canguilhem 2009b, 2f.: „Mechanismus und Vitalismus stehen sich im Hinblick auf das Problem der Strukturen und Funktionen gegenüber; Diskontinuität und Kontinuität im Hinblick auf die Abfolge der Formen; Präformation und Epigenesis im Hinblick auf die Entwicklung des Seins; Atomizität und Ganzheit im Hinblick auf das Problem der Individualität.“

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Der Vitalismus hat also deshalb einen ebenso überdauernden wie protheischen Charakter30, weil der Gegenstand Leben selbst ein immer anders werdender ist und letztlich jeden Widerstreit der Theorien übersteigt. Im Zusammenhang mit diesem ersten „Aspekt des Vitalismus“, seiner Vitalität, macht Canguilhem eine instruktive Aussage: „Wenn der Vitalismus einen permamenten Anspruch des Lebens im Lebendigen zum Ausdruck bringt, dann gibt der Mechanismus eine permanente Haltung des menschlichen Lebewesens gegenüber dem Leben wieder. Der Mensch ist das durch die Wissenschaft vom Leben getrennte Lebewesen, das versucht, durch die Wissenschaft wieder mit dem Leben zusammenzukommen. Während der Vitalismus vage und unausgesprochen bleibt wie ein Anspruch, ist der Mechanismus strikt und gebieterisch wie eine Methode.“ (Ebd., f.)

Nehmen wir dieses Zitat beim Wort: Im Vitalismus „übersetzt“ sich ein Anspruch, der vom Leben aus an das Lebendige ergeht. Im Mechanismus hingegen übersetzt sich eine Haltung, die das menschliche Lebewesen gegenüber dem Leben [einnimmt. Hinter der subtilen Opposition von „Anspruch“ und „Haltung“ wird ein heftiger Gegensatz spürbar: Während der Vitalist sich vom Leben bestimmen lässt und dem Leben einen „aktiven Status“ (Muhle 2008, 87) zuschreibt (das bevorzugte Beispiel Canguilhems hierfür ist das hippokratische Prinzip der vis medicatrix naturae), ist der Mechanist derjenige, der seine eigenen Herrschaftsansprüche genau dadurch legitimiert, dass er jegliche vitale Kraft der Natur radikal delegitimiert. Canguilhem ideologisiert den Antagonismus zwischen Vitalisten und Mechanisten: Wer den Anthropozentrismus verteidigt, kann nicht anders, als die Differenz des Lebens zu annullieren“30. Und abermals ist Canguilhems Pointe die: In erster Linie erschließt der Mensch seine Wirklichkeit auf technisch-pragmatische Weise. Eine Maschine ist (im Unterschied zum Leben) nicht schöpferisch, setzt aber einen Schöpfungsakt voraus, und in dieser ihm zur Verfügung stehenden Kunst erfährt der Mensch seine Mächtigkeit über die Natur. Der Mechanismus im Sinne einer philosophischen Theorie ist, so gesehen, nichts anderes als die Rationalisierung der vom Menschen ausgeübten technischen Gewalt. Umgekehrt heißt dies für eine Definition des Vitalismus: „Ein Vitalist, würden wir vorschlagen, ist ein Mensch, der sich eher durch die Betrachtung eines Eies als durch die Handhabung einer Seilwinde oder eines Schmiedeblasebalgs zum Nachdenken über die Probleme des Lebens angehalten fühlt (…) Dieses vitalistische Vertrauen in die Spontaneität des Lebens, dieser Vorbehalt – und bei manchen sogar das Grauen – davor, das Leben aus einer in Mechanismen zerlegten Natur hervorgehen zu lassen, das heißt aus einer Natur, die nur aus einer Summe von Geräten besteht, analog zu jenen, die die menschliche Absicht, gegen die Natur wie gegen ein Hindernis zu kämpfen, geschaffen hat, finden ihre typische Verkörperung in einem Menschen wie van Helmont.“ (Canguilhem 2009b, 9 bzw. 60)

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Siehe Wolfe 2007, : „Canguilhem’s response (…) would be that if vitalism is a permanent bugbear for mainstream mechanistic science, then it has a somewhat ‚undead‘ character.“ Canguilhem spricht im frz. Original von „annuler“, das mir hier in der Tat besser mit „annullieren“ als mit „aufheben“, wie es die deutsche Übersetzung unter Canguilhem 2009b, 8 vorschlägt, übersetzbar scheint.

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Canguilhem bestimmt den Vitalismus mithin als eine Form der Anschauung, die man am ehesten als phänomenologisch bezeichnen könnte306. Diese „nicht empirisch restringierte Anschauung“ (Mitscherlich 2007, 26), die Canguilhem als die angemessene Perspektive auf das Leben reklamiert, ist auch für den zweiten von Canguilhem diskutierten Vitalismus-Aspekt, seine „Fruchtbarkeit“ (Canguilhem 2009b, 6), prägend. Es ist wichtig, dieses Theorem Canguilhems im Detail zu erhellen. Interessanterweise greift Canguilhem auf Hans Spemanns Untersuchungen zur Funktion des sogenannten „Organisators“ bei der Genese der Keimblätter (Gastrulation) zurück. Spemanns Hypothese besagte, dass die Ontogenese des Embryos (bei Amphibien) von einem genau zu lokalisierenden Segment in der befruchteten Eizelle aus reguliert wird. Dieser als „Organisator“ bezeichnete Zellabschnitt legt die Proteinsequenz fest, welche die Herausbildung der embryonalen Keime strukturiert. Spemanns Experimente legten nahe, dass sich durch Transplantation der Organisatorregion von einem Embryo in einen anderen eine Verdoppelung der Keimblättergenese und letztlich eine zwillingsartige Duplizierung organischer Strukturen erzielen lässt. Ohne Zögern gesteht Canguilhem zu, dass Spemann das geschilderte Experiment insofern als Widerlegung des Vitalismus ausgeben konnte, als dass die rein chemische Kausalität des Organisators damit bewiesen schien307. Jedoch feiert „die für einen Moment triumphierende mechanistische Interpretation“ (ebd., 63) einen Pyrrhussieg: Implantiert man nämlich den Organisator (also das betreffende Segment der Zygote) eines Frosches in den Embryo eines Molches, so bildet sich die neuronale Achse eines Molches heraus308. Es ist nicht der Fall, dass der fremdartige Organisator einen chemischen Zusammenhang (der Proteine) festschreibt, dem die Keimblätterentwicklung des Zielorganismus folgen würde; vielmehr wird der Organisator an die spezifischen Bedingungen des Zielorganismus angepasst. Damit wird der Hypothese von der chemischen Determinierung der Keimblättergenese durch einen „Organisator“ der Grund entzogen, denn „die Kausalität besteht zwischen einem Ganzen und sich selbst und nicht zwischen einem Teil und einem anderen Teil“ (ebd.) Auch solche Forschung, die unter der Prämisse betrieben wird, die „Chimäre“309 des Vitalismus zu beseitigen, gerät, Canguilhem zufolge, früher oder später an einen Punkt, an 306

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Canguilhem arbeitet implizit mit der von Goldstein vorgenommenen Phänomenologisierung der Biologie, die ganz auf die „hinnehmende“ Erfassung der Ganzheitlichkeit der Phänomene angelegt ist. Siehe Goldstein 93, 339f. Einen besonderen Einfluss auf Canguilhems Thesen kann man wohl folgender Passage attestieren (ebd., 30): „Sein Handeln [des „theoretischen Physikers“, T. E.] erschöpft sich im allgemeinen in der Bearbeitung des Teiles der Welt, der durch die Zergliederung in Erscheinung tritt. Das kann in doppelter Weise geschehen. Zunächst, indem er versucht, die mit der zergliedernden Methode gewonnenen Erfahrungen in zunehmendem Masse [sic!] für die Erkenntnis brauchbar zu machen; sein hauptsächlichstes Handeln stellt sich aber als ein Handeln in Richtung gegen die Welt dar, um sie zum Nutzen des Menschen in die Gewalt zu bekommen.“ [Hervorhebung i.O., T. E.] Zumal es Arthur E. Needham im Anschluss an Spemann gelang, die Funktion der Organisatoren durch chemische Substanzen vom Typ der in vitro präparierten Steroide zu reproduzieren. Siehe dazu Canguilhem 2009b, 63. Siehe Canguilhem 2009b, 63. Ebd., 6: „Der Vitalismus steht bei seinen Kritikern im Allgemeinen in dem Ruf, eine Chimäre zu sein. Und dieses Wort ist in diesem Fall umso härter, als die Biologen heutzutage durch die Vereinigung von

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dem sich eine vitalistische Erkenntnis einstellt. Das Phänomen der organischen Ganzheit ergibt sich innerhalb der Forschungsprozesse30, nicht im Widerspruch zu ihnen. In diesem Umschlag eines mechanistischen Erklärungssystems zu einer phänomenologischen Problematik, in der so etwas wie die Ganzheit des Organischen akzeptiert werden muss (oder aber willkürlich ignoriert wird), bezeugt sich die Fruchtbarkeit des Vitalismus3. Die vitalistische Intuition ist für Canguilhem also eine doppeldeutige Frucht, die in der Erforschung des Lebens selbst heranreift, ohne dort verwertet werden zu können. Aber auch in einer zweiten Hinsicht ist der Vitalismus, wie Canguilhem ihn bestimmt, fruchtbar: Er tritt keineswegs als eine vorgefertigte Konzeption auf, die von Theoretikern und Biologen in die Phänomene hinein projiziert würde. Umgekehrt sind es die Experimente und die technischen Annäherungen an das Lebendige, die eine vitalistische Deutung geradezu abfordern. Abermals verweist Canguilhem auf den Primat der Technik – was für die Bestimmung des Vitalismus mitnichten marginal ist, denn der Vorwurf, den Canguilhem gegen die mechanistische Weltsicht erhebt, lautet gerade, dass sie die Technik als eine Applikation von Erkenntnissen benutzt, die a priori feststehen. Demgegenüber versteht Canguilhem den Vitalismus als eine Anschauung, die sich produktiv aus der Erforschung des Lebens heraus ergibt32. Damit distanziert er sich entschieden von einem

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Zellen, die durch die Teilung von Eiern verschiedener Arten entstanden sind, Chimären herstellen können.“ [Hervorhebung i.O., T. E.] So merkt Canguilhem mit Blick auf das späte 8. und frühe 9. Jahrhundert an (ebd., 67): „Zu jener Zeit bedeutete Vitalist zu sein nicht notwendigerweise, die Bewegung der wissenschaftlichen Forschung aufzuhalten.“ Auch Plessner nimmt in den Stufen kurz Stellung zu Spemann und dessen Kritik an Driesch. An dieser Stelle genügt es, einen kurzen Auszug aus der entsprechenden Passage anzuführen – und schon lässt sich der Einwand erahnen, der sich aus Plessners Versuch einer positiven Grenzbestimmung der Naturwissenschaften gegen Canguilhem ergeben wird. Siehe Plessner 97, II: „Methodisch gesehen, gibt es keine unübersteigbaren Grenzen für die physikalisch-chemische Analyse der Lebensphänomene. Driesch sah sich auch nur durch seine zu enge Fassung des Begriffs Maschine gezwungen, die methodischen Spielregeln der exakten Analyse außer Kraft zu setzen und seine Zuflucht zu nichtenergetischen Faktoren zu nehmen. Mit der Einführung der Entelechie als eines Naturfaktors, der sich jeder Messbarkeit prinzipiell entziehen soll, ist nur eine unhaltbare Verlegenheitslösung gefunden, ein Widerspruch in sich. Die Forschung hat sich dann auch nicht daran gestört. Schon Spemanns Entdeckung der Organisatoren in der Keimentwicklung war ein entscheidender Fortschritt über Driesch hinaus, ganz zu schweigen von den Entdeckungen mit Hilfe der Biochemie in der Genanalyse und Virusforschung. Für die exakte Analyse ist die Zurückführung der Wesensmerkmale des belebten auf Gesetzmäßigkeiten anorganischer Materie nur eine Frage der Zeit […]. Aber diese Zurückführung bedeutet ihre Auflösung nur im operativen Sinn.“ Bei Plessner impliziert eine volle Bestimmung des Lebensbegriffs die komplexe Phänomenologie des Doppelaspekts, die in den operativen Wissenschaften zwar wirksam ist, dort aber nicht einholbar ist. Dennoch unterstreicht Plessner (mit Kant) die Legitimität des mechanistischen Ansatzes in den Naturwissenschaften; Canguilhem hingegen hält das mechanistische Modell insgesamt für selbstwidersprüchlich. Der Mechanismus führe, seinen eigenen Argumenten folgend, zu einem nicht-mechanischen Motiv, das nicht mehr in Rechnung gestellt werden kann. Was die These betrifft, dass es „keine unübersteigbaren Grenzen für die physikalisch-chemische Analyse der Lebensphänomene“ geben kann, so wird in Kürze plastisch werden, wie Canguilhems Antwort auf diesen Grundsatz ausfällt. Canguilhem erinnert daran, dass der Vitalismus im Falle Drieschs so etwas wie eine Kehre repräsentiert: Driesch habe seine Experimente zur Befruchtung der Seeigeleier mit der Absicht durchgeführt,

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animistischen Vitalismus, wonach das Leben eine qualitas occulta33 ist, die zwar suggestiv beschworen, aber nicht rationalisiert werden kann. Canguilhem will auf einen vitalen Rationalismus hinaus, d.h. auf eine rationale Haltung, die sich durch ihren Gegenstand selbst bestimmen lässt, durch ihn vitalisiert wird. Doch Canguilhems Theorem der Fruchtbarkeit des Vitalismus birgt eine Gefahr. Wenn es zutrifft, dass die phänomenologische Evidenz dem Prozess der Erforschung des Lebens eingeschrieben (und keineswegs äußerlich) ist, könnte man die Fruchtbarkeit des Vitalismus dann nicht im Aufzeigen vermeintlicher Grenzen der Forschung sehen? Kann es nicht sein, dass der Vitalismus für unerklärlich hält, was von der Forschung zwar noch nicht erklärt worden ist, aber gleichwohl erklärt werden kann? In diesem Sinne hatte Bachelard die Fruchtbarkeit der Phänomenologie verstanden: Als Aufstellung epistemologischer Hindernisse (obstacles épistémologiques), die nichts als Scheinprobleme und falsch gestellte Fragen sind und durch eine Dialektik der Ent-Psychologisierung ausgeschaltet werden müssen3. Mit dieser These Bachelards über den heuristisch negativen Charakter der Phänomenologie rechnet Canguilhem ab3. Er artikuliert seine Kritik, indem er einen Biologen in Erinnerung ruft, der gleichsam avant la lettre ein Zugeständnis an Bachelards Modell der epistemologischen Grenze gemacht hat: avier Bichat. Bichat hatte zwar die Inkommensurabilität zwischen den instabilen Phänomenen des Lebens gegenüber den invarianten Gesetzen der Natur gesehen und für die Entkopplung der Lebens- von den Naturwissenschaften plädiert. Sein „philosophisch unverzeihliche[r] Fehler“ (ebd., 72) bestehe jedoch darin, das Leben lediglich als eine Ausnahme von der Regel der Natur gefasst zu haben. Bichat habe die Biologie „auf Enklaven der Unbestimmtheit, Zonen der Dissidenz, Stätten der Ketzerei“ (ebd., 72f.) inmitten des „Reichs“ (ebd.) der Physik beschränkt, anstatt einzusehen, dass die Autonomisierung der Biologie eine radikal veränderte „Konzeption der Erfahrung“ (ebd., 73) zur Folge haben müsse.

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die Thesen von Wilhelm Roux über die mechanistische Verlaufsform der Zellteilung empirisch zu verifizieren. Siehe Canguilhem 2009b, 66. Dementsprechend weist Canguilhem eine ganze Reihe vitalistischer Axiome zurück. Siehe ebd., 6 [Hervorhebung i.O., T. E.]: „Von vitalem Prinzip zu sprechen wie Barthez, von vitaler Kraft wie Bichat, von Entelechie wie Driesch, von Horme wie von Monakow bedeutet eher, die Frage in die Antwort zu verlagern, als eine Antwort zu liefern.“ Siehe Gaston Bachelard, Critique préliminaire du concept de frontière épistémologique (93). In: Actes du Congrès International de philosophie de Prague. Zitiert nach: Canguilhem 2009b, 9: „Toute frontière absolue proposée à la science est la marque d’un problème mal posé… Il est à craindre que le pensée scientifique ne garde des traces des limitations philosophiques … Les frontières opprimantes sont des frontières illusoires.“ Siehe auch Plessners Position, dass es „methodisch gesehen (…) keine unübersteigbaren Grenzen für die physikalisch-chemische Analyse der Lebensphänomene“ (Plessner 97, II) gibt. Es ist wohl kein Zufall, dass es Charles T. Wolfe nicht gelingt, im Rückgriff auf Bachelard eine präzise Bestimmung von Canguilhems Methode und Intention vorzunehmen. Siehe Wolfe 2007, 3: „Canguilhem the philosopher asks highly ‚motivated‘ questions of science, in a manner which probably owes a great deal to Bachelard’s historical epistemology.“ Die Vagheit des „probably“ zeigt schon hinreichend an, dass sich Wolfe seiner Sache nicht ganz sicher ist, und in der Tat besticht Canguilhems Text durch die diplomatische Meisterschaft, Bachelards Ansatz aufzugreifen, aber zugleich subtil zu unterlaufen.

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Nicht nur in der Wahl der Metaphern, auch in seiner systematischen Funktion ist Canguilhems Vitalismus militant: Wer (wie Bichat – aber auch: Plessner) den Begriff des Lebens von der Dimension der Natur her aufrollt, hat den Standpunkt des Lebens immer schon verfehlt. Jede diplomatische Konzession an die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Auffassung des Lebens schlüge sich, so Canguilhem, auf die Seite der „Materie“ (ebd.): „Wenn man die Originalität des Lebens anerkennt, muss man die Materie innerhalb des Lebens und die Wissenschaft der Materie, das heißt die Wissenschaft schlechthin, innerhalb der Aktivität des Lebendigen ‚begreifen‘ [„comprendre“]. Indem die Physik und Chemie die Spezifität des Lebendigen zu reduzieren suchen, bleiben sie eigentlich nur ihrer tiefen Absicht treu, nämlich Gesetze zwischen Objekten zu bestimmen, die jenseits einer Referenz auf ein absolutes Referenzzentrum gültig sind.“ (Ebd.)

Der dritte Aspekt des Vitalismus lässt sich sehr knapp abhandeln. Sein Status ist eher anekdotisch. Canguilhem geht der Frage nach, wie die Tatsache zu interpretieren sei, dass zahlreiche vitalistische Autoren eine anti-bürgerliche, oft totalitäre politische Position vertreten hätten. Besteht ein in der Sache begründeter Übergang zwischen biologischer Totalität und politischem Totalitarismus36? Canguilhem zieht abermals das Beispiel Drieschs heran und konstatiert: „Nach 933 ist aus der Entelechie ein Führer des Organismus geworden“ (ebd., 76; Hervorhebung i.O., T. E.)37. Es genügt, die ironische Anmerkung Canguilhems zu diesem Problem zu zitieren, wonach „man (…) einer auf ihre Autonomie bedachten Biologie ihre Vereinnahmung durch den Nazismus nicht mit größerer Berechtigung vorwerfen [kann], als man der Arithmetik oder der Berechung der Zinzeszinsen ihre Vereinnahmung durch kapitalistische Versicherungsmathemariker oder Bankiers vorwerfen kann“ (ebd., 78). Aufschlussreicher als dieser dritte Aspekt des Vitalismus ist ein Hinweis, den Canguilhem einige Seiten zuvor im Zusammenhang mit seiner These von der „Fruchtbarkeit des Vitalismus“ gibt. Obwohl die „Wissenschaft der Materie“ außer Stande sei, die Struktur des Lebendigen zu denken – als ein absolutes Zentrum von Erfahrung –, sei sie seit Heisenberg doch dazu übergegangen, die Immanenz des Messenden im Gemessenen (siehe ebd., 73) und den Sachverhalt anzuerkennen, „dass der Inhalt der Beobachtungsprotokolle von der Beobachtung selbst abhängig ist“ (ebd.). Mit dieser Unschärferelation halte das Problem des Zentrums Einzug in die Physik, die nun einsehe, dass sie nur mit Blick auf eine solche Instanz von „Milieus“ sprechen kann38. Der Milieubegriff ist ein Beleg für die Fruchtbarkeit des Vitalismus. Aber dieses Argument impliziert etwas Merkwürdiges: Wenn ein wissenschaftlicher Begriff eine Genealogie hat und niemals fest gestellt, sondern stets im Werden ist, verweist dieser Prozess dann nicht auf eine „Biologie der Begriffe“ (Schmidgen 2008a, LVII; Hervorhebung i.O., T. E.)? Ist die Geschichtlichkeit 36 37 38

Die klassische Studie zum Thema ist Harrington 2002. Ebd., S. 97 [Hervorhebung i.O., T. E.] Canguilhem zitiert hier aus Driesch 93, 9: „Eine Maschine als Werkzeug für den Führer – aber der Führer ist die Hauptsache.“ Siehe ebd., 73: „Nach drei Jahrhunderten experimenteller Physik und Mathematik bedeutet Milieu, das für die Physik zunächst Umwelt bedeutete, nunmehr Zentrum – und zwar in der Physik wie in der Biologie. Es bedeutet wieder das, was es ursprünglich bedeutet hat (…). Es ist die Position eines Lebendigen, das sich auf die in ihrer Ganzheit erlebte Erfahrung bezieht, die dem Milieu die Bedeutung von Existenzbedingungen gibt.“

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von Konzepten, die einander in Prozessen der „Spezifizierung, Umgrenzung, Konturierung“ (ebd., LI) diskontinuierlich ablösen, einer Geschichtlichkeit der Wissensobjekte selbst geschuldet? Sich vom Leben einen Begriff zu machen: Bedeutet das nicht, etwas zu fixieren, was immer schon (nämlich von den lebenden Phänomenen selbst) in eine gewisse Form gebracht worden ist?

c. Das Auftauchen des biologischen Gesichtspunkts: Le vivant et son milieu Diese Fragen prägen den dritten Artikel aus La connaissance de la vie, den ich zur Nachzeichnung des von Canguilhem entwickelten Wissens vom Leben konsultieren möchte, nämlich Le vivant et son milieu (Canguilhem 2009d). Anders als in Machine et organisme und Aspects du vitalisme geht Canguilhem in Le vivant et son milieu nicht von der historischen Dominanz des Mechanizismus aus, die sich in epistemologischer Perspektive mit ihrem Ungedachten, dem vitalen Nukleus des Mechanismus, kontrastieren lässt. An den Wandlungen, die das Konzept des Milieus in den Wissenschaften vom Leben durchlaufen hat, macht Canguilhem stattdessen sinnfällig, wie die Konzepte vom Leben dem Lebendigen dazu dienen, Einsicht in seine lebendige Konstitution zu gewinnen39. So räumt Canguilhem ein, dass die Problematik des Milieus anfänglich in einem mechanistischen Theoriekontext aufgebracht worden sei. Newton konzipierte das Milieu als ein Fluidum, das die Schwierigkeit der Einwirkung zweier sich nicht direkt berührender physikalischer Körper aufeinander lösen sollte (ebd., 23). Von Buffon über Lamarck bis Saint-Hilaire und Comte sei eine „strikt mechanistische Bedeutung dieses Begriffs zu belegen“ (ebd., 22). Bei allen Modifikationen, die zwischen diesen Autoren auftreten, sei die Vorstellung, die sie alle eint, die einer „universellen Umwelt“ (Badiou 200, 39): Das Milieu als ein neutrales, alle Körper in Beziehung setzendes Kräftefeld, das nach physikalischen Gesetzen funktioniert und exakt berechenbar ist (Canguilhem 2009d, 23). Noch Lamarcks Annahme, die Evolution basiere auf einem Anpassungsdruck auf die Lebewesen, der von den „Umständen“ (ebd., 2) induziert werde, zeige die Resonanz des streng mechanistischen Milieuverständnisses320. Mikel Dufrenne hat klar das Folgeproblem auf den Punkt gebracht, das Canguilhem in der rein mechanischen Definition des Milieus ausmacht: „Mais, comme il faut quelqu’un pour construire la machine, il faut quelqu’un pour penser cet univers: et il ne se peut que ce savant ne soit vivant et ne vive dans le monde de la perception“ (Dufrenne 39 320

Zu „Le vivant et son milieu“ siehe auch Muhle 2008, 0–60; Braunstein 2007. Doch obwohl Lamarck, in der Nachfolge Buffons, das mechanistische Milieukonzept konserviert, sieht Canguilhem noch eine ganz andere Intuition am Werk – nämlich einen „nackten Vitalismus“ [„vitalisme nu“]: „Der Lamarckismus ist kein Mechanismus; zu sagen, er sei ei Finalismus, wäre ungenau. In Wahrheit ist er nackter Vitalismus. Es gibt eine Originalität des Lebens, der vom Milieu nicht Rechnung getragen wird, die von ihm ignoriert wird. Das Milieu ist hier im wahrsten Sinne des Wortes äußerlich, es bleibt dem Leben fremd, es tut nichts für das Leben. Dies ist tatsächlich ein Vitalismus, denn wir haben es mit einen Dualismus zu tun.“ In dem Maße, in dem das Milieu durch Indifferenz, als System bloß physikalischer Abhängigkeiten gekennzeichnet ist, muss zur Beschreibung des Phänomens der biologischen Anpassung auch das Gegenteil der Indifferenz, nämlich das Lebende als eine sich gegen die Indifferenz stemmende Instanz eingeführt werden.

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93, 7). Wenn die Frage nach dem Milieu ungeachtet des physikalischen Modells dezentrierter Körper auch in der Geschichte der Biologie aufgebracht wird und dort eine eigenständige Genealogie hat, so verweist dies, Canguilhem zufolge, auf eine eigentümliche Unangemessenheit der physikalischen Antwort. Wenn das (mechanische) Verhalten aller Körper im Universum fest steht, steht nichts fest: Gerade ein solches Bild kommt nicht ohne einen Verstand, ohne ein denkendes Subjekt aus, das sich auf ein solches Universum bezöge. Die vom Mechanizismus propagierte Relation von Körpern und Milieu, in der nur letzterem eine bewegende Kraft zugesprochen wird, bedarf einer „Umkehrung“ (ebd., 28), und Canguilhem argumentiert, dass diese Inversion Angelegenheit der modernen Biologie gewesen ist. Zum Beleg, dass die Geschichte des Milieubegriffs, wie er in den modernen Wissenschaften verwendet worden ist, eine Neuverteilung der Rollen von Milieu und Organismus gebracht hat, stützt sich Canguilhem auf die biologischen Philosophien Jakob von Uexkülls und Kurt Goldsteins. Diese Autoren stehen Pate für ein originär biologisches Denken (ebd., 26). Der Begriff des Milieus erhält präzisen Sinn nur in Rückbeziehung auf ein lebendiges Zentrum, das durch aktives Verhalten „sein“ (subjektives) Milieu organisiert. So zeige von Uexkülls Dreierunterscheidung zwischen Umwelt, Umgebung und Welt, dass Organismen einen Ausschnitt aus der sie einfassenden geographischen Umgebung selektiv ihren eigenen Bedürfnissen gemäß, d.h. als Umwelt, regulieren. Das Milieu ist als eine Sphäre beschreibbar, die immer zentriert, geordnet, durch eine subjektive Einheit orientiert ist32. Analog wird die Organismus-Milieu-Beziehung von Goldstein als eine „Auseinandersetzung“ thematisiert, verstanden als Unterwerfung des Milieus unter die spezifischen vitalen Werte, die der Organismus in seiner Totalität setzt. Wenn es Goldsteins Hauptgedanke ist, dass ein Zentrum nicht in seiner Umgebung aufgeht, das Lebendige also sich nicht in den physiologischen Einflüssen erschöpft, unter deren Einwirkung es steht322, dann herrscht ein diametraler Gegensatz zu der physikalischen Konzeption einer universellen Umwelt, die Canguilhem zuvor als den historischen Herkunftskontext des Milieubegriffs exponiert hatte. Ein Laborsystem, das ein Lebewesen einer derartigen (im physikalischen Sinne) „idealen“ Umwelt aussetzen würde, könnte nur solche Interaktionen zwischen Organismus und Milieu simulieren, die unter biologischem Gesichtspunkt insignifikant sind. Die Laborsituation, die eine künstliche Objektivität einrichtet, geht an der originär biologischen Haltung vorbei, wonach das Lebendige kein 32

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Es kann nicht überraschen, wenn Canguilhem diejenige Sphäre, die für das Tier Umgebungs-Charakter behält, als eine Sphäre kennzeichnet, die vom Menschen im Modus der Umwelt erschlossen wird. Im Hintergrund steht Canguilhems Anspruch, humane Vollzüge als vitale Vollzüge zu bestimmen. Siehe ebd., 262f.: „So wie diese dem Tier äußerliche geographische Umgebung in gewissem Sinne durch ein menschliches Subjekt – das heißt durch einen Schöpfer von Techniken und von Werten – zentriert, geordnet, ausgerichtet ist, so ist die Umwelt des Tieres nichts anderes als ein Milieu, das in Bezug auf jenes Subjekt vitaler Werte zentriert ist, das im Wesentlichen das Lebewesen ausmacht. An der Wurzel dieser Organisation der Umwelt des Tieres müssen wir uns eine Subjektivität vorstellen, die analog zu jener ist, die wir an der Wurzel der menschlichen Umwelt berücksichtigen müssen.“ Ebd., 279: „Ein Zentrum löst sich nicht in seiner Umgebung auf. Das Lebendige reduziert sich nicht auf einen Kreuzungspunkt von Einflüssen.“

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„Objekt“ (ebd., 266), sondern „einen Charakter in der Ordnung der Werte“ (ebd.) darstellt. Indem Canguilhem an dieser Stelle Goldstein zitiert, zitiert er sich selbst: „Ein Leben, das sich gegen etwas stellt, ist bereits ein bedrohtes Leben (…) Ein gesundes Leben, ein Leben, das Vertrauen in seine Existenz und seinen Wert hat, ist ein biegsames Leben. (…) Dieser experimentell und objektiv hergestellte Bezug zwischen dem Lebendigen und dem Milieu ist von allen möglichen Beziehungen diejenige mit dem geringsten biologischen Sinn, es ist ein pathologischer Bezug. (…) Leben heißt ausstrahlen und das Milieu ausgehend von einem Bezugszentrum organisieren, das selbst nicht auf etwas bezogen werden kann, ohne seine ursprüngliche Bedeutung zu verlieren.“ (Ebd., 26f.)

Biologisch zu denken, bedeutet, bei lebendigen Prozessen eine „subjektive Zentrierung“ (Badiou 200, 33) in Rechnung zu stellen. Das Verhältnis, in dem ein Organismus zu seiner Umwelt steht, ist stets eine Sinnrelation. In Le vivant et son milieu überlappen sich zwei Motive der Argumentation: Zum einen wiederholt Canguilhem seinen Gedanken, dass die wissenschaftliche Aktivität des Menschen eine lebendige Aktivität ist. Indem Canguilhem diejenige Dimension der Natur, die der Mensch durch sinnliche Wahrnehmung erschließt und durch technische Praktiken erforscht und verändert, als Milieu des Menschen ausweist, schließt er die menschlichen Phänomene in jene „Konstellation der Zentrierung, der Norm und des Sinnes“ (ebd., 39) ein, die ihm zufolge das konstitutive Moment von Leben ausmacht. Zum anderen zeichnet Canguilhem aber auch die irreduzible Antinomie zwischen einer auf das Subjekt zentrierten und einer objektivierenden, wissenschaftlichen Sicht des Lebens nach. Und dies ist entscheidend: Man kann das Lebendige nicht als absolutes Zentrum und als indifferenten Körper denken, der den Gesetzmäßigkeiten eines physikalischen Universums unterworfen ist. Diese beiden Fassungen schließen sich aus; zwischen ihnen besteht ein „Konflikt der Absolutheiten“ (ebd., 38 und passim). Im Unterschied zu Machine et organisme und Aspects du vitalisme, die für einen Bruch mit dem Mechanizismus und eine Wende zum Vitalismus plädieren, spielt Canguilhem in Le vivant et son milieu die Idee durch, dass das Lebendige zwar ein absolutes Bezugszentrum ist, aber gleichwohl die eigentümliche Tendenz hat, als dezentriertes Gebilde, d.h. als indifferenter Teil eines idealen mechanischen Universums, konzeptualisiert zu werden. Gewiss ist das Lebendige als das totale Zentrum seiner vitalen Bedürfnisse zu bestimmen; andererseits taucht es notorisch in einem Status (nämlich als Objekt von Wissenschaft) auf, der ihm nicht angemessen ist, sondern eine Reduktion, eine Verschiebung oder Unterdeterminierung seiner wirklichen (zentrischen) Konstitution darstellt. Alain Badiou hat in diesem Sinne davon gesprochen, dass bei Canguilhem „das Subjekt der Wissenschaft [nämlich der Mensch als dasjenige Lebewesen, zu dessen vitalen Normen es z.B. gehört, nach „Wahrheit“ zu suchen, Anm. T. E.] Merkmale der beiden widerstreitenden Absolutheiten haben kann, nämlich seiner lebenden Zentrierung und dem neutralen Ideal der universellen Umwelt“ (ebd., 3). Man kann diesen „Konflikt der Absolutheiten“, wonach das Lebendige zwar eine innere Zentrierung aufweist, jedoch auch, „soweit es in der Geschichte der Wahrheiten steht“ (ebd.), fortlaufend historisiert (ex-zentriert) wird323, als die 323

Siehe hierzu das einschlägige Zitat unter Badiou 200., 3: „Wir finden hier den Begriff, den ich nach dem Begriff des Zentrums für den vielleicht wichtigsten Begriff von Canguilhem halte, nämlich den der Umstellung, Bewegung oder Verrückung (déplace-

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Kehrseite von Canguilhems Historischer Epistemologie begreifen: Canguilhem braucht konzeptuell den Weg über die Vermittlung des Unmittelbaren. Wer die Geschichte der Wissenschaften vom Leben zum Gegenstand nimmt, kann auf das Leben nur angesichts von Dispositiven zugreifen, in denen das Leben immer schon fehlbestimmt, missverstanden, reduziert, deformiert, entvitalisiert, als Natur oder als Maschine konzipiert wird. Um dies alles zusammenzufassen: Ein Wissen, dessen korrelativer Gegenstand das Leben ist, kann für Canguilhem einzig und allein die Gestalt eines Vitalismus’ annehmen. Dieses Wort kennzeichnet weniger eine bestimmte Tradition (den Vitalismus Drieschs, Bergsons oder Bichats), sondern eine Haltung, die sich vom Lebendigen bestimmen lässt: In diesem minimalen Sinne wäre das konstitutive Kriterium des Vitalismus sein Vertrauen in die „Spontaneität des Lebens“ (Canguilhem 2009b, 60), in dessen Normativität. So betrachtet, wahrt der Vitalismus eine strikte Opposition zum neuzeitlichen Projekt der science, das, Canguilhems Darstellung nach, das Lebende entvitalisiert, d.h. seine qualitative Differenz gegenüber der unbelebten Natur getilgt hat. Anstatt sich selbst als Lebewesen zu erfassen, dessen Modus der Welterschließung die Technik ist, hat der Mensch eine Wissenschaft vom Leben eingerichtet, die, eben weil sie Wissenschaft ist, die Differenz von Natur und Leben stornieren muss. Canguilhems besonderer Vitalismus besitzt den Charakter „vermittelter Unmittelbarkeit“. Ebenso wenig, wie das Leben substanzialisiert werden kann – als ein Substrat, das unabhängig von den lebenden Individuen bestünde –, lässt sich ein ungebrochener Vitalismus proklamieren. Es bedarf zur Erfassung des Lebens der historischen Brechung durch die Epistemologie: Das Lebendige ist schon immer diskursiviert, d.h. als Gegenstand einer Rationalität bzw. einer technischen Praxis präsent32. Mag sein, dass die Bewunderung, die Canguilhem von den brilliantesten Vertretern der französischen Philosophie bis heute entgegengebracht wird, auf genau diesem Punkt beruht: Canguilhems Epistemologie der Biologie gelingt es, das historisch siegreiche Paradigma des Mechanizismus auf eine Rationalität hin zu übersteigen, die „ihre Grenzen anerkennt“32 [reconnaître ses limites], da sie die Idee vom Leben dem Leben selbst abgewinnt326. Die Konsequenz die-

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ment). […] Die Umstellung bleibt im Grunde eine Tätigkeit des Lebenden, denn sie wird immer aus dem Innern der normativen Zentrierung aus vorgenommen, oder führt die Forderung einer Bewegung des Zentrums mit sich, was auch ein Verrücken des Sinns ist. Aber die Unendlichkeit der Umstellungen nähert sich ebenfalls schrittweise der absoluten, dezentrierten Realität, gerade weil sie als Subjekt, neben dem lebenden Subjekt und durch das lebende Subjekt, ein Subjekt annimmt, das sich frei bewegen kann, das heißt ein im wahren Wortsinn historisiertes Subjekt.“ [Hervorhebung i.O., T. E.] Eine Andeutung genügt: Gibt es hier nicht eine Bruchstelle in der Argumentation Canguilhems? Legt Canguilhem nicht an der Grenze seines Lebensbegriffs eine Subjektivität frei, die dem Leben nicht mehr immanent ist, sondern im Gegenteil an der lebendigen und der geschichtlichen Ordnung partizipiert? Und setzt dies nicht wiederum voraus, dass ein solches Subjekt weder in Leben noch in Geschichte aufgeht, sondern in der Heterogenität beider Ordnungen steht? Dann aber nimmt ein Subjekt, das z.B. Historische Epistemologie betreiben kann, den Standort einer exzentrischen Positionalität in Anspruch, nicht einen immanenten Ort im Leben. Siehe dazu Macherey 2009a, 36. Siehe Canguilhem 2009, 22. Ebd.: „Das Denken des Lebendigen muss die Idee des Lebendigen dem Lebendigen selbst entnehmen.“

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ser Umschrift der Wissenschaftsgeschichte ist schlagend. Denn nun wird es möglich, dem Mechanizismus gleichsam freien Lauf zu lassen: Die Maschine substituiert das Leben nicht, sie reproduziert es. Canguilhems Ansatz tritt mit doppelter Geste auf: Zum einen geht es um die epistemologische Rekonstruktion diskursiver Formationen, zum anderen um einen normativen Begriff vom Leben und die positive Auszeichnung eines Vitalismus, der allein ein Wissen vom Leben ermöglicht327. Mag sein, dass Canguilhem in La connaissance de la vie ein entscheidendes Problem zwar näher umgrenzt, aber noch nicht mit letzter Konsequenz gelöst hat. Im Mechanizismus ist der Status des Lebendigen sowohl auf Seiten der Objekte wie auf Seiten der Subjekte negiert: Der Mensch ist „maître et possesseur de la nature“ (Descartes). Dieses Dispositiv versucht Canguilhem in einen „vitalen Rationalismus“ umzuwenden, deren Subjekte sowohl der Lebendigkeit der Phänomene als auch ihrer eigenen Lebendigkeit inne werden328. Genau diese Struktur jedoch, wonach das Leben genitivus obiectivus und genitivus subiectivus des Wissens ist, wird in La connaissance de la vie nicht konkret. Zweifellos fordert Canguilhem die doppelte Vitalisierung des Wissens329 ein – aber noch steht ein präzises Argument für die These aus, dass die Konzepte, die auf das Leben 327

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Diesen zweiten Strang im Denken Canguilhems klammert Foucault sehr bewusst aus. Dabei scheint es sich weniger um ein Missverständnis zu handeln als vielmehr um eine diskurspolitische Strategie: Mit Foucaults archäologisch-genealogischem Projekt ist das polemische Eintreten für den Vitalismus, der wiederum eine normative Fassung des Lebens voraussetzt, inkompatibel. In Die Ordnung der Dinge führt Foucault jedenfalls den Vitalismus Goldsteins und damit, zwischen den Zeilen, den Ansatz Canguilhems, als Beispiel für eine Umcodierung an, die sich innerhalb der modernen Biologie ereignet, während sich parallele Paradigmenwechsel auch in der Ökonomie (Mauss) und der Linguistik (Dumézil) zutragen. Für Foucault markiert Goldstein (lies: Canguilhem) die Aufwertung des Begriffs der Norm gegenüber dem korrelativen Begriff der Funktion, was zwar zur Einführung einer neuen binären Unterscheidung führe, aber noch immer ein Ausdruck der aporetischen Repräsentationsform der Moderne, nämlich der „empirisch-transzendentalen Dublette“, sei. Siehe Foucault 99, 38. Die von Goldstein vorgenommene Umstellung des Primats der Funktion auf den Primat der Norm verschiebt, Foucault zufolge, die Lösung für das zirkuläre Problem der Repräsentation auf die Instanz des Unbewussten, ohne damit aus dem Zirkel heraustreten zu können. Goldsteins Wendung innerhalb der modernen Biologie steht also für eine gewisse erhöhte Sensibilität hinsichtlich der aporetischen Repräsentation, nicht aber für einen Ausweg aus ihr. Diese Überlegungen deuten an, weshalb es vor dem Hintergrund von Foucaults Kritik an der Analytik der Endlichkeit unmöglich ist, eine positive Auszeichnung von biologischer Normativität zu formulieren. Auch Frédéric Worms akzentuiert das Denken dieser doppelten Stellung des Lebens als Objekt und Subjekt von „connaissance“ als „l’avancée et le projet fondamental de la philosophie de Canguilhem“. Siehe Worms 2008, 39. Siehe ebd.: „Ce projet nous semble consacré à montrer que la specificité irréductible du vivant (…) ne réside pas dans son opposition externe à la connaissance (…), mais, au contraire, dans une singularité interne à une telle connaissance et cela de deux façons: aussi bien comme objet de cette connaissance, à travers donc le concept précis du vivant comme tel, qu’à travers la pratique de cette connaissance, comme concept du vivant, mais au sens subjectif, cette fois, du génitif.“ [Hervorhebungen i.O., T. E.] Siehe in Abgrenzung zum Marxismus Canguilhem 2006b, 37: „Die Aufhebung der Entfremdung ist erst vollständig, in dem der Mensch nicht nur seine politische Würde wiederfindet, sondern auch in den vitalen Vollbesitz des universellen Mechanismus – bei dem die maschinenartige Form der Technik nur ein Aspekt ist – kommt, anstatt von ihm versklavt

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referieren, ihrerseits eine lebendige Verfassung aufweisen. Es ist nicht ganz einzusehen, wieso ein Forscher, der das Leben zum Gegenstand nimmt, seine Mittel und seine eigene Position in einem Verhältnis der Isomorphie mit den Phänomenen sehen sollte, die er in seiner Forschung antrifft. Doch Canguilhems Schriften bewegen sich in den 960er Jahren auf eben diese „Pointe“330 zu. Der folgende Abschnitt wird zu zeigen versuchen, wie es Canguilhem gelingt, „eine philosophische Geschichte der Lebenswissenschaften“ (Borck/Hess/Schmidgen 200, 0) vorzuführen, „die die Vitalität ihrer Gegenstände, ihrer Objekte, ebenso zur Geltung bringt wie die der beteiligten Subjekte“ (ebd.).

7. „Sich üben im Entziffern und Dekodieren“: Lebendiges Wissen des Lebens bei Canguilhem In Das Leben: Die Erfahrung und die Wissenschaft notiert Foucault: „G. Canguilhem sucht durch die Erhellung des Wissens über das Leben und der Begriffe, die dieses Wissen gliedern, herauszufinden, wie es um den Begriff im Leben steht“ (Foucault 988, 68; Hervorhebung i.O., T. E.). Diese Bemerkung isoliert das entscheidende Themenpaar, das aus La connaissance de la vie resultiert, ohne dort auf einer Metaebene systematisch ausgewiesen zu werden: Zur Spezifikation seiner These, das Wissen vom Leben müsse als Wissen des Lebens, als Expression von Leben bestimmt werden, macht Canguilhem hingegen in den 960er Jahren den konsequent nächsten Schritt zu einer Untersuchung der Mikroebene von Erkenntnis, der Ebene der Begriffe. Wie anfangs erwähnt, würdigt Foucault Canguilhems Arbeiten als einen Beitrag, „die Frage nach den Beziehungen zwischen Wahrheit und Subjekt“ (ebd., 7) auf „die Frage nach den Beziehungen der Wahrheit und des Lebens“ (ebd.) umgestellt zu haben. Foucault zufolge denkt Canguilhem den Begriff des Lebens nachgerade um den Preis des Subjekts. Unterdessen hat sich jedoch abgezeichnet, dass das Gegenteil richtig ist: Für Canguilhem ist das Leben eine dynamische Polarität, die auf das Lebendige hin zentriert ist, aber diese Zentrierung zugleich unterläuft. Die Eigentümlichkeit des Lebens besteht gerade darin, ein Geschehen zu sein, das subjektiviert (d.h. Subjektivität erst ermöglicht und nicht umgekehrt seinen Ursprung im Subjekt hat), aber gleichwohl an die Figur und die Vollzüge eines in sich zentrierten Subjekts gebunden bleibt. Canguilhems Konzeption des Lebens ist ebenso strukturalistisch wie phänomenologisch, und in der Tat setzte die Reformulierung des Vitalismus in La connaissance de la vie ausdrücklich auf die Anschaulichkeit des Wirklichen, auf einen vorwissenschaftlichen Wirklichkeitszugang und auf die Struktur von Intentionalität33.

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zu werden. Das heißt, wenn es eine Dialektik gibt, muß es auch zu einer dialektischen Umkehrung des Verhältnisses Mechanismus: Organismus kommen.“ Schmidgen 2008a, I: „Worum es Canguilhem in seiner Auseinandersetzung mit den (Lebens-) Wissenschaften geht, ist demnach die Freilegung eines Wissens, das dem Leben immanent ist – mit der Pointe freilich, dass er die Wissenschaft als integralen Bestandteil des Lebens betrachtet.“ Man vergesse nicht, dass zu den Quellen, auf die Canguilhem in La connaissance de la vie rekurriert, auch Scheler gehört. Er verweist in Machine et organisme auf Dupuys französische Übersetzung von Die Stellung des Menschen im Kosmos im Zusammenhang mit dem Argument, dass die elementaren, nicht komplex organisierten Formen des Lebens durch Mechanismen kaum zu reproduzieren sind. Siehe Canguilhem 2009c, 2.

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Obwohl also Foucault die für Canguilhem konstitutive Relation von Leben und Subjektivität aus dem Spiel lässt – was, wie schon skizziert, aus strategischen Gründen und mit Kalkül geschieht –, ist ihm doch insofern Recht zu geben, als dass Canguilhem in den 960er Jahren eine strukturalistische Wende seines Projekts vollzogen hat. Waren die axiologische Auffassung des Lebens in Das Normale und das Pathologische und die Epistemologie der Biologie aus La connaissance de la vie nach dem Paradigma der Physiologie gedacht, so liegt die Betonung in Canguilhems philosophischer Dissertation Die Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert (9) und vor allem in seiner Aufsatzsammlung Etudes d’histoire et de philosophie des sciences (968) auf einem Konzeptualismus. In La connaissance de la vie hatte Canguilhem die Tätigkeit des Biologen auf die sie fundierende Dimension der vitalen Tätigkeit zurückgeführt: Die Strukturierung der Wirklichkeit durch Begriffe ist eine von vielen Verhaltensformen, mit denen ein lebender Organismus, d.h. ein lebendes Subjekt, die Umwelt normativ organisiert. So sehr nun Canguilhem dieses Motiv des Subjekts, indem er es vitalisierte332, stets sorgfältig vom Modell transzendentaler Subjektivität abgegrenzt hatte, so sehr kann man seine strukturalistische Wende der späten 0er und 60er Jahre333 als Versuch deuten, die subjektphilosophischen (und damit anthropologischen) Residuen, Risiken und Konnotationen von La connaissance de la vie definitiv zu tilgen. Seine neue Hypothese läuft – dies wird bald ersichtlich sein –, darauf hinaus, das Phänomen der Formation von Begriffen nicht mehr länger von einem Subjekt her zu erschließen. Es sind vielmehr die Objekte – in der Biologie: die lebendigen Phänomene – selbst, die den Anlass zu ihrer Konzeptualisierung geben und dabei letztlich die spezifische Form ihres Begriffenwerdens durch Begriffe präfigurieren33. Mit Blick auf die Hauptthese aus Die Herausbildung des Reflexbegriffs und auf den Schlüsseltext der strukturalistischen Phase, Le concept et la vie (966), soll dieser Denkmodus eines lebendigen Wissens des Lebens bei Canguilhem im Folgenden zur Darstellung gebracht werden. Wie lautet die exakte Problemstellung des Reflexbuchs33 und welchen Aufbau hat die Argumentation im Einzelnen? Zweifellos ist es die Leitbehauptung Canguilhems, dass der physiologische Begriff des Reflexes, allen Standardnarrativen der Wissenschaftsgeschichte zum Trotz, seinen Ursprung nicht in der mechanistischen Physiologie von Descartes hat. Seine originäre Bedeutung empfing der Reflexbegriff vielmehr in einer vitalistischen Konstelllation, die, so Canguilhem, nach und nach durch den Siegeszug mechanistischer Theoreme überlagert wurde, bis sie schließlich ganz in Vergessenheit geriet336. Als Urheber des Reflexkonzepts rehabilitiert Canguilhem in diesem Sinne den englischen Naturphilosophen, Anatom und Physiologen Thomas Willis (62–67), 332

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Siehe Canguilhem 99b, 32: „Ce n’est pas parce que je suis pensant, ce n’est pas parce que je suis sujet, au sens transcendantal du terme, c’est parce que je suis vivant que je dois chercher dans la vie la référence de la vie.“ Dazu Badiou 200, 33. Siehe dazu Barbara 2008, vor allem 27. Dem entspricht Henning Schmidgens These von einem „biological structuralism“ bei Canguilhem, woran ich mich anschließe. Siehe Schmidgen 2007, 22f. Im Weiteren verwende ich aus Gründen sprachlicher Vereinfachung diese Abkürzung für den Langtitel Die Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert. Siehe dazu Canguilhem 2008, 0ff. sowie 78ff.

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der mit Hilfe von Prämissen, die zu den cartesischen Prämissen völlig quer standen, die unwillkürlichen Bewegungen der Lebewesen nach dem Modell einer reflexio, d.h. einer Rekursion, einer Rückwendung, bestimmt habe. Man mag diesem eigentümlichen Grundriss von Canguilhems Studie zunächst aus philosophischer Richtung mit Achselzucken gegenübertreten – doch die epistemologischen Implikationen seiner These sind philosophisch alles andere als trivial. Die kritische Voraussetzung, mit der Canguilhem operiert, ist die einer Autonomisierung des Begriffs gegenüber den Theorien, in denen dieser Begriff zirkuliert. So mag bei Descartes vom Phänomen dieses Reflexes die Rede sein: Ein Argument dafür, dass Descartes damit zugleich über den Begriff des Reflexes verfügt, ist dies noch lange nicht. Ich werde darauf zurückkommen. Doch zunächst zu der Frage, weshalb es Descartes, der in den Funktionen des Organischen Kräfte des Körpers sieht, unmöglich gewesen sein soll, den Vorgang der unwillkürlichen Muskelkontraktion auf den Begriff des Reflexes zu bringen337. An Hand des Traité de l’homme (632) rekonstruiert Canguilhem das mechanistische Prinzip der cartesianischen Physiologie: Im Unterschied zu William Harvey bestimmte Descartes das Herz nicht als Muskel, sondern als ein „Organ ohne anatomische und physiologische Entsprechung im übrigen Körper“ (Canguilhem 2008, ). Allein durch eine Bewegung der Ausweitung (Diastole), nicht aber der Zusammenziehung (Systole), generiere das Herz eine elementare Wärme, die es in das Gehirn leite und so den Blutkreislauf in Gang bringe (ebd., 6). Dieser wiederum bestehe in der Zufuhr feinster Partikel, der sogenannten spiritus animales (Lebensgeister), über die Nerven an die Muskulatur des Organismus. In Canguilhems Perspektive ist es der Schlüsselschritt der cartesianischen Physiologie, „die zentripetale sensorische Erregung“ (ebd.) eines Nervs seiner „zentrifugalen motorischen Reaktion“ (ebd.) unterzuordnen. Sensorische Funktionen werden bei Descartes nicht von externen Reizen her expliziert, die über die Nervenbahnen von der Peripherie des Organismus auf das neuronale Zentrum einwirken und dort eine Reaktion stimulieren338. Die ausschließlich zentrifugal zu den Muskeln strömenden spiritus animales ermöglichen eine „Vervollkommnung der Funktion der Sensibilität“ (ebd., 8) durch „ihre wesentlich motorische Funktion“ (ebd.), also kraft der von ihnen bewirkten Kontraktion der Nerven und Muskeln. Für Descartes ist, wie Canguilhem herausstellt, die Bewegung der spiritus animales „vom Gehirn zum Muskel eine Bewegung ohne Zurück“ (ebd., 66). Es ist die Herzaktivität, welche die Blutzirkulation als kausalen Prozess in einseitiger Richtung initiiert und strikt mechanische Abhängigkeiten der muskulären von der neuronalen, der neuronalen von der zerebralen Prozessphase festlegt. Funktioniert das mechanistische System Descartes’ jedoch in der geschilderten Weise, so hat es seiner ge337

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Ich übernehme hier teils wörtlich Darlegungen aus Ebke 2008, 22–26. Zur aktuellen Rezeption des 2008 zum ersten Mal in Deutschland herausgegebenen Reflexbuchs siehe Wübben 2008; Schmidgen 2008d; Vöhringer 2008. Siehe Canguilhem 2008, 7: „Jeder Nerv ist aufgrund der unterschiedlichen Aspekte seiner Struktur und gemäß der unterschiedlichen Mechanismen zugleich sensibel und motorisch. Die zentripetale Erregung pflanzt sich nicht entlang des Nervs fort, sondern ist ein unmittelbares und vollständiges Ziehen der Nervenfaser. Wenn das Tier riecht, fühlt, hört oder schmeckt, wird das Gehirn durch die Oberfläche des Körpers und vermittels der Nervenfäserchen bewegt.“

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samten Anlage nach für das Konzept des Reflexes keinen Platz339. Dies ist Canguilhems entscheidender Schlag gegen die Fiktion, Descartes habe den Reflexbegriff definiert und terminologisch eingeführt: Das rekursive Modell der Bewegung, d.h. die Vorstellung einer vom Zentrum an die Peripherie zurückgewendeten (re-flektierten) Erregung, konterkariert Descartes’Absicht, im rein zentrifugalen Verlauf der Durchblutung die lückenlose kausale Determinierung durch einen Zentralmechanismus festzumachen. Die Geburt des Reflexkonzepts war Ausdruck einer „Interpretation von Erfahrung“, die von der cartesianischen Sicht der Phänomene scharf divergierte. An diesem Punkt bringt Canguilhem eine „wahrhaft phantastische Theorie, um die sich die Historiker nie gekümmert haben“ (Lecourt 97, 6), an den Tag, nämlich die schon angesprochene obskure Naturphilosophie von Thomas Willis. Auf drei Differenzen zwischen den physiologischen Modellen von Willis und Descartes legt Canguilhem Wert: Erstens sah Willis nicht das Herz, sondern das Hirn als ursächlich für die Muskelkontraktion an (Canguilhem 2008, 78). Zweitens beschrieb er die spiritus animales nicht wie Descartes als die subtilsten Partikel im Blut; er erkannte ihnen vielmehr eine gegenüber dem Blutkreislauf selbständige Zirkulation zu, und zwar sowohl in Richtung vom Hirn zur Peripherie als auch umgekehrt (ebd.). Drittens und vor allem aber war Willis der Auffassung, der spiritus animalis sei „ein Vermögen, das aktualisiert werden muss“ (ebd., 79). Die massive Distanz zur cartesianischen Konzeption hängt mit Willis’ opaker These zusammen, die spiritus animales als „destilliertes, purifiziertes, sublimiertes, vergeistigtes Blut“ (ebd., 78) hätten vor ihrer physischen Aktualisierung einen Überschuss an Potentialität voraus. Canguilhem zeigt nun, wie aus dieser archaischen, vor- bzw. unwissenschaftlichen Semantik das Konzept des Reflexes hervorkommt30. Der Reflex wird bei Willis buchstäblich als Explosion virtueller Energie gedacht – eine Entladung, die geschieht, sobald die spiritus animales mit nitro-sulphurischen Partikeln zusammentreffen, die im Blutgehalt eines Muskels enthalten sind. Und da die spiritus animales in doppelter Ausrichtung vom Zentrum (Hirn) zur Peripherie und rückwärts laufen, strahlt die Freisetzung des in ihnen aufgeladenen numinosen Lichts auf das Zentrum zurück. 339

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Ebd., 2: „Das Wesentliche des Reflexbegriffs ist nicht nur, den Grundstoff oder die Kurzfassung einer mechanischen Erklärung der Muskelbewegung zu enthalten; es ist die Annahme, dass sich die von der Peripherie des Organismus ausgehende Erregung, was auch immer ihre Natur sei, nach einer Reflexion in einem Zentrum auf dieselbe Peripherie zurückwendet. Es zeichnet die Reflexbewegung aus, dass sie nicht direkt von einem Zentrum, vom zentralen Sitz irgendeines immateriellen Vermögens ausgeht. Im Falle der Bewegung beruht darin der spezifische Unterschied zwischen dem Unwillkürlichen und dem Willkürlichen. Gemäß der Cartesianischen Theorie hat die Bewegung, die sich an der Peripherie, im Muskel oder in den Gefäßen manifestiert, ihre Quelle aber in einem Zentrum, dem Zentrum der organischen Zentren, dem Herd des Herzens. Und deshalb ist unbestreitbar, dass die Cartesianische Theorie eine mechanische Theorie ist. Aber sie ist keine Theorie des Reflexes.“ Ebd., 8: „So wie die Lichtkörperchen, um leuchten zu können, ätherischen Partikeln begegnen müssen, die in der Luft verteilt sind, so müssen die Spiritus, damit sie die Kraft freisetzen, mit der sie geladen sind, den nitro-sulphurischen Partikeln, die im Blut des Bindegewebes verteilt sind. Die krampfartige Explosion im Muskel führt zur Kontraktion. Somit ist der Spiritus animalis ein Licht, das darauf wartet, zum Feuer zu werden.“

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Dies ist der Moment, wo zur Interpretation des Phänomens der unwillkürlichen Bewegung der Begriff des Reflexes auf den Plan der Wissenschaftsgeschichte tritt: Die Termini reflexio und motus reflexus (Reflexbewegung) sind Teile einer archaischen Hypothese, wonach das Leben die Emanation eines geistigen Lichts ist. Canguilhem formuliert selbst die Antwort auf die Frage, weshalb gerade Willis mit seinem mystischen Ansatz, nicht aber Descartes über den Begriff des Reflexes in einem strengen Sinne verfügt: „Zusammengefasst finden wir bei Willis in bezug auf den Reflex die Sache, das Wort und den Begriff: die Sache in Form einer originellen Beobachtung, eines kutanen Reflexes des zerebrospinalen Systems, des Kratzreflexes; das Wort, das klassisch, wenn auch – als Adjektiv wie als Substantiv – unpassend ist; den Begriff, d.h. die Möglichkeit eines Urteils in der anfänglichen Form einer Umschreibung oder einer Klassifikation und in der schließlichen Form eines Prinzips der Interpretation von Erfahrung.“ (Ebd., 87)

Ein Begriff etabliert sich im Zusammenspiel dreier Register: Einer Sache, eines Worts und einer Bestimmung dieses Worts – eines Phänomens, einer Denomination, einer Definition3. Was Canguilhem an dieser Triplizität eminent zu sein scheint, ist die Konvergenz des dritten Schritts mit dem ersten. Die normative Strukturierung von Erfahrung, die, wenn sie sich in einer „experimentell abgestützte[n] theoretische[n] Erklärung“ (Sarasin 2008, 70) niederschlägt, begrifflich wird, muss mit der „Sache“, mit dem spezifischen Gegenstand der Erfahrung, konform sein. Canguilhem räumt explizit ein und unterstreicht, dass dieser Prozess der Begriffskonstitution an seinem Beginn in der Anschauung, in einer Sphäre der Analogien und Metaphern anhebt. Der Begriff ist also eine Figur, die nicht nur die Umwelt organisiert, sondern auch aus der Umwelt entlehnt, durch die Umwelt informiert wird. Canguilhem ist kein Konstruktivist32 bzw. Nominalist; er stellt ganz ausdrücklich (man kann sagen: ontisch) heraus, dass sich die Dinge vor ihrer begrifflichen Fixierung von selbst als das zeigen, was sie wesentlich sind. Ein Ausdruck wie 3

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Siehe dazu Schmidgen 2008a, VIIIf. An dieser Stelle zieht Schmidgen auch eine Parallele zur Relationalität von Zeichenträger, bezeichnetem Objekt und interpretierenden Bewusstsein bei Peirce. Andernorts [Schmidgen 2007, ] führt Schmidgen aus: „[William, Anm. T. E.] James assumed that concepts not just develop from perceptions, from which they are ‚distilled‘, but are fed back into perceptions that then are altered and transformed. In other words, the full potential of concepts manifests itself only when recombined with perceptions (…). Canguilhem seems to say something very similar about the role of concepts in scientific process. Just as James, he underscores the constructive character of concepts. Concepts do not (only) represent perceived realities, nor do they only depict these realities. They also make visible, produce realities and perceptions, and stimulate activity.“ [Hervorhebung i.O., T. E.] Dieser Umstand ist erwähnenswert, denn Die Herausbildung des Reflexbegriffs wurde, als Dissertationsschrift, von niemand anderem betreut als Gaston Bachelard. Im Unterschied zu Bachelard leistet Canguilhem nun aber keineswegs der These Vorschub, dass die Objekte wissenschaftlichen Wissens reifizierte Theoreme sind. Wie zuvor schon in dieser Untersuchung beobachtet, lässt sich Bachelards Konstruktion des epistemologischen Bruchs mit Canguilhem einer dialektischen Kritik unterziehen: Der epistemologische Bruch setzt sich als ein unvermittelter Anfang, der einer bloß negativen Dialektik statt gibt, und zwar deswegen, weil er seine eigene Rückvermittlung mit den Alltagsphänomenen, mit der „Natur“, nicht durchschaut. Canguilhem hingegen formuliert einen Begriff des Begriffs, der in der Spannung von innerweltlichen Phänomenen und normativer konzeptueller Praxis der Wissenschaften konstituiert wird.

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„Reflex“ wird daher in dem Moment zum Begriff, in dem durch den Ausdruck hindurch einer fraglichen „Sache selbst“ in ihrer Originalität Rechnung getragen und diese Anerkennung zu einem „Prinzip der Interpretation von Erfahrung“ erhoben wird33. Bei Willis findet genau dieser Dreischritt statt, was bedeutet, dass bei ihm der Begriff des Reflexes in Rücksicht auf eine Art „Wesensschau“ des Lebendigen und unter Rückbindung an eine archaische Bildlichkeit (Leben als Licht) gefasst wird. Damit klären sich zumindest die Umrisse des lebendigen Wissens des Lebens, wie es Canguilhem in seinem Spätwerk fasst. Im Vordergrund seiner Beschreibung steht nicht mehr, wie noch in La connaissance de la vie, die Perspektive der forschenden Subjekte, nicht mehr die vitale Anschauung der Wirklichkeit, zu der sie gelangen bzw. die sie (als Mechanizisten) abweisen. Eher vollzieht Canguilhem eine spezifische „Wende zum Objektpol“ (Plessner): Der Prozess der Formierung von Begriffen schreibt sich her aus einer quasi-konzeptuellen Formation der lebendigen Gegenstände selbst3. Die lebendigen Dinge sind darauf angelegt, begriffen zu werden; sie zeichnen den Modus ihrer Konzeptualisierung, also die sprachlichen Gestalten, mit denen sie auf den Begriff gebracht werden, gleichsam schon vor. Damit aber ist der Status der vitalistischen Haltung als einer Haltung, die sich vom Lebendigen bestimmen lässt, transformiert: Wenn für den Vitalismus eine phänomenologische Anschauung im losen Sinne konstitutiv ist – siehe Willis’ Diktum life is light –, so ist diese Anschauung durch den lebenden Gegenstand selbst informiert. Der Reflexbegriff macht eine rationale Disposition explizit, die dem Lebendigen eingeschrieben ist. Denn das Leben wird nicht erst nachträglich formalisiert; es prägt seinerseits Formen und Individuationen aus, es organisiert sich, bevor eine subjektive Tätigkeit – nämlich die Wissenschaft – daran geht, diese Organisation zu eruieren. In den 960er Jahren nimmt der Gedanke eines „a priori morphogénétique“ (Canguilhem 99b, 3; Hervorhebung i.O., T. E.), eines im Leben materialiter verankerten Begriffs des Lebens, eine immer prominentere Stellung in Canguilhems Ansatz ein. Der Text Le concept et la vie, 966 geschrieben, markiert die ausgereifteste Auseinandersetzung Canguilhems mit der Relation von Leben und Begriff. Von Aristoteles über den 33

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Siehe die hilfreiche Klarstellung von Canguilhems Begriff des Begriffs in Schmidgen 2008d, 6f.: „(…) Begriffe sind nicht das assoziative Resultat einer wiederholten Wahrnehmung von sinnlichen Mannigfaltigkeiten, aber auch nicht das Ergebnis einer mathematischen Setzung, die solche Mannigfaltigkeiten durch fortschreitende Synthese erzeugt. Vielmehr handelt es sich um erfahrungsleitende Schemata, Praxis-Sonden, die in ihrer Entstehung zunächst auf die externe Assimilation von Formen zurückgehen und deren entfaltete Funktion dann, als ‚Operatoren‘, wie Canguilhem sagt, in nichts anderem besteht, als in der Ermöglichung der Entwicklung und des Fortschreitens von Wissen.“ Siehe Schmidgen 2008a, I: „Nie geht es allein [in Canguilhems Verständnis von Historischer Epistemologie, T. E.] um die Bedeutung, den Gebrauch oder die Geschichte von Wörtern, sondern stets auch um die theoretischen und praktischen Orientierungen, die Gewohnheiten und Gesten, die sich mit ihnen verbinden. Letztlich zeigt dies schon die Rede von der ‚Herausbildung‘, der formation wissenschaftlicher Begriffe. Nach Canguilhem ruhen die Begriffe der Wissenschaft auf jenen Formen auf, die das Leben aus sich heraus, in seinen Individuationen, erzeugt oder – durch den Menschen als Mittler – in der Technik und der Kunst hervorbringt.“ [Hervorhebung i.O., T. E.]

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scholastischen Universalienstreit zu Locke, Hume und Hobbes, dann weiter zum Disput zwischen Buffon und Linné; von dem Umbruch, der sich von Kant zu Hegel ereignet, zu den biologischen Philosophien Bergsons und Goldsteins; und schließlich kulminierend im Nachdenken über die Spezifikation der DNS-Doppelhelixstruktur durch Watson und Crick unternimmt Canguilhem eine problemgeschichtliche tour de force, die sich auf folgenden Kern zuspitzt: „Procédons-nous, dans la connaissance de la vie, de l’intelligence à la vie, ou bien allons-nous de la vie à l’intelligence? Dans le premier cas, comment l’intelligence rencontre-t-elle la vie? Dans le deuxième cas comment peut-elle manquer la vie?“ (Ebd., 33)

Canguilhem bahnt sich einen Weg durch die Geschichte der Philosophie am Leitfaden der Beziehungen zwischen Erkenntnis und Leben. Sein Ausgangspunkt ist eine Erläuterung der Position des Aristoteles, die hier nicht im Detail nachgezeichnet werden muss3. Vermerkt sei nur, dass Canguilhem es für den entscheidenden Einsatz des Aristoteles hält, die Wahrheit der Prädikate, die auf das Lebendige Bezug nehmen, auf eine im Lebendigen selbst liegende ontologische Wahrheit zu stützen. Dieses aristotelische Motiv wirkt untergründig auf einem ganz anderen Schauplatz von Le concept et la vie fort, nämlich in Canguilhems ebenso origineller wie kühner Konfrontation von Kant und Bergson. Durch die gedankliche Begegnung zwischen Kant und Bergson, die der Text arrangiert (besser: fingiert), hellt sich auf, was in Canguilhems Projekt der 960er Jahre den Platz eines lebendigen Wissens des Lebens einnimmt. Canguilhems These zielt auf ein „recoupement de difficultés (…) au sein de deux problématiques bien différentes“36: Sowohl Bergson als auch Kant haben, so Canguilhem, stillschweigend, aber mit unerhörten Folgen für ihre jeweiligen Theorien, eine Verlagerung 3

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Das Argument sei nur flüchtig skizziert: Im Fall des lebendigen Seienden ist es die psyche, die zum einen garantiert, dass dieses Seiende über allen stofflichen Wandel hinweg dasjenige wird und bleibt, was es seiner Substanz nach immer schon ist (ousia). Zum anderen sichert das Prinzip der psyche jedoch auch die Angebbarkeit der Substanz, also des Seins des Seienden, in unseren sprachlichen Propositionen (logos). Die psyche bringt das Sein des Lebendigen mit dem Begriff des Lebendigen, sie bringt ousia und logos zur Einheit. Deshalb ist Aristoteles für Canguilhem „à la fois le logicien du concept et le systématicien des êtres vivants“ (Canguilhem 99b, 336). Aristoteles habe seine Logik der Syllogismen aus der Hierarchie der natürlichen Formen abgeleitet. So sehr in der Natur gilt, dass ein Lebewesen nur gattungsgleiche Nachkommen haben kann, so sehr gilt das logische Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs. An dieser Adäquation von Leben und Erkenntnis (genauer: propositionaler Logik) bei Aristoteles unterstreicht Canguilhem folgenden problematischen Zug: Hinter dem Modell der Immanenz – das Prinzip, das die Erkenntnis des Lebens ermöglicht, ist mit dem immanenten Seinsprinzip des Lebens identisch – verbirgt sich bei Aristoteles ein metaphysischer Dualismus. Aristoteles sei es darum gegangen, ausgehend vom Sinnlichen eine Dimension reiner (also übersinnlicher) Formen zu erschließen und einen metaphysischen nous zu begründen, der denkenden Wesen zur Verfügung steht (es ist dies der „kleine nous“ im Unterschied zum unendlichen, göttlichen nous). Deswegen müsse er nahezu gewaltsam das Denken als transzendente Potenz „dans l’embryo humain“ (ebd., 337) implantieren. Das Denken hat bei Aristoteles keine Genese im Leben. Es ist ein meta-physisches Prinzip, das das Leben immanent regiert, aber der Sphäre des rein Geistigen zuzuordnen ist. Ebd., 3 [zu deutsch etwa: „eine Überlagerung von Schwierigkeiten inmitten zweier wohl unterschiedener Problemstellungen“; meine Übersetzung, T. E.].

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vom Denken transzendentaler Subjektivität zu einem materialen, in der Faktizität der Dinge gründenden Apriori vollzogen. Was Bergson betrifft, so wird dieser Bruch in dem „kapitalen Unterschied“37 offenkundig, der La Pensée et le Mouvant (939) von Matière et Mémoire (896) scheidet. Matière et Mémoire war der Versuch, auf dem Boden einer physiologischen Erklärung der Relation von Organismus und Milieu den klassischen Dualismus von Denken und Materie als Scheinproblem zu entlarven. Bergson expliziert das Vermögen zur „volle[n] begriffliche[n] Erfassung der Arten“ (Bergson 99, 3), worin „ohne Zweifel das Eigentümliche des menschlichen Denkens“ (ebd.) bestehe, durch einen utilitären Prozess, der allen vitalen Phänomenen, angefangen bei der Pflanze, zu Grunde liege. Begriffliches Denken wird von Bergson ontogenetisch als das Resultat einer Tendenz zur Uniformisierung und Reduktion der Umwelt auf Ähnlichkeiten hin bestimmt, eine Tendenz, die für Lebendiges schlechthin charakteristisch sei38. Soweit Organismen für spezifische physiologische Stimuli, die von der Umwelt ausgehen, spezifisch angemessene Reaktionen habitualisieren, kommt es zur Festigung von Verhaltensmustern. Diese Gesetzmäßigkeit fasst Bergson in die Formel: „Es ist das Gras im allgemeinen, das den Pflanzenfresser anzieht“ (ebd., ): Genau dieses Prinzip ermöglicht die Genese von Allgemeinbegriffen, die es dem Menschen gestatten, eine Klassifikation der natürlichen Arten zu entwickeln. Canguilhem argumentiert nun, dass Bergson seine physiologische Hypothese über die „Ähnlichkeit als Identität der organischen Reaktion“ (Canguilhem 99b, 38; meine Übersetzung, T. E.) in La Pensée et le Mouvant verworfen habe. Schauen wir, wie Canguilhem die von ihm konstatierte Verschiebung präzisiert: „Le problème est énoncé de la façon suivante: Comment des idées générales qui servent de modèles à d’autres sont-elles possibles? Autrement dit, pour que le vivant humain puisse achever ce travail réfléxiv de généralisation d’une généralité d’abord quasi instinctivement perçue, il faut qu’un prétexte, qu’une occasion soit donnée dans les choses mêmes. C’est-à-dire qu’il faut rechercher les racines réelles d’une operation qui n’était justifiée dans Matière et Mémoire que par son succès vital. (Canguilhem 99b, 30)“39 37 38

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Ebd., 38 [„…une différence capitale…“]. Siehe Bergson 99, : „Nun, es besteht kein wesentlicher Unterschied zwischen dem Prozess, durch den die Säure ihre Base aus dem Salze zieht, und der Tätigkeit der Pflanze, die aus dem verschiedensten Boden immer die gleichen Elemente herauszieht, die ihr zur Nahrung dienen sollen. Machen wir nun einen Schritt weiter und stellen wir uns ein rudimentäres Bewusstsein vor, wie vielleicht das einer Amöbe, die sich im Wassertropfen bewegt: das Tierchen wird die Ähnlichkeit und nicht den Unterschied der verschiedenen organischen Substanzen empfinden, welche es sich assimilieren kann. Kurz, wir können vom Mineral zur Pflanze, von der Pflanze zu den einfachsten bewussten Wesen, vom Tier zum Menschen die Entwicklung eines Prozesses verfolgen, durch den die Dinge und die Wesen aus ihrer Umgebung herausgreifen, was sie anzieht, was sie praktisch interessiert, ohne dass sie nötig hätten zu abstrahieren, einfach weil die übrige Umgebung sie nichts angeht: diese Identität der Rückwirkungen auf Wirkungen, die nur oberflächlich verschieden sind, ist der Keim, welchen das menschliche Bewusstsein zu Allgemeinbegriffen entwickelt.“ Zu deutsch etwa: „Das Problem wird auf folgende Weise zum Ausdruck gebracht: Wie sind die allgemeinen Ideen, die anderen als Modell dienen, möglich? Anders gesagt: Damit das menschliche Lebewesen diese reflexive Arbeit der Verallgemeinerung einer zunächst quasi instinktiv wahrgenommenen Allgemeinheit vollbringen kann, muss ein Prätext, ein Anlass dazu in den Dingen selbst

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Während Matière et Mémoire die Herkunft des Abstraktionsvermögens aus dem Habitualisierungsverhalten des Organismus erschloss, skizziert La Pensée et le Mouvant, so Canguilhem, den Prä-Text für diese reflexive Arbeit der Abstraktion. Aus eben diesem Grund finde eine Abkehr vom Paradigma des Organismus zu den Mikrostrukturen des Lebendigen statt: „Tout ce qui est vivant, la cellule, le tissu, généralise.“ (ebd.)30 Und in der Tat kehrt Bergson in La Pensée et le Mouvant seine frühere Explikation ins Gegenteil um: „Wenn die Intelligenz dazu geschaffen ist, um die Materie zu beherrschen, so hat sich die Struktur der Intelligenz zweifellos nach der der Materie geformt“ (Bergson 993, ). Diese Wende ins Objektive bei Bergson entspricht, Canguilhem zufolge, in ihrer Dramaturgie einer ganz parallelen Entwicklung bei Kant. In Le concept et la vie insistiert Canguilhem vor allem auf zwei kantischen Motiven, welche „la limite de la révolution copernicienne“ (Canguilhem 99b, 3) implizieren. Erstens bezieht sich Canguilhem auf die A-Auflage der Kritik der reinen Vernunft von 78, wo Kant in der Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe die drei Synthesen der Apprehension des Mannigfaltigen in der Anschauung, der Reproduktion in der Einbildungskraft und die der Rekognition im Begriff einführt. Wenn die Synthesis der Reproduktion darin besteht, „nach einer Regel von einer Vorstellung zu einer anderen überzugehen“ (Kant AA III, 02) und dabei frühere Vorstellungen zu konservieren, so schließt diese Konstruktion die Anerkennung einer regelhaften Gegebenheitsweise des Mannigfaltigen selbst ein, von der die synthetische Funktion der Einbildungskraft allererst abhängt. Diesen Gedanken demonstriert Canguilhem im Rückgriff auf Kants berühmtes Beispiel des Zinnobers3. Zweitens deutet Canguilhem den zweiten Teil der Kritik der Urteilskraft (790), die „Kritik der teleologischen Urteilskraft“, als Revision einer dem transzendentalen Ansatz innewohnenden Aporie. Das transzendentale Projekt hatte die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung aufgewiesen, unter der Prämisse, dass es der theoretische Verstand ist, der das Allgemeine (a priori) einbringt, und dass die Urteilskraft in bestimmender Funktion das Besondere darunter subsumiere. Aus methodischen Gründen könne „Natur“ in diesem Vorhaben allein als mechanisches System von Naturgesetzen in den Blick kommen. Dagegen gehe Kant mit dem teleologischen Urteil, so Canguilhem, vom Begriff der Kausalität zur Kausalität des Begriffs über (Canguilhem 99b, 3): Die reflektierende Urteilskraft folgt dem regulativen (d.h. subjektiven und heuristischen) Prinzip, der Natur eine zweckmäßige Struktur zuzuschreiben, die mit unserem diskursiven Ordnungsbedürfnis übereinstimmt, die also unserem Erkenntnisvermögen „so passen könnte“. Doch regulativ so zu tun, als ob die Natur einer Gesetzmäßigkeit durch Zwecke folgte, ist

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gegeben sein. Das heißt, man muss die wirklichen Wurzeln einer Operation untersuchen, die in Materie und Gedächtnis nur durch ihren vitalen Erfolg gerechtfertigt worden war.“ (Meine Übersetzung, T. E.). „Alles Lebendige, die Zelle, das Gewebe, verallgemeinert.“ (Meine Übersetzung, T. E.) Kant AA III, 2: „Würde der Zinnober bald rot, bald schwarz, bald leicht, bald schwer sein, ein Mensch bald in diese, bald in jene tierische Gestalt verändert werden, am längsten Tage bald das Land mit Früchten, bald mit Eis und Schnee bedeckt sein, so könnte meine empirische Einbildungskraft nicht einmal Gelegenheit bekommen, bei der Vorstellung der roten Farbe den schweren Zinnober in die Gedanken zu bekommen.“

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nur dann sinnvoll, wenn die empirische Existenz von Phänomenen zugestanden wird, die sowohl rein mechanisch gefasst werden können als auch so, als hätte ein Verstand sie geordnet. Für Canguilhem eröffnet sich mit Kants Problem des Naturzwecks eine Existenzweise der Dinge, die nicht a priori angegeben werden kann, gleichwohl aber in der Erfahrung festgestellt wird und den Rekurs auf teleologische Urteile notwendig macht. Kants Inkonsistenz zeige sich darin, eine nicht-mechanische Gegebenheitsweise von Phänomenen, die Anlass gibt, diese Phänomene als zweckmäßig organisiert zu beurteilen, zwar anzusetzen, aber den Standpunkt, von dem aus sie sowohl diskursiv als auch intuitiv gedacht werden können, für endliche denkende Wesen als unerreichbar auszuschließen. Worin liegt für Canguilhem das tertium dieser so radikal verschiedenartigen „Wendungen zum Objekt“ bei Bergson und bei Kant? Die Antwort ist so schlicht wie entscheidend: Beide Denker gelangen von Konzeptionen, die am Pol des Subjekts Maß nehmen, zu der Grenzeinsicht, dass die Begriffe, unter die wir lebendige Gegenstände bringen, von diesen Gegenständen selbst präfiguriert werden32. Wenn aber das Leben so gedacht werden muss, als ob ein Begriff seine Produktionen leite, so ähneln sich Kant und Bergson in der Bilanz, die sie aus diesem Als Ob ziehen: Beide verstehen den informativen Charakter des Lebens „comme une invitation de la vie à la conceptualisation de la vie par l’homme“ (ebd., 32). Freilich liegt der Akzent auf diesem letzten Zug: Obschon die lebendigen Dinge ihrerseits die Informationen enthalten, die für ihre begriffliche Bestimmung notwendig sind, ist diese informative Verfassung des Lebendigen für Kant und Bergson letztlich nur in Korrespondenz zu den Bedürfnissen eines menschlichen Subjekts (des Lebens bzw. von Urteilen) denkbar. Es gibt ein Postulat der Homogenität zwischen der rationalen Disposition der Wirklichkeit und den Urteils- bzw. Verhaltensformen spezifisch menschlicher Lebewesen33. Die scharfe Zäsur, die Canguilhem gegenüber der paradigmatischen Verbundenheit mit dem Subjekt – und damit gegenüber seiner eigenen Problemstellung seit Das Normale und das Pathologische – zieht, lässt sich wie folgt artikulieren: Man muss Ernst machen mit der Entdeckung, dass „l’a priori est dans les choses (…), le concept est dans la vie“ (ebd., 36; Hervorhebung i.O., T. E.). Die Erkenntnis des Lebendigen ist ihrerseits die Folge der immanenten Informationsstruktur von Leben; sie ist nichts als die Realisierung einer spezifischen Möglichkeit, die im Programm, im Code des Lebendigen enthalten ist. Angesichts dieser Inschrift des Lebens wäre der Akt der Erkenntnis, so Canguilhem, streng einzuschränken auf seine entziffernde, dekodierende, auf seine gleichsam archä32

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Canguilhem spricht klar aus, dass mit dieser Grenzeinsicht das Projekt einer „kopernikanischen Wende“ unwirksam („inopérante“), außer Kraft gesetzt wird. Siehe Canguilhem 99b, 32: „La révolution copernicienne est inopérante quand il n’y a plus d’identité entre les conditions de l’expérience et les conditions de possibilité de l’expérience. Alors la reciprocité des perspectives ne joue plus et ils n’est plus équivalent de dire que nous rendrons compte des mêmes apparences, en supposant tantôt que notre connaissance se règle sur l’objet, tantôt que l’objet se règle sur notre connaissance.“ Man könnte sagen, dass Bergson und Kant die Bedingung der Möglichkeit der Konzeptualisierung des Lebens in das Leben selbst einschreiben. Aber dabei gilt, dass es sich um eine Konzeptualisierung handelt, die von einer menschlichen Erkenntnis geleistet wird. Siehe ebd., 33: „(…) une conception de rapports entre le concept et la vie qui se doit d’inscrire dans la vie ellemême la condition de possibilité de la conceptualisation de la vie par la connaissance humaine …“

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ologische Funktion: Leben und Erkenntnis verhalten sich zueinander wie Transmission und Expression3, wie Botschaft und Lektüre. In der Tat versteht Canguilhem die durch Watson und Crick geleistete molekularbiologische Bestimmung der DNS-Basenstruktur sogar als einen materiellen Beleg dafür, dass die „langue du programme“ (ebd., 360) des Lebens sich vererbt, also kollektiver Natur ist. Mit gutem Grund kann man sagen: Das lebendige Wissen des Lebens bedeutet bei Canguilhem – und zwar buchstäblich – die direkte Abhängigkeit der Kognition von der Inschrift des Lebens. Seine Argumentation ist informationstheoretisch. Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass es diese strukturalistische Fassung eines lebendigen Wissens des Lebens war, die zu einer Wiederannäherung Foucaults3 an seinen Mentor, zugleich aber zu einer schneidenden Kritik der Schüler Louis Althussers, die zu einem nicht geringen Teil auch Schüler Canguilhems waren36, führte. 3 3

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Siehe Schmidgen 2008c, 33–3, hier . Foucaults Diktum der „Teilungslinie“, die in der französischen Diskussion antagonistisch zwischen einer „Philosophie der Erfahrung, des Sinnes, des Subjekts einerseits [und] einer Philosophie des Wissens, der Rationalität und des Begriffes andererseits“ hindurchgehe, und seine Behauptung, Canguilhem vertrete den letzteren Typ von Theorie, ist also nur dann zu akzeptieren, wenn man sich auf Canguilhems strukturalistische Position der 960er Jahre konzentriert. Wie das eindrucksvolle Nachwort zur amerikanischen Ausgabe von Das Normale und das Pathologische zeigt, war Foucault voller Wertschätzung für Canguilhems Bestimmung des Lebens als „Informationssystem“. Siehe Foucault 988, 3 bzw. 69 (Zitate). Fakt aber ist, dass Canguilhems strukturalistische Wende keineswegs hinfällig macht, was er in Das Normale und das Pathologische und in La connaissance de la vie herausgestellt hatte: Dass nämlich das Lebendige ein absolutes Bezugszentrum ist. Canguilhem lässt den Strukturalismus nicht an die Stelle des Vitalismus treten, sondern plädiert für die dialektische Versöhnung von beidem – und zwar im Rekurs auf Hegel, den er aufruft, um die Denkbarkeit und Denknotwendigkeit von Leben als unmittelbare Einheit von Begriff und Wirklichkeit zu unterstreichen. Siehe dazu Canguilhem 99b, 3. Zu Foucaults Analyse von Canguilhems Irrtumsbegriff siehe auch Sarasin 2008, 6–7. Besonders vehement hat Dominique Lecourt, der sowohl bei Althusser als auch bei Canguilhem studierte, die Auszeichnung eines materialen Apriori abgelehnt. Canguilhem verspiele ohne Not seinen „polemischen Vitalismus“ – und d.h. für Lecourt und Althusser die ideologiekritische Differenz zwischen science und conscience –, um sich „allzu leicht in das aristotelische Lager“ einzureihen. Siehe Lecourt 97, 7. Siehe ebd. [Hervorhebungen i.O., T. E.]: „Was uns angeht, so würden wir vorschlagen, die Entdeckung der D.N.S. folgendermaßen einzuordnen: gegenüber allen und gegen alle den polemischen Aspekt der früheren vitalistischen Strömung zu bewahren: den Aspekt des Verbotenen gegenüber jeder Erkenntnistheorie beizubehalten und die neuen Begriffe unter diesem Verbotenen zu denken. Dadurch würde nämlich erreicht, dass die Idee von der Existenz einer ‚Polarität‘ oder im Lebewesen eingeschriebenen Dialektik zugleich bestätigt, wiederaufgegriffen und durch die materielle Existenz des genetischen Codes richtiggestellt werden könnte. Sehr deutlich formuliert: wäre es nicht richtig, an beiden Thesen zugleich in ihrer offensichtlichen Unvereinbarkeit festzuhalten?“ Während Foucault bei Canguilhem einen Durchbruch zum Strukturalismus sieht, der die dubiose Annahme einer subjektiven Norm endlich überwunden habe, beklagt Lecourt die Einziehung der polemischen Differenz zwischen Leben und Erkenntnis. Die ganze Pointe von Le concept et la vie besteht aber gerade darin, sowohl das Leben als auch die Erkenntnis als einen produktiven Irrtum zu denken: Canguilhem zeigt, dass dem Leben schon auf der Ebene seiner materiellen Information eine Unbestimmtheit inhäriert, die auch die Erkenntnis zu einem unbestimmten, kreativen Unterfangen macht. Lecourt nimmt für sich (im Namen der conscience) in Anspruch, dass der polemische Vitalismus eine Haltung des Denkens ist, die nicht irrt, sondern das Recht des Lebens auf ihrer Seite hat: Dagegen skizziert Canguilhem einen internen Irrtum des Lebens, der jede Erkenntnis (auch den Vi-

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Es wäre ein Missverständnis, in dieser Ausbuchstabierung des lebendigen Wissens des Lebens bei Canguilhem, die zugleich eine Selbstrevision seiner früheren Ansätze und den Anlauf zu einer Nouvelle Connaissance de la Vie37 bringt, einen genetischen Determinismus am Werk zu sehen. Zwar wirft Canguilhem definitiv das Kognitive auf das Biologische, das Subjekt auf das Reale, die Lektüre und den Leser auf die Zeichen zurück38. Aber auf der Mikroebene der Verschriftung, die das Leben selber vornimmt, herrscht keine zeitlose Wahrheit. Der Code des Lebens trägt nicht etwa ein Ideal in sich, ein unfehlbares Prinzip, das immer erst in der Übersetzung, durch eine unstimmige Lektüre, verfälscht würde. Sondern in den genetischen Informationen des Lebens selbst nistet der Irrtum. Dieser Begriff ist der Nerv aller Überlegungen zum Problem des Lebens, die Canguilhem in und seit den 960er Jahren entwickelt. Canguilhem verweist im Leben auf die Möglichkeit (besser: auf die Realität) einer „Fehlsteuerung ohne Fehler eines Steuermanns“ (Canguilhem 97, 96)39, auf einen von Anbeginn ins Leben eingebauten Irrtum: „Die Gesundheit ist genetische und enzymatische Korrektheit. Kranksein heißt also: falsch gemacht worden sein, falsch sein; doch nicht wie ein falscher Geldschein oder ein falscher Bruder, sondern wie eine falsch sitzende Falte oder ein falsch gebauter Vers. […] Entsprechend heißt erkennen: sich informieren, sich üben im Entziffern und Dekodieren. Deswegen gibt es auch keinen Unterschied zwischen dem Irrtum des Lebens und dem des Denkens, zwischen dem Irrtum der informierenden und dem der informierten Information. Der erste Irrtum gibt den Schlüssel für den zweiten ab.“ (Ebd., 93 bzw. 9)

Als Beispiel für einen solchen „enzymatischen“ Irrtum führt Canguilhem die Anämie an360: Die Deformation roter Blutkörperchen ist das Resultat einer Fehlverteilung von Aminosäuren (in diesem Falle von Valin an Stelle von Glutaminsäure), d.h. einer Verwechslung, die im Codierungsprozess stattfindet. Ein solcher Irrtum ist keine Abweichung von einer ursprünglich korrekten Information36: Er geschieht dadurch, dass sich talismus) dem Irrtum aussetzt. In einem viel weiter gehenden Sinne als Lecourt vertritt Canguilhem daher den Gedanken einer Heterogenität, einer strukturellen Uneinholbarkeit des Lebens gegenüber dem Begriff. 37 Den Titel La Nouvelle Connaissance de la Vie hat jene Sektion des Bandes Etudes d’histoire et de philosophie des sciences (968/hier: 99), deren einziger Bestandteil eben der Aufsatz Le concept et la vie ist. Der revisorische Sinn des Textes ergibt sich also im werkgeschichtlichen Zusammenhang, nämlich im Rückblick auf La connaissance de la vie. 38 Und damit vollzieht er eine Umkehr, die Henning Schmidgen präzise auf den Punkt bringt. Siehe Schmidgen 2008a, : „Das Erkenntnisproblem wird nicht länger nur auf eine Individualität des Verhaltens und Erlebens bezogen, sondern auch auf eine Kollektivität der Vererbung, der biologischen Transmission, Transkription und Expression von genetischer Information. Erkennen heißt nicht mehr nur analysieren, vermessen und berechnen (wie noch in den 0er Jahren, in La connaissance de la vie), sondern ‚sich informieren, sich üben im Entziffern und Dekodieren‘.“ 39 Es handelt sich hier um ein Zitat aus den sogenannten Neuen Überlegungen zum Normalen und zum Pathologischen (1963–66), die Canguilhem als Appendix zur 966 besorgten Neuauflage seiner thèse von 93 hinzufügte. 360 Siehe Canguilhem 97, 9. 36 Siehe auch ebd., 9f.: „Es gibt schlechte Lesarten eines Hämoglobins, wie es schlechte Lesarten eines Manuskripts gibt. Freilich handelt es sich hier um eine Sprache, die von keinem Mund, um eine Schrift, die von kei-

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eine spezifische Information schon in dem Moment, in dem sie sich schreibt (d.h. im Augenblick ihrer biochemischen Generierung), verschreibt. So wie in der Physiologie das Pathologische nicht aus dem Normalen abgeleitet, sondern eine Norm sui generis ist, so stellt der genetische Irrtum keine Verfälschung eines ursprünglichen Originals, sondern den falsch gebauten Vers in einer Textur dar, die keineswegs auf die Hervorbringung gelungener („richtiger“) Gebilde vorprogrammiert ist. Wenn man bei Canguilhem von einer Erkenntnis des Lebens sprechen kann, die selbst lebendig ist, dann muss man diese Formel in ihrem materiellen Sinne nehmen: Die Erkenntnis ist vital, weil sie ein (nicht: das) Resultat der genetischen Information ist. Da aber das Leben nichts anderes ist als eine Suchbewegung, deren Verlauf und Ausgang niemals feststeht; da es eine fortlaufende Produktion von Neuem ist, die keiner stabilen Regel gehorcht, sondern sich selber überrascht, so folgt aus alle dem für die Aktivität der Erkenntnis, eine Einübung „im Entziffern und Dekodieren“ zu sein. Als „Forschung“ charakterisiert Canguilhem daher eine Praxis, in der spezifische „materiale Aprioris“, also die genetischen Bedingungen phänotypischer Daten, herausgestellt werden362. Forschung hat primär hinnehmenden, explikatorischen Charakter. Das Finale von Le concept et la vie erinnert nun aber an das Problem, das sich in Auseinandersetzung mit Bergson und Kant als kritisch ergeben hatte: Dass nämlich von einer Klärung der Zusammenhänge von Leben und Erkenntnis stets die Frage nach dem Subjekt mit abhängt. Darum formuliert Canguilhem folgende Bestimmung: „La vie aurait donc abouti par erreur à ce vivant capable d’erreur. En fait, l’erreur humaine ne fait probablement qu’un avec l’errance. L’homme se trompe quand il ne se place pas à l’endroit adéquat pour recueillir une certaine information qu’il recherche. Mais aussi, c’est à force de se déplacer qu’il recueille de l’information ou en déplacant, par toutes sortes de techniques – et on pourrait dire que la plupart des techniques scientifiques reviennent à ce processs – les objets les uns par rapport aux autres, et l’ensemble par rapport à lui. (…) Par conséquent, être sujet de la connaissance, (…) c’est seulement être insatisfait du sens trouvé.“ (Canguilhem 99b, 36)363

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ner Hand herrührt. Hinter dem Schnitzer (malfaçon) steckt also kein böser Wille (malveillance). Kranksein heißt schlecht sein, aber schlecht nicht wie ein übler Bursche, sondern wie ein schlechtes Terrain.“ Interessanterweise versteht Canguilhem die tierphysiologischen Studien von Konrad Lorenz und Nikolaas Tinbergen als eine solche „mise en évidence de patterns innés de comportement“ und als „une façon d’avérer la realité de tels a priori“ (Canguilhem 99b, 362). Zweifellos würde Canguilhem den Arbeiten von Buytendijk und Plessner einen ganz analogen Verdienst zusprechen. Zu deutsch etwa: „Das Leben mag auf jenes Lebendige hinaus gelaufen sein, das fähig ist, zu irren. In der Tat ist der menschliche Irrtum [erreur] vermutlich nichts als eine Irrfahrt [errance]. Der Mensch täuscht sich, weil er nicht weiß, wo er sich platzieren soll. Der Mensch täuscht sich, wenn er sich nicht an den geeigneten Ort stellt, um eine bestimmte Information, die er sucht, zu empfangen. Aber kraft seines Umherschweifens, oder indem er durch allerlei Techniken – und man könnte sagen, dass die Mehrzahl der wissenschaftlichen Techniken auf genau diesen Prozess zurückgeht – die Objekte in ihrem Verhältnis untereinander und das Ganze der Objekte in Bezug auf sich selbst deplaziert, empfängt er auch Informationen. Die Erkenntnis ist also eine unruhige Suche nach der größten Menge und der größten Vielfalt der Information. Subjekt der Erkenntnis zu sein, wenn das Apriori in den Dingen, wenn der Begriff im Leben ist, heißt folglich nichts anderes, als schlicht und ergreifend unzufrieden zu sein mit dem gefundenen Sinn.“ [meine Übersetzung, T. E.]

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Der Mensch ist für Canguilhem das zum Irrtum fähige, aber auch das verirrte, sich an den „falschen“ Plätzen aufhaltende Wesen36. Was Canguilhem beschreibt, ist die Situation eines homo viator, der, mit der „Fähigkeit zum Wandern, zur Bewegung und Verlagerung“ (Schmidgen 2008c, ) versehen, einerseits seine Umwelt permanent neu strukturiert, andererseits aber einer durch das Leben selbst bedingten Dezentrierung ausgesetzt ist. Wenn der Mensch dasjenige Lebewesen ist, das „sich (…) im Medium der Biologie selbst begreift“ (Sarasin 2008, 69), so kippt dieses Selbstbegreifen bei Canguilhem stets in die biologische Diskreditierung eines autonom gedachten „Selbst“ um: Der Mensch ist, wenn er überleben will, darauf angewiesen, seine Umwelt begrifflich zu rationalisieren und zu überformen. Diese Rationalisierung aber ist ihrerseits Ausdruck oder Effekt des immer möglichen hereditären Irrtums, einer gleichsam im Programm des Lebens beschlossenen Mutation. Das lebendige Wissen des Lebens ist verankert in einer Normativität, welche die individuellen Organismen in dem Maße umtreibt, in dem sie sich ihnen entzieht. Damit ist Canguilhems Struktur des lebendigen Wissens des Lebens bis zu ihrem Ende abgeschritten. Die durch unsere Definition festgelegten drei Etappen, die einer solchen Struktur ihr Gepräge geben, werden wie folgt zurückgelegt: Erstens fordert Das Normale und das Pathologische eine epistemisch strenge Differenz zwischen Natur und Leben ein. Canguilhem fasst „Leben“ als Normativität, was bedeutet, dass ein Organismus die Auseinandersetzung, die er mit seiner natürlichen Umwelt führt, in Anbetracht einer dynamischen Polarität (Gesundheit oder Krankheit) einer Wertung unterzieht. Um die Spezifität von Leben zu thematisieren, ist das individuelle Lebewesen als in sich zentriertes Subjekt von Erfahrung anzuerkennen, das sich zu seinen Wirkungen auf die Umwelt bzw. zu den Einwirkungen der Umwelt auf sich absolut, d.h. in Form „totaler Reaktionen“ (Goldstein) verhält. Vom Standpunkt einer Historischen Epistemologie zeigt Canguilhem, dass Medizin und Biologie strukturell außer Stande sind, dieser affektiven Seite des Lebens, seiner Werthaftigkeit, Rechnung zu tragen. Vielmehr vollziehe sich eine Reduktion der Differenz des Lebendigen auf die Dimension objektivierbarer Natur – eine Entvitalisierung, die angesichts der realgeschichtlichen Konstituierung von Biologie und Medizin als Wissenschaften unumgänglich sei. Canguilhem zielt auf ein Verständnis des Lebens unter technischen und subjektiven im Gegenzug zu wissenschaftlichen und objektiven Kategorien. Es ergibt sich für die Medizin ein Primat der Klinik, wodurch sie sich als „Kunst des Lebens“, d.h. als Technik in Abgrenzung von der Wissenschaft neu positionieren könne. Anstatt sich in der Stilisierung einer Asymmetrie von Leben und Wissenschaft zu verlieren, entwirft Canguilhem zweitens ein spezifisches Wissen des Lebens, d.h. eine Rationalität, die Leben als Leben zu erfassen vermag. Bei diesem Wissenstyp handelt es sich, folgt man La connaissance de la vie, um einen eigentümlichen Vitalismus. Eigentümlich ist dieser Vitalismus, weil er allein durch eine historische Brechung sichtbar wird: Obwohl er das Leben in seiner Unmittelbarkeit und damit als genuin technisches Geschehen 36

Und nur am Rande sei noch einmal erwähnt, dass dieser Typ von Erklärung fundamental anders funktioniert als Canguilhems Idee, dass die Erkenntnissubjekte, sofern sie Mechanizisten sind, das Leben verfehlen. Auf gewisse Art nimmt Canguilhem das Privileg der Vitalisten zurück, über ein angemessenes Wissen vom Leben zu verfügen. Wenn die Kognition gänzlich auf genetische Information zurückzuführen ist, dann befindet sich das Denken schlechthin gegenüber dem Leben in einer ebenso abhängigen wie irrtümlichen Position.

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zugänglich macht, ist ein so verstandener Vitalismus stets durch mechanistische Formationen vermittelt und überformt. Das Wissen vom Leben lässt sich nur indirekt, nur in der vermittelten Unmittelbarkeit eines historischen Diskurses ans Licht bringen, der das Leben entvitalisiert. In methodischer Hinsicht forciert Canguilhem somit seine in Das Normale und das Pathologische begonnene Strategie, phänomenologische Anschauung und epistemologischen Bruch zu verschränken. Zugleich ist es die Pointe seiner Rekonstruktionen, dass die mechanizistische Reduktion von Leben auf Natur eng mit anthropozentrischer Selbstermächtigung verflochten ist. Der Mechanizismus ist die Auslöschung der Differenz des Lebens gegenüber der Natur und gegenüber dem Subjekt: Insofern führt Canguilhem eine untergründige, aber radikale Kritik an der „Lebensvergessenheit“ der Anthropologie, die in der französischen Tradition gänzlich mit Konstruktivismus zusammenfällt. Canguilhems Inversion der Beziehungen von Wissenschaft und Technik, die den Kern des von ihm beabsichtigten „vitalen Rationalismus“ ausmacht, zeigt sich als Inversion der Relation von Mensch und Leben: Es ist nicht der Mensch, der die Macht hat, das Leben zu normalisieren; der Mensch wird, im Gegenteil, bestimmt und begrenzt durch die Normativität des Lebens, wofür exemplarisch der Vorrang des Pathologischen vor dem Normalen einsteht. Drittens entwickelt Canguilhem die soeben skizzierten thematischen Achsen weiter zur Fassung eines lebendigen Wissens des Lebens. Seine These lautet, dass wir einen Begriff (besser: Begriffe) vom Lebendigen nur haben können, weil der Prozess der Konzeptualisierung von Wirklichkeit selbst ein vitaler Prozess ist. Um diese Behauptung zu stärken, umreißt Canguilhem in seinem Buch über Die Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert eine Begriffstheorie, wonach die Formation von Konzepten angestoßen wird durch die irreduziblen Besonderheiten der lebendigen Objekte – siehe den Begriff des Reflexes, der die Zuerkennung eines lebendigen Unbestimmtheitsmoments einschließt. Aber mehr noch: Letztlich verweist das Problem der biologischen Erkenntnis auf den Umstand, dass dem Leben selbst der Irrtum inhäriert. Nur weil die Inschrift des Lebens, seine Erbinformation, den Irrtum zulässt, gibt es den Menschen als das Lebewesen, das auf dem Feld der Erkenntnis die Bewältigung seiner eigenen Unbestimmtheit sucht. Ironischerweise ist das lebendige Wissen des Lebens, wie Canguilhem es in Le concept et la vie entfaltet, ein Wissen, das die Instanz des Subjekts untergräbt und sich voll und ganz aus dem „materialen Apriori“ der Objekte herschreibt. Alle bisherigen Ausführungen – zunächst zu Plessner, dann zu Canguilhem – hatten den methodischen Status einer Reproduktion: Auf beiden Seiten wurden Bewegungen des Denkens freigelegt, die je für sich die Struktur eines sogenannten lebendigen Wissens des Lebens einlösen. Obschon diese Struktur hier wie dort nicht offen zu Tage liegt, sondern aus spezifischen Theoremen und werkgeschichtlichen Phasen erst hervorgeholt, aus ihren impliziten Verläufen heraus extrapoliert werden musste, war die Vorgehensweise dieser Untersuchung bislang die einer Nachbildung. Dies wird sich ändern. In einer Argumentation, in der sich Plessners und Canguilhems Varianten des lebendigen Wissens des Lebens wechselseitig ergänzen, erhellen und kritisieren, soll nun die systematische und reziproke Durchdringung dieser beiden Bewegungen herbeigeführt werden. Das erfordert ein Verfahren, welches Transfer (der einen Position auf die andere) und Evaluation (der einen Position durch die andere) garantiert. Bis hierher galt es nur, das Relief herauszupräparieren, auf dem sich nunmehr die Gesten einer philosophischen Begegnung, die historisch vollständig ausblieb, abzeichnen können.

III. Konfrontationen: Die Verkreuzung von Plessners Philosophischer Anthropologie und Canguilhems Historischer Epistemologie

Konvergenz in der Divergenz Die direkte und vergleichende Lektüre von Plessner und Canguilhem betritt radikales Neuland. Sie setzt in Beziehung, was bisher keinen Bezug zueinander hat. Der Rektor der Georg-August-Universität Göttingen und der Inspecteur Général de Philosophie und spätere „President“ der „Jury d’Agrégation“ sind einander nie begegnet. Die intellektuellen Milieus, in denen sie verkehrten, lagen ebenso unerreichbar weit auseinander wie die administrativen Bahnen, auf denen ihre wissenschaftlichen Karrieren verliefen. „Plessner litt an der Verspätung seiner Nation, Canguilhem kämpfte für die civilisation française“ (Eßbach 2008, ) – und dies in einem sehr handgreiflichen Sinne, als ranghohes Mitglied der résistance und Teilnehmer an der Schlacht am Mont Mouchet 9. Auf sonderbare Weise haben Plessner und Canguilhem aneinander vorbei gedacht. Mag sein, dass Buytendijk einmal in seiner brieflichen Korrespondenz mit Canguilhem jenen im Umfeld Schelers anzutreffenden Autor erwähnte, der 928 ein Werk mit dem verheißungsvollen Titel Die Stufen des Organischen und der Mensch vorgelegt hatte. Möglich, dass er bei einem der regelmäßigen Besuche im Hause Plessner auf jenen früheren résistance-Aktivisten zu sprechen kam, der seit 9 als Nachfolger Bachelards den Lehrstuhl für Philosophie und Geschichte der Wissenschaften an der Sorbonne bekleidete und ein Buch namens La connaissance de la vie veröffentlicht hatte. Ein beiläufig abgespeicherter Name, eine Lektüre, die man im Stillen für die Zukunft vormerkt: Vielleicht liegt hier die fiktive Kreuzung, an der sich die intellektuellen Wege Plessners und Canguilhems hätten berühren können oder tatsächlich berührt haben. 

Für eine informative Darstellung von Canguilhems „Tätigkeit als Generalinspektor des nationalen Bildungswesens“ siehe Borck/Hess/Schmidgen 200, 7. Siehe ebd., 7f.: „Als Inhaber dieses Amtes oblag ihm von 98 bis 9 die Aufsicht und Kontrolle über die Qualität des Unterrichts an allen französischen Gymnasien. In dieser Zeit erwarb sich Canguilhem den Ruf eines zu fürchtenden Vorgesetzten, der rauhe Umgangsformen und gelegentliche Wutausbrüche kultivierte. Weiteren Einfluß auf das Bildungswesen in Frankreich erlangte er als zeitweiser Vorsitzender und langjähriges Mitglied der Jury für die agrégation. Bis in die 60er Jahre war Canguilhem an der Themenwahl und der Abnahme aller geisteswissenschaftlichen Prüfungen beteiligt, die den Eintritt in den Dienst an den weiterführenden Schulen (gymnasiale Oberstufe, classes préparatoires) vorangehen.“

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Zunächst einmal sind die Einsätze, die auf beiden Seiten gemacht werden, genau zu umgrenzen. Plessner entwickelt eine systematische Naturphilosophie, die eine „Neuschöpfung der Philosophie“ (Plessner 97, 30) zu Stande bringen soll. Unter kompositorischem Gesichtspunkt verfährt Plessners Theorie kategorial – sie „muß sich (…) einen eigenen Begriffsapparat schaffen“ (ebd., 28), diesen gegen traditionelle Ansätze umfassend abgrenzen und ihnen gegenüber konkurrenzfähig machen. Anorganisches, scheinbar Lebendiges, in seiner Wirklichkeit deduziertes Lebendiges, verschiedene Organisationsgrade des Organischen, Pflanze und Tier, und schließlich der Mensch: Plessner geht es um die phänomenologische Charakterisierung all dieser Phänomenstufen und um die kritische Ermittlung der Kategorien, die eine Differenzierung zwischen den Stufen erlauben. So sehr aber Plessner eine systematisch orientierte Naturphilosophie aufsetzt, deren Methode phänomenologisch ist, so sehr impliziert dieses Projekt, wie schon gezeigt, eine enorme Innovation: Er legt eine fundamentale Theorie von Erfahrung bzw. von geistigem Verstehen vor, die allein als Philosophische Anthropologie realisierbar ist. Plessner stellt an seine Konzeption den Anspruch, Diltheys Formel vom Selbstverstehen des Lebens im Medium seiner geschichtlichen Erfahrung „selbst wieder zu begreifen und damit das Selbstbewusstsein des Lebens objektiv zu machen“ (ebd., 22). Lässt sich die hermeneutische Problematik von Ausdruck und Verstehen, die bei Dilthey die Einsicht in die Geschichtlichkeit aller Erfahrung (als Lebenserfahrung) eröffnet, bei Plessner einzig als Philosophische Anthropologie, d.h. durch Aufzeigung des Menschen in seiner „personalen Lebenseinheit“ (ebd., 32) plausibilisieren, so verlangt diese ganze Konstruktion nichts Geringeres als eine „Philosophie des lebendigen Daseins und der mit ihm in Wesenskorrelation stehenden Schichten der Natur“ (ebd., 3). Retrospektiv könnte man das lebendige Wissen des Lebens, das Plessners Denken leitet, wie folgt ausbuchstabieren: Das Niveau, auf dem das Leben von sich weiß, erschließt sich nur, wenn eine „Subjekt-Objektivität“ (ebd., 22) gedacht werden kann, die sich „realisiert, (…) i n d e m sie sich als Geschichtliches hat oder sich e r f ä h r t “ (ebd.). Der konstitutive Einbruch dieser Geschichtlichkeit, dieses geschichtlichen Selbstverhältnisses, vollzieht sich in der spezifischen Position menschlicher Lebewesen. Nun entstünde ein Zirkel, wenn diese Hermeneutik eines Lebens, das von sich weiß, von Lebewesen vollführt würde, die sich selbst nicht fraglich, die sich nicht vorweg sind2. Hier liegt der Schlüssel zum „kontrastiv-vergleichenden Durchgang“ (Fischer 2008a, 2) durch eine Philosophie der Natur, darunter der belebten Natur: Versteht man exzentrische Positionalität als Bedingung der Möglichkeit dafür, dass ein Lebewesen, das von sich weiß, dieses Wissen „nur auf dem offenen Hintergrund einer nicht mehr in vitalen Bezügen aufgehenden Welt“ 2

Siehe Krüger 200, 90f.: „Die Differenz zwischen Ausdruck, Ausdrucksverstehen und spezifisch geistigen Verständnismöglichkeiten wird selbst erst geschichtlich von solchen Lebewesen herausproduziert, die personal in Spezifikationsnot leben. […] Für Plessner erschöpft sich die Fraglichkeit der Menschennatur, auf welche die Kulturen historisch und gegenwärtig plural antworten, in keiner bestimmten Selbstbefragung, das heißt in keinem naturwissenschaftlichen, geisteswissenschaftlichen oder existenzial hermeneutischen Zirkel. Vielmehr fundiert er die Fraglichkeit durch eine Exzentrierung der lebendigen Natur, die in ihrem Bruch mit der lebendigen Natur auf sich, die Unbestimmtheit ihrer Künftigkeit, hin lebt. Diese Fundierung steht nicht in dem Zirkel, sich dank ihres Selbstes schon immer selbst zu fragen.“ [Hervorhebung i.O., T. E.]

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(Plessner 2003b, 86), d.h. als immer wieder fraglich und brüchig werdendes und daher geschichtlich neu zu sicherndes Wissen haben kann, dann lautet die philosophische Aufgabe, diese „Subjekt-Objektivität“ gegenüber anderen Typen von Selbstbeziehung (die auf Seiten des „Subjekts“ etwa Autopoiesis oder Selbstbewusstsein, nicht aber ein Wissen von sich ermöglichen) scharf abzugrenzen. Nur der Mensch weiß in der Differenz von Leibsein und Körperhaben, in der er steht und in der er Person ist, darum, dass dem Leben qua Grenze die Struktur eines Entzugs, eine Dynamik der Selbstabgrenzung und des Entgrenztwerdens, zu Eigen ist: Doch dieses eigentümliche Wissen ist paradoxerweise selbst noch ein irreduzibler, „im Leben nötiger“ (Krüger 2008a, 09) Ausdruck. In genau dieser paradox gesprengten Gestalt ist das Wissen vom Leben – als universale Hermeneutik, realisiert durch Philosophische Anthropologie – lebendiges Wissen des Lebens. Ganz anders Canguilhem. Canguilhem offeriert keineswegs, wie Plessner, eine ausgefeilte Grundlagentheorie des Lebendigen. Hier zeigt sich besonders klar, dass seine Texte vor allem als polemische Interventionen zu verstehen sind. Sein Denken ist in gewissem Sinne protheisch, insofern es sich vielfältiger Register oder Masken bedient, um an unterschiedlichsten Schauplätzen immer wieder eine spezifische Haltung, Einstellung oder auch Politik wachzurufen: Diese Politik ist, mit einem Wort, vitalistisch. Die Autonomie des Lebendigen soll aufgewiesen und gegen unzulässige Usurpationen verteidigt werden. Obwohl es also nicht treffend ist, Canguilhem ein philosophisches System zu bescheinigen, dessen Fundament ein fester Lebensbegriff wäre, darf man nicht aus dem Auge verlieren, dass sich für Canguilhem die Transformation im Verhältnis von Leben und Wissen, auf die es letztlich ankommt, nur innerhalb einer bestimmten Denkart zustande bringen lässt. Diese Denkart, die einzig und allein die Artikulation eines lebendigen Wissens des Lebens gewährleistet, ist die Historische Epistemologie, wie sie in der französischen Tradition paradimgatisch durch Bachelard etabliert wurde. Im Folgenden sollen die von Plessner und Canguilhem formulierten Philosophien „nicht, wie es üblich ist, nach ausgewählten Themen oder Begriffen und nicht von einem dritten Standpunkt und auch nicht von einem ihrer beiden Standpunkte aus äußerlich“3 „verglichen“ werden. Die These, um die es hier gehen soll, lautet vielmehr, dass Canguilhem und Plessner je für sich, also auf einander fremden Wegen und mit gegenläufigen Mitteln, zu einem lebendigen Wissen des Lebens gelangen. Anders und zugespitzt gesagt: Von Plessner wird die Philosophische Anthropologie, von Canguilhem die Historische Epistemologie als einzig stringenter Ausdruck eines Wissens legitimiert, „das dem Leben, auf das es sich richtet, immanent ist“. An diesem Punkt möchte ich, bevor ich die systematischen Differenzen erläutere, meine bisherige Strategie der Suggestion einer Konvergenz in der Divergenz noch einige Schritte vorantreiben. Immerhin lässt sich – was den diffizilen Zusammenhang zwischen Leben und Wissen anbetrifft – ein Pool gemeinsamer Innovationen zusammenstellen, auf deren Durchsetzung Canguilhem und Plessner in ihren jeweiligen Paradigmen Anspruch machen können. Parallel zueinander, jedoch unabhängig voneinander und ohne das Vorhaben des Anderen mit dem 3 

Ich verwende hier einen auf die Konfrontation zwischen Dilthey und Nietzsche bezogenen Wortlaut aus Stegmaier 992, 20. Zitat von der Homepage des Graduiertenkollegs Lebensformen und Lebenswissen der Universitäten Potsdam und Frankfurt/Oder. Siehe http://www.gk-lebensformen-lebenswissen.de/ ?mod=forschungsprogramm. Letztmals eingesehen am 3.0.202.

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eigenen versöhnen zu können, verhelfen beide Denker in der Frage nach dem Leben und nach der Möglichkeit eines Lebenswissens gewissen innovativen Verfahren und Beschreibungen zum Durchbruch. Im Folgenden möchte ich nur einige dieser Neuerungen markieren, die von Canguilhem und Plessner gleichermaßen, jedoch isoliert voneinander, vollbracht worden sind. Wenigstens kursorisch sollen an dieser Stelle die entscheidenden sachlichen Parallelitäten zwischen Canguilhem und Plessner unterstrichen werden.

a. „Doppelaspekt“ und „dynamische Polarität“: Leben als Hiatus zwischen Identität und Differenz Eine der wichtigsten Verknüpfungen zwischen Plessner und Canguilhem liegt in der bei beiden auftauchenden Grundannahme, dass für „Leben“ Gegensätze als Gegensätze konstitutiv sind: Dem Leben eingeschrieben ist ein Bruch zwischen zwei Momenten, der nicht auf eins der gebrochenen Momente hin aufgelöst oder gar in einem synthetischen Dritten, das über den Bruch erhaben wäre, spekulativ versöhnt werden kann. Von Josef König greift Plessner diese Denkfigur einer „Hiatusgesetzlichkeit“ auf, wonach die Pole eines Gegensatzverhältnisses prinzipiell (d.h. absolut) auseinandertreten, jedoch „in der Brechung aufeinander bezogen sind und derart Einheit als Kontakt per hiatum irrationalem ermöglichen“ (Mitscherlich 2007, ). Eine wiederkehrende, weil fundamentale Beobachtung des vorigen Kapitels besagte, dass Plessner diese von Mitscherlich fokussierte nach-hegelsche und hegelkritische Widerspruchsfigur ins Leben wendet: Indem er das Lebendige als „grenzrealisierendes Ding“ expliziert, schildert er es keineswegs als eine Schließung, die den Antagonismus der Richtungen nach Innen und nach Außen neutralisiert, sondern als eine Einheit, in der sich die antagonistischen Pole gerade in ihrer Unableitbarkeit voneinander aufrechterhalten. Das Lebewesen kann nur dadurch sein, dass es den Kontakt mit dem, was es nicht ist und woran es sich bricht, permanent vollzieht. Umgekehrt bezieht sich dieser Vollzug, d.h. dieses Prozessieren von Differenzen stets auf eine dingliche Instanz zurück, die den Vollzug vollzieht. Durch den Begriff der Positionalität kann Plessner dieses für „Leben“ grundlegende Verhältnis, wonach Sein und Vollzug ineinander verklammert sind und sich zugleich gegenseitig unterbrechen, terminologisch schärfen. Im Unterschied zur Organisationsform, d.h. der faktischen organischen Differenzierung des Lebewesens, liegt in der spezifischen Positionalitätsform die Möglichkeit eines Lebewesens, sich zu dem Bruch von Sein und Vollzug, den es durch die Verwirklichung seiner Grenzen immerzu restituiert, zu verhalten. Wenn Plessners (und Königs) Hiatus, wie Olivia Mitscherlich argumentiert, den Rang eines Prinzips moderner Philosophie schlechthin bekleidet, wäre er als ein bewusst paradoxes Prinzip zu verstehen: Der Hiatus steht für den in der Moderne dringlich gewordenen prinzipiellen Verzicht darauf, ein ungebrochenes Prinzip, einen einheitlichen Grund von Wirklichkeit, zu konservieren. Auf diese Weise erschiene der Hiatus, erschiene die Verschränkung sogar als einzig noch mögliche Geste moderner Philosophie: Während die Naturphilosophie das Wesen des Menschen durch die Figur der exzentrischen Positionalität in die geschichtliche Pluralität von Menschentümern freigibt und also ihren eigenen Letztbegründungsanspruch auflöst, appelliert die Geschichtsphilosophie an einen natürlichen Grund des Menschen im Unterschied zu den historischen gewonnenen und endlichen Anthropologien, wodurch auch sie ihren Letztbegründungsanspruch

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verabschiedet. Ob man nun diese starke Betonung des Hiatus als Plessners Geste von Philosophie schlechthin teilt oder nicht: Gewiss ist jedenfalls, dass Plessner, ausgehend von König, mit dem Theorem einer das Leben durchziehenden Hiatusgesetzlichkeit den Anspruch verbindet, eine kritische Aktualisierung von Hegels spekulativer Dialektik zu formulieren. Von daher ist die Beobachtung treffend, dass der vitale Hiatus „eine Antwort auf das Problem ist, wie das Verhältnis von Identität und Differenz zu bestimmen sei: als prinzipielle Verschiedenheit und deswegen als Einheit“ (ebd., ; Hervorhebung i.O., T. E.). Zu Plessners Auffassung, dass Leben in der Auseinandersetzung mit einer irreduziblen Doppelpoligkeit besteht, gibt es in Canguilhems Überlegungen ein Äquivalent. Mit dem Begriff der Positionalität holt Plessner über ein „transzendentales Rückschlussverfahren“ (Haucke 2000, , 3) die Bedingung der Möglichkeit für das Lebendige ein, sich zu dem radikalen Bruch von Innen-und Außendimensionen, der seine eigene Verfassung bestimmt, zu verhalten. Doch dieser Bruch ist für das Lebendige noch in dem Abstand, von dem her es sich zu ihm verhält, nicht transzendierbar: Auf jener positionalen Stufe, auf der einem Lebewesen „sein Leben aus der Mitte“ (Plessner 97, 289) gegeben ist – in der exzentrischen Positionalität des Menschen – zeigt sich der Hiatus zuletzt als „radikal“ (ebd., 29)6. Canguilhems These von der immanenten Normativität des Lebendigen kommuniziert eine ähnliche Pointe: Ein Lebewesen agiert normativ, insofern es die Bedingungen, unter denen es lebt, nach einer Binarität von Werten valorisiert. Gesundheit und Krankheit, Normales und Pathologisches sind keine relativen Zuschreibungen, sondern haben den Charakter der Immersion und der Totalität: Krank zu sein bedeutet daher, aus der Norm, die individuell als Gesundheit erlebt wird, voll und ganz herausgerissen zu werden. Das Pathologische steht für eine Weise der Subjektivierung, die mit der Weise, in der uns die Gesundheit subjektiviert, radikal bricht7. Normativität bezeichnet bei Canguilhem folglich den Umstand, dass der Auseinandersetzung des individuellen Organismus mit seiner Umwelt eine „dynamische Polarität“ inhäriert. An dieser Polarität, an diesem axiologischen Bruch zwischen positiven und negativen Werten, richten sich alle organischen Vollzüge aus8. Ihre eigentümliche Note hat Canguilhems Fassung lebendiger Normativität also darin, dass sie die Normen des Organischen immer auch als Replik auf das Milieu begreift, als  6

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Eben dies ist die systematische These von Mitscherlich 2007, vor allem 3ff. Siehe ebd., 292: „Ihm [dem Menschen, T. E.] ist der Umschlag vom Sein innerhalb des eigenen Leibes zum Sein außerhalb des Leibes ein unaufhebbarer Doppelaspekt der Existenz, ein wirklicher Bruch seiner Natur. Er lebt diesseits und jenseits des Bruches, als Seele und als Körper u n d als die psychophysisch neutrale Einheit dieser Sphären. Die Einheit überdeckt jedoch nicht den Doppelaspekt, sie lässt ihn nicht aus sich hervorgehen, sie ist nicht das den Gegensatz versöhnende Dritte, das in die entgegengesetzten Sphären überleitet, sie bildet keine selbständige Sphäre.“ Siehe Pénisson 2008, f.: „Or la normativité, une fois mise en rapporte avec le normal et le pathologique, n’est pas une simple réduction quantitative. Elle permet d’accéder à une détermination qualitative et positive de ces deux concepts en tant qu’ils désignent des allures différentes de la vie. Le terme d’allure introduit alors une conception du pathologique où ce dernier n’est plus envisagé de façon isolée, c’est-à-dire comme issu d’une déviance par rapport au normal et survenant comme une tare ou une perversion de la vie. Non, ces allures expriment au contraire la polarité dynamique de la vie.“ [Hervorhebung i.O., T. E.] Dazu Dagognet 997, 69ff.

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Setzungen, denen eine unverfügbare Alterität (ontisch, nicht zeitlich) vorangeht9. In der Generierung seiner eigenen Normen bleibt der Organismus durch den Hiatus zwischen den Werten der Gesundheit und der Krankheit begrenzt, da sich der Hiatus im Vollzug von Lebendigkeit überhaupt fortlaufend reproduziert. Ähnlich wie Plessner gibt Canguilhem ein Bild vom Leben als „Zentrierung“ (Balzaretti 200c, ), die gleichwohl „der offenen Struktur gerecht werden muss, in der [sic!] sie immer schon eingebettet ist. […] Sofern ist sie ganz streng von Formen der Zentrierung abzugrenzen, die die lebendige Struktur der Identität und der Differenz auf die geschlossene Struktur einer Identität der Identität (wie in der Fichteschen Tradition) oder einer Identität der Identität und der Differenz (wie in der Hegelschen Tradition) reduzieren.“ (Ebd.)

So wie Plessner mittels der Doppelaspektivität das Lebendige als Instanz expliziert, die den Bruch von Identität und Differenz vollzieht, ohne über ihn hinaus zu kommen, so setzt Canguilhem das Leben als „eine Zentrierung innerhalb einer Struktur von Identität und Differenz“ (ebd.), d.h. angesichts einer „dynamischen Polarität“ an, die den auf Identität gerichteten zentripetalen Zug laufend durchkreuzt. In Kürze wird die Untersuchung zeigen, weshalb Plessners und Canguilhems Deutungen des Lebensbegriffs aneinander Anstoß nehmen, obwohl in beide das Motiv eines Hiatus, einer Divergenz ineinander nicht überführbarer Bewegungen, eingelassen ist. An diesem Punkt interessiert allein die Feststellung, dass Canguilhem und Plessner in den Zugängen, die sie zum Problem des Lebens eröffnen, als „Denker der Ambivalenz“ (Haucke 2000, 63) auftreten: Beide sehen im Leben eine Relation der Unbestimmtheit, die prekäre Auseinandersetzung eines Lebewesens mit einer Spannung, die im Vollzug dieser Auseinandersetzung gleichwohl nicht erlischt.

b. Dezentrierte Zentren: Die Stellung des Menschen im (?) Leben Ein zweites Parallelmoment lässt sich angeben. Diese Parallelität hängt mit der soeben herausgestellten Beobachtung zusammen, wonach für Leben eine „Doppelaspektivität“ (Plessner) bzw. eine „dynamische Polarität“ (Canguilhem) strukturstiftend ist, die gegenläufige Dimensionen in ihrer radikalen Divergenz belässt, sie jedoch im selben Zug in ihrer Heterogenität aufeinander bezieht. Denn genau diese ambivalente Dynamik, die einund ausschließt, die einen Grund legt und entzieht, die, mit Deleuze0, re-territorialisiert und de-territorialisiert, charakterisiert das konfliktuöse Verhältnis, in dem menschliche Lebewesen zur Dimension des Lebens im Ganzen stehen. Pointiert gesagt: Der vitale 9

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Siehe Worms 2008, 2f.: „Le point essentiel est bien celui du „conflit“: ce qui va définir le vivant, c’est sa relation et même son opposition avec le milieu. […] ce qui est pour ainsi dire donné, (…) c’est la relation entre le vivant et ce qui s’oppose à lui.“ [Hervorhebungen i.O., T. E.] An dieser Stelle sei kurz auf die Bereicherung verwiesen, die ein systematischer Abgleich von Plessners Konzeption (des Lebendigen in seiner Differenz zum Menschlichen) mit derjenigen von Deleuze für die Forschung bedeuten könnte. Das einzige auf diese Konstellation explizit ausgerichtete Buch von Mareike Teigeler (Teigeler 20) bleibt unglücklicherweise in einer Simplifizierung stecken, da es die beiden Autoren für eine kulturwissenschaftliche Kritik der Kontrollgesellschaft einspannt, ohne die hier wie dort leistungsstarke Ontologie des Lebendigen zu bearbeiten. Weiterreichend, wenngleich im Hinblick auf Plessners Theorem der exzentrischen Positionalität eher suggestiv-spielerisch dagegen Ternes 2003.

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Bruch, der für alles Lebendige konstitutiv ist, erreicht erst auf der Ebene des Menschen seine volle Brisanz und Transparenz. Es ist wichtig, in diesem Thema einer spezifisch menschlichen Erfahrung der Ambivalenz von Leben lediglich eine verwandte Ausrichtung zu sehen, die Canguilhems und Plessners Positionen funktional vergleichbar macht. Um von Anfang an den falschen Eindruck abzuwehren, zwischen den Autoren bestünde Einigkeit in der Fragestellung oder gar in der Beantwortung einer vermeintlich gemeinsamen Frage, könnte man die Konvergenz bewusst lose wie folgt darstellen: Canguilhem und Plessner bedienen sich zur Bestimmung der Relation menschlicher Lebewesen zum Leben einer Terminologie der Zentrierung und Dezentrierung, der Grenzziehung und der Entgrenzung. Sie operieren mit der Annahme, dass der Mensch, als Lebewesen expliziert, „zu seiner Umwelt ein solches Verhältnis hat, das nicht geprägt ist durch einen festgelegten Blick auf die Umwelt“ (Foucault 988, 68). Der Mensch bildet so etwas wie die Bruchstelle, an der sich einander ausschließende Kräfte zu paradoxer Einheit verschränken. Canguilhems Variante, diese Konstellation von Zentrierung und Dezentrierung zu denken, ist beschreibbar als die Umstellung vom anthropologischen Paradigma auf das (von Goldstein her aufgegriffene) Paradigma einer philosophischen Biologie. Wie bereits festgestellt, erfolgt bei Canguilhem diese „réforme de l’anthropologie“ (Le Blanc 2002, 287) aushöhlend von innen heraus, nämlich in Form der Diagnose, dass die Wissenschaften vom Leben eine Entvitalisierung, eine strukturelle Verkennung von Leben perpetuieren. Auf dieser Folie kontrastiert Canguilhem die Diskurse, in deren Zentrum sich der Mensch wähnt, mit einem Verständnis von Leben als biologische Normativität. Dieses Argument, wonach „das Leben eines Lebewesens, sogar das einer Amöbe“ (Canguilhem 97, 33), die ihrerseits brüchige normative Auseinandersetzung eines Organismus mit seinem Milieu ist, disloziert die Stellung des Menschen. Canguilhem problematisiert den Menschen als Lebewesen. Was er in Abrede stellt, ist eine anthropologische Differenz, eine Sonderstellung des Menschen, und mithin die Rechte einer Anthropologie als Form von Philosophie. Nach einer anderen Seite hin ist aber der Mensch aus der Immanenz des Lebens, in die Canguilhem ihn explizit einschreibt, wiederum herausgesetzt. Der Grund für diese Tendenz des Menschen, „die sich ständig wandelnde Singularität der ihm eigenen zentrierten, normierten und bedeutsamen Umwelt“ (Badiou 200, 39) zu übertreten, liegt darin, dass das Hauptmedium menschlicher Normativität die Technik ist. In seinen technischen Konstrukten wird dem Menschen nun aber gerade der Gegensatz plastisch zwischen seinen individuell verfolgten Normen, die er dem Milieu aufzuzwingen sucht, und den Normen des Lebens, denen gegenüber die Technik eine Reaktion darstellt. Angesichts der Technik erfahren menschliche Lebewesen nicht nur ihre Einbettung in das Leben – insofern sie als Organismen die Auseinandersetzung mit der Umwelt eben technisch koordinieren –, sondern auch eine nie zu stillende Widerständigkeit des Lebens gegen die menschlichen Normen2. Und weil die technische Beziehung des Menschen auf das Leben konfliktvoll ist, gibt es in ihr konsequent die Bewegung  2

Siehe dazu besonders Canguilhem 2006a, 8ff. Es ist daran zu erinnern, dass die entscheidende Dimension der Technik gerade durch „Probleme, Fehlschläge und Scheitern“ (ebd., 8) ausgezeichnet ist, also durch Zusammenbrüche der durch den Menschen etablierten praktischen Normen.

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hin zu „einem Bruch mit der Zentrierung und der Singularität der Umwelt“ (ebd., 30), zu einem Bruch mit der Immanenz des Lebens also. Wie Canguilhem in dem Aufsatz Le vivant et son milieu suggeriert, konfigurieren sich die menschlichen Subjekte in einem physikalischen Kosmos strikt als dezentrierte, neutrale und universelle Subjekte, will sagen: Sie definieren sich in einer radikalen Antithese zur biologischen Einsicht in die normative Zentrierung. Wenn sich nun in Canguilhems Spätwerk die Hypothese über den Menschen als „Irrtum des Lebens“ verdichtet, könnte man im Anschluss an Badiou mit einiger Plausibilität3 eine Konsequenz aus dieser Bestimmung ins Gespräch bringen, die wirklich extrem wäre: Dass nämlich Canguilhem den Menschen als eine Gestalt ansieht, die einen unlösbaren „Konflikt von Absolutheiten“ (ebd., z.B. 38, 30, 3) ausagiert, insofern sie zum einen durch die „Zentrierung, die das Absolute des Lebenden ist“ (ebd., 32) getragen, zum anderen aber und gleichzeitig durch die Suche nach Wahrheit, d.h. nach „dem neutralen Ideal der universellen Umwelt“ (ebd., 3), die das Absolute der Wissenschaft ist, getrieben wird. Auch Plessner rekurriert, um die Spezifikation des Menschen als Lebewesen durchzuführen, auf einen in sich gebrochenen Zusammenhang von Zentrierung und De- bzw. Exzentrierung. Freilich eröffnet sich bei Plessner damit eine Problematik, die völlig anders gelagert ist als die von Canguilhem umrissene. Schon ganz zu Anfang des siebten Kapitels der Stufen des Organischen formuliert Plessner in Bezug auf die exzentrische Positionalität: „Man begreift, warum die tierische Natur auf dieser höchsten Positionsstufe erhalten bleiben muß. Die geschlossene Form der Organisation wird nur bis zum Äußersten durchgeführt. […] In seiner gegen das Umfeld fremder Gegebenheit gerichteten Existenz nimmt das Tier die Position der Frontalität ein. Vom Umfeld geschieden und zugleich auf es bezogen lebt es, seiner nur als Leib, als Einheit der Sinnesfelder und – im Fall der zentralistischen Organisation – der Aktionsfelder bewusst, im eigenen Körper, dessen natürlicher Ort die ihm verborgene Mitte seiner Existenz ist. Der Mensch als das lebendige Ding, das in die Mitte seiner Existenz gestellt ist, weiß diese Mitte, erlebt sie und ist darum über sie hinaus. Er erlebt die Bindung im absoluten Hier-Jetzt, die Totalkonvergenz des Umfeldes und des eigenen Leibes gegen das Zentrum seiner 3

 

Badious Version eines antagonistischen Konflikts von Leben und Erkenntnis scheint mir jedoch weniger eine haltbare These hinsichtlich des Konstruktionsprinzips der Philosophie Canguilhems als die strategische Überspitzung eines Gefahrenmoments zu sein, das Canguilhem im Verhältnis von Technik und Wissenschaft angelegt sieht. Die Ambivalenz der Technik zwischen anthropozentrischer Selbstermächtigung und ihrer Verankerung im Leben verleitet zur Usurpation der Technik durch die Wissenschaft, was sich realhistorisch an der Geschichte des Mechanizismus auch bestätigt. Dieser „Irrtum“ ist gleichbedeutend mit der Destruktion lebendiger Originalität. Allerdings entwickelt Canguilhem das Argument von der Anfälligkeit des Menschen für diesen Irrtum, woraus Anthropozentrismus und Szientismus entspringen, vom Standpunkt des Primats des Lebens her. Die Selbstnegation des biologischen Problems in der Physik ist keineswegs, wie Badiou sagt, Ausdruck einer sich gegen das Leben setzenden „Absolutheit“, sondern eine Verkennung, die dem Leben immanent ist. Canguilhem denkt mitnichten den Widerstreit zweier Absolutheiten, sondern die monistische Absolutheit von Leben, das auch noch die gefährliche Fähigkeit, von sich selbst abzuweichen und sich gegen sich selbst zu kehren, als seine immanente Möglichkeit einschließt. Badiou spricht auch von einer „Diskordanz zwischen den Absolutheiten“ Siehe Badiou 200, 39, 3. Für die explizite Kennzeichnung des Organismus als ein Zentrum siehe (im Anschluss an Goldstein und von Uexküll) siehe Canguilhem 2009d, 262 bzw. 279.

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Position und ist darum nicht mehr von ihr gebunden. (…) Ist das Leben dies Tieres zentrisch, so ist das Leben des Menschen, ohne die Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus ihr heraus, exzentrisch. E x z e n t r i z i t ä t ist die für den Menschen charakteristische Form seiner frontalen Gestelltheit gegen das Umfeld.“ (Plessner 97, 29f.)

Die Raffinesse dieser Tier-Mensch-Differenz, aus der heraus Plessner den Begriff der Exzentrizität erläutert, beruht auf der wichtigen Unterscheidung zwischen Organisationsform und Positionalitätsform des Lebendigen. Wie aus der Rekonstruktion von Plessners kategorialem Gerüst der Stufen des Organischen erhellte, ist scharf zu trennen zwischen der Frage, welche organischen Modalitäten einem Lebewesen die Realisierung „seiner“ (auf- und verschließenden) Grenze faktisch ermöglichen, und der Frage, welche besondere Verfasstheit oder Gesetztheit es diesem Lebewesen möglich macht, sich zu der von ihm durchgeführten Grenzrealisierung zu verhalten. Das Problem, das Plessner hier anvisiert, ist gerade das der vom Lebewesen selbst erst herzustellenden Korrelierung – und damit auch der Lücke – zwischen der funktionalen Organisation des Lebewesens (seiner Organisationsform) und seiner eigentümlichen raumhaften und zeithaften Einlassung6 in die Umwelt, die ihm ein Verhältnis zu sich und seiner Interaktion mit der Umwelt eröffnet. Die Positionalitätsform des Lebendigen bringt folglich das Phänomen zum Ausdruck, dass ein lebendiger Körper nicht lediglich eine Relation zur Umwelt herstellt, sondern dies mit der strukturellen Eigenart tut, als in sich gesetzt, von sich selbst abgesetzt zu erscheinen und sich solcherart zu seinem Umweltverhältnis zu verhalten7. Von dieser Unterscheidung her beschrieben, liegt der nicht mehr objektivierbare Punkt der zentrischen Positionalität, gleichsam ihr toter Winkel, darin, dass einem Lebewesen von zentrischer Positionalität diese seine Struktur eines „Lebens aus der Mitte“ (Plessner 97, 290) nicht gegenständlich werden kann. In der zentrischen Positionalität bezieht sich der Organismus zwar auf seinen Körper als Leib, d.h. als sinnhaftes und vermittelndes Bindeglied zwischen Organismus und Umwelt. Diese „zentrale Repräsentation“ (ebd., 26) aber, wonach sich ein Lebewesen, das seinen eigenen Körper als Leib erfährt, „als Zentrum des Hier und Jetzt“ (Mitscherlich 2007, 92) verhält, kommt in der zentrischen Positionalität nicht zu Bewusstsein. Stattdessen wird die leibliche Vermittlung des Organismus mit dem Milieu, die zugleich die Nichtidentität des Leibs mit Organismus und Milieu bedeutet, spontan vollzogen; diese Vermittlung wird gelebt. Auf dem Niveau der exzentrischen Positionalität hingegen wird jene Konvergenz des Umfelds und des eigenen Leibes auf das Verhaltenszentrum hin explizit. Oder anders: Auf der Stufe 6

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Der Begriff „Einlassung“ soll den doppelten Sinn evozieren, den Plessners Neologismus „Positionalität“ enthält: Zum einen ist das lebendige Ding in die Umwelt „eingelassen“ wie etwa ein Körper in ein Flussbett, d.h. er ist den Kräften ausgesetzt und in die Rhythmen eingefügt, die aus seinem Milieu auf ihn einströmen. Hier liegt der Akzent auf dem Umstand, dass der lebendige Körper Teil eines relationalen Felds ist, in dem und gegen das er sich individualisiert. Zum anderen schließt das Wort „Einlassung“ jedoch auch, in Orientierung an den juristischen Sprachgebrauch, den Sinn einer „Stellungnahme“, einer aktiven Äußerung, einer Intervention ein. Diese semantische Komponente zielt auf die Vorstellung, dass ein durch Positionalität charakterisierter Körper ein sich verhaltender Körper ist – wobei unter Verhalten ein raumhafter und zeithafter Vollzug zu verstehen ist, der als solcher nicht auf faktische Funktionen des Organismus’ zurückgeführt werden kann. Siehe Mitscherlich 2007, 9: „Im Grenzvollzug setzen sich lebendige Körper von sich aus in Beziehung zu der Position in Raum und Zeit, an der sie sich als physischer Körper befinden.“

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der exzentrischen Positionalität wird der Spalt zwischen Organisations- und Positionalitätsform, der in der zentrischen Positionalität performativ überbrückt wird, eingesehen, und somit zu einem Problem, zu dem sich das Lebewesen nochmals verhalten muss. In doppelter Hinsicht verwendet Plessner also ein Vokabular der Zentrierung und Exzentrierung, um sich der Besonderheit menschlicher Phänomene stellen zu können. Auf der einen Seite hat der Mensch, was ihn mit dem Tier verbindet, eine zentrische Organisations-, jedoch, was ihn ultimativ vom Tier abhebt, eine exzentrische Positionalitätsform. Diese Ambivalenz impliziert gegenüber der Stufe der zentrischen Positionalität a fortiori einen Druck der Vermittlung, der Korrelation und des Einspielens von Richtungsgegensätzen aufeinander: Entscheidend ist die „Rezentrierung der Verhaltungsbildung auf den Körperleib zurück“ (Krüger 2006b, 73), also die Einrichtung von Verhältnissen (des Lebewesens zu sich und zur Umwelt), die für den Menschen als Lebewesen mit Blick auf seine Leiblichkeit „lebbar“ (ebd.; Hervorhebung i.O., T. E.)8 sind. Die „Zentrierung der Positionalität“ (Krüger 2009, 7; Hervorhebung i.O., T. E.) bleibt in der exzentrischen Positionalität unüberschreitbar. Auf der anderen Seite geschehen diese Zentrierungen in der exzentrischen Positionalität eben mit der Pointe, dass sie von Lebewesen unternommen werden (müssen), die „wahrhaft auf Nichts gestellt“ (Plessner 97, 293) sind. Diese Lebewesen zentrieren ihr Verhalten, insofern sie sich primär und konstitutiv in einer Sphäre bewegen, die selbst kein Zentrum aufweist, sondern eine radikale Leere bezeichnet: Plessners Ausdruck für diese durch Nichts bestimmte, sondern aus dem Nichts alle Bestimmungen ermöglichende Sphäre ist die „Welt“9. Die Schaffung einer korrelativen Umwelt, die in der zentrischen Positionalität ausgehend von einem selbst nicht mehr problematisch werdenden Zentrum aus passiert, kann auf Welt-Niveau bloß künstlich erfolgen: Und so ist der Vollzug der vitalen Relation par excellence (zwischen Organismus und Umwelt) nur die eine Richtung, in die hinein Wesen von exzentrischer Positionalität ihr Verhalten verschränken. Die andere Richtung ist die, in der das Ausgreifen auf „Welt“ die temporären Umweltbindungen immerzu überschießt und historisiert. Diese Ausführungen reichen hin, um die hier relevante zweite Konstellierung von Problemen zu nennen, die Plessner und Canguilhem teilen, aus der sie aber gleichwohl inhaltlich stark differierende Argumente gewinnen. Beide bringen eine Begrifflichkeit der Zentrierung und De-bzw. Exzentrierung in Anschlag, um die Besonderheit des Men8

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Siehe die ähnliche Passage in Krüger 2008a, 2: „Die Exzentrierung wird in der Rezentrierung der Exzentrierung hier und jetzt lebbar gehalten. Es geht nicht ohne Habitualisierungsschleife. Man kann auf exklusiv exzentrische Weise gewiss lesen, nicht aber leben. Die Vergleichzeitigung des Ungleichzeitigen bleibt der Stolperstein in dieser Verhaltensrhythmik, bei all ihrer Stilisierung, sei es als „Dekonstruktion“ oder als „Konstruktion“. Man kann – lebenspraktisch gesehen – nicht alles und schon gar nicht gleichzeitig kontingent setzen, selbst wenn man es – gutwillig aus lauter Selbstlosigkeit – wollte.“ Immer wieder hat Plessner die Distinktion zwischen Umwelt und Welt in diesem Sinne vorgetragen, und zwar bezeichnenderweise häufig im Gestus einer Gegenthese zum biologischen Funktionskreis- oder Bauplantheorem, das durch von Uexküll, Rothacker u.a. (z.B. Canguilhem) vertreten wurde. Plessner wendet sich explizit gegen die Festlegung des menschlichen Erfahrungsmodus’ auf Umwelt und betont, dass die Umweltbindung des Menschen untrennbar mit der Erfahrung der „Durchbrochenheit und Gelegentlichkeit“ dieser Bindung koinzidiert. Dazu exemplarisch Plessner 2003a, 8. Zu einer bis in die Formulierungen hinein identischen Darstellung siehe Plessner 2003b, 80–89.

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schen als Lebewesen zu erfassen. Damit wird, eng anknüpfend an die Explikation von Leben als „Doppelaspektivität“ bzw. „dynamische Polarität“, tendenziell ein Verhältnis gedacht, in dem Gegensätze sich gerade dadurch zu gemeinsamer Einheit durchdringen, dass sie zugleich in ihrer Heterogenität belassen werden.

c. Der methodische Einbau der Erfahrungswissenschaften Ein weiteres Merkmal, das je spezifische Prägungen in der Historischen Epistemologie Canguilhems und in Plessners Philosophischer Anthropologie erhält, betrifft die „Bindung an den Erkenntnisfortschritt der empirischen Wissenschaften“ (Eßbach 2008, 2). Beide Systemformen sind im Rahmen ihrer Vorschläge, wie Leben als Leben, d.h. in seiner epistemischen Originalität zu denken sei, „dezidiert und notorisch auf den Kontakt mit den Erfahrungswissenschaften eingestellt“ (Fischer 2008a, ). Im Gegensatz zu Bergson thematisieren Canguilhem und Plessner das Phänomen des Lebens nicht in seinem vermeintlichen Antagonismus zum diskursiven Denken und in seiner vermeintlichen Homogenität mit dem Erkenntnismodus der Intuition. Diesen vitalistischen Dualismus weisen beide zurück. Bergson kritisierte den naturwissenschaftlichen Zugriff auf das Leben mit dem normativen Argument, das Leben würde in dieser Einstellung als Gegenstand einer „falschen“, ihm strukturell unangemessenen Rationalität reklamiert. Dagegen sei allein die Intuition das taugliche Medium, um der Struktur von Leben als Dauer (durée), als schöpferischem élan vital, Geltung zu verschaffen. Gegen diese Haltung, wonach nicht sein soll, was nicht sein darf, stellen Canguilhem und Plessner die Einsicht in die historische Dynamik der Moderne: Unter modernen Konditionen ist das Lebendige unausweichlich zum Objekt (sogar: Produkt) von Diskursen und Praktiken geworden, für die charakteristisch ist, dass sie ihre Objekte in Abhängigkeit von funktionalen Verfahren konstituieren. Was als lebendig gelten kann, wird allererst durch ein Verfahrenswissen festgelegt, dessen Logik der Hervorbringung reproduzierbarer Antworten auf methodisch kontrollierbare Fragen verpflichtet ist20. Die Rationalität der modernen Wissenschaft ist folglich eine Rationalität, die das Leben normalisiert, d.h. stets nur so in den Blick nimmt, dass es eine kalkulierbare Größe innerhalb bestimmter methodischer Setzungen bleibt. Aus diesem Grund kann sich eine moderne Reflexion über das Leben nicht länger an der Fiktion einer irgendwie gearteten Idealität oder „Purheit des Lebens“ (Schmidgen 2008a, I) ausrichten. Die Frage, wie Leben in 20

Wie Hans-Peter Krüger herausgestellt hat, ist es diesem Verfahrenswissen methodisch unmöglich, die „Präsuppositionen“, d.h. die phänomenologisch grundlegenden Erfahrungsgehalte seiner Erkenntnisproduktion, selber auszuweisen. Siehe Krüger 2008b, 7. „Die Erfahrungswissenschaften nehmen durch die Allgemeinbildung solche Präsuppositionen auf, verwenden sie als implizite Produktionsbedingung und unterstellen sie bei Hörern und Lesern als intuitiv bekannt. Dies betrifft in den biomedizinischen Wissenschaften z.B. solche intuitiven und vagen Unterscheidungen wie lebendig oder nicht lebendig, bewusst oder nicht bewusst, geistig oder nicht geistig, gesund oder krank, anorganisch oder organisch; pflanzlich, tierisch, menschlich oder göttlich etc. Die Naturwissenschaften grenzen solche Präsuppositionen auf bestimmte beobachtbare Aspekte ein, bis sie in der sog. dritten Person durch Methoden reproduzierbar und berechenbar gemacht werden können.“

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seiner Autonomie erfasst werden kann, wird von Canguilhem und Plessner konsequent angesichts der historischen Selbstermächtigung der Moderne gestellt: Von welchem Vorverständnis des Lebens machen jene Diskurse und Praktiken, die das Leben faktisch – als korrelativen Gegenstand von Wissenschaft, Technik oder Politik – objektivieren, implizit oder explizit Gebrauch? Hier stößt man also auf eine Ähnlichkeit zwischen Canguilhem und Plessner, die sich dadurch verdichtet, dass beide eine indirekte Perspektive auf das Problem des Lebens anlegen. Was sie verbindet, ist ihre Strategie, das wissenschaftliche Wissen vom Leben, das seinen Gegenstand zwangsläufig unterdeterminiert, als das erforderliche Negativ zu verwenden, mit dem eine positive Fassung, was Wissen vom Leben sei, kontrastiert werden muss. Auf diese Weise beschreiten beide Autoren „einen mittleren Weg der Erfahrung“ (Rolf 2006, ): Sie plädieren nicht ex negativo für eine Alternative zum epistemologischen Zirkel der Spezialwissenschaften, sondern decken aus dem Inneren des Zirkels heraus auf, welche irreduziblen Gehalte darin stillschweigend in Anspruch genommen werden. In Plessners Fall erklärt sich dieser Gestus des Indirekten aus dem Vorhaben, eine Philosophische Anthropologie in der Gestalt einer allgemeinen Hermeneutik auszubilden. Im Lichte dieses Programms resultieren vor allem aus dem Begriffspaar Ausdruck und Ausdrucksverstehen zwei Grundzüge einer Kritik der Naturwissenschaften, die sich bei Plessner durchhalten: Auf der einen Seite betreibt der naturwissenschaftliche Umgang mit lebendigen Phänomenen eine Ausklammerung, die er seiner ganzen Anlage nach nicht vermeiden kann. Denn in Forschungskontexten ist es methodisch unumgänglich, diejenigen Eigenschaften eines Gegenstands, die zur Beantwortung einer spezifischen, die Forschung strukturierenden Frage in Betracht gezogen werden, quantitativ und qualitativ zu beschränken. Die Bedeutung, die der Naturwissenschaftler dem „Verhalten“ eines Untersuchungsobjekts beilegt, wird diktiert durch die notwendig selektive Frage, die dem Forschungsprozess (z.B. der Einrichtung eines Laborexperiments) vorangeht. Dadurch scheiden von vornherein alle Aspekte, die ein Objekt in seiner phänomenalen Wirklichkeit „sonst noch“ aufweist, die aber ohne Signifikanz für die veranschlagte Hypothese sind, aus dem Umgang mit dem betreffenden Objekt aus. Auf dieser Folie unterstreicht Plessner, dass der qualitative Charakter des Lebendigen in naturwissenschaftlicher Einstellung zwar kausal-genetisch, aber nicht phänomenal berücksichtigt werden kann2. Was sich der naturwissenschaftlichen Perspektive kategorisch entzieht, ist also der Ausdruckscharakter des Lebendigen. Es ist die „Schicht des Verhaltens“ (Plessner 982, 89), die weder auf die „Gegenstandssphäre des Objekts“ (ebd., 87) noch auf „die Zustandssphäre des Subjekts des Sinnverstehens“ (ebd.) auflösbar ist, sondern diese beiden Seiten, indem sie zwischen ihnen changiert, ineinander umschlagen lässt. Für die Verhaltensdimension ist konstitutiv, dass sie zwischen den objektiven Bestimmungen eines 2

Siehe Plessner 97, II: „Sie [„die Wesensmerkmale des Belebten“, T. E.] stellen Phänomene dar, deren Qualität zwar in eindeutige Beziehung zu einer quantitativ bestimmbaren Konstellation chemischen und physikalischen Charakters gesetzt werden kann, aber als Erscheinung ihre Irreduzibilität behält. Wir kennen solche Verhältnisse auch im anorganischen Bereich. Eine bestimmte Farbqualität ist durch eine bestimmte Wellenlänge des Lichts definiert, aber als Qualität korrespondiert sie ihr nur, auch wenn sie allein für ein sehendes Subjekt mittels einer funktionsfähigen Retina und eines nervösen Apparats als eben diese Farbe erscheint.“

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Körpers – die sehr wohl naturwissenschaftlich messbar sind – und seiner anschaulich gegebenen „Subjektivität“ phänomenologische Korrelationen sichtbar macht. Eben hier liegt die Pointe des Ausdrucksmotivs: Körperphänomene sind nicht allein objektiv messbare Größen, sondern Ausdruck „sich mit der Umgebung in Einklang setzende[r] Leiber, in den Verhältnissen der Orientierung, Hinwendung und Anwendung begriffene[r] Lebenseinheiten“ (ebd., 8). Plessner verweist in diesem Sinne – wie bereits thematisiert – auf die Vorgängigkeit der phänomenologischen Anschauung, die unseren „naiven“, d.h. nicht durch spezialwissenschaftliche Erkenntnisinteressen eingegrenzten Kontakt mit innerweltlichen Phänomenen grundiert. Auf der anderen Seite bedeutet Plessners Vorschlag, eine allgemeine Hermeneutik als Philosophische Anthropologie zu modellieren, jedoch auch, die naturwissenschaftlichen Objektivierungen von „Leben“ ebenfalls als Ausdrucksmomente (und nicht als „abstrakte“, etwa auf Sprache reduzierbare Verstehensleistungen) zu beschreiben. So sehr es das originäre Kennzeichen des Lebendigen ist, sich zum Ausdruck zu bringen, und so sehr dieser Selbstausdruck notwendigerweise überlagert erscheint durch vielfältige Rationalitäten, die sich auf ihn als ihren Gegenstand richten, so sehr sind jene Rationalitäten, in denen Leben verstanden wird, ihrerseits Äußerungen, also Ausdruck von Lebendigem22. Stellt man das Problem so (d.h. wie Plessner selbst es tut) um, dann kommt in der Tat, aber in veränderter Gestalt, Diltheys Formel „Leben versteht Leben“ wieder in Sicht. Obwohl nämlich Plessner zeigt, dass auch das Ausdrucksverstehen ein Vollzug von Ausdruck ist, zielt seine Überlegung nicht darauf, die Dimension des Ausdrucks (sprich: des Lebens) als geschlossene Totalität zu präsentieren. Eher stehen Ausdruck und Ausdrucksverstehen in einem Zusammenhang, in dem sie sich wechselseitig erläutern, gerade weil sie sich in irreduzibler Spannung zueinander halten. Der Schlüssel, um „die Frage nach der Möglichkeit des Selbstverstehens des Lebens im Medium seiner Erfahrung“ (Plessner 97, 23) zu beantworten, findet sich Plessner zufolge erst im Horizont der exzentrischen Positionalität des Menschen an: Dieses Wissen des Lebens von sich, dieses Selbstverstehen ist jedoch, dem in dieser Interpretation vertretenen Standpunkt zufolge, einzig im Modus vermittelter Unmittelbarkeit möglich. Im Modus der vermittelten Unmittelbarkeit erfährt das menschliche Lebewesen an dem Wissen, das es von sich gewinnt, immer schon jenen Anteil von Künstlichkeit, Setzung, Brüchigkeit und Historizität, der für seine Stellung in exzentrischer Positionalität konstitutiv und zugleich problematisch ist, weil es ihm die Gewissheit eines letzten Halts entreißt23. Die naturwissenschaftlichen Bestimmungen und Urteile, was Leben sei, bezie22 23

Siehe exemplarisch Beaufort 2000, 33. Zur Kennzeichnung dieser für Plessners Ansatz alles entscheidenden letzten exzentrischen Brechung greift Richard Breun auf Wendungen zurück, die ihre Nähe zur Position Canguilhems geradezu aufdrängen. Wenn Breun Plessners Denkbewegung als gleichsam performative Austragung der Kantischen Paradoxie versteht, „das System“ durch Freiheit zu begrenzen, aber dennoch nur „im System“ Freiheit konzeptualisieren zu können, so erinnert das (unfreiwillig) stark an Canguilhems These, dass sich das Leben gerade durch dasjenige Medium (die Maschine) reproduziert, das die strukturelle Annullierung der epistemischen Differenz des Lebens bedeutet. Siehe Breun 2006, 3. Siehe ebd., 37: „Diese Freiheit und freie Tat begrenzt das System. Aber erst dem System wird sie zum Bild, unter dem das ‚reine‘ Leben steht. So wird es fassbar, ohne seine Lebendigkeit zu verlieren. Darin liegt der Anspruch der Philosophie Plessners. Es ist ihm gelungen, ihn einzulösen, weil er eine Terminologie

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hen, Plessner zufolge, ihre anthropologische Relevanz daraus, dass sie selbst erst durch eine schwierige Doppelung ermöglicht werden. Die hermeneutischen Investitionen und normativen Praktiken der Erfahrungswissenschaften legen Zeugnis ab vom Status des menschlichen Lebens: Es ist jener Status, in dem sich das Leben als Subjekt auf sich selbst als Objekt bezieht. Plessners Interesse an den konkreten naturwissenschaftlichen Repräsentationen des Lebens speist sich somit aus einem doppelten Motiv. Zum einen steht der methodische verengte Zugang, dem sich die Naturwissenschaften verpflichten, im Kontrast zur phänomenologischen Aufdeckung des Lebens als Ausdruck. Die These, dass die Naturwissenschaften aus der Doppelaspektivität des Lebendigen zwar schöpfen, ihr aber auf Grund ihrer Funktionsweise nicht Rechnung tragen können, ebnet den Weg für Plessners Variante, die epistemische Differenz des Lebens anzusetzen. Zum anderen stellen aber die wissenschaftlichen und technisch-praktischen Objektivierungen von Leben – Biomedizin und Lebenswissenschaften – selbst einen zentralen Gegenstand dessen dar, was Plessner als Philosophische Anthropologie durchführt: Diese Objektivierungen (die immer auch den Charakter von Normalisierungen haben) sind beredte Dokumente für das Problem, dass im Selbstverhältnis menschlicher Lebewesen zu sich eine konstitutive Geschichtlichkeit liegt, eine Unbestimmtheit, die zur Bildung „bloß“ temporärer, verzeitlichter, unabschließbarer Selbstauslegungen führt. Der methodische Sinn von Plessners Maßnahme, „nicht (…) über den Einzelwissenschaften, sondern (…) in den Einzelwissenschaften, in denen neue Forschungsresultate anfallen“ (Eßbach 2008, 2; Hervorhebungen i.O., T. E.), die Hauptfragen seiner Philosophischen Anthropologie zur Entfaltung zu bringen, verweist daher zurück auf den Punkt, der in der hier interessierenden Hinsicht der wichtigste ist und bleibt: Plessner denkt durchaus die Struktur des lebendigen Wissens des Lebens, aber er denkt sie einzig und allein in der Systemform einer Philosophischen Anthropologie. Um zu erfassen, in welcher Lage ein lebendiges Wissen des Lebens überhaupt erst möglich ist, muss unmissverständlich „der Mensch“ in die Gleichung gebracht werden – und zwar der Mensch „als Objekt und Subjekt seines Lebens d.h. so, wie er sich selbst Gegenstand und Zentrum ist“ (Plessner 97, 3). Plessners Anspruch lautet also, die Fabrikation lebenswissenschaftlicher Erkenntnisse weniger unter negativem Blickwinkel – als fatale Unterbestimmung des Erkenntnisgegenstands – zu kritisieren, als die anthropologischen Prämissen, die in die Erkenntnisproduktion eingehen, ihrerseits als Thema Philosophischer Anthropologie explizit zu machen. Für diese Strategie gibt es ein Pendant auf Seiten von Canguilhem. Analog zu Plessner gibt sich auch bei Canguilhem, wenn man das Verhältnis der von ihm vertretenen Konzeption zu den operativen Lebenswissenschaften präzisiert, der Kern seines gesamten Projekts, seine Systemform, zu erkennen. Wie in Kapitel II.B.. beleuchtet, schließt Canguilhem prägen konnte, in der das systematisch zu Fixierende, der Gegenstand des Denkens, nämlich der Mensch selbst, lediglich in seiner praktischen Bestimmbarkeit durch sich selbst bestimmt wurde, nicht aber in theoretischen Festlegungen, die die Praxis korrelativ dazu verengen – bis hin zu deren Beseitigung und Usurpation durch Technologie, je genauer und detaillierter die Begriffe geraten, mit denen der Mensch erfasst werden soll. (…) Voraussetzung für die Formulierung und Einlösung dieses Anspruchs war der Durchgang durch das kritische System, von Anfang bis Ende und zurück, und dessen Distanzierung durch ‚Historisierung‘ in der Einstellung der Kritik, das heißt dessen Selbstanwendung.“

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paradigmatisch an Bachelards Vorbild einer Historischen Epistemologie an. Dieses Paradigma geht von der Differenz der Wissenschaften in ihrer modernen Gestalt gegenüber dem klassischen Modell von Wissenschaft aus. Bis in den Positivismus des 9. Jahrhunderts hinein (Comte, Meyerson, Durkheim) waren die Wissenschaften von der Vorstellung geleitet, an einem rationalen Fortschritt teilzuhaben, der es in seinem ultimaten Zustand erlauben würde, universale Wahrheiten zum Vorschein zu bringen. Diesem Verweis auf ontologisch oder theologisch abgesicherte Universalien steht in der Moderne die Einsicht in den normativen und regionalen Charakter der Wissenschaften diametral gegenüber. Die modernen Wissenschaften funktionieren regional, weil sie sich nicht länger der Erkenntnis einer metaphysischen Ordnung verpflichten. Stattdessen grenzen sich zahlreiche einzelne Disziplinen voneinander ab, und zwar so, dass jeder von ihnen eine jeweils klar unterschiedene Region von Gegenständen korreliert. Von diesen Gegenständen wiederum wird angenommen, über sie seien gewisse (d.h. wahre) Urteile wenn schon nicht universal, so doch zumindest temporär möglich. Zugleich operieren die modernen Disziplinen normativ, weil sie die Maßstäbe dafür, was als wahr und falsch gelten soll, selber, d.h. gemäß ihrer eigenen Möglichkeiten, Ansprüchen und Grenzen festlegen. Dies geschieht in historischer Abhängigkeit von technologischen Standards und sogar konkreten Instrumenten, die zur experimentellen Behandlung von Phänomenen zur Verfügung stehen. Wie schon nachgezeichnet, versteht Canguilhem mit Bachelard den Prozess der modernen (naturwissenschaftlichen) Forschung als eine Geschichte der Diskontinuitäten, die zum einen rasant ist, weil sie durch immer neue technische Innovationen angeheizt wird, und die zum anderen auf „Rektifizierung“, d.h. der Verwerfung des je vorausgegangenen Erkenntnisstands, beruht. Genau diese diskontinuierliche, fortlaufend revidierte „Suche nach der Wahrheit“ (Canguilhem 979b, 32), deren inhärente Kraft eine „wertende Tätigkeit“ (ebd.) ist, bildet Canguilhem zufolge den Gegenstand der Historischen Epistemologie. Was in ihrem Fokus steht, sind die spezifischen Normen und technischen Mittel, die aufgeboten werden, um eine wissenschaftliche „Wahrheit“ zu verifizieren. Wenn Canguilhem Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaft hinsichtlich der verschiedenen Gegenstandslevels, die ihnen zuzuordnen sind, unterscheidet, so zeigt diese Distinktion, worin die Geschichtlichkeit der Historischen Epistemologie zu sehen ist. Das geschichtliche Moment liegt in der normativen Transformation, mit der eine wissenschaftliche Disziplin ein Phänomen in „ihr“ Phänomen umschreibt. Das Problem der Geschichte, wie die Historische Epistemologie es aufrollt, ist mit der Diskursivierung natürlicher Gegenstände verbunden, wobei gilt, dass die „sekundären, nicht natürlichen, kulturellen Gegenstände“ (ebd., 29f.) des wissenschaftlichen Diskurses, anstatt sich aus den natürlichen Phänomenen abzuleiten, von diesen durch einen epistemologischen Bruch abgeschnitten sind. Daher ist die Historische Epistemologie eine Reflexionsform, die auf eigenartige Weise mit den naturwissenschaftlichen Experimentalsystemen, die sie rekonstruiert, verschlungen ist. Sie spricht nicht von Dingen, sondern von „diskursiven Konstruktionen“ (Delaporte 200, 297 und passim). Obwohl die Historische Epistemologie also historische Distanz zu den Diskursen hat, von denen sie handelt, liegt ihr die Idee einer außerwissenschaftlichen Wahrheit völlig fern. Der phänomenologische Einsatz, bei der Untersuchung der Spezialwissenschaften gleichsam durch eine Stimme aus dem Off die Bewusstseinsstrukturen aufzudecken, die den spezialwissenschaftlichen Gegenstandskonstitutionen zu Grunde liegen: Dieser Einsatz wird abgelehnt.

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Damit ist schon in Bezug auf den wohl definierten Gegenstand der Historischen Epistemologie evident, weshalb Canguilhems Reflexion „letztlich nicht trennbar [ist] vom konkreten historischen Material, mit dem sie arbeitet und über dem sie operiert“ (Rheinberger 200c, 233). Indessen kam es dem Canguilhem-Kapitel dieser Studie auf folgende Feststellung an: Das philosophisch gehaltvolle Unterfangen, das Canguilhem über die diversen Phasen seiner Werkgeschichte hinweg ausgebildet hat, lässt sich in seiner Prägnanz nur verstehen, wenn man sieht, dass er „im Vergleich zu Bachelard (…) einen Schritt weiter und einen zurück“ (Balzaretti 200c, 3; Hervorhebung i.O., T. E.) gegangen ist. Canguilhems Applikation von Bachelards Kategorien auf einem neuen Feld, nämlich auf dem historischen Feld der Biowissenschaften, bedeutet nicht die epigonale Fortführung, sondern die definitive Sprengung des Paradigmas. Zwar hatte Bachelard als erster entdeckt, dass der Schlüssel zum Verständnis wissenschaftlicher Dynamiken im Problem der Normativität liegt, doch ist sein eigenes Verfahren vor allem aus zwei Gründen daran gescheitert, dieses Problem angemessen zu erfassen. Bachelards erstes Defizit zeigt sich in seiner Entwertung der phänomenologischen Intuitionen. Dadurch, dass Sprache – sofern darunter etwas anderes als ein mathematisch formalisiertes Symbolsystem bezeichnet werden soll –, Bildlichkeit und Anschauung bei Bachelard zu „epistemologischen Hindernissen“ gerinnen, verlegt sein Ansatz die Normen wissenschaftlicher Erkenntnis in einen monströsen Un-Grund zurück: Der normative Akt, der wissenschaftliches Wissen initiiert, hängt mit der vorwissenschaftlichen Sphäre so zusammen, dass diese in ein-und demselben Zug als das aus der Wissenschaft Ausgeschlossene und als Ursprung der Wissenschaft erscheint. Bachelard verfällt einer negativen Dialektik, weil er den phänomenologischen Mythos gegenüber dem szientistischen Logos für unvermittelbar erklärt. Aus den Ausführungen über Canguilhems Verhältnis zu Bachelard ergab sich in dieser Untersuchung auch das zweite Defizit, das Bachelards Position belastet. Da es Bachelard rigoros ablehnt, die diskursimmanenten Normen durch ein strukturelles, außerhalb der Diskurse ansetzendes – etwa phänomenologisches – Verständnis von Normativität zu klären, ist es ihm unmöglich, die impliziten Normen seines eigenen Standpunkts einzusehen. Die Differenz zwischen der Aktivität des Wissenschaftshistorikers und der Aktivität des Wissenschaftlers macht es jedoch unumgänglich, die Bedingungen für die Urteile anzugeben, die ersterer über die Urteile des letzteren fällt. Es ist hier schon nachvollzogen worden, was Canguilhem unternimmt, um die von Bachelard herausgestellte, aber ungedachte Problematik der Normativität bis in ihre letzten Konsequenzen hinein zu verfolgen. Hinter der unspektakulär scheinenden Verschiebung von Bachelards Kategorien in den Bereich der Biowissenschaften verbirgt sich eine Philosophie des Lebendigen, deren Hauptanliegen es ist, Leben als ein wertendes Geschehen zu fassen. In diese Konzeption von Leben als Wertung integriert Canguilhem die von Bachelard in die Diskussion gebrachte Normativität wissenschaftlichen Wissens. Am Beispiel von Medizin (in Das Normale und das Pathologische) und Biologie (in La connaissance de la vie) zeigt Canguilhem, dass die Wissenschaften vom Leben durch die Berührung mit ihrem Gegenstand gleichsam über sich hinausgetrieben werden. Sie prallen auf Phänomene, die an erster Stelle in einem Verhältnis der Erfahrung zu sich selbst stehen, bevor sie – nachträglich – als Objekte einer „wissenschaftlichen“ Bestim-

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mung relevant werden2. Was in wissenschaftlicher Einstellung als Objekt firmiert, wird als das wertende Zentrum allen Verhaltens vorgezeigt, dem es ausgesetzt ist bzw. das es selbst ausübt. Das Lebendige tritt also als ein Phänomen in Szene, das sich durch radikale Subjektivität (Zentrierung) auszeichnet. Dieser perspektivische Bruch ist für Canguilhem gleichbedeutend mit einem Rückwurf des wissenschaftlichen Dispositivs auf das Dispositiv der Technik: Versteht man mit Canguilhem die Technik als eine kreative Tätigkeit der Umwelterkundung und -aneignung, deren Ausgang ungewiss ist, dann zeigt sich, dass dieser Verkehr mit dem Lebendigen auch für den Mediziner und den Biologen primär ist. Für Canguilhems Stellung in der epistemologischen Tradition Bachelards hat diese phänomenologisch aufgeladene Strategie, die auf die Herausarbeitung eines neuen Verständnisses von Leben abzielt, einen Umbruch zur Folge. Man sieht, dass Canguilhem das technische Verhalten, das für ihn der spezifisch menschliche Modus von Lebendigkeit ist, in den Prozess der Formation von Begriffen einschreibt: Ein Begriff dient als Medium, um in Auseinandersetzung mit einem zunächst unmittelbar anschaulich gegebenen Phänomen ein Problem aufzuwerfen. Auf diesem Weg beschreibt Canguilhem Begriffe als Minimaleinheiten, in denen sich ein „Prinzip der Interpretation von Erfahrung“ (Canguilhem 2008, 87) bündelt. Ein Begriff impliziert die normative Haltung seines Urhebers oder Nutzers gegenüber einem konkreten Phänomenen, das durch den Begriff identifiziert werden soll. Canguilhems Umstellung von „einer Geschichte der Herausbildung einer Theorie zur Geschichte der Herausbildung eines Begriffs“ (Delaporte 200, 300; Hervorhebung i.O., T. E.) bedeutet die Fundierung von Bachelards Programm. Diese Fundierung läuft ihrerseits auf die abschließende Pointe zu, dass im Leben selbst eine Konzeptualität, eine Formation von Formen wirkt, an der die begrifflichen Operationen der (wissenschaftlich tätigen) Subjekte unbewusst Maß nehmen. Das Wissen vom Leben, das die Biowissenschaften anstreben, findet seine eigentümlich immanente Bedingung im Leben selbst: Es ist lebendiges Wissen des Lebens. Wie Plessner eine allgemeine Hermeneutik als Philosophische Anthropologie lanciert, um die von den Lebenswissenschaften gebrauchten, aber nicht explizierten Verständigungen darüber, was Leben bedeutet, in ihrem eigenen lebendigen Ausdruckscharakter freizulegen, so erreicht Canguilhem in seiner Historischen Epistemologie der Biowissenschaften ein paralleles Plateau2. Er nähert sich der Normativität wissenschaftlicher Tätitgkeitsformen, indem er Normativität als wertendes Verhalten reformuliert, die elementare Bedeutung des Wertproblems aber innerhalb einer Philosophie des Lebens ver2

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Siehe exemplarisch Canguilhem 97, 8: „Das Leben selbst und nicht erst das medizinische Urteil macht aus dem biologisch Normalen einen Wertbegriff, der mehr als eine bloß statistische Wirklichkeit bezeichnet. Für den Arzt ist das Leben kein Objekt, sondern eine als Polarität sich äußernde Aktivität, deren spontane Abwehr- und Kampfanstrengung gegen alles mit negativem Wert Behaftete von der Medizin dadurch unterstützt wird, dass diese dem Leben gegenüber eine nur relative, aber unverzichtbare Aufklärung durch die Wissenschaft vom Menschen zuteil werden lässt.“ Siehe Séris 993, 98: „Le philosophe historien des sciences saisit, avec le sort fait aux normes, exigences et questions du vivant dans chaque construction théorique (je pense ici aux sciences de la vie), quelque chose que le science elle-même n’atteint pas et à quoi elle s’adosse. Il est en position de voir de la science quelque chose qu’elle ne peut voir d’elle-même.“

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ankert. Durch diese Umstülpung verschränkt Canguilhem den von ihm selbst bezogenen Standpunkt der Historischen Epistemologie mit dem Diskurs der Philosophie, „die damit ausdrücklich Wertphilosophie wird“ (Canguilhem 97, 0). Canguilhem zufolge bewertet der Historische Epistemologe eine axiologische Spannung: Auf der einen Seite macht er jene Bewertungen transparent, welche die Lebenswissenschaften den Phänomenen dadurch einbrennen, dass sie diese Phänomene als „ihre“ Gegenstände konstituieren. Auf der anderen Seite sieht er jedoch auch die Valorisierungen ein, die das Lebendige selber vollzieht, und durch die es noch vor dem Zugriff der Wissenschaften in einem Verhältnis der Geschichtlichkeit steht (ebd., 33). Diese Einspeisung der Philosophie in das epistemologische Verfahren fordert dazu auf, die Lebenswissenschaften „nicht nur [als] Wissenschaften vom Leben, sondern auch [als] Wissenschaften, die ‚vom lebendigen Menschen betrieben‘ werden“ (Schmidgen 2008a, V)26, zu dechiffrieren. Erst in dem doppelten Abstand, den die Historische Epistemologie zu den Phänomenen und zu den diskursiven Objektivierungen der Phänomene einhält, kann sie erläutern, was es heißt, dass „la science est une prise de position en face de la réalité et la vérité n’y signifie pas l’objectivité; elle sous-entend un jugement de valeur“ (Renard 996, 0)27. Bemerkenswert ist, welche epistemologische Konsequenz Canguilhem aus dem Konflikt der Normativitäten zieht, der zwischen den Lebenswissenschaften und ihren Objekten, aber auch zwischen der Epistemologie und den Lebenswissenschaften polemisch herrscht: Ebenso wie Normativität und Historizität des Lebendigen nicht Gegenstand der Wissenschaft sein können, sind Normativität und Historizität der Wissenschaften nicht ins Medium eines reflexiven Wissens (der Historischen Epistemologie) übersetzbar. Als epistemologisches Negativ der Normativität fasst Canguilhem daher den Irrtum: Die Wissenschaften treffen im Lebendigen und die Epistemologie trifft in den Wissenschaften Objekte an, die ihre eigenen Normen verwirklichen. Im impliziten Umkehrschluss bedeutet das aber, dass es keine „Wahrheit“ des Lebendigen gibt, die durch die Wissenschaft vom Leben aufgeschlossen, und keine „Wahrheit“ der Wissenschaften, die durch die Epistemologie zur Sprache gebracht werden könnte. Die Wissenschaften vom Leben erreichen ihren Gegenstand nur in einer ursprünglichen Verspätung, da „es in der Wissenschaft nichts [gibt], was sich nicht zuvor auch im Bewusstsein [des lebenden Individuums, auf das sich die Wissenschaft bezieht, Anm. T. E.] gezeigt hätte“ (Canguilhem 97, 9; Hervorhebungen i.O., T. E.). Ganz analog muß „die Position der Epistemologie (…) in der Nachhut angesiedelt sein“ (Canguilhem 2006c, 06), wenn es ihr „um den Versuch [geht] zu verstehen, warum man sich, obwohl es mehrere mögliche Richtungen gab, für diese eine entschieden hat“ (ebd., 06f.). Dies also haben die Wissenschaften vom Leben und die Epistemologie der Wissenschaften vom Leben gemein: Als Diskurse, welche die „Wahrheit“ von Phänomenen erfassen wollen, die ihre eigene 26 27

Die von Schmidgen zitierte Stelle findet sich bei Canguilhem 97, 0. Man beachte, dass der Wortlaut an dieser Stelle den in der Literatur gebräuchlichen Kennzeichnungen von Plessners Position sehr nahe kommt. Canguilhem lenkt den Blick, wie Renard sagt, auf das, was eine Wissenschaft „sous-entend“ [dt. etwa: stillschweigend annimmt]. Dem entspricht die Feststellung, „Plessners Naturphilosophie untersuch[e] diese ausgeblendeten, aber beanspruchten Präsuppositionen [der Naturwissenschaften, T. E.] nun ihrerseits im Hinblick auf die Unterscheidung, ob sie für die Grenzen der erfahrungswissenschaftlichen Erklärung wesentlich und nötig oder nur unwesentlich und zufällig sind“ (Krüger 2008a, 3f.).

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normative Wahrheit herausbilden, befinden sie sich den Phänomenen gegenüber unvermeidbar im „Irrtum“. Die zwischen Canguilhem und Plessner umlaufende Verbindungslinie, die in diesem Unterkapitel von Interesse war, betrifft somit folgende Tatsache: Beide Paradigmen bauen die Bezugnahmen auf das Lebendige, so wie sie faktisch von den Lebenswissenschaften vorgenommen werden, methodisch ein. Im Unterschied zur vitalistischen Tradition geht es Plessners Philosophischer Anthropologie und Canguilhems Historischer Epistemologie nicht um eine Delegitimierung der lebenswissenschaftlichen Objektivierungen von Leben. Vielmehr gilt es, dem Sachverhalt, dass das Leben immer schon den Status eines objektivierten Phänomens, eines Produkts diskursiver Rationalitäten inne hat, als historischem Spezifikum der Moderne Rechnung zu tragen. In diesem Sinne gehen Canguilhem und Plessner von der Prämisse aus, dass die Art und Weise, wie sich die Lebenswissenschaften auf das Leben beziehen, ihrerseits über die geschichtliche Verfassung des Lebens in der Moderne Aufschluss gibt. Daher die indirekte Verfahrensweise, derer sich beide Autoren bedienen: Sie kontrastieren den erfahrungswissenschaftlichen Umgang mit dem Leben durch ein erweitertes Lebensverständnis, das im erfahrungswissenschaftlichen Rahmen zwar unerklärlich ist, aber dennoch in ihm investiert wird. Die empirischen Bestimmungen des Lebens werden in dieser Richtung selbst als Ausdruck von Leben lesbar. Canguilhem und Plessner schlagen folglich vor, eine Geschichte des Lebens zu denken. In dieser Geschichte des Lebens markieren die Lebenswissenschaften eine historisch gewordene, keineswegs überzeitliche Position, die das Lebendige zu sich selbst einnimmt. Zum Abschluss dieses Segments sei betont, welche innovative Annahme bei Canguilhem und Plessner im Spiel ist, um die wissenschaftliche Formation der Moderne als exemplarische „Lebenserscheinung“ (Grond-Ginsbach 996, 0) interpretieren zu können: Eine solche These lässt sich nur aufrecht erhalten durch der Annahme einer immanenten Geschichtlichkeit des Lebens. Für Plessner ist der einzig zulässige und stringente Weg, die immanent geschichtliche Dimension von Leben einzuholen, das Theorem der exzentrischen Positionalität, um das seine Philosophische Anthropologie kreist; für Canguilhem liegt der Schlüssel zu dieser Dimension in einer Historischen Epistemologie des Typs, der hier nachgezeichnet wurde. Ist Geschichtlichkeit ein integraler Bestandteil des Lebens, dann kann es nicht beiläufig sein, wenn beide Denker in ihren jeweiligen Ansätzen den Blick auf eine merkwürdige Figur der Abweichung gelenkt haben: Die wissenschaftliche Repräsentation des Lebens ist gerade deshalb signifikant, weil sie für eine Selbstobjektivierung des Lebens steht, die notwendig ein Moment der Selbstverfehlung in sich schließt. Das Leben objektiviert sich – zumindest in Gestalt des Menschen – unter der strukturellen Voraussetzung, „nie ganz an seinem Platz“ (Foucault 988, 69) zu sein, sich zu bewegen auf einem irrealen Hintergrund von „Abwesenheit, Mangel, Leere“ (Plessner 97, 27). Jede Bestimmung des Lebens durch das Leben trägt das Zeichen der Fehlbarkeit des Lebendigen, der irreduziblen Fremdheit, die es sich selbst gegenüber hat – kurz: das Zeichen der Geschichtlichkeit.

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d. Zusammenfassung und Überleitung Ziel der zurückliegenden Teilkapitel war es, eine Reihe innovativer Argumente vorzustellen, die sowohl von Canguilhem als auch von Plessner in ihre jeweiligen Theorieformen eingespeist werden. Die Strategie, die der Text verfolgt hat, war die einer Engführung. Es ging darum, eine Art Minimalkonsens zwischen den Autoren auszumachen, und zwar hinsichtlich der Sachthemen, die von beiden in ihren jeweiligen Konzeptionen problematisiert werden. Als erstes Konsensmotiv ließ sich in dieser Einstellung festhalten, dass sowohl Plessner als auch Canguilhem den Begriff des Lebens durch einen Hiatus erhellen: Das Denken der (sich stufenweise steigernden) Doppelaspektivität und die Fassung des Lebens als dynamische Polarität sind darin vergleichbar, dass beide eine unüberschreitbare Doppelpoligkeit als schlechthin konstitutives Moment für Leben annehmen. Zweitens besteht eine Verwandtschaft der beiden Denker auch in dem Umstand, dass hier wie dort der Mensch zur Sphäre des Lebens in einem Verhältnis der Kontinuität und der Unterbrechung steht. In beiden Modellen wird diese Relation durch das Widerspiel von Zentrierung und De- bzw. Exzentrierung gefasst. Eine dritte minimale Konvergenz betrifft den Einbau der lebenswissenschaftlichen Perspektive auf das Lebendige in die eigene „Systemform“. Zwar arbeitet die Forschung mit einer notorischen Unterdeterminierung ihres Gegenstands. Jedoch verdichten sich die Pointen der Historischen Epistemologie Canguilhems und der Philosophischen Anthropologie Plessners darin, die Stellung der Wissenschaft zum Leben als eine „performative Wende vom Lebendigen zum Lebendigen“ (H.-P. Krüger) einsichtig zu machen. Mag der wissenschaftliche Diskurs auch eine Verfehlung der vollen Bedeutung von Leben sein, so bringt gerade diese unvermeidliche Begrenztheit etwas Entscheidendes über die Verfassung des Lebendigen zum Ausdruck28. Viertens schließlich lassen sich Plessner und Canguilhem in eine philosophische Genealogie einreihen, die sehr bewusst den Kantischen Primat des Geschichtlichen vor dem Logischen wieder aufnimmt. Nachdem sich die Untersuchung zunächst in zwei separaten Denkgebäuden bewegt und anschließend der vorsichtigen Bestimmung einiger Übergänge gewidmet hat, ist es nun an der Zeit, den Kern der These, die diese Überlegungen zusammenhält, zu entfalten. Die These besagt, dass Plessner durch den von ihm elaborierten Typ einer Philosophischen Anthropologie und Canguilhem dank der Spielart von Historischer Epistemologie, die er vertritt, jeweils einen Rahmen für die Struktur eines lebendigen Wissens des Lebens schaffen. Rückt man die Ansätze Canguilhems und Plessners unter diese Formel, die auf beide anwendbar ist, so schärft sich unweigerlich die Einsicht, dass der Denkzusammenhang des lebendigen Wissens des Lebens von beiden unterschiedlich erläutert wird. Doch die These geht noch einen weiteren Schritt und macht folgenden Dreh: In der Tat vertreten Plessner und Canguilhem inkommensurable Projekte, doch realisieren sie gleichwohl, auf ungleichartigen Wegen und aus miteinander unverträglichen Gründen, ein- und dieselbe Struktur – die Struktur des lebendigen Wissens des Lebens. So sehr Canguilhem und Plessner dem Problem des lebendigen Wissens des Lebens inhaltlich 28

Bei Schürmann heißt es deshalb sehr zu Recht, dass „bis in den Wortlaut hinein die Aufgabenstellung der Stufen in vielfacher Weise ein Grenzprojekt ist, hier: zwischen Philosophie und Einzelwissenschaft“ (Schürmann 20, 90).

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verschiedene Bestimmungen beilegen und ihm systematisch separate Durchführungen geben, so sehr halten sie einander einen Spiegel vor. Man sieht, inwiefern aus der hier unterstellten Spiegelung ein verwickelteres und ambivalenteres Bild hervorgeht: Philosophische Anthropologie und Historische Epistemologie der Lebenswissenschaften sind zwei widerstreitende Systemformen, die miteinander in Streit geraten müssen, weil sie sich allzu nahe kommen. Von seiner Variante der Philosophischen Anthropologie verspricht sich Plessner genau das, was sich Canguilhem von seiner Variante einer Historischen Epistemologie erhofft: Ein Leben zu denken, das etwas vom Leben weiß, ein Selbstwissen des lebendigen Dings. Dieses Denkmotiv eint Plessner und Canguilhem: Doch sie formulieren es über zwei einander ausschließende Idiome, d.h. im Zeichen eines Widerstreits, der ihre Koexistenz unmöglich macht. Die folgenden Kapitel werden den fiktiven Konflikt der beiden Argumentationstypen, die in Gestalt von Plessners Philosophischer Anthropologie und Canguilhems Historischer Epistemologie aufeinander prallen, Zug um Zug entwickeln. Jede der Denkhaltungen soll mit den spezifischen Mitteln der jeweils anderen kritisiert werden und sich mit ihren eigenen Mitteln gegen diese Kritik verteidigen. Um diese Auseinandersetzung zu strukturieren, ist es sinnvoll, die drei bekannten Schritte, die das Gefüge des lebendigen Wissens des Lebens gliedern, als Raster zu Grunde zu legen. Zunächst sind die Lebensbegriffe, die Plessner und Canguilhem ansetzen, polemisch gegeneinander zu profilieren. Da beide Argumentationen voraussetzungsvoll sind, insofern sie elementaren methodischen Weichenstellungen folgen und problemgeschichtliche Abgrenzungen vornehmen, ist es geboten, auch diese Voraussetzungshorizonte umfassend voneinander abzuheben. Innerhalb dieses Komplexes wiederum besteht die entscheidende Aufgabe darin, den Streitpunkt zu isolieren, der in der Gegenübersetzung zwischen Canguilhem und Plessner wohl insgesamt der zentralste ist: Nämlich die Frage, ob – und wenn ja: weshalb – es notwendig ist, eine anthropologische Differenz des Menschen gegenüber dem Leben auszuzeichnen. In einem zweiten Akt sind dann die beiden Vorschläge, worin ein Wissen um die epistemische Originalität des Lebens bestehen und auf welchen Bedingungen es gründen könnte, in ihrer Entgegensetzung darzustellen. Der dritte Akt der Konfrontation bezieht sich auf die konzeptuellen Wendepunkte bei Plessner und Canguilhem, an denen ihre Fassungen eines Wissens vom Leben in je ihrer Art verlebendigt werden und damit ein Wissen freisetzen, das Wissen des Lebens nicht nur im Sinne des genitivus obiectivus, sondern auch des genitivus subiectivus ist.

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A. Erster Akt: Der Begriff des Lebens a. Plessner liest Canguilhem: Die Grenzen des Lebenskreises Halten wir die beiden Begriffe des Lebens, die sich bei Plessner und Canguilhem finden, gegeneinander. Welches Licht fällt von Plessners Lebensbegriff her auf den Canguilhems? Was Plessner sicherlich begrüßen würde, ist zunächst Canguilhems Einsatz, die anthropologische Tradition in Frankreich neu zu fundieren, indem er den Menschen überhaupt erst einmal als Lebewesen thematisiert, „d.h. in der Richtung, die sich aus seiner naturgewachsenen Stellung in der Welt als Organismus in der Reihe der Organismen ergibt“ (Plessner 97, 32). Die positivistischen Systeme sahen ihre politische Mission gewissermaßen darin, anthropologische Fragen als „soziale Tatbestände“ zu diskutieren und ihrer Auflösung in biologische Erklärungsweisen entgegenzutreten29. Demgegenüber insistiert Canguilhems Ansatz, dass der Positivismus bei seiner Gleichschaltung der Biologie mit Physik und Chemie einer normativen Idee von Gesellschaft folgt, die ihn unausgesprochen trägt30. Das eigentliche Problem der positivistischen Anthropologie liegt nach Canguilhem darin, ihre eigene Funktionsweise und ihren Ursprung nicht selbst durchschauen zu können3. 29

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Auf diese „nationalistische Präferenz“ der französischen anthropologischen Tradition spielt Canguilhem in seinem Text Zur Lage der biologischen Philosophie (Canguilhem 2006b) in Frankreich mehrfach an. Siehe ebd., 27: „Es genügte schon, dass die deutsche Philosophie, vor allem im 9. Jahrhundert, dem Leben mehr Aufmerksamkeit geschenkt hat als die französische Philosophie seit 870, damit die biologische Philosophie bei uns als ein fragwürdiger Auswuchs der positiven Wissenschaft erscheint, der geeignet ist, den fragwürdigsten politischen oder gesellschaftlichen Zielen zu dienen. Wir zitieren niemanden. Der sachkundige Leser wird unter diese kurze Beschreibung Namen von Denkern setzen, die zwar sehr unterschiedlich sind, aber immer bereit, in jedem Ansatz zur biologischen Philosophie einen Irrweg zu sehen, der irgendwo zwischen Mystizismus, Romantik und Faschismus angesiedelt ist, also so etwas wie eine naive, krankhafte oder verbrecherische Spekulation, deren typische Vertreter je nach Lage des Falls Hegel, Nietzsche, Bergson oder Hitler sind.“ So wird etwa Comtes Projekt einer Transformation aller Wissenschaften in ihre positive, sich selbst durchsichtige Gestalt überwölbt durch die Phantasie einer positivistischen Religion der Menschheit. Siehe dazu Balzaretti 2007, 8f.: „As the law of constancy and homogeneity Broussais’s principle extends rational prognosis to the field of synthetic sciences and, consequently, allows the advent of a regime of volunteer modifications and regulations of vital and social phenomena. At the head of the league of living beings, will Humanity at its final stage lead the struggle against the kingdom of the inorganic, until negativity has been abolished by technique and the final victory of the subjective principle over the objective has been achieved.“ Auch Lévi-Strauss erinnert an den anthropologisch unaufkündbaren Dualismus zwischen der „Universalität der Natur“ und der „Norm der Kultur“. Diese Differenz muss in den Gesellschaften konstruktivistisch eingerichtet werden, sofern das Wegbrechen oder gar die Umkehrung des Codes – im Sinne einer Normen vorgebenden Natur und einer naturrechtlichen Universalität der Kultur – die Skandalisierung und letztlich die Selbstzersetzung des gesellschaftlichen Bands zur Folge hätte. Siehe Lévi-Strauss 993, f.: „In der Tat gerät man in einen Teufelskreis, will man in der Natur den Ursprung von institutionellen Regeln suchen, welche die Kultur voraussetzen – besser: bereits Kultur sind – und deren Einführung in die Gruppe ohne die Vermittlung der Sprache kaum vorstellbar ist. […] Überall dort, wo

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Folgt man der Formel, die Plessner in den Stufen hinsichtlich seines eigenen Programms verwendet, so kommt Canguilhem das epochale Verdienst zu, dasjenige, was Plessner die vertikale Linie der Philosophischen Anthropologie nennt, in die französische Diskussion eingezeichnet zu haben. Canguilhems Konzeption ist derjenigen Plessners darin verwandt, „dass sie nicht mit dem Menschen anfängt, sondern, bevor sie vom Menschen spricht, vom Leben handelt“ (Fischer 200, 67). Demnach arbeitet Canguilhem den einen der zwei zueinander gegenläufigen Stränge einer Philosophischen Anthropologie, nämlich den naturphilosophischen Strang, heraus. Canguilhems These vom Primat der Klinik – auch das würde Plessner zugestehen – antizipiert das epistemologische Defizit der Wissenschaften vom Leben, vor allem aber das methodische Erfordernis, dieses Defizit auf indirektem Wege offen zu legen. Mehr noch: Canguilhems Formulierungen umspielen die entscheidende Entdeckung, dass der epistemologischen Aporie der Lebenswissenschaftlichen ein Problem zu Grunde liegt, das in letzter Konsequenz auf eine anthropologische Durchdringung und Kritik drängt32. Attraktiv an Canguilhems Umgang mit dem Lebensbegriff fände Plessner gewiss auch den darin geleisteten Aufweis einer gegenseitigen Überformung zwischen lebendigen Phänomenen und diskursiver Rationalität. Was Plessner an der lebensphilosophischen Tradition vermisst und wodurch er sie selbst transformieren will, lässt sich bekanntlich als „das paradoxe Anliegen einer ‚rationalen Lebensphilosophie‘“ (Beaufort 2000, 96) apostrophieren33. Es gab in diesem Rahmen bereits Gelegenheit, auf Seiten Canguilhems

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eine Regel auftaucht, wissen wir mit Bestimmtheit, dass wir uns auf der Ebene der Kultur befinden. Symmetrisch dazu bereitet es keine Schwierigkeit, in der Universalität das Kriterium der Natur zu erkennen. (…) In Ermangelung einer realen Analyse liefert uns das doppelte Kriterium der Norm und der Universalität das Prinzip einer ideellen Analyse, die es (…) ermöglichen kann, die natürlichen Elemente von den kulturellen Elementen zu trennen, die in den Synthesen komplexerer Art vorkommen. Halten wir also fest, dass alles, was beim Menschen universal ist, zur Ordnung der Natur gehört und sich durch Spontaneität auszeichnet, und dass alles, was einer Norm unterliegt, zur Kultur gehört und die Eigenschaft des Relativen und des Besonderen aufweist.“ Siehe etwa Canguilhem 97, 0: „Mit der Entwicklung des Menschen hat das Lebewesen die Methoden und das Bedürfnis wissenschaftlicher Bestimmung des Wirklichen erworben; folglich richtet sich das Streben nach Bestimmung des Wirklichen notwendig auch auf das Leben selbst. Das Leben wird zum Gegenstand der Wissenschaft – oder genauer: es ist historisch erst dazu geworden und es keineswegs immer schon gewesen. In solcher Wissenschaft ist also das Leben sowohl Subjekt (wird sie doch vom lebendigen Menschen betrieben) wie Objekt.“ Eine solche anthropologische Wende schreibt Plessner seinem eigenen Ansatz explizit ein: Ihm geht es darum, die Proliferation der erfahrungswissenschaftlichen Anthropologien zu konfrontieren mit den „in der Lebensführung als ganzer“ wirksamen praktischen Voraussetzungen für das In-UmlaufBringen dieser Anthropologien, die von den Erfahrungswissenschaften beansprucht und im selben Zug invisibilisiert werden, was ihrer epistemischen Struktur nach auch unvermeidlich ist. Zum Zitat siehe Krüger 2008b, . Ob nun Canguilhem diese „anthropologische Konsequenz“ der epistemologischen Aporetik implizit, aber doch zustimmend bedacht oder vielmehr, wie eine eingehende Analyse seiner Texte vermuten lässt, ihre Berechtigung in Abrede gestellt hat: Für den Moment genügt es zu konstatieren, dass Plessner in Canguilhems Begriff des Lebens immerhin eine Antizipation des Aufgabengebiets hätte sehen können, das er seinerseits auf dem Weg einer Philosophischen Anthropologie beschritten hat. Diese programmatische Zäsur, die Plessner gegenüber der (prominenterweise durch Bergson exponierten) intuitionistischen Lebensphilosophie durchzieht, um „Leben“ durchaus als legitimen Ge-

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eine durchaus ähnliche Pointe, nämlich seine Konstruktion eines „vital rationalism“, zu unterstreichen. In gewisser Hinsicht berührt sich Canguilhems historische Analyse der Diskurse, die stets durch einen polemischen Vitalismus unterlegt ist, mit jenem Chiasmus von Leben und Begriff, den Plessner – so Richard Breun – bei Kant entdeckt und zum Angelpunkt seiner eigenen Philosophie des Organischen gemacht hat3. Wie für Plessner, so ist auch für Canguilhem – hier jedoch in Form einer epistemologischen Rekonstruktion biologischer und medizinischer Rationalitäten – die Überzeugung prägend, dass „System und Leben […] eine gemeinsame Grenze [bilden], wodurch das eine durch das jeweils Andere das sichtbar macht, was es ist“ (Breun 2006, 3; Hervorhebung i.O., T. E.). Canguilhem kommt Plessner also darin nahe, dass er das Verhältnis zwischen Leben und diskursiver Rationalität als ein Verhältnis zweier Pole beschreibt, die sich einander entziehen, aber in diesem Entzug aufeinander angewiesen bleiben. Einen solchen „Kontakt per hiatum irrationalem“ (Mitscherlich 2007, ) spürt Canguilhem auch in einer noch grundlegenderen Hinsicht, nämlich inmitten der Sphäre des Lebens selbst auf. Canguilhem bestimmt das Normale und das Pathologische als zwei Zustände, die nicht ineinander aufhebbar, weil durch einen absoluten Bruch voneinander geschieden sind, die aber dennoch zwei gleichursprüngliche Artikulationen von Leben darstellen. So verstanden, gelingt es Canguilhem, das Leben als ein in sich heterogenes, immer erneut in Unbestimmtheit versetztes Geschehen einzuführen. Das Normale und das Pathologische bilden die beiden „nicht ineinander überführbaren“ (Plessner 97, 80) Seiten ein-und

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genstand eines spezifischen „Wissens“ zu qualifizieren, hat jüngst Volker Schürmann mit einiger Emphase vertreten. Schürmann unterscheidet eine irrationalistische Gruppe von Lebensphilosophien (Bergson-Nietzsche-Simmel), die in der Tat die Vorgängigkeit und Transzendenz von Leben gegenüber Wissen ansetzen, von einer hermeneutischen Strömung (Dilthey-Misch-König-Plessner), welche die Unergründlichkeit des Lebens nicht als „Unerreichbarkeit, sondern als in grundsätzlich anderer Weise vernehmbarer Sinn“ (Schürmann 20, 27) konzipiere. Während die erstgenannte Linie den Kult des Unmittelbaren und bloß unmittelbar Beschwörbaren treibe, sei unter den „Göttinger Lebenslogik[ern]“ (ebd., 2; Hervorhebung i.O., T. E.) eine an Hegel geschulte Einsicht in die durchgängige Vermitteltheit des Unmittelbaren augeprägt, die ihre Grundlegungen von Lebensphilosophie gegen den „Verdacht der gegenmodernen Mystifizierung von ›Unergründlichkeit‹“ (ebd., 32) immunisiere. Ähnlich wie Schürmann möchte ich die spezifische Öffnung des Lebensbegriffs auf Wissen hervorkehren: Gerade hier konstituiert sich die Originalität eines vital rationalism, wie ihn Plessner und Canguilhem entwickelt haben. Problematisch erscheint mir jedoch Schürmanns selbstzufriedener Dualismus zwischen den Adepten wahrer und schlechter Unendlichkeit: Zum einen ignoriert eine solche Division, was Plessner betrifft, dessen ambivalentes Oszillieren zwischen Hegelschen und Fichteschen Motiven, zum anderen simplifiziert sie die französischen Formationen einer philosophie de la vie. Schürmann kritisiert eine Genealogie, die den schlecht-unendlichen Intuitionismus Bergsons bis in die modernen Positionen hinein, vor allem bei Deleuze, perpetuiert habe (ebd., 2): Abgesehen von der voreingenommenen Einseitigkeit dieses Deleuze-Verständnisses ist es aber vor allem bedauerlich (wenngleich nicht überraschend), dass Schürmann über die epistemologischen Initiativen Canguilhems und Foucaults, die man in der Tat ebenfalls (gegen Bergson) im Zeichen von Hegels vermittelter Unmittelbarkeit rezipieren könnte, nicht informiert ist. Siehe Breun 2006, 3: „Auch wir haben das Leben bloß am System – und am System Plessners deshalb so deutlich, weil es stetig zum Einsatz gebracht wurde. Das Systematische des Begreifens (das Begriffssystem) ist der Ausdruck dessen, dass sich das Leben, da es in der Form des menschlichen Lebens doppelt von sich abgehoben ist, selbst auf den Grund gehen will, um sich zu verstehen, dass es nicht anders kann als in dieser hermeneutischen Weise zu leben, sich auszulegen und darzustellen, wofür es sich hält.“

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desselben Phänomens. Das Pathologische ist für Canguilhem nicht etwa eine verringerte Norm, sondern eine originäre Abweichung, eine radikal differente Seinsweise im Verhältnis zu der, die zuvor von einem Organismus als „gesund“ valorisiert wurde. Plessners Reaktion auf diese Argumente könnte nun, in einer ersten Lektüre, wie folgt ausfallen: Canguilhem ist zuzustimmen, wenn er die Grundverfassung von Leben in einer Polarität zweier Strukturmomente sieht, die gleichwohl in ihrer Divergenz aus einer „Erfahrungsstellung“ (ebd., ) zu erfassen sind. Mit einem Wort: Canguilhem ist dem begrifflichen Sinn dessen auf der Spur, was Plessner selbst als Doppelaspektivität des Lebendigen exponiert hat. Und schließlich ist es Canguilhems Versuch, „die Rechte eines phänomenologischen Moments“ (Balzaretti 200c, 2) für eine Bestimmung lebendiger Phänomene einzuklagen, der, wenigstens im Ansatz, Plessners Zuspruch finden würde. Wenn man sich in Erinnerung ruft, dass Canguilhem mitnichten, wie von Foucault behauptet, die Ablösung einer „Philosophie der Erfahrung, des Sinnes, des Subjekts“ (Foucault 988, 3) durch eine „Philosophie des Wissens, der Rationalität und des Begriffes“ (ebd.) betrieben, sondern beide Achsen verschränkt hat, dann fällt es nicht schwer, in dieser Operation eine Parallele zu Plessner zu sehen. Denn Plessners „Wende zum Objektpol“ gibt den Blick auf eine phänomenologische Deskription frei, die zum Aufweis einer elementaren Gegebenheitsweise von „Dingen“ in der gelebten Alltagsbeobachtung führt. Plessner und Canguilhem stoßen in ihren Argumentationen jeweils phänomenologisch zu einer unrestringierten Qualität von Erfahrung vor3. Damit ist zugleich gesagt, dass Canguilhem die „phänomenologische Sinngebung (…) nicht als ‚Sinnesfundament‛ (Husserl)“ (Balzaretti 200a, 2) interpretiert, insofern die Husserlsche Fundierung erneut im Vorrang eines transzendentalen Bewusstseins kulminieren würde. Verglichen mit Husserls programmatischem Verständnis der Phänomenologie als Erkenntnistheorie lässt sich Canguilhems Vorgehen in Das Normale und das Pathologische freilich „bloß“ in einem unsystematischen Sinne als phänomenologisch charakterisieren. Im Anschluss an Goldstein fokussiert Canguilhem die Idee einer holistisch agierenden Subjektivität, deren intentionale Akte von unbewussten und spontanen Wertungen gesättigt sind. Die Einsicht in die implizite Phänomenologie, die von Canguilhem als diskretes Korrektiv der rationalistischen Epistemologien seiner Weggefährten, Bachelard und Cavaillès, evoziert wird, stellt uns nun aber vor eine erste erhebliche Differenz zu Plessner. Zusammengefasst liegt das Manko, das Plessner Canguilhem anlasten könnte, etwa in Folgendem: Canguilhems Beschreibung lebendigen Verhaltens als „normatives“ Verhalten formuliert einen phänomenologischen Befund. Was sie aber nicht exponiert, ist die anschauende Instanz, der sich die lebendigen Entitäten als normative Entitäten geben können. Es spielt eine Rolle, dass sich die von Canguilhem entschleierte Unmittelbarkeitserfahrung – der Primat der Klinik – allererst in Korrelation mit einem spezifischen Blick, einer wohl bestimmten Haltung zu den Dingen, einer klar unterschiedenen Stellung im Seienden konstituieren kann36. Diese Wendung jedoch – sozusagen auf den Ort 3

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Siehe Canguilhem 97, 9: „Unseres Erachtens aber gibt es in der Wissenschaft nichts, was sich nicht zuvor auch im Bewusstsein gezeigt hätte (…)“ [Hervorhebung i.O., T. E.] Damit sind, einer Kennzeichnung von Hans-Peter Krüger folgend, die für Plessner relevanten „Konstellationsfragen im transzendentalen Sinne“ (Krüger 200, 906) hervorgehoben.

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und die Stimme des Sprechers, der, wie in Das Normale und das Pathologische, eine Beschreibung der unmittelbar gegebenen Eigentümlichkeit des Lebendigen anfertigt –, genau diese reflexive Wendung stellt Canguilhem nicht her. Diesem Kritikpunkt, der sich auf Seiten Plessners gegen Canguilhems Konzept des Lebens anmeldet, ist weiteres Gewicht zu geben. Zunächst müsste man klären, inwiefern sich hinter der Sorgfalt der phänomenologischen Methode, die mit Plessner anzumahnen wäre, etwas ganz anderes verbirgt als der Ruf zurück zu einer dogmatischen Tagesordnung, also zu Husserls Verständnis der Phänomenologie als Letztbegründung. Plessner vertritt die Ansicht, „dass die Praxis der phänomenologischen Reduktion nicht an die Theorie gebunden ist, die Husserl zum ersten Mal in den Ideen von ihr gegeben und im transzendentalidealistischen Sinne weiterentwickelt hatte“ (Plessner 200b, 2). Die von ihm selbst in den Stufen erprobte Anverwandlung der Phänomenologie als Methode, nicht als erkenntnistheoretisches Fundamentalprogramm, begreift Plessner als Beitrag, die sich bei Husserl durchhaltende „verhängnisvolle Beschränkung auf den Gesichtskreis des Ichs“ (ebd., 22) zu überwinden. Vor allem die Ausführungen in Kapitel II.A.. der vorliegenden Arbeit haben indes nachgezeichnet, dass Plessner seine Behauptung, lebendige Dinge seien im Unterschied zu unbelebten durch die von ihnen selbst vollzogene Realisierung ihrer Grenze bestimmbar, explizit als eine Hypothese behandelt37. In der alltäglichen (lebendigen) Anschauung erscheint der Doppelaspekt als das strukturierende Merkmal aller Dinge; im Fall der lebendigen Dinge scheint es eine „g e g e n s t ä n d l i c h a l s E i g e n s c h a f t a u f w e i s b a r e G r e n z e “ (Plessner 97, 02) zu geben, „w e l c h e z u g l e i c h A n s a t z z o n e d e r a b s o l u t e n R i c h t u n g s d i v e rg e n z i s t “ (ebd.). Von Anfang an ist die für Plessners Philosophie des Organischen prägende Frage konstruiert als Frage nach der Art und Weise, in der ein Etwas einem zunächst unausgeführt bleibenden, beobachtend tätigen Akteur erscheint. Wenn man nun (mit Husserl) durch den Ausdruck „natürliche Einstellung“ eine solche Einstellung bezeichnet, die aus der Art, in der Anschauungsgehalte gegeben sind, unkritisch auf die räumlichen und zeitlichen Bestimmungen von Seiendem in der Welt schließt, dann kann man in der Tat davon sprechen, dass Plessner eine solche Einstellung „einklammert“, dass er sie außer Kraft setzt38. Doch Plessner geht es keineswegs darum, Husserls „Neutralisierung gegen Existenzurteile“ (Krüger 200, 907) zu wiederholen. Die Pointe des verschachtelten Grundaufbaus der Stufen des Organischen liegt vielmehr darin, dass Plessner die strukturelle Bedingung, die es einem Ding ermöglicht, als „grenzrealisierend“ zu erscheinen, auf Seiten dieses Dings selbst herauspräpariert. Diesen Zusammenhang hält Plessner mit seinem Konzept 37

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Im folgenden Zitat ist darum das unauffällige Adverb „erscheinungsmäßig“ besonders zu beachten. Siehe Plessner 97, 00: „Infolgedessen darf man den Satz, dass lebendige Körper erscheinungsmäßig eine prinzipiell divergente Außen-Innenbeziehung als gegenständliche Bestimmtheit aufweisen, die Form geben: lebendige Körper haben eine erscheinende, anschauliche Grenze.“ Man könnte also sagen: Plessner nimmt durchaus weiterhin den Anspruch ernst, eine Epoché durchzuführen. Er behandelt die angeschauten Gehalte keineswegs als natürlich vorfindliche Entitäten, sondern als Phänomene für ein Bewusstsein (besser: für eine beobachtende Intentionalität), die nun auf die Bedingungen der Möglichkeit ihres Sinns und ihrer Seinsgeltung hin zu untersuchen sind. Im Unterschied zu Husserl muss für diesen Rückschluss aber nicht schon das transzendentale Ichbewusstsein evoziert werden.

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der Positionalität fest39. Man muss daran erinnern, dass Plessner die phänomenologische Unterscheidung zwischen dem faktischen Sein und der anschaulichen Gegebenheitsweise von „Dingen“ deshalb so genau einhält, weil er durch sie zu der prägnanten Differenz zwischen der Organisationsform und der Positionalitätsform lebendiger Dinge gelangt0. In Anbetracht der genannten phänomenologischen Grundlinie von Plessners Philosophie des Organischen haben wir einen tiefgreifenden Unterschied gegenüber Canguilhem vor uns. Canguilhem versucht zwar durch seine Trennung zwischen der (physiologisch messbaren) Normalität und der (subjektiv werthaften) Normativität des Organischen das Argument abzusichern, dass lebendiges Verhalten in seiner Originalität nur zu verstehen ist, wenn man es auf einer vorgängigen „Ebene des Erfahrens und nicht des Wissens“ (Balzaretti 200c, 6; Hervorhebung i.O., T. E.) sucht. Leben bedeutet bei Canguilhem die Setzung eines „Sinns“ (Canguilhem 2009d, 279), d.h. einer „Einschätzung von Werten im Zusammenhang mit einem Bedürfnis“ (ebd.). Doch Canguilhem fehlen die Mittel, um die Voraussetzungen zu klären, unter denen ein Lebewesen überhaupt eine solche „appréciation“ seiner eigenen Vitalität, seiner Gesundheit oder Krankheit, vollziehen kann. Um sich „bewerten“, um seine eigene Position im Leben als normal oder pathologisch erfahren zu können, muss ein Lebewesen, wie Plessner schreibt, „von ihm abgehoben und zu ihm in Beziehung gebracht, strenger gesagt: (…) außerhalb und innerhalb seiner“ (Plessner 97, 29) sein. An diese Dimension, die bei Plessner eben nicht in die Organisationsform auflösbar ist, sondern allererst ein Verhalten zu ihr möglich macht, appelliert Canguilhem fortwährend. Diesem Appell zufolge besteht die Normativität des Lebendigen in der „Fähigkeit, von den gegebenen Normen abzuweichen und neue zu schaffen“ (Muhle 2008, 9): In einem Spielraum also, einer Distanz oder Differenz, die das Lebendige sich selbst gegenüber besitzt. Doch letztlich hat Canguilhem keine Begründung vorzuweisen, die zeigen könnte, dass dem Lebendigen diese („Sinn“ bzw. „Wert“ konstituierende) Differenz in und zu sich ontologisch unanfechtbar attestiert werden muss. Was Canguilhem bloß postuliert, wird bei Plessner deduziert. Zu behaup39

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Und mehr noch: Die Fähigkeit des Beobachter-Akteurs, lebendige Dinge als grenzrealisierende Dinge betrachten zu können, wird selbst wiederum als eine Leistung expliziert, die sich einer bestimmten Stufe von Positionalität, nämlich der exzentrischen Positionalität des Menschen, verdankt. Die Nicht-Koinzidenz von Positionalitätsform und Organisationsform – die Notwendigkeit, auf der Scheidung dieser beiden Dimensionen zu bestehen – erweist sich als der entscheidende Dreh von Plessners Lebensbegriff. Obwohl nämlich Plessner seinen phänomenologischen Befund (die Grenzhypothese) zu einer Formulierung der mutmaßlichen Eigenkonstitution des Lebendigen (Positionalität) ausweitet, bewegt sich seine Argumentation dennoch auf Distanz zu biologischen Bestimmungen. Denn das Konzept der Positionalität bringt nicht etwa eine handfest im Aufbau des Organismus liegende definitive Grundstruktur alles Lebendigen zum Ausdruck. Der Begriff steht vielmehr für die Möglichkeit eines Lebewesens, sich selbst zu perspektivieren, d.h. sich auf sein eigenes Verhalten gegenüber der Umwelt zu beziehen: Es gibt hier das Moment eines phänomenalen Überschusses, einer Ermöglichung im transzendentalen Sinne. Plessner erschließt das Lebendige unter der Frage, wie Korrelationen zwischen Positionalitätsform und Organisationsform im Vollzug hergestellt werden. Auf der Stufe der exzentrischen Positionalität zeigt sich dann zuletzt, dass eine Blickstellung auf das Leben, eine Perspektivierung des Lebens statt findet, die sich an keine bestimmte organische Gestalt mehr heftet. Mir scheint „Wertschätzung“ hier gegenüber „Einschätzung“ die passendere Übersetzung von „appréciation“ zu sein.

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ten, dass ein Organismus seiner Relation zur Umwelt den Charakter einer „dynamischen Polarität“ verleiht, genügt nicht. Was fehlt, ist der Nachweis, dass die Bauform, die ein Organismus doch wohl notwendigerweise aufweisen muss, um sich wertend verhalten zu können, diesem Organismus auch wirklich zukommt. Da er ohne Unterscheidung zwischen Positionalität und Organisation verfährt, übersetzt Canguilhem seinen phänomenologisch erarbeiteten Befund – ein Organismus erscheint der Anschauung als Totalität, als unhintergehbares Zentrum seiner selbst – letztlich in die „natürliche Einstellung“ zurück. Zum Beleg seines Arguments von der Normativität des Lebendigen zieht Canguilhem biologische Funktionen heran, die er geradewegs als „vitale Tatsachen“ (Canguilhem 2009e, 28)2 deklariert. Demnach sind es bestimmte am Gegenstand der Biologie, d.h. am Lebendigen selbst auftretende Sachverhalte, gewisse „vom Leben ausgeprägte Formen“ (Schmidgen 2008, LVIIIf.), die jeweils in concreto die Wirklichkeit der Normen bezeugen. Canguilhem ist in der Frage der Genese wissenschaftlicher Begriffe mitnichten Konstruktivist, sondern vielmehr Realist3. Legt man nun den von Plessner in den Stufen vorgeschlagenen Ausgangspunkt zu Grunde, so ist dieser Realismus jedoch keineswegs ein Gewinn, sondern eine massive Hypothek für Canguilhem Ansatz. Die von Plessner genau beachtete Trennung zwischen der Positionalitätsund der Organisationsform des Lebendigen stellte ja vor allem folgendes klar: Weder können wir aus der uns anschaulich präsenten Erscheinungsweise des Lebendigen (Doppelaspekt/Grenze) bzw. dem Verhältnis-zu-sich, das wir dem Lebendigen auf Grundlage dieser seiner Erscheinungsweise zusprechen (Positionalität), auf naturwissenschaftlich feststellbare Sachverhalte schließen, noch bieten die Naturwissenschaften Erklärungen für die Originalität der Erscheinungsweise. Beide Problemlagen verweisen aufeinander, aber keine löst sich in der anderen auf. Canguilhem hingegen zögert nicht, seinen Befund von der Normativität des Lebendigen, den er in Das Normale und das Pathologische im stillschweigenden Rückgang auf eine phänomenologische Dimension formuliert, ganz im Sinne eines materialen Apriori zu interpretieren. Dieser Schritt ruft Canguilhems Frage nach den „drei Ebenen der Objektformation“ (Rheinberger 200c, 229), die für die Historische Epistemologie konstitutiv sind, in 2 3





Dazu auch Muhle 2008, 8–89 (Kapitel „Die Originalität des Lebendigen als „fait vital“); Lecourt 97, 63. Beispielsweise versteht Canguilhem den Begriff der Regulation als eine Sammelbezeichnung, die „fast die Gesamtheit der Vorgänge des Lebewesens“ zur Sprache bringt: „Morphogenese, Regeneration der beschädigten Teile, Aufrechterhaltung des dynamischen Gleichgewichts, Anpassung an die Lebensbedingungen in der Umwelt“. Siehe Canguilhem 989, zitiert nach Morange 200, 260f. Diese Stelle verdeutlicht sehr gut, dass Canguilhem eine unmittelbare Wirklichkeit lebendiger Normen unterstellt, die er nicht phänomenologisch untersucht, sondern frontal als wirklich postuliert. Siehe Canguilhem 99b, 362: „Définir la vie comme un sens inscrit dans la matière, c’est admettre l’existence d’un a priori objectif, d’un a priori proprement matériel et non plus seulement formel.“ [Hervorhebungen i.O., T. E.] Siehe Canguilhem 979b, 29f.: „Der Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte hat mit dem Gegenstand der Wissenschaft nichts gemeinsam. Der wissenschaftliche Gegenstand, der vom methodischen Diskurs konstituiert wird, ist sekundär – wenn auch kein Derivat – gegenüber dem natürlichen, dem anfänglichen Gegenstand, den man darum auch als Vorwand, als Prä-text, bezeichnen könnte. Die Wissenschaftsgeschichte hat es mit diesen sekundären, nicht natürlichen, kulturellen Gegenständen zu tun, leitet sich aber von

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Erinnerung. Spielt man Canguilhems Begriff des Lebens weiterhin unter den Prämissen von Plessners Naturphilosophie durch, so kann man die betreffende Passage wie folgt betrachten: Zwar greift Canguilhems Einwand gegen Bachelard, wonach die Wissenschaften vom Leben, anders als Physik und Chemie, sehr wohl einen „natürlichen, (…) anfänglichen Gegenstand“ antreffen. Der inhärenten Geschichtlichkeit der lebendigen Phänomene, die zur lebenswissenschaftlichen Rationalität in Spannung steht, ist, wie Canguilhem richtig erkennt, eigens Rechnung zu tragen. Doch Canguilhems Position hat ihr Defizit darin, dass sie die Eigendynamik des Lebendigen schlicht als ein „vitales Faktum“ postuliert, das der Forschungspraxis auf unbestimmte Art vorgeordnet ist und diese unterbricht. Es gelingt Canguilhem nicht, die Konstitution lebendiger Dinge zu denken – wobei, wie bereits argumentiert, Konstitution bei Plessner ein Doppeltes heißt: Zum einen der Eigenaufbau, durch den sich ein Ding selbst konstituiert, zum anderen diejenige subjektive Blickrichtung auf das Ding, die es konstituiert, also in einer intentionalen Relation thematisiert. Was Canguilhem fehlt, ist eine Verständigung über die Dinghaftigkeit von Dingen, über die Einheit des biologischen Objekts6. Bei Plessner aber existieren dieses Problem und die ihm angemessene Lösung, und zwar im Zusammenhang mit seiner phänomenologischen, genauer: quasi-transzendentalen Methode, die den Verschränkungen zwischen den Erkenntnisbedingungen für und den Seinsbedingungen von Dinge(n) nachgeht. Während Plessner in seiner Wende zum Dingpol immer auch den „Beitrag des verstehenden Ich“ (Beaufort 2000, 9)7 aufscheinen lässt, wodurch er jeden ontologischen Realismus unterminiert, setzt Canguilhem im Gegenteil alles daran, die Bestimmung lebendiger Gegenstände von jeglicher noetisch-noematischen Tönung zu befreien. Dieser anti-phänomenologische Zug bei Canguilhem schlägt sich in der Aus-

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ihnen ebenso wenig her wie diese von den natürlichen Gegenständen. Der Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte ist in der Tat die Geschichtlichkeit des wissenschaftlichen Diskurses, sofern sich darin ein Vorhaben ausdrückt, das von innen normiert, dabei jedoch von Zwischenfällen durchkreuzt, von Hindernissen verzögert oder abgelehnt und von Krisen, d.h. von Entscheidungs- oder Wahrheitsmomenten, unterbrochen wird. (…) Der Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte ist also nicht ein bereits gegebener Gegenstand, sondern einer, für den die Unabgeschlossenheit wesentlich ist.“ Jean-Gaël Barbara hat das Fehlen einer einheitlichen Fassung dessen, was ein „biologisches Objekt“ in der Konzeption Canguilhems sein könnte, hervorgehoben, aber nicht als einen Mangel verstanden. Barbara merkt an, dass „en dernière analyse, l’objet biologique est issu de la récapitulation des moyens instrumentaux propres à corréler des couples de mesures. Il est autant un résultat scientifique unitaire, qu’un ensemble de faits d’expérience formulable en langage mathématique, selon le souhait de Canguilhem, en vue d’interroger sa totalité, son fonctionnement et les fonctions internes de ses mécanismes“ (Barbara 2008, 36). Ebensowenig wie Canguilhem selbst diskutiert Barbara die paradoxe Argumentation, zu der Canguilhem, wie vorhin mit Plessner argumentiert wurde, Zuflucht nimmt: Nämlich den Eigenanteil der lebendigen Objekte im Forschungsvollzug schon als „real“ zu setzen, ohne diese „vitale Faktizität“ weiter auf ihre transzendentalen Bedingungen hin zu untersuchen. Aber Plessner bleibt, wie anfangs betont, nicht bei einer Theorie der phänomenologischen Realitätskonstitution stehen. Die Raffinesse seiner Analyse ist es gerade, „dass sich (…) die Bestimmung der Konstitution aller konstituierenden Subjekte erst im Laufe der Erkundung der konstituierten Objekts zu ergeben hat – also auch die Bestimmung des Subjekts, das letztlich die Realität als Realität konstituieren wird. Auf diesem Weg lassen sich dann Stufen der Subjektkonstitution bzw. der Positionalität unterscheiden – eine originär Plessnersche Idee.“ (Beaufort 2000, 203; Hervorhebungen i.O., T. E.).

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zeichnung von „faits vitales“ nieder, die nicht mehr an die Frage gekoppelt sind, welche Bedingungen es auf Seiten eines betrachtenden Subjekts überhaupt erlauben, der Vitalität dieser „faits“ gewahr zu werden. Auf diese Weise postuliert Canguilhem eine nicht weiter transzendental einholbare Realität der lebendigen Normen: Sein Argument ist das einer irreduziblen Vorfindlichkeit biologischer Normen, die sich in den faktischen Gegebenheiten eines Organismus (seinen Zellen, seinen Organen, den physiologischen Prozessen, die sein Überleben sichern etc.) direkt bekunden. So aber entwickelt Canguilhem – von Plessner her gedacht – letztlich nichts anderes als einen normativen Naturalismus, der das, was sich nur in einer phänomenologischen Analyse über das Erscheinungsbild des Lebendigen ausmachen lässt, geradezu als biologisches Faktum deklariert. Zunächst ist es also der eigenartig latente Einsatz von Phänomenologie, der Canguilhems Lebensbegriff in Plessners Augen desavouieren muss. Wie sich zeigt, geht das von Canguilhem in Das Normale und das Pathologische begonnene und in La connaissance de la vie vertiefte doppelte Spiel nicht auf. Dieses Spiel besteht darin, die epistemologische Analyse rationaler Diskurse zu kontrastieren mit der phänomenologischen These über das Leben als eine Wertschätzung, die aus der Binnenperspektive des Subjekts erfolgt. Bei Canguilhem ist das Leben radikal subjektive Wertung und zugleich Gegenstand historischen Wissens. Doch diese Überblendung gegensätzlicher Perspektiven, die in der Literatur gerade als Zeichen der philosophischen Originalität Canguilhems identifiziert wird (z.B. Worms 2009, 362), scheitert an einem Dilemma, das sie von innen her heimsucht. Zum einen eignet sich Canguilhem – um den eben geschilderten Kritikpunkt zu resümieren – die Erschließungskraft phänomenologischer Methoden nicht gründlich genug an. Er zieht sich zurück auf das Urteil, die Normativität des Lebendigen sei der durch sich selbst evidente Grund von dessen Wirklichkeit. Dieser normative Grund des Lebens wird bei Canguilhem keinerlei transzendentalen Reflexion mehr ausgesetzt. Er wird nicht als Erscheinung verstanden, deren ontologischer Status fraglich bleibt und offen zu lassen ist. Vielmehr wird die Norm als etwas Vorgängiges veranschlagt, als ein „fait vital“, das den Subjekten allein im Modus individuellen Erlebens zugänglich ist. Zum anderen ist aber auch die spezifische Art und Weise, wie Canguilhem die Phänomenologie schließlich doch einsetzt, inkohärent. Nicht genug damit, dass er sie bloß unterschwellig inszeniert, anstatt sie methodisch zur Deskription seines Gegenstands einzuführen. Problematisch ist vor allem Canguilhems Sprung von der These eines Bruchs zwischen naturwissenschaftlicher Messung und phänomenologischer Wesensschau zu einer Bestimmung des Organismus’ als in sich zentrierter Ganzheit. Das phänomenologische Motiv einer Schau von unmittelbar Evidentem wird von Canguilhem in den Dienst der Idee gestellt, dass das Lebendige die Fähigkeit der Selbsterfahrung (besser: Selbstbewertung) besitzt. Die Pointe dieser Idee liegt ihrerseits in der Verschiebung der Selbstbewertung auf die Dimension des Unbewussten: Das Pathologische markiert nicht nur einen Zustand, der das Lebendige auf die Erfahrung seiner Gesundheit als Wert zurückwirft, sondern auch eine Schwelle, an der es die Erfahrung macht, von einer Macht überschritten zu werden, die durch es hindurchgeht8. Diese im Individuum das Individuum begrenzende Macht tritt bei Canguilhem als „Leben“ [la vie] auf. Anders: Canguilhem illustriert durch das phänomenologische Anschauungs- und Erfahrungsmotiv die 8

Siehe Macherey 2009c.

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Ekstasen eines biologischen Subjekts, das in ein-und demselben Zug seine Bemächtigung und seine Verohnmächtigung durch das Leben zu spüren bekommt. So sehr Canguilhem Husserls Gedanken einer Fundierung der unmittelbaren Anschauung im transzendentalen cogito zurückweist, so sehr verdreht er das husserlsche Moment der Anschauung bloß in ein anderes Extrem, nämlich in die Figur eines lebendigen Bewussteins, das sich gerade in der Erfahrung seiner Begrenztheit als irreduzible Totalität, als Zentrum seiner selbst, erfasst. Bei seinem Versuch, die Phänomenologie vor ihren cartesianischen Konsequenzen zu bewahren, verstrickt sich Canguilhem im Ausgang vom Motiv der Evidenz nur desto tiefer in das Paradigma des selbstreferenziellen Subjekts9. Das phänomenologische Rahmenwerk, das Canguilhem – aber auch dies nur diskret und indirekt, keineswegs systematisch strikt – seinem Ansatz verleiht, erstarrt zu einem Holismus des Organischen, zu einer ekstatischen Beschreibung des Lebenden als „irreduzible[m] und von daher absolute[n] Bezugssystem“ (Canguilhem 2009d, 279). Seine von Goldstein inspirierte Organismuskonzeption ist nicht die angestrebte Alternative für, sondern der Widergänger von Husserls Immanenztheorie des Bewussteins0. Die Vorstellung des lebendigen Bewusstseins als ein „absolutes Referenzzentrum“ (Canguilhem 2009b, 73) zehrt noch unfreiwillig von Husserls Paradigma der „Bewusstseinseinheit (…), die rein durch das Eigene der cogitationes gefordert und so notwendig gefordert ist, dass sie ohne diese Einheit nicht sein können“ (Husserl 976, 7). Es ist indes nicht ohne Hintergedanken passiert, wenn zu Anfang dieses Unterkapitels der Blick auf einige Theoreme Canguilhems fiel, die mit Plessner als gerechtfertigt und sinnvoll zu honorieren sind. Denn nach den letzten Erläuterungen tut sich ein differenzierteres Bild der Kritik vor uns auf, die Plessner an Canguilhem üben könnte: Bleibt man in diesem Bild, dann verraten Canguilhems Beschreibungen ein phänomenologisch 9

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Siehe Rajan 2002,6: „Not only must the pathological phenomenon be understood in its absolute singularity; this singularity itself can only be grasped within a larger system, an organic „totality“ characterized by a poetics of „auto-construction, auto-conservation [and] auto-reparation“ that makes organisms hospitable to the anomalies that arise in „life“, in a way that mechanical systems (such as structuralism) never will be. This organicism is the basis for Canguilhem’s phenomenology, which in turn is the condition for his critique of discourse. As „totality“ with its own integrity, the sick organism manifests a new kind of being.“ [Hervorhebung T. E.] Canguilhems Schwanken hinsichtlich der Phänomenologie ist im Übrigen emblematisch für eine allgemeinere Tendenz in der französischen histoire des sciences, an Husserl anzuschließen, dabei aber seine Prämissen zu revidieren. Wie David Hyder festgestellt hat, lehnt Canguilhem (mit Foucault, vor allem aber mit Cavaillès und Léon Brunschvicg) Husserls Versuch ab, in der Krisis-Schrift eine historische Apriorität des transzendentalen Bewussteins zu denken, denn dieses „rules out the possibility that changes in norms be provoked by unexpected inputs on the side of the objects themselves“ (Hyder 2003, 27). Jedoch hält sich das Erbe Husserls bei den epistemologischen Denkern in Frankreich zugleich durch, soweit es darum geht, den „Sedimentcharakter“ wissenschaftlicher Rationalitäten, ihre Verhaftetheit in historischen Ensembles und konkreten Praktiken, aufzudecken. Während aber Husserls historisches Apriori ein Residuum konkreter intentionaler Vollzüge ist, dessen Ursprünge in der Funktionsweise des cogito von Husserl explizit betont werden, steht das historische Apriori bei Foucault und Cavaillès für diskursive Schemata, die umgekehrt die historischen Subjektivitätstypen jeweils erst ermöglichen. In dieser Lage teilt Canguilhem mit Foucault und Cavaillès das Anliegen „to drop the idea that meaning consists in hidden intentional acts“ (ebd., 3).

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subtiles Gespür für die Besonderheit der Erscheinungsweise von Lebendigem. Plessner selbst knüpft ja in den Stufen vor allem an das Problem an, wonach die Gestalt des Lebendigen über sich hinaus weist, und zwar auf die Beschaffenheit, in sich gesetzt und von sich selbst distanziert zu sein (Positionalität): Eine Beschaffenheit, die fortan als konstitutiv für jedes lebendige Ding schlechthin zu unterstellen ist. So wird am Erscheinungsbild ablesbar, dass es eine Eigentümlichkeit des Lebendigen ist, „mehr“ zu sein als das, was erscheint. Dieser Entzugsstruktur, die immer schon eine Überschreitung impliziert, nähert sich Canguilhems Rede von einer biologischen Normativität an. Hätte Plessner also Canguilhem gelesen und kritisiert, so wäre seine Polemik wohl am ehesten von einer doppelten Geste geprägt. Auf der einen Seite könnte Plessner Canguilhem nämlich zu Gute halten, relevante Verhaltensmomente des Lebendigen phänomenologisch klar herausgestellt zu haben. Auf der anderen Seite aber könnte er gegen Canguilhem einwenden, dass dieser seine phänomenologischen Entdeckungen selbst nicht als solche durchschaut, sondern auf fatale Weise ontologisiert: Indem er nämlich die Normen des Lebens als biologische Sachverhalte ausweist. Gut möglich also, dass Plessner Canguilhem als einen Autor gesehen hätte, der zu phänomenologisch luziden Beschreibungen lebendigen Verhaltens gelangt ist, ohne die philosophischen Voraussetzungen, auf die sie sich gründen, zu kennen. Folgt man dieser Argumentation, so ist von Plessner zu erwarten, dass er der von Canguilhem implizit aufgewiesenen, aber – so Plessner – missverstandenen Originalität des Lebens eine andere Terminologie verschafft. Plessner müsste zeigen, dass jene Eigenheit des Lebens, die Canguilhem durch den Begriff der Normativität zu unterstreichen versucht und als Grundlage des Verständnisses von Leben überhaupt ansetzt, begrifflich anders gefasst werden muss, als Canguilhem dies getan hat. Es muss Plessners Anspruch sein, einen Lebensbegriff zu entfalten, der denjenigen Canguilhems in sich aufnehmen kann: Erst so würde deutlich, inwiefern das, was Canguilhem Normativität nennt, bei Plessner zwar ein wohl umgrenztes Niveau des Lebendigen erhellen kann, den springenden Punkt jedoch – nämlich die Explikation menschlichen Lebens – verfehlt. In diesem Interesse kann man sagen, dass Canguilhems Wendung von der biologischen Normativität (lediglich) paraphrasiert, was Plessner in den Stufen als „Lebenskreis“ bezeichnet. Tatsächlich ist gerade dieser Term besonders interessant, denn er stellt eine Art Miniatur dar, in der sich die grundlegende Bewegung des Denkens, mit deren Hilfe Plessner seine kritische Umarbeitung des Lebensbegriffs erreicht, prägnant abbildet. Was Plessners Schilderung des „Lebenskreises“ nämlich noch einmal aufnimmt, ist folgende Annahme: Zum einen ist die Grenze ein Außenverlauf, der dem Lebendigen konstitutiv zugehört, insofern sich dieses gerade durch die aktive Realisierung seiner nach Außen hin offenen Seite verkörpern kann. Zum anderen aber, und gleichzeitig, ist die Grenze als eine Bruchstelle zu verstehen, an der sich ein externer Bereich eröffnet, der eben 

Das Wort „Verkörperung“ ist hier mit Bedacht gewählt, denn es ist hilfreich, noch einmal die Differenz in Erinnerung zu rufen, die Plessner gegenüber einer materialistischen Auslegung der Grenze einfordert. Plessner arbeitet intensiv den Unterschied zwischen der materiellen Umrandung eines Dings und dessen phänomenaler Grenze heraus. Insofern gibt der Begriff der Verkörperung zu verstehen, dass Lebewesen keineswegs Körper im Sinne der neuzeitlichen Physik und Mechanik, d.h. res extensa, sind, sondern ein synthetisches Verhältnis zu ihrer Körperlichkeit eingehen. Lebewesen verhalten sich zu ihren Körpern, d.h. sie „haben“ einen Körper nur in dem Maße, in dem sie ihn

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keine Komponente des Lebendigen mehr ist, sondern eine irreduzible Äußerlichkeit, in die das Lebendige gleichwohl hineingezogen, hineinverwickelt wird. Diese Figur einer radikalen Ambivalenz tauchte bereits mehrmals auf: Für Plessner bedeutet Leben immer eine vom lebendigen „Ding“ unternommene aktive Leistung bzw. Setzung und zugleich die Berührung mit einer antagonistischen Größe, die sich nicht internalisieren lässt. In seinen Ausführungen zum „Lebenskreis“ spezifiziert Plessner genau dieses strukturell folgenreiche Motiv des Doppelaspekts, um das Verhältnis zwischen dem Organismus (im Ganzen) und dessen Einzelorganen zu interpretieren. Die betreffende Argumentation ist komplex und bedarf hier keiner minutiösen Nachzeichnung2. Einschlägig für die Kritik an Canguilhem, die sich aus Plessners Lebenskreistheorem extrapolieren lässt, ist jener Strang der Überlegung, auf dem Plessner eine „Abhebung des Lebens vom Lebendigen“ (Plessner 97, 90) einführt. Diese Abhebung wird dringlich, weil es – so Plessner – einen doppelten Status der Organe gibt: Diese sind nämlich nicht nur Mittel zum Zweck der Selbstbezüglichkeit des Gesamtorganismus, sondern „sie öffnen den Organismus, ketten ihn an das Medium und nehmen (…) ihm (…) und damit natürlich auch sich selbst die Selbstmacht eigenen Lebens. Sie machen das Ganze zum Mittel des Lebens, zum Zwischenglied eines Kreises, der nun in Wahrheit sich allein genügt“ (Plessner 97, 9). So wie die Grenze den durch sie umgrenzten Körper nicht allein abschottet, sondern ihn ebenso durchlässig macht, transformieren die Organe den Organismus, dem sie als Mittel zum Zweck dienen, ihrerseits in ein Mittel. Durch die Organe partizipiert der Organismus an einem Geschehen, „d a s ü b e r i h m h i n a u s l i e g t “ (ebd., 9). Mit seiner Differenzierung des Lebendigen gegenüber dem Leben hält Plessner also konsequent die eben skizzierte Logik ein, wonach Einheit (der Dinge, des Organismus, des Menschen) nur möglich ist um den Preis einer irreduziblen Spaltung, die diese Einheit mit dem kollidieren lässt, was von ihr ausgeschlossen bleiben muss: „Dem physischen Organismus wird es möglich, ein Mittel seiner selbst zu sein, ohne damit die Selbstgenugsamkeit seiner inneren Teleologie preiszugeben, wenn er, das Lebendige, Mittel

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gestalten. Das Lebendige fällt also nicht mit seinem Körper zusammen. Diese phänomenologische Differenzierung darf man bei der Reproduktion von Plessners Argumenten nicht unterbieten. Dazu auch Mitscherlich 2007, 33–39. Die von Plessner intendierte Pointe liegt zweifellos darin, nun auch auf der Ebene des Organischen auszuarbeiten und nachzuweisen, was sich anfangs schon anhand des Doppelaspekts in der Dinganschauung gezeigt hatte: Es geht um den definitiven Abschied von einer Metaphysik, in der Erscheinungen als Repräsentationen einer mit sich identischen Substanz gedacht werden. Gegen diese Metaphysik einer radikalen Immanenz der Akzidentien in der Substanz stärkt Plessner den Gedanken eines Eigenlebens der Aspekte, d.h. der Medien. Dies wird klar auf den Punkt gebracht von Haucke 2000, 87: „Die Organe erweisen sich bei ihm [Plessner, T. E.] in einem gleichwertigen Sinne als wesenhaft doppeldeutig: Sie sind zum einen Verkörperungen der vitalen Mitte, wirkliche Möglichkeiten und insofern „Mittel“ oder „Dienende“; sie sind zum anderen in ihrer sinnhaften Bindung an Aspekte des Umfeldes ebenso Verkörperungen dessen, was der Körper nicht ist und nicht zu umschließen vermag. Die Organe sind Ausdruck einer sich selbst darstellenden substanziellen Mitte des lebendigen Körpers, aber nicht minder Ausdruck des Positionsfeldes, so wie die Flosse eines Fisches in ihrer Bewegung auf die lebendige Körpereinheit verweist, von der sie ausgeht, und zugleich auf die Beschaffenheit des Wassers weist. Ohne doch selbst ein flüssiges Element zu sein, ist die fließende Flossenbewegung auf das Wasser abgestimmt.“

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zum Leben ist, d.h. d i e U n t e r s c h e i d u n g z w i s c h e n i h m , d e m L e b e n d i g e n , u n d d e m L e b e n a n i h m s e l b s t p h y s i s c h d u r c h f ü h r t . […] Als Ganzer ist der Organismus daher nur die Hälfte seines Lebens. Er ist das absolut Bedürftige geworden, das nach Ergänzung verlangt, ohne die er zugrunde geht. Als Selbstständiger ist er eingeschaltet in den Lebenskreis einer Gesamtfunktion zwischen ihm und dem Medium, die das Leben selbst durch ihn hindurchleitet.“ (Ebd., 90 bzw. 9)

In Plessners Darlegung des Lebenskreises findet man das exakte Pendant für die Figur des Pathologischen, die Canguilhem in Das Normale und das Pathologische einkreist und um die sich sein Begriff des Lebens insgesamt rankt. Denn wenn sich, Canguilhem zufolge, die Normativität des Lebenden erst im Angesicht eines pathologischen Moments kristallisiert, wenn also die Normen letztlich der intensive Einsatz eines Lebewesens gegen seinen drohenden Tod sind3, so werden hier in der Frage der Originalität des Lebens zwei komplementäre, zugleich jedoch einander ausstreichende Züge sichtbar: Die Normen des Organischen sind ebenso „normes de centration“ (Le Blanc 2002, 37) wie „procédures de l’individuation de la vie“ (ebd.). Das Lebendige ist in sich zentriert, doch diese Zentrierung koinzidiert immer schon mit Herausforderungen und Umbrüchen, die dem Lebendige „von Außen“, vom Milieu her, „zustoßen“. Mit den Worten Plessners: „Autarkie des Lebenskreises, Autonomie des Organismus“ (Plessner 97, 93). Worin liegt der polemische Kern dieser Montage von Canguilhems Konzept der biologischen Normativität mit Plessners Beschreibung des Lebenskreises? Legt dieses Verfahren nicht eher einen Wettbewerb um die angebrachte begriffliche Lösung der Sache nahe als einen 3





In dem von ihm verfassten Eintrag zum Begriff „Vie“ der Encyclopaedia Universalis von 973 stärkt Canguilhem sogar noch die Idee, dass die Schätzung des Lebens als Wert aus der Antizipation und der Abwehr des Todes entspringt. Die von Canguilhem gewählten Zitate von P. Valéry und J. L. Borges etablieren diesen Bezug auf den Tod als Rahmenthema des Artikels. Auffallend ist hier einmal mehr Canguilhems Inanspruchnahme der Perspektive menschlicher Lebewesen zu Gunsten einer globalen Definition von „Leben“. Siehe Canguilhem 973, 26 bzw. 32. Canguilhems Hauptthese soll an diesem Punkt noch einmal illustriert werden. Siehe Canguilhem 97, 82: „Wir meinen, dass es die Medizin als Kunst des Lebens deswegen gibt, weil der lebendige Mensch selber bestimmte Zustände oder Verhaltensweisen, die er der dynamischen Polarität des Lebens entsprechend als negativen Wert fürchtet, als pathologisch und das heißt als zu vermeidende oder zu behebende qualifiziert. In dieser Einstellung zeigt sich nach unserer Meinung, dass der Mensch eine dem Leben eigene spontane Anstrengung all dessen, was seine als Normen begriffene Erhaltung und Entwicklung behindert, mehr oder weniger bewußt weiterführt. […] [W]enn ein Lebewesen auf eine Verletzung, auf Befall durch Parasiten oder auf eine Funktionsstörung mit Krankheit reagiert, so zeugt dies nur von dem grundsätzlicheren Tatbestand, dass das Leben den Bedingungen gegenüber, unter denen es möglich ist, nicht indifferent bleibt, dass es vielmehr eine Polarität und damit eine unbewusste Wertsetzung enthält, mit anderen Worten, dass das Leben letztlich eine normative Aktivität ist.“ Auch diese Feinbestimmung eines Gegensatzes von Autonomie des Lebendigen und Autarkie des Lebens trägt Plessners Idee Rechnung, dass der lebendige Organismus sehr wohl eine selbstbezügliche, in sich geschlossene Einheit ist. Plessner suggeriert also keineswegs die Auflösung des Individuums in die anonyme Macht des Lebens. Das Leben ist nicht das gründende Ganze, das den Organismus umgreift, aber damit auch seiner Eigenständigkeit berauben würde. Ausschlaggebend ist vielmehr, dass die Grenze, die der Organismus realisiert und dank der er zur diskreten Einheit wird, auch der Gegenseite, d.h. dem Positionsfeld, Irreduzibilität verleiht.

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Dissens in der Sache selbst? Mir scheint, Plessner müsste einer solchen Lektüre aus mehreren Gründen und in mehreren Schritten widersprechen. Schon die erste Reserve weist den Weg, den eine Kritik von Plessner an Canguilhem hätte nehmen können: Was bei Canguilhem in der Tat fehlt, ist „eine genaue Differenzierung zwischen der von ihm so bezeichneten immanenten ‚organischen‘ oder ‚biologischen Normativität‘ und der durch das Individuum gesetzten Normativität sowie die damit verbundene Vorstellung des Anpassungs- und Veränderungsvermögens“ (Lanzerath 2000, 2; Hervorhebungen i.O., T. E.)6. Die Wurzel von Canguilhems Reflexionen über das Leben ist die Identifizierung des Lebens als Wert. Strikter gesagt: Das Leben wird von Canguilhem als Gegenstand einer Wertung bestimmt. Dort, wo unter „Leben“ nicht ein bewertetes Geschehen verstanden wird – ein Zustand, dem eine Wertung eingezeichnet ist –, kann nach Canguilhem von „Leben“ gar nicht die Rede sein. Doch diese Präokkupation mit der Idee des Lebens als Wert, genauer: als Be-Wertung, ist blind für ihre eigene Vorbedingung: Wenn Leben als Normativität und Normativität als Setzung von Werten gedacht wird, so bedeutet dies, eine Relation zu denken, und damit zugleich ein x als Bezugspunkt dieser Relation. Dieses Verständnis von x als etwas, dem Wert beigemessen wird, impliziert jedoch eine Bestimmung von x „außerhalb“ der Bewertung. Die Formel vom Leben als Wertsetzung hat nicht nur über den bewertenden, sie hat zudem über den bewerteten Part Auskunft zu geben: Über ein für „Leben“ konstitutives Element also, das, eben weil es be-wertet wird, gerade nicht eo ipso werthaft ist und folglich unter einer schlechthin anderen Kategorie als der des Werts erschlossen werden muss. Kann ein Ansatz, wie ihn Canguilhem vertritt, nicht zeigen, „was“ im Leben überhaupt mit Werten versehen wird, so hat er „dem Vorwurf eines naturalistischen Fehlschlusses“ (Lanzerath 2000, 2) nichts entgegen zu setzen7. 6

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Lanzeraths Text ist für eine Konfrontierung zwischen Canguilhem und Plessner von besonderem Interesse. Lanzerath fächert ein Panorama phänomenologischer Krankheits-bzw. Gesundheitsauffassungen auf, die in der modernen Medizin und Therapeutik kursieren. Sein Ansatz ist, vermittelt durch L. Honnefelder, merklich von den Philosophischen Anthropologien Schelers und vor allem Plessners geprägt. Jedoch nimmt in diesem Vorhaben auch Canguilhem einen fundamentalen Platz ein, da Lanzerath die konkreten klinischen Bestimmungen von „Gesundheit“ thematisiert. So angelegt, fließen in Lanzeraths Auseinandersetzung mit Canguilhem Fragestellungen ein, die durch Plessners Form einer Philosophischen Anthropologie informiert sind. Allerdings verraten Lanzeraths kritische „Fragen an [den] Ansatz“ (ebd., 2) Canguilhems nur unterschwellig ihre Inspiration durch Plessner. Eine direkte Zusammenführung der Positionen von Canguilhem und Plessner, die thematisch nahe gelegen hätte, bleibt aus. Im Übrigen ist es bedauerlich, dass Lanzerath Plessners Paradigma zwar rekonstruiert und seinem eigenen Vorhaben anverwandelt, nicht aber evaluiert: Die kritische Distanz – die Lanzerath Canguilhem gegenüber an den Tag legt – kommt Lanzerath im Umgang mit Plessner abhanden. Zu Honnefelders Anschluss an die philosophische Anthropologie siehe Honnefelder 99. Man kann diesen Einwand gegen Canguilhem etwa wie folgt plastisch ausdrücken: Canguilhem verliert aus den Augen, dass von einer Krankheit des Organismus, von einer Pathologie, zwingend nur dann gesprochen werden kann, wenn eine „tatsächliche“ Schädigung vorliegt, die beispielsweise physiologisch am Körper nachweisbar ist. Canguilhem kehrt die Prioritäten zwischen Klinik und medizinischem Wissen, zwischen affektiver Krankheitserfahrung und positivistischer Krankheitserfassung, zugunsten der wertenden Perspektive des sich krank fühlenden Subjekts um. Doch diese Argumentation stößt an eine Grenze, die man nicht zuletzt am Phänomen der Hypochondrie klar machen kann: Wenn der Hypochonder als (zweifellos: menschliches) Lebewesen zu verstehen ist,

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Nun liegen die Dinge keineswegs so, dass die soeben abstrakt formulierte Unterscheidung den von Canguilhem in Das Normale und das Pathologische entwickelten konkreten Analysen schlicht fehlen würde. Sie wohnt ihnen vielmehr inne, sie „arbeitet“ in ihnen, ohne aber – und das ist philosophisch fatal – als das Gerüst eingesehen zu werden, das zur Konstruktion eines tragfähigen Lebensbegriffs unentbehrlich ist. Kurz gesagt: Obwohl seine Ausführungen auf genau dieser Unterscheidung basieren, gelingt es Canguilhem nicht, die Dimensionen des Körpers und des Leibs auseinander zu halten, geschweige denn, was entscheidend ist, ihr Einspielen aufeinander im Vollzug von „Leben“ verständlich zu machen. Die Problematik eines Lebewesens, das „sich selbst“ als werthaft erfahren kann, das sich selbst „gegenüber“ ist, hat eine Voraussetzung, die sich mit Canguilhems Kategorien überhaupt nicht aufdecken lässt. Canguilhems „idée d’un vivant (…) comme possédant la nature particulière d’un sujet“ (Pénisson 2008, 2)8 setzt eine spezifische Positionalität voraus, eine Bauform, die es diesem „vivant“ überhaupt ermöglicht, nicht nur ein Körper zu sein, sondern diesen seinen Körper zugleich als Leib zu haben. Daher bewegt sich Canguilhems Konzeption der biologischen Normativität nicht bloß in der Logik des „Lebenskreises“ (Plessner), sondern auf einem präzise einzugrenzenden positionalen Niveau, auf dem die Eingliederung in den Lebenskreis so geschieht, dass das betreffende Lebewesen in der Spannung von Leibsein und Körperhaben steht. Plessner schreibt: „So ergibt sich die Lösung des oben gestellten Problems seiner [des Lebendigen, T. E.] mittelbaren Eingliederung in den Lebenskreis: das Lebewesen grenzt mit seinem Körper an das Medium, hat eine Realität ‚im‘ Körper, ‚hinter‘ dem Körper gewonnen und kommt deshalb nicht mehr mit dem Medium in direkten Kontakt. Infolgedessen ist der Organismus auf ein höheres Seinsniveau gelangt, das mit dem vom eigenen Körper eingenommenen nicht in gleicher Ebene liegt. Er ist die über die einheitliche Repräsentation der Glieder vermittelte Einheit des Körpers,

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das sich krank fühlt, ohne krank zu sein, so zeigt sein Fall, dass die Normen des lebendigen Subjekts unbegründet sein, dass sie gewissermaßen „in der Luft hängen“ können. Und noch ein weiteres Beispiel ist denkbar – nämlich das des sich gesund fühlenden Individuums, dem verborgen bleibt, dass es von einer organischen Schädigung betroffen, also (womöglich ernsthaft) körperlich erkrankt ist. Sowohl das Problem der Hypochondrie als auch das der unbemerkt verlaufenden Krankheit – etwa bei Krebserkrankungen – verdeutlichen, dass ein Urteil darüber, ob ein Lebewesen „krank“ ist oder nicht, keineswegs allein vom Kriterium der subjektiven Norm, oder, wie Plessner sagen könnte: von der Leiblichkeit des betroffenen Lebewesens, abhängig gemacht werden kann. Vielmehr entscheidet sich diese Frage daran, ob unabhängig von der subjektiven Wertung ein körperlicher Defekt vorliegt. Wie es scheint, müsste Canguilhem die Frage der Hypochondrie so lösen, dass der Hypochonder, insofern er seinen Zustand als pathologisch erlebt, auch „wirklich“ krank ist. So betrachtet, bestünde die Krankheit des Hypochonders in der Unfähigkeit, „begründete“ von „unbegründeten“ pathologischen Selbstzuschreibungen zu unterscheiden. Dann aber wäre noch immer eine angemessene Trennung einzuräumen zwischen dem Leiden an einer „fixen Idee“ (der Idee, krank zu sein) und dem Leiden an einem Tumor, einer Lungenembolie, einem Knochenbruch, einer Grippe etc. Dass Canguilhem diese zur minimalen Eingrenzung seines Themas wichtige Trennung nicht selbst anspricht, belegt einmal mehr das strukturelle Problem seiner Argumentation: Er ist, was die biologische Normativität betrifft, fasziniert von der bewertenden Instanz. Was er im Dunkeln lässt, ist die Sphäre, die bewertet wird. Canguilhem ist, anders gesagt, fasziniert vom Leib und nachlässig gegenüber der Rolle des Körpers. Siehe ähnlich auch Braunstein 2007, 86; Badiou 200, 39ff.; LeBlanc 2002, 3–39; Lecourt 993, 26ff.

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welcher eben dadurch von der zentralen Repräsentation abhängt. Sein Körper ist sein Leib geworden, jene konkrete Mitte, dadurch das Lebenssubjekt mit dem U m f e l d zusammenhängt.“ (Plessner 97, 230f.)

Die „Verklammertheit von subjektiv-objektiven Momenten“ (Fischer 2008a, 70), die „Umweltintentionalität“ (ebd.), an die Canguilhems Figur der biologischen Normativität implizit rührt, lässt sich mithin noch genauer aufschlüsseln. Abspielen kann sie sich erst auf dem Niveau der zentrischen Positionalität. Biologische Normativität als eine „marge de tolérance“ (Pénisson 2008, ) gegenüber dem Umfeld ist nur für ein solches Lebewesen charakteristisch, das seinen eigenen Körper als Medium einsetzen kann, und zwar deshalb, weil es eine Rückbezüglichkeit auf „sich“, auf eine „raumhafte Mitte“ (Plessner 97, 237) aufweist. Canguilhem gibt an keinem Punkt Rechenschaft darüber, dass seine Bestimmung des Lebendigen – als Zentrierung9, als „Subjekthaftigkeit der geschlossenen Form“ (Plessner 97, 232) – einer sehr spezifischen Differenzierungsebene des Organischen entspricht, und zwar dem Level der zentrischen Positionalität, auf dem sich die Differenz zwischen Leibsein und Körperhaben ausbildet. Weil Canguilhem die exakt angebbare Struktur, die „biologische Normativität“ in dem von ihm gemeinten Sinne überhaupt ermöglicht, nicht erfasst, überschätzt und universalisiert er die Leiblichkeit des Lebendigen umso mehr. Solange nicht gezeigt wird, dass (und wie) die Fähigkeit eines Lebewesens, „sich“ krank oder gesund zu fühlen, allein einem solchen Lebewesen zugeschrieben werden kann, das seinen Körper als Leib hat, solange erstarrt die These von der biologischen Normativität zu einem abstrakten Postulat. Soll heißen: Canguilhem kann mit seinem Konzept von Normativität zwar die Auffassung in den Raum stellen, dass für Lebendiges die Zentrierung in sich, d.h. Leiblichkeit, prägend ist. Er bleibt jedoch den Nachweis schuldig, dass es sich bei normativem Verhalten um Verhalten handelt, das körperlichen Wesen zukommt, oder besser: Wesen, die nicht „ganz und gar“ Leib sind, sondern ihren Körper als Leib haben. Beinahe erscheint diese Lektüre, der Canguilhems Ansatz von Plessner her ausgesetzt werden kann, paradox – denn schließlich operiert Canguilhem nicht einmal, etwa im Unterschied zu Merleau-Ponty, mit einem systematischen Konzept von Leiblichkeit. Doch diese terminologische Auffälligkeit festigt nur die Diagnose, die hier, dabei Plessners Standpunkt einnehmend, bereits formuliert wurde: Canguilhem ist eben ein impliziter Phänomenologe, der damit hadert (bzw. daran scheitert), aus dem von ihm 9

Für Canguilhem ist die Zentrierung des Lebendigen in sich in der Tat das alles entscheidende Kriterium. Es ist allerdings aufschlussreich, dass von diesem definitiven Merkmal in Das Normale und das Pathologische noch nicht offen, sondern eher indirekt die Rede ist. In der Tat dehnt Canguilhem sein Verständnis von biologischen Normativität hier noch auf sämtliche Lebewesen, also etwa auch auf Einzeller aus (Canguilhem 97, 33). Es geht hier in der Tat um die Exposition der elementarsten Merkmal von Leben, also um ein Argument vom Typ der „Allgemeinen Biologie“. Auf der Grundlage der Zentrierungs-Terminologie, die Canguilhem von Uexküll entlehnt, erscheint es aber zweifelhaft, ob auch Einzeller über eine von ihnen geformte Umwelt verfügen. Die Minimalbedingung scheint immerhin ein nervliches Rezeptorensystem zu sein, das die Korrelation von „Merkund Wirkwelt“ (Uexküll) garantiert. Diese Modifikation der Beschreibungen, die Canguilhem den lebendigen Phänomenen widmet, lässt immerhin vermuten, dass es sein Argument einer biologischen Normativität mit den organischen „Realitäten“, also den konkreten Strukturbedingungen, die einen Organismus kennzeichnen, nicht sehr genau nimmt.

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selbst beanspruchten Verfahren die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen und die dringlichen kritischen Unterscheidungen einzuführen. Im Kern behauptete die bislang hier vorgeschlagene Kritik Plessners an Canguilhem, dieser müsse, um das Phänomen der biologischen Normativität überhaupt erklären zu können, den Unterschied zwischen der Organisationsform und der Positionalitätsform des Lebendigen herausheben. Canguilhem wurde bislang als Phänomenologe wider Willen präsentiert, der zwar durchaus – wie vor ihm Cavaillès und ähnlich wie Foucault – auf Husserl rekurriert, jedoch so, dass Husserl nicht als Initiator einer Philosophie des transzendentalen Bewusstseins, wohl aber als Epistemologe wissenschaftlicher Konzepte lesbar wird60. Ironischerweise kann Canguilhem jedoch in seiner Wende zur Epistemologie der Biologie und der Medizin diese Absage an eine Philosophie des Subjekts und des Bewusstseins nicht durchhalten. Im Gegenteil: Sein Versuch – nun im Gegenzug zu Cavaillès, Bachelard und Foucault, aber mit Goldstein und Bergson –, die Originalität des Lebens quasi-phänomenologisch durch die Spontaneität der „expérience“ zu fassen, schlägt um in eine sich laufend selbst dementierende Phänomenologie, die letztlich die kritische Trennung zwischen Erscheinung (für das Bewusstein) und natürlichem Sein aus dem Blick verliert und hinter sie zurückfällt. Weil er weder die Differenz zwischen Organisation und Positionalität noch das daran gebundene Wechselspiel von Körper und Leib berücksichtigt, redet Canguilhem einem normativen Naturalismus das Wort, der selbst einer permanenten phänomenologischen Kritik anheim fallen muss. Doch es gibt etwas noch Wichtigeres. Denn letztlich ist für Plessner philosophisch gerade das nicht zu akzeptieren, was die Pointe in Canguilhems epistemologischen Rekonstruktionen ausmacht – nämlich die Idee des Lebens als Immanenz, einer Immanenz, die auch die Position des Menschen ausdrücklich umschließt. Vor diesem Hintergrund interessiert sich Canguilhem für das Problem der Technik mitnichten, um daran eine anthropologische Differenz aufzuweisen, sondern um die Technik gegenüber der wissenschaftlichen Erkenntnis zu autonomisieren und dann umgekehrt, in einem weiteren Schritt, die Priorität der Technik vor der Wissenschaft freizulegen. Die Medizin (wie auch die Biologie) dient Canguilhem als bevorzugtes Beispiel für diese Verschiebung: Man muss begreifen, dass die Medizin keineswegs eine wissenschaftliche Angelegenheit ist. Sie ist eine „Kunst des Lebens“, eine prekäre Technik, ein existenzieller Einsatz von Werten, die immer brüchig, weil vom Milieu her gefährdet sind. Canguilhems Texte setzen, über die unterschiedlichen Werkphasen hinweg, alles daran, den Menschen als Lebewesen zu entziffern, und zwar „indem man die menschliche Geschichte ins Leben einschreibt“ (Canguilhem 2009c, 29). Für die Fragestellung dieser Untersuchung ist es von besonderem Gewicht, dass Canguilhems Auffassung bereits 93 von dem Ricœur-Schüler Mikel Dufrenne im Namen einer phänomenologischen Anthropologie in Frage gestellt worden ist6. Dufrenne konstatiert bei Canguilhem eine Überblendung zweier Bedeutungen von Leben: Die Bedeutung von Leben als Inbegriff der biologisch-somatischen Normen, denen alle Lebewesen einschließlich des Menschen unterliegen, verschwimmt mit der Bedeutung von Leben als 60 6

Dazu Hyder 2003 und Lawlor 200. Siehe Dufrenne 93. Es handelt sich um eine Buchbesprechung von La connaissance de la vie für die Revue de Métaphysique et de Morale.

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Horizont für irreduzibel subjektive Abweichungen von den Körpernormen. Canguilhem betreibe die Gleichschaltung von „la vie qui me porte et ce qui je suis en vivant, la vie vivante et la vie vécue“ (Dufrenne 93, 86). Gegen dieses Bild der Immanenz führt Dufrenne, vermittelt durch Ricœur, letztlich Schelers Opposition zwischen Leben und Geist ins Feld: „La vie vécue est le fait d’une subjectivité qui ne se réduit pas à l’être d’un vivant, elle est autre chose que du vital. En fait, la vie n’est pas l’être de l’homme, elle est pour l’homme un problème; il n’est pas donné par elle, elle est donnée pour lui. (…) Comme dit très bien M. Ricœur, c’est seulement de l’extérieur, à partir de la mort, que l’être-en-vie apparaît comme ‚une situation globale‘, et ‚rassemblé en une valeur globale‘.“ (Ebd.)62

Das Leben kann nur für ein solches Wesen zum Problem werden, das nicht voll und ganz in der immanenten Ordnung des Lebens aufgeht, sondern gleicherweise an einer anderen Ordnung Teil hat. Wenn, wie Canguilhem argumentiert, das Leben nur in Antizipation des Todes als Wert durchsichtig wird – eben dies soll der Primat des Pathologischen bekräftigen –, so ist doch festzuhalten, dass der Ausdruck „Tod“ hier für etwas steht, das, „avant d’ être une réalité, est d’abord une pensée“ (Le Blanc 2002, ). Dufrenne artikuliert damit einen Punkt, mit dem Plessner ohne Weiteres d’accord sein kann. Er fixiert die entscheidende Konsequenz, in die die bislang hier entfaltete Kritik an Canguilhem eintreten muss. Nicht genug damit, dass die Figur der biologischen Normativität auf komplexen Voraussetzungen ruht, die Canguilhem nicht einmal gesehen hat: Um das Werte setzende (normative) Verhalten erklären zu können, das manche Lebewesen (längst nicht alle) auszeichnet, hätte er zum Mindesten die dynamische Differenz zwischen Organisations-und Positionalitätsform ansetzen und schließlich für die Abhebung zwischen Körper und Leib, die er stillschweigend unterstellt, spezifizieren müssen. Doch das wirklich gravierende Defizit von Canguilhems Position ist die totale Einspeisung des Menschen in diese Konzeption des Lebens, die schon intern nicht hinreichend ausgearbeitet ist. Canguilhem perpetuiert ein Denken, das Plessner, folgt man Olivia Mitscherlich, „von innen heraus“ (Mitscherlich 2007, 6), aber mit Nachdruck „unterläuft“ (ebd.): Er verschreibt sich der „Hypostasierung des Lebens als Grundschicht von Wirklichkeit überhaupt“ (ebd.). Fatalerweise pfercht Canguilhem die anthropologischen Phänomene auf dem Niveau der zentrischen Positionalität ein. Ihm entgeht die finale Volte, die das gesamte Problem transformiert. So gesehen, kann Dufrennes Abrechnung mit Canguilhems Immanentismus auch Plessner in den Mund gelegt werden: „le vitalisme pense la vie comme irréductible, il ne peut aller au-delà“ (Dufrenne 93, 87). Dennoch würde Plessners systematische Replik anders ausfallen als die Lösung, mit der Dufrenne in seiner Rezension experimentiert63. Anstatt eine Auffächerung in drei distinkte axiologische 62 63

Die von Dufrenne zitierten Passagen sind Ricœur 90 entnommen. Dufrennes Augenmerk heftet sich zunächst auf Canguilhems sich selbst sprengende Bestimmung des Lebens als Wert. Canguilhem habe nicht bedacht, dass es neben der Ordnung des Lebens andere Ordnungen von Werten gebe, dass also die biologischen Werte Momente in einer „hiérarchie“ (Dufrenne 93, 86) seien, „qu’elles ne peuvent elles-mêmes constituer“ (ebd.). Exemplarische Fälle sind der Märtyrer oder das religiöse Opfer. In diesen Beispielen geht es um die Demonstration eines Werts, der nicht dem Bedürfnis entspringt, die dem Leben innewohnenden Kraftreserven zu steigern. Ganz im Gegenteil bestehen die Opferung und das Martyrium gerade in der symbolischen Überbietung, also Negation des Werts, den das Leben als Ganzes besitzt (dazu LeBlanc 2002, 8).

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Sphären des Menschen6 vorzunehmen, die bei Dufrenne und Ricœur letztlich durch eine fragwürdige universale Eidetik integriert werden, durchdenkt Plessner die eine „der menschlichen Existenz entsprechende Erfahrungsstellung, welche ‚Natur‘ und ‚Geist‘ umspannt“ (Plessner 97, 2). Doch Plessners Perspektivierung des Menschen als Lebewesen darf gerade nicht solchermaßen missverstanden werden, als ob er gegen den cartesianischen Dualismus von Natur und Geist eine dritte Substanz – „das Leben“ – eröffnen wolle, die sich nun ihrerseits als synthetisches Ganzes des Dualismus und als veritable Einheit menschlichen Wesens ausgeben ließe. Dies mag die Option Canguilhems sein. In Plessners Ansatz schält sich hingegen, in letzter Konsequenz, aus der Betrachtung des Menschen als Lebewesen ein endgültiger Umschlagspunkt heraus, eine Kippfigur, aus der eine unschlichtbare Heterogenität hervorbricht6. Denn letztlich muss die Formel vom Menschen als Lebewesen auf die zwei nicht ineinander überführbaren, zwei einander permanent entsichernden Bedeutungen hin gelesen werden, die sich in ihr treffen: Der Mensch vollzieht sein Leben stets nur in einem hybriden Modus, nämlich so, dass seine beiden Wirklichkeiten – seine Naturhaftigkeit und seine Geschichtlichkeit – in seinen Vollzügen zum Tragen kommen. Auch menschliches Leben ist eine „Konkretion“ (Grünewald 993, 27; Hervorhebung i.O.) jener Strukturierung, die alles Organische prägt. Doch hier handelt es sich um eine Konkretion von Leben, die sich, bildlich gesprochen, aus dem immanenten Terrain des Lebens gleichsam heraus schraubt66. In der Lebensführung klaffen natürliches Sein und

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Diese Beobachtung spitzt Dufrenne zu in die strukturelle Kritik, Canguilhem habe letztlich eine (unter mehreren möglichen) „génétique“ (Dufrenne 93, 87), nicht aber die notwendige „eidétique“ (ebd.) anthropologisch konstitutiver Werte ausgestellt. Seinen eigenen Vitalismus begreife Canguilhem als eine Schlichtung des Dualismus von res extensa und res cogitans: Sowohl die maschinelle Mechanik der Natur als auch die Verhaltensformen des Menschen, einschließlich des Denkens, würden als Funktionen lebendiger Wesen gefasst. Gegen diesen Monismus des Lebens optiert Dufrenne für einen „triplisme“ (ebd.) von Materie, Leben und Denken – eine Hierarchie dreier diskreter Ordnungen, die gleichwohl in einem dialektischen Durchdringungszusammenhang vermittelt sind. Siehe ebd.: „Certes, l’homme est un, et il n’est qu’en vivant. Matière, vie et conscience ne peuvent être trois substances ; si l’unité procède d’une forme substantielle, il faut que le supérieur informe l’inférieur, mais, pourtant, sans que l’inférieur soit aboli dans cette structuration. Et c’est pourquoi l’homme est toujours en procès avec lui-même comme avec le monde, et justiciable d’approches diverses.“ [Hervorhebungen i.O., T. E.] Siehe Anmerkung 7. Olivia Mitscherlichs treffende Formulierung, um die alles entscheidende Bruchstelle in Plessners Konzeption darzulegen, lautet, dass „Plessner am Lebensparadigma zu dessen Brechung durchfragt“ (Mitscherlich 2007, 6). Plessners Figur der Herausverwandlung des Menschen aus dem Organischen wird klargestellt von Grünewald 993, 27: „Die Crux einer jeden Theorie der konkreten Subjektivität beruht ja darauf, dass da ein in der Natur vorkommendes Wesen unter Prinzipien stehen soll, die nicht Prinzipien der Natur sind.“ [Hervorhebungen i.O., T. E.] Siehe ganz ähnlich auch Fischer 2000, 277: „Was die gnoseologische Tradition als Erkenntnisverhältnis von „intentio recta“ und „intentio obliqua“ thematisiert, verschränkt Plessner als Lebensverhältnis: Exzentrische Positionalität ist die zu durchlebende Verschränkung von dem „gerade Gerichtetsein“ mit dem „schrägen Gerichtetsein“.

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kulturell-symbolische Setzungen auseinander, oder besser: Diese beiden Sphären klaffen auseinander, zugleich aber laufen sie aufeinander hinaus und erfordern einander als Gegenstücke, so sehr sich auch wechselseitig entzogen bleiben. Wenn es Plessner mithin um den „Menschen als personale Lebenseinheit“ (Plessner 97, 32) geht, die es „aus e i n e r Grundposition“ (ebd.) heraus zu erläutern gilt, und wenn er eine „Idee des ganzen Menschen“ (Mitscherlich 2007, 8) avisiert, so wird mit dieser Beschreibung gerade kein univokes Wesen des Menschen heraufbeschworen. Einheit hat bei Plessner vielmehr den präzisen Sinn von „Verschränkung“ – als Austragen und Ausleben einer unentscheidbaren Widersprüchlichkeit, die im Vollzug des Auslebens nicht erlischt, sondern persistiert67. Es ist unumgänglich, diesen Schachzug (heraus aus einer immanenten Konzeption von Leben und hin zur exzentrischen Positionalität des Menschen) bei Plessner nochmals in seiner ganzen Drastik zu sehen. Denn jetzt lässt sich, ganz im Rahmen der polemischen Regie, die unseren Autorenvergleich bestimmt, festhalten: Canguilhem ist die spezifische Hybridität, die das Problem des Lebens in der Perspektive des Menschen annimmt, vollends entgangen. Seine Analysen verfehlen den in sich doppelten, natürlich-künstlichen Charakter personalen Verhaltens. Die Beschreibung, die Canguilhem von den Phänomenen menschlichen Lebens gibt, ist verzerrt, weil sie die „strukturell neuartige[n] Korrelationen“ (Fischer 2000, 278) ignoriert, die in der exzentrischen Positionalität hervortreten. In den Stufen zeigt Plessner unmissverständlich, dass Personen – und um dieses Niveau geht es der exzentrischen Positionalität – weder aus dem Zentrum ihres Organismus heraus noch unter dem Primat ihres Leibs agieren68. In der komplexen Verfasstheit von Personen kommt es zu einer Umstülpung der Dimensionen von Innen und Außen,

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Exzentrische Positionalität ist also eine Kennzeichnung des Menschen als konkrete Subjektivität: als ein in der Natur vorkommendes Wesen, das unter Prinzipien steht, die nicht in der Natur vorkommen (Geist), dabei mit diesen Prinzipien im Verhältnis zur Natur (Körper, Seele) steht.“ [Hervorhebung i.O., T. E.] Die Herausforderung, die von Plessners Rekurs auf die „personale Lebenseinheit“ ausgeht, liegt also darin, dass Einheit hier nicht etwa den Sinn einer Aussöhnung von Widersprüchen hat. Die Akzentuierung der einen Grundkonstitution des Menschen ist keineswegs mit der Neutralisierung des Dualismus zu verwechseln. Plessners exzentrische Positionalität konnotiert keinen mit sich identischen, widerspruchsfreien Wesenskern des Menschen, der den Bruch zwischen Natur und Kultur entschärft. Vielmehr drückt sich in Plessners Verständnis von Einheit eher so etwas aus wie die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem – der Zwang, sich hier und jetzt, gleichsam auf einen Schlag, zu verhalten, und zwar ohne sich der unüberwindbaren Paradoxie, die für menschliche Lebewesen konstitutiv ist, entziehen zu können. Hinter dem Motiv der „Einheit des Menschen“ nistet sich bei Plessner keine ideale Bestimmung ein, keine Identität von Identität und Differenz. Eher muss man sagen, dass menschliches Verhalten schlechthin die Struktur einer Integration von auseinander strebenden Gegenseiten, einer Verzeitlichung von Ungleichzeitigem, einer Verräumlichung von Heterotopien hat. Kurzum, mit dem Problem der Einheit ist das Faktum gemeint, dass ein menschliches Lebewesen hier und jetzt und auf einen Schlag, allein indem es lebt, etwas begrenzt und auf ein Maß bringt, was gleichwohl „ein[en] „wirkliche[n] Bruch seiner Natur“ (Plessner 97, 292) ausmacht. Dazu Kuśmierz 2002. Die hierfür entscheidende und oft zitierte Stelle bei Plessner 97, 293 lautet: „Positional liegt ein Dreifaches vor: das Lebendige ist Körper, im Körper (als Innenleben oder Seele) und außer dem Körper als Blickpunkt, von dem aus es beides ist. Ein Individuum, welches positional derart dreifach charakterisiert ist, heißt P e r s o n . Es ist das Subjekt seines Erlebens, seiner Wahrnehmungen und seiner Aktionen, seiner Initiative. Es weiß und es will. Seine Existenz ist wahrhaft auf Nichts gestellt.“

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zu einer Drehung, welche die Koordinaten, die in der zentrischen Positionalität gelten, geradezu entwurzelt. Denn nicht allein „das von Dingen erfüllte Umfeld“ (Plessner 97, 293), d.h. die „Außenwelt“ (ebd.), erscheint personalen Wesen in einer irreduziblen Äußerlichkeit, gleichsam als „diese Eine Leere“ (ebd., 29) – auch die eigene Innensphäre stellt sich als „eigene Wirklichkeit, in sich stehendes Sein“ (ebd., 293) vor. „Die Welt im Leib, das, was das Lebewesen selbst ist“ (ebd., 29), zeichnet sich durch eine sonderbare Externalität aus. Diese „Innenwelt“ (ebd.) konstituiert sich für Personen nämlich nicht nur spontan vom leiblichen Selbst her, sondern gleichzeitig so, dass diese „Selbststellung“ (ebd., 296ff.) ihrerseits gegenständlich wird. Das intentionale Zentrum allen Erlebens schlägt unter den Augen der Person in etwas Abgerücktes um, etwas Externes, das sich seinerseits durch Nichts integrieren lässt69. Nur dank der spezifischen Selbstsichtbarkeit in der exzentrischen Positionalität ist es möglich, „Seele“ und „Erlebnis“ als innerweltliche Modalitäten auszumachen und zu voneinander abzuheben (ebd., 296). Diese Neuformatierung der Sphären von Innen und Außen, die im Übergang von der zentrischen zur exzentrischen Positionalität und damit zur Verfasstheit von Personen geschieht, bringt uns zu einem der stärksten Kritikpunkte, die Plessner gegen Canguilhem einwenden kann. Canguilhem ist der Illusion erlegen, als ob Personen – entsprechend der Struktur zentrischer Positionalität – ihre Umwelt spontan und unmittelbar normieren würden70. Damit vertritt er eine Theorie biologischer Subjektivität, d.h. einen Typ Theorie, zu der Plessner in einigen Schriften der 90er und 60er Jahre, vor allem am Beispiel von Uexkülls, ein ausgeprägt kritisches Verhältnis pflegt. Mit Uexküll und Goldstein teilt Canguilhem die Auffassung von der Umwelt als eine Art Eigentum des organischen Subjekts, als Milieu im prägnanten Sinne7. In seiner Auseinandersetzung mit dieser Position kehrt Plessner nun – und das gibt den Ausschlag – das eben erläuterte Argument der Umstülpung hervor: Personen stellen die Relation zu ihrer Umwelt gerade nicht spontan aus einer zentrifugalen Bewegung heraus her, sondern „nur auf dem offenen Hintergrund einer 69

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Und zwar deshalb, weil Personen keine Metaperspektive zur Verfügung steht, kein hyperbolisches Innen, das sich zuguterletzt selbst als die Quelle der Subjekt-Objekt-Differenz erweisen würde. Anders als Fichte denkt Plessner die Reflexivität der Subjekt-Objekt-Relation nicht als Tätigkeit eines sich selbst setzenden Meta-Ich. Wird die Differenz von Ich und Nicht-Ich als ein im Bewusstsein gesetzter Gegensatz verstanden, büßt die Differenz freilich ihre Absolutheit ein, weil sie sich in die Einheit auflöst, die sie vermeintlich überwölbt. Wie für Fichte ist auch bei Plessner die Subjekt-Objekt-Trennung Datum für ein Bewusstsein. Doch weicht Plessner von Fichte darin ab, dass er das Bewusstsein nicht als Produzent dieses Datums identifiziert. Es geht ihm um die Verschränkung, nicht um die synthetisierende Überschreitung der reflexiv vorliegenden Trennung. Zu Plessner und Fichte siehe Beaufort 2000. Siehe vor allem Canguilhem 2009d, 26–266 oder 278f. Siehe hierzu Plessners Rekonstruktion in Plessner 2003b, 63f.: „Uexkülls Begriff der Umwelt ist das methodische Mittel, um der Biologie eine von anthropomorphen Maßstäben, also auch Entwicklungsvorurteilen, freie Analyse der verschiedenen Planordnungen tierischen Verhaltens zu schaffen. […] Jeder Organismus hat diejenige Komplikation, die er verdient und die ihm zukommt. Er ist mit seiner Unwelt verwachsen und mit ihr in eben solchem labilen Gleichgewicht, wie er es für sein ihm passendes Risiko braucht. Für Libellen gibt es Libellendinge, für Ameisen Ameisendinge, für Menschen Menschendinge, Freunde und Feinde, Lockungen und Gefahren. Die Merk-und Wirkwelt des Menschen ist genauso eine Monade um ein lebendiges Zentrum, mit ihren spezifischen Anschauungsformen, Kategorien und sonstigen Aprioritäten.“

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nicht mehr in vitalen Bezügen aufgehenden Welt“ (Plessner 2003b, 86). Gegenüber der korrelativen Kopplung von Seiendem und Setzung des Seienden, von Körper und Leib, eröffnet sich Personen in der exzentrischen Positionalität noch eine dritte Dimension. Diese dritte Dimension, die Welt bedeutet, bildet jedoch keine „Wirklichkeit sui generis“ (Krüger 2006b, 7). Durch sie wird eine gegenüber der zentrischen Positionalität spezifisch andersartige Verhaltensstruktur ermöglicht: Sie bedingt ein Verhalten, das sich nur im Bruch zwischen Leibsein und Körperhaben konstituieren kann. Gegen Canguilhems biologische Subjektivität hält Plessner daher die These, „dass beim Menschen Umweltgebundenheit und Weltoffenheit kollidieren und nur im Verhältnis einer nicht zum Ausgleich zu bringenden gegenseitigen Verschränkung gelten, eine[r] Möglichkeit, die durch seine zugleich tierische und nichttierische ‚Natur‘ nahegelegt ist“ (Plessner 2003a, 80f.). Das Selbstverhältnis von Personen ist weitaus komplizierter, als es Canguilhems Ansatz von der Immanenz des Menschen im Organischen zulässt. Einer von Plessner inspirierten Canguilhem-Lektüre muss es darauf ankommen, den subtilen, aber grundsätzlichen Unterschied durchzuhalten, der zwischen einer Bestimmung des Menschen als Lebewesen und einer Fassung des Menschen als Lebewesen liegt. Denn die Lebendigkeit des Menschen, wie Plessner sie beschreibt, erschließt sich nur durch eine perspektivische Umkehrung, durch einen Dreh, der bei Canguilhem nicht vorkommt. Für personales Verhalten ist nämlich durchaus der Zug einer „Rezentrierung der Verhaltensbildung auf den Körperleib zurück“ (Krüger 2006b, 73) konstitutiv. Die sich in der exzentrischen Positionalität öffnenden Überschüsse an Optionen (aber auch an Fragen und reflexiven Selbstentsicherungen) müssen so austariert werden, dass sie für ein Lebewesen, das in und mit der Körper-Leib-Differenz lebt, noch tragbar sind. Menschliche Lebewesen rhythmisieren und habitualisieren jenes „Zuviel“, das in exzentrischer Positionalität über sie hereinbricht, zu flüssigen, spontan funktionierenden Verhaltensweisen. Die Philosophische Anthropologie trägt folglich dem Umstand Rechnung, wonach der Mensch die exzentrische Transgression, die ihn strukturell auszeichnet, so einrichtet und in Grenzen hält, dass er mit ihr am Leben bleiben kann72. Man muss jedoch den scharf veränderten Akzent erkennen, den Plessner damit für die Charakteristik des Menschen als Lebewesen setzt: Wohl ist auch der Mensch an die leibhafte Umweltintentionalität gebunden, von der Plessner zeigt, dass sie auf der Stufe der zentrischen Positionalität ausgebildet wird. Doch erfährt der Mensch, und zwar buchstäblich am eigenen Leib, seinen Bezug auf die Umwelt als eine Relation, an der schon immer eine andere Struktur arbeitet – eine andere 72

Interessanterweise gestattet diese von Plessner beschriebene Verklammerung von „Deterritorialisierung und Reterritorialisierung“ (Deleuze), von Zentrifugalkraft und Zentripetalkraft, verschieden nuancierte Folgerungen. Während Krüger hervorhebt, dass sich „Personalität […] minimaler Weise in einer Köper-Leib-Differenz positionieren können muss“ (Krüger 2006b, 7; Hervorhebung i.O., T. E.), dass also Personalität bei Plessner stets als „positionierte Personalität“ (ebd., Hervorhebung i.O., T. E.) gefasst werde, favorisiert Volker Schürmann die Figur einer „positionierten Exzentrizität“ (Schürmann 2006, 83–02, vor allem 89). Demnach habe Plessner nicht nur auf das naturphilosophisch von ihm selbst ausgewiesene „materiale Maß“ (ebd., 89) der Exzentrizität abheben, sondern mit diesem Theorem eine historisch-politische Positionierung formulieren wollen. Exzentrizität sei demnach ihrerseits eine bestimmte Anerkennung menschlichen Seins, mithin „machtvoll“ (ebd., 90) und das Produkt einer „Zuschreibepraxis“ (ebd.) In dieser politisch-geschichtlichen Selbsttransparenz liegt Schürmann zufolge die „logische Seite“ (ebd., 8) dessen, was Krüger (aber auch J. Fischer) als naturphilosophische Rückvermittlung von Exzentrizität mit Positionalität exponiert.

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als die allem lebendigen Geschehen immanente, dem Leben mögliche Struktur, die in der zentrischen Positionalität entfaltet ist73. Diesen hybriden Anstrich menschlicher Phänomene, diese Irrealisierung der Umwelt vor dem offenen Möglichkeitshintergrund an Welt hat Canguilhem massiv verkannt und stattdessen eben jenen „Torso“ (Plessner 2003b, 8) einer „Pseudoumwelt“ (ebd.) vorgeführt, gegen den Plessner seine Darlegung der exzentrischen Positionalität kritisch absetzt. Es kann nun auch nicht mehr verwundern, wenn Plessner bereits 922, in Vitalismus und ärztliches Denken, seinerseits einen Primat der Klinik reflektiert, dessen Fundierung eben nicht auf das Problem des Organischen, sondern auf die Instanz der Person zuläuft. Der Schlüssel zum Verständnis des klinischen Dispositivs liegt, von Plessner her, doch nicht in den spontanen Normen des Leibs, auf die sich Canguilhems Darstellung reduziert. Vielmehr vollzieht sich sowohl auf Seiten des Patienten als auch auf der des Arztes eine interpretatorische Überformung jener leiblichen Intentionalität des Sich-Krank-Fühlens. Dadurch verkompliziert sich die Lage im Vergleich zu der von Canguilhem gelieferten Beschreibung erheblich: Da wäre zum einen das Selbsturteil des Patienten, der (als Person) gegenüber dem, was er selbst leiblich als pathologisch erlebt, noch einmal eine Distanz hat. Der Patient ist keineswegs, wie Canguilhem suggeriert, das naive und passive Medium, durch das hindurch die Eigendynamik des Lebens, von sich selbst abweichen zu können, spürbar wird. Vielmehr artikuliert die Person, die am eigenen Leib die Erfahrung des Pathologischen macht, diese Erfahrung immer schon in einem soziokulturellen Rollenverhalten: Sie integriert die Krankheit in das eingeübte, jedoch ständigen Wandlungen unterworfene Bild, das sie von sich selbst besitzt7. Insofern ist die Pathologieerfahrung, die in der Klinik zur Sprache kommt, unweigerlich überformt und vorinterpretiert durch die soziokulturelle Rolle des Patienten7. Zum anderen wird aber 73

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Siehe Plessner 2003b, 8ff.: „Wenn der Mensch zum Tier wird, und sei es auch nur zum Gewohnheitstier, erscheint ein Torso und keine lebensfähige Vitalität, eine Pseudoumwelt, keine echte. […] Denn beim Menschen setzt sich die Umweltlichkeit des Daseinsrahmens mit seinen Bedeutsamkeiten und Lebensbezügen von einem zumindest latent gegenwärtigen Hintergrund von Welt ab. (…) Das oft zitierte Beispiel von demselben Wald, der für den Bauern Gehölz, für den Holzhändler so und soviel Kubikmeter Nutzholz, für den Jäger Jagdgebiet, für den Förster Forst und Gehege, für den Verfolgten Unterschlupf, für den Dichter Waldesweben, für den Spaziergänger und Bewohner Landschaft, für den Botaniker Mischwald ist, zeigt in dem Aufweis von Umweltrelationen auf Berufe und Haltungen zugleich die Abhebbarkeit, Verknüpfbarkeit und Fundiertheit der wechselnden Aspekte oder Physiognomien. Bauern, Förster, Jäger, Verfolgter, Spaziergänger und Botaniker wissen voneinander und der Situationsbedingtheit ihrer Aspekte, die sie gegebenenfalls sogar in ein und derselben Person vereinigen können. […] Erst innerhalb eines kulturell geprägten Daseinsrahmens findet der Mensch sein Zuhause. (…) Nur auf dem offenen Hintergrund einer nicht mehr in vitalen Bezügen aufgehenden Welt, die den Menschen in unvorhergesehene Lagen bringt und mit der er stets neue und brüchige Kompromisse schließen muß, hält er sich in jenem labilen Gleichgewicht einer stets gefährdeten, selbst wieder schutzbedürftigen Kultur. Ihr sogenannter Umweltcharakter ruht in der relativen Geschlossenheit, die mit jeder Stellungnahme zu Werken, mit jeder Haltung und Formgebung erreicht wird.“ Im Übrigen ist es die Interaktion in der Mitwelt, d.h. die für jedes exzentrische Wesen konstitutive Situation, „sich nur im Umweg über andere und anders als ein Jemand“ (Plessner 2003b, 9, auch 9) zu haben, die über die eventuelle Revision oder Wahrung des Selbstbilds entscheidet. Dieses Argument fließt zusammen mit einer Kritik an Canguilhems Auffassung der Arzt-Patient-Relation. Canguilhem sieht in den Instanzen des Arztes und des Patienten so etwas wie die Zeugen der

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das Urteil des Mediziners darüber, ob tatsächlich eine Pathologie vorliegt oder nicht, eine Distanz und Differenz zu den Selbstauslegungen des Patienten voraussetzen. Der Arzt muss in der Interaktion mit dem Patienten erwägen, dass dessen leibliche Intentionalität bzw. subjektive Norm (Canguilhem) gerade kein verbürgtes Indiz für eine Erkrankung darstellt (wie die schon erwähnten Beispiele der Hypochondrie oder der unbemerkten Krankheit belegen). Dem ärztlichen Blick zeigt sich ein Lebewesen, das eine Inkongruenz zwischen seinen leiblichen und körperlichen Parametern auszugleichen hat und das diesen Ausgleich zwischen irreduziblen Parametern nur „unter Führung derjenigen Verhaltensweisen“ (Plessner 2003b, 96) herstellen kann, „welche das soziale Gefüge der Individuen bilden und tragen, im Sprechen, Handeln und variablen Gesten“ (ebd.) Der Arzt trifft in der Figur des Patienten mithin auf einen Schauspieler und Interpreten seiner selbst: Er trifft auf eine Person. Mag sein, dass die Medizin, nach der Formel Canguilhems, eine „Kunst des Lebens“ ist. Doch von Plessner her ist dieser Formel eine ganz andere Wendung zu geben. Demnach bestünde die „Kunst“ der Medizin nicht, wie Canguilhem suggeriert, darin, auf die vom Leben selbst (durch den Patienten hindurch) diktierten Normen im Interesse des Lebens zu antworten. Sie läge eher in einer Kunst der Unterscheidungen und der Distanzen: In der Fähigkeit des Arztes, zwischen den körperlichen, leiblichen und soziokulturellen Normen zu unterscheiden, die einander in seinem Gegenüber, in der Person des Patienten, kreuzen, die aber für die betroffene Person nicht mehr in die gewünschte Proportion zu setzen sind. Die „Kunst des Lebens“ impliziert eine Sensibilität für die komplexe Struktur von Personen. Was sie erfordert, ist nichts Geringeres als die Fähigkeit, die künstliche Überformung einzusehen, die Personen ihrem Leben, d.h. dem Wechselspiel zwischen Eigenmacht des Lebens: Sie erfahren im Moment der Pathologie ihre eigene radikale Bedingtheit durch die biologischen Normen. In diesem Szenario sind die beteiligten Personen also Statisten, denen die Aufgabe zufällt, die originäre Macht des Lebens, von sich selbst abweichen zu können, zur Sprache zu bringen. In welchen weiteren funktionalen Rollen (z.B. Vater, Angehöriger einer bestimmten Berufsgruppe, Christ etc.) sich eine Person bewegt, die im Kontext der Klinik als „Patient“ auftritt, ist für Canguilhems Überlegungen unerheblich: Vor dem Leben, vor der erschütternden Wucht des Pathologischen, sind alle Menschen gleich. Demgegenüber kann Plessner insistieren, dass die Immersion menschlicher Lebewesen in ihre Leiblichkeit nicht unvermittelt und spontan, sondern im hybriden Modus natürlicher Künstlichkeit bzw. vermittelter Unmittelbarkeit abläuft. Die Erfahrung einer Person, in den (kranken oder gesunden) Leib gleichsam hinein versenkt zu sein, ist gebrochen durch die dieser Erfahrung schon eingeschriebenen Auslegungen, durch den Bezug der Person auf die von ihr habitualisierte soziokulturelle Rolle. So gibt es den Fall von Personen, die bei der klinischen Enthüllung und Darstellung von „Symptomen“ willentlich verzerren, was sich ihnen in der leiblichen Selbsterfahrung eröffnet hat. Beispielsweise kann man an eine Person denken, die das Ausmaß einer Krankheit zwar am eigenen Leib spürt, die aber die ärztliche Diagnose zu manipulieren versucht, weil sie fürchtet, das leibliche Selbsturteil könne sich „objektiv“ erhärten. Oder man kann an eine Person denken, der attestiert worden ist, an einer letalen Krankheit zu leiden, die aber diesen Befund gegenüber ihrem sozialen Umfeld, d.h. der eigenen Familie etc., zurückhält. Wofür diese Beispiele einstehen, ist Folgendes: Die Erfahrung von Krankheit ist gerade nicht „rein vital“. Vielmehr wird aus einem spezifisch soziokulturellen Verhalten heraus perspektiviert. In Extremfällen kann das Problem eintreten, dass die biologischen Normen mit dem soziokulturellen Rollenprofil der Person völlig inkompatibel werden: Was dann zusammenbricht, ist das Symbolsystem, das System der Selbst-und Fremddeutungen der Person, in das die Realität der Krankheit nicht mehr integriert werden kann.

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Leibsein und Körperhaben, immer schon aufprägen. Für Canguilhem ist die Klinik ein Ort für Lebewesen, die sich leiblich zu ihrem Körper verhalten: Diese Abweichung verdeutliche den Charakter des Lebens als Wert. Für Plessner hingegen ist die Klinik ein Ort für Lebewesen, die zu dieser Abweichung ein überbrückendes Verhältnis, aber zugleich noch zu ihren Überbrückungen wiederum Distanz haben. Anstatt die axiologische (leibliche) Dynamik des Lebens bruchlos zu vollziehen, richten diese Lebewesen künstliches Verhalten ein und schalten eine Sphäre von Vermittlungen vor, um mit dieser Dynamik überhaupt lebensfähig zu bleiben. An dieser Stelle möchte ich von Plessner zu Canguilhem überblenden. Bislang ging es, in einem ersten Takt, um einen Kommentar zu Canguilhems Lebensbegriff, wie er sich aus Plessners Philosophischer Anthropologie entwickeln lässt. Zieht man die Linien dieses fiktiven Kommentars aus, so lässt sich in ihnen ein gewisser Spannungsbogen erkennen. Anfangend mit der grundsätzlichen Gutheißung von Canguilhems Versuch, die Doppelaspektivität von Leben (normal/pathologisch, vital/rational) zu denken, führte der Weg zunächst zur Feststellung einiger phänomenologischer Inkonsistenzen seiner Epistemologie. Aus dieser phänomenologischen Revision der Mittel, die Canguilhem einsetzt, um die Originalität des Lebens zu fassen, kristallisierte sich die vorläufig entscheidende Absetzung: Gegen Canguilhems Figur der Immanenz und der möglichen Zentrierung des Menschen im Vitalen verharrt Plessner auf der Spezifik der exzentrischen Positionalität und auf der Differenz zwischen personalem und vitalem Verhalten. Zwar sind damit die Möglichkeiten der Kritik und der Erhellung, die Plessners Philosophische Anthropologie gegen Canguilhem Ansatz aufbietet, längst noch nicht erschöpft. Da ich jedoch bei der Gegenübersetzung beider Autoren dem systematischen Gehalt eines lebendigen Wissens des Lebens als Fixpunkt folge, sind die übrigen Züge von Plessners Kritik an Canguilhem im weiteren Durchgang durch diese Strukturierung erst noch auszuarbeiten. Sehen wir jetzt, wie Canguilhem seinerseits zu Plessner Stellung nehmen und seine eigenen Argumente gegen Plessners Begriff des Lebens ausspielen kann.

b. Canguilhem liest Plessner: Der lebendige Überschuss der psychophysischen Indifferenz Nicht genug damit, dass Canguilhem der mechanistischen Rationalität, deren historischer Triumph über den Vitalismus unwiderlegbar erscheint, in einem Text aus La connaissance de la vie attestiert, sie habe „das Verschwinden des biologischen Objekts als solchen“ (Canguilhem 2009b, 9) zur Folge. Eine Formulierung Plessners aus der Conditio humana abwandelnd, könnte man auch sagen, dass vom Phänomen des Lebendigen im wissenschaftlichen Dispositiv bloß ein „Torso“ (Plessner 2003b, 8) zurückbleibt. Aber so sehr es die siegessichere Tradition des Mechanismus nicht vermocht hat, das Lebendige in seiner Eigenheit zu registrieren, so sehr ist es um so mehr dem Vitalismus, in all seinen kryptischen Verzweigungen, gelungen, diese Eigenheit aufscheinen zu lassen76. Der Vitalismus steht für einen Typ von Philosophie, der sich an der Eigentümlichkeit der 76

Siehe hierzu Canguilhem 2009b, f.: „Wenn der Vitalismus einen permanenten Anspruch des Lebens im Lebendigen zum Ausdruck bringt, dann gibt der Mechanismus eine permanente Haltung des menschlichen Lebewesens gegenüber dem Leben wieder.“

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Dinge, von denen er handelt, selber ausrichtet: Er konstituiert sich als eine genuin biologische Philosophie77. Die eine Geste von Canguilhems doppelter Polemik bezieht sich mithin auf die Feindseligkeit, welche die Regime des Mechanismus und des Vitalismus durchgreifend spaltet. Zweitens aber bildet Canguilhem diese Binarität zwischen einer leb-, d.h. gegenstandslosen gegenüber einer genuin biologischen Philosophie auf eine andere Opposition ab, nämlich die zwischen der französischen und der deutschen Tradition des Denkens. Wie zur ironischen Illustration seiner These, wonach „die deutsche Philosophie, vor allem im 9. Jahrhundert, dem Leben mehr Aufmerksamkeit geschenkt hat als die französische seit 870“ (Canguilhem 2006b, 27), spielt Canguilhem in La connaissance de la vie immer wieder vitalistische Reflexionen ein, die von deutschsprachigen Autoren vorgebracht worden sind78. Man muss sehen, worauf dieses polemische Spiel mit Namen, das anfangs der 90er Jahre auch ein Spiel mit historischen Verletzlichkeiten ist, zusteuern soll: In Deutschland hat sich, anders als in Frankreich, im Schatten der „offiziellen“ Tradition eine „genuin biologische Philosophie“ herangebildet. Gleichwohl muss man unterstreichen, dass diese biologische Philosophie für Canguilhem weder eine Episode innerhalb des philosophischen Gesamtdiskurses noch eine Begleiterscheinung in der Begründung einer autonomen Biologie markiert. Die biologische Philosophie ist eher eine Angelegenheit der Technik. Sie tritt an den Rändern und in den Zwischenzonen von Philosophie, exakter Wissenschaft und Wissenschaftsgeschichte heraus. Biologische Philosophie ist die Philosophie von Praktikern, die mit ihrer Hilfe im konkreten Forschungszusammenhang eine Einsicht in das Wesen des Lebendigen fixieren. Auch wenn Canguilhem gegen die Auffassung polemisiert, das Projekt einer biologischen Philosophie sei notorisch „irgendwo zwischen Mystizismus, Romantik und Faschismus angesiedelt“ (ebd.)79, so sind es doch gerade seine (für französische Adressaten) suggestiv aufgeladenen Bezugnahmen80 auf einen 77 78

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Dazu etwa Canguilhem 2009b, 9; Canguilhem 2006b, 26f. Auch Lecourt 97, 69. Doch Canguilhem bemüht nicht so sehr die für sein Thema klassischen Beispiele Kants, Hegels, Schlegels, Diltheys oder Nietzsches. Vielmehr finden sich Referenzen auf Denker, die eher an einer Kreuzung zwischen Philosophie, Naturwissenschaften, Medizin und Technik anzutreffen sind, als dass sie einem dieser Genres eindeutig zuzuordnen wären. So ruft Canguilhem nicht nur Max Scheler, Jakob von Uexküll, Ernst Cassirer, Robert Reininger, Hans Driesch, Oswald Spengler, Karl Jaspers, Hugo Münsterberg oder Kurt Goldstein auf, die den philosophischen Kollegen in Frankreich wenigstens dem Namen nach hätten geläufig sein können. Er setzt dem Leser vielmehr mit aufreizender Selbstverständlichkeit die Namen und Werke von Ernst Kapp, Paul Krannhals, Alard Du Bois-Reymond, Franz Reuleaux, Franz Borkenau, Henryk Grossman, Adolf Meyer-Abich, Gustav Ricker, Gotthold Herxheimer, Emanuel Rádl oder Eberhard Zschimmer vor: Ein Defilee von Autoren, die in Frankreich, mangels Übersetzung und Rezeption, als ganz und gar unbeschriebene Blätter, aber auch in Deutschland als obskur und vergessen gelten können. Interessanterweise versteht Canguilhem sowohl die französische, dem Cartesianismus verhaftete Genealogie, die „dem Leben (…) keine ontologische Originalität“ (Canguilhem 2006b, 26) beimisst, als auch die deutsche – spekulative – Genealogie als zwei Rationalismen (ebd., 28). Es ist unsinnig, Vitalismus mit Irrationalismus gleichzusetzen. Tatsächlich hängt der Vitalsmus immer mit dem Anspruch zusammen, das Lebendige als Gegenstand von Erkenntnis zu behandeln. Siehe dazu Canguilhem 2006b, 28f. Henning Schmidgen merkt zu Recht an, Canguilhems Rückgriffe auf die deutschen Diskurse hätten „rien de contemplatif ni de conciliant“ (Schmidgen 2008b, 62). Siehe ebd.: „Les aspects controversés et polémiques sont toujours au premier plan“.

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„deutschen Vitalismus“, die zwei wichtige Merkmale einer möglichen connaissance de la vie assoziieren: Erstens die intime Nähe zu technischen Praktiken bzw. die Distanz zur science, die ein solches Wissen unterhält; zweitens der gefahrenvolle, unausgeglichene, zum Exzess tendierende Charakter dieses Wissens, der aus der Relation dieses Wissens zu seinem spezifischen Gegenstand, dem Lebendigen als Lebendigen, herrührt. Canguilhems Verfahren in La connaissance de la vie kennzeichnet sich also zum einen dadurch, die systematischen Gestalten einer (wie er es nennt) biologischen Philosophie zu erfassen, zum anderen aber auch dadurch, die historischen Verästelungen dieser Denkform in den unterschiedlichen nationalen Diskursen genealogisch nachzuzeichnen. Wenn dieser Grundriss stimmt, dann ist und bleibt es allerdings unerklärlich, dass Canguilhem nicht die geringste Notiz von Plessner genommen hat. Machen doch neuere Studien zur Philosophischen Anthropologie die Stärke und Originalität Plessners genau daran fest, dass dieser – verglichen etwa mit Scheler, Gehlen oder Portmann – die in die Anlage jeder Philosophischen Anthropologie „methodisch eingebaute philosophische Biologie oder Theorie des ‚Lebens‘ […] am prägnantesten (…) herausgearbeitet hat“ (Fischer 200, 9). Gegenüber Scheler habe gerade Plessner den Durchbruch geschafft, jenes Prinzip, das die „Monopole“ (Scheler) des Menschen und dessen Heraussetzung aus dem „Drang“ des Lebens stiftet, nicht mehr in eine Metaphysik des Geistes überhöhen zu müssen, sondern als eine der lebendigen Natur interne Struktur hervortreten zu lassen (dazu Krüger 200, 3). Ja noch mehr: Mitunter wird Plessner sogar im weiten Panorama der philosophischen Moderne als derjenige Autor identifiziert, der den Begriff des Lebens als das für seine Zeit bindende Apriori ernstlich durchdacht – nämlich bis in seine letzten Konsequenzen hinein getrieben und erst dadurch seine „Brechung“ (Mitscherlich 2007, 2 und passim) geleistet – hat8. Es gibt folglich gute Gründe, für Plessner einen Rang zu beanspruchen,

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Schmidgen hält eine „dimension européenne“ (ebd., ) für wesentlich, eine die nationalen Diskurse hinter sich lassende Ausrichtung von Canguilhems Epistemologie. Demgegenüber ist jedoch stärker die intendierte political incorrectness zu betonen, die Canguilhem mit seinen Rückgriffen auf gewisse, vor allem technikphilosophische, Spezialdiskussionen in Deutschland begeht. Vor allem Paul Krannhals, dessen von Canguilhem zitierte Schrift Der Weltsinn der Technik (932) nicht nur eine gewagte Kombination von Technikphilosophie und organizistischer Lebensphilosophie vorschlägt, sondern vor allem scharfe antisemitische Töne entfaltet, fügt sich in Canguilhems polemische Operationen ein. Canguilhem möchte m.E. vor allem auf Folgendes hinaus: Gerade durch ihre positive Aufnahme des Phänomens der Technik sind die spezifisch „deutschen“ Verläufe vitalistischen Denkens immer wieder durchlässig gewesen für politischen Totalitarismus. Ihre Verwandtschaft zu den politischen Totalitarismen ist jedoch nicht kontingent, sondern strukturell begründet: Denn es handelt sich um Vitalismen, die sich je schon selbst totalisieren, sofern sie sich nämlich durch einen militanten Bruch gegenüber dem Mechanismus absetzen. Letztlich ist dies die historisch auffällige, dunkle Kehrseite jenes radikalen Vitalismus, wie ihn Canguilhem, vor allem in Aspects du vitalisme, proklamiert. Zu Krannhals’ Antisemitismus siehe Nagel/Sieg 2000, 92ff. Im Sinne Mitscherlichs wäre hinzuzufügen: Plessners Operation einer konsequenten Durchführung des Lebensparadigmas steht im Dienst eines sich „selbst vollbringenden Skeptizismus“ (Hegel; siehe auch Krüger 200, 6). Grundlegend gehe es Plessner, so Mitscherlich, darum, den Wahrheitsanspruch der Philosophie in der Moderne aufrechtzuerhalten, was einzig noch leistbar sei durch die Einsicht in den offen zu haltenden, entzogenen Wahrheitsgrund. Exzentrische Positionalität repräsentiert demnach die paradoxe Dynamik, Wirklichkeit theoretisch und (lebens-) praktisch bestimmen zu müssen, zugleich aber die strukturelle Unmöglichkeit positiv letzter Bestimmungen als verbindlich zu akzeptieren. Mitscherlich gegenüber ist aber zu fragen, ob für Plessner tatsächlich ein

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den François Dagognet in Frankreich für Canguilhem reserviert hat: Plessner ragt in der deutschsprachigen Tradition heraus als der „philosophe de la vie“ (Dagognet 997), als konsequentester Vertreter einer „performative(n) Wende (…) ins Verhalten von Lebendigem zu Lebendigem“ (Krüger 200, 28; Hervorhebung i.O., T. E.]. Trotz seiner intensiven Beschäftigung mit den sogenannten „biologischen Philosophien“ deutschsprachiger Provenienz hat Canguilhem den Schatz, den Plessners Arbeiten für sein eigenes Repertoire hätten bilden können, nicht gehoben. Dabei kann man gar nicht oft genug die eigentümliche Verwandtschaft würdigen, die zwischen Das Normale und das Pathologische und Plessners Vitalismus und ärztliches Denken besteht. Schon mehrfach wurde im Lauf der Untersuchung daran erinnert, dass Plessner in seinem Artikel von 922 einen Primat der Klinik und eine fundamentale Scheidung zweier in sich legitimer Zugänge zum Organischen postuliert. Die Naturwissenschaften objektivieren Quantitäten, Philosophie und Medizin stellen Qualitäten heraus. Obwohl den Biowissenschaften ihr Gegenstand durch eine unüberwindliche Kluft entzogen ist, kann es nicht darum gehen, ihren Zugriff rundheraus als Usurpation zu verwerfen. Überzeugend an Plessner wäre für Canguilhem in diesem Punkt, dass sich seine Kritik keineswegs im Drama der Verdinglichung erschöpft, was den philosophischen Moden der 920er Jahre – ob nun marxistischer, existenzialistischer oder fundamentalontologischer Couleur – ja entsprochen hätte. Plessner läuft nicht in die Falle, einen Vitalismus „von Außen“ zu propagieren, im dualistischen Gegensatz zu den wissenschaftlichen Vergegenständlichungspraktiken82. Der ethische Rekurs auf die Normativität des Lebens (die eudaimonia bei Aristoteles) trägt nicht mehr, wenn er sich schlicht negativ gegen die moderne Normalisierung von Leben versteht. In dieser realistischen Haltung, die Plessner im Vitalismus-Aufsatz noch eher implizit einnimmt, bevor er sie in den Stufen philosophisch sichert, liegt eine der denkwüdigsten Konvergenzen mit Canguilhem. Sie stellt in Plessners Ansatz die Weichen83, um der entscheidenden Frage gerecht zu werden, die ihn mit Canguilhems Histo-

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solcher tragischer Hegelianismus (eines Aushaltens unversöhnlicher Widersprüche) auf dem Spiel steht und ob ein solcher Einsatz nicht darauf hinaus laufen müsste, eher Plessners philosophische Konventionalität in der Moderne – von Nietzsche bis Heidegger und Adorno – als seine radikale Einzigartigkeit zu behaupten. Siehe im direkten Bezug auf Vitalismus und ärztliches Denken Rasini 2008a, 37: „Die Absicht der Biowissenschaft, eine Beschreibung der Natur und ihrer qualitativen Unterscheidungen vermittels quantitativer Funktionen zu geben, ist vollkommen legitim. Sie befriedigt das Bedürfnis nach einer „eindeutigen Bestimmtheit“ und nach einer Ausweitung der Herrschaft des Menschen über die Natur, und rechtfertigt sich daher in letzter Instanz durch die Praxis. Die Wissenschaft kümmert sich nicht um das Sein der Natur, um ihre Qualitäten, sie ist dafür nicht zuständig.“ Rasinis Beobachtungen treffen Plessners realistische, machtanalytische Intuition. Allerdings müsste nach der besonderen Pointe der machtanalytischen Ausrichtung gefragt werden. Gegenüber Marx, Nietzsche oder Foucault ist Plessner daran gelegen, eine Anthropologie zu entwickeln, die klärt, wie es dazu kommen kann, dass sich Lebewesen, die zu sich selbst in einem unergründlichen Verhältnis stehen, dennoch selber bestimmen, vereindeutigen und spezifizieren müssen. Die „Ausweitung der Herrschaft des Menschen über die Natur“ ist bei Plessner nicht die letzte anthropologische Antwort; dieses Motiv ist vielmehr die Manifestation eines spezifisch menschlichen, näher zu untersuchenden Selbstverhältnisses. Diese bildhafte Formulierung, ebenso wie die Rede von sich „anbahnenden“ oder „angelegten“ Argumenten bei Plessner in den folgenden Sätzen, sollen den Leser auf den Ton der fiktiven Kritik Canguilhems gegenüber Plessner, die in diesem Kapitel konstruiert werden soll, einstimmen.

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rischer Epistemologie verbindet: Inwiefern nämlich die unvermeidliche „Usurpation“ des Gegenstands in den Lebenswissenschaften durch die besondere Verfassung des Gegenstandes selbst erst ermöglicht wird8. Anstatt den Vitalismus in Opposition zur science zu entwickeln, bahnt sich bei Plessner eine Einsicht in jene Dialektik an, wonach die Negation der Originalität des Lebendigen ihrerseits Ausdruck dieser Originalität ist8. Aber noch eine weitere Ahnung ist in Plessners Überlegungen angelegt: Jene „Subjekt-Objektivität“ (Plessner 97, 22), die in der Berührung von Lebendigem mit Lebendigem liegt, „realisiert“ (ebd.) sich geschichtlich und kann auch nur im Medium der Geschichte zum Vorschein gebracht werden. Inwiefern dieser Schritt in die Geschichtlichkeit des Lebens in Plessners Philosophischer Anthropologie prononciert anders ausfällt als in Canguilhems Historischer Epistemologie, wird später eingehender zu klären sein. Von daher kann die Philosophische Anthropologie etwas leisten, was die dominanten Tendenzen der philosophischen Moderne vermissen lassen. Als „Denkrichtung“ (J. Fischer) nimmt sie die konkreten Resultate und historischen Verläufe der Naturwissenschaften in sich auf, anstatt sich dem (noch immer) kommoden „pur et simple désintérêt pour la science“ (Braunstein 2009, 926) anzuschließen. Man muss also zementieren, was im vorigen Kapitel bereits bemerkt wurde: Die Parallelaktion, in die Plessner und Canguilhem, ohne voneinander zu wissen, verwickelt waren, impliziert einen neuartigen „dritten Weg des Common Sense“ (Krüger 200, ), „einen mittleren Weg der Erfahrung“ (Rolf 2006, ), den beide, jeder von seiner Seite, beschritten haben. Die französischen Epistemologen schreiben die Geschichte der genuin modernen wissenschaftlichen Rationalität nicht zugunsten eines unkritischen Szientismus’, sondern weil sie in den von ihnen aufgemachten Genealogien die einzig noch mögliche Form einer (Selbst-) Kritik 8

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Plessners Clou, wonach sich das Leben in einem rationalen Modus auf sich selbst bezieht, wird von Richard Breun auf den Punkt gebracht. Die subtile Passage, in der Breun diese Selbstreflexivität des Lebendigen bei Plessner darlegt, wurde in dieser Arbeit bereits zum Teil zitiert. Da sie sich aber (unfreiwillig) vor allem wie eine Zusammenfassung von Canguilhems Projekt in nuce liest, soll sie an dieser Stelle noch einmal angeführt werden. Siehe Breun 2006, 3f: „Es ist heute offensichtlich geworden, wie schwer sich der Verstand, zumal der wissenschaftlich ausgebildete, tut, wenn etwas als nicht begrifflich bestimmbar und außerhalb der Reichweite des Logischen liegend behauptet wird. Ist es nicht wiederum eine Bestimmung, wenn das Leben in dieser Weise ausgelagert wird? Ist nicht gerade auch das, was draußen bleibt, vor der Tür des Begriffssystems, präzise bestimmt, wenngleich negativ? […] Das Leben ist aus dem System gewiesen, denn es ist unergründlich, und das Systematische, das sich in Plessners Denken ganz klar zeigt, ist nichts Anderes als der Abglanz des draußen befindlichen, eben lebendigen und nicht begrifflich bestimmbaren Lebens (…) Wie sich der Sonnenstrahl hinter geöffneten Fenstern im Zimmer fängt und nur dessen ‚Einsatz‘ die Gegenstände darin erhellt und ihnen Farben verleiht, ohne als Sonnenstrahl darin aufbewahrt zu sein, hat Plessner das Leben in die Erhellung des Systems und damit in die Erhellung seiner, des Lebens, selbst, in die Aufklärung über sich selbst investiert, ohne es darin aufzubewahren. Darin liegt die einzigartige Darstellungsleistung der Philosophischen Anthropologie.“ [Hervorhebung i.O., T. E.] Nicht zufällig schließt Plessner seinen Vitalismus-Aufsatz denn auch mit einer dialektischen Anspielung ab, die in den Stufen (Plessner 97, 22) ihre systematische Vertiefung erhält. Siehe Plessner 98a, 26: „Vitalismus als praktische Überzeugung aber ist Sache des Arztes am Krankenbett, der im Patienten Objekt der Natur und Subjekt eines Geistes, eines Charakters, kurz, eine Person intuitiv zu erfassen und zu behandeln vermag…“ (Hervorhebung d. Verf.; T. E.]

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der historischen Vernunft sehen: Wenn die Vernunft, in ihrer modernen Konfiguration, „Universalität beansprucht und sich doch in der Kontingenz entfaltet“ (Foucault 988, 8), so ist nur das archäologische Projekt der Epistemologie im Stande, diese doppelte Gestalt freizulegen. Nichts anderes aber als eine Kritik der historischen Vernunft, als Begrenzung der Vernunft durch die Vernunft, bildet die Folie, die auch Plessners ganzem Einsatz zu Grunde liegt – und zwar in expliziter Fortführung Diltheys. Gewissermaßen erfüllt die naturphilosophische Achse von Plessners Philosophischer Anthropologie jene Funktion einer indirekten Kritik, die Canguilhem (mit Bachelard) der Historischen Epistemologie zuweist: Gefragt wird nach den Bedingungen der Möglichkeit, die in die Praxis spezialwissenschaftlicher Urteile schon immer einfließen, ohne in dieser Praxis selbst ausweisbar zu sein (dazu Heyen 978). Anders gesagt: Plessner holt im transzendentalen Rückschluss die öffentlichen Präsuppositionen hervor, d.h. die in „der Praxis des Commonsense“ (Krüger 2008b, 7) kursierenden Bedingungen des Urteilens überhaupt, die stillschweigend in den Expertenkulturen investiert sind. Ein solches Verfahren kann sich als Relektüre von Kants Distinktion zwischen bestimmender und reflektierender Urteilskraft86 begreifen (sofern es gleichermaßen um die Korrelativität und Funktionsteilung beider Vermögen geht), aber informiert durch Diltheys Hermeneutik einer Vernunft, die sich geschichtlich in ihren eigenen Manifestationen, im eigenen Ausdruck, versteht. Überraschenderweise hat Canguilhem Diltheys Hermeneutik nicht zur Kenntnis genommen87, von deren Verwandlungen etwa bei Georg Misch, Josef König, Hans Lipps oder eben Plessner ganz zu schweigen. Dabei hätte er die doppelte Maßnahme, die Plessner mit und zugleich gegen Dilthey einleitet, gewiss zu schätzen gewusst: Zum einen wendet Plessner – mit Dilthey – Kants ambivalente Formation einer Vernunft, die sich selbst begrenzt, aber auch selbst transzendiert, in die Dynamik lebendigen Verhaltens. Zum anderen aber führt er – gegen Dilthey – die Hermeneutik des Lebens nicht ausschließlich geisteswissenschaftlich, sondern, komplementär dazu, naturphilosophisch aus. Wenn man sich einmal nur an den Wortlaut hält, der den „Aspekt“ (Plessner 97, 3) von Plessners Untersuchungskonstruktion in den Stufen angibt, wenn man sich Plessners Formulierungen also vorerst ganz schematisch nähert, so könnte man meinen, die Stufen seien sowohl in der Charakteristik der Problemlage als auch im Lösungsvorschlag deckungsgleich mit Canguilhems Argumentation. Immerhin schreibt Plessner, sein „Programm“ (ebd.) drehe sich zwar um den Menschen, jedoch „nicht als Objekt einer Wissenschaft, nicht als Subjekt seines Bewusstseins, sondern als Objekt und Subjekt seines Lebens, d.h. so, wie er sich selbst Gegenstand und Zentrum ist“ (ebd.). Klar ist, dass Canguilhem Plessners Grundsatz, die Frage nach dem Menschen sei unbedingt aus einer Philosophie des Lebendigen heraus anzugehen, voll unterschreiben kann. Wie das Zitat anreißt, führt Plessner in sein Programm genau jene drei Säulen ein, die auch Canguilhem zu den Fundamenten seiner Epistemologie macht. Den Menschen als (eine) Figur des 86 87

Zur Nachzeichnung der verschiedenen Etappen von Plessners Auseinandersetzung mit Kant siehe Krüger 200. Selbst im umfangreichen, unveröffentlichten Seminar-und Vortragsmanuskripte, brieflichen Korrespondenzen und Lektürenotizen umfassenden Nachlass Canguilhems, der im Centre d’Archives de Philosophie, d’Histoire et d’Édition des Sciences (CAPHES) in der Rue d’Ulm, Paris, einzusehen ist, findet sich kein einziger Eintrag zu Dilthey.

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Lebendigen zugänglich zu machen, bedeutet auch bei Plessner, mit einer Bestimmung zu arbeiten, die sich erstens gegenüber der diskursiven, in den Erfahrungswissenschaften selbst praktizierten Subjektivierung des Menschen und zweitens gegenüber seiner Überhöhung in ein reflexives cogito oder personales ego kritisch abhebt. Um diese doppelte Abgrenzung zu leisten, ist aber drittens die Doppelstellung des Menschen als Lebewesen, „so, wie er sich selbst Gegenstand und Zentrum ist“, auszufalten. Was Canguilhem in diesen Zeilen lesen könnte, ist eine Absichtserklärung Plessners, die zu seiner eigenen Formel88 in erstaunlicher Nähe steht. Und auch wenn es sich letztlich um eine bloß scheinbare Verwandtschaft handelt, die nicht über die strukturelle Differenz ihrer Umsetzungen eines lebendigen Wissens des Lebens hinweg täuschen kann: So verweist allein Plessners Sprachgebrauch auf jenen philosophisch seltenen Sprung, auf den auch Canguilhem hinaus will. Die zuletzt genannten Überlegungen beinhalten eine Facette, die der Vertiefung bedarf. Für eine Lektüre à la Canguilhem ist nämlich vor allem nennenswert, dass Plessner für „seine“89 Philosophische Anthropologie und deren Schlüsselkategorie der exzentrischen Positionalität in Anspruch nimmt, etwas ganz anderes zu leisten als schlicht eine weitere Ausgabe der Subjektphilosophie. Im Gegenzug zur idealistischen Identifizierung des Menschen mit Selbstbewusstsein heißt das Ziel, die „Voraussetzung aller Setzungsleistungen einer menschlichen Subjektivität“ (Fischer 2006, 79) hervorzukehren. Charakteristisch für Plessners Perspektive ist es nun gerade, Schelers Auffassung des Menschen als Person gegen ihre metaphysische Ausgestaltung, also gegen Scheler selbst, geschärft zu haben. Diese Modifikation Plessners gegenüber hätte zweifellos mit einer gewissen Umschichtung der französischen Diskussionslandschaft der 0er und 60er Jahre harmoniert: Man kann sie mutatis mutandis als eine Abkehr von Sartre und seiner Assimilation des Schelerschen Personalismus in existenzialistischen Humanismus interpretieren. 88

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Siehe Canguilhem 2009c, 29 bzw. 232: „Aus philosophischer Perspektive ist es weniger wichtig, die Maschine zu erklären, als sie zu verstehen. Und sie zu verstehen heißt, sie in die Geschichte der Menschen einzuschreiben, indem man die menschliche Geschichte ins Leben einschreibt, ohne indes zu verkennen, dass mit dem Menschen eine Kultur erscheint, die nicht auf die bloße Natur reduzierbar ist. […] Die Lösung, die wir zu begründen versucht haben, hat den Vorteil, den Menschen so beschrieben zu haben, dass er durch die Technik in Kontinuität mit dem Leben steht, bevor der Bruch in den Vordergrund tritt, für den der Mensch durch die Wissenschaft die Verantwortung trägt.“ Mit dieser Akzentuierung soll die Frage evoziert (und offen gelassen) werden, ob der Anspruch, den Plessner an sein eigenes Format einer Philosophischer Anthropologie stellt, auch durch die etwa von Scheler, Gehlen oder anderen vertretenen Philosophischen Anthropologien erfüllt wird, oder ob Plessners spezifische Variante ihren Alternativen etwas „voraus“ hat. Hierfür scheint mir wiederum die Frage, ob die Philosophische Anthropologie das subjektphilosophische Paradigma effektiv unterläuft oder vielmehr reproduziert, ein interessantes Kritierium. Volker Schürmann geht immerhin soweit, Plessners Vorsprung gegenüber Scheler und Gehlen an einer „zusätzlichen Reflexionsstufe“ (Schürmann 2006, 8) festzumachen. Anders als seine Konkurrenten macht Plessner Ernst mit der Exzentrizität seiner eigenen Prämisse: Der Mensch kann, aber muss nicht als exzentrisches Wesen bestimmt werden. Erst diese Anwendung der eigenen These auf die eigene These führt bei Plessner dazu, die Figur eines letztlich autonomen, sich selbst bestimmenden Subjekts aus den Angeln zu heben. Zu einer Parallelisierung der Problemstellungen und -lösungen bei Scheler, Plessner und Gehlen siehe Fischer 2008a, auch Fischer 2006.

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Tatsächlich läuft ein merkwürdiges Band zwischen der von Canguilhem bekräftigten Hypothese Foucaults, wonach es „ja nicht mehr um Natur und Dinge, sondern um jenes, seine eigenen Normen schaffende Abenteuer geht, dem der empirisch-metaphysische Begriff vom Menschen, ja, das Wort Mensch selbst, eines Tages womöglich gar nicht mehr angemessen ist“ (Canguilhem 988, 8) zu Plessners (viel zitierter) Sentenz: „Mensch sein ist an keine bestimmte Gestalt gebunden und könnte daher auch (einer geistreichen Mutmaßung des Paläontologen Dacqué zu gedenken) unter mancherlei Gestalt stattfinden, die mit der uns bekannten nicht übereinstimmt.“ (Plessner 97, 293)

Plessner selbst hat den Spalt zwischen seinem Verständnis von Personalität und einer Philosophie des Subjekts erläutert90. Exzentrische Positionalität ist genau deshalb kein Substitut für selbstbewusste Subjektivität, weil das Dazwischen, die Lücke zwischen Subjekt und Objekt, nicht als eine interne Differenz im Bewusstsein aufgelöst wird (dazu Plessner 97, 328ff.). Im Gegenteil gibt die vermittelte Unmittelbarkeit menschlicher Existenz erst den strukturellen Grund dafür an, dass die Selbsttransparenz des Menschen als „in sich steckendes“, sich auf sich beziehendes Subjekt überhaupt möglich ist. Plessner sieht die Pointe seiner These darin, dass der Mensch zwar „alles was er erfährt, (…) als Bewusstseinsinhalt“ (ebd., 328) erfährt, dass aber diese Immanenz eben nicht mit der Innermentalität des Seienden zusammenfällt. Vielmehr schärft sich gerade in dem Maße der irreduzibel externe Charakter von „Realität als Realität“ (ebd., 33), wie sich, auf der symmetrischen Gegenseite, der Mensch als ebenso in sich verschlossener, in sich kreisender Pol konstituiert9. Aus einer derartigen Abrechnung mit der Prävalenz des cogito folgt die größtmögliche Entfernung zwischen Plessner und einer „Philosophie des Subjekts“ vom Schlage Sartres: Sieht Sartre im (nun freilich nicht mehr idealistisch, sondern phänomenologisch-existenzialistisch aufgeladenen) „absoluten Bewusstsein (…) ganz einfach eine erste Bedingung und eine absolute Quelle für Existenz“ (Sartre 982, 92), so wirkt Plessner explizit dem performativen Selbstwiderspruch entgegen, der darin läge, doch wieder eine anthropologische Letztbegründung einzuschleusen. Exzentrische Positionalität ist ihrerseits nicht wieder als Installation einer Letztbegründung zu verstehen. Sofern Plessner sogar noch sein eigenes Bild einer exzentrischen Positionalität den aus der exzentrischen Positionalität fließenden Konsequenzen (eines radikalen Aufgebens von Letztbegründungsansprüchen) aussetzt, hätte Canguilhem in Plessners Philosophischer Anthropologie wohl weniger das offenkundige Gegenstück zu seiner Historischen Epistemologie als vielmehr das rivalisierende Geschäft gesehen, das – unter anderen Vorzeichen – gegen denselben Gegner, die 90 9

Das gesamte zweite Kapitel der Stufen (Plessner 97, 38–79) versteht sich als eine Abhandlung über „die idealistische Interpretation der Immanenz“ (ebd., 330). Plessner deutet Fichtes sich selbst setzendes Ich folglich so um, dass zwar dessen „Situation“ (Plessner) der Selbsttransparenz erhalten bleibt, nicht aber die Omnipotenz, das Wirkliche als Resultat einer praktischen Setzung aus sich hervorgehen lassen zu können. Gewissermaßen findet komplementär zur Subjektperspektive ein Reflexivwerden, eine Selbsteinkapselung des Wirklichen statt, so dass beide Sphären einander radikal entzogen, aber doch qua Grenze in Kontakt miteinander gesetzt sind. Dies mag eine der Nuancen in Plessners Bemerkung sein, dass es um Bewusstsein, nicht aber um Selbstbewusstsein geht (Plessner 97, 33). Im Übrigen ist Plessners Nähe zum Diskurs der Psychoanalyse, besonders zu Lacan, hier besonders gut greifbar.

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sogenannte „Subjektphilosophie“, antritt92. Der Dissens zwischen Canguilhem und Plessner betrifft also nicht so sehr die Frage, was überwunden werden muss, als vielmehr das Problem, wie die Lösung, das lebendige Wissen des Lebens, erreichbar ist93. Damit können wir von Seiten Canguilhems den Blick erwidern, den wir zuvor mit Plessner auf seinen eigenen Ansatz geworfen hatten: Nachdem die Originalität des Gegenübers und ein philosophischer common ground eingeräumt sind, geht es darum, die Schachzüge, mit denen der je Andere seine Version des lebendigen Wissens des Lebens inhaltlich realisiert, zu kontern. Bei diesem Vorgehen drängt sich als Erstes das folgende Argument auf: Plessner behauptet zwar, den einzigartigen Charakter des Lebendigen ans Licht zu bringen, doch er wählt eine Methode, die genau diesen Durchbruch verbaut. Es ist der bei Plessner ohnehin augenfällige Zug hin zum Ideal philosophischer Neutralität, der die epistemische Differenz des Lebens, um die es doch vermeintlich gehen soll, im Keim erstickt. Für Canguilhem liegt der Kern der Sache ja darin, dass das Lebendige gegen seine Indifferenzierung buchstäblich einen Unterschied macht, dass es seinen Wert behauptet. Man kann vermuten, dass Canguilhem Plessners Theorem der „psychophysischen Indifferenz“ gegen den Strich gelesen hätte: Nicht als Zugewinn, sondern als Verlust von Differenz, als Vergleichgültigung eines Phänomens, das doch „den Bedingungen gegenüber, unter denen es möglich ist, nicht indifferent bleibt“ (Canguilhem 97, 82; Hervorhebung von mir, T. E.)9. Der Kritikpunkt, der sich hier kristallisiert, lässt sich sehr gut in jenen Kontext der Plessner-Forschung ein, der nach dem Sinn von Plessners Vokabel sogenannter „Stufen des Organischen“ fragt. Diese Redeweise evoziert neben der Anknüpfung an Scheler nicht zuletzt Nicolai Hartmanns Modell einer ontologischen Schichtung: Wie Joachim 92

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Siehe das in dieser Hinsicht aussagekräftige Zitat in Plessner 2003c, 26: „Es kommt in der Überwindung des Anthropozentrismus als dem Vermächtnis der Emanzipationsgeschichte des Subjekts auf den nächsten Schritt auch in der Methode an. Dieser Schritt folgt dem Weg, den wir seit Kopernikus und Darwin gehen (…) und der vielleicht dahin führen wird, das bis heute noch gehaltene Monopol des Menschen als des einzigen vernünftigen Wesens in der Natur zu brechen.“ Man kann sich gut vorstellen, dass die folgende spöttische Passage, die Canguilhem in Verteidigung Foucaults an Sartre adressiert, auch von Plessner hätte geschrieben werden können – und zwar in Verteidigung der exzentrischen Positionalität gegen aufgebrachte Humanisten, die in seiner These einen Abgesang auf die praktische Vernunft (hätten) sehen (können). Dabei soll nur exemplarisch an die Stellungnahmen von Horkheimer, Habermas oder Marquard gegen die Philosophische Anthropologie erinnert werden. Siehe Canguilhem 988, 9: „Muß man denn – wie einige der meines Erachtens besten Köpfe unserer Zeit [Sartre, T. E.] es allem Anschein nach getan haben – die Nerven verlieren, nur weil auf den letzten Seiten des Buches aus dem Platz des Königs der des Toten oder zumindest der eines Sterbenden wird, der seinem Ende gleich nah ist wie seinen Anfängen, oder besser: dem durchaus ‚jüngeren Datum‘ seiner ‚Erfindung‘ (S. 398/62); nur weil uns gesagt wird, dass ‚der Mensch weder das älteste noch das dauerhafteste Problem (ist), dem das menschliche Wissen sich gegenübergesehen hat‘ (ebd.)? […] Erleben wir etwa noch die Gründung einer Liga für das Menschenrecht auf Subjekt-und Objektstatus in der Philosophie, unter der Parole: Humanisten aller Parteien, vereinigt euch?“ Zur Frontstellung zwischen Sartre und Foucault/Canguilhem siehe Salanskis 2009, 237f. Siehe dazu Delaporte 200, 30 in Bezug auf Canguilhem: „In dieser Geschichte der Wissenschaften, die den Anforderungen der Kontinuität und der Diskontinuität genügt, gibt es keinerlei Unentschiedenheit.“

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Fischer zeigt, spricht Plessner von einer Stufung des Organischen, um „von Beginn an (…) schichtendifferenzierend und schichtenverklammernd zugleich arbeiten“ (Fischer 2000, 27) zu können9. Die Figur, auf die Plessners Überlegungen zugehen – die Figur der Verschränkung – meint gerade nicht die einseitige Favorisierung von Brüchen. Plessner zelebriert keine Philosophie der Diskontinuität. Treffender wäre es, Plessners Neologismen (Verschränkung, Doppelaspekts, ex-zentrische Positionalität) im Sinne einer „Vernähung“96 von Differenzen zu begreifen: So sehr das Lebendige gegenüber dem Unbelebten einen inkommensurablen Sprung macht, so sehr haftet ihm die Konstitution des Unbelebten, von dem es sich abstößt, noch immer an. Das Lebendige steht in Relation zu seiner Dinglichkeit, d.h. es relationiert, temporalisiert und perspektiviert die Bestimmungen, die es zu einem Ding machen; aber es streift diese Bestimmungen nicht ab. Methodisch lässt Plessner am Lebendigen die Hinsicht auf „die räumliche und zeitliche Bestimmtheit von bewegten Körpern in der materiell-physischen Schicht – als Voraussetzung der empirischen Bestimmbarkeit durch Messung“ (Fischer 2000, 27) explizit zu. Seine Absicht ist es, die Absolutheitsansprüche von Mechanisten und Vitalisten in der Frage der epistemischen Einzigartigkeit des Lebens zu „neutralisieren“. Obwohl Plessner beide Parteien dafür kritisiert, die phänomenologische Gegebenheitsform (die Dinghaftigkeit) des Lebendigen missachtet zu haben, was hier wie dort zu ungerechtfertigten ontologischen Festschreibungen führt, stellt er doch die plausiblen Intuitionen beider Lager heraus97. Vitalismus und Mechanismus haben beide durchaus etwas am Phänomen des 9 96

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Siehe auch Grünewald 993, 273 und Krüger 200, 907. Diese Bezeichnung soll eine gewisse Komparabilität zwischen Plessners Denkfiguren und denen der psychoanalytischen Tradition ins Spiel bringen. So hat die französische Diskussion um Jacques Lacan in dessen Begriffsuniversum das Problem einer suture (Vernähung, Naht, Stich) ausgemacht: Insofern das Subjekt, was des-illusionierend ist, realisiert, dass die Perspektive, die sein Genießen ermöglicht, eben nicht seine Perspektive, sondern die der symbolischen Ordnung ist, welche jegliche Subjektposition übersteigt, wird eine spezifische „Hineinvernähung“ des Subjekts in die Perspektive des „großen Anderen“ dringlich. Das Subjekt wird gleichsam in einen Blick hineingeholt, ihm wird ein Blick erstattet, der sich zugleich als schlechthin uneinnehmbar, als strukturell leerer Blick ausstellt. Die Unmöglichkeit des Zusammenfallens von Subjekt und symbolischer Ordnung (großem Anderen) wird durch eine Nahtstelle markiert, durch eine Spur der Willkür, die den unendlichen Abstand von subjektiver und symbolischer Ordnung erkennbar macht und perpetuiert. Dazu etwa Miller 966. Lacans Motiv einer Vernähung von Subjekt und symbolischer Ordnung und Plessners Figur einer Verschränkung können auf interessante Art zueinander finden. Beide stehen für ein Ineinandergreifen von Momenten, die radikal differieren. Interessant ist, dass diese Denkform bei Plessner wie bei Lacan bis in die Frage nach der Andersheit des Anderen, nach dem homo absconditus, durchgeht: Für Lacan ist die Erfahrung der Unergründlichkeit des Anderen der Moment, der mich hysterisiert und der nur durch das Spiel meiner Begierde (désir) aushaltbar ist. Für Plessner ist die nicht zu relativierende Alterität/Exzentrizität (des Anderen, aber auch meiner selbst) die paradoxe Bedingung von Würde. Die Würde des Menschen setzt voraus, sein „Wesen“ nicht abschließend zu entscheiden; sie liegt vielmehr in einem spielerischen Selbstverhältnis des Menschen, das von jeglicher Bestimmung seines Wesens abzuweichen vermag. In dieser Hinsicht sind Plessner und Lacan Denker eines Orts, der strukturell leer und unbesetzt bleibt: Wobei jeweils sehr Unterschiedliches impliziert ist. Man könnte im Übrigen auch den bemerkenswerten Umstand vertiefen, dass es schon bei Freud eine Idee der Grenze als Differenz in der Einheit gibt. In dem Teil dieser Arbeit, das Plessners Weg zu einem lebendigen Wissen des Lebens rekonstruiert hat, wurde Plessners Stellung zum Patt zwischen Mechanismus und Vitalismus bereits erläutert.

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Lebendigen getroffen. Ihr Problem ist, dieses Etwas zum Rückhalt einer abschließenden Definition gemacht zu haben. Plessners philosophische Politik der Neutralisierung besteht nicht in der Verwerfung, sondern in der geschickten Integration des Gegners. Eine Gegenposition zu neutralisieren, heißt bei Plessner, ihren grundlegenden Erklärungsanspruch auszuhebeln, aber zugleich, ihr ein relatives Recht und eine nachvollziehbare Seite beizumessen. Für diesen integrativen Anspruch Plessners steht ein Aufsatz wie Ein Newton des Grashalms? (96). Interessanterweise liest Plessner in diesem Text Darwin als den von Kant kategorisch ausgeschlossenen „Newton des Grashalms“. Und er schreibt sein eigenes Projekt in diese liberale Erbschaft ein, die Kants Einschränkung des Wissens, um zum Glauben Platz zu bekommen, unumkehrbar überholt hat. Während Driesch oder Uexküll immerhin, Plessner zufolge, eine Wendung zur Experimentalisierung des Lebens vollzogen, aber eine Interpretation der Experimentalergebnisse vertreten haben, die „der Methode exakter Faktorenanalyse nicht entspricht“ (Plessner 2003d, 22), sucht Plessner für seinen Terminus der Positionalität Anschluss an die empirische Forschung der Lebenswissenschaften selbst. Er sieht in der Positionalität des Lebendigen eine „immaterielle Dimensionierung“ (ebd., 26), die zwar nicht an sich Gegenstand empirischer Untersuchung sein kann, wohl aber die Passform bildet, mit der die (messbaren) „faktischen“ Abläufe von Lebewesen korrelieren98. Und hier nun der scharfe Einwand Canguilhems: Plessner ist nicht wirklich daran interessiert (oder im Stande), die radikale Differenz des Lebendigen zu treffen. Er arbeitet vielmehr an einer Möglichkeit, das Leben erst recht dem neuzeitlichen Regime der science zu überstellen, in das er sich auch selbst einordnet. Wie kann man das Fragezeichen, das Plessner hinter Kants Bonmot vom „Newton des Grashalms“ setzt, verstehen, wenn nicht als Bejahung der Möglichkeit und Legitimität einer Lebenswissenschaft, die seit Darwin (bzw. Hegel) historisch ohnehin schon längst verbrieft ist? Plessner selbst fasst ja sein eigenes Argument im genannten Text dahingehend zusammen, „dass [er] die Autonomie des Lebendigen in seiner Erscheinung nicht nur ernst nahm, sondern am Leitfaden seiner spezifischen Eigenschaften begründen wollte“ (ebd., 260).

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Es ist also nicht notwendig, die Details zu wiederholen. Was die mechanistische Lösung betrifft, so pflichtet Plessner der Prämisse bei, dass das Lebendige durchaus über messbare Eigenschaften verfügt. Dem Vitalismus gesteht Plessner indessen zu, das übergestalthafte Erscheinungsbild des Lebendigen angemessen erfasst zu haben. Mechanismus wie Vitalismus implizieren daher für Plessner legitime Perspektiven auf das Phänomen des Lebens. Auf beiden Seiten herrscht jedoch das Defizit, die Trennung zwischen phänomenologisch zu untersuchender Erscheinung und ontologisch aufweisbaren Seinsbestimmungen konfundiert zu haben. Auch Ingensiep konstatiert, der „kenntnisreiche Biologe“ (Ingensiep 200, 36) Plessner „suche Anschluss an zeitgenössische Fakten und Theorien, z.B. zum Protoplasma, zur Koazervattheorie der Biogenese, zur Theorie der Semipermeabilität bzw. zur Stabilität und Reagibilität der Zellmembran“ (ebd.). Allerdings verliert Ingensiep das regulative Argument Plessners und die Dringlichkeit, Positionalität eben nicht in empirische Resultate aufzurechnen, aus den Augen. Ingensiep liest Plessner so, als ginge es ex post um die Erzwingung empirischer Verifikationen für eine These, die in den Stufen eben „nur“ phänomenologisch angebracht worden sei. Unter dieser Prämisse lässt sich dann freilich das kritisch-transzendentale Selbstverständnis von Philosophischer Anthropologie auch nicht mehr benennen.

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Dieses Resümee zeigt die Inkonsequenz in Plessners Frage nach dem Alleinstellungsmerkmal des Lebendigen. Plessner kann eine Differenz des Lebendigen „in der Erscheinung“, nicht aber eine epistemische Differenz im strengen Sinn akzeptieren, d.h. eine Singularität, durch die das Lebendige aus der Reichweite dessen, was überhaupt Gegenstand von Erkenntnis sein kann, herausspringt. Worin besteht denn die Pointe von Plessners Kritik an Driesch? Doch wohl darin, dass dieser sich dazu verstiegen hat, die in der Anschauung relevante Differenz des Lebens in das wissenschaftliche Regime zu importieren. Er hat die saubere Division zwischen dem, was am Krankenbett zu tun ist, und dem, was die Biologie wissen kann, angetastet. Nicht eben beiläufig unterstreicht Plessner seine „Überzeugung“ (Plessner 97, 39), die Zeiten eines solchen in die Wissenschaft hinein spielenden Vitalismus seien „für immer vorbei“ (ebd.). Doch handelt es sich bei dem Körper, den wir in der klinischen Praxis als normativ erfahren, und dem Gegenstand, den die Biologie erforscht, nicht um ein-und dasselbe Phänomen? Wenn wir hier wie dort mit dem Leben zu tun haben: Müssten wir uns dann nicht fragen, mit welchem Recht wir etwas, dessen schöpferische Normativität wir auf der einen Seite einbekennen, auf der anderen Seite zu einem neutralen Gegenstand unserer Erkenntnis erklären können? Stehen wir nicht vor dem Problem, dass eine Wissenschaft, die sich das Leben zum Gegenstand nimmt, womöglich keinerlei Bezug zu diesem Gegenstand hat und den Kontakt zu ihm nur gewaltsam herstellt?99 So wie Bichat den Unterschied zwischen den Normen des Lebens und den Gesetzen der Natur zwar bemerkt, aber das Leben nichtsdestotrotz als bloße „Enklave“ innerhalb des „Imperiums“ der Natur lokalisiert hat00, so denkt auch Plessner (kantisch) loyal vom Primat der Wissenschaft her: Dies ist sein „unverzeihliche[r] Fehler“ (Canguilhem 2009b, 72), seine Veruntreuung jener Lebens-Differenz, die er sich verbal auf die Fahnen schreibt0. 99

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Genau wie Plessner zeichnet auch Canguilhem die durch Darwin repräsentierte Verwissenschaftlichung des Lebens nach. Historisch kann man an dem Eintritt des Lebens in die Geschichte (oder umgekehrt) nicht vorbeisehen: Darauf insistieren beide. Der gravierende Unterschied ist aber, dass Plessner die Abkehr von Kant, d.h. die historische Ausschaltung der Teleologie aus der Frage nach dem Leben als systematische Leistung begrüßt, die für jede moderne Philosophie des Lebendigen verbindlich sein muss. Driesch und Uexküll hätten dies noch nicht ganz hinnehmen können. Plessner situiert seinen eigenen Ansatz gewissermaßen im Auslaufhorizont der „Überwindung“ (bzw. Dynamisierung) Kants durch Hegel und Darwin. Canguilhem hingegen rekonstruiert die Geschichte der Lebenswissenschaften mit dem Unterton, dass das Leben angesichts seiner internen Normativität keinen Gegenstand von Wissenschaft abgibt. Die Begründung der Biologie, ebenso wie der Physiologie, als Wissenschaft, die sich realhistorisch ja vollzogen hat, hält Canguilhem für paradox. Zu dieser Haltung, die oben als Canguilhems „militantes Argument“ gekennzeichnet wurde, siehe Canguilhem 2009b, 72. Hierzu passt eine Bemerkung, die Dominique Lecourt im Rahmen einer Canguilhem gewidmeten Radiosendung im Jahr 2007 gemacht hat: „Canguilhem a cette espèce de posture et de position constante qui est: refuser que des valeurs soient imposées à la liberté des individus sous l’apparence d’être des faits devant lesquels il faut s’incliner parce que c’est comme ça.“ So paradox es klingt: Canguilhem würde in Plessner einen Denker sehen, der mit der „liberté des individus“ allein deshalb nicht weit genug geht, weil er das Lebendige in einer Kontinuität zum Unbelebten (Ding) definiert und damit ein Einfallstor öffnet für die übliche Verkleidung von Werten als Fakten.

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Damit ist auf Seiten Canguilhems ein schlagendes Gegenargument zu Plessner herausgestellt. Wirft Plessner Driesch vor, den Vitalismus zu weit zu treiben, nämlich in das Dispositiv der Wissenschaften hinein (siehe Kapitel II.A.. dieser Arbeit), so bestünde die Kritik von Canguilhem an Driesch darin, nicht weit genug gegangen zu sein, nämlich nicht über die Wissenschaften hinaus, nicht in die militante Opposition gegen sie. Driesch verteidigt die Besonderheit des Lebens vor dem Tribunal der Naturwissenschaften, anstatt zu realisieren, dass es in letzter Konsequenz um die Zurückweisung genau dieser Gerichtsbarkeit selbst gehen muss. A fortiori greift dieser Einspruch Canguilhems gegen Plessner, sofern dieser Driesch dafür tadelt, durch die kausale Aufladung der Entelechie die Standards (wie das Trägheitsprinzip) außer Kraft setzen zu müssen, an die sich jede kausalmechanische Analyse minimalerweise zu halten hat. Plessners Philosophie des Organischen wäre für Canguilhem bloß eine weitere Spiegelung des Cartesianismus. Das Lebendige wird durch seine Fassung als „Ding“ mit der Ordnung der Natur rückvermittelt und verzahnt, um es als Phänomen beschreiben zu können, an das eine naturwissenschaftliche Betrachtung legitimerweise andocken kann. Anstatt mit der Möglichkeit einer Lebenswissenschaft zu brechen, was Canguillhem fordert, beansprucht Plessner im Gegenteil deren Fundierung. Plessners direkte Loyalität zu Kant bringt ihn in eine indirekte Abhängigkeit von Descartes. Plessners Absicht, das Lebendige als ein wissenschaftsfähiges Phänomen im Spiel zu halten, ist aber nur das eine Problem. Das andere entspringt der Frage, ob die Begrifflichkeiten, die er einführt, überhaupt taugen, um das Phänomen des Lebens in seiner elementarsten Dimension abzudecken. Plessners Konzeptualisierung des Lebendigen in Begriffen der Grenze und der Positionalität ist zu abstrakt02, zu elaboriert, um auf den Punkt zu bringen, was „Leben“ seinen fundamentalen Äußerungsformen nach ist. Man darf nicht unterschätzen, dass Canguilhem, anders als Plessner, keine Naturphilosophie, sondern eine „Geschichte der biologischen Gegenstände“ (Delaporte 200, 296) entwickelt. Canguilhem unterstellt keineswegs eine das Verhalten von Lebendigem erst ermöglichende Formierung, eine Positionalität, die „alle Erfahrungswissenschaften lebendiger Gegenstände voraussetzen und eingrenzen müssen“ (Krüger 200, 98). Was für Canguilhem zählt, sind Restrukturierungen der wissenschaftlichen Praxis, die durch neu aufgekommene Konzepte für lebende Phänomene erzwungen werden. Wie schon aufgezeigt, ist die Pointe dieser Perspektive, dass sich die Begriffe gewissermaßen aus den Dingen, die durch sie begriffen werden sollen, herschreiben03. Canguilhems Epistemologie übt eine Kritik der life sciences, die sich intim auf deren Dynamik versteht und den von ihnen hergestellten Bruch mit dem Vorwissenschaftlichen mit vollzieht (was nicht heißt: unkritisch 02

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Spätestens in Plessners Darlegung der exzentrischen Positionalität ist, wie Kai Haucke kritisch notiert, „der Punkt erreicht, an dem sich das philosophische Vokabular endgültig der Einbildungskraft entzieht und nebulös zu werden droht“ (Haucke 2000, 0). Die Sprünge zwischen den Konzepten bringen die Normativität des lebendigen Gegenstands zur Geltung: Die Fähigkeit des Lebendigen, von seinen einmal erreichten Standards abzuweichen, induziert ein Eigenleben jener Begriffe, die eingesetzt werden, um mit der Mobilität des Gegenstands Schritt zu halten. Dies ist der Grund, weshalb Canguilhem den Erfahrungswissenschaften in actu, und nicht der Philosophie, die Definitionsmacht über das Lebendige zuschanzt: Die Definitionen, die im Forschungsprozess von Biologie und Medizin kursieren und die sich historisch ändern, geben das Material ab, auf das allein sich eine Charakterbestimmung des Lebendigen stützen kann.

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affirmiert)0. Canguilhem setzt nicht auf Phänomenologie, er rekonstruiert historische Phänomenotechniken. Vertieft man sich auf dieser Folie noch einmal in Plessners Kategorien der Grenze und der Positionalität, erhält dieser Vorwurf einer fehlenden Schärfe, einer gewissen Nachträglichkeit gegenüber der Sache (des Lebendigen), mehr Substanz. Zunächst sei daran erinnert, welchen positiven Begriff der Grenze Plessner aufstellt – als einen Schlüssel, der den Weg für die weitere, facettenreichere Konzeption des Lebendigen frei machen soll: „Die Grenze gehört reell dem Körper an, der damit nicht nur als begrenzter an seinen Konturen den Übergang zu dem anstoßenden Medium gewährleistet, sondern in seiner Begrenzung v o l l z i e h t und dieser Übergang selbst ist. Deshalb wird hier die Grenze seiend, weil sie nicht mehr das (als Linie oder Fläche vorgestellte und darin eigentlich verfälschte) Insofern der wechselweisen Bestimmtheit, der selbst nichts für sich bedeutende leere Übergang ist, sondern von sich aus das durch sie begrenzte Gebilde als solches von dem Anderen als Anderem prinzipiell unterscheidet.“ (Plessner 97, 03)

Es ist nicht notwendig, erneut die phänomenologische Kadrierung auszubuchstabieren, die Plessners Verständnis des Lebendigen als ein „Ding“ zusammenhält. Nennenswert ist indes die Darstellung des Lebendigen als Vollzug oder Übergang insofern, als Plessner die Grenze nicht als ein für sich stehendes „leeres Zwischen“ betrachtet. Zu sagen, dass die Grenze als jene Matrix, die den Übergang stiftet, dem lebendigen Ding selbst angehört, bedeutet, dass Leben überhaupt nur in der Zirkulation, als ein Übergang in Permanenz, sein kann. Man kann sich das lebendige Ding nicht als eines vorstellen, das es auch unterlassen könnte, Grenzen zu ziehen. Doch Plessner kommt es mitnichten darauf an, das Phänomen des Lebens in einen puren Vollzug von Grenzsetzungen aufgehen zu lassen. Ganz im Gegenteil ist seine Exposition des Lebendigen von Anfang an nach der Logik der Doppelaspektivität arrangiert, d.h. in der Spannung „wahrnehmbarer und nicht wahrnehmbarer Seiten des Gegenstandes“ (Manzei 200, 70). Da Plessner von den konkreten Erscheinungen her denkt, ist in seinem Beschreibungsrahmen kein Platz für die strukturelle Auflösung von 0

Man muss also unterscheiden: Canguilhem hält sich zwar methodisch an die Polarität zwischen Wissenschaft und vorwissenschaftlicher Anschauung, d.h. er knüpft an die Realität eines epistemologischen Bruchs an. Aber dies tut er nicht, um sich selbst auf die Seite der Wissenschaft zu schlagen und die Legitimität des Bruches zu untermauern. Sein Anliegen lautet umgekehrt, „dem Vorwissenschaftlichen [seine] theoretische Würde“ (Delaporte 200, 297) zurückzuerstatten, die „heuristische Funktion“ (ebd.) von „Mythen und Bildern“ (ebd.) darzulegen, ohne, wie Bachelard, diese Funktion nur ex negativo in einer Blockade zu sehen, gegen die sich der wissenschaftliche Diskurs immer neu aufzurichten hat. Wie François Delaporte plausibel gemacht hat, bildet die „Geschichte des Begriffs“ (ebd., 300) bei Canguilhem die entscheidende Brücke, die von den wissenschaftlichen Theorien zu den Gegenständen, d.h., da es um Biologie geht, zu den lebendigen Phänomenen führt. So sehr Canguilhem das Lebendige innerhalb wissenschaftlicher Kontexte beschreibt, so sehr hat sein epistemologisches Verfahren zur Folge, die Gewichte zwischen Wissenschaft und Leben umzudrehen: Bei lebendigen Gegenständen handelt es sich nicht einfach um „reifizierte Theoreme“ (Bachelard). Vielmehr sind die wissenschaftlichen Theorien über das Leben mit ihrem Gegenstand, den sie nicht erst eigens produzieren, über die technische Praxis vermittelt. Die Auseinandersetzung mit dem Lebendigen geschieht primär über Techniken, und erst davon abgeleitet im Modus der Wissenschaft.

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Subjektivität. Das Lebendige liegt stets als Erscheinung vor, als Erscheinung von etwas. Nicht zuletzt sind die Stufen die Arena für einen kühnen Drahtseilakt, den Plessner mit dem Begriff des Lebens vollführt: Denn die Beschreibung des Lebendigen, die Plessner gibt, soll nicht bloß dem common sense, der im Alltag schon immer praktizierten Anschauung entsprechen, sondern ebenso in der geschickten Kombination philosophischer Traditionsbestände reüssieren. Plessner zeigt, wie es gelingen kann, das Lebendige weiterhin nach dem Modell von Substanz und Akzidenzien aufzufassen, jedoch gebrochen als hermeneutische Sinnrelation, die nun keinen Vorrang der Substanz mehr begründet. In Plessners Aufschließung der Frage nach dem Leben koinzidieren wie selbstverständlich die Praxis des Alltags und eine anspruchsvolle Neuschöpfung moderner Philosophie. Aber liegt es, wenn man elementare Manifestationen von Lebendigkeit in den Blick nimmt, tatsächlich so nahe, diese Sachverhalte auf eine Struktur der Grenzrealisierung zu beziehen? In dem keineswegs beliebigen Sinne, der dem Begriff der „Grenze“ bei Plessner zukommt? In exemplarischer Hinsicht kann man sich hier der Funktionsweise der Zelle zuwenden. Im 96 verfassten Nachtrag zu den Stufen diskutiert Plessner einige empirische Vorstöße, „die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für das Auftreten der Qualität ‚lebendig‘ an chemisch zu definierenden Verbindungen oder Systemen von solchen zu formulieren“ (Plessner 97, 36). Die Streitpunkte eines Moskauer Symposions aufgreifend, das 97 unter dem Titel The Origin of Life on the Earth statt fand, resümiert Plessner Positionen, die als Minimalkriterium für „Leben“ jeweils die Existenz von Zellen (bzw. Membranen), von Viren oder von Genen angeben. Die Bilanz, die Plessner aus dieser Konkurrenz von Erklärungsmustern zieht, lautet wie folgt: Ganz gleich, welcher Hypothese (Zelle/Membran, Virus, Gen) man anhängt0, in allen Fällen geht es um die „Durchhaltefähigkeit einer Struktur“ (ebd., 37), um ein sich selbst regulierendes Gefüge, das wiederum nicht begründbar ist „ohne ein eigentümliches Verhältnis zur Umgebung, einerlei, welchen Grad von Komplikation das Gefüge in seiner Stabilität besitzt“ (ebd.). Mit dieser Beobachtung lenkt Plessner die Aufmerksamkeit auf die Funktion der Membran, die darin besteht, die Differenz der Ionkonzentrationen beidseits der Zelle aufrecht zu halten06. Und hier hat die Argumentation einen sonderbaren Sprung: Plessner begreift die Semipermeabilität der Membran als Beleg für die „abschirmend-öffnende“ Dynamik der Grenzrealisierung07. Zwischen der empirisch untersuchbaren Operations0

06 07

In Bezug auf diese Auseinandersetzung um einander ausschließende empirische Faktoren schreibt Plessner kurz und bündig: „Über das Gewicht in der Nachprüfbarkeit der Argumente kann nur der Biochemiker urteilen, und hier ist alles im Fluß.“ Diese Aussage scheint Canguilhem aus dem Munde gesprochen zu sein, und doch stößt man hier zu einer massiven Differenz zwischen beiden Autoren durch: Während Canguilhem behauptet, dass die Originalität (Normativität) des Lebendigen in den Lebenswissenschaften direkt wirksam ist, was epistemologische Konsequenzen hat, treffen die Lebenswissenschaften nach Plessners Ansicht auf Korrelate einer Struktur, die sich als solche nur phänomenologisch-begrifflich ausweisen lässt und mit ihren Korrelaten nicht zusammenfällt. Dies gilt zum einen für die Biomembranen, die Organellen und Vakuolen vom Zytoplasma trennt, zum anderen für die Zellmembran, die den Zellinnenraum von der Umgebung abgrenzt. Siehe Plessner 97, 37f.: „Membranen sind nicht bloße Oberflächen, die jeder Körper je nach seinem Aggregatzustand gegen angrenzende Medien eines anderen Aggregatzustandes hat. Sie sind vermittelnde Oberflächen.

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weise der Membran und jener Aktivität (der Grenzrealisierung), die sich für Plessner als konstitutiv für Lebendigkeit erweist, sieht er ein Verhältnis der Entsprechung. Der Schritt hin zur Einführung einer das lebendige Ding grundierenden Positionalität, wodurch Grenzrealisierung überhaupt möglich wird, ist dann nur noch Formsache (ebd. 38). Man kann ermessen, was Canguilhem an Plessners Interpretation aussetzen würde: Plessner diktiert eine Denkfigur, die er (mit Recht) für philosophisch originell hält, in Sachverhalte hinein, die simpler sind, als es seine übersubtile Analyse wahrhaben will. Selbstverständlich sind Membranen, wie Plessner schreibt, „nicht bloße Oberflächen, die jeder Körper je nach seinem Aggregatzustand (…) hat“ (ebd., 37). Aber es ist ohnedies nicht der Körper, sondern die Zelle, die eine Membran aufweist. Plessner kreiert ein schiefes Bild. Er liest die „einschließend-abschirmende“ (ebd.) Logik der Doppelaspektivität, die er im Text phänomenologisch im Bereich der Gestalten durchspielt, in das zelluläre Mikrogeschehen, in die Leistung der Membran, ein. Jene „doppelsinnige“ (ebd.) Bewegung, die auf philosophischem Gebiet Plessners genialen Einfall darstellt, wird als eine Art Passepartout ausgegeben, dem die empirischen Vorgänge korrelieren. Es ist aber zweierlei und ein gehöriger Unterschied, ob man eine feinsinnige Strategie entwirft, um dem Lebensbegriff als dem historischen Apriori moderner Philosophie seinen Halt zu entziehen, oder eine redliche Deskription anstellt, die dem Verhalten lebendiger Entitäten getreulich abgewonnen ist. Grenzte es nicht an ein Wunder, wenn die lebendigen Dinge, endlich in der ihnen angemessenen Phänomenologie angeschaut, ausgerechnet jenes in sich gebrochene Spiel von Identität und Differenz verkörpern sollten, das als Dialektik ohne versöhnende Totalität unter der Hand zugleich die systematische Befreiung von Hegel wäre? Wenn das Lebendige der taktvolle Vollstrecker jener perfekten Diplomatie wäre, die Gegensätze in ihrer Polarität belässt und dennoch gemeinsam zum Tragen bringt? Legt sich Plessner dieses Phänomenverständnis nicht eher zurecht, und zwar nach Maßgabe einer raffinierten These, deren Pointe es ist, den Wesensgrund des Menschen offen zu halten? Besteht nicht der Einsatz, den Plessner in den Stufen eigentlich macht, in der Schaffung einer neuartigen Philosophieform, um die doppelte Diktatur der idealistischen Letztbegründung bzw. der kulturrelativistischen Historisierung menschlicher Natur zu überwinden? Jedenfalls enthüllt Plessners Einstufung der Zelltheorie eine entscheidende Schwachstelle seines Lebensbegriffs – so könnte Canguilhem argumentieren. Der springende Punkt wird gerade nicht erfasst, wenn man die Redeweise vom Doppelaspekt, von der Grenze und der Positionalität des Lebendigen bemüht. Das Membranphänomen ist besser durch die Norm als durch die Grenze beschrieben. In Canguilhems Text La théorie cellulaire aus La connaissance de la vie zeichnet sich diese mögliche Antithese zu Plessner ab: Wie die historische Nachverfolgung des Zellbegriffs bis hinein in die gegenwärtige Biologie (der 90er Jahre) zeigt, ist die streng mechanizistische Besetzung dieses Begriffs nie recht aufgegangen. Um einen veritablen Begriff der Zelle handelt es sich, Canguilhem zufolge, erst dann, wenn Normen in dieses Wort investiert werden, in dem Sinne, dass es An ihnen ist der Körper nicht einfach zu Ende, sondern zu seinem Medium in Beziehung gesetzt. Der ihn bildende Molekularkomplex (oder vielleicht auch das Molekül) bewahrt sein pattern nicht allein im Zustande der Vermehrung, sondern in der konstanten Berührung mit dem angrenzenden Einwirkungsbereich. Der Eigenbereich, gegen ihn abgeschirmt und zu ihm geöffnet, steht mit ihm in distanziertem Kontakt.“

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fortan das Lebendige auf eine bestimmte Art „ins Auge fasst“ (Delaporte 200, 300) und methodisch kontrollierbar macht08. So gesehen, lässt sich zwar für den Zellbegriff ohne Weiteres eine Genealogie mechanizistischer Normen rekonstruieren (Linné, Haller, Buffon, Haeckel, Bernard), worin Zellen nach der Logik von Atomen gedacht werden, die miteinander nach den statischen Gesetzen der Mechanik zusammenhängen. Doch in Opposition zu dieser Genealogie zirkulierte von jeher eine andere Aufladung des Zellbegriffs, die in der Zelle kein atomistisches Partikel, sondern „als Element in einem beweglichen Zusammenhang“ (Canguilhem 2009a, 30) ausgemacht hat (Oken, Prenant, Gobineau, Bichat, Comte). In der Perspektive, die diese Tradition einschlägt, wird die Definition der Zelle als für sich stehende letzte Positivität des Lebens zurückgewiesen. Jede Zelle ist in ein Auseinandersetzungsgeschehen mit ihrem spezifischen Milieu involviert. Leben beruht auf der dynamischen Interaktion von Zelle und Milieu, nicht auf der Akkumulation solitärer Zellen. Für Canguilhem weckt besonders die Erforschung der Polykaryozyten und der Viren Zweifel am atomistischen Verständnis des Zellbegriffs. Eher als die kleinsten individuierten Aufbauelemente des Lebens scheinen Zellen vielmehr, wie Canguilhem, Hans Petersen zitierend, schreibt, „die Organe eines einheitlichen Körpers“ (Canguilhem 2009a, 3) zu sein, Strukturen, für die in Miniatur gilt, was auch im Großen passiert: Die Hineinverwicklung des Organismus, der zugleich ein Individuum und eine Totalität ist, in die Auseinandersetzung mit dem Milieu09. 08

09

Obwohl der Botaniker Georges-Louis de Buffon (707–788) über keinen Begriff von der lebendigen Zelle verfügt, sieht Canguilhem in Buffons Konzeption eines molekularen Aufbaus des Organischen, die sich ganz aus dem Anspruch inspiriert, Newtons Physik nahtlos auf die Biologie zu übertragen, eine wichtige Weichenstellung. Buffon spekuliert über das Prinzip einer „inneren Gussform“ („moule intérieur“) der Organismen, das zugleich ihre morphologische Individualität erklärt und ihre universal gültige molekulare Organisation sichert. Siehe dazu Canguilhem 2009a, 99f.: „Dies ist die logische Abstammungslinie, die unserer Meinung nach das Entstehen der Theorie der organischen Moleküle erklärt. Eine biologische Theorie geht aus dem Prestige einer physikalischen Theorie hervor. Die Theorie der organischen Moleküle exemplifiziert eine Erklärungsmethode, die analytische Methode, und privilegiert einen Typus des Denkens, das Denken des Diskontinuierlichen. Die Natur wird auf die Identität eines Grundelements zurückgeführt – ‚eine einzige Antriebskraft und ein einziger Gegenstand‘ –, dessen Komposition mit sich selbst den Anschein der Vielfalt erzeugt – sie kann ihre Werke ‚endlos variieren‘.“ Canguilhem schaltet ein Zitat des rassistischen Biologen Arthur de Gobineau (86–882) aus dessen Schrift Mémoire sur diverses manifestations de la vie individuelle (868) ein, um in seiner Rekonstruktion der Geschichte des Zellkonzepts eine Bedeutungsverschiebung hin zur Relation zwischen Gesamtorganismus und Milieu festhalten zu können. Dabei wird kaum die Ähnlichkeit maskiert zwischen Gobineaus Position und Canguilhems eigenem Lebensbegriff, wie er ihn an anderer Stelle explizit vertritt. Allerdings teilt Canguilhem selbstverständlich nicht Gobineaus Glorifizierung einer „arischen Herrenrasse“. Gobineaus Rassismus erscheint eher als die Vulgarisierung von Nietzsches Idee des Lebens als Übertrumpfung der Umwelt, die zunächst einmal als die (begrüßenswerte) maximale Gegenposition zum deterministischen Verständnis des Milieus gesehen werden kann. Siehe Canguilhem 2009a, 30 (zitiert nach Gobineau 868): „Damit es einem individuellen Wesen gewährt ist zu existieren, genügt es nicht, dass es mit der vollen Gesamtheit der Elemente versehen ist, die ihm zukommen. Ohne ein besonderes Milieu ist es nicht, und wenn es wäre, würde es keine Sekunde überdauern. Es besteht darum absolute Notwendigkeit, dass alles, was lebt, in einem Milieu lebt, das ihm zuträglich ist. Folglich ist für die Erhaltung der Wesen, das heißt für den Fortbestand des Lebens, nichts wichtiger als die Milieus.“

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Was Plessner nicht hinnehmen will, ist der schlichte Fakt, dass die Funktionsweise der Zelle am ehesten durch eine basale darwinistische Intuition getroffen ist. Seine Beschreibung der Sache ist überdeterminiert. Wenn die Leistung der Membran darin besteht, das Gefälle der chemischen Konzentrationen zu perpetuieren, die inner-und außerhalb der Zelle herrschen, so verweist uns dies vor allem auf die Tendenz des Lebendigen, sich gegen sein Abgleiten in das Milieu, gegen seine eigene Annullierung, d.h. gegen den Tod zu sperren. Minimalerweise ist Leben gekennzeichnet durch die Reproduktion jener Polarität, durch die es den Tod als das absolut Andere von sich abhält0: Ein Wesen, das diese permanente Grenze gegen den Tod nicht mehr zieht oder nie ziehen muss, mag ein Toter, ein Engel oder ein Gott sein, aber es ist kein Lebewesen. In der Tat ist das Lebendige dasjenige Phänomen, das seine Grenze realisiert. Aber diese Grenzsetzung hat nicht die Struktur einer Entfundamentalisierung der Extreme (Innen/Außen). Das Leben folgt keineswegs jener von Plessner in den Grenzen der Gemeinschaft so hoch geschätzten (Plessner 98a, 9–2) „Logik der Diplomatie“ oder „Hygiene des Taktes“. Seine Grenze zu realisieren bedeutet für das Lebendige vielmehr, seine eigene Wertigkeit zu behaupten, d.h. die Normen, die seinen Fortbestand sichern, gegen all das zu maximieren, was seinen Fortbestand bedroht. Auch für Plessner gilt, was Canguilhem in La théorie cellulaire konstatiert: „Eine politische Philosophie beherrscht eine biologische Theorie“ (Canguilhem 2009a, 26)2. Den Vitalismus lehnt Plessner ab, weil er in ihm einen latenten politischen Radikalismus sieht. Darum kann im Raum der Biologie nicht sein, was in der Welt der Politik nicht sein darf. Mit dem Theorem der exzentrischen Positionalität kreist Plessner ein humanistisches Ideal von Würde ein, eine Freiheit des unergründlichen menschlichen Wesens gegenüber all seinen definitiven Festlegungen auf eine letzte Wertesubstanz (Gott, Ge0  2

Dazu Canguilhem 973, 26 oder 32. Siehe dazu die schon andernorts zitierte basale Definition unter Canguilhem 99b, 30: „Tout ce qui est vivant, la cellule, le tissu, généralise.“ Eben hier liegt das diskursive Problem, das Canguilhem für die Geschichte des Zellbegriffs, die wiederum eine exemplarische Geschichte ist, herausarbeitet. Die Geburt des atomistischen Zellbegriffs geschieht im Geiste des neuzeitlichen Republikanismus: Der soziale Körper ist ebenso wie der organische Körper ein Ganzes, das sich aus der Summe seiner Teile zusammensetzt. Es verläuft eine Kontinuität zwischen der Vorstellung von der Zelle als in sich abgeschlossener, funktionaler Ganzheit und der Vorstellung des Bürgers als strukturell uneigenmächtiges Individuum, als „Sache“ und nicht als „Form“ (Canguilhem 2009a, 03). Hingegen verwahrt sich Comte gegen den Atomismus der Zelle, weil er ein politisches Projekt vertritt, für das die Idee eines sozialen Individuums eine Abstraktion darstellt. Comte projiziert das synthetische Ganze des gesellschaftlichen Organismus’ zurück in die Teilsphären, die er in sich integriert: So gibt es immer schon eine geschichtliche, auf dem Niveau des Menschen ausgebildete Option, welche die Wissenschaften vom Unbelebten und des subhumanen Lebens (Physik, Chemie, Biologie) implizit strukturiert. Ein weiteres Beispiel ist die Aufkunft vitalistischer Konzeptionen im Umkreis der „Schule von Montpellier“, und zwar im Wechselspiel mit der Fiktion eines Gesellschaftsvertrags, die den Staat als einen die Summe seiner Teile transzendierenden, schöpferischen Organismus denkt (ebd., 63). Alles in allem ist wichtig (ebd., 9): „Depuis qu’on s’est intéressé à la constitution morphologique des corps vivants, l’esprit humain a oscillè de l’une à l’autre des deux représentations suivantes: soit une substance plastique fondamentale continue, soit une composition de parties, d’atomes organisés ou de grains de vie. Ici comme en optique, les deux exigences intellectuelles de continuité et de discontinuité s’affrontent.“

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meinschaft, Vernunft…): Wie schlecht passt in dieses Bild des Menschen ein Verständnis des Lebendigen, wonach sich dieses, ganz taktlos und undiplomatisch, keineswegs dadurch auszeichnet, psychophysisch indifferent zwischen seinen Extremen zu prozessieren – sondern dadurch, Partei zu nehmen, und zwar für sich selbst? Also nicht, Differenzen zu neutralisieren, sondern seine eigene Differenz zu verteidigen? Genau genommen liegen in Canguilhems Diskussion des Zellproblems, die völlig anders gelagert ist als Plessners Lösungsweg, zwei Kritikpunkte an Plessner. Der erste könnte lauten, dass Plessners Termini zur Darstellung des Lebendigen nur das Echo dessen sind, was Canguilhem als „biologische Normativität“ bezeichnet. Plessner fängt in seinen Beschreibungen sehr wohl das Grundverhalten alles Lebendigen ein, das darin besteht, die eigenen Normen in der polaren Entgegensetzung gegen den Tod zu etablieren. Aber die Theorie des Lebendigen, wie Plessner sie entwickelt, ist beseelt von einer ganz bestimmten epochalen Transformation, die Plessner in der Philosophie seiner Zeit erreichen will. Sein Ehrgeiz gilt der Formulierung einer spekulativen Dialektik der „Verschränkung“, einem Denken in prozessualen Widerspruchsfiguren, die durch keine Hegelsche Totalität mehr synthetisch versöhnt werden können3. Es ist dieses Programm einer „Neuschöpfung der Philosophie“, das nicht nur eine subtile Neufassung der relevanten Traditionen (Ontologie, Transzendentalphilosophie, Phänomenologie, Hermeneutik, Dialektik) verlangt, sondern auch Plessners Perspektive auf das Lebendige von Anbeginn regiert. So sehr also Plessners Kategorien implizit vom normativen Grundzug des Lebenden, sich gegen sein Milieu abzugrenzen, zehren, so sehr läuft es der ganzen Anlage seiner Philosophischen Anthropologie zuwider, die totalitäre Konsequenz des Vitalismus zu ziehen: Wonach das Leben der sich selbst genügende Grund aller Wirklichkeit wäre. Genau diese Einsicht aber spricht Canguilhem unumwunden aus, und seinen Begriff der Norm könnte er gegenüber Plessners Begriff der Grenze als das durchaus simpler gestrickte, aber effizientere Konzept verstehen, um das Lebendige in seiner Spezifität anzusprechen. Hier knüpft der zweite Kritikpunkt an. Plessners Auffassung des Zellproblems zeigt, dass er die Betrachtung des Lebendigen, die er durch ein phänomenologisches Verfahren in Bezug auf Erscheinungen gewinnt, auch noch in jene Mikroprozesse hinein projiziert, die sich der Anschauung entziehen. Von der Membran wird unterstellt, sie entspreche der Struktur der Grenze, wie sie Plessner am Erscheinungsbild lebendiger Gestalten heraushebt. Damit wird etwas in das lebendige Verhalten hinein getragen, was sich auf der Mikroebene nicht nachvollziehen lässt. Durch seine Orientierung am „lebendigen Ding“ 3



Exzentrische Positionalität ist die Spitze dieser tragischen Dialektik, weil sie nicht das gründende Ganze einer in sich gebrochenen Natur repräsentiert, sondern ein in sich dynamisches, sich selbst überschießendes Prinzip, das sich stets in die Rotation von Widersprüchen verteilt. In diesem Sinne behauptet Frédéric Worms schlüssig, dass Canguilhem unter der Norm sowohl die von den lebendigen Phänomenen selbst ausgestellte Differenz versteht, die diese von den unbelebten Dingen trennt, als auch jene Begrifflichkeit, die uns Zugang zu dieser Differenz verschafft. Siehe Worms 2009, 360: „Tout se passe comme si la différence concrète première entre le normal et le pathologique devenait aussi, aux yeux de Canguilhem, la distinction théorique ultime qui permet de définir le vivant comme tel. (…) Avec cette double différence, on aurait, si l’on veut, les critères conceptuels propres du vivant.“ [Hervorhebungen i.O., T. E.]

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macht sich Plessner von den Möglichkeiten (und Normen) der Phänomenologie abhängig. Nun gibt es aber nicht-dingliche Artikulationen von Leben – z.B. zelluläre Prozesse –, die nicht für den common sense, sondern allein unter dem Mikroskop sichtbar sind und von Anfang an den Charakter technischer Konstrukte haben. Das lebendige Objekt, unter dem Mikroskop (oder im Labor, in der Klinik etc.) fixiert, ist ein Konstrukt, das nach Maßgabe der diskursiven Normen und der technischen Filter, denen man es unterwirft, überhaupt erst erstellt wird. Wenn man diesen Gedanken Ernst nimmt, so heißt das nichts anderes, als dass es „das Lebendige“ unabhängig von je spezifischen Versuchsanordnungen und Techniken, die eingerichtet werden, um etwas über „das Lebendige“ feststellen zu können, überhaupt nicht gibt. Es exisiert stets nur als Korrelat einer Phänomenotechnik, als Moment in einem Experimentalsystem. Es ist eine Projektionsfläche für bestimmte Normen, Erkenntnisinteressen, Mächte und Techniken, die historisch in einem hohen Maße variieren und sich zueinander diskontinuierlich verhalten. Canguilhem thematisiert das Lebendige als ein diskursiviertes Objekt, dem man sich nicht nähern kann, ohne bereits eine Wertung in es zu investieren, ohne es normativ zu überformen. Dies gilt für die Wissenschaft und für die Epistemologie gleichermaßen. Der Epistemologe muss seinen eigenen Standpunkt als Wertstandpunkt, seine historischen Rekonstruktionen als nicht-neutrale Rekonstruktionen begreifen: als Genealogien. Doch Plessner beansprucht eine Methode (die Phänomenologie), die mehr sein soll als eine kontingente Norm, und die Einsicht in eine sich durchhaltende Konstitution des Lebendigen (Positionalität), die allen wissenschaftlich auffindbaren Merkmalen vorgängig sein soll. Für Canguilhem aber wären sowohl Plessners wertfreie (indifferente) Phänomenologie als auch die Positionalität als vermeintlich grundsätzliche Kompositionsform von Lebendigkeit Fiktionen. Gerade weil sich das Lebendige, als Korrelat einer diskursiven Praxis, seiner Generalerkenntnis durch Bewusstsein (connaissance) verschließt, muss an den Platz der Phänomenologie die Phänomenotechnik treten6. Und Positionalität ist kein Schlüssel zum Verständnis des Lebendigen, Positionalität ist ein Substrat: Es handelt sich um einen Begriff, der wohl einer Philosophie der Philosophen, nicht aber einer Philosophie der Wissenschaftler entsprungen ist. In einer Kritik an Plessner hätte Canguilhem womöglich ganz ähnlich argumentiert, wie Foucault es gegen Sartre getan hat, nämlich an Hand der Opposition zwischen einem „spezifischen“ und einem „universalen“ Denken 

6

Dazu Canguilhem 979c, 7: „Die Wahrhaftigkeit (véridicité) oder das Die-Wahrheit-Sagen der Wissenschaft besteht nicht in der getreuen Wiedergabe irgendeiner seit jeher den Dingen oder dem Verstand eingeschriebenen Wahrheit. Das Wahre zeigt sich in dem, was die wissenschaftliche Rede aussagt.“ [Hervorhebung i.O., T. E.] Siehe Worms 2009, 39: „Le point essentiel est celui du conflit: ce qui va définir le vivant, c’est sa relation et même son opposition avec le milieu. Cette opposition n’est pas entre ‚la pensée et la vie‘, mais elle ne permet pas non plus à la pensée de saisir aussitôt ‚la vie‘. Il n’y a pas plus de concept direct que d’intuition immédiate de ‚la vie‘ en général ; ce qui est pour ainsi dire donné, mais qui doit faire l’objet d’un approfondissement conceptuel, plus que d’une description phénoménologique.“ [Hervorhebung i.O., T. E.] Im Sinne eines, wie Worms schreibt, „approfondissement conceptuel“ und gewendet gegen die Phänomenologie kann auch Braunstein behaupten, dass „l’épistémologie française s’est constamment et explicitement déclarée hostile à toute théorie de la connaissance.“ (Braunstein 2002, 929)

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(dazu Foucault 2003a, 6). Plessner erschiene dabei, wenig überraschend, als Widergänger Sartres und Repräsentant des universalen Intellektuellen: Wie sonst sollte man das Projekt einer „allgemeinen Hermeneutik“ verstehen, die es für die Moderne noch einmal unternimmt, den Menschen als personale Einheit von Natur und Geschichte aufzuführen?7 Verbirgt sich nicht auch hinter der exzentrischen Positionalität „als (…) letzte in Anspruch zu nehmende Verstehensmöglichkeit für horizontale und vertikale Vergleiche“ (Krüger 2006a, 2) – eine Philosophie des Bewusstseins und des Subjekts8? 7

8

Gerade Olivia Mitscherlichs profunde Exegese lässt keinen Zweifel aufkommen, dass Plessner „philosophische Orientierung in seiner Zeit erreichen will“ (Mitscherlich 2007, 6; Hervorhebungen i.O., T. E.]. Seine Antwort auf die biologistischen und historistischen Relativierungen des Menschen seit dem 9. Jahrhundert liegt in einer negativen Metaphysik, in welcher der Mensch immerhin noch „als Fluchtpunkt auftreten“ (ebd., 8) soll, wenn er schon nicht mehr als ihr positiver Anker fungieren kann. Aber daraus erwächst die Frage, ob dieses Projekt nicht der Logik eines „Es kann nicht sein, was nicht sein darf“ folgt. Was, wenn es zu der (problematischen) Vernunft, die die totalitären Anthropologien des Lebens und der Geschichte ermöglicht hat, keine Alternative gäbe? Ist es nicht eines, der modernen Vernunft einen totalitären und kruden Charakter zu bescheinigen, aber ein anderes, ihr eine alternative Vernunft gegenüber zu stellen, die zweifellos den Vorzug hat, in keine totalitäre Wesensbestimmung des Menschen mehr zu verfallen? Hieße das nicht, die moderne ratio, die auf ein positives Absolutes drängt, im Namen einer philosophisch sublimen Vernunft abzulehnen, die deshalb ideal ist, weil sie ohne eine solche letzte Positivitätssetzung auskommen kann? Zumindest müsste, wer so nachdrücklich auf „Plessners Streben nach philosophischer Orientierung in der Moderne“ (ebd., 8) setzt, überzeugend klären, inwiefern Plessners „Idee des ganzen Menschen“ (ebd.) mehr ist als die normative Reaktion auf eine deskriptive Diagnose (der Pathologie moderner Vernunft). Es ist an diesem Punkt sinnvoll, noch einmal an die Regie zu erinnern, die meinen Vergleich von Canguilhem und Plessner leitet. In der Tat möchte ich eine Art Rollenspiel entwickeln, in dem jeder der beiden Autoren den jeweils anderen so kritisiert, wie es die je eigenen Hauptthesen, philosophischen Gesamtintentionen, Methoden etc. zugelassen und verlangt hätten. Diese Dramaturgie bringt es mit sich, den beiden Protagonisten Argumente gewissermaßen in den Mund zu legen. Die Kritikpunkte, die hier durchgespielt werden, dienen immer auch dazu, die strategischen Interessen des Kritikers, die Fragestellungen und Thesen, in denen er sich bewegt, sichtbar zu machen. So bin ich mir darüber im Klaren, dass die Plessner-Forschung exzellente Gründe anführen kann, weshalb es sich bei Plessners Konzeption eben nicht um eine „Subjektphilosophie“ vom Kaliber Sartres handelt. Wenn ich dennoch eine solche Lektüre evoziere, so geschieht dies gleichsam durch die Brille Canguilhems. Man darf nicht vernachlässigen, dass es hier um ein deutsch-französisches Aufeinandertreffen geht, in der notwendig gewisse Kontexte und Spannungsfelder, die sich in der je anderen Kultur abzeichnen, mitgesehen werden: Z.B. war Canguilhem, der Plessner nicht kannte, u.a. mit Scheler und dessen Einfluss auf Sartres Personalismus oder mit Buytendijk und dessen Rolle für die französischen Phänomenologen (Merleau-Ponty) vertraut. Umgekehrt hat Plessner, der Canguilhem nicht kannte, Bachelard gelesen und kollegiale Kontakte etwa zu Aron und Koyré gepflegt. Im Übrigen kann man sich kaum vorstellen, dass Plessner Canguilhem nicht auch über seine vielschichtigen Verbindungen zu Foucault beurteilt hätte – wobei auch Foucault Plessner unbekannt war. Natürlich lautet die Aufgabe, die Struktur aus Vorurteilen und (teils „wissenschaftspolitisch“ gewollten) Vereinfachungen abzubauen, die es unmöglich macht, unsere Bezugsautoren in ihrer Eigenständigkeit zu erkennen: Plessner ist nicht Scheler und nicht Sartre, Canguilhem ist weder Foucault noch Althusser. Aber das schließt natürlich nicht aus, dass polemische Überspitzungen und extreme Deutungen – gegen die sich die jeweiligen Forschungen aus guten Gründen verwahren können – mithelfen, die Originalität beider Autoren ans Licht zu bringen.

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Im Unterschied zu einer derart globalen Philosophie weist Canguilhem (wie Foucault) der Philosophie einen spezifischen Platz zu, und zwar den Platz der Kritik auf einem eng begrenzten Feld, das immer schon durch wissenschaftliches Wissen bevölkert ist. Philosophie besteht nur in Relation zu wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion. Plessner, der eine ganze Grundlagentheorie des Lebendigen aufbietet, bindet die Frage nach dem Wissen vom Leben an eine transzendentale Logik und letztlich an eine Subjektposition (exzentrische Positionalität), auf der das Erscheinen lebendiger Dinge überhaupt möglich ist. Was sich ihm in dieser Anlage seiner Theorie entzieht, ist die strukturelle Produktion des Lebendigen als ein Diskurseffekt – ein Vorgang, der nur aus der genauen Analyse des Expertenwissens und der Mächte, von denen es umstellt ist, verständlich gemacht werden kann9. Genau auf dieser Ebene struktureller Produktionen arbeitet Canguilhem: Sie ist das Herz seiner, und nicht nur seiner, Epistemologie. Mit den zuletzt entwickelten Überlegungen stehen wir an der Schwelle zu dem nächsten Zusammenhang in Plessners Ansatz, den wir mit Canguilhem befragen wollen: Wie ist, Plessner folgend, ein Wissen vom Leben möglich, das seinen Gegenstand in der ihm eigenen Originalität trifft? Bevor wir diesen Komplex betreten, empfiehlt es sich, die im soeben beendeten Abschnitt der Argumentation erprobte Sicht auf Plessners Philosophie gleichsam ins Grundsätzliche auszuweiten. Der Hauptgedanke war, dass Plessners Begrifflichkeiten zur Beschreibung des Lebendigen noch einen uneingestandenen Abglanz jener Dynamik haben, die für das Lebendige wahrhaft konstitutiv ist. Die Vokabeln der Grenze und der Positionalität sind umspielt von der Einsicht, dass der innerste Zug alles Lebendigen seine Normativität ist, seine wertende und polarisierende Kraft. Dieser Totalitarismus, dieses „Ganz oder Gar Nicht“ als vitales Verhaltensprinzip hat aber bei 9

Eine Kritik an der Beschränkung auf subjektive Relationen, die der Struktur des Positionalitätsbegriffs inhäriert, führt auch Alexandra Manzei (Manzei 200). Im Anschluss an Gesa Lindemann erkennt Manzei zwar die Pointe der exzentrischen Positionalität an, „die Grenzziehungen zwischen lebendigen und unbelebten Dingen als historisch konkrete Deutungsprozesse und damit die Antworten auf anthropologische Fragen als kontingent auszuweisen“ (ebd., 76). Doch in Sicht komme bei Plessner dadurch allein ein Verständnis von Kontingenz im Sinne der Offenheit und Unabschließbarkeit der Selbstauslegungen personaler Lebewesen. Dieser Raum der Kontingenz ergebe sich aus der „Form der (…) Lebewesen“ (ebd.), deren Selbstbezug durch exzentrische Positionalität ermöglicht wird. Demgegenüber können anthropologische Zuschreibungen, so Manzei, aber auch kontingent sein im Sinne „umkämpfter Deutungen“ (ebd.): Grenzziehungen zwischen Leben und Tod entstehen auch immer aus dem Spiel diskursiver Mächte, aus Interessensstrukturen heraus, die sich rasch ausbilden und verflüchtigen können. Ein Beispiel dafür ist das Hirntodkonzept, das zwar auch als „Grenzregime der Inklusion und Exklusion sozialer Akteure“ (ebd., 77) zu lesen sei, primär aber auf eine uneindeutige Verflechtung strategischer Interessen verweise, die sich aus der institutionellen Verteilung von Macht ergeben: Wird der Hirntod klinisch so definiert, dass sämtliche zerebrale Funktionen in Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm als irreversibel erloschen gelten müssen, so ist klar, dass bis zum Eintritt genau dieses Zustands ein Spielraum herrscht, in dem komplexe Therapien und pharmazeutische Maßnahmen noch greifen können. Eine „Mikrophysik der Macht“ (Foucault), die sich angesichts derartiger Verflechtungen biomedizinischer Normen mit kommerziellen Mechanismen empfiehlt, sucht man in Plessners Ansatz vergeblich. Dazu Manzei 200, 77: „Ausgehend von den sozialwissenschaftlichen Arbeiten Plessners, wie bspw. Macht und menschliche Natur (Plessner 93), ist es zwar möglich, subjektive Machtbeziehungen als Interaktion zwischen Individuen zu thematisieren, strukturelle Macht-und Herrschaftsverhältnisse lassen sich damit jedoch nicht erfassen bzw. erklären.“ [Hervorhebungen i.O., T. E.]

Erster Akt: Der Begriff des Lebens

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Plessner nicht das letzte Wort, oder besser: darf nicht das letzte Wort haben. Seine Philosophische Anthropologie tritt an, um die fatalen Radikalismen des Zeitalters in ihre Schranken zu weisen und ihnen das „liberale Ethos der Würde“ (Haucke 2003) entgegen zu halten, das darauf beruht, jeder totalitären Bestimmung des Wesens des Menschen zu entsagen. Das Wesen des Menschen ist unergründlich. Wenn aber Plessner mit dem Konzept der Grenze unterschwellig kommuniziert, was Canguilhem mit dem Begriff der Norm unumwunden sagt – wenn Plessner neutralisiert, was Canguilhem affirmiert –, dann stellt sich die Frage, ob es Plessners Naturphilosophie nicht einen Überschuss in sich trägt, der sich den Absichten seiner Philosophischen Anthropologien entzieht und diese ins Wanken bringt. Für Canguilhem wäre der Begriff des Lebens selbst ein solcher Rest in Plessners Denken. Aus Aspects du vitalisme lässt sich diese Idee präziser herleiten. In diesem Text argumentiert Canguilhem so: Jede Philosophie und jede Wissenschaft, die sich das Leben zum Gegenstand nimmt, wird ihrerseits von der eigentümlich schöpferischen Qualität des Lebens erfasst20. Jede Erkenntnis, die sich auf das Lebendige bezieht, erhält dessen Signatur und trägt diese fortan in sich. Man kann davon ausgehen, dass Canguilhem in einer Plessner-Lektüre das Strukturmoment der Positionalität gegen die Exzentrizität autonomisiert hätte. Wie man es auch dreht, der Mensch bleibt, bei aller exzentrischen Brechung, auf seine lebendige Konstitution zurückgeworfen: Dies könnte die Quintessenz seiner Kritik sein. Der exzentrische Charakter des Menschen hängt genau in der Weise von Positionalität ab, in der eine attributive Bestimmung an ein Substantiv gebunden ist. Unter diesen Umständen fällt es nicht schwer, Canguilhems mögliche Exegese in der internen Plessner-Diskussion zu verorten. In der Frage, welches systematische Modell zur Begründung des Menschen den Primat in Plessners Denken übernimmt2, könnte sich Canguilhem der These von einer „Biophilosophie als Kern des Theorieprogramms der Philosophischen Anthropologie“ (Fischer 200) anschließen. Freilich müsste man den Akzent dann anders setzen, als es die Verfechter dieser Forschungsansicht tun: Für Canguilhem wäre Plessner letztlich ein Vitalist wider Willen, ein Denker des Lebens, dessen Denken die „innere Dynamik“ (Muhle 2008, 2; Hervorhebung i.O.) des Gegenstands in sich aufnimmt. Plessners Zugeständnis an die Singularität des Lebens ist ein Richtungsentschluss, aus dem keine Ausstiegsklausel mehr herausführt. Vielmehr strukturiert diese Weichenstellung Plessners Philosophische Anthropologie im Weiteren und im Ganzen. In der Forschung gibt es für den merkwürdigen Überschuss, den die Struktur des Lebendigen in Plessners Argumentation bringt, zahlreiche Indizien. So stellt Haucke heraus, dass der Bezug auf lebendige Dinge auch dann schon im Spiel ist, wenn es bei Plessner vorderhand erst einmal um die Wahrnehmung und Kennzeichnung des Unbelebten geht: Wir blicken auf das Unbelebte hin als eine Entität, die ein ganz spezifisches Charakteristi20

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Selbst die mechanistischen Systeme müssen die Voraussetzung eines schöpferischen Moments machen. Mag auch der Organismus in seiner Funktionsweise der Maschine gleichen, und mögen seine Partien zueinander in denselben mechanischen Abhängigkeiten stehen wie die Komponenten der Maschine, so ist damit noch nicht die zeitliche Herkunft dieser Maschine, der unableitbare Akt ihrer Einsetzung, erklärt. Descartes rekurriert zu diesem Zweck auf Gott, der sich bei der Einrichtung der Organismus-Maschine auf ein lebendes Vorbild gehalten habe. Dazu Muhle 2008, 87. Einen sehr bündigen und klaren Überblick über die Positionen zu dieser Frage und die entsprechenden Fraktionen gibt Mitscherlich 2007, 3–6.

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kum – nämlich im Doppelaspekt zu erscheinen – nicht besitzt. An das, was nicht lebt, legen wir den Maßstab einer Selbstbezüglichkeit an, die auf dem Niveau dieser Phänomene noch gar nicht ausgebildet wird. Und ganz so, als ob „wir zunächst gewohnt sind, dass uns Lebendiges begegnet“ (Haucke 2000, 9), schreitet der Prozess unserer Wirklichkeitserschließung sukzessive zu komplexeren Formen fort, die unsere „Erwartung“ (ebd.) nicht länger frustrieren. Haucke markiert die Stelle, an der Plessners Gedankenführung bereits eine Vorerfahrung von Lebendigem unterstellt, obwohl das Lebendige noch nicht explizit in die Argumentation eingeführt worden ist. Gleichsam am anderen Ende dieser „elementaren Logik des Lebens“ (Fischer 2000, 277) zeigt Plessner nun aber, Fischer zufolge, das Leben auch dort noch als den immanenten Rahmen unserer Erfahrung auf, wo wir uns, traditionellen Vorurteilen nach, nicht mehr innerhalb des Lebens wähnen – sondern in dem Bezirk, der noch bei Scheler dem reinen Geist vorbehalten ist. Ebenso, wie wir uns spontan an dem Kontakt mit lebendigen Präsenzen orientieren, selbst wenn uns realiter „nur“ Unbelebtes begegnet, kann der Mensch, bei aller „Ort-Zeitlosigkeit der eigenen Stellung“ (Plessner 97, 300), nicht umhin, sich auf seine spezifisch lebendige Konstitution einzuspielen. Was Plessner Personalität nennt, „muss sich (…) minimaler Weise in einer Körper-Leib-Differenz positionieren können“ (Krüger 2006b, 7; Hervorhebung i.O.)22. Die Unentscheidbarkeiten, die dem Menschen aus seiner exzentrischen Positionalität erwachsen, muss er immer wieder so austarieren und verteilen, dass sie allem voran eines sind, werden oder bleiben: „lebbar“ (ebd., 73; Hervorhebung i.O.). Man sieht, dass Canguilhems vitalistische Lektüre, die in Plessners Fassung des Lebens von einem durch diese Fassung nicht mehr kontrollierbaren Überschuss fragen würde, am Begriff der Positionalität angreifen kann. Die von Plessner (von Dilthey her und zugleich gegen ihn) begründeten „Kategorien des Lebens sind also nicht statisch konzipierte Wesensgesetze eines an sich wohl Dynamischen, sondern dynamische Konzeptionen“ (Plessner 98b, 7), dank derer „die Philosophie (…) auf eine ganz neue Art in Austausch mit der Erfahrung“ (ebd.) tritt. Durch die Kategorie der Positionalität 22

Mit Canguilhem kann man die Figur der exzentrischen Positionalität also so lesen, dass die Stellung des Menschen primär durch ein Bestreben geprägt ist, sich „am Leben zu halten“, sich zu zentrieren. Natürliche Künstlichkeit, vermittelte Unmittelbarkeit und utopischer Standort schieben sich als die perspektivischen Filter über den Lebensvollzug. Aber müsste man nicht erklären, weshalb Lebewesen, deren Verhalten unter diesen Gesetzen steht, es ganz offensichtlich vermeiden, durch diese Gesetze „blockiert“ zu werden? Weshalb sie es bevorzugen, diese Vermittlungen zu spontanisieren, anstatt sich durch sie paralysieren zu lassen? Eine der Paradoxien (oder Ironien) der exzentrischen Positionalität liegt darin, dass die durch sie bestimmten Lebewesen nicht so sehr dazu tendieren, die Künstlichkeiten, Indirektheiten und Reflexivitäten, die ihnen aus exzentrischer Positionalität zukommen, zu bejahen, als vielmehr dazu, sie unsichtbar zu machen. Zwar wäre die Sphäre der Ästhetik, insofern in ihr absichtlich die Desautomatisierung von Unmittelbarkeiten vollzogen wird, ein rares Beispiel für eine Bejahung der exzentrischen Potenziale. Doch ihr steht die gewissermaßen alltäglich gelebte Dynamik gegenüber, in der exzentrische „Störungen“ zugunsten der Direktheit des Leibes tendenziell vermieden werden. Und es scheint, als könne die exzentrische Positionalität diesen conatus des Menschen nicht aus sich selbst heraus begründen. In der exzentrischen Positionalität wirkt ein impliziter élan vital. Vor dieser Lesart einer (ungewollten) Überhöhung der Zentrierung bei Plessner warnt hingegen Krüger, da es „immer noch kategorial einen Unterschied [mache], ob bereits ex-zentriertes Verhalten künstlich re-zentriert wird, oder ob gar nicht re-zentriert werden kann, weil nicht ex-zentriert werden kann“ (Krüger 2009, 7).

Erster Akt: Der Begriff des Lebens

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lässt sich „eine ständig in Bewegung bleibende Zirkulation zwischen Erfahrung und dem, was sie möglich macht“ (ebd.), denken. Wie schon erörtert, verzweigt sich mit der Rede von der Positionalität die Perspekive, die Plessner seiner Argumentation einzeichnet: Positionalität bildet einerseits die Voraussetzung dafür, dass sich ein Lebewesen gegenüber seiner Umwelt individualisiert, wodurch es zugleich eine Art Fenster in die Umwelt hat, in dem sich ihm überhaupt etwas zeigen und Gegenstand von „Erfahrung“ werden kann. Ganz basal habe ich in dieser Struktur den Punkt ausgemacht, an dem ein elementarer „Kontakt“ von Lebendigem mit Lebendigem abläuft. Andererseits erweist sich die Beschreibung und Aufteilung der Phänomene, die Plessner im Text selbst praktiziert und dem Leser vor Augen führt, als spezifische „Ausdifferenzierung“ (Fischer 2000, 277) genau dessen, was beschrieben worden ist, d.h. als Ausdifferenzierung von Positionalität. Der Blick, der in den Stufen auf die Dinge geworfen wird, gehört nicht etwa einem deus ex machina zu, den mit den Dingen, die sich ihm zeigen, nichts verbände. Vielmehr geht jener Blick, der Lebendiges als Lebendiges unterscheiden kann, auf eine ihrerseits lebendige Instanz zurück, die auf distinkte Weise in ihre Umwelt und in sich selbst eingelassen sein muss23. Mit dieser Rekonstruktion sollen nur grosso modo die Auswirkungen angedeutet sein, die eine Umarbeitung des Positionalitätsbegriffs auf dem Level der exzentrischen Positionalität hätte. Denn unüberholbar knüpft sich an das Konzept der Positionalität die Vorstellung von einem tertium, das wir am Lebendigen, aber auch an uns selbst voraussetzen müssen, um überhaupt die Beziehung begreifen zu können, in der wir zu den lebendigen Phänomenen – und sie zu uns – stehen. Es geht Plessner ja nicht nur um einen (ontologischen) Lebensbegriff, wonach sich lebendiges Geschehen durch die Herausbildung und das Wechselspiel zweier Faktoren, Substanz und Individuum, auszeichnet. Plessner zeigt zudem (quasi-transzendental), dass jede der Ausprägungsstufen, die diese Relation von Substanz und Individuum annimmt, ein spezifisches Fenster aufweist, in dem sich dem Individuum eine ihm korrelative Umwelt eröffnen kann. Ist Positionalität der Leitbegriff, mit dem sich Plessner seinen Weg durch das Problem des Lebens bahnt, so steht dieser Begriff für die Form, mit der einem Lebewesen „seine“ Wirklichkeit gegeben ist. Interpretiert man Positionalität als Seins-und Erfahrungsform, als Kompositionsgesetz eines Lebewesens und als Fenster, in dem ihm Phänomene gegeben sind – und beide Seiten müssen konsequent zusammen entfaltet werden –, so provoziert diese Interpretation eine besondere Lektüre des Bruchs von zentrischer zu exzentrischer Positionalität. Denn es wäre innerhalb Plessners eigener Begrifflichkeit schlüssig, zu sagen, dass alle subhumanen Lebewesen von der Form, die ihnen Gegenstandsreferenz ermöglicht, schon auf Grund des bloßen Vollzugs ihres lebendigen Seins umhüllt sind. Ihre Seinsform kommt mit den Bedingungen der Möglichkeit, eigenes und fremdes Sein zu erfahren, zur Deckung. Die „Zirkulation zwischen Erfahrung und dem, was sie möglich macht“ (Plessner), verläuft ohne aktives Hinzutun durch das betreffende Lebewesens. Die Form, die dem Lebewesen eine Transparenz der Umwelt im selben Zug mit der Bewegung sichert, durch die es sich spontan am Leben hält – diese Form steht indes auf dem Niveau 23

Genau darin bestand die Verzweigung der Perspektive: Die Dynamik, die Plessner anfangs auf Seiten der Objekte veranschaulicht, schließt auf Seiten des Subjekts die Fähigkeit, die Dinge überhaupt so anschauen zu können, in sich ein.

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der exzentrischen Positionalität nicht mehr „von selbst“ zur Verfügung. Sie ist künstlich eingerichtet, kulturell stabilisiert, sozial geteilt, d.h. „für Exzentriker, im prinzipiellen Unterschied zu Tieren, bereits exzentrisch formatiert“ (Schürmann 20, 2): „Selbstdeutung und Selbsterfahrung gehen über andere und anderes. Der Weg nach Innen bedarf des Außenhalts“ (Plessner 2003b, 96). Nun ist klar, dass Plessner diese Fähigkeit und zugleich Not von Personen, künstliche Umwelten einzurichten, anstatt (nicht anders zu können als) sich in die naturgegebene Umwelt hinein auszuleben, als entscheidende Marge menschlicher Freiheit verteidigt. Er setzt „die Eigenart der Personalität“ (ebd.) gegen „die Utopie der verlorenen Wildform“ (ebd., 93). Eine Umwelt, die nur im Modus der „Versachlichung“ (ebd., 82) vorliegt, deren Situationen, Akteure und Optionen auf eine Welt hin durchsichtig sind, in der nichts gesetzt ist: Eine solche dem Menschen eigentümliche Umwelt ist, wie Plessner u.a. gegen Rothacker, Uexküll oder Bergson anführt (ebd., 82ff.), strukturell von völlig anderer Art als die „biologische“ Umwelt. Aber zeigen nicht all diese Formulierungen – so könnte man mit Canguilhem fragen –, dass die exzentrische Positionalität „nur“ magnifiziert, was sich auf allen zuvor durchlaufenen Stufen als die vitale Dynamik schlechthin abgezeichnet hatte? Ist der Mensch etwa nicht jene Figur, die den schöpferischen Charakter des Lebens in die letzte Zuspitzung führt?2 In der exzentrischen Positionalität wiederholen und steigern sich die Dimensionen der Gefahr, des Risikos und der Hervorbringung von Neuem, denen jedes Lebewesen ausgesetzt ist, weil sie gleichsam in der Struktur der Positionalität liegen. Exzentrische Positionalität ist ein Brennspiegel für die Aktivität, die sich in den „vorausliegenden“ Formen der Positionalität gleichsam von selbst versteht, weil sie dort mehr 2

Man kann sich hier vor allem auf einen delikaten und interessanten Abschnitt aus Macht und menschliche Natur berufen. In Nietzsches extremer These, die den Menschen als tragischen Schöpfer aller Kultur bestimmt – tragisch deshalb, weil dieser Schöpfer seine eigene Schöpfung vergessen und vergöttert hat –, findet Plessner einen Anhalt für jene anthropologische Einsicht, der er auch selbst überwältigende Bedeutung beimisst, nämlich der Einsicht in die „Relativierung aller außerzeitlichen Sinnsphären einer Kultur auf den Menschen als ihre Quelle im Horizont der Geschichte“ (Plessner 98b, 9). Während Nietzsche bedingungslos „den Hervorgang der überzeitlichen Werte und Kategorien aus dem Leben“ (ebd., 0) aufgedeckt habe, enthalte Schelers Kulturenpluralismus gerade in seinem Versuch, der anthropologischen Radikalität von Nietzsches „schöpferischer Subjektivität“ (9) auszuweichen, einen impliziten Eurozentrismus, welcher „der Gefahr der letzten Selbstrelativierung nicht gewachsen ist“ (0). An einer Stelle wie dieser kann sich allemal die Frage entzünden, ob Plessners Philosophische Anthropologie bei aller Reserviertheit, die sie etwa gegenüber Bergson (und durchaus auch Nietzsche) hegt, nicht auf das Motiv des Menschen „als (…) ursprunggebender Macht zur Objektivität“ (63) als ein letztes anthropologisches Motiv, das sie zusammenhält, zugeht. Mag sein, dass eher hier, nicht so sehr in einer „Würdigung des Spielerischen […] das weitgehend unterirdische nietzscheanische Moment“ (Schürmann 2006, 8) Plessners aufscheint. Siehe auch Plessner 98b, 0f.: „Begreifen wir also den Menschen nicht nur als einen durch Rasse und spezifisches Volkstum, Anlagen usw. mit je verschieden gearteten „Okularen“ oder Sinnesorganen des Geistes ausgerüsteten Finder, dem entsprechende transsubjektive Wirklichkeiten in den Blick kommen, während nichtentsprechende wegseligiert werden – was nämlich eine aufs Tier, aber nicht auf den Menschen passende Vorstellung ist –, begreifen wir ihn als Schöpfer, der freilich an seine eigenen Kreaturen gebunden ist und ihnen untertan wird, dann bahnen wir im Blick auf diese in der Linie geschichtlicher Weltauffassung liegende Möglichkeit den Weg zur universalen Wesenslehre des Menschen oder der philosophischen Anthropologie.“

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oder minder unproblematisch vollzogen wird. Der Mensch muss dasjenige buchstäblich aus dem Nichts kreieren, was sich den reinen „Vitalwesen“ (ebd., 83) in der Spontaneität ihres Lebensvollzugs einstellt. Kein Leben ohne Schöpfung und den Spielraum, die Wirklichkeit in etwas Anderes zu transformieren, als was sie vorher war. Und keine Stellung des Menschen ohne eine rastlose „recherche“, ohne eine grundlegende „insatisfation“ (Worms 2009, 36), denn erst im Licht dieser Stellung wird vollends klar, dass das Leben keinen stabilen Normen folgt, keine festen Gestalten generiert, sondern „mit dem Menschen zu einem Wesen geführt hat, dass sich nie ganz an seinem Platz befindet und dessen Bestimmung es ist, zu ‚irren‘ und ‚sich zu täuschen‘“ (Foucault 988, 69). Man sieht jetzt besser, worin Canguilhem die fundamentale Zwiespältigkeit in dem philosophischen Bild, das Plessner entwirft, sehen könnte: Das spezifische Verhaltensarsenal, das mit der exzentrischem Positionalität freigelegt wird, steht nie „für sich“. Vielmehr verweist Plessner selbst beständig auf eine Art zentripetalen Rhythmus innerhalb der exzentrischen Positionalität. „Reine Exzentrizität“ würde in sich zusammenstürzen, weil sie eine „Selbsicht des Auges“ (Plessner 97, 289) bliebe, die uns paralysiert und in reflexiven Endlosschleifen rotieren lässt, die aber nicht gelebt werden kann. Realiter ist jedoch Exzentrizität immer schon hinein investiert in eine Bewegung, die auf ein Zentrum zuläuft. Der Mensch muss die Tätigkeit des Lebenden erst recht und expliziter vollziehen, weil er das (einzige) Lebewesen ist, dem diese Tätigkeit nicht wie selbstverständlich zufällt. Die „sinnfreie“ (Plessner 20003b, 83) Zone der Exzentrizität ist also de facto immer hinein verwandelt in ebenso definitve wie vorläufige „Ordnung[en] von Sinnbezügen“ (ebd.), die von einem „lebendige[n] Zentrum“ (ebd.) koordiniert werden. Wenn die Sinnfreiheit, die strukturelle Negativität von Welt als solcher, für ein menschliches Lebewesen nicht aushaltbar ist, so liegt es nahe, dieses Phänomen so zu klären: „Als lebendes Subjekt widersetzt es [das menschliche Lebewesen] sich diesem Universum durch die sich ständig wandelnde Singularität der ihm eigenen zentrierten, normierten und bedeutsamen Umwelt“ (Badiou 200, 39)2. Der Überschuss, durch den sich in Plessners Beschreibungen die Dynamik der Vitalität vor die Sphäre des Menschen schiebt – also: der unterschwellige Primat des Lebensbegriffs in seiner Konzeption –, ist nicht zuletzt in einem Zitat präsent, in dem Plessner sagt, es gehe ihm, in Absetzung von dualistischen Auflösungen des Welt-Umwelt-Verhältnisses (Scheler, Gehlen) um die „Möglichkeit, dass Umweltgebundenheit und Weltoffenheit kollidieren und nur im Verhältnis einer nicht zum Ausgleich zu bringenden gegenseitigen Verschränkung gelten“ (Plessner 2003b, 82.). Wenn bei Plessner Welt und Umwelt so sehr ineinander verklammert sind, dass ein dualistisches Ausweichen in die Originalität des Weltbegriffs von Anfang an unmöglich ist, dann ist es zwar denkbar, den Menschen noch als „Fluchtpunkt“ (Mitscherlich 2007, 9) der Analysen aufzufassen, die aus der beschriebenen Struktur resultieren. Aber bei genauerem Zusehen ist dieser Fluchtpunkt, Plessner zufolge, der intensivste Punkt einer Fähigkeit, die allem Lebendigen inhäriert – nämlich der Fähigkeit, schöpferisch von den eigenen Normen 2

Man beachte, dass Canguilhem, dessen Ansatz Badiou hier erläutert, positiv an von Uexkülls These von der subjektiven Strukturierung der Umwelt anschließt und, genau wie Uexküll, auch den Menschen über diese Strukturierungsleistung definiert (siehe vor allem Canguilhem 2009d). Damit formuliert Canguilhem exakt jene Idee einer Bindung des Menschen an Umwelt, die Plessner in der Conditio humana durch die Welt-Umwelt-Differenz abwehrt.

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abzuweichen. In der Sache hat die Perspektive auf den Menschen als Lebewesen keinen zwingenden Vorzug vor der Perspektive auf den Menschen als Lebewesen26. Vielleicht hat diese erste Staffel von kritischen Argumenten, die sich aus Canguilhems Konzeption gegen Plessners Modell ergeben, noch nicht mit letzter Schärfe deutlich gemacht, auf welchen Zug in Plessners Denken sich der vehementeste Protest Canguilhems richten würde. Gemeint ist der Anspruch, die exzentrische Positionalität zum Anker einer Philosophischen Anthropologie zu erheben. Der Frage, wie sich Canguilhem zu der Grundlegungsfunktion der exzentrischen Positionalität bei Plessner stellen könnte, möchte ich mich im dritten Schritt des Abgleichs noch einmal gesondert zuwenden. Denn mit der exzentrischen Positionalität steht und fällt die Bedeutung (s)einer Philosophischen Anthropologie als einziger Notation, in der das lebendige Wissen des Lebens formulierbar ist – während Canguilhem nur (s)einer Historischen Epistemologie zutraut, diese Struktur in ihrer ganzen Gestalt einzulösen. Bislang handelte es sich darum, Plessners Begriff des Lebens durch das Raster des ganz anders ansetzenden Lebensbegriffs Canguilhems zu lesen. Am Anfang dieser Kritik stand der Vorwurf einer Unverträglichkeit zwischen der psychophysischen Indifferenz des Verfahrens und der epistemischen Differenz lebendiger Phänomene, gefolgt von einer Konterkarierung der phänomenologischen durch die phänomenotechnische Methode. Daran schloss sich eine Auslegung von Plessners Ambition einer „Neuschöpfung der Philosophie“ an, unter der Frage, ob sich seine raffinierte Dialektik, die innerphilosophisch eine Neutralisierung von Dualismen anzielt, nicht a priori gegen den Realismus einer „simplen“ Definition verschließen muss, wonach das Lebendige im Kern genau dasjenige ist, was dualisiert. Diese Frage mündete in die Folgefrage, welche Normen Plessners philosophisch-diplomatische Wende gegen den Wertefundamentalismus selbst noch impliziert. Zu guter Letzt wurde dieses Problem der verkappten Axiologie der Neutralität zu dem Bild einer „Vitalität des Vitalismus“ in Plessners Konzeption erweitert: Hier ging es um das unabgegoltene Motiv einer zentripetalen Dynamik der Schöpfung, welche die Figur der exzentrischen Positionalität von Innen heraus überschießt. Vor allem an diesem letzten Punkt wird die Passage zur nächsten Ebene der Untersuchung fließend – zu Plessners Vorschlag, die Möglichkeit und Beschaffenheit eines Wissens zu denken, dessen korrelativer Gegenstand das Leben ist.

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Es liegt auf der Hand, dass man einer solchen Argumentation den Grundaufriss von Plessners Philosophischer Anthropologie entgegen halten kann, die in zwei sich gegenseitig ergänzenden und voraussetzenden Reihen nach der Spezifik des Menschen fragt. Demnach wäre die horizontale Vergleichsreihe, die sich den vergangenen und gegenwärtigen Soziokulturen zuwendet, nicht etwa abgeleitet von der vertikalen Reihe, in der es um die Differenz der menschlichen Spezies gegenüber anderen Lebensformen geht. Hier wäre dann aber die Frage (mit Canguilhem), ob nicht die Idee einer horizontalen und vertikalen Erreichung anthropologischer Differenzen eher auf einer normativen Setzung beruht, als dass sie sich bruchlos aus dem Theorem der exzentrischen Positionalität folgern ließe.

Zweiter Akt: Das Wissen vom Leben

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B. Zweiter Akt: Das Wissen vom Leben a. Canguilhem liest Plessner: Das Zögern der Deduktion Das Terrain der nun interessierenden Fragen betritt man am besten mit einigen Gedanken zu Canguilhems Essay Qu’est-ce qu’une idéologie scientifique? (Canguilhem 2009g). In diesem Text, der in dem 977 erschienenen Aufsatzband Idéologie et rationalité dans l’histoire des sciences de la vie einen auffälligen Platz einnimmt, legt Canguilhem, einem gewissen Trend der Zeit entsprechend (z.B. Althusser 968), das Verhältnis zwischen dem Begriff der Wissenschaft und dem der Ideologie auseinander. Zunächst auf Marx eingehend, hält Canguilhem fest, dass Marx die Naturwissenschaften nicht unter den Ideologien auflistet. Zwar ist die historische Praxis der Naturwissenschaften in der bürgerlichen Gesellschaft von kapitalistischen Ideologien kontaminiert27. Doch daraus folgt nicht, dass Wissenschaft und Ideologie ihrer epistemologischen Struktur nach gleichzusetzen sind. Die liberale Politik und Ökonomie, das Recht, die Religion und die Kunst: All diese Praxisformen sind Ideologien, und zwar deshalb, weil sie ihre eigene Herkunftsbedingung – die Faktizität von Klassen und Klassenkämpfen – verschleiern. Sie stiften die Illusionen einer natürlichen Abhängigkeit des Menschen von der Natur bzw. der „von Natur“ gegebenen Abhängigkeiten der Menschen untereinander. Ideologien geben sich als Ausdruck einer natürlichen Ordnung aus und sind doch die Ausgeburten jener künstlichen Ungleichheit, die durch sie protegiert wird. Im Hintergrund dieser Trennung von Wissenschaft und Ideologie steht bei Marx, Canguilhem zufolge, sein Traum von der „klassenlosen Gesellschaft“ der Zukunft, von einem geschichtlichen Ende der Kämpfe und einer pazifizierten Menschheit, die sich, wenn ihr Friede perfekt ist, zwangsläufig auch in veränderten Beziehungen zur Natur wiederfinden wird. Die Wissenschaften werden ihrer illusorischen und hegemonialen Funktion, von der sie fürs Erste noch vollkommen durchdrungen sind, entkleidet sein, sobald die Klassenverhältnisse erst einmal abgeschafft sind. Dereinst wird man die Wissenschaften brauchen, um das Studium einer nicht mehr ausgebeuteten Natur zu vervollkommnen, aus der neue Herausforderungen und Fragen für die Menschheit erwachsen. Canguilhem lehnt diese bei Marx rekonstruierte Ambivalenz aus folgendem Grund ab: Die Utopie einer dialektischen Aufhebung der Ideologien am Ende der Klassengesellschaft bedeutet, sich die Wissenschaften als ein wesentlich unpolemisches, undialektisches Geschäft vorzustellen, das auf einem „cours paisible“ (Canguilhem 2009g, 6), einem friedfertigen Kurs, verläuft, sobald es nur endlich sich selbst überlassen wird. Nicht zufällig spielt Canguilhems Gegenthese zu Marx auf den Einwand an, den er an anderer Stelle gegen Bachelard28 vorbringt: 27

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Eines der Versäumnisse Feuerbachs lag, nach Auffassung von Marx, genau darin, nicht gesehen zu haben, dass die Naturwissenschaften keineswegs „pur“ sind, sondern im Dienste kommerzieller und industrieller Interessen der bürgerlichen Gesellschaft stehen. Von Canguilhem aus besteht aber auch ein schneidender Unterschied zwischen der marxistischen Konzeption und dem Modell Bachelards. Marx wird von Canguilhem dafür kritisiert, einseitig die Herrschaft der Ideologien historisiert zu haben (sofern er das Ende der Ideologien mit dem Eintreten der klassenlosen Gesellschaft prophezeite), nicht aber die Präsenz der Wissenschaften, die vielmehr – endlich selbst aus dem Bann der Ideologien befreit – ihre überzeitliche, purifizierte Gestalt

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„Ne peut-on soutenir, au contraire, que la production progressive de connaissances scientifiques nouvelles requiert, à l’avenir comme dans le passé, une certaine anteriorité de l’aventure intellectuelle sur la rationalisation, un dépassement présomptueux, par les exigences de la vie et de l’action, de ce qu’il faudrait déjà connaître et avoir vérifié, avec prudence et méfiance, pour que les hommes se rapportent à la nature selon de nouveaux rapports en toute sécurité.“29 (Ebd.)

Die Wissenschaften gewinnen ihre „historicité“ (ebd.) aus der „abenteuerlichen“ Seite des Denkens, d.h. einer kreativen Bewegung, die sie sich unmittelbar aus den „exigences de la vie et de l’action“ (ebd.) speist. Im Unterschied zu Marx postuliert Canguilhem die Existenz einer veritablen „idéologie scientifique“ (ebd., 7), die im Herzen des wissenschaftlichen Wissens selbst wirkt und nicht bloß auf ihm lastet wie ein Schatten, der sich eines Tages verflüchtigen kann; und anders als Bachelard versteht er den „état pré-scientifique“ (ebd., 6), der die genuinen Diskurse der Wissenschaften ständig heimsucht, nicht als deren stets von Außen eindringende mythische Kehrseite, die es wieder auszugrenzen gilt, damit die Diskurse zu sich selbst kommen können. Die von Canguilhem vorgeschlagene Umstellung überrascht, weil es ihm weniger um das Bestreben der Wissenschaft geht, mit der Ideologie zu brechen, als umgekehrt um die explizite Ambition der Ideologie, zur Wissenschaft zu werden (ebd., 7). Anstatt die Genese der Wissenschaft einseitig aus ihrer Opposition gegen einen vorkritischen Raum zu beschreiben, in dem etwas ideologisch als wahr gesetzt, nicht aber verifiziert wird (weil nicht einmal die Möglichkeit der Verifikation besteht), zeigt Canguilhem, dass sich die wissenschaftlichen Ideologien umgekehrt „à l’imitation de quelque modèle de science déjà constituée“ (ebd., 7) ausbilden. Was Canguilhem interessiert, sind Ideologien im Sinne von Überzeugungssystemen, die sich exakt in der Sphäre ansiedeln, in der operatives, aus der Forschungspraxis aufkommendes Wissen prinzipiell möglich ist – daher die Differenz zum Ideologiebegriff im Sinne religiöser und metaphysischer Glaubenshaltungen. Dieses Argument konkretisiert sich mit Canguilhems Hinweis auf eine nicht zu übersehende Verschiebung, die ins Auge springt, wenn man den naturphilosophischen Atomismus der Antike mit jenem Atomismus vergleicht, der seit dem 8. Jahrhundert mit einer Experimentalisierung der Phänomene einher geht. Die antiken Hypothesen über das Atom als nicht weiter teilbare kleinste Materieeinheit (Demokrit, Leukipp, Lukrez) verstanden sich, so Canguilhem, als „wissenschaftliche“ Einsätze gegen die religiöse Idee einer immateriellen Ursubstanz alles Seienden (Anaximander, Pythagoras, später Platon). Vom Stand der Physik und Chemie des 9. Jahrhunderts kommt den antiken Spekula-

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erwerben. Hingegen erkennt Bachelard, dass die Ideologien integraler Teil der Wissenschaft sind. Doch er definiert sie als epistemologische Hindernisse, die Schritt für Schritt getilgt werden müssen, um zu wissenschaftlichem Wissen zu gelangen. Für Bachelard bleibt die Emanzipation der Wissenschaft von der Ideologie das angestrebte, sich letztlich nie ganz erfüllende telos. Marx antizipiert die Zeit der Ent-Ideologisierung des Wissens als realhistorischen Zustand, nicht bloß als heuristische Fiktion. „Kann man nicht im Gegenteil [zu Marx, T. E.] behaupten, dass die fortschreitende Produktion wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Zukunft wie in der Vergangenheit eine gewisse Vorgängigkeit des intellektuellen Abenteuers vor der Rationalisierung verlangt, eine sich über das hinwegsetzende Überschreitung, was man, mit Vorsicht und Argwohn, bereits kennen und verifiziert haben müsste, auf dass die Menschen sich voll und ganz abgesichert gemäß neuer Bezüge auf die Natur beziehen?“ [meine Übersetzung, T. E.]

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tionen jedoch der Status von Ideologien zu, weil sich ihre Bestimmung des Atoms als unzerlegbar kleinste Einheit des Seienden als eine zu globale These erweist, die nicht (länger) mit der Empirie verträglich ist30. Die methodisch kontrollierte Forschungspraxis der Moderne liefert nicht die verspäteten Belege für Aussagen über die Wirklichkeit, die auch schon ohne diese Praxis, innerhalb rein theoretischer Systeme, ausgebildet werden konnten. Vielmehr entwurzelt die wissenschaftliche Praxis bestimmte „Erkenntnisse“, die jenes Feld, auf dem nun Forschung Einzug hält, okkupiert hatten3. Hinter der Konstanz eines Wortes, das sich (im Fall der Atomtheorie von Demokrit bis zur Gegenwart) historisch durchhalten mag, lassen sich verschiedene Begriffe eines Gegenstands, d.h. unvereinbare „contexte[s] des orientations et des méthodes“ (ebd., 8) unterscheiden. Ein analoger Fall ist die Genetik Mendels. Von den Denkvorschriften, die auf dem Feld, das er befragt, herrschen, schwimmt Mendel sich frei, indem er aus den phänotypischen Merkmalen der Lebewesen die Existenz von Erbanlagen folgert, die als unteilbare Totalitäten weiter vererbt werden. Mendels Kreuzungsversuche veranlassen damit erstens einen (etwa gegenüber Darwins Pangenesishypothese) emphatisch neuen Begriff des Merkmals: Die Vielfalt der möglichen Merkmalskombinationen hängt ab von Faktoren, die selbst untereinander Kombinationen eingehen, während zugleich jeder einzelne Faktor seine Selbständigkeit konserviert32. Zweitens aber vollzieht Mendel eine fruchtbare Abweichung von der seit dem 8. Jahrhundert dominierenden Idee der Kreuzung, in der man nicht bloß einen Beitrag sah, den spekulativen Disput zwischen Epigenesis und Präformation zu schlichten, sondern auch ein Mittel, um „des problèmes juridiques de subordination de sexes, de paternité, de pureté des lignées, de légitimité de l’aristocratie“ (ebd., 9) zu entscheiden. Über all diese ideologischen Vorbelastungen setzt sich Mendel hinweg, da er „als erster die Phänomene der Vererbung radikal der Kompetenz der Embryologen entzogen und daraus einen eigenständigen Forschungsgegenstand gemacht hat“ (Canguilhem 979d, f.). Das Verfahren der Kreuzung steht bei Mendel im Dienst der 30

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Auch wenn Canguilhem selbst hier keine historischen Belege gibt, wäre wohl zum einen an Robert Browns Feststellung der permanent bewegten Konstitution der Atome zu denken (Brownsche Bewegung), vor allem aber, zum anderen, an Joseph John Thomsons Entdeckung des Elektrons. Siehe Canguilhem 2009g, 7: „Une idéologie scientifique trouve une fin, quand le lieu qu’elle occupait dans l’encyclopédie du savoir se trouve investi par une discipline qui fait la preuve, opérativement, de la validité de ses normes de scientificité. A ce moment un certain domaine de non-science se trouve détérminé par exclusion.“ Gleichzeitig ist aber klar, dass die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Ideologie nicht ahistorisch fest steht, sondern einem Prozess der Umwertung unterworfen ist: So etwa der Materialismus Demokrits, der in der Antike für sich in Anspruch nehmen konnte, ein wissenschaftliches (die religiösen Muster ablehnendes) System zu sein, ohne über eine empirische Erforschung seiner Gegenstände zu verfügen. Hier lag Mendels produktive Anregung für die Chromosomentheorie der Vererbung, deren Hauptvertreter Sutton und Boveri 90 seine Vermutung aufgriffen, es müsse eine materielle Basis für die Merkmalsverteilung geben. Canguilhem besteht jedoch an anderer Stelle eindringlich darauf, Mendel nicht als Vorläufer der auf ihn folgenden biologischen Theoriegeschichte zu begreifen. Mendels Werk markiere vielmehr eine Diskontinuität, da es weder einen schon bestehenden Kontext der Forschung einfach fortsetze noch eine Nachfolge begründet habe. Mit Mendels Werk sei es „gerade so (…) wie mit einem zu früh geborenen Kind, das man hat sterben lassen, weil man nicht darauf vorbereitet war, es zu empfangen“ (Canguilhem 979d, 3).

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von ihm aufgeworfenen methodischen Frage, nach welchen Mechanismen hybride Pflanzen die vom Züchter gewünschten Merkmale der Parentalgeneration erhalten. Mendels Untersuchungen, rigoros einer Problemstellung „sans antécédent dans la littérature prémendélienne“ (ebd.) folgend, vertrauen auf die Produktivität der Praxis. Die Forschung, die Mendel in Gang setzt, bewegt sich in einer Unbestimmtheit zu ihrem Gegenstand und zu den Folgen, die sie möglicherweise nach sich zieht – und zwar deshalb, weil Mendel im Stande ist, von den ideologischen Interessen seiner Zeit kritisch abzuweichen. In dieser Darstellung tritt erneut Canguilhems Thema der Normativität als Fähigkeit (und/oder Wille) zutage, gegen die routinierten, das Verhalten und das Denken festlegenden Bedingungen zu verstoßen. Sehr gut sieht man hier, wie diese normativen Verstöße, diese Akte der Freiheit, mit der Hervorbringung neuer Begriffe einher gehen, selbst wenn es nicht zu neuen Wortschöpfungen kommen muss. Man kann sagen, dass Canguilhem konstruktiv mit Althussers Vorschlag arbeitet, die Deutsche Ideologie von Marx als Manifest eines „kritischen Todes der Philosophie“ (Althusser 968, 28) zu lesen, wonach Philosophie nur mehr das „entschwindende Bewusstsein“ (ebd., Hervorhebung i.O.) der Wissenschaften, ihr kritisches Organ zur Zersetzung der Ideologien sei33. Wie aber soll eine solche Diskussion über den Status wissenschaftlicher Ideologien in das philosophische Gespräch zwischen Canguilhem und Plessner passen, dem ich hier eine Bühne verschaffe? Wenn man einmal hinter die zeittypische Fassade3 und das politische Vokabular von Canguilhems besagtem Text schaut, stößt man durchaus zu dem Kern für eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Plessner vor. Immerhin bemerkt Canguilhem Folgendes, um den durch Mendel vorzüglich repräsentierten Sinn der Forschung – als ein auf die Zukunft hin offener Prozess der technisch-schöpferischen Wirklichkeitserschließung – hervorzuheben: „Chez Mendel les faits qu’il étudie ne sont pas des faits retenus par une phénoménologie de première venue, ce sont des faits détérminés par la recherche“ (Canguilhem 2009g, 8). Von dieser negativen Anspielung auf die Phänomenologie lässt sich ausgehen, um die Brücke zu Plessner zu bauen. Es wurde schon demonstriert (Kapitel II.A.2.), dass für Plessner die methodische conditio sine qua non, um in einem ersten Schritt überhaupt erst einmal bestimmen zu können, was uns (Menschen) als ein „Ding“ erscheint, in einer phänomenologischen Operation besteht. Schon dieser Schritt umschließt das Postulat eines instantanen Kontakts mit der Wirklichkeit, der umfassender ist als der selektive Zugang der Erfahrungswissenschaften. In dieser unmittelbaren Weite des Blicks muss sich die Klärung, was ein „Ding“ wesentlich ist, bewegen. Doch die irreduzible Dimension unserer Erfahrung, zu der Plessner mit Hilfe einer phänomenologischen Methode durchdringt, darf nun ihrerseits nicht im immanenten Horizont der Phänomenologie beurteilt werden. Es ist nicht einzusehen, weshalb denselben Prinzipien, die das phänomenologische Verfahren ermöglichen, auch der Befund unterworfen sein sollte, der durch das Verfahren exponiert werden kann (dazu 33

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Canguilhems Reserve gegenüber Marx und Althusser wurde hier schon erläutert. Sie besteht in dem Vorwurf, dass Marx keineswegs die Geschichtlichkeit der Wissenschaften denkt. Marx klammert vielmehr auf unplausible Weise die wissenschaftliche Praxis aus der Dialektik der Geschichte aus, insofern diese, anders als die bürgerlichen Ideologien, nicht von Dynamik der Widersprüche fortgespült werden soll, aus der schließlich die klassenlose Gesellschaft hervorgehe. Zu Canguilhems Anteil am „Althusser-Foucault-Netzwerk“ siehe Borck/Hess/Schmidgen 200, 30f.

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Krüger 200). Im Bewusstsein dieses Zirkels setzt Plessner einen Ansatz um, in dem sich Husserls Entdeckung einer intentionalen Subjektivität und Diltheys „Verstehen als ein Eindringen in Gegenstände, die sich selber aussprechen und von sich Zeugnis ablegen“ (Plessner 98b, 73) wechselseitig ergänzen. Zentrales Resultat dieser Öffnung von Phänomenologie und Hermeneutik aufeinander hin ist Plessners Primat des Objekts3. Diese ganze Argumentation ist der Entstehungs-und Entfaltungsort für die Ermittlung der Besonderheit lebendiger Dinge. Zwar ist damit nur rekapituliert, was zuvor schon dargelegt wurde, doch es ist unerlässlich, noch einmal die Präzision der Bedingungen zu bedenken, unter denen sich bei Plessner eine Auseinandersetzung mit der Eigenheit des Lebendigen erst entfalten kann. Von Anfang an ist die Verständigung über den Gegenstand, einschließlich des „lebendigen“ Gegenstands, einzig möglich innerhalb einer hermeneutischen Relation36. Plessners Gegenstandstheorie ist vernetzt mit einer „Beobachtungstheorie und eine[r] Interpretationstheorie“ (Lindemann 200, 8), deren Apriori keineswegs wie selbstverständlich mitgeliefert wird. Die Einholung des Apriori, die Plessner im Finale der Stufen vollbringt, gerät deshalb auch nicht auf das idealistische Gleis einer Rückkehr zur transzendentalen Subjektivität. Man muss sich beständig zwei Punkte in Erinnerung rufen, um einen klaren Blick auf die Grundlagen zu behalten, die ein Wissen des Lebens37 (hier im Sinne des genitivus obiectivus) bei Plessner hat: Zum einen ist diese Wissensbeziehung den „engen methodischen Kontrollen der empirischen Erfahrungswissenschaften“ (ebd.) vorgängig. Letztere abstrahieren von den qualitativen Aspekten ihrer Gegenstände und damit von jener Dimension, aus der die Praxis ihrer Abstraktionen selber zehrt. Zum anderen entzieht sich diese Wissensrelation der Begründungskraft eines im Subjekt verankerten Apriori. Vor allem in Macht und menschliche Natur hat Plessner „diese neue Stellung zum Apriori in seinem Verhältnis zum Aposteriori“ (Plessner 98b, 6), als deren entscheidenden Vordenker er Dilthey nennt, als den revolutionären Fund der Philosophischen Anthropologie vermerkt. Das ist nicht alles. Sobald wir nämlich vor Erscheinungen stehen, die uns signalisieren, sie seien lebendige Erscheinungen, da sie, wie es scheint, ihre eigene Grenze realisieren, wird auch auf der Seite des Beobachters eine perspektivische Umstellung unausweichlich. Nicht nur auf der Ebene der Dinge präpariert Plessner einen sich verkomplizierenden Gang, eine reflexive Steigerung heraus; auch der Blick, der mit den Dingen Schritt hält, wenn er ihre Veränderungen erfasst, wird voraussetzungsvoller. Deshalb synchronisiert Plessner die Herauslösung des Lebendigen aus dem Relief des Unbe3

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Dazu Lindemann 200, 87: „Aufgrund des Primats des Objekts fragt Plessner nicht danach, wie ein Bewusstsein beschaffen sein muss, damit ihm eine Welt erscheint, sondern danach, wie etwas erscheinen muss, damit es als mit Bewusstsein begabt erscheint.“ Diese Verkomplizierung stiftet einen Unterschied, der Plessners Ansatz von Empirismus und Positivismus trennt, aber selbstverständlich auch von der propositionalen Wahrheitstheorie der Sprachphilosophie. Zur terminologischen Vereinfachung halte ich hier an dem Ausdruck „Wissen vom Leben“ fest, obwohl die Argumentation sich an anderer Stelle um die These bemüht hat, dass sich eine kognitive Relation, die sinnvoll als Wissen definiert werden kann, erst auf der Komplexitätsebene der exzentrischen Positionalität vollziehen kann.

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lebten mit dem Punkt, an dem die phänomenologische in die transzendentale Perspektive umspringt. Weil das Lebendige bei Plessner der Aspirant ist, der uns verführt, ihm einen (gegenüber dem Unbelebten) komplexeren Status zu bescheinigen, geht kein Weg an einer Methode vorbei, welche die Rechtmäßigkeit und Notwendigkeit unserer Beurteilung zu sichern vermag. Der Rang des transzendentalen Zuga in Plessners Philosophie kann in dieser Hinsicht gar nicht überschätzt werden. Allemal bekennt Plessner sich zu Kants kritischem Wahrheitsbegriff: Wir müssen den dialektischen Schein disziplinieren, in den wir durch die Konfusion der Erscheinung mit den Bedingungen ihres Erscheinens stürzen würden. Wir müssen die Indikation und die Konstitution der Dinge auseinander halten. Aber – und damit ist die Umwälzung des ganzen Ansatzes noch einmal ausgesprochen – das transzendentale Moment, das nun anhebt, integriert sich selbst wieder in die konsequente Wende zum Objekt, mit der alles begann. Es handelt sich fürwahr um ein Drehmoment: Hinter Plessners Begrifflichkeit von der Konstitution der lebendigen Dinge steht nicht etwa die klassische phänomenologische Position wieder auf, wonach die intentionalen Vollzüge des Bewusstseins die Phänomene als ihre Korrelate konstituieren. Ganz im Gegenteil zeichnet sich die These ab, dass die spezifische Anschauungs-und Auslegungsweise der „Dinge“, an die Plessner appelliert und die wir am Schluss als „unsere“ (Menschen mögliche) Anschauungs-und Auslegungsweise identifizieren, selbst wieder eine Ausprägung jener „Verfassung“ (Konstitution) darstellt, die wir an den Dingen finden. Kurz, die apriorische Organisation menschlicher Lebewesen ist nicht der feste Grund, auf den hin wir jegliche Gegenstandsreferenz bloß transparent zu machen hätten. Unser Apriori ergibt sich vielmehr aus einer Verästelung jener Beziehungsform („In-IhnHinein“/„Über-Ihn-Hinaus“), die so etwas wie das Kompositionsgesetz par excellence für lebendige Strukturen liefert. Dass die Bedingungen der Erfahrung von Gegenständen mit den Seinsbedingungen von Gegenständen changieren, dass die „Kategorie (…) übergreift auf die Sphäre der Objekte“ (Plessner 97, 6): Diese „Zirkulation“ (Plessner 98b, 7) wurde hier als Gelenkstelle von Plessners Philosophie des Lebendigen bestimmt. Denn eben dieser philosophisch ungewöhnliche Vorschlag, wie eine „SubjektObjektivität“ (Plessner 97, 22) zu denken sei, muss gedanklich mitvollzogen werden, um im Weiteren Plessners ganz eigene Wegstrecke zu einer lebendigen Figur, die von sich selbst, d.h. von ihrem spezifisch lebendigen Status, weiß, nachhalten zu können. So kommt noch einmal der Bahn brechende Schritt aus Plessners Argumentation in den Blick: das mit Kant und über ihn hinaus betriebene Unternehmen einer Deduktion der „Vitalkategorien“ (Plessner). Man darf unter keinen Umständen Plessners Auffassung unterschlagen, „die apriorischen Wesensmerkmale“ (ebd., 8) seien „von dieser Vergänglichkeit [der empirischen Merkmale, T. E.] nicht berührt, denn sie konstituieren die konstante Schicht konkreter anschaulicher Erscheinung, von der die empirische Wissenschaft immer wieder ihren Ausgang nehmen muss“ (ebd.)38. Genau betrachtet, zieht Plessner mit seinem Umbau des Kategorienproblems zwei Fehlschlüsse aus dem 38

Und weiter: „Der Empiriker wird eines Tages erklären können, daß es keine „Anpassung“ mehr gibt, sondern nur noch „Regulationen“, keine „Regulationen“ mehr, sondern nur noch bestimmt geartete, chemisch zu definierende Vorgänge: was an der Modalität „Anpassung“ oder „Regulation“ empirisch ist, hat dann seine Bestimmung durch Zurückführung erfahren. Nie aber kann die Modalität des Modals davon betroffen werden. Als Momente, welche den Wesensbestand des Lebens in der Erscheinung

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Verkehr: Überhöht der idealistische Fehlschluss (der Neukantianer) das von Kant exklusiv der Mathematik vorbehaltene Zusammenfallen der Erkenntnis von Gegenständen mit deren rein begrifflicher „Konstruktion“ zum Prinzip einer Theorie von Erfahrung schlechthin39, so missversteht der empiristische Fehlschluss die Frage nach dem Apriori als Suche nach „allgemeinen Gesetzlichkeit[en]“ (ebd., 6) des Organischen0. Man sollte nicht überlesen, dass Plessner die invarianten „Kategorien“, die das Lebendige unter dem Gesichtspunkt seiner Erscheinung auszeichnen, und die historisch volatilen Konzepte, mit denen die Biologie über die jeweils von ihr „festgestellten“ Eigenschaften des Lebendigen Rechenschaft ablegt, auf zwei differierenden Ebenen ansiedelt, die nie zur Deckung kommen können. Ob nun die Biologie explizit auf den terminus technicus der Regulation setzt, oder, ohne Rekurs auf speziell dieses Konzept, „nur noch bestimmt geartete, chemisch zu definierende Vorgänge“ (Plessner 97, 8) kennt: Im historischen Fluss immer neuer Begrifflichkeiten gründet die Erfahrungswissenschaft, so Plessner, auf bleibenden „Konstitutionsformen der phänomenalen Seinsschicht des Lebens“ (ebd., 8). Zwar lassen die in der Forschung (und deren theoretischer Reflexion) umlaufenden Begriffe die „Momente, die den Wasbestand des Lebens in der Erscheinung festlegen“ (ebd.), erahnen. Sie fangen etwas von den konstitutiven Bedingungen des Lebendigen ein, sie evozieren sie, doch ihren Vollsinn schöpfen sie niemals aus (dazu Bühler 200, 30). Diese Differenz ist für Plessner unkündbar und das Minimum, das nicht verwischt werden darf, wenn nicht jeglicher Anspruch auf philosophische Kritik kompromittiert werden soll: Was immer am Lebendigen Gegenstand der Erfahrungswissenschaften sein kann, hat „nur“ den Status eines Äquivalents für die apriorischen Wesensmerkmale. Zwischen dem empirischen und dem apriorischen Ensemble herrscht keine Wesensgleichheit, sondern Korrelation. Darum kann man es nicht deutlich genug unterstreichen: Plessner flankiert die „faits détérminés par la recherche“ (Canguilhem 2009g, 8) sehr wohl durch eine „phénoménologie de première venue“ (ebd.). Man muss sogar weiter gehen: Um die irreduziblen Konstanten des Organischen zugänglich zu machen, um das Lebendige im Ganzen gegen die von den Erfahrungswissenschaften angemaßte, aber unmögliche Eroberung der Positivität dieses Ganzen zu verteidigen, reicht keine auf sich allein gestellte Phänomenologie mehr aus. Vielmehr muss man „den Versuch einer F ü h r u n g durch die Wesensschichten nach Maßgabe eines Prinzips oder einer Deduktion der Kategorien des Lebens machen“ (Plessner 97, ). 39

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festlegen, sind Regulation, Vererbung, Stoffwechselkreislauf usw. irreduzibel […] wie Blau, Süß, Rauh.“ (ebd.) In seiner historischen Bestandsaufnahme des Neukantianismus hat Klaus-Christian Köhnke die Geburtsstunde des „Theorems der Marburger Schule von der ›Erzeugung des Gegenstandes‹“ (Köhnke 993, 276) dargestellt. Zur knappen Wiedergabe dieser empiristischen Reduktion siehe Plessner 97, 7: „ Reizvorgänge erklären sich aus Stoffwechselprozessen, Wachstumsvorgänge werden auf Vererbung zurückgeführt.“ Allerdings vertritt Plessner neben diesem empiristischen Szenario, in dem die kritische Differenz von Apriori und Aposteriori zerfällt, auch den Standpunkt, die Biologie habe allzu bereitwillig die neukantianische Lektion gelernt, wenn sie „Vererbung, Regulation, Altern allenfalls als B e g r i ff e “ (ebd., 7), nicht als immanente Modi auf Seiten der Phänomene zulässt. Dazu Pietrowicz 992, 32f.

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Hier lässt sich der Faden wiederaufnehmen, der zu Anfang dieses Unterkapitels geknüpft wurde. Natürlich ist Canguilhem niemals mit Plessners „Anspruch an die philosophische Erkenntnis beidem zu genügen: der theoretischen Herausforderung nach einem Wahrheitsmaßstab und dem Wissen um die Wirklichkeit in ihrer irreduziblen Tatsächlichkeit“ (Mitscherlich 2007, 07) konfrontiert worden. Umso attraktiver ist aber die Idee, aus seinen Texten könnte ein indirekter Kommentar zu Plessners Deduktion sprechen – eine Antwort auf Plessner, die Canguilhem sans le savoir gegeben hat. Während nämlich für Plessner die „Korrektivfunktion“ (Meuter 2006, 226; Hervorhebung i.O., T. E.) der Philosophie in Relation zu den Einzelwissenschaften unaufgebbar ist, würde dieses Moment der Korrektur für Canguilhem wohl eher das Markenzeichen einer wissenschaftlichen Ideologie darstellen. Denn muss man sich hinsichtlich Plessners Ansetzung eines Apriori des Organischen nicht fragen, inwiefern und wodurch, in seiner Lösung, die wissenschaftlichen Diskurse überhaupt in der Lage sein können, an ihren Gegenständen etwas Neues aufzuweisen2? Ist das von Plessner entworfene Verhältnis zwischen Philosophie und Wissenschaft nicht eine „Einbahnstraße“ (Wunsch 2008, 8), in der „die Möglichkeit, dass naturwissenschaftliche Theorien philosophische Begriffsbildungen und Wissensansprüche beeinflussen oder gar korrigieren, gar nicht vorgesehen zu sein“ (ebd., 9) scheint3? Folgt man diesem Einwand weiter, wäre die Gesamtheit der von Plessner deduzierten „unbedingt unauflösbare[n] und irreduzible[n] qualitative[n] Wesensgesetzlichkeiten des Lebendigen“ (Pietrowicz 992, 3), die vor aller (diskursiven) wissenschaftlichen Erfahrung im Spiel sein sollen, im Gegenteil ein Derivat, das sich nach den konkreten Phänomenbestimmungen der Forschung einfindet. Zweifellos muss man festhalten, dass Plessner selbst die von ihm eruierte apriorische Ordnung des Lebendigen verflüssigt und verzeitlicht, was – vom Standpunkt einer „logischen“ Kritik an seiner Argumentation – nicht ohne eine intendiert paradoxale Suspension des eigenen Ausgangspunkts von statten geht. Vielleicht verrät die Beweglichkeit dieses historischen Apriori aber auch nur dessen Verspätung gegenüber der Produktivität der sciences: In Plessners Figur eines in die Schwebe versetzten und zirkulierenden Apriori 2

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Diese Frage lässt sich in gewisser Weise als Spiegel des zentralen Einwands von Cavaillès gegen Husserl verstehen. Cavaillès wendet sich gegen den Gedanken einer „Sedimentierung“ von Bewusstseinsleistungen in historischen Formationen (des Wissens), da „such theories inevitably lead to the result that there cannot be really anything unexpected in science“ (Hyder 2003, 0). Siehe ganz ähnlich Meuter 2006, 22. Dieses „Nach“ hätte dann einen doppelten Sinn: Die philosophische Deduktion wäre zum einen eine reflexive Verdopplung, die sich gegenüber den stets offenen Einsichten der Wissenschaften in ihren Gegenstand immerzu verspätet, zum anderen wäre sie eine Erkenntnisform, die sich geradezu „à l’imitation de quelque modèle de science déjà constituée“ (Canguilhem 2009g, 7) gestaltet. Das Zögern und die reflexive Vorsicht, die Plessner bei der Einarbeitung eines apriorischen Anspruchs in seine Philosophische Anthropologie walten lässt, dokumentieren sich sehr gut bei Gesa Lindemann, die vieldeutig von der „Kombination eines kantisch-kritischen mit einem phänomenologischen und einem hermeneutischen Vorgehen“ (Lindemann 200, 8) spricht, nur wenige Seiten später aber defensiver formuliert (ebd., 86): „Die Theorie des Lebens beansprucht keine apriorische Gültigkeit, sondern sie sollte verworfen werden, wenn sie sich als unfruchtbar in der Erfassung der Lebensphänomene herausstellt, d.h., wenn sich mit Bezug auf diese Theorie kein zusammenhängendes Verständnis der entsprechenden Phänomene entwickeln lässt (…)“

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des Lebenden schwingt die Einsicht in die Unvordenklichkeit der Forschung mit, eine Unvordenklichkeit, die sich selbst wiederum einem nicht antizipierbarem Verhalten der epistemischen Objekte verdankt. Wenn also Plessners Weg der Deduktion mit Canguilhem zurückzuweisen ist, so deshalb, weil auf ihm das Immer-Anders-Werden der als „lebendig“ definierten Objekte und die Absolutheit der epistemischen Revisionen, die mit der unstillbaren Prozessualität dieser Objekte einhergehen, verkannt werden. Es gibt keine apriorische Formation des Lebendigen, die bloß wechselnde epistemische Gewänder hat, aber über die Historizität der Diskurse hinweg als Wesensverfassung durchscheint6. Tatsächlich präsentiert sich in der wissenschaftlichen Praxis nicht die homogene Konstitution (Plessner) einer überzeitlichen Entität, die man als das Lebendige auffassen könnte. Vom Lebendigen kann streng genommen nur im Modus des Instantanen die Rede sein, als eine jedes Mal neu verfasste, protheische Gestalt. Das Ergebnis dieser unabschließbaren Verschiebungen hat Canguilhem in Qu’est-ce qu’une idéologie scientifique? so ausgedrückt: „Ce que la science trouve n’est pas ce que l’idéologie donnait à chercher“ (Canguilhem 2009g, 8). Für Canguilhem kommt alles darauf an, jene eigenwillige Produktivität zu denken, die aus dem epistemischen und zeitlichen Bruch zwischen den Diskursen und ihren (lebendigen) Gegenständen entspringt: Letzere tragen eine Eigenzeitlichkeit in sich, eine Normativität, die sich an der Zeitordnung der Diskurse bricht. In der Sphäre der Wissenschaft sind wir konfrontiert mit der Erfahrung von radikal Neuem, und diese Erfahrung entstammt der Gleichzeitigkeit zweier ungleichzeitiger Ensembles: Es ist nicht nur die Wissenschaft, die in anderer Weise verfährt, als es ein ideologisches System vorsieht. Auch die Phänomene verhalten sich anders, als es die je aktuellen methodischen und begrifflichen Standards einer Wissenschaft erwarten lassen. Ebenso wenig wie die lebendigen Entitäten bleiben sich die wissenschaftlichen Diskurse über diese Gegenstände gleich. Vielmehr gibt es so etwas wie eine permanente gegenseitige Umschrift dieser beiden Momente, eine Relation, in die eine Größe schon immer ihre Vorgeschichte einbringt und in der die andere sich durch einen strukturell begründeten Abstand verspätet. Canguilhem beschreibt die Struktur der Geschichte (der Wissenschaften) als Prozess der Überlagerung normativer Bereiche und damit als Serie von Diskontinuitäten, die insgesamt einen sie verbindenden Raum konstituieren. Denn schließlich wird es in der Ordnung der Epistemologie möglich, heterogene Gegenstandsniveaus auseinander zu halten; zugleich aber stiftet sie „eine eigene temporale Ordnung“ (Rheinberger 2007, 03), in der nicht aufeinander reduzierbare Zeitebenen auf neue Weise synchronisiert werden7. 6

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Auch wenn es abwegig ist, Plessner den Rückfall „in eine idealistische Zwei-Welten-Lehre“ (Wunsch 2008, 8) vorzuhalten, muss man die diesbezüglichen Irritationen unter den Kommentatoren ernst nehmen und auf ihre Quelle zurückführen. Zumindest lädt Plessners diffiziles Spiel mit der Spannung von Sein und Schein zu einer platonisierenden Lesart ein, vor allem dann, wenn man sich nicht in aller Klarheit Plessners Methode verdeutlicht, die unterschiedlichsten Traditionsbestände der Philosophie, einschließlich der antiken Ontologien, virtuos neu zu vernetzen und eben dadurch ihre Absolutheitsansprüche hinfällig zu machen. Der Epistemologe arbeitet daher „à la fois extérieur à son objet par la distance temporelle qui l’en sépare et intérieur à lui par le développement continu du temps qui le ramène vers lui“ (LeBlanc 2009, 0). Aus dieser paradoxen Gleichzeitigkeit von Immanenz und Transzendenz erhellt wiederum

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Von daher kulminiert Plessners Vorstellung einer Korrelation zwischen einer empirischen und einer apriorischen Ordnungsform in einer sonderbaren Entzeitlichung. Anstatt epistemologisch zu rekonstruieren, welche präzisen Umschriften von Wissen und Leben sich ereignet haben, stellt Plessner den historischen Verzweigungen der Diskurse ein irreduzibles Inventar an Merkmalen zur Seite, auf das die Diskurse so oder so Bezug nehmen, nämlich gewissermaßen „diesseits“ der Konzepte, die ihre jeweilige Phänomenerfahrung orientieren. Bei Plessner findet die Pointe, über die sich die epistemologische Perspektive definiert, nicht statt: Dass nämlich der Blick, der den Zeitmodus des Wissens mit dem Zeitmodus der Phänomene verschränkt, ein Blick ist, der durch und durch aus der Kontingenz der Geschichte empor steigt und sich wieder in ihr verläuft. Man muss Plessners Konstruktion wohl eher so auslegen, dass die Zuordnung zwischen den apriorischen und den empirischen Bestimmungen des Lebenden geschichtlich je und je anders ausfällt. Aber das heißt nicht, dass der Standort, von dem aus wir historisieren, in den Vollzug der Historisierung selbst verrechnet werden kann8. Wie Canguilhem operiert auch Plessner mit einem Wechselspiel von diachronen und synchronen Perspektiven (bezogen auf Plessner siehe dazu Nauta 986), mit dem markanten Unterschied allerdings, dass er die verschränkende Perspektive – die bei Canguilhem der epistemologischen Optik entspricht – nicht selber der kontingenten Produktivität eines „geschichtlichen“ Werdens überstellt. In Canguilhems Kritik an Plessners Apriorismus steht also nichts Geringeres auf dem Spiel als die Frage nach der geschichtlichen Struktur der Wissenschaften, die sich mit dem Lebendigen beschäftigen. In einer seltsamen Ambivalenz nimmt sich das von Plessner eingeführte historische Apriori des Lebendigen gegenüber der operativen Forschung, dessen stillschweigende Voraussetzung in der Anschauung es sein soll, gleich wieder zurück. Für Canguilhem hingegen gibt es keine Alternative zu einem Verfahren, das sich in die Diskurse selbst versenkt, um deren Verspätung gegenüber ihren Objekten herauszuarbeiten und gerade aus dieser den Formen des Wissens innewohnenden Geschichtlichkeit heraus die Normativität des Lebendigen aufzuweisen9. In der epistemologischen Analy-

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die Unmöglichkeit neutraler Restitutionen von Geschichte. Stattdessen läuft die epistemologische Intervention darauf hinaus „à introduire dans l’histoire des sciences, une historicité autre que celle de l’histoire des sciences. […] L’unité de l’histoire, loin de désigner une réalité, est ‚créée rétrospectivement par l’historien‘“. (Ebd.) Und man muss nur einer Bemerkung von Pietrowicz folgen, um einzusehen, dass der Grund, weshalb Plessner das (zugegeben) historische Apriori nicht selbst wieder dem Strudel historischer Kontingenzen preisgibt, ein wirklich tiefgehender ist. Er besteht in der Kantischen Haltung, „dass wir nämlich zunächst frei einen Gesichtspunkt wählen müssen, dessen Richtigkeit sich dann an der Erfahrung rechtfertigen lassen muss“ (Pietrowicz 992, 39). Das Regime dessen, was wir als natürliche Notwendigkeiten zu setzen haben, leitet sich selbst aus einer freiheitlichen Wahl ab. Man sieht, wie sich diese aus der Kritik der reinen Vernunft übernommene Lektion in das Bild der exzentrischen Positionalität einpasst: Im Modus der exzentrischen Positionalität existiert keine irreduzible Natur und keine in sich selber kreisende Geschichte ohne das Zutun derer, die in exzentrischer Positionalität leben. Siehe Séris 993, 98: „Le philosophe historien des sciences saisit, avec le sort fait aux normes, exigences et questions du vivant dans chaque construction théorique (je pense ici aux sciences de la vie), quelque chose que la science elle-même n’atteint pas et à quoi elle s’adosse.“

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se gibt es nur einen, wenngleich in sich aufgefächerten Komplex zu betrachten – nämlich das rekurrente Spiel der Diskurse selbst. Gemessen an dieser Vorgehensweise kann man sagen, dass Plessner an der genuin geschichtlichen Struktur des Wissens vorbei denkt. Er dupliziert schlicht das Problem, wenn er neben den Genealogien des wissenschaftlichen Wissens eine apriorische Ordnung der Dinge eröffnet. In gewisser Weise verlagert Plessner sogar den geschichtlichen Taumel der Diskurse in das Gebiet der Philosophie, von dem aus gerade die „Korrektur“ ihrer Kontingenzen ausgehen soll: Denn so sehr die Erfahrungswissenschaften, Plessner zufolge, schon immer an den konstitutiven Wesensmerkmalen Maß nehmen, so sehr rufen letztere zu ihrer eigenen Verabschiedung auf, d.h. dazu, auf die sich ständig ändernde Höhe der je aktuellen Forschung versetzt zu werden. Es handelt sich um ein Apriori, das dem Entwicklungsgang der Wissenschaften weniger vorausgeht, als dass es sich im Austausch mit ihm aktualisiert und relokalisiert. Plessners Anspruch, die fundamentalen Charakteristika des Lebendigen herzuleiten, auf denen die historische Biologie seiner Zeit aufruht, erschiene bei Canguilhem als Generalisierung eines bloß temporären Wissensstands, als willkürliche Verabsolutierung einer Momentaufnahme, und das auf einem Feld, das „später von der Wissenschaft auf eigene Weise besetzt“ (Borck/Hess/Schmidgen 200, 26), soll heißen: radikal umgepflügt wird. Plessner iteriert die doppelte Statik jeder wissenschaftlichen Ideologie, wenn er zum einen eine definitive Konstitution des Lebendigen postuliert (anstatt dessen radikale Volatilität als epistemisches Objekt zu denken) und zum anderen die Rekurrenz wissenschaftlicher Erkenntnisse verfehlt, die lehrt, dass „die Reflexionsintentionen, die ihnen zeitlich in gewissem Abstand vorausgehen, von ihnen negiert, absorbiert oder überflüssig gemacht“ (Serres 99, 62) werden0. Eine methodische Spannung verhindert also von vornherein Canguilhems Zustimmung zu Plessners Weg einer „strenge[n] Begründung (…), eine[r] apriorische[n] Theorie der organischen Wesensmerkmale“ (Plessner 97, 3). Aber selbst wenn man Plessners transzendentale Lösung – von der hier schon mehrfach gezeigt wurde, wie weit und worin sie sich von einem Transzendentalismus im Sinne Kants oder Fichtes entfernt – für angebracht hält, ist es noch fragwürdig, ob diese Lösung wirklich konsistent

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Dieser Gedanke motiviert die für Canguilhem fundamentale Distinktion zwischen einer „histoire des sciences pure“ und einer Historischen Epistemologie. Erstere verlegt sich (z.B. bei Meyerson) auf die Sicherung von Erkenntnisständen aus der Vergangenheit einer Wissenschaft, denen zugesprochen wird, sie seien zumindest relativ „wahr“, nämlich bezogen auf den Zeitpunkt ihrer Formalisierung innerhalb einer spezifischen Kultur. Wissenschaftsgeschichte wird in diesem Ansatz als Binnendisziplin innerhalb einer relativistischen Kulturgeschichte betrieben. Im Unterschied zu einer solchen „histoire des sciences pure“, der eine „valorisation non-consciente d’elle-même“ eingeschrieben ist, gelangt die Historische Epistemologie selbstreflexiv zu „des évaluations des pratiques théoriques conscientes d’elles-mêmes“. Zu den Zitaten und dem Problem insgesamt siehe LeBlanc 2009, 02. Die Verkomplizierung der Geschichtsfrage bei Canguilhem wird hingegen ausgeblendet bei Chimisso 2003, 322. Siehe Canguilhem 2009g, 3f.: „Nous proposerions donc les conclusions suivantes: a) Les idéologies scientifiques sont des systèmes explicatifs dont l’objet est hyperbolique, relativement à la norme de scientificité qui lui est appliquée par emprunt. b) Il y a toujours une idéologie scientifique avant une science dans le champ où la science viendra s’instituer; il y a toujours une science avant une idéologie, dans un champ latéral que cette idéologie vise obliquement.“

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ist, ob sie den strikten Ansprüchen, denen sie sich implizit und explizit stellt, genügt. In der Literatur besteht Konsens darüber, dass Plessner in den Stufen die anspruchsvolle systematische Adaption Kants, auf den er sich ausdrücklich beruft, gelungen ist. Dabei kann man zeigen, dass die von Plessner wie selbstverständlich als „Deduktion der Vitalkategorien“ reklamierte Operation die strikten Kantischen Voraussetzungen für eine transzendentale Deduktion schlichtweg auf den Kopf stellt, und dass er Konsequenzen aus dem Deduktionsansatz zieht, die sich mit der Kantischen Beweisführung nicht recht in Einklang bringen lassen. Das Bild, das sich mit dieser Feststellung eröffnet, hängt nicht gleich an dem Dogma, in der Philosophie dürfe als Deduktion legitimerweise ohnehin nur eine solche Ableitung gelten, die mit der von Kant geforderten Rigorosität vorgeht. Aber es ist doch so, dass Plessners Abstand zu Kant Licht auf einen Riss wirft, der in seinem eigenen Projekt zwischen der transzendentalen Reflexion und dem Bemühen verläuft, die Bedingung des Wissens vom Leben im Leben selbst zu verankern. Ohne eine starre Wiederholung von Kants Modell der Deduktion einzuklagen (um dann Plessner dessen Unterschreitung vorzuwerfen), sollte man sich doch mit dem Problem auseinandersetzen, wie mit Plessners offenkundiger Abweichung von der Dogmatik – einer Abweichung, die Plessner selbst nicht immer so klar gemacht hat – umzugehen, wie seine zögerliche Haltung gegenüber einer Konklusion à la Kant oder Fichte zu interpretieren ist. Der raffinierte Dreh, den Plessners Anknüpfung an Kant nimmt, wurde bereits in Kapitel II.A.. untersucht und in diesem Unterkapitel noch einmal nachskizziert: Der Einsatz dieser Anknüpfung besteht, nach meinem Verständnis, in einer Einschachtelung der Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung von Seiendem in die Bedingung der Möglichkeit des Seins von Seiendem. Der springende Punkt von Plessners Kant-Deutung steckt in seiner Überzeugung, dass „die transzendentale Einheit des Selbstbewusstseins (…) zwar der Zentralpunkt aller Kategorien, nicht aber zugleich ihr Deduktionsort, Prinzip und Quelle ihrer Differenzierung“ (Plessner 97, 3) sei. Vielmehr gehe die transzendentale Reflexion von einer Axiomatik synthetischer Erkenntnisse a priori aus, die „in den exakten Wissenschaften verfestigt“ (ebd.) sind, welche ohnehin schon, wenngleich implizit, in den epistemischen Grundlagen der Wissenschaften vorkommen. Die Frage nach den Kategorien ziele bei Kant, so Plessner, auf jene „Prinzipien“ (ebd.), die so etwas wie die transzendentale Grammatik einer Epoche bilden, dabei aber auch als solche Prinzipien betrachtet werden müssen, „wonach andere synthetische Erkenntnisse a priori möglich sind“ (ebd.)2. Daher könne man „die wirkliche Weite der kategorialen Funktionen“ (ebd.) nur ermessen, wenn man über Kants Entdeckung der vom transzendentalen Selbstbewusstsein geleisteten Synthesen hinaus geht, um mit Hegel das „Problem des Zusammenhangs der Kategorien als ontologisches Problem“ (ebd.) zu akzeptieren. Genau diese Überschreitung ist der Schlüssel für Plessners Definition der Kategorienstruktur, die ich hier, weil sie wesentlich ist, noch einmal zitiere: „Kategorie heißt im philosophischen Sprachgebrauch eine Form, der sich die Erfahrung fügt, die aber nicht aus der Erfahrung stammt; eine Form, deren Bereich nicht mit der Aktsphäre des Subjekts zu Ende geht, sondern übergreift auf die Sphäre der Objekte, weshalb ihr nicht nur  2

Siehe Pietrowicz 992, Beaufort 2000, Fischer 2000, Breun 2006, Krüger 999, Krüger 200, Mitscherlich 2007. Hervorhebung d. Verf., T. E.

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die Erfahrung, die man von den Gegenständen macht, sondern ebenso die Gegenstände selber unterstehen. Kategorien sind demnach Formen, die weder dem Subjekt noch dem Objekt allein angehören und sie vermöge ihrer Neutralität zusammenkommen lassen. Sind Bedingungen der Möglichkeit des Übereinkommens und der Eintracht zweier wesensverschiedener und voneinander unabhängiger Größen, so dass diese weder durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt sind noch direkt aufeinander Einfluss haben.“ (Plessner 97, 6)

„Nicht nur die Erfahrung, die man von den Gegenständen macht, sondern ebenso die Gegenstände selber unterstehen“ der Konstitution durch Kategorien: Es ist nicht ohne Ironie, wenn Plessner diese Einsicht, die er in der soeben zitierten Passage in Form einer veritablen These äußert, an anderen Stellen verschlungen und grammatikalisch unklar formuliert3. Im Übrigen ist sich Plessner der kreativen Freiheit, die er sich in seiner Adaption von Kants Kategorientheorie erlaubt, durchaus bewusst – und mitunter scheint es, als würden seine Erläuterungen zu diesem Punkt einen geradezu defensiven, apologetischen Ton annehmen. Wie dem auch sei, die von Plessner deduzierten Vitalkategorien sind gewiss „als subjektiv-objektiv-korrelative Brückenprinzipien des lebendigen Verhältnisses des Lebewesens Mensch zum Nichtlebendigen und Lebendigen zu verstehen und nicht auf Verstandesbegriffe zu reduzieren“ (Baumanns 997, 86). Ganz ähnlich sieht Olivia Mitscherlich den Kunstgriff von Plessners „verschränkte[m] Deduktionsverfahren“ (Mitscherlich 2007, 06): Wenn nämlich „Grenzrealisierung und Lebensmodale allein aneinander aufgewiesen werden können“ (ebd., 06), dann ist es unmöglich, die Deduktion auf ein transzendentales Selbstbewusstsein oder, im umgekehrten Extrem, auf eine substanzielle 3



Siehe etwa Plessner 97, 3 bzw. : „Wesensmerkmale im Sinne der die b i o l o g i s c h e Erkenntnis möglich machenden Kategorien sind am gegenständlichen Sein in der Anschauung gewonnen und, wenn auch bei Gelegenheit der Erfahrung erst entdeckt, für die Erfahrung des Biologen bereits leitend in der Auswahl seiner Gegenstände. (…) (D)ie Kategorien der empirischen Biologie wurzeln in den Kategorien des Lebendigen selbst.“ Die sprachlichen Konstruktionen bewahren sich hier eine Ambivalenz zwischen einem transzendentalen und einem ontologischen Vokabular: Wenn die Kategorien der biologischen Erkenntnis „am gegenständlichen Sein in der Anschauung gewonnen sind“, bedeutet dies dann, dass sie einem qua Anschauung zugänglichen Sein selbst inhärent sind? Oder liegt der Akzent hier (Kantisch) auf dem kritischen Horizont der Anschauung, auf den wir überhaupt angewiesen sind, um Seiendes (nämlich Erscheinungen) erfahren zu können? Ähnlich die im zweiten Satz genannten „Kategorien des Lebendigen selbst“, in denen nach Plessner die Kategorien der empirischen Biologie „wurzeln“: Hier räumt die Semantik nicht jeglichen Zweifel darüber aus, ob es sich um seinsimmanente Ordnungsformen oder um eine reine Denkermöglichung auf Seiten des Subjekts handeln soll. Ebd., 6f.: „Natürlich ist bei Übereinkommen und Zueinanderkommen in erster Linie an die rationale Weise der Erkenntnis gedacht, deren Glieder Intellekt und Gegenstand sind. Warum sollte es aber nicht erlaubt sein, die F u n k t i o n der Kategorie aus ihrer besonderen Zuspitzung zur Denk- und Erkenntnisform versuchsweise loszulösen und das Problem von Kategorien oder Kategorialfunktionen aufzuwerfen, die zu anderen, primitiveren oder fundamentaleren Existenzschichten gehören? Schon Kant lehrte apriorische Formen der Sinnlichkeit, die bei der noch erkenntnisfreien einfachen Wahrnehmung ins Spiel treten. Diese Formen sind ebenso wie die Rationalität stiftenden Kategorien noch ganz an die Einheit des Bewußtseins gebunden. Ist der Gedanke nun ganz von der Hand zu weisen, dass es vorbewusste, zu tieferen Existenzschichten der Lebensträger, der Organismen (nicht als seiende Objekte, sondern als lebende Objekte verstanden) gehörige Aprioriformen, Existenzkategorien, Vitalkategorien gibt, auf denen das Zueinander und Miteinander des Organismus und der Umwelt beruht?“

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Ontologie des Seienden zurück zu führen. Letztlich kommt man der Finesse von Plessners Art der Deduktion wohl am nächsten, wenn man sagt, dass sie auf keinen einseitigen Ursprung hin auflösbar, sondern überhaupt nur im Vollzug von Erfahrung möglich ist. Plessner selbst argumentiert, seine Modernisierung von Kants Zugang liege darin, weiterhin von der Synthesistätigkeit der Kategorien ausgehen zu können, dabei aber ihre „besondere Zuspitzung zur Denk- und Erkenntnisform“ (Plessner 97, 6) zu überwinden. Doch wenn man Plessners Lektüre der Kategorienproblematik neben die von Kant in der Kritik der reinen Vernunft entwickelte Beweisführung stellt, dann scheint es, als müsse man den Punkt, an dem Plessners Umwandlungen wirksam werden, in einem ganz anderen Kontext lokalisieren als in dem von Plessner selbst benannten. Zuerst ist daran zu erinnern, dass Kant die Kategorien keineswegs, wie Plessners Formulierung sagt, als „Bedingungen der Möglichkeit des Übereinkommens und der Eintracht“ (ebd.) von Subjekt und Objekt definiert. Sie sind präzise bestimmt als Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrungsurteilen, d.h. Urteilen, die (im Unterschied zu Wahrnehmungsurteilen) eine objektiv gültige Relation zwischen dem Subjekt und Objekt einer Aussage herstellen. Ganz explizit klären die Kategorien, nach Kants Verständnis, eine bestimmte begriffliche, in Urteilen vollzogene Verknüpfung von Subjekt und Objekt. Was sie dagegen nicht klären, ist die ontologische Form, die in Subjekten und Objekten selbst präsent und am Werk sein soll und die uns gestattet, deren Kontakt als seiende Entitäten zu verstehen (siehe Plessner 97, 6). Damit taucht zwischen Kant und Plessner eine Differenz der Ansätze auf, auf die Plessner gar nicht erst eingeht, weil er nicht anzunehmen scheint, dass sein eigenes Verständnis von „Deduktion“ durch sie in Verlegenheit geraten könnte: Aber Kant deduziert unter dem Namen der Kategorien keineswegs apriorische Insignien der Gegenstände, die sich uns in der Erfahrung zeigen. Seine Untersuchung betrifft ohne Zweifel und exklusiv die reinen Formen des Denkens, die unsere Erfahrungsurteile möglich machen. Obwohl es korrekt wäre, zu behaupten, dass bei Kant die Kategorien der Erfahrung zugleich die Kategorien der Gegenstände der Erfahrung sind, würde man nicht mit, sondern durchaus gegen Kant denken, wenn man in den Kategorien dank ihrer Übergangsfunktion Formen sieht, „deren Bereich nicht mit der Aktsphäre des Subjekts zu Ende geht, sondern übergreift auf die Sphäre der Objekte“ (ebd.). Tatsächlich kann man Plessners Bild einer systematischen Eigenständigkeit der Kategorien gegenüber der Einheit der transzendentalen Apperzeption, die von Kant gewiss als deren „Zentralpunkt“ (ebd., 3), nicht aber als „Deduktionsort“ (ebd.) eingeführt werde, nur dann zustimmen, wenn man es als eine Interpretation der sogenannten metaphysischen Deduktion der Kategorien auffasst. Denn in diesem ersten, von Kant als „Entdeckung des Leitfadens“ überschriebenen Schritt sichert Kant zunächst einmal die Tafel jener irreduziblen und reinen (inhaltsfreien) Grundlagen des Urteilens ab, die sich nicht der Erfahrung verdanken, aber für Erfahrung schlechthin unentbehrlich sind. Und in dem Maße, in dem bei dieser am Leitfaden der Urteilsformen realisierten Deduktion der Bezug zur Einheit des Selbstbewusstseins noch im Dunkeln bleibt, kann man Plessners Einschätzung folgen, die Kategorien hätten ihren „Deduktionsort“ nicht in besagter transzendentaler Apperzeption. 

Ohnehin bedient sich Plessner in seiner Kant-Exegese nicht der ursprünglichen Terminologie Kants. Kant spricht weder von einem „Zentralpunkt“ der Kategorien noch von deren „Deduktionsort“. Mit

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Aber so gewiss es ist, dass in diesem ersten und vorläufigen Deduktionsgang die Einheit des Selbstbewussteins noch nicht als „Prinzip“ (Plessner 97, 3) aller Kategorialität erwiesen wird, so klar ist auch, dass Kant in einer zweiten Ableitung auf genau diesem Abhängigkeitsbezug besteht. Diese zweite Bewegung, die im Unterschied zur metaphysischen als transzendentale (und im strengen Sinne als die einzige) Deduktion gekennzeichnet ist, führt den Nachweis der objektiven Gültigkeit der Kategorien6. Sie begründet, anders gesagt, wie es möglich ist, dass die Formen des Denkens zugleich die Fundamente der Gegenstände sein können. In der Kantischen Konstruktion kann dieses Problem nun aber ausschließlich dann als gelöst betrachtet werden, wenn die Lösung über eine ganz bestimmte spekulative Struktur geht: Wonach Subjektivität und Objektivität ihren Ursprung sehr wohl im transzendentalen Selbstbewusstsein haben, das sich wiederum in den reinen Formen des Verbindens, in den Kategorien, vollzieht. Bei Kant erhalten die Kategorien ihre ontologische Bedeutung, ihren Bezug zum Seienden, einzig und allein aus der Einheit des Selbstbewusstseins, der transzendentalen Apperzeption, die ihren „Deduktionsort, Prinzip und Quelle ihrer Differenzierung“ (Plessner 97, 3) bildet. Auch Plessner arbeitet die verwandelte Verfassung der Kategorien heraus, auch er will zeigen: „die modi cogitandi entpuppen sich als modi essendi“ (Höffe 2007, 98). Allerdings bleibt er bei dem bloßen Resultat, sozusagen an der Oberfläche von Kants transzendentaler Deduktion stehen, wenn er die ontologische Geltung der Kategorien (ihre Subjekt-Objektivität) unterstreicht, nicht aber den bei Kant unersetzlichen transzendentalontologischen Kern, dem der ontologische Horizont seinen Beweis und seine Struktur verdankt. Bezeichnenderweise schlägt Plessner einer Deduktion vor, die „u n t e r d e m G e s i c h t s p u n k t “ (Plessner 97, 22) der Grenzrealisierung abläuft, aber explizit nicht aus „aus dem Sachverhalt der Grenzrealisierung“ (ebd.) heraus zu vollziehen ist. Damit schließt Plessner an den Aufbau der metaphysischen Deduktion an, die „unter dem Gesichtspunkt“, am (bloßen) Leitfaden der Urteilsformen operiert und so auf den Kanon der Kategorien stößt. Doch er verleiht seinem Verfahren nicht den Status einer transzendentalen Deduktion, der es hinsichtlich der Kategorien darauf ankommen müsste, noch mehr als „die Möglichkeit ihres Stattfindens“ (Mitscherlich 2007, 2) zu explizieren7. Eine

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einiger Geschicklichkeit kann Plessner der Problemlage, wie wir sie bei Kant vor uns haben, semantische Nuancen hinzufügen, die sich in Kants Text noch nicht erkennen lassen. An die Stelle der „quid-facti-Frage: Was sind die Elementarbegriffe des reinen Verstandes?“ der metaphysischen Deduktion tritt in der transzendentalen Deduktion, wie Höffe zeigt, die „quid-jurisFrage“ nach der Bedingung der Möglichkeit dafür, dass die Kategorien „subjektiv und dennoch für die Konstitution objektiver Gegenstände unentbehrlich“ sein können. Zu den Zitaten Höffe 200, 22. Während Mitscherlich erläutert, dass Plessner das (in Form einer Hypothese unterstellte) Faktum der Grenzrealisierung und die Vitalkategorien voneinander her, in ihrer Reziprozität, erweist, ist Pietrowicz der Auffassung, dass die Positionalität des Lebendigen bei Plessner das Äquivalent für die transzendentale Apperzeption sei. Siehe Pietrowicz 992, 320: „Und ebenso, wie für Kant „die transzendentale Einheit des Selbstbewusstseins […] der Zentralpunkt aller Kategorien ist“ (Plessner), stellt für Plessner das besondere Faktum der Grenzrealisierung, oder, wie er später auch sagt: das Moment der Positionalität, den Zentralpunkt aller Lebenskategorien dar. In dem Sinne, wie für Kant die synthetische Einheit der transzendentalen Apperzeption die methodische Einheit der Kategorien abgibt, wobei diese als synthetische Einheitsfunktionen

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transzendentale Deduktion kann nur in „einem letzten Fundament“ (ebd.) kulminieren; sie käme nicht umhin, die Brücken zwischen Subjekt und Objekt – die Kategorien – in die Einheit der transzendentalen Apperzeption, in den subjektiven Ursprung aller Subjektivität und Objektivität, zu verlegen. Diese Schlussfolgerung, die in der Kantischen Konstruktion unumgänglich ist, möchte Plessner gerade aus den Angeln heben. Auf der einen Seite fällt also auf, dass Plessner in seiner Deduktion der Vitalkategorien ohne ein Äquivalent für Kants transzendentale Apperzeption auskommt. Nicht das Modell der transzendentalen Subjektivität leitet uns, wenn wir die konstitutiven Momente des Lebendigen deduzieren. Vielmehr zeigt sich, dass die lebendige Konstitution, die wir (Subjekte) an den lebendigen Gegenständen aufdecken, auch die Beziehungsgrundlage ist, auf der wir uns selbst bewegen, da und insofern uns die Gegenstände überhaupt als lebendig erscheinen können. Wenn aber Plessner Kant deswegen den Rücken kehrt, weil er sich von dem Projekt einer einseitigen Fundierung des Seins im Selbstbewusstsein befreien will, dann provoziert dieser Abschied auf der anderen Seite die Frage, ob Plessner die Denkstruktur, um die es Kant geht – die transzendentale Apperzeption – überhaupt in ihrem vollen Umfang getroffen hat. Es bleibt nämlich zu diskutieren, ob die transzendentale Apperzeption tatsächlich, wie Plessner offenbar annimmt, mit Fichtes sich selbst setzendem Ich zusammenfällt und unter dieser Prämisse dann auch folgerichtig als Grundmuster eines philosophischen Subjektivismus gelten kann, dessen problematisches Selbstverständnis sich bis in den Neukantianismus hinein, bis zu Husserl und Heidegger, fortsetzt. Peter Baumanns zufolge wird Kants „Apperzeptionsstandpunkt“ (Baumanns 997, 868) in seiner durchgebildeten Struktur erst dann fassbar, wenn man begreift, dass Kant nicht einseitig die Limitation des Seins auf die Sphäre der Erscheinungen herausgearbeitet hat, wobei die Erscheinungen wiederum „nur in subjekt-objekt-korrelativ bestimmten Gegebenheitsweisen begegnen und anwesend sind“ (ebd., 92). Man muss vielmehr bis zu dem von Jacobi als Widerspruch stigmatisierten und verworfenen Gedanken einer Kausalität, die den Dingen an sich selbst zuzurechnen ist, zurückgehen: Die „Empfindungen“, die den Vollzug der Anschauung begleiten und sich auf die sinnlichen Daten der Anschauung beziehen, werden, nach Kants Darstellung, im Subjekt „verursacht“. Aber hier handelt es sich um eine andere Ursächlichkeit als die, die wir als objektiv gültiges Gesetz in der Welt der Erscheinungen ausweisen können. Um den Ursprung der Empfindungen und damit die Affektion, die uns auf der Ebene der Sinnlichkeit widerfährt, denken zu können, ist es notwendig, einen unbekannten Anstoß durch das Ding an sich einzuräumen: auf jene letzte formale Einheit des ‚Bewußtseins überhaupt‘ zurückgehen, bedeutet das besondere Prinzip der Grenze oder die Positionalität bei Plessner die Grundkategorie des Lebens schlechthin, auf welche alle anderen Vitalkategorien bezogen sind und welche damit zugleich die erste vorauszusetzende Möglichkeitsbedingung für das Auftreten der Erscheinung des Lebens darstellt.“ Gegen Pietrowicz spricht allerdings, dass Plessner an der zitierten Stelle die transzendentale Einheit des Selbstbewusstseins gerade nicht, wie Kant, als das die Deduktion stiftende und leitende Prinzip liest. Die Kategorien sollen vielmehr aus dessen „formaler Einheit“ freigesetzt werden. Was Plessner meint, wenn er das Selbstbewusstsein dann noch als „Zentralpunkt aller Kategorien“, im Unterschied von dessen Funktion als „Prinzip“, bleibt insgesamt unklar. Die von Plessner geleistete Deduktion verhält sich darum äquivalent zur metaphysischen, nicht aber zur transzendentalen Deduktion bei Kant: Sie entwickelt sich entlang des Leitfadens einer Hypothese, nicht im Zeichen der Unentbehrlichkeit einer ursprünglichen Verbindung.

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„Das Sein der Erscheinung ist das Sein überhaupt = . Die Erscheinung hat am ‚Ding an sich‘ ihr Sein, so wie das erkennende Subjekt von ihm her und daran sein ganzes Sein hat. In der Erkenntnis der Erfahrungswelt als einer Erscheinungswelt übereignet sich das Sein dem Subjekt und das Subjekt dem Sein. Die Folge der konstituierten und organisierten Weltzustände ist die Art, wie Subjekt und Objekt gemeinsam die Empfindungskausalität inszenieren, aber die Empfindungskausalität des Objekts überhaupt im Subjekt überhaupt.“ (Ebd., 88)

Die von Kant elaborierte Figur der transzendentalen Apperzeption (als Einheit des Selbsbewusstseins) impliziert also, nach Baumanns, nicht nur die Verankerung des Seins (als Erscheinung) im Subjekt, sondern, in einer den ersten Schritt vervollständigenden Bewegung, „die Fundierung der Subjektivität im Sein“ (ebd., 87)“8. Eine solche Kant-Lektüre, in der „die transzendentale Reflexion als Selbstdurchdringung der Stellung des Subjekts objektiv gültiger Erscheinungserkenntnis =  im Sein =  identifiziert“ (ebd., 862) wird, hat einen entscheidenden Durchschlag auf Plessners KantRezeption. Während nämlich Kant mit dem Durchbruch zur transzendentalen Apperzeption die umfassende „Konvertibilität von Sein, Einheit, Wahrheit und Vollständigkeit“ (ebd., 89) deduziert, bewegt sich Plessners Deduktion in der Unterscheidung zwischen dem Dasein und dem Sosein des (lebendigen) Seienden, zwischen existentia und essentia9. Plessner findet keinen Zugang zu der Einsicht, dass auch Kants transzendentale Deduktion „doppelseitig“ (Mitscherlich) angelegt ist – was etwas völlig anderes heißt als bei Plessner: Bei Kant wird die ursprüngliche Subjektivität, die allemal das Prinzip der kategorialen Synthese ist, mit dem Sein, durch das sie qua Empfindung affiziert wird, rückvermittelt. Diese Kritik steht in keinerlei Spannung zu dem zuvor entwickelten Einwand, wonach Plessners Verzicht auf den Übergang zur transzendentalen Apperzeption heißt, dass zwar der gesamte Kanon der Vitalkategorien freigelegt, nicht aber dessen objektive Gültigkeit deduziert wird. Vielmehr liegt jetzt zu Tage, wie der zweite Einwand den ersten ergänzt und umfasst: Plessners Realisierung einer lebendigen „Subjekt-Objektivität“ (Plessner 97, 22) soll gerade anders verlaufen als Kants Argumentation, wonach die Objektivität der Gegenstände „nur dank einer apriorischen Subjektivität möglich ist“ (Höffe 2003, 39; Hervorhebung i.O., T. E.). Indem Plessner das transzendentale Selbstbewusstsein als „Deduktionsort“ der Kategorien suspendiert, mündet sein Verfahren in eine metaphy8

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Siehe auch ebd., 97: „Unser Lösungsvorschlag zum Problem der Affektion in der Kritik der reinen Vernunft lautet: Das Ding an sich =  affiziert die Sinnlichkeit und vermittelst ihrer das tranzendentale Selbstbewusstsein, das erkenntnisimmanente Erkenntnissubjekt = . Über das transzendentale Selbstbewusstsein =  wird aber notwendigerweise hinaus gedacht, aufgrund der Erklärungsbedürftigkeit seiner Verfassung und des Zusammenhangs, den es mit der Sinnlichkeit hat.“ Ebd., 867: „Scheler und Plessner teilen (…) ein theoretisches Hauptdefizit: die phänomenologische, essentialistische Einschränkung des exzentrischen Apperzeptionsstandpunktes, die Reservierung des Apriori für das So-Sein des individuellen Seienden aufgrund der vermeintlichen fundamentalen Identität des Daseins mit dem Hier-und-Jetzt. Der ‚transzendentale‘ Vollsinn der Apperzeption als Konvertibilität der Seinsbestimmungen läßt sich unter diesen Vorzeichen auf den Standpunkten des ens a se und des Lebens nicht zur Geltung bringen. Das Bedeutungsmoment wird vernachlässigt, das dieses Prinzip mit der Reflexion der passiones entis seit Parmenides verbindet und von Kant mit dem Begriffskomplex ‚Affektion‘ – ‚Ding an sich‘ – ‚Erscheinung‘ bezeichnet wird.“ Für eine mögliche Belegstelle siehe Scheler 977, 6.

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sische, nicht in eine transzendentale Deduktion im Sinne Kants. In dieser Lage – und dies entspricht der zweiten hier angerissenen Kritik – kann Plessner dann auch nicht mehr überblicken, dass die apriorische Subjektivität bei Kant nicht die Setzung des Seins qua Subjekt bedeutet, sondern eine Öffnung des Subjekts ins Sein hinein impliziert, dass sich Subjekt und Sein wechselseitig fundieren. Nur auf den ersten Blick sind all diese Erläuterungen von der in diesem Kapitel instituierten Perspektive abgeschweift: Nämlich von der Frage, wie sich Plessners Ausformulierung eines Wissens vom Leben im Licht von Canguilhems Historischer Epistemologie lesen lässt. Wie ist Plessners Konzeption des Verhältnisses von Wissen und Leben zu interpretieren und zu kritisieren, wenn man ihr Canguilhems Weg, eben diese Beziehung zu denken, entgegen hält? Welches Bild entsteht, wenn man sich Plessners Lösung im Durchgang durch diejenige Canguilhems nähert? Aus den zuletzt vorgenommenen Analysen hat sich der Eindruck herauskristallisiert, dass Plessners Deduktion der Vitalkategorien inkonsistent ist. Sie geht die Strecke des Transzendentalen nicht zu Ende, sie folgt ihr nicht strikt genug, um den von ihr (qua Deduktion) erhobenen Anspruch auf den Beweis der objektiven Geltung der Vitalkategorien einholen zu können. Von Canguilhem her gesehen käme es nun darauf an, die eigentliche Pointe von Plessners Hadern im Umgang mit der transzendentalen Deduktion zu erkennen. Diese Pointe kommt in Sicht, wenn man noch einmal betont, dass Plessner die Kategorien des Lebendigen im Lebendigen selbst verankert60. Die kategorialen Bestimmungen (Selbstregulation, Altern, Entwicklung, Prozessualität, Typizität, harmonische Äquipotentialität, Systemcharakter) werden über ihre Entsprechung mit dem Phänomen der Grenzrealisierung hergeleitet. Seine Grenze zu realisieren, ist dem Lebendigen jedoch allererst möglich, weil es in sich „gesetzt“ ist: Anders gesagt, dieser Vollzug ist dem Lebendigen möglich dank seiner Positionalität, dank der veritablen Konstitution des Lebendigen. Gleichwohl wäre es ein Missverständnis, die Botschaft von Plessners Deduktion der Vitalkategorien ganz auf den Nachweis von „material apriorische[n] Gesetze[n]“ (Plessner 97, 6) zu verkürzen. Die Kategorien, in denen sich unser Wissen vom Leben vollzieht, erweisen sich zwar als Konstituenten der Objekte selbst. Aber ein Wissen um diese Verfassung, eine Relation, in der Leben Leben versteht (Dilthey), realisiert sich, wie Plessner zeigt, ausschließlich im Modus der exzentrischen Positionalität6. Ein Lebewesen, dem seine eigene Konstitution gegenständlich werden kann, ist auf diese Konstitution „noch einmal bezogen (Plessner 97, 288) und „darum nicht mehr von ihr 60

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Es sei daran erinnert, dass Plessner auf die „Gesetze des Zusammenhangs zwischen Lebewesen und Welt, Gesetze der Eintracht, der Konkordanz und gleichursprünglichen Gestaltung“ (Plessner 97, 6) hinaus will, „die in der Wasform, der Wesensstruktur des Lebens begründet sind“ (ebd.) Hierzu noch einmal exemplarisch Plessner 97, 288: „Die Schranke der tierischen Organisation liegt darin, dass dem Individuum sein selber Sein verborgen bleibt, weil es nicht in Beziehung zur positionalen Mitte steht, während Medium und eigener Körperleib ihm gegeben, auf die positionale Mitte, das absolute Hier-Jetzt bezogen sind. Sein Existieren im Hier-Jetzt ist nicht noch einmal bezogen, denn es ist kein Gegenpunkt mehr für eine mögliche Beziehung da. Insoweit das Tier selbst ist, geht es im Hier-Jetzt auf. Dies wird ihm nicht gegenständlich, hebt sich nicht von ihm ab, bleibt Zustand, vermittelndes Hindurch konkret lebendigen Vollzugs. Das Tier lebt aus seiner Mitte heraus, in seine Mitte hinein, aber es lebt nicht als Mitte. Es erlebt Inhalte im Umfeld, Fremdes und Eigenes, es vermag auch über den eigenen Leib Herrschaft zu gewinnen, es bildet ein auf es selber rückbezügliches System, ein Sich, aber es erlebt nicht – sich.“

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gebunden“ (ebd., 29). Wenn die Struktur, die das Lebendige trägt und auszeichnet, ganz durchsichtig wird, dann allein für einen Blickpunkt, der aus der Immanenz des Lebens herausgebrochen ist: „Er [der Mensch, T. E.] ist in seine Grenze gesetzt und deshalb über sie hinaus, die ihn, das lebendige Ding, begrenzt“ (ebd., 292). So kann in einer durch Canguilhem inspirierten Sicht die Unsicherheit, die sich in Plessners Umgang mit der transzendentalen Konzeption verrät, nicht überraschen: Letztlich trägt Plessners Ansatz zwei Linien zugleich vor, zwei differentielle Projekte, die eben nicht gemeinsam entfaltet werden und nicht zusammen bestehen können. Auf der einen Seite postuliert Plessner eine transzendentale Wende. Er aktualisiert Kants Suche nach der Bedingung der Möglichkeit der Gegenstandsreferenz der Kategorien. Auf der anderen Seite (und im Subtext) dieser transzendentalen Wende findet aber eine Argumentation statt, die man als eine vitale Wende, nämlich als eine Verschiebung des „place du concept, de la structure, dans le vivant lui-même“ (Worms 2009, 366) beschreiben könnte. Plessner zeigt, dass „l’a priori est dans les choses (…), le concept est dans la vie“ (Canguilhem 99b, 36) – und doch zeigt er es nicht. Plessner sagt, dass die kategoriale Ordnung des Lebendigen transzendentalphilosophisch ableitbar ist – und doch sagt er es nicht. Die „performative Wende (…) ins Verhalten von Lebendigem zu Lebendigem“ (Krüger 200, 28; Hervorhebung i.O., T. E.]: Diese vitale Wende durchkreuzt in Plessners Philosophie des Organischen die transzendentale Wende, deren ständiger Begleiter die grundlegende Stellung des Subjekts der Erkenntnis sein muss. Plessner ist halbherzig gegenüber der Tradition des Transzendentalismus, weil er „die Idee des Lebendigen dem Lebendigen selbst“ entnimmt (Canguilhem 2009a, 22). Aber er ist auch gegenüber der Option des vitalen Rationalismus halbherzig, wenn er meint, überhaupt noch am Programm einer transzendentalen Deduktion festhalten zu müssen. In diesem Betracht ergibt sich in Plessners Fall eine ähnliche Aporie wie die, in der Kant und Bergson, jeder auf seine Weise, befangen waren. Obwohl sich am Horizont von Kants und von Bergsons Reflexionen auf das Lebendige das Motiv eines vitalen Apriori ankündigt, lehnen beide Denker es ab, von der ontologischen Inhärenz des Begriffs im Leben auszugehen. „Offiziell“ lösen sie die Frage nach dem Zusammenhang von Leben und Erkenntnis mit Rücksicht auf den Standpunkt der Erkenntnis, d.h. weiterhin in den paradigmatischen Grenzen der Subjektivität. „Offiziell“: Denn schon innerhalb ihrer eigenen Theorien zeigt sich, dass es unumgänglich ist, die genau umgekehrte Richtung einzuschlagen, also das Phänomen der Erkenntnis von der Apriorität des Lebens her aufzurollen, von einem Außen des Subjekts her, ausgehend von den „racines réelles“ (Canguilhem 99b, 30) der Kategorien. Analog könnte man über Plessner sagen, dass er sich die hegelsche Option, die seine Konstruktion in den Stufen umspielt, selbst nicht recht klar gemacht hat62. Zwischen den Stühlen Kants und Hegel stehend, denkt Plessner höchstens implizit und zögerlich mit Hegel „l’existence d’un apriori objectif, d’un a priori proprement matériel et non seulement formel“ (Canguilhem 99b, 362)63. 62 63

Ironischerweise schreibt Plessner selbst, er habe sich auf Hegel „berufen müssen, wären mir damals die entsprechenden Stellen bekannt gewesen“ (Plessner 97, III). Auch Baumanns spricht einen latenten Hegelianismus bei Plessner an. Diese (bloße) Latenz zeige sich darin, dass Plessner die „ursprüngliche Vermittlung von Sein und Vernunft“ (Baumanns 997, 87), die von Hegel konsequent expliziert wird, nicht auch schon in der spekulativen Struktur von Kants transzendentaler Apperzeption angelegt sehe. Deshalb Baumanns’ Fazit (ebd.):

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Es sei nur knapp wiederholt, dass Canguilhems eigene Figur eines Wissens vom Lebem als ein vitaler Rationalismus ausbuchstabiert werden kann: Das Movens des Lebendigen ist seine biologische Normativität, ist der Umstand, dass jeder Organismus seine Umwelt spontan durch individuelle Werte koordiniert. Aber das Verhältnis zur Umwelt bleibt immer prekär. Es ist der Spielraum einer Instabilität, aus der eine permanente Beunruhigung und Produktivität des Organismus’ resultiert. Wenn nun der Epistemologe (anders als der operative Wissenschaftler) weiß, worin die Besonderheit des Lebendigen liegt, wenn ihm ein Wissen vom Leben zugänglich ist: Dann soll das heißen, dass er die immanenten Werte des Lebendigen von den wissenschaftlichen Werten, mit denen sie kollidieren und doch auf vielfältige Weise verwachsen sind, zu unterscheiden, dass er ihre Differenz hervorzuheben vermag. Der Epistemologe konfiguriert die Wertungen, die den geschichtlichen Verlauf der Biologie bestimmt haben, um. Er schafft neue Verteilungen zwischen den Kräften des Wissens und den Phänomenen, die zu Gegenständen des Wissens gemacht worden sind. Er entwirft überraschend neuartige Genealogien, um die Hegemonie der wissenschaftlichen Diskurse und deren positivistische Verdrehung von Wertepositionen in Faktizitäten zu erschüttern6. Canguilhems Vitalismus bzw. vitaler Rationalismus ist somit angemessen dargestellt, wenn man bemerkt, dass er sich intern aus der Selbstreflexion einer auf die Wissenschaften vom Leben bezogenen Historischen Epistemologie herleitet. Bezieht sich die Wissenschaftsgeschichte schon bei Bachelard „auf eine wertende Tätigkeit: die Suche nach der Wahrheit“ (Canguilhem 979b, 32), so bricht sich diese Tätigkeit der Wissenschaften im vorliegenden Fall noch einmal an „Naturgegenstände[n] erster Ordnung“ (Rheinberger 2007, 03), die selbst schon eine eigentümliche und unabschließbare Aktität des Suchens und Bewertens ausüben. Hieran lässt sich noch einmal Canguilhems Zurückweisung des apriorischen Ansatzes (sowohl Kants als auch Plessners) verdeutlichen: Sowohl die Epistemologie als auch der epistemische Prozess und sogar (im besonderen Fall der Biowis-

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„Und daher beschränkte sich seine [Plessners, T. E.] Erneuerung der Philosophie ‚von Kant bis Hegel‘ im wesentlichen darauf, mit dem biophilosophischen Stufensystem der Grenze oder Bestimmtheit, die zu ihrer Realisation als exzentrisch-positionale Reflexivität zuerst in gediegener Unmittelbarkeit und dann in freier Lebensform aufsteigt, den Grundriss der objektiven und subjektiven Hegelschen Logik von ferne zu reproduzieren.“ Zu den Ambivalenzen und Implikationen von Plessners Hegel-Rezeption siehe auch Collmer 2002, 36–37. Überaus erhellend ist in diesem Kontext die Polemik zwischen Canguilhem und Ricœur: In einem 96 für das französische Fernsehen aufgezeichneten, unter dem Titel Philosophie et vérité bekannten Roundtable erläutert Canguilhem die Rolle der Philosophie im Sinne einer kritisch-kreativen Konfiguration von Wertepositionen. Das Problem der Wahrheit stelle sich allein im wissenschaftlichen, nicht im philosophischen Diskurs, dessen spezifische Aufgabe im Gegenteil darin bestehe, „bestimmte Fachsprachen, bestimmte Codes mit dem [zu] konfrontieren, was im alltäglichen Erleben grundsätzlich und grundlegend naiv bleibt“ (Canguilhem in Foucault 2003, 87). Der Philosophie entspreche „eine andere Art Wert“ (ebd., 90) als der Wahrheitswert wissenschaftlicher Propositionen. Dieses Modell profiliert Canguilhem gegen Ricœurs hermeneutisch-ontologische Auffasung philosophischer Wahrheitsansprüche: Während Ricœur die wissenschaftlichen Wahrheiten in einer abgeleiteten Stellung gegenüber der Dimension der „Übereinstimmung zwischen dem Sein und dem Diskurs über das Sein“ (Ricœur in Foucault 2003, 9) definiert, die das originäre Feld der Philosophie ausmache, zieht Canguilhem die Trennung zwischen Wert-und Wahrheitsdimensionen durch, um die doppelte ideologische Ersetzung des Philosophischen durch Theologie respektive Wissenschaft abzublocken.

Zweiter Akt: Das Wissen vom Leben

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senschaften) dessen Objekte sind gewissermaßen „nach vorne gerichtet, ohne nach vorne sehen zu können“ (Rheinberger). Nicht nur gilt, dass „die wissenschaftliche Wahrheit von heute selbst als ein Irrtum der Vergangenheit enden kann“ (Rheinberger 2006, 3). Man muss auch hinzufügen, dass bereits die lebendigen Phänomene ihre Normen „von heute permanent in Irrtümer von gestern“ verwandeln (ebd.). Um diese durch Irrtümer voran treibende Produktivität zu beschreiben, die dafür sorgt, dass alle Ebenen der epistemologischen Analyse einander wechselseitig entziehen und sich dennoch füreinander öffnen, plädiert Canguilhem für den Vitalismus: Als die einzige Haltung, die jener Position der „reflektierten Anachronizität“ (Rheinberger 200, 202) entspricht, in die sich der Epistemologe der Lebenswissenschaften hinein katapultiert findet. Kehren wir im nächsten Schritt die Perspektive wieder um und fragen: Wie nimmt sich Canguilhems Fassung eines Wissens vom Leben aus, sobald man sie in Plessners Denkrahmen einmontiert? An welche Grenzen stößt Canguilhems Ausführung dieses Schritts, wenn man sie unter den Voraussetzungen, mit Rücksicht auf die philosophischen Verfahren und hinsichtlich der Konsequenzen diskutiert, die Plessner in seiner Philosophischen Anthropologie zur Geltung gebracht hat?

b. Plessner liest Canguilhem: Der hermeneutische Zirkel der biologischen Normativität und das Geschichtsproblem der Historischen Epistemologie Wie also hat Plessner die Formel des lebendigen Wissens des Lebens genau durchgebildet? Seine Philosophie beschreibt eine Kurve, die über drei Punkte verläuft – drei auseinander erwachsende Punkte, die den Zusammenhang des lebendigen Wissens des Lebens ergeben. Natürlich formatiere ich Plessners Argumente, so gelesen, ein Stück weit um. Ich sehe in ihnen einen Einsatz am Werk, der bei Plessner selbst keineswegs den Namen trägt, den ich ihm gebe. Immerhin aber hat diese Konstruktion folgenden Effekt: Sie erlaubt festzustellen, dass Plessner und Canguilhem, formal betrachtet, denselben Gedankenzug artikulieren. Ihre Positionen schreiben sich in dasselbe Schema ein, dessen einzelne Schritte sie jedoch inhaltlich ganz unterschiedlich besetzen und erläutern. Deshalb sind Plessners Philosophische Anthropologie und Canguilhems Historische Epistemologie simultane, aber zueinander versetzte Bewegungen hin zu ein-und derselben Pointe. Obwohl ihre inneren Anliegen unter eine Terminologie gebracht werden können, die auf beide passt, haben wir es mit zwei nicht aufeinander reduzierbaren Notationen zu tun. In Plessners Fall ist nun einschlägig, dass der zweite Term der Formel – das Wissen vom Leben – mit dem dritten Term verwachsen ist. Soll heißen: Bei Plessner schlägt die Frage danach, was unter einem Wissen um lebendige Gegenstände in ihrer Spezifität zu verstehen ist, in die Frage um, wie der Grundaufbau von Lebendigem (Positionalität) „so differenzierbar ist, dass darin auch ein erkennendes Verhältnis zu Gegenständen denkbar wird“ (Grünewald 993, 280; Hervorhebung i.O., Anm. T. E.). Man kann das Wissen, das Zugang zur Einzigartigkeit des Lebendigen hat, nicht explizieren, wenn man nicht im gleichen Zug auf die Lebendigkeit des Subjekts eingeht, dem sich dieses spezifische Wissen eröffnet. Was wiederum heißt, dass dieses Subjekt nicht als Lebendiges tout court, sondern als ein im Modus der exzentrischen Positionalität lebendes Lebewesen zu fassen ist. Einmal mehr sind wir auf Plessners Verfahren zur Erschließung des Lebendigen verwiesen, das darin besteht, die Kapazitäten eines Organismus’, seine, wenn man so will,

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kognitiven Möglichkeiten, aus der Art und Weise heraus zu bestimmen, in der dieser Organismus in sich selbst und in seine Umwelt eingelassen ist6. Zumindest tendenziell lassen sich, so betrachtet, bei Canguilhem zwei Reflexionen differenzieren, die bei Plessner eher ineinander verwoben sind. Das Wissen vom Leben (Leben als genitivus obiectivus) ist bei Plessner unweigerlich und von vornherein lebendiges Wissen des Lebens (Leben als genitivus obiectivus und genitivus subiectivus). Wie aber sind die weiteren Punkte der Diskussion zwischen Plessner und Canguilhem zu verteilen, wenn sich ihre Denkwege nicht sauber aufeinander abbilden lassen, sondern gegeneinander verschoben sind? Die Lösung wird sein, dass ich zunächst (in III.B.b.) Canguilhems Idee eines Wissens vom Leben und dann (in III.C.a.) sein Projekt eines lebendigen Wissens des Lebens betrachte, um Canguilhem so zu lesen, wie Plessner ihn ausgehend von seinen eigenen Prämissen hätte lesen können. Zunächst ist es nötig, mit Plessner auf die Unterscheidung zwischen Bewusstsein und Wissen zurückzukommen. Bewusstsein liegt dort vor, wo „die einheitliche Beziehung zwischen Lebenssubjekt und Umwelt in doppelter Richtung, rezeptiv und motorisch, durch den Leib besteht“ (Plessner 97, 67). Ein Lebewesen, das seinen eigenen Körper als Leib repräsentieren, d.h. als zentral durch es selbst lenkbares Mittel einsetzen kann, ist sich der Präsenz von Objekten und Widerständen in seiner Umwelt „bewusst“ im Sinne der Umweltintentionalität. Ebenso hat ein solches Lebewesen „innerhalb der Form seiner praktischen Umweltbeziehung“ (Lindemann 200, 92) ein Bewusstsein davon, dass es (qua Leib) seine Außensphäre selbst regulieren kann66. Bewusstsein bezeichnet, so verstanden, die praktische Kapazität eines Lebewesens, seinen eigenen Leib zu „merken“. Was immer einem solchen Bewusstsein in seinem Umfeld begegnet, kann ihm stets (nur) als „Korrelat des sensomotorischen Funktionskreises, Ausgangspunkt der Reize und Angriffspunkt der Reaktionen“ (Plessner 97, 270), erscheinen. Bei konsequenter Anwendung dieser Beschreibung muss man nun bemerken, dass einem Wesen, das seinen eigenen Körper als Leib hat, jegliches Wissen von sich verwehrt ist: Ein solches Lebewesen setzt sich zu seinem „Leben aus der Mitte“ (ebd., 289) nicht noch einmal in ein Verhältnis, denn was ihm mangelt, ist der Sinn für „die vollkommene Ablösbarkeit der Dinge vom Kreis der Wahrnehmungen und Handlungen“ (ebd., 27). Diesem intentionalen Kreis vermag es sich nicht zu entziehen. Der für die hier versuchte Argumentation (wie auch für diejenige Plessners) einschneidende Punkt ist, dass einem Lebewesen, das „sich selbst ansichtig werden soll“ 6

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Hier liegen die Dinge also anders als bei Canguilhem, von dem man sagen könnte, dass er zunächst, in La connaissance de la vie (92), eine „connaissance“ darlegt, die dem Leben wirklich gerecht wird, um dann später, vor allem in Le concept et la vie (966), auf die Immanenz dieser connaissance im Lebendigen selbst zu sprechen zu kommen. Dazu exemplarisch Gayon 998, 308; Worms 2009, 38–367; Schmidgen 2008c. Siehe Plessner 97, 22: „Geschlossene Organisation eines lebendigen Körpers bietet positional, wie die Untersuchung ermittelt hat, die Möglichkeit bewussten Seins. Alle Bedingungen sind geschaffen, damit das Lebewesen sich d.h. seinen Leib einer Außensphäre gegenüber merkt. […] Ist (…) das Organisationsprinzip der geschlossenen Form auf die Motorik des Körpers ausgedehnt und der Kreis der sensomotorischen Funktionen, dessen Planeinheit der Körper selbst ist, im Zentralorgan noch einmal geschlossen, merkt das Tier seine Bewegungen im Umfeld, so merkt es sich, seinen Leib, die von ihm selbst eingenommene Zone, – das Umfeld rückt mit eigener Grenze von ihm ab und bekommt Struktur.“

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(Haucke 2000, 3), das Leben gleichsam unter den Füßen wegbricht67. In der Tat ist dem Menschen die „Substanz“ (ebd., 2f.) des Lebens gegeben, sie wird ihm an sich selbst und seinesgleichen wie an anderen Dingen auch durchsichtig68. Wer aber sein Erleben erlebt, dem eröffnet sich buchstäblich am eigenen Leib eine Dimension, die, wie Plessner schreibt, „n i c h t mehr erlebt werden kann, nicht mehr in Gegenstandsstellung tritt“ (Plessner 97, 292). Ein scharfer Wechsel der Perspektive: Auf dem Niveau der exzentrischen Positionalität ist es möglich, „Erscheinungen als Er-scheinungen“ (ebd., 329) anzusprechen. In indirektem Modus fallen in der exzentrischen Positionalität die jeweiligen „Autoren“ der Erscheinungen „hinter“ den Erscheinungen auf69. Der Blick ist jetzt sozusagen offen für die Signaturen, die den Erscheinungen auf die Stirn geschrieben sind. Die Sphäre der exzentrischen Positionalität ist daher genuin eine Sphäre der Anerkennung70. Es geht nicht nur darum, den Abstand anzuerkennen, den eine Person, von einer absoluten Mitte aus, zu ihrem Leib hat. Vielmehr ist auch noch jener Abstand oder Bruch anzuerkennen, aus dem folgt, dass die Person gegenüber ihrem „Leben aus der Mitte“ abgesetzt ist, also „hinter sich selbst, ortlos, im Nichts“ (Plessner 97, 292) liegt. Sich selbst und einem Gegenüber den Status von Personen zuzuschreiben, bedeutet sonach, an beiden Polen der Begegnung ein Potential zu sehen, das sich „in keiner Erscheinung erschöpfen lässt und in dieser Unerschöpflichkeit zur Erscheinung kommt“ (Haucke 2000, 3)7. Die Perspektive einer Person auf sich selbst und die Welt, durch die sie umgeben ist, zeichnet sich durch einen Knick aus, der in der zentrischen Positionalität aus strukturellen Gründen gar nicht passieren kann: Personen kommen zu „sich“ allein über die Erfahrung, „absolut vertretbar und ersetzbar“ (Plessner 97, 33) zu sein. Sie erscheinen 67

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Dazu Ferrada 99, 232: „Verwirklichung einer Grenze bedeutet ja doch, daß neue Möglichkeiten für den Kontakt mit dem nicht zu sich gehörenden Medium hervortreten, ein Kontakt, der nicht physischer Natur, sondern selektiver, umgestaltender Natur ist. Auf jeden Fall gehört diese Grenze dem Lebewesen. (…) Der Mensch ist zu einer anderen Grenze emporgestiegen, einer Grenze, die aufgrund der Natur und ihrer besonderen Entwicklung oder Verwirklichung zur Austreibung der Natur geführt hat.“ Dieser Satz appropriiert eine ähnlich klingende Formulierung bei Haucke 2000, 2, die ihrer Klarheit und Eingängigkeit wegen hier eingeflochten werden soll. Wenn also in der exzentrischen Positionalität durchschaut werden kann, dass Erscheinungen Ausdruck von Verhalten sind, dann werden sie auf die Frage hin durchschaut, wer oder was es ist, das sich in ihnen ausdrückt. Siehe besonders Schürmann 200. Unter dieser Perspektive spricht Lindemann 200, 90 von dem „Umstand (…), dass ein Selbst ein anderes Selbst wahrnimmt und realisiert, dass es sich als ein Selbst gegenüber einem anderen Selbst befindet, wobei beide realisieren, dass das der Fall ist. Diesen Bezug aufeinander bezeichnet Plessner als personales Verhältnis.“ Man muss dieser Passage zur Erläuterung hinzufügen, dass Lindemann – dem terminologischen Anschein zum Trotz – hier nicht an die Dynamik der praktischen Anerkennung freier Subjekte denkt. Das wechselseitige Anerkennen von Personen als Personen bei Plessner differiert von Hegels Theorie der Anerkennung, da der Moment der Anerkennung, die durch den Anderen geleistet wird, nicht als integrales Stadium im Prozess des sich selbst identifizierenden Selbstbewusstseins verstanden wird. Die Alterität des Anderen ist nicht der Durchgang, durch den das (anerkannte) Subjekt zu sich selbst kommt. Vielmehr ist auf beiden Seiten der Relation – insofern es sich um Personen handelt – ein Abgrund im Spiel, der sich nicht internalisieren lässt.

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im öffentlichen Horizont der Mitwelt an einem Platz, der ihnen nicht von vornherein und auf alle Zeit gesichert ist, sondern ihnen ebenso ab- wie zugesprochen, ihnen eingerichtet oder entzogen werden kann. Man versteht jetzt besser, inwiefern in dieser Situation von der „Erscheinung einer neuen Welt von personhaftem Charakter“ (Ferrada 99, 233; Hervorhebung von mir, T. E.) zu sprechen ist: „Mitwelt ist die vom Menschen als Sphäre anderer Menschen erfasste Form der eigenen Position“ (Plessner 97, 302). Die Redeweise von einem Wissen des Lebens um sich schärft wie unter einem Brennglas die Verflechtung der beiden Denkachsen, auf denen die Philosophische Anthropologie nach Plessners Verständnis ihre Untersuchungen anzusiedeln hat72. In gewisser Hinsicht überschreiten sich diese beiden Achsen, die vertikale und die horizontale, aufeinander hin73. Keiner der beiden Zugänge (zur Stellung des Menschen) genügt sich selbst: Expliziert man den Menschen aus seiner Zugehörigkeit zu den Gestalten des Organischen, so wird man finden, dass er im Leben eine Perspektive unterhält, die sich nicht aus dem Leben ableiten lässt. Unversehens steht man inmitten des Problems des Geschichtlichen, des Problems also, dass der Mensch „nur lebt, wenn er ein Leben irgendwie führt“ (Plessner 98b, 99), wobei „dieses Irgendwie stets den Charakter der Nichtnotwendigkeit, Zufälligkeit, Korrigierbarkeit und Einseitigkeit hat“ (ebd.)7. Doch die Entdeckung, dass der Mensch selbst das „Zurechnungssubjekt seiner Welt“ (ebd., 22) ist, wirft in ihrer horizontalen Durchführung aufs Neue die Schwierigkeit auf, dass der Mensch die ihn umspülende „Welt von Möglichkeiten im Konjunktiv“ (Krüger 200, 27) gleichsam auf 72

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Siehe Plessner 97, 32: „Ist die konkrete Situation, in die der Mensch (nicht dieser oder jener, nicht diese Rasse, jenes Volk, sondern der Mensch schlechthin) gestellt ist, zufällig oder wesensnotwendig? Steht der Lebenshorizont, die Umwelt, welche für den Menschen die Welt ist, in einem strukturgesetzlichen Zusammenhang mit ihm? Wie weit reicht diese Wesenskoexistenz und wo beginnt der Zufall? (…) Diese Frage lässt sich in doppelter Richtung aufrollen, horizontal, d.h. in der Richtung, welche durch die von ihm gesuchte Beziehung des Menschen zur Welt in seinen Taten und Leiden festgelegt ist, und vertikal, d.h. in der Richtung, die sich aus seiner naturgewachsenen Stellung in der Welt als Organismus in der Reihe der Organismen ergibt. In diesen beiden Richtungen kann man hoffen, den Menschen als Subjekt-Objekt der Kultur und als Subjekt-Objekt der Natur wirklich zu umfassen, ohne ihn in künstlichen Abstraktionen aufzuteilen.“ Zu diesem Programm siehe Krüger 200, 27f.; Krüger 200, 90; Krüger 2008b, 9; Mitscherlich 2007, 26. Siehe die Darstellung bei Mitscherlich 2007, 22: „Da die Naturphilosophie keine Bestimmung des menschlichen Wesens bzw. der menschlichen Natur erreicht, verweist sie auf den Schritt in die Geschichtsphilosophie und d.h. konkret in die normative Auszeichnung eines bestimmten geschichtlichen Menschentums; sie kann diesen Schritt, ein bestimmtes geschichtliches Menschentum als gutes Leben auszuweisen, jedoch nicht mehr vollziehen. Umgekehrt weist die Geschichtsphilosophie hinter die geschichtlichen Menschentümer auf die Natur des Menschen zurück. Ihr bleibt es jedoch ebenfalls verwehrt, hinter die historisch geltenden Menschentümer zurückzutreten, um solcherart ein bestimmtes geschichtliches Menschentum als gutes Leben zu fundieren. Mit ihrer gemeinsamen Einsicht in die Entzogenheit eines letzten Wahrheitsgrundes legen sie allerdings beide solch einen Lebensentwurf nahe, der dieser Bedingung gerecht wird.“ Wichtig ist, wie Plessner das hier angefangene Zitat aus Macht und menschliche Natur beendet. Siehe ebd.: „(…) – darum ist ja sein Leben geschichtlich und nicht bloß natürlich, eine Kette von Unvorhersehbarkeiten, die hinterher sinnvoll sind.“

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der Stelle „kategorisch einzugrenzen“ (ebd.) hat, nämlich in einer „Rezentrierung der Verhaltensbildung auf den Körperleib zurück“ (Krüger 2006b, 6). Zwar ist die spezifische Macht menschlicher Lebewesen insofern bodenlos, als dass ihr Ursprung nicht in die Beziehungen zwischen dem menschlichen Organismus und seinem Milieu aufgerechnet werden kann: Es bleibt stets radikal offen, was eine Person, ein Volk, eine Gesellschaft oder ein Zeitalter aus sich machen kann und wird; es bleibt offen, wer oder was Aufnahme in den „je historischen Kreis der Mitwelt“ (Gesa Lindemann) finden wird. Aber so sehr sich der Mensch im „kategorischen Konjunktiv“ (Plessner) unbeantwortbarer Möglichkeiten bewegt, so sehr „bleibt ein Erdenrest zu tragen peinlich. Hier, in den Kollisionen mit seiner Leiblichkeit, erfährt er eine Grenze, die allem geistig-geschichtlichen Wandel trotzt“ (Plessner 2003c, 20). In allem, was dem Menschen in seiner geschichtlichen Macht zugeschrieben werden kann, „beginnt (…) das menschliche Leben, welches das Mächtige ist, auf seine Ohnmacht hin durchscheinend zu werden“ (Plessner 98b, 22; Hervorhebung i.O., T. E.)7. Auf zwei methodisch getrennten, sich gegenseitig befragenden Wegen rekonstruiert daher die Philosophische Anthropologie Prozesse der geschichtlichen Selbstdifferenzierung menschlicher Lebewesen: Zum einen (vertikal) die Spezifikation menschlichen Lebens in (Abhebung von) der lebendigen Natur; zum anderen (horizontal) die Ausdifferenzierung verschiedener Gemeinschafts-und Gesellschaftsformationen gegeneinander. In den Fokus rückt immer wieder der eingerichtete, nicht schon durch die lebendige Natur gedeckte Charakter der Verhältnisse, die Personen zu sich selbst und untereinander „jeweils anders und immer neu“ (ebd., 96) bilden. Das von Plessner dargelegte Wissen vom Leben speist sich also aus der „mit dem (…) Leben notwendig erzeugte[n] Brechungsform der Lebensbeziehungen“ (ebd., 3). Man würde eine entscheidende polemische Spitze der Konfrontation zwischen Plessner und Canguilhem abstumpfen, wenn man nicht sähe, dass Plessners Motiv aus Macht und menschliche Natur, demzufolge die Lebensphilosophie „innerhalb ihrer Perspektive (…) außerhalb ihrer Perspektive“ (ebd., 222) steht76, eine besondere Rolle in dieser Begeg7

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Diese beiden hier nacheinander eingeblendeten Zitate – das erste aus Lachen und Weinen (9), das zweite aus Macht und menschliche Natur (93) – erlauben es uns, nebenher einen interessanten terminologischen Wechsel bei Plessner anzusprechen. Während in Lachen und Weinen die Leibgebundenheit des Menschen wieder stärker in den Vordergrund rückt, zeichnet sich Macht und menschliche Natur durch eine gewisse Überspringung des hermeneutischen Ansatzes (bei der Leiblichkeit) aus. Der andere Pol der geschichtlichen Macht des Menschen, sein „Anderes“, auf das er „durchscheint“, besteht in seiner schieren Körperlichkeit, letztlich in seiner Partizipation an der Masse des Anorganischen, das zum Gegenstand der menschlichen Objektivierungen werden kann. Plessners Rede von der „Durchgegebenheit des Menschen in die Ebene eines naturwissenschaftlich berechenbaren Seins“ (Plessner 98b, 227) und in „das Rechnen mit einem voraussagbaren Geschehen“ (ebd.) trägt scharfe anti-hermeneutische Züge: Sie zeigt sich rücksichtslos gegenüber der Idee des Leibes als Sinntotalität, die dem Menschen als Organismus eine Souveränität zusichert. Siehe auch ebd., 226: „Darum hat der Mensch nicht bloß einen Körper, den er wie einen Mantel dereinst ablegen kann, sondern er ist Körper, in demselben Range wie er der mächtige Verantwortliche ist.“ In Volker Schürmanns Worten: „Der Grundsatz der Unergründlichkeit schlägt (…) auch auf die eigene Philosophie durch: Man kann nicht einfach fest-stellen, dass das Mensch-sein wohl unergründlich sei. Plessner hält damit

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nung zu spielen hat. Denn eine bei Macht und menschliche Natur ansetzende Lektüre von Canguilhems vitalem Rationalismus wird auf die Frage stoßen, ob nicht die Figur der biologischen Normativität ihrerseits auf einer kulturellen Projektion beruht. Mit Bezug auf zwei für Canguilhem relevante Gedanken sei dies kurz erläutert. Erstens. Ausdrücklich leitet Canguilhem die Genese sozialer Normen aus einer organischen Normativität her, die als deren anvisierter, aber nie ganz eingeholter Fluchtpunkt erscheint77. Die Differenzierung moderner Gesellschaften in „Organe“ (Institutionen, juristische Personen etc.) verweist, so Canguilhem, auf ein in der gesellschaftlichen Organisation präsentes Bedürfnis, „den Sinn einer Produktion wiederzufinden“ (Canguilhem 97, 7). Der soziale Organismus tendiere ganz wie das lebendige Individuum zur „Integration der Teile ins Ganze“ (ebd., 7), zur Vereinheitlichung seiner arbeitsteiligen Komponenten. Aber diese „Nachahmung der Lebensorganisation“ (ebd., 7) durch die Organisation der Gesellschaft läuft leer, und zwar deshalb, weil, Canguilhem zufolge, die biologische Evolution der Organismen und die kulturelle Evolution der menschlichen Gesellschaften zwei geradezu asymmetrische Genealogien hinter sich haben. Die Evolution der lebendigen Natur weise eher das Muster einer Zentralisierung dezentrierter Phänomene auf, während die moderne Evolution der Gesellschaften (etwa im Übergang von der Monarchie zu Republik) nach dem Schema zunehmender Pluralisierung und Externalisierung verlaufen sei78. Darum lautet Canguilhems These, dass „eine Gesellschaft Maschine und Organismus ineins ist“ (ebd., 7) – und dass eben darin ihr Dilemma wurzelt79: Denn die soziale Sphäre zehrt noch von einer lebendigen Ordnung, während

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konsequent an dem Grundsatz Diltheys fest, dass wir das Leben nicht transzendieren können.“ (Schürmann 20, 22) Für nähere Ausführungen zu Canguilhems Unterscheidung zwischen biologischen und sozialen Normen siehe Muhle 2008, 232–237; Macherey 2009, 2–38. Siehe Canguilhem 97, 76: „Doch der Unterschied zwischen der gesellschaftlichen Maschine zur Informationsaufnahme und –verarbeitung einerseits und dem lebenden Organismus besteht nach wie vor darin, dass sich beider Vervollkommnung im Laufe der Menschheitsgeschichte und der Entwicklung des Lebens auf entgegengesetzte Weise vollzogen hat. Die biologische Entwicklung der Organismen verlief über eine entschiedenere Integration jener Organe und Funktionen, die die Beziehung zur Umwelt sicherstellen; mit anderen Worten: über eine autonomere Einverleibung der Existenzbedingungen der den Organismus konstituierenden Elemente und die Ausbildung dessen, was Bernard das innere Milieu nannte. Demgegenüber ist die historische Entwicklung der menschlichen Gesellschaften dadurch gekennzeichnet, dass die im Verhältnis zur Gattung begrenzteren Kollektive ihre Hilfsmittel vermehrt und sie in der Äußerlichkeit des Raums, ihre Institutionen aber in der Äußerlichkeit des Verwaltens gleichsam ausgebreitet haben und so ihre Werkzeuge durch Maschinen, ihre Reserven durch Vorräte, ihre Traditionen durch Archive ergänzten. (…) Die Gesellschaft hat also stets ein unlösbares Problem zu lösen: sie muß parallele Lösungen zur Konvergenz bringen.“ Die historische Rede von einem sozialen Organismus wird von Canguilhem im Übrigen präzise auf Auguste Comte zurückgeführt. In seinem Cours de philosophie positive (6 Bände bis 82) reflektiere Comte die gesellschaftlichen Operationen noch als „die willentliche und künstliche Fortsetzung ‚jener natürlichen und unwillentlichen Ordnung, zu der die verschiedenen menschlichen Gesellschaften zwangsläufig fortwährend in irgendeiner Beziehung hinstreben‘“ (ebd., 73). In seinem Spätwerk Statique sociale von 82 dagegen propagiere Comte die Inkommensurabilität von sozialem und biologischem Organismus. Letztlich funktionierten Prozesse der Selbstregulation und der funktionalen Selbstdifferenzierung weitaus besser im Kollektivorganismus der Gesellschaft als auf

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sie zugleich eine Maschine darstellt, in der sich die lebendige Dynamik verheizt. Der Gesellschaftsorganismus ist das kümmerliche, mit sich selbst zerstrittene Abbild einer organischen Totalität, ein „Ort gebändigter Konflikte oder latenter Antagonismen“ (ebd., 77). Anders als im lebendigen Individuum ist „ein gesellschaftliches Bedürfnis keineswegs immanent, eine gesellschaftliche Norm nicht inhärent“ (ebd., 77). Zweitens. Es ist aufschlussreich, dass Canguilhem in seinen frühen Artikeln für die Libres propos80 – in engagierten Texten, die sich als „souvent politiques, mais aussi philosophiques, littéraires ou pédagogiques, toujours toniques et parfois polémiques“ (Lecourt 2008, 2) kennzeichnen lassen – gegen eine bestimmte folgenreiche Doktrin der zeitgenössischen Psychologie angeschrieben hat, die sich als „doctrine d’obéissance et de soumission au milieu“ (Braunstein 2007, 6) darstellt. So stimmt Canguilhem etwa in einer 929 in den Libres propos veröffentlichten Besprechung von Georges Politzers Streitschrift La fin d’une parade philosophique, le bergsonisme enthusiastisch in Politzers Abrechnung mit Bergson, genauer: mit Bergsons affirmativer Rezeption der positivistischen Psychologie, ein8. Bergson setze, so Canguilhem mit Politzer, die von der modernen Psychologie betriebene Hypostasierung von psychischen Phänomenen zu Fakten („faits“), gar zu Dingen („choses“), unkritisch fort. Er begreife nicht, dass es sich bei der Psychologie in ihrer Gestalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts um eine perfide „école de soumission“ (Branstein 2007, 66) handele. Von diesem Punkt aus kann man behaupten, dass in Canguilhems gesamte Konzeption des Lebendigen die große Lektion von Alain, dem philosophischen Kopf hinter den Libres propos, eingewandert ist: Man muss mit aller Schärfe die Vorstellung von einer gegebenen, nicht weiter veränderlichen Wirklichkeit abweisen (siehe Braunstein 2000, 2). Der Diktatur der Fakten, die sich in der Psychologie zu einer Praxis der Abrichtung von Subjekten steigert, muss durch eine Emphase der Freiheit, die das Wirkliche stets vor einem Hintergrund unrealisierter Möglichkeiten sieht, widersprochen werden. Wenn Canguilhem das Lebendige primär durch eine ursprüngliche Kraft zur Veränderung des Milieus charakterisiert, wenn sich der Organismus in einer unendlichen Opposition (zu sich selbst und zu seinem Milieu) bewegt, so springen diese Thesen gewissermaßen in die politischen Interventionen ein, die Canguilhem im Geiste Alains seit den späten 920er Jahren proklamiert hatte. Das Portrait des Lebendigen als ein mit nichts und niemandem konformes, sich ständig überschreitendes Phänomen vervollständigt ab 93 (Das Normale und das Pathologische)

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der Ebene der lebendigen Individuen. Damit unterbricht Comte die evolutionären Linien, welche die gesellschaftliche Organisation noch mit der lebendigen Natur verbinden: Dies ist für Canguilhem das Ausgangsereignis der positivistischen Anthropologie, aus der das Problem der Lebendigkeit der menschlichen Phänomene auf absurde Weise ausgeklammert worden sei. Die Libres propos wurden 92 von Michel Alexandre, einem Schüler des in Paris Kultstatus genießenden Philosophielehrers Emile-Auguste Chartier (868–9), besser bekannt unter seinem Pseudonym „Alain“, gegründet. Alain übernahm ab 927 selbst die Herausgeberschaft. Bei den Libres propos handelte es sich um eine Revue, die nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs für eine radikal pazifistische, anti-militaristische Politik in der Dritten Republik eintrat. Ab 93 war dann Canguilhem hauptverantwortlicher Herausgeber. Zum eminenten Einfluss der Libres propos und der Philosophie Alains auf Canguilhem siehe Braunstein 2000 und Lecourt 2008, vor allem 9–28; speziell zu Alain siehe Leterre 2006. Um die Aufarbeitung von Canguilhems Frühwerk macht sich in Form von Übersetzungen ins Italienische vor allem Michele Cammelli verdient. Zu diesen Zusammenhängen siehe Braunstein 2007, 6ff.

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positiv, was Canguilhem in den Libres propos ex negativo, in einer Anprangerung totalitärer Züge der Gesellschaft und in Form einer „véritable philosophie de la révolte“ (Braunstein 2000, 3), inkriminiert hatte. In dieser Projektion eines bestimmten Fundamentalismus’ der Freiheit – als „effort pour fuir le milieu“82 – auf den Begriff des Lebendigen steckt nun allerdings, von Macht und menschliche Natur her gelesen, ein fataler Zirkel. Canguilhems „anthropologie philosophique de la vie ordinaire“ (Le Blanc 2002, 287) kokettiert mit einem politischen Sprachspiel: Gegen den überhöhten Rationalismus und Szientismus der Moderne, gegen die anonyme Macht zur Produktion normalisierter Subjekte mobilisiert Canguilhem so etwas wie den Primat der unmittelbaren, spontanen, „problemlos gelebte[n]“ (Muhle 2008, 232; Hervorhebung i.O., T. E.] Kräfte des Organischen83. In grundlegender Hinsicht ist Canguilhems vitaler Rationalismus eine Parole, eine „politique du vivant“ (Braunstein 2008). Diese Opposition im Namen des Lebendigen mag noch angehen, wenn man sie als Manifest gegen die instrumentelle Vernunft in ihren diversen Metamorphosen seit Bacon und Descartes über Comte bis hin zu den modernen Erfahrungswissenschaften formuliert. Aber die freimütige „politique du vivant“ wird dann gefährlich, wenn sie sich zu einer These darüber aufschwingt, wie Leben immer schon verstanden werden müsse8. Wenn es Plessner in Macht und menschliche Natur darum geht, die Gewordenheit und den Perspektivismus aller hermeneutischen Selbstauslegungen von Personen zu denken, so kehrt er in dieser Schrift auch die tragische Struktur dieser Selbstbilder hervor: Die geschichtlich eingerichteten Anthropologien entzeitlichen und verunendlichen sich gewissermaßen selbst, indem sie für sich beanspruchen, eine (bzw. die) Wesensbestimmung des Menschen im Ganzen zu artikulieren. Die lebendige Natur wird von einer endlichen/sich verunendlichenden Anthropologie als ein „Zeuge“ (Plessner 98b, 27) vorgeführt, der überhaupt „nur in dem von ihr [der „Blickstellung“ der Lebensphilosophie bzw. Anthropologie, T. E.] selbst angestrengten Prozess als Zeuge vernommen werden kann“ (ebd.). Genau diesem rousseauistischen Zirkel, der sich eine erste Natur nach den Zügen einer jeweils favorisierten Zweitnatur zurechtlegt, hängt auch Canguilhem im Geiste Alains an. Jene subversive Subjektivität, wonach wir den Zugriffen der Gesellschaft, zugleich aber unserem eigenen Zugriff unendlich entzogen sind, jene unaufhörliche Erneuerung des Subjekts, die Canguilhem in seinen frühen Polemiken noch mit einem bestimmten Typ von Humanismus (Alain) gleichsetzt, wird zu einem lebendigen Prinzip hypostasiert, das eben nicht mehr dem öffentlichen Streit freigegeben, sondern bloß noch bejaht (Vitalismus) oder negiert (Mechanismus) werden kann.

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Canguilhem 93, 87 [etwa: Versuch, sich dem Milieu zu entziehen] Siehe LeBlanc 2002, 287: „La réforme de l’anthropologie a pour condition une philosophie biologique qui fait apparaître la vie comme puissance de singularisation et production de normes.“ …und zwar wiederum durch Lebendiges verstanden werden müsse. Auf diese Wende hin zur Lebendigkeit eines Subjekts, das um seinen lebendigen Status (und den anderer Entitäten) weiß, werde ich im nächsten Schritt der Konfrontation genauer eingehen.

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Nun könnte zwar auch Plessner der Formel einer subversiven Subjektivität zustimmen, sofern damit gemeint ist, dass der Mensch immer schon in die „action“8 gestellt, dass er nie bei sich selbst ist, und zwar deshalb, weil es gar kein gleich bleibendes „Selbst“ gibt, welches das Subjekt zusammenhalten würde86. Aber die Konsequenzen, die Plessner aus dieser Einsicht in „die Pflicht zur Macht“ (Plessner 98a, 3–33) angesichts der Dezentrierung des Subjekts zieht, sind den Folgerungen Canguilhems ganz entgegengesetzt87. Aus der bodenlosen Ohnmacht des Lebendigen, das als Effekt eines ihn unendlich transzendierenden Irrtums erscheint, springt bei Canguilhem die eigentliche 8

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An diesem Punkt ist es sinnvoll, auf die sehr nuancierte Semantik der „Aktion“ hinzuweisen, die sich bei Canguilhem in der Nachfolge von Alain oder auch Paul Valéry findet. Canguilhem zitiert das Motiv Valérys: „L’homme est incessament et nécessairement opposé à ce qui est par le souci de ce qui n’est pas“ (Canguilhem 930, ). Dabei geht es, analog zu der Lektion Alains, um ein Ethos der freien Tat, die sich über jeden Zustand von faits accomplis hinweg setzen kann. Die Moralität einer Handlung bemisst sich nach der ihr immanenten Kraft, den status quo des Wirklichen umzuändern. Nicht zufällig schwingt hier eine Anspielung auf das Vokabular der Psychoanalyse mit. In einem 200 in Paris gehaltenen Vortrag hat Michele Cammelli (Cammelli 200) Passagen aus einem unveröffentlichten Manuskript Canguilhems diskutiert. Dieses Manuskript, das keinen systematischen Titel, sondern das lose Etikett Philosophie et éléments de la doctrine trägt, gliedert sich in 8 Kapitel, darunter eines (Kapitel 7) unter der Überschrift La personnalité. Bemerkenswerterweise illustriert Canguilhem hier offenbar die Struktur von Subjektivität anhand einer Situation des Subjekts „devant le miroir“. Die Grundthese lautet, Cammelli zufolge, dass man das Spiegelbild nicht als Refraktion des Subjekts interpretieren könne; vielmehr sei das Subjekt durch so etwas wie eine Effraktion, einen internen Bruch, gespalten. Deshalb kann das Subjekt niemals „sich“ im Spiegel sehen: Das Subjekt, das sich auf das Spiegelbild bezieht, ist schon nicht mehr mit dem Subjekt identisch, das sich gespiegelt hat. Es geht also im Spiegelstadium und im Moment des Sehens um einen Akt der Alteration, nicht der Identifikation: Woran man sehr gut die für Canguilhem wesentliche Figur einer sich prozessual verschiebenden Subjektivität nachvollziehen kann. Da Canguilhem besagten Text aller Wahrscheinlichkeit nach 932 abgeschlossen hat, ist es denkbar, dass es einen von Henri Wallons 93 publiziertem Essay L’enfant face au miroir ausgehenden Einfluss gegeben hat. Wallon seinerseits wird dann systematisch von Lacan in Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Beziehung erscheint (99) verarbeitet. Canguilhems Manuskript lässt sich – was ich nicht getan habe – einsehen im unveröffentlichten Nachlass im Centre d’Archives de Philosophie, d’Histoire et d’Édition des Sciences (CAPHES) in der Rue d’Ulm, Paris. Machen wir noch einmal die zentrale Wendung in Canguilhems Argumentation klar. Wenn das Leben im Ganzen ein unvordenklicher Prozess und ein Werden ist, das immer neue Formationen generiert, dann wohnen ihm Kräfte inne, die alle lebendigen Manifestationen, darunter auch den Menschen, übersteigen. In einer Perspektive gesehen, die stets zu spät kommt und nur von heute aus, also rekurrent, sprechen kann, erscheint „Leben“ als ein Verlauf in Irrtümern, die gleichwohl stets produktiv ausfallen: Auch die „misslungenen“ Exemplare des Lebens, die pathologischen und mutierten Formen, sind Zeugnis des in seinen Ausgängen radikal offenen Werdens. Für Canguilhem liegt die Pointe nun darin, aus der offenen Zukunft des Lebens im Ganzen eine Kraft herzuleiten, die ihrerseits den lebendigen Manifestationen immanent ist. So unvorhersehbar die Geschichte des Lebens in seiner Totalität auch ist: Fest steht, dass jede lebendige Entität (von der Zelle über den Organismus zum Menschen bis hin zu dessen Gesellschaften) durch die Tendenz definiert ist, neue Normen, und zwar ihre je eigenen, hervorzubringen. Gegenüber dem Leben, das produktiv in die Irre gehen und dabei seine eigenen Gebilde auch auslöschen kann, sind die lebendigen Individuen ohnmächtig; aber gerade insoweit sich das Leben in ihnen vollzieht bzw. durch sie hindurchgeht, erweisen sie sich als Träger einer schöpferischen Normativität, die ihnen die aktive Formung des Milieus erlaubt.

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Macht des Lebendigen, seine Normativität, heraus: Man kann hier, wenn man will, an Nietzsches Lektion aus dem Zarathustra denken88, die davon spricht, „wie man gewinnt, wenn man verliert“ (Safranski 200, 22). Gerade die Nähe zu Nietzsche, dessen Bedeutung für Canguilhems ganzen Ansatz enorm ist (dazu Schmidgen 2008c), verdeutlicht die strukturell völlig andersartige Wahrnehmung bei Plessner, wie sie sich aus Macht und menschliche Natur ergibt: Plessner kommt es nicht auf den Schritt an, der von der radikal offenen Natur des Menschen auf dessen Macht schließt, dasjenige, was immer nur relativ sein kann – den je eigenen Weltzugang, das je eigene Wertesystem –, desto mehr zu verabsolutieren. Er entwickelt in Macht und menschliche Natur vielmehr einen weiteren Schritt von der „Entdeckung menschlicher Selbstmacht“ (Plessner 98b, 6) zum „Prinzip der Unergründlichkeit des Menschen“ (ebd., 60). Es handelt sich um eine veritable Selbstaushebelung: Gerade weil sich der Mensch als „ursprunggebende […] Macht zur Objektivität“ (ebd., 63) erfasst, weil er die Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem (immer neu) selber festlegt, kann er durchschauen, dass sein eigener hermeneutischer Zirkel um nichts privilegierter ist als die Hermeneutiken anderer Kulturen und Zeiten89. Der Mensch hat nicht nur die Macht, seine mit dem „Tod Gottes“ (Nietzsche) freigesetzte Endlichkeit in die Schwindel erregenden Absolutheitsansprüche der eigenen Position umzuformulieren. Plessner unterstreicht vielmehr die von Dilthey eingeschlagene historische Betrachtungsweise, aus der man lernen könne, diese Selbstermächtigung zu unterlassen, was „die Relativierung der eigenen Position gegen die anderen Positionen“ (ebd., 9) ermögliche. Die Größe der europäischen Kultur, wie sie sich aus der Säkularisierung des Christentums heraus entwickelt hat, liegt, so Plessner, eigentlich darin, ihr eigenes Menschen-und Weltbild eben nicht zu universalieren, sondern offen halten zu können, was der Mensch im Ganzen und seinem Wesen nach sei. Erst durch diese Enthaltung „gibt sich der europäische Geist (…) den Horizont auf die 88

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Aber auch, in polemischer Orientierung, an die von Foucault im Anschluss an Hegel aufgezeigte schlechte Unendlichkeit, die in einer paradoxen Operation des modernen Menschen zur Überwindung seiner Endlichkeit besteht. Genau in dem Maße, in dem der Mensch auf einen Ursprung ausgreift, der „von Anfang an ihn nach etwas anderem gliedert als ihm selbst“ (Foucault 99, 399), bestätigt und verschärft er jene spezifisch moderne Erfahrung der Endlichkeit und Temporalität, in der er sich selbst gegeben ist. Insofern ist der Mensch „in einer Kraft gefangen (…), die ihn verstreut, ihn fern von seinem eigenen Ursprung hält, aber ihm seinen Ursprung in einem unmittelbaren Bevorstehen verheißt, das vielleicht für immer ihm entzogen bleibt. Nun ist ihm diese Kraft nicht fremd. (…) Diese Kraft ist die seines Seins selbst.“ (ebd.) Im Rahmen von Foucaults Analyse wäre Canguilhems (aber auch Plessners) Projekt emblematisch für die von Hegel und Marx zu Nietzsche und Heidegger (und weiter) laufende Tradition einer paradoxen, sich selber dementierenden Transzendenz der endlichen Vernunft. Siehe Plessner 98b, 22: „Durch die von den großen Historikern, vor allem Ranke, geschaffene, von Dilthey zum Prinzip der Philosophie gemachte Weltstellung des erfahrenden Wissens ist der Mensch, d.h. auch wir, in den uns als Spielraum unseres lebendigen Verhaltens natürlichen offenen Horizonten einer wohltätigen Dunkelheit im Woher und Wohin zum Prinzip und Ansatzsubjekt in dieser Philosophie geworden. Wir wissen uns damit der Philosophie in ihrer gesmaten Geschichte mit Einschluss der dieses „Wir wissen“ ermöglichenden Philosophie des Lebens mächtig und für sie verantwortlich. Und wir wissen damit zugleich – so stehen wir außerhalb ihrer Perspektive –, daß nur eine geschichtlich einmal nötig gewordene, also wohl auch wieder vergehende Philosophie (des Lebens) (uns) dazu ermächtigt hat.“ [Hervorhebung i.O., T. E.]

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ursprüngliche Mannigfaltigkeit der geschichtlich gewordenen Kulturen und ihrer Weltaspekte ganz frei. (…) Europa siegt, indem es entbindet“ (ebd., 6). Bedenkt man das von Plessner bezeichnete „Umbrechen des Blickes“ (ebd., 83), in dem sich „das Leben“ (ebd.) zu sich selbst wendet, „um sich als vergangenes und gewordenes zu entdecken“ (ebd.), dann erscheint Canguilhems Vitalismus als eine Form der Reflexion, die noch – in den Tributen, die sie etwa Nietzsche oder Bergson zollt – „die alten Maßstäbe“ (ebd., 6) anlegt. Freilich fordert Canguilhem „eine Kritik des methodischen Anthropozentrismus“ (Muhle 2008, 8). Doch seine Einschreibung des Menschen in die Immanenz von Leben variiert lediglich die in der modernen Philosophie typische Auflösung der natürlichen Ohnmacht des Menschen in seine Setzungsmacht, die sich nun selbst durchsichtig wird. Die Werte des Spontanen, Anarchischen, Devianten, Unvermittelten, Schöpferischen werden zur Komposition des Lebendigen schlechthin erklärt: Das Leben gerinnt zur Projektionsfläche für „die Utopie der verlorenen Wildform“ (Plessner 2003b, 93). Was bei Canguilhem fehlt, ist die (exzentrische) Selbstzurücknahme hinter die eigene Kultur, die der gut eingespielten Hermeneutik, in der man bei jeder Aufteilung des Wirklichen in das, was lebt, was Tier, was Mensch, was eigene, was fremde Kultur etc. ist, immer schon steckt, den Boden unter den Füßen wegzieht. Diese Kritik beleuchtet noch eine andere Seite, die wesentlich zu Canguilhems Vorstellung eines Wissens vom Leben gehört. Mit Plessner könnte man nämlich fragen, welches Verständnis von Geschichtlichkeit in der Historischen Epistemologie bei Canguilhem (und anderen) eigentlich im Spiel ist. Ergeben sich schon bei Bachelard, Canguilhem und Foucault untereinander unstimmige Bilder des Problems, wie die Geschichtlichkeit des Wissens – bzw., fundamentaler, die Struktur des Geschichtlichen überhaupt – zu fassen sei, so kann man in der aktuellen Literatur zur Historischen Epistemologie eine entsprechend intensive Diskussion um die Historizität der eigenen Disziplin bemerken90. Bachelards Ausgangspunkt war die eigentümliche Zeitlichkeit wissenschaftlichen Wissens, das im Nachhinein einen durchaus anderen Platz einnehmen kann als den, den es ursprünglich für sich reklamiert hatte. Vermeintlich unproduktives Wissen kann zu einem späteren Zeitpunkt als fruchtbar aufgefasst werden (Mendel), und was gegenwärtig als „Wahrheit“ gilt, kann sich dereinst als Irrweg herausstellen (Lamarck). An dieser These nimmt Canguilhem, wie schon erläutert, insofern eine Verschiebung9 vor, als dass er die Eigenzeit der Wissenschaft, die bei Bachelard durch den epistemologischen Bruch allererst erzeugt wird, mit der vorwissenschaftlichen, spontan gelebten Zeitordnung vermittelt. Die von Bachelard betonte Evolutionsdynamik der Wissenschaften wird in die fundamentalere Evolution von Lebendigem eingerückt: Im Rückblick präsentiert sich die Geschichte einer Wissenschaft als ein Prozess, in dem es zu Phänomenen des Absterbens und der Emergenz von radikal Neuem, zu Mutationen, Varianten, Migrationen usw. kommt. Die entscheidende Inspiration für diese Modifikation der Bachelardschen Sichtweise bei Canguilhem geht zweifellos auf Bergson zurück. 90

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Siehe exemplarisch die Beiträge bei Feest & Sturm 2009, darunter vor allem Arabatzis 2009, Stroud 2009, Kitcher 2009. Siehe zur französischen histoire des sciènces im engeren Sinne Rheinberger 2007, vor allem f.; siehe auch Braunstein 2002, LeBlanc 2009. Zu dieser Verschiebung siehe neben den in Kapitel II.B.1. dieser Arbeit schon genannten Quellen Ancet 2008; siehe auch Chimisso 2008, 8ff.

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Indem man aber für Canguilhem diese Genealogie knüpft, die ihn mit Bachelard und Bergson verkreuzt, wird klar, dass er, wie die anderen beiden Autoren auch, mit einem simplistischen Begriff des Geschichtlichen arbeitet. Auf der einen Seite behauptet Canguilhem nämlich, dass die Festlegung darauf, welche Phänomene als „lebendig“ gelten können und welche nicht, stets durch eine historische Pluralität konkreter Rationalitäten ausgefochten wird. Geschichtlich hat man es immer mit agonalen Konstellationen zu tun, in denen verschiedene Auffassungen über das Wesen des Gegenstands konkurrieren. Wohlgemerkt sind diese Konstellationen insofern Resultate eines unendlichen Werdens, als dass stets neue Begrifflichkeiten entstehen, die sich aneinander abarbeiten92. Deswegen befindet sich der Epistemologe hier und jetzt in einer Situation der Rekurrenz: Er spricht aus dem Blickwinkel einer ursprünglichen Verspätung, aber auch in dem Bewusstsein einer völlig unbestimmten und prekären Zukunft, die über seine eigenen Rekonstruktionen und Prioritätssetzungen so hinweggehen kann, als hätte es sie nie gegeben93. Auf der anderen Seite tritt aber der Epistemologe gerade nicht im Geist einer Geschichte auf, in der alles schlicht eine Frage von Kräften ist, da ja der Prozess der Geschichte ohnehin der Produktivität von Irrtümern überlassen wird. Ganz im Gegenteil zeichnet sich Canguilhems epistemologisches Projekt als „œuvre essentiellement polémique“ (Macherey 2009b, 3; Hervorhebung i.O., T. E.) dadurch aus, die von den Wissenschaftlern selbst geflochtenen Mythen zu entlarven, um aus einer verlogenen Form von Wissenschaftsgeschichte die „histoire réelle qui gouverne et constitue la science“ (ebd., ) freizusetzen9. Der Epistemologe schreibt und agiert also paradoxerweise im Namen eines verschütteten Sinns, einer Diskontinuität, die in den Einheitsmythen einer hegemonialen Wissenschaft und ihrer Geschichtsschreibung erstickt ist: Daher die von Canguilhem angemahnten strikten Differenzierungen zwischen Phänomen und Begriff bzw. Begriff und Theorie. Auf merkwürdige Weise fällt damit die Struktur des Geschichtlichen bei Canguilhem in einen Dualismus von Transzendenz und Immanenz auseinander. Einerseits denkt Canguilhem den Prozess der Geschichte – in einer Tradition, die ihn etwa mit Nietzsche und Deleuze eint – als eine ursprüngliche Produktivität, die den in ihr stehenden Subjekten nur als Serie von Irrtümern erscheinen kann. Andererseits ist die Position des Episte92

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Es gibt also nicht den einen Dualismus, der sich in zahlreichen Metamorphosen durch die Jahrhunderte reproduzieren würde. Vielmehr entstehen unablässig neue Frontstellungen, neue Ansichten auf das Leben, und zwar in Abhängigkeit von neuen Ereignissen auf der Ebene der Phänomene selbst. Darin entspricht die Position des Epistemologen dem Schicksal des Wissenschaftlers selbst, der zwar die Zukunft des Wissens verändert, ohne aber dabei in die Zukunft sehen zu können. Man denke exemplarisch an Canguilhems Ansatz in Die Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert: Der Epistemologe demaskiert hier die gewaltsame und zugleich subtile Verlagerung eines Begriffs in eine (mechanistische) Theorie, die ganz und gar nicht mit dem Entstehungsort dieses Begriffs zusammenfällt. Wenn es uns heute unmittelbar plausibel erscheint, den Ursprung des Reflexbegriffs in der cartesianischen Physiologie festzumachen, dann beruht dieses Bild – wie Canguilhem zeigt – auf der schlechten Legende eines kontinuierlich gewachsenen Wissens, dessen Wahrheitsanspruch nie ernsthaft in Frage gestellt wurde und werden konnte. Dazu Schmidgen 2008c, 39: „Dennoch geht es ihm [Canguilhem, T. E.] um die Affekte und Werte, die der Reflexbegriff in sich schließt, eben jene aktiven und reaktiven Kräfte, die sich mit Hilfe dieses Wortes [„Reflex“, T. E.] einer bestimmten Sache bemächtigt haben und noch immer bemächtigen.“

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mologen, wenn er daran geht, die Vergangenheit einer Wissenschaft zu rekonstruieren, keineswegs offen: In gewisser Weise spielt der Epistemologe das, was er für die immanenten Werte der Gegenstände einer Wissenschaft hält, gegen das aus, was er als die Werte betrachtet, denen die Wissenschaft selber zu einem bestimmten Zeitpunkt folgt. So ergibt sich ein zweiter Begriff von Geschichte, der den ersten durchkreuzt: Von der Geschichte einer Wissenschaft kann streng genommen einzig und allein dann die Rede sein, wenn man unter diesem Titel alles sichtbar macht, was die Genese dieser Wissenschaft an Diskontinuitäten, an Agonie, an Bemächtigungen und Entmachtungen und an Willkür in sich trägt9. Dieser Aufweis verdankt sich jedoch jener beabsichtigten Verdrehung oder besser: Verzeichnung („distorsion“)96, die uns die Historische Epistemologie von der Vergangenheit einer Wissenschaft gibt. Die zukünftige Geschichte mag ein produktives Spiel sein, das sich uns entzieht. Um aber die Vergangenheit einer Wissenschaft, anders als diese selbst es tut, wirklich als Geschichte begreifen zu können, hängt alles davon ab, ob wir hier und heute eine ganz bestimmte Lektüre wählen oder nicht, ob wir einen ganz präzisen Kunstgriff anwenden oder nicht97. In diesem Sinne ist der Vitalismus für den Epistemologen der Lebenswissenschaften nicht einfach eine mögliche Hermeneutik unter vielen. Er ist vielmehr die Hermeneutik, in die sich der Epistemologe stellen muss98, wenn er überhaupt Zugang zur Geschichte, d.h. zu den unterdrückten Brüchen und Konflikten finden will, die diesen Wissenschaften eingeschrieben sind. Verdeutlicht sei der Kontrast, der zwischen Canguilhems Auffassung zur Struktur von Geschichte und Plessners Reflexion entspringt, durch ein Zitat aus Macht und menschliche Natur. Dort entwickelt Plessner eine Interpretation der drei Zeitrichtungen, die von 9 96 97

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Siehe Schmidgen 2008c, 39. Siehe Macherey 2009b, 37. Diese Lektüre oder Strategie verpflichtet uns eben darauf, eine Geschichtsschreibung, die auf Kontinuitäten setzt, in ein Spiel der Diskontinuitäten umzuformulieren: Was in seiner Vergangenheit ungebrochen scheint, soll auf seine inneren Brüche hin befragt werden. Dieses Projekt muss man übrigens nicht zwingend mit Marx bzw. Althusser als Ersetzung einer „démarche idéaliste typique“ (Macherey 2009b, ) durch eine „démarche proprement dialectique et matérialiste“ (ebd., 6) lesen. Die Affinität zu Nietzsches Konzeption einer Genealogie der Moral ist in diesem Punkt ungleich stärker als die Stimme einer marxistische Kritik bei Canguilhem: Weil es keine absolute Wahrheit gibt, weil alles Irrtum ist, muss die Aufgabe lauten, die Umstände aufzuspüren, unter denen „Wahrheiten“ (d.h. Interpretationen) erfunden worden sind. Dabei ist aber der Genealoge – bzw. Epistemologe – selbst nicht von der Immanenz der Irrtümer ausgenommen: Auch seine eigenen Rekonstruktionen sind Konstruktionen, engagierte Eingriffe in den Wettbewerb um die Deutung (und damit Herstellung) von Vergangenheit. Allerdings darf man nicht vergessen, dass Canguilhem in Das Normale und das Pathologische und in La connaissance de la vie noch einen eher „philosophischen“ Vitalismus geltend macht. Er begründet eine rationale Haltung, die auf dem Einbekennen der Originalität des Lebendigen beruht. Demgegenüber markiert Die Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert die Wende zu einer Historisierung des Vitalismus. Anders als in Canguilhems früheren Texten scheint seine Pose im „Reflexbuch“ in der These zu bestehen, dass man sich der Wissenschaftsgeschichte nicht von vornherein mit einem „vitalistischen Schlüssel zu den Problemen“ (Canguilhem 2008, ) nähern müsse, „die das Leben der Intelligenz aufgibt“ (ebd.). Vielmehr werde allein die historische Konzentration auf „die Bildung von Begriffen“ (ebd.) den Schluss nahelegen, dass „das Leben die Logik aus der Fassung bringt“ (ebd.).

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lebenden Personen verschränkt werden müssen, ohne in die Extreme von Transzendenz und Immanenz auseinanderzubrechen: „Die Vergangenheit, die uns in allem als verborgene oder bewusste Herkunft durchdringt und in dem Rahmen der Tradition umfangen hält, öffnet sich in das noch zu lebende Leben der Gegenwart hinein. Und die Gegenwart, die uns in einem anderen Sinne aus dem Woraufhin unserer Lebensführung umfangen hält, öffnet sich in das hinein, was wir faktisch schon sind, weil wir durch unsere Vergangenheit so geworden sind.“ (Plessner 98b, 87)

Die Zeitmodi von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft „öffnen“ sich ineinander, aber so, dass die Person hier und jetzt die Verschränkung dieser Dimensionen erst noch zu vollziehen hat99. Obwohl Plessners komplizierte Terminologie seine Argumentation mitunter unklar werden lässt200, scheint es ihm auf Folgendes anzukommen: Vergangenheit und Zukunft sind keine in sich geschlossenen, versteinerten Zeiten, die vorgegeben bzw. radikal unvorgreiflich sind. Es bedarf immer schon einer Person oder einer Generation, die sich ihre Vergangenheit und ihre Zukunft zurechnet. Vergangenheit bildet sich stets nur in der Perspektive von „jemandem“, der sich zu bestimmten Ereignissen, Umständen etc. positioniert. Analog dazu entsteht Zukunft erst durch die Taten und projektiven Entwürfe, die ein „jemand“ sich zuschreibt. Doch aus Plessners Sicht ist entscheidend, dass Geschichte zugleich – sowohl retrospektiv als auch prospektiv – eine Dynamik ist, die sich unter den Händen derer, die sie gestalten, verändert und ein Eigenleben annimmt. Rekonstruieren wir die Vergangenheit einer Kultur20, dann wird eine Spannung auffällig zwischen dem, was diese Kultur zu einem spezifischen Zeitpunkt für durch sie selbst bestimmbar hielt, und dem, was sie als unergründlich erachtete202. Entsprechendes gilt für den Bezug (einer Person, einer Generation, einer Kultur) auf die Zukunft: Obwohl der Mensch gar nicht anders leben kann, als sich – prospektiv – in die Zukunft hinein zu entwerfen, also Geschichte zu gestalten, kann die Zukunft niemals die schlichte Erfüllung dieses Entwurfs sein. Vielmehr zieht jeder Moment der Selbstbestimmung eine „Wendung“ (ebd., 222) nach sich, durch die „Dasjenige oder Derjenige, der die Wendung hervorgebracht hat (…), selbst fraglich“ (ebd.) wird203. 99

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Als weitere Schlüsselpassage hierzu siehe Plessner 98b, 96: „Diese Verschränkung der Perspektiven (…) wird auch von der eigentümlichen Struktur der Zeit aus deutlich, die als Einheit einer aus der Vergangenheit her in die Zukunft und einer aus der Zukunft her in die Vergangenheit offenen Gegenwart konzipiert werden kann (nicht muss). Wobei die Gegenwart aber gerade der Umbruch ist, in dessen Bruch die Kontinuität der vom Damals ins Dann fließenden ‚Zeit‘ vermittelt wird (weshalb Vergangenheit und Zukunft im Jetzt verschränkt sind. […] ).“ So etwa in Plessners Redeweise vom hiatus irrationalis des „Geschicks“ (ebd., 222) als Prinzip von Geschichtlichkeit. Ganz gleich, ob es sich um die „eigene“, also im Zweifelsfall um die christlich-säkulare Kultur Europas handelt oder nicht. Siehe dazu Plessners interessante Anspielung auf die pythagoreisch-platonische Differenz „zwischen dem άπείρο, dem unergründlichen Woher einer geistigen Welt, und dem πέρας dieser Welt, die in einer geschichtlichen Zwangslage geschichtlich dem άπείρο abgerungen wird“ (ebd., 86). Im Übrigen erinnert Plessner konsequent daran, dass jede Selbstbestimmung samt der ihr zu Grunde liegenden Hermeneutik wiederum aus einer geschichtlichen „Wendung“ hervorgegangen ist, die es dem Menschen allererst ermöglicht hat, dass er „sich in sein eigenes Blickfeld brachte“ (Plessner 98b, 222). Stellen wie diese zeigen besonders eindrücklich Plessners intensive Anlehnung an Dilthey in Macht und menschliche Natur.

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Der Knackpunkt bei alledem ist, dass Plessner den Prozess der Geschichte durch das Zusammenspiel und den Antagonismus zweier Faktoren beschreibt: Das Geschichtliche entsteht in der Differenz zwischen dem, was sich der Mensch zurechnen und dem, was er sich nicht zurechnen kann. Vergangenheit und Zukunft werden als Zeiten perspektiviert, die ebenso „gemacht“ wie „gewachsen“ sind. Die Gegenwart aber ist, wie Plessner schreibt, der „Bruch“ (Plessner 98b, 96), in dem eine Person, eine Generation, eine Kultur darum ringt, eine lebensfähige Balance der Zeitdimensionen herzustellen. In den Stufen steht für diesen Hiatus das Bild einer schraubenförmigen Bewegung von „Geschichte“20. Auch das Band zwischen dieser These und der Figur der exzentrischen Positionalität wird damit ins Licht gerückt: Die Selbsteinbettung des Menschen in die Vergangenheit (seiner Kultur bzw. seiner Lebensgeschichte) hat den Charakter eine Zentrierung, einer „Rückkehr“, die gleichwohl fortlaufend ex-zentrisch aufgebrochen wird. Deshalb gilt, dass die „Herstellung des Gleichgewichts“ (Plessner 97, 339) allein durch „grundstürzende Änderung“ (ebd.) und die „Bewahrung des Alten“ (ebd.) einzig in der „Wendung nach vorwärts“ (ebd.) erreichbar ist. Hält man sich diese Reflexionen Plessners auf die Struktur des Geschichtlichen vor Augen, kann man sich die Kritik, die gegen Canguilhems Projekt einer Historisierung des Lebens zu formulieren wäre, gut vorstellen. Paradoxer- und ironischerweise fehlt es ausgerechnet der Historischen Epistemologie an einem angemessenen Verständnis von Geschichte: Was Canguilhem nicht sieht, ist der das Geschichtliche überhaupt bedingende „kategorische Konjunktiv“, mit dem in der Entscheidung steht, inwieweit der Mensch Geschichte macht und inwieweit er durch Geschichte gemacht wird. Noch ganz abgesehen davon, dass Canguilhem (wie auch Bachelard) nicht zeigen kann, wie sich in seiner Historischen Epistemologie die res gestae zur historia rerum gestarum zueinander verhalten20, liegt die eigentliche Schwäche seines Ansatzes darin, mit Nietzsche unter „Geschichte“ eine produktive Macht zu verstehen, die dem Lebendigen buchstäblich zum „Nutzen oder Nachteil“206 gereichen kann. Nicht umsonst ist der Kern der Hi20

Siehe Plessner 97, 339: „Der Prozess, in dem er [der Mensch, T. E.] wesenhaft lebt, ist ein Kontinuum diskontinuierlich sich absetzender, auskristallisierender Ereignisse. In ihm geschieht etwas und so ist er Geschichte. Er hält gewissermaßen die Mitte zwischen den beiden Möglichkeiten eines Prozesses, dessen Sinn im Fortschritt zur nächsten Etappe besteht, und eines Kreisprozesses, der dem absoluten Stillstand äquivalent ist.“ 20 Im Hintergrund dieses Arguments steht die Frage, ob für Canguilhem, Bachelard oder Foucault der eigene Standpunkt, also der des Epistemologen, in gleicher Weise „im Wahren“ liegt wie derjenige der wissenschaftlichen Diskurse. Wie Foucault herausgearbeitet hat, besteht der Grund für die Verkennung Mendels durch die Biologie des 9. Jahrhunderts darin, dass Mendel nicht „im Wahren“ des Diskurses seiner Epoche stand. Seine Sätze entsprachen nicht den spezifischen Bedingungen, unter denen die damalige Biologie ihre Gegenstände konzeptualisierte (siehe Foucault 998, 23f.). Mit dieser Denkfigur drängt sich für die Historische Epistemologie insgesamt die Frage auf, in „welchem Wahren“ – wenn die Formulierung erlaubt ist – der Epistemologe operiert, da ja immerhin fest steht, dass sein Standpunkt nicht mit demjenigen der Wissenschaftler koinzidieren kann. Zu dem Problem siehe auch Canguilhems Text über den Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte (Canguilhem 979b). 206 Interessanterweise greift schon Bachelard auf Nietzsches Abhandlung Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, also dessen zweite Unzeitgemäße Betrachtung, zurück, um das Motiv von

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storischen Epistemologie die Bezugnahme auf die Gegenwart einer Wissenschaft (bzw. einer bestimmten innerwissenschaftlichen Entwicklung): In dieser Hinsicht „nützt“ die Geschichte dem Leben, sofern sie das Vergangene den jeweils heute relevanten Kämpfen und Engagements unterworfen wird. In Plessners Terminologie überführt, könnte man sagen, dass durch das Verfahren der Rekurrenz Geschichte als durch und durch „gemachte“ Geschichte betrachtet wird. Sie wird geschrieben von einem sich engagierenden Subjekt – nämlich dem Historiker, der sich die von ihm (re)konstruierte Geschichte voll und ganz zurechnen kann207. Was aber die zukünftige Geschichte von Wissenschaft und Wissenschaftsgeschichte betrifft, handelt es sich um einen „Nachteil“, den sich das Subjekt in keiner Weise mehr zurechnen kann: Mit Nietzsche, aber explizit auch mit Hegel tendiert Canguilhem zu der Haltung, dass „l’histoire n’est pas terminée, puisque la négativité, comme critique et comme lutte, continue son œuvre simultanément destructrice et créatrice“ (Canguilhem 98, 288)208. Der philosophische Gegensatz zu Canguilhem ist damit von Plessner her genau markiert: Plessner selbst zeigt zum einen, dass wir die Vergangenheit nur rekonstruieren und die Zukunft nur entwerfen können, wenn wir hypothetisch von dem Bruch zwischen zwei Anteilen ausgehen, um deren Verschränkung es jeder vergangenen, gegenwärtigen und kommenden Kultur gegangen sei, gehe und gehen werde (horizontaler Vergleich). Diese Anteile sind die geschichtliche Macht und die natürliche Ohnmacht des Menschen. Sofern wir aufhören, vorauszusetzen, dass „unsere“ (europäisch-moderne) Verschränkungsform dieses Bruchs diachron und synchron den Primat hat, und stattdessen annehmen, dass alle Verschränkungsformen transitorisch sind, also eine offene Zukunft haben, postulieren

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der „höchsten Kraft der Gegenwart“ als Inspiration für seine Idee der historischen Rekurrenz einzuführen. Dies wird herausgestellt von Henning Schmidgen in Schmidgen 2008c, 33. Siehe Chimisso 2008, 6: „In Canguilhem’s view, without a normative point of view, it is not possible for the historian of science to construct any history. He thought that it it not only a matter of selecting theories and events that should have a place in a narrative, but also of having a guide on how to connect them correctly.“ Einige Absätze später pointiert Chimisso das konstruierende Verfahren der Historischen Epistemologie noch deutlicher, wenn sie über Canguilhem schreibt: „[H]e used epistemology in order to construct new narratives, and to reject those currently provided by historians“ (ebd., 7). Ähnlich die Darstellung bei Wübben 2008, 8. Siehe auch Debru 200, : „Welche Aufgabe hat also der Wissenschaftshistoriker? Er konstituiert seine eigene Problematik.“ Ähnlich Schwartz 993, 23. Studiert man Canguilhems hier zitierten Text Hegel en France genauer, stößt man übrigens auf eine interessante Einschätzung der zwischen Alexandre Kojève und Jean Hyppolite gespaltenen französischen Hegel-Diskussion der 90er Jahre. Während Kojève eine anthropologische Reformulierung von Hegels System vorschlägt, in deren Fokus die Überwindung der Entfremdung zwischen Natur und Mensch durch dessen Arbeit (Problem der Herr-Knecht-Dialektik) steht, favorisiert Hyppolite die Idee einer irreduziblen Entfremdung des Menschen von seinem natürlichen Dasein, begründet durch die Ambivalenz der Sprache als Ort der Entäußerung und der Selbstreflexion des Absoluten. Der Logos repräsentiert die Aufhebung der Natürlichkeit des Menschen in das absolute Selbstbewusstsein und zugleich die Entfremdung des „absoluten Lebens in der Diskursivität der Zeichen“ (Hoth 2007, 9). Diese Konzeptionen gegeneinander abwägend, schließt sich Canguilhem bezeichnenderweise eher Hyppolite als Kojève an: Schärfer als Kojève habe Hyppolite erkannt, dass Hegel womöglich das Leben selbst als „un procès dialectique où se limitent réciproquement l’habitude, c’est-à-dire l’aliénation, et l’émergence, c’est-à-dire la création“ (Canguilhem 98, 293) gedacht habe.

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wie die Unergründlichkeit des Menschen im Ganzen. Zum anderen argumentiert Plessner, dass auch wir hic et nunc vor der Aufgabe stehen, eine solche Verschränkung herbeizuführen – was bedeuten muss, sich der Verabsolutierung des eigenen geschichtlichen Standorts zu enthalten. Dagegen klafft in Canguilhems Historischer Epistemologie ein Chiasmus zwischen der immanenten Perspektive der Gegenwart, in der die (vergangene) Geschichte ganz und gar angeeignet wird, und der Transzendenz einer Zukunft, deren Geschichte nichts und niemandem zugerechnet werden kann, weil sie sich als ein komplexes Spiel präsentiert, das eine unvorgreifliche Produktivität entfaltet209. An die Stelle der Verschränkung und der agonalen Offenheit zwischen geschichtlicher Macht und natürlicher Ohnmacht tritt bei Canguilhem ein unverbundenes Nebeneinander von absoluter Macht und absoluter Ohnmacht: Eine Dualität, die sich auch in Canguilhems Begriff des Lebens einprägt und die nicht zuletzt auf seine methodische Anlehnung an Nietzsche zurückgeht20. Es lässt sich also recht gut angeben, wie Plessner, vor allem von Macht und menschliche Natur her, die Stelle des Historischen in Canguilhems Historischer Epistemologie kritisieren könnte. Indessen kann man, wenn man diese Linie von Plessners Philosophischer Anthropologie weiterdenkt, auch den Status des Epistemologischen der Historischen Epistemologie hinterfragen. Wie schon ausgeführt, spielt sich Canguilhems Reflexion auf das Wissen vom Leben – als das vitalistische Wissen, das mit der Spezifität der lebenden Formen korreliert – in einer indirekten Bewegung ab. So schwer es Canguilhem offenbar gefallen ist, sich ein für alle Mal von der Phänomenologie (besonders von Merleau-Ponty) abzusetzen2, so charakteristisch ist für sein Verfahren die Distanz zu einer „intuition immédiate de ‚la vie‘ en général“ (Worms 2008, 3)22. In einer Wen209

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Cristina Chimisso spricht die hier diskutierte Amphibolie von Immanenz und Transzendenz in Canguilhems Begriff des Geschichtlichen indirekt an, hält sie aber offenbar nicht für ein systematisches Problem. Siehe Chimisso 2008, 9: „A little like the theory of relativity, in which the observer cannot be eliminated, in Canguilhem’s epistemological history, the historian acquainted with modern science is openly present. Its explicit perspective distinguishes it from positivistic histories of science, which presented a narrative without an observer, and therefore as absolutely objective. Like Bachelard, Canguilhem was well aware that observers, and therefore narratives, could change and would change; science for him is a historical product, and at different times there would not only be different sciences, but different perspectives of the past.“ Hier sei nur kurz ergänzt, dass die Affinität der Historischen Epistemologie zu Nietzsche, wenn man sie von Plessner her kritisiert, unweigerlich auch eine Beschäftigung mit Foucaults Verständnis von Geschichtlichkeit anzeigt. So erschien 97 ein von Suzanne Bachelard herausgegebener, posthum Jean Hyppolite gewidmeter Band, in dem sowohl Canguilhem als auch Foucault mit Texten über Nietzsche vertreten waren. Foucaults Beitrag war der heute auf Deutsch unter dem Titel Nietzsche, die Genealogie, die Historie bekannte Artikel. Man kann also nicht nur bei Canguilhem, sondern auch bei Foucault den Spuren einer problematischen Verdoppelung dessen, was unter „Geschichtlichkeit“ gefasst wird, nachgehen. Dazu das Paper von Gérard 200, besonders 8–22 („Prélude: Canguilhem et la phénoménologie“). Gérard akzentuiert für ihren interessanten Vergleich zwischen Canguilhem und Erwin Strauss sehr zu Recht die von Foucault verwischten Berührungspunkte zwischen Canguilhem und MerleauPonty, wodurch sie allerdings Canguilhems „héritage bachelardien“ (ebd., 30) zu stark aus dem Blick verliert. Zu Canguilhems Ambivalenz gegenüber der Phänomenologie siehe auch Métraux 200, 32; Debru 200, 9–6; und vor allem Dufrenne 93. Hier ist die Bergson-Kritik in Canguilhem 2007 (bzw. 92/3) erhellend.

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dung, die derjenigen Plessners gleichzeitig ähnlich und fremd ist, schlägt Canguilhem einen Umweg über die Geschichte, eben die Geschichte von Medizin und Biologie, ein, um das Lebendige als „objet d’un approfondissement conceptuel bien plus que d’une description phénoménologique“ (ebd.) ausgeben zu können. So verstanden, pendelt Canguilhem zwischen einer phänomenologischen Perspektive, die unmittelbar die Spontaneität der Phänomene enthüllt, und einer historischen Perspektive, die das Lebendige in seinem „Abglanz“ (Breun 2006,  u. 3) von der wissenschaftlichen Rationalität der Moderne entziffert. Dieses Pendel zwischen einer Philosophie der Erfahrung und einer Philosophie des Begriffs (siehe Foucaults Schema) läuft auf „eine neuartige Artikulation von Vermitteltheit und Unmittelbarkeit“ (Balzaretti 200a, ) hinaus. Auf jeden Fall hält der Blick des Epistemologen, so wie Canguilhem ihn auszeichnet, zwei Gegebenheitsweisen des Lebendigen fest bzw. auseinander. Anders als der spekulative Vitalismus (Bergson), der eine pauschale Vorstellung von „ ‚la vie“ en général“ (Worms 2008, 3) errichtet, und anders als die Phänomenologie des Leibes begibt sich Canguilhems vitaler Rationalismus auf den mühevollen „Umweg über abstrakte Verarbeitungsprozesse, welche die wissenschaftliche Forschung zu einer anti-intuitiven Distanz gegenüber der unmittelbaren Wahrnehmung zwingen“ (Wulz 200, 2). In Auseinandersetzung mit den diskursiven Konstruktionen rehabilitiert Canguilhem wiederum „unmittelbare, in der direkten Anschauung erfasste Qualitäten“ (ebd.)23. Sein Format einer Historischen Epistemologie impliziert darum eher einen Übergang oder Überschuss von vorwissenschaftlichen Anschauungen in die wissenschaftliche Matrix, und nicht schiere Diskontinuitäten (epistemologische Brüche) zwischen diesen Stufen2. Letztlich scheint in dem inneren Oszillieren der science, in ihrer Dialektik zwischen Kontinuität und Diskontinuität, so etwas wie die Überdeterminiertheit der lebendigen Gegenstände selber durch. Und man kann den Schluss ziehen, dass Canguilhem, wenn er in der epistemologischen Position Platz für eine vitalistische Haltung schafft, genau dies damit meint: Die Fähigkeit, die „vermittelte Unmittelbarkeit“ der Rationalitäten – das Ineinandergreifen von Kontinuität und Diskontinuität – mit der „vermittelten Unmittelbarkeit“ der Phänomene selbst, mit ihrem „konservativ[en] und innovativ[en]“ (Delaporte 200, 3; Hervorhebung i.O., T. E.) Charakter, zusammenzudenken. Auf diese „vermittelte Unmittelbarkeit“, die bei Canguilhem in der Optik des Epistemologen unterscheidbar wird, lässt sich auflegen, was Plessner systematisch im Sinne eines „anthropologischen Grundgesetztes“ unter „vermittelter Unmittelbarkeit“ versteht. Die Frage ist dann, wodurch es dem Epistemologen überhaupt möglich ist, zwischen den Registern des Unmittelbaren und seiner wissenschaftlichen Objektivierung hin und her zu wechseln. Für Canguilhem besteht kein Zweifel daran, dass sich das Lebendige bloß über rationale Brechungen aufweisen lässt. Wenn man so will, hat der Epistemologe ei23

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Beide Zitate beziehen sich bei Wulz auf Bachelard, nicht auf Canguilhem. Bachelard würde den zweiten angesprochenen Schritt (zu den unmittelbaren Qualitäten) nicht für produktiv halten. Die Gründe für diese Ablehnung wurden bereits herausgearbeitet. Diesen Punkt muss man um so mehr verdeutlichen, weil er aus diskurspolitischen Gründen, besonders von Foucault, heruntergespielt und verzerrt worden ist. Siehe Foucault 988, 60f. Dass Canguilhem kein bedingungsloser Epistemologe der Diskontinuität ist, sondern für die Geschichte der Biologie Kontinuitäten in der Objektbestimmung herausarbeitet, wird plausibel expliziert von Delaporte 200, Schmidgen 2008a, Schmidgen 2008d.

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nen „Sinn für’s Negative“ (Plessner): Er zeigt ein luzides Sensorium für das Lebendige gerade dort, wo es in bestimmtem Sinne nicht ist – nämlich inmitten jener Praktiken und Diskurse, die nachgerade darauf angelegt sind, die qualitativen Züge ihrer Forschungsobjekte auszublenden. Wie aber kommt es, dass der Epistemologe zwischen der prädiskursiven Anschauung der lebendigen Erscheinungen und dem methodischen Regime der Forschung polemische Perspektivenwechsel vollziehen kann? Welche Voraussetzungen sind im Spiel, um den epistemologischen Brüchen die kontinuierlichen Bahnen des Wissens entgegenzuhalten? Wie ist es dem Epistemologen möglich, Kontraste zu illustrieren, die sich der operativen Forschung entziehen? Wie also kann man begründen, dass er im Besitz eines Schlüssels zu zwei Gegebenheitsweisen des Lebendigen ist, während sich die Wissenschaftler und die Philosophen auf jeweils einen dieser Modi reduzieren? So selbstverständlich es erscheint, diese Probleme beantworten zu müssen, um auf diesem Weg den eigenen methodischen Standort angeben zu können: Canguilhem hat die Bedingungen für die doppelte Wahrnehmung der Phänomene (als unmittelbar gegebene und reflexiv vermittelte), die der Historischen Epistemologie offen steht, nicht beschrieben. Umso überraschender ist der Effekt, wenn man Canguilhems Primat des Vitalismus in Plessners Begriff der „vermittelten Unmittelbarkeit“ einbaut. Denn wie Plessner klar stellt, „dominiert“ (Plessner 97, 326) für exzentrisch positionierte Wesen in ihrer Beziehung zum Umfeld ohnehin „die Direktheit und Unmittelbarkeit über die Indirektheit und Vermitteltheit“ (ebd.). Die Exzentrizität kann, so Plessner, „das Bewusstsein der Unmittelbarkeit und des direkten Kontakts“ (ebd., 328), das sich in der lebendigen Interaktion mit dem Umfeld einstellt, „nicht verhindern“ (ebd.). Unter diesem Gesichtspunkt entspricht die vitalistische Perspektive bei Canguilhem schlicht dem Vollzug der Interaktion des Organismus’ mit dem Umfeld. Dieser Vollzug verläuft auch in der exzentrischen Positionalität leiblich spontan, ist also nicht von vornherein durch Reflexionsschleifen überdeterminiert. Aber die Spontaneität schließt nicht aus, dass die Relation zur Umwelt durch die Person hindurchgeht (ebd., 327), dass sie sich gleichsam durch den spezifischen Filter bricht, der allein der exzentrischen Positionalität zu Eigen ist. Es dürfte also dem Epistemologen (von Biologie und Medizin) nicht ausschließlich daran gelegen sein, sich in das Lebendige (bzw. in das, was er unter den lebendigen Formen versteht,) zurück zu stellen2. Vielmehr könnte eine fundamentale Einsicht lauten, dass immer schon ein komplexes Repertoire an Verfahren gefragt ist, um an der Differenz zwischen Unmittelbarkeiten und Vermittlungen, zwischen kontinuierlichen Rhythmen und diskontinuierlichen Brüchen festhalten zu können. Canguilhem begnügt sich letztlich mit der Produktion von historischen Kontrasten zwischen Werten, die vorgeblich den Phänomenen immanent sind, und den Werten (d.h. Normen) der sciences. Wenn aber die exzentrische Positionalität erhellt, dass Personen sich immer schon als die unvermeidlichen Filter ihrer phänomenologischen Erfahrungen durchsichtig sind, kommt es zu einem Kollaps von Selbstverständlichkeiten: Mag sein, dass die Erfahrungswissenschaftler die einzigartige Autonomie des Lebendigen verfehlen. Aber daraus folgt nicht, dass der Epistemologe, indem er den Kontrast zwischen der (vermeintlichen) Natürlichkeit des Phänomens und 2

An dieser Stelle möchte ich Hans-Peter Krüger für die m.E. sehr treffende Formulierung danken, Canguilhem „stelle“ sich methodisch in die Dimension des Lebendigen „zurück“. Im Sinne einer kritischen Markierung von Canguilhems Verfahren, und zwar unter den Vorzeichen von Plessners Ansatz, handelt es sich hier um eine erhellende Beschreibung.

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seiner diskursiven Verarbeitung denkt, nun seinerseits zu den Phänomenen zurückkehren kann. Denn Plessners Ausgangspunkt zieht einige Fragen nach sich: „Was selbstverständlich war, ist es im Abstand der Rekonstruktion nicht mehr. (…) Hätte die Anschauung, anhand der nun explorierten Kontraste für die Vorstellung und die Begriffe der Urteilsbildung, auch anders ausfallen können? Darüber können Hypothesen generiert werden. Lag es am Angeschauten, am Anschauenden, an ihrer Interaktion auf welchem Level?“ (Krüger 200, 90)

Oder noch einmal anders formuliert: Hält sich die Historische Epistemologie nicht so lange selbst in dem von ihr enthüllten Dualismus (Unmittelbarkeit vs. rationale Vermittlungen) auf, bis es ihr gelingt, zu beschreiben, wie das von ihr für sich beanspruchte Gleiten zwischen den horizontalen und den vertikalen Vergleichen funktioniert? Müsste es nicht darum gehen, sich von der eigenen, sicher geglaubten „vermittelten Unmittelbarkeit“ noch einmal lösen und diese verflüssigen zu können, indem man die verschiedenen Methoden, die an der Konstitution wissenschaftlicher Objekte beteiligt sind, präzise voneinander trennt26? Alles in allem ließe sich das Spektrum, in das sich Canguilhem methodisch einschreibt, von Plessner aus als eine Explikation des zweiten anthropologischen Grundgesetzes begreifen, wobei es sich um eine unfreiwillige Explikation handelt, die dieses Grundgesetz selbst gar nicht wahrnimmt. Zum Abschluss dieses Unterkapitels soll noch einem Motiv aus Plessners Philosophie die Tür geöffnet werden, das bislang nicht explizit genug zur Geltung gebracht wurde. Den Einstieg dazu kann Foucaults Einschätzung liefern, wonach Canguilhems Arbeiten historisch „eines der grundlegenden Ereignisse in der Geschichte der modernen Philosophie“ (Foucault 99, 7) zur Voraussetzung haben, nämlich die Verschiebung von „den Beziehungen zwischen Wahrheit und Subjekt“ (ebd.) hin zu „den Beziehungen der Wahrheit und des Lebens“ (ebd.). Canguilhems Studien versetzen uns demnach in eine Epoche des Lebens, die sich ihrem epistemischen Aufbau nach von den Zeitaltern des Glaubens (Scholastik), der Vernunft (Descartes), der all-einen Substanz (Spinoza) etc. abhebt. Unter methodischem Gesichtspunkt situiert Canguilhem seine Annäherung an diese Zeit des Lebens im Gefolge einer bestimmten Form der Pluralisierung und Historisierung der Vernunft: Im Anschluss an Lévy-Bruhl und Brunschvicg setzt Canguilhem dem Modell der philosophia perennis eine Fragmentierung der Vernunft in „different ways of reasoning, depending on era and civilization“ (Chimisso 2008, ) entgegen. Dieser Lektüre nach findet sich die philosophische Tradition auf ein-und derselben Stufe mit den wissenschaftlichen Praktiken wieder: Anstatt über die Zeiten hinweg Venunftwahrheiten zu transportieren, trägt das philosophische Erbe die Anschauungen bestimmter Kulturen zu bestimmten Zeiten in sich, die immer schon von dem differieren, was hier und heute gilt27. Diese Charakterisierungen halten in Erinnerung, dass Canguilhem seine Fragen in ein historisch spezifisch umrissenes Feld einträgt, und sie unterstreichen seine Konzentration 26 27

Dazu mit Bezug auf Plessner ausführlich Krüger 200. Chimisso (Chimisso 2008) zeichnet detailgenau nach, dass die Geburtsstunde der Historischen Epistemologie mit den Namen Lévy-Bruhl und Brunschvicg verbunden ist, die, auf jeweils verschiedenen Wegen, das Problem der Laborsituationen von der Geschichte der Wissenschaft auf die Geschichte der Philosophie ausgeweitet haben. In gewissem Sinne gewinnt diese Tradition für Canguilhem einen ähnlichen Status wie Diltheys Kritik der historischen Vernunft für Plessner.

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auf wissenschaftliche Vorgänge, die er gegenüber der Sphäre der Philosophie aufwertet. Umso eigenartiger aber ist es mit Blick auf diese methodischen Spezialisierungen, dass Canguilhem offenbar nicht daran interessiert war, die komplexe Genese der Wissenschaft als autonome Form gesellschaftlicher Arbeit zu explizieren. Kritischer gesagt: Was bei Canguilhem fehlt, ist eine personale Gesellschaftstheorie, die plausibel zeigen könnte, wie sich die funktionale Rolle von Wissenschaftlern im Unterschied zu Technikern (Handwerkern, Künstlern) oder Priestern eigentlich ausgeformt hat. Interessanterweise kommen Canguilhems Texte immer wieder zurück auf die Idee einer „Dezentrierung“ (Schmidgen 2008d, 6) der wissenschaftlichen Tätigkeit in technisches Verhalten28, aber sie unternehmen keinen Versuch, die Differenz von Technik und Wissenschaft durch die Diversifizierung gesellschaftlicher Rollen einsichtig zu machen. Dabei wäre es durchaus möglich, mit Serge Moscovici unterschiedliche Repräsentationen von „Natur“, d.h. verschiedene Typen von Naturverhältnissen aufzuweisen, deren Entstehung an die Instituierung spezifischer innergesellschaftlicher Rollen gekoppelt ist29. Eine der Thesen, die sich aus einer solchen Genealogie ergeben würde, könnte lauten, dass von einem präzise verstandenen wissenschaftlichen Naturverhältnis erst dort die Rede sein kann, wo die Rolle des antiken sophos durch die des Ingenieurs, des Erfinders von Instrumenten und Maschinen, überflügelt wird220. Das Konzept der Rolle signiert einen für Plessner sehr bedeutenden Punkt: Weil der Mensch, anders als ein zentrisch positionierter Organismus, außer Stande ist, „einfach und offen das zu sein, was er ist, so bleibt ihm nur der Weg, etwas zu sein und in einer Rolle zu erscheinen“ (Plessner 98a, 82; Hervorhebung i.O., T. E.). Aus der exzentrischen Positionalität, aus der Leere, aus der heraus die Relation zwischen Körper und Leib erst hergestellt werden muss, resultiert „eine Struktur elementarer Rollenhaftigkeit“ (Plessner 2003b, 99), die es der Person gestattet, sich im selben Zug zu ver-öffentlichen und sich in sich zurück zu ziehen. Plessner hat diese Schlüsseleinsicht seiner Philosophischen Anthropologie in zwei Perspektiven geschärft. Zum einen hängt die Bewegung der Verkörperung, durch die eine Person ihr öffentliches Gesicht mit dem privaten austariert, mit der Ausbildung einer politischen persona zusammen. Gesellschaftliche Interaktionen verlangen von den Akteuren die Übernahme von Herrschaftsrollen, so dass überhaupt politische Repräsentationen möglich werden. Zum anderen liegt in der Konsequenz des Rollenansatzes das Problem der Vergegenständlichung oder Funktionalisierung der eigenen Rolle sowie der Rollen, die von anderen Akteuren inkorporiert werden: Brisant ist hier „die Ablösbarkeit 28

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Canguilhem 2009d, 278 bzw. 279: „In einer Menschheit, der man aus einer szientistischen und selbst einer materialistischen Perspektive zu Recht abspricht, die Wissenschaft mit der Muttermilch aufgesogen zu haben, müssen die Geburt, das Werden und der Fortschritt derselben als ein recht abenteuerliches Unterfangen des Lebens verstanden werden. Andernfalls müsste man absurderweise annehmen, dass die Wirklichkeit immer schon die Wissenschaft dieser Wirklichkeit als einen Teil ihrer selbst in sich trüge […]. Doch wenn die Wissenschaft das Werk einer Menschheit ist, die im Leben wurzelt, bevor sie durch die Erkenntnis erhellt wird, wenn die Wissenschaft also eine Tatsache in der Welt und zugleich eine Vision der Welt ist, dann unterhält sie mit der Wahrnehmung eine ständige und verbindliche Beziehung.“ Dazu Moscovici 982. Den Hinweis auf Moscovicis Versuch über die menschliche Geschichte der Natur in diesem Kontext verdanke ich Hans-Peter Krüger [T. E.]. Dies entspricht bei Moscovici der Transformation des organischen Naturverhältnisses in das mechanische Verhältnis. Siehe Moscovici 982, 9f.

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der Leistung von den Leuten, die sie entsprechend ihrer Rolle produzieren“ (ebd., 202). Plessner thematisiert unter diesem Aspekt die Gefahr eines Ununterscheidbarwerdens von (eigenen und fremden) Rollen mit Sachwerten in dem Sinne, in dem von der „Rolle der Kardanwelle im Automotor, der Vegetation im Wasserhaushalt auf der Erde“ (ebd.) gesprochen werden kann. Damit hat man zumindest die Schemen eines Disputs vor sich, den Plessner mit Canguilhem womöglich um die Frage nach den gesellschaftlichen Organisationsmechanismen geführt hätte, aus denen heraus so etwas wie das Auftauchen der Rollen des Wissenschaftlers, aber auch des Wissenschaftshistorikers, nachvollziehbar wird22. Für Plessner wäre es wichtig zu betonen, dass sich die Rollen, die sich im gesellschaftlichen Spiel ausdifferenzieren, nicht in organische Substrate überführen lassen. Plessner würde es für unplausibel halten, die wissenschaftlichen Rationalitäten aus ihren Gegenständen oder die gesellschaftlichen Formationen aus den Naturverhältnissen, mit denen sie jeweils korrelieren, abzuleiten. Was nun Canguilhem betrifft, so kann man fragen, welche Konsequenzen es für seinen Ansatz gehabt hätte, wäre er den Weg über die Dialektik einer „menschlichen Geschichte der Natur“ (Moscovici) gegangen. Vielleicht hätte ihn eine derartige Perspektive dazu geführt, sich den epochalen Rollen zuzuwenden, in denen jeweils Entscheidungen darüber ausgetragen werden, wem oder was Personalität zukommen soll und wem oder was nicht222: Läuft nicht der antike Zugang auf eine gewisse Personalisierung der lebendigen Natur hinaus, wenn er in die Natur jene Fertigkeiten hineinlegt, die aufs Engste mit dem Primat des poietischen Handwerkers verbunden sind? Und unterscheidet sich diese Auffassung nicht scharf von der in der Neuzeit hervortretenden mechanistischen Konzeption, die, indem sie der Natur ihren lebendigen Status entzieht, den Kreis derer, die als Personen firmieren können, neu bildet? Werden nicht an diesem Punkt die Rollen des Konstrukteurs und des Wissenschaftlers erst geschaffen und zugleich gesellschaftsfähig? Es erschien sinnvoll, diese Brücke zu schlagen und damit eine bestimmte Möglichkeit der Kritik an Canguilhem zu skizzieren. Denn das Konzept der sozialen Rolle, das in Plessners Systematik einen eminenten Platz hat, bringt in die Konfrontation mit Canguilhem noch einmal eine ganz neue Note ein. Einmal mehr erinnert es daran, dass unter bestimmten Blickwinkeln Welten – d.h. nicht füreinander empfängliche Genealogien – zwischen diesen beiden Antipoden liegen. Dieser Eindruck wird sich im nächsten Unterkapitel noch weiter verstärken. 22

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So kann man den Untersuchungen Moscovicis entnehmen, dass in der Neuzeit die Konstrukteure von Maschinen und Modellen zu einer Elite zusammentreten, die unter Natur eine in sich feststehende, mathematischen Prinzipien gehorchende Ordnung verstehen. Diese neue Selbst-und Naturauffassung ist nun aber in keiner Weise mehr auf die antike Rolle der Handwerker reduzierbar, die sich dadurch auszeichnete, die Natur nach der Analogie poietischer Fertigkeiten zu betrachten. Vor einem ähnlichen Hintergrund könnte man argumentieren, dass ein Auseinanderhalten von ethischen und epistemologischen Implikationen der Tier-Mensch-Grenze, wie es Canguilhem „als evident und selbstverständlich“ (Roelcke 2009, 9) anzusetzen scheint, „keineswegs immer so selbstverständlich war, sondern daß [es] vielmehr das Resultat historischer Prozesse ist, genauer: das Resultat von Irritationen und Debatten über Ziele, Wert und Grenzen von medizinischer Forschung am Menschen sowie vor allem über den angemessenen Weg von der Innovation im Reagenzglas zur Anwendung am Menschen“ (ebd.).

Dritter Akt: Lebendiges Wissen des Lebens

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C.Dritter Akt: Lebendiges Wissen des Lebens a. Plessner liest Canguilhem: Die Frage nach der Verzeitlichung der Begriffe und die Versöhnung durch den Irrtum Olivia Mitscherlich hat luzide die spezielle Art und Weise auf den Punkt gebracht, wie sich in Plessners Philosophischer Anthropologie die Denkstruktur eines lebendigen Wissens des Lebens ausschreibt: „Das geisteswissenschaftliche Verstehen bezieht sich in seinen Objekten auf das Leben in seinen Objektivationen und ist als der Verstehensvollzug selbst Leben. Philosophie soll nun dadurch Erkenntnis vom Leben als Subjekt-Objekt erreichen, dass sie das Verstehen – und d.h. die Aneignung des Lebens durch das Leben – seinerseits begreift und dadurch das Selbstbewusstsein des Lebens objektiv macht.“ (Mitscherlich 2007, 2; Hervorhebungen i.O., T. E.)

Es gibt bei Plessner also einen Dreh, an dem sich zeigt, warum einzig und allein die Philosophische Anthropologie als Artikulation für das Problem eines um sich selbst wissenden Lebewesens in Frage kommen kann. Plessner sieht die Philosophische Anthropologie in einer gewissen Metaposition: Zunächst einmal schlüsselt sie die Bedingungen für den Umstand auf, dass sich menschliche Lebewesen im Medium ihrer „Objektivationen“ (Plessner 97, 32) selbst verstehen und erfahren. Sie versteht, wie „die Aneignung des Lebens durch das Leben“ (Mitscherlich 2007, 2) in je besonderen historischen Formationen von statten geht. Aber indem die Philosophische Anthropologie die verschiedenen „Äußerungen“ (ebd.) dieser hermeneutischen Wende des Lebendigen zu sich selbst in den Blick nimmt, verwandelt sie sich systematisch in eine Hermeneutik dieser Hermeneutik. Nur muss man bei dieser Beschreibung vorsichtig sein: Durchaus ermöglicht es die Philosophische Anthropologie, zu verstehen, wie Leben Leben versteht (Dilthey) – doch diese Leistung hängt gerade davon ab, dass sie nicht selbst in die hermeneutischen Zirkel fällt, die sie untersucht223. Das lebendige Wissen des Lebens ist also auf der einen Seite Thema und Gegenstand der Philosophischen Anthropologie, d.h. das, worauf sie sich bezieht. Auf der anderen Seite ist es aber auch treffend, wenn man unter der Überschrift des lebendigen Wissens des Lebens jenes Wissen benennt, das von der Philosophischen Anthropologie erst ausgebildet wird und ihr allein korrespondiert. Denn das (Meta-) Wissen um die Vollzüge, durch die das Lebendige von sich weiß, das Verstehen des lebendigen Selbstverstehens, ist selbst wieder ein lebendiger Vollzug, der exzentrische Positionalität zur Voraussetzung hat. 223

Auf dieses Argument verweist auch Krüger, um die Operationen der Philosophischen Anthropologie gegen Foucaults Theorem vom anthropologischen Zirkel in Schutz zu nehmen. Siehe Krüger 2008c, 6–22. Gerade Macht und menschliche Natur scheint in diesem Sinne die perfekte Illustration von Plessners Verfahren zu sein, zirkuläre Anthropologien durchsichtig zu machen, jedoch mit der Pointe, aus der eigenen lebenshermeneutischen Zirkularität gleich mit auszusteigen. Nur im Lichte dieses Rückzugs von jeglicher Hermeneutik lässt sich Plessners Hypothese von der Unergründlichkeit des Wesens des Menschen im Ganzen nachvollziehen. Zugleich liegt in der umfassenden Absage an die Hermeneutik sicher auch der Grund für die beträchtliche Sperrigkeit und den idiosynkratischen Ton von Plessners Schrift.

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Aus diesen Gründen hält Plessner die Philosophische Anthropologie als Systemform für unersetzbar: Man kann der komplexen Lage eines um sich selber wissenden Lebewesens nicht gerecht werden, wenn man gewisse Begrifflichkeiten und Distinktionen (z.B. die einer exzentrischen Positionalität), die von der Philosophischen Anthropologie errichtet werden, nicht durchläuft. Daher ist Canguilhems Anspruch interessant, einen Aufbau entwickelt zu haben, wonach das Problem der Erkenntnis „nicht einfach nur darin [besteht], dass der Erkenntnisgegenstand – das Lebendige – speziell sei, sondern vielmehr darin, dass wir selbst diesem Gegenstand angehören, genauer noch: dass sich unser Lebendigsein gerade in der Erkenntnistätigkeit ‚manifestiert, vollzieht und entfaltet‘“ (Sarasin 2008, 66)22. Ohne Zweifel wird aber das Wissen vom Leben, geht es nach Canguilhem, nicht im Rahmen einer Philosophischen Anthropologie zum Leben erweckt: Die Positionsvertauschung vom Platz lebendiger Objekte zur Stellung von Subjekten, die sich selbst als lebendige Objekte erfahren können, wird von Canguilhem vielmehr ausschließlich einer Historischen Epistemologie besonderen Typs zugetraut. Sicher ist, dass die von Canguilhem entwickelte Repräsentation dieser „Subjekt-Objektivität“ (Plessner 97, 22) in Plessners Augen nicht überzeugen kann. Die philosophisch entscheidenden Pointen und Konsequenzen des lebendigen Wissens des Lebens gehen verloren, wenn man die fragliche Struktur in den Bahnen der Historischen Epistemologie umzusetzen versucht. Es stellen sich folglich mit Plessner kritische Fragen nach der inneren Kohärenz von Canguilhems Paradigma der Historischen Epistemologie. Eine erste Kernfrage tangiert die von Canguilhem herausgearbeiteten drei Zeitrichtungen, die im Blick des Historischen Epistemologen ineinander greifen und sich zugleich voneinander abheben. Wie bereits nachgezeichnet, unterscheidet Canguilhem drei Stufen der Objektkonstitution: Während wissenschaftliche Gegenstände fabrizierte Gegenstände sind, die nicht mit ihrem „Prä-text“ (Canguilhem 979b, 29), den natürlichen Gegebenheiten, zusammenfallen, hat die Wissenschaftsgeschichte ihrerseits „die Geschichtlichkeit des wissenschaftlichen Diskurses“ (ebd., 30) zum Gegenstand. So sehr also „die Gegenstände der Wissenschaft in die Zukunft geschoben werden“ (Rheinberger 200c, 229), so sehr „werden die Gegenstände der Wissenschaftsgeschichte aus der Vergangenheit gezogen“ (ebd.). Aber im Sonderfall der Epistemologie der Lebenswissenschaften tritt noch eine andere Bedingung ein: Denn die vitalen Phänomene selbst sind, gleichsam diesseits ihrer wissenschaftlichen Projektion und ihrer epistemologischen Rekonstruktion, auf ihre Gegenwart zurückgeworfen. Sofern sich das Lebendige hier und jetzt „exposé au risque de la maladie“ (Macherey 2009f., 2) findet, ist es nicht damit befasst, die eigenen Normen in die Zukunft hinein zu entwerfen, sondern gegenwärtig, soweit es dies eben vermag, den Tod von sich fern zu halten. Ein springender Punkt der epistemologischen Konzeption Canguilhems besteht also gerade darin, drei „Zeitregime“ (Rheinberger 200c, 229) auseinander zu halten, die vom Standort des Epistemologen aus gleichwohl allesamt mobilisiert werden können. Weil der Wissenschaftshistoriker den wissenschaftlichen Diskurs, dem er sich zuwendet, in einem breiteren Diskurs situiert – der seinerseits „mit der Nicht-Wissenschaft, mit der Ideologie und mit der politischen und gesellschaftlichen Praxis“ (Canguilhem 979b, 22

Das Zitat im Zitat stammt aus Foucault 988, 67.

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3) verwoben ist –, sieht er, wenn man so will, die toten Winkel der wissenschaftlichen Arbeit ein, die den Wissenschaftlern selbst verschlossen bleiben22. Dieser Aufriss dreier Zeitrichtungen ist auch deshalb systematisch entscheidend, weil er folgende Frage aufwirft: Wie eigentlich hängt die Zeitlichkeit, in der sich die Perspektive des Historikers bewegt, mit der Zeitlichkeit der Wissenschaftsobjekte, also im hier relevanten Fall der lebendigen Strukturen, zusammen? Man kann hinsichtlich der von Canguilhem explizit vorgetragenen Überlegungen den Eindruck haben, der Epistemologe könne an allen drei Zeitordnungen (bzw. Gegenstandsebenen) partizipieren. In gewissem Sinne spricht er mit der Stimme der lebendigen Dinge, die nicht erst als „reifizierte Theoreme“ (Bachelard) der Biowissenschaften ins Leben gerufen werden, sondern in erster Linie von einer zwischen den Polen des Normalen und des Pathologischen gespannten Eigenzeit geprägt sind. Aber im selben Zug ist es, als würde der Epistemologe auch in die wissenschaftlichen Praktiken mit ihren je konkreten Intentionen und technischen Voraussetzungen eintauchen – mit dem Ergebnis, dass eine komplexe Einbettung der Wissenschaft in einen kulturellen, von spezifischen Normen durchsetzten Hintergrunddiskurs ans Licht kommt. Und schließlich sind dem Epistemologen seine eigenen historischen Rekonstruktionen als Ausdrücke einer schöpferischen Wahl, einer auf ihn selbst zurück gehenden Eingrenzung (siehe Canguilhem 979b, 30) transparent. Wie also kann man verstehen, dass der Historische Epistemologe mit drei auseinander strebenden Temporalitäten zu tun hat, zwischen denen er verkehrt, ohne in ihnen je ganz aufzugehen? Man kann nicht behaupten, dass Canguilhem ein die Zeitregime einigendes Band postuliert hätte. Zumindest aber gibt es die vielsagende Bemerkung des Canguilhem-Schülers Pierre Macherey, es sei Canguilhem darum gegangen, den Begriff der connaissance von innen heraus zu verwandeln: Anders als die von den Wissenschaftlern empirisch praktizierte connaissance, die sowohl die Objekte als auch die Prinzipien, die der Wissenschaftler auf die Objekte anwendet, als Tatsachen hinnimmt, versteht sich die connaissance des Epistemologen als erfinderisches und wesentlich freies Verhalten gegenüber „questions posées par une actualité“ (Macherey 2009e, 6). Durch diese Dialektik aus Herausforderung und Schöpfung stimmt die epistemologische Perspektive ein in die „manière dont un organisme dialogue avec son milieu d’existence“ (ebd.). Den Schlüssel zu dem Problem, wie die heterogenen Zeiten des Lebendigen, seiner wissenschaftlichen Objektivierung und der historischen Kritik dieser Objektivierungen aufeinander einspielen, scheint Canguilhem daher letztlich in der Einheit des Lebens selbst zu sehen. Versucht man, für diese Trias von vorwissenschaftlicher, wissenschaftlicher und wissenschaftsgeschichtlicher Zeit ein Äquivalent im Rahmen von Plessners Betrachtungen zu finden, so wird man sich an die zentrale Passage halten können, in der Plessner die drei zeitlichen Rhythmen der Person anspricht: „Positional liegt ein Dreifaches vor: das Lebendige ist Körper, im Körper (als Innenleben oder Seele) und außer dem Körper als Blickpunkt, von dem aus es beides ist. Ein Individuum, welches derart dreifach charakterisiert ist, heißt P e r s o n . Es ist das Subjekt seines Erlebens, seiner 22

Siehe die entsprechende Maxime Canguilhems: „La science doit apparaître dans un univers qui la rende possible.“ Zitiert nach Macherey 2009e, 8. Zum Verhältnis von Epistemologie und Wissenschaften bei Canguilhem siehe auch Renard 996, 3.

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Wahrnehmungen und seiner Aktionen, seiner Initiative. Es weiß und es will. Seine Existenz ist wahrhaft auf Nichts gestellt.“ (Plessner 97, 293)

Personen sind erstens durch ihren Körper radikal auf ihre Gegenwart zurückgeworfen. Zweitens sind sie sich durch ihre Leiber in einem „Rückbezug“ (ebd., 280f.) ihrer selbst gegenwärtig und unterhalten insofern eine „Beziehung zur Vergangenheit, die bewusst oder außerbewusst sein kann“ (ebd.) Und drittens beziehen sich Personen auf eine strukturell unbestimmte Zukunft, weil sie sich nicht allein „vorweg“ (ebd., 39), sondern ihrem „Vorwegsein vorweg“ (ebd.) sind. In der direkten Gegenübersetzung der dreifach gebrochenen Zeit von Personen (Plessner) mit den drei für die Epistemologie relevanten Temporalitäten (Canguilhem) verdeutlicht sich folgender Punkt: Implizit nimmt Canguilhem die dreifache Verzeitlichungsform, die allein Personen eigentümlich sein kann, für seine eigene Position, d.h. den Standort des Epistemologen, in Anspruch. Man muss aber dieses Bild der Epistemologie insofern vertiefen, als dass die Personalität des Epistemologen herauszustreichen ist. Sowohl der Lebenswissenschaftler als auch der Epistemologe der Lebenswissenschaften sind Menschen – soviel ist trivialerweise klar. Aber dennoch unterstellt Canguilhem eine Differenz der epistemologischen (historischen) Hermeneutik gegenüber der rationalen Hermeneutik der Wissenschaft selbst. Genau genommen betrachtet Canguilhem zwar die Epistemologen, nicht aber die Wissenschaftler als Personen. Denn während das Wissen der Wissenschaftler gleichsam in der eigenen Zeitschleife befangen ist – erst der epistemologische Bruch erzeugt die Dinge –, erscheint das epistemologische Wissen als lebendiges Wissen, als eines, das die vorwissenschaftliche Zeit der lebendigen Phänomene in sich aufzunehmen vermag. Wo Canguilhem die Einheit des Lebens aufruft226, wäre es aufschlussreich, die subtilen Verteilungen, die Zu-und Aberkennungen von Personalität zu untersuchen, die seine eigene epistemologische Konzeption propagiert. In dieser Richtung lässt sich auch die eigentliche Wende in Canguilhems Denkmodell kommentieren, die anstrebt, dem Wissen über lebendige Entitäten selbst wieder eine lebendige Verfassung einzuhauchen. Es ist angemessen, diesen internen Dreh, durch den Canguilhems Ansatz noch einmal eine Verschiebung erfährt, als „Biologie der Begriffe“ (Wübben 2008, 20) oder als „biological structuralism“ (Schmidgen 2007, 6 bzw. 23) zu apostrophieren. Die Epistemologie der Biologie öffnet sich, wenn man so will, in eine Biologie der Epistemologie hinein227. Wie schon geschildert, ist die Nahtstelle, an der diese Selbsterweiterung von Canguilhems Ansatz in der Entscheidung steht, in seiner Theorie des Begriffs zu finden. Ironischerweise rückt auch Canguilhem vom Primat der zentrischen Positionalität ab, wenn er bespricht, wie das Wissen, das sich auf das Leben bezieht, die Dynamik des Lebens selber in sich assimiliert. Doch er tut dies nicht zu Gunsten einer schärferen Auszeichnung der ex-zentrischen Stellung des Menschen. Eher sprechen Canguilhems Texte der 960er Jahre von einem Modell, das „Akteure wie Objekte 226

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Siehe Renard 996, 6: „À la raison, Georges Canguilhem ne dresse pas un monument, il lui donne la vie. La vie est erreur et désordre du point de vue de la raison, mais aussi source de son activité de correction et de rétrospection, source de l’histoire de ses multiples recommencements et ratures, source d’un ordre latent parce que imprévisible.“ [Hervorhebung i.O., T. E.] Dazu Schmidgen 2008d, ; siehe auch Macherey 2009b.

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in einen einheitlichen, dynamischen Emergenz- und Erkenntniszusammenhang stellt und damit die Differenz zwischen Akteuren, Objekten und Begriffen relativiert“ (Wübben 2008, 20). Mehr Aufmerksamkeit als den Subjekten, die sich in begrifflichen Strukturen bewegen, kommt fortan den Ordnungstendenzen zu, die den lebendigen Prozessen selbst inne zu wohnen und den begrifflichen Zugriff auf sie zu informieren scheinen. Gerade diese begriffstheoretische Umstellung der Weichen in Canguilhems Konzeption ist für unser Thema kardinal. Sie perfektioniert gewissermaßen die Asymmetrie, in der die Projekte Canguilhems und Plessners letzten Endes zueinander zu stehen kommen. An dieser Stelle kann es helfen, sich noch einmal in Canguilhems Argumentation zu der von ihm behaupteten Vitalität der Begriffe, die ihrerseits den Bezug auf Lebendiges herstellen, zurück zu versetzen. In seiner Studie über die Herausbildung des Reflexbegriffs geht Canguilhem auf die Originalität dessen, was er unter einem wissenschaftlichen Begriff fasst, näher ein. Von der Herausarbeitung des Reflexbegriffs konnte Canguilhem zufolge erst dann die Rede sein, als Thomas Willis unter dem Titel des motus reflexus einen sprachlichen Ausdruck, eine spezifische (durch den Ausdruck vorgenommene) Bestimmung und ein Phänomen miteinander verschränkte228. Um kurz das Wesentliche aufzufrischen: Anders als Descartes war es der Oxforder Naturforscher Thomas Willis, der mit der Bezeichnung „Reflex“ in der Tat einen zentripetalen mit einem zentrifugalen Bewegungsfluss zusammendachte. In seinem ursprünglichen Kontext war das Konzept des Reflexes aufgeladen von der Überzeugung, dass ein Reflex genau dann zu Stande kommt, wenn sich die in den Nerven zirkulierende Vitalenergie (spiritus animalis) in einer chemischen Reaktion freisetzt und dadurch die Kontraktion des Muskels bewirkt229. Für diese nach den Modellen der Ausstrahlung und Entladung gedachte These hatte die cartesianische Physiologie, die sich strikt an den Rahmen der Mechanik hält, keinen Platz230. Bei Willis sind wir wirklich mit dem Begriff, nicht nur, wie bei Descartes, mit dem Wort des Reflexes konfrontiert, weil die Wendung motus reflexus bei Willis in nuce ein „klar gesetzte[s] Prinzip“ (Canguilhem 2008, 87) in sich bündelt, um die Lebenserscheinungen erfassen zu können23. Bei Descartes hingegen ist der Reflex nur ein Wort (unter vielen), an dem sich eine schon fest stehende, an die Dinge heran getragene Theorie illustrieren soll. Wenn Canguilhem damit in gewisser Weise den Begriff als einen verdichteten Zugang zu den Phänomenen gegenüber allen Theorien autonomisiert, denen er historisch später einverleibt wird232, so unterstreicht er mit besonderem Nachdruck 228 229 230

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Dazu Canguilhem 2008, 87. Ebd., 8. Siehe ebd., 80: „Nach Descartes werden die Spiritus aus dem Herzen zum Muskel in der Art eines Luftstoßes oder eines Wasserstrahls getrieben, nach Willis pflanzen sie sich vom Hirn zum Muskel wie Wärme oder Licht fort.“ Man kann von hier aus auch der Beschreibung Kevin Thompsons zustimmen, Canguilhem fasse den Begriff auf als „the initial account of a phenomenon that enables scientists to pose the quesion of how to explain it“ (Thompson 2008, 2). Diese Ansicht des Begriffsproblems führt direkt ins Zentrum von Canguilhems epistemologischem Projekt, das sich, wie Thompson zu Recht formuliert, nach den „rules immanent within scientific discourse that govern the production of verital statements“ (ebd.) fragt. Dazu Gérard 200, 3.

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den technischen Zug, der die Herauskristallisierung des Begriffs durchzieht: Willis nähert sich den lebendigen Abläufen durch Analogien, die er der Ordnung der Technik entnimmt233. Aber es geht hier nicht, wieder im Unterschied zu Descartes, um eine Ableitung der lebendigen Verhaltens- aus den mechanischen Funktionsweisen. Willis denkt eher in fundamentalen Bildern (Lichtstrahlen, Wärme, Explosivität), die eine Assimilation von technischen Konstruktionen in organische Gebilde nahe legen und so etwas wie gemeinsame Prinzipien für diese beiden Bereiche ins Spiel bringen. In Canguilhems „Dezentrierung des Begriffs gegenüber sich selbst“ (Schmidgen 2008d, 9) ist ja gerade der strittige Punkt im Verhältnis zu Bachelard zu sehen: Die Ausarbeitung eines wissenschaftlichen Konzepts hat keineswegs rein diskontinuierlichen Charakter – sie beruht nicht einseitig auf der Ausgrenzung bildhafter Vorstellungen über die Dinge. Canguilhem fängt die „Überdeterminiertheit“ (Delaporte 200, 297) der Begriffe ein, insofern diese vor Anschauungsgehalten überborden, die nicht auf eine rationale Bestimmung zu beschränken sind (Zelle, Gewebe, Plasma, Reflex). Die Wissenschaftsgeschichte steht somit eher vor einer Dialektik rationaler Präzisierungsmaßnahmen und spontaner Bildhaftigkeit, von Bruch und Kontinuität. Im Grunde zehrt auch diese These Canguilhems noch von einem Motiv, das Goldstein vordenkt, wenn er die biologische Erkenntnisform mit Goethe als „hinnehmend-schöpferischen Akt“ (Goldstein 93, 39) bestimmt, in dessen Zuge sich das „Urbild“ (ebd.) der organischen Phänomene auftut. Was die biologische Erkenntnis zu einer lebendigen macht, ist der Bestand an plastischen Anschauungen, der sich durch alle begrifflichen Konstrukte hindurch differenziert und überliefert23. Aus Plessners Perspektive könnte man an Canguilhems Begriffstheorie nun die Art und Weise hinterfragen, wie hier die Begriffsbildung auf die Dimension der Anschauung oder der Erfahrung hin geöffnet wird. Ist es nicht paradox, wenn der ausdrücklich auf die Formierung der Begriffe konzentrierte Ansatz Canguilhems in ein Modell der Anschauung übergeht? Canguilhem benötigt den Bezug auf phänomenologische Evidenzen, um den Punkt herauspräparieren zu können, an dem die wissenschaftlichen Begriffe (immer schon) ihre lebendige Grundlage empfangen23. Doch so wesentlich der Hinweis auf vorkonzeptuelle Gehalte zum Verständnis der Begriffsgenesen ist, so unklar ist, wie Canguilhem überhaupt zum Problem der „Wesen und Arten der Anschauung“ (Plessner 2003f., 7ff.) steht. In La théorie cellulaire beispielsweise spielt Canguilhem zwar die Phänomenologie negativ gegen die Phänomenotechnik aus236, aber er macht keinen Versuch, 233

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Ebd., 8: „Bei Willis sind die Referenzterme seiner erklärenden Vergleiche zumeist Feuergeräte: Luftfeuerzeug, glühender Spiegel, griechisches Feuer, Kanone und Kanonenpulver (pulvis pyrius, pulvis tormentarius).“ Das wissenschaftliche Wissen hält sozusagen in seinem Unterbewusstsein Verbindung mit den Lebenserscheinungen, nämlich in dem Maße, in dem es den spekulativen Zugang zu ihrer unverbrüchlichen Einheit immer weiter tradiert. Thompson stuft Canguilhems Modell daher als „phenomenology of the concept“ (Thompson 2008) ein, eine Zuschreibung, die mit anderen Akzenten auch auf Foucault und Cavaillès bezogen werden kann. Canguilhem 2009a, 83f.: „Es sind die Augen der Vernunft, die die Lichtwellen sehen, aber es scheint doch so, als wären es die Augen, also Sinnesorgane, die die Zellen in einem Pflanzenquerschnitt identifzieren. Die Zell-

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die Beziehungen dieser beiden Blickrichtungen zu präzisieren. Was bei Canguilhem fehlt und so zu einem systematischen Mangel seiner Position wird, ist eine Hermeneutik, die ein plausibles Band zwischen Sinnesmodi, Modi der Anschauung und Modi der Gegenstandsrepräsentation aufdecken könnte. Ein Organon dieser Art hat Plessner in der Einheit der Sinne entwickelt237. Dort heißt es in einer prägnanten Passage: „Darstellbare Gehalte der antreffenden Anschauung werden schematisch begriffen. Dies ist die Funktion der Wissenschaft. Präzisierbare Gehalte der innewerdenden Anschauung werden syntagmatisch bedeutet. Dies ist die Funktion der Sprache und Schrift. Prägnante Gehalte der erfüllenden Anschauung werden thematisch gedeutet. Dies ist die Funktion der Kunst.“ (Ebd., )

Plessner fragt sich in der Einheit der Sinne nach den Komplementaritäten zwischen der „physische[n] Sinnesorganisation des menschlichen Leibes“ (ebd., 2) zu den „mit ihr gegebenen Sinnesfunktionen“ (ebd.). Zugleich führt er aus, wie die „Wesen und Arten des Verstehens“ (ebd., 3ff.), die auf der Synchronizität von Sinngebung und Sinnesorganen beruhen, mit „Wesen und Arten der Anschauung“ (ebd., 7ff.) verschränkt sind. Diese komplexen Korrelationen hebt er wiederum „an gewissen Leistungen der Kultur“ (ebd., ) hervor, und so erklärt sich das im Zitat aufgestellte Bild dreier Grundrepräsentationen: Die Wissenschaft schematisiert, die Sprache präzisiert, die Kunst thematisiert. Im Lichte dieser „Hermeneutik der Sinne“ (Plessner 980g, 380ff.)238 könnte man sagen, dass Canguilhem, wenn er die Herausarbeitung begrifflicher Figuren aus bildhaften Anschauungen des organischen Lebens beschreibt, zumindest ein Äquivalent für die von Plessner aufgewiesenen Korrelationen bräuchte. Schließt das von Canguilhem intendierte Paradox einer „Dezentrierung des Begriffs gegenüber sich selbst“ (Schmidgen 2008d, 9; s.o.) nicht ein, zwischen mindestens zwei Verknüpfungsformen oder Konfigurationen von Anschauung und Sinngebung unterscheiden zu können? Canguilhem lässt doch augenscheinlich in die begriffliche Schematisierung eine bildhafte Thematisierung eingehen, die aber in ihrem Eigensinn undiskutiert bleibt. Offenbar setzt jedoch die schematisierende Repräsentation eine Einspielung von Anschauung und Sinngebung, von Ausdruck und Hinnahme voraus, die nicht mit der thematisierenden Expression zusammenfällt. Besonders um seine Aufwertung der Technik vor dem Wissen stichhaltig zu machen, müsste Canguilhem die Diversität von Zuordnungen zwischen Sinngehalten und Anschauungsmodi explizieren, und in dieser Diversität wiederum die Akkordanz, die garantiert, dass überhaupt etwas qua Sinnlichkeit aufgefasst werden kann. Bei Canguilhem fehlt eine solche Theorie der Sinngebung (bzw. überhaupt der Sinne), aus der heraus die verschiedenen Zugangsarten – wissenschaftliche Schematisierung, aisthetische Thematisierung, sprachliche Präzisierung – des Menschen zu den Phänomenen einsichtig würden. Canguilhems Ansatz versucht zwar, den begrifflichen Schematismus von Innen

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theorie wäre demnach eine Ansammlung von Beobachtungsprotokollen. Das mikroskopbewehrte Auge sieht die Zusammensetzung des makroskopischen Lebendigen aus Zellen, genauso wie das bloße Auge das makroskopische Lebendige als Bestandteil der Biosphäre sieht. Und dennoch ist das Mikroskop eher die Erweiterung des Verstandes als die Erweiterung des Gesichtssinns.“ Hans-Ulrich Lessing spricht etwas emphatisch von einer „Metaphysik der Entsprechung“ (Lessing 2008, ). Siehe auch Lessing 2008, 39ff.

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heraus zu überwinden, aber dieses Außen des Begriffs, das ihn auf die ursprünglichen Züge des Lebendigen bezieht, ist nicht mehr Teil der philosophischen Rekonstruktion239. In den letzten Absätzen wurde ein verfremdender Blick auf Canguilhems sogenanntes Reflexbuch geworfen. Er ging aus von Plessners Schrift über die Einheit der Sinne und brach sich an dem Selbstverständnis, mit dem Canguilhem selbst die begriffstheoretische bzw. begriffshistorische Vorgehensweise praktiziert. Im Rahmen des leitenden Themas war es angezeigt, diese im Reflexbuch erprobte Linie von Canguilhems Denken kritisch mit den Augen Plessners zu mustern. Diese Linie gehört allemal in den Kernbereich von Canguilhems Fassung eines lebendigen Wissens des Lebens, und zwar deshalb, weil sie illustriert, dass sich die Entstehung wissenschaftlicher Konzepte auf einem wiederum lebendigen Hintergrund abspielt20. Aber wie schon thematisiert, zieht die These einer Immanenz des Begriffs im Leben noch weitere, tiefer gehende Kreise in Canguilhems Projekt. Sie wird in seinen späteren Arbeiten immer prinzipieller. Um diese Verschärfung einschätzen zu können, genügt es, die Pointe seines Artikels Le concept et la vie aus dem Jahr 966 wachzurufen: Im Reflexbuch bezog sich die Rede von den „concepts“ noch auf Konstruktionen, die auf der Seite der Biowissenschaften selbst errichtet werden und auch in deren Domäne zu untersuchen sind. Hingegen arbeitet sich Le concept et la vie an dem Problem ab, wie das Bedürfnis des Menschen, sich über sich selbst (bzw. über seine Beschaffenheit und Bedingtheit als Lebewesen) zu informieren, mit den inneren Informationen zusammenhängen könnte, die das Leben selbst zu ordnen scheinen. In dieser Verwendung bezeichnet der Terminus „concept“ folglich nicht länger ein unter den Händen von Forschern geformtes diskursives Konstrukt, das dem Lebendigen gleichsam übergestülpt wird, um Aufschluss über es zu gewinnen2. Vielmehr ist das „concept“ als starker Hinweis auf die Präsenz eines „a priori (…) dans les choses, (…) dans la vie“ (Canguilhem 99b, 36) zu nehmen: Auf eine Art Programm, in dem vorgezeichnet ist, dass der Mensch unablässig daran interessiert sein muss, seine eigene Stellung im Leben zu erkunden und umzudefinieren. 239

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Ironischerweise konvergiert Plessner, was die Feststellung dieser Verengung auf wissenschaftliche Rationalität bei Canguilhem betrifft, ausgerechnet mit Foucault: Auch Foucault hält Canguilhems Konzentration auf die Binnenintentionalität der wissenschaftlichen Diskurse, d.h. auf die produktiven Bedingungen für wissenschaftsinternes Wahr-Sagen, für einseitig. Während aber Plessner die gegen Canguilhem anzumeldende fundamentalere Reflexion in der hermeneutischen Frage nach dem Sinne der Sinne festmacht, zielt Foucault in diesem Punkt auf eine Archäologie der historischen Aprioris, die das Wahr-Sagen (dire vrai) der Diskurse in die tieferen Bedingungen eines Seins-ImWahren (être dans le vrai) überführt. Dazu Thompson 2008, 2ff. Gegen Canguilhems biologisches (evolutionistisches) Verständnis von Begriffsgeschichte stellt Yvonne Wübben die Behauptung, „dass Begriffe nicht emergieren, existieren oder migrieren, sondern nur deshalb in der Zeit sind, weil Menschen, denen sie bedeuten, in der Zeit sind“ (Wübben 2008, 20). Diesen anthropologischen Tenor kann man mit Plessner nur verstärken. In der Tat könnte man mit Plessner weiter ausbauen, was Wübben in ihrer anthropologischen Argumentation gegen Canguilhem einwendet (ebd., 202): „Begriffe selbst haben kein Leben. Auch wissenschaftliche Begriffe nicht. Sie sind nur deshalb in der Zeit, weil wir ihre Geschichten erzählen und sie unsere Geschichten sind.“ Wenn man von einem solchen Verhältnis zwischen Leben und (nominalistischem) Begriff ausgeht, fungiert die Begriffsbildung als „tactique de conquête du milieu extérieur (…), due à la nécessaire résolution des tensions extérieures“ (LeBlanc 2002, 27).

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Man gerät mit diesem Gedanken an einen für die gesamte Interpretation neuralgischen Punkt. Denn einmal mehr lässt sich nun nachvollziehen, dass Canguilhem und Plessner philosophisch in getrennte Richtungen aufbrechen, die sie letztlich an diametral entgegengesetzte Pole führen. Nichts kann diese Polarität besser dokumentieren als der Schritt, durch den Canguilhem die Perspektive auf das Subjekt mit einer Orientierung an Strukturen verklammert22: Canguilhem unterlegt eine erste Bewegung seiner Theorie, die von dem Thema der Erkenntnis des Lebendigen getragen wird und mit dem Gedanken der Normsetzung in ein neues Verständnis von Subjektivität mündet, durch eine zweite Bewegung, welche die Position des Subjekts nun ihrerseits auf ein anonymes Spiel von Strukturen auflöst. Für eine solche Weichenstellung, die eine „radikal antihermeneutische Erkenntnistheorie“ (Sarasin 2008, 72) und ein entsprechendes Bild von der Relation des Menschen zum Organischen anbahnt, findet sich bei Plessner wahrlich kein Äquivalent mehr: Die Schere zwischen den Denkweisen Canguilhems und Plessners geht an diesem Punkt aufs Äußerste auseinander. Die zentrale Angelegenheit, in der Plessner Canguilhem widersprechen würde, betrifft freilich die Hypothese, die Canguilhem dem molekularbiologischen Forschungsstand der 90er Jahre abgewinnt: Dass nämlich der Mensch in letzter Konsequenz nichts anderes sei als der sich laufend selbst in Frage stellende Effekt einer Informationsverteilung, die immer schon die Gefahr eines „Formfehler[s]“ (Canguilhem 97, 9), d.h. die Möglichkeit des Auftauchens von Irrtümern mit sich bringt. Bevor man den Status des Menschen anspricht, empfiehlt es sich jedoch, wenigstens flüchtig einige andere Aspekte von Canguilhems Argumentation von Plessner her zu inspizieren. Ohne Zweifel besteht die Strategie von Canguilhems Artikel Le concept et la vie darin, die (damals) kontemporäre biologische Forschung23 so anzusehen, dass sie die ihr korrelierende philosophische Reflexion auf ihren Erkenntnisgegenstand, das Leben selbst, zur Sprache bringt2. In Bezug auf diesen Kunstgriff ähnelt Le concept et la vie vielen von Canguilhems epistemologischen Studien. Mehrheitlich arbeiten diese mit dem Verfahren der Rekurrenz, d.h. ihr Ausgangspunkt ist die gegenwärtige Lage einer Wissenschaft, die alsdann mit ihrer Gewordenheit, mit den normativen Setzungen, die ihre Geschichte bestimmt haben, konfrontiert wird. Gleichzeitig differiert Canguilhems Einschätzung des genetischen Codes jedoch auch von seiner Präsentation etwa der Geschichte des Begriffs der Regulation oder des Reflexes: Während Canguilhem für diese Konzepte aufzeigt, dass sie zu einem historisch exakt markierbaren Zeitpunkt Einzug in 22

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Zu dieser Klammer siehe Worms 2009, 36. Worms beschreibt so etwas wie eine Tieferlegung der Begründungsperspektive bei Canguilhem, wenn er von der Einführung des „pathos dans le logos lui-même“ (ebd., Hervorhebung i.O.) spricht. Ähnlich LeBlanc 2002, 26ff. Historisch gesehen ist Le concept et la vie in der Tat ein Text am Puls des damals brandaktuellen Forschungsstands. Watson und Crick hatten ja 93 vorläufig nichts anderes als eine dreidimensionale Repräsentation der Molekülstruktur vorgelegt. Die umfassende biochemische Klärung des genetischen Codes gelang jedoch erst in einem von 96 bis 966 laufenden Forschungsprozess, in dem Marshall Nirenberg und Heinrich Matthaei den exakten Verlauf der Translation der messengerRNA experimentell nachvollziehen konnten. 966 erschien auch Canguilhems Le concept et la vie. Siehe Canguilhem 99b, 36: „La biologie contemporaine, lue d’une certaine manière, est, en quelque façon, une philosophie de la vie.“

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eine spezifisch biologische Sicht der Dinge gehalten haben – also eben nicht, wie selbstverständlich, „immer schon“ mit der Frage nach dem Lebendigen verknüpft waren –, sieht Canguilhem in der Entschlüsselung der DNA-Doppelhelix so etwas wie die definitive Bestätigung für die These, dass sich das Leben selbst in einer „Art Sprache“ (ebd.) organisiert. Canguilhem elaboriert in diesem Text nicht, unter welchen Umständen der Begriff der Information in eine genuin biologische Betrachtungsweise aufgenommen und damit allererst dem Lebendigen oktroyiert wurde. Vielmehr ist sein Ziel von Anfang an, die Behauptung einer Präsenz des Begriffs im Leben vorzutragen, die Annahme einer Inkommensurabilität des Lebens für den Begriff dagegen zu verwerfen: Aristoteles und Hegel erhalten den Vorzug vor Kant und Bergson. Weil für Canguilhem nichts Geringeres auf dem Spiel steht als eine philosophische Metamorphose, die ihn insbesondere von den durch Bergson und Nietzsche in sein früheres Werk eingebrannten Spuren befreien soll, gibt er seinem Verfahren – bei aller Ausrichtung an historischen Konstellationen – einen ontologischen Dreh. Zunächst einmal würde Plessner wohl gegen diese ontologische Verschiebung Protest einlegen. Man könnte sie wie folgt kritisieren bzw. in einem ersten Schritt paraphrasieren: Anders als in seinen epistemologischen Aufsätzen zum Reflex- oder Regulationsbegriff operiert Canguilhem, wenn er das Problem der genetischen Information betrachtet, nicht mit und in der Spannung zwischen einer vertikalen und einer horizontalen Dynamik. Selbst wenn Canguilhem eine solche Differenz zweier Rhythmen gar nicht explizit ausgewiesen hat, könnte man doch ihr stillschweigendes Vorkommen in vielen seiner epistemologischen Rekonstruktionen anzeigen: Die Herausbildung eines wissenschaftlichen Begriffs scheint doch von Canguilhem als ein Geschehen betrachtet zu werden, das „à la fois à la perspective sociale de l’homme et à la perspective biologique du vivant humain“ (Le Blanc 2002, 27) zuzurechnen ist2. Für diese (von Canguilhem selbst freilich so nicht artikulierte) Intuition, wonach sich das Entstehen von Begriffen im Horizont von Personen26 abspielt, ist aber kein Platz mehr, wo Canguilhem, gleichsam auf einer Metaebene, nach dem Begriff des Begriffs „im Leben“ fragt27. Aus Canguilhems Reflexbuch also hätte Plessner noch eine Stoßrichtung entnehmen können, die Canguilhem und er in etwa teilen: Nämlich dann, wenn man die von Canguilhem rekonstruierten Kämp2

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Diese Unterscheidung korrespondiert natürlich nicht punktgenau mit Plessners Opposition der horizontalen und der vertikalen Linie anthropologischer Vergleiche (Plessner 97, 32). Sie stellt aber zumindest ein ungefähres Äquivalent für eine solche Distinktion dar. Plessner hat eine anthropologische Analyse vor Augen, die der radikalen Heterogenität des menschlichen Wesens zwischen natürlicher und kulturell-geschichtlicher Bestimmung gerecht wird. In Canguilhems Fall könnte man sich mit den Stichworten des Vertikalen und des Horizontalen eher auf eine gewisse perspektivische Kreuzung beziehen, die notwendig ist, um das Problem der Wissenschaft erfassen zu können: Wissenschaft ist zum einen eine durch und durch kulturelle Praxis, ein Ensemble, das von sozialen Normen durchdrungen ist; zum anderen bildet sie aber auch eine vitale Praxis, die eine biologische Perspektive erfordert. Siehe LeBlanc 2002, 26f. Siehe hierzu abermals Wübben 2008, 20f. Dazu Foucault 988, 68: „G. Canguilhem sucht durch die Erhellung des Wissens über das Leben und der Begriffe, die dieses Wissen gliedern, herauszufinden, wie es um den Begriff im Leben steht.“ [Hervorhebung i.O., T. E.]

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fe um die begriffliche Deutung des Lebens als Praktiken von Personen liest28. Diese Praktiken zeichnen sich durch das Ringen um die immer „nur“ provisorische Bestimmung eines Gegenstands aus, der im Ganzen unbestimmbar bleibt. In seiner auf die Begriffe konzentrierten Epistemologie denkt Canguilhem auf seine eigene Weise den auch für Plessner so wichtigen Punkt, dass es kein überzeitliches Wesen des Menschen gibt, welches Gegenstand der Humanwissenschaften sein könnte. Vielmehr produzieren die Humanwissenschaften fortlaufend neue, sich verschiebende Aufteilungen zwischen dem, was menschliches Leben im Unterschied zu nicht-menschlichem Leben oder Unbelebtem sein soll29. Während diese Ader einer genetischen Epistemologie bei Canguilhem von Plessner noch durchaus begrüßt werden könnte, sieht es mit der starken These, die in Texten wie Le concept et la vie oder den Neuen Überlegungen zum Normalen und zum Pathologischen vertreten wird, schon anders aus. Wenn Canguilhem die konstitutiv unbestimmte Position des Menschen, die er unter biologischem Gesichtspunkt beschreibt, auf „falsch sitzende Falte[n]“ (Canguilhem 97, 93) im genetischen Programm zurückführt: Verliert er dann nicht genau jenen kritischen Unterschied, den er in seinem Buch von 93 über Das Normale und das Pathologische gegen die positivistische Physiologie aufbaut, nämlich die Differenz von Tatsachen und Werten, aus den Augen? Selbst angenommen, dass Canguilhem hier keine direkte kausale Abhängigkeit von kognitiven Leistungen und genetischen Mechanismen postulieren will, so stellt sich noch immer die Frage, was genau Canguilhem meint, wenn er den Menschen als „informé héréditairement“ (Canguilhem 99b, 36) ansieht, also „irgendwie als das Resultat der Möglichkeiten der Variation jener beim Kopieren und Neukombinieren fehleranfälligen Codes“ (Sarasin 2008, 7; Hervorhebung von mir, T. E.)20. Eine solche Beschreibung handelt sich zumindest den Verdacht ein, die vitale Dynamik, an welcher der Mensch partizipiert, materiell fundieren 28

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Insofern bringt Canguilhem nicht bloß die philosophischen Präsuppositionen zum Vorschein, die in der jeweils aktuellen Praxis der Forschung wirksam sind. Er fragt auch ganz dezidiert nach den durchschlagenden Konsequenzen, die eine Forschungsentwicklung für die Kultur hat, in die sie eingebettet ist. Wie fruchtbar eine solche Perspektive auf die Humanwissenschaften sein kann, zeigen die Beiträge in dem Sammelband von Vienne/Brandt 2008. Keiner der Texte dieses Bandes greift auf die Philosophische Anthropologie zurück, während Einflüsse von Bachelard oder Foucault zu verzeichnen sind. Die Autoren lassen ein Problembewusstsein erkennen, das es durchaus nahe legen würde, zu Plessner überzugehen. Siehe folgende Bemerkung von Florence Vienne und Christina Brandt aus der Einleitung (ebd., 9f.): „Bei aller Verschiedenheit der untersuchten Praktiken richtet sich unser gemeinsames Interesse auf die Entstehung neuer, auf den Menschen bezogener Wissensformen und -objekte. Was war es, was man über den Menschen im 20. Jahrhundert erfahren wollte? Wie wurde eine bestimmte Auffassung des Humanen erst durch spezifische Forschungs-und Wissenspraktiken konstituiert? Welche Resonanzen zwischen wissenschaftlichen Konzeptionen des Menschen und Alltagspraktiken finden sich in dieser Zeit? Welche Auswirkungen hatten Entwicklungen in den Lebenswissenschaften auf das kulturelle Selbstverständnis des Menschen, und umgekehrt: Wie haben bestimmte Vorstellungen vom Menschen die Forschung beeinflusst? Es geht also nicht zuletzt um die Frage, inwiefern die Entstehung neuer Praktiken unser Wissen vom Menschen im 20. Jahrhundert nicht nur erweitert, sondern auch unsere Auffassung dessen, was der Mensch ist, auf grundlegende Weise verändert hat.“ Was sich hinter diesem „Irgendwie“ verbirgt, müsste ja genau geklärt werden.

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zu wollen, und das von Canguilhem selbst evozierte Stichwort eines „a priori proprement matériel et non plus seulement formel“ (Canguilhem 99b, 362; Hervorhebung i.O., T. E.) tut sein Übriges, um diesen Eindruck zu erhärten. Nun scheint Canguilhem zwar mit der Figur des Irrtums einen genetischen Determinismus gerade aus den Angeln heben zu wollen. Etwa so: Vielleicht können wir aus der Molekularbiologie tatsächlich lernen, dass es für das Selbstmissverhältnis, in dem menschliche Lebewesen zu sich stehen, ein fundamentum in re gibt. Aber dieses Fundament legt nur fest, dass der Mensch nicht festzulegen ist. Bereits in der materiellen Programmierung passiert jene Entgleisung, die den Menschen zu einem Wesen macht, das sich seiner selbst nie gewiss sein kann. Ganz gleich jedoch, ob man aus Canguilhems Ausführungen zum genetischen Code einen biologischen Determinismus heraus hört2 oder nicht: Sicher ist, dass Plessner die Gesamttendenz von Canguilhems Gedankengang zurückweisen muss. Denn zumindest die Tendenz der von Canguilhem skizzierten Einschreibung des Begriffs vom Leben in das Leben geht dahin, einen „Generalnenner“ (Mitscherlich 2007, ff.) zu isolieren, eine letzte Wirklichkeit, in der sich „das Leben“ selber repräsentiert und an der jedes Verständnis menschlichen Verhaltens letztlich aufzuhängen ist. In Plessners Nachtrag zu der 96 besorgten zweiten Auflage der Stufen finden sich die wahrscheinlichsten Anhaltspunkte zu einer Kritik, die Plessner gegen eine derartige Wendung hätte vorbringen können22. Schaut man auf dieses Postskriptum, könnte man Canguilhem mit Plessner etwa Folgendes entgegnen: Der genetische Code kann (ebenso wenig wie z.B. das Phänomen der Viren; dazu Plessner 97, 37ff.) nicht als ultimativer materieller Grund gelten, auf den hin sich die lebendigen Prozesse auflösen lassen. Es handelt sich keineswegs, wie Canguilhem schreibt, um den „Schlüssel“ (Canguilhem 97b, 9), durch den sich der Mensch als voll und ganz „informierte Information“ (ebd.) durchsichtig zu werden vermag. Eher verweist der DNA-Code darauf, dass die Grundsituation des Lebendigen eine expressive Situation ist: Eine Lage, in der sich das Lebewesen im Ganzen zu seiner Grenze verhält und insofern „neue Qualitäten schafft, zu denen das ursprüngliche pattern nicht ganz passt“ (Plessner 97, 39). Auch für Canguilhem ist das Lebendige, seinen späten Texten zufolge, „Ausdruck“, allerdings im Sinne einer passiven Manifestation der ihm immanenten, in sich dynamischen, unvordenklichen Schrift des Lebens selbst. Plessner argumentiert, verglichen damit, umgekehrt: Die Ebene der genetischen Information spielt nur innerhalb eines umfassenderen Kontexts, in dem sie selbst dem Einfluss 2

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Wie schon dargestellt, hat gerade Dominique Lecourt in Canguilhems Auffassung des Lebendigen eine solche deterministische Schließung gesehen (Lecourt 97, 7). Anstatt, wie Canguilhem, „allzu leicht in das aristotelische Lager“ (ebd.) einzukehren, müsse man eine „Dialektik der Natur“ (ebd.) erarbeiten, die das Verhältnis der lebendigen Phänomene zu den Begriffen, mit denen man sie identifiziert, immer neu in die Schwebe bringt. Eine solche philosophische Lösung würde Canguilhem selbst allerdings fern liegen. Es ist interessant, dass Plessner fast zeitgleich zu Canguilhem, d.h. Mitte der 960er Jahre, die damals akuten Diskussionen innerhalb der Biologie aufgreift und in einen Zusammenhang zu seinem eigenen philosophischen Denkgebäude stellt. Canguilhem und Plessner haben offenbar unabhängig voneinander, und mit ganz ungleichartigen Resultaten, die Notwendigkeit gesehen, ihre seit jeher an der Biologie orientierten Philosophien noch einmal neu, nämlich an den aktuellsten Forschungsständen, zu messen. Dies mag sowohl für die Situation der Biologie als auch der philosophischen Auseinandersetzung mit der Biologie in dieser Zeit symptomatisch gewesen sein.

Dritter Akt: Lebendiges Wissen des Lebens

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des ganzen Lebewesens ausgesetzt ist, eine Rolle 23. Dieser Kontext ist das Ausdrucksverhalten des Lebendigen. Und muss man nicht allein schon auf biologischer Ebene die Erklärungskraft der DNA relativieren? Besteht nicht der ganze Einsatz der Epigenetik in der Hypothese, dass schon die Transkription und Translation der Gene unter Mechanismen statt finden, die nicht durch die abgelesene DNA-Sequenz selbst determiniert werden? So gesehen, überschätzt Canguilhem schon nach empirischen Maßstäben die Relevanz des sogenannten „genetischen Codes“ über Gebühr2. Aber Plessner würde mit dem Stichwort des Ausdrucks wohl gar nicht so sehr auf einen empirischen Konter gegen Canguilhems Überschätzung der DNA-Problematik zielen. Primär geht es Plessner nicht um das Argument, keine einzelne biologische Größe könne hinreichen, eine Gesamterklärung von „Leben“ zu liefern, weil sie mit anderen Erklärungsgrößen vernetzt ist. Plessner setzt keineswegs die unendliche Pluralität von Faktoren an die Stelle des einen, alles entscheidenden Faktors2. Viel wichtiger ist, dass nach Plessners Ansicht jede vermeintlich letzte Instanz, die von der Biologie als Fundament von Leben schlechthin reklamiert werden kann, selbst wieder in eine fundamentalere Begegnung mit dem ganzen Lebewesen einzubetten ist26: Ganz gleich, worin das materiale Apriori, dem das Lebendige nun eigentlich gehorchen soll, bestehen mag – es ist und bleibt ein Moment, zu dem sich das Lebendige spontan verhält und dem gegenüber es sich artikuliert. Canguilhem denkt die prekäre Struktur menschlichen Verhaltens folglich mit der Verformung eines materiellen Grundes im Menschen zusammen, mit einer Inschrift, die von Anfang an „schlechte Lesarten“ (Canguilhem 97, 9) in sich trägt. Damit stilisiert er das Leben im Ganzen zu einer „Versöhnungssphäre“ (Mitscherlich 2007, 6): Wenn die Position des Menschen, wie Canguilhem schreibt, eine „irrtümliche“ ist, so ist hier von Irrtum doch nicht im dem Sinne die Rede, in dem Plessner davon spricht, dass die Person 23

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Deshalb spricht Andreas Weber zu Recht davon, „dass der reale Körper notwendiges Komplement des Genoms ist. Ohne Körper wären die Gene sinnlos, da sie sich nicht ‚exprimieren‘ könnten. Um wirklich zu werden, braucht der binäre Code den somatischen Ausdruck“ (Weber 2003, 3). Plessner ist in Webers Arbeit ein wesentlicher Pfeiler, auch wenn es Weber nicht gelingt, Plessners anthropologische Orientierung (im Kontrast zu einer rein biophilosophischen) aufzudecken. In der Tat war und ist die Plausibilität der Metaphern der „Schrift“, des „Textes“, der „Grammatik“ etc., bezogen auf den molekularen Aufbau der DNA, unter Biologen selbst hochgradig umstritten. Das schließt dann natürlich auch die alltagssprachlich so vertraute Rede von „abgelesenen“ Erbinformationen etc. ein. Dazu Brandt 200, 8ff. Zweifellos springt Canguilhem mit seinen Formulierungen in den Neuen Überlegungen zum Normalen und zum Pathologischen auf einen gewissen Trend an, die DNA als eine Ordnung vom Typus der Schrift zu interpretieren. Hier ließe sich freilich die Brücke zu Derrida schlagen. In diese Richtung würde vielleicht eher die Lösung des von Plessner im Nachtrag zu den Stufen (Plessner 97, 39) evozierten Wolfhard Weidel gehen. Weidel (96–96) wirkte ab 96 als Direktor des Max-Planck-Instituts für Biologie in Tübingen. In seinem Hauptwerk Virus und Molekularbiologie: eine elementare Einführung (Weidel 97/96) entwirft er die Idee „mehrstufiger Zyklen“ (ebd., 6), d.h. eines zeitlichen Zusammenspielens unterschiedlicher chemischer Faktoren, die nur gemeinsam die Spezifität von Leben konstituieren. Die Erwähnung Weidels, der außerhalb der Fachgrenzen der Virologie eher wenig rezipiert wurde, im Nachtrag der Stufen von 96 unterstreicht, dass Plessner selbst Spezialgebiete der innerbiologischen Diskussion des 20. Jahrhunderts vor Augen hatte. Für wertvolle Hinweise zu Plessners möglicher Einschätzung der Schlüsse, die Canguilhem in Le concept et la vie zieht, möchte ich an dieser Stelle Björn Sydow herzlich danken.

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sich in einem ursprünglichen Chiasmus, in einem Intervall zwischen ihrem Körper und ihrem Leib bewegt, zwischen denen sie eine Balance erst herzustellen hat. Im Gegenteil, Canguilhem nimmt die spektakuläre Unbestimmtheit des Menschen in dem Maße in die vermeintliche Einheit des Lebens zurück27, in dem er die conditio humana in Verbindung zu den vorprogrammierten Defekten des genetischen Codes bringt. Damit ist eine drastische Differenz zwischen den Verständnisweisen getroffen, die Plessner und Canguilhem von der Struktur eines lebendigen Wissens des Lebens haben: Bei Canguilhem gibt es in der Tat so etwas wie eine Einschreibung des Begreifens von Leben in das Leben28. Der Biologe gehört dem, was er erfasst und beschreibt, selbst so zu, dass er die von ihm beschriebene Verfassung auch an sich selbst herausbringen muss29. Canguilhems Modell ist auf diesem Weg ebenso zirkulär wie die Ansätze Bergsons oder Diltheys, von denen Plessner in Die Frage nach der Conditio humana zeigt, dass sich beide der „Pointe“ (Plessner 2003b, 9) nach in der gleichen Formel: „Leben versteht Leben“ treffen. Aber der Mensch – so könnte Plessners entschiedene Gegenthese zu Canguilhem lauten – ist nicht Teil eines Zirkels, der garantiert, dass Leben Leben versteht. Vielmehr zeigt der Vollzug des Selbstverstehens des Menschen, was diesen Vollzug überhaupt ermöglicht: Nämlich gerade die Nichtkoinzidenz mit dem Leben, der Bruch zwischen Natur und Geschichte, sein prinzipiell nicht-zirkuläres Wesen. Ein letzter Punkt ist anzufügen. Er betrifft unmittelbar den systematischen Anspruch, den Canguilhem an seine epistemologische Konzeption knüpft. Immerhin könnte man sagen: Eine besondere Stärke von Plessners spezifischer Umsetzung eines lebendigen Wissens des Lebens, die unlösbar an die Struktur einer exzentrischen Positionalität und an die Kontexte von Personen gekoppelt ist, besteht darin, die Zerbrechlichkeit unseres Wissens über das Leben nachvollziehbar zu machen. Man kann nicht ein für alle Mal von der Fortdauer dieses Wissens, von seiner ewigen Deckung durch die Ordnung des Lebens selbst ausgehen. Vielmehr können Wissensformen in Anbetracht der Vulnerabilität von Personen und ihrer Kulturen erlöschen; sie können im Wandel der Geschichte absterben. So gewendet, kann man sich ein noch nicht oder nicht mehr lebendiges Wissen vom Leben ebenso vorstellen wie eine Form von Lebendigkeit, die im Modus des Wissens überhaupt nicht erfasst zu werden vermag. Denkt man also die Relation eines lebendigen Wissens des Lebens von Plessner her, so muss es darum gehen, Negationen präzisieren zu können, die in jener Relation bereits mit ausgetragen werden. Es laufen daher bei Plessner, wie stillschweigend auch immer, ethische Fragen mit: Was wäre, wenn sich all 27

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Die Adepten Canguilhems sind zumeist nachdrücklich der Auffassung, Canguilhems Standpunkt „conduisait nullement (…) à une ‚animalisation‘ de l’homme“ (Lebrun 993, 208). Genau dieser Einwand gegen seine Konzeption zeichnet sich aber ab, wenn man das von Plessner herauspräparierte Problem bzw. die Kategorie der Person im Hinterkopf hat. Siehe ebd.: „Grâce à Georges Canguilhem, on s’apercevait qu’une pensée philosophique n’était nullement triviale parce qu’elle partait du principe que la connaissance est un produit ou – qui sait ? – un accident de la vie.“ Siehe Worms 2009, 362 bzw. 366. Eine ganz ähnliche Beschreibung findet sich bei Foucault 988, 67: „Der Biologe hat zu erfassen, was aus dem Leben einen spezifischen Gegenstand der Erkenntnis macht, und somit auch, was dazu führt, dass es unter den Lebenden, weil sie Lebende sind, Wesen gibt, die erkennen können und letzten Endes das Leben selbst erkennen können.“

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jene Verschränkungen, die sich, den Stufen zufolge, im Bereich des Lebendigen abspielen, nicht vollziehen würden? Könnten wir auch dann noch etwas über das Leben wissen, wenn wir uns nicht länger auf die Hypothese stützen würden, dass lebendige Dinge ihre Grenze realisieren? Welche alternativen Unterscheidungen würden wir brauchen, wenn wir den Grenzgedanken verwerfen, und welche Mensch-Tier-Differenz, um nur ein Beispiel zu nehmen, ergäbe sich aus neuen Kategorien zur Beschreibung des Lebendigen? Von Canguilhems Theorie gewinnt man den Eindruck, dass sie auf der einen Seite zwar auch, wie Plessners Philosophische Anthropologie, die Möglichkeit neuer Bewertungen des Lebens aufreißt. Das Leben kann künftig in einer Weise Gegenstand von Erfahrung werden, von der wir uns heute noch keinen Begriff zu machen vermögen. Auf der anderen Seite jedoch führt Canguilhem diese Plastizität, diese nicht festzulegende Radikalität der menschlichen Position eng mit einer ursprünglichen Abweichung, die das Leben sich selbst gegenüber begeht. Der Mensch ist von Irrtümern umstellt, aber er repräsentiert in dieser Situation nichts anderes als eine spezifische Ausbuchstabierung der Sprache des Lebens. Wenn man nun so argumentiert, sagt man dann nicht, dass der Mensch das Leben letztlich nie restlos aus den Augen verlieren kann, wie immer er sich auch zu ihm verhält? Ist die Crux von Canguilhems exemplarischem Aufsatz über Descartes nicht darin auszumachen, dass eine Perspektive, die für das Wesen des Lebens blind ist, selbst noch in die Sphäre des Lebens fällt und damit gerade das voraussetzt, was sie negiert260? Wenn es aber unmöglich ist, sich wirklich in ein Außen des Lebens zu stellen, büßen die personalen Beziehungsgeflechte, in denen Lebendigkeit allererst zu-und aberkannt wird, letztlich ihre Schärfe und ihre Bedeutung ein: Auch die Entwertung des Lebens wird von Canguilhem als Wertung und somit als Grundäußerung von Lebendigkeit schlechthin interpretiert. In diesem emphatischen Modell, das „an sich und a priori keine ontologische Differenz zwischen gelungenen und verfehlten Gebilden des Lebens“ (Canguilhem 97, 2) kennt, ist das Leben ein Gegenstand, der jedem Blick, den man auf ihn wirft, ohnehin schon innewohnt. Während Canguilhem die Negationen, die sich gegen das Leben selbst zu kehren scheinen, als Intensitäten beschreibt, die innerhalb des Lebens liegen, hebt Plessner auf den möglichen Fall ab, dass sich das Leben – nämlich das Leben von Personen – voll und ganz entgleiten, dass es wirklich verunglücken kann. Gegenüber Canguilhem würde Plessner daher gewiss die Tonart modifizieren, in der über das Problem des Pathologischen zu reden ist: Es genügt nicht, Pathologien schlicht als Amplituden zu bestimmen, die eben noch im Leben möglich sind. Sie verweisen vielmehr auf die für Personen charakteristischen Intervalle, in denen sich das Leben gerade nicht mehr weiter vollziehen lässt, sondern hinter sich eine ursprüngliche Leere oder Differenz freigibt, die es Personen allererst gestattet, ihr Leben (so oder auch anders) führen zu können. Das nächste Kapitel setzt den letzten Stein in das Mosaik, das im Hauptteil dieser Untersuchung auszuarbeiten ist. Was könnte Canguilhem bzw. was können wir, wenn wir uns fiktiverweise auf den Standpunkt seiner Texte stellen, zu jenem Übergang sagen, 260

Descartes muss die Teleologie, nachdem er sie aus der Ordnung der Natur verbannt, auf der Ebene der Schöpfung wiedereinführen. Wenn die durch Gott eingerichtete Natur auch durch und durch mechanisch funktioniert, so geht aus der Funktionalität der Konstruktion noch keineswegs hervor, welchen Sinn die Konstruktion insgesamt erfüllt. Gott nimmt an etwas anderem als der Maschine Maß, wenn er dafür sorgt, dass die Natur wie eine Maschine funktioniert. Siehe Canguilhem 2006a.

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durch den bei Plessner das Wissen vom Leben seinerseits als Verhalten von lebendigen Subjekten – und zwar von Personen – entschlüsselt wird?

b. Canguilhem liest Plessner: Die Antinomie der Absolutheiten und die Pathologie der Person Zur Einstimmung auf die Serie von Überlegungen, die nun zum Zuge kommen sollen, seien zwei strategische Punkte, die bereits touchiert wurden, noch einmal vor Augen gestellt. Der erste strategische Punkt war im Denkgebäude Canguilhems lokalisiert und bezeichnete dort eine wesentliche strukturelle Wende: Wenn sich nämlich für Canguilhem die Rückbezüglichkeit der Erkenntnis vom Leben auf das Leben an Hand von begrifflichen Anordnungen expliziert, so enthält diese These nicht nur ein positives Votum – für eine auf das Werden von Begriffen fokussierte Wissenschaftsgeschichte –, sondern auch einen negativen Entschluss. Die methodische Hinwendung zu den begrifflichen Prozessen, in denen Lebendiges erfasst wird oder sogar sich selbst organisiert, ist zugleich eine Abkehr, und zwar von dem Modell, das mit den Spannungen zwischen einem Organismus und seiner Umwelt argumentiert. In gewisser Weise verlassen Plessner und Canguilhem das Uexküllsche Schema an entgegengesetzten Ausgängen: Plessner beharrt darauf, dass Personen gerade nicht, wie zentrische Organismen, auf die in ihrer Umwelt biologisch bedeutsamen Momente fixiert sind. Vielmehr sind die Bezüge, in denen eine Person zu ihrer Umwelt steht, immer schon auf „einem zumindest latent gegenwärtigen Hintergrund von Welt“ (Plessner 2003b, 8) gezeichnet. Während Plessner für den Fall von Personen eine besondere Perspektive reklamiert, die nicht auf die subjektiv getönte Umwelt (das Milieu), sondern auf die Unbestimmbarkeit von Welt durchsichtig ist, experimentiert Canguilhem mit einer Perspektive, die keinem lebendigen Subjekt, menschlich oder nicht-menschlich, mehr zugewiesen werden kann26. Er betreibt eine „exérèse de point de vue“ (Schwartz 993, 306), eine rigorose Entnahme der Teilnehmer-und Beobachterperspektive aus der Frage nach dem Leben262, deren „puissance désubjectivante“ (ebd.) deutlich ist. Der „biologische Strukturalismus“ (Schmidgen), den Canguilhem in den 960er Jahre proklamiert, durchstößt also Uexkülls Konzeption an einem Ende, das diametral dem Pol entgegen gesetzt ist, an dem Plessner seinerseits gegen Uexküll anschreibt. Der zweite strategische Nexus, an den hier erinnert werden soll, betrifft den doppelten Status, den in Plessners Denkrahmen der Begriff der Konstitution bekleidet. Anstatt eine idealistische Setzung oder einen phänomenologischen Bewusstseinsvollzug zu implizieren, zielt dieser Term auf die Verfassung, auf die Konstitution, die lebendigen Phänomenen in re zukommt und damit ihren distinktiven Unterschied gegenüber Unbelebtem 26

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Für die biologische Philosophie, die Canguilhem in La connaissance de la vie vertritt, gilt demgegenüber noch folgende Feststellung (siehe Chien 200, ): „Uexküll makes sense to Canguilhem in the way that he equates both the human beings and the animals as active subjects in configuring their milieux.“ [Hervorhebung i.O., T. E.] Man kann sich fragen, inwiefern dieser Aufbruch Canguilhems zu neuen philosophischen Ufern womöglich noch unter dem Eindruck der (indirekt, vermittelt durch Ricœur, von Scheler hergeleiteten) Kritik geschieht, die Mikel Dufrenne an La connaissance de la vie geübt hatte. Siehe Dufrenne 93.

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stiftet263. Wiederholt wurde hier illustriert, dass Plessners „Deduktion“ (Plessner 97, ff.) von „konstitutiven Wesensmerkmalen“ (ebd.,  und passim) des Organischen nicht in der transzendentalen Apperzeption des Erkenntnissubjekts verankert wird, sondern in einer Beschaffenheit, die den Lebenserscheinungen durchaus selbst zuerkannt werden muss. Die Finesse dieser These hängt damit zusammen, dass die Ausstattung, die sich für Lebendiges schlechthin explizieren lässt, selber prozessual, d.h. permanent in der Schwebe ist. Denn das lebendige Ding ist dasjenige Ding, das seine Grenze realisiert; aber dies vermag es nur deshalb, weil es in sich versetzt, d.h. auf sich selbst zurückgewendet ist. So sehr auf diesem Weg also, Plessner zufolge, eine Konstitution aufweisbar wird, die sich auf allen Stufen der lebendigen Natur ausprägt und modifiziert, so sehr erfährt dieses Verständnis eine Veränderung durch die spezifische Figur des Menschen. Hier mischt sich die zweite Bedeutung des Begriffs der Konstitution bei Plessner ein: Wie alle übrigen Gestalten des Lebendigen verhält sich der Mensch konstituierend (grenzrealisierend), aber im Unterschied zu der ganzen Reihe nicht-menschlicher Lebensformen spielt sich das Verhalten des Menschen nicht mehr innerhalb einer fest gefügten, unverlierbaren Konstitution ab. Vielmehr gilt für den Rahmen, in welchem dem Menschen überhaupt Dinge erscheinen können, dass sein „Vorhandensein an einen Vollzug oder eine Setzung gebunden ist“ (ebd., 290). Die „dem Tier trotz organischer Vermittlung gegebene Unmittelbarkeit zerbricht dem Menschen“ (Haucke 2000, 6): Er muss die Form, die alle anderen lebendigen Gebilde spontan grundiert, „je wieder erst künstlich, kognitiv“ (ebd.) einrichten, er muss sie konstituieren. Der Begriff der Konstitution fungiert also als ein elementares Scharnier von Plessners Philosophischer Anthropologie, an dem sich zahlreiche Pointen des gesamten Ansatzes anbahnen. Dies ist umso erwähnenswerter, da Plessner selbst den Terminus „Konstitution“ eher beiläufig und implizit verwendet26. Wozu dient diese Rückschau auf diese beiden Weichenstellungen, einmal auf Seiten Canguilhems, einmal mit Blick auf Plessner? Sie schärft die Aufmerksamkeit für die Streitfrage, die man im Brennpunkt zwischen Canguilhem und Plessner stehen sieht, wenn man erst einmal durchdekliniert hat, was sich beide unter einem lebendigen Wissens des Lebens vorstellen: Diese Streitfrage ist die Frage nach der Position des Menschen. An der Verortung menschlichen Lebens scheiden sich die Geister dieser beiden Denker am Schärfsten. Mit dem Theorem der exzentrischen Positionalität betritt Plessner eine wirklich distinktive, irreduzible Sphäre, deren Eigencharakter sich nicht fassen lässt, wenn man sie aus dem vitalen „Zyklus von Drang und Erfüllung“ (Plessner 2003b, 9) erklärt. Was Plessner fasziniert, ist jener eigenartige „lebensimmanente Umschlag“ (Krüger 2006a, 3; Hervorhebung i.O., T. E.], der eine (als Geist ansprechbare) Dimension aufreißt, die der Mensch zwar „zu durchleben“ (Fischer 2000, 277) hat, selbst aber ganz anderen Prinzipien untersteht als jenen, die die Ordnung des Lebendigen prägen: Eine Dimension des Indirekten, Irrealen, Künstlichen, Konjunktivischen bricht hier auf – und man kommt an sie nicht heran, wenn man sie aus dem „Wechselverband zwischen dem ganzen Organismus und seinem Milieu“ (Plessner 2003c, 209) abzuleiten versucht. 263 26

Siehe Beaufort 2000, der ausgehend von Plessners Vokabel der Konstitution „eine klare Hinwendung zur Lebensphilosophie“ (ebd., ) konstatiert. Dazu Beaufort 2000, . Beaufort begründet diese Diskretion Plessners durch die Bemühung, einer idealistischen Sprache inklusive der sich daran aufhängenden möglichen Missdeutung seiner Philosophie zu entgehen.

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Man muss sich nur etwas näher auf den von Badiou aufgespürten Strang in Canguilhems Reflexionen einlassen, um sich klar machen zu können, wie Canguilhems fiktive Reaktion auf Plessners Theorem der exzentrischen Positionalität wohl ausfallen könnte. Vermutlich erschiene die exzentrische Positionalität als Symptom für jene Konfiguration menschlicher Subjektivität, die Canguilhem einmal als einen „Konflikt der Absolutheiten“ (Badiou 200, 39f.) durchgespielt hat. Badiou stützt sich in seinen Überlegungen auf den Verlauf, den Canguilhems Argumentation in Le vivant et son milieu nimmt. In diesem Text, der sich mit den historischen Fluchtlinien des Konzepts des Milieus auseinandersetzt, deutet Canguilhem in der Tat eine interessante Schlussfolgerung an. Zur Erinnerung: Wenn sich nachzeichnen lässt, dass der Begriff des Milieus etwa bei Newton26 auf ein durchweg mechanistisch konzipiertes Universum bezogen war, um die „Fernwirkung getrennter physischer Körper“ (Canguilhem 2009d, 23) verständlich zu machen, so kann man ermessen, dass der Milieubegriff keineswegs immer schon einen (unausgesprochenen oder unfreiwilligen) biologischen Nukleus hatte266. Der Denkrahmen, in dem der Idee des Milieus erstmals systematische Bedeutung beigelegt wird, handelt von einem „absoluten Universum“ (Badiou 200, 39), in welchem „die lebenden Umwelten keinen Sinn [haben], der es ermöglichen würde, sie einzuteilen oder zu vergleichen“ (ebd.). Das Milieu wird vorgestellt als ein ubiquitärer Raum, der alles Seiende verbindet und zugleich dezentriert, und der insgesamt eine Ordnung konstituiert, die zumindest potenziell eine vollständige Erschließung durch die Physik gestattet. Aber dieser Vision indifferenter Körper, die durch „ein reines Beziehungssystem [système de rapports] ohne jegliche Verankerung [supports]“ (Canguilhem 2009d, 23) relationiert werden, lässt sich in der Historie des Milieubegriffs eine ganz andere Semantik entgegen halten. Canguilhem greift an mehreren Stellen zu der Formel von einer signifikanten „Umkehrung“ (ebd., 2 und passim): Wenn etwa die Humangeographie, die Tierpsychologie oder die Humanpathologie des 20. Jahrhunderts Definitionen des Milieus vortragen, so haben diese nichts mehr gemein mit der Annahme eines intermediären Fluidums, das den Kraftzentren, zwischen denen es sich entfaltet, selber äußerlich bleibt. Vielmehr hält hier die Auffassung Einzug, dass der Begriff des Milieus eine Sphäre bezeichnet, die subjektiv getönt ist, und zwar in Abhängigkeit von den biologischen Bedürfnissen und Potenzialen des jeweils in ihr lebenden Organismus’. Auf breiter Front hat sich, so Canguilhem, eine Biologisierung des Milieuproblems ereignet (Goldstein, Uexküll). Der epistemologisch bedeutsame Vorgang liegt für Canguilhem in der Umpolung der Auffassung, die man von den jeweils auf das Milieu bezogenen Phänomenen hat: Sie werden nicht länger als dezentrierte Körper adressiert, die im Ozean jener Positivität, durch die sie alle miteinander vernetzt sind, keinerlei qualitativen Charakteristika aufweisen. Ganz im Gegenteil, man beschreibt sie nun als in sich zentrierte, organische Totalitäten, die über eine ihnen eigentümliche, auf sie hingeordnete Umwelt verfügen. Sprach das Denksystem der neuzeitlichen Physik von einem „homogenen Raum, in dem 26

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Canguilhem legt allerdings Wert darauf, dass Newton nicht expressis verbis mit der Rede vom „Milieu“, sondern von der des „Fluidums“ operiert. Dennoch findet sich bei Newton, wenn schon nicht der Ausdruck, so doch der „mechanische Begriff“ (Canguilhem 2009d, 23), der dann später – in der Enzyklopädie von Diderot und d’Alembert – mit dem eigentlichen Wort „Milieu“ enggeführt wird. In anderen Texten suggeriert Canguilhem, wie wir sahen, genau diese Lösungsrichtung für das Problem einer connaissance de la vie.

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das Mi-lieu ein Zwischenraum ist“ (ebd., 273), so eröffnet die biologische Optik im Gegenteil einen „qualifizierten Raum, in dem das Mi-lieu ein Zentrum ist“ (ebd.)267. Angenommen, der Mensch kann sich im Universum einer idealen Physik, in einer axiomatischen Welt, in der das Seiende radikal dezentriert ist, eben so gut bewegen wie in einem biologischen Kosmos, der jeden individuellen Organismus als Zentrum einer „Lebensumwelt“ (ebd., 27) setzt: Dann scheint es nicht ausreichend zu sein, das menschliche Wesen auf „einen der Ausdrücke der Diskordanz der Absolutheiten“ (Badiou 200, 39; Hervorhebung i.O., T. E.] aufzulösen. Der Mensch ist fähig, sich selbst und die von ihm erzeugten Systeme ohne jeglichen Bezug auf die Ordnung des Lebens zu positionieren. Eine adäquate Fassung menschlicher Subjektivität muss daher dem Umstand Rechnung tragen, dass sich der Mensch in eine „Gegennatur“ (ebd., 3) projizieren kann, die innerhalb seiner Natur gegen seine Natur spricht. Das epistemologische „Schicksal“ der Biologie etwa macht sich daran fest, die beiden sich gegenseitig völlig ausschließenden Welten, in denen der Mensch sich wiederfinden kann, zu ermöglichen, ohne ihre Versöhnung zu stiften: „Einerseits wiederholt Canguilhem, dass das Lebewesen die Grundbedingung jeder Wissenschaft vom Leben ist. (…) Die vorsubjektive Singularität der Zentrierung bietet sich der Erkenntnis an, weil wir sie teilen. Deshalb widersetzt sich das Lebende, im Unterschied zum Gegenstand der Physik, jeder transzendentalen Konstitution. […] Aber andererseits partizipiert die dem Wissenschaftsideal unterworfene Biologie an einem Bruch mit der Zentrierung und der Singularität der Umwelt. Sie steht in Verbindung mit der ‚Neutralität‘, die die Begriffe der universellen Umwelt beherrscht. Sie ist also auch a-subjektiv. (Ebd., 30)

Hier öffnet sich die Grundlage, auf der Canguilhem selbst so etwas wie die ex-zentrische Konstellation des Menschen zeichnen und sich von jener Struktur, die Plessner als exzentrische Positionalität elaboriert, abheben kann. Demnach erfasst Plessner, was auch Canguilhem beobachtet: Der Mensch kann „weder auf das Lebende noch auf das Wissende reduziert werden“ (ebd., 3). Was man denken muss, das ist das Zwischen oder die „Leere“ (ebd.), von der aus sich überhaupt der Zusammenhang „einer natürlichen Kontinuität mit einer gegennatürlichen Diskontinuität“ (ebd.) einstellen kann. Plessner intoniert mithin – von der Warte Canguilhems aus wahrgenommen – die konstitutive Antinomie des Menschen, „sich von innen her als zentriertes Lebenssubjekt an-und auszufühlen und sich doch im gleichen Augenblick (…) als Körper unter materiellen Körpern marginalisiert, dezentriert, objektiviert vorzufinden – wie ein ‚Stück Vieh‘ (Plessner), wie ein Ding unter Dingen“ (Fischer 2006, 7). Aber man denke von dieser merkwürdigen und bis in sprachliche Nuancen reichenden Komplementarität nun wieder die Divergenz, die Canguilhem auf Abstand zu Plessner gehen lässt. Denn Canguilhem gibt der Exzentrik, die dem Menschen ein „Umbrechen des Blickes“ (Plessner 98b, 83) von der Umwelt zur Welt ermöglicht, eine Plessner geradewegs konterkarierende Deutung: „In diesem Sinne kann sich der Mensch, insofern er lebendig ist, auch nicht dem allgemeinen Gesetz des Lebendigen entziehen. Das dem Menschen eigene Milieu ist die Welt seiner Wahr267

Siehe Muhle 2008, : „[D]er mechanistischen, dezentrierten Weltsicht der Physik [setzt Canguilhem] die zentrierte Weltsicht der Biologie entgegen.“ (ebd.)

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nehmung, das heißt das Feld seiner pragmatischen Erfahrung. Seine Handlungen, welche durch Werte orientiert und reguliert werden, die seinen Neigungen immanent sind, greifen aus diesem Feld geeignete Objekte heraus und bringen diese sowohl zueinander wie auch zu ihm selbst in ein Verhältnis. Das heißt, dass die Umgebung, auf die der Mensch reagieren soll, ursprünglich auf ihn hin und durch ihn zentriert ist. […] Doch als Wissenschaftler konstruiert der Mensch ein Universum von Phänomenen und Gesetzen, das er für ein absolutes Universum hält. […] Diese Funktion des wissenschaftlichen Menschen (…) steht mit dem Milieu des lebendigen Menschen in einem direkten, wenn auch negativen oder reduktiven Verhältnis. Es räumt dem menschlichen Milieu eine Art Privileg gegenüber den Milieus der anderen Lebewesen ein.“ (Canguilhem 2009d, 276f.)

Der Kontrast zu Plessner ist hier ganz schroff: In der Tat existiert ein Zugang zur Welt, der einzig dem Menschen im Unterschied zu allem übrigen Lebendigen offen steht. Der Mensch kann sein Milieu so konfigurieren, dass die Milieus (d.h. Umwelten) der übrigen Lebewesen „se réorganisent dans des segmentations humaines, dans des valorisations culturelles“ (Le Blanc 2002, 8). Auf diese Weise entsteht eine Art „Geographie“268, ein Kultursystem, in dem wiederum „verschiedene Lebewesen (…) jeweils ihr spezifisches und singuläres Milieu“ (Canguilhem 2009d, 276) erhalten. Was Canguilhem damit ausspricht, ist das Problem einer Vitalität, die sich so stark diversifizieren kann, dass sie sich schließlich selbst in Vergessenheit bringt. Genau dies ist die eigenartige Situation des Menschen: Die durch vielerlei Techniken und kulturelle Konventionen bevölkerte Welt, die der Mensch einrichtet, sprengt keineswegs, wie Plessner meint, das Spektrum biologischer Umwelten. Vielmehr verdichtet sich die alles Lebendige charakterisierende Fähigkeit zur „configuration du milieu“ (Le Blanc 2002, 82) so stark und sie setzt eine solche Pluralität von Möglichkeiten frei, dass sie für sich selbst unkenntlich werden kann. Für Canguilhem gibt es keinen qualitativen Sprung, keine Inkommensurabilität zwischen Umwelt und Welt269: Letztere ist nicht, wie bei Plessner, ein absolutes Außen, das die Involvierung in Umwelten allererst ermöglicht, aber nicht selbst mit Umwelt zusammenfällt. Eher ist die spezifische „Welt“ des Menschen jene biologische Umwelt270, die dazu neigt, sich selbst zu verabsolutieren und in diesem Maße für ihre eigene „Wurzel“ 268

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Canguilhem diskutiert in Le vivant et son milieu die Entstehung der französischen Humangeographie bei Paul Vidal de la Blache ausgangs des 9. Jahrhunderts als eine Art Zwischenschritt zwischen dem „lebensvergessenen“ Newtonschen Paradigma und der allmählich heraufziehenden Ära des biologischen Standpunkts. Siehe Canguilhem 2009d, 2ff.; dazu LeBlanc 2002, 86ff. Siehe Muhle 2008, 9: „Es gibt keine äußere unabhängige Umwelt [also kein Außen zur Umwelt im Sinne von Plessners Weltbegriff, Anmerkung T. E.], in der sich die verschiedenen Lebensformen in verschiedenen Rängen einfügen. Die Umwelt des Menschen ist genauso zentriert um den Menschen als Technik und Werte schaffendes Subjekt herum angeordnet, wie die Umwelt des Tieres um ein ‚Subjekt vitaler Werte‘ herum angeordnet ist, die wesentlich das Lebendige ausmachen: (…)“ Aufschlussreich in Bezug auf Canguilhems Artikel Le vivant et son milieu ist auch McAllester Jones 2000. Allerdings erreicht die Autorin keine klare Explikation von Canguilhems Dialektik der biologischen und kulturellen Normen. Zwar zieht sie den insgesamt angebrachten Schluss, Canguilhem folge dem „model of biological thinking“ (ebd., 28). Zugleich aber hantiert sie wie selbstverständlich mit einer anthropologischen Differenz, die der Text ebenfalls nahe lege. Siehe ebd., 27: „Yet human beings are distinct in that their milieu is not just biological but social, the social itself composed of intersecting elements – technical, geographical, historical – which are all aspects of human culture.“

Dritter Akt: Lebendiges Wissen des Lebens

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(Canguilhem 2009d, 262), nämlich die Zentrierung durch ein lebendes Subjekt, blind zu werden. Man sieht, wie es Canguilhem gelingen könnte, Plessners Gedanken der exzentrischen Positionalität in seine eigene Argumentation einzufügen und damit völlig neu zu pointieren. Plessner zementiert letztlich jene tragische Position des Menschen, die darin liegt, dass die Produkte seiner Normativität ein Eigengewicht erlangen und ihren Urheber, den Menschen, normalisieren können. Im Hintergrund von Canguilhems These über die beiden „Absolutheiten“ (Badiou), in die sich der Mensch gleichermaßen projizieren kann, steht genau diese Idee: Bei dem „neutralen Ideal der universellen Umwelt“ (Badiou 200, 3), dem sich der Mensch in der Ära der Physik unterworfen hat und noch weiter unterwirft, handelt es sich um eine Setzung, die ursprünglich „aus dem Innern der normativen Zentrierung aus vorgenommen“ (ebd., 3) wurde. Aber der vitale Ursprung dieser Setzung ist nicht mehr ohne Weiteres greifbar. Sie ist in gewisser Weise geronnen; sie hat sich gegenüber den Akteuren, auf deren Bedürfnisse und Intentionen sie in letzter Konsequenz zurückgeht, verselbständigt. In der Konstruktion von Plessners Philosophischer Anthropologie wird daher etwas in den Rang eines Systems gehoben, was von Canguilhem tendenziell als eine historische Entgleisung interpretiert wird. Der Mensch hat sich in eine Perspektive, eben in eine ex-zentrische Optik hinein gesteigert, die seine strukturelle Zugehörigkeit in die Immanenz des Lebens, seine eigentlich zentrische Seinsweise, verdunkelt27. Man hat hier eine Asymmetrie, die sich nicht weiter ausreizen lässt: Für Plessner besteht das dramatische Missverständnis darin, die dem Menschen eigentümliche exzentrische Positionalität auf die zentrische Ordnung zu nivellieren. Gegen diese Reduktion auf das gründende Ganze des Lebendigen geht seine Philosophische Anthropologie immer wieder an. Dagegen erblickt Canguilhem das entscheidende Problem bei einem Lebewesen, das sich seiner eigenen Zentrierung nicht mehr zu vergewissern vermag, da es sich in der Dezentrierung oder Exzentrierung seiner selbst verliert. Der historische Aufweis dieser Krise ist die Einsatzstelle seiner Historischen Epistemologie. Was Plessner als anthropologischen Hiatus beschreibt, als ein im Durchlauf durch eine Philosophie der Natur irreversibel auftretendes „Umbrechen des Blickes“ (Plessner 98b, 83), das stellt sich bei Canguilhem als eine historische Verirrung in den Grenzen, d.h. in der Immanenz des Lebens selbst dar. Plessners Gedanke der exzentrischen Positionalität hypostasiert die paradoxe Umkehrung, die sich im Verhältnis des Men-

27

Die Wendung „not just biological but social“ enthält eher eine Spur und nicht gerade die Lösung des eigentlich entscheidenden Problems: Denn vordringlich ist die Frage nach dem Primat im Verhältnis von Biologie und Kultur, nach der möglichen Ableitung des einen aus dem anderen. Was diese Perspektive betrifft, führen Canguilhems Überlegungen recht deutlich zu der These, dass auch das kulturelle Milieu des Menschen biologisch strukturiert ist. Diese Klarstellung des Primats der Biologie über die Kultur wird von McAllester Jones nicht herausgestellt. Hierzu passt abermals das schon mehrfach verwendete Kernzitat aus Machine et organisme. Siehe Canguilhem 2009c, 232: „Die Lösung, die wir zu begründen versucht haben, hat den Vorteil, den Menschen so beschrieben zu haben, dass er durch die Technik in Kontinuität mit dem Leben steht, bevor der Bruch in den Vordergrund tritt, für den der Mensch durch die Wissenschaft Verantwortung trägt. (…) Wenn sich das menschliche Lebewesen eine Technik mechanischen Typs gegeben hat, dann ist klar, dass dieses massive Phänomen eine Bedeutung hat, die nicht willkürlich ist und folglich auch nicht einfach auf Wunsch widerrufen werden kann.“

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schen und der von ihm geschaffenen Phänomene zur Sphäre des Lebens vollzogen hat. Obwohl Plessners Philosophie – in Canguilhems Augen – von allen Merkmalen jener prekären, aber eben auch reversiblen historischen Konfiguration gezeichnet ist, wonach der Mensch „in der Differenz der beiden Absolutheiten“ (Badiou 200, 3) steht, fehlt ihr die für Canguilhem wesentliche punch line: Nämlich die Schlussfolgerung, dass eine Rezentrierung des Menschen im Leben, ein Ende der Exzentrizität, möglich ist. Der normative Einsatz der Historischen Epistemologie, ihre Strategie der Intervention, die sie nach Canguilhems Vorstellung zu praktizieren hat, erklärt sich gerade aus dieser Überzeugung einer Rezentrierbarkeit des Menschen in Bezug auf das Leben: Deshalb auch der Nachdruck, mit dem Canguilhem die Differenzen zwischen Technik und Wissenschaft evoziert und stark macht272. Diese Ausführungen lassen eine weitere Gelenkstelle erkennen, an der Canguilhem angreifen könnte, um Plessner im Ringen um die Artikulation eines lebendigen Wissens des Lebens aus dem Feld zu schlagen: nämlich das Thema der Technik. In der Tat ist die Technik, Canguilhem zufolge, der Modus, in dem der Mensch seine Umwelt koordiniert, also die Spannungen, die in der Interaktion mit der Umwelt entstehen, erfährt und ausagiert. Wenn mithin der Komplex der Technik eine derart ausgezeichnete Stellung in Canguilhems Reflexion auf das Leben einnimmt, dann deshalb, weil die Technik so etwas wie den feinen Grat darstellt, an dem eine Umstülpung der herrschenden (Selbst-) Auffassung des Menschen anheben kann: Denn obwohl technische Phänomene, historisch gesehen, wie selbstverständlich an wissenschaftliche Fragestellungen angelagert erscheinen, ist doch keineswegs ausgemacht, dass die Technik eine schlichte Applikation der scientia wäre. Im Gegenteil: Canguilhem entwickelt in seiner Historischen Epistemologie der Lebenswissenschaften eine explizit gegen diese Ableitung der Technik aus dem puren Wissen operierende Gegenstrategie. So heißt es in einer wesentlichen, bereits in einem früheren Kapitel dieser Arbeit eingebrachten Stelle aus Descartes und die Technik: „Die Wissenschaft geht aus der Technik nicht so hervor, dass das Wahre eine Kodifizierung des Brauchbaren oder eine Aufzeichnung des Erfolges wäre, sondern so, dass technische Probleme, Fehlschläge und Scheitern den Geist einladen, sich über die Natur der Widerstände, die der menschlichen Kunst begegnen, Gedanken zu machen (…). Wo muß man bei dieser Technik, welche die Wissenschaft nun beherrschen will, indem sie ihr vorschlägt, Gesetzmäßigkeiten bewußt in Regeln umzuwandeln, aber deren schöpferisches Beginnen nicht auf die Erlaubnis des Theoretikers gewartet hat, den Antrieb sehen? (…) Der Antrieb der Technik liegt in den Erfordernissen des Lebewesens.“ (Canguilhem 2006a, 8f.; Hervorhebung i.O., T. E.)273

Das Problem der Technik ist bei Canguilhem so etwas wie eine historische Schwelle, auf der sich der Primat der scientia noch nicht von selbst versteht, auf der aber gleichwohl eine Anverwandlung der technischen Aktivitäten in wissenschaftliche Prozeduren bereits 272 273

Dazu ebd., 29. Mit einer anderen Passage lässt sich das von Canguilhem verfolgte Argument noch weiter belegen. Siehe Canguilhem 2009c, 226: „Klassischerweise wird die Konstruktion der Lokomotive als „Wunder der Wissenschaft“ präsentiert. Und dennoch ist die Konstruktion der Dampfmaschine unverständlich, wenn man nicht weiß, dass sie nicht die Anwendung vorausgegangener theoretischer Erkenntnisse, sondern die Lösung eines jahrtausendealten, im eigentlichen Sinne technischen Problems ist, des Problems der Trockenlegung von Bergwerken.“

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im Gange ist. Gelingt es dem Epistemologen, die Aufmerksamkeit auf jene „appréhension axiologique“ (Pénisson 2007, 8; Hervorhebung i.O., T. E.) zu lenken, die den technischen Praktiken und Konstrukten des Menschen eignet, so definiert sich die damit bewirkte Verschiebung der Prioritäten selbst als eine „Parteinahme“27, eine Rezentrierung des Menschen, nämlich als Zentrierung seiner Position auf die Kräfte des Lebens hin, die ihn zugleich durchziehen und übersteigen. Hingegen firmiert die Technik bei Plessner ausdrücklich im Rahmen des „anthropologischen Grundgesetzes“ der „natürlichen Künstlichkeit“, und genau durch diese Engführung auf ein „anthropologisches Grundgesetz“ wird – immer aus den Perspektiven Canguilhems betrachtet – die eigentliche Originalität der Technik, und zwar ihre strenge Irreduzibilität im Verhältnis zu den wissenschaftlichen Dispositiven, verspielt. Man darf nicht überlesen, dass Plessners Verortung der Frage nach der Technik in den Stufen eine klare und deutliche Abwendung von der sogenannten „pragmatisch-biologische[n] Ursprungstheorie“ (Plessner 97, 320) einschließt: „Es ist gut, zum Schluß noch einmal darauf hinzuweisen, wie die pragmatisch-biologische Ursprungstheorie (…) überhaupt daran scheitert, dass sie die nichtzweckhaften Sphären der Kultivierung, Sitte und Kultur im engeren Sinne, aus den zweckdienlichen Mitteln des Handelns, den Werkzeugen, ableitet und dann nicht in der Lage ist, es sei denn durch Berufung auf die sogenannte Heterogonie der Zwecke (Wundt) oder die von Freud besonders beim Sexualtrieb festgestellte Zielverschiebung der Sublimierung, die innere Gewichtigkeit der Werke, d.h. ihren Geltungsanspruch, ihren Sachcharakter zu begreifen. Schon der Sachcharakter der Werkzeuge, selbst der einfachsten: Leiter, Hammer, Messer usw., wird meistens übersehen und die für ihren Bestand wesentliche Ablösbarkeit vom Vorgang des Erfindens. Der Mensch erfindet nichts, was er nicht entdeckt. Das Tier kann finden, erfinden kann es nicht, weil es nichts d a b e i findet (d.h. entdeckt). Es deckt sich ihm das Ergebnis seines Tuns nicht auf. (…) Nur weil der Mensch von Natur halb ist und (was damit wesensverknüpft ist) über sich steht, bildet Künstlichkeit das Mittel, mit sich und der Welt in’s Gleichgewicht zu kommen.“ (Ebd., 320f.)

„Innere Gewichtigkeit der Werke“, „Sachcharakter“, „Ablösbarkeit vom Vorgang des Erfindens“: Diese ganze Semantik verweist schon hinreichend darauf, dass Plessner, was das Problem der Technik angeht, die Dissoziation zwischen den Erfindern und den Erfindungen, den Urhebern und den von ihnen initiierten Resultaten, ausstellt27. Plessner macht nicht, wie Canguilhem, das Motiv einer spontanen Kreation stark, sondern ein Kippmoment; die Eigentümlichkeit der technischen Artefakte macht er daran fest, sich von den unmittelbaren pragmatischen Zwecken, die sie erfüllen sollen, loszulösen. Und in der Tat liefert in dieser Beziehung der Begriff des „Sachcharakters“ das entscheidende Stichwort: Denn letztlich ist Plessners These die, dass ein Verständnis von technischen Prozessen zwingend mit der Einsicht in den „Sinn für’s Negative“ (Plessner) unterlegt werden muss. Einzig der Mensch ist in der Lage, die Exteriorität der ihn umgebenden Gegenstände, darunter auch der von ihm selbst erzeugten, zu erfahren, d.h. Dinge als „Sachen“ anzusehen. Eine Philosophie der Technik müsste den Umstand thematisieren, 27

27

Zu diesem normativen Moment siehe Canguilhem 97, : „Man kann dem Leben auf wissenschaftliche Weise keine Normen diktieren. Das Leben ist vielmehr jene als Polarität agierende Auseinandersetzung mit der Umwelt, die sich normal fühlt in dem Maße, wie sie sich normativ fühlt. Der Arzt hat für das Leben Partei ergriffen.“ Zu dieser Ausrichtung von Plessners Technikkonzept siehe Wiegand 2002; Oldemeyer 2007.

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dass „die gleiche Dynamik“ (Plessner 2003g, 279), welche „die Tiere – bis zum Verhungern – im Zyklus von Drang und Erfüllung“ (ebd.) festhält, „den Menschen durch die Verdinglichung seiner Aktionen und ihrer Resultate in eine intermediäre Umgebung künstlichen Charakters, in eine Zwischenwelt von Einrichtungen“ (ebd.) hinein katapultiert. Letztlich steht bei Plessner auch die Technik unter der Formel: „Alles, was der Mensch tut, fällt unter das Gesetz der Entfremdung“ (ebd.) Wenn nun aber Plessner die Technik einzig auf ihren Aspekt der „Versachlichung“ hin anspricht, so ist sein Verständnis von Technik selbst noch gezeichnet von jener merkwürdig verdrehten Beziehung zwischen lebendigen und sozialen Normen, die Canguilhem gerade anprangert. Was Plessner aus der exzentrischen Distanz des Menschen zu sich begründet: die „Ablösbarkeit“ der Erfindungen „vom Vorgang des Erfindens“, das entspricht bei Canguilhem der schon geschilderten Paradoxie der modernen Normalisierungsgesellschaft. Das lebendige Subjekt erfährt sich selbst nicht als normatives, sondern als normalisiertes Subjekt. Es ist nicht im Stande, sich seine Artefakte selbst, und zwar als ein Sinn setzendes Zentrum, zuzuschreiben276. Plessners Argumentation zum Begriff der Technik verabsolutiert daher – so könnte man mit Canguilhem polemisieren – eine historische Situation, die auf ihre Weise pathologisch ist, da ihr „jegliches Zentrum fehlt“ (Badiou 200, 39). Das Lebendige hat auf dem Stand der Dinge, von dem Plessner ausgeht, seine eigene Lebendigkeit aus den Augen verloren; es versteht sich selber miss. Canguilhem selbst möchte demgegenüber, wie schon hervorgehoben, auf die umgekehrte Stoßrichtung hinaus – auf eine Lektüre der Technik, in der sich diese als eine komplexe (und problembeladene) Verästelung der biologischen Normativität alles Lebendigen erweist. Ich möchte nun noch einmal den Fokus verengen auf den besonderen Umbruch in Plessners Gedankenführung, den es in diesem Kapitel zu exponieren galt. Man kann ihm tatsächlich einen homologen Umbruch bei Canguilhem an die Seite stellen. Beide, Plessner und Canguilhem, profilieren eine connaissance de la vie, d.h. ein Wissen um die charakteristische Differenz von Lebendigem, worunter sie aber jeweils völlig Verschiedenes verstehen. Was zählt, ist allein die formale Äquivalenz ihrer Konstruktionen. Und diese Äquivalenz geht noch tiefer: Denn beide entziffern jene Erkenntnis, die lebendige Objekte als lebendig adressiert, ihrerseits als Ausdruck oder Vollzug von Lebendigem. Das Wissen des Lebens, wie es in der Philosophischen Anthropologie und der Historischen Epistemologie jeweils zum Tragen gebracht wird, bewegt sich im doppelten Genitiv. Nun führt dieser Ebenenwechsel vom Objektstatus zum Subjektstatus des Lebens bei Plessner unweigerlich über die Figur der exzentrischen Positionalität: Einzig und allein das Selbstverhältnis, das der Mensch zu sich hat, erfüllt den Sachverhalt eines Lebewesens, das um sich selbst (d.h. seine lebendige Konstitution im Ganzen) zu wissen vermag. Für Plessner geht die Formel des lebendigen Wissens des Lebens nur auf, wenn man das Subjekt, dem dieses Wissen sich eröffnen kann, als menschliches Subjekt begreift. Und darin liegt der Dreh, der alles entscheidet: Denn dem Menschen kann die Struktur, die alles Lebendige und auch ihn selbst noch (in der spezifischen Form einer Spannung zwischen Leibsein und Körperhaben) integriert, nur deshalb transparent werden, weil er nicht restlos in dieser Struktur, sondern neben ihr, in einem Abstand zu ihr, in einem Außen, kurz: in einer 276

Dies ist gut beobachtet bei Muhle 2008, 233.

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Welt steht. Man kann Plessners Philosophische Anthropologie nicht würdigen, ohne auf diese Drehung in ihren enormen Konsequenzen abzuheben. Es war hilfreich, Plessners Schlussnote im Gefüge des lebendigen Wissens des Lebens noch einmal anzuschlagen, denn bei Canguilhem findet sich ein veritables Gegenbild zu der Art und Weise, wie Plessner den Rückbezug von der Erkenntnis des Lebendigen ins Lebendige vollzieht. Man könnte die von Canguilhem vertretene philosophische Agenda in etwa paraphrasieren als Strategie, eine Struktur von Subjektivität auszuzeichnen, die sich der traditionellen Setzung des Menschen an den Platz des Subjekts entzieht. Anders formuliert: Wenn der Mensch Einsicht in die Spezifität des Lebendigen – und d.h. in dessen Normativität – zu nehmen vermag, dann nicht deshalb, weil auf seiner Seite eine besondere Komposition (Positionalität) ins Spiel tritt, die ihn von den übrigen Lebewesen unterscheidet. Vielmehr ist die biologische Erkenntnis von derselben Dynamik getragen, die sie an ihren eigenen Objekten beobachtet. Was Canguilhem mit Blick auf die Dialektik des lebendigen Wissens des Lebens in Atem hält, das ist der Gedanke, dass das Subjekt dieses Wissens eben nicht der Mensch, sondern das Lebendige ist – wobei Canguilhem das Lebendige nicht etwa unter dem Gesichtspunkt seiner Leiblichkeit, durch die es sich selbst zu erleben vermag, sondern als eine Entität addressiert, die in begrifflichen Prozeduren zum Phänomen wird und letzten Endes selbst eine inhärente Begrifflichkeit zum Tragen bringt277. Diese Erwägungen lassen das antithetische Verhältnis, in das Canguilhem gegenüber Plessner treten könnte, nun aber noch in einem ganz anderen Licht, in einem schärferen Kontrapunkt zum Konzept der exzentrischen Positionalität erscheinen. Immerhin könnte man noch eine (globale) Affinität zwischen Plessner und Canguilhem festhalten, wenn man die Figur des „Irrtums“, mit der Canguilhem verstärkt in den 960er Jahren die Position des Menschen illustriert, in der Tradition von Nietzsches Diktum versteht, wonach der Mensch das „nicht festgestellte Tier“ sei. Zweifellos klingt in Plessners Terminus der exzentrischen Positionalität und in der Redeweise von der „Unbestimmtheitsrelation des Menschen zu sich“ dieses wirkmächtige Motiv von der konstitutionellen Unabgeschlossenheit des Menschen nach278. Dass Canguilhem darauf referiert, wurde im Laufe der Arbeit bereits mehrmals angemerkt. Es gibt allerdings in Nietzsches Arbeiten noch eine andere Nuance, und mitunter kann man den Eindruck haben, als wolle Canguilhem eher diesem Zug in seiner Argumentation Geltung verschaffen. Im dreizehnten Abschnitt der dritten Abhandlung (Was bedeuten asketische Ideale?) aus Zur Genealogie der Moral entwickelt Nietzsche das berühmte Paradox der Askese, die er nicht als Selbstnegation „Leben gegen Leben“, sondern als Ausdruck einer produktiven, dem Leben eigentümlichen Macht auffasst In diesem Zusammenhang steht bei Nietzsche die folgende Wendung: „Man versteht mich bereits: dieser asketische Priester, dieser anscheinende Feind des Lebens, dieser Verneinende – er gerade gehört zu den ganz großen konservierenden und Ja-schaffenden Gewalten des Lebens…Woran sie hängt, jene Krankhaftigkeit? Denn der Mensch ist kränker, unsicherer, wechselnder, unfestgestellter als irgendein Tier sonst, daran ist kein Zweifel – er ist das kranke Tier: woher kommt das? Sicherlich hat er auch mehr gewagt, geneuert, getrotzt, das Schicksal herausgefordert als alle übrigen Tiere zusammengenommen: er, der große Experi277 278

Dazu Foucault 988, 7f.; Lawlor 200, 7ff.; Worms 2009, 38ff; Métraux 200, 32ff. Siehe etwa Gamm 2006, 06.

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mentator mit sich, der Unbefriedigte, Ungesättigte, der um die letzte Herrschaft mit Tier, Natur und Göttern ringt – er, der immer noch Unbezwungene, der ewig-Zukünftige, der vor seiner eigenen drängenden Kraft keine Ruhe mehr findet, so daß ihm seine Zukunft unerbittlich wie ein Sporn im Fleische jeder Gegenwart wühlt – wie sollte ein solches mutiges Tier nicht auch das am meisten gefährdete, das am längsten und tiefsten kranke unter allen kranken Tieren sein?“ (Nietzsche 99, 862; Hervorhebungen i.O., T. E.)

Laurent Cherlonneix hat die Allusionen festgehalten, die sich bei Canguilhem hinsichtlich Nietzsches Figur des Menschen als einer gegenüber sich selbst pervertierten, krankhaften Lebensform eröffnen279. Obwohl Cherlonneix insgesamt zu der Schlussfolgerung neigt, dass Canguilhem die Idee, wonach der Mensch das kranke (und eben nicht bloß das nicht festgestellte) Tier sei, nicht mit derselben Radikalität vorträgt wie Nietzsche selbst280, schlägt er doch den Bogen zwischen diesem Ton in der Lebensphilosophie Nietzsches und der für Canguilhem so zentralen Semantik des Normalen und des Pathologischen. Besondere Erwähnung findet dabei eine Stelle aus dem hier schon einmal hervorgehobenen Aufsatz Canguilhems über Nietzsche, der in der 97 erschienenen Hommage à Jean Hyppolite abgedruckt ist: „La connaissance, négation de la vie, elle-même condition de la connaissance, serait donc une perversion de la vie, ou peut-être seulement une expression de sa fatigue.“ (Canguilhem 97, 80). Wie auch immer man diese Anlehnung an Nietzsche einschätzen mag (als rasches Aperçu oder als Umriss einer systematisch tiefer reichenden Lektüre): Canguilhems Spiel mit der Formel vom Menschen als das „kranke Tier“ treibt die zuletzt betrachteten polemischen Momente, die Canguilhem Plessner entgegen halten könnte, gewissermaßen auf die Spitze und verleiht ihnen zusätzliche Schärfe. Denn Plessner versteht die unhintergehbare Spezifität der menschlichen Phänomene letztlich deskriptiv und im Sinne einer Strukturhypothese: Um in unserem Verstehen (unserer Hermeneutik) von Ausdrucksverhalten sinnvoll zwischen menschlichem und nicht-menschlichem Ausdruck differenzieren zu können, benötigen wir eine Hypothese hinsichtlich der Strukturvoraussetzungen, die einem jeweils gegebenen Ausdruck zu Grunde liegen. Canguilhem hingegen wertet die menschlichen Phänomene normativ: Als die pathologischen Zeichen eines Lebewesens, das für die Lebendigkeit seiner eigenen Produktionen blind ist oder sich immerhin anschickt, blind für sie zu werden. In dieser Logik wäre der Mensch weniger das Lebewesen, das um sich wissen kann, als jenes Lebewesen, das paradoxerweise nur zu leben vermag, soweit es sich selbst verneint, bespiegelt, hinterfragt und verunsichert. Folgt man den zuletzt anskizzierten Überlegungen, dann lässt sich vermuten, dass Canguilhem im Theorem der exzentrischen Positionalität einen Abglanz von Nietzsches Diktum finden könnte, der Mensch sei das kranke Tier. Aber nicht nur Nietzsche würde einen Filter für Canguilhems Lektüre von Plessners Konstruktion liefern können, sondern auch ein Theoretiker aus einem ganz anderen Kontext: Auguste Comte. Vielleicht noch stärker als Nietzsche ist Comte in Canguilhems philosophischem Referenzkosmos als ein Protagonist präsent, dessen Thesen Canguilhem immer wieder neu eingekreist 279 280

Cherlonneix 2008, vor allem –7. Ebd., f.: „(…) il [Canguilhem, T. E.] s’arrête sur la place que Nietzsche laisse à la maladie dans la Vie, il s’arrête sur ce qu’il y a de dangereux voire nocif dans la connaissance.“ [Hervorhebungen i.O., T. E.]

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und interpretiert hat. So wie Canguilhem bei Nietzsche einen philosophischen Horizont entdecken könnte, der sich bei Plessner ebenso wiederentdecken wie er sich gegen ihn verwenden lässt, so mag der Umweg über Comtes hierarchisches System der positiven Wissenschaften Canguilhem dazu führen, Plessner auf einen Schlag einzuordnen und systematisch zu kritisieren. Welche Brücke lässt sich also zwischen Plessners Philosophischer Anthropologie und der positivistischen Wissenschaftsphilosophie Comtes bauen, der Canguilhem in einer eigentümlichen Mixtur aus Würdigung und tiefer Ablehnung verbunden ist28? Die Brücke gestaltet sich im Problem der Überlagerung eines biologischen Standpunktes durch den Standpunkt der Soziologie oder, allgemeiner, den Standpunkt der Geschichte: Eine solche „subordination de la biologie à la sociologie“ (Braunstein 2002, 82) zeichnet sich sowohl in Comtes als auch in Plessners philosophischem Programm ab, obschon die Argumente und Intentionen, die damit jeweils einhergehen, gänzlich verschieden sind. Hier wie dort ist es jedoch die These von einer Spezifität des Menschen im Verhältnis zum Komplex des Organischen, die im Hintergrund der Überlagerung (der Biologie durch die Geschichte) arbeitet. So zieht Comtes positivistische Klassifikation der Wissenschaften Canguilhems Aufmerksamkeit deswegen auf sich, weil in ihr die Biologie auf der einen Seite von den (in Comtes System) minder komplexen Wissenschaften der Mathematik, Astronomie, Physik und Chemie unterschieden, auf der anderen Seite jedoch gegen die Superiorität der in der Soziologie voll zu Tage tretenden historischen Methode282 ausgespielt wird. Canguilhem sieht in Comtes Enzyklopädie einen veritablen Bruch (dazu Braunstein 2002, 82): Biologie und Soziologie werden als „physiologische Wissenschaften“ konzipiert, deren methodisches Plus im Verhältnis zu den „kosmologischen Wissenschaften“ (Astronomie, Physik, Chemie) darauf beruht, ihre Gegenstände als Totalitäten, als organische Einheiten konzipieren zu können (Canguilhem 993a, 79). Aber innerhalb der „organischen Physik“, die sich durch den Übergang zur Biologie auftut, genießt die Soziologie vor der Biologie wiederum einen irreduziblen Vorsprung: Sie baut zwar auf dem von der Biologie in das System der Wissenschaften eingebrachten Verfahren des Vergleichs auf, zugleich jedoch prägt sie eine eigenständige Methode aus. Diese „historische“ Methode umspannt wiederum den biologischen Wissenstyp: Nunmehr ist es möglich, die von der Biologie formulierte Perspektive auf individuelle Organismen als Praxis innerhalb des kollektiven Organismus’ der Gesellschaft zu betrachten. Auf diesem Weg erfährt die Biologie bei Comte eine „Bearbeitung (…) ‚unter der Leitung des menschlichen Standpunkts‘“ (Canguilhem 988, ). Wenn die Biologie den Schlüssel zu einer Methode enthält, die sich den Einzelerscheinungen unter der Idee der organischen Totalität nähert, dann differenziert die Soziologie genau diese Methode weiter, um historische Verhältnisse innerhalb einer Gesellschaft oder zwischen Gesellschaften untersuchen zu können (dazu Gane 2006, 69f.). Als das Ganze, das die horizontalen Vergleiche ermöglicht, erweist sich bei Comte nichts Geringeres als „die Menschheit“, die im positivistischen Stadium des Wissens mit der Einsicht in die „Gesetze“ des Seienden auch die Mittel in die Hand bekommt, um geschichtliche Prozesse „vorauszusehen“ und beherrschen zu können. 28 282

Siehe Duroux 993, 2. Ähnlich Braunstein 200, 278ff.; auch Macherey 2009e, 0ff. Dazu Comte 97, 9.

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Ohne Zweifel wäre es absurd, die geschichtsphilosophische Wurzel von Plessners Philosophischer Anthropologie in der Tradition Comtes zu sehen, der „Geschichte (…) tatsächlich nach dem Modell eines Entwicklungsgesetzes im Sinne des Gesetzes der Entfaltung, der Präformation im 8. Jahrhundert“ (Braunstein 200, 279) beschreibt. Plessner vertritt weder Comtes statische Teleologie des Fortschritts als allmähliche Manifestation von Ordnung noch teilt er Comtes autoritäre Phantasien zur Produktion politischer Stabilität oder gar einer „Religion der Humanität“. Zwar hat Plessner – mit Ausnahme einer erhellenden Passage aus der Verspäteten Nation283 – nirgends umfangreich zu Comte Stellung genommen, doch man darf wohl voraussetzen, dass er Diltheys entschiedene Kritik an den diversen Konfusionen und totalitären Zügen von Comtes Projekt unterschrieben hätte28. Aber all die enormen Differenzen, die sich zwischen Comte und Plessner zeigen, was – um nur einige Stichworte zu nehmen – ihre Verständnisweisen von Geschichte, Anthropologie oder Soziologie betrifft, schließen nicht aus, dass man bei Plessner ein Manöver beobachten kann, das in einem ganz anderen Licht bereits von Comte präfiguriert worden ist: Denn auch bei Plessner läuft eine Operation ab, die man als historische Brechung der biologischen Ordnung oder als Öffnung der vertikalen in die horizontale Betrachtungsweise lesen könnte. Während Comte die horizontale Reihe (der inner-und intersozialen Vergleiche) als eigentlichen Rahmen einer Humanwissenschaft feiert, die nun, im positivistischen Stadium der Geschichte, endlich entwickelt werden könne, spricht Plessner von der Verschränkung des horizontalen Aspekts mit dem vertikalen. Anders erläutert: Comte und Plessner konvergieren in ihren Auffassungen vom Menschen „dans le jeu croisé de ses activités vitales et sociales“ (Le Blanc 2002, 283). Aber Comte wendet diesen Gedanken in die These vom definitiven Primat der „historischen Methode“. Die Parameter, mit denen die Wissenschaften operieren, erweisen sich als von einem „point de vue humain“ (ebd.) ausgehende, historisch-kulturelle Konstruktionen28. Dagegen kann bei Plessner zwar nicht von einer Überbietung der Vertikalen durch die Horizontale die Rede sein, wohl aber von einer Verkreuzung der beiden Linien. Es gibt auch bei Plessner eine Öffnung der biologischen Semantik von „Leben“ in eine soziale und historische Semantik. Auch Plessner schreibt dem gesellschaftlichen Organismus eine kategorial andere Zeitlichkeit zu als dem biologischen Organismus. Nun ist es ganz sicher eine Absetzung sowohl von Comte als auch von Plessner, wenn Canguilhem seinerseits dafür plädiert, den organischen Normen auch auf der Stufe von Personen unbedingte Geltung zu verleihen, d.h. die Geschichte der Gesellschaft in die Geschichte des Lebendigen einzuschreiben. In den zuletzt entwickelten Ausführungen war die Maxime am Werk, Canguilhems Kritik an Comte als Vorlage für (s)eine Auseinandersetzung mit Plessner zurecht zu legen. Canguilhem hat Comtes Inaugurierung der Soziologie in Abgrenzung von der Biologie sehr ernst genommen und als eine Position erachtet, an der er sich selbst philosophisch abzuarbeiten hatte. Deshalb erschien es angebracht, zumindest die Eckpfeiler dieser Kri283 28 28

Plessner 97, 2ff. Dilthey 97, 0ff. Siehe Braunstein 2002, 929: „Selon Comte, il n’est pas possible de connaître ‚directement‘ les ‚lois de l’esprit humain‘, ces lois ne pouvant être connues que par l’étude de l’esprit humain effectivement en exercice, c’est-à-dire par l’étude des sciences et leur histoire.“

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tik aufzugreifen, um sie mutatis mutandis in den Disput mit Plessner einzutragen. Mit dieser Perspektive möchte ich den Dreischritt, der den Hauptteil der Interpretation durchzogen hat, auslaufen lassen: Jede Partie dieses Dreischritts wurde von zwei Seiten her und in doppelter Ausführung expliziert. Das nun folgende letzte Großkapitel wird, wie sein Name verrät, die Konstellationen, in der die Modelle Canguilhems und Plessners miteinander verkreuzt sein könnten, ausloten. Was, wenn diese Verschränkung unmittelbar durch das systematische Problem, dem sich beide Philosophien stellen, d.h. durch das lebendige Wissen des Lebens selbst, aufgerufen und getragen werden würde?

IV. Konstellationen: Das systematische Herz der Begegnung von Historischer Epistemologie und Philosophischer Anthropologie

Missing Links: Goldstein und Foucault Die Konfrontation zwischen Canguilhem und Plessner wäre nicht abgerundet, wenn sie nicht wenigstens in einem Seitenstrang zwei Theoretiker einführen würde, die in gewisser Weise als missing links fungieren können: Kurt Goldstein (878–96) und Michel Foucault (926–98). Obwohl Goldstein sogar persönliche Beziehungen zu beiden Protagonisten unterhielt – zu Canguilhem durchaus enge, zu Plessner eher sporadische –, lässt sich in keiner Weise feststellen, dass er sie aufeinander aufmerksam gemacht oder sich selbst nach möglichen Überschneidungen zwischen ihren Konzeptionen gefragt hätte. Was Foucault betrifft, so war schon mehrfach von den immensen wechselseitigen Beeinflussungen die Rede, die zwischen Canguilhem und ihm zirkulierten und weit mehr umfassten als einen Austausch zwischen ihren Paradigmen, reich an Nähen und Differenzen: Und zwar deshalb, weil ihr Bündnis in einem hohen Grade wissenschaftspolitisch-strategisch, insbesondere gegen die Phänomenologie motiviert war. Plessners Arbeiten waren Foucault hingegen völlig unbekannt – und doch ist innerhalb der Plessnerforschung seit Längerem eine dynamische Diskussion zu den Optionen im Gange, Plessner und Foucault füreinander produktiv zu machen2. Um eine ausführliche Exegese der Ansätze Goldsteins und Foucaults kann es hier nicht gehen, und so sollen ihre Positionen im Folgenden einzig und allein als Folien unterlegt werden, auf denen anderes hervortreten kann. Die Auseinandersetzung mit ihnen ist exklusiv auf den möglichen Ideengewinn zugeschnitten, den die Debatte zwischen Canguilhem und Plessner aus ihnen ziehen könnte. In gewisser Weise lassen sich die Trümpfe, die Canguilhem und Plessner jeweils in Händen halten, voll ausspielen, wenn man ihre Argumentationen auf der einen Seite gegen Goldsteins theoretischen Aufbau und auf der anderen Seite gegen Foucaults genealogisch-archäologische Strategien abwägt und kontrastiert. Zugleich kann man aber noch einen etwas anderen Akzent legen: 

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In ihrer detailreichen Plessner-Biographie vermerkt Carola Dietze nebenher, dass Plessner, während er 962 die Theodor-Heuss-Professur an der New School for Social Research inne hatte, „in die weiteren Emigrantenkreise New Yorks eingeführt“ (Dietze 2006, 2) worden sei. In diesem Umfeld traf Plessner, wie Dietze knapp andeutet, u.a. auch mit Goldstein zusammen. Siehe Krüger 200; Krüger 2008b; Richter 200.

Missing Links: Goldstein und Foucault

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Denn Goldstein entwickelt eine Kritik an der Philosophischen Anthropologie, die explizit an die Adressen Cassirers und Schelers geht, ja diese beiden Autoren sogar gegeneinander in Stellung bringt. Canguilhem wiederum hat Goldstein intensiv rezipiert und engen kollegialen Umgang mit ihm gepflegt3. Das heißt: Canguilhem ist mit der Philosophischen Anthropologie immerhin insofern in Berührung gekommen, als dass ihm Goldsteins kritische Reaktionen auf Scheler und Cassirer bekannt gewesen sein müssten. Folglich kommt man an das fiktive Verhältnis zwischen Canguilhem und Plessner heran, indem man Goldsteins Anmerkungen zu Scheler und Cassirer in Rechung stellt – und dann fragt: Wie gliedert sich Plessners Standpunkt in Goldsteins Zeichnung der Philosophischen Anthropologie ein? Mit welchen Argumenten kann man seine Position von den Einwänden freisprechen, die Goldstein gegen Scheler und Cassirer ins Feld führt? Und worin schließlich weichen Canguilhems Fragestellungen von denjenigen Goldsteins, soweit sie für dessen Einschätzung der Philosophischen Anthropologie relevant sind, ab? Foucault spielt hingegen deswegen eine interessante Rolle in meiner Versuchsanordnung, weil seine Diagnosen eines „anthropologischen Zirkels“ oder „anthropologischen Schlafs“ in den Fokus der Sekundärliteratur zur Philosophischen Anthropologie gerückt sind und bereits erste Vergleiche zu Plessner gezeitigt haben. Es wird sich lohnen, die (möglichen) Vorbehalte der Philosophischen Anthropologie gegenüber Foucault, aber auch die Differenz, die ihn von Canguilhem separiert, näher zu betrachten. Beginnen wir den Exkurs bei Kurt Goldstein und seinen Erwägungen zu einer epistemologischen Autonomie der Biologie. Ähnlich wie Plessner, der bei Driesch eine zoologische Promotion in Angriff nahm (aber nicht abschloss), und Canguilhem verfügt Goldstein über eine veritable Doppelqualifikation: Sein Zugang zum Problem des Organischen zehrt gleichermaßen von einer philosophischen Schulung wie von einer jahrzehntelangen Praxis als Neurologe – nicht zuletzt im Kontext des von ihm ab 9 mit geleiteten Frankfurter Instituts zur Untersuchung der Folgeerscheinungen von Hirnverletzten. Bei Goldsteins Reflexion auf die Struktur und den Gegenstand biologischer Erkenntnis handelt es sich, bezogen auf das Verhältnis von Einzelwissenschaft und Philosophie, um eine „Befragung von Innen her“ (Wegener 2009, 3), die – was Parallelen zu Canguilhem und Plessner eröffnet – eher eine gewisse Verschachtelung als eine klare Trennung von Philosophie und operativer Forschung zur Voraussetzung hat. Nun ist es im hier interessierenden Horizont von besonderer Signifikanz, wenn Goldstein gleich in den ersten Sätzen und Passagen der Einleitung zu seinem 93 erschienenen Hauptwerk Der Aufbau des Organismus seine eigene methodische Grundrichtung ex negativo in 3



Beispielsweise lud Canguilhem Goldstein 99 zur Teilnahme am Congrès international de philosophie des sciences nach Paris ein, wo der deutsche Kollege über „Épistémologie de la Biologie“ vortragen sollte. Im Kontext dieser Einladung fand ein Briefwechsel statt, der bei Métraux 200 dokumentiert wird. Goldstein studierte ab 896 Philosophie in Breslau und wechselte ein Semester später nach Heidelberg, wo er vor allem auf Rickert und Windelband traf. Es war übrigens Windelband, dem Plessner 93 in Heidelberg auf Vermittlung Drieschs seine Schrift Die wissenschaftliche Idee als erste Skizze für eine Promotion vorlegte. Schließlich sollte es aber nicht Windelband, der sich (nach einer ersten spontanen Zusage) bald von Plessners Arbeit distanzierte, sondern Paul Hensel sein, der die Betreuung übernahm. Dazu Dietze 2006, 3ff. Zu Goldsteins akademischer Biographie siehe Noppeney 2000, 6ff.; Wegener 2009, 3ff.; Weingarten 2006b, 7.

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Form einer Distanzierung von den sogenannten Stufenleiter-Theorien des Organischen herauspräpariert: „Wenn ich recht sehe, sind bisher alle Versuche das Leben zu verstehen den Weg von ‚unten‘ nach ‚oben‘ gegangen. Überzeugt davon, dass die Klassen der Lebewesen eine Stufenleiter darstellen, an deren unterster Stufe Lebewesen von relativ einfachem Bau und Funktionen stehen, und dass die höheren von ihnen sich nur durch eine zunehmend größere Differenzierung und Ausgestaltung der tieferen unterscheiden, suchte man zuerst die Vorgänge bei den ‚niederen‘ als die ‚einfacheren‘ zu erforschen und von ihnen zur Analyse der ‚höheren‘, ‚komplizierteren‘ aufzusteigen. […] Die folgende Darstellung der Lebenserscheinungen sucht den umgekehrten Weg zu gehen. Sie geht vom Menschen aus und sucht von da aus das Verhalten der anderen Lebewesen zu begreifen. Und das nicht etwa deshalb, weil dem Autor persönlich – wegen seines Berufes als Arzt – der Ausgang vom Menschen am nächsten liegt, sondern vor allem und prinzipiell deshalb, weil ihm im Verfolg seiner Studien kein Begriff problematischer geworden ist als der Begriff der Einfachheit. (Goldstein 93, f.; Hervorhebung i.O., T. E.)“

Ungenannt steht schon in diesen ersten Zeilen von Goldsteins Buch Scheler als Adressat der Kritik im Hintergrund. Wie ist mit der Zurückweisung des Stufenschemas umzugehen? Vor allem – so kann man Goldsteins Argument aufschlüsseln – ist diesem Schema eine unangemessene Semantik der „Einfachheit“ lebendiger Formen impliziert. Eine Hierarchie, die das Lebende unter dem Gesichtspunkt der sich sukzessive verkomplizierenden Bauweise der Organismen von Pflanze, Tier und Mensch aufteilt, suggeriert, Goldstein zufolge, ein künstliches Konzept von Einfachheit (siehe ebd., 29). Die Orientierung an den Bauformen legt nahe, dass die vermeintlich „elementaren“ (z.B. reflexhaften) Äußerungen eines Organismus zugleich jene sein könnten, „die in ihrer Struktur am einfachsten und am leichtesten zu durchschauen[…]“ (ebd., 2) sind. Eine solche Korrelation zwischen Ausdruck und struktureller Beschaffenheit könne aber nicht plausibel aufgezeigt werden. Als „einfach“ erscheint der Organismus der Amöbe immer nur in der Optik eines menschlichen Betrachters, nicht aus der Binnenperspektive des Einzellers selbst. Während die Stufenordnung die Einfachheit oder Komplexität lebendiger Äußerungen nach den strukturellen Prämissen der Organismen bemisst, findet sich bei Goldstein eher ein Modell der Immersion: Man kann von jedem Organismus, ganz gleich ob menschlich oder nicht, festhalten, dass er jeweils im Ganzen in die Auseinandersetzung mit seiner Umwelt hineinverwickelt ist. In diesem „gleichartigen ganzheitlichen Aufbau“ (ebd., 30) sieht Goldstein eine „Gleichartigkeit der Gesamtstruktur“ (ebd.) aller Organismen; an die Stelle der Unterscheidung zwischen „einfach“ und „kompliziert“ gebauten Organismustypen setzt er die These von der „Ganzheitsbezogenheit jeder Reaktion auf einen Reiz hin“ (ebd., 36; Hervorhebung i.O., TE). Dieses „biologische Grundgesetz“ (ebd., 76; Hervorhebung i.O., T. E.) artikuliert sich jedoch keineswegs als „etwas Gleiches beim Menschen und beim Tier“ (ebd., 300) – im Gegenteil: „Leben im tierischen Sein ist aber etwas anderes als Leben im menschlichen“ (ebd.; Hervorhebung i.O., T. E.). Gerade weil jede Lebensform, unabhängig vom Grad ihrer funktionalen Differenzialität, in die Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt jeweils spezifisch „versenkt“ ist, lassen sich aus dem Stufenmodell keine erhellenden Schlüsse ziehen. Menschen bleiben bei der Interpretation lebendigen Ausdrucks auf jene Klasse von Organismen zurückgeworfen, der sie selbst 

Dazu Weingarten 2006b, 76f.

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angehören, ohne die biologischen Einsichten, die daraus erwachsen, legitimerweise auf ein Verständnis nicht-menschlicher Organismen übertragen zu können. Deshalb grenzt Goldstein seine Beobachtungen und Annahmen auf die Originalität menschlicher Organismen ein: Eine „Beschreibung der besonderen Wesenheit der einzelnen Organismen“ (ebd., 2; Hervorhebung i.O., T. E.) kann nur unter dieser phänomenologischen Einschränkung des eigenen Standorts vor sich gehen. In gewisser Weise dreht Goldstein damit die von Scheler und Plessner favorisierte Argumentationsrichtung um. Die „Frage nach der Grenze des Lebendigen und auch nach einem Unterschied zwischen Lebendigem und Unlebendigem“ (ebd., 6) ist nicht der hypothetische Leitfaden (siehe Mitscherlich 2007, 89ff.) in unserer Konfrontation mit dem Seienden; diese Frage kann ihrerseits nur aus einer ursprünglichen Einsicht resultieren, die sich in einem grundlegenderen Schritt einzustellen hat. Für Goldstein lautet die „Kernfrage“ (Wegener 2009, ), „woher ‚Ordnung und Sinn‘ in das Chaos der Einzeltatsachen kommt“ (ebd.)6. Goldsteins Anliegen ist in erster Linie eine Epistemologie der Biologie. Es geht ihm darum, eine Perspektive auszuarbeiten, durch welche die Biologie die „Bedeutung“ (Goldstein 93, 2) des von ihr behandelten „Materials“ (ebd.) zu erfassen vermag. Nicht jede sogenannte „Tatsache“ (ebd.), die im Hinblick auf lebendige Erscheinungen „mit dem isolierenden Verfahren festgestellt“ (ebd.) werden kann, ist biologisch relevant. An erster Stelle müsse man sich, so Goldstein, fragen: „Welche Erscheinungen sind biologisch relevant und welche irrelevant, welche sind biologische Tatsachen und welche nicht?“ (ebd., 22; Hervorhebung i.O., T. E.). Auf dieser Linie bringt Goldstein die Rolle einer analogen Einbildungskraft ins Spiel. Die für die Biologie spezifischen und relevanten Erkenntnisse haben durchweg die Idee zum Fluchtpunkt, dass die einzelnen Verhaltensäußerungen eines Organismus auf den ganzen Organismus als ordnendes Zentrum verweisen. Goldstein führt das Beispiel des Fahrradfahrens an: Wir haben es hier mit einem Vorgang zu tun, der phänomenologisch noch nicht hinreichend durch die Summe der Einzelhandlungen (Treten der Pedale, Bremsen, Lenken), aus denen er sich zusammensetzt, beschrieben ist. Entscheidend ist die synthetische Koordination der partikularen Verläufe. Alle beim Radfahren vollzogenen Akte werden durch ein Gesamtgeschehen zusammengehalten, das sich nicht zusätzlich zu ihnen, sondern in ihnen und durch sie hindurch manifestiert. Folglich muss man, um das Radfahren zu erlernen, für einen „Hintergrund“ sensibel sein, der sich nur indirekt, in der Verkettung der im „Vordergrund“ ablaufenden Ereignisse, anzeigt7. Unter diesem Aspekt ist die „Erkenntnis des Vorgehens beim Radfahren“ (ebd., 23; Hervorhebung i.O., T. E.) der „von uns gesuchte[n] biologische[n] Erkenntnis wesensverwandt“ (ebd.; Hervorhebung i.O., T. E.). Auf der einen Seite lehnt sich Goldstein mit diesem Überlegungsgang an Kants teleologisches Urteil als Sonderfall der Repräsentation einer „Idee“ (Kant AAV, 83) an. Zur Beurteilung der Spezifität dieser Phänomene bedarf eines „Erkenntnisgrunds“ (Goldstein 93, 22), einer heuristischen Maxime, die das Denkobjekt als sich selbst nach Zwecken organisierendes Ganzes konstituiert. Auf der anderen Seite stützt Goldstein sich jedoch auch auf Goethes Prinzip einer synthetischen „Schau“ (ebd.), die auf das Wesen des betrachteten Gegenstands führt. Und es scheint, als ob Goldstein auf dieser Ebene 6 7

Siehe ein entsprechendes, von Wegener angeführtes Zitat in Goldstein 93, 37. Zu Goldsteins gestaltpsychologischer Distinktion von Vorder-und Hintergrund siehe ebd., 7.

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seiner Argumentation eine stärkere These verfolgt als jene Behauptung, die sich aus seiner Kant-Referenz ergibt: Denn letztlich speist sich der Akt der biologischen Erkenntnis aus derselben eigentümlichen Tendenz, die sie als Grundstruktur der organischen Phänomene aufdeckt. Auch die Erkenntnis des Lebendigen erscheint in letzter Konsequenz als ein Weg, auf dem sich das Lebendige selbst erhält. In diesem Sinne geht Goldsteins Epistemologie der Biologie in eine Biologie der Epistemologie über: Es ist Goldsteins Konzeption der Schau, mit der sich der Ring zwischen diesen beiden Ebenen schließt. Mit dieser Rekonstruktion sind die wichtigsten Voraussetzungen geschaffen, um Goldsteins Portrait von Max Scheler und Ernst Cassirer bzw. der zwischen ihnen kursierenden Problematik zu verstehen. Im neunten Kapitel von Der Aufbau des Organismus, „Leben und Geist“ (ebd., 293–38), geht Goldstein auf den Horizont der Philosophischen Anthropologie näher ein. Wo setzt seine Kritik an? Bei „aller Bescheidenheit gegenüber dieser tiefen Konzeption“ (ebd., 29) hält Goldstein Schelers Philosophischer Anthropologie vor allem vor, seine Kennzeichnung des Lebendigen als „blinder Drang“ unterschlage die schon für „tierisches Sein“ (ebd., 29) charakteristische Inklination zu „ganzheitliche[r] Gestaltung und Besonderung“ (ebd.). Schelers Vokabel des Triebs, „der als solcher stets bereits eine spezifische Richtung und Zielhaftigkeit „‚nach‘ etwas, z.B. Nahrung, Sexualbefriedigung, hat“ (Scheler 966, 2), verdeckt, so Goldstein, die auch für tierische Organismen schon konstatierbare Dimension „geordneten Verhaltens“ (Goldstein 93, 296). Wenn Scheler die Kategorien des Triebs und der Umwelt akzentuiert, repräsentiert seine Auffassung, Goldstein zufolge, ihrerseits einen „Ausfluss der isolierenden Methode, eine Verabsolutierung der mit ihr gewonnenen Phänomene zu wirklichen Seinsweisen“ (ebd., 29). Es handle sich um artifizielle Parameter, die „gewöhnlich aus Situationen [stammen], in denen durch die Situation selbst ein besonderes Verhalten veranlasst wird“ (ebd.)8. Viel stärker als diese terminologische Verkehrung wiegt in den Augen Goldsteins jedoch das Problem von Schelers Dualismus zwischen Leben (Drang) und Geist als zwei inkommensurable Prinzipien9. Der Geist bildet für Scheler eine der Sphäre des Drangs 8

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Es erhebt sich allerdings die Frage, ob Goldstein Schelers Triebkonzeption angemessen wiedergibt. Bei Scheler eine „reine[…] Milieutheorie der Leistungen“ (ebd., 29) am Werk zu sehen, erscheint nicht berechtigt. Im Gegenteil: Scheler kommt auf genau jene Struktur lebendiger Zentrierung zu sprechen, die Goldstein in Schelers Ansatz vermisst. Siehe Scheler 966, 36: „Das Tier ist kein Triebmechanismus, so wenig als es ein Instinktmechanismus und Assoziationsund Reflexmechanismus ist. Nicht nur sind seine Triebimpulse nach führenden Obertrieben und ausführenden Unter-und Hilfstrieben, ferner nach Trieben zu allgemeineren und spezielleren Leistungen bereits scharf gegliedert – es vermag darüber hinaus auch von seinem Triebzentrum her, das es (im Gegensatz zur Pflanze) entsprechend dem Maß der Einheitsstruktur seines Nervensystems hat, spontan in seine Triebkonstellation einzugreifen und, bis zu einer gewissen Grenze, nahewinkende Vorteile zu meiden, um zeitlich entferntere und nur auf Umwegen zu gewinnende, aber größere Vorteile zu erreichen. Das, was das Tier sicher nicht hat, ist erst jenes Vorziehen zwischen Werten selbst – z.B. das Vorziehen des Nützlichen als Wert vor dem Angenehmen als Wert, unabhängig von den einzelnen konkreten Güterdingen, – und die eng dazugehörige ‚Gesinnung‘.“ [Hervorhebungen i.O., T. E.] Ebd., 37f.: „Das neue Prinzip steht außerhalb alles dessen, was wir ‚Leben‘ im weitesten Sinne nennen können. Das, was den Menschen allein zum ‚Menschen‘ macht, ist nicht eine neue Stufe des Lebens – erst

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radikal entzogene Potenz. Er ist durch „keinerlei ursprüngliche Eigenenergie“ (Scheler 966, 7) strukturiert, sondern ein Vermögen, das der Sphäre des Drangs jene Vorstellungen entziehen kann, die einer triebgesteuerten Handlung zu Grunde liegen0. Obwohl „von Haus aus ein schlechthin Machtloses“ (Goldstein 93, 297), vollzieht der Geist ein „Anhalten“ (ebd.), eine „eigentümliche Stauung der Lebenskräfte und Lebenstriebe“ (ebd.): Er hängt die Drangbewegung des Lebendigen aus, sofern er im Stande ist, „Nein“ zu ihr zu sagen. Goldstein betrachtet diese Gegenstellung zweier Prinzipien als eine offensichtliche Antithese zu seiner eigenen Initiative, „aus der Einheit ein Verstehen des Besonderen, wie es in der Isolierung auftritt“ (ebd., 296), zu bestimmen. Während Scheler die Opposition von Geist und (drängendem) Leben am Ende metaphysisch auflöst – als die zwei Attribute eines höchsten Weltgrunds, der im Durchgang durch seine immanente Entzweiung seiner selbst inne wird –, vertritt Goldstein einen organischen Monismus, der sich mitnichten in das Bild zweier Seinspotenzen (Leben versus Geist) spalten lässt (ebd., 300). Scheler begeht, an Goldsteins Argumentation gemessen, einen doppelten Irrtum: Zum einen konstruiert er mit dem Konzept der „Vitalsphäre“ ein Spektrum psychischer Funktionen, an dem Pflanze, Tier und Mensch gleichermaßen partizipieren; zum anderen sieht er sich gezwungen, die Explikation „geistiger“ Akte in eine dem Leben externe Essenz zu verlagern, anstatt zur Klärung dieser Akte auf die besondere Immersion des menschlichen Organismus in die Umweltbeziehung zu rekurrieren. Der abwegige Charakter von Schelers Modell sei bereits, so Goldstein, von Ernst Cassirer mit Kritik belegt worden2. Schelers Differenz von Leben und Geist könne sinnvoll sein, so Cassirer, wenn man sie als „funktionellen Gegensatz“ (Goldstein 93, 297) liest; sie erzeugt Widersprüche, sobald sie, wie bei Scheler selbst, als „substantieller Gegensatz“ (ebd.) vorgeführt wird3. Cassirer notiert, dass bei Scheler „ursprünglich ein lebensfremder Geist und ein ideenblindes Leben einander gegenüber [stehen] – um dann doch zueinander hingezogen zu werden und, wie durch ein Wunder, zueinander ‚hinzufinden‘“ (Cassirer 200, 99). Zuletzt müsse als deus ex machina der metaphysische Weltgrund in

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recht nicht nur eine Stufe der einen Manifestationsform dieses Lebens, der ‚Psyche‘ –sondern es ist ein allem und jedem Leben überhaupt, auch dem Leben im Menschen entgegengesetztes Prinzip: eine echte neue Wesenstatsache, die als solche überhaupt nicht auf die ‚natürliche Lebensevolution‘ zurückgeführt werden kann, sondern, wenn auf etwas, nur auf den obersten Grund der Dinge selbst zurückfällt: auf denselben Grund, dessen eine große Manifestation das ‚Leben‘ ist.“ [Hervorhebungen i.O., T. E.] Siehe Wilwert 2009, 3f. Siehe Scheler 966, 9: „Für uns liegt das Grundverhältnis des Menschen zum Weltgrund darin, dass dieser Grund sich im Menschen – der als solcher sowohl als Geist-wie als Lebewesen nur je ein Teilzentrum, des Geistes und Dranges des ‚Durch-sich-Seienden‘ ist – ich sage: sich im Menschen selbst unmittelbar erfasst und verwirklicht. (…) Es ist der alte Gedanke Spinozas, Hegels und vieler anderer: Das Urseiende wird sich im Menschen seiner selbst inne in demselben Akte, in dem der Mensch sich in ihm gegründet schaut.“ Interessanterweise besteht zwischen Goldstein und Cassirer eine Verwandtschaftsbeziehung. Goldsteins Mutter war Rosalie Cassirer, deren Bruder Eduard Ernst Cassirers Vater war. Die beiden Cousins, Goldstein und Ernst Cassirer, standen miteinander in profundem intellektuellen Austausch. Dazu Noppeney 2000, 6; Müller 2008; Weingarten 2006b, 83ff. Siehe Cassirer 200, 99.

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die Gleichung treten, um den Antagonismus der zwei Substanzen auszusöhnen. Wie sieht Cassirers Ausweg aus Schelers metaphysischer Vision aus? Sein Vorschlag besteht darin, die spezifisch „geistige“ Funktionsweise im Verhältnis zur Dynamik des Lebendigen „als der Art gleich, nur in der Richtung anders“ (Goldstein 93, 297) zu fassen: Während „das Leben [es] auf die unmittelbare [Tätigkeit] des Wirkens und Tuns abgesehen hat“ (ebd.), zeichnet den Geist „die mittelbare Tätigkeit des Bildens“ (ebd.) aus. Auf diesem Weg böte es sich an, Geistigkeit nicht länger als absolute „Abkehr vom Leben“ (Cassirer 200, 200) zu denken, sondern als „eine innere Wandlung und Umkehr, die das Leben in sich selbst erfährt“ (ebd.). Geist und Leben könnten „in ihrem Zusammenspiel, in ihrem sich Ablehnen und sich Finden gewissermaßen als zwei Erscheinungen der besonderen Art menschlichen Wesens auftreten“ (Goldstein 93, 298f.); sie könnten „in ihrem reinen Vollzugssinn“ (Cassirer 200, 20) genommen werden und würden dann als zwei Sorten des „Bildens“ (ebd.), wovon eine „organisch“ (ebd.), die andere „ideell“ (ebd.) ist, unterscheidbar. Insgesamt schließt sich Goldstein Cassirers Umformung von Schelers Dualismus an. Vorsichtig auf Distanz zu Cassirer geht er hingegen in der Frage, ob „Leben“ und „Geist“ überhaupt ein angebrachtes Begriffspaar bilden, um dem Ausdrucksverhalten von Organischem gerecht zu werden. Auch Cassirer mache sich nicht mit letzter Konsequenz klar, dass „Leben im tierischen Sein (…) etwas anderes [ist] als im menschlichen“ (Goldstein 93, 300; Hervorhebung i.O., T. E.): Die spezifische Immersion des Menschen in seine Umwelt hat phänomenologisch anderen Charakter als die Immersion tierischer Organismen. Jede Distinktion zwischen „Leben“ und „Geist“ – ob sie nun absolut (Scheler) oder relativ (Cassirer) gesetzt wird – muss kategorial an der Einheitlichkeit des Organischen vorbei gehen. Überraschenderweise interpretiert Goldstein Cassirers Position zur Dialektik von Geist und Leben jedoch nicht bis zu Ende. Denn hinter Cassirers Reformulierung von Schelers Geist-Leben-Differenz als zwei Modi der Formgebung steckt immerhin das Fundament eines aktualisierten „objektiven Idealismus“ (Cassirer 200, 20) im Sinne Hegels. Wenn man annimmt, dass sich im Leben selbst ein interner Übergang von organischer zu ideeller Gestaltung vollzieht, dann lässt sich diese Annahme nur durch eine fundamentalere Bewegung, durch den Prozess einer Entäußerung der „in sich verschlossenen Substantialität“ (ebd., 202) des Lebens aufrecht halten. Das Leben differenziert sich – wie Cassirer in den Linien Hegels argumentiert – zu einer Bewegung des Selbstbegreifens aus: Es ist von Anbeginn eine Manifestation des Geistes, der sich im Prozess seiner Veräußerlichung sukzessiv wieder einholt. Nicht von ungefähr merkt Cassirer gegen Scheler an, die qua Geist ermöglichte Transformation von Zuständlichkeit in Gegenständlichkeit werde nur plausibel, „wenn man in das Zwischenreich der ‚symbolischen Formen‘ eingeht, wenn man die verschiedenartigen Bildwelten betrachtet, die der Mensch z w i s c h e n sich und die Wirklichkeit stellt“ (ebd., 200). Mit keinem Wort (oder doch nur sehr dezent6) lässt Goldstein anklingen, dass Cassirer Schelers Idee der geistigen Distanzierung von Leben keineswegs auflöst, sondern durch einen Idealismus der symbolischen Formen konkretisiert und verzeitlicht. Es ist nicht recht ein  6

Dieses Zitat wird aufgegriffen in Goldstein 93, 298. Siehe ebd., 298f. Siehe Goldstein 93, 299.

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zusehen, worin aus Sicht von Goldsteins allgemeiner Biologie der entscheidende Vorzug von Cassirers Anthropologie des animal symbolicum gegenüber Schelers geistmetaphysisch grundierter Philosophischer Anthropologie liegen könnte7. Ich hatte behauptet, dass bei Goldstein zentrale historische Fäden zwischen Canguilhem und Plessner zusammenlaufen. Wenn Canguilhem einen gewissen Grundeindruck von der Philosophischen Anthropologie besaß, dann deshalb, weil ihm Goldsteins Exkurs zu der Debatte zwischen Scheler und Cassirer um das Verhältnis von Geist und Leben bekannt war. Aber wie verhält sich Plessner zu (oder auf) dem von Goldstein skizzierten Spannungsfeld? Und in welchen Punkten weicht Canguilhems methodischer Rahmen von Goldsteins Paradigma ab? In einem ersten Schritt könnte man argumentieren, dass Plessner, verglichen mit Scheler und Cassirer, von Anfang an der aussichtsreichere Gesprächspartner für Goldstein gewesen wäre8: Er expliziert die Beziehung von Leben und Geist nicht, wie Scheler, als einen Antagonismus zweier Prinzipien, die einander radikal ausschließen und deren Reziprozität nur dann nachzuvollziehen ist, wenn man sie als Modi eines obersten Seinsgrundes auflöst9; aber er dialektisiert diese Differenz auch nicht in den Spuren Cassirers (und Hegels) als eine idealistische Wendung zur Form. Vielmehr tritt „an die strukturfunktionale Stelle des Geistes bei Scheler (…) bei Plessner eine spezifizierbare lebendige Positionierung“ (Krüger 200, 29). Letztlich ist Plessner derjenige Vertreter einer Philosophischen Anthropologie, der an Goldsteins Vorschlag, „Mensch und Tier in einheitliche Betrachtung zu nehmen“ (Goldstein 93, 303), am nächsten heranrückt. Es gibt bei Goldstein selbst ein Zaudern hinsichtlich der „qualitativen Eigenartigkeit der Spannung des Menschenseins gegenüber allem tierischen Sein“ (ebd., 30f.): Auch er versucht, für menschliche Organismen, verglichen mit tierischem Sein, „eine ganz andere Stellungnahme“ (ebd.) gegenüber der Umwelt plausibel zu machen. Schon in der Terminologie bietet sich deshalb der Brückenschlag zu Plessners Rede von der Positionalität des Organischen an; die exzentrische Positionalität ermöglicht „eine ganz andere Stellungnahme“ als jene, die aus der zentrischen Positionalitätsform erfolgen kann. Und genau dies wäre die sytematische Figur, um das, was bei Scheler „Geist“ und „Vitalsphäre“ heißt, „in eine Reihe stellen“ (ebd., 30) zu können. 7

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Cassirers Interesse und Expertise in Bezug auf die Geschichte der biologischen Erkenntnisstrukturen ist freilich beeindruckend, wie der vierte Band seiner großen Studie zum Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit (Cassirer 2000) demonstriert. Zu Cassirers (und Hartmanns) systematischer Situierung der Biologie siehe Regelmann 979. Der philosophische Gesamteinsatz Cassirers liegt aber ohne Zweifel in seiner spezifischen Anthropologie des animal symbolicum, d.h. in seiner Philosophie der symbolischen Formen. Zur Verortung Cassirers innerhalb der Philosophischen Anthropologie siehe Krois 200. Einen kompakten Vergleich von Plessner und Cassirer leistet Schürmann 20, 20–208. Umfassend zudem Delitz 200. Überhaupt ist und bleibt es erstaunlich, dass Goldstein in Der Aufbau des Organismus (und auch später) nicht die geringste Notiz von Plessner genommen hat. Historisch ist es schwer verständlich, warum Goldstein über Plessners Beitrag zur Philosophischen Anthropologie nicht informiert war. Wilwert führt zu diesem Punkt aus, dass „Plessner im Umgang mit metaphysischen Fragen sehr vorsichtig ist“ (Wilwert 2009, 36), während „Scheler diesen ursprünglich aus der Anthropologie gewonnenen und anschließend auf das Ganze des Seins übertragenen Gedanken [der „Sonderstellung“ des Menschen qua Geist, T. E.] schließlich auch auf das höchste Sein, den Weltgrund“ (ebd.), anwendet.

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Es lässt sich nicht überlesen, dass Goldstein mit Scheler und Cassirer auf dem Umschlag von Zuständlichkeit in Gegenständlichkeit als Spezifikum der menschlichen Umweltkonstitution insistieren möchte. Nur scheint ihm, neben Schelers transzendentem Sprung in den Geist, auch Cassirers hegelianisch-prozessuale Begründung dieses Umschlags nicht zu behagen. So sehr Goldstein jedoch auf Distanz zu den geistmetaphysischen und transzendentalistischen Optionen geht, so sehr entbehren seine eigenen Betrachtungen einer Begründung für die These, dass dem „individuellen Ganzen“ der menschlichen Organismusform „das Geistige so [zugehört] wie das Seelische und das Körperliche“ (ebd., 302). Goldstein arbeitet keine Verbindung zwischen seinen beiden Hauptannahmen aus: Was sichert dem Menschen die „Grundeigentümlichkeit seines Wesens, sich auf Möglichkeiten einzustellen, die Welt in ihrem Vollzuge gewissermaßen anzuhalten, sich von ihr ein Bild machen zu können“ (ebd., 300), wenn doch zugleich im „gleichartigen ganzheitlichen Aufbau“ (ebd., 30) eine „Gleichartigkeit der Gesamtstruktur“ (ebd.) liegt, die man jeder Form des Organischen zuschreiben darf? Goldstein behauptet zwar, dass die totale Präsenz in der Koordinierung der Umwelt ein Merkmal des Organischen ist, das beim Menschen spezifisch anders ausfällt und gerät als beim Tier: Aber seine eigenen Überlegungen enthalten keine Auskunft darüber, wie ein individualisierter Vollzug des „einheitlichen Ganzen“ (ebd., 302) überhaupt zu Stande kommen kann. Man kann es hier bei dem Hinweis belassen, dass Plessners Argument der exzentrischen Positionalität genau jener Ambivalenz begegnet: Genau wie der Organismus des Tiers ist der menschliche Organismus an das „absolute[…] Hier-Jetzt“ (Plessner 97, 29) gebunden, er befindet sich „in Totalkonvergenz des Umfeldes und des eigenen Leibes gegen das Zentrum seiner Positionalität“ (ebd.). Die schlagende Differenz spricht sich darin aus, dass der Mensch auch noch zu seiner zentralen Eingelassenheit in die Umwelt und der damit verbundenen Differenz seines Körpers zu seinem Leib in Relation steht: Er „weiß diese Mitte, erlebt sie und ist darum über sie hinaus“ (ebd.). Goldsteins Auseinandersetzung mit Cassirer demonstriert, dass er offenbar keine Möglichkeit für eine transzendentale Reflexion sah, die nicht postwendend zu Lasten der phänomenologischen Orientierung am Menschen als Organismus gehen würde. In der Tat stellt Plessners Ansatz eine solche Kopplung von Naturphilosophie und Transzendentalismus dar: Und es scheint, als ob Goldstein für seine eigene Theorie implizit nach einer solchen Kombination Ausschau gehalten hat. Unabhängig von diesen Einwänden, die sich von Plessner her gegen Goldstein vortragen lassen, ist aber ebenso sichtbar, wie sich die Kritik umkehren könnte. Auch Plessner vertritt noch wie Scheler ein Modell, das sich bei der Erfassung des „Wesens“ eines Organismus auf den Grad seiner strukturellen Komplexität stützt. Plessner schreitet eine Sukzession sich verkomplizierender Stufen des Organischen ab, an deren Ende die Exposition der menschlichen Lebensform steht. In gewisser Weise faltet Plessner aber in diese aufsteigende Betrachtungsweise von Anfang an eine Perspektive ein, die, wie bei Goldstein, auf die spezifische Sphäre des Menschen eingegrenzt ist. Auch Plessner legt großen Nachdruck auf das Thema einer spontanen Anschauung der Dinge: Was ein Ding (z.B. ein lebendiges Ding) ist, erschließt sich unmittelbar, in einem Akt der Anschauung, der gleichzeitig eine Teilnahme an dem impliziert, was sich der Anschauung zeigt. Eine der entscheidenden Pointen von Plessners Argumentation lautet, dass diese Anschauung, die,

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wie man spontan vermuten könnte, unvermittelt in die Ordnung der Dinge eingetaucht ist, sich als eine „vermittelte Unmittelbarkeit“ erweist. Jener Blick, der ein Ding als Ding (und das Lebendige als Lebendige) zu identifizieren vermag, korreliert mit einem „Sinn für’s Negative“; er ist einzig aus der exzentrischen Positionalität des Menschen heraus auflösbar. Diesen Rückschluss von der Anschauung auf das Subjekt der Anschauung würde Goldstein nun in der Tat abweisen. Zwar zehrt auch seine Konzeption von einer Anschauung lebendiger Phänomene, die ihrerseits den Charakter des Lebendigen in sich trägt: Aber anders als Plessner begründet Goldstein den lebendigen Kern der Anschauung (oder Erkenntnis) von Lebendigem nicht durch eine Reflexion darauf, wie überhaupt jenes Subjekt „beschaffen“ sein muss, das den Unterschied zwischen lebendigen und unbelebten Entitäten zu registrieren vermag. Sein Gedanke lautet vielmehr, dass sich die biologische Erkenntnis in dem Zug, in dem sie zwischen messbaren Einzeltatsachen eine Ordnung herstellt, mit dem ihr eigentümlichen Gegenstand vereint. Die Annahme, dass in jeder Verhaltensäußerung eines Organismus dieser Organismus im Ganzen auf dem Spiel steht, bildet für Goldstein den „Erkenntnisgrund“ (Goldstein 93, 22) der biologischen Erkenntnis20. Der für Goldstein entscheidende Gesichtspunkt heißt, dass sich eine Epistemologie der Biologie nur als biologische Epistemologie fundieren lässt2. Damit ist genau jene von Goldstein reklamierte methodische Bewegung umgesetzt, die im spezifischen Erfahrungshorizont des Menschen anhebt, um von diesem Ausgangspunkt her eine Betrachtung des „Wesens“ des Organischen anzustoßen. Plessner hingegen verpasst es, zu erkennen, auf welche Weise die Anschauung des Lebendigen mit dem Wesen des Lebendigen in Verbindung kommt. Er holt zu einer transzendentalen Argumentation aus, die auf den spezifischen Gesichtskreis des Subjekts der biologischen Erkenntnis beschränkt bleibt, anstatt das Wesen des Gegenstands der Biologie zu erfassen. Es ist unverkennbar, dass die von Goldstein anvisierte Doppelung von einer Epistemologie der Biologie zu einer Biologie der Epistemologie den entscheidenden Übergang zu Canguilhem herstellt. Vor allem Canguilhems Überlegungen aus La connaissance de la vie lassen sich als eine Variation über Goldsteins Grundthema beschreiben22. In dieser Hinsicht würde sich Canguilhem ohne Zweifel in Goldsteins Lager und nicht in das der Philosophischen Anthropologie einreihen. Worin allerdings ein einschneidender Unterschied zwischen Canguilhem und Goldstein auszumachen sein könnte, deutet Mai Wegener an, wenn sie bemerkt, dass sich „Goldstein (…) für die Beantwortung der Frage nach der Herstellung einer biologischen Tatsache allerdings nicht in die Geschichte 20

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Hier kann man sich natürlich fragen, ob Goldstein nicht einer Fehlinterpretation von Kants teleologischem Urteil aufsitzt. Bei Kants Standpunkt, wir seien im Umgang mit Naturzwecken (falls es so etwas gibt) gezwungen, diese Dinge so zu betrachten, als ob eine „Idee des Ganzen (…) die Form und Verbindung aller Teile bestimme“ (Kant AA V, 83), handelt es sich um ein strikt regulatives (und nicht konstitutives) Prinzip, d.h. um eine „Maxime oder Vorschrift […], die wir uns selbst (nicht den Dingen) geben“ (McLaughlin 989, 32f.). Goldstein hingegen geht mit dieser Einschränkung nicht loyal um. Er scheint unter der Perspektive der „Idee des Ganzen“ eher eine ontologische Argumentation zu verfolgen. Claude Debru spricht in seiner Darstellung von Goldsteins Kant-Interpretation diese Unstimmigkeit nicht an (Debru 200, 7f.). Dazu Wegener 2009, . Dazu Debru 200, 9–63.

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[begibt]“ (Wegener 2009, ): „Erst von Canguilhem und auch von Starobinski wird die historische Perspektive eingetragen, wenn sie Goldsteins Überlegungen in ihren eigenen Arbeiten aufnehmen“ (ebd.). Diese Einschreibung der Geschichte in das Theorem des ganzheitlichen Verhaltens von Organischem ist alles andere als ein beliebiger Zusatz: Während nämlich Goldstein eine normative Haltung vertritt, die auf die Idee der Ganzheit des Lebendigen verweist, flankiert Canguilhem diese Perspektive noch durch eine Beschreibung der historisch-diskursiven Normalisierung des Lebendigen. Die Marschrichtung seiner eigenen Historischen Epistemologie geht dahin, die internen Normen des Lebendigen in ihrer Spannung zu den Normen der wissenschaftlichen und technischen Dispositive aufzuweisen, in denen Lebendiges objektiviert wird. Bei Goldstein fehlt diese historische Ebene, und dieser Unterdeterminierung ist es vor allem zuzuschreiben, wenn sich zwischen ihm und Canguilhem eine veritable „différence de style de pensée“ (Debru 200, ) auftut. Leiten wir an dieser Stelle zu der zweiten philosophischen Konzeption über, in der sich die gedanklichen Bahnen Canguilhems und Plessners kreuzen können: Zu jener Form von Historischer Epistemologie, die Michel Foucault vor allem in den 960er Jahren ausgearbeitet hat. Bekanntermaßen erfreut sich Foucaults Œuvre auf beiden Seiten des Rheins einer Intensität der Rezeption, die ihresgleichen sucht. Ein flüchtiger Blick auf die posthum (längst auch auf Deutsch) erschienenen Dits et Ecrits reicht völlig aus, um feststellen zu können, dass selbst knappe Interviews, beiläufige Statements und Gelegenheitstexte Foucaults der Lektüre bzw. Übersetzung für wert befunden worden sind. Neben Derrida, Deleuze, Lyotard, Merleau-Ponty, Lévi-Strauss oder Bourdieu hat Foucault unangefochten seinen Platz in der Riege jener französischen Denker des 20. Jahrhunderts, die auch in Deutschland auf breiter Front diskutiert worden sind. So ist es denn auch in keiner Weise überraschend, wenn die Sekundärliteratur zur Philosophischen Anthropologie bereits weitläufig auf die Thesen Foucaults eingegangen ist, um sie im Gegen-Licht vor allem von Plessners Überlegungen zu lesen23. Auch die Renaissance Canguilhems, die in Frankreich seit etwa einem Jahrzehnt im Gange ist und sich inzwischen auch in der deutschen Debatte durchzusetzen beginnt, verdankt sich in hohem Maße der Faszination, die von der Person und den Texten Foucaults ausgeht. Im Unterschied zur deutschsprachigen Foucault-Rezeption hat man in der französischen Forschung jedoch bemerkt, wie wesentlich es für ein Gesamtverständnis der Arbeiten Foucaults ist, die tiefen, aber oft unterschwelligen Prägungen zu rekonstruieren, die sie durch Canguilhems Ansatz empfangen haben2. Seit seiner Begutachtung von Folie et déraison stand Canguilhem in enger akademischer Verbindung zu Foucault; die (von Foucault überbetonte2) gemeinsame Linie, mit der sie sich an der Seite von Bachelard, Cavaillès und Koyré von der phänomenologischen Strömung in der französischen Philosophie im 20. Jahrhundert absetzten, wurde hier schon mehrfach referenzialisiert. Sowohl in der französischen26 als auch in der deutschen Diskussion27 sind in jüngster Zeit einige aufschlussreiche Interpre23 2 2 26 27

Siehe Anmerkung 2 in diesem Kapitel. Siehe vor allem Macherey 2009d und Lecourt 97. Siehe Foucault 988. Siehe z.B. Sabot 2009, Salanskis 2009. Siehe z.B. Muhle 2008; Balzaretti 200a; Balzaretti 200b; Balzaretti 200c.

Missing Links: Goldstein und Foucault

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tationen entstanden, die sich dem systematischen Verhältnis der Projekte Canguilhems und Foucaults widmen. An gemeinsamen Fragestellungen, unter denen sich alle drei Autoren – Plessner, Canguilhem und Foucault – in vielversprechender Weise zusammenführen lassen könnten, bestünde kein Mangel. Aber es geht hier nicht um einen lückenlosen Vergleich. Vielmehr sollen die Darlegungen zu diesem Dreieck auf eine für Foucaults Systematik exemplarische Komponente beschränkt werden. Denn in der Tat führt Foucault an einem speziellen Punkt seiner Überlegungen eine Kritik, die sich wie eine direkt an Plessner und an Canguilhem adressierte Kritik liest: Gemeint ist das Theorem der „empirisch-transzendentalen Dublette“ (Foucault 99, 38), das Foucault im neunten Kapitel der Ordnung der Dinge illustriert28. Im Folgenden möchte ich mich auf die an dieses Konzept gebundenen Themen konzentrieren. Diese Einengung bringt es mit sich, dass weder die Problematik der Biopolitik noch in expliziter Form die Analytik der Macht genauer verhandeln werden können – beides überaus relevante Motive im Denken Foucaults, die ebenfalls sinnvolle Ausgangspunkte für ein Gespräch wären, in das man Plessner und Canguilhem einbeziehen könnte. Allerdings hängt mit dem hier gewählten Nachdruck auf Foucaults Rekonstruktion der empirisch-transzendentalen Dublette durchaus eine sachliche Prioritätensetzung zusammen: Mit Balzaretti teile ich die Auffassung, „dass Foucaults Äquivalent für Nietzsches ‚Willen zur Macht‘ nicht in einer volonté de pouvoir, sondern in einem ‚Willen zum Wissen‘ besteht (…), der (…) nie zu bejahen, sondern ständig zu kontrastieren ist“ (Balzaretti 200c, 9; Hervorhebung i.O., T. E.). Auf dieser Linie mag sich, wie Balzaretti in diesem Kontext argumentiert, die von Honneth bis Habermas polemisch und simplifizierend in den Vordergrund gestellte Rolle einer „Analytik der Macht“ bei Foucault relativieren. Vor einer Vertiefung in Die Ordnung der Dinge empfiehlt es sich, gleichsam zur Einstimmung, kurz an das Szenario zu erinnern, das Foucault drei Jahre zuvor in seiner Studie über Die Geburt der Klinik (963; hier zitiert nach: Foucault 999) vorgeführt hatte. In der Geburt der Klinik zeichnet Foucault für die Geschichte der Medizin einen Blickwechsel nach, der die Relation zwischen dem Phänomen der Krankheit und dem menschlichen Körper betrifft. Verortete die Medizin des 8. Jahrhunderts das „Wesen“ der Krankheit noch ganz in deren „Zeichen“, in der Ordnung ihrer Symptome, die sich (nach dem Vorbild der Botanik) katalogisieren und differenzieren ließen, so bildet sich mit der pathologischen Anatomie seit Beginn des 9. Jahrhunderts (Bichat, Laennec) eine ganz andere Optik heraus: Fortan wird die Krankheit nicht länger an, sondern in den Körpern ausgemacht, als eine im Inneren des Körpers herrschende Prozessualität, die fordert, dass sich der ärztliche Blick „nun in den Raum ein[bohrt], den er zu durchlaufen hat“ (Foucault 999, 0). Foucault resümiert: „In der ersten klinischen Erfahrung war ein äußeres Subjekt am Werk, das entzifferte und buchstabierte und von da aus die Verwandtschaften ordnete und definierte. In der anatomisch-kli28

Da Foucault jedoch Plessner nicht einmal dem Namen nach kannte, handelt es sich hier interessanterweise um eine Kritik, die gleichsam ohne Wissen und Willen ihres Autors die Philosophische Anthropologie tangiert. Man könnte allerdings argumentieren, dass Canguilhem, wenn schon nicht in ausdrücklicher Weise, dann zumindest implizit und zwischen den Zeilen als Zielscheibe von Foucaults Kritik erscheint. In Kürze wird sich schärfen, wie diese eigentümliche Situation aufzufassen ist.

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nischen Erfahrung sieht das Auge des Arztes die Krankheit sich ausbreiten und aufschichten, indem es selber in den Körper eindringt, indem es sich zwischen seinen Massen vorarbeitet, indem es sie umgeht oder unterwandert, indem es in seine Tiefen hinabsteigt. (…) Die Krankheit ist nicht mehr eine pathologische Art, die sich in den Körper einfügt, wo das möglich ist; die Krankheit ist der krank gewordene Körper selbst.“ (Ebd.)

Während die klassische Medizin den Raum der Zeichen und die Räumlichkeit des Körpers separierte, hat es die klinische Anatomie mit einer neuen „fundamentalen Sichtbarkeit der Dinge“ (ebd., 79) zu tun: In die körperlichen Vorgänge ist die Sprache der Krankheit auf verborgenen, komplex verzweigten und trügerischen Wegen eingehüllt, die „das Herannahen des Todes“ (ebd., ) ankündigen. Aus Sicht des klinischen Blicks, der sich im 9. Jahrhundert allmählich formiert, ist es der Tod, der nur mehr als „Standort“ (ebd., 8) fungiert, „von dem aus die Formen und Etappen des Pathologischen überblickt und fixiert werden“ (ebd.). Foucaults Schlusspointe in der Geburt der Klinik bezieht sich folglich auf das erstmalige Heraustreten einer Perspektive, um „die Struktur der Endlichkeit“ (ebd., 208) zu denken. In dem Moment, in dem man dazu übergeht, den Tod als irreduziblen Bezugspunkt des Wissens zuzulassen und ihn als den „große[n] Analytiker“ (ebd., 8) zu identifizieren, „der die Verbindungen zeigt, indem er sie auflöst“ (ebd.), wird das Problem der Endlichkeit überhaupt erst epistemologisch freigesetzt. Nur dank dieser Freisetzung konnte es zu einer Erfahrungs-und Wissensstruktur kommen, deren spezifischer Gegenstand seitdem der Mensch ist. Diese Wissensstruktur macht es möglich (und unverhinderbar), dass sich der Mensch auf sich selbst als empirische Positivität bezieht, dass er sich als „Gestalt der Endlichkeit“ (Foucault 99, 38) entdeckt. Doch es handelt sich hier zugleich um ein Wissen, das in seinem Gegenstand „Kenntnis von dem nimmt“ (ebd.), was jedes Wissen möglich macht. Es ist nicht nur so, dass fortan der Mensch als arbeitende, sprechende und lebendige Figur, d.h. in der ihm „eigenen Historizität“ (ebd., 0) zum Vorschein kommt; vielmehr kann sich die endliche Qualität des Menschen, die „in den positiven Inhalten der Sprache, der Arbeit und des Lebens“ (ebd., 382) transparent wird, nur insofern ergeben, als „die Erkenntnis endliche Formen hat“ (ebd.)29. Auf den letzten Seiten der Geburt der Klinik antizipert Foucault bereits jenes Paradox, das er in der Ordnung der Dinge mit dem Konzept der „empirisch-transzendentalen Dublette“ veranschaulicht. Dabei ist es keineswegs beiläufig, wenn er auch in der Geburt der Klinik auf jene „anthropologische Struktur“ (Foucault 999, 208) verweist, die „gleichzeitig die kritische Rolle der Grenze und die fundierende Rolle des Ursprungs“ (ebd.) spielt. Foucault sagt selbst, dass die Erkenntnissituation des klinischen Mediziners, so, wie sie etwa seit Mitte des 9. Jahrhunderts angelegt ist, ein Emblem der „Veränderungen in den fundamentalsten Dispositionen des Wissens“ (ebd., 209) zu sein scheint: Die Beziehung zwischen den Subjekten und 29

Zu dieser Denkfigur aus der Ordnung der Dinge siehe Schneider 200, 77: „Das Wissen besteht nicht aus Naturgegebenheiten, wie noch im 8. Jahrhundert, sondern aus Spuren menschlicher Tätigkeit, aus Produktionen des Sprechens, Lebens und Arbeitens, in denen der Mensch sich verwirklicht, ohne sich doch darin selbst wiedererkennen zu können. […] Vielleicht kann man es so ausdrücken: Während im klassischen Zeitalter der Mensch zwar thematisiert wurde, aber nicht gedacht werden konnte, wird er seit dem 9. Jahrhundert sowohl extensiv beschrieben wie kategorial vorausgesetzt, ist er eine empirische Realität und eine Bedingung der Möglichkeit von wissenschaftlicher Erkenntnis zugleich.“

Missing Links: Goldstein und Foucault

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den Objekten der Erkenntnis erfährt eine Verzeitlichung und Komplizierung. Sie spielt sich nicht ab ohne eine permanente Verdrehung von Sichtbarem und Unsichtbarem; „die Wahrheit, die für das Auge gemacht ist, wird ihm entzogen“ (ebd., 79). Der ärztliche Blick findet sich in einer Dialektik von Subjekt-und Objektpositionen wieder, in der gilt, dass die Gegenstände der Erkenntnis und die Voraussetzungen der Erkenntnis sich in einander spiegeln, ohne noch durch eine „Idee des Unendlichen“ (Foucault 99, 382) vereint zu werden. Mit diesen Seitenblicken auf die Geburt der Klinik sind wir geradewegs in das Zentrum der großen Kritik eingetreten, die Foucault in Die Ordnung der Dinge entwickelt. Diese Kritik erscheint als sinnvollster Pass zu Canguilhem und zu Plessner: Denn Foucault könnte die Konzeptionen beider Autoren in sein Bild von der epistemologisch-anthropologischen Zirkularität der Moderne eintragen. Er würde wohl behaupten, dass beide Projekte, ohne sie zu durchschauen, geschweige denn zu überwinden, die unendliche Schleife der modernen episteme bezeugen. Im Folgenden soll der kurze Versuch unternommen werden, Foucaults Argumentation gegen Canguilhems Historische Epistemologie und gegen Plessners Philosophische Anthropologie zuzuspitzen. Zugleich werde ich die Perspektive aber auch umkehren und ausgehend von den Standpunkten Plessners und Canguilhems gewisse Inkonsistenzen von Foucaults Analyse herausstellen. Jene Stellen, die in Foucaults Überlegungen eine kritische Perzeption von Canguilhem verraten, schlagen einen durch und durch respektvollen, zurückhaltenden und indirekten Ton an. Es ist in der Tat nicht leicht, herauszuhören, dass gewisse ablehnende Bemerkungen Foucaults letztlich an die Adresse Canguilhems gehen (sollen): Man darf es wohl auf die enorme Hochachtung, mit der diese beiden Männer einander begegneten, zurückführen, wenn Foucault seine Bedenken gegenüber Canguilhems Position stets nur über Stellvertreter und auf Umwegen artikuliert. Ein erstes gutes Beispiel dafür ist die Historisierung des vitalistischen Gesichtspunkts, die Foucault in Die Geburt der Klinik vornimmt. Hier referiert Foucault Bichats Aufweis einer irreduziblen Besonderheit des Lebens durch das „Risiko des Krankseins“ (Foucault 999, 8) als Symptom jener historischen Transformation, die den Tod zum Angelpunkt einer neuen Relation mit der Endlichkeit des Menschen erhebt. In Abwandlung eines ironischen Diktums, das Foucault auf Marx bezieht, könnte man sagen, dass Bichat im Denken des 9. Jahrhunderts schwimmt wie ein Fisch im Wasser30. Sein Vitalismus rankt sich um die unbegreifliche Präsenz des Todes, der sich nun im Herzen des Lebendigen verbirgt und eben dort schon anwesend ist, wo man ihn nicht zu greifen vermag. Foucault konterkariert den epistemologischen Vitalismus durch einen historisch präzise situierbaren, aber seiner Struktur nach unscharfen „Mortalismus“ (ebd., 9)3. Unverwechselbar klingt in Foucaults Skizze von Bichats Position der Grundgedanke aus Das Normale und das Pathologische an: „Bichat hat den Begriff des Todes relativiert, hat ihn seiner Absolutheit beraubt, welche ihn zu einem unteilbaren, entscheidenden und unwiderruflichen Faktum gemacht hatte; er hat ihn sich in das Leben verflüchtigen lassen, indem er ihn in partielle und langsam fortschreitende Tode auflöste, die erst nach dem eigentlichen Tod abgeschlossen sind. Aus dieser Tatsache machte er aber eine wesentliche Struktur des medizinischen Denkens und Wahrnehmens: der Tod ist das, 30 3

Siehe Foucault 99, 30. Dazu Schneider 200, 79. Dieses Motiv wird ausführlich und überzeugend interpretiert von Muhle 2008, 6ff.

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dem sich das Leben entgegensetzt und in dem es sich auseinandersetzt; bezogen auf ihn ist es lebendige Opposition und daher Leben; in ihm findet es seine Exposition und damit seine Wahrheit.“ (Ebd.; Hervorhebungen i.O., T. E.)

Foucault legt der vitalistischen Haltung Bichats implizit bereits das Bild der „empirischtranszendentalen Dublette“ zu Grunde, auch wenn er mit dieser Terminologie an dieser Stelle noch nicht operiert. Wo aber Bichat genannt wird, da ist Canguilhem (mit-) gemeint: Canguilhem hatte sich in La connaissance de la vie expressis verbis Bichats Bestimmung des Lebendigen angeschlossen und sogar für deren Radikalisierung plädiert. Im Unterschied zu Foucault reduziert Canguilhem die vitalistische Perspektive jedoch keineswegs auf eine Blickweise, die sich durch den „Einbruch der Endlichkeit“ (ebd., 209) in den Horizont der Erkenntnis formiert: Über ihre historische Gewordenheit hinaus ist die vitalistische Option in den modernen Wissenschaften vom Leben ein normativer Einsatz, der zu seinem Gegenstand in einem angemesseneren Verhältnis steht als die mechanistische Position. Für Canguilhem lässt sich ein Standpunkt, der das Leben als in sich werthaft thematisiert, keineswegs nur unter Verweis auf die epistemologische Konstellation der Moderne aufschlüsseln. Er hält die Normativität, die immanente Wertigkeit des Lebendigen vielmehr für ein irreduzibles Kennzeichen der Phänomene selbst, dem auch philosophisch Rechnung getragen werden muss32. Und wie fügt sich Plessners Version von Philosophischer Anthropologie in Foucaults Problematik der „empirisch-transzendentalen Dubletten“ ein? Ich kann hier nur eine mögliche Erwiderung ins Spiel bringen, die von Plessners Seite gegen Foucaults Zirkeldiagnose formuliert werden könnte. Hans-Peter Krüger hat notiert, dass „Foucault der Sache nach wirklich nicht exponieren kann“ (Krüger 2008b, 3), von wo aus „zwischen den Dezentrierungen und den Rezentrierungen der Macht-und Wissensformen“ (ebd.) unterschieden werden könnte. Fest steht wohl, dass Foucault für sich eine „machtfreie Form von Logos“ (Balzareti 200a, 0) reklamiert, die gegen die aporetische Verfassung der modernen Rationalität ex negativo die Idee eines „ungetrennten Ganzen, einer Trennung, die doch ohne Ausschluss möglich wäre“ (ebd., 9) anzielt. Wenn diese Vision einer Univozität der Vernunft, die sich nicht in den „unmöglichen Trennungen“ (Sinn/Unsinn, normal/pathologisch etc.) des anthropologischen Zirkels verlieren soll, Foucaults Antwort auf die Frage ist, von woher die Zirkel überhaupt beschrieben und problematisiert werden, dann ist die heftige Divergenz zu Plessner deutlich: Denn Plessner entwickelt in Macht und menschliche Natur, wie bereits erläutert, das „Prinzip von der Unergründlichkeit des Menschen im Ganzen“ (dazu Krüger 2008c, 8). Nicht die Positivität eines Logos, der sich dereinst von der tragischen Bewegung der Transgression befreien könnte, sondern Personen als Lebewesen, die sich fraglich sind, bildet für Plessner das Außen der von Foucault beschriebenen Zirkularitäten. 32

In diesem Rahmen ist es nicht möglich, die konzeptuellen Konflikte, die sich zwischen Foucault und Canguilhem ergeben könnten, weiter zu präzisieren. Ich verweise nur auf die Arbeiten von Ugo Balzaretti, der versucht, mit Canguilhem eine „besondere Art von Unmittelbarkeit“, die in der Tätigkeit des Lebendigen selbst gründet, gegen Foucaults Formel eines transgressiven (im Unterschied zum subversiven) Logos auszuspielen. Bei Foucault komme es zu einem „Primat des Ontologischen über das Ontische“ (Balzaretti 200a, 0), der Foucaults Idee der Transgression unterläuft. Genannt werden muss außerdem die Studie von Muhle 2008.

Das historische Panorama

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Es ist hier nicht durchführbar, die angerissenen Punkte weiter ausbauen. Dieses Kapitel beschränkte sich auf die Funktion, Kurt Goldstein und Michel Foucault als zwei historisch nahe liegende Vermittler für die Gegenüberstellung zwischen Plessner und Canguilhem in Szene zu setzen. Mehr als die allerelementarsten Linien und Richtungen, auf denen eine gemeinsame Diskussion statt finden könnte, lassen sich unter diesen Bedingungen gar nicht antizipieren.

Das historische Panorama Wir stehen am Ende des Projekts und damit vor der Aufgabe, im Rückblick auf die zurück gelegte Tour noch einmal den systematischen Kern jener gemeinsamen Konstellation zu schärfen, in welche die Philosophien von Helmuth Plessner und Georges Canguilhem hinein geführt wurden. Aber bevor sich die im Herzen des gesamten Themas befindliche Konstruktion vollständig enthüllt, sollen die historischen Interessen, von denen der Vergleich flankiert war, noch einmal resümiert werden. Ihren historischen Reiz bezieht diese exotische Kombination – Canguilhem und Plessner – zunächst einmal daraus, dass beide Autoren auf sonderbare Weise neben den dominanten Philosophien standen, von denen ihre Zeit und ihre jeweilige philosophische Kultur verzaubert waren. Beide Ansätze sind durch eine gewisse stilistische Sperrigkeit und methodische Rigorosität charakterisiert. Aber noch etwas anderes tritt hinzu: Sowohl die Philosophische Anthropologie als auch die Historische Epistemologie waren, wenn man sie heute als „Denkrichtungen“ (Fischer 2008a) rekonstruiert, tief in die jeweiligen intellektuellen Landschaften Deutschlands und Frankreichs eingelassen. Beide Theorietraditionen schälten sich aus idiosynkratischen Kontexten heraus33. Wer sich auf diese besonderen philosophischen Formate einlässt, wird schnell auf die hier wie dort einschlägigen Feinabgrenzungen innerhalb nationaler diskursiver Gemengelagen mit ihren je eigenen Protagonisten und Hintergründen stoßen. So muss man beispielsweise, um Plessners Ansatz adäquat lokalisieren zu können, die Bedeutung einer ganz bestimmten Linie der Dilthey-Rezeption (über Georg Misch) erfassen3, die in Frankreich bis heute unerforscht ist. Für Canguilhem hingegen war die in Frankreich herangereifte Art der Wissenschaftsgeschichte, die sich an Namen wie Lucien Lévy-Bruhl und Léon Brunschvicg festmacht, prägend – eine Bewegung, die in Deutschland nie sonderliche Beachtung gefunden hat, schon gar nicht zu Lebzeiten Plessners. Aber mehr noch: Innerhalb von Philosophieformen, deren Originalität sich erst erschließt, wenn man sie in ihre jeweiligen nationalen und kulturellen Panoramen einbet33

3

Im Hinblick auf die Philosophische Anthropologie siehe hierzu Fischer 2008a, 80ff. In Bezug auf die Historische Epistemologie geht Jean-François Braunstein explizit von einem „style français“ aus (Braunstein 2002, vor allem 920f.) Auf Fischers Suche nach einem „Identitätskern“, der die Philosophien von Scheler, Plessner und Gehlen über alle Diversitäten hinweg einen und zu einer umgreifenden „Denkrichtung“ zusammenschweißen soll, wurde in der Forschung durch Versuche reagiert, stärker als zuvor die Dissonanzen zwischen den Autoren zu akzentuieren (Mitscherlich 2008b). Dem entspricht in der Diskussion um die Historische Epistemologie, dass J-F. Braunstein und D. Lecourt dafür plädiert haben, angesichts der Heterogenität der Autoren, die unter dieses Etikett fallen, eher von einer Tradition als von einer Schule zu sprechen (Braunstein 2002, 923). Dazu Schürmann 20.

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tet, haben sich Plessner und Canguilhem noch einmal spezialisiert: Plessner reklamiert für sich eine distinktive Variante der Philosophischen Anthropologie, die den Spielarten Schelers und Gehlens in manchen Punkten ähnlich, in anderen aber ihnen gegenüber inkommensurabel ist. Canguilhem hingegen schreibt sich in die von Autoren wie Abel Rey, Gaston Bachelard, Jean Cavaillès oder später Michel Foucault in unterschiedlichen Trajektorien ausgezeichnete Linie einer Historischen Epistemologie ein, der er dann eine einzigartige Wendung, nämlich in die Wissenschaftsgeschichte der Biologie und Medizin hinein, verleiht. Man darf sich nicht darüber täuschen, dass sich beide, Plessner und Canguilhem, durch die Spezialisierung ihrer Ansätze nicht ganz unfreiwillig an die Peripherie der Debatten gestellt haben, an denen sie sich beteiligten. Beide scheinen sich im Klaren darüber gewesen zu sein, dass die Rezeption ihrer Theorien so etwas wie einen zweiten Blick, ein näheres Hinsehen oder eine geduldigere Reflexion auf den philosophischen Schauplatz und die Auseinandersetzungen, die dort ausgetragen wurden, erforderte3. Aber ganz abgesehen davon, dass die Arbeiten Canguilhems und Plessners einen gleichsam ostentativ komplizierten Zug ausstrahlen, sind ihre grundverschiedenen Projekte auch von geschichtlichen Strudeln mitgerissen worden, die ihre Verdunkelung begünstigten. Die Aufmerksamkeit war in den Räumen, in denen Canguilhem und Plessner agierten, auf andere, vermeintlich spektakulärere Entwürfe verteilt. So ist die Ignoranz gegenüber Plessners Stufen nicht zuletzt dem kometenhaften Aufstieg Heideggers Ende der 920er Jahre geschuldet, von den sich überschlagenden Ereignissen im Jahr 933, als Plessner in Folge des nationalsozialistischen „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ zunächst systematisch um eine Professur gebracht und schließlich ins Exil getrieben wurde, ganz zu schweigen. Canguilhem hingegen kann als eine eigenartige Schwellenfigur auf dem polarisierten Terrain der französischen Philosophie nach 9 gelten: Auf der einen Seite ist ihm noch die Affinität zur Generation der um 90 geborenen, positiv von der Phänomenologie beeindruckten Theoretiker (Sartre, Merleau-Ponty, Aron) anzumerken36. Auf der anderen Seite ist sein Einfluss auf Autoren wie Foucault, Deleuze, Derrida37, Bourdieu, Badiou oder – Stichwort 968 – Lecourt, Macherey und Balibar, die sich im Zeichen völlig anders gelagerter, anti-phänomenologischer Politiken auf ihn beriefen, kolossal. Im Rückblick scheint es, als sei diese Wanderung Canguilhems zwischen den Generationen und politischen Milieus einer unbefangenen Einschätzung seiner Leistungen eher hinderlich als dienlich gewesen. 3

36 37

Nicht umsonst hat Foucault den Hinweis auf die „freiwillige Strenge“, mit der Canguilhem seinen eigenen Ansatz eingegrenzt hat, ganz an den Anfang seines Portraits gestellt. Siehe Foucault 988, 2. Siehe Worms 2009, 366. Derridas Rezeption von Canguilhem würde einen verlockenden Komplex für weitere Forschung darstellen. Neben dem Aufsatz über den „Wahnsinn im Zeitalter der Psychoanalyse“ (Derrida 998), der sich im Untertitel als Hommage an den wenige Jahre zuvor verstorbenen Canguilhem ausweist, existieren im Nachlass Derridas an der University of Irvine in Kalifornien zahlreiche unveröffentlichte Manuskripte, die offenbar direkte Kommentare zu diversen Argumenten Canguilhems enthalten und so verheißungsvolle Titel tragen wie Événement et probabilité: Canguilhem (9/6) oder Expérience et théorie: Canguilhem (9/6). Mir sind diese Texte aus dem UC Irvine Critical Theory Archive unbekannt, doch eine Auswertung dieser Stellungnahmen Derridas zu Canguilhem scheint mir enorm lohnend, weshalb dieser Hinweis hier vermerkt sei.

Das historische Panorama

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Noch vor 20 bis 30 Jahren, zu Lebzeiten der beiden Autoren, wäre eine Vernetzung Plessners und Canguilhems völlig abwegig gewesen: Die schlechte Politisierung der philosophischen Landschaften in den 980er Jahren, in Frankreich wie in Deutschland, hätte einen solchen Dialog von vornherein unmöglich gemacht. Wie routiniert eingetaktet in der damaligen bundesrepublikanischen Situation noch der Reflex war, aus philosophischen Einlassungen (der Kontrahenten) wahlweise rechtsliberale oder marxistisch-anarchische Töne herauszuhören, zeigt exemplarisch ein Artikel von Dietmar Kamper aus dem Jahr 980, in dem der Autor über Ergänzungspotenziale zwischen Kritischer Theorie und diversen „strukturalistische[n] Perspektiven“ (Kamper 980, 82) spekuliert. Kamper erntete für diesen Schulterschluss, der keineswegs als naive Eloge der Strukturalisten intendiert und geschrieben war, eine Mischung aus Empörung und Hohn aus dem Lager der Kritischen Theorie (Klaus Laermann)38. Was nun die politische Aufladung der Canguilhem-Rezeption in Frankreich betrifft, habe ich schon referiert, wie paradigmenstiftend es für eine bestimmte Generation der französischen Gegenwartsphilosophie war und ist, auf ihre doppelte Schülerschaft bei Canguilhem und Althusser verweisen zu können (Lecourt, Macherey, Etienne und Françoise Balibar, Bouveresse)39. Auch auf französischer Seite bestanden also gravierende Vorentscheide über die Richtungen, in die eine Rezeption der Person und der Arbeiten Canguilhems gehen oder eben nicht gehen konnte. Erst heute lichten sich nach und nach die ideologischen Nebel. Die nationalen Umklammerungen und politischen Vereinnahmungen lockern sich allmählich. Plessner starb 98, Canguilhem 99, und für beide Autoren trifft grob zu, dass eine verstärkte Auseinandersetzung mit ihren Schriften jeweils etwa 0 Jahre nach ihrem Tod einsetzte. Heute genießen beiden posthum eine „Renaissance“0 bzw. überhaupt erst einmal eine angemessene Rezeption. Und man ist inzwischen erfreulicherweise sogar dazu übergegangen, sowohl Canguilhem als auch Plessner grenzüberschreitend zu lesen. Es wird immer üblicher, sie mit Theoretikern anderer Nationalitäten, anderer Epochen, anderer Schulen, anderer intellektueller Herkunft zusammenzudenken. Insofern begreift sich die vorlie38

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0 

Der „Fall“ Kamper ist deshalb interessant, weil Kamper nicht zuletzt in seinem „Konzept einer strikten Ambivalenz“ (Kamper 980, 8), das er als unbewusste Konvergenzstelle von Kritischer Theorie und Strukturalismus andeutet, philosophische Inspiration bei Plessner findet. Während die Kritische Theorie in Ermangelung einer positiven Ontologie die von ihr angeklagte Liquidation von Subjektivität selber befördere, und während der Strukturalismus durch seine Dichotomisierung von Natur und Kultur in latent totalitäres „frühbürgerliche[s] Aufklärungspathos“ (ebd., 8) zurückfalle, schreibt Kamper „von einem Dritten (…), das historisch und systematisch diesseits bzw. jenseits von Subjekt und Objekt, von Subjektivität und Objektivität liegt und nicht beliebig verfügbar ist“ (ebd., 8). Kamper kannte Plessner persönlich und bezieht sich in seiner Dissertation Geschichte und menschliche Natur (Kamper 973) ausdrücklich auf ihn. Dass sich das insgesamt sehr spärliche bundesrepublikanische Interesse an einer Rezeption Canguilhems in den 970er und -80er Jahren überwiegend im Licht des Versuchs abspielte, den genuin epistemologischen Hintergrund bei Althusser und Balibar zu fassen zu bekommen, lässt sich exemplarisch festmachen in den Beiträgen zu Kimmerle 978. Die Historische Epistemologie wird hier nur indirekt, als Propädeutik für eine marxistische Epistemologie ernst genommen. Siehe den Titel des Sammelbands von Gamm/Gutmann/Manzei 200. Sehr selektiv sei verwiesen auf Krüger 200 (Plessner & Foucault, Plessner & Merleau-Ponty), Krüger 2008b (Plessner & Foucault), Jäger 200 (Plessner & Bourdieu), Andermann 2007 (Plessner & Merleau Ponty bzw. Deleuze), Stahlhut 200 (Plessner & Sartre), Asiáin 2006 (Plessner & Merleau-

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gende Arbeit als Einlösung eines Schritts, der in jüngster Zeit durchaus in der Luft liegt und dessen Ummünzung nach Lage der Dinge womöglich ohnehin nicht mehr lange auf sich hätte warten lassen.

Widerstreit und Parallaxe Freilich hält sich durch die gesamte Arbeit auch eine historische Stimme durch, die von dem heimlichen Beziehungsgeflecht erzählt, das beide Autoren ohne ihr Wissen und Zutun verbunden hat. Im Subtext der Untersuchung sollte wieder und wieder eine bestimmte Irritation ausgelöst werden, ein Erstaunen darüber, dass sich jene Diskussion, die heute so nahe liegend und so vielversprechend erscheint, historisch niemals ereignet hat. An gemeinsamen Bekannten (Buytendijk, Goldstein, Aron) innerhalb der philosophischen Szene hat es jedenfalls nicht gefehlt. Dennoch war es nicht das Ziel dieser Studie, Plessner und Canguilhem allein deshalb aufeinander prallen zu lassen, weil es historisch nie zu einer Interaktion zwischen ihnen gekommen ist. Das eigenwillige Paar, das hier zusammengebracht wurde, ist keineswegs kontingent; es lässt sich nicht nach Belieben gegen andere, womöglich ähnlich verheißungsvolle Verbindungen (etwa zwischen Bachelard und Scheler) eintauschen. Vielmehr ist die Pointe, die begründet, warum gerade diese beiden Denker in ein Gespräch verwickelt und zu Gegenspielern stilisiert werden sollten, systematisch motiviert. In der Tat sind Canguilhem und Plessner auf eine ganz spezifische Weise miteinander verkreuzt. Der Disput, den sie ausfechten, ist deshalb so faszinierend, weil sich diese beiden Autoren unendlich nah und zugleich über alle Maßen fern sind: Auf der einen Seite ist es ein-und dieselbe Dialektik von Leben und Wissen, der sie in ihren Konzeptionen Geltung verschaffen. Auf der anderen Seite jedoch buchstabieren sie diese Dialektik grundsätzlich verschieden aus, und indem sie dies tun, erzeugen sie zwischen sich eine radikale Veränderung: Jenes Eine, das lebendige Wissen des Lebens, das sie beide vereint, trennt sich von sich selbst und dupliziert sich in zwei unendlich dissonante Versionen seiner selbst. Diese eigenartige Doppelung von Identität und Differenz, von Egalität und Alterität, von Symmetrie und Asymmetrie erinnert an eine Denkfigur von Jean-François Lyotard, die dieser in seinem politisch-philosophischen Hauptwerk Der Widerstreit entfaltet hat. Gleich in den allerersten Sätzen seines Textes definiert Lyotard die Situation, die er als „Widerstreit“ liest: „Im Unterschied zu einem Rechtsstreit [litige] wäre ein Widerstreit [différend] ein Konfliktfall zwischen (wenigstens) zwei Parteien, der nicht angemessen entschieden werden kann, da eine auf beide Argumentationen anwendbare Urteilsregel fehlt. Die Legitimität der einen Argumentation schlösse nicht auch ein, daß die andere nicht legitim ist. Wendet man dennoch dieselbe Urteilsregel auf beide zugleich an, so fügt man einer von ihnen Unrecht zu (einer von ihnen zumindest, und allen beiden, wenn keine diese Regel gelten läßt.“ (Lyotard 989, 9)

Wenn sich ein Widerstreit durch die strukturelle Absenz einer Metaregel, eines Schiedsspruchs zwischen zwei (oder mehreren) „Diskursarten“ oder „Satz-Regelsystemen“ dePonty), Debru 200 (Canguilhem & Goldstein), Gérard 200 (Canguilhem & Strauss), Balzaretti 200a (Canguilhem & Habermas).

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finiert; wenn das Stattgeben der auf der einen Seite erhobenen Ansprüche unweigerlich mit der Repression der von der anderen Seite gestellten Ansprüche zusammenfällt: Dann illustriert Lyotards Konzept des Widerstreits sehr angemessen den Geist, in dem die Begegnung zwischen Canguilhem und Plessner in der hier vorlegten Studie angesiedelt werden und der zugleich in diese selbst eingehen sollte. Ein Widerstreit entspinnt sich, Lyotard zufolge, immer zwischen zwei „Idiomen“ (ebd., 32 und passim): Zwei Sprechweisen, die aus strukturellen Gründen nicht ineinander übersetzt werden können, weil jede Perspektive, von der aus man beide Idiome zur Sprache bringen kann, selbst wieder eine parteiische Perspektive sein muss. Genau diese Rede von zwei Idiomen, denen niemals gemeinsam Gerechtigkeit widerfahren kann, möchte ich aufnehmen, um die Konstellation zwischen Philosophischer Anthropologie und Historischer Epistemologie, zwischen Plessner und Canguilhem zu markieren. Außerdem impliziert dieser Anschluss an Lyotard ein besonderes Philosophieverständnis, an das ich mich ebenfalls anschmiegen möchte. Denn der Umgang mit Fällen des Widerstreits schließt eine Hermeneutik aus, die sich dem, was konfligiert, an den Leitfäden von Gerechtigkeit und „Vermittlung“ (Hegel) nähert. Der Philosoph muss sich von der Vorstellung trennen, er selbst überblicke die Phänomene von einem archimedischen Punkt aus, der „wieder Kontinuität, Geschichtlichkeit (…) und, sagen wir es ruhig: elementare Gerechtigkeit“ (Latour 998, 2) stiften könne. Es bleibt philosophisch vielmehr nur ein indirektes Verfahren übrig, das für die widerstreitenden Idiome zwar ein „Gefühl“ (Lyotard 989, 33) wecken und sie „bezeugen“ (ebd., 2), nicht aber sich anmaßen kann, ihren Konflikt zu entscheiden – da „die Regeln der Diskursart, nach denen man urteilt, von denen der beurteilten Diskursart(en) abweichen“ (ebd.). Von einem solchen indirekten Verfahren ist auch die hier probierte Art, das Verhältnis von Philosophischer Anthropologie und Historischer Epistemologie zu lesen, beseelt: Es handelt sich m.E. um zwei „Diskursarten“, die absolut divergent, aber absolut gleichberechtigt sind. Und schließlich ist bei Lyotard noch eine weitere wesentliche Lektion angelegt. Denn wenn sich die Begegnung zwischen Canguilhem und Plessner tatsächlich in einer Situation des Widerstreits befindet: Dann bedeutet das zwar ex negativo, dass man ihr Verhältnis nicht verhandeln kann, wenn man sich dabei auf eine unabhängige, der Interpretation vorbehaltene Ebene stellt. Diese Ebene würde immer schon eine MetaRegel für die beiden im Widerstreit liegenden Partien implizieren; sie würde den Widerstreit mit der Logik des Rechtsstreits zu schlichten versuchen und damit an seinem Kern vorbeigehen. Aber sollte es nicht trotz allem möglich sein, die beteiligten Parteien „zur Sprache zu bringen“? Kann man sich der „Dispersion der Diskursarten“ (Lyotard 989, 28) nicht auf andere Weise annähern, will sagen: ohne die dialektische Einheitsvernunft, ohne das hermeneutische Sinnprinzip, ohne den moralischen Univeralismus? Muss man, wenn man den Widerstreit konstatiert, nicht doch „in reflexiver Einstellung zwischen den Perspektiven wechseln (…) können“ (Kleimann 997, 9)? Kann man nicht urteilen, ohne ein Urteil über den Gegenstand zu fällen? Eine entsprechende Rekonzeption der Vernunft, die dann fähig wäre, zwischen den heterogenen Diskursarten überzugehen, ohne sie in dieser Bewegung einander anzuverwandeln, hat Lyotard unter Verweis auf Kant skizziert: Er denkt sie nach dem Vorbild von Kants Explikation des Urteilsvermögens, das zwischen den eigentlichen Erkenntnisvermögen (Verstand, Urteilskraft, Vernunft) navigiert. Das Modell der Navigation ist

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hier wörtlich zu nehmen: Denn so wie das Urteilsvermögen bei Kant, in Lyotards Lektüre, funktioniert, lässt es sich auffassen als „Reeder oder Admiral, der von einer Insel zur anderen Expeditionen ausschickte mit dem Ziel, auf der einen darzustellen, was auf der anderen gefunden (erfunden, im ursprünglichen Sinne von invenire) wurde“ (Lyotard 989, 28f.). „Auf der einen Insel darstellen, was auf der anderen erfunden wurde“: Kaum eine Formulierung könnte passender sein, um die Methode zu beschreiben, mit der Canguilhem und Plessner hier füreinander aufgeschlossen werden sollten. Es stimmt: Die Struktur des lebendigen Wissens des Lebens trägt noch die „Idee eines Ganzen“ (Kleimann 997, 7) in sich; doch dieses Ganze ist nicht mehr „identitär, sondern heterogen verfasst“ (ebd.) und in eine unendliche Diversität hinein verteilt. Die „Vernunft“, die einer solchen Konstellation gerecht werden kann, wäre nun durchaus keine hermeneutische, sondern eher „transversale Vernunft“ (Welsch 996): Ein Vermögen, das bei der Herausstellung von Heterogenem selbst unabschließbar im Übergang prozessiert. Offenbar manifestiert sich also das lebendige Wissen des Lebens notwendig in einem Chiasmus zwischen zwei Standpunkten, von denen einer immer schon ausgeschlossen ist und sich entzieht, wenn man den anderen einnimmt. Ein wenig (und mit aller Vorsicht gesprochen) mag das Bild, das der Begriff des Widerstreits berührt, an das geometrische Problem der windschiefen Geraden erinnern, die sich gerade durch das Fehlen eines Bereichs für ihre Konvergenz definieren. Von dieser Beschreibung aus ist es wiederum nur ein kleiner Schritt zu jener Denkfigur, die Slavoj Žižek als „Parallaxe“ ausbuchstabiert hat (Žižek 2006). Ebenso wie Lyotard rekurriert Žižek, um die ihm vorschwebende Figur zu erläutern, auf Kant. Dessen Kritik des transzendentalen Scheins verweise, so Žižek, auf die „(…) Illusion, man könne die gleiche Sprache für Phänomene verwenden, die nicht ineinander übersetzbar und nur (…) erfassbar sind, indem man ständig die Perspektive zwischen zwei Punkten verschiebt, zwischen denen keine Synthese oder Vermittlung möglich ist. Es gibt somit keinerlei Übereinstimmung zwischen den beiden Ebenen, keinen gemeinsamen Raum – obwohl sie eng verbunden, ja sogar in gewisser Weise identisch sind, liegen sie sozusagen auf den entgegengesetzten Seiten eines Möbiusbandes.“ (Ebd., 9).

Es ist erhellend, sich noch weiter an Žižeks Terminologie anzulehnen, um das Verhältnis von Plessners Philosophischer Anthropologie und der Historischen Epistemologie Canguilhems zu kennzeichnen. Denn obwohl diese beiden Theorien „zwei Seiten desselben historischen Moments waren, konnten sie sich nicht direkt treffen“ (ebd.). Wer ihr Verhältnis denkt, der beschreibt unweigerlich „das Auftreten einer unüberwindlichen parallaktischen Lücke, das Aufeinandertreffen zweier engverknüpfter Perspektiven, zwischen denen kein gemeinsamer Nenner möglich ist“ (ebd.; Hervorhebung i.O., T. E.). Auf diesem Weg wäre es möglich, die Differenz im Verhältnis der Projekte Canguilhems und Plessners nicht als „Differenz zwischen zwei positiv existierenden Objekten“ (ebd., 22) zu erläutern, sondern als „minimale Differenz, die ein und dasselbe Objekt von sich selber trennt“ (ebd.). Aber Žižeks Denkfigur der Parallaxe erscheint nur bei erster Betrachtung als eine andere Inszenierung derselben Sachlage, die sich auch in Lyotards Rede vom Widerstreit manifestiert. Wenn man es genauer bedenkt, referieren diese beiden Terme keineswegs auf ein-und dasselbe Bild. Zwischen sie mischt sich vielmehr eine Differenz, und es

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lohnt, genau diese Differenz fruchtbar zu machen, um das Verhältnis zu verstehen, in dem Canguilhems Historische Epistemologie und Plessners Philosophische Anthropologie miteinander verklammert sind – oder doch sein könnten, da dieses Verhältnis ja allererst in der Interpretation erstellt werden muss. Schließlich grenzt Žižek sein Konzept der Parallaxe wie folgt weiter ein: „Auf den ersten Blick muss uns ein solcher Begriff der parallaktischen Lücke wie eine Art Rache Kants an Hegels vorkommen: Ist ‚Parallaxe‘ nicht nur ein weiterer Name für eine fundamentale Antinomie, die niemals dialektisch in einer höheren Synthese ‚vermittelt‘/‚aufgehoben‘ werden kann, weil es keine gemeinsame Sprache, keine gemeinsame Grundlage zwischen den beiden Ebenen gibt? Das vorliegende Buch [Žižeks Parallaxe, T. E.] geht die Wette ein, dass der Begriff der parallaktischen Lücke alles andere als ein irreduzibles Hindernis für die Dialektik ist, sondern vielmehr den Schlüssel liefert, der er es uns ermöglicht, ihren subversiven Kern zu erkennen.“ (Ebd.)

Wo Lyotard ein Kantisches Register bevorzugt, um die „fundamentale Antinomie“ zweier Idiome in Szene zu setzen, für die „es keine gemeinsame Sprache, keine gemeinsame Grundlage“ geben kann, bezieht Žižek eine „hegelianisch-lacanianische[…] Position“ (ebd.). Die Pointe der Parallaxe ist die: Wenn wir ein Objekt x abwechselnd durch das eine und durch das andere Auge ansehen, dann verschiebt sich fortlaufend die Stelle, an der x liegt, je nachdem, von welchem Punkt unser Blick erfolgt.  wird also von zwei Blickpunkten her gleichermaßen wahrgenommen. Doch der Ort, an dem wir x durch die eine Linse hindurch erfassen, ist gegenüber dem Ort, an dem x sich zeigt, wenn wir durch die andere Linse blicken, stets um ein Minimales verschoben.  ist also überhaupt nur im Modus eines gegenseitigen Ausschlusses zweier Optiken gegeben, die einander „aus strukturellen Gründen“ (ebd., 8) entzogen sind. Aber das heißt nicht, dass x sich verdoppelte. Vielmehr bleibt es mit sich selbst gleich, obwohl sich die Zugänge, die es eröffnen, niemals decken können: Es handelt sich um „das Eine, das durch eine Lücke von sich selbst getrennt ist“ (ebd., 2). Man sieht, wie sich die Konstellation, in der sich Plessner und Canguilhem Seite an Seite wiederfinden, transformiert, wenn man sie weniger nach dem Modell des „Widerstreits“ als vielmehr mit den Mitteln der „Parallaxe“ liest. Anstatt in ihren Ansätzen lediglich Idiome zu sehen, die füreinander irreduzibel sind, weil sie sich in keine gemeinsame Sprache überführen lassen, scheint man der Sache näher zu kommen, wenn man eine spezifische Form von Dialektik bemüht. Dann könnte man sagen: Plessner und Canguilhem haben ihre Blicke auf ein-und dieselbe Struktur geworfen, doch die Struktur, um die es hier geht, schreibt sich im Wechsel der unendlich zueinander versetzten Blicke, die man auf sie richtet, selber unablässig um. Oder anders: Das lebendige Wissen des Lebens ist das Eine, das von sich selbst getrennt ist, weil sich die heterogenen Wege, auf denen man es ausbuchstabieren kann, niemals treffen. In Abwandlung einer wiederum von Žižek formulierten Stelle lässt sich dies alles auch so ausdrücken: Es ist schlicht unmöglich, dass sich die „wahre Dimension“ (ebd., 8) der Philosophischen Anthropologie Plessners – die spezifische Gestalt, die Plessner dem lebendigen Wissen des Lebens verleiht – aus der Perspektive Canguilhems erfassen ließe, und umgekehrt gilt konsequent dasselbe2. 2

Die Stelle, auf die hiermit angespielt wird, findet sich bei Žižek 2006, 8.

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Der Übergang von einem (eher) kantischen zu einem (eher) hegelianischen (und lacanianischen) Verständnis der Szenerie, in die Canguilhems Historische Epistemologie und Plessners Philosophische Anthropologie gemeinsam eingelassen sind, bringt folgende These mit sich: Wenn Plessner und Canguilhem die Figur des lebendigen Wissens des Lebens, obwohl sie sie beide anvisieren, völlig verschieden wahrnehmen, dann lässt sich dieser Spalt nicht auf den Gegensatz zwischen ihren Philosophien zurückführen. Vielmehr ist die Changierung zwischen Perspektiven, die sich permanent gegenseitig verwischen, dieser Figur selbst immanent. Anders gesagt: Man hat an zwei sich gegenüber liegenden Polen Zugang zur Struktur des lebendigen Wissens des Lebens. Man kann sie von der Seite der Historischen Epistemologie genau so betreten, wie man zu ihr vorzudringen vermag, wenn man von der Positon der Philosophischen Anthropologie ausgeht. Plessners Philosophische Anthropologie und Canguilhems Historische Epistemologie stellen, wie man mit Deleuze sagen könnte, differente „Sehepunkte“ (Deleuze 993, 33) auf das lebendige Wissen des Lebens dar, die jedoch „eben deswegen dem Gegenstand eigen genannt werden [müssen], weil der Gegenstand durch [sie] bereits verschoben ist“ (ebd.). Das lebendige Wissen des Lebens existiert überhaupt nur im Modus subjektiver Blicke, die das Ganze immer nur um den Preis einer strukturellen Verengung ihrer selbst zu Gesicht bekommen. Der Blick des Anderen, der ebenfalls das Ganze „für sich“ repräsentiert, fällt aus dem eigenen Blick unendlich heraus. Die dialektische Pointe dieser Konstellation hat damit zu tun, dass sie Plessner und Canguilhem in gewisser Weise auf sich selber appliziert. Legt man sich das Verhältnis zwischen diesen beiden Autoren so zurecht wie es die letzten Passagen vorschlagen, dann bedeutet das im Grunde, bestimmte Argumentationsmomente, mit denen hier wie dort operiert wird, auf ihre eigene Substanz zurückzubeziehen. Sowohl bei Plessner als auch bei Canguilhem begegnet uns eine Erläuterung von „Leben“ in der Spannung „prinzipiell divergente[r] Sphären, auf deren Zueinander die Einheit einer gegenständlichen Struktur beruhen soll“ (Plessner 97, 80). Diese Lektion zumindest kann man in der gleichen Schärfe bei Canguilhem und bei Plessner antreffen: Hinter den geschichtlichen Ambivalenzen und Oppositionen tritt keine letzte Positivität des Lebens hervor; der „Wahrheitsgrund“ (Mitscherlich 2007, 3), dem eine finale Bestimmung lebendiger Phänomene entspringen könnte, bleibt „vakant“ (ebd.). Philosophisch einzuholen wäre hingegen die „Möglichkeit totaler Aspektdivergenz bei konvergenter Blickstellung“ (Plessner 97, 88): Denn was, wenn die „Einheit“ des Lebens der eines Gegenstands entspräche, den der Zwiespalt der ihn ausmachenden, ineinander unüberführbaren Dimensionen nicht zerbricht, sondern allererst formt?3 Es sei hier nur, um das damit eröffnete Bild zu stützen, an Canguilhems Strategie erinnert, Vitalismus und Mechanismus als Linsen zu verstehen, unter denen das Leben gleichursprünglich perspektiviert werden kann, die aber beide „vom Leben selbst transzendiert“ (Muhle 2008, 86) werden. Es gibt, so Canguilhem, verschiedene Eingänge zur Frage nach dem Leben. Was diese Eingangsmöglichkeiten kennzeichnet, ist ihr Dissens und ihr geschichtliches Ringen miteinander in der Frage nach dem Wesen des Lebendigen. Aber „dieses augenscheinliche theoretische Oszillieren“ (Canguilhem 2009b, 3 

Siehe die hier evozierte Passage bei Plessner 97, 88. Canguilhem 2009b, vor allem 3ff.

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3) weist auf nichts anderes hin als auf den Umstand, dass das Zentrum, von dem aus eine abschließende Bestimmung des Lebendigen möglich sein soll, leer steht. An dem Ort, wo man den zeitlosen Kern der Phänomene sucht, findet nichts anderes statt als ein unbestimmtes Werden, das alle Zuschreibungen ebenso zulässt wie frustriert. Eine ganz ähnliche Form der Argumentation leitet Canguilhem auch in der Frage nach der Stellung des Menschen: Es ist ebenso möglich, dass sich der Mensch im System der biologischen Koordinaten ansiedelt, wie es vorstellbar ist, dass er sich unter radikaler Auslassung des biologischen Gesichtspunktes, als Teil des indifferenten Universums der Physik, definiert (dazu Canguilhem 2009d). Und Plessner? Wiederholen möchte ich hier nur auf die Schnelle, dass seine Philosophie eine spezifische Verarbeitung der Dialektik ins Werk setzt. Was Plessner (und Josef König) vorschwebt, ist eine Widerspruchsfigur, in der prinzipiell divergente Momente „in der Brechung aufeinander bezogen sind“ (Mitscherlich 2007, ). Das sich damit verbindende Problem ist ein eminent zeitliches: Was, wenn das Charakteristikum des Lebensprozesses darin besteht, dass Bewegungen, die irreduzibel gegenläufig zueinander sind, dennoch gemeinsam vollzogen werden müssen (ohne dass der Vollzug den Widerspruch aufheben würde)? Eine solche „Vergleichzeitlichung des Ungleichzeitigen“ (Krüger 2008a, 2) bedeutet das Ausleben einer Ambivalenz, nicht deren Neutralisierung. Folgt man Olivia Mitscherlich, zeigt sich die eigentliche Radikalität von Plessners Denkweg nicht nur darin, diese „Hiatusgesetzlichkeit“ (Plessner 97, ) als Movens des Lebendigen bis hinein in die exzentrische Positionalität unterstrichen zu haben. Vielmehr ist die Philosophische Anthropologie ihrerseits durch den von ihr aufgewiesenen Hiatus gezeichnet: Man wird den menschlichen Phänomenen nur gerecht, wenn man sie gleichzeitig in zwei nicht voneinander herleitbaren Optiken betrachtet. Es gibt bei Plessner eine unendliche Changierung, ein „Sowohl-als-Auch“ zwischen Perspektiven, die zusammen auftreten und sich dennoch nicht synthetisieren lassen: „Aus beiden Richtungen – dem naturphilosophischen Erklären und dem geschichtsphilosophischen Verstehen – wird der Wahrheitsgrund menschlicher Wirklichkeit überhaupt offengehalten und dadurch von beiden Seiten her der Zugang zum tatsächlich stattfindenden Zugleich von natürlichem Sein und geschichtlicher Selbstbestimmung eröffnet.“ (Mitscherlich 2007, 32)

So wie in Canguilhems Fassung das Leben allein in der epistemologischen Oszillation zwischen Vitalismus und Mechanismus thematisch werden kann, ohne in einer dieser beiden Lektüren aufzugehen, erfordert die Beschreibung des Menschen bei Plessner zwei Sichtweisen, die natur-und die geschichtsphilosophische, gleichzeitig: Aber die „Wahrheit“, die beide herauszubringen versuchen, liegt genau zwischen ihnen, an einer Stelle, die von keiner Seite allein abgedeckt werden kann. Kurzum, es hat ganz den Anschein, als müsse in die Konfrontation zwischen Canguilhem und Plessner so etwas wie ein Geist einfließen, der in den Denkungsarten der Autoren, so heterogen sie auch sind, selbst anwesend ist. Deswegen soll die vorliegende Studie ihrerseits den Charakter einer Verschränkung erhalten: Es ging darum, Philosophische Anthropologie und Historische Epistemologie als die zwei Momente eines veritablen Doppelaspekts zu lesen. Die spezifische Form der Dialektik, die von diesen beiden Philosophien entwickelt wird, sollte auf das Verhältnis dieser Philosophien selbst angewandt werden. Zwischen ihnen herrscht (historisch wie systematisch) ein unendlicher

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Abstand, und doch partizipieren sie an ein-und demselben „Ding“, das gar nicht anders gegeben sein kann als in der absoluten Polarität zweier Zugänge. Insofern wäre mit dem hier indizierten Abstand schlicht nichts anderes als ein Augenabstand gemeint: Die Verschiebung, die der eine Blick in das Objekt einträgt, kann mit der Verschiebung durch den anderen Blick niemals zusammenfallen. Beide Autoren beschreiben eine unendlich offene Stelle im Begriff des Lebens, eine Unbestimmbarkeit, die jedoch gerade nicht in der nihilistischen Absage an jegliche Bestimmung resultiert. Die Unbestimmtheit enthebt nicht vom Zwang zur Positionierung6, von der Notwendigkeit normativer Antworten auf die Fraglichkeit des Lebens im Ganzen. Und beide Autoren decken auch die Geschichtlichkeit des Wissens vom Leben auf: Die Spezifizierung des Lebendigen erfolgt in einem Prozess, der kein teleologisches Finale in sich trägt, sondern „stets den Charakter der Nichtnotwendigkeit, Zufälligkeit, Korrigierbarkeit und Einseitigkeit“ (Plessner 98b, 99) behält – weshalb es konsequent ist, die geschichtlichen Formen des Wissens vom Leben aus der Expressivität des Lebendigen selbst heraus zu denken. Von Anfang an waren wir also im Zugriff auf das lebendige Wissen des Lebens mit einer sich ständig verschiebenden Gestalt konfrontiert – mit einer Figur, in die man gleichursprünglich von zwei gegensätzlichen Polen her eintreten kann. Das Paradox dieser Struktur ist, dass mehrere Philosophien gleichzeitig das Recht haben, sich als ihre einzig mögliche Notation anzusehen. Eine ähnliche Konstellation wie die hier skizzierte hat Thomas Khurana einmal mit der These beschrieben, dass sich das Lebendige ebenso gut in einer auf den Begriff der „Form“ (Aristoteles, Kant, Hegel) konzentrierten Philosophie fassen lässt wie in einer Philosophie, die vom Prinzip der „Kraft“ (Herder, Nietzsche, Bergson) ausgeht. In einer sehr reizvollen Interpretation zeigt Khurana das Ineinanderumschlagen dieser beiden Wege, das Lebendige zu konzipieren: Das Modell der „Kraft“ steht, wie bei Blumenbach, immer schon „under the aspect of form“ (Khurana 2007, ), während dem Denken in der Kategorie der Form, etwa in Derridas Force et signification, das Motiv der Kraft inhärent bleibt. Wenn in dieser Dialektik „both sides internal to each other“ (ebd., 3) sind und jede der beiden Traditionen in der anderen ihre Markierung hinterlässt7, dann kann dies nur deshalb geschehen, weil „those processes we call ‚living‘ are in different ways themselves always marked by a deep internal polarity, that is: the polarity of productive force and closed form“ (ebd., 3). In die der vorliegenden Studie eigentümliche Problematik lässt sich Khuranas dialektische Hypothese sehr gut einfügen: Mit dem Unterschied, dass sich der Einsatz, der zwischen Canguilhem und Plessner zirkuliert, nicht auf den Begriff des Lebens beschänkt; er besteht vielmehr in einer größeren Konstruktion, nämlich in der Denkbarkeit eines lebendigen Wissen des Lebens. Und während Khurana auch historische wechselseitige Einschreibungen zwischen der Philosophie der Formen und dem Denken der Kräfte geltend machen kann, pointiere ich die Differenz in der Gleichheit 

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Oder mit Volker Schürmann gesagt: Canguilhem und Plessner sind Vertreter einer Lebensphilosophie „im heiteren Ton“ (Schürmann 20, 26), die „mit dem melancholischen Grundmodell“ (ebd., 27) der radikalen Unerreichbarkeit des Lebens für begriffliche Rationalität brechen und es durch die These konterkarieren, „dass wir Wissen vom Unergründlichen haben (können); wir haben es jedoch in grundsätzlich anderer Weise als gewöhnliches Wissen“ (ebd., 26). Dazu mit Blick auf Plessner Bühler 200, 2ff. Siehe Khurana 2007, 3.

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von Philosophischer Anthropologie und Historischer Epistemologie anders. Dass Canguilhem und Plessner „their mark on either side“ (ebd., 3) hinterlassen hätten, lässt sich nicht behaupten. Der Tenor meiner Darstellung war vielmehr, dass sich die Ansätze dieser Denker zueinander verhalten wie zwei Pupillen, die den Punkt, auf den sie beide gerichtet sind, jeweils so verschieben, dass die je andere Pupille ihn niemals in der gleichen Weise wahrnehmen kann. In gewisser Weise liegt dem hier ausgebreiteten Vergleich eine theatralische Intention zu Grunde. Es ging darum, das Gespräch zwischen Canguilhem und Plessner zu dramatisieren. Er sollte sich an genau umgrenzte Spielregeln halten und auf einer künstlich eingerichteten Bühne statt finden. Auch die in dieser Untersuchung formulierten Exegesen zu Plessner und Canguilhem muss man als Elemente dieser Maskerade auffassen: Die erklärte Strategie lautete, jeden der beiden Autoren so zu lesen, wie der jeweils andere ihn (möglicherweise) gelesen hätte. Die daraus resultierenden Einschätzungen können also nicht ohne Weiteres dem Autor dieser Untersuchung in den Mund gelegt werden. Durch diese perspektivische Verdrehung sollten an beiden Theorien Pointen aufgedeckt werden, die zuvor nicht in gleicher Weise sichtbar waren. Es ging also darum, Plessners Philosophie den Ansatz Canguilhems und Canguilhems Konzeption die Agenda Plessners vorzuhalten – und zwar als Fremdkörper, die man aber in dem Maße willkommen heißen könnte, in dem sie zu neuen Perspektiven auf das eigene Denken anregen können. Etwas von dieser gegenseitigen Vexierung sollte sich auch auf die scientific communities übertragen, die sich mit Canguilhem bzw. mit Plessner befassen: Zumindest eine Absicht dieser Arbeit lag darin, die vermeintlich aus sich selbst heraus evidenten Bilder, die man in der jeweiligen Forschung von diesen beiden Denkern hat, aufzubrechen. Nach diesen Exkursen erübrigt es sich womöglich, den methodischen Standort, der in dieser Untersuchung bezogen wurde, noch einmal eigens, in einem gesonderten Schritt, anzugeben. Aber es ist doch festzuhalten: Die hier erprobte Analyse ist nicht vom Geist einer Hermeneutik getragen, die sich einer Suche nach den inneren „Wahrheiten“ ihrer Gegenstände verpflichtet fühlt. Es ging nicht um eine Interpretation, die sich auf die Fahnen schreibt, Zugang zu dem autochthonen Sinn der von ihr verhandelten Texte zu gewinnen. Stattdessen wurde die hermeneutische Arbeit ganz in das Spiel zwischen Canguilhem und Plessner hinein verlegt; der Blick des Interpreten schrieb sich in die Blicke ein, mit denen diese beiden Theoretiker – vermutlich – einander taxiert hätten. Von daher gestattete die hier angewandte Hermeneutik den Positionen, auf die sie Bezug nimmt, sich gegenseitig zu verfremden, zu deformieren und zu überschreiben. Auf der Folie dieser methodisch intendierten Verkomplizierung liefen dann drei hermeneutische Schritte ab, die allerdings eher miteinander verwoben als streng separat waren: Erstens ging es um die inhaltliche Reproduktion der Philosophien von Plessner und Canguilhem, um die Sicherung ihrer Grundthesen und der argumentativen Strategien, mit denen diese umgesetzt werden. Auf einem zweiten Plan wurde versucht, einen Transfer oder Übertrag zwischen den beiden Philosophien zu initiieren. Die Maxime lautete, die Probleme und Fragen, die der eine Ansatz aufwirft, mit den Mitteln und im Rahmen des anderen Ansatzes anzugehen. Drittens schließlich übernahm die so entstehende fiktive Debatte zwischen Plessner und Canguilhem auch das Geschäft einer Evaluation. Zweifellos enthielt die vorliegende Studie Wertungen der philosophischen Gesamtstrategien Canguilhems und

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Plessners – aber diese Evaluation wurde nicht direkt, nicht unabhängig von dem wechselseitigen Spiel formuliert, in das sich die beiden Protagonisten verwickeln lassen. Diese Darlegungen sollen ein weiteres Mal die meine Analyse tragende Überzeugung untermauern, dass es absurd wäre, eine Synthese von Philosophischer Anthropologie und Historischer Epistemologie anzustreben. Man kann die Denkweisen Plessners und Canguilhems nicht dialektisch unter einem gemeinsamen Dach vermitteln. Mag sein, dass in Plessners universaler Hermeneutik eine epistemologische Note fehlt, die es gestatten würde, die erfahrungswissenschaftlichen Dispositive, in denen sich die Produktion von Anthropologien vollzieht, zu historisieren. Aber wenn es bei Plessner eine solche Lücke gibt, so wird sie gewiss nicht durch jenes Format einer Historischen Epistemologie geschlossen, das Canguilhem erstellt hat. Umgekehrt kann man den Eindruck haben, dass die Allgemeine Biologie, die bei Canguilhem die Folie für eine normative Geschichte der Lebenswissenschaften liefert, ein anthropologisches Niveau impliziert, das Canguilhem nicht mehr selbst ausweist. Doch das bedeutet nicht, dass sich Plessners spezifische Anthropologie in Canguilhems Verständnis des Lebendigen implantieren ließe, um diese offene Stelle auszufüllen. Wenn man so sagen darf, handelt es sich bei Canguilhem und Plessner um völlig unterschiedliche „Typen“. Diese Formulierung ist nicht allein auf ihre jeweilige Diktion und das von ihnen favorisierte Theorieformat zu beziehen: Unter diesem Gesichtspunkt wäre zu bemerken, dass Plessner (zugleich mit und gegen Hegel) den Anspruch aufrecht hält, ein System zu fundieren, das ein „Auffassen“ (Hegel) der Wirklichkeit ermöglicht. Canguilhems Arbeiten hingegen fehlt ein solcher Systemcharakter; er stellt nicht, wie Plessner, die Frage nach „Strukturen“, denen sich ein Verständnis von (lebendigem/ menschlichem) Verhalten allererst verdankt. Eher könnte man sein Projekt als eine Serie von Interventionen beschreiben, die sich kritisch mit dem konfrontieren, was sich in den Wissenschaften selbst ereignet. Bei Plessner spielt die Idee einer Naturphilosophie eine wesentliche Rolle; Canguilhem seinerseits weist ein solches Unterfangen von sich. Ebensowenig referiert das Bild zweier nicht miteinander vereinbarer Typen auf eine psychologische Ebene – so erhellend und spannend es wäre, ihre Divergenz auch in diesem Rahmen auszuerzählen: Denn ohne Zweifel liegen zwischen diesen beiden Figuren grundverschiedene Familienhintergründe, Bildungsgänge und berufliche Weichenstellungen8. Besonders faszinierend wäre eine Erzählung über diese zwei sehr unähnlichen Lebenswege vielleicht dann, wenn sie danach fragen würde, wie in beiden Fällen die Erfahrung zweier Weltkriege in die jeweils vorgetragenen Vorstellungen darüber, wie „Leben“ philosophisch zu fassen sei, Niederschlag gefunden hat. Plessner ist auch in Fragen der Philosophie ein diplomatischer Geist: Die „Logik der Diplomatie“ und die „Hygiene des Taktes“, die er in den Grenzen der Gemeinschaft konturiert, sind weit mehr als wohlfeile Gesten einer Theorie des Politischen. Sie stehen in der Tat für das bürgerlich-liberale Ethos, das Plessners Denken bis in die kleinsten Fasern hinein bestimmt. 8

Plessners Eltern führten in Wiesbaden ein renommiertes Privatsanatorium, und Plessner kam in den Genuss einer an materiellem Wohlstand und bürgerlichen Bildungsidealen reichen Erziehung. Dazu Dietze 2006, 23ff. Canguilhem hingegen stammte aus Castelnaudary, einer Kleinstadt in der Region Languedoc-Roussillon. Er war der Spross einer traditionell in der Landwirtschaft tätigen Familie, und obwohl sein Vater als Maßschneider seinen Lebensunterhalt verdiente, half Canguilhem als Kind gelegentlich auf dem Gehöft, das seine Mutter geerbt hatte, mit aus. Dazu Lecourt 2008, 9.

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Denkt man an die Repressionen, die Verfolgung und das Exil, die Plessners Lebensjahre zwischen 933 und 9 dominierten, dann scheint es kaum fassbar, dass Plessner die Vision eines neuen Humanismus, der gerade dem „verspäteten“ Charakter deutscher Nation entspringen würde, auch nach ’ noch vertreten hat. Ebenso sinnvoll ist es, sich in Canguilhems Fall ins Gedächtnis zu rufen, dass jener Autor, der 93 im besetzten Frankreich die These von der individuellen Normativität alles Lebendigen propagiert, ein hochgestelltes Mitglied der résistance und geübter Frontkämpfer war. Wer im Jahr 202 über diese beiden Autoren arbeitet, darf eins nicht vergessen: In beiden Fällen ist das Bedürfnis, eine Konzeption von „Leben“ zu entwickeln, die ein angemessenes Verhältnis der biologischen und der soziokulturellen Semantik dieses Begriffs entwirft, mehr als ein rein intellektueller Einsatz gewesen. Wir haben es hier mit zwei Philosophen des Lebens zu tun, die über Jahre hinweg am eigenen Leib Situationen ins Auge gesehen haben, in denen die Differenz von Leben und Tod, zwischen Mensch und Tier in der Tat auf dem Spiel und in Frage stand. Aber es sind nicht diese psychologisch-biographischen Unterschiedlichkeiten, die hier im Fokus stehen sollen. Die Typologie, die ich vor Augen habe, legt eher die Unterscheidung zweier Ahnenreihen oder Abstammungslinien nahe. Es sind, wenn man so will, verschiedene „Leitsterne“ oder Ethoi, an denen sich die Ansätze Canguilhems und Plessners orientieren. Ohne Frage handelt es sich bei der damit exponierten Differenz um eine im höchsten Grad schematische Angabe. Für Philosophien, die im Kern um ein Verständnis von Leben kreisen, ist es allerdings mitnichten folgenlos, welcher Seite dieses Schemas sie sich am ehesten zuordnen lassen. Wie also könnte eine solche grobe typologische Zuteilung der Projekte von Plessner und Canguilhem aussehen? Was zunächst Plessner betrifft, so scheint es, dass in seiner Philosophie immer wieder ein aristotelisches Motiv, eine aristotelische Haltung anklingt: Zumindest kehrt in Plessners Argumentationen ein Gestus immer wieder, der, wenn schon nicht auf die „goldene Mitte“, so doch auf das rechte Maß und die angemessene Relation von widerstreitenden Bestimmungen geht9. Man kann in diesem Zug eine Resonanz der aristotelischen mesotes-Tradition erkennen, auch wenn Plessner an keiner Stelle eine eingehendere Diskussion dieser antiken Ethik des Gleichgewichts entfaltet0. Am deutlichsten wird dieser Gedanke einer Balancierung von Extrempositionen gewiss in den Grenzen der Gemeinschaft: Es gehört gleichsam zum Wesen des Menschen, so zu leben, dass er die Sphären der Gemeinschaft und Gesellschaft aufeinander einspielen kann. Die sozialen Radikalismen zeichnen sich durch das Überhandnehmen der einen oder der anderen Seite dieser Polarität aus. Um demgegenüber zwischen zwei einander ausschließenden Zonen 9

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Siehe Plessner 98a, 3: „Maß und Begrenzung ist das Höchste für menschliches Streben. Ob auch den Menschen nie eine unendliche Sehnsucht verläßt, weil er selbst als Gemüt im Unendlichen wurzelt und darum nie geheime oder offene Trauer ihn aufgibt, das Heimweh eines in die Endlichkeit Verbannten, so wird die Erkenntnis, daß zum Wirken Grenzen gehören, der Resignation beruhigten, ja heiteren Charakter verleihen.“ Die Vertiefung dieser auf die Idee des mesotes zurückführenden Linie ist gegenwärtig ein Forschungsthema von Matthias Schlossberger (Potsdam), das sich insgesamt nach der normativen Begründungsstruktur der Philosophischen Anthropologie fragt. Meine flüchtigen Überlegungen zum aristotelischen „Ethos“ von Plessners Denken verdanken sich zu weiten Teilen der von Schlossberger vertretenen Interpretation.

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pendeln und ihren Konflikt austarieren zu können, bedarf es im gesellschaftlichen Verkehr der Rollen und Masken. Es erscheint plausibel, Plessners frühe Rede von „eine[r] Mitte geistig-sittlicher Art“ (Plessner 98a, ) auf die Fragestellung zu übertragen, die in den Stufen arbeitet: Die normative Aufgabe, der die Philosophie (als Philosophische Anthropologie) dann gerecht zu werden hätte, besteht darin, das Wesen des Menschen als offenes, in keiner Bestimmung ganz gedecktes Wesen zu rekonstruieren. Schon die Rekonstruktion menschlichen Verhaltens hat sicher zu stellen, dass es sich in der für es eigentümlichen Unabschließbarkeit zeigen kann, anstatt letzten ontologischen Begründungen unterworfen zu werden. In diesem Sinne ist die von Plessner selbst durchlaufene Serie von Distinktionen zur Erfassung des Lebendigen auch nicht kontingent: Sie machen das Lebendige als ein Phänomen einsehbar, das nie abschließend objektiviert werden kann, da es sich um ein sich ausdrückendes, zu sich selbst verhaltendes Phänomen handelt. Wie immer man sich zu der Frage nach einem aristotelischen Ethos in Plessners Gesamtposition stellt: Sicher ist, dass sich Canguilhems Betrachtung des Lebendigen allemal unter einem anderen „Leitstern“ bewegt. Man kann die Distanz zu Plessner, die sich hier auftut, an Canguilhems Überzeugung ermessen, „dass es an sich und a priori keine ontologische Differenz zwischen gelungenen und verfehlten Gebilden des Lebens gibt“ (Canguilhem 97, 2; Hervorhebung i.O., T. E.). In gewisser Weise spielt Plessners Vokabel der Grenze auf eine solche Unterscheidung zwischen einem gelingenden und einem nicht gelingenden Leben an. Auf dieser Linie könnte man sagen, dass ein nicht mehr „gelingendes“ Leben ein solches ist, das keine Begrenzungen mehr zu erbringen vermag: Es kann auf das Unbeantwortbare, mit dem es konfrontiert ist, keine Antworten geben. Oder anders: Die Desintegration zwischen Leibsein und Körperhaben kann so ins Extreme gehen, dass die Person nicht länger fähig ist, Grenzen zu ziehen (und d.h., umgangssprachlich wie der philosophischen Sache nach: sie kann ihr Leben nicht länger „führen“)2. In diesem Sinne gibt es, mit Plessner gedacht, durchaus eine ethisch relevante Demarkation zwischen Normalem und Pathologischem: Sie liegt in der Fähigkeit eines Lebewesens, weiterhin seine Grenze realisieren zu können. Wenn hinter dieser Auffassung bei Plessner ein aristotelisches Motiv im Spiel ist, dann kann man auf der Gegenseite bei Canguilhem eine von Nietzsche inspirierte Linie hervorkehren. Auf mehreren Ebenen konnte gezeigt werden, dass Canguilhem ein Denker der Produktivität von Kräften ist: Es genügt hier die Erinnerung an seine These, dass „Kranksein“ (ebd., 93) nichts anderes heißt als „falsch gemacht worden sein (…), doch nicht wie ein falscher Geldschein oder ein falscher Bruder, sondern wie eine falsch sitzende Falte oder ein falsch gebauter Vers“ (ebd.). Im Un

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Siehe Plessner 98a, 82: „Kann der Mensch es nicht wagen, einfach und offen das zu sein, was er ist, so bleibt ihm nur der Weg, etwas zu sein und in einer Rolle zu erscheinen. Er muß spielen, etwas vorstellen, als irgendeiner auftreten, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und sich die Achtung der anderen zu erzwingen. (…) Der Mensch verallgemeinert und objektiviert sich durch eine Maske, hinter der er bis zu einem gewissen Grade unsichtbar wird, ohne doch völlig als Person zu verschwinden.“ Plessner hat die damit angesprochene Problematik in seiner Studie über Lachen und Weinen (Plessner 2003e) entfaltet. Nicht zufällig spricht Hans-Peter Krüger, auch in Anspielung auf Canguilhem, davon, dass in einem Plessnerschen Verständnis dann von Pathologien die Rede sein müsste, wenn „die Rezentrierung und die Exzentrierung der Verhaltensbildung vollständig auseinander [brechen]“ (Krüger 2008a, 20).

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terschied zu Plessner ist Canguilhem kein Philosoph der Begrenzung, des Maßes und des Ausgleichs, sondern ein Philosoph der Intensität, der Affirmation und der Übertretung. Es ist Nietzsche, der für diese Ausrichtung von Canguilhems Überlegungen historisch wie systematisch Pate steht. Nachdem die letzten Seiten die systematische Konstellation umrissen haben, die Plessners Philosophische Anthropologie und Canguilhems Historische Epistemologie ebenso verknüpft wie entzweit, soll der nächste Abschnitt wenigstens in raschen Zügen und skizzenhaft einige inhaltliche „Aussichtspunkte“ für das Gespräch dieser beiden Denker anschneiden. Ganz absichtsvoll wurde der hier durchgeführten Argumentation das enge Korsett des „lebendigen Wissens des Lebens“ angelegt, das es nur hin und wieder erlaubte, vielversprechende Nebenthemen, die für den Dialog zwischen Canguilhem und Plessner wertvoll sein könnten, einzublenden. Zur Abrundung des gesamten Panoramas ist es jedoch möglich, zumindest anzudeuten, wie die Konfrontation, die hier durchgespielt worden ist, weiter gehen könnte.

Aussichtspunkte für eine mögliche Ausweitung des Gesprächs Eine erste Achse, auf die sich die Diskussion zwischen Plessner und Canguilhem ausweiten könnte, ließe sich auf das Stichwort der natürlichen Künstlichkeit bringen. Beide Ansätze bewegen sich abseits der dualistischen Oppositionen von Natur und Kultur bzw. Organismus und Maschine. Während Canguilhem vor allem in Machine et organisme (92) für eine „Umkehrung des traditionellen Zusammenhangs zwischen Maschine und Organismus“ (Canguilhem 2009c, 8) plädiert, schließt Plessners These von der exzentrischen Positionalität des Menschen das sogenannte „zweite anthropologische Grundgesetz“ (Plessner 97, 309), das „Gesetz der natürlichen Künstlichkeit“ (ebd.), ein. Anstatt die technologische Transformation des Lebens zu skandalisieren beschreiben Canguilhem und Plessner das Künstlichwerden des Lebens als integrales Charakteristikum des Lebens selbst. Diese Perspektive verhilft zu einem interessanten Anschluss an die von Bruno Latour in seinem Versuch einer symmetrischen Anthropologie (Latour 998) diagnostizierte Antinomie der Moderne. Latours Kritik der Moderne beruht auf dem Argument, dass „(…) das Wort ‚modern‘ zwei vollkommen verschiedene Ensembles von Praktiken bezeichnet, die, um wirksam zu sein, deutlich geschieden bleiben müssen, es jedoch seit kurzem nicht mehr sind. Das erste Ensemble von Praktiken schafft durch ‚Übersetzung‘ vollkommen neue Mischungen zwischen Wesen: Hybriden, Mischwesen zwischen Natur und Kultur. Das zweite Ensemble schafft, durch ‚Reinigung‘, zwei vollkommen getrennte ontologische Zonen, die der Menschen einerseits, die der nicht-menschlichen Wesen andererseits.“ (Ebd., 9).

Im Rücken einer rigorosen dualistischen Ontologie, die von der transzendenten Gegebenheit der Natur ebenso ausgeht wie von der immanenten Künstlichkeit oder Satzung des Sozialen, hat sich, so Latour, eine immer weiter propellierende Produktion von Hybriden ereignet, die jedoch unter den Bedingungen des Dualismus ungedacht geblieben ist3. Durch diese Dialektik von politisch-epistemologischer Purifizierung auf der einen 3

Zur Auseinandersetzung um Latours Konzeption siehe die Beiträge in Kneer/Schroer/Schüttpelz 2008.

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und technologisch-praktischer Hybridisierung auf der anderen Seite ist nun, so Latours Gegenwartsdiagnose, die moderne Konstitution bereits in einen Prozess der Selbstzersetzung eingetreten. Der Selbstwiderspruch, wonach in der Praxis unablässig produziert wird, was man zugleich ontologisch negiert, treibe die Ordnung, die auf ihn gebaut ist, zusehends an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Latours eigener Vorschlag, wie dieser merkwürdigen Aporie der Moderne begegnet werden könne, besteht in einem Umdenken der Beziehungen zu den besagten „Mischwesen“, was zugleich ein Umdenken in Bezug auf die vermeintliche „Modernität“ der Modernen wäre. Es geht um das Gedankenexperiment, die tradierte Dichotomie, die entweder natürliches oder künstliches Seiendes kennt, hinter sich zu lassen und an ihrer statt eine neue „Haltung“ (ebd., 66) einzuüben, „die verbrüdert, statt zu denunzieren; die sortiert, statt zu demaskieren“ (ebd.). Was Latour fordert, ist die Symmetrisierung des Bereichs der „Menschen“ mit der Sphäre jener „Quasi-Dinge“, die notorisch zwischen Natur und Gesellschaft changieren und aus keinem dieser beiden Ursprünge ableitbar sind. Diese Symmetrie zu schaffen, hieße aber nichts anderes, als beide Parteien – die der „Menschen“ und die der „Dinge“ – als hybrid, als natürlich-künstlich zu konzipieren. Eben dies ist der Schlüssel zu Latours Akteur-Netzwerk-Theorie: „Wie sollte der anthropos von den Maschinen bedroht sein? Er hat sie gemacht, er hat in ihnen Unterkunft gefunden, er hat seine eigenen Glieder auf ihre Glieder verteilt, er konstruiert seinen eigenen Körper mit ihnen. Wie sollte er von den Objekten bedroht sein? Sie waren alle QuasiSubjekte, die im Kollektiv zirkulierten, das sie durch diese Zirkulation gleichzeitig bahnten. Er besteht ebensosehr aus ihnen wie sie aus ihm. […] Wenn man das Handeln auf alle Mittler umverteilt, verliert man zwar die reduzierte Form des Menschen, gewinnt aber eine andere, die man unreduziert nennen muss. Das Menschliche ist gerade in der Delegation, im Paß, in der Sendung, im ständigen Austausch von Formen.“ (Ebd., 8; Hervorhebung i.O., T. E.]

Die an anderer Stelle von Latour gelieferten Bausteine zu einer Theorie und Praxis der „Gewaltenteilung“ zwischen den neu zu definierenden (und öffentlich zu repräsentierenden) „Akteuren“ können hier Außen vor bleiben6. Wesentlicher ist, sich klar zu werden, wie sich die Einsätze Plessners und Canguilhems zu Latours „symmetrischer Anthropologie“ verhalten könnten – auch um gewisse Schwächen freizulegen, mit denen 



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Siehe Latour 998, 0: „Der springende Punkt ist folgender: Die Arbeit der Vermittlung, in der die Hybriden zusammengesetzt werden, wird von der modernen Verfassung unsichtbar, unvorstellbar, undenkbar gemacht. Schränkt diese fehlende Repräsentation aber in irgendeiner Weise die Arbeit der Vermittlung ein? Nein, denn die moderne Welt würde auf der Stelle aufhören zu funktionieren, weil sie wie alle anderen Kollektive von der Vermischung lebt. Im Gegenteil, und hieran sieht man die Schönheit der Vorrichtung: Die moderne Verfassung erlaubt gerade die immer zahlreichere Vermehrung der Hybriden, während sie gleichzeitig deren Existenz, ja sogar Möglichkeit leugnet. (…) Wer hätte einer solchen Konstruktion widerstehen können? Es müssen wirklich unglaubliche Ereignisse diesen Mechanismus geschwächt haben, damit ich ihn heute mit dieser Distanz beschreiben kann und mit dieser Sympathie des Ethnologen für eine Welt, die im Begriff ist zu verschwinden.“ [Hervorhebung i.O., T. E.] Zum unterschwelligen Messianismus Latours, der sich an Zitaten wie dem hier angeführten sehr nachdrücklich manifestiert, siehe übrigens Schmidgen 2008e, 8f. Schmidgen erinnert an Latours in Dijon unter André Marlet angefertigte Dissertation über Péguy und seine intellektuelle Provenienz aus dem Dunstkreis von Gabriel Marcel und Paul Ricœur. Dazu Krüger 2008b, 29f.

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dieses Modell, an dessen Signifikanz in der internationalen Diskussion kein Zweifel besteht, behaftet ist. Canguilhem wird von Latour in Wir sind nie modern gewesen mit einer empfindlich kritischen Lektüre bedacht. Als Schüler Bachelards und in dessen unmittelbarer Nachfolge präsentiere sich Canguilhem als ein Denker der Asymmetrie, und zwar zunächst einmal der Asymmetrie zwischen wahrem (wissenschaftlichen) Wissen und falschem (ideologischen) Wissen. Weil Canguilhem diesen Dualismus bejahe und gar seine „oberste Pflicht“ (ebd., 2) darin sehe, „den epistemologischen Bruch noch zu vertiefen“ (ebd.), gelingt ihm, Latour zufolge, nicht einmal die erste Verschiebung, die angesichts der Dilemmata der Moderne zu Gebote steht. Diese erste Verschiebung entspricht unmittelbar dem von Latour adaptierten Symmetrieprinzip David Bloors, d.h. der normativen Postulierung eines einheitlichen Maßstabs zur Klassifikation von wissenschaftlich „akzeptierten“ und als nichtwissenschaftlich disqualifizierten Wissensformen. Canguilhem zementiert daher nach Latours Auffassung den Dualismus, und erschwerend kommt hinzu, dass er – so abermals Latour – durch eine künstliche Reduktion seiner Fragestellung auf Wissenschaftsgeschichte konzeptionell außer Stande sei, ein angemessenes Verständnis von Geschichtlichkeit zu artikulieren7. Aus der in dieser Arbeit versuchten Rekonstruktion von Canguilhems Projekt dürfte evident sein, was dieser Polemik von Latour entgegen zu halten ist: Es ist keineswegs der Fall, dass Canguilhem eine rigide Entgegensetzung von Wissenschaft und Ideologie, Wissen und Nicht-Wissen proklamiert. Im Gegenteil, Canguilhem beschreibt, wie hier erörtert, gerade das Weiterwirken einer (positiv und produktiv gewendeten) „naiven Wahrnehmung“ (ebd., 2) inmitten der wissenschaftlichen Rationalitäten; er zieht keine unableitbare Diskontinuität durch, sondern entfaltet Kontinuitäten und Evolutionen der Wissensproduktion, in denen wiederum das Motiv einer „analogische[n] Einbildungskraft“ (Schmidgen 2008e, 8) eine eminente Rolle spielt. Kurzum: Latour hängt einer überholten Simplifizierung in der Einschätzung der französischen Historischen Epistemologie nach, die sich in der Forschung spätestens seit den 990er Jahren, im Zuge der Feinunterteilungen der Ansätze Bachelards, Canguilhems und Foucaults erledigt hat. Deshalb überrascht es auch nicht, dass Latour über Canguilhems These zur Hybridität des Lebendigen zwischen Organischem und Technischem in Unkenntnis zu sein scheint. Gerade diese Anknüpfung an die Ebene des Lebendigen ist es jedoch, die Latours eigener Argumentation fehlt und die in die Gegenfrage mündet, weshalb Latour eigentlich systematisch eine (noch dazu: „symmetrische“) Anthropologie vertreten möchte. Auch Canguilhem würde wohl behaupten, dass „das Menschliche (…) gerade in der Delegation, im Paß, in der Sendung, im ständigen Austausch von Formen“ (Latour 998, 8) aufzusuchen ist – aber es ist der Rückbezug auf das Lebendige nötig, um diese Plastizität zu erläutern. Einzig der Begriff des Lebendigen bildet so etwas wie die gemeinsame Klammer, das tertium, durch das die beiden Pole des Dualismus überhaupt erst aufeinander bezogen werden können. Genau wie Latour durchbricht auch Canguilhem (was Latour wiederum ignoriert) die Subjekt-Objekt-Dichotomie; aber im Unterschied zu Latour versteht es Canguilhem, die Figur des Akteurs, die die Rede von Subjekten und Objekten ersetzen soll, 7

Siehe Latour 998, 2f.: „Das Symmetrieprinzip führt dagegen wieder Kontinuität, Geschichtlichkeit ein und, sagen wir es ruhig: elementare Gerechtigkeit. Bloor ist der Gegen-Canguilhem, so wie Serres der Gegen-Bachelard ist.“

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aus der Eigentümlichkeit des Lebendigen, d.h. aus dessen innerem Umschlag ins Technisch-Künstliche heraus zu explizieren. Und anders als Latour gewinnt Canguilhem damit auch eine Perspektive, um jene „anthropozentrische Fokussierung“ (Lindemann 2008b, 3) von sich zu werfen, die sich bei Latour noch darin zeigt, dass die Definition dessen, wer oder was fortan als Akteur firmieren und Zutritt ins „Kollektiv“ erhalten soll, ihrerseits von menschlichen Akteuren vollzogen wird. Bei Latour setzt sich ungebrochen der Anthropozentrismus fort. Von Canguilhem aus erscheint es dagegen möglich, sich außerhalb der anthropozentrischen Selbstvoraussetzung zu bewegen – und innerhalb einer Bestimmung des Lebendigen, die das Auftreten einer natürlichen Künstlichkeit, einer Technizität des Organischen und einer Organizität des Technischen allererst plausibel macht. Man kann aus diesen Umrissen erahnen, in welche Richtung sich die von Latour angestoßene Diskussion verschieben könnte, wenn man ein differenzierteres Verständnis von Canguilhems Historischer Epistemologie in sie einbrächte. Freilich müsste dies unter Verzicht auf die diskurspolitischen Vorurteile und Zurichtungen geschehen, die Latour allzu bereitwillig reproduziert, um seine eigene Konzeption zu profilieren. Was aber kommt heraus, wenn man von Plessners Philosophischer Anthropologie her in Latours Denkrahmen einsteigt und sein Programm einer Symmetrisierung der epistemologischen Koordinaten der Moderne inspiziert? Während Canguilhem von Latour immerhin (wenn auch tendenziös) rezipiert worden ist, bewegt sich die Zusammenführung von Latour und Plessner ausschließlich im Raum freier hermeneutischer Spekulation. Ohne Zweifel wäre aus einer an Plessner angelehnten Sicht zu begrüßen, dass Latour die Perspektive eines „neu verteilt[en]“ (Latour 998, 8) Humanismus überhaupt vorsieht. Personen stehen in der Tat andere Vermittlungsformen offen als die auf „Reinigung“ programmierte dualistische Vermittlung, die ganz auf den Antagonismus Natur oder Kultur zugeschnitten ist8. In dieser Hinsicht lässt sich Latours Diagnose, dass sich der christliche Humanismus missverstanden hat, wenn er den Menschen scharf von der Welt der Dinge separierte, verstehen und bekräftigen. Wie in dieser Arbeit notiert, liegt einer der stärksten Fluchtpunkte von Plessners Argumentation – in den Stufen ebenso wie in Macht und menschliche Natur – gerade im Motiv der „Durchgegebenheit des Menschen […] in eine Ebene mit physischen Dingen“ (Plessner 98b, 227). Man könnte Latours Konzeption also mit Plessner so lesen, dass sie – undiskutiert – das genuine Selbstverhältnis von Personen voraussetzt: D.h. von Wesen, die in andere Rollen schlüpfen können als jene Rollen, in denen sie sich historisch bislang inkorporiert haben. Zugleich wird es durch diesen auf der Ebene von Personen eintretenden Spielraum möglich, auch „anderen“ Entitäten – nicht-menschlichen oder unbelebten – den Status von Personen zu verleihen, sie also, mit Latours Worten, als „Aktanten“ zu betrachten. Mehr noch: Nur Personen können die von Latour rekonstruierten zwei divergierenden Rhythmen (der „Reinigung“ und der „Vermittlung“) gleichzeitig zu Stande bringen. Wo Latour von „Asymmetrie“ spricht, die „Wir“9 abzustreifen hätten, steht bei Plessner die 8

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Siehe ebd., 83: „Das Menschliche bezeichnet nicht einen Pol der Verfassung, der zum Pol des Nicht-Menschlichen in Gegensatz stünde. Die beiden Ausdrücke ‚Menschen‘ und ‚Nicht-Menschliches‘ sind spät eintretende Resultate, die nicht länger ausreichen, um die andere Dimension zu bezeichnen.“ Natürlich versteht sich Latours kollektives und anonymes „Wir“ nicht phylogenetisch als Synonym für die menschliche Gattung. Vielmehr spielt dieses „Wir“ mit der von Latour visierten Union von

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Rede vom unhintergehbaren Bruch oder „Hiatus“ lebender Personen. Asymmetrien und „schlechte“ Symmetrien (von Natur und Kultur) werden nur auffällig, wenn es möglich ist, sich neben die Asymmetrie zu stellen, und zwar während man sie selbst praktiziert. Der Kritiker der Asymmetrie kann nicht restlos aus dem (historischen) Inneren der Asymmetrie sprechen; er muss ihr vielmehr etwas voraus oder etwas außer ihr haben, um eine andere Konfiguration imaginieren bzw. normativ einfordern zu können. Womit die nachhaltige Differenz zwischen den Projekten Plessners und Latours getroffen wäre: Denn im Unterschied zu Latour propagiert Plessner keineswegs eine symmetrische Anthropologie, „die verbrüdert, statt zu denunzieren; die sortiert, statt zu demaskieren“ (Latour 998, 66). Nicht genug damit, dass bei Latour eine Konfusion hinsichtlich der Perspektiven herrscht, von denen her sich die Asymmetrie aufweisen und die neue Symmetrie entfalten lassen könnte60. Vor allem zählt, dass Plessner den von Latour gewünschten „symmetrische[n] Blick auf die Erscheinungen von Natur und Kultur“ (Rheinberger 200a, 3) für nichts anderes als einen „utopischen Standort“ (Plessner 97, 3ff.) halten würde. Latours Vorschlag lautet, „das Menschliche […] der Mitte an[zu]nähern“ (Latour 998, 83), es „zum Mittler und zum Kreuzungspunkt beider“ (ebd.): von Natur und Kultur, zu deklarieren. Man kann diese au fond katholische Intention der Erlösung aus der Negativität der Moderne, die Latour auch selbst einbekennt6, als eine verspätete Variation auf Schelers Formel vom Menschen im Weltalter des Ausgleichs lesen: „Wenn das Menschliche keine stabile Form besitzt, ist es noch lange nicht formlos“ (ebd.)62. Von Plessner her erscheint nun aber diese Überbietung der asymmetrischen Entzweiung durch einen neuen Bund oder Vertrag mit den Quasi-Objekten als die utopische Kehrseite menschlicher Exzentrizität63. Was bei Latour, mit Plessner gelesen, unverständlich bleiben muss, ist der finale Primat der Symmetrie: Woher wächst oder fällt bei Latour den Personen, die doch die Asymmetrien epistemisch selbst produziert haben, ihre Gabe

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„Quasi-Objekten“, die davon ausgeht, dass „die menschliche Natur (…) die Gesamtheit ihrer Delegierten und Repräsentanten, ihrer Gestalten und Boten“ (ebd., 8), umschließt. Sind es, wie wohl auch Canguilhem argumentieren würde, die Epistemologen, die sich und uns die geschichtlichen Widersprüche der beiden Regime der Reinigung und Hybridisierung transparent machen können? Teilen wir gar die Optik der Techniker und Forscher, die schon immer – nämlich im Labor – den Kontakt zu den Hybriden gepflegt und den Dualismus der Philosophen fortwährend durchkreuzt haben? Oder landen wir am Ende doch wieder auf der Seite der „Philosophien, die den Abgrund überbrücken“ (ebd., 77ff.) sollten, aber vor dieser Aufgabe bisher, Latour zufolge, in schöner Regelmäßigkeit kapituliert haben – von den Phänomenologen zu den Dialektikern, von den kommunikativen Rationalisten bis zur Dekonstruktion? Dazu, wie schon erwähnt, mit Blick auf Latours Péguy-Rezeption Schmidgen 2008e. Zu Schelers Weltalter des Augleichs und dessen Resonanz in Musils Theorem der Gestaltlosigkeit siehe wiederum Bühler 200, 7. Siehe Plessner 97, 33: „Weil also die Existenz des Menschen für ihn einen realisierten Widersinn birgt, ein durchsichtiges Paradoxon, eine verstandene Unverständlichkeit, braucht er einen Halt, der ihn aus dieser Wirklichkeitslage befreit. Aus der Angewiesenheit auf einen außerhalb der Wirklichkeitssphäre gelegenen Stützpunkt der eigenen Existenz wird die Wirklichkeit – Außenwelt, Innenwelt, Mitwelt –, welche zu seiner Existenz in Wesenskorrelation steht, notgedrungen selber stützungsbedürftig und schließt sich in Beziehung auf diesen wirklichkeitstranszendenten Punkt der Unterstützung oder Verankerung zu Einer Welt, zum Weltall zusammen.“

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des Ausgleichs, der Wiederversöhnung mit dem Seienden, zu? Entspricht Latours Vision nicht recht genau jener Resublimierung des Menschen in der Moderne, die Scheler im Weltalter des Ausgleichs durch den ordnenden Einfluss des Geistes begründet? Gegen Latour könnte Plessner daher einwenden, was er schon Scheler unter dem Stichwort des „utopischen Standorts“ entgegen hält: „Dem menschlichen Standort liegt zwar das Absolute gegenüber, der Weltgrund bildet das einzige Gegengewicht gegen die Exzentrizität. Ihre Wahrheit, ein existentielles Paradoxon, verlangt jedoch gerade darum und mit gleichem inneren Recht die Ausgliederung aus dieser Relation des vollkommenen Gleichgewichts und somit die Leugnung des Absoluten, die Auflösung der Welt.“ (Plessner 97, 36)

Latour ist, in Opposition zu Plessner, dezidiert ein Denker der Eingliederung des Menschen in die „Relation des vollkommenen Gleichgewichts“, den man mit Plessner befragen könnte, ob es nicht angemessener wäre, die asymmetrischen Konfigurationen, in die Personen hinein geraten können, als Anhaltspunkt für eine Asymmetrie (Exzentrizität) zu nehmen, die auf der Ebene der Personalität schlechthin irreduzibel ist. Latour vollzieht in seinem Modell – wenn man es vor der Folie von Plessners Argumentation betrachtet – eine Bewegung der Transzendenz, die gerade aus dem entspringt, was sie auszulöschen versucht, nämlich aus der radikal asymmetrischen Verfassung der Person: Symmetrische Anthropologie setzt exzentrische Positionalität voraus. Wenn man sich diesen philosophischen Konflikt, der zwischen Plessner und Latour systematisch zu vertiefen wäre, vergegenwärtigt, fällt es schwer, Rheinberger in seiner Konstruktion einer Gemeinsamkeit „von Plessner bis Latour“ (Rheinberger 200a, 3) zu folgen. Rheinberger stellt an Plessners Philosophischer Anthropologie ein Syndrom fest, das, wie er argumentiert, auch für Latours symmetrische Anthropologie einschlägig ist: Dieses Syndrom bestehe im unendlichen Leerlauf einer Reflexion, der es weniger darauf ankommt, den Dualismus Natur/Kultur als solchen zu problematisieren, als darauf, den Ursprung, den Ermöglichungsgrund dieses Dualismus freizulegen. Letztlich stießen beide, Latour und Plessner, in ihren Reflexionen zu der monströsen Einsicht vor, „dass wir vielleicht so etwas wie einen Ursprung überhaupt nur als ausgestrichene Bestimmung, im imaginären Raum einer Rekurrenz haben können, einer Rückbezüglichkeit, die wir Geschichte nennen“ (ebd., 3). Auf diese Weise paradoxalisiert sich der Weg, der an den ungedachten Anfang der Asymmetrie zurück führen soll, dem sich aber nichts anderes auftut als ein unendlicher Aufschub und eine Serie von Durchstreichungen: Deshalb verstünden Latour und Plessner die Geschichte als einen Prozess, der in dem Maße, in dem er Licht in den Ursprung des Dualismus bringen soll, seinerseits aporetisch und opak wird. Bei Plessner, so Rheinberger mit Bezug auf eine Passage aus der Conditio humana, trete das „Ungedachte[…] und (…) Ungemachte[…]“ (ebd., 3) fortan im Bild vom „Ende der Geschichte“ (ebd.) auf6. 6

Die Passage, auf die Rheinberger referiert, findet sich unter Plessner 2003b, 27: „Nicht nur der Mensch ist von der Bühne gegangen, um sie der Geschichte als der unsterblichen Bürgerin aller Nationen und Zeiten zu überlassen, auch die Geschichte als aktionsmächtige Einheit ist dahin. Einzig die schöpferische Bedingung, welche die organische Natur der menschlichen Furcht, dem menschlichen Planen und Hoffen zur Verfügung stellt, ist uns greifbar geblieben, eine

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In Absetzung von Rheinbergers Lektüre sollte man jedoch klarstellen, dass Plessners Verabschiedung der Geschichte als Sinnsubstanz gerade nicht mit Fukuyamas Drama vom „Ende der Geschichte“ zu verwechseln ist. Im Gegenteil, da Plessner – und dies unterscheidet ihn gegenüber Latour – keinem theologischen oder teleologischen Geschichtsdenken aufsitzt, muss er die permanente Durchstreichung und den Entzug der Wesensbestimmungen nicht auf die Idee eines „Endes der Geschichte“ beziehen. In dieser Hinsicht drückt das von Rheinberger diskutierte Zitat aus der Conditio humana deutlich aus, dass Plessner zwar den teleologischen Rekurs auf „die“ Geschichte für obsolet erklärt, nicht aber die Frage nach der Geschichtlichkeit des Menschen. Deren Ursprung denkt Plessner wiederum von der Expressivität und letztlich von der irreduziblen Gebrochenheit oder Asymmetrie der menschlichen Position her. Dies führt philosophisch aber zu einer anderen Perspektive als zu der von Latour eingenommenen, da letzterer nicht zeigen kann, wie es möglich sein soll, dass wir gleichzeitig modern und (in Latours Sinne) „nichtmodern“ sein können; dass wir zugleich in das „Gefüge“ (ebd.) der Geschichte eingeschlossen sind und doch außerhalb dieser Formation stehen. Was Latours Projekt angeht, kann Rheinberger also zu Recht einen aporetischen Leerlauf des Geschichtsbegriffs rekonstruieren, der die Zeit des Dualismus zurückzudrehen versucht, nur um zu entdecken, dass die Frage nach dem Ursprung offen bleiben muss. Auf Plessners Reflexion hingegen passt Rheinbergers Interpretation nicht: Plessner greift keineswegs nach dem utopischen „Punkt (…), von dem aus ein symmetrischer Blick auf die Erscheinungen von Natur und Kultur möglich würde, auf ihr Verschwinden als sich gegenseitig ausschließende Entitäten“ (ebd.). Vielmehr deckt er auf, wie die Sehnsucht nach dem Ursprung – die Latour in Gestalt seiner „symmetrischen Anthropologie“ hegt und die Rheinberger zu Unrecht auch Plessner unterstellt – aus der radikal offenen, immer wieder fraglich werdenden Position des Menschen entspringt. Wie all diese Ausführungen angeregt haben, könnte es produktiv sein, Bruno Latours Versuch einer symmetrischen Anthropologie als Kreuzungsstelle zu betrachten, an der sich Plessner und Canguilhem abermals treffen können. Aktuelle philosophische Kontroversen würden durch diese Ausweitung erheblich bereichert, denn sowohl bei Canguilhem als auch bei Plessner finden sich Fundierungen und zugleich Kritiken dessen, was Latour philosophisch praktiziert. Mit Canguilhem könnte man argumentieren, dass von Latour selbst das tertium, das menschliche und nicht-menschliche Entitäten als „Akteure“ erscheinen lässt, nicht ausgearbeitet wird. Erst ein Konzept des Lebens, das zeigt, wie das Organische ins Technische und das Technische ins Organische hinüber spielt, kann die natürlich-künstliche, hybride Konstitution der Akteure garantieren. Zudem erschiene es in dieser Argumentation, die im Begriff des Lebens die notwendige Folie für die Rede von „Akteuren“ sieht, widersinnig, mit Latour eine anthropologische Problemstellung beizubehalten. Mit Plessner hingegen wäre an Latour auszusetzen, dass sein Denkexperiment („Wir sind nie modern gewesen“) blind ist für die Frage, wie „wir“, die „Modernen“, zugleich inner-und außerhalb unserer eigenen Geschichte, inner-und außerhalb des Dualismus stehen können. Möglich ist das nur unter den Bedingungen, die Plessner auf der Ebene von Personen spezifiziert. An dieser Ebene gemessen, präsentiert sich in ihm selber unauslotbare Tiefe und unstillbare Unruhe, der Ursprung, aber nicht die Grenze seiner Geschichtlichkeit.“

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Latours symmetrischer Anthropologie eine Utopie des „Ausgleichs“ (Scheler) und der Transzendenz, die ihrerseits die konstitutionelle „Haltlosigkeit“ (Plessner 97, 36) von exzentrisch positionierten Personen zur Voraussetzung hat. In diesem Sinne wäre in Umkehrung Latours auf der Idee einer „asymmetrischen Anthropologie“ zu insistieren. Das Motiv der „natürlichen Künstlichkeit“ bietet folglich einen Aussichtspunkt, der an den Grenzen der hier bearbeiteten Problemstellung die Sicht auf weitere Konfrontationsmöglichkeiten zwischen Canguilhem und Plessner freigibt. Diese vielfältigen Möglichkeiten können hier nicht mehr in angemessener Weise elaboriert werden. Aus dem kaum zu überblickenden Reichtum an Aspekten, unter denen das Gespräch dieser beiden Autoren weiter ausgebaut werden könnte, möchte ich an dieser Stelle nur noch einen einzigen Gesichtspunkt herausgreifen. Dieser Gesichtspunkt betrifft die unkonventionellen Bezugsweisen auf Kant, die sich bei Plessner und Canguilhem jeweils rekonstruieren lassen. Bei beiden Autoren kann von einem gewissen kantischen Echo die Rede sein; hier wie dort fallen Bewegungen der Argumentation auf, die jeweils ihre wesentliche Vorlage in Kants kritischem System finden. Aber mehr noch: Wenn sowohl Canguilhem als auch Plessner spezifische Portraits von Kants Philosophie entworfen haben, dann spiegeln sich in diesen Portraits immer schon bestimmte Grundzüge ihrer eigenen Ansätze. Die KantInterpretation liefert für beide Seiten eine Folie, um so etwas wie eine Agenda und einen besonderen Stil von Philosophie zu umreißen. Zunächst zu Plessners Fall. Kant ist für Plessner in dessen philosophischer Reifephase, d.h. in den etwa zwölf Jahren, die seinem eigentlichen Durchbruch zur Philosophischen Anthropologie in den Stufen (928) vorausgehen, der überragende Einfluss. Schon in seiner Erlanger Dissertation von 96, der Krisis vom transzendentalen Wahrheit im Anfang, hatte Plessner, in gewisser Weise gegen seine Ausgangsintention, einen definitiven Vorzug der kantischen Transzendentalphilosophie gegenüber Husserls Phänomenologie abgesichert6. Anders als die Phänomenologie, die im Kern dogmatisch verfahre, sei Kants System der Gedanke immanent, dass nur der Gesamtzusammenhang seiner drei Kritiken die spezifische Autonomie der Philosophie, d.h. ihre kritische Struktur ermöglichen könne. Aus diesem Ausgangspunkt speist sich auch Plessners 920 (bei Scheler und Driesch in Köln) abgeschlossene Habilitation Untersuchungen zu einer Kritik der philosophischen Urteilskraft (Plessner 2003h). Bei Kant zeichnet sich die Stellung der Philosophie im Ganzen – so Plessners Initialschritt in diesem Buch – dadurch aus, dass ihr, anders als den Einzelwissenschaften, kein distinktes Gebiet zuzuordnen ist, „auf welchem sie die Gesetzgebung ausüben kann“ (ebd., 208). Diese merkwürdige Absenz eines originären Gebiets führe bei Kant dazu, dass man die Einheit der philosophischen Vernunft nicht durch deren spontane Autonomie stiften kann. Vielmehr ist der Philosophie die Situation der „Heautonomie“66 eigentümlich: „Weil sie nichts bestimmen kann, bleibt ihr die Möglichkeit, sich selbst ein Gesetz zu geben und dieses zu befolgen“ (Haucke 2003, 0). Der Hauptakzent von Plessners Habilitationsschrift liegt daher auf der Rolle der reflektierenden (im Unterschied zur bestimmenden) Urteilskraft bei Kant: Da nun die Philosophie sowohl von den partiellen Erkenntnisgebieten als auch von den diskreten Erkenntnisvermögen losgelöst ist, kann die Maxime, an der sie Maß nimmt, nur subjek6 66

Dazu Dietze 2006, 3f. Dazu Breun 2006.

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tiven und regulativen Charakter haben. „Heautonom“ geht die Philosophie insofern vor, als ihre Urteile aus einer freien Setzung, einer Selbstgrundlegung der Urteilskraft entspringen – und nicht aus der „Gesetzgebung des Verstandes oder der Vernunft“ (Plessner 2003h, 22). Unter diesen Voraussetzungen spielt Plessner die Frage durch, ob die veritabel philosophische Urteilskraft im ästhetischen Modus der reflektierenden Urteilskraft verankert sein könnte. Doch letztlich verneint Plessner, dass die ästhetische Urteilskraft hinreicht, um jene Einheitsstiftung, die Kants System hintergründig zusammenhalte, möglich zu machen (ebd., 2f.). Gleichwohl liegt das in den ästhetischen Urteilen klar werdende Moment eines freien Spiels der Erkenntnisvermögen schon ganz in der Nähe der überraschenden These, die Plessner schließlich riskiert. Denn in Plessners Darstellung findet die Figur der heautonomen Urteilskraft das Motiv, das sie strukturiert und zugleich begrenzt, in der Erfahrung der Würde des Menschen: „Wohl (…) dürfen wir Würde, wie sie die ganze Haltung eines Menschen, und sei es auch nur im Bilde seines Körpers, verrät, ein S y m b o l der ganzen im Dienst der Beförderung des höchsten Guts erforderlichen Leistung des Menschen nennen. Denn wir besitzen in der Erscheinung der Würde, wenn auch kein Schema und keinen Typus, doch etwas, das uns beide in gewissem Sinne, allerdings nur zur inneren Deutlichkeit ersetzt, nämlich ein Symbol, in welchem wir die Art des Verfahrens in der Vorstellung der sinnlichen Erscheinung der Würde auf die unvorstellbare Idee der Arbeit des Menschen im Sinne seiner Bestimmung übertragen.“ (Ebd., 28f.)

Eine eminent wichtige Komponente des Würdebegriffs ist demnach die Körperlichkeit der Würde – ihre Erscheinungsweise an den menschlichen Körpern. Die Würdehaltung symbolisiert eine „unabsichtliche[…] Harmonie (…)“ (ebd., 2) in der Gesamterscheinung, „unabsichtlich, d.h. ohne dass ein Zweck die Einheit begründet, aber nicht bewusstlos, sondern bei voller Durchdringung mit der Energie des Bewusstseins“ (ebd.). Was Plessner in seiner Habilitation vorschlägt, ist eine „Begründung der Philosophie in einem so ganz und gar menschlichen Merkmal, wie es Würde ist“ (ebd., 22). Wenn man sich fragt, welches Prinzip die systematische Einheit von Kants drei Kritiken und der jeweils in ihnen entwickelten Vermögen der Rationalität begründet, dann wird man, so Plessner, auf den Gedanken stoßen, dass die Antwort in einer spezifischen „Haltung“ des Denkens liegt. In Plessners Lektüre gewinnt die von Kant implizierte philosophische Urteilskraft – das hat Kai Haucke herausgestellt67 – im Grunde die Funktion einer Deutung menschlichen Ausdrucks: Ihre Aufgabe wäre, die menschlichen Phänomene, die stets an den Körper gebunden sind, regulativ als Ausdruck eines Zusammenspiels aller menschlichen Vermögen aufzufassen – wobei dieses Zusammenspiel nicht absichtsvoll von den menschlichen Individuen hervorgebracht und gesteuert wird. In gewisser Weise antizipieren diese Überlegungen bereits die Figur der exzentrischen Positionalität, die, wie hier dargelegt, das unverwechselbare Herzstück von Plessners Philosophischer Anthropologie bildet: Denn auch die Argumentation der Stufen fordert, menschliche Handlungen auf die Gesetztheit (Positionalität) oder eben Haltung desjenigen zu beziehen, der handelt. In den menschlichen Praktiken schwingt stets das Moment mit, das sie ermöglicht und das es in seiner Ausdruckshaftigkeit zu verstehen gilt. Aber nicht nur das: In Plessners früher Anlehnung an Kant mag man auch schon eine Andeutung zu dem Verhältnis erkennen, das die Philosophische Anthropologie gegenüber 67

Siehe Haucke 2003, 3.

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den Erfahrungswissenschaften, aber auch gegenüber den jeweils autonomen Methoden des Philosophierens eingeht. Wie nämlich die eigentlich philosophische Urteilskraft hinter den Kulissen der „gesetzgebend“ verfahrenden Wissenschaften und Vernunftgebräuche steht und deren Einheit im Blick hat, so hält sich die Philosophische Anthropologie streng genommen im Rücken der einzelwissenschaftlichen und einzelphilosophischen Praxis auf. Sie deckt den normativen Bezugspunkt auf, an dem die einzelnen Rationalitäten, ohne ihn selbst ausweisen zu können, Maß nehmen: Gegen die bestimmende Urteilskraft appelliert die Philosophische Anthropologie an die reflektierende Urteilskraft, wodurch sie die unendliche Offenheit des menschlichen Wesens in Erinnerung hält. Auf die Eigenwilligkeit und den unorthodoxen Weg von Plessners Kant-Interpretation ist oft verwiesen worden68. Im hier relevanten Rahmen lässt sich ihre philologische Stringenz freilich nicht diskutieren. Was man jedoch beachten muss, ist der Umstand, dass in Plessners Rekurs auf Kant ein besonderer Stil von Philosophie eingezeichnet ist: In der Wahl bestimmter Schriften, Theoreme oder innersystematischer Probleme Kants, denen Plessner seine Konzentration widmet, kündigen sich dessen eigene philosophische Prioritäten an. So ist es durchaus möglich, sich einen Weg zu Plessners eigenständiger Konzeption zu bahnen, indem man mit einer Rekonstruktion seiner Kant-Lektüre beginnt und deren Originalität bedenkt. Ganz analog liegen die Dinge bei Canguilhem. Anders als Plessner hat Canguilhem zwar kein groß angelegtes „Kant-Buch“ vorgelegt. Seine Anlehnungen an Kants Kritizismus finden sich eher über verschiedene Aufsätze verstreut, vor allem in Machine et organisme und in den Neuen Überlegungen zum Normalen und zum Pathologischen. Dennoch bildet auch in seinem Fall das Bild, das von der Kantischen Philosophie entworfen wird, einen Spiegel der eigenen Argumentationsfiguren. Um dies zu erläutern, soll an diesem Punkt nicht die Signifikanz der Verweise auf Kant in den gerade genannten Schriften Canguilhems ausgelotet, sondern vielmehr ein Text konsultiert werden, zu dessen französischer Neuübersetzung und Herausgabe im Jahr 99 Canguilhem ein Vorwort verfasst hat69. Es handelt sich um Kants vorkritischen Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (763), der von einem gemeinsamen Schüler Jean Hyppolites und Canguilhems, Roger Kempf, neu übersetzt wurde. Vielleicht ist es der pointierten Kürze und der eher unsystematischen Herangehensweise von Canguilhems préface zuzuschreiben, wenn in der Literatur zu Canguilhem bislang völlig unerkannt ist, dass zwischen Kants Überlegungen aus der Schrift über die Negativen Größen und Canguilhems eigenen Hypothesen eine entscheidende Verbindung besteht. Man muss sich die Grundthesen von Kants Schrift selbst vergegenwärtigen, um ihre Relevanz für Canguilhems Konzeption bestimmen zu können. Besonders attraktiv ist ein solcher unmittelbarer Rückgriff auf Kants Originaltext allein deshalb, weil sein Versuch über die negativen Größen trotz des auch international so prosperierenden Niveaus der Kant-Forschung selbst noch immer „trop peu connu, mais capital“ (Milet 2006, ) ist70. Wie lautet das Problem, das Kant in dem Text über die Negativen Größen aufwirft? Kants Perspektive besteht, kurz gefasst, darin, neben dem logischen Widerspruch einen 68 69 70

Siehe Haucke 2003, f.; Haucke 2000; Schürmann 20, 90ff. In der Bibliographie zu dieser Arbeit finden sich zu diesem Titel nähere Daten unter Kant 99. Im Folgenden wird aus der deutschen Akademie-Ausgabe (Kant AA II) zitiert. Die zeitgenössische Diskussion dieses Textes beschränkt sich in der deutschen Forschung vornehmlich auf Ritzel 98; Eidam 2000; Hinderer 200; Schnepf 200.

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anderen Typ der Opposition von Bestimmungen zu etablieren. Ist die logische Opposition dadurch definiert, „daß von eben demselben Dinge etwas zugleich bejahet und verneinet wird“ (Kant AA II, 7), dann ist der Gegenstand einer solchen widersprüchlichen Bestimmung ein leerer Gegenstand, d.h. Nichts (nihil negativum, irrepraesentabile). Diesem logischen Ausschluss setzt Kant nun ein anderes „Gegenverhältniss“ (ebd., 7) gegenüber, wonach ebenso „eins das andere auf[hebt], was durch das andere gesetzt ist; allein die Folge ist etwas (cogitabile)“ (ebd., 7). Kant führt den Fall einer solchen „Realpugnanz“ (ebd., 9) wie folgt ein: „Bewegkraft eines Körpers nach einer Gegend und eine gleiche Bestrebung eben desselben in entgegengesetzter Richtung widersprechen einander nicht, und sind als Prädikate in einem Körper zugleich möglich. Die Folge davon ist Ruhe, welche etwas (repraesentabile) ist. Es ist dieses gleichwohl eine wahre Entgegensetzung. Denn was durch die eine Tendenz, wenn sie allein wäre, gesetzt wird, wird durch die andere aufgehoben, und beide Tendenzen sind wahrhafte Prädikate eines und eben desselben Dinges, die ihm zugleich zukommen. Die Folge davon ist auch nichts, aber in einem anderen Verstande wie beim Widerspruch (nihil privativum, repraesentabile). Wir wollen dieses Nichts künftighin Zero = O nennen, und es ist dessen Bedeutung mit der von einer Verneinung (negatio), Mangel, Abwesenheit, die sonsten bei Weltweisen im Gebrauch sind, einerlei, nur mit einer näheren Bestimmung, die weiter unten vorkommen wird.“ (Ebd., 7f.)

Das Konzept, auf das Kant in seiner Schrift hinarbeitet, zeichnet sich dadurch aus, dass „in demselben Subjecte“ (ebd., 76f.) eine Polarität von Bestimmungen herrschen kann, die sich in ihren Effekten gegenseitig neutralisieren, ohne sich logisch zu negieren. Interessanterweise illustriert Kant, wie Heinz Eidam anmerkt, in einem anderen Text aus seiner vorkritischen Zeit, dem Einzigen Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes, die in Frage stehende Problematik der „negativen Größen“ am Phänomen des Schmerzes: Schmerz sei keineswegs „als eine bloße Beraubung“ (Eidam 2000, 08), als „ein verringertes Maß an Gesundheit“ (ebd.) zu beschreiben, sondern „durchaus als etwas, das dem schmerzfreien Zustand realiter entgegengesetzt sein muß, sowohl um positiv empfunden und auch wieder aufgehoben werden zu können“ (ebd.). Der Schmerz ist folglich nicht die Privation einer Positivität, die, wenn ihr „Gegenteil“ gelten soll, ihrerseits erlischt; vielmehr hat der Schmerz selbst schon den Charakter einer Positivität und einer Position. Zum Fall der „Schmerzlosigkeit“ steht er in einem Verhältnis der „Realentgegensetzung“, d.h. in einem Konflikt, „der eine gegenseitige Aufhebung dessen zur Folge hat, was ohne oder außerhalb dieser Entgegensetzung auch nicht negiert werden würde“ (ebd., 3). Wenn es auch zutrifft, dass in logischer Hinsicht ein Subjekt nicht gleichzeitig ein bestimmtes Prädikat haben und nicht haben kann, so kann dieses Subjekt unabhängig von dem nexus logicus „bien en revanche être soumis à deux forces égales qui le dirigent dans des directions diamétralement opposées et qui, ce faisant, le maintiennent en repos“ (Bouchard 200, 32). Diese Formulierung bringt scharf zum Vorschein, welche Affinität zwischen der von Kant entwickelten Denkfigur der „negativen Größen“ und Canguilhems Überlegungen existiert: Denn man kann festhalten, dass sich die Zustände des Normalen und des Pathologischen in Canguilhems Darstellung genau so zueinander verhalten wie Kants „negative Größen“. Das Pathologische ist eine Qualität sui generis und keineswegs die Abwesenheit des Normalen. In gewisser Hinsicht operiert die Physiologie – so könnte man Canguilhems Argument aus Das Normale und das Pathologische hier lesen – dort mit einer logischen Widerspruchsbeziehung, wo es eigentlich darum

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ginge, so etwas wie eine reale Resistenz zweier Zustände gegeneinander zu erfassen. In Kants Konzept der „negativen Größen“ liegt durchaus der Nukleus zu einer Theorie der Kräfte und der Kraftkonflikte. Ohne Zweifel hat dieser Aspekt der Kantischen Philosophie seine Wirkung auf Canguilhem nicht verfehlt, und man übertreibt nicht, wenn man behauptet, dass man den Einstieg in Canguilhems Verständnis des Lebendigen ausgehend von dem Versuch über die Negativen Größen schaffen könnte. Selbstverständlich sind die Potenziale für eine Vertiefung der Bande zwischen Canguilhem und Plessner durch die in diesem Kapitel skizzierten Aussichten noch lange nicht erschöpft. Es ging hier nur darum, ein Schlaglicht auf zwei exemplarische Bereiche zu werfen. Beendet sei dieser Abschnitt mit der Anmerkung, dass in den darin entwickelten Nachbetrachtungen noch einmal das Grundszenario, das ich in dieser Arbeit ausmalen wollte, durchscheinen sollte: Wenn man auch die Denkbewegungen Plessners und Canguilhems unter dieselbe Begrifflichkeit stellen kann (siehe das Motiv der natürlichen Künstlichkeit), so wird man dennoch zwei heterogene, miteinander in Konflikt tretende Wege damit beschreiben. Diese Erinnerung gibt Gelegenheit, eine Art Schlusseinstellung vorzunehmen, ein letztes Bild, das uns noch einmal in die beiden Konzeptionen, die uns so lange begleitet haben, zurück versetzen wird.

Schlussbilder Eben wurde von einer „Schlusseinstellung“ gesprochen, und in der Tat soll der Ausklang dieser Abhandlung ein bildhafter sein. Freilich könnten die letzten Ausführungen auch ein Resümee beinhalten, das noch einmal alle Details der Argumentation vorüberziehen ließe und die beiden Philosophien, die hier diskutiert wurden, zur Sprache brächte. Aber ebenso gut ist es möglich, zwei Bilder nebeneinander zu legen, von denen jedes in seiner Weise eine Metaphysik in nuce impliziert. In Le vivant et son milieu schildert Canguilhem, wie Blaise Pascal die fundamentale „Zweideutigkeit des Milieubegriffs“ (Canguilhem 2009d, 273) aufzulösen versucht, soll heißen: den „Konflikt zwischen der organischen Konzeption der Welt und der Konzeption eines dezentrierten Universums (…), die sich vom privilegierten Bezugszentrum der antiken Welt, der Erde des Lebendigen und des Menschen, absetzte“ (ebd., 272f.). In seinem Fragment über die Disproportion de l’homme entdeckt Pascal, so Canguilhem, einen beängstigenden Gedanken: „Pascal weiß wohl, dass der Kosmos in Stücke zersprungen ist, doch die ewige Stille der unendlichen Räume macht ihm Angst. Der Mensch ist nicht mehr in der Mitte [milieu] der Welt, doch er ist ein Milieu (ein Ort zwischen zwei Unendlichkeiten, zwischen nichts und allem, zwischen zwei Extremen); das Milieu ist der Zustand, in den uns die Natur versetzt hat; wir treiben in einem weiten Milieu; der Mensch steht im Verhältnis zu den Teilen der Welt, er hat Beziehung zu allem, was er kennt.“ (Ebd., 273; Hervorhebungen i.O., T. E.)

Pascal beschreibt den Menschen in einem Intervall, einem Hiatus, einer Schwebe zwischen Nichts und Unendlichem. Es ist des Menschen Missverhältnis, „ein Nichts vor dem Unendlichen, ein All gegenüber dem Nichts, eine Mitte zwischen Nichts und All“ (Pascal 99, 3) darzustellen, „unendlich entfernt von dem Begreifen der äußersten Grenzen“

Schlussbilder

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(ebd.). Der Modus des Menschen, auf das Unendliche und das Nichts Bezug zu nehmen, ist nurmehr ein Modus der Teilhabe [methexis], nicht der Erkenntnis [episteme]. Wie reagiert nun Pascal auf diese metaphysische Inkommensurabilität, die den Menschen in einer „Mittelstellung“ (Canguilhem 2009d, 27) zwischen zwei Ordnungen gespannt hält, mit denen er kein gemeinsames Maß teilt? Pascal antwortet auf diese Situation, so Canguilhem, indem er die Konfiguration zwischen Teil und Ganzem umformt: Möglich, dass die Totalität des Seins außerhalb der begrenzten, endlichen und von Maßen abhängigen Sphäre des Menschen liegt. Aber finden sich nicht schon innerhalb der „unermeßlichen Mitte“ (Pascal 99, 3), auf die sich die menschliche Welt reduziert, die Zeichen einer eigentümlichen Geschlossenheit der Dinge? Pascal lenkt die Aufmerksamkeit des Menschen um: Von der Ganzheit einer göttlichen Ordnung, die ihn übersteigt, zur Ganzheit der Immanenz der Dinge, „die ein gemeinsames Maß mit ihm haben“ (ebd., 3). Zöge der Mensch diese interne Konstitution der endlichen Welt in Betracht, anstatt auf dem Weg der Wissenschaft „eine letzte beständige Basis“ (ebd., 3) anzustreben, „um darauf einen Turm zu bauen, der bis in das Unendliche ragt“ (ebd.); zöge er also das ihm eigentümliche Milieu in Betracht, dann würde er begreifen, dass „es weder (…) möglich [ist], die Teile zu kennen, ohne daß man das Ganze kenne, noch (…) daß man das Ganze kenne, ohne im Einzelnen die Teile zu kennen“ (ebd., 36). Für Canguilhem entdeckt Pascal durch diese Rekonfiguration des Verhältnisses der Teile zum Ganzen nun aber nichts anderes als das Problem der „Lebensumwelt“ (Canguilhem 2009d, 27). Die endliche Welt mag ein Teil sein, der das Ganze, dem es angehört, nicht einholen kann; aber innerhalb dieser Welt sind alle Teildinge durch einen organischen Zusammenhang verflochten, den ihnen nicht Gott, sondern ihr Zusammenspiel untereinander verschafft7. Es ist interessant, dass Canguilhem diese Perspektive Pascals, die dazu einlädt, die partielle Welt des Menschen selbst als organisches Ganzes zu betrachten, mit einer Passage aus den Pensées verbindet, die der geschilderten Textstelle unmittelbar vorangeht. Dort deutet Pascal an, wie die Weltganzheit zu konzipieren wäre, ohne dass „wir (…) unsere Vorstellungen von ihr aufblähen über die letzt denkbaren Räume hinaus“ (Pascal 99, 30). Vielleicht, so Pascal, ist das Universum „eine unendliche Kugel, deren Mittelpunkt überall und deren Oberfläche nirgends ist“ (ebd.). Wenn aber Pascal eine solche Figur des Allmittelpunkts aufruft, dann versucht er, so Canguilhem, „(…) durch die Verwendung eines aus der theosophischen Tradition entlehnten Bildes die neue wissenschaftliche Konzeption, die aus dem Universum ein unendliches und undifferenziertes Milieu macht, mit der antiken kosmologischen Vision zu versöhnen, die aus der Welt eine endliche, auf ihr Zentrum bezogene Totalität macht. Erwiesenermaßen handelt es sich bei dem hier von Pascal gebrauchten Bild um einen beständigen Mythos des mystischen Denkens neuplatonischen Ursprungs, in dem sich die Erkenntnis der kugelförmigen, auf und durch das Lebendige 7

Siehe die auch von Canguilhem zitierte Passage unter Pascal 99, 3: „Der Mensch zum Beispiel steht in Beziehung zu allem, was er kennt. Er braucht Raum, den er ausfüllt, Zeit, um zu dauern, Bewegung, um zu leben, Elemente, die ihn aufbauen, Wärme und Nahrung, um sich zu ernähren, Luft, um zu atmen; er sieht das Licht, er fühlt die Körper; kurz: alles ist ihm verbunden. Also muß man, um zu verstehen, was der Mensch ist, wissen, weshalb er, um leben zu können, Luft braucht, und um zu verstehen, was die Luft ist, müßte man wissen, wodurch sie in dieser Beziehung zum Leben steht usw.“

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zentrierten Welt und die bereits heliozentrische Kosmologie der Pythagoreer fügen.“ (Canguilhem 2009d, 27f.)

Für dieses Schlusskapitel wurden Bilder angekündigt, die in nuce ein gesamtes philosophisches Modell ausdrücken können: Hier wäre das erste dieser Bilder. Denn es fällt nicht schwer, hinter der Problemstellung und -lösung, die Canguilhem hier Pascal in den Mund legt, seine eigene philosophische Vision wiederzuerkennen: Das „Missverhältnis des Menschen“, das mit der modernen Dominanz der Naturwissenschaften zusammenfällt, drückt sich in einer Entwertung der Endlichkeit aus. Das Mi-lieu, der qualifizierte Raum des Menschen, transformiert sich in ein Mi-lieu, einen indifferenten, dezentrierten Plan, der auf keine Wertequelle hin mehr versammelt ist. Wenigstens der Möglichkeit nach lässt sich jedoch die Disproportion, das Missverhältnis des Menschen überwinden, wenn auch in einer unerwarteten Richtung: Nämlich durch den Eintritt der Frage nach dem Leben und die Entdeckung der biologischen Perspektive, die das Lebendige als „Zentrierung innerhalb einer offenen Totalität“ (Balzaretti 200c, ) zu beschreiben erlaubt. Und wie könnte ein komplementäres Bild gegenüber dieser Vision eines sich schließenden Kreises aussehen? Hier lässt sich ein letztes Mal der im Laufe der Untersuchung mehrfach eingestreute Gedanken einer Kommentierung sans le savoir bemühen: Man kann Passagen des einen Autors wie eine passgenaue Kritik an Ausführungen des anderen lesen – und dies trotz der Tatsache, dass sich die beiden Autoren nicht einmal kannten. Jedenfalls präsentiert Plessner in den allerletzten Zeilen der Stufen ein Bild, in dem sich noch einmal und rückblickend sein schlagendes Argument verdichtet. Schon an einer früheren Stelle, im Zusammenhang mit einer Definition lebendiger „Entwicklung“, hatte Plessner formuliert: „Das Bild des Prozesses als eines Fortgangs ist nicht der Kreis, welcher das Stehen ausdrückt, sondern die gerade Linie“ (Plessner 97, 39). In der Schlussnote seines Textes taucht diese Figur wieder auf. Dort heißt es: „Ein Weltall lässt sich nur glauben. Und solange er glaubt, geht der Mensch ‚immer nach Hause‘. Nur für den Glauben gibt es die ‚gute‘ kreishafte Unendlichkeit, die Rückkehr der Dinge aus ihrem absoluten Anderssein. Der Geist aber weist Mensch und Dinge von sich fort und über sich hinaus. Sein Zeichen ist die Gerade endloser Unendlichkeit. Sein Element ist die Zukunft. Er zerstört den Weltkreis und tut uns wie der Christus des Marcion die selige Freude auf.“ (Ebd., 36)

Die „kugelförmige, auf und durch das Lebendige zentrierte Welt“ gegen die „Gerade endloser Unendlichkeit“; der neuplatonische Mythos des Allmittelpunkts und die marcionitische Dialektik von „grauenvoller Heimat“ und „seliger Fremde“ (Harnack): In der Spannung zwischen diesen Bildern zeichnen sich am Schluss vielleicht wirklich eine „Metaphysik der Versöhnung“ und eine „Metaphysik der Tragik“72 als die beiden divergenten philosophischen Visionen Canguilhems und Plessners gegeneinander ab. Vor allem aber fangen diese Bilder in nuce zwei Reflexionen auf das Leben und sein Wissen ein, die sich im Modus einer Verschränkung wechselseitig kritisieren, erhellen und aneinander grenzen lassen könnten. 72

Diese Gegenüberstellung – Metaphysik der Versöhnung vs. Metaphysik der Tragik – stammt von Ugo Balzaretti, der darunter zwei auseinander strebende Optionen im Denken Foucaults definiert (Nietzsche vs. Bergson). Ich greife diese Unterscheidung hier nominell auf, wende sie aber in eine neue Bedeutung, soweit sie mir für die Opposition zwischen Plessners und Canguilhems Projekten sinnvoll erscheint.

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Literatur

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Literatur

09

Worms, Frédéric (2009): La philosophie en France au XXe siècle. Moments. Paris. Wübben, Yvonne (2009): Kontinuität und Kontamination. Georges Canguilhems Begriffsgeschichte des Reflexes. In: Müller, Ernst/Falko Schmieder (Hrsg.): Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften: Zur historischen und kulturellen Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte. Berlin/New York, 7–202. Wulz, Monika (200): Erkenntisagenten. Gaston Bachelard und die Reorganisation des Wissens. Berlin. Wunsch, Matthias (2008): Zu Plessners lebensphilosophischer Grundlegung seiner Anthropologie. Unveröffentlichtes Manuskript eines Vortrags auf der Tagung „Lebensphilosophie und Philosophische Anthropologie“ der Helmuth Plessner Gesellschaft, TU Dresden, 20–22..2008, –. Žižek, Slavoj (2006): Parallaxe. Frankfurt am Main.

Personenregister Helmuth Plessner und Georges Canguilhem sind im nachstehenden Register nicht eigens verzeichnet.

Accarino, B. 30 Adorno, T. W. 20 Agamben, G. –20 Alain (Émile-Auguste Chartier) 28, 30ff. Alexandre, M. 30 Althusser, L. 33, 20, 67, 97, 267, 27, 278, 307, 363 Anaximander 276 Aquin, T. von 7 Arendt, H. , 7 Aristoteles , 9, , , 62, , 9, 7ff., 76, 92f., 97, 20, 326, 328, 370, 373f. Aron, R. 32, 267, 362, 36 Artmann, S. , 2f. Bachelard, G. 23f., 28, 33, 3, 7–29, 3f., 3, , 67ff., 80, 9, 202, 20, 26– 28, 226, 230, 29, 22, 260, 267, 27f., 29, 30f., 309, 3f., 39, 322, 327, 36, 362, 36, 377 Bachelard, S. 3 Bacon, F. 302 Badiou, A. 3, 82, 8, 208f., 273, 33f., 337f., 30, 362 Baer, K. E. von 76 Baglivi, G. 70f. Bainbridge, W. S. 0ff. Balibar, E. 362f. Balibar, F. 363 Balzaretti, U. 0, 37, 0, 28ff., 32, 39, 3f., 8, 68, 207, 27, 223, 226, 228, 32, 37, 360, 388 Barbara, J.-G. 230 Bardoux, T. 23, 7 Barthez, P.-J. 76, 80 Baumanns, P. 287, 290f., 293f.

Beaufort, J. 0f., 6, 8ff., 70, 7, 89, 0, 2, 22, 230, 23, 333 Benjamin, W. ff. Bergson, H. 2, 30f., 0, 93, 29, 3, , 8ff., 67f., 8, 93–96, 99, 22, 223ff., 239, 272, 293, 30, 30f., 3f., 326, 330, 370, 388 Bernard, C. 78, 80, 33ff., 0–, 76, 263, 300 Bertalanffy, L. von  Bianco, G. 9 Bichat, . 78, 80, 39f., 8, , 76, 80f., 8, 28, 263, 37, 39f. Bloor, D. 377 Blumenbach, J. F. 76, 370 Borck, C. 26, 3, 36, 3, 6, 69, 87, 202, 278, 283 Borges, J. L. 23 Borkenau, F. 72f., 28 Bouchard, Y. 38 Bourdieu, P. 3, 36, 362 Boutroux, É. 32 Bouveresse, J. 363 Boveri, T. 277 Brandt, C. 327 Braunstein, J.-F. 23, 28, 3, 37, 2, 266, 30f., 30, 33f., 36 Breun, R. 6, 68, 93f., 08f., 2, 22, 2, 32 Broussais, F. 33–0, 2, , 223 Brown, R. 277 Brunschvicg, L. 28, 3f., 38, 232, 3, 36 Bühler, B. 28, 370, 379 Buffon, G. L. de 82, 93, 263 Buytendijk, F. J. J. 29f., 66, 98f., , 99, 202, 267, 36

Personenregister Cammelli, M. 30, 303 Camus, A. 30 Carel, H. 2f.,  Cassirer, Eduard 3 Cassirer, Ernst , 28, 37, 30–3 Cassirer, R. 3 Castel, R. 3 Cavaillès, J. 30, 33, 3, 8f., 29, 226, 232, 239, 282, 322, 36, 262 Cavell, S. 3 Cherlonneix, L. 32 Cheung, T. 20 Chien, J.-P. 332 Chimisso, C. 32, 38, 28, 30f., 3 Claudel, P. 9 Collmer, T. 2, f. Comte,A. 28, 26, 33f., 37–3, , 0, f., 6f., 82, 26, 223, 263f., 30f., 32ff. Crick, F. 93, 97, 32 Dacqué, E. , 2 Dagognet, F. 3, 20 d’Alembert, J. L. R. 33 Darwin, C. , 9, 2, 27f., 26, 277 Debru, C. 3, 3, 63, 30, 3f. Delaporte, F. 37, 30, 8, 63, 26, 28, 2, 29f., 263, 32, 322 Deleuze, G. 30, 207, 22, 2, 306, 36, 362, 368 Delitz, H. 33 Demokrit 276f. Derrida, J. 329, 36, 362, 370 Descartes, R. , 32, 63, 8f., 9, 20, 28, 38, 62f., 7–7, 86, 88–9, 232, 20, 29, 269, 302, 306, 3, 32f., 33, 338 Diaz-Bone, R. 2 Diderot, D. 33 Dietze, C. 29ff., 36 Dilthey, W. , 2, 38, 8f., 9, 92, 08, 6, 6, 203f., 2, 22, 28, 22, 270, 279, 292, 300, 30, 308, 3, 37, 330, 3, 363 Driesch, H. 30, 0–6, 2, , 80. , 76, 79ff., 8, 28, 27ff., 37, 382 Du Bois-Reymond, A. 7, 28 Dufrenne, M. 67, 82, 239ff., 332 Dumézil, G. 86 Dupuy, M. 30 Durkheim, E. 6, 6f., 26 Eidam, H. 38 Eßbach, W. 63, , 202, 20, 2

 Ferrada, M. 07, 297f. Feuerbach, L. 27 Fichant, M. 7 Fichte, J. G. 2, 93, 08, , , 207, 22, 23, 2, 28f., 290 Fischer, J. 27, 3, 37, 62, 6, 66, 7, 7f., 86, 88, 9, 9, 08, 0, 203, 22, 22, 238, 2f., 2, 29, 2, 23, 26, 269ff., 333, 33, 36 Fitzi, G. f. Foucault, M. –8, 20f., 23f., 26, 28, 33–3, 9, 7ff., 28–3, , 8, 67f., 86ff., 97, 208, 220, 22f., 232, 239, 20, 22, 2f., 266ff., 273, 278, 29, 30f., 309, 3f., 3, 38, 322, 32, 326f., 330, 36f., 36–362, 388 Freud, S. 26, 339 Friedman, M. 36 Gamm, G. 3, 363 Gane, M. 33 Gayon, J. 3, 27, 32, 68 Gehlen, A. 3f., 0, 3, 29, 23, 273, 36 Gérard, M. 3 Gerhardt, V. 63, 76,  Gobineau, A. de 263f. Goethe, J. W. von 322 Goldstein, K. 3, , 3, , 63, 76, 78, 83f., 86, 200, 208f., 226, 232, 239, 23, 28, 322, 33, 36–36, 36, 36 Grene, M. 32 Grond-Ginsbach, C. 2, 220 Große, J.  Grossman, H. 72f., 28 Grünewald, B. , 68, 7, 83f., 89, 0, 2, 29 Guenancia, P. 3 Gutmann, M. 3, 77f., 8 Gutting, G. 20 Haas, W.  Habermas, J. 2, 37 Haeckel, E. 263 Hagner, M. 7 Haller, A. von 36, 263 Hartmann, E. von 7 Hartmann, N. 30, 26 Harvey, W. 36, 89 Haucke, K. 33, 0, 3f., 62, 66, 8f., 86, 98f., 0f., , 2, 39, , 20ff., 23, 29, 263, 269f., 293, 297, 333, 382f. Hegel, G. W. F. 2, 62, 66, 0, f., 2, 28, 39, , 93, 97, 20ff., 223f., 22, 28ff.,

2 27f., 262, 26, 286, 293f., 30, 30, 32, 326, 3–3, 36, 367f., 370, 372 Heidegger, M. 2ff., 28, 30, 20, 290, 30, 362 Helmholtz, H. von 72 Helmont, J. B. van 76f. Henry, M. 2,  Hensel, P. 37 Herder, J. G. 370 Herxheimer, G. 28 Hess, V. 3, 36, 87, 202, 278, 28 Heyen, E. V. 22 Hippokrates 76 Hitler, A. 223 Hobbes, T. 93 Höffe, O. 289, 29 Honnefelder, L. 236 Honneth, A. 37 Horkheimer, M. 2 Hume, D. 93 Husserl, E. 2ff., 28, 30f., 38, 2, 7ff., f., 62, 88, 9, 7, 226f., 232, 239, 279, 282, 290, 382 Hyder, D. 9, 232, 282 Hyppolite, J. 30f., 32, 38 Ingensiep, H. W. 72f., 27 Jacobi, F. H. 6, 290 James, W. 9 Jaspers, K. 28 Kamper, D. 363 Kant, I. , 3, –7, 0, 27, 39, 8, , 62, 68, 77, 83, 93, 08f., 20, 2, 28, 8, 7f., 79, 93, 9f., 99, 2, 22, 22, 28, 22, 27ff., 280ff., 286–29, 326, 39f., 3, 36f., 370, 380–386 Kantorowicz, E. 7 Kapp, E. 7, 28 Karafyllis, N. C.  Kempf, R. 38 Khurana, T. 370f. Kimmerle, H. 363 Kleimann, B. 36f. Klossowski, P. 30 Köhler, W. ,  Köhnke, K.-C. 28 Köllner, K. 8f. König, J. 2, 38, 7, f., 9, 3, 20f., 22, 22, 369 König, R. 32

Personenregister Koffka, K.  Kojève, A. 30 Kopper, J. 2f. Koyré, A. 28, 3f., 8, 267, 36 Kozljanič, R. J.  Krannhals, P. 7, 28f. Krüger, H.-P. 2, 27, 9, 7, 60, 82ff., 86, 0, 0ff., , , 203f., 2f., 29, 22, 22, 226f., 2, 29–22, 29, 267, 270, 279, 293, 299, 33ff., 37, 333, 33, 360, 369, 37 Küppers, B.-O. f., 9 Kuśmierz, S. 7, 9 Laberthonnière, L. 72 Lacan, J. 3, 2, 26, 303, 367f. Laennec, R. 37 Laermann, K. 363 Lamarck, B. de 76, 82, 30 Lanzerath, D. 66f., 236 Latour, B. 39, 36, 37–382 Le Blanc, G. 3, 33, 38, , 8, f., 63, 66, 208, 23, 20, 302, 326, 336, 3 Lebrun, G. 8, 330 Lecourt, D. 7, 20, 26f., 8, 67, 90, 97f., 28, 30, 328, 36ff. Leibniz, J. G. W. 30 Lenk, C. 8 Lennep, D. J. van 3 Lenz-Medoc, P. 30 Lepenies, W. 28, 3 Lessing, H.-U. 72, 90, 323 Leukipp 276 Lévi-Strauss, C. 2, 223, 36 Lévy-Bruhl, L. 28, 3, 38, 3, 36 Lindemann, G. 20, 0, 76, 86, 93, 2, f., 6, 268, 279, 282, 296f., 299, 378 Link, J. 3 Linné, C. von 93, 263 Lipps, H. 22 Littré, E. 28 Locke, J. 0, 93 Lorenz, K. 99 Luhmann, N. 6 Lukrez 276 Lyotard, J.-F. , 36, 36–367 Macherey, P. 8, 3, 67, 306f., 38f., 362f. Mahnke, D. 30 Manzei, A. 3, 3, 26, 268, 363 Marcel, G. , 33, 376 Maritain, J. 33

3

Personenregister Marlet, A. 376 Marquard, O. 2 Martius, F. 0f. Marx, K. 3, 73, 86, 20, 27f., 278, 30, 307, 39, 363 Matthaei, H. 32 Mauss, M. 86 May, E.  McAllester Jones, M. 336f. McLaughlin, P. 3, 3 Mendel, G. 277f., 30, 309 Merkel, R. 9 Merleau-Ponty, M. 2–, 20, 28f., 3, 33f., 0, 9, 238, 267, 3, 36, 362 Métraux, A. 3, 68f., 3, 37 Meuter, N. 282 Meyer, A. 72 Meyer-Abich, G. 28 Meyerson, E. 26, 26, 28 Milet, J. 38 Miller, T. ,  Misch, G. 2, 38, 92, 99, 22, 22, 36 Mitscherlich, O. 2, f., 7, f., 62f., 66f., 7, 76ff., 80, 89, 9, 03, 07, f., 78, 20f., 20, 22, 20ff., 29f., 267, 269, 273, 282, 287, 289, 29, 298, 37, 328f., 39, 36, 368f. Monakow, C. von 76, 80 Morgagni, G. 36 Moscovici, S. 3f. Mounier, E. 33 Mucchielli, L. 6 Müller, J. 76 Münsterberg, H. 28 Muhle, M. 6, 23f., 3, 8f., 60f., 67f., 7f., 77, 228f., 269, 300, 302f., 33f., 30, 39f., 368 Musil, R. 379 Nauta, L. 28 Needham, A. E. 78 Newton, I. 3, 80, 27, 263, 33, 336 Nietzsche, F. 2, 30, 3, 7, , , 68, 20, 222, 22, 28, 20, 263, 272, 30–3, 326, 3ff., 37, 370, 37f., 388 Nirenberg, M. 32 Noll, M. 28 Oken, L. 263 Pascal, B. 30, , 386–388

Passeron, J.-C. 3 Péguy, C. 376, 379 Peirce, C. S. 9 Pénisson, G. , 206, 237f., 339 Perrot, M. 3 Petersen, H. 263 Pietrowicz, S. 282, 28, 289f. Pilai, P. V. 28 Platon 276, 283, 308 Policar, A. 6 Politzer, G. 9, 30 Portmann, A. 3, 29 Pos, H. 3 Prenant, A. 263 Pythagoras 276 Quetelet, A. 0 Rabinow, P. 8, 30, 63 Rádl, E. 28 Raimondi, F. 23, 7 Rajan, T. 232 Ranke, L.von 30 Rasini, V. 9, 20 Redondi, P. 28 Reininger, R. 7, 28 Renard, G. 29, 320 Reuleaux, F. 28 Rey, A. 30, 362 Rheinberger, H.-J. 2, 2, 2, 20–29, 69, 27, 229, 283, 29f., 38, 379ff. Ricœur, P. 67, 239ff., 29, 332, 376 Ricker, G. 28 Rickert, H. , 30f., 37 Ritter, H. 28 Robin, C. 28 Roco, M. C. 0ff. Roelcke, V. 36 Rolf, T. 3, 3, 6f., 23, 2 Romein, J. 3 Rothacker, E. 3, 2, 272 Rothschuh, K. E. 3 Rousseau, J.-J. 302 Roux, W. 80 Russo, M. 96f. Saage, R.  Safranski, R. 30 Saint-Hilaire, G. 82 Sarasin, P. 9, 97, 300, 38, 32, 327 Sartre, J.-P. 28, 30f., 33f., 9, 23ff., 266f., 362

 Scheler, M. 23, 27, 29f., 33ff., , 0, 3, , 7, 87, 202, 236, 20, 28f., 23, 2, 267f., 270, 272f., 29, 332, 37–3, 36f., 36, 379f., 382 Schlegel, F. 28 Schlossberger, M. 69, 0, 3, 373 Schmidgen, H. 3ff., 39, 32, 3, , 62, 6, 76, 8, 87f., 9f., 98, 200, 202, 22, 29, 229, 28f., 28, 30, 306, 3, 320, 322f., 332, 376f., 379 Schmitt, C. ff. Schmitz, H. 2,  Schneider, K. 3 Schneider, U. J. 38 Schürmann, V. 23f., 27, 38, 77, 8, 93, 9, 22, 22f., 2, 23, 272, 300, 33, 370 Schuhl, P.-M. 72 Schwartz, Y. 332 Seitter, W. 63 Séris, J.-P. 28, 28 Serres, M. 28, 377 Simmel, G. 2, 66, 22 Spemann, H. 78f. Spengler, O. 28 Spinoza, B. de 62, 3, 3, 3 Starobinski, J. 36 Strauss, E. 3 Sutton, J. 277 Sydow, B. 329 Tarot, C. 6 Teigeler, M. 207 Ternes, B. 207 Thompson, K. 9, 32f. Thompson, M. 3 Thomson, J. J. 277 Tinbergen, N. 99

Personenregister Toepfer, G.  Uexküll, J. von 99, , 60, 83, 209, 2, 238, 23, 28, 27f., 272f., 332, 33 Valéry, P. 23, 303 Vidal de la Blache, P. 336 Vogl, J. 0 Wahl, J. 68 Waldenfels, B. 9 Wallon, H. 303 Watson, J. 93, 97, 32 Weber, A. 329 Wegener, M. 37, 39, 3f. Weidel, W. 329 Weingarten, M. , 77 Weizsäcker, Viktor von 0, 2, 6–9,  Welsch, W. , 366 Wertheimer, M.  Willis, T. 88–92, 32f. Wilson, E. O. 8 Wilwert, P. 33 Windelband, W. f., 6, 37 Wittgenstein, L. 3 Wolfe, C. T. 77, 80 Wolfsberg, O. f. Worms, F. 87, 207, 23, 26f., 273, 293, 3f., 32 Wübben, Y. 89, 30, 320f., 32 Wulz, M. 32 Wundt, W. 339 Wunenburger, J.–J. 3 Wunsch, M. 282f. Žižek, S. 366f. Zschimmer, E. 28