Unreine Bilder: Zur medialen (Selbst-)Inszenierung von School Shootern [1. Aufl.] 9783839419809

Wie lässt sich das Bild eines Massakers an das befriedete Bild einer Kleinstadtschule anschließen? Jenseits soziologisch

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German Pages 438 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
I. ZWEI FÄLLE VON ÄHNLICHKEIT
II. PARADOXE FIGURATION EINES IMPORTES: AMOK UND SCHOOL SHOOTINGS
School shootings – Versuch eine Defintion
III. MEDIALE EPIDEMIEN – FORMEN DER AUSBREITUNG
IV. EIN BEGINN, ABER KEIN URSPRUNG: WHITMAN, COLUMBINE UND DIE GESCHICHTE DER SCHOOL SHOOTINGS
V. SICHTBARKEITEN – DIE HYSTERIE DES SCHOOL SHOOTERS
Beim Betreten der Bühne
VI. DAS REALE UND DAS IMAGINÄRE: FREUD, RANCIÈRE UND DIE ENTDECKUNG DES UNBEWUSSTEN
Mein Video-Ich – MY SUICIDE
VII. DIE AUFTEILUNG DES SINNLICHEN UND DAS PARADOX DER KUNST
Die mögliche Erfüllung der romantischen Poetik: der Kinematograph
Die Wahrheit der Fiktion und das Bild des Sozialen
Der Raum des Sozialen und des Medialen – Wenn Elefanten Amok laufen
Unreine Bilder: BEN X
VIII. EINE KURZE GESCHICHTE DER KORRELATION – FILMGESCHICHTE UND DIE GESCHICHTE SCHOOL SHOOTINGS
Bildökonomien
Die Ungleichzeitigkeiten des Kinos
IX. SCHULE ALS BILDRAUM
Muster des Konsens: BLACKBOARD JUNGLE und THE DELINQUENTS
Muster des Dissens – Die Teenpics seit den 1960er Jahren
X. DIE NEUKONFIGURATION DES SOZIALEN: SCHOOL SHOOTER UND DIE FUNKTION DER KUNST
XI. DER KÖRPER DES SCHOOL SHOOTERS
XII. DIE BEWEGUNG VON INSZENIERUNG UND SELBSTINSZENIERUNG
XIII. SHOOT-OUT
LITERATUR
FILME
LISTE DER BESPROCHENEN FÄLLE
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Unreine Bilder: Zur medialen (Selbst-)Inszenierung von School Shootern [1. Aufl.]
 9783839419809

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André Grzeszyk Unreine Bilder

André Grzeszyk, Film- und Medienwissenschaftler, hat an der Universität Erlangen-Nürnberg promoviert.

André Grzeszyk

Unreine Bilder Zur medialen (Selbst-)Inszenierung von School Shootern

Der ursprüngliche Titel der Dissertation lautet: If I could nuke the world I would – Zur medialen (Selbst-)Inszenierung von school shootern Diese Publikation wurde gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld, nach einer Idee und mit Materialien von André Grzeszyk Lektorat & Satz: André Grzeszyk Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1980-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Für meine Eltern – Gabriele Söllner, Karl-Heinz Grzeszyk & Horst Söllner In Erinnerung an Oliver Fleischmann

Inhalt I. Z WEI F ÄLLE

VON

Ä HNLICHKEIT | 9

II. P ARADOXE F IGURATION EINES I MPORTES : A MOK UND SCHOOL SHOOTINGS | 17 School shootings – Versuch eine Defintion | 36

III. M EDIALE E PIDEMIEN – F ORMEN

DER

A USBREITUNG | 49

IV. E IN B EGINN , ABER KEIN U RSPRUNG : W HITMAN , ௘& 2/80%,1(  81'  ',( * (6&+,&+7(  '(5 ௘ SCHOOL SHOOTINGS | 79 V. S ICHTBARKEITEN – D IE H YSTERIE SCHOOL SHOOTERS | 95

DES

Beim Betreten der Bühne | 115

VI. D AS R EALE UND DAS I MAGINÄRE : F REUD , R ANCIÈRE UND DIE E NTDECKUNG U NBEWUSSTEN | 141

DES

Mein Video-Ich – M Y S UICIDE | 162

VII. D IE A UFTEILUNG DES S INNLICHEN DAS P ARADOX DER K UNST | 177

UND

Die mögliche Erfüllung der romantischen Poetik: der Kinematograph | 198 Die Wahrheit der Fiktion und das Bild des Sozialen | 210

Der Raum des Sozialen und des Medialen – Wenn Elefanten Amok laufen | 221 Unreine Bilder: B EN X | 249

VIII. E INE KURZE G ESCHICHTE DER K ORRELATION – ௘) ,/0*(6&+,&+7(  81'  ',( * (6&+,&+7(  '(5 ௘ SCHOOL SHOOTINGS | 261 Bildökonomien | 261 Die Ungleichzeitigkeiten des Kinos | 286

IX. S CHULE

ALS

B ILDRAUM | 305

Muster des Konsens: B LACKBOARD J UNGLE und T HE D ELINQUENTS | 318 Muster des Dissens – Die Teenpics seit den 1960er Jahren | 324

X. D IE N EUKONFIGURATION DES S OZIALEN : ࣠ 6&+22/  6+227(5 UND DIE F UNKTION DER K UNST | 359 XI. D ER K ÖRPER

DES SCHOOL SHOOTERS

XII. D IE B EWEGUNG VON I NSZENIERUNG S ELBSTINSZENIERUNG | 391

| 373 UND

XIII. S HOOT -O UT | 403 L ITERATUR | 407 F ILME | 423 L ISTE

DER BESPROCHENEN

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I. Zwei Fälle von Ähnlichkeit

Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings soviel wie möglich in die Menge zu schießen.1 Er ist intelligent genug, um jeden Traum Realität werden zu lassen.2

Jokela – Finnland – 7. November 2007 – Langsam setzt der Song ein: Stray Bullet von KMFDM. Noch ist kein Bild zu sehen, der Bildschirm bleibt schwarz, nur die Lyrics sind zu hören: „I’m your nightmare coming true.“ Dann wird das Bild eines Gebäudes sichtbar, idyllisch gelegen hinter einem See, inmitten eines Waldes. Ein Videoeffekt lässt das Bild aufsplittern, als würde es explodieren und zum Vorschein kommt ein ganz anderes Bild: das monochrom-rot eingefärbte Bild eines jungen Mannes, der eine Pistole im Anschlag hält. Er Sturmgeist89 zielt unmittelbar auf den Betrachter. Die Musik läuft einfach weiter: „I am your apocalypse.“ Es wird auf einen weiteren Still geblendet, wieder der junge Mann, erneut die Waffe, nur dass er diesmal frontaler zur Kamera steht. Die Pistole verdeckt sein Gesicht in der Aufnahme aus einer Untersicht, er blickt seinen Zuschauer direkt an. Dann wird abgeblendet. „Stray bullet. Ready or not.“ Im ,QWHUQHW¿QGHQVLFKDP1RYHPEHUXQWHUGHP6XFKEHJULIIÃSturmgeist89‘, wie 1 | Breton (1995), S. 392 2 | Schlussreport des Erziehungsprogramms über den school shooter Dylan Klebold. Zitiert nach Gaertner (2009), S. 121

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das Pseudonym des jungen Mannes lautet, weitere Videos. Zum Beispiel die Nahaufnahme einer Waffe, die geladen wird. Eine starre, dekadrierte Einstellung. Dann ein Point of View, wie die Pistole abgefeuert wird. Das Ziel ist ein Apfel, der gelb glänzt im Weiß des Schnees. Die Kugeln spalten den Apfel in mehrere Fragmente, das Hallen des Schusses im Wald ist zu hören. Das Bild wird wiederholt, in Slow-Motion, so dass der Betrachter leicht das Mündungsfeuer erkennen kann. Stolz wird der zerschossene Apfel mit wackeliger Handkamera in Großaufnahme präsentiert. Dann eine Totale, erneut ist jener junge Mann zu sehen, in einer schwarzen Lederjacke. Mehrmals feuert er auf ein Ziel, das außerhalb des Bildraums liegt. Er läuft auf die Kamera zu und winkt lächelnd. Dann ist er verschwunden. Exit Sturmgeist89. Kauhajoki – Finnland – 23. September 2008 – Ein junger Mann vor einem leuchtend blauen Himmel. Er ist in einer Untersicht zu VHKHQ KHEW GHQ =HLJH¿QJHU XQG VSULFKW VHLQHQ Zuschauer direkt an: „You will die next.“ Die Einstellung und die Pose, die unmittelbare Adressierung des Betrachterblicks – die Strategien der Inszenierung erinnern an ein Rap-Video. Der junge Mann hebt seine Pistole und schießt in den Boden knapp unterhalb des KameraobjekWumpscut86 WLYV'HU.DGHUUXFNHOW(UGHÀLHJWGXUFKV%LOG Unter dem Suchbegriff „Wumpscut 86³ ¿QGHQ VLFK DP  6HSWHPEHU  ZHLWHUH Videos, ehe sie von der Internetplattform YouTube.com gelöscht werden. Eines von ihnen ist ME AND MY WALTHER P22 betitelt und zeigt den jungen Mann an einem alten Schießstand in einer kargen Landschaft. Zunächst wähnt sich der Betrachter in einem Remake des Sturmgeist89-Videos. Zu sehen gibt es einige Schüsse auf ein Ziel, das verborgen im hors-champs liegt. Der Schütze ist in eine schwarze Lederjacke gekleidet, sein Atem kondensiert, es muss kalt sein. Ein weiteres Video und wieder eine Totale des schießenden jungen Mannes, beliebig, haltlos. Am Ende seine letzten Worte: „Good-Bye.“ Dazu winkt er in die Kamera. Exit Wumpscut86. Soweit die Bilder, die Geschichten müssen die Worte liefern. Hinter dem Pseudonym Sturmgeist89YHUELUJWVLFKGHUMlKULJH)LQQH3HNND(ULF$XYLQHQGHUDP 1RYHPEHUDQVHLQHU6FKXOHGHU-RNHOD+LJKVFKRROLQ)LQQODQGDFKW0HQVFKHQ tötet. Wumpscut86 ist das Pseudonym des 22-jährigen Matti Juhani Saari – ebenfalls ein Finne –, der am 23. September 2008 an der Seinäjoki University of Applied ScienFHVZRHUÃCulinary Arts‘ studiert, zehn Menschen mit seiner Walter P22 verletzt und sich anschließend in den Kopf schießt. Zwei Verbrechen, die sich auf irritierende Weise ähnlich sind. In der massiven medialen Berichterstattung, die beiden Ereignissen folgt, gibt es die gleichen Bilder eines entfesselten Krieges in einer als befriedet empfundenen Gegend zu sehen. Jokela und Kauhajoki sind Kleinstädte, ländlich gelegen, die Waffen, die Toten und der Hass der Schützen bleiben dem Milieu fremd. Und dennoch ist dieser an sich abstruse Zusammenhang leicht wiederzuerkennen, schließen die Vorfälle in Jokela und Kauhajoki doch nahtlos an eine Serie ähnlicher

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Ereignisse an, die spätestens seit den 1990er Jahren mit konstanter Regelmäßigkeit den sozialen Korpus attackieren. Sie werden Amoklauf oder school shooting genannt und brechen mit voller Wucht unvermittelt in die Aufmerksamkeitsökonomie der globalen Mediengesellschaft ein, wo sie nach nur wenigen Tagen wieder verschwinden und nichts als Ratlosigkeit und ein verzweifeltes Unwissen hinterlassen. Am Ende steht ein XPVDQGHUH0DOGLHQLFKW]XEHDQWZRUWHQGH)UDJHQDFKGHPÃ:DUXP"µ'LHVHUEOLQGH Fleck setzt eine Diskursivierung in Gang, die in endlosen Iterationen um die Benennung eines innerhalb sozial konventionalisierter Muster der Erklärung zu verstehendes Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung kreist. Ohne Erfolg. Was bringt einen ElfMlKULJHQGD]XPLWHLQHUKDOEDXWRPDWLVFKHQ:DIIHDXIVHLQH0LWVFKOHU]XVFKLH‰HQ" Die Täter zieren die Titelseiten der Tagespresse, Kindsgesichter, pubertierende Gesichter, Studentengesichter, die in ihrer Unscheinbarkeit und Normalität nichts erzählen von den Toten, dem Blut, den Traumata der Zeugen und überlebenden Opfer. Ohne HLQH$QWZRUWDXIGLH)UDJHQ]X¿QGHQGLHVLFKPLWschool shootings stellen, werden die Täter nach jedem neuen Fall in Ahnengalerien aufgereiht, in wuchernden Sequenzen, die sich allein konstatieren lassen. Jenseits der Sprache bleibt nur das Zeigen. School shootings sind Ereignisse der absoluten Sichtbarkeit, die dennoch nichts erkennen lassen außer die immer gleichen Posen, Bilder und Worte. Die Videos von Pekka-Eric Auvinen und Matti Juhani Saari gehören längst zum stehenden Topos der Selbstinszenierungsstrategien der school shooter von Columbine bis Emsdetten. In den Selbstinszenierungsvideos zeigt sich – immer verschieden aber doch auch immer gleich – die Transformation eines Schüler- bzw. Studentenkörpers in einen gestischen Körper, der sein Bild entlang medialer Vorbilder modelliert und sich mit der Tat in einen mordenden Amokkörper verkehrt. Gepostet werden die audiovisuellen Bekenntnisse jeweils kurz vor der Tat, sie sind ein kruder Mix aus PR-Strategie, Bekenntnis, Warnung und einem Vermächtnis, das die Klischeevorstellungen einer utopischen Revolution der Ausgestoßenen realisiert sehen will. Keine Abseitigkeit scheint weit genug entfernt vom friedlichen Idyll der Kleinstadt, um nicht in den provozierenden Diskurs GHU7lWHUHLQ]XÀLH‰HQ$GROI+LWOHU-RVHI6WDOLQ&KDUOHV0DQVRQ±GLH)OXFKWOLQLHQ menschlicher Vorstellungskraft und destruktiver Potentiale werden zu einer losen Rede zusammengezogen und mithilfe einer eigenen Logik verknüpft. School shooter erklären der Menschheit den Krieg, beschwören Assoziationen der Apokalypse und gehen JDQ]LQLKUHP¿QDOHQ6FKODJJHJHQHLQHVR]LDOH8PZHOWDXIGLHVLHKDVVHQ$P(QGH töten sie sich zumeist selbst, tauschen ihre individuelle Existenz gegen die Unsterblichkeit ihres Bildes, das über die medialen Kanäle Jahr für Jahr tradiert wird. Am school shooter wird eine Verdichtung von diskursiven Partikeln augenscheinlich, die die neuesten Produktionen aus Hollywood ebenso aufruft wie die Frühgeschichte des eigentümlichen Phänomens, das das abendländische Wissen unter dem 6FKODJZRUWÃ$PRNµ]XVDPPHQIDVVW'HUP|UGHULVFKH±YRQDX‰HQEHWUDFKWHWUDSWXVDUtig beginnende – Lauf durch die Dörfer Südostasiens taucht seit dem 15. Jahrhundert in den Reiseberichten portugiesischer, holländischer und englischer Seefahrer als katastrophale soziale Ereignishaftigkeit auf.

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Im Gegensatz zum Amok sind school shootings ein relativ junges Phänomen. Ihr erster prägnanter Ausdruck erscheint im Bild Charles Whitmans, der am 1. August 1966 den Turm der University of Texas im amerikanischen Austin besteigt, um wahllos auf Passanten zu schießen. Seitdem wandert das Phänomen durch die Jahrzehnte, um in den 1990er Jahren zu einer sozialen Epidemie zu werden. Trotz der Regelmäßigkeit passieren school shootings selten und stehen angesichts der geringen Opferzahlen in keinerlei Verhältnis zur massiven medialen Aufmerksamkeit, die sie erzeugen. Die immense Diskursivierung ist ein erster Hinweis darauf, dass sich bestehende Gesellschaftsformationen anhand von Katastrophenszenarien wie den school shootings selbst erzählen, ein Bild ihrer selbst herstellen. Damit verbinden sich die Frühformen des Amoks mit seiner heutigen diskursiven Verhandlung: Amok bedeutet ein soziales Außen, das die kulturellen Grenzen temporär außer Kraft setzt, um zum paradigmatischen Muster der Artikulation und Stabilisation dieser Grenzen zu werden.

Mediale Inf izier ung In der Folgezeit Whitmans gruppiert sich der school shooting-Diskurs immer stärker XPHLQH)LJXUGHU0HGLHQZLUNXQJELVGHU(LQÀXVVPHGLDOHU,QKDOWHDXIGLH7DWHQGHU school shooter mit den 1990er Jahren Stück für Stück zu einem gesicherten Wissen wird. So stehen heute Bilder aus anderen Kontexten – etwa aus Filmen oder Videospielen – aufgrund ihrer Nähe zu den Bildern und den Botschaften, die durch school shootings und school shooter erzeugt werden, zunehmend unter Verdacht. Mediale Inhalte werden im Hinblick auf die Verbreitung des Amoks mehr und mehr als ein Virus betrachtet, der die basale Ursache von school shootings bildet. Dieser Zusammenhang zwischen medialem Erleben und school shooting wird allerdings – abseits der stumpfen Wiederholungen kulturpessimistischer Postulate – fast ausschließlich in Formeln des Verdachts und der Spekulation expliziert, weil sich kein DGlTXDWHV 0RGHOO GHU hEHUWUDJXQJ ¿NWLRQDOPHGLDOHU ,QKDOWH LQ GHQ VR]LDOHQ +DQGOXQJVUDXP¿QGHQOlVVW,P+LQEOLFNDXIGHQ)LOPEHLVSLHOVZHLVHLVWGLH*UHQ]H]ZLschen Kunstautonomie und sozialer Wirksamkeit Gegenstand beständiger diskursiver Verhandlungen, in denen die immer gleichen Argumente und Gegenargumente reproduziert werden. Die Beziehungen zwischen Bildraum und sozialem Handlungsraum in einem monokausalen Bedingungsverhältnis zu denken erscheint naiv, gleichzeitig sind die Zonen des beständigen Ineinander-Wirkens offensichtlich. Mediales und So]LDOHVNRPPXQL]LHUHQLQVSH]L¿VFKHQ)RUPHQYRQhEHUEOHQGXQJHQGDGXUFKHQWVWHKW das Bedrohungspotential zuallererst. Pekka-Eric Auvinens Aufnahmen sind an sich nicht Furcht erregend, im Gegenteil. Wer hat Angst vor einem jungen Mann, der in der (LQVDPNHLWGHU:lOGHUDXIbSIHOVFKLH‰W"(UVWGDV$XIWDXFKHQGHU%LOGHULKUH(QWkopplung aus dem begrenzten Bildraum der Selbstinszenierung in den sozialen Handlungsraum ist fatal. Der Moment, in dem der school shooter die Grenzen zwischen vermeintlich spielerischer Fiktion und vermeintlich tatsächlicher Realität überschreitet. Es gibt unzählige Beispiele für diese Praxis. Die Columbine-Attentäter Eric Harris und Dylan Klebold haben, ehe sie Ernst machten, ihren Amoklauf bereits als Film vorinszeniert – HITMEN FÜR HIRE heißt das Werk. Der Amokläufer von Emsdetten Bastian

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Bosse holte im Wohnzimmer seiner Eltern Brad Pitts Performance als Tyler Turden in FIGHT CLUB (USA 1999) spielerisch ein, ehe er in die Geschwister-Scholl-Schule fuhr, um seinen Worten Taten folgen zu lassen. Dabei weisen diese Selbstinszenierungen und Techniken der Modellierung des Selbstbildes alle auf die gleiche Tatsache hin: Mediale Bilder stehen ohne Zweifel in einem Zusammenhang mit school shootings. Doch wenig ist bekannt über die konkreten Mechanismen, in denen sich diese Ausbreitung eines Phänomens im Rückgriff auf mediale Inhalte vollzieht. Über die Techniken, die einen Jugendlichen in einen school shooter verwandeln, bzw. über die Strategien performativer Wiederholung vorgängiger Bilder, mit denen sich die Täter selbst konditionieren bis sie in ihren Rollen so weit aufgehen, dass sie den eigenen Tod in ihren Plänen bewusst mit einkalkulieren. Diese Arbeit stellt sich der Aufgabe, diese Lücke zu füllen, ohne nach monokausalen Ursachen zu forschen. Stattdessen wird sich in einem Vergleich der Ebenen von Inszenierung und Selbstinszenierung zeigen, dass sich die Rede der school shooter als medial durchwirkte Rede herstellt und tatsächlich anhand von medialen Vor-Bildern entwickelt wird. Seien es nun Bilder, Szenen und Charaktere aus Filmen und Romanen, Computerspielen wie dem Ego-Shooter Doom oder die Bilder, die man ganz unschuldig auf den Webseiten der großen und kleinen Tageszeitungen betrachten kann. Das Repertoire an Images und Narrativen, die als Vorbild herangezogen werden, ist dabei begrenzt. School shooter entwickeln nicht in einer genialischen Geste ihr ureigenstes Selbstbild, ihr Denken und Verhalten orientiert sich stark an der verfügbaren Bildökonomie ihrer Zeit und den Gewalt- und Amokbildern, die sie im zeitgenössischen meGLDOHQ+DXVKDOWYRU¿QGHQ'HU(LJHQDXVGUXFNLVWQLFKWEHOLHELJGHQQLQQHUKDOEVHLQHU Selbstinszenierungen muss der school shooter HLQH 6SUDFKH ¿QGHQ GLH ± ]XPLQGHVW von jenen, die zuhören wollen – verstanden werden kann. So stellen sich Amok und school shootings als Phänomen erst in Berichten, Erzählungen und vor allem als Bild her. Die mediale Verbreitung des Handlungsmusters wird zur grundlegenden Voraussetzung für dessen Erscheinen. Als Basis decken die Massenmedien sowohl die technische als auch die inhaltliche und formale Ebene ab. Die Figur des school shooters gerinnt in dieser Perspektive zu einer paradigmatischen Figur des medialen Erzählens und der Aneignung von medialen Inhalten im Hinblick auf eine individuelle Lebenspraxis. Anhand der verfügbaren diskursiven Äußerungen lässt sich die Geschichte der school shootings als Geschichte einer Zirkulation von Bildern und Erzählungen, als Geschichte von Inszenierung, Selbstinszenierung und Reinszenierung modellieren. Jeder neue Fall zitiert die vorangegangenen, sowohl auf der Ebene kultureller Verarbeitung und Vermittlung, als auch im konkreten Handeln, Denken und Fühlen der Täter. Über die diskursiven Darstellungen und Selbstdarstellungen der school shooter lässt sich ein einsetzender Prozess der Ausdifferenzierung analytisch greifen. Die diskursive Ordnung zeigt, wie sich das Phänomen seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts etabliert und transformiert und welche Parameter dabei eine Rolle spielen. Abläufe werden festgeschrieben, die sich bis hinein in Fragen der Kleidung beschreiben lassen.

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Die Psychologie und das Bild Eine Hoffnung, die sich mit jeder theoretischen Thematisierung von school shootings unweigerlich ergibt, muss sofort enttäuscht werden: Diese Arbeit wird keinerlei Aufschlüsse über die existentiell-psychologischen Tatsächlichkeiten der Täter geben, weil sie einer dezidiert medienwissenschaftlichen Perspektive folgt. Amok wird als Phänomen des Ausdrucks nicht der Ursache im Sinne einer psychopathologischen ZuVFKUHLEXQJEHKDQGHOW'LHÃ6\PSWRPHµZHUGHQDOV6WUDWHJLHQGHU6HOEVWLQV]HQLHUXQJ beschrieben, ohne über persönliche Motivationen zu spekulieren. Das zu entwerfende 0RGHOO EOHLEW NRQWLQJHQW HV VWHOOW QLFKW GLH )UDJH QDFK GHP ÃWarum?‘, sondern die )UDJHQDFKGHPÃWie?µ'DEHLZLUGNHLQ$QVSUXFKDXILUJHQGHLQH)RUPGHUÃSV\FKRORgischen Wahrheit‘ erhoben. Der Amokläufer wird nicht innerhalb seines individuellen VR]LDOHQ0LOLHXV±IDPLOLlUH.RQÀLNWHSV\FKLVFKH(UNUDQNXQJHQHWF±VRQGHUQSULmär innerhalb seines und aus seinem medialen Milieu präpariert. Ob sich Amokläufer quantitativ erfassen lassen – wie es in den psychiatrischen, kriminalistischen und sozialwissenschaftlichen Untersuchungen dominant versucht wird –, muss bezweifelt werden. Aufgrund der Angewiesenheit der Forschung auf Pressetexte manifestieren Durchschnittswerte notwendigerweise weniger die Lebenswirklichkeit der Täter als die konventionellen Muster der medialen Verhandlung und Berichterstattung, die sich auf diachroner Ebene mehr und mehr angleichen. Die Frage QDFKGHP(LQÀXVVPHGLDOHU3Ul¿JXUDWLRQHQYRQ:HOWEOHLEWGHVKDOELQQHUKDOEGLHVHU Arbeit die Frage nach dem individuellen, singulären Rezeptionsprozess, anhand dem sich Ähnlichkeiten zu anderen Fällen beschreiben lassen. Als solcher ist der SCHOOL SHOOTER nicht zu erfassen, weil die individuelle und individuierte Rezipientenpsyche die Black Box jeglicher statistischen Erhebung markiert. Deshalb wird das in dieser Arbeit zu entwerfende Modell kasuistisch bleiben. :DVVLFKDXIGHVNULSWLYDQDO\WLVFKHU(EHQHJUHLIHQOlVVWLVWHLQJDQ]VSH]L¿VFKHU Ablaufplan, der sich bei vielen Fällen mit präziser Gleichmäßigkeit wiederholt. Entgegen den ursprünglichen Annahmen über den frühen Amok ist der mörderische Lauf auch in seiner modernen Variante keinesfalls ein spontan-impulsives Ereignis, sondern der letzte Schritt auf einem Weg, der Monate oder Jahre dauern kann. Ein Schülerkörper muss zunächst in den Körper eines school shooters umgebaut werden, die Möglichkeit, mit einer Waffe auf seine Mitschüler zu schießen gehört nicht zur anthropologischen Grundausstattung des Menschen. Im Gegenteil: Tötungshemmungen müssen herabgesetzt werden und der schulische Raum muss als Tatort im Möglichkeitshorizont des jeweiligen Individuums liegen. Anhand der Selbstzeugnisse der Täter lässt sich die progressive Subjektivierung des Schülers in einen school shooter und die Stück um Stück erweiterte Handlungsfähigkeit im sozialen Raum präparieren. Im Vergleich der individuellen school shootingsNULVWDOOLVLHUHQVLFKGDEHLVSH]L¿VFKH0XVWHUGHU7UDQVformationstechniken heraus. Der Fokus der Arbeit liegt so auf dem Hineinleben in bestimmte Images, das Werden des school shooters'DVEHGHXWHWDXFKGLHRIWPDOVDOVÃYHUUFNWµPDUNLHUWHXQG unterdrückte Rede der school shooter ernst zu nehmen, sie als Sprache zu begreifen und sie nach ihrer Herkunft zu befragen. Im Sinne von Inszenierung und Selbstinsze-

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QLHUXQJJHKWHVXP)RUPHQGHU$QHLJQXQJYRQ¿NWLRQDOHQPHGLDOHQ1DUUDWLYHQXQG Bildern, wie sie in der Rede der Täter erscheint. Nicht um eine einseitige DeterminatiRQGHV6XEMHNWHVGXUFKÃGLH0HGLHQµLP6LQQHHLQHUhEHUZlOWLJXQJGXUFKH[]HVVLYHQ Konsum, sondern um die produktive und individuelle Praxis der semantischen Bestimmung von Sozialität, die Strategien des Gebrauchs präexistenter medialer Inhalte. Das amoklaufende Subjekt wird nicht als psychosoziale Prozesshaftigkeit gedacht, VRQGHUQLQGHQ%HJULIÀLFKNHLWHQGLHGLH%LOGHUXQG7H[WHDQKDQGGHUHUVLFKGLHschool shooter modellieren, hervorbringen. Die Psyche der Täter ist die Leerstelle dieser Beschreibungsmodi und bleibt genuiner Gegenstand der Kriminologie und Psychiatrie. Ziel dieser Arbeit ist es, ein Modell zu entwickeln, das den komplexen Semiose- und Relationsprozessen audiovisueller Bilder, die ihre Fortsetzung im sozialen HandlungsUDXP¿QGHQJHUHFKWZLUG'LHVEHGHXWHWGDVVGHUschool shooterDOVHLQHVSH]L¿VFKH Bildformation behandelt wird, die sich in Abgrenzung und in der Relation mit anderen Bildern kristallisiert. Dabei wird sich auf diachroner Achse zeigen, wie das Verhalten des school shooters zuerst möglich und später in bestimmten Konstellationen von Bildern wahrscheinlich wird. Dazu müssen die verschiedenen Analysen zeigen, welche Verknüpfungen zwischen den divergierenden Ordnungen – des Sicht- und des Sagbaren, des Möglichen und des Unmöglichen, des Realen und des Fiktionalen – von den jeweiligen school shootern arUDQJLHUWXQGNRQ¿JXULHUWZHUGHQ(VZLUGGHXWOLFKZHUGHQGDVVGLH2SHUDWLRQHQLQGHQ Selbstbeschreibungen der Amokläufer mit genuin visuell-narrativen Verfahrensweisen Hand in Hand gehen. Die Arbeit thematisiert explizit nicht die Darstellung von school shootern in den Medien, sondern will auf die unterschiedlichen Modi der Überblendungen und Verknüpfungen zwischen medialem und sozialem Raum hinaus. PekkaEric Auvinens letztes Video ist ein erstes Beispiel für diese Techniken. Die Musik, die Lyrics, das Aufsplittern des Establishing Shots der Schule und die Ikonographie des Selbst, die in der Montage zum Ausdruck kommt, reglementieren bestimmte Beziehungen zwischen dem Bildraum des Videos und dem Alltagsraum Schule, zwischen der visuell realisierten Imagination und dem (noch nicht) realisierten Handeln.

Genealogien Neben der Verbindung zur Frühform des Amoks haben school shootings zwei weitere historische Dimensionen. Zum einen lassen sie sich mit anderen als pathologisch deklarierten sozialen Erscheinungen vergleichen. Dies geschieht innerhalb der Arbeit primär an den Beispielen der mittelalterlichen Tanzwut und der visuellen und narrativen Vermessung der Hysterie am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zum anderen sind school shootings in ihrer Ausgestaltung aufgrund ihrer medialen Bedingtheit unmittelbar abhängig von den diachronen Entwicklungen der Bildökonomie jener Gesellschaftsformationen, in denen sie auftreten. Die Relationen zwischen medialem und Selbstbild gehorchen bestimmten Regeln der Verknüpfung, die kulturell und historisch bedingt sind und erst ab einem bestimmten historischen Datum verfügEDUZHUGHQ6SH]L¿VFKH$QVFKOVVHVLQGHUVWDEGLHVHP=HLWSXQNWGHQNE]ZPDFKEDU andere werden ausgeschlossen. Die Frage nach dem school shooter ist nicht zuletzt

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GLH )UDJH QDFK GHQ VSH]L¿VFKHQ KLVWRULVFKHQ 0XVWHUQ GHU 0RQWDJH 'HU$QVFKOXVV der den school shooterYRP%LOGGHUEHIULHGHWHQÃ1RUPDOLWlWµVHLQHV6FKXODOOWDJV]X Bildern des Krieges führt, ist nicht immer und a priori gegeben, sondern ist die Folge bestimmter Verschiebungen und Öffnungen der westlichen Bildökonomie seit den 1960er Jahren. Im Vergleich zwischen den Ebenen von Inszenierung und Selbstinszenierung lässt sich zeigen, dass und inwieweit Kinobewusstsein und Amokbewusstsein innerhalb ihrer gemeinsamen historischen Entfaltung korrelieren. Desweiteren ist der für den school shooter besonders bedeutsame Bildraum Schule – wie er vor allem EHUVHLQH¿OPLVFKH,QV]HQLHUXQJKHUJHVWHOOWZLUG±HLQHVHKUMXQJH(QWZLFNOXQJ'HU Teenager als eigenständiger demographischer Faktor im Aufbau der Gesellschaft wird massenmedial erst nach dem Zweiten Weltkrieg als Gegenstand des populären Kinos à la Hollywood entdeckt. Die Auswahl der Filme erfolgt entlang der Spuren, die die school shooter in ihren Selbstzeugnissen hinterlassen haben. Analysiert werden diejenigen Werke, die eine virulente Rolle in ihren Imaginationen spielen, auch wenn sie – wie etwa NATURAL BORN KILLERS (USA 1994) von Oliver Stone – nicht unmittelbar einen Amoklauf inszenieUHQ2GHU:HUNHGLH6WUDWHJLHQGHU6HOEVWZHUGXQJDQKDQGPHGLDOHU,QKDOWHUHÀHNWLHren und inszenieren. Aufgrund des Fokus der Arbeit fallen zu erwartende Werke – d.h. klassische Filme über Amok – wie Rainer Werner Fassbinders WARUM LÄUFT HERR R. AMOK? %5'  RGHU 0LFKDHO +DQHNHV 71 FRAGMENTE EINER CHRONOLOGIE DES ZUFALLS (A 1994) heraus, weil sie zum einen in ihrer Thematisierung von Amokläufen stark dem sozialen Milieu und der individuellen Täterpsyche verhaften bleiben und ]XPDQGHUHQNHLQHQ(LQÀXVVDXIGLH6HOEVWEHVFKUHLEXQJHQGHUschool shooter haben.

II. Paradoxe Figuration eines Importes – Amok und school shootings

Eine Nosologie des Unbestimmten Betrachtet man den Forschungsstand zu den Phänomenen Amok und school shooting, so sticht ein Problem sofort ins Auge: die mangelhafte Qualität jeglichen Versuchs HLQHUH[DNWHQ'H¿QLWLRQXQG$EJUHQ]XQJGHV%HJULIIV]XDQGHUHQ)RUPHQVR]LDOHU(Ueignishaftigkeit. Herbert Scheithauer und Rebecca Bondü plädieren deshalb dafür, im Hinblick auf school shootings nicht von Amokläufen zu sprechen: „Die Bezeichnung von School Shootings als Amoklauf bzw. Amoklauf an Schulen ist irreführend und VROOWHGDKHUYHUPLHGHQZHUGHQZHLOGHU$PRNODXILP$OOWDJKlX¿JDOVVSRQWDQHXQG ungeplante Verhaltensweise verstanden wird.“1 Im Sinne psychiatrisch-kriminologiVFKHU .ODVVL¿NDWLRQ YHUVXFKHQ GLH$XWRUHQ GLH NRQQRWDWLYH (EHQH GHV %HJULIIHV ]X PLQLPLHUHQXPVR]XHLQHUHLQGHXWLJHQ'H¿QLWLRQ]XJHODQJHQGLHGLH3UlPLVVHHLQHU fest umrissenen Nosologie bildet. Jedoch sind school shootings – so meine These – wesentlich an die diachrone Begriffsgeschichte des Phänomens Amok gebunden. Diese Verknüpfung ergibt sich aus der Perspektive dieser Arbeit auf seinen Gegenstand: Im Sinne eines Vergleichs von Inszenierung und Selbstinszenierung kristallisiert sich der Begriff und das Phänomen Amok erst in der Kommunikation von Tätern, Experten und Zeugen und so ist die Bandbreite dessen, was als school shooting bezeichnet werden kann, als Feld der beständigen Aushandlung – zwischen den Tätern und deren Beobachtern – zu modellieren. Die Deutungshoheit unterliegt nicht einseitig dem normativen Expertenwissen, das nur einen Teilaspekt der Begriffsarbeit bildet. Gerade in der Rede der Täter garantiert die Unbestimmtheit zwischen dem Sicht- und dem Sagbaren, dem Begriff und dem Phänomen school shooting die Anschlussfähigkeit des eigenen Handelns an andere )RUPHQGHV9HUKDOWHQVGLHXQWHUGHP6FKODJZRUWÃ$PRNµVXEVXPPLHUWZHUGHQ'DV im Nachhinein aus der Betrachterperspektive als school shootingNODVVL¿]LHUWH(UHLJQLV

1 | Scheithauer/Bondü (2008), S. 22

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wird von den Tätern nicht zuletzt anhand der heterogenen diskursiven Formationen, in deren Zentrum der Begriff und das Phänomen Amok steht, ausgestaltet.2 Im Gegensatz zu dem neueren Ereignis school shooting hat Amok eine lange Geschichte und als Begriff und als Phänomen von Beginn an verschiedene Formen und 0XWDWLRQHQDXVJHELOGHW'LHVH]HUIDOOHQZHUGHQQHXDXIJHJULIIHQPRGL¿]LHUWXQGUHmodelliert. Verfolgt man diese historische Genese, so wird deutlich, dass Begriff und Ereignis keine normativ zu schließenden Figuren sind, sondern dynamische Variablen – offen und anschlussfähig für verschiedenste Bilder und Diskurse. In synchroner wie diachroner Perspektive wird kaum eine Möglichkeit der Sinnzuweisung letztgültig ausgeschlossen. School shooter rekurrieren in ihren Selbstinszenierungen auf Elemente, die wie ein spätes Echo der kriegerischen Strategien in der Frühphase des Amoks wirken. Deshalb folgt zunächst die Beschreibung der Evolution des Begriffs Amok in seiner komplexen Verbindung zu verschiedenen Ereignissen und diskursiven Politiken. Dabei LVWGHUNODVVL¿NDWRULVFKH+RKOUDXPIUGHQGHU%HJULII$PRNVWHKW]XNRQWXULHUHQ(V ZLUGVLFK]HLJHQGDVVGLH8QIlKLJNHLW]XHLQHUNODUHQ'H¿QLWLRQ]XJHODQJHQ±E]Z die zusammenfassende Reihung widersprüchlicher Interpretationen – selbst das WisVHQLVWGDVGLH)XQNWLRQXQG9HUZHQGXQJGHV%HJULIIHVÃ$PRNµDXVPDFKW(VJLOWHLQH Perspektive der Unschärfe aus der Begriffs- und Phänomengeschichte zu kondensieren, weil gerade diese Unbestimmtheit klarer Grenzen das Ereignis Amok anschlussfähig und virulent macht – sowohl für die Strategien und Selbstverhandlungen der Täter DOVDXFKIUGDVNODVVL¿NDWRULVFKH 1LFKW :LVVHQGHU([SHUWHQ:LH+HLNR&KULVWLDQV über die Popularisierung des Amok-Begriffs in Stefan Zweigs Novelle Der Amokläufer ±HLQHUGHUHUVWHQ¿NWLRQDOHQ%HDUEHLWXQJHQGHV7KHPDV±YRQVFKUHLEWÄ(VJHKW >«@XPGLH%HUHLWVWHOOXQJYRQ$PRNDOVHLQHUXQVSH]L¿VFKHQ6HPDQWLNIUHLQGUDmatisches Wechselspiel zwischen Gesellschaftlichem und Individuellem, die bis heute aufgegriffen und ausgebaut wird.“3 Bedeutsam sind die Unreinheiten und Unsauberkeiten, die verschiedenen Konnotationen des Begriffs und der Erscheinungen, die mit ihm verknüpft werden. Deshalb ist ein Blick auf die Frühgeschichte des Phänomens unverzichtbar. Allerdings erfolgt dieser Blick zurück nicht in aller Ausführlichkeit, sondern fokussiert die Frühgeschichte des Amoks unter dem Aspekt der Relevanz für heutige amokähnliche Phänomene.4 2 | Um nur ein Beispiel zu nennen: Bestimmend für den frühen Amokläufer sei es gewesen, dass er „mit dem Leben abgeschlossen hatte und sich mit kahlgeschorenem Kopf für seine letzte Schlacht wappnete.“ Knecht (1999), S. 144. Die beiden school shooter Seung +XL&KR XQG %DVWLDQ %RVVH UDVLHUWHQ VLFK GLH .|SIH HKH VLH  E]Z  $PRN liefen. Desweiteren nehmen school shooter ihren Tod bewusst in Kauf, der Selbstmord oder der suicide-by-cop sind oftmals Teil ihres Plans. Wie die Krieger in der Frühform des Amoks verstehen sie sich als lebende Tote. Vgl. Hillbrand (2006), S. 12 3 | Christians (2008), S. 208 4 | Für ausführliche Darstellungen der Frühgeschichte des Amoks siehe Spores (1988) und Christians (2008)

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Die Fr ühgeschichte des Amoks Der Ursprung des Phänomens Amok ist nicht exakt zu ermitteln. Die ersten Erwähnungen des Wortes gehen auf das 14. bzw. 15. Jahrhundert zurück.5 Sie stammen aus einer Welt, die dem westlichen Blick bis zu diesem Datum verborgen war. In den Reisebeschreibungen portugiesischer und niederländischer Seefahrer und Entdecker bezeichnet Amok eine kriegerische Geschichte aus der neuen Welt. Der Ursprung des Phänomens ist im südostasiatischen Raum zu suchen, auf Java, in Malaysia, Indonesien, Singapur, Brunei, Teilen von Thailand, den Philippinen und auch im südlichen Indien.6 Nach den ersten Erwähnungen des Phänomens taucht Amok unter verschiedenen Namen und divergenten Beschreibungen durch die Jahrhunderte immer wieder auf und es EOHLEWELVKHXWHGHU±WHLOZHLVHEHOLHELJHQ±'H¿QLWLRQVPDFKWGHV%HWUDFKWHUVEHUODVsen, welche Phänomenarten mit dem Begriff belegt werden. Damit ergibt sich eines der ersten und wesentlichen Probleme der Amokforschung: die unsichere Quellenlage. 'KGDVVGLHHUZlKQWHQ'DWHQXQGÃ)DNWHQµGLHDQGLHVHU6WHOOH]XHLQHP%LOGGHU IUKHQ*HVFKLFKWHGHV$PRNV]XVDPPHQJHIJWZHUGHQYHUVFKLHGHQHQ0RGL¿NDWLRnen unterliegen. So können die Zeiträume – je nach den verwendeten Quellen – um einige Jahre variieren. In seiner frühesten Geschichte ist Amok klar einem bestimmten Verhalten zugeordnet. Es lassen sich drei Hauptformen der Kategorisierung erkennen, die, je nach Autor, zeitlich abgegrenzt aufeinander folgen oder auf synchroner Ebene liegen. In einer ersten Form bedeutet Amok eine ritualisierte kriegerische Taktik, die auf den Bereich militärischer Operationen begrenzt ist. Der mörderische Lauf ist einer Gruppe von Elitekämpfern vorbehalten, die ohne Rücksicht auf das eigene Leben in das feindliche Heer einfallen, um dort wahllos zu töten.8 Aus der reglementierten krie5 | Die Quellenbefunde gehen auseinander: John C. Spores zitiert einen Reisebericht des venezianischen Kaufmanns und Entdeckers Niccolò di Conti aus dem 15. Jahrhundert als erste dokumentierte Begegnung mit dem Amok. Zwar fällt der Begriff nicht, aber das Phänomen wird beschrieben. Spores (1988), S. 31. Monika Lübbert hingegen weiß von ersten Berichten ab dem 14. Jahrhundert. Vgl. Lübbert (2002), S. 9 6 | Adler (2000), S. 9 7 | Lothar Adler weiß um die Schwierigkeiten der Konstruktion eines fest umrissenen Bildes: „Die weite Verbreitung über ein Gebiet mit sehr verschiedenen ethnischen, religiösen und politischen Bindungen und die dynamische, wenig präzise dokumentierte historische Entwicklung […] läßt Amok nicht als ein klar umschriebenes und einheitlich bezeichnetes Phänomen erscheinen, zumal die historischen Quellen lückenhaft sind.“ Adler (2000), S. 9 8_-RVHSK9RJOEHVWLPPWGLH)RUPGHVPLOLWlULVFKHQ$PRNVIUGDVXQG-DKUhundert und lässt den individuellen Amok mit dem 18. Jahrhundert auftauchen. Vgl. Vogl (2004), S. 138ff. John Spores vermutet Amok als kriegerische Taktik ab dem 16. Jahrhundert. Vgl. Spores (1988), S. 21. Monika Lübbert spricht von einer von Beginn an simultanen Entwicklung. Vgl. Lübbert (2002), S. 14. Lothar Adler schreibt: „Fraglich erscheint jedoch, ob es dabei zu einer allmählichen Verlagerung zum individuellen Amok

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gerischen Form leitet sich der Begriff Amok ursprünglich her: „Amuck“ ist der Schrei, mit dem sich die Krieger, die sich selbst als „pengamok“ bezeichnen, in die Schlacht stürzen.9 Die Kämpfer sind innerhalb ihrer Gemeinschaft hoch angesehen.10 Das Verhalten ist stark ritualisiert, unterliegt einem tradierten Ablauf. In einer zweiten Form lässt sich das Phänomen im sozialen Raum beobachten. Damit erfolgt die Umstellung von einem Gruppen- auf ein individuelles Verhalten. Die Taten werden von Einzelgängern begangen, die nicht Teil einer kriegerischen Kaste sind. Die traditionellen Waffen zu dieser Zeit sind Stichwaffen, hier besonders der Kris, eine dolchähnliche Stoßwaffe.11 Trotz der Verschiebung in den sozialen Raum bedeutet Amok weiterhin ein sozialkonformes, reguliertes Verhalten, dessen Auftreten ein seltenes, aber zu erwartendes Ereignis ist. Die Täter werden mit Respekt behandelt und keineswegs sozial geächtet.12 Die Bevölkerung versucht sich durch lange Stäbe, ZLH VLH HWZD DP (QGH GHU 6WUD‰HQ PDODLLVFKHU '|UIHU ]X ¿QGHQ VLQG ]X VFKW]HQ Im Fall der Fälle können so Amokläufer auf Distanz gehalten werden. Die Existenz solcher Werkzeuge deutet auf eine Infrastruktur, innerhalb derer sich der Amoklauf vollzieht.13 Er wird im asiatischen Raum als möglicher Weg aus einer Situation ohne anderen Ausweg betrachtet. Wie Peter Schneider im Hinblick auf die Ausführungen des Ethnopsychiaters George Devereux zum asiatischen Amok schreibt: (VLVWJDQ]VR>«@DOVREÃGLH*HVHOOVFKDIWGDV)HKOYHUKDOWHQGHV,QGLYLGXXPVVHOEVWYRUNRQVWUXLHUWµÃ:HUGHQLFKWYHUUFNWDEHUZHQQGXHVZLUVWPX‰HVVRXQGQXUVRJHWDQ werden. […] Er weiß jedoch, daß er, sollte eine solche Situation eintreten, Amoklaufen PVVHQZLUGXQGHUVLFKGDQQÃDQJHPHVVHQµ]XYHUKDOWHQZLVVHQZLUGµ14

Die zugeschriebenen und tolerierten Ursachen für Amokläufe sind vielseitig: verlorene Ehre, Krankheit, öffentliche Beleidigung, Schuldenlast, Opiumkonsum.15 Die dritte Spielart des frühen Amoks etabliert sich im späten 19. Jahrhundert, als die sich als Wissensgebiet formierende Psychiatrie Amok als ihren Gegenstand zu reklamieren beginnt. Unter der Ägide der britischen Kolonialmacht verstärken sich die Bemühungen, Amokläufer lebendig zu fassen, um das Phänomen besser untersuchen kam, oder ob nicht zumindest in Malaysia die kriegerische und individuelle Form von vornherein koexistierten.“ Adler (2000), S. 26 9 | Scheithauer/Bondü (2008), S. 13 10 | In diesem Sinne deutet John Spores sein Quellenmaterial: „The sources of motivation for the more calculated, premeditated amok of the on-going martial contingents […] appear to have included social honor and prestige, a high degree of deference from peers DQGWKHSXEOLFDQGSHUKDSVPDWHULDOEHQH¿WVDQGFRQFHVVLRQV³6SRUHV  6 11 | Zur Bedeutung der traditionellen Waffe Kris siehe Christians (2008), S. 158ff 12 | Vgl. Spores (1988), S. 28 13_9JO$GOHU  6$X‰HUGHP6SRUHV  6XQG/EEHUW  6I 14 | Schneider, Peter (2001), S. 104f 15 | Vgl. Spores (1988), S. 19

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zu können.16 Die Täter werden interniert und der Kontrolle der Ärzte unterstellt. Eine GLVNXUVLYH=XULFKWXQJDOVDEQRUPHVPLWXQWHUÃJHLVWHVNUDQNHVµ9HUKDOWHQHUIROJW$PRN bedeutet von nun an einen psychopathologischen Zustand Einzelner, ein „plötzliches, anfallartiges Geschehen, das einem bestimmten Ablaufprozess unterliegt“. Auf eine Phase der depressiven Verstimmung (malaiisch: sakit hati) folgt der Anfall (mata gelap GHUPLWHLQHU7UEXQJGHV%OLFNVHLQHPÃ5RW6HKHQµHLQKHUJHKWXQGEHOLHELJHV Töten von willkürlichen Opfern zur Folge hat. Falls die Täter überleben, können sie sich an nichts erinnern.18'XUFKGLH1HXGH¿QLWLRQGHV$PRNVDOV.UDQNKHLWQLPPWGLH soziale Anerkennung der Täter über die Zeit hinweg ab.19 Zudem begreift das koloniale Gerichtssystem Amok als Verbrechen und stellt ihn unter Strafe.

Kulturelle Zuschreibungen Durch die heutige globale mediale Präsenz des Amoks ist es auf den ersten Blick verwunderlich, dass Amok im zeitgenössischen Diskurs noch oftmals als culture-boundsyndromeGH¿QLHUWZLUG20 Im Kontext des konkreten Untersuchungsgegenstandes dieser Arbeit – der medialen (Selbst-)Inszenierung von school shootern – ist die Frage nach der Kulturabhängigkeit des Phänomens sekundär, weil es zentral um den Umgang mit global zugänglichen und verfügbaren medialen Erzählungen und Bildern geht. Dennoch muss diese Position erwähnt werden, weil sich an ihr paradigmatisch die Ungleichzeitigkeiten illustrieren lassen, die sich mit dem Amokdiskurs verbinden. Die .ODVVL¿NDWLRQ DOV NXOWXUDEKlQJLJHV 3KlQRPHQ LVW DOV (UEH GHV NRORQLDOHQ %OLFNV ]X verstehen, durch den der Amok in seiner Frühgeschichte beobachtet und zugleich in seinen Charakteristika konstruiert wurde. In den ersten Berichten ist Amok Teil einer Erzählung des Exotischen, des Außergewöhnlichen, das dem Fremden, der fremden Kultur zugeschrieben wird.21 16_'LHVH3UD[LV¿QGHWVLFKEHL-RKQ6SRUHVEHVFKULHEHQÄ$IWHULWDSSHDUVWKDW efforts were often made to capture them [the amok-runners] alive. Once capture occurred, a variety of responses were engendered, with an apparent trend toward increasingly GH¿QLQJWKHDPRNUXQQHUDVLQVDQH³6SRUHV  6 17 | Vogl (2004), S. 138, Vgl. auch Adler (2000), S. 13f 18 | Dieses Ablaufprotokoll wird von den verschiedenen Autoren einheitlich beschrieben. Vgl. Adler (2000), S. 13f 19 | Vgl. Adler (2000), S. 13 20_'LHVH.ODVVL¿]LHUXQJHUVWDXQW-HQV+RIIPDQQ]X5HFKWÄ2EJOHLFKWDJWlJOLFKH0Hdienberichte zeigen, dass ganz offenbar auch in unserem Kulturkreis regelmäßig gleichartige Tötungsdelikte auftreten, wird sogar noch heute in manchen Fachdiskussionen $PRNDOVNXOWXUVSH]L¿VFKHV(UHLJQLVHLQJHVWXIW³+RIIPDQQ  6 21 | In fast allen Gebieten der Erde lassen sich ähnliche Phänomene beobachten, die XQWHU GLYHUJHQWHQ %HJULIÀLFKNHLWHQ YHUVFKLHGHQHQ 9|ONHUQ ]XJHVFKULHEHQ ZXUGHQ cathard in Laos und auf den Philippinen, mal de pelea in Papua Neuguinea und Puerto Rico, iich’aa in Nordamerika oder der Berserkergang in Skandinavien. Scheithauer/ %RQG  69JODXFK6SRUHV  6XQG/EEHUW  6II

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Lothar Adler weist auf die Versuche verschiedener Autoren hin, Amok mit dem Unvermögen negative emotionale Zustände auszudrücken, in Verbindung zu bringen.22 Diese Ansätze sind auch heute noch zuweilen virulent. So gab Wayne Lo, der 1992 Amok an seiner Universität lief und inhaftiert wurde, anlässlich des campus shootings von Seung-Hui Cho an der Virginia Tech zu Protokoll: „Asians tend to be passive DJJUHVVLYHZHGRQ¶WJHWLQ¿JKWVVRLWGRHVQ¶WFRPHRXWLQOLWWOHELWVLWDOOFRPHVRXW in one big act.“23 Cho und Lo sind beide Kinder asiatischer Einwanderer. Doch das Argument verbleibt im Spekulativen, sagt es doch nichts über die school shootings in Columbine, Montreal oder Erfurt aus, bei denen die Täter der weißen Mittelschicht entstammten. Tatsächlich hat sich mit der Ausbreitung des Phänomens eine nicht zu leugnende globale Gleichförmigkeit entwickelt, so dass – jenseits kultureller Grenzen ±DPHULNDQLVFKH¿QQLVFKHRGHUGHXWVFKHschool shootings in ihrem Ablauf kaum zu unterscheiden sind.24 *OHLFK]HLWLJVFKOLH‰W:D\QH/RV$XVVDJHDQEHVWLPPWH0XVWHUGHUNXOWXUVSH]L¿schen Erklärung an, die seit der Frühphase des Amoks bestehen. Jedoch lassen weder die diachrone noch die synchrone Ebene der Berichte eine Eindeutigkeit erkennen. Sie zeigen ein „Spektrum […], das bei glaubensbedingt sinnvollen Handlungen beginnt und bei eindeutig sinnlosen, krankhaften Wahnvorstellungen und Realitätsverkennungen endet.“25 Die heutige weltweite Verbreitung des Amoks oder amokähnlichen Verhaltens nivelliert die Vorstellung eines culture-bound-syndromes. Zudem impliziert ein solches Modell strikt abgegrenzte Topographien, Orte ohne Austausch, deren Existenz LQ=ZHLIHOJH]RJHQZHUGHQPXVV-RVHSK9RJOH[HPSOL¿]LHUWGLHRIIHQHQ*UHQ]HQGHU Mobilität anhand des Beispiels Batavia – dem heutigen Jakarta – in der ersten Hälfte GHV-DKUKXQGHUWV(VRIIHQEDUWVLFKHLQZHLWKLQHQWGLIIHUHQ]LHUWHUhEHUJDQJVUDXP ohne feste soziale Hierarchien und ohne klare nationale oder ethnische Grenzen.26

Im Spiegelkabinett der Blickachsen Die Geschichte des Amoks im südostasiatischen Raum ist von Beginn an in seiner Diskursivierung europäisch geprägt gewesen. So sind die Beschreibungsmuster und die über die historischen Quellen heute noch zu beobachtenden diskursiven Strategien eher 22 | Vgl. Adler (2000), S. 19 23_+HQLJ  24 | Diese relativ übereinstimmende Erscheinungsweise von school shootings konstatiert etwa die Kriminalistik: „Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es [im Hinblick auf school shootings] einige wenige Unterschiede, aber vor allem große ÜbereinstimPXQJHQPLWGHQ(UJHEQLVVHQDXVGHQ86$JLEW³+RIIPDQQ  6 25_$GOHU  6'DV3KlQRPHQ$PRNEOHLEWDOVRDOVXQVFKDUIHVDQGHQ5lQGHUQ ausfransendes zu beschreiben. „Auch wenn viele Autoren »ihren« Amokläufer für typisch halten, in der Zusammenschau gibt es »den« Amokläufer nicht. Die Täter vereint nur eine phasenhafte, sehr ähnlich ablaufende, impulsiv homicidal-suicidale Handlung.“ Adler (2000), S. 28 26_9JO9RJO  6II

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kulturabhängig als das Ereignis selbst. Amok taucht von Beginn an als erzählerisch stark zugerichtetes Ereignis am Horizont des abendländischen Wissens auf. Die frühen Berichte und Zeugnisse über Fälle von Amok manifestieren dominant die Wahrnehmungsgewohnheiten und (kolonialen) Einstellungen der Betrachter. „Amok hat keinen eindeutigen Ursprung, es ist eine Schöpfung des Berichterstatters und seiner Zeit, besser: des Vokabulars und der Vorstellungswelt der Beobachter. Diese beobachten und beschreiben, um das Fremde im Eigenen bekannt zu machen, ohne das Eigene jemals aufgeben oder abschütteln zu können.“ In den Reisebeschreibungen der Entdecker jener Zeit vermischen sich Zeugenschaft, angelesenes Wissen und Genrekonventionen untrennbar.28 So transportieren die frühen Berichte zumeist die eigenen Ängste und Faszinationen, statt eine neutrale Einschätzung des Phänomens Amok zu liefern. Wie stark der koloniale Blick gewisse Publikationen prägt, zeigt sich an einer historischen Analyse des Phänomens von 1988: Laut John C. Spores verschwindet das Phänomen mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts aus dem ostasiatischen Raum. Die Gründe hierfür liegen nach Meinung des Autors in der zunehmenden Zivilisierung, und Modernisierung der Gebiete unter der Ägide der europäischen Kolonialmächte.29 $EHUDXFKKLHUVLQGGLH4XHOOHQQLFKWHLQGHXWLJXQWHUVXFKHQ-RKQ(&DUUXQG (QJ .RQJ 7DQ  DOV$PRNODXI NODVVL¿]LHUWH )lOOH LQ 0DOD\VLD 'DEHL ]HLJW VLFK ± entgegen den Ausführungen von Spores – zum einen, dass das Phänomen innerhalb der Malaiischen Kultur nach wie vor virulent ist. Zum anderen wird deutlich, dass Amok keinesfalls unter den Machtbereich der Strafjustiz fällt. Kein einziger AmokläuIHULVWLP*HIlQJQLV]X¿QGHQDOOH7lWHUVLQG,QVDVVHQSV\FKLDWULVFKHU(LQULFKWXQJHQ30 Die Internierten beschreiben die klassische Verlaufsform, die seit der Frühphase des Amoks bekannt ist: das Brüten, das Rot-Sehen, die Amnesie. An dem von Spores postulierten Verschwinden des Amoks aus seinem Ursprungsgebiet zeigt sich die Abhängigkeit des Phänomens von der diskursiven Ordnung, die ihm gegeben wird, bzw. vom psychopathologischen Wissen, das es vermisst. So versichern

27 | Christians (2008), S. 22. 28 | Vgl. Christians (2006), S. 105ff 29 | Die – vor dem Hintergrund des Transfers des Phänomens in die westliche Welt – fast schon naiv zu nennenden Erläuterungen Spores lassen sich damit erklären, dass er zum einen Amok als kulturabhängiges Phänomen begreift und zum anderen moderne Formen des Amoks nicht Teil seines Analysefeldes sind. Vgl. Spores (1988), S. 133ff. 30_6LHKH&DUU7DQ  'LH.ODVVL¿NDWLRQJHKWGDEHLDXIGLH0DODLLVFKH.XOWXUXQG 7UDGLWLRQ]XUFNLQGHU%HVHVVHQKHLWVSKlQRPHQHQRFK(LQJDQJLQGLH'LDJQRVH¿QGHQ Ä7KLVMXGJPHQWLVEDVHGXSRQ0DOD\FRQFHSWVRIPHQWDOLOOQHVVZKLFKLQFOXGHDVSHFL¿F form of insanity called gila mengamok. Gila mengamok is considered an extreme form of gila kena hantu (insanity due to evil spirits) or gila huatan orang (insanity caused by ZLWFKFUDIW %RWKDUHFKDUDFWHUL]HGE\¿WVRIYLROHQFHDQGDVXSHUKXPDQDELOLW\WRZUHDN GHVWUXFWLRQ³&DUU7DQ  6I

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U NREINE B ILDER ernstzunehmende Quellen […], daß die motivationale Wirkung in eine ganz andere Richtung ging, nämlich die der kulturellen Unterwerfung: In dem Maße, wie die westlichen Wertvorstellungen von der einheimischen Bevölkerung übernommen wurden, gingen in den europäisch beherrschten Territorien die Amokanfälle eindrucksvoll zurück. Unter jenen Eingeborenen indes, die medizinisch betreut werden mußten, häuften sich zur gleichen Zeit die Zeichen klassisch westlicher Psychosen deutlich.31

'LH )lOOH ZHUGHQ QLFKW ZHQLJHU VLH ZHUGHQ QXU DQGHUV NODVVL¿]LHUW 6R WDXFKW GHU Amoklauf durch die Jahrhunderte hinweg auf und geht dann wieder verloren – je nachdem, wer wann und wie über das Ereignis berichtet und welche Merkmale er dabei für eine Kategorisierung und Benennung des Phänomens verwendet.

Amok in der alten Welt Im 20. Jahrhunderts entgrenzt sich der Begriff Amok verstärkt in die westliche Welt. 8QWHUGHP/DEHOÃ$PRNµZLUGQXQHLQH5HLKHYRQ±]XQHKPHQGGLYHUJHQWHQ±VR]LDOHQ (UHLJQLVVHQ]XIDVVHQYHUVXFKW'LH3UREOHPHGHU'H¿QLWLRQXQGGHU4XHOOHQODJHVHWzen sich mit dem Import des Begriffs nahtlos fort. Und dies insbesondere, weil Amok oder amokähnliches Verhalten keinen festen Platz innerhalb der Wissensdisziplinen beVLW]WGHQQÄGLH%HJULIIHÃ$PRNµXQGÃ$PRNODXIµVLQGLQZHVWOLFKDNNXOWXULHUWHQ/lQdern trotz weiter Verbreitung keine juristischen, psychiatrischen oder psychologischen Termini, so daß […] keine in sich geschlossene Literatur existiert.“32 Die unscharfe Nosologie des Phänomens und der unterschiedliche Gebrauch des Begriffs macht eine stringente Geschichtsschreibung – die Beschreibung eines einfachen Transfers von Asien nach Europa und Amerika – unmöglich. Gerade weil die kulturellen Rahmungen in denen sich der Begriff und das Phänomen entfalten, gänzlich divergent sind. Jedoch gibt es paradoxerweise zu viele Berührungspunkte und Analogien in den Mustern des Erzählens, als dass die Frühformen des Amoks von heutigen Phänomenen wie school shootings strikt getrennt werden könnten. Wie Joseph Vogl über das Flammenwerferattentat in Köln-Volkhoven 1964 schreibt: „Es gab […] hier – wie in späteren Fällen – kaum etwas anderes zu sehen als die Inszenierung einer hyperbolischen Kriegslandschaft mitten in einem scheinbaren Frieden: mit seltsamen Waffen, die an verschiedenste Geschichten des Krieges erinnern.“33 Die ursprünglich militärische Praxis schwingt als Echo in bestimmten zeitgenössischen gesellschaftlichen Katastrophenszenarien mit. Die Täter schließen ihrerseits an die diachronen Strategien des Erzählens und Handelns an. Dabei entstehen historische Überlappungen und Sprünge, die keine eindeutiJHQ(QWZLFNOXQJVOLQLHQLQGHU*HVFKLFKWHGHV3KlQRPHQVHUNHQQHQODVVHQÃ$PRNµDOV Begriff und als Phänomen ist kein differenzierendes, sondern ein entdifferenzierendes Ereignis, das sich über Echos und gebrochene Linien der Genese im sozialen und dis31 | Schneider, Peter (2001), S. 105 32 | Adler (2000), S. 29 33 | Vogl (2003b), S. 14

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kursiven Raum verteilt und dabei die verschiedensten Felder des Sprechens und Handelns aufruft, ohne letztgültig einem einzigen zugeordnet werden zu können. Deshalb ist es auch nicht überraschend, dass zeitgenössische Erzählungen die Chiffre aufgreifen und als vages Motiv einer entzivilisierten, barbarischen Welt gebrauchen.34 Auch die Erscheinungsform des frühen Amoks im sozialen Raum – abseits der Schlachtfelder – verbindet sich mit seinen heutigen Formen. Amok bedeutet eine „beliebige Feindschaft“ gegen Jedermann.35 Die Täter morden in keine bestimmte 5LFKWXQJ ]LHOHQ HKHU DXI ÃGDV 6\VWHPµ DE RGHU HUNOlUHQ GHU 0HQVFKKHLW GHQ .ULHJ Pekka-Eric Auvinen meint: „Humanity is overraided“.36 Die Liste dieses wahllosen Hasses gegen die Welt ließe sich beliebig fortsetzen. Kip Kinkel schreibt in seinem Abschiedsbrief: „All humans are evil. I just want to end the world of evil.“ Eric Harris vertraute seinem Tagebuch an: „Ich will die Welt verbrennen, ich will jeden töten bis auf ungefähr 5 Leute.“38 Im Herzen der medialen Diskursivierung des Amoks – sowohl DXI7lWHUDOVDXFKDXI%HWUDFKWHUVHLWH±]HLFKQHWVLFKHLQHÄ$XÀ|VXQJGHVVR]LDOHQ Bandes“39DE'LHVHV.HQQ]HLFKHQ¿QGHWVLFKLPPHUZLHGHUYRQQHXHPLQV]HQLHUWVHL es in den Beschreibungen der Täter als Einzelgänger in der journalistischen Berichterstattung oder in der Fachliteratur.40 Nach Columbine waren dies die diskursiven Felder, in die die Taten von Harris und Klebold gerückt wurden. Unter dem Schlagwort „youth alienation“ entstand ein medial induziertes Gefühl genau jener sozialen Irrealität, in der Ursache und Wirkung in keinerlei Verbindung mehr stehen.41 'XUFK GDV  -DKUKXQGHUW KLQGXUFK ¿QGHQ VLFK LPPHU ZLHGHU (LQ]HOIlOOH YRQ amokähnlichem Verhalten, die aber in keinen eindeutigen Zusammenhang gebracht wurden und werden können. Im Kontext von Gewalt an Schulen reichen die Verzeich34_5RJHU6PLWKHWZDQXW]WGLH$PRN&KLIIUH]XP¿NWLRQDOHQ(QWZXUIHQWIHVVHOWHU*Hwalt im heutigen Afrika: „Ein wilder Haufen bekiffter Kids, die von Damenbademänteln bis zu den zerlumpten Resten von Tarnanzügen alles trugen, das Ganze geschmückt mit menschlichen Körperteilen. Sie liefen im Dschungel Amok, schlachteten jeden ab, der ihnen in den Weg kam, hackten Köpfe ab und spielten Fußball damit.“ Smith, Roger (2010), S. 303 35 | Vogl (2004), S. 139 36_$XFKGLH$QIHUWLJXQJVRJHQDQQWHUXQGYLHOGLVNXWLHUWHUÃ7RGHVOLVWHQµGLHPDQEHL einigen Schützen fand – bei Ernst Wagner noch „Proskriptionsliste“ genannt (Neuzner/Brandstätter (1996), S. 91) –, ändert nichts an der Tatsache, dass sich die Angriffe während der Tat ins Beliebige verstreuen. Wie Bastian Bosse vor seinem Amoklauf in Emsdetten anmerkte: „Eric [Klebold, einer der Columbine-Attentäter] hat es perfekt JHVDJWÄ,I,FRXOGQXNHWKHZRUOG±,ZRXOG³%RVVH]LWLHUWQDFK6]XPHOGD  6I 37 | Lieberman (2006), S. 28 38 | Harris, zitiert nach Gaertner (2009), S. 129 39 | Vogl (2004), S. 139 40 | Vgl. Eisenberg (2002), S. 32ff 41 | Zu den Diskursfeldern und diskursiven Zurichtungen im Amerika nach Littleton siehe Frymer (2009), S. 1388ff

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nisse bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurück. 1913 erschießt ein arbeitsloser LehUHULQ%UHPHQIQI6FKOHULQQHQPLWHLQHP5HYROYHUOHJWGHU)DUPHU$QGUHZ Kehoe Bomben in einer Grundschule in Bath, Michigan und tötet 45 Menschen. 1964 attackierte der 42-jährige Walter Seifert eine Volksschule in Köln-Volkhoven mit einer Lanze und einem Flammenwerfer. Prominentestes Beispiel eines Amoklaufs im Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts ist Ernst August Wagner. Er tötet am 4. September 1913 zunächst seine Familie im württembergischen Degerloch, um dann mit dem Zug nach Mühlhausen zu fahren. 'RUWDQJHNRPPHQOHJWHUPHKUHUH%UlQGHXPGLHDXVGHQ+lXVHUQÀFKWHQGHQ0HQschen zu erschießen. Auf die Frage nach seinen Zielen antwortet er: „Vorausgesetzt, daß ich genug physische Kraft besessen hätte, hätte ich das ganze Dorf vernichtet.“42 Wagner wird überwältigt und stirbt 1938 in einer Nervenheilanstalt.43 Der behandelnde Psychiater Robert Gaupp, der sich lange Jahre immer wieder mit ihm beschäftigt, heftet seinen Fall schließlich unter „Massenmord“ ab.44 Wagner wurde in der langen Zeit seiner Internierung des Öfteren diagnostiziert und kategorisiert – als Paranoiker oder Schizophrener. Am Ende seiner Karriere „gilt [er] als Prototyp des paranoiden Mörders und wahnkranken Amokläufers im europäisch-amerikanischen Kulturraum.“45 Schon an Ernst August Wagner zeigt sich, dass jeder Fall singulär und speziell verhandelt werden muss. In der Fachliteratur spiegelt sich die Verunsicherung im Gebrauch einer normativen .DWHJRULHÃ$PRNµLVW*HJHQVWDQGYHUVFKLHGHQVWHU:LVVHQVGLV]LSOLQHQ'DV3KlQRPHQ spielt immer an den Rändern – als Grenzfall – der Rechtssprechung, der Kriminologie, der Psychiatrie, der Sozialwissenschaften usw., aber keine der Disziplinen kann eine Deutungshoheit beanspruchen.46(UVFKZHUHQGNRPPWKLQ]XGDVVGHU%HJULIIÃ$PRNµ im angloamerikanischen Raum kaum verwendet wird. Die Bezeichnungen reichen hier YRQÃrampage shootingµÃJoing berzerkµÃmass murderµEHUÃspree killingµÃgoing

42 | O.V. (1913), S. 8 43 | Die Nervenheilanstalt liegt, wie es der Zufall will, in Winnenden, wo Tim KretschPHU-DKUHVSlWHUDQVHLQHU6FKXOH$PRNODXIHQZLUG 44 | Vgl. Robert Gaupp Hauptlehrer Wagner – Zur Psychologie des Massenmordes Frickenhausen 1996 45 | Adler (2000), S. 31 46 | Vgl. Christians (2008), S. 242f: „Um so weniger verblüffend erscheint nun auch die Feststellung, dass es Amok bis heute nicht gibt – jedenfalls nicht für diejenigen Wissenschaften, denen man das Phänomen instinktiv zuordnen würde. Weder die Kriminalistik noch die forensische Psychologie oder Psychiatrie kennen das Phänomen als eigenständiges.“ Lothar Adler kommt zum gleichen Ergebnis: „Amok ist jederzeit im öffentlichen Bewusstsein und in den Medien präsent und dennoch eine offenbar seltene Handlung, die sich üblicher psychologischer, kriminologischer und psychiatrischer Untersuchungsmethodik entzieht.“ Adler (2000), S. 50

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postalµ Ãworkplace violenceµ ELV KLQ ]X Ãschool shooting‘. Die Grenzen des Phänomens zu Tatbeständen wie Selbstmordattentaten oder erweitertem Selbstmord sind PLWXQWHUÀLH‰HQG48 Begriffs- und Phänomengeschichte driften weithin auseinander. Heiko Christians fasst die Bemühungen der einschlägigen Werke entsprechend nüchtern zusammen: „In der Literatur wird zunehmend ein Weg eingeschlagen […]. Es werden […] Zuordnungen oder Einordnungen verzeichnet, es werden Geschichten und Vorgeschichten von 'H¿QLWLRQVYHUVXFKHQJHVDPPHOWXQG]XHLQHPYRUOlX¿JHQ%LOG]XVDPPHQJHIJW³49 Um das Phänomen Amok überhaupt untersuchen zu können, bedarf es des Rückgriffs DXIPHGLDOSUl¿JXULHUWH,QKDOWH8QWHUVXFKXQJHQGLHVLFKYRQNDVXLVWLVFKHQ$QDO\VHQ absetzten wollen, müssen auf Textarchive zurückgreifen und so die Auswahl der Fälle GHU MRXUQDOLVWLVFKHQ 'H¿QLWLRQVPDFKW EHUODVVHQ %HLVSLHOKDIW VHL HLQ$UWLNHO /RWKDU Adlers genannt, dessen Ergebnisse auf „196 Pressemitteilungen aus industrialisierten /lQGHUQ³EDVLHUHQ 'HU$XWRU NRPPHQWLHUW VHOEVW VHLQH 4XHOOHQÄ'LH )DOOGH¿QLWLRQ seitens der Journalisten ist unkontrollierbar und die Grenzen zu z.B. erweiterten Suiziden, Affekttaten, atypischen oder sekundären Morden offen.“50 Die Analyse mit Hilfe von Beobachtungen höherer Ordnungen – seien es Medienberichte oder Kriminalakten – ist somit eines der zentralen Probleme der Forschung.51

Die inf lationäre Verwendung des Begriffs Ein weiterer wichtiger Faktor für den maßlosen Gebrauch ist der Sensationswert des %HJULIIHV'DV6FKODJZRUWÃ$PRNµVRUJWIU4XRWHXQGGLHQWGHVKDOEYRUDOOHPLQGHU Tagespresse nur allzu oft als Label für eine Reihe heterogener Vorfälle, deren Nachrichtenwert gesteigert werden soll. „Zwei Meter großes Känguru läuft in Wohnhaus Amok“ stand auf Spiegel-Online am 09.03.2009 zu lesen.52 Und der Zufall wollte es, dass diese Nachricht nur zwei Tage vor dem school shooting in Winnenden, bei dem GHUMlKULJH6FKOHU7LP.UHWVFKPHU0HQVFKHQXQGVFKOLH‰OLFKVLFKVHOEVWW|WHWH 47 | Die Spur des Begriffs Amok verliert sich erst langsam in den englischsprachigen Ländern während des 20. Jahrhunderts. In einer kurzen Notiz der New York Times vom 9. Oktober 1902 heißt es über einen Fall von Amok im heutigen tschechischen Bohemia: „A village schoolmaster, forty years of age, while talking to his class, suddenly became LQVDQHUXVKHGWRKLVGHVNGUHZDUHYROYHUIURPLWDQGÃUDQDPXFNµVKRRWLQJULJKWDQG OHIWDPRQJWKHWHUUL¿HGFKLOGUHQ³29   48_(LQZHLWHUHV%HLVSLHOZlUHGLHÃ$PRNIDKUWµÄ%HULFKWHEHUÃ$PRNIDKUWHQµVLQGHLQ besonderes Problem. Schmidtke u. Mitarb. schließen sie grundsätzlich aus. [Im GegenVDW] GD]X ZHUGHQ KLHU@ QXU Ã$PRNIDKUWHQµ EHL GHQHQ HUNHQQEDU LVW GDVV JH]LHOW ]XP Beispiel in den Gegenverkehr gefahren wird […] eingeschlossen.“ Adler et al. (2006), S. 584 49 | Christians (2008), S. 244 50 | Adler et al. (1993), S. 431 51 | Vgl. Scheithauer/Bondü (2008), S. 359 52 | O.V. (2009b)



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erschien. Der Zusammenhang ist zunächst allenfalls skurril und morbide, zeigt aber GHQLQÀDWLRQlUHQ*HEUDXFKGHV:RUWHVXQGGLHXQVFKDUIHQ*UHQ]HQ]XDQGHUHQ)RUPHQ medialer Ereignishaftigkeit auf.53 Aufgrund dieser beliebigen Etikettierung lässt sich die Geschichte des Amoks nicht DQKDQGYRQ=HLWSXQNWHQFKURQRORJLVFKUHNRQVWUXLHUHQ'LHGLVNXUVLYH=XULFKWXQJ¿Qdet auf einer wuchernden Fläche statt, ohne Beginn und ohne Begrenzung. Jeder Punkt einer Verdichtung und Kristallisation kann beinahe beliebig mit jedem anderen verknüpft werden. So schreibt Joseph Vogl über die Ereignishaftigkeit des Amoks: Wenn sich […] ein Ereignis durch eine Verknüpfung zwischen einem Geschehen und HLQHP6\PEROV\VWHPGH¿QLHUHQOlVVWXQGZHQQPDQGLHVHV6\PEROV\VWHPLPZHLWHVWHQ Sinne verstehen kann (dazu gehören Texte und Berichte, ebenso wie Schauplätze oder Institutionen, Wissenschaften und Fiktionen ebenso wie Rechtssysteme oder bürokraWLVFKH0D‰QDKPHQ GDQQPXVVPDQGDVZDVPDQVHLWJHUDXPHU=HLWÃ$PRNµQHQQW als ein heterogenes Datum betrachten, das nicht einfach geschieht, sondern sich immer schon im Wissen verstreut.54

In diesem Sinne lässt sich kein eindeutiger Ursprung, kein erster westlicher – oder IUKJHVFKLFKWOLFKHU±$PRNODXIGH¿QLHUHQ'LHKLVWRULVFKH'LPHQVLRQGHV3KlQRPHQV entpuppt sich als eine Geschichte von Konstruktion und Rekonstruktion, in der die LQGLYLGXHOOHQ)lOOH±ZLH(UQVW:DJQHU±LPPHUQHXXQGLPPHUDQGHUVNODVVL¿]LHUW werden.55

Das Wissen der Fiktion: Stefan Zweigs Der Amokläufer $XI 6HLWHQ GHU ¿NWLRQDOHQ 9HUDUEHLWXQJ ]HLJW VLFK HLQ lKQOLFKHV %LOG Ã$PRNµ VWHKW für eine Reihe von divergenten Verbrechen und Ereignissen. Beschreibungen und VerKDQGOXQJHQYRQDOV$PRNODXI]XNODVVL¿]LHUHQGHQ(UHLJQLVVHQZHFKVHOQVLFKDEPLW Narrationen, in denen das Phänomen zielgerichtet als Element von Kriminalromanen fruchtbar gemacht wird.566\PSWRPDWLVFKLVWHLQHGHUHUVWHQ¿NWLRQDOHQ%HDUEHLWXQJHQ 53 | Eine Schwierigkeit, die sowohl die Frühformen als auch die heutigen Formen des $PRNVEHWULIIWÄ9DQ%UHUR>«@ZLHVEHUHLWV>@DXIGHQDXVXIHUQGHQSXEOL]LVWLVFKHQ *HEUDXFKGHV:RUWHVª$PRN©KLQGHUHLQ*UXQGIUIDOVFKH+lX¿JNHLWVDQJDEHQZDU³ $GOHU  6 54 | Vogl (2004), S. 138 55 | Schon 1913 bemängelte der Schweizer Psychologe Hans Wolfgang Maier diese Praxis: „Aus immer neuen Symptomclustern werden neue Krankheitsbilder konstruiert und benannt, denen man dann alte Fälle zuordnet.“ Christians (2008), S. 242. Entsprechend sah der deutsche Psychiater Emil Kraepelin – bei dem Robert Gaupp 1901 promovierte ±ÄXPGLH-DKUKXQGHUWZHQGH>«@LP$PRNQRFKÃPHLVWY|OOLJGDV%LOGGHUSV\FKLVFKHQ Epilepsie neben anderweitigen epileptischen Krankheitserscheinungen‘.“ Schneider, Peter (2001), S. 106 56 | Vgl. etwa Tom Bale Amok München 2009

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des Themas zu nennen: Stefan Zweigs Novelle Der Amokläufer von 1922, die den kulturellen Transfer des Phänomens durch das Setting der Erzählung – einer Schiffsreise von Indonesien in die alte Welt – direkt thematisiert. Den Beginn markiert das Aufeinandertreffen eines Ich-Erzählers mit einem psychisch wie körperlich zerrütteten Fremden. Dieser stellt sich als Arzt vor und entpuppt sich schnell als Getriebener. Es drängt ihn, seine Lebensgeschichte, die sich um eine Frau und seine langjährigen Erfahrungen als Mediziner in den kolonialen Gebieten dreht, zu erzählen. Seine Worte, die im Folgenden fast den gesamten Inhalt der NarUDWLRQELOGHQOHVHQVLFKZLHHLQH%HLFKWH'LH1RYHOOHUHÀHNWLHUWVRGLH7H[WEHGLQJWKHLW des Phänomens Amok, den Status eines Berichts. Der Arzt stößt immer wieder an die Grenzen des Erzählbaren. Seine Rede ist von Beginn an gebrochen, ein Ringen um Worte. Beispielhaft zeigt sich dies bei der ersten Begegnung mit dem Erzähler: Ã9HU]HLKHQ6LHµVDJWHHUGDQQKDVWLJÃZHQQLFKHLQH%LWWHDQ6LHULFKWH,FK«LFK«µ± HUVWRWWHUWHXQGNRQQWHQLFKWJOHLFKZHLWHUVSUHFKHQYRU9HUOHJHQKHLW±ÃLFK«LFKKDEH private… ganz private Gründe, mich hier zurückzuziehen… ein Trauerfall… ich meide die Gesellschaft an Bord… Ich meine nicht Sie… nein, nein…‘58

Zweig konfrontiert zwei Wissenssysteme: das vermeintlich kühle, distanzierte diagnostische Verfahren der modernen Wissenschaft und das zugeschriebene hitzige, aufbrausende Temperament der Menschen in den Kolonien. Amok wird als culturebound-syndrome verhandelt, als Merkmal des Fremden, die Herkunft des Verhaltens LVW VWULNW HLQHU VSH]L¿VFKHQ7RSRJUDSKLH ]XJHRUGQHW XQG EHGLQJW GXUFK GLH 8PZHOW die äußeren Lebensbedingungen in Indonesien. Wiederholt merkt der Arzt an, dass – neben der als grausam empfundenen Isolation im fernen Land – Temperatur und Luftfeuchtigkeit die eigentlichen Auslöser seines ihm selbst unverständlichen Benehmens VLQG,P]HLWJHQ|VVLVFKHQ:LVVHQZXUGHGLHVHU(LQÀXVVGHV.OLPDVXQWHUGHP%HJULII GHUÃ1HXUDVWKHQLHµJHIDVVWÄ'LH7KHRULHGHU7URSHQQHXUDVWKHQLHJLQJGDYRQDXVGD‰ GLHVHDXIGHUSV\FKLVFKHQ(EHQHGLH]LYLOLVDWRULVFKHQhEHUIRUPXQJHQDXÀ|VWGLHGLH Triebnatur des Menschen bändigen.“59 Das Leiden des Abendländers an der Trennung von Ratio und Körper wird damit über den Begriff Amok in Szene gesetzt.

57 | So gesellt sich zu den Blickperspektiven Literatur und Medizin eine dritte hinzu: die koloniale. Und Zweigs Novelle nimmt die Schwierigkeiten der Zuschreibungen, (LQVFKUHLEXQJHQ ]X XQG LQ HLQH IUHPGH .XOWXU ZLH VLH GLH IUKHQ Ã'RNXPHQWHµ XQG Reisebeschreibungen aus dem 15. und 16. Jahrhundert aufweisen, unter literarischen Vorzeichen wieder auf. 58 | Zweig (2004), S. 80. Andreas Kraft weist auf die Vermittlung des eigentlichen Ereignisses durch verschiedene Faltungen der Erzählperspektiven hin: „Ein Erzähler [der Ich-Erzähler der Novelle] erzählt uns, wie er früher jemanden traf [den Arzt], der ihm seine Geschichte erzählte.“ Kraft (2005), S. 56 59 | Kraft (2005), S. 63

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Die territoriale Entkopplung, der Transfer eines Ereignisses in einen neuen topographischen Kontext entstellt das Phänomen Amok bis zur Unkenntlichkeit. Je länger die Reise und damit die Erzählung des Arztes dauert, desto klarer wird, dass sein Verhalten – das nur er selbst in eine Analogie zu Amok bringt – nichts mit Amok zu tun hat. Der Arzt tötet niemanden, sein Ziel ist nicht die Maximierung der Opferzahlen, VHLQ9HUODQJHQLVW]XMHGHU=HLWNODUDXIHLQH)UDX¿[LHUWGLHHULQGHQ.RORQLHQNHQQHQ gelernt hat, als sie mit einem medizinischen Problem zu ihm kam. Was als Ereignis in der neuen Welt noch leidlich als amokähnliches Verhalten klasVL¿]LHUWZHUGHQNDQQYHUZDQGHOWVLFKPLW]XQHKPHQGHU'DXHUGHU5HLVHLQHLQDOWEHkanntes Muster westlicher Emotion: die enttäuschte, unerwiderte, krankhaft-verformte romantische Liebe. Das beobachtete fremde Verhalten wird herbeizitiert, um die Lücke in der eigenen Sprachfähigkeit – das Unaussprechliche der romantischen Liebe – zu füllen. Dem Transfer liegt somit eine wesentliche Umdeutung zugrunde. Der Arzt in Zweigs Novelle berichtet nicht über das Fremde, er benutzt den Begriff Amok nur für das, was ihm fremd in sich selbst erscheint. So kommt Amok als Ereignis nicht in den Blick, nur die Beschränktheit des eigenen Erkennens. „Die Grenze zwischen Sagbarem und Erlebbarem oder Fühlbarem ist unter der Chiffre Amok Thema der Erzählung.“60 'LH%RWVFKDIWGHV$U]WHVLVWQLFKWÃ'DVLVWIUHPGµVRQGHUQÃ,FKELQPLUIUHPGµ(V wird „eine innerpsychische Grenze des Kulturellen sichtbar, die auch der zivilisierte Mensch immer mit sich führt.“61 Unter der Fassade der Kultur erscheint eine unbezähmbare Trieblogik, die nach ihrem Ausdruck und der Erfüllung ihres Begehrens sucht.

Erklär ungsansätze „Warum?“ titelte die Waiblinger Kreiszeitung am 12. März 2009, einen Tag nach dem Amoklauf Tim Kretschmers an der Albertville-Realschule in Winnenden. Ein Wort auf schwarzem Grund. In der Unterzeile wird die Rektion auf das Ereignis mit „Fassungslosigkeit“ beschrieben. Diese Art der medialen Diskursivierung Titelseite der Waiblinger Kreiszeitung vom von school shootings ist prototypisch: Die 12. März 2009 Frage nach dem Warum, die Suche nach XQDXI¿QGEDUHQ*UQGHQXQG0RWLYDWLRQHQGH¿QLHUWGDV(UHLJQLV$PRNLQGHUKHXWLJHQ Zeit. Die Fassungslosigkeit der Betroffenen und der medialen Öffentlichkeit ist die mittlerweile konditionierte Reaktion auf jede neue Bluttat. Das plötzliche und nicht zu erwartende Geschehen school shooting hat eine seltsame Stabilität und Wahrscheinlichkeit gewonnen, über die mit den immer gleichen medialen Kodizes des Nichtverstehens berichtet wird. Amok manifestiert sich medial als unfassbares Ereignis, das die 60 | Christians (2008), S. 206 61 | Kraft (2005), S. 53

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Sprachfähigkeit übersteigt. Die Spuren jenes Nichtverstehens lassen sich bis ins frühe 20. Jahrhundert zurückverfolgen. Schon nach dem Amoklauf Ernst August Wagners 1913 stand im Stuttgarter Neuen Tageblatt zu lesen: „Es quillt kein Wort, das voll erschöpfte uns / Die Schauer jener nachtumhüllten Tat!“62 Die Übertretung sozial konventionalisierten Verhaltens in der Tat differenziert den modernen Amoklauf in der westlichen Welt von den asiatischen Frühformen, in denen das Verhalten sozial aufgehoben war, einem ritualisierten Ablauf unterlag und der Täter nicht notwendigerweise gesellschaftliche Ächtung erfuhr. Was innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung Asiens seinen Platz hatte, erschien allein dem kolonialen Blick fremd, denn die eigenen Vorstellungen von angemessenem und unangemessenem Verhalten basierten auf divergenten kulturellen Prägungen. Im 20. Jahrhundert ZLUGÃ$PRNµDOV%HJULIIQXQXQWHUJHQDXGLHVHQ9RU]HLFKHQDXVGHPDVLDWLVFKHQ5DXP importiert. Das Interesse am Amok und seiner besonderen Erscheinung hat seit dem 19. Jahrhundert offenbar mit dieser aufsteigenden Grundlosigkeit zu tun und markiert schließlich eine soziale Katastrophe, die plötzlich und ohne Vorzeichen aus der Normalgestalt herausbricht – in dieser Figur ist der Amok in den Horizont der modernen Gesellschaften eingetreten.63

Amok wird nun als Chiffre verwendet, um einen bestimmten Pool an unerklärlichen Ereignissen – wie etwa die Morde Ernst August Wagners – zu fassen. „Eine soziale Irrealität [erscheint], eine Bedrohung, in der sich die Welt der Ereignisse von der Welt der Gründe abgelöst hat.“64 Die Taten sind Ausdruck einer – im Rahmen des herkömmlichen Wissens um die Motivation des Individuums – nicht restlos zu rekonstruierenden Fallgeschichte. Es gibt Hintergründe, familiäre Umstände, Streitfälle. Es gibt Abschiedsbriefe und später Videos der Täter, in denen sie ihr Verhalten erklären. Aber dies alles bedeutet dem Betrachter keine Antwort auf die Frage nach dem „Warum?“. Die verschiedenen historischen Versuche einer Motivzuschreibung – Opiumsucht, Ehrhandel, Geisteskrankheit, physiologische Defekte – werden auch heute noch herangezogen, aber das Phänomen lässt sich nicht kausal auf eine Ursache rückbeziehen.65 62 | Emile Munz, zitiert nach Neuzner/Brandstätter (1996), S. 34 63 | Vogl (2003b), S. 13 64 | Vogl (2003b), S. 13 65 | Das prominenteste Beispiel für den Versuch, einen Amoklauf auf eine monokausale Ursache zu beziehen, ist der Tumor, den man in Charles Whitmans Gehirn bei der Autopsie fand. Die Spekulationen dauern bis heute an, auch wenn es bereits im Autopsieprotokoll hieß: „No correlation to psychosis or permanent pains.“ De Chenar (1966), S. 3. Schon im späteren Special Report wird die eindeutige Einschätzung des Pathologen bezweifelt: „The autopsy report indicates that Charles J. Whitman had a brain tumor close to the brain stem which undoubtedly caused him much mental pain and possibly contributed to his insane actions.“ Travis County Grand Jury (1966), S. 1

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Amok ist eine „Figur des Nicht-Wissens“,66 die Frage nach dem Warum zieht unweigerlich eine Leerstelle nach sich. Damit hat der Amokläufer seine heutige Bestimmung gefunden. Er ist die Figur einer Gefahr, in der das Böse kein diabolisches Übel mehr [ist]. Es konkretisiert sich nicht gegenüber einem Guten, sondern in einer Sinnlosigkeit. Die ebenso seltene wie typische Figur des Amok jedenfalls wird nicht geklärt, wenn man sie auf private Neigungen, persönliche Motive und heimliche Absichten zurückführt. Ihre prägnante Gestalt erfährt sie vielmehr in der Erscheinung jener Unperson, jenes Man, in dem der soziale Mensch sich als Zusammenhang aller mit allen konstituiert und zugleich zur Bedrohung für alle geworden ist.

Allerdings ist diese Sinnlosigkeit selbst noch historisch zu perspektivieren. Bis zu den Morden in Columbine ist die Rätselhaftigkeit und Motivlosigkeit noch substantieller Teil der Selbstbeschreibungen der Täter. Sie bleiben sich fremd, ihre Selbstaussagen können die Ursachen ihres Handelns nicht greifen. Nach Columbine verschiebt sich das Gefühl der Unerklärlichkeit – trotz der immer ausschweifenderen Selbsterklärungen der Täter – nahezu komplett auf die Seite der Beobachter. Wo die Muster der Erklärung versagen, wird ein deskriptives Modell entwickelt. Eine Deutung des Verhaltens ist zunächst kaum möglich. Dieses Verhalten zeichnet sich dadurch aus, dass es sich dem Verstehen oder der Einfühlung, […] einem Blick, der mit einer gewissen humanen Erregung an diesen Fall herangeht, völlig entzieht. […] Man kann es nicht deuten, aber es lässt sich beschreiben. Und dafür gibt es eine gewisse Spannungskurve, ein Ablaufprotokoll, aber auch gewisse Indizien, die Fälle dieser Art auszeichnen.68

Die Ahnung komplexer Verbindungen zwischen Risikofaktoren, die einen Amoklauf begünstigen, verdichtet sich mit der Dauer der Forschung.69 Aber diese Verdachtsmomente können in einem psychopathologischen Modell, das auf konsensuellen theoretischen Mustern individueller Subjektivität basiert, nicht erklären, warum ein Schüler eines Morgens erwacht, mit einer Waffe zu seiner Schule fährt und wahllos auf Mitschüler und Lehrer zu schießen beginnt. Die Kontingenz wird bleibender Faktor eines jeden Modells sein. Jede theoretische Annäherung wird sich die Frage gefallen lassen PVVHQ:DUXPDXVJHUHFKQHWGLHVHU6FKOHU":DUXPQLFKWVHLQ%DQNQDFKEDUGHUEHL 66 | Vogl (2004), S. 140 67 | Vogl (2004), S. 153. Natürlich beschäftigt sich ein Großteil der Literatur mit dem 3UR¿OLQJGHU7lWHUGDVDXIGHP:HJ]XHLQHUHI¿]LHQWHQ3UlYHQWLRQYRQschool shootings unerlässlich scheint – dies ohne klare Ergebnisse. Jens Hoffmann listet unter seiner Zusammenfassung genereller Resultate dann auch als ersten Punkt auf: „Es gibt kein HLQKHLWOLFKHV3UR¿OGHU7lWHU³+RIIPDQQ  6 68 | Kluge/Vogl (2008), S. 91 69 | Scheithauer/Bondü (2008), S. 82ff. Vgl. auch Verlinden et al. (2000), S. 3ff

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ZHLWHPPHKU=HLWYRUGHP)HUQVHKHUXQGGHP&RPSXWHUYHUEULQJW":DUXPQLFKWGDV 0lGFKHQDXVGHU3DUDOOHONODVVHGHUHQIDPLOLlUHU+LQWHUJUXQGYLHOWUDXPDWLVFKHULVW"

Das Wissen der Gesellschaft um sich selbst Amokläufe – insbesondere school shootings – bedeuten eine Frage, auf die die Gesellschaft als Ganzes eine Antwort geben muss, weil sie den sozialen Korpus in seiner Gesamtheit angreifen: „Shooters chose schools as the site for a rampage because they are the heart and soul of public life in small towns.“ Das Sprechen wird medial delegiert: an die Zeugen, Experten und Politiker. Die Zeitungen und Fernsehstationen tragen die Kunde in jeden Winkel der medialen Öffentlichkeit. Dass die Zahl der Fälle und Opfer eher gering ist, spielt dabei keine Rolle. Das Nichtwissen um die Verknüpfung zwischen Täter, Milieu und Tat wird in Endlosschleifen reproduziert, die mangelnde Qualität der bekannten Fakten quantitativ durch die Summe der Spekulationen ausgeglichen. Auch wenn dieser Diskurs kein Wissen in Bezug auf die Motivationen der einzelnen Täter herstellt, so produziert er doch ein konkretes (Nicht-)Wissen um die Gesellschaft, den sozialen Korpus, in dem school shootings auftreten. Sozialität ist nicht per se gegeben, sie muss – wie alles Kulturelle – hergestellt und beständig aktualisiert werden. School shootings bilden den Anlass für solche KonkreWLVLHUXQJHQGHU6HOEVWEHVFKUHLEXQJHQVSH]L¿VFKHU*HVHOOVFKDIWHQLQGHP6R]LDOLWlWDOV %LOGVLQQOLFKDQVFKDXOLFK]XU*HOWXQJJHEUDFKWXQGVRGH¿QLHUWZLUG'LH7lWHUELOGHQ dabei die Negativfolie, den dunklen Abgrund sozialer Exklusion, über dem sich die Gemeinschaft innerhalb der medialen Öffentlichkeit als Verbund des Jeder-mit-Jedem konstruiert. Entscheidend ist das Bild, wie es auf dem Bildschirm erscheint, fernab der Tatsächlichkeit des individuellen Trauerns. Die Grenzen zwischen dem Erlaubten und Unerlaubten müssen beständig neu gezogen werden, Sozialität fundiert und bestätigt werden.

Das Wissen um die Bevölker ung Der Begriff Amok wird an jenem historischen Punkt im 18. Jahrhundert importiert, an dem die Bevölkerung als eigentlicher Reichtum einer Gesellschaft entdeckt wird. Innerhalb dieser Abstraktion werden die Bürger anhand von rechnerischen Erhebungen und Wahrscheinlichkeitsverteilungen systematisiert. Der Katastrophenfall ist direkt gekoppelt an das sich etablierende Gefahrenwissen, in dem Amokläufe ein gesichertes statistisches Wissen bilden: „Als Risiko, als Wahrscheinlichkeit ist die Katastrophe immer anwesend. Und wenn es dann eintritt, weiß man als Betroffener wie als Zuschauer:

70 | Newman et al. (2005), S. 15. Paradigmatisch lässt sich dieser Zusammenhang von Tat und sozialer Gemeinschaft auch an einer Aussage des verantwortliche Sheriffs nach den Ereignissen von Littleton, John Stone, ablesen: „Eine Gesellschaft, in der Kinder ein solches Blutbad anrichten können, ist krank.“ Stone, zitiert nach Rademacher (1999), S. 10 71 | Vgl. Bublitz (2010), S. 93

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Es ist nichts als Zufälligkeit, aber es musste geschehen.“ Damit verbunden ist die sequentielle Ordnung, das iterative Moment, das den Amok seit seiner Diskursivierung in der westlichen Hemisphäre prägt. Vergangene Fälle werden aufgelistet, verglichen, Ähnlichkeiten werden hergestellt. Statt der Verbrechen Einzelner werden nun dominant statistische Verteilungen in den Blick genommen. Das neue Subjekt ist nicht mehr das Individuum, sondern die Masse. Der Amokläufer ist ein Jedermann, eine Figur, die das Gefahrenwissen moderner Gesellschaften schärft. „Der einzelne Amokläufer [ist] selbst eine undifferenzierte Masse, eine Massen-Person, ein Massen-Ereignis, das in seiner Gewalt, in seiner Bewusstlosigkeit, in seinem katastrophalen Charakter den Spiegel für eine entstehende Massen-Zivilisation darstellt.“ Der Begriff der Masse umschließt alle möglichen Verbrechen, die innerhalb einer bestehenden Gesellschaft vorkommen können und begreift das Individuum allein als Bestandteil einer höheren Ordnung. Ziel ist weder die 3UlYHQWLRQ QRFK GLH Ã+HLOXQJµ GHU *HVHOOVFKDIW YRP$PRN VRQGHUQ LQ HUVWHU /LQLH Kontrolle, die in diesem Zusammenhang eine numerische Beschreibung des Phänomens meint. Denn Kontrolle bedeutet die sorgsame Berechnung der Zahlen, d.h. der +lX¿JNHLWVXQG:DKUVFKHLQOLFKNHLWVYHUWHLOXQJ Das im Verhalten des Amokläufers erkannte Wissen ist auch heute noch virulent, ZREHLVLFKGLH*HIDKUHQODJHLQHLQ$QIRUGHUXQJVSUR¿OYHUZDQGHOWKDW Das Subjekt, das sich sozioökonomischen Anforderungen entsprechend fortwährend umformt, bildet keine normativ aufgeladene, in sich kohärente und einheitliche IdenWLWlWV¿JXU PHKU  VRQGHUQ LVW LQ HLQ 6SHNWUXP YRQ DOOHQ P|JOLFKHQ ¾6HOEVWHQ½ DXIJHfächert, die nicht länger in einen (ein)stimmigen Subjektentwurf münden, sondern lediglich in Einklang mit sich verändernden gesellschaftlichen und situativen Anforderungen, mit Blick- und Perspektivwechsel gebracht werden müssen.

Aufgrund der normativ erhobenen und zugeschriebenen Erfordernisse eines globalisierten, neoliberalen Arbeitsmarktes analysiert Hannelore Bublitz das Subjekt heutiger Prägung selbst noch als Masse von möglichen Personae innerhalb eines individuellen Körpers, der als Träger funktioniert. Welche Figur der Einzelne darstellt, welche QuaOL¿NDWLRQHQXQG*HVLFKWHUHU]HLJWKlQJWYRQGHQWHPSRUlUHQ$QIRUGHUXQJHQGHU$Xßenwelt ab. Das Ich – in seiner ursprünglich-bürgerlichen, wesenshaften Zuschreibung ±ZLUGGDEHL]XQHKPHQGGHVWDELOLVLHUWXQGÃ,UUOlXIHUµPVVHQOHW]WOLFKDOVQRWZHQGLJH Folge der gewährten persönlichen Freiheit und den Flexibilitätserfordernissen akzeptiert werden. In der Auffächerung des Subjekts in temporäre und stets wandelbare Subjektkonstellationen und -formationen verstärkt sich das Gefühl einer sozialen Irrealität unter dem Eindruck, dass jeder zu jeder Zeit alles sein kann.

72 | Vogl (2004), S. 151 73 | Vogl (2004), S. 146 74 | Bublitz (2010), S. 189

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Der Begriff Amok und die ihm zugeschriebenen Ereignisse sind also ursprünglich gekoppelt an das Selbstverständnis der Wissensordnungen des 19. Jahrhunderts. „Er [der Amokläufer] dokumentiert darum den [damals] neuesten technologischen Stand der Vergesellschaftung, und er dokumentiert die Figur eines Gefahrenwissens, das mit diesem neuesten Stand unvermeidlich geworden ist.“ Dieses Gefahrenwissen entspringt dem Bewusstsein um die Umstellung von einer Disziplinar- auf eine Kontrollgesellschaft, in der der Einzelne nicht mehr institutionell überwacht wird. Stattdessen wird dem Subjekt ein großer Spielraum an persönlicher Freiheit gewährt. Die moderne Gesellschaft schränkt Individualität nicht ein, im Gegenteil, Individualität bedeutet Differenzierung und wird als Ressource urbar gemacht. Der Möglichkeitsraum der Gesellschaft ist das Individuum als Teil der Bevölkerung. „Der politische Körper [d.h. die %HY|ONHUXQJ@LVWYLHOPHKUVHOEVWHLQ|NRQRPLVFKHU.|USHUSROLWLVFKHgNRQRPLHYHUeinigt Buchführung mit der Optimierung des sozialen und ökonomischen Potentials der Bevölkerung.“ Das Individuum kann als potentielle Quelle des Reichtums aber nur nutzbar gemacht werden, wenn es den Freiraum zur Selbstentfaltung zur Verfügung gestellt bekommt. Die Ordnungsmacht hat also nicht die Aufgabe der Einschränkung von Abweichungen, sondern ihre Aufgabe ist genau das Gegenteil: Räume zu schaffen, in denen sich subjektive Differenzen bilden können. „Damit werden traditionelle Mechanismen des Überwachens und Strafens hinfällig. Nicht das Festhalten am Gewohnten, sondern seine Infragestellung, nicht Kontingenzbegrenzung, sondern Steigerung und Ausnutzung der Kontingenz sind die Devise.“ Optimierung und Gewinnakkumulation beruhen auf Innovation und das Subjekt wird zum individuellen Träger(-körper) dieses ökonomischen Systems. Es internalisiert die normativen sozialen und ökonomischen Bedingungen bei gleichzeitiger persönlicher Freiheit. Angekoppelt an diese Veränderungen ist der ausdifferenzierte und wachsende Buchmarkt. Somit schließt sich der Zirkel und das Phänomen school shooting kann im Aufbau der modernen Gesellschaft verankert werden. Liegt doch ein Herzstück des Problems in der unüberschaubaren und nicht zu kontrollierenden Zahl an Subjektivierungsmodi, die über mediale Formate verbreitet werden. Was an persönlicher Freiheit bleibt, ist die Erfüllung des Zwangs zur Wahl:

75 | Vogl (2004), S. 151 76 | Paradigmatisches Beispiel für diese Mechanismen ist die nicht enden wollende Diskussion um die Verbreitung von Schusswaffen in Amerika. Auch hier steht das Waffenrecht als Ausdruck traditioneller persönlicher Freiheit im Gegensatz zu den Sicherheitsbedürfnissen der gesamten Gesellschaft. Tötungshandlungen sind „Wahrscheinlichkeiten, keine Einbrüche ferner Schicksalsmächte, sondern kalkulierbare Abschreibungsposten.“ Vogl (2004), S. 150f 77 | Bublitz (2010), S. 41 78_%XEOLW]  6 79 | Vgl. Christians (2008), S. 102ff

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U NREINE B ILDER >'DV6XEMHNW@NRQ¿JXULHUWVLFKDXIGHU)ROLHNXOWXUHOOHU&RGHVDOVDXFKHLJHQHU6HOEVW und Wunschbilder immer wieder neu. Diese Produktion ist, wie die der Imaginationen, nicht wirklich kontrollierbar. Zwar konstituiert sich das Subjekt im Rahmen einer spezi¿VFKHQ0HGLDOLWlWGHV'DUVWHOOHQVGLHLKPPLWGHP(LQWULWWLQGLH2UGQXQJGHV=HLJHQV bestimmte Formen der visuellen oder narrativen (Selbst-)Präsentation vorgibt, aber sie stellt keineswegs nur auf die Kontrolle und Einengung des Individuums ab, sondern ermöglicht durchaus kreativen Selbstausdruck.80

School shootings – Versuch einer Def inition Die Probleme einer konsistenten und stringenten Geschichtsschreibung dürften an dieser Stelle deutlich geworden sein. Der Blick auf den Amok ist rekonstruktiv-konstruktiv, die Geschichte des Phänomens basiert immer auf den Erzählprinzipen ihres Autors. Amok bedeutet eine Reihe von Genotypen ohne Phänotyp, eine Evolution, die in beide Richtungen der Zeitachse verläuft, sich ohne Ursprung im Raum des Wissens und Erkennens verteilt. Die Betrachterperspektiven fächern sich entlang der diachronen 3KlQRPHQJHVFKLFKWH LQV 8QHQGOLFKH DXI 'LH IUKHQ )lOOH ÀLH‰HQ LQ GLH DOOJHPHLQH 1RVRORJLHXQG'H¿QLWLRQGHV%HJULIIHVXQGGHV3KlQRPHQVÃ$PRNµLQGHUKHXWLJHQ Zeit ein und der Gegenstand ist ohne den historischen Rückblick nicht zu erfassen. Was sich seit den 1990er Jahren im Hinblick auf eine mögliche Geschichtsschreibung wesentlich ändert, ist der Bezug der Täter untereinander. Die Täter beginnen – gerade die school shooter – ihre eigene Tradition zu schreiben und fortzuschreiben. Während die Verbindungslinien zur Frühform des Amoks von Außen konstruiert sind, d.h. das Produkt einer Betrachterperspektive höherer Ordnung sind und allenfalls im Modus von Echos beschrieben werden können, bildet sich nun eine von den Tätern offen thematisierte Tradition.81'LH*HVFKLFKWHZLUGQXQYRQÃ,QQHQµJHVFKULHEHQXQG entfaltet sich als eine Zirkulation von Bildern und Narrativen, als eine Geschichte von Inszenierung, Selbstinszenierung und Reinszenierung.82 Die diachrone Entwicklung gibt einen einsetzenden Prozess der Differenzierung und der Uniformierung zu erkennen, eine Geschichte, die sich aus der den Selbstzeugnissen der Täter kondensieren lässt. Aus der unscharfen Verwendung des Begriffs und seiner Genese ergibt sich eine fast beliebige Anzahl von Ereignissen, die dem Phänomen Amok zugeordnet werden 80 | Bublitz (2010), S. 16 81_,QLKUHU6HOEVWLQV]HQLHUXQJHQYHUZHQGHQGLH7lWHUGHQ%HJULIIÃ$PRNµVHOWHQ(LQH Ausnahme ist Bastian Bosse, der bereits zwei Jahre vor seiner Tat in einem Internetforum verkündete: „Ja, es geht hier um Amoklauf.“ Vgl. Scheithauer/Bondü (2008), S. 64 82 | Im Sinne einer präformierten Abfolge: „So ist Amok nach Mullen (2000) in der westlichen Welt ein relativ neues Phänomen, das sich in den letzten Jahren aber auch GRUW]XQHKPHQGHWDEOLHUWKDWHLQHPVRJHQDQQWHQÃVR]LDOHQ6NULSWµIROJW DOVRYRQNRQkreten Vorstellungen über ein Verhalten in einer bestimmten Situation gelenkt wird).“ Scheithauer/Bondü (2008), S. 18

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können. Auf der einen Seite ist es unerlässlich, den Spuren der Ausweitung des Begriffs und des Phänomens zu folgen, um zu einem wirklichen Verständnis der Selbstinszenierungspraktiken der Täter zu gelangen. Auf der anderen Seite muss der Korpus für diese Arbeit bedeutsamer Fälle eingeschränkt werden, um überhaupt zu einem Ergebnis kommen zu können. Deshalb braucht es eine – wenn auch wackelige – Basis, auf der sich Amok und school shootings von anderen Arten homicidal-suicidaler Mehrfachtötung wie Selbstmordattentaten oder Serienmorden differenzieren lassen. )UDQN5REHUW]VFKOLH‰WLQVHLQHU'H¿QLWLRQGHV%HJULIIHVÃschool shooting‘ an LoWKDU$GOHUV.ULWHULHQ]XU.ODVVL¿NDWLRQYRQ$PRNIlOOHQDQ$GOHUYHUZHQGHWIROJHQGH vier Merkmale, die erfüllt sein müssen, um von einem Amoklauf sprechen zu können Amok mußte immer eine ernste Gewalttat sein. […] Amok mußte mindestens zum Tod eines Menschen geführt haben oder so angelegt gewesen sein, daß er dazu hätte führen können, wenn nicht äußere, nicht in der Person des Täters liegende Gründe den Taterfolg verhindert hätten. Die Tat mußte die Ein-Täter-ein-Opfer-Konstellation üblicher Tötungshandlungen optional verlassen. Sie mußte entsprechend der Amokintention wenigstens zeitweilig ohne Rücksicht auf das eigene Leben verlaufen oder direkt zum Tod durch Suizid oder Fremdeinwirkung führen. Die Tat mußte zumindest äußerlich gesehen als impulsiv-raptusartige Tat beginnen. Homicidales und suizidales Moment der Tat mussten tateinheitlich auftreten. Die Tat durfte nicht durch politische, ethnische, religiöse oder kriminelle Motive bestimmt gewesen sein.83

Frank Robertz trifft ausgehend von diesen Kriterien weitere Einschränkungen, um school shootings von anderen Arten des Amoks zu unterscheiden:84 Die Tat muss von einem Jugendlichen – d.h. Schüler oder Studenten oder ehemaligem Studenten oder Schüler – verübt worden sein und es muss einen „direkten Bezug der Tötungen zur 6FKXOHLQ$EJUHQ]XQJYRQHLQIDFKHQLQWHUSHUVRQHOOHQ.RQÀLNWHQ]ZLVFKHQ]ZHL6FKlern und gangbezogenen Tötungen“ geben. Und der Autor präzisiert: „Das Ziel musste entweder mehr als ein einzelner Mensch sein oder das Opfer muss wegen seiner Funktion (z.B. Lehrer, Schulleiter) und nicht nur wegen seiner Person ausgewählt worden 83 | Adler (2000), S. 50f 84 | Robertz Kritik an Adler und dessen Merkmal des raptusartigen Beginns des Amoks als nicht notwendiges Merkmal läuft ins Leere, insofern Adler die Einschränkung macht, dass diese Beobachtung von Außen erfolgen muss. Aus der Zeugenperspektive kann man durchaus von einem raptusartigen Beginn sprechen, auch wenn die Tat durch den school shooter von langer Hand geplant gewesen ist. Zudem möchte ich die Inkaufnahme des eigenen Todes gegen Robertz Vorschlag durchaus als Merkmal hinzunehmen, weil die neueren Fälle von den Tätern fast alle so angelegt waren. Sein Buch stammt von 2004 und der Einwand, noch nie sei ein school shooter durch Fremdeinwirkung gestorben, ist spätestens mit den Ereignissen in Winnenden 2009, bei denen der Täter schließlich von der Polizei erschossen wurde, obsolet geworden. Vgl. Robertz (2004), S. 19



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sein.“85 Konkret bedeutet dies die beliebige Feindschaft eines Einzelnen gegen ein Ã6\VWHPµEHJUHQ]WDXIGHQ7DWRUW6FKXOH:LFKWLJGDEHLLVWGDVVGLH6FKXOHHLQ|IIHQWlicher Ort ist.86 $XIJUXQG GLHVHU .ULWHULHQ NRPPW 5REHUW] ]X HLQHP XQJHIlKUHQ %LOG GHV ÃW\SLschen‘ school shootersGDVMHGRFKQLFKWDOVHLQGHXWLJHV3UR¿O]XOHVHQLVW(VODVVHQ sich nur gewisse Merkmale erkennen, die als Risikofaktoren gelten dürfen – immer auf kontingenter Basis, denn diese Merkmale treffen in der einen oder anderen Form auf viele Schüler zu und sind kein Alleinstellungsmerkmal von school shootern. Die 7lWHUVLQG]XPHLVW-XQJHQLP$OWHUYRQELV-DKUHQ6LHKDEHQOHLFKWHQ=XJDQJ zu Waffen und ihre sozialen Bindungen sind in der Regel dysfunktional. Sie sind nicht schwerwiegend psychisch erkrankt, kurz vor ihrer Tat lässt sich oft eine tiefe Kränkung nachweisen, die dann als letzter Auslöser gelten kann. Dabei ist der Begriff school shooting irreführend, weil die Täter nicht unbedingt eine Schusswaffe verwenden müssen. Der 18-jährige Schüler, der 2009 am GymnasiXP&DUROLQXPLQ$QVEDFK$PRNOlXIWWUlJWÃQXUµHLQH$[WXQGHLQ0HVVHUEHLVLFK Dennoch lässt sich sein Anschlag als school shootingNODVVL¿]LHUHQ'HV:HLWHUHQZLUG in dieser Arbeit kein Unterschied zwischen Amokläufen an Schulen und an UniverVLWlWHQJHPDFKWXQGGLHLPHQJOLVFKHQ6SUDFKJHEUDXFKYHUHLQ]HOWÃcampus shooting‘ JHQDQQWHQ(UHLJQLVVH¿UPLHUHQXQWHUGHP/DEHOschool shooting.88 Scheithauer und Bondü ergänzen diese Merkmale um „die körperliche Präsenz des einzelnen Täters [, um] den Amoklauf von terroristischen Anschlägen, Selbstmordattentaten oder Massenmorden [zu unterscheiden…]. Der Amokläufer verwendet eine Waffe bei der Tatausführung, jedes Opfer wird von ihm einzeln aus unmittelbarer Nähe und nacheinander umgebracht.“89 Der körperlichen Anwesenheit des Täters ist zuzustimmen. Allerdings verwenden school shooter des Öfteren ganze Waffenarsenale bei ihren Taten und die Absicht, Bomben zu zünden – auch wenn dies bisher immer misslungen ist – liegt in vielen Fällen vor. Die Wendung „aus unmittelbarer Nähe“ kann verschieden interpretiert werden. Der Texas-Sniper Charles Whitman wäre mit Sicherheit ein Gegenbeispiel, erschießt er seine Opfer doch aus großer Distanz.

85 | Robertz (2004), S. 61 86 | Scheithauer/Bondü (2008), S. 12. Dies differenziert school shootings wiederum von amokähnlichen Formen häuslicher Gewalt, bei denen direkte Verwandte Opfer des Täters sind. 87_6LHKH5REHUW] D 6 88 | Dabei folge ich Scheithauer und Bondü. „Ein eigener Begriff wie beispielsweise Ã8QL YHUVLW\  6KRRWLQJµ NRQQWH VLFK >«@ ELVODQJ QRFK QLFKW HWDEOLHUHQ VR GDVV GLHVH Taten [school shootings an Universitäten] im vorliegenden Buch mit unter die School Shootings gefasst werden.“ Scheithauer/Bondü (2008), S. 22 89 | Scheithauer/Bondü (2008), S. 11f

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Die offenen Grenzen des Begriffs und des Phänomens Trotz dieser Kriterien bleibt das Phänomen school shooting unscharf und ist nicht einGHXWLJ]XPDUNLHUHQ+lQJWGLH$XVOHJXQJGHU.ODVVL¿]LHUXQJGRFKYRQ'H¿QLWLRQHQ des Religiösen oder des Politischen ab. So lässt sich die Rede der school shooter leicht mit einem apokalyptischen Diskurs christlich-theologischer Zurichtung verbinden. Die Taten der Schützen erscheinen in ihren Selbstaussagen oft als eine Art jüngstes Gericht. Bastian Bosse bezeichnet sich selbst als „god-like“, für Eric Harris und Dylan Klebold bildet die Religiosität die Negativfolie, vor der sie ihre Personae entwickeln. Wayne Lo läuft unter dem direkten, VHOEVWLQGX]LHUWHQ (LQÀXVV GHV -RKDQQHV(YDQJHOLXPV$PRN XQG ELOGHW VLFK HLQ LP Auftrag Gottes zu handeln. Nach seiner Tat „rief Wayne die Polizei und ließ sich abführen, im festen Glauben, er habe die Sünden der wahllos erschossenen gerächt.“90 Dylan Klebold schreibt in sein Notizheft: „Ich bin eine Waffe. Eine halbautomatische 45er Wildley. Ich bin Gott. Ich töte Menschen.“91 Seung-Hui Cho sieht sich in der Tradition Jesu Christi. In einem seiner Abschiedsvideos sagt er: „Thanks to you I die like Jesus Christ, to inspire generations of the weak and defenseless people.“ In analoger Weise docken school shooter an ideologische Diskurse und totalitäre Weltbilder an und so müssen ihre Taten zum Teil auch im Spektrum politischer Motivationen verortet werden. Eric Harris fasziniert die deutsche Sprache, in seinen 7DJHEFKHUQ ¿QGHQ VLFK LPPHU ZLHGHU GHXWVFKH :|UWHU XQG :HQGXQJHQ92 In der Schule schreibt er einen Aufsatz mit dem Thema „Die Kultur der Nazis“, in der er die Ereignisse in Deutschland während des Dritten Reichs deskriptiv rekapituliert. In VHLQHQSULYDWHQ7DJHEXFKHLQWUlJHQ¿QGHWVLFKGDQQHLQHRIIHQH%HJHLVWHUXQJIUGHQ deutschen Faschismus, er kritzelt Hakenkreuze auf einzelne Seiten und schreibt am 8. November 1998: „Dieser Nazi-Aufsatz stachelt meine Liebe zum Töten noch mehr an.“93 Er verherrlicht die „natürliche Selektion“ und diese gerinnt zum Baustein einer hybriden Konstruktion einer fragilen Ideologie: „Wie bei der frühen Nazi-Regierung ist mein Gehirn ein Schwamm, der alles aufsaugt, was cool klingt, und alles weglässt, was wertlos ist, so entstand der Nazismus, und so werde ich auch sein!“94

90 | Bartl (2001), S. 42 91 | Klebold, zitiert nach Gaertner (2009), S. 58 92 | In einem von ihm geschriebenen Dokument mit dem Titel NBK.doc, das später auf dem Server der Schule gefunden wurde, schreibt Harris: „Ich sage, dass er [der Ort Deutschland] cool ist, weil ich die deutsche Sprache und BRUTALEN Stoff liebe. >Kein mitleid fur die merheit< (deutsch im Original).“ Zitiert nach Gaertner (2009), S. 143 93_+DUULV]LWLHUWQDFK*DHUWQHU  6,QVHLQ-RXUQDOVFKUHLEWHUDP1Rvember 1998: „Übrigens kann ich nicht genug kriegen von den Swastika, der SS und dem Eisernen Kreuz. Hitler und seine Jungs haben ein paar Mal Scheiße gebaut, und das hat sie den Krieg gekostet, aber ich liebe, woran sie glaubten und wer sie waren, was sie taten und was sie wollten.“ Zitiert nach Gaertner (2009), S. 143 94 | Harris, zitiert nach Gaertner (2009), S. 141

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Die anklingenden diskursiven Formen der Eugenik sind bis zu Ernst August Wagners Gedanken zur Reinheit des Erbgutes zurückzuverfolgen.95 An ihnen lässt sich der widersprüchliche politisch-ideologische Zug in der Rede heutiger school shooter präparieren. Innerhalb eines eigentümlich paradoxen Prozesses koppeln sich die Täter von ihrer eigentlichen Stellung im Sozialgefüge ab und steigern die eigene Bedeutung ins Wahnhafte. Es entsteht eine unüberbrückbare Kluft zwischen der ersehnten und der möglichen Position in der sozialen Hierarchie. „Es wäre super, wenn Gott alle Impfstoffe und Warnhinweise weltweit beseitigen und die natürliche Auslese ihren Lauf nehmen lassen könnte. All die dicken, hässlichen, behinderten, verkrüppelten, idiotischen Arschgesichter auf der Welt würden sterben“, schreibt Eric Harris in sein Tagebuch.96 Damit legt er ziemlich konventionelle Muster der sozialen Inklusion und ([NOXVLRQ DXV GHQHQ HU OHW]WOLFK VHOEVW ]XP 2SIHU ¿HOH GHQQ QXU YLHU 7DJH VSlWHU schreibt er: „Ich habe immer gehasst, wie ich aussehe.“7URW]DOOHU'H¿]LWHGLHVLH an sich wahrnehmen, geht die vertextlichte Psyche der Täter mit diesen Allmachtsfantasien und der Idee von natürlicher Selektion einher. Eric Harris schreibt auf seiner :HEVLWHÄ:(,667'8:$6,&+/,(%("±1DWUOLFKH6(/(.7,21$OOGLH schwachen und dummen Organismen loswerden… Das ist nur natürlich!!!“98 Die Partikel des Politischen in der Rede der Täter verstreuen sich in divergente diskursive Ordnungen und so lassen sich die individuellen Motivationen auch vor den Hintergrund aktueller Phänomene wie dem Selbstmordattentat rücken. Pekka-Eric Auvinen verpackt in seinen Botschaften an die Welt krude ideologische Eigenkonstrukte. In seiner Attack Information, die er zusammen mit weiteren Dokumenten – jeweils in Finnisch und Englisch – vor seinem Amoklauf ins Internet stellt, will er nicht als school shooter verstanden werden, sondern gibt seinen Taten eine politische Dimension. So steht unter dem Stichpunkt „Attack Type“ zu lesen: „Mass murder, political terrorism (although I choosed the school as target, my motives for the attack are politiFDODQGPXFKPXFKGHHSHUDQGWKHUHIRUH,GRQ¶WZDQWWKLVWREHFDOOHGRQO\DVÃVFKRRO shooting‘).“ Destruktion und Autodestruktion gehen Hand in Hand. School shooter schaffen NHLQHÃEHVVHUH:HOWµNHLQH8WRSLHQ,KU'HQNHQXQG+DQGHOQIROJWNHLQHP*ODXEHQ jenseits der konventionalisierten binären Ordnungen wie hässlich/schön. Damit bleiben die von ihnen bildnerisch oder textuell erschaffenen Welten immer dem Prinzip einer ersten – von ihnen strikt abgelehnten – Welt verhaftet. Sie können sich nicht löVHQQXUGLH3ULQ]LSLHQGHU0DFKWXQGGLHVR]LDOHQ+LHUDUFKLHQXPNHKUHQÃ1DWUOLFKH 95 | Es ist kein Wunder, dass Wagners Überlegungen mit den im Dritten Reich installierten Selektionsmechanismen nationalsozialistischer Zurichtung verbunden wurden. Wagner steht damit in einer Tradition der Biopolitik, die auf Eugenik und der Reinheit des Erbgutes basiert. Siehe Rolf van Raden Patient Massenmörder – Der Fall Ernst Wagner und die biopolitischen Diskurse Münster 2009 96 | Harris, zitiert nach Gaertner (2009), S. 142 97 | Klebold, zitiert nach Gaertner (2009), S. 143 98 | Zitiert nach Gaertner (2009), S. 33

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Auslese‘ ist das Prinzip, das sie isoliert vom Ganzen der Schülergemeinschaft und dieVHV3ULQ]LSDI¿]LHUHQVLHXQWHUHLQHUNRPSOHWWHQ8PNHKUXQJGHU*HZDOWYHUKlOWQLVVH „Ich hasse euch dafür, dass ihr mich von so vielem, was Spaß macht, ausgeschlossen habt“, schreibt Eric Harris.99 School shooter bringen keine eigenständigen oder originellen künstlerisch-politiVFKHQ)RUPHQXQG)RUPHOQKHUYRULKUHÃ:HUNHµVLQGURKH0LVFKXQJHQYRUJlQJLJHU diskursiver Partikel.100 In diesem Sinne ist auch ihr Interesse an historischen Massenund Serienmördern wie Adolf Hitler oder Ed Gein zu sehen. Die Bezüge sind zwar immer mehr oder minder stark vorhanden, aber es lassen sich nur vage Beziehungen zwischen der Faszination für diese historischen Figuren und die Realisierung des school shootings beschreiben. Sie gehen in eine allgemeine Sympathy for the Devil-Haltung ein, die oft wie eine reine – und naive – Provokation wirkt. Im Gegensatz zu den medial verbreiteten Bildern von aktuellen school shootern, die eine konstitutive Rolle für die spätere Tat spielen, geht es bei in diesen Anlehnungen eher um eine allgemeine Abgrenzung der eigenen Person von gesellschaftlich anerkannten Ikonographien und Werten. Die Selbstzeugnisse und Subjektivierungsweisen der Täter sind hybride Gewebe, die die unterschiedlichsten Diskurse zu zumeist sehr widersprüchlichen Erzählungen GHU:HOWYHUÀHFKWHQ :LHHLQREHUÀlFKOLFKHU%OLFNDXIGDV%HLVSLHO%DVWLDQ%>RVVH@]X]HLJHQVFKHLQWNDQQ das zivilisations- und gesellschaftskritische Moment, das sich im Amok jeweils maniIHVWLHUWKDEHQVROOPXOWLSOH)RUPHQDQQHKPHQ±HVLVWHEHQXQVSH]L¿VFK6HLQHPDQgelhafte semantische Bestimmtheit und Präzision machen es offen für eine Vielzahl an Bedeutungen. Jede gesellschaftliche Problemlage kann sich zunächst im Amok zum Ausdruck bringen.101

Bosse revoltiert gegen sehr heterogene Widerstände und Erwartungen, denen er sich ausgesetzt fühlt – Vorstellungen eines konventionellen bürgerlichen Lebens, die Hierarchien innerhalb des sozialen Systems Schule, polizeiliche Maßnahmen, bis hin zu „Nazis, HipHoper, Türken, Staat, Staatsdiener, Gläubige... einfach alle sind zum kot99 | Harris, zitiert nach Gaertner (2009), S. 52 100 | Damit unterstehen sie dem zeitgenössischen Regime der Subjektbildung. „Subjektivierung ist, an den Kreuzungspunkten von Diskursen, Praktiken und Formung der Menschenführung (Gouvernementalität) und Selbsttechnologien angesiedelt, nicht auf HLQIHVWHVKRPRJHQHV6FKHPDYRQ6XEMHNWIRUPHQ]XUHGX]LHUHQVLHHQW]LHKWVLFKGHP Dualismus von Individuum und Gesellschaft als einem Verhältnis der Äußerlichkeit ebenso einer linearen Entfaltungslogik. Auf den ersten Blick scheinbar homogene Subjektformen erweisen sich bei näherer Betrachtung als in sich heterogene Gebilde, in denen sich verschiedene Subjektformen überlagern und die in sich durchaus zerbrechlich sind.“ Bublitz (2010), S. 80 101 | Bartz (2010), S. 66

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zen und müssen vernichtet werden!“102 Auf einer von Eric Harris im Internet veröffentOLFKWHQ:DVLFKOLHEH:DVLFKKDVVH/LVWH¿QGHQVLFKVHLQH9RUOLHEHIUQDWUOLFKH6Hlektion neben offenen Antipathien gegen die Werbung, Rapvideos und das Modelabel 7RPP\+LO¿JHU103'HU+DVVDXIGLH:HOWXPIDVVWNHLQHVSH]L¿VFKHQ6\VWHPH±ZHQQ solche auch hervorgehoben werden – die diskursive Ordnung der Rede verstreut sich, wie die Morde, ins Wahllose. Die Grenze zu psychopathologischen Kategorien wie erweitertem Selbstmord ist nicht klar zu ziehen. Autodestruktivität und soziale Destruktivität korrelieren mitunter. Manfred Wolfersdorf und Hans Wendler plädieren dafür, die Ursache suizidaler Handlungen aus der individuell-krankhaften Fallgeschichte herauszulösen und (erweiterten) Selbstmord im Kontext gesamtgesellschaftlicher Verschiebungen zu sehen – wodurch Amokläufe in den Blick der Suizidforschung rücken: Es scheint, als zwingen uns diese Ereignisse der letzten Jahre [Terrorsuizide und -atWHQWDWH$PRNOlXIH*HLVWHUIDKUHU@VXL]LGRORJLVFKJHVHKHQQHEHQHLQHUÃNUDQNKHLWVEHdingten Suizidalität‘ wieder auch den Blick auf eine Form von Suizidalität zu richten, die mit Kultur, Religion, mit individueller und kollektiver Beschämung zu tun hat, und bei der Suizidprävention letztlich politische, kulturelle und gesellschaftliche Aufgabe wird.104

Die normativ gezogene Grenze zwischen Mord und Selbstmord in Frage zu stellen ist im Folgenden die zentrale Thematik des .von Wolfersdorf und Wedler herausgegebenen Bandes Terroristen-Suizide und Amok, der 2002 – in einem Jahr, als die Eindrücke von den Anschlägen auf das World Trade Center am 11. September 2001 in New York noch frisch waren – erscheint.

Die Zeitlichkeit des school shooters Was Amok von anderen Arten des Mehrfachtötens differenziert, ist die zeitliche Verlaufsform. Amok ist eine Figur der Verausgabung, der destruktive Ausbruch vollzieht sich in sehr kurzen zeitlichen Einheiten, meist in nur wenigen Minuten, bei denen das Ziel die maximale Anzahl an Opfern ist.105 Dies unterscheidet Amok vom Serienmord, für den eine Phase der Abkühlung – d.h. zeitliche Intervalle zwischen den voneinander abgegrenzten einzelnen Taten – bestimmend ist. Die Tat des Serienmörders entfaltet sich dominant in der Zeit, der Amoklauf dagegen primär im Raum. Während der Serienmörder sich die Zeit als Leitdimension wählt und versucht, bei allen seinen Untaten ein pattern, eine Handschrift zu entwickeln und sie zugleich so weit zu 102_%RVVH  $EVFKLHGVEULHI,Q6]XPHOGD  6 103 | Vgl. Gaertner (2009), S. 32ff 104 | Wolfersdorf/Wedler (2002), S. 13 105 | Scheithauer und Bondü sprechen von einem singulären „Tatereignis“. Scheithauer/ Bondü (2008), S. 10

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YHUEHUJHQ GD‰ HU NHLQH 6SXU OHJW LVW GHU $PRNOlXIHU DQ GHQ 2UW JHEXQGHQ LQ HLQHU blutigen Parodie des letzten Gerichtes versucht er, an einem Ort so viele Menschen wie möglich umzubringen, um dann auch den eigenen Tod zu inszenieren.106

Die kurze Zeitspanne des akuten Ausbruchs ist klar zu differenzieren von der Dauer der Vorbereitung. Die langen Planungsphasen, die vor allem bei school shootern zu beobachten sind, beweisen den Wunsch nach Optimierung der Zerstörung. Das school shooting ist nur die endgültige Realisierung dessen, womit sich der school shooter VFKRQVHLW-DKUHQDXVHLQDQGHUVHW]W%HUHLWVGLH)UKIRUPGHV$PRNVNHQQWGDVÃVakit hati‘, die Phase dumpfen Brütens, in der sich der spätere Täter von seiner Umwelt zurückzieht. Gleiches lässt sich für die heutige Form des Amoks aufzeigen. Gerade anhand von school shooternLVWKlX¿JQDFKJHZLHVHQZRUGHQGDVVVLHVLFKDXIGLHVSlteren Morde lange vorbereiten, Plan und Umsetzung eine Latenzzeit von bis zu mehreren Jahren haben.108 Holger Engels, der Leiter der kriminalpolizeilichen Ermittlungen nach dem Amoklauf Bastian Bosses in Emsdetten 2006, schreibt: „Aus den konkreten Ermittlungen war erkennbar, dass B[osse] sich spätestens seit Mitte 2004 intensiver mit der Thematik der Planung und Durchführung eines Amoklaufs beschäftigt hat. Erste Foreneinträge, ein erster Entwurf eines Abschiedsbriefs und die erste Produktion HLQHV9LGHR¿OPHVVWDPPHQEHUHLWVDXVGLHVHU=HLW³109 Diese Phase der Vorbereitung ist ein ganz entscheidender Prozess auf dem Weg zur Realisierung eines school shootings, erfolgt doch hier der subjekttechnische Umbau der Persönlichkeit, der die Täter zu dem machen wird, als der sie in der medialen Rekonstruktion erscheinen werden.

Frequenzen und statistische Verteilungen Unter der Kritik am medialen Overkill nach jeder Tat geht ein Fakt oft verloren: school shootings häufen sich tatsächlich.110 Nicht nur die angedrohten school shootings, bei 106 | Seeßlen (1980), S. 239. Nur in seltenen Fällen begehen Amokläufer schon vor ihrer eigentlichen Tat Morde. Ausnahmen sind Kip Kinkel, der in der Nacht vor seinem Amoklauf 1982 seine Eltern hingerichtet hatte und Charles Whitman, der 1966 seine Frau und seine Mutter umgebracht hatte, ehe er sich auf dem Turm der University of Texas verschanzte und wahllos auf Passanten schoss. 107_9JO 6FKHLWKDXHU%RQG   6  0LW GHP Ã/HDNLQJµ DOVR GHQ $UWHQ GHV Durchsickern-Lassens von Information, sei es in Form von direkten Ankündigungen oder indirekten Warnzeichen wie dem Sammeln von Informationen zu früheren school shootings, hat sich in den letzten Jahren ein Forschungsfeld etabliert, das genau diese 3KDVHGHU3ODQXQJLQV9LVLHUQLPPW9JO6FKHLWKDXHU%RQG  6II 108 | Vgl. Scheithauer/Bondü (2008)f 109_(QJHOV  6 110 | Dieser Punkt ist heikel, denn die endlosen Aufzählungen vergangener Fälle lassen zuweilen den Eindruck entstehen, dass sich die Zahl der school shootings spektakulär erhöht hätte: „The intensity of the media coverage creates an equally intense reaction among mass media consumers, and as a result a few isolated events can quickly become

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denen die Dunkelziffer sehr hoch liegen dürfte – um Nachahmungstaten zu verhindern, werden sie kaum publik gemacht.111 Während andere Formen der Jugendgewalt DEQHKPHQHUK|KWVLFKGLH+lX¿JNHLWYRQschool shootings.112'LHXQVLFKHUH'H¿QLWLon der Termini Amok und school shooting sorgt natürlich auch hier für Unterschiede ]ZLVFKHQGHQYHUVFKLHGHQHQ$XWRUHQ'DHVNHLQHYHUELQGOLFKH'H¿QLWLRQGHV%HJULIIV gibt, kann es notwendigerweise keine absoluten Zahlen geben. Zudem hat sich die publizistische Aufmerksamkeit mit den Jahren auf das Thema verschoben und es ist fraglich, welche Fälle retrospektiv vergessen oder neu entdeckt wurden.113 Robertz folgt dem )LQDO UHSRUW DQG ¿QGLQJV RI WKH VDIH VFKRRO LQLWLDWLYH einem Dokument, das vom United States Secret Service und dem United States Department of Education herausgegeben wurde und lässt die Geschichte der school shootings beginnen.114 Auf einer Zeitleiste bis zum Jahr 2002 wird deutlich, dass die registrierten Fälle von Amokläufen an Schulen kontinuierlich zunehmen.115 Laut Robertz ist vor GHP-DKU±DX‰HU]ZHL9RUIlOOHQLQ.DQDGD±NHLQHLQ]LJHU)DOODX‰HUKDOE Amerikas bekannt. Erst nach dem 20. April 1999 – dem Tag des Columbine-Massakers ±EUHLWHWVLFKGDV3KlQRPHQVFKODJDUWLJEHUGHQ*OREXVDXV1RFK¿QGHQVchool shootings in Saudi Arabien, Deutschland und den Niederlanden statt. Und auch wenn bis heute die amerikanischen Fälle dominieren, so lässt sich eine weltweite Streuung des Phänomens beobachten – von Brasilien über Schweden bis nach Bosnien-Herzegowina.116 Dieser Anstieg der Zahlen und die weltweite Verbreitung sind nicht zuletzt den Nachahmungstaten geschuldet. Frank Robertz listet eine ganze Reihe von verhinderten oder realisierten Amokläufen in der Zeit nach Columbine auf, bei denen sich die Täter direkt auf Harris und Klebold bezogen. Gerade weil die beiden school shooter – im Kontext Amok – schnell zu einem medialen Ereignis bis dato unbekannten Ausmaßes stilisiert wurden. Harris und Klebold bekamen das, was sie bezweckt hatten: Ruhm GH¿QHGDVDPDMRUVRFLDOSUREOHP³6FKPLG  6'LHPHGLDOH3DQLNPDFKHZLH sie vor allem in Michael Moores BOWLING FOR COLUMBINE (USA 2002) vorgeführt wird, soll hier nicht unterstützt werden. School shootings sind, auch wenn sich ihre Anzahl in GHQHU-DKUHQVLJQL¿NDQWHUK|KWKDWH[WUHPVHOWHQH(UHLJQLVVH'HQQRFKLVWGLHVHU $QVWLHJLQGHU+lX¿JNHLW]XYHU]HLFKQHQ(VÄLVWDXIIlOOLJGDVVHVVHLW0LWWHGHUHU Jahre einen massiven Anstieg von jugendlichen Amokläufen gegeben hat.“ Hoffmann (2003), S. 40 111 | Vgl. Larkin (2009), S. 1318ff 112_5REHUW] D 6 113 | Hinderlich dabei ist wiederum, dass Amok keine eigene Straftat darstellt und somit auch die Zahlen der Kriminalstatistiken nicht genau sind. Vgl. Scheithauer/Bondü  6 114_9JO5REHUW]  6 115_9JO5REHUW]  6 116 | Vgl. Robertz (2004), S. 62ff 117 | Robertz (2004), S. 82ff. Vgl. auch Scheithauer/Bondü (2008), S. 55

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und Aufmerksamkeit. Mit ihren Taten setzte sich ein Prozess in Gang, der das Bild des school shooters merklich veränderte: „Tatsächlich ist der School Shooter als Figur […] zu einer subkulturellen Ikone geworden. Eine große Fortsetzungsgeschichte, an die sich immer wieder jugendliche Täter anschließen wollen.“118 Mit den Columbine-Attentätern begann desweiteren ein zunehmender Prozess der Selbstinszenierung, an den spätere Täter wie Bastian Bosse oder Seung-Hui Cho nahtlos anknüpfen konnten.119 Harris und Klebold verwalteten im Bewusstsein dessen, was passieren würde, durch ihre Aufzeichnungen schon vor ihrem Tod ihr Erbe – das eigene Bild, wie sie es später medial rekonstruiert sehen wollten. Dass ihre Tagebücher von der Polizei veröffentlicht wurden – ein Vorgang, der in Deutschland undenkbar wäre –, tat ein Übriges, um sie weltweit bekannt zu machen. In ihrer Nachfolge kopierten mehr und mehr school shooter die Technik der medialen Selbstinszenierung, bis die kruden Formen von Öffentlichkeitsarbeit zum substantiellen Teil der eigentlichen Taten gehörten. In der Post-Columbine-Ära ist zudem eine starke Ritualisierung zu beobachten, die sich – jenseits der Formen der Gestaltung des Selbstbildes – vor allem an Daten festmachen lässt. Harris und Klebold wählten den Tag ihres Amoklaufs nicht zufällig: Der 20. April ist Adolf Hitlers Geburtstag. In der Nachfolge wurde dieses spezielle Datum VFKQHOO]XHLQHPMRXU¿[HYRQschool shootern. Zwei weitere Amokläufe ereigneten sich exakt einen Monat nach Columbine – in Deutschland und in Saudi-Arabien, was ]HLJWGDVVVLFKGLH.XQGHDXV$PHULND¿HEHUKDIWGXUFKGLH.DQlOHJOREDOHU0HGLDOLtät arbeitete.120 Ähnliche Beobachtungen gab es nach dem Amoklauf von Emsdetten am 20. November 2006. „Hatte die Tat schon 2006 einige Trittbrettfahrer zu weiteren Amokdrohungen veranlasst, mussten auch ein Jahr später nach ebensolchen Drohungen deutschlandweit, insbesondere aber in Nordrhein-Westfalen, sicherheitshalber mehrere Schulen geschlossen werden.“121

Auswahl der Fälle Die Auswahl der zu untersuchenden school shootings ergibt sich aus der Prämisse dieser Arbeit: Zur Debatte stehen die Selbstinszenierungen der Täter vor dem Horizont medialen Erlebens, die Korrelation von medialen Bildern mit den Inszenierungsweisen der Täter und die Überblendung dieser Bilder in den sozialen Handlungsraum. Deshalb richtet sich der Fokus auf die am stärkten inszenierten und sich-selbst-inszenierenden Täter: Charles Whitman (1966), Kip Kinkel (1998), Eric Harris und Dylan Klebold  %DVWLDQ%RVVH  XQG6HXQJ+XL&KR  'HU]XDQDO\VLHUHQGH*Hgenstand besteht auf der einen Seite aus den medialen Inszenierungen von school shootingsLQ7H[WHQ5HSRUWDJHQ6SLHOXQG'RNXPHQWDU¿OPHQXQGDXIGHUDQGHUHQ6HLWHQ aus den Selbstinszenierungen der Täter in Tagebüchern, Videos und Skizzen. 118_5REHUW] D 6 119 | Vgl. Larkin (2009), S. 1311f 120 | Scheithauer/Bondü (2008), S. 5 121_6FKHLWKDXHU%RQG  69JODXFK5REHUW]:LFNHQKlXVHU  6

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Die Selbstzeugnisse der Täter Die audiovisuellen und textlichen Selbstinszenierungen der school shooter lassen sich in drei Kategorien aufteilen, wobei es immer wieder zu Überschneidungen zwischen GHQHLQ]HOQHQÃ*HQUHVµNRPPW Manifestartige Bekenntnisse, in denen die school shooter die Gründe für ihre Taten darlegen, eine Anamnese ihres Falls vornehmen. Solche reinen Manifeste gibt es von Bastian Bosse und Seung-Hui Cho. Ein Sonderfall sind die BASEMENT TAPES von Eric Harris und Dylan Klebold, die nach den Taten an der Columbine Highschool nicht veröffentlicht wurden. 1999 wurde ein kleiner Kreis von Journalisten zu einer Sichtung eingeladen. Eine Analyse kann also nur aufgrund der Berichte, die danach entstanden und veröffentlicht wurden, erfolgen. Mit den manifestartigen Bekenntnissen richten sich school shooter direkt an ein imaginiertes Publikum, das die Bilder nach ihren Taten sehen soll. Deshalb ist ein Kennzeichen dieser Filme der direkte Blick in die Kamera. Daneben gibt es dokumentartige Videos, bei der die Kamera die Position eines scheinbar unabhängigen Beobachters einnimmt. Ein Beispiel ist der Film RAMPART RANGE von Eric Harris und Dylan Klebold, der die späteren school shooter mit Bekannten bei Schießübungen im Wald zeigt. Die Bilder wirken unverstellt, die Kamera wird nicht explizit adressiert. Ein hybrides Genre bilden demnach die eingangs beschriebenen kurzen Filme von Matti Juhani Saari, die Kennzeichen beider Formen – GHV0DQLIHVWHVXQGGHVÃ9LGHRGRNXPHQWVµ±WUDJHQ (LQHZHLWHUH)RUPGHUDXGLRYLVXHOOHQ6HOEVWLQV]HQLHUXQJELOGHQ¿NWLRQDOH.XU]VSLHO¿OPH%HLVSLHOHGDIUZHUGHQLP/DXIHGHU$UEHLWDXVIKUOLFKDQDO\VLHUWEHVRQders HITMEN FOR HIRE von Eric Harris und Dylan Klebold und das ROCK’N’ROLLVideo von Bastian Bosse. Im Bereich der schriftlichen Selbstaussagen lässt sich das vorhandene Material JURELQ]ZHL.DWHJRULHQXQWHUWHLOHQLQRI¿]LHOOHXQGLQRI¿]LHOOH'RNXPHQWH$XIGHU einen Seite stehen die Tagebücher der school shooter als vermeintlicher Ausdruck eiQHVÃLQWLPHQ(LQEOLFNVµDXIGHUDQGHUHQ6HLWHGLHGLUHNWDQGLH0HGLHQXQGGLH,QWHUnetgemeinde gerichteten Manifeste und Abschiedsbriefe. Diese Differenz ist allerdings nur theoretisch zu ziehen, Eric Harris und Dylan Klebold waren sich vor ihrem Tod der späteren medialen Aufmerksamkeit voll bewusst, wären ihre Tagebücher nicht für fremde Augen bestimmt gewesen, sie hätten sie vor ihrem Amoklauf vernichtet. Die Tagebücher von Bastian Bosse waren Teil des Dokumentenpaketes, das er an Bekannte VFKLFNWHHKHHUDP1RYHPEHUDQVHLQH6FKXOHIXKU122 Mit den Materialien der school shooter verbindet sich ein Problem: die Verfügbarkeit. Die Verantwortlichen der jeweiligen Videoplattformen wie YouTube.com und ähnlicher Provider sind mittlerweile sehr schnell geworden, was das Löschen der entsprechenden Dateien betrifft. Innerhalb weniger Stunden verschwinden die Selbstaussagen. Zum Teil tauchen sie an anderen, unkontrollierbaren Stellen wieder auf. Oft QXUDOV(UJHEQLVVHNXQGlUHU%HDUEHLWXQJHQ'LH)UDJPHQWHGHV.XU]¿OPVHITMEN FOR 122_9JO6]XPHOGD  6

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HIRE von Eric Harris und Dylan Klebold gibt es in unzähligen Montagevarianten, mit dem Originalton, mit Songs unterlegt, die diejenigen ausgewählt haben, die das ReDUUDQJHPHQWRQOLQHJHVWHOOWKDEHQ'DVÃ2ULJLQDOµLVWYHUORUHQ6HXQJ+XL&KRV$Eschiedsvideos waren a priori den Sendestrategien der Nachrichtensender unterstellt, schickte der campus shooter sein Material doch exklusiv an NBC news. Die Zensurpraktiken der Provider und Fernsehsender sind nicht immer zu durchschauen. Wird in der diskursiven Verhandlung der BASEMENT TAPES eine Urban Legend geschaffen, so ist das Abschiedsvideo Bastian Bosses auch Jahre nach seiner Tat immer noch auf Plattformen wie YouTube.com]X¿QGHQÄ7KH¿UVWYLGHRWDSHLVDOPRVWXQEHDUDEOHWR watch“, heißt es aus dem exklusiven Kreis derjenigen Journalisten, die der Vorführung der BASEMENT TAPES beiwohnen durften.123 Das Interesse einer Vielzahl von Jugendlichen dürfte damit nachhaltig geweckt sein.

Die Frage der Mediendifferenz Die jeweiligen Medien werden nicht in ihrer Differenz, sondern in ihren Gemeinsamkeiten im Hinblick auf ihre konstitutive Leistung im Prozess des Werdens des school shooters untersucht. Primär geht es um die Formen der Wahrnehmung und des Erlebens von Welt, den performativen Anleitungen, die mediale Inhalte bereitstellen. Dabei werden Bildräume – die sich sowohl aus textuellen wie audiovisuellen Werken präparieren lassen – tradiert, transformiert oder entstehen im Gebrauch eines Mediums neu. Wo eklatante Differenzen auftreten, werden sie entsprechend thematisiert. Ausgeklammert wird die Debatte um den Realismus der Bilder, wie sie etwa in der journalistischen Berichterstattung im Hinblick auf das Telos technischer PerfekWLRQLHUEDUNHLW GHU Ã5HSUlVHQWDWLRQ YRQ 5HDOLWlWµ ]XZHLOHQ JHIKUW ZHUGHQ124 Bilder stellen Realität her, indem sie Wahrnehmungsweisen und Erfahrungsmodi von sozialer Wirklichkeit realisieren. Die Realismusdebatte, wie sie im journalistischen Diskurs geführt wird, impliziert die Existenz einer vormedialen Wirklichkeit und kann deshalb ausgeschlossen werden.125 Von Bedeutung wird allein sein, welcher Realismusbegriff im Hinblick auf den school shooterDQ]XVHW]HQLVW'DVÃ3OXVDQ5HDOLWlWµGDV]XP%HLVSLHOLPhEHUJDQJYRP¿OPLVFKHQ]XPGLJLWDOHQ%LOGLP+LQEOLFNDXIEgo-ShooterSpiele konstatiert wird, entpuppt sich schnell als Tradition der kritischen Verhandlung des Bildlichen, der sich über die frühen Diskussionen um das Medium Film in den virtuellen Raum des Computerspiels tradiert. Wie Julian Kücklich sehr treffend feststellt, speist sich auch der vorgeblich perfektionierte Realismus der Darstellung in Computerspielen aus den zeitgenössischen Vorstellungs- und Wahrnehmungsgewohnheiten. „In populären Computerspielen wie Counterstrike, Quake oder Unreal Tournament 123 | Gibbs et al. (1999) 124 | Vgl. Mertens (2006), S. 250ff 125 | Damit einher geht die Ablehnung der Formel von der Manipulation der Realität durch die Medien. „Denn die Vorstellung der Manipulation setzt voraus, daß es ein %HZX‰WVHLQYRQ¾GHU:LUNOLFKNHLW½MHQVHLWV GHU>PHGLDOHQ@%HHLQÀXVVXQJJLEW³.OHLQ (1999), S. 289



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ZLUGGHXWOLFKGDVVEHVWLPPWH'DUVWHOOXQJVZHLVHQQXUGHVKDOEDOVÃUHDOLVWLVFKµZDKUgenommen werden, weil wir sie so aus dem Kino kennen.“126 Statt strikt differenzierte Territorien für sich zu beanspruchen, informieren sich Film- und Computerspielbilder gegenseitig, generieren sich in ihren Verhältnis zueinander. „An der gegenseitigen BeHLQÀXVVXQJGHUEHLGHQ0HGLHQOlVVWVLFK]HLJHQGDVVGDV&RPSXWHUVSLHOGLH¿OPLVFKHQ Konventionen nicht nur assimiliert, sonder auch transformiert. In veränderter Gestalt tauchen sie dann wieder im Medium des Films auf, das zunehmend Inhalte und Formen des Computerspiels übernimmt.“$PHYLGHQWHVWHQZLUGGLHVHEHQDQ9HU¿OPXQJHQ von Videospielen, wie DOOM (Andrzej Bartkowiak, UK 2005) oder RESIDENT EVIL (Paul W.S. Anderson, UK 2002).

126 | Kücklich (2004), S. 220. Mathias Mertens bringt diese Position noch einmal pointiert zum Ausdruck: „Weil es in den allermeisten Fällen keine eigene Erfahrung mit exzessiver Gewaltausübung gibt, gibt es auch kein Wahrnehmungsmodell davon, man kann deshalb nicht vergleichen, ob die dargestellte Gewalt wirklich realer Gewalt entsprechen würde oder nicht.“ Mertens (2006), S. 252 127 | Kücklich (2004), S. 221

III. Mediale Epidemien – Formen der Ausbreitung

Werther-Effekt Für die Nachahmungstaten im Umkreis von school shootings lassen sich (historische) 9HUJOHLFKVIlOOH¿QGHQ'LH$QSDVVXQJGHVHLJHQHQ9HUKDOWHQVDQUHDOHRGHU¿NWLYH9RUbilder wurde auch in anderen Zusammenhängen untersucht. Am besten erforscht sind Phänomene der Nachahmung im Kontext von Selbstmorden. Das auslösende Moment GHVLPLWDWLYHQ9HUKDOWHQVEHQDQQWHGHUDPHULNDQLVFKH6R]LRORJH'DYLG3KLOLSSV QDFK*RHWKHVHUVFKLHQHQHP5RPDQDie Leiden des jungen Werther als WertherEffekt.1$XIGLHVH:HLVHPDFKW3KLOLSSVEHJULIÀLFKGHQ=XVDPPHQKDQJ]ZLVFKHQ¿Ntiver Vorlage und sozialer, individueller Wirklichkeit deutlich. Im Europa des 18. Jahrhunderts traten Fälle auf, bei denen Rezipienten nach der Lektüre von Goethes Werk GHQ)UHLWRGZlKOWHQZREHLVLHVLFKZLHGLH5RPDQ¿JXUNOHLGHWHQXQGGDV%XFKEHL sich trugen, als sie gefunden wurden.2 Zahlreiche Studien betonen die enge Verbindung ]ZLVFKHQPHGLDOHU'DUVWHOOXQJYRQ±¿NWLYHQRGHUUHDOHQ±6HOEVWPRUGHQXQGJDQ]HQ Selbstmordepidemien, in denen die schriftliche oder audiovisuelle Vorlage als Modell für Nachahmungen diente.3 Die Variablen, die eine Nachahmung wahrscheinlich machen, sind weithin bekannt. Die Gefahr erhöht sich je intensiver berichtet wird / je verfügbarer die Medien sind, in denen berichtet wird / je höher die Anzahl der Rezipienten ist / je ähnlicher die Rezipienten der Person sind, die sich getötet hat / je jünger die Altersgruppe der Rezipienten ist / je positiver und prominenter der Mensch erscheint, der sich getötet hat / je positiver die Konsequenzen des Suizids geschildert werden / je heroisierender die Darstellung der Selbsttötung ist.4

1 | 3KLOLSSV  6 2_9JO$QGUHH  6II 3_5REHUW]:LFNHQKlXVHU  6II 4_5REHUW]:LFNHQKlXVHU  6

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(LQHLPSRVDQWH$XI]lKOXQJYRQ6HOEVWPRUGHSLGHPLHQ¿QGHWVLFKEHL&ROHPDQ1HEHQ GHQÄ7HHQDJH&OXVWHUV³±:HOOHQYRQ6HOEVWPRUGHQXQWHU-XJHQGOLFKHQ±¿QGHWVLFK auch eine ganze Reihe von Nachahmungstaten, die im Zuge der medialen Berichterstattung nach dem Selbstmord des Nirvana-Sängers Kurt Cobain auftraten.5

Ein fr üher Fall von Nachahmung: Der Veitstanz Ein historisches Beispiel für ein Nachahmungsphänomen ist die Tanzwut – der sogenannte Veitstanz, benannt nach einem Kloster zu Ehren des Heiligen Veit, in dem eine Gruppe von Tanzenden 1418 interniert wurde. Die Tanzwut breitete sich epidemisch im Europa des 14. und 15. Jahrhunderts – also in einer Zeit in der auch die ersten Berichte vom Amok aus der neuen Welt eintrafen – aus. Scheinbar ohne Anlass begannen Menschen auf den Straßen zu tanzen, zogen von Ort zu Ort, tanzten bis zur Besinnungslosigkeit oder bis zum Tode.6 Die Beschreibungen des Phänomens korrelieren mit den Charakteristiken des Amoks. So wird von einer anfallartigen Plötzlichkeit berichtet: „Begleitet ist sie meist von kataleptischer Starre oder unwillkürlichen, unmotivierten, ekstatischen (Tanz-)Bewegungen, oft verbunden mit völliger Anaesthesie und nachfolgender Amnesie oder wenigstens der Unmöglichkeit, das Erlebte zu beschreiben.“ Anfall und Vergessen, Außer-Sich-Sein, Besessenheit, religiöser Wahn, der Riss zwischen Innen und Außen: die Beschreibungsmodi sind dieselben, ganz egal RE HV VLFK XP GLH Ã$UFKDLNµ 2VWDVLHQV RGHU GDV$UFKDLVFK:HUGHQ JDQ]HU %HY|ONHrungsteile handelt – und ohne dass eine Verbindung zwischen den beiden sozialen Erscheinungsformen im zeitgenössischen Wissen gezogen würde. Amok und Veitstanz VLQGN|USHUOLFKH$XVGUFNHRKQH:RUWHÄHLQYHUERUJHQHVXQEHJUHLÀLFKHV*HKHLPQLV […], weit jenseits des bewußten Erlebens stehend, nie in Gedanken [zu] fassen, in Worten [zu] beschreiben.“8 Die Darstellungen der Tanzwut lesen sich wie die Fallgeschichte einer Konversionshysterie aus dem frühen 20. Jahrhundert oder wie das Echo der (Un-)Worte des Arztes in Stefan Zweigs Amok-Novelle. (V¿QGHQVLFK]DKOUHLFKHZHLWHUHbKQOLFKNHLWHQ]XUGLVNXUVLYHQ9HUKDQGOXQJGHV Amoks. Joseph Schuhmacher sieht „sichere Zusammenhänge mit den Kultformen der Urvölker, die im Unterbewußtsein weiter leben mochten und gelegentlich wieder zum 5 | Coleman (2004), S. 192ff. Damit verbunden ist die Frage nach einer Ethik der medialen Berichterstattung, die über die Ambivalenz zwischen dem Wunsch nach privater Trauer und öffentlichem Interesse hinausgeht. Auf der einen Seite steht das Bedürfnis nach einer informierten Öffentlichkeit, auf der anderen die statistische Sicherheit, dass Berichte über spektakuläre Verbrechen bzw. Selbstmorde Nachfolgetaten auslösen werden. Am klarsten hat Michael Althen dieses Dilemma nach Robert Steinhäusers Amoklauf 2002 zusammengefasst: „Die Diskussionen [nach Erfurt] werden niemanden abschrecken, sondern dem nächsten Verrückten den Weg weisen. Und dennoch muß man sie führen. Das ist das Dilemma, das wir sehenden Auges eingehen.“ Althen (2002) 6 | Vgl. Hecker (1964), S. 143f 7_6FKXKPDFKHU  6 8_6FKXKPDFKHU  6

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Durchbruch kommen konnten.“9 Sieht man von der spekulativen Begründung eines kollektiven Unbewussten ab, so fällt die Zitation der Ungleichzeitigkeit auf, wie sie EHUHLWVLP=XVDPPHQKDQJPLWGHP$PRNODXI]XEHREDFKWHQZDU,P=XJHGHVÃ=LYLlisationsprozesses‘ an sich ausgeschlossene Verhaltensweisen tauchen scheinbar konWH[WORV]XHLQHPVSlWHUHQ=HLWSXQNWGHU*HVFKLFKWHLQOHLFKWPRGL¿]LHUWHU)RUPZLHGHU auf. J.F.C. Hecker leitet den VeitstanzDXVGHQ)HLHUQ]XP-RKDQQLVWDJYRQDE der Kult um den Heiligen entspringt verbotenen Riten des Aberglaubens, die sich im Johannisfeuer ins Christentum tradierten.10 'LH ,QIHNWLRQ PLW GHP DEQRUPHQ 9HUKDOWHQ ¿QGHW QRFK ± DXIJUXQG PDQJHOQGHU medialer Kanäle – sozial, d.h. von Mensch zu Mensch statt. „Von einzelnen, motorisch unruhigen, an Cholera oder Epilepsie wirklich erkrankten Menschen wurden die MasVHQVXJJHVWLYEHHLQÀX‰WXQG]X+XQGHUWHQYRQHLQHUXQVWLOOEDUHQ6XFKW]XP7DQ]HQ befallen.“11 J.F.C Hecker spricht noch expliziter von „Nachahmung“, um sein Anliegen dann in poetisch angehauchten Sätzen zum Ausdruck zu bringen: „Es schien der Mühe werth, Krankheiten zu beschreiben, die sich auf den Strahlen des Lichtes, auf den Flügeln der Gedanken verbreiten, Krankheiten, welche durch sinnlichen Reiz den Geist erschüttern und in die Nerven, die Wege seines Willens und seiner Gefühle, wunderbar ausstrahlen.“12 Die blumigen Worte Heckers deuten eher auf eine Infektion über den Fernseher oder das Kino („Strahlen des Lichts“). Zudem das mediale Erleben die Wut zum Tanz zu verstärken scheint: „Daßs die Kranken von der Musik heftig ergriffen, und ihre Anfälle dadurch erregt und verstärkt wurden, liegt in dem Wesen dieser und anderer Nervenkrankheiten.“13

Hystories: Es ist nie zu spät für eine (un-)glückliche Kindheit Elaine Showalter benennt solche kulturellen Symptomatiken der Nachahmung „Hystories“, um die Verknüpfung zwischen einem psychopathologischen Leiden (hysteria) und einer Erzählung (stories) deutlich zu machen.14 Die Autorin zeigt auf, wie bestimmte individuelle Dispositionen mit medialen Nachrichten zusammenwirken und so Krankheitsbilder entstehen, die sich mehr und mehr ausbreiten. Sie wählt einen psychologischen Ansatz und beschreibt diese Phänomene als Folge des Drucks auf das

9_6FKXKPDFKHU  6 10_6FKXKPDFKHU  6 11_6FKXKPDFKHU  6 12 | Hecker (1964), S. 152f 13 | Hecker (1964), S. 160 14 | Elaine Showalter Hystorien – Hysterische Epidemien im Zeitalter der Medien Berlin $XFKDQGHUHVR]LDOWKHRUHWLVFKH0RGHOOHEDVLHUHQDXI7HFKQLNHQGHUPLPHWLVFKHQ Übertragung – ob nun sozial oder medial –, etwa das in Anlehnung an die Evolution des Gens benannte Paradigma der „Meme“ oder die Sozialtheorie Gabriel de Tardes. Vgl. Susan Blackmore Die Macht der Meme Heidelberg 2000 und Gabriel de Tarde Die Gesetze der Nachahmung Frankfurt am Main 2003

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individuelle Unbewusste, „legitime Symptome zu produzieren.“15 Legitim in dem Sinne, als zu bestimmten Zeiten nur gewisse Leiden als Krankheit sozial gebilligt werden und der subjektive Schmerz sich verkleiden muss, um gehört und anerkannt zu werden. Anhand der Ausführungen Showalters lässt sich der Zeitmodus der Erzählung, in dem die Personen, die sich von einem bestimmten Leiden befallen fühlen, ihre eigene Lebensgeschichte umschreiben, bennen: das „futur antérieur“: „Das, was sich in meiner Geschichte darstellt ist nicht die abgeschlossene Vergangenheit dessen was war weil es nicht mehr ist, auch nicht das Perfekt dessen was gewesen ist in dem was ich bin, sondern das futur antérieur dessen, was ich gewesen sein werde für das, was ich zu werden im Begriff bin.“16'LHÃ(UNUDQNWHQµUHNRQVWUXLHUHQLKUH%LRJUD¿HDOOHLQ im Hinblick auf die Person, die sie gewesen sein werden und als die sie gesehen werden wollen. Die Unterschiede zwischen der Rezeption von medialen Inhalten und sozialer Wahrnehmung beginnen zu verschwimmen: „Ihre Geschichten entstammen den Mythen des Alltags, der Populärkultur und Folklore, den Fernsehnachrichten und der Literatur.“18 Die objektive Messbarkeit erfahrenen Leids spielt dabei eine untergeordnete Rolle, wichtig ist, wie Sigmund Freud für das Trauma festgestellt hat, allein das subjektive Erleben.19 Als Beispiel können die Shell-Shocks im Ersten Weltkrieg dienen.20 Showalter widmet verschiedenen Hystories ihre Aufmerksamkeit: dem chronischen Müdigkeitssyndrom, dem Golfkriegssyndrom, der wiedergewonnenen Erinnerung, der Entführung durch Außerirdische – um nur einige zu nennen.21 15_6KRZDOWHU  6 16_)OXFN  60LWGLHVHU=HLWNRQVWUXNWLRQYHUVXFKHQGLH$XWRUHQGHUCahiers du Cinéma die ideologischen Implikationen in der Erzählung von John Fords Film YOUNG MR. LINCOLN (USA 1939) zu fassen. Elaine Showalter merkt zur rekonstruktiven Konstruktion an: „Sobald sie [die Patienten] also die Gesetzmäßigkeit einer bestimmten Störung in ihrem Leben wirksam glauben, […] schreiben manche Patienten ihre persönOLFKH*HVFKLFKWHQHX³6KRZDOWHU  6 17 | Es stellt sich ein Teufelskreis aus Feedback-Schleifen ein. Ärzte diagnostizieren ein neues Symptom, publizieren es, neue Patienten werden durch das geteilte Wissen per 6HOEVWGLDJQRVH HUVFKDIIHQ XVZ 9JO 6KRZDOWHU   6  'DV %LOG GHU .UDQNKHLW ZLUG DOVR LP :HFKVHOVSLHO YRQ 3DWLHQW XQG $U]W HQWZRUIHQ PRGL¿]LHUW GLIIHUHQ]LHUW XQGVSH]L¿]LHUW 18_6KRZDOWHU  6 19 | Freud/Breuer (1969), S. 84 20_9JO6KRZDOWHU  6IXQGI 21 | Eine der treibenden Kräfte hinter dem Phänomen der UFO-Entführungen war ein 0DQQQDPHQV:KLWOH\6WULHEHUYHU|IIHQWOLFKWHHUVHLQHÃ$XWRELRJUD¿HµXQWHUGHP Titel Die Besucher und gibt damit den Handlungsrahmen, den Plot für die mediale VerEUHLWXQJGHV(QWIKUXQJGXUFK$X‰HULUGLVFKH3KlQRPHQVYRU 9JO6KRZDOWHU   S. 266). Bemerkenswert im Kontext dieser Arbeit ist, dass Strieber jahrelang vorgab, am 1. August 1966 in Austin, Texas gewesen zu sein – und das campus shooting Charles :KLWPDQVDXVQlFKVWHU1lKHPLWHUOHEW]XKDEHQ 9JO6KRZDOWHU  6 ,QDie

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Ein weiterer wichtiger Punkt in den Überlegungen Showalters ist im Hinblick auf das Phänomen school shootings beachtenswert: Das iterative Moment der Erzählung entfaltet eine starke (Eigen-)Dynamik. Anders formuliert: Je öfter die Geschichten erzählt werden, desto wahrer werden sie. Dieser Mechanismus ist schon in der psychoanalytischen Praxis Sigmund Freuds zu beobachten: „Hystorien weisen untereinander Ähnlichkeiten auf oder entwickeln sie beim Wiedererzählen – was viele Ärzte und Wissenschaftler zu der Überzeugung gebracht hat, diese Geschichten müßten wahr sein. […] Freud [bestand] darauf, daß das, was seine Patientinnen ihm unter Hypnose erzählten, wegen der »Uniformität in gewissen Einzelheiten« wirklich geschehen sein mußte.“22 Wie die Erzählungen der Hysteriker in Freuds Praxis haben sich school shootings seit ihrem ersten Auftreten in ein fast schon monoton wiederholtes Ereignis verwandelt. Die Schemata der Berichterstattung gleichen sich mehr und mehr an. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Quellen und Dokumente leicht gefälscht werden können. Verwiesen sei hier auf die angebliche Amokdrohung Tim Kretschmers, die die Polizei aufgrund von Hinweisen einen Tag nach dem school shooting GHV MlKULJHQ Schülers im Internet gefunden hatte und die sich im Nachhinein schnell als Fälschung herausstellte.23 School shootings unterliegen in der Zwischenzeit einem bestimmten Ablaufprotokoll, Bekennerschreiben können gefälscht werden, weil eine bestimmte )RUPXQGHLQVSH]L¿VFKHU,QKDOWPLW(UZDUWXQJHQDXIGHU6HLWHGHU3ROL]HLE]ZGHU Medien korrespondiert.24 Analog zur Berichterstattung in den Medien – also dem Bereich der kulturellen Verarbeitung und Vermittlung – gleichen sich auch die Aussagen der Täter immer stärker an. School shooterVHW]HQHLQHQ3UR]HVVGHU*HVFKLFKWVVFKUHLEXQJYRQÃ,QQHQµLQ Gang, indem sie sich untereinander aufeinander beziehen. Diese Beziehungen sorgen für eine Uniformierung der Täterperspektive, die Entfaltung einer Rede, die im Sinne einer Hystorie in wesentlichen Punkten korreliert. Der Prozess zunehmender Verdichtung ist auch hier in den Littleton-Morden 1999 zu sehen.25 Der von Dylan Klebold und Eric Harris in ihren Selbstdarstellungen angekündigte Plan einer globalen Revolution der Opfer an Schulen, bei der sie nur die ErsBesucher leugnet er diese Darstellung: „Jahrelang habe ich etwa behauptet, dabeigewesen zu sein, als Charles Whitman 1966 seine Schießerei vom Turm der Universität von Texas aus veranstaltete. Aber ich war nicht dort.“ Strieber (1988), S. 115 22_6KRZDOWHU  6 23 | Vgl. Bornhöft et al. (2009), S. 33 24 | Zwei Punkte in der Berichterstattung nach Winnenden verstärkten den Eindruck, dass school shootings mittlerweile als Katastrophenszenario einkalkuliert werden: Zum einen sprach die Polizei vor Ort immer wieder von einem „Amok-Szenario“ – das PhäQRPHQLVWDOVREHJULIÀLFKVSH]L¿]LHUW=XPDQGHUHQZDUQWHGHU'LUHNWRUGLH6FKOHUXQG Lehrkräfte per Lautsprecher, seine Losung „Frau Koma [= Amok] kommt“. Vgl. Vogl (2009), S. 46 25 | Vgl. Larkin (2009), S. 1314ff

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ten und das initiierende Moment einer langen Reihe ähnlicher Taten sein wollten, ging tatsächlich ein Stück weit auf. Harris und Klebold imaginierten sich als Vorhut einer PHGLDOHQ 6HULDOLWlWXQGUHÀHNWLHUWHQRIIHQEHULKUHQ6WDWXVDOV9RUELOGHUIUVSlWHre school shooter: „Ich weiß, wir werden Nachahmer haben, weil wir so verdammt gottähnlich sind.“26 Die Begeisterung für ihre Avantgarde-Rolle deckt sich mit ihrer )DV]LQDWLRQIU)KUHU¿JXUHQ±YRQ$GROI+LWOHUELV&KDUOHV0DQVRQ Nach Robert Steinhäusers Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt am 26. April 2002 fand die Polizei auf dessen Computer eine detaillierte Dokumentation der Littleton-Morde. Die obsessive Begeisterung Bastian Bosses für Eric Harris ist bekannt und gipfelte in dem Satz: „ERIC HARRIS IST GOTT.“28 In seinen Aufzeichnungen kreist Bosse immer wieder um die Idee einer „RebVodlution“ – benannt nach den Pseudonymen GHU1DPHQVJHEHUÃ5HEµ (ULF+DUULV XQGÃ9R'.Dµ '\ODQ.OHEROG ±XQGVLHKWVLFK tatsächlich in dieser Tradition, die in seinen Augen 1999 begonnen hat.29 Auch Pekka-Eric Auvinen war ein Fan von Harris und Klebold: „In den Wochen [vor seinem Amoklauf] hatte er schon Videos auf die Seite [YouTube] gestellt, in denen er unter anderem den beiden Schülern huldigt, die 1999 in den USA in Littleton an der Columbine High School zwölf Schüler und einen Lehrer erschossen hatten.“30 Die sich etablierende Tradition der school shootings spiegelt sich so in der jeweiligen Fallgeschichte. Der 15-jährige Schüler Thomas Solomon läuft am 20. Mai 1999 an der Heritage High School Amok. Frank Robertz ordnet den Fall unter der Kategorie Nachahmungstaten ein, was schon allein aufgrund des Datums – genau einen Monat nach Columbine – vollkommen plausibel erscheint. In seinen Tagebucheinträgen thematisiert Solomon seine Vorbilder direkt: „One big question everyone’s probably wondering DERXWQRZLV:+¿QGHW@³%XEOLW]  6 104 | Harris, zitiert nach Gaertner (2009), S. 123f 105_:LH +DQV %HOWLQJ EHU GHQ JHJHQOlX¿JHQ 3UR]HVV YRQ .RQVWUXNWLRQ XQG 9HUeinnahmung schreibt: „Die Bildproduktion hat immer eine Standardisierung der individuellen Bilder bewirkt, und doch schöpfte sie ihrerseits aus einer zeitgenössischen Bilderwelt ihrer Betrachter, die eine kollektive Wirkung überhaupt erst ermöglicht hat.“ Belting, (2001), S. 20 106 | Vogl (2009), S. 46

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führe eine Schlacht aus, ich muss viele Leute vor dem Tod retten.“ Erst nach einigen Tagen kommt er wieder zu sich, verlässt die „Traumwelt“.108 School shooter hingegen verschwinden nicht im Raum der Bilder und Geschichten, ihre Selbstinszenierungen bringen die mediale und die soziale Welt in ein kommunikatives Verhältnis. Die Täter ersetzen nicht die eine durch die andere Welt, sondern die Konfrontation zwischen den Wahrnehmungsweisen – ihrer eigenen und der aller anderen – wird zu jeder Zeit bewusst mitgedacht. Es bleibt ein Bewusstsein der eigenen Schuld, die Folgen des eigenen Handelns werden in Kauf genommen, nicht durch einen Ich-Verlust ins Positive verkehrt. Der Junge aus Italien hat offensichtlich kein soziales Wirklichkeitsbewusstsein mehr, während school shooter das Aufeinandertreffen ]ZHLHUNRQWUlUHU5lXPHDOV3Ul¿JXUDWLRQYRQ(UOHEHQPLWLKUHQ6HOEVWLQV]HQLHUXQJHQ XQG7DWHQLQ6]HQHVHW]HQ'DVÃ,FKµJHKWQLFKWYHUORUHQHVEOHLEWHLQUHÀH[LYHU$Estand zu den Filmen, Spielen und der Musik, die sie schätzen und lieben. Die Intensität und vor allem die Dauer des jeweiligen Mediengebrauchs bzw. -konsums spielt in den Beschreibungen von Ich-Verlusten durch medialen Konsum eine wesentliche Rolle. Übersteigt die Zeit des Erlebens in virtuellen Welten die zeitlichen Einheiten, die in der sozialen Welt verbracht werden, so scheinen abnorme Verhaltensweisen fast schon unausweichlich. Heiko Christians nennt dies die „Dosierung“ der Lektüretätigkeit, d.h. Stärkegrad und Wiederholung entscheiden über das Hineinwachsen in eine mediale Figur: 'LHVH$XIKHEXQJGHU7UHQQXQJYRQ¿FWLRQXQGIDFWLRQLVWOHVHWHFKQLVFKEHVVHUEHQXWzertechnisch relativ leicht zu erklären: Steigt die Zahl der Wiederholungen, der Spielund Lesedurchgänge, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass die Rückkehr aus der Fiktion schließlich ausbleibt, wächst der Drang, in der wirklichen Welt nach den Maßstäben der Fiktion zu handeln.109

Statt die medialen und die realen Räume diametral gegenüberzustellen und eine verfehlte Rückkehr aus dem Rezeptionserlebnis zur Disposition zu stellen, soll an dieser Stelle ein anderes Argument ins Feld geführt und später weiter expliziert werden: Die vermeintliche Leitdifferenz zwischen medialem und realem Erleben – oder ¿FWLRQ und faction – ist nicht relevant, zumindest nicht in der Weise, in der Christians sie deutet. In den Selbstinszenierungen der Täter, in den oft jahrelangen Planungsphasen gibt es keine klar separierten Räume, stattdessen ist von Beginn an eine Verunreinigung – hEHUODSSXQJHQXQGhEHUEOHQGXQJHQ±]X¿QGHQ'HUDXVJHVWDOWHWHPHGLDOH5DXPGHU Selbstinszenierung und der sozial-materielle Raum werden konsequent und beständig ineinander überführt. Denn genau wie die eigenen Handlungen und Gedanken sind Räume sozial und medial vorkodiert, d.h. sie sind auch immer ein Möglichkeitsraum, in dem bestimmte 107 | O.V. (1999), S. 13 108 | O.V. (1999), S. 13 109 | Christians (2006), S. 161





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Arten von Verhalten eingeschlossen oder ausgeschlossen sind. School shooter müssen den Schulraum demnach erst in ein Kriegsgebiet verwandeln, die Flure und Klassenzimmer als Tatorte wahrnehmen, ehe sie diese tatsächlich in solche verwandeln könQHQ'LHHLQH,QWHUSUHWDWLRQGHV5DXPVZLUGGXUFKGLHDQGHUHEHVWlQGLJPRGL¿]LHUW transformiert und remodelliert, bis sie in der Tat zu einem Raum verschmelzen. Der Übergang von der Fiktion in den Handlungsraum ist kein Zeitpunkt (die misslungene Rückkehr in der Lesart Christians), sondern ein Prozess.110 Dieser läuft in Feedback-Schleifen ab, das school shooting hat nur auf der Seite des Beobachters etwas Plötzliches. Beispielsweise beziehen Eric Harris und Dylan Klebold den architektonisch gebauten Raum der Littleton Highschool immer wieder in ihre Planungen für das school shooting ein. Vor der Tat steht die taktische Aneignung des Raums. In diesem Prozess der Neuvermessung sind die späteren Morde immer schon mitgedacht, das Ziel ist die Optimierung des Tötens. Analog ist die Ich-Werdung von school shootern zu deuten: Sie versinken nicht in Rollenvorbildern im Sinne einer Auslöschung des Ich, das eigene Ich wird modelliert am Vorbild, aber immer unter heterogenen Vorzeichen. Ein weiteres Beispiel für eine Fehllektüre, d.h. für einen Fall totalen Ich-Verlusts innerhalb der Rezeption, beschreibt Reinhart Lempp: „Der so genannte Maskenmörder, der Jugendliche Martin W., erstach am 12.2.2002 ein ihm unbekanntes 12-jähriges 0lGFKHQ(UKDWWHVLFKHQWVSUHFKHQGHLQHUDOV0DVNHQP|UGHUEH]HLFKQHWHQ9LGHR¿JXU als Tod verkleidet und maskiert und handelte entsprechend diesem Vorbild.“111 Lempp reiht diesen Vorfall in den Kontext des Erfurter Amoklaufs von Robert Steinhäuser ein, als wäre er ein Vorzeichen gewesen. Aber seine Ausführungen selbst sind schon eine Fehllektüre. Der verhaftete Jugendliche trägt den Namen Michael – nicht Martin – Weinhold, die Tat fand an einem Faschingsdienstag statt, die Verkleidung des Täters war eingebettet in die Feiern der Stadt Gersthofen. Die Nähe des Kostüms zur Verkleidung der diversen Mörder in Wes Cravens SCREAM-Quadrologie (USA 1996-2011), auf die Lempp sich bezieht und die bevorzugt mit dem Messer töten, scheint den Autoren ]XYHUDQODVVHQGLHÄ9LGHR¿JXU³HLQHV0DVNHQP|UGHUVLQV6SLHO]XEULQJHQXQGGLH7DW :HLQKROGVDOVPHGLDOLQGX]LHUW]XNODVVL¿]LHUHQ'DJHJHQVDJWH:HLQKROGYRU*HULFKW DXVÄ,FKELQHLQ)UHDNYRQ+RUURU¿OPHQMD>«@$EHUGDVVHVGDbKQOLFKNHLWHQ]XP Film Halloween gibt, ist reiner Zufall.“112

110 | Analog möchte ich gegen die von Reinhardt Lempp und im Anschluss Frank Robertz ausgearbeitete Theorie der Nebenrealitäten argumentieren, da sie für das Verhalten des school shooters dieselbe konstitutive Differenz zwischen Fiktion und Wirklichkeit DQOHJHQÄ,QVEHVRQGHUHXQWHUVWDUNHQDIIHNWLYHQ(LQÀVVHQNDQQHVVR]XNXU]]HLWLJHQ Realitätsbezugsverlusten kommen, bei denen ein Handelnder glaubt, sich in der NebenUHDOLWlW]XEH¿QGHQZlKUHQGHUWDWVlFKOLFKLQGHU+DXSWUHDOLWlWDJLHUW³5REHUW]   S. 192. Die Nebenrealität ist hier an die Fantasie des Einzelnen gekoppelt, Haupt- und Nebenrealitäten scheinen klar differenziert, bis es zur Tat kommt. 111 | Lempp (2006), S. 19 112 | Borowski (2003)

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In der Verkürzung der Beschreibung werden komplexe Abläufe monokausal etiketWLHUWXQGVRWUDGLHUWVLFKHLQJHZLVVHVSRSXOlUHV'HQNHQ$P-DQXDUVFKUHLEW die BZ über Weinhold: „Die Tat hatte er genau im Kopf: 50 Mal hatte er einen solFKHQ 0RUG LP +RUURU¿OP Ã6FUHDPµ JHVHKHQ EHYRU HU LKQ QDFKVSLHOWH³113 In diesen Kurzzusammenfassungen ist eine Pathosformel enthalten, ein Überwältigt-Sein, eine verkürzte Konstruktion von Imitatio-Tätern, die auf diese Weise für das Auge des Betrachters zu Opfern ihres medialen Konsums stilisiert werden. Mit Blick auf die Selbstinszenierungen, Textdokumente und Bilder der school shooter lässt sich jedoch sagen, dass diese Formeln einer einseitigen Übernahme den Zusammenhang zwischen medialem Erleben und Tat nicht begreifen. Differenz und Wiederholung sind verwoben im Akt performativer Selbstentfaltung. Und dies „erfolgt im Medium der – performativen – Wiederholung, die Individuelles, Singuläres, Einzigartiges an Gleichartigkeit, Typisierbarkeit und marktförmig verwertbare Präsenz bindet. Das Verhältnis von Subjektivität und – neuen – Medien bezeichnet ein interaktives Verhältnis, das Prozesse zur Erscheinung bringt, die nicht ohnehin schon oder so noch nicht gegeben sind.“114 „Die echte imitatio-Lektüre […] gibt jegliche Distanz zum Text auf, indem sie den Text als exemplum versteht, als Muster, das es unter allen Umständen vorbehaltlos nachzuahmen gilt.“115 Was Martin Andree mit der Imitatio-Lektüre anhand einer historischen Analyse der Rezeptionsgeschichte des Werther-Romans entfaltet, trifft auf die school shooter QLFKWHLQGHXWLJ]X'DVKLH‰HGLHLPPHUZLHGHUDXIÀDPPHQGHNULWLVFKH Distanz der school shooter zu ihren Vorgängern, -bildern und den von ihnen präferierten medialen Inhalten zu verkennen. Die ausbuchstabierten Text- und Bildwelten der jugendlichen Täter sind heterogene, komplexe Gebilde, die nicht einfach einem Film oder Buch folgen, wie es an den Copy-Cats in Folge der Veröffentlichung des WertherRomans der Fall war. Andree konstruiert den Modus der Lektüre als Pathosformel, DOV)RUPGHUQDKWORVHQ,GHQWL¿NDWLRQGHV/HVHUVPLWGHU+DXSW¿JXUGHV%XFKHVÄ'HU 113 | O.V. (2003) 114 | Bublitz (2010), S. 169 115_$QGUHH   6  ,Q HLQHP YRQ $QGUHH ]LWLHUWHQ %ULHI YRQ )ULHGULFK 1LFRODL DXV GHP -DKUH  VWHKW ]X OHVHQ GDVV HLQH )UDX ÄQDFKGHP VLH VLFK GLH /HLGHQ Werthers vorlesen [hat] lassen, vergiftet hat, und noch vor ihrem Tode ohne Reue gestanden hat, dieses Buch habe sie determiniert.“ Die Selbstmörderin sieht sich mit ihrem Handeln aufgehoben in der Welt des Buches, das sie instrumentiert, die Lektüre gilt so als Rechtfertigung des Suizids, die Folgen des Lesens werden kausal gezogen. Damit erinnert dieser Modus des Überwältigt-Werdens eher an Fallbeispiele wie John Hinckley, der den Film TAXI DRIVER 0DUWLQ6FRUVHVH86$ LQHLQHU(QGORVVFKOHLIHVLHKW und sich dabei obsessiv in die Schauspielerin Jodie Foster verliebt. Er lauert ihr auf, gesteht ihr in einer nicht abreisenden Flut von Briefen immer wieder seine Liebe. Als er von Forster abgewiesen wird, folgt er eins zu eins dem Skript des Films und begeht – wie GLH¿NWLYH)LJXU7UDYLV%LFNOHLQTAXI DRIVER – ein Attentat auf einen Politiker. Am 30. März 1981 feuert Hinckley auf den damaligen Präsidenten der USA Ronald Reagan und wird festgenommen.





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Leser löscht seine eigene emotionale Person aus und taucht vorübergehend in eine vom Text bereitgestellte Identität hinein.“116 In dieser Konstellation gibt sich der Rezipient GHP:HUNKLQHUZLUG]XHLQHU¿NWLRQDOHQ)LJXUXQWHUZLUIWVLFKGHP$I¿]LHUXQJVSRtential des jeweiligen medialen Produktes. School shooter werden nicht von medialen Inhalten konsumiert, sie konsumieren PHGLDOH,QKDOWH6LHJHEHQVLFKNHLQHU$I¿]LHUXQJKLQLKU9HUKDOWHQLVWNHLQH3DWKRVformel. Gabriele Klein bestimmt den speziellen Umgang mit Bildwelten als Prozess der „Aneignung“: $QHLJQXQJLVWNHLQ9RUJDQJGHUXQUHÀHNWLHUWHQ$QSDVVXQJGHU/HEHQVZHOWDQGLH%LOGHU$QHLJQXQJLVWDOVHLQ$NWPLPHWLVFKHU,GHQWL¿NDWLRQEHVFKUHLEEDUEHLGHPGLH%LOder in einem Prozeß der Neukonstruktion neu gedeutet und in die Lebenswelt integriert werden. Nicht die Bilder produzieren und verändern allein aufgrund ihrer Präsenz die Lebenswelten. Es ist das Subjekt, das über das Erkennen der lebensweltlichen Relevanz der Bilder über deren Stellenwert für das alltägliche Leben entscheidet.

Allein auf der Seite der Analyse medialer Texte werden sich die essentiellen Strategien der school shooter QLFKW¿QGHQODVVHQZHLOVLHDOVVROFKHQLFKWXQPLWWHOEDUXQGRKQH Filter reproduziert werden. Es geht um die Verbindungslinien zwischen dem Subjekt als Bildformation und medialen Bildformationen. Wie Ralph Larkin über die Zeit nach Columbine schreibt: „Rampage shooters have DWWHPSWHG WR LQÀXHQFH WKH PHGLD UDWKHU WKDQ PHUHO\ EH LQÀXHQFHG E\ WKHP³118 Der manipulative Umgang mit den Medien wird zu einem Hauptmerkmal des Verhaltens der Täter. Zudem leben school shooter in sehr heterogenen Wirklichkeiten, was soZRKOGLHlX‰HUHDOVDXFKGLHLQQHUHQ:HOWHQEHWULIIW'LH¿NWLYHQ:HOWHQGLHVLFKDXV den Texten der Täter kristallisieren lassen, sind heterotrope Orte, die eine Vielzahl möglicher Welten aufzeigen. Noch am 20. Januar 1999, genau drei Monate vor seinem Amoklauf, schreibt der frisch verliebte Dylan Klebold: „Meine Liebe wird mich ¿QGHQ :LU ZHUGHQ IUHL VHLQ GLH XQHUPHVVOLFKHQ :XQGHU GHU 6WHUQH ]X HUIRUVFKHQ Ewig lange Wasserfälle hinuntergleiten & durch die wärmsten Meere reinen Glücks…

116 | Andree (2006), S. 123 117 | Klein/Friedrich (2003), S. 139. Wie Klein schreibt, kann man diesen Prozess der Aneignung auch mit dem Begriff der „Symbolischen Kreativität“ nach Paul Willis fassen. Das Subjekt wird nicht determiniert durch die verfügbaren kulturellen Semantiken, sondern kombiniert einzelne Zeichen aus dem Pool verfügbarer Images und Narrative, GLHGXUFKGHQ%HJULIIÄHOHPHQWDUHbVWKHWLNHQ³GH¿QLHUWZHUGHQ 'LHVHUÄEH]LHKWVLFK auf das kreative Element in einem Prozeß, der Symbole und Praxen mit Bedeutung verbindet und in dem Symbole und Praxen mehrfach ausgesucht, in Szene gesetzt und neu angeordnet werden, um neu angeeignete und spezialisierte Bedeutungen wiederzugeben.“ Willis, zitiert nach Klein (1999), S. 235 118 | Larkin (2009), S. 1113

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keine Grenzen… keine Grenzen… nichts wird uns aufhalten.“119 Die Taten sind keine einfachen kausalen Übertragungen, sondern komplexe Gebilde, die sich aus der eigeQHQ%LRJUD¿H(ULQQHUXQJXQGPHGLDOHQ(UOHEQLVVHQ]XVDPPHQVHW]HQSchool shooter geben sich keinem medial präexistenten Bild hin, sie konstruieren ihr Bild aus medial präexistenten Texten. Diese Figurationen von Subjektivität sind in kulturkritischer Hinsicht von Beginn an negativ bewertet worden. Die Durchwirkung des haptisch-körperlichen sozialen Raums durch mediale Gesten und Bilder wird schnell mit Ängsten des Verlusts einer eigentlichen, ursprünglichen Wirklichkeit belegt und in Begriffen der Verstellung, der Maske, der Falschheit und der Entfremdung gedacht. „Modernitätskritisch erscheinen die Inszenierungen des Selbst als eine Verschiebung vom Sein zum Schein, vom Selbst zur Rolle, von der Identität zur Maskerade, oder vom Echten, Eigentlichen, Authentischen zum Falschen, Unwahren. Inszenierung meint aus dieser Perspektive den Schein GHU2EHUÀlFKHGDVUHLQH6SLHO³120 Dabei ist zu beachten, dass die Modellierung des Selbst entlang (medialer) Vorbilder generellen Kulturtechniken entspricht, die nicht auf das Diskursfeld school shooting und die Praktiken der Täter zu begrenzen sind. Eine genuine Originalität des Subjekts ins Recht zu setzen, würde bedeuten, die alten bürgerlichen Zuschreibungen ZLHGHUDXÀHEHQ ]X ODVVHQ Ä(QWVFKHLGHQGHV .HQQ]HLFKHQ >« GHU ]HLWJHQ|VVLVFKHQ@ Form der Vergesellschaftung ist, dass Individuen bei steigender sozialer Komplexität soziale Kontrolle zunehmend und überwiegend als Selbstkontrolle gestalten und LKU6HOEVWLPPHUZLHGHU¾VHOEVWVWlQGLJ½XQGQHXHUVFKDIIHQPVVHQ³121 Damit verliert GDVSDWKRJHQH(OHPHQWHLQHUÃ)HKOOHNWUHµLP6LQQH&KULVWLDQVVHLQHÃNUDQNKDIWHµ'Lmension, insofern sich im school shooter allgemeine Tendenzen der Selbstgestaltung erkennen lassen, die sich allein aufgrund der Inhalte differenzieren.122

119 | Klebold, zitiert nach Gaertner (2009), S. 129 120 | Klein/Friedrich (2003), S. 145 121 | Bublitz (2010), S. 81 122 | Im Gegensatz dazu geht Heiko Christians von einem als autonom ausdifferenzierten Feld der Unterhaltung aus, das im Sinne der Differenzierungslogik keine Relevanz für das alltägliche Leben entfalten darf: „Doch die Verbindung ist nicht gänzlich gekappt oder für immer verbaut, sie ist nur unwahrscheinlich und infolgedessen unvernünftig, weil sie nicht mehr der Rationalität der Ausdifferenzierung gemäß ist. Zur Rationalität dieser Ausdifferenzierung und der Lebensführung in ihr gehört die Einübung in die Fiktionalität der Produkte aus dem nachmaligen Unterhaltungssektor.“ Christians (2008), S. 189



IV. Ein Beginn, aber kein Ursprung: ௘:KLWPDQ&ROXPELQHXQGGLH*HVFKLFKWH ௘GHUschool shootings

Im Kontext der Formen von Nachahmung stellt sich erneut die Frage nach dem Ursprung, dem ersten Glied der sequentiellen Ordnung, dem ersten school shooting in der westlichen Welt. Schwierigkeiten bereitet auch hier die hybride Genese des Begriffs in VHLQHUNRPSOH[HQ9HUELQGXQJ]X$PRNOlXIHQXQGGLHXQVFKDUIH'H¿QLWLRQGHV3KlQRmens. Analog zu Fällen von Amok werden school shootings bisweilen erst rekonstruktiv als solche benannt. School shootings entwickeln sich innerhalb gesellschaftlicher Prozesshaftigkeit und verweben heterogene Diskurspartikel. Es lassen sich nur Verdichtungen, Linien der Beschleunigung und der Verlangsamung aufzeigen, markante Punkte wie die Vorfälle in Littleton, die eine Reihe von Nachahmungstaten auslösen und immer wieder als Inspiration für Folgetäter dienen. Der frühe Punkt einer Kristallisation, anhand dem sich das Phänomen school shooting – wiederum rekonstruktiv – in seiner Frühform greifen lässt, ist der Amoklauf Charles Whitmans am 1. August 1966. Whitmans Taten erfüllen alle Kriterien eines school shootings. Zudem markieren sie eine entscheidende Wende in der Relation zwischen school shootings und ihrer medialen Inszenierung: Whitman ist der erste school shooter, dessen Taten live im Fernsehen zu sehen sind. Journalisten kommentieren die Ereignisse via Radio an jenem Augusttag direkt, die Reporter sind bereits kurz nach der Polizei am Tatort.1(V¿QGHWHLQHXQPLWWHOEDUH9HUZHEXQJ]ZLVFKHQGHP(UHLJQLVXQG seinem Bild statt. Ein Moment der Gleichzeitigkeit entsteht, das mit Columbine und dem Massaker an der Virginia Tech erneut kulminieren wird.

1 | Wie das Time-Magazine am 12. August unter der Überschrift „Covering a Massacre“ schreibt: „When Charles Whitman began his 96-minute reign of death last week, it ZDVDP:LWKLQ¿YHPLQXWHV$XVWLQ¶V79DQGUDGLRVWDWLRQ.7%&DLUHGWKH¿UVW bulletin on what turned out to be the biggest Texas news story since the Kennedy assassination. […] At 12:20, TV News Director Neal Spelce began nearly two hours of live telecasting from near the tower.“ O.V. (1966a)

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Der Übergang von der passiven zur aktiven Form Ein grober Querschnitt durch die diachrone Entfaltung des Phänomens zeigt nun, dass sich school shootings seit den 1960er Jahren auf der Ebene des Erlebens der Täter von einer passiv-pathologischen Persönlichkeitsstörung zu einer bewusst vorgeführten Verhaltensform entwickeln, die ohne die mediale Aufbereitung der Ereignisse und den Konnex zu medialen Welten nicht denkbar ist. Evident wird dies anhand eines Vergleichs zwischen den Selbstzeugnissen Charles Whitmans und denen der Columbine$WWHQWlWHU(ULF+DUULVXQG'\ODQ.OHEROG(V]HLJWVLFKGHUVSH]L¿VFKHhEHUJDQJYRQ HLQHUSDVVLYHQ]XHLQHUDNWLYHQ)RUPYRQHLQHP$I¿]LHUWVHLQGDVDQ9DULDQWHQGHU%Hsessenheit erinnert und einem Verhalten, das bewusst und zielgerichtet zelebriert wird. Diese Transformation in der Rede der school shooter ist direkt gekoppelt an die Zirkulation von Narrativen und Bildern. Die Verbindung zu medialen Welten gerinnt auf diese Weise zum eigentlich dynamischen Moment innerhalb der diachronen Entwicklung von school shootings. Allerdings ist die Geschichte der school shootings nicht linear zu schreiben, nicht jeder Täter lässt sich in das Raster eines Übergangs von der passiven zur aktiven Form einreihen. So ist die Historie des Phänomens immer wieder von Rückgriffen und Ungleichzeitigkeiten durchzogen. Die Entwicklung in den Selbstaussagen der Täter kann nur tendenziell festgeschrieben werden.

Das Unsagbare: Charles Whitman Der 25-jährige Architekturstudent Charles Whitman besteigt am 1. August 1966 den Turm der University of Texas und beginnt wahllos auf die Passanten auf dem Campus und in den Straßen in der näheren Umgebung zu schießen. In der Nacht vor seinem Amoklauf tötet Whitman seine Frau und seine Mutter. Nach den Morden setzt er sich an die Schreibmaschine und beginnt einen Abschiedsbrief zu verfassen, den er später handschriftlich vollenden wird. In seinen Worten erweckt Whitman den Eindruck eiQHVYHU]ZHLIHOWHQ0HQVFKHQGHQÃHWZDVµEHUZlOWLJWGHUGDVZDVLKPSDVVLHUWQLFKW ausdrücken kann. Die Grenze seiner Sprachfähigkeit ist erreicht, ganz im Sinne von Zweigs Verwendung des Begriffes Amok, bei der die unüberbrückbare Kluft zwischen GHU5DWLRXQGGHPVXEMHNWLYHQ(PS¿QGHQGHV$U]WHVGXUFKGLH&KLIIUH$PRNJHNODPmert wird. Whitman schreibt: I don’t quite understand what it is that compels me to type this letter. Perhaps it is to leave some vague reason for the actions I have recently performed. I don’t really understand myself these days. I am supposed to be an average reasonable and intelligent young man. However, lately (I can’t recall when it started) I have been a victim of many unusual and irrational thoughts. These thoughts constantly recur, and it requires a tremendous mental effort to concentrate on useful and progressive tasks.2

2 | Diese und alle folgenden Passagen aus Whitmans Abschiedsbrief sind zitiert nach /DYHUJQH  6

E IN B EGINN ,

ABER KEIN

U RSPRUNG

Whitmans Haltung ist ambivalent. Auf der einen Seite legt er ein Geständnis in Form des Briefes ab und übernimmt so die Verantwortung für seine Taten. Auf der anderen Seite sieht er sich als Opfer seiner Gedanken. Er fühlt sich verfolgt von einem Unsichtbaren, das er weder benennen noch adäquat ausdrücken kann. Er stellt sich die JUR‰H)UDJHQDFKGHPÃ:DUXP"µXQGNRPPWGRFK]XNHLQHU$QWZRUWGLHHULQQHUKDOE seiner Vorstellungen von Vernunft akzeptieren könnte. Sein Erleben übersteigt den Horizont seines Wissens. Die Worte klingen wie eine Mischung aus Bekenntnis und Hilferuf. Die Differenz zwischen dem, was sein sollte und dem, was ist, zermürbt ihn. Whitman kann sich sein Verhalten aus seinem Milieu, seinen Lebensumständen heraus nicht befriedigend erklären. Er hat eine Frau, hat Kontakt zu seiner Familie. In seiner Bemühung, sich auf die nützlichen und progressiven Aufgaben zu konzentrieren klingt VHLQH3IDG¿QGHU9HUJDQJHQKHLWDQHLQ]ZHFNRSWLPLVWLVFKHV6WUHEHQGHVVHQ6FKHLWHUQ er sich nun eingestehen muss.3 Die einzige Andeutung einer Erklärung gibt der nächste Satz des Briefes: „In March when my parents made a physical break I noticed a great deal of stress.“ Doch als Whitman zur Frage nach den Motiven für den Mord an seiner Frau kommt, bestätigt er erneut das Rätsel, das er sich selbst gibt: „I love her dearly, and she has been as ¿QHDZLIHWRPHDVDQ\FRXOGHYHUKRSHWRKDYH,FDQQRWUDWLRQDO\SLQSRLQWDQ\VSHFL¿FUHDVRQIRUGRLQJWKLV³,P$QVFKOXVVUHVPLHUWHUVHLQHNXU]H.UDQNHQJHVFKLFKWH berichtet von seinem ergebnislosen Besuch bei einem Psychiater, dem er von seinen quälenden Gedanken erzählte. Whitman hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon selbst als pathologischen Fall diagnostiziert: „I consulted a Dr. Cochrum at the University Health Center and asked him to recommend someone that I could consult with about some psychiatric disorders I felt I had. I talked with a doctor once for about two hours and tried to convey to him my fears that I felt come overwhelming violent impulses. $IWHURQHVHVVLRQ,QHYHUVDZWKHGRFWRUDJDLQDQGVLQFHWKHQ,KDYHEHHQ¿JKWLQJP\ mental turmoil alone, and seemingly to no avail.“ Da seine Schilderung auch dem Arzt nichts sagt, sieht Whitman seine Worte als verrückte Rede, da sie nicht dem entspricht, was er aus der Welt kennt. Der Texas-Sniper kann nicht anschließen an das medizinische Wissen, das der .ODVVL¿]LHUXQJ YRQ .UDQNKHLWHQ LP$PHULND GHU HU -DKUH ]XJUXQGHOLHJW:KLWman steht außerhalb des Systems, das Edward Shorter den jeweiligen „Symptompool“ einer historischen Gesellschaftsformation nennt. „Symptompool“ meint dabei eine Reihe von anerkannten Mustern der Verknüpfung von subjektiv empfundenem Leid XQGHLQHPVSH]L¿VFKHQ$XVGUXFN4 Whitman ist innerhalb des zeitgenössischen ReperWRLUHVDQ.UDQNKHLWVELOGHUQYRQ'U&RFKUXPQLFKW]XNODVVL¿]LHUHQXQGVHLQH:RUWH während der Konsultation bleiben ein Rauschen. 3_)UHLQHDXVIKUOLFKH%LRJUD¿H:KLWPDQVVLHKH/DYHUJQH  6II 4 | Wie Shorter schreibt: „Seit eh und je sind alle Menschen um eine irgendwie plausible ,QWHUSUHWDWLRQLKUHUN|USHUOLFKHQ(PS¿QGXQJHQEHPKW6LHEULQJHQGLHVH(PS¿QGXQJHQ LQ HLQH )RUP QDFK GHP 0XVWHU JXW GH¿QLHUWHU PHGL]LQLVFKHU 6\PSWRPH ZLH VLH LKQHQLQHLQHU$UWÃ6\PSWRPSRROµ]XJlQJOLFKVLQG³6KRUWHU  6

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U NREINE B ILDER ,QGHPVLHEHVWLPPWH6\PSWRPHDOVLOOHJLWLPTXDOL¿]LHUWYHUPLWWHOWHLQH.XOWXULKUHQ Kranken einen nachhaltigen Anreiz, diese Symptome nicht zu produzieren, weil sie DQGHUQIDOOV*HIDKUODXIHQIUMHPDQGHQJHKDOWHQ]XZHUGHQGHUÃNHLQH$QWHLOQDKPH verdient‘, weil er keine wirklichen gesundheitlichen Probleme hat.5

Solange Whitman nicht an die legitimen Formen des Ausdrucks anknüpfen kann, verhallen seine Worte ungehört. Whitman geht in seiner Selbstanamnese schließlich von einem physiologischen Defekt aus, in seinem Abschiedsbrief besteht er auf eine Autopsie: „After my death I wish that an autopsy would be performed on me to see if there is any physical disorder. I have had some tremendous headaches in the past and have consumed two large bottlesof [sic] Excedrin in the p ast [sic] three month.“ Trotz der Morde macht er sich Sorgen um seine ersten Opfer, d.h. seine Frau und seine Mutter: „I don’t know whether LWLVVHO¿VKQHVVRULI,GRQ¶WZDQWKHUWRKDYHWRIDFHWKHHPEUDVVPHQW>VLF@P\DFtions would surely cause her. AT this time, though, the p rominent [sic] reason in my mind is that I truly do not consider this world worth living in, and am prepared to die, and I do not want to leave her to suffer alone in it. I intend to kill her as painlessly as possible.“6Am Ende kommt er noch einmal auf seine Eltern zu sprechen, erzählt von seiner Mutter, die er anscheinend wirklich liebt und von den Problemen mit seinem Vater: „I don’t think the poor woman has ever enjoyed life as she is entitled to do. She was a simple young woman who married a very possessive and dominating man. All my life as a boy until I ran away from home to join the Marinne Corps.“ An dieser Stelle hört Whitman auf, den Brief auf der Maschine zu tippen und fährt handschriftlich fort: „I was witness to her being beat at least one [sic] a month. Then when she took enough P\IDWKHUZDQWHGWR¿JKWWRNHHSKHUEHORZKHUXVXDOVWDQGDUGRIOLYLQJ,LPDJLQHLW appears that I bruttaly [sic] kill [sic] both of my loved ones. I was only trying to do a quick through [sic] job. If my life insurance policy is valid please see all the worthless checks I wrote this weekend are made good. Please pay off all my debts. I am 25 \HDUVROGDQGKDYHQHYHUEHHQ¿QDQFLDOO\LQGHSHQGHQW'RQDWHWKHUHVWDQRQ\PRXVO\ to a mental health foundation. Maybe research can prevent further tragedies of this type. Charles J. Whitman“. Wenige Stunden vor seinem Amoklauf macht sich Whitman Sorgen um die Zukunft, ob die Rechnungen bezahlt werden, was die Welt von ihm denken wird. Er will das Bild des guten Bürgers aufrechterhalten. Seine letzten Worte sind Ausdruck einer Spaltung: Die mörderischen Impulse werden als fremdes Außen, das den Geist befallen hat, deklariert und von der Restpersönlichkeit ausgeschlossen. 5 | Shorter (1994), S. 12 6 | Diese Form der Rechtfertigung ist innerhalb des Täterdiskurses nicht unüblich: Ernst Wagner schreibt in seinem Tagebuch über den Mord an seiner Familie: „Ich töte alle 5 aus Mitleid.“ Wagner, zitiert nach Neuzner/Brandstätter (1996), S. 86. Und später: „Die armen Kinder sollen dann ein ganzes Leben lang die Schande ihres Vaters tragen! Ich muß sie töten, zu ihrem eigenen Heil. Wer das nicht begreift, mit dem rechne ich nicht.“ Wagner, zitiert nach Neuzner/Brandstätter (1996), S. 99

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Mit Whitmans Abschiedsbrief ist die Frühgeschichte der school shootings aufgerufen, in der die Täter immer wieder an den Grenzen der eigenen Sprachfähigkeit scheitern und sich selbst nicht erklären können, was und warum sie es tun. Mögliche Antworten übersteigen kaum das Niveau jener berühmten Formel aus einem Song der Boomtown RatsYRQÄ,GRQWOLNH0RQGD\V³'LHLyrics thematisieren die Taten einer der sehr seltenen Amokläuferinnen Brenda Spencer. Im Alter von 16 Jahren W|WHWHVLHDP-DQXDUDQGHU&OHYHODQG(OHPHQWDU\6FKRROLQ6DQ'LHJR]ZHL Menschen und gab bei ihrer Befragung genau diese Worte als Erklärung zu Protokoll: „I don´t like Mondays“. Die Liste der Nicht-Erklärungen derjenigen Täter, die überlebt haben oder deren Ã*HVWlQGQLVVHµDXIGLHHLQHRGHUDQGHUH$UWEHUOLHIHUWVLQGOLH‰HVLFKLQV8QHQGOLFKH verlängern. Walter Seifert, der Flammenwerfer-Attentäter von Köln-Volkhoven, wurde während des Verhörs nach seiner Festnahme 1964 gefragt: „Warum gerade diese MenVFKHQGLHVH.LQGHUGLHVH6FKXOH"³(UDQWZRUWHWHÄ=XIDOO³ Die Täter bleiben sich selbst ein Rätsel. Diese Vorfälle stehen der diskursiven Tradition des Begriffes Amok sehr nahe, sind Sinnbild des Risses zwischen einer Ursache und ihrer Wirkung und PDUNLHUHQGLH$XÀ|VXQJGHVVR]LDOHQ%DQGHV'LH(UHLJQLVVHJHVFKHKHQODVVHQVLFK statistisch erfassen und nach Wahrscheinlichkeiten verteilen, aber Antworten im Sinne eines nachvollziehbaren Grundes produzieren die Täter nicht.

Das Sagbare: Eric Harris und Dylan Klebold Mit dem school shooting am 20. April 1999 an der Littleton Highschool in Columbine manifestiert sich ein prägnanter Augenblick in der Geschichte der school shootings. Was Unsagbar war für die Vorgänger, wird nun Teil komplexer Strategien der Selbstinszenierungen von Dylan Klebold und Eric Harris. Die Schützen füllen im Vorfeld ihrer Taten die Lücken des Sagbaren und inspirieren damit spätere school shooter wie Bastian Bosse, der seinen Amoklauf in die Tradition der „RebVODlution“ stellt. Harris und Klebold planen ihre Tat akribisch, Skizze der Cafeteria der Littleton-High aus dem Notizbuch von Eric Harris sie werden – im Gegensatz zu Whitman – nicht von mörderischen Gedanken verfolgt, sie suchen aktiv nach Möglichkeiten maximaler Destruktivität. In den Wochen vor den Morden zeichnen sie Videotapes auf – die BASEMENT TAPES –, auf denen sie die Welt wissen lassen, wie sie sich ihr Vermächtnis vorstellen. Die school shooter zeichnen Skizzen ihrer Schule, der Tag des Massakers wird einer genauen zeitlichen Verlaufsform unterworfen, es wird festgeschrieben, wann und wo welche Bombe zu explodieren hat. Die beiden Schüler ziehen 7 | Peter (2004), S. 143

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in den Krieg und dazu brauchen sie einen Schlachtplan. Die zwanghafte Getriebenheit Whitmans verwandelt sich in gezielte Bösartigkeit, Amok wird als bewusste Form vorgeführt. Klebold vermerkt in seinem Tagebuch unter dem Datum des school shootings als oberstes Ziel: „have fun“.8 Das entscheidende Merkmal liegt in der vollkommenen Abkehr von Formen des Pathos und des Überwältigt-Werdens, wie sie den Fall Whitman kennzeichnen. Die gewalttätigen Impulse werden über Texte, Videos und Skizzen bewusst immer weiter entwickelt und in allen Details ausbuchstabiert. Es ist die Haltung der school shooter zu ihren Taten, die den Texas-Sniper und das Duo Harris/Klebold unterscheiden. In beiden Fällen ist die Tat vor ihrer Realisierung substantieller Teil der Imaginationen der späteren Schützen. Auch Whitmans Fantasien kreisen schon lange vor dem eigentlichen Amoklauf um die Morde am späteren Tatort, den Turm der Universität. So vermerkt es der Arzt Maurice Dean Heatley, den Whitman am 9. März 1966 aufsucht, in seinem Behandlungsprotokoll: He [Whitman]readily admits having overwhelming periods of hostility with a very minimum of provocation. Repeated inquiries attempting to analyze his exact experiences ZHUHQRWWRRVXFFHVVIXOZLWKWKHH[FHSWLRQRIKLVYLYLGUHIHUHQFHWRÃWKLQNLQJDERXWJRLQJ XSRQWKHWRZHUZLWKDGHHUULÀHDQGVWDUWVKRRWLQJSHRSOHµ9

Sowohl 1966 als auch 1999 ist eine Vorlaufphase zu beobachten, in beiden Fällen geschehen die Taten nicht plötzlich. Die wesentliche Differenz ist, wie die jeweiligen school shooter diesen Zeitraum wahrnehmen und gestalten. Mit Columbine erfolgt eine weitere markante Transformation der Chiffre Amok, die sich in der nun mehr und mehr gebräuchlichen Subkategorie school shooting manifestiert. Dabei werden die Verbindungen zur ursprünglichen Variante des Amoks nicht endgültig gekappt. Hier wie dort ist eine beliebige Feindschaft, eine Erzählung des Krieges in befriedeten Gebieten zu beobachten.10 Die Genealogie bleibt bestehen, es erscheint nichts grundsätzlich Neues. Über das Label school shooting entwickelt sich ein virulenter Bastard, eine bewusste Form des Verhaltens, die sagbar geworden ist. So schreibt Ralph Larkin über die Zeit nach Columbine:

8 | Zitiert nach Gaertner (2009), S. 156 9 | Heatley (1966), S. 1 10 | Die Entgegensetzung zwischen Bildern des Krieges und befriedetem Raum kommt vor allem in der Berichterstattung nach einem school shooting in der West Nickles Mines Amish School in der Nähe von Georgetown zum Ausdruck: „Even persons who know hardly anything about the Amish know that they live relatively rural and secluded lives, and the juxtaposition of the day’s violence with this pastoral vision of Amish life made the story particularly poignant.“ Zimmermann Umble/Weaver-Zercher (2008), S. 244f

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Rampage shootings were no longer the provenance of isolated, loner students who were psychologically deranged. Columbine raised rampage shootings in the public consciousness from mere revenge to a political act. Klebold and Harris were overtly political in their motivations to destroy their school […]. They understood that their pain and humiliation were shared by millions of others and conducted their assault in the name RIDODUJHUFROOHFWLYLW\.OHEROGDQG+DUULVLGHQWL¿HGWKHFROOHFWLYLW\±RXWFDVWVWXGHQWV – for which they were exacting revenge. That is what distinguishes Columbine from all previous rampage shootings.11

9LHO PHKU DOV ÃQXUµ HLQHQ$NW GHV 0RUGHQV ]X EHJHKHQ VWHOOHQ +DUULV XQG .OHEROG eine Form und – wichtiger – eine Sprache zur Verfügung, über die bestimmte Arten zu (PS¿QGHQXQGVLFK]X9HUKDOWHQDXVJHGUFNWZHUGHQN|QQHQÄ(VJLEWHLQHQ$XVZHJ die Macht des Ausgestoßenen, des Gläubigen“, schreibt Dylan Klebold am 21. Mai LQVHLQ7DJHEXFK12

Die off izielle und inoff izielle Rede der Täter Bei den Columbine-Attentätern lassen sich nun zwei grundsätzlich verschiedene StraWHJLHQ GHV 6SUHFKHQV GLIIHUHQ]LHUHQ (LQH ÃRI¿]LHOOHµ XQG HLQH ÃLQRI¿]LHOOHµ$UW GHU Rede, die sich in souverän eingesetzten Taktiken des Hin- und Herschweifens, der Überblendung, des Wechselns der Kategorien ausdrücken. Die Indizien, die im rekonstruktiven Blick die Taten von Klebold und Harris offen ankündigen, werden von den späteren school shooternGXUFKVHW]WXQGYHUVHW]WPLW%LOGHUQÃEUDYHU6FKOHUµ$P August 1998 schreibt Eric Harris noch in einem Schulaufsatz: Das letzte Jahr meiner Highschool-Ausbildung ist gekommen. Ich werde ein paar neue Themen kennenlernen, einige ältere mit neuen Augen sehen und zweifellos viele neue und nützliche Dinge lernen, die mir in meinem Leben helfen werden. Ich erwarte, dass ich in diesem Jahr lerne, meine Meinungen und Überzeugungen in einer zivilisierten, respektvollen Weise zu äußern.13

Harris hört sich an dieser Stelle an wie Charles Whitman in den 1960er Jahren. Seine 6SUDFKHO|VWGLH(UZDUWXQJHQDQHLQHQÃJXWHQ-XQJHQµHLQ(UNHQQWGLH5ROOHGHU8Qsichtbarkeit, desjenigen, der in der Masse verschwindet, und spielt sie. Dylan Klebold wechselt die Genres und verschwindet mit seinen Worten in der behaupteten funktionalen Differenzierung von Kunst und Leben in die Unsichtbarkeit. In einem Aufsatz vom 2. März 1999 sind die Eckpunkte dessen, was er mit Eric Harris für den 20. April 1999 plant, bereits vollständig ausbuchstabiert. Er erzählt von einem JDQ] LQ VFKZDU] JHNOHLGHWHQ 0DQQ GHU HLQH YLHUN|S¿JH *UXSSH YRQ ÄVFKQ|VHOLJHQ

11 | Larkin (2009), S.1320 12 | Klebold, zitiert nach Gaertner (2009), S. 54 13_+DUULV]LWLHUWQDFK*DHUWQHU  6

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Studenten“ auf offener Straße hinrichtet.14 Der Geschichte fehlt es nicht an markanter Bildhaftigkeit: „Drei Schüsse trafen den größten Streber in den Kopf. Das Licht der 6WUD‰HQODWHUQHQVSLHJHOWHVLFKLQGHQ%OXWVWURSIHQGLHYRQVHLQHP6FKlGHOZHJÀRJHQ Die Blutspritzer regneten auf die Kumpel des Strebers nieder, die zu gelähmt waren, um wegzulaufen.“15 Die Korrekturanmerkungen der Lehrerin sind im Blick zurück auf das, was kommen wird, von kaum fassbarer Naivität. Als der ganz in schwarz gekleidete Mann zu Beginn des Aufsatzes zwei Pistolen zückt, merkt sie an: „Großartiger Anfang! Aber – Dylan – um es besser lesbar zu machen, verwende zwei Zeilen Abstand und eine größere Schrift.“16 Am Ende lobt sie Klebold für seine Fähigkeiten als Autor, will aber dennoch mit ihm reden, ehe sie ihm eine Note gibt. Die blutigen 0RPHQWHVLQGDXIJHKREHQLP¿NWLRQDOHQ5DXPGHVNUHDWLYHQ6FKUHLEHQV=ZDUVLQG sie verdächtig, aber sie bieten erst im Nachhinein klare Hinweise. Aus den Texten von Harris und Klebold lässt sich ein ganzes Repertoire an Rollen NRQGHQVLHUHQLQGHQHQVLFKGLH7lWHULQ6]HQHVHW]HQHLQÃ,FKµGHV7H[WHVKHUYRUEULQgen, das sie mit eigenen Erinnerungen verweben, die sie über die Schrift inszenieren. Eric Harris erzählt so von einer heldenhaften Tat, bei der er einem Freund beisteht. „Ich stieg also auf mein Fahrrad und fuhr mit einem Bein stampfend durch den Wald, weil mein anderes Bein wegen der Verletzung sehr wehtat.“18 Im Januar 1998 werden Klebold und Harris verhaftet, als sie einen Lieferwagen ausrauben. Eric Harris thematisiert seine Erfahrung mit den Folgen des Verbrechens im November desselben Jahres LQHLQHP6FKXODXIVDW]'HU7H[WNRQVWUXLHUWGHQÃJXWHQ-XQJHQµVRJXWGDVVGHU.RPmentar des Lehrers sehr lobend ausfällt: „Ich denke auch, du solltest wissen, dass es nicht eine Tat ist, die einen Menschen zu dem macht, der er ist. Ich würde dir jederzeit YHUWUDXHQ³'DV/HEHQDOV$WWHQWlWHUXQGGDV/HEHQDOVÃJXWHU6FKOHUµJHKHQ+DQGLQ Hand. In seinem Schulkalender notiert sich Harris die Aufgaben für den 29. September Ä5RKUERPEHDXVSURELHUHQ3UREOHPPLW5DXFKO|VHQ%XQNHU¿QGHQ1LQH Inch Nails Video“ Am 30. September folgt: „Donuts backen fürs Oktoberfest.“19 Es ist die Erzählung der Person vor und hinter der Fassade, die auch den Tätern selbst zuweilen schwerfällt: „Es ist verdammt schwierig, bei den Hausaufgaben zu bleiben, während ich an meinen Waffen, Bomben und Lügen arbeite“, schreibt Eric Harris in sein Journal.20 Der school shooter gibt den Lehrern und Eltern das, was sie hören wollen und kündigt auf seiner Webseite im gleichen Zeitraum an, dass er die Menschheit ausradieren will.216HLQHVR]LDOH5ROOHZLUGPHKUXQGPHKU¿NWLYHLQ%LOG das er aktiv baut und seine Mitmenschen sehen lässt. Spätestens 1998 gibt es kaum 14 | Klebold, zitiert nach Gaertner (2009), S. 9 15 | Klebold, zitiert nach Gaertner (2009), S. 10 16 | Klebold, zitiert nach Gaertner (2009), S. 9 17 | Klebold, zitiert nach Gaertner (2009), S. 11 18 | Harris, zitiert nach Gaertner (2009), S. 21 19 | Harris, zitiert nach Gaertner (2009), S. 46 20_+DUULV]LWLHUWQDFK*DHUWQHU  6 21_9JO*DHUWQHU  6

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PHKU HLQH +LHUDUFKLH ]ZLVFKHQ GHU HLQHQ ÃRI¿]LHOOHQµ 5ROOH GHV JXWHQ 6FKOHUV XQG Sohns und der Realität des Bombenbauers und Architekten eines Schulattentates. In seinem Journal schreibt er im November 1998: „Ich muss jeden täuschen und belügen. Dann ist alles gut. Ich habe Vertrauen in meine Fähigkeiten, Leute zu belügen. Hoffentlich halte ich das bis April durch.“22 Harris und Klebold teilen so die Arten der Rede binär auf. Während in Charles Whitmans Abschiedsbrief die Selbstbilder – der gute Sohn und der Mörder – in Konfrontation zueinander stehen, der campus shooter verzweifelt gegen die illegitimen Gedanken ankämpft, kreieren die Columbine-Attentäter zwei Rollen, zwei Gesichter, die sie situativ und temporär zu sehen geben.

Kinder ihrer Zeit Sowohl Charles Whitman als auch das Duo Harris/Klebold benutzen die möglichen Ausdrucksweisen ihrer Zeit. Whitman ist der Prototyp psychologisch-psychiatrischer Erzählung. Er stellt sich die Frage nach dem Ursprung, nach der Motivation seines Verhaltens, weil er auf nichts zurückgreifen kann als die psychologisch zugerichteten Muster des Erzählens, nach dem jede Handlung einen konkreten Bezug zu einer Ursache, einem Inneren haben muss. Im Sinne Edward Shorters versucht er an die verfügbaren Symptome seiner Zeit anzukoppeln. Wo keine Sprache vorhanden ist, bleibt eine Leerstelle, ein Nichts – und die Chiffre Amok greift genau auf diese Leerstelle zu. Man muss sich die Situation Whitmans noch einmal vergegenwärtigen: Der 25-jährige hat gerade zwei Morde begangen – an seiner Frau und seiner Mutter – und ist einzig daran interessiert, dass nach seinem Amoklauf seine Schulden bezahlt werden. 6HOEVWPLWGHP7RGYRU$XJHQYHUVXFKWHUQRFKHLQÃJXWHU0HQVFKµ]XVHLQXQG(Uwartungen zu erfüllen, die im konsensuellen Horizont des Amerikas der 1960er Jahre liegen. Er konstruiert sich als besessen („I don’t quite understand what it is that compels me to type this letter.“), weil es außerhalb seiner Vorstellungskraft liegt, was mit ihm passiert. Er sucht nicht im medialen, er sucht im sozial-materiellen Milieu nach Gründen für sein Verhalten. Was sich im Vergleich zwischen Whitman und dem Duo Harris/Klebold somit zeigt, sind die Modi der Subjektivierung, die in der Zeit zwischen den 1960er und 1990er Jahren eine eklatante Transformation erfahren. Die Ausweitung des Medienmarktes vor allem im Hinblick auf das Internet ermöglicht neue Formen und eine größere Bandbreite der Konstitution des Subjekts. „An die Stelle eines perfekten Selbst, das sich am Ideal einer gelungenen Lebensführung ausrichtet, tritt eine – ins Fiktionale – gesteigerte Subjektivität optimierter Selbstentfaltung.“23 :KLWPDQ ZLOO ÃJXWµ VHLQ ein guter Mensch, ein guter Sohn, ein guter Ehemann. Sein Ziel ist es sich in die Gesellschaft, die ihn umgibt, zu integrieren. Seine Aufzeichnungen legen eine Haltung nahe, die auf Selbstkontrolle und Optimierung der eigenen Persönlichkeit im Hinblick auf konsensuelle, sozial anerkannte Werte der Umwelt aus ist. So schreibt er in seinen 22 | Harris, zitiert nach Gaertner (2009), S. 83 23_%XEOLW]  6



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„Thoughts to start the day“: „CONTROL your anger (Don’t let it proof you a fool) / SMILE – Its [sic] contagious / DON’T be belligerent / STOP cursing, improve your YRFDEXODU\>«@&21752/\RXUSDVVLRQ'21¶7/(7,7OHDG«@LI\RX want to be better than average, YOU HAVE TO WORK MUCH HARDER THAN THE AVERAGE.“24 Entsprechend ist sein Abschiedsbrief eine beständige Selbstbefragung, eine verzweifelte Erkundung der eigenen Innerlichkeit. Damit sind im Vergleich der hinterlassenen Dokumente die historischen Verschiebungen in den vorhandenen Subjektkonstitutionen einer Gesellschaft selbst noch nachweisbar. Orientierte sich bürgerliche Subjektcodierung seit dem 18. Jahrhundert an der Arbeitsund Zeitdisziplin rationalisierter Arbeits- und Lebenswelten […], einer prinzipiengeleiteten, methodischen Lebensführung und am Ideal eines autonomen Selbst, das sich in systematischer Selbstkontrolle und Lebensführung […] stets als berechenbare, stabile Einheit weiß und aufrechterhält, so bildet das postdisziplinäre, auf ständige Veränderung angelegte Subjekt, das […] sich immer wieder neu hervorbringt und in seinem 6HOEVWEH]XJDQlVWKHWLVFKHP.RQVXPDUWL¿]LHOOHQXQGH[SUHVVLYHQN|USHURULHQWLHUWHQ Praktiken wie auch an medialen Praktiken des Navigierens und Experimentierens ausgerichtet ist, eher ein Kennzeichen gegenwärtiger Gesellschaften.25

Die Selbstbekenntnisse, über die sich school shooter konstituieren, verändern innerhalb der diachronen Entfaltung des Phänomens eklatant ihre Form. An Charles Whitmans Abschiedsbrief ist noch eine Selbstoffenbarungspraxis christlich-theologischer Zurichtung zu erkennen, eine mediale Form, in der „das beichtende Individuum seine Schuld, alle Details aufrechnend, gesteht und bereut.“26 Der Texas-Sniper versucht seiQH7DWHQDXVVHLQHUH[LVWHQWLHOOHQ%LRJUD¿HKHUDXV]XHUNOlUHQDXVGHQ.RQÀLNWHQPLW seinem Vater, den Schuldgefühle gegenüber seiner Mutter. Die Mordgedanken begreift er als Bedrohung, die seinem Wesen eigentlich äußerlich sind und die Integrität seines ,FKV NRUULGLHUHQ ,Q GHQ 6HOEVW]HXJQLVVHQ YRQ (ULF +DUULV XQG '\ODQ .OHEROG ¿QGHW sich nichts Vergleichbares. Die mörderischen Impulse werden euphorisch begrüßt und ausgestaltet, die Entgrenzung des Schüler-Ichs in ein Amok-Ich bewusst gesucht. Im Vergleich von Whitman und Columbine wird deutlich, dass im Zeitraum zwischen den 1960er und den 1990er Jahren ein Unsagbares durch ein Sagbares ersetzt wurde. Die Folie für diese Füllung, die konkreten Inhalte, die Harris‘ und Klebolds +DQGHOQOHLWHQXQGGDV0DVVDNHULQDOOHQ(LQ]HOKHLWHQSUl¿JXULHUHQVLQGPHGLDOYHUbreiteten Inhalten entnommen. Zwischen 1966 und 1999 ist eine bestimmte Form des Verhaltens sichtbar geworden und eine Art des Handelns, die die absolute Negation 24_:KLWPDQ]LWLHUWQDFK/DYHUJQH  6 25_%XEOLW]  6I 26_%XEOLW]  6 27 | Wie Ralph Larkin schreibt: „Prior to Columbine, even though revenge was the overwhelming rationale, perpetrators oftentimes were uncertain of their motivations or could not articulate them clearly.“ Larkin (2009), S. 1313

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jeglicher gemeinschaftlicher Werte bedeutet, kann exakt ausformuliert werden. Charles :KLWPDQEOHLEWGHUJUR‰H(LQVDPHGHUEHLNHLQHP$U]W+LOIH¿QGHWHLQJHVSHUUWLQGLH HLJHQH+LOÀRVLJNHLW,Q+DUULVµXQG.OHEROGV:RUWHQZHUGHQschool shootings kommunizierbar und die Selbstzeugnisse der beiden Schüler beginnen als Inspiration für spätere Täter zu wirken. Wo Whitman die Grenzen der eigenen Sprachfähigkeit erreicht, koppeln die Columbine-Täter ihre Taten an die verfügbaren Bilder und Narrative, die innerhalb der Gesellschaft, in der sie leben, virulent sind. So wird aus dem 20. April 1999 „the holy April morning of NBK“,28 benannt nach Oliver Stones Film NATURAL BORN KILLERS.

Verdecken und Enthüllen Im Gegensatz zu Charles Whitman ist bei den meisten späteren Tätern eine bewusste Abkehr von sozial normierten Werten zu erkennen. School shooter schaffen sich auf LKUHQEHVWlQGLJHQ5HLVHQGXUFKPHGLDOH:HOWHQHLJHQH0D‰VWlEHÃJXWHQµXQGÃVFKOHFKten‘ Verhaltens. Dabei steigern sie ihre Selbstentfaltung ins Wahnhafte, ein Prozess, der seine Kulmination im allpräsenten god-like¿QGHW:KLWPDQSUlJWGHU:XQVFKLQ der Gemeinschaft, der Familie, aufgehoben zu sein, in der Sozialität zu verschwinden. Harris und Klebold kleiden sich bewusst anders, inszenieren offen ihre Fremdheit. Darin gleichen sie älteren Tätern, wie etwa Ernst Wagner. „Er […] hangelt sich auf die für seine Herkunft schon ungewöhnliche Stufenleiter zum Lehrerseminar. Als er das geschafft hat, hebt er ab, spricht hochdeutsch und kauft sich gelbe Schuhe, mit denen er durch den Dreck stolziert, wo er sich an Bauernkindern verschwendet glaubt.“29 Wagner, der Paranoiker, der beständig fürchtet, er könne entlarvt und der Sodomie beschuldigt werden, inszeniert sich als Geck und will unbedingt aus der Menge herausstechen und auffallen. Es ist ein gefährlicher Tanz auf der Grenze zwischen Zeigen und Verbergen, zwischen von außen betrachtetem raptusartigen Anfall und Leaking, den die Täter vollführen. Ein riskantes Spiel mit Aufmerksamkeitsökonomien, mit dem Verschwinden in der Masse der Unsichtbaren und der offenen Ankündigung der mörderischen Absichten. Sie betten sich ein in ein komplexes Gewebe aus sozialen Normen, die implizit darüber bestimmen, was gesagt werden darf und was nicht, was der einzelne legitimiert ist zu zeigen und was Verdächtigungen nach sich zieht. „Aber bei mir bedeutet das Bekenntnis der Wahrheit den Tod“, 30 schreibt Ernst Wagner und markiert damit den Konnex zwischen dem einkalkulierten Ende des eigenen Lebens als Schlusspunkt der Tat, die ihrerseits die endgültige Wahrheit ausspricht – erst mit den Morden tritt die volle Persönlichkeit des Amokläufers ins Licht und gibt sich zu erkennen. Das Verhältnis von Enthüllen und Verbergen verändert sich in der Zeit zwischen 1960 und 1990 grundlegend. Wie die privaten Tagebuchaufzeichnungen des Amokläufers Ernst Wagners ist Charles Whitmans Rede unsichtbar, aufgehoben in seinem 28 | Vgl. http://www.acolumbinesite.com/dylan/writing.html 29 | Neuzner/Brandstätter (1996), S. 13 30 | Wagner, zitiert nach Neuzner/Brandstätter (1996), S. 113

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Abschiedsbrief und eingesperrt zwischen die vier Wände der psychiatrischen Praxis. Sein direktes Umfeld ahnt nichts von der Tat, während im Hinblick auf Columbine entsprechende Zeichen von Leaking im Blick zurück permanent zu beobachten waren. Eric Harris publizierte schon vor dem 20. April 1999 offen seine Wünsche und den Plan für die späteren Taten im Internet: „Ich kann gar nicht warten, bis ich euch alle töten kann. Ich werde einfach in irgendein Zentrum irgendeiner großen Arsch-Stadt gehen und in die Luft jagen und erschießen, was immer ich kann.“31 Der Mitschüler Brooks Brown, dessen Tod Harris auf seiner Webseite fordert, erinnert sich später in einem Interview: „Das war detailliert, er gab meine Adressen an, meine Telefonnummer, und schrieb dazu, es sei für jeden, der mir den Kopf abschneidet und ihm überbringt, eine Prämie ausgesetzt.“32 Whitmans Fall spricht noch von einer strikten Trennung des Privaten vom Öffentlichen, des Legitimen vom Illegitimen. Eric Harris’ Worte fordern vor allem eines: Aufmerksamkeit.

Der absolute Wunsch nach Sichtbarkeit Damit tritt ein Merkmal hervor, das innerhalb der historischen Entfaltung von school shootings mehr und mehr in den Mittelpunkt der Strategien der Täter steht. Im Hinblick auf Themen wie Erzählung, Sprache und Bild kreist das Phänomen – spätestens seit der von Harris und Klebold vorgeführten aktiven Form – um eine Figur der Sichtbarkeit. Damit lässt sich die Differenz zwischen school shooter und Selbstmörder unter medienökonomischen Gesichtspunkten sehr gut greifen. Am 8. April 1994 wurde in Seattle die Leiche Kurt Cobains gefunden. Der Sänger/ Songwrtiter hatte mit seiner Band Nirvana und dem 1991 erschienenen Album NevermindHLQH:HOOHORVJHWUHWHQGLHXQWHUGHP6FKODJZRUWÃGrunge‘ Eingang in die Musikgeschichte fand. Kurt Cobain war ein Popstar/Rockstar, sein Gesicht millionenfach reproduziert in Zeitschriften, Magazinen, Büchern und auf Internetseiten. Im Kontext VHLQHV6HOEVWPRUGHVZDUHVGXUFKDXVV\PSWRPDWLVFKGDVVGLH:DIIH±HLQH6FKURWÀLQWH – auf das Kinn von Cobain gerichtet war. Demnach wollte und hatte sich der Sänger ins Gesicht geschossen. In einer symbolischen Lesart ließe sich das Ziel Cobains folgendermaßen interpretieren: er wollte sein Gesicht auslöschen. Selbstmord hat mit Verschwinden aus der Sichtbarkeit zu tun, mit dem Ausradieren der eigenen Existenz – und dies ist nun das genaue Gegenteil dessen, was der school shooter bezweckt. Das primäre Ziel der Täter ist es, in die Sichtbarkeit zu rücken und so viel Aufmerksamkeit wie möglich zu generieren. Selbstmorde werden im Gegensatz zu school shootings nicht live im Fernsehen ausgestrahlt, die suizidale Person verschwindet aus dem Licht medialer Öffentlichkeit, die spätere Berichterstattung – die das Bild natürlich erneut präsent macht – ist nur ein sekundärer Nebeneffekt und liegt nicht innerhalb des Spektrums der Motivation des Selbstmörders.33 Marilyn Monroe 31 | Harris, zitiert nach Gaertner (2009), S. 36 32 | Harris, zitiert nach Gaertner (2009), S. 36 33 | Natürlich gibt es auch hier Gegenbeispiele – etwa die Selbstverbrennungen buddhistischer Mönche als Zeichen des politischen Protestes.

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stirbt alleine in ihrem Appartement, Jim Morrison wird in einer Pariser Badewanne gefunden. Die Selbstmorde Prominenter sind zuallererst intime, nicht-sichtbare Akte. Und auch wenn die immense mediale Präsenz nicht Teil von Charles Whitmans Plänen war – erst spätere Täter verbreiten ihr Bild gezielt in den Medien –, so verbindet sich doch heute die Aussichtsplattform des Turmes der University of Texas primär mit seinem Gesicht. Die Namen der unzähligen Selbstmörder, die sich vom Turm gestürzt haben, sind vergessen.34 In den Jahren nach Whitman schiebt sich der Wunsch nach medialer Aufmerksamkeit mehr und mehr in den Vordergrund, bis Seung-Hui &KRVHLQ campus shooting extra unterbricht, um auf dem Postamt seine Bekennervideos an einen Nachrichtensender zu schicken. „Sie können, indem sie öffentlich ¾JHVWHKHQ½XQGVLFKGDPLW¾HQWEO|‰HQ½VLFKHUJHKHQHUVWLP/LFKWNHJHOGHU0HGLHQ GDQQLQGHU¾+DOORI)DPH½PHGLDOHU+HOGHQXQGVFKOLH‰OLFKZHQQDXFKQXUIUNXU]H Zeit, im visuellen Gedächtnis der Mediennutzer/-innen zu landen, die beständig mitweben an ihrem Erfolg.“35 Diese Selbstinszenierung in der Öffentlichkeit ist bewusst gewollt, Ziel ist es, das eigene Gesicht in die medialen Kanäle zu speisen. Statt Auslöschung des Selbstbildes liegt im Herzen der school shootings, das eigene Bild zu produzieren – auch wenn viele Täter sich nach der Erschöpfung ihrer destruktiven Energien, am Ende ihrer Amokläufe wie Kurt Cobain in den Kopf schießen. Und diese Konstruktion des Eigenbildes erfolgt nicht im Sinne einer Pathosformel, wie es etwa bei den Werther-Nachahmungstaten zu beobachten ist, bei denen die Suizidanten das Bild der Fiktion szenisch einrichten, um in einem letzten Akt der Verschmelzung zu sterben. Bastian Bosse ist ein Niemand, ist nicht sichtbar, ehe er nicht an seiner Schule Amok läuft. Im Vorfeld seiner Tat bezeichnet er sich explizit als „Unsichtbarer“.36 Sein Schicksal erfüllt sich erst mit der Konstruktion und Distribution seines Bildes, seines Namens innerhalb der medialen Öffentlichkeit. Im Hinblick auf den Selbstmord ist das Gebot der Unterdrückung von Bildern innerhalb der journalistischen Berichterstattung weithin Konsens. Im Gegensatz dazu sind Amokläufe – und vor allem school shootings±(UHLJQLVVHGHUhEHUSURGXNWLRQYRQ%LOGHUQ'HPQDUUDWLYHQ'H¿]LWGHU Unmöglichkeit einer kausalen Erklärung wird ein Raum der absoluten Sichtbarkeit entgegengestellt, der alles zu sehen, aber nichts zu verstehen gibt.

Mediale Aufmerksamkeitsökonomie Vor seiner Tat betreibt der school shooter ein Spiel aus Enthüllen und Verschweigen, mit seiner Tat rückt er unwiederbringlich ins Bewusstsein öffentlichen Interesses. Die Täter wissen nur zu gut um die mediale Diskursivierung, die sie nach ihrer Tat erfah34 | Die Aussichtsplattform des Turmes musste des Öfteren aufgrund von Selbstmordwellen von den Behörden geschlossen werden. Vgl. Eberly (2004), S. 83ff 35 | Bublitz (2010), S. 13. Bublitz schreibt dies allgemein bezogen auf mediale Formate GHU6HOEVWHQWEO|‰XQJ±HWZD797DONVKRZV±QLFKWDXIGHQVSH]L¿VFKHQ.RQWH[WYRQ Amokläufern. 36 | Vgl. Vogl (2009), S. 46

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ren werden und versuchen noch zu Lebzeiten dieses mediale Bild zu modellieren. Sie verstreuen Botschaften, Nachrichten, Abschiedsvideos, Bekennerschreiben. Bastian Bosse stellt einen Abschiedsbrief und diverse Videos online, ehe er zur Schule fährt. Seine Beweggründe erklärt er so: „Weil ich weiss das die Fascholizei meine Videos, Schulhefte, Tagebücher, einfach alles, nicht veröffentlichen will, habe ich das selbst in die Hand genommen.“ Die Mechanismen journalistischer Arbeit, die Vorgehensweisen der Polizei sind bekannt und müssen demnach unterlaufen werden, weil der eigene Tod von Beginn an als Endpunkt der Tat gesetzt ist. Whitman hinterlässt einen ausführlichen Abschiedsbrief und schon der württembergische Amokläufer Ernst Wagner bat den evangelischen Theologen Christoph Schrempf, ihm im Tode zu Hilfe zu kommen: „Zunächst sollen sie mir helfen, daß ich, der Tote, selbst zu Wort komme. Wenn sie sich mit dem Inhalt der Schriften, die ich Ihnen zusenden werde, bekannt gemacht haben, werden sie leicht verstehen, daß ich sie bei Lebzeiten nicht habe veröffentlichen können.“38 Mit der Tat ist schließlich alles gesagt, sie ist das letzte Bekenntnis, und der school shooter verlässt den Schatten, in dem er zum Amokläufer geworden ist. Er schickt Abschiedsbriefe via Internet, in denen er sein Handeln erklärt, einreiht in die Tradition der Geschichten vom Krieg, die sich mit dem Pool an möglichen Bedeutungen des Amoks – diachron und synchron – verbinden. Die Verletzungen werden preisgegeben. Wie Ernst Wagner, der seine sodomitischen Handlungen am Ende enthüllt, tritt Bastian Bosse mit seinem Abschiedsbrief endgültig aus dem Versteck versuchter Konformität heraus: „Ich habe in den 18 Jahren meines Lebens erfahren müssen, das man nur Glücklich werden kann, wenn man sich der Masse fügt, der Gesellschaft anpasst. Aber das konnte und wollte ich nicht. Ich bin frei!“39 Der Amokläufer richtet seine Worte XQG%LOGHUDQGLH:HOWYHUOlVVWGHQYRQLKPSUl¿JXULHUWHQPHGLDOHQ5DXPXPLKQLQ den sozialen Handlungsraum zu tragen. Simultan rechnet er fest damit, dass seine Taten wieder Bild werden, eingehen in die Ordnung öffentlicher Sichtbarkeit. Eric Harris XQG'\ODQ.OHEROGVSHNXOLHUHQZHUEHLHLQHU9HU¿OPXQJLKUHV0DVVDNHUV5HJLHIKren wird und können sich zwischen Spielberg und Tarantino nicht entscheiden.40 Mit einem Schlag wollen die school shooter ins Licht der Scheinwerfer rücken, zeigen, was sie bisher verbergen mussten. Es ist das pervers souveräne Denken eines John Doe, dem Serienmörder aus David Finchers SE7EN (USA 1995), der mit dem eigenen Tod

37_%RVVH]LWLHUWQDFK6]XPHOGD  6 38_:DJQHU]LWLHUWQDFK1HX]QHU%UDQGVWlWWHU  6 39_%RVVH]LWLHUWQDFK6]XPHOGD  6 40 | Vgl. Gaertner (2009), S. 131. Schon der Fall Ernst Wagner fand Eingang in Hermann Hesses Erzählung Klein und Wagner. Ein Film blieb Wagner enthalten, auch wenn er „nach Art des heutige Reality-TV [fantasiert], daß man von seinem Feldzug gegen Mühlhausen einen Film drehen könnte.“ Neuzner/Brandstätter (1996), S. 60

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VHLQÃ:HUNµ]XU9ROOHQGXQJEULQJHQZLOO41 So äußern sich die Columbine-Attentäter auf einem der BASEMENT TAPES: Auf Harris‘ Wunsch „Ich hoffe, unsere Videos werden eines Tages überall auf der Welt gezeigt“, antwortet Klebold: „Wenn unser Meisterwerk vollbracht ist und jeder wissen will, warum wir es getan haben.“42 Damit ist das Verhalten der Amokläufer anschlussfähig an die Techniken künstleULVFKHUXQG¿OPLVFKHU,QV]HQLHUXQJLQGHUHQ=HQWUXPYRQ%HJLQQDQMHQHV9HUKlOWQLV von Verbergen und Enthüllen stand. Die Kunst legitimiert auch bestimmte Arten des =HLJHQVGHV6SUHFKHQVGH¿QLHUWZDVDOVLeaking zu gelten hat und was noch in den Rahmen sozial möglichen Ausdrucks fällt. Das Verhältnis zu medialen Ausdrucksweisen ist also nicht an der Peripherie des Phänomens angesiedelt, sondern steht im Zentrum.

41 | Wagner schreibt: „Ich bin frei von jeglichem Eigennutz, frei von Herrschsucht, aus purer Schönheitsliebe will ich der große Mörder sein.“ Wagner, zitiert nach Neuzner/ %UDQGVWlWWHU  6 42 | Zitiert nach Gaertner (2009), S. 130

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V. Sichtbarkeiten – Die Hysterie des school shooters

Die zwei Formen der Rede Amok tritt als Form der Erzählung, als diskursives Phänomen in den Horizont des abendländischen Wissens ein. Der Begriff wird benutzt, um bestimmte Arten des VerKDOWHQV XQG (PS¿QGHQV EHUKDXSW YHUVSUDFKOLFKHQ ]X N|QQHQ 'HU LPSRUWLHUWH %HJULIIPLWDOOVHLQHQGH¿QLWRULVFKHQ8QVFKlUIHQZLUGIUXFKWEDUJHPDFKWXQGHUOHEWLP 20. Jahrhundert einen steilen Aufstieg. Kulturhistorisch ließe sich sagen, dass sich das Wissen um den Amok mit einer bestimmten Strategie des Erzählens verbindet, einer Verknüpfung von Sicht- und Sagbarem, einer Art der Verständigung über die Welt und ihre Erscheinungen. Die Täter bleiben exotisch, fremd, ausgeschlossen aus den normativen Erwartungen des gesellschaftlichen Korpus an seine Individuen. So tradiert sich die koloniale Blickperspektive in die alte Welt und die Chiffre Amok bezeichnet die Leerstelle des Wissens und des Erklären-Könnens, die Phänomene wie der Fall des Hauptlehrers Wagner reißen. Mit der Etablierung der Verbindung von Begriff und Phänomen in der westlichen Hemisphäre stellen sich neue Aufgaben. Die Diskursivierung des Phänomens muss fortgesetzt werden. Es gilt, in den undurchschaubaren Todesstreifen zwischen Ursache und Wirkung einzudringen, um ihn in die Modelle psychiatrisch-medizinischen oder kriminologischen Wissens eingliedern zu können. Ã%HVHVVHQKHLWµ XQG Ã:DKQVLQQµ EH]HLFKQHQ QXU GDV9HUVDJHQ HLQHV:LVVHQV (V JLOW jenen Platz der Unvernunft und des Unwissens, der sich mit dem Amokläufer eröffnet, PLW GHQ HLJHQHQ %HJULIÀLFKNHLWHQ XQG 5DVWHUQ ]X IOOHQ XP GLH *HVXQGHQ YRQ GHQ Kranken trennen zu können. Im 20. Jahrhundert etablieren sich zwei verschiedene Arten des Erzählens. Die Rede der Täter und die Rede des gesellschaftlichen Wissens über jene Täter, die in den Spezialdisziplinen – dem Recht, der Kriminologie, der Psychiatrie – artikuliert wird. Im Fall Charles Whitman stimmen diese Erzählungen noch überein, der Texas-Sniper NRPPXQL]LHUWLQGHQSV\FKRSDWKRORJLVFKHQ%HJULIÀLFKNHLWHQVHLQHU=HLW(UEOHLEWVLFK selbst fremd, exotisch, beschreibt den Riss zwischen Ursache und Wirkung ohne ihn füllen zu können. Mit Columbine verdichtet sich eine Logik in der Rede der Täter, die sich bewusst gegen die dominierenden Raster der Beschreibung und Kategorisierung

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ZHQGHWXPHLJHQH%HJULIÀLFKNHLWHQ]XHQWZLFNHOQ(VHQWVWHKWHLQH9HUNQSIXQJ]ZLschen sozialer Ausgrenzung, Erniedrigung und den school shootings. Die Logik dieses Zusammenhangs beruht auf einem ganz bestimmten Modus des (U]lKOHQVHLQHUVSH]L¿VFKHQ9HUELQGXQJYRQ6LFKWXQG6DJEDUHP$XVPHGLHQZLVsenschaftlicher Perspektive stellt sich die Frage nach dem Phänomen school shooting als Erzählproblem. Als Konfrontation zweier Reden, die dasselbe soziale, semantische und symbolische Feld besetzen. Die Rede der school shooter konstituiert sich in diachroner Perspektive immer stärker über das mediale Erleben. Für die Analyse der Selbstzeugnisse der Täter müssen die Grenzen der psychiatrisch-soziologisch-kriminologischen Vorstellung verlassen werden, um der vermeintlichen Rätselhaftigkeit des Amoks dort zu begegnen, wo sie entsteht: in der Logik der verfügbaren Muster des medialen Erzählens, wie sie eine Gesellschaft zu einem bestimmten historischen Punkt bietet. Die Rede der Täter und die gesellschaftliche Rede stehen sich diametral gegenüber. Die Selbsterzählungen der school shooter kreieren eine bestimmte Anordnung von Ereignissen und Beziehungen zwischen den Partikeln des Sicht- und des Sagbaren, die in der Außenperspektive die konventionalisierte Kausalität unterlaufen. Übliche Reiz-Reaktionsmuster werden durch die Maßlosigkeit dieses Verhältnisses außer Kraft gesetzt und verlieren so ihre Gültigkeit. Damit bleiben auch school shooter dem Zweck des Transfers des Begriffs in die alte Welt verhaftet. Das krasse Missverhältnis zwischen Reiz und Reaktion ist einer der zentralen Gründe, warum Amok überhaupt im Horizont des abendländischen Wissens zu Beginn des 19. Jahrhunderts erscheint. Die unverhältnismäßige Verbindung von schwachem Reiz und explosiver Reaktion lässt sich an andere (natur-)wissenschaftlichen Fragestellungen des zeitgenössischen Denkens – etwa an die Untersuchung von chemischen Reaktionen – anschließen. „Am Anfall des Amokläufers stellte man […] ein Verhältnis fest, das in nicht linearen Beziehungen aufgeht und das ein angemessenes Verhältnis zwischen der Stärke eines Reizes und seinen nachfolgenden Effekten unterläuft.“1 Das Maß des Unmaßes, die totale Unverhältnismäßigkeit zwischen Reiz und Reaktion gerinnt zu einem zentralen Topos des zeitgenössischen Interesses. Die Physik untersucht spektakuläre Phänomene unter dem Begriff der Auslösung.2 Die Psychiatrie wendet sich dem Ereignis Amok zu und formiert sich unter dem VorzeiFKHQGHU1LFKW(UNOlUEDUNHLWVFKHLQEDUZLGHUVLQQLJHURGHUÃYHUUFNWHUµ3KlQRPHQHDOV wissenschaftliche Disziplin.3 In dieser Tradition besetzen school shooter den blinden Fleck einer anderen Logik, die sie mit Waffengewalt sichtbar machen. Ihre Logik ist vergleichbar denen des Paranoikers oder des Hysterikers, als pathologisch kategori-

1 | Vogl (2004), S.143 2 | Kluge/Vogl (2008), S. 89 3 | Wie Joseph Vogl schreibt: „Wie keine andere Sozialwissenschaft rechtfertigt sie sich durch die Figur einer absoluten, weil unerkennbaren Gefahr, die den sozialen Körper heimsucht und Wahnsinn und Vernunft ununterscheidbar macht.“ Vogl (2004), S. 142

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sierten Fällen, deren Reiz-Reaktionsmuster die Grenzen des sozial akzeptierten Verhaltens unterlaufen. Mit Blick auf die Verbindung von Ursache und Wirkung lassen sich im Verhalten des Amokläufers bestimmte Zeitlichkeiten beobachten, die im Blick von außen, wie er etwa in der massenmedialen Berichterstattung erscheint, nicht unmittelbar sichtbar werden. Was eine Einordnung in normale Kausalitätsverhältnisse erschwert, sind die zeitlichen Verzögerungen, die anhand der Selbstzeugnisse der Täter zu beobachten sind. Die Verkettung erfolgt nicht linear-chronologisch, Ereignis reiht sich nicht nahtlos an Ereignis, Reiz nicht direkt an Reaktion. Dazwischen steht eine individuell unterschiedlich lange Latenzzeit.4 Aufgrund der Selbstzeugnisse der Täter lässt sich diese Zeitspanne als die entscheidende, aktive Phase untersuchen, in der der spätere school shooterVSH]L¿VFKH2SHUDWLRQHQGXUFKIKUWGLHGLUHNWDOV9RUEHUHLWXQJDXIGLH Taten und als Vorbedingung der Morde zu bewerten sind. Innerhalb dieses Zeitraums, in dem alle unmittelbaren Reaktionen ausgesetzt werden, um sich zu einem explosiven Ausbruch zu formen, generiert der Amokläufer seine ureigenste Logik, schreibt und erzählt seine eigene Geschichte um. Der Täter rekonstruiert die eigene Geschichte allein im Hinblick auf die Person, die er gewesen sein wird: dem school shooter.

Ein Bild und im Bild werden Die Bekennervideos der school shooterVLQG(U]lKOXQJHQHLQHVVSH]L¿VFKHQ6HOEVW(Lnes Amok-Selbst. Einer Figur, die anhand medialer Inhalte in der Imagination geboren, Stück für Stück modelliert wird und schließlich ihren Weg in die soziale Welt antritt. School shootings sind kontingent, die Psychologien und individuellen Motivationen der Täter unterschiedlich. Doch auf der Seite der Muster, anhand derer sich die Taten vollziehen, lassen sich wiederkehrende Muster erkennen und beschreiben, iterative 0RPHQWHGLHPLWMHGHPQHXHQ)DOOPRGL¿]LHUWXQGYDULLHUWZHUGHQDEHUGHP+DQGHOQ basal zugrunde liegen. Mediale Inhalte bedeuten zunächst Narrative, bestimmte Inhalte, Muster des Verhaltens, Rollenbilder, wie es am Beispiel Bastian Bosses, der sein Selbstbild entlang der visuellen Koordinaten eines Stills aus dem Film MATRIX ausprägt, evident wurde. Dies ist die offensichtliche Dimension des Verhältnisses zwischen medialem und sozialem bzw. personalem Bild. Doch man wird die eigentliche Ebene jener Beziehung verfehlen, wenn man rein auf der Ebene des Inhalts verbleibt. Denn das eigentliche Moment der Überschreitung sind die Modi der Verknüpfung zwischen Fiktion und Realität, wie sie sich mit jedem school shooting neu aktualisieren. Es gibt eine Genealogie der Muster dieser Verknüpfung, school shooter sind keine (U¿QGHUVLHVFKOLH‰HQQXUDQGDVDQZDVVLHLQQHUKDOELKUHU.XOWXUXQG=HLWDQYHUIJEDUHQ(UIDKUXQJVXQG(UOHEHQVKRUL]RQWHQYRU¿QGHQ,QLKUHQ(U]lKOXQJHQXQG7DWHQ 4 | Am deutlichsten war diese Phase an Robert Steinhäuser zu beobachten, der nach seinem Ausschluss aus dem Gymnasium und vor seinem Amoklauf Tag für Tag ein Café in der Erfurter Innenstadt besuchte, wo er las und schrieb. Seinen Eltern erzählte er in dieser Zeit, er gehe immer noch zur Schule. Vgl. Brinkbäumer et al. (2002), S. 140



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ÀLH‰HQ)LNWLRQDOHVXQGVXEMHNWLYUHDO(UOHEWHVELV]XHLQHP3XQNWGHU8QXQWHUVFKHLGbarkeit ineinander. Im Folgenden soll ein deskriptives Modell entwickelt werden, das den individuellen Zusammenhang zwischen Bilderfahrung, Welterleben, Subjektivität und Handlung greifbar macht. Um die historische Dimension eines solchen Modells zu präparieren, möchte ich in einem ersten Schritt auf die Hysterieforschung zurückgreifen. Anhand der Hysterie wurde so klar wie an keinem anderen Phänomen aufgezeigt, wie einzelne Personen im %LOGXQGGXUFKGDV%LOGVSH]L¿VFKH9HUKDOWHQVZHLVHQDQQHKPHQXQGUHSURGX]LHUHQ Und dies ist die basale Grundlage jeden Verständnisses der Selbstinszenierungen von school shootern. An der Hysterie lassen sich die grundlegenden Prinzipien des Verhältnisses von aktiver und passiver Form, Kunst und Verhalten und der Faltung verschiedener Perspektiven an einem historischen Beispiel aufzeigen. Dabei kann es innerhalb dieser Untersuchung nicht darum gehen, die Geschichte und diskursive Verhandlung der Hysterie in all ihren Schattierungen nachzuzeichnen. Das Ziel ist es, school shootings in einen breiteren geistesgeschichtlichen Kontext zu fügen, um deutlich zu machen, dass sich Form und Verbreitung des Phänomens durchaus vergleichen lassen mit anderen (historischen) Phänomenen. Der Schwerpunkt des Interesses an der Hysterie richtet sich demnach klar auf das Verhältnis zwischen Medium und Verhalten. Konkret heißt das, dass vor allem die Überlegungen zum konstiWXWLYHQ0RPHQWGDVGLH)RWRJUD¿HXQG1DUUDWLYHLP6LQQHYRQYHUN|USHUWHQ(U]lKOmustern des individuell-existentiellen Verhaltens im späten 19. und zu Beginn des 20. Jahrhundert entfalten, im Fokus stehen.5 Mit der Hysterie kommt das Verhältnis zwischen Psychopathologie und Kunst, wie es seit den frühesten medialen Zuschreibungen zum Phänomen school shooting iterativ inszeniert wird, von Neuem in den Blick. Rückt man school shootings vor den Horizont eines solchen Vergleichs, so ist der ungesicherte Status der bekannten Fälle zwischen den Wissensdisziplinen kein Zufall. Im Kontext der Hysterie lässt sich eine lKQOLFKH )DOWXQJ GHU 3HUVSHNWLYHQ ¿QGHQ ZLH VLH VLFK DP %HLVSLHO$PRN EHUHLWV LQ Stefan Zweigs Novelle manifestierte, wo die Erzählung des Arztes die klinische und die literarische Rede in sich vereint. 'LH+\VWHULHLVWGDV3URGXNWHLQHUVSH]L¿VFKHQKLVWRULVFKHQ.RQVWHOODWLRQGLHVLFK mit den Namen zweier Männer, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts intensiv bemühten, das Rätsel der Hysterie endgültig zu klären, verbinden: Jean-Martin Charcot und Sigmund Freud. In beiden Fällen verbindet sich der medizinisch-empirische Blick mit einem ästhetischen, beide sind an der Hysterie ebenso interessiert wie am 5 | Daraus folgt, dass ich in meiner Analyse nicht auf die Frage nach der Hysterie als ZHLEOLFKFRGLHUWHU.UDQNKHLW±DOV.UDQNKHLWGLHLQJHZLVVHQ=HLWHQÃGDV:HLEOLFKHµFRdierte – eingehen werde. Zu Recht wurde die Hysterie dominant innerhalb der GenderIRUVFKXQJXQGLP+LQEOLFNDXIGLHJHVFKOHFKWVVSH]L¿VFKHQ=XVFKUHLEXQJHQXQWHUVXFKW Allerdings spielen diese Faktoren an dieser Stelle eine untergeordnete Rolle, richtet sich PHLQ,QWHUHVVHGRFKDXIGLH)XQNWLRQGHU)RWRJUD¿HXQGYRQQDUUDWLYHQ0XVWHUQMHQVHLWV diskursiver Zurichtungen von männlichen und weiblichen Attributen

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]HLWJHQ|VVLVFKHQNXOWXUHOONQVWOHULVFKHQ/HEHQGDVLQLKUH$UEHLWHQHLQÀLH‰W6 Beide Ärzte schreiben die Geschichte der Hysterie neu, allerdings unter dem Vorzeichen verschiedener Leitmedien: im Wechsel von Charcot zu dessen Schüler Freud, von der Psychiatrie zur Psychoanalyse, ist der Übergang von der Dominanz des Bildes zur Hegemonie des Wortes zu beobachten, eines Verhältnisses, das sich mit dem Auftauchen der school shooter ab den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts mit aller Dringlichkeit von Neuem stellen wird.

Die fotograf ische Klinik Jean-Martin Charcots Ursprung und Genese der Hysterie sind nach wie vor unbekannt. Sie taucht bereits in den frühesten Aufzeichnungen medizinischen Wissens des Abendlandes auf, um EHUGLH-DKUKXQGHUWHKLQZHJXQWHUYHUVFKLHGHQHQ1DPHQ]X¿UPLHUHQ Begriffs- und Phänomengeschichte driften – analog zur Verwendung der Chiffre Amok – bisweilen PDUNDQWDXVHLQDQGHU'LH%H]HLFKQXQJÃ+\VWHULHµPDUNLHUWLQGLDFKURQHU%HJULIIVJHVFKLFKWHHLQHQ3RROXQVSH]L¿VFKHU6\PSWRPHGHUHQ8UVDFKH]XQlFKVWLQGHQ:DQGHrungen der Gebärmutter durch den weiblichen Körper vermutet wurde, ehe sie zu einer Neurose, einer Krankheit sine materie – ohne organische Ursache – erklärt wird. Jean-Martin Charcot schickt sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts in seiner psychiatrischen Klinik – der Salpêtrière in Paris, in der eine Vielzahl hysterischer Fälle interniert ist – an, das Rätsel, das die Hysterie dem medizinischen Wissen seit Anbeginn aufgibt, zu lösen. Rätselhaft ist die Hysterie zunächst wegen der vermuteten, aber nicht nachweisbaren Verbindung zwischen Physiologie und Psyche, d.h. der organiVFKH2UWLP.|USHUGHUEHIDOOHQHQ/HLEHULVWQLFKWHLQGHXWLJ]X¿QGHQ&KDUFRWQlKHUW sich diesem Riss über die Visualität der Erscheinung der Hysterie.8 Im Zentrum seiner Arbeit steht das Bemühen, jene körperlich inszenierten und erlittenen Symptome der +\VWHULNHU]XRUGQHQXQG]XNODVVL¿]LHUHQXPGDV3UREOHPGHU)RUPHQYLHOIDOWXQGGHV unsteten Ausdrucks in den Griff zu bekommen.9 Damit ist die Ausgangslage Charcots 6 | Die Hysterie gerinnt so zu einem Knotenpunkt unterschiedlicher Diskurse:„In den :RUWHQ&DUUR\7KLUDGVEH¿QGHQVLFK&KDUFRWV+\VWHULNHUJHQDXDQMHQHP.QRWHQSXQNW multipler Szenen, an dem wissenschaftliche, religiöse und ästhetische Darstellungen im Streit darüber, was echter Ausdruck psychischen Leidens und was lediglich vorgespielt sei, miteinander verknüpft sind.“ Bronfen (1998), S. 282 7 | Manfred Schneider zeichnet im Nachwort zu der von Charcot und Richer geschriebenen Abhandlung über die Besessenen in der Kunst den Weg der Hysterie von ihrem frühen Auftauchen im antiken Griechenland über Formen der Besessenheit und Hexenverfolgung im Mittelalter bis ins Paris des 19. Jahrhunderts nach. Vgl. Schneider, 0DQIUHG  6II 8_9JO'LGL+XEHUPDQ  6 9 | Silvia Henke, Martin Stingelin und Hubert Thüring scheiben: „Charcot wollte %ULTXHWV ORJLVFK ZLGHUVSUFKOLFKHQ =LUNHO GLH +\VWHULH GXUFK LKUH 8QGH¿QLHUEDUNHLW ]XGH¿QLHUHQVSUHQJHQXPVLHDXVGHQVFKPXW]LJHQHQWVWHOOHQGHQXQGXQHQWZLUUEDUHQ Ketten dieses Paradoxons zu befreien und in ein reines klinisches Erscheinungsbild zu

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GHQKHXWLJHQ9HUVXFKHQHLQHU'H¿QLWLRQGHV$PRNVDQDORJ'DV3UREOHPOLHJWLQGHQ Unreinheiten der Erscheinung, der übertriebenen Anschlussfähigkeit des Phänomens an andere zeitgenössische – meist pathologische – Phänomene. &KDUFRWLVROLHUWGLH+\VWHULHEHJULIÀLFKZLHUlXPOLFK]XQlFKVWYRQDQGHUHQ)RUmen des psychopathologischen Leidens – etwa der Epilepsie. Viel mehr als eine Therapie entwickelt der französische Psychiater in seiner Klinik durch die Systematisierung der bekannten Fälle eine Nosologie der Krankheit. Charcots Leistung besteht so in der vollbrachten Kategorisierungsarbeit. In diesem Sinne ist auch die Wendung George 'LGL+XEHUPDQV]XYHUVWHKHQGHU&KDUFRWGLHÄ(U¿QGXQJGHU+\VWHULH³]XVFKUHLEW10 (U¿QGXQJEH]LHKWVLFKDXIGLHJH]LHOWHGLVNXUVLYH=XULFKWXQJXQGYLVXHOOH9HUPHVVXQJ des Krankheitsbildes – das in der Vergangenheit immer neue Variationen entwickelt KDWWH ± GXUFK GLH )RWRJUD¿H 0LW GHP PDVVLYHQ (LQVDW] GHV 0HGLXPV ]X PHGL]LQLschen Forschungszwecken steht Charcot in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht alleine, sondern ist Teil eines größeren Umbruchs des epistemischen Paradigmas seiner Zeit. Als vermeintlich realistische Abbilder pathologischer Symptome durchbrachen FotoJUD¿H XQG )LOP ]XVHKHQGV GLH WUDGLHUWH 9RUKHUUVFKDIW GHV 7H[WHV XQG HWDEOLHUWHQ GDV 3ULPDW GHV 9LVXHOOHQ 6HLW GHQ HU -DKUHQ ZXUGHQ DQ ]DKOUHLFKHQ SV\FKLDWULVFKHQ XQGQHXURORJLVFKHQ.OLQLNHQ(XURSDV>«@IRWRJUD¿VFKH/DERUDWRULHQXQGSDWKRORJLVFKH Bildarchive eingerichtet.11

Das Paradigma des Visuellen und des Blicks in der Arbeit Charcots ergibt sich notwendigerweise aus der fehlenden organischen Ursache der Hysterie. Da er im Inneren der .|USHUNHLQDXVO|VHQGHV0RPHQW¿QGHWNDQQGHUlU]WOLFKH%OLFNQXUGLHVLFKWEDUHQ bX‰HUXQJHQGLH:LUNXQJHQDQGHU2EHUÀlFKHMHQHU.|USHUXQWHUVXFKHQ12 Das Beispiel Charcot eröffnet innerhalb des Untersuchungskontextes dieser Arbeit VRPLWGHQ%OLFNDXIEHVWLPPWH.RQ¿JXUDWLRQHQGHV9HUKlOWQLVVHV]ZLVFKHQ,QQHQXQG $X‰HQN|USHUOLFKÃVHHOLVFKHQµ8UVDFKHQXQGLKUHPVLFKWEDUHQ$XVGUXFN$QGLHVHP Punkt treffen sich Psychiatrie, Psychoanalyse und Kino, arbeiten sie sich doch – notwendigerweise und mit sehr verschiedenen Mitteln und Ergebnissen – an dieser Relation ab. „Die Hysterie war zu jedem Zeitpunkt ihrer Geschichte ein Schmerz, der gezwunJHQHUPD‰HQHUIXQGHQZHUGHQPXVVWHDOV6FKDXVSLHOXQGDOV%LOGHUJLQJVRJDUVRZHLW VLFKVHOEVW]XHU¿QGHQ VHLQ=ZDQJZDUVHLQH(VVHQ] DOVGDV7DOHQWGHUSDWHQWLHUWHQ überführen, das einer strikten formalen Gesetzmäßigkeit folgen sollte, die sich in einem 7DEOHDXGXUFKHLQHKLHUDUFKLVFKH.ODVVL¿NDWLRQDOOHU6\PSWRPHYHUDQVFKDXOLFKHQOLH‰³ +HQNHHWDO  6 10 | Georges Didi-Huberman 'LH(U¿QGXQJGHU+\VWHULH±'LHSKRWRJUDSKLVFKH.OLQLN des Jean-Martin Charcot0QFKHQ 11_5HLFKHUW  6 12_9JO'LGL+XEHUPDQ  6

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Erzeuger der Hysterie nachließ“13, schreibt Didi-Huberman und zeigt im Folgenden DXIGDVVGLHVH(U¿QGXQJHLQHV.UDQNKHLWVELOGHVXQGGLH6\PSWRPHGHU+\VWHULHHVVHQWLHOOHV 3URGXNW GHV 0HGLXPV )RWRJUD¿H VLQG 'HQQ &KDUFRW XQWHUOLHJW LQ VHLQHP Bestreben, das Wesen der Hysterie zu erforschen, einer fundamentalen Verkennung der Krankheit, weil er den imitatorischen Charakter ihrer Erscheinung nicht in vollem Ausmaß erkennt.14 Schon jene erste von Charcot eingezogene Differenz, jene zur Epilepsie, beruht auf einem Irrtum des Arztes. ,QVHLQHP%HVWUHEHQGDVUHLQH%LOGGHU+\VWHULH]X¿QGHQEHUVLHKW&KDUFRWGDVV „die Ähnlichkeiten zwischen dem hysterischen und dem epileptischen Anfall darauf beruhten, daß die beiden Klassen von Kranken in einem Saale der Salpêtrière untergebracht waren.“15 So entpuppt sich Charcots nosologisches Verfahren als fundamentale Basis für die Entfaltung und Verbreitung der Krankheit, ist die Hysterie doch genuin GLH.UDQNKHLWGHU,PLWDWLRQ6WDWWHLQH7KHUDSLH]X¿QGHQ¿[LHUWXQGYHUPLVVWHUHLQH Vielzahl von Symptomen zu einem visuellen Katalog hysterischer Praxis, der in seiner DQVFKDXOLFKHQ)RUPMHGHU]HLWLPLWLHUEDUZLUG'XUFKGLH)RWRJUD¿HLKUH9HUZHQGXQJ als Technik der Fixierung der hysterischen Posen, wird das Bild der Krankheit festgeschrieben, damit verfügbar und imitierbar gemacht. Das Bild der Krankheit als Äußerung in den Stellungen des Körpers der befallenen Leiber wird grundlegende Voraussetzung für die Verbreitung eines Modus des Verhaltens, dessen letztgültige Ursache ZHGHU&KDUFRWQRFKLP$QVFKOXVV)UHXG¿QGHQN|QQHQ16 Charcot führt seine Patienten in den „Dienstagsvorlesungen“den interessierten Beobachtern vor. Der Neurologe spricht von seiner Klinik als einem „lebenden pathologischen Museum“,18 LQ GHP GLH YRQ LKP IHVWJHVFKULHEHQHQ .ODVVL¿]LHUXQJHQ am individuellen lebenden Körper nachvollzogen werden können. Das Paradigma des ärztlichen Blickes folgt dabei einem Glauben an die reine visuelle Erkennbarkeit der Dinge.19 13_'LGL+XEHUPDQ  6 14 | Vgl. Schneider, Manfred (1998), S. 154 15 | Schneider, Manfred (1998), S. 154 In der Salpêtrière verwandeln sich normale MädFKHQPDQFKPDOLQ]ZHL7DJHQLQ+\VWHULNHULQQHQ9JO'LGL+XEHUPDQ  6 16 | So sieht es der Blick zurück:„Niemand hat die Hysterie geheilt, niemand hat sie EHUZXQGHQVLHLVWGDYRQJHODXIHQ>«@XQGKDWVLFKZLHPDQVDJWYHUÀFKWLJW³+HQNH HWDO  6 17_'LGL+XEHUPDQ  6 18 | Charcot, zitiert nach Schneider, Manfred (1998), S. 144 19 | Damit unterwirft sich Charcot dem Paradigma des ärztlichen Blickes seiner Zeit, bei der sich „die ärztliche Erkenntnis, das Methodische der Diagnose in ein Verfahren YHUZDQGHOW >KDW@ EHL GHP PLW RSWLVFKHQ $JJUHJDWHQ 2EHUÀlFKHQ DEJHWDVWHW ZHUGHQ³ Schneider, Manfred (1998), S. 145. Freud hebt in seinem Nachruf auf Charcot diesen Zug in der Theoriebildung seines einstigen Mentors hervor: „Er war kein Grübler, kein Denker, sondern eine künstlerisch begabte Natur, wie er es selbst nannte, ein visuel, ein 6HKHU>«@(USÀHJWHVLFKGLH'LQJHGLHHUQLFKWNDQQWHLPPHUYRQQHXHPDQ]XVHKHQ

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Dies zeigt sich nicht zuletzt an Charcots Lektüre kunsthistorischer Werke, die er in einen genealogischen Zusammenhang mit den in der Salpêtrière angefertigten Porträts der Internierten bringt. „Die Symptomatik und Dynamik von körperlichen Abläufen, wie sie auf alten Darstellungen des Motivs der Teufelsaustreibung wiederkehrten, lasen sie [Charcot und sein Koautor Richer] als naive, aber authentische Protokolle eines Krankheitsbildes, das sie […] Hysterie nannten.“20 Der Blick der Ärzte entwickelt rekonstruktiv das Bild der Hysterie aus der Kunstgeschichte heraus, verbindet differente Materialien und Darstellungen zu einer einzigen Geschichte der Hysterie und verwischt dabei die Grenzen zwischen medizinisch-empirischem und ästhetischem Blick.21 Jene Figurationen, die er aus den Werken der Kunst präpariert, vermittelt Charcot schließlich in einem zweiten Schritt an seine Modelle, d.h. Patienten und so kommt es zu einer Konversion von medialem, künstlerischen Bild und real empfundenem Leiden. Die Befriedigung des ärztlichen Blickes erfolgt über das Sichtbare und so installiert Charcot die Hysterie als einen „Zyklus von Bewegungen und Gebärden, die selbst Imitationen sind.“22 Erkennen, Kennen und Verkennen gehen Hand in Hand. Der Anspruch des Arztes, die Thesen und Ikonographien an lebenden Körpern realisiert zu sehen, treibt die Bilder aus dem Raum der Kunst auf die Bühne des Vortragssaals der Salpêtrière. Aus dem rein registrierenden Blick – der sich perfekt mit den zeitgenössischen Zuschreibungen DQGLH2QWRORJLHGHVIRWRJUD¿VFKHQ%LOGHVYHUELQGHW23 – wird schnell ein fordernder Blick, der das Leiden der Hysteriker zu einem Schauspiel degradiert, die Internierten zu Artisten werden lässt und die Differenz zwischen echtem pathologischem Verhalten und der Reproduktion iterativer, medial modellierter Gesten nivelliert. Denjenigen, die die erwarteten Gesten nicht zu produzieren vermögen, droht die Abschiebung zu GHQÃZDKUKDIWµSV\FKLVFK.UDQNHQGHQHQHLQHEHYRU]XJWH%HKDQGOXQJDEJHVSURFKHQ Tag für Tag den Eindruck zu verstärken, bis ihm dann plötzlich das Verständnis derselben aufging.“ Freud (1969), S. 21 20 | Schneider, Manfred (1998), S. 141. Diese Verwendung retrospektiver Sinnentfaltung ¿QGHW VHLQHQ $XVGUXFN ]XP %HLVSLHO DXFK LQ %HVFKUHLEXQJHQ GHU 'DUVWHOOXQJHQ GHU Tanzwut. Joseph Schuhmacher schreibt über einen Stich von Hendrik Hondius d. Ä.: „Bei der vierten Frau ist der hystero-epileptische Krampf als Charakteristikum des großen Veitstanzes in der ganzen Haltung und Körperverrenkung und dem Versuch, sich von den haltenden Männern frei zu machen, deutlich typisiert.“ Schuhmacher, S. 63f 21 | Didi-Huberman konstatiert, dass Charcots nosologisches Bestreben auf der Trans¿JXUDWLRQUHOLJL|VHU,NRQRJUDSKLHEHUXKWXQGGDVVDQGLHVHU6WHOOHHLQIXQGDPHQWDOHV Einverständnis zwischen Medizin und Kunst zu verzeichnen ist. Vgl. Didi-Huberman  6 22 | Schneider, Manfred (1998), S. 146 23 | Dies lässt sich bereits am Titel der ersten größeren theoretischen Abhandlung zur )RWRJUD¿H:LOOLDP7DOERWVThe Pencil of Nature von 1844 ablesen: „Basis aller Überlegungen einer Ästhetik der Photographie ist für Talbot das Prinzip ihrer Entstehung als Naturleistung. Es ist der Effekt des Lichts auf die Materie.“ Berg (2001), S. 30

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wird.24 Denn die Hysteriker sind die Stars der Salpêtrière. Charcots Sympathie mit dem LQGLYLGXHOOHQ)DOOVWHLJWPLWGHU%HUHLWVFKDIWGHU3DWLHQWHQGLHYRQLKPNODVVL¿]LHUWHQ und damit erfundenen Gesten und Symptome bildgerecht zu reproduzieren.25 Im Sinne Edward Shorters produzieren sie die Laute, die Charcot und seine Assistenten als legitime Symptome festschreiben. Der Blick der Kamera und der Ärzte registriert ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr, er fordert Bestätigung der eigenen, nosoloJLVFK¿[LHUWHQ9HUPXWXQJHQ Damit manifestiert sich das konstitutive Verkennen in der Subjektbildung im Sinne Lacans ein weiteres Mal. Prägend für das eigene Bild, das auf der Bühne der Dienstagsvorlesungen in Erscheinung tritt, ist der von den Hysterikern imaginierte Blick Charcots. An diesem Punkt wird die Unterscheidung zwischen passivem Pathos, dem Erleiden von psychosomatischen Zuständen, wie es etwa für den Epileptiker charakWHULVWLVFKLVWXQGGHUDNWLYHQ5HSURGXNWLRQVSH]L¿VFKHU*HVWHQXQG+DOWXQJHQZLHHV für den Schauspieler kennzeichnend ist, ununterscheidbar. 'LH(LQÀVVHDXIGLH$XVJHVWDOWXQJGHVK\VWHULVFKHQ$QIDOOVVLQGYDULDEHOXQGEHL weitem nicht auf die Epilepsie beschränkt. So beschreibt Elisabeth Bronfen den Fall Geneviève, die „im Zustand delirierender Halluzinationen zwischen erotischen Gesten […] und den Posen ekstatisch verklärter Heiliger schwankte, Louise Lateau imitierend, eine stigmatisierte, in Belgien ansässige Nonne, von der die Pariser Tageszeitungen damals berichteten.“260HGLDOH,QKDOWHJHZLQQHQVRPDVVLY(LQÀXVVDXIGLHLQGLYLGXelle Figuration hysterischer Anfälle, die Zeitungen bieten Inspiration für immer neue Formen des Verhaltens, das jede Konformität übersteigt. Entscheidend für die Diagnose ist dabei der Riss in der topographischen und zeitlichen Verknüpfung. Was in dem einen Milieu als religiöse Verklärung gilt (Louise Lateau), erscheint in der Salpêtrière als hysterische Artikulation verdrängten Leids (Geneviève). Die Hysterie verdichtet in ihrem Bild also bestimmte Teile des innerhalb einer Kultur gegebenen und verfügbaren Bildrepertoires, insofern ist jeder Patient Schauspieler und Regisseur seines Anfalls, montiert er doch die Szenen und Bilder aneinander. Der Übergang der Hysterie in ein wahres Schauspiel erfolgt über die Gliederung der hysterischen Anfälle in vier Phasen, die Charcot aus seinen Beobachtungen präpariert: Der Anfall beginnt mit einem epileptoiden Zustand, auf den eine Phase des Clow24_9JO'LGL+XEHUPDQ  6 25 | Zu ungebrochener Berühmtheit schaffte es vor allem die Lieblingshysterikerin Charcots, das Mädchen Augustine, die mit 15 Jahren zu ihm gebracht wurde. „Augustine war, wie ein späterer Kritiker bemerkte, das Mannequin von Charcots Hysterietheorie.“ Schneider, Manfred (1998), S. 139 26 | Bronfen (1998), S. 265 27 | Wiederum zeigt sich dies besonders an Augustine: „Auf Verlangen konnte sie kurzfristig mit den Stigmata und Halluzinationen aufwarten, die ihre diversen psychischen Verwundungen zum Ausdruck brachten, und genau diese Inszenierungen und Reproduktionen des hysterischen Anfalls sind es, in denen […] das Pathologische und das künstlerische Genie miteinander verschmelzen.“ Bronfen (1998), S. 292

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nismus folgt, der durch Verrenkungen und unlogische Bewegungen gekennzeichnet ist. Im dritten Stadium verfällt der Hysteriker in plastische Posen, die in ein Delirium münden, in dem der Patient versucht, den Anfall zu stoppen.28 Die Hysteriker auf der Bühne der Salpêtrière halten sich, den Erwartungen ihres Arztes gemäß, an diese Dramaturgie. Das Bild der Hysterie gewinnt so unter den Blicken der Zuschauer einen regelmäßigen Ablauf. Das Mädchen Augustine steigt schnell zum Star der Salpêtrière auf, weil sie ihre Anfälle genau zu steuern weiß. Entsprechend der medizinisch-theRUHWLVFKHQ3Ul¿JXUDWLRQLKUHU.UDQNKHLWVLPXOLHUWXQG¿NWLRQDOLVLHUWVLHGDVZDVVLH zu sehen gibt und zu durchleiden hat in den Zyklus eines jeder Zeit reproduzierbaren 6FKDXVSLHOV6LHHU¿QGHWXQGPRGHOOLHUWVLFKÄLQGHU%HZHJXQJGHUhEHUWUDJXQJ³29, das Ereignis des Anfalls gerät zu einem unreinen Bild, in dem das somatische Leiden und die Gesten, die es hervorbringt, nicht mehr von den medialen Inhalten, den GemälGHQGHU%HVHVVHQHQXQGGHQ)RWRJUD¿HQGHU+\VWHULNHU]XXQWHUVFKHLGHQVLQG30 Aus der Inszenierung eines Moments der Besessenheit in einem Gemälde wird eine Starre des Ausdrucks von real leidenden Hysterikern, die die Gemälde imitieren.31 'LHUHSURGX]LHUWHQ3RVHQZHUGHQDOV)RWRJUD¿HZLHGHULQGHQPHGLDOHQ+DXVKDOW eingespeist. So wird die Bildökonomie der Salpêtrière, die Verfügbarkeit von bestimmten Bildern, Stück um Stück erweitert und entgrenzt. Die Beziehungen zwischen Bild und Körper, Kunst und Verhalten, sind dabei – verwendet man die anerkannten normativen Kategorien und Differenzen – nur in Paradoxien zu denken. Die Hysterie ist 28_'LGL+XEHUPDQ  6 29_'LGL+XEHUPDQ  6 30_Ã8QUHLQµVLQGGLHVH%LOGHULQVRIHUQDOVVLHVLFK]ZLVFKHQGHQ3ROHQYRQ.XQVWXQG Leben abspielen, ohne einem der beiden Bereiche letztgültig zugeordnet werden zu können. Damit greift der Begriff des unreinen Bildes René Girards Überlegungen zum PLPHWLVFKHQ%HJHKUHQDXI*LUDUGEHQXW]WGHQ%HJULIIGHUÃXQUHLQHQ)LNWLRQµXPVSH]L¿VFKH9HUKlOWQLVVH]ZLVFKHQ¿NWLRQDOHQXQGVR]LDOHQ:HOWHQJUHLIEDU]XPDFKHQÄ%HVWLPPWH5RPDQ¿JXUHQDEHUEHVFKUHLEWHU>*LUDUG@DOVXQUHLQH)LNWLRQHQLQVRIHUQLKUH Konturen zentraler Mechanismen der sozialen Realität des Menschen aufdecken helfen. Ihr gesteigertes analytisches Potenzial, das der Theoretiker stellvertretend herauszulesen hat, verleiht ihnen noch eine andere Wirklichkeit als die erzählerischer Plausibilität RGHU4XDOLWlW³&KULVWLDQV  6 31 | Elisabeth Bronfen zeigt die Zirkulation der Bilder durch die Zeit an einer Beschreibung der Topographie des Vortragssaals der Salpêtrière auf: „Während der dienstäglichen Vorlesungen […] vollzog sich der Auftritt der Hysteriker also in einem Raum, der von drei Bildern der Hysterie […] umrahmt wurde: Erstens einem Bild der Vergangenheit, auf dem die Selbstdarstellungen der Hysteriker basierten [Fleurys GemälGH3LQHOEHIUHLWGLH9HUUFNWHQGHU6DOSrWULqUH@]ZHLWHQVHLQ%LOGGHU*HJHQZDUWGHU SDVVLYZLOOIlKULJHQ 3DWLHQWLQ GHV 0HLVWHUV >«@ XQG HLQ %LOG GDV GLH =XNXQIW GLHVHU Selbstrepräsentation vorwegnimmt, ein gewölbter Körper, der bereits in das somatische Alphabet verwandelt ist, das Charcot und seine Mitarbeiter soeben erst entwickeln.“ %URQIHQ  6

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Schauspiel und erlittener Schmerz und beides zugleich, ist simultan Kunst und Leben, eben ein unreines Bild, das das „Paradox der Evidenz des Schauspiels [zeigt]: Die Hysterie bietet alle Symptome an, eine außerordentliche Fülle an Symptomen – aber diese Symptome beziehen sich auf nichts (sie haben keinerlei organische Basis).“32 Der Blick des Objektivs als Funktion eines Instrumentes zur reinen Registrierung der äußeren Welt wird in der Salpêtrière früh aufgegeben zugunsten eines Systems der Inszenierung, Reinszenierung und Selbstinszenierung, in dem die dünne Grenze zwischen Bild und Körper längst jegliche Differenzierungsfunktion im Hinblick auf die Gestaltung einer personal-existentiellen Dimension verloren hat. Dabei darf man den inszenatorischen Willen von Charcots nosologischer Spurensuche nicht aus den $XJHQYHUOLHUHQÄ(LQH([LVWHQ]ZXUGHDXWKHQWL¿]LHUWDEHUPLWV]HQLVFKHQ0LWWHOQ³33 Die Bewegung Charcots ist klar: Er geht aus von den sichtbaren Äußerungen seiner Patienten. Er muss die Krankheit an den Stellungen des Körpers ablesen, weil er keinen Zugriff auf eine organische Ursache hat. Die Hysterie stellt sich immer nur in phänomenologischer Weise vor, der Arzt kann nur ausgehen von jenem inszenierten und selbstinszenierten Schauspiel, das ihm die Hysteriker zu sehen geben. Die Krankheit betrifft den ganzen Körper, der Schauplatz der Dienstagsvorlesungen ist eine Bühne, in der sich das Leiden der Hysteriker mehr und mehr in ein reguliertes Schauspiel mit zu erwartenden Gesten und reglementierten zeitlichen Abläufen zu transformieren beginnt. (LQ=ZDQJ]XU6LFKWEDUNHLWHQWVWHKWEHUGLH7DEOHDXVZLUG¿[LHUWZDVGLH+\Vteriker zu sehen geben lassen müssen. Die Verhältnisse drehen sich um: Das Sichtbare (die Stellungen des Körpers) hat sich dem Sagbaren (der Diagnose) zu unterwerfen. Aus den unwillkürlichen Ausbrüchen der Kranken entsteht über die Kategorisierungen GHU 6WHOOXQJHQ GHV .|USHUV HLQH HU]lKOEDUH *HVFKLFKWH GHU VSH]L¿VFKH LQGLYLGXHOOHSHUVRQDOHÃPHGL]LQLVFKH)DOOµXQGGLH+\VWHULHDOV0HWDQDUUDWLRQGLHGLHHLQ]HOnen Geschichten verbindet und zu einem Krankheitsbild zusammenfasst. Die Bilder ZHUGHQHPEOHPDWLVFKIDVVHQHLQJHZLVVHV)KOHQ(PS¿QGHQ'HQNHQXQG9HUKDOWHQ zusammen. Am Ende sorgt Charcot in seinen Zirkelschlüssen für die Ausweitung der Hysterie.

Das Sicht- und das Sagbare: Bild und Text Was in dieser inszenatorischen Praxis auf dem Spiel steht, ist die Beziehung zwischen Wort und Bild, einem Sicht- und einem Sagbaren, die Verbindung zwischen dem körSHUOLFKHQ$XVGUXFNGHQ$QIlOOHQXQGGHUlU]WOLFKHQ'LDJQRVHÃ+\VWHULHµ'HQQÄHLQ Symptom bleibt als nackte Ausdruckssubstanz stumm, solange der Arzt es nicht aus dem Schweigen bloßer Sichtbarkeit erlöst, einer Krankheit zuweist und dadurch zum Sprechen bringt. Darin besteht die ideologische Implikation zwischen Symptomen und Zeichen, der die tropische Erweiterung des Begriffs Semiotik zur allgemeinen Zeichenlehre entsprungen ist. […] Der Arzt wäre demnach jemand, der über die Vermittlung 32_'LGL+XEHUPDQ  6 33_'LGL+XEHUPDQ  6

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der Sprache das Symptom in ein Zeichen umwandelt.“34 Damit geht die reine Sichtbarkeit verloren, verschwindet unter den zugeschriebenen Sinndimensionen, das Wort leitet den Blick und verschleiert die visuelle Erscheinung. Die Zeichen regulieren die Bedingungen der Sichtbarkeit, erläutern, erklären, formen und gestalten.35 Durch diese Hegemonie des Wortes werden die Patienten der Diagnose des Arztes unterworfen, die Hysterie wird Sprache, Zeichen, das allerdings nur verstanden und damit vom klinischen Blick anerkannt wird, insofern der Körper der Patienten bereit ist, die postulierte *UDPPDWLN]XUHSURGX]LHUHQ'LH*HVWHQMHQVHLWVGHVRI¿]LHOOHQ.DWDORJVK\VWHULVFKHQ Ausdrucks bleiben Rauschen, die Un-Stimme des Wahnsinns. Der Weg führt über die Präsenz des Körpers und eines Leidens zu einer Repräsentation des prämodellierten Krankheitsbildes. Und „an diesem Übergang vom Sicht- zum Sagbaren aber wird die PHGL]LQLVFKH 6HPLRWLN ]XP *HJHQVWDQG HLQHU *HVFKLFKWH GHU:DKUKHLWV¿QGXQJ XQG –produktion, wie Michel Foucault skizziert hat.“36 Es kommt so zu einer Zurichtung des Körpers, des Verhaltens unter dem vermeintlich forschenden Blick des Arztes, der QLFKWV VXFKW DOV GLH %HVWlWLJXQJ GHU HLJHQHQ 7KHVHQ 'LH )RWRJUD¿HQ ZHUGHQ GDEHL durch den Text in Stellung gebracht, das individuelle Leiden normiert zu einer Klasse des hysterischen Ausdrucks. 'LH7DIHOQGLH%LOGXQWHUVFKULIWHQGLHGLHMHZHLOLJH)RWRJUD¿HHLQHV$XVGUXFNVEHnennen, gerinnen zum ideologischen Eingriff per se, der sehend macht, d.h. Erkennen in Verkennen transformiert. Charcot ordnet die Aufnahmen zu Serien an, entwickelt so eine Dramaturgie, eine zeitliche Abfolge bestimmter Zustände. Mit Blick auf den Film könnte man sagen, Charcot betreibt Montage. Seine Gliederungen bedeuten die découpage des hysterischen Anfalls. Die Reihung ist der erste Schritt. Hinzu kommen die Bildunterschriften. Und schließlich „illustrieren [die Bilder] nur noch die Wahrhaftigkeit des klinischen Diskurses.“ Das Sichtbare verknüpft sich mit den Worten, GHU/HJHQGH]XHLQHPSl¿JXULHUWHQ%OLFNDXIGLH)RWRJUD¿HQGLHLPPHUVFKRQLQGHU Interpretation Charcots gesehen werden sollen.38

34_+HQNHHWDO  6 35 | Wie Elisabeth Bronfen schreibt:„Obwohl das Medium der Photographie einen veUL¿]LHUEDUHQ 5HIHUHQWHQ HLQ VLFKHUHV XQG ULFKWLJHV %LOGLPSOL]LHUWYHUGHXWOLFKW&KDUcots Verwendung von Bildunterschriften ironischerweise, daß diesen Darstellungen ein Konzept zugrunde liegt, bei dem der Referent, der konkrete hysterische Körper, als ein Attribut fungiert und nicht nur seine eigene Geschichte erzählt, sondern immer auch von Charcots eigener Begeisterung von dem nosologischen Bild.“ Bronfen (1998), S. 284 36_+HQNHHWDO  6 37_'LGL+XEHUPDQ  6 38 | Die Ärzte der Salpêtrière gehen einen Schritt weiter und setzen das Prinzip der Bildlegende in ganz praktischer Dermographie um, was es ihnen erlaubte, „Wörter oder Muster in die Arme, die Brust oder den Rücken der Patientin zu ätzen, also den Körper buchstäblich in eine leere Tafel zu verwandeln, auf die der Arzt seine Botschaft schreiEHQNRQQWH³%URQIHQ  6

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Geschichten der Fotograf ie Damit verbinden sich Überlegungen zur Ontologie des Mediums, die sich wie ein roter )DGHQGXUFKGLH7KHRULHJHVFKLFKWHGHU)RWRJUD¿HXQGVSlWHUGHVDXGLRYLVXHOOHQ%LOGHV im Allgemeinen ziehen. Auf Seiten der Kritik wird ein ums andere Mal eine Reinheit und Neutralität des Bildes deklamiert, die unter den Zuweisungen des Textes verloren gegangen, aber jederzeit wieder zu entdecken sei. Dahinter verbirgt sich die Figur einer Widerständigkeit des Bildes, das trotz aller textuellen Zurichtungen etwas zu sehen gebe, was in den Worten nicht aufgehen könne. Charcots Versuche, die Körper und Ausdrücke seiner Patienten in reine Zeichen zu verwandeln, brechen sich am Blick ]XUFNDXIVHLQIRWRJUD¿VFKHV6FKDIIHQ6RVFKUHLEW(OLVDEHWK%URQIHQÄ9LHOPHKUGRkumentiert die photographische Serie zugleich die Artikulation dieser schmerzvollen Selbstdarstellung als etwas, das aus dem von Charcot aufgestellten Rahmen und seinen Formeln herausfällt.“39 Der eigentliche Schmerz der Hysteriker scheint wider den ,QWHQWLRQHQGHV$U]WHV&KDUFRWLQGHQ)RWRJUD¿HQNRQVHUYLHUW¿[LHUWDOV0RPHQWGHV Ausdrucks individuell-existentiellen Leids, das in einer Semiotisierung nicht aufgeht. Unter den medizinischen Kategorien scheint der Hysteriker als Figur des Widerstandes gegen alle Systematisierungen, als Mensch in einem konkreten sozialen Milieu PLWHLQHUMHHLJHQHQ%LRJUD¿HDXI(VLVWGDV5HJLPHGHVÄSXQFWXPV³±LP*HJHQVDW] zu einer interessierten Lektüre des Bildes, dem „studium“ – wie Roland Barthes diese unabschließbare, endlos diskursivierbare, mit Worten nicht zu fassende Dimension der )RWRJUD¿HQHQQW40 Die Frage nach dem Bild entspinnt sich zwischen den Polen eines denotativen und eines konnotativen Erfahrungshorizontes, wobei die Worte in TextBild-Verbindungen eine ideologisierende Funktion annehmen, beschränken sie doch die Freiheit der Uneindeutigkeit der Visualität auf eine klare, eindeutige, an den Leser/ Betrachter zu vermittelnde Botschaft.41 Jene Botschaften speisen sich aus dem kultuUHOOHQ5HVHUYRLUKLVWRULVFKXQGGXUFK.RQYHQWLRQHQEHGLQJW'LH)RWRJUD¿HKDWGLH reine Funktion der Illustration der Aussagen des Textes und wird damit als Beglaubigung des Mythos instrumentalisiert, der nichts anderes meint als die Überführung von .XOWXULQÃ1DWXUµ%DUWKHVVSDOWHWVRGDV)RWRJUD¿VFKHLQHLQHQHQWJHJHQNRPPHQGHQ und einen stumpfen Sinn, eine vom Betrachter zu dekodierende, ideologisch behafteWH%RWVFKDIWXQGHLQXQPLWWHOEDUHVVLQQOLFKHV$I¿]LHUWVHLQ'DPLWYHUGRSSHOWVLFKDXI GHU(EHQHGHU%LOG7H[W%H]LHKXQJHQGLH=ZLVFKHQVWHOOXQJGHU)RWRJUD¿H]ZLVFKHQ menschlichem und mechanischem Blick, die ihrer Ontologie zugeschrieben wird. Die verschiedenen Überlegungen zu dieser Konversion von anthropologischem und PDVFKLQHOOHP$XJHODVVHQVLFKXQWHUGHU3UlPLVVHHLQHVÄIRWRJUD¿VFKHQ$NWHV³QDFK Philippe Dubois zusammenfassen.42 Demnach spielt es keine Rolle, was vor (mise39 | Bronfen (1998), S. 304 40 | Barthes (1985), S. 35ff 41 | Roland Barthes spricht an dieser Stelle von einem „repressiven Wert“ des Textes. 9JO%DUWKHV E 6 42 | Vgl. Philippe Dubois 'HUIRWRJUD¿VFKH$NW±9HUVXFKEHUHLQWKHRUHWLVFKHV'LVSRsitiv Amsterdam 1998



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en-scène RGHUQDFKGHU$XIQDKPH %LOGEHDUEHLWXQJ PLWGHU)RWRJUD¿HSDVVLHUWGLH Belichtung des Materials nach dem Auslösen ist ein rein technischer Vorgang, fernab jeglicher menschlichen Möglichkeit zur Intervention. So tradieren sich – grob gefasst ±XQWHUGHU)RUPHOGHVIRWRJUD¿VFKHQ$NWHVDOVNOHLQVWHPJHPHLQVDPHP1HQQHUGLH WKHRUHWLVFKHQhEHUOHJXQJHQ]XUVSH]L¿VFKHQPHGLDOHQ4XDOLWlWGHU)RWRJUD¿H8QWHU GHP9RU]HLFKHQHLQHU,QGH[LNDOLWlWGHVIRWRJUD¿VFKHQ%LOGHVODVVHQVLFK7DOERWV,GHH zur Lichtschrift und Barthes „Es-ist-so-gewesen“ versammeln.43 Im Kontext der Arbeit Charcots führen die Bildunterschriften konsequent zu Ende, ZDV PLW GHQ VHULHOOHQ$QRUGQXQJHQ GHU )RWRJUD¿HQ EHJRQQHQ ZXUGH :DV DXI GHP Spiel steht, ist die Einheit der Differenz, das idealtypische, emblematische Bild der Symptome, der Krankheit, das das Vermögen aufweist, die individuellen Unterschiede in sich aufzunehmen. Wie Georges Didi-Huberman mit Blick auf die Methoden des von Charcot engagierten Fotografen Albert Londe schreibt, ist das Ziel der medialen Produktion und Reproduktion „die Bedingungen der Sichtbarkeit der symptomatischen Körper zu regulieren, so dass sie Zeichen […] abgeben.“44 Sichtbarkeit wird in LesbarNHLWYHUZDQGHOWXQGGDV:RUWVROOVFKOLH‰OLFKGHQ%OLFNOHLWHQXQGGDV¿JXULHUHQZDV zu sehen sein muss. Und die wichtige Folge jenes Zwangs zur Sichtbarkeit im Kontext der school shootings ist eben jene Evidenz des Schauspiels, jenes Leiden, das sich in der Figuration der Bewegungen und Posen, in der Inszenierung serieller, iterativer Stellungen des .|USHUVEHUKDXSWHUVWKHUVWHOOWÃ1RUPDOLWlWµYHUZDQGHOWVLFKLQGHU6DOSrWULqUHEHU die Beobachtung und Wiederholung der Symptome in Hysterie, wobei die mediale Vermittlung eine zentrale Stellung einnimmt. Kontingente Gesten und Zustände werden V\VWHPDWLVLHUWXQGVRPLWLPLWLHUEDUJHPDFKWGDV%LOGLVW8UVDFKHHLQHVJDQ]VSH]L¿schen Verhaltens, es entsteht eine Grammatik, die Kommunikation, geteiltes Verstehen auf Basis von regulierten Erwartungen ermöglicht. Ein Schauspiel, das äußere Gesten QDFKDKPWXQGHLQH[LVWHQWLHOOHV)KOHQ]XU)ROJHKDWHLQH6LPXODWLRQGLHÃUHDOHµZHLO körperliche Folgen nach sich zieht.45 Was auf dem Spiel steht ist die „Verwandlung des Bildes in echten Schmerz.“46

43 | Dubois (1998), S. 61ff 44_'LGL+XEHUPDQ  6 45 | Dargestellte und reale Schmerzen intensivieren sich gegenseitig. „In demselben Maße, indem die Hysterika es zuließ, daß sie ständig neu erfunden und in Bilder verwandelt wurde, nahm auch ihr Leiden zu.“ Bronfen (1998), S. 285 46 | Bronfen (1998), S. 285. Didi-Huberman weist darauf hin, dass die Schmerzen der Einbildungskraft durchaus sehr reale Schreie hervorbringen. Augustine trägt aus einer der Sitzungen bleibende Schäden davon. Was eine vermeintlich rein psychische ErkranNXQJLVWNDQQGHQ.|USHUVRPLWYHUOHW]HQXQG]HUVW|UHQ9JO'LGL+XEHUPDQ   S. 263

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Die Freiheit des Zwangs In die Klinik Charcots, im Umgang des Arztes mit seinen Patienten, schreibt sich ein Machtverhältnis und eine Struktur des Zwangs ein – die Hysteriker geben zu sehen, was gesehen sein will. Dies trifft auf heutige school shooter nicht mehr zu. Eric Harris und Dylan Klebold suchen ein als pathologisch stigmatisiertes Verhalten aktiv, bringen ihre eigene Logik souverän gegen jeglichen Konsens in Stellung. Und auch mit der Fortsetzung der therapeutischen Behandlung der Hysterie im Anschluss an Charcot durch Freud gewinnt das Krankheitsbild eine gewisse Offenheit, wird anschlussfähig und steht im Wien am Ende des 19. Jahrhunderts durchaus als 9HUKDOWHQVPRGHOO]XU9HUIJXQJ)LNWLRQXQGN|USHUOLFKHV(PS¿QGHQJHKHQ+DQGLQ Hand, verschwimmen ineinander. Folgt man [Freuds] Ausführungen, dann sind die Phantasien und Inszenierungen der Neurotiker, der Perversen und Hysteriker nicht nur von der gleichen monotonen WieGHUKROXQJEHKHUUVFKWZLHGLHVHQWLPHQWDOH3KDQWDVLHVLHVWLPPHQDXFKQRFKLP'HWDLO mit den Plots der Melodramen, sentimentalen Erzählungen und Rührstücke überein. In GHQ ÃDEVXUGHQ :DKQGLFKWXQJHQµ GHU 3DUDQRLNHU GHQ ÄPRQRWRQHQ ,QV]HQLHUXQJHQ GHU 3HUYHUVHQµGHPÃ)DPLOLHQURPDQGHV1HXURWLNHUVµRGHU>«@GHPÃ3ULYDWWKHDWHUµGHUK\Vterischen Frau sind aus den Topoi sentimentaler Unterhaltungskultur Beschreibungsmodelle einer psychiatrischen Realität geworden.

Welche individuellen Gründe die Patienten in Freuds Praxis auch haben mögen, die +\VWHULHZHLWHWVLFKLQGHQSULYDWHQ5DXPDXVGLHYRQ)UHXGDOV+\VWHULNHUNODVVL¿zierten Personen nehmen die Rolle der Hysterie bewusst an. Die Krankheit bricht aus dem Inneren der Gesellschaft hervor, befällt die Leiber der Mädchen in den bürgerlichen Haushalten und wird von ihnen wie ein Kleid getragen. Dieses konstitutiv unheimliche Element verbindet die Hysteriker mit den school shootern, das Unvertraute bricht aus der Mitte des Friedens heraus, auf den sich die Gesellschaft konsensuell geeinigt zu haben glaubte. Mit den selbstinszenierten Posen Bastian Bosses, der seinen Körper in ein Bild YHUZDQGHOWGDVHUDXVGHP6SLHO¿OPTHE MATRIX kennt, wiederholt sich diese paradoxe Zwischenstellung. Schauspiel und Pathosformel fallen zusammen im Ausdruck eines Innens, das sich nach äußeren Maßstäben und Sichtbarkeitsverhältnissen reguliert XQG PRGHOOLHUW 'LH 'LIIHUHQ]HQ YHUZLVFKHQ ZHUGHQ LQ XQHQWZLUUEDUHQ %HJULIÀLFKNHLWHQZLHHLQHPÃZDKUHQ6SLHOµXQXQWHUVFKHLGEDU$XVGLHVHU3HUVSHNWLYHOlVVWVLFK die eminente Bedeutung von Sichtbarkeiten innerhalb einer medialen Öffentlichkeit IHVWKDOWHQ8PGDVJHÀJHOWH:RUW1LNODV/XKPDQQV]XPRGL¿]LHUHQÃ:DVGLHschool shooter über school shootings wissen, wissen sie aus den Massenmedien.‘ Was Bastian Bosse über Littleton weiß und als buchstäbliches Vor-Bild benutzt, weiß er immer nur als Bild, auch wenn er Harris und Klebold bisweilen als Freunde zu betrachten scheint: „Eric hatte eine verdammt gute Einstellung zum leben, vieles sehe ich wie er es sah, 47_.DSSHOKRII  6I9JODXFK+HQNHHWDO  6

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und das schon bevor ich mich jemals mit Columbine befasst habe! Ich bin sicher wenn ich Reb und VoDKa gekannt hätte wäre der 3. Weltkrieg gewesen.“48 %RVVHSÀHJWHLQH Freundschaft mit diesem prämodellierten Bild seiner Vorgänger, das ihm die medialen Kanäle bieten und das er Stück für Stück transformiert, bis sich seine und die Geschichte der Columbine-Mörder angeglichen haben. Bosses Handeln ist nicht anschlussfähig in Bezug auf die verfügbaren Bilder seines Milieus, an die sozialen Bilder, die sich ihm eröffnen, wenn er die GeschwisterScholl-Oberschule in Emsdetten betritt. Wohl aber ist die Verbindung zwischen seinem Amoklauf und der Emblematik, die Klebold und Harris hervorgebracht haben und die sein Denken im Griff hält, nur allzu offensichtlich. Er bastelt sich die Ausdrücke seines Erlebens eklektisch zusammen, montiert das Bild einer Schule neben das Bild eines Massakers, wie die Hysterikerin Geneviève Erotik und das Zölibat während ihrer Anfälle in harten Schnitten kommentarlos hintereinander schneidet und damit nicht zuletzt gegen die Regeln narrativen bzw. visuellen Erzählens verstößt. Sie schafft so neue mögliche, imitierbare Muster der Verknüpfung zwischen divergenten Partikeln, die einerseits sozial und andererseits medial Teil des Erlebens sind. Entlang der InforPDWLRQHQGLH%RVVHEHU+DUULVXQG.OHEROG¿QGHWHQWZLFNHOWHULQHQGORVHQ6WXQGHQ GHU5HÀHNWLRQVHLQ6HOEVWELOGYHUKDQGHOWLQLPPHUQHXHQ$QOlXIHQGLHGQQH*UHQ]H zwischen Nachfolge und einfacher Kopie. 0LW /LWWOHWRQ NULVWDOOLVLHUW VLFK HLQ VSH]L¿VFKHV LPLWLHUEDU JHZRUGHQHV %LOG GHV Phänomens school shooting, das Fragen der Planung – etwa das Zünden von Rohrbomben – ebenso beantwortet wie die Frage nach der adäquaten Bekleidung – den langen, schwarzen Mantel. Es entwickelt sich ein System aus Inszenierung und Reinszenierung, eine Sprache, eine Zeichenhaftigkeit, die gelesen und erkannt werden kann. DieVH.RPPXQLNDWLRQVIlKLJNHLW¿QGHWVLFKDXIEHLGHQ6HLWHQGHV(UHLJQLVVHV'LH7lWHU wissen, was sie zu sehen geben müssen, um innerhalb der reglementierten medialen Öffentlichkeit sichtbar zu werden und die Berichterstatter wiederum verstehen und verwerten diese Ereignisse dankbar in immer neuen Ahnengalerien vergangener school shootings. Das Bedürfnis nach Sichtbarkeit, der Wille, die Bühne zu betreten, sei es in der Salpêtrière oder im globalisierten Raum des Bildschirms, ist also bereits ausgehandelt worden, beruht auf einer stummen Übereinkunft zwischen Tätern und der Gesellschaft, in der sie leben.

Geschichtsschreibung II: Gefüge Vor der Folie psychiatrischer Theoriebildung in der Salpêtrière lässt sich die Geschichtsschreibung im Hinblick auf die school shootings genauer fassen. Der Ursprung der Hysterie – und das verbindet sie mit dem Amok, bzw. den school shootings – ist kuPXODWLYGLYHUVH(LQÀVVH±GLH(SLOHSVLHGLH%HVHVVHQKHLWGLH]XIlOOLJDXIJHVFKQDSSte Tagesberichterstattung über die religiöse Verklärung einer belgischen Nonne usw. – werden zusammengezogen und in einem zu entwerfenden Bild ohne Differenzen zwischen medialem und sozialem Ausdruck verdichtet. Dabei wird die Gefahr einer 48_%RVVH]LWLHUWQDFK6]XPHOGD  6

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Rekonstruktion als Konstruktion deutlich, die sich beispielhaft an Charcots Geschichte der Besessenen in der Kunst gezeigt hat. In analoger Weise kann auch im Kontext von school shootings kein Ursprung gefunden werden. Es gibt keinen Gründungsakt. Der Versuch, ein erstes school shooting¿QGHQ]XZROOHQLVW]XP6FKHLWHUQYHUXUWHLOW(V lassen sich nur willkürliche Ursprungspunkte setzen. Deshalb erscheint es sinnvoller – anschließend an Félix Guattari und Gilles Deleuze – die Geschichte der school shootings als eine rhizomatische Struktur im Sinne eines Gefüges zu beschreiben, im Spannungsfeld von organischem Gebilde und beVWlQGLJHQ$XÀ|VXQJVSUR]HVVHQ'HQQHLQ*HIJHKDWÄJOLHGHUQGHXQGVHJPHQWLHUHQGH Linien, Schichten, Territorien und Fluchtlinien, Bewegungen, die Territorialisierungen und Schichtungen aufheben.“49 So werden das dynamische Moment einer solchen Geschichtsschreibung einerseits und die durchlässigen Ränder des Phänomens bei der Begriffsbestimmung anderseits, sichtbar. In ihrer Hingabe an mediale Inhalte und die überlieferten Images ihrer VorgänJHUUHNRQ¿JXULHUHQschool shooterGLH1DUUDWLRQXQGGDV%LOGÃ$PRNµZLHHVLQQHUhalb verschiedener Gesellschaften gekannt und verstanden wird, mit jeder neuen Tat. Künstlerische Ikonographien, Vorstellungen von Geschichte, personale Erinnerungen, die zugerichteten Narrative der Vorgänger etc. werden zu heterogenen Selbstbildern K\EULGLVLHUW(LQÀVVHYHUVFKZLQGHQQHXHWDXFKHQDXI(VELOGHQVLFKMHQH6FKLFKWHQ und Gliederungen oder Verdichtungspunkte – etwa nach Columbine –, aber aus den Genotypen lässt sich kein tatsächlicher Phänotyp präparieren. Deleuze und Guattari attestieren dem Gefüge unterschiedliche Geschwindigkeiten, Linien der Beschleunigung und der Verlangsamung.50 'DPLW LVW GLH +lX¿JNHLW von Copy-Cats im Anschluss an school shootings zu fassen. Im Zuge der medialen Berichterstattung nimmt die Frequenz der Fälle enorm zu. In der Folgezeit nimmt die Zahl von Nachahmungstaten wieder ab, nur um bei der nächsten spektakulären – weil medial stark aufbereiteten Tat – nach oben zu schnellen. Deshalb ist die Metanarration betreffend der Geschichte der school shootings nicht linear zu schreiben. Auf diese Weise lässt sich die Geschichte der Hysterie in der Salpêtrière – ebenso wie die Geschichte der school shootings – als ein beständiger Prozess der Zirkulation von Bildern und Narrativen schreiben. Das Bild der Krankheit generiert sich aus endlosen Wiederholungen und Zuschreibungen, fasst ein bestimmtes Verhalten, das seit den frühesten medizinischen Aufzeichnungen des Abendlandes zurückzuverfolgen ist und doch erst in einer Pariser Klinik im 19. Jahrhundert erfunden werden muss. Aus dem Zwang zur Reproduktion ergeben sich immer neue Variationen und Interpretationen, in diesem Sinne ist von Verdichtungen, Territorialisierungen, momentanen Fixierungen und erneuten Fluchtlinien, die das bis zu diesem Zeitpunkt festgeschriebene Wissen und Verhalten wieder aufheben und in eine neue Richtung leiten, zu sprechen. Dabei geht es nicht zuletzt um die Verteilung von Sichtbarkeiten, von Ereignissen, die zu Zeichen werden, um mit ihnen und über sie kommunizieren zu können. 49_'HOHX]H*XDWWDUL  6 50_'HOHX]H*XDWWDUL  6

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Was sich unter dem Schlagwort Hysterie verbirgt, ist eine paradoxe Struktur, der mit einem reinen Differenzdenken nicht beizukommen ist. Hysterie heißt reproduziertes Bild und Leben zugleich. Ein Zustand, der weder Subjekt noch Objekt kennt, weder erkennenden Geist noch wahrzunehmende Situation, sondern ein komplexes Gebilde, LQGHPGLH(QHUJLHQGXUFK%OLFNHXQG.|USHUÀLH‰HQ Für Pontalis ist […] die Art und Weise bezeichnend, wie dieser kreisförmige Schauplatz, an dem sich Arzt, Patient und Publikum gegenseitig unterhielten und die Inszenierung einer psychosomatischen Störung genossen, so daß die Unterscheidung zwischen ermächtigter Instanz und ermächtigtem Untersuchungsgegenstand nicht mehr möglich war, letztlich aufgrund einer nahezu unerträglichen visuellen Präsenz funktionierte. 51

Die Frage der Macht und der Manipulation ist dabei nicht mehr eindeutig einer Partei zuzuschreiben. Ärzte und Patienten manipulieren sich gegenseitig, Charcot führt seine besten Hysteriker auf der Bühne der Salpêtrière vor, aber was geschieht, ist eine „halluzinatorische Infektion des ganzen Raumes“,52 die die Hysteriker erzeugen. Im Blick der Zuschauer wird Simulation Wirklichkeit wie im Körper der Kranken. „Im Zentrum >«@VWHKWGLHhEHUÀXWXQJGHVHLJHQHQZLHIUHPGHQ.|USHUVPLW%LOGHUQ³53, schreibt Mirjam Schaub und im Hinblick auf die school shootings gewinnt genau dieses Merkmal eine tödliche Dimension.

Die Faltung der Perspektiven: Psychiatrie und Kunst &KDUFRWVIRWRJUD¿VFKH.OLQLNLVWHLQKLVWRULVFKHV'RNXPHQWGHU)DOWXQJYRQ3HUVSHNtiven und Ausdrücken. Kunst und Psychiatrie gehen eine sympathische Beziehung ein und inspirieren sich gegenseitig. Charcot versteht sich nicht nur als Arzt, wichtig erscheint ihm auch seine Stellung als Künstler.54 Die Kriterien für die Wahl seiner Besucher in den Dienstagsvorlesungen zeigen, wie wichtig Charcot der Anschluss an das allgemeine zeitgenössische kulturelle Leben ist. „Ein Zeugnis unter vielen gibt zu verstehen, daß die Allianz von Pathologie und Kunst auch diese Veranstaltungen [die Dienstagsvorlesungen] atmosphärisch bestimmten“, schreibt Manfred Schneider, um im Folgenden den Arzt und Schriftsteller Axel Munthe zu zitieren, der einen Eindruck gibt von der Mischung des Publikums, das Charcots Vorführungen beobachtet: Es setzt sich aus Schriftstellern, Schauspielern und Journalisten zusammen.55 Also Personen, deren Berufe sie dazu befähigen, die Hysterie als Bild und als Narrativ in die mediale Öffentlichkeit zu tragen, wo sie 51 | Bronfen (1998), S. 261 52_'LGL+XEHUPDQ  6 53 | Schaub (2003), S. 61 54 | So schreibt Manfred Schneider, „daß sich im medizinischen Blick dieses Mannes [Charcot] künstlerische Ästhetik und Pathologie auf eigenartige Weise verschränken.“ Schneider, Manfred (1998), S. 144. 55_6FKQHLGHU0DQIUHG  6

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als Instrument individuell-existentieller Lebensgestaltung weiterhin wirksam werden kann. Die Internierung der Hysterie scheitert, die Klinik als Ort der Ausgrenzung des :DKQVLQQVDXVGHPYHUPHLQWOLFKJHVXQGHQVR]LDOHQ.|USHUYHUVDJWGDVLQ¿]LHUHQGH Moment wird in die Welt getragen. Die Medien fungieren als buchstäbliche Vermittler HLQHVDOVNUDQNKDIWLGHQWL¿]LHUWHQ9HUKDOWHQV 1928 setzt sich dieses Bündnis zwischen Kunst und Psychiatrie durch den Surrealismus fort, als André Breton und Louis Aragon einen Gedenkartikel zum 50-jährigen %HVWHKHQGHU+\VWHULHYHU|IIHQWOLFKHQXQGVLHDOVGLHÄJU|‰WHSRHWLVFKH(U¿QGXQJGHV 19. Jahrhunderts“ feiern.56 Mit der Anerkennung der Hysterie durch die Kunst geht auch eine Verschiebung in der Verfügbarkeit und im Gebrauchswert eines konsensuell als pathologisch markierten Verhaltens einher, wie es für die school shootings im Übergang von passiver zu aktiver Form, von Whitman zu Columbine, bereits sichtbar wurde. Die Symptome können in der Lesart der Surrealisten nun souverän eingesetzt werden: „Hysterie ist keine pathologische Erscheinung, sondern kann in jeder Hinsicht als ein höchstes Ausdrucksmittel angesehen werden.“ Der Verdacht, dass sich GLH+\VWHULHVWDWWJHKHLOW]XZHUGHQLQGLH.XQVWYHUÀFKWLJWVWHOOWVLFKHLQ0LWLKrer zunehmenden Literarisierung verliert sie ihre Wahrnehmbarkeit als Krankheit, die Differenzen zwischen Pathologie, Kunst und Leben verwischen bis zur endgültigen Unkenntlichkeit. In ihrem Nachwort zu Didi-Hubermans (U¿QGXQJGHU+\VWHULH zeichnen die Autoren Silvia Henke, Martin Stingelin und Hubert Thüring diesen Weg der Hysterie anhand von Bretons Roman Nadja nach.58 Breton will in seinem Text das Leben, wie es ist, beschreiben, mit einem klinischen Blick auf die Welt schauen und baut seine Protagonistin doch auch immer ein in den Raum der Kunst. „Die Kunst als Weiblichkeit und als Krankheit ist zum Durchgang geworden“,59 die Symptome können sich frei bewegen zwischen den vermeintlich ausdifferenzierten Bereichen der Pathologie und der Kunst. Die Hysterie gerinnt zu einer frei beweglichen Semantik, die in Stellungen des Körpers, bestimmten Gesten zum Ausdruck kommt. So verliert sie die von Charcot angestrebte klare Nosologie erneut, verschwimmt in anderen Formationen gestischer Körper, wird anschlussfähig an neue Bedeutungen und diskurisive Praktiken. Die fotoJUD¿VFKH.OLQLN&KDUFRWVLVWLQGLHVHP6LQQHQXUHLQ.QRWHQSXQNWHLQH/LQLHGHU9HUdichtung und Verschiebung in der langen Tradition hysterischen Leids und der daran anschließenden Diskurse. Der Surrealist Breton schreibt im Kontext einer Avantgardebewegung und natürlich bedarf es weiterer vermittelnder Zwischenschritte, um die Strategien avantgardistischer Kunstpraxis mit dem individuellen Handeln beliebiger Individuen zu koppeln. 'RFKLP0RPHQWLVWMHQH,Q%HVLW]QDKPHHLQHVDOVNUDQNKDIWGH¿QLHUWHQ9HUKDOWHQV durch die Kunst und die daraus folgende diskursive Umdeutung festzuhalten. Der Weg 56 | Schneider, Manfred (1998), S. 138 57 | André Breton und Louis Aragon, zitiert nach Schneider, Manfred (1998), S. 138 58 | André Breton Nadja Frankfurt am Main 1960 59_+HQNHHWDO  6

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des Phänomens geht sowohl innerhalb der Geschichte der Hysterie als auch in der diachronen Entfaltung der school shootings von Fällen passiven Ergriffenseins über die mediale Vermittlung hin zu einem aktiv verfügbaren Modell des Handelns. Auf der Ebene der Selbstinszenierung jugendlicher school shooter lässt sich dieser Wandel sehr gut nachweisen. Die Grenzen zwischen Kunst und Leben sind dabei in beide Richtungen offen. So wie die Surrealisten Augustine zu einer Heroine umdeuten können, so „verwandelte sich [Augustine] während ihrer Delirien in Figuren aus Dramen und Romanen, die sie gelesen hatte.“60 Die souveräne Form ist in ihrem Verhalten bereits angelegt, als Form eines paradoxen aktiven Ergriffen-Seins. So sehr sich die Zustände, die sie durchleiden muss, vor ihrer Einweisung in die Salpêtrière auch ihrer Kontrolle entzogen haben mögen, vor den Augen Charcots verwandelt sie sich doch mehr und PHKULQHLQH6FKDXVSLHOHULQGLHLKUHÃ6\PSWRPHµDXI$QVDJH]XP%HVWHQJHEHQNDQQ 'HU$QIDOOHUIlKUWJHPl‰GHQ]HLWOLFK¿JXUDOHQ*OLHGHUXQJHQ&KDUFRWVHLQ$EODXISURtokoll und die einzelnen Szenen können – und das ist das Entscheidende – zu jeder Zeit abgerufen werden.61 Damit korrespondiert die Szene der Dienstagsvorlesung mit der Szene des meORGUDPDWLVFKHQ 6FKDXVSLHOV XQG )LOPV +HUPDQQ .DSSHOKRII H[HPSOL¿]LHUW GLHV DP Beispiel des weinenden Publikums. „Die weinenden Zuschauer werden […] die LeiGHQGHU>¿OPLVFKHQ@+HURLQH]XHLQHPHLJHQHQLQQHUHQ*HVFKHKHQ(VYHUOHLEWVLFK die Szene ein, indem er sie nimmt als Bild eines früheren Erlebens. Sie wird ihm zur Erinnerung an eine Szene, die so für ihn niemals stattgefunden hat.“62 Das äußere Bild eines Leidens verwirklicht sich als innere Bewegtheit in der realen affektiven ModelOLHUXQJ GHV =XVFKDXHUV GHU GXUFK GDV VLFK YRU LKP DEVSLHOHQGH *HVFKHKHQ LQ¿]LHUW wird. „Man könnte von einer künstlich initiierten Hysterisierung sprechen.“63 Das Verhalten der Hysteriker liegt sehr nahe an den Beschreibungsmodi für das Kinopublikum. Herman Kappelhoff schreibt: Tatsächlich erfüllt die Rührung im Kino das Paradox einer passiven Aktivität: Denn einerseits setzt sie voraus, daß der Rezipient von seinem Selbst- und WirklichkeitsbewußtVHLQDEVLHKWXPVLFKGHU,OOXVLRQ]XHUJHEHQ>«@DQGHUHUVHLWVDEHUZLUGGLH,OOXVLRQ]XP Gegenstand einer Umwandlung des Bilds in eine faktische psychische Realität, die […] mit einem körperlichen Symptom einhergeht: den Tränen des Publikums.64

60 | Schneider, Manfred (1998), S. 150 61 | Wie Didi-Huberman scheibt: „Die Hysterikerinnen äußern ihren Schmerz und agieren ihn aus, sie geben sich den Theatereffekten der Auren und Symptome hin, während sie eine Minute zuvor noch lebhaft, schön, frei von allen Affekten und Ängsten waren.“ 'LGL+XEHUPDQ  6 62 | Kappelhoff (2005), S. 195 63 | Kappelhoff (2005), S. 194 64 | Kappelhoff (2004), S. 13

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'LH*UHQ]HQ]ZLVFKHQ¿NWLRQDOHU:HOWGHU:LUNOLFKNHLWGHV%LOGHVXQGGHUN|USHUOLchen Realität verwischen. Der Kinozuschauer lässt sich Ergreifen, geht den Zustand GHU$I¿]LHUXQJGXUFKHLQDXGLRYLVXHOOHV%LOGEHZXVVWHLQ'LH'LIIHUHQ]]ZLVFKHQGHU vermeintlichen Illusion, die sich vor den Augen des Publikums entfaltet und der Wirklichkeit der Körper nivelliert sich. Die Barrieren zwischen gestelltem und tatsächlichem Verhalten fallen.65

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Manifeste letzte Worte 'LH(U¿QGXQJGHV)LOPVXQGGHU$XIVWLHJGHU+\VWHULNHULQ]XUNXOWXUHOOHQ,NRQH¿QGHQ im gleichen Zeitraum statt und die Institutionalisierung der Hysterie beginnt bei den H[]HVVLYHQH[SUHVVLRQLVWLVFKHQ)UDXHQGHV6WXPP¿OPVPHUNW(ODLQH6KRZDOWHUDQ66 Charcots Klinik ist nicht hermetisch abgeriegelt vom Rest der Welt, im Gegenteil, seine Dienstagsvorlesungen stehen einem breiten Publikum offen, das sich nicht nur aus Experten, d.h. Ärzten, sondern auch aus Schriftstellern, Schauspielern und Journalisten zusammensetzt, die sich von dem, was sie sehen, zu ihren künstlerischen Darstellungen der Welt inspirieren lassen. Die Foren der Hysterie erweiterten sich auf diese Weise und der Hörsaal der Salpêtrière wird die Keimzelle, aus der sich das Wissen um die Hysterie in der Welt verbreiten kann. Es kommt zu einem Austausch zwischen den Systemen Kunst und Psychiatrie, ein zyklischer Kreislauf zwischen Bild und Verhalten setzt sich in Gang, wobei die eigentlichen Protagonisten, die die Codizes des Verhaltens prägen – Kranke oder Schauspieler – nicht mehr zu unterscheiden sind. Gesten, Stellungen des Körpers, mimische Ausdrücke werden tradiert und wechseln die Register dessen, was als Fiktion und Wirklichkeit, Schauspiel und Krankheit erkannt und anerkannt wird. Was in der Pariser Salpêtrière des ausklingende 19. Jahrhunderts noch ein Machtgefüge bedeutet, einen Missbrauch leidender Körper, gerinnt im 20. Jahrhundert zu einer Form der Selbstentfaltung, der möglichen Form individueller Subjektivierung. Die Bildmedien verlieren ihre vorgeblich repräsentative oder registrierende Funktion 65 | Diese Strategien der Selbstmodellierung lassen sich wiederum zu anderen historischen Phänomenen in Beziehung setzen. An der Tanzwut zeigen sich im 15. Jahrhundert ähnliche Mechanismen der passiven Aktivität. Jungen und Mädchen suchen die ,Q¿]LHUWHQEHZXVVWDXIXPÄGDV*LIWGHUJHLVWLJHQ$QVWHFNXQJEHJLHULJHLQ]XVDXJHQ³ +HFNHU  6'DV3KlQRPHQHQWIDOWHWVLFKDOVÄ6FKDXVSLHO³ +HFNHU  6  +HFNHUEH]ZHLIHOWGLHÃ:DKUKHLWµGHU6\PSWRPHXQWHUPDQFKHP1DFKDKPHU(LQLge scheinen sich zu verstellen, nicht wirklich krank zu sein. Aber das Spektakel, das sie veranstalten, bleibt ansteckend „denn bei Krankheiten dieser Art werden Empfängliche HEHQVROHLFKWYRQGHP6FKHLQZLHYRQGHU:LUNOLFKNHLWHUJULIIHQ³+HFNHU  6 66_9JO6KRZDOWHU  6 67 | Ein Weg, den Elisabeth Bronfen anhand der Künstlerin Anne Sexton nachzeichnet. Vgl. Bronfen (1998), 513ff

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und erleben eine sprunghafte Aufwertung unter dem Paradigma der Performanz. Dabei verschieben sich die Perspektiven. Die Medien werden nun verstärkt benutzt, um das eigenkonstruierte Bild zu entwerfen oder die Verstrickung des Selbstbildes in medial SUl¿JXULHUWH,QKDOWHVLFKWEDU]XPDFKHQ'LHNRQVWLWXWLYH%OLFNPDFKWOLHJWQLFKWPHKU beim Beobachter, wie es in der Salpêtrière der Fall war, sondern das Objektiv der Kamera wird instrumentalisiert, um divergente Selbstbilder zu kreieren, bzw. die Machtstrukturen zu enthüllen, die die Formen möglicher Repräsentation bedingen. Unter diesen Vorzeichen lässt sich eine Analogie herstellen zwischen dem historischen Bild der Hysterie und dem aktuellen Phänomen school shooting. Denn in seinen Selbstinszenierungen und vor allem während der Tat überschreitet der school shooter eben jene Grenze, die die Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften in Frage stellt. Mit seiner am medialen Bild modellierten und durch das mediale Bild hervorgebrachten Subjektivität übertritt der school shooter die unter dem Vorzeichen einer Autonomie der Kunst sorgsam gezogene Trennlinie zwischen Kunst und Leben, Fiktion und Wirklichkeit – und so wird sein Verhalten dem der Hysteriker vergleichbar. Innerhalb der diskursiven Strategien der school shooter gibt es eine mediale Form, die sich sehr gut mit den Techniken der Subjektbildung und Kreation des Eigenbildes, wie es anhand der hysterischen Körper in der Salpêtrière des 19. Jahrhunderts analysiert wurde, vergleichen lässt: das manifestartige Abschiedsvideo. Es ist eine hybride Form, die Muster des Bekenntnisses und der Erzählung des eigenen Lebens ebenso HQWKlOWZLH$QNQGLJXQJHQXQG:DUQXQJHQ8QWHUKDOEGHURI¿]LHOOHQ([SHUWHQGLVNXUVHGLHGHQ$PRNOlXIHUDOVVSH]L¿VFKH(UVFKHLQXQJGHV6R]LDOHQ]XULFKWHQHUVFKHLQW DQ GLHVHU 6WHOOH GLH LQRI¿]LHOOH ± ZHLO YRQ GHQ 0HGLHQ PLW$XVQDKPH GHV ,QWHUQHWV weitgehend unbeachtete – Rede des school shooters als Rekombination der Versatzstücke popkulturellen Wissens. Was in diesen Videomanifesten zu sehen ist, ist nicht ein präexistentes Subjekt, das eine einfache Repräsentation – im Sinne einer Abbildung oder Stellvertretung – von sich selbst herstellen würde. Was mit dem werdenden medialen Subjekt, der Figuren, die in den Videos erscheinen, wächst, ist eine Amokperson. Es zeigt sich die Modulation und Zuspitzung eines Images zu einem school shooter. Dabei erscheint die Figur des school shooters in ihrer aktuellen Ausgestaltung erst im Augenblick der SHUIRUPDWLYHQ ,QV]HQLHUXQJ *OHLFK]HLWLJ VLQG GLHVH %LOGHU DEHU YHUÀRFKWHQ PLW GHU individuellen Geschichte des school shooters, der Dauer seines Amokläufer-Werdens. Aus dieser Perspektive bedeutet das Abschiedsvideo nur eine weitere – in diesem Fall die letzte – Konkretisierung vor der Tat. Mit der Verkörperung der Bilder entsteht ein Moment der Entgrenzung. Im Werden des Bildes, das Erscheinen soll und wird, verändert sich auch die vorherige SubMHNWNRQ¿JXUDWLRQ8QGHVZlUHIDOVFKGHUHLQHQ6XEMHNW¿JXUDWLRQHLQHQ0HKUZHUWDQ Ã(FKWKHLWµRGHUÃ:DKUKDIWLJNHLWµJHJHQEHUGHUPHGLDOKHUYRUJHEUDFKWHQ]X]XELOOLJHQ Die Selbstinszenierungen der school shooter sind keine Pathosformel, nicht der AusGUXFNHLQHU3HUVRQGLHVLFKLQ¿NWLRQDOHQ:HOWHQYHUORUHQKDWGLHKHUPHWLVFKDEJHriegelt in einem ausdifferenzierten Raum ohne eigentliche Bedeutung für die soziale Praxis liegt.

S ICHTBARKEITEN [So] ist es auch nicht sinnvoll, […Inszenierungen] als bloße Anzeichen einer Täuschung RGHUHLQHV:LUNOLFKNHLWVYHUOXVWVDOVEOR‰H)LNWLRQRGHU¾6FKHLQZLUNOLFKNHLW½]XGHNODrieren. Sie verweisen vielmehr auf die performative – medial inszenierte – Ereignishaftigkeit des Herstellens subjektiver […] Wirklichkeiten. Außer Kraft gesetzt wird damit GLH $QQDKPH HV JlEH ]ZHL 5HDOLWlWHQ HLQH ¾HFKWH½ XQG HLQH PHGLDOH ZREHL OHW]WHUH einen Bedeutungszuwachs erfahren habe.68

Schließlich sind die vermeintlich stabilen Grenzen des Ichs kulturell und historisch erzeugte Vorstellungen über den und Symbolisierungsweisen des Menschen und dessen Stellung in der Welt.69 Die Selbstinszenierungen der school shooter greifen diese diskursiv-normativ gesetzten Grenzen der abgeschlossen Persönlichkeit an und machen damit auch sichtbar, wie sich die individuelle Subjektivierungsweise aus dem Raum medialer Bilder und Vorstellungen informiert. Wie weit die medialen Bilder in die Selbstinszenierung der Täter hineinreichen, soll nun am Beispiel des letzten Videos von Bastian Bosse verdeutlicht werden.

Abschiedsvideo Bastian Bosse Ein junger Mann in einem schwarzen T-Shirt und einer schwarzen Hose. Er steht vor einer beigen Eckcouch, die von Kissen bedeckt ist. Die Atmosphäre bürgerlicher HeiPHOLJNHLW ,P OLQNHQ7HLO GHV %LOGIHOGHV EH¿QGHW VLFK HLQ )HQVWHU (LQ ZHL‰HU /DPpenschirm hängt von oben in den Kader hinein. Es ist ein alltäglicher, banaler Raum ohne besondere Kennzeichen zu sehen. Dann beginnt der junge Mann zu sprechen: „I want to make clear that nobody had a fucking clue above what is going to happen on Monday.“ Dies sind die ersten Momente aus dem Abschiedsvideo von Bastian Bosse, das er am Morgen des 20. November 2006, kurz bevor er sich auf seinen letzten Weg in die Schule macht, im Internet postet. Die Bilder sind seine letzten Worte an die Welt, sein Vermächtnis und sein Bekenntnis. Eine Drohung, die im Begriff steht, sich zu erfüllen und ein kämpferischer Aufruf an alle, die sich in ihm und seinem Schicksal wiedererkennen. Bosse spricht Englisch, was entweder der Rücksicht auf die fremdsprachigen Freunde im Web oder dem Optimierungswillen seiner Öffentlichkeitsarbeit geschuldet ist. Auf der Inhaltsebene des knapp fünfminütigen Films erzählt Bosse seine Geschichte, die von Einsamkeit und Erniedrigung im schulischen Umfeld handelt. Er hat keine Freunde, wünscht sich welche, muss einsehen, dass er sich verändern muss, um Freun68_%XEOLW]  6%HL*DEULHOH.OHLQXQG0DOWH)ULHGULFK¿QGHWVLFKGLHVH8QWHUVFKHLGXQJLQGHUEDVDOHQ'LIIHUHQ]YRQÃUHDOµXQGÃQLFKWUHDOµZLHGHUEHUGLHVLFKGLH HipHop-Kultur diskursiv formiert. „Real ist das, was glaubhaft in Szene gesetzt wird. Realness wird somit als theatrale Kategorie vorgestellt.“ Klein/Friedrich (2003), S. 9 69 | Claudia Benthien untersucht diese divergierenden Vorstellungen über den Menschen unter dem Topos der Haut als Grenze eines souveränen Ichs. Vgl. Benthien (2001), S. 25ff



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de zu haben. Kehrt zurück in die Einsamkeit. Verantwortlich scheint ihm das Sozialsystem Schule, dessen Werte sich in seinen Augen auf Markenklamotten beschränken. Gleichzeitig weitet er seine Kritik auf die Medien und das gesamte politische System aus: „I want anarchy.“ Sein Motiv ist Rache, eine der vielen Demütigungen, die er erlebt hat, beschreibt er ausführlich: von einem Klassenkameraden wird er mit einem – durch ein Feuerzeug erhitzten – Schlüssel gebrandmarkt. Bosses Logik ist ganz einfach: „They punched me, they spit on me, and knocked me down, they laughed on me DQGQRZ,ZLOOVKRRWWKHP:KHUH¶VWKHSUREOHP"³

Ein Kino der minderen Qualität Die schlechte Qualität des Bildmaterials, die durch die Komprimierung der Filmdatei im Internet zusätzlich verliert, erweckt den Anschein, es mit einem Dokument zu tun zu haben. Die Bilder sind unscharf, verpixelt, die Farben stumpf, die Kontraste verschwinden. Das Video entfaltet seinen Adressaten Abschiedsvideo Bastian Bosse als direkten Zuhörer. Bosse blickt stur in GDV$XJHGHU.DPHUD'LH,QV]HQLHUXQJPDUNLHUWHLQÃ,FKVDJHµHLQHWHPSRUlUHZHLO± im Sinne eines vorweggenommen Todes – unhaltbare Position des Sprechens. Es gibt Ã)HKOHUµIDOVFKH$QVFKOVVHXQG]HLWOLFKH6SUQJHGLHGHQ%LOGUDXPDOVVROFKHQ±DOVR DOVDUWL¿]LHOOHV3URGXNW±NHQQ]HLFKQHQGLH+HWHURJHQLWlWGHV:HUNHVLQV*HGlFKWQLV rufen und die Erzählung Bosses, seinen Monolog, spiegeln. Der Redegestus des späteren school shooters ist gebrochen. So erscheint die Ablehnung von „Hip-Hop-Music“ spontan, ungewollt, im Moment geboren. Die Glattheit der Inszenierung wird ein ums andere Mal zerrissen, etwa wenn Bosse nach vorne zur Kamera läuft und sie abschaltet, um einen Jump-Cut später von Neuem anzusetzen. Dies markiert eine Ebene von bildgerechter Authentizität jenseits der diskursiven Rahmung, die sich aus Bosses späterem Amoklauf ergibt. Der vermeintlichen Authentizität des Films stehen die gestalterischen Momente des Bildraums entgegen. Bosses Abschiedsvideo ist Produkt mehrfacher Bearbeitungen. Seine mediale Ankündigung des school shootings – oder „GSS-Massacres“ (Geschwister-Scholl-Schule-Massacres) wie er es nennt – ist nicht unmittelbar in einer Einstellung entstanden. Die Dauer der Produktion lässt sich an den unterschiedlichen Lichtamplituden, die sich durch das Fenster am linken Kaderrand zeigen, ablesen. Die Dreharbeiten müssen sich über mehrere Stunden hingezogen haben. Zudem ist das Video geschnitten, bestimmte Bilder wurden entfernt. Bosse muss zuweilen abgesetzt haben, um später mit dem Dreh fortzufahren. Dies macht den Umstand, dass er sein Eigenbild durchaus bewusst in Szene setzt, nur umso offensichtlicher. Der designierte school shooter betritt eine Bühne. Er verhält sich wie ein Schauspieler im Sinne Walter

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Benjamins, den „das Bewusstsein für die Anwesenheit der Kamera zu keinem Zeitpunkt verlasse und […dem] sich der Blick der Kamera in seine Gesten einschreibe.“ Bosse geht es nicht nur um die Botschaft, die er der Welt mitzuteilen hat. Er legt auch auf die Wahl der richtigen Worte, der adäquaten Gesten und der gelungenen Kameraeinstellung Wert. Als Beleuchter seiner letzten Worte gibt er sich Licht von vorne – etwa auf Augenhöhe –, was sich an den Schatten des Lampenschirms und seiner Gestalt auf der hinteren Wand, am Unterschied der Lichttemperaturen zwischen dem sanften Gelb-Rot auf Bosses Gesicht und dem grünlichen Blau des natürlichen Lichts, das im Fenster zu sehen ist, erkennen lässt. Bosse will, dass die Welt sein Gesicht sieht, erkennt. Dass sich dieses Gesicht einbrennt ins Gedächtnis seiner Zuschauer. Er entwickelt eine Dramaturgie, eine Choreographie, die seine Worte gestisch unterstützen soll. So durchschreitet er den Bildraum ein ums andere Mal, wendet sein Gesicht vom Objektiv ab, kehrt zurück, verändert entsprechend des affektiven Ausdrucks und der bezweckten Wirkung auf den Zuschauer den Abstand zur Kamera.

Die Vorbilder Gottes In seiner Ansprache formuliert Bosse seine Sehnsucht nach Freiheit: „I want anarchy. It is the only thing we are really really free.“ Der Anschlag auf seine ehemalige Schule scheint ihm der größtmögliche Ausdruck an persönlicher Autonomie und Individualität zu sein. Dadurch gerinnt das Videobild zu einem paradoxen Raum, manifestiert sich in ihm doch eine Konstellation aus Originalität und Kopie. Alterität gerät immer wieder zu Identität, der originelle Ausdruck zu einer Iteration von Altbekanntem. Der Bildraum ist nicht frei, nicht unschuldig, sondern erscheint als überblendet von anderen Bildräumen, die das Image, das Bosse von sich zu erschaffen sucht, umschließen. Bosse koppelt die Semantiken, die sich mit dem diskursiven Komplex school shooting verbinden – Ausgrenzung, Demütigungen etc. – kombinatorisch an weitere Zeichenderivate und transformiert so die gängigen Muster der Rede von school shootern LQ7UlJHUQHXHUVSH]L¿VFKHU%HGHXWXQJHQ(UNRQWH[WXDOLVLHUWGHNRQWH[WXDOLVLHUWXQG UHNRQWH[WXDOLVLHUW'DEHLJLEWHUGLHUHÀH[LYH'LVWDQ]±GLHVLFKYRUDOOHPDQVHLQHQ Überlegungen in Bezug auf seine Vorgänger Eric Harris und Dylan Klebold manifesWLHUWH±DXIXQGGLHPHGLDOSUl¿JXULHUWHQ*HVWHQZHUGHQQDKWORVLQGLH6HOEVWLQV]HQLHUXQJHLQJHÀRFKWHQRKQHGLUHNWWKHPDWLVLHUW]XZHUGHQ 'HQQRFKVWHOOWVLFKGLHVH5HÀHNWLRQDXIGHU(EHQHGHU%HREDFKWXQJGHU5H]HStion her. Es sind Deterritorialisierungen medialer Bilder, die das inszenierte Milieu, das bürgerliche Wohnzimmer wie Gespenster heimsuchen. Bosse dekliniert die kulturelle Bildproduktion auf individueller Ebene durch. Er schließt an das bestehende massenmediale Bilderrepertoire an und formt in einem paradoxalen Akt der Selbster70 | Adorf (2008), S. 145 71 | In den wiederholten Gesten vorgängiger medialer Bilder erinnert Bosse fast schon GHP%HVHVVHQHQIUKHUPDODLLVFKHU3UlJXQJÄ)UVLH>GLH0DODLHQ@ZDUÃJLODPHQJDPRNµHLQH6RQGHUIRUPGHU*HLVWHUEHVHVVHQKHLW ÃJLODNHQDKDWXµ ZHOFKHPLWGHU$Qeignung von übernatürlichen destruktiven Kräften einhergeht.“ Knecht (1999), S. 146

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mächtigung bei gleichzeitiger Selbstunterwerfung unter das Bild sein Image als school shooter. Die Vorbilder Bosses sind leicht auszumachen, hinterlassen seine Worte und Gesten doch Spuren in die zeitgenössische Bildökonomie. Markant erscheint diese Verwobenheit der Figur Bosse in den medialen historischen Kontext nach dem zweiten Schnitt. Nach einem Jump-Cut setzt die Aufnahme unvermittelt wieder Abschiedsvideo Bastian Bosse ein, Bosse steht zunächst mit dem Rücken zur Kamera, dreht sich um und beginnt dann zu sprechen. Die Pose ist ein Echo eines Films, der immer wieder in den diskursiven Zuschreibungen zum Phänomen school shooting auftaucht und von den 7lWHUQZRKODXFKHQWVSUHFKHQGKlX¿JUHzipiert wird: David Finchers FIGHT CLUB von 1999. Dort gibt es etwa in der Mitte FIGHT CLUB des Films eine kurze Einstellung, in der GLH)LJXU7\OHU'XUGHQLQHLQHPXQVSH]L¿VFKHQ5DXP]XVHKHQLVWVLFKXPGUHKWXQG die Worte spricht: „Du bist nicht dein Job. Du bist nicht das Geld auf deinem Konto. Nicht das Auto, das du fährst. Nicht der Inhalt deiner Brieftasche. Und nicht deine blöde Cargo-Hose. Du bist der singende, tanzende Abschaum der Welt.“ Diese Szene folgt dem Bild der Explosion eines Schaufensters, das emblematisch für die Zivilisationskritik steht, die FIGHT CLUB beständig thematisiert und die stilbildend für die Rede Bosses wirkt: für seinen Hass auf die Medien, auf die Obsession seiner früheren Mitschüler für Markenklamotten, auf die Welt des Konsums. Die Analogien auf der Ebene der Körperbewegung, der Kadrierung und der Gestik setzen sich inhaltlich fort, als Bosse unvermittelt anmerkt: „Ich don’t like baggy SDQWV³ 'LHVHU NUXGH (LQZXUI ± GLH %HGHXWXQJ GHU .ULWLN DQ HLQHU VSH]L¿VFKHQ$UW von Hose –, der auf den ersten Blick absurd erscheint in den letzten Worten eines Menschen, der seinen Tod vor Augen hat, wird erst über die Kopplung an FIGHT CLUB verständlich. Bosse nähert sich dem medialen Vorbild, die Kraft des Films geht bis in seine Posen hinein, der Film ist mit der Selbstinszenierung Bosses verwoben, wie die Selbstinszenierung mit seinem school shooting verwoben ist. Der Rückgriff auf vorgängige mediale Inhalte bei der Produktion des Eigenbildes ist dabei nicht im Gegensatz zur angestrebten Autonomie des Ichs zu sehen, sondern als deren Bedingung. 6XEMHNWLYLHUXQJLVWHLQSDUDGR[HU9RUJDQJLQLKPYHUVFKUlQNHQVLFK)UHPGXQG(LJHQsteuerung. In dieser Perspektivverschränkung entsteht das Selbst, das sich der Integrati-

S ICHTBARKEITEN on des Blicks der anderen auf sich und der Fremdwahrnehmung ins eigene Ich verdankt XQGHUVWDXIGLHVHP:HJEHIlKLJWZLUG¾HLJHQVWlQGLJ½]XGHQNHQXQG]XKDQGHOQ

Die medial verbreitete und tradierte Idee der Individualität gerinnt auf diese Weise zur Vorbedingung der Individualität. Bosse ruft in seinem Abschiedsvideo die Strategien der Selbstwerdung durch mediale Posen auf, die auch in seiner inszenatorischen Anlehnung an die Figur Neo aus THE MATRIX zum Ausdruck kommt. So dringen die medialen Bilder in den Raum des Sozialen. Denn „diese Bilder sind Teile eines kollektiven Imaginären, das auf die BildproGXNWLRQHLQHVMHGHQ,QGLYLGXXPVHLQHQIXQGDPHQWDOHQ(LQÀXVVKDW:LUOHEHQLQHLQHU bestimmten Bilderwelt […]. Bilder umgeben uns und nur auf der Grundlage dieser kollektiven Bilder bildet sich die individuelle Bildwelt heraus.“ Was mit diesen Bilder einhergeht ist ein bestimmtes Verhältnis zur Welt und ein Verstehen von Welt, das sich erst über die mediale Erfahrung herstellt und die es ohne sie nicht geben würde. „Mit dem Bild wird gewissermaßen ein Feld möglicher Erfahrungen eröffnet, Erfahrungen von Welt und Erfahrungen seiner selbst. […] Die Bilder sind das, was die Erfahrung strukturiert, was sie stützt, trägt und formt, was sie ermöglicht.“ Die Irokesen-Frisur Bosses gemahnt an einen anderen Amokläufer, die Figur Travis Bickle aus Martin Scorseses TAXI DRIVER 86$ :LH%LFNOHZQVFKWVLFK %RVVHGLH.DWKDUVLVGDVUHLQLJHQGH)HXHUGDVLQEHLGHQ)lOOHQ±LP¿OPLVFKHQ1HZ GHU0lQQHUXQG)UDXHQLP:HVWHUQ@/HEHQJDUDQWLHUHQZHLOHUW|WHWIUVLHHUW|WHW

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School shootings allein auf die animierten Welten der Ego-Shooter monokausal zurückzuführen, bedeutet also eine falsche Verkürzung, schwingt doch das ganze Repertoire kulturell-imaginativen Gedächtnisses in der Ansprache Bosses mit. Ihre KonVLVWHQ]XQG3UlVHQ]¿QGHQVLHLQGHU)LJXUGHQ*HVWHQXQG:RUWHQ%RVVHVXPNOHLGHQ ihn, verändern ihn. Bosse wächst in der Performanz des Augenblicks in die neue Rolle hinein. Dennoch – und das ist der feine Unterschied zur Imitatio-Lektüre – werden die Bausteine kombiniert und nutzbar gemacht für den eigenen Ausdruck. Bosse ist nicht ergriffen von TAXI DRIVER – wie der politische Attentäter John Hinckley – die Frisur ist nur ein Element und es erinnert sowohl an Bickle als auch an die Frühformen des Amoks. Bestimmend für den Amokläufer sei es gewesen, dass er „mit dem Leben abgeschlossen hatte und sich mit kahlgeschorenem Kopf für seine letzte Schlacht wappnete.“ Wie die Krieger in der Frühform des Amoks versteht er sich als lebender Tote, verkleidet sich als Krieger und rasiert sich die Haare. Diese genealogische Linie, die Erzählungen des entfesselten Krieges, schwingt in Bosses Rede mit, explizit in seinen letzten Worten: „This is war. You are in war.“

Der hysterische Kör per %RVVHV6HOEVWLQV]HQLHUXQJXQGVHLQH7DWVLQGNHLQH3DWKRVIRUPHONHLQHXQUHÀHNWLHUWH XQGYROONRPPHQH$I¿]LHUXQJHLQHVYRUJlQJLJHQ7H[WHV6WDWWGHPEHGLQJXQJVORVHQ Nacheifern eines medialen Skripts ist eine Kombinatorik zu erkennen. Damit aktualisiert Bosse Strategien, die sich über die gesamte diachrone Entfaltung von school shootings verfolgen lassen: die kulturelle Rahmung des Phänomens school shooter verschiebt sich, neue Prätexte werden eingebaut, alte verworfen. Produktion und Reproduktion gehen Hand in Hand. Diese Feedback-Schleifen von medialer Inszenierung und Selbstinszenierung erinnern an die Salpêtrière, wo „über dem Körper der hysterischen Frau […] ein Bildrepertoire bestätigt und ein anderes erfunden [wurde].“ Die fatale Verschränkung von medialisierender Betrachtung und einem Körper, einer Simulation und einem Schmerz, ZLHVLHDQGHQ)RWRJUD¿HQLQ&KDUFRWV.OLQLN]XEHREDFKWHQLVW¿QGHWVLFKDXFKLQ %DVWLDQ %RVVHV$EVFKLHGVYLGHR (V VLQG PHGLDO SUl¿JXULHUWH *HVWHQ GLH LQV /HEHQ gehoben werden und in diesem Akt ihre Qualität verändern. Augustines Auftritte vor dem interessierten Pariser Publikum lösen kalkuliertes Entsetzen aus. Der Rhythmus und die Gliederung des Anfalls ist die Simulation des Leids und gleichzeitig gibt er der Hysterikerin einen Ausdruck für ihren individuell-existentiellen Schmerz. Die genaue Reproduktion erregt den Verdacht der Simulation und wird gleichzeitig gefordert. Wiederholung bedeutet unter dem theoretisch gebildeten Blick Charcots die Wahrhaftigkeit der Krankheit und so wird „die ex-akte Ähnlichkeit […] zum Akt der Faktizität, apathisch, nicht zum eigenen Nutzen. […] Der loner [wird] niemals ein Teil der Familie VHLQ(ULVWDXVJHVFKORVVHQZHLOHUGHP7RG]XQDKHLVW³%LWRPVN\  6 76 | Knecht (1999), S. 144 77 | Bronfen (1998), S. 300f

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zum Akt des Mimen (des Mimen seiner eigenen Evidenz), das heißt, sie geht über zur (U¿QGXQJHLQHUDQGHUHQ=HLWOLFKNHLWHLQHUYHUIlOVFKHQGHQGLHGHU3RVH³ Sprache ist nur Sprache, insofern sie vom Arzt verstanden wird. Leid ist nur Leid, insofern es der Arzt innerhalb der eigenen Kategorisierungsarbeit erkennen kann. Analog versucht sich Bosse verständlich zu machen, seine Geschichte der Welt zu erklären – und wo VHLQHHLJHQH6SUDFKIlKLJNHLWYHUVDJWIOOWHUVLHPLWGHPPHGLDOSUl¿JXULHUWHQ$XVdruck. Die school shooter ¿QGHQ LPPHU QHXH %DXVWHLQH IU LKUH 6HOEVWLQV]HQLHUXQJHQ dieser oder jener Film mag in dem einen Fall auftauchen, im anderen nicht, was bleibt ist die Funktion medialer Inhalte für die existentielle Modellierung des Selbstbildes. Wie in einer Brennlinse werden in den knappen Videobotschaften die medialen Lebenserfahrungen am und durch den eigenen Körper zum Ausdruck gebracht. Bastian Bosse ist kein neuer Fall von Hysterie, aber im Sinne eines Gefüges lässt sich eine Linie ziehen zu Augustine und ihrer evidenten Schauspielerei in der Salpêtrière des 19. Jahrhunderts: „Es [handelt] sich bei ihrer Simulation um ein Konglomerat, das diverse literarische Handlungen und Gesten, die die Ikonographie der Besessenheit imitieren, mit damals populären Formen der Schauspielkunst verknüpfte.“ Was die belgische Nonne für Geneviève unter den Augen Charcots bedeutet, bedeutet Tyler Durden für Bosse. Die Trennung von Innen und Außen, medialem Bild und existentieller sozialer Erfahrung, Kunst und Leben trägt an dieser Stelle nicht mehr. „In den Protokollen und visuellen Aufzeichnungen der Salpêtrière scheint Augustine zwischen einer Darstellung intimer Szenen aus ihrer eigenen Biographie und der Nachahmung fremder Erzählungen und ihr von außen aufgedrängter, von anderen bestimmter Gebärden hinund her zu schwanken.“80 8QWHU 5FNEH]XJ DXI GLH HLJHQH %LRJUD¿H ¿NWLYH 5ROOHQ XQG VHLQH 9RUJlQJHU bringt Bosse sein Amok-Selbst als Ergebnis einer bewussten Wahl kumulativ hervor. Soziale und mediale Erfahrung liegen dabei auf derselben Ebene, die Hierarchien sind aufgehoben. Der Pool an möglichen Ausdrucksweisen ist dabei nicht beliebig. Und DXFKZHQQ%RVVHVHLQ/HLGHQDQGHU:HOWQXULQ5HNRQ¿JXUDWLRQHQYRUJlQJLJHU,QKDOWHlX‰HUQNDQQKHL‰WGDVQLFKWGDVVHUQLFKWWDWVlFKOLFKHQWVSUHFKHQGHPS¿QGHQZUGH ±E]ZPHKUXQGPHKULQGLHVHV(PS¿QGHQKLQHLQZDFKVHQZUGH6HLQH,QV]HQLHUXQJ LVWNHLQHZDKOORVH9HUVWHOOXQJVRQGHUQGLHYRUJHVWDOWHWH)RUPIUHLQ(PS¿QGHQIU GDVHUNHLQHQDQGHUHQRGHUEHVVHUHQ$XVGUXFN¿QGHW,QJOHLFKHU:HLVHLVWÄ$XJXVWLQH […] keineswegs bloß die Bauchrednerin Charcots, sondern sie bringt das traumatische Wissen, das den Kern ihrer Psyche bildet, ihr Leiden an Reminiszenzen und traumatischen Verwundungen durch eben diese hybride Selbstrepräsentation zum Ausdruck.“81 In der Hysterie wie bei den school shootings gibt es reale – psychische wie soziale – Ursachen, aber die reglementierten, sozial anerkannten Verbindungen zwischen psy78_'LGL+XEHUPDQ  6 79 | Bronfen (1998), S. 296 80_%URQIHQ  6 81_%URQIHQ  6

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chischem Leid und angemessenem Verhalten sind außer Kraft gesetzt. Die iterativ geVWHOOWH)UDJHQDFKGHPÃ:DUXP"µ]LHOWDXIMHQHQGXQNOHQQLFKW]XJlQJOLFKHQ%HUHLFK LQGLYLGXHOOHQ(PS¿QGHQVGHULQGHQ6HOEVWLQV]HQLHUXQJHQGHU7lWHU]LUNXOlUXPNUHLVW wird, aber nicht sichtbar werden kann. 'HQQEHUGLH=HLWXQLIRUPLHUWGDV:LVVHQGHU7lWHUXPGLHÃULFKWLJHµ5HGHHLQHV school shootersMHJOLFKHVLQGLYLGXHOOH(PS¿QGHQ%RVVHIKOWVLFKDXIJHKREHQLQQHUhalb einer Bewegung, einer Tradition von school shootings, er schließt an eine spezi¿VFKH/RJLNGHV9HUKDOWHQVDQXQGEULQJWEHUGLHPHGLDOSUl¿JXULHUWHQ*HVWHQ]XP Ausdruck, was er anders nicht zu benennen weiß. Damit verschwimmt die Person Bastian Bosse mit der Person des school shooters Bastian Bosse und in seinem Abschiedsvideo sind letztlich nur noch die formelhaften Zitationen eines uniformen Hasses auf die Welt zu sehen. In analoger Weise äußert sich auch in den Posen der Hysteriker kein originär-individuelles Leid, sondern nur die legitime Form eines Unsagbaren: Die Aporie besteht darin, daß ihr überbordender hysterischer Lärm um ein rätselhaftes XQGVFKZHUEHVWLPPEDUHV1LFKWVNUHLVWHLQHQ6FKPHU]GHU]ZDQJVOlX¿JEHLGHU,QV]Hnierung der Hysterie und den von Charcot fabrizierten Bildern fehlt, obzwar sich dieses Nichts nur in einer solchen indirekten Inszenierung zu äußern vermag.82

Im imaginierten Blick des Anderen rückt sich Bosse als school shooter in Szene. Damit gleichen sich die Gründe für seinen Amoklauf den klischeehaften Schemata vom Kampf des Einzelnen gegen eine feindliche Gesellschaft an. 6R]LDOH ,VRODWLRQ 5DFKHJHGDQNHQ UHEHOOLVFKH$XÀHKQXQJ JHJHQ GDV EHVWHKHQGH System – diese Erfahrungen sind weder neu noch betreffen sie exklusiv den Emsdettener Schüler Bastian Bosse. Die psychosozialen Hintergründe, die Bosse in seinem Abschiedsbrief beschreibt und in seinem Abschiedsvideo zum Ausdruck bringt, lassen VLFK ± ]\QLVFK JHVSURFKHQ ± OHLFKW XQWHU GHP .RPSOH[ Ã3XEHUWlWµ ]XVDPPHQIDVVHQ und sind selbst in ihrer geballten Verdichtung erschreckend banal. Aus dem sozialen 0LOLHX OlVVW VLFK GLH 7DW DOVR QLFKW OLQHDU KHUOHLWHQ (UVW PLW GHQ SUl¿JXULHUWHQ XQG medial erfahrenen Gesten und Worten – von FIGHT CLUB bis zu den Columbine shootings – formt sich die Rede Bosses zur Rede eines school shooters, gewinnt der von ihm beschriebene psychisch-geistige Schmerz eine Ausdrucksform und seine Tat Anschluss an ein bestimmtes mediales – nicht soziales – Milieu.83 In diesem Sinne ist seine Selbstinszenierung und seine Tat nicht abzulösen von den medialen Ausdrücken. Bosses Verhalten ist kein kausaler Effekt medialen Konsums, aber die medialen Inhalte sind substantieller Bestandteil der Amokpersonae, die er zunächst als Bild kreLHUW0HGLDOSUl¿JXULHUWH3RVHXQGUHDOHU6FKPHU]JHKHQDXIGHU(EHQHSHUIRUPDWLYHU 82_%URQIHQ  6 83_'LHÃSV\FKLVFKHQµ+LQWHUJUQGHGHVschool shooters werden auch an dieser Stelle als Text aufgefasst, die Ausführungen meinen also keine psychische Tatsächlichkeit, sondern beziehen sich auf das explizit vertextlichte Wissen um sich selbst, wie es Bosse in seinem Abschiedsbrief niederlegt.

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Selbstdarstellung ein Bündnis ein und die Grenzen verwischen bis zu einem Punkt der Ununterscheidbarkeit. Es sind die medialen Anleihen, die Frisur, die Images, die unter den Worten Bosses aufscheinen, die das Video mit dem späteren school shooting, das aus der sozialen %LRJUD¿H QLFKW UHVWORV ]X HUNOlUHQ LVW YHUELQGHQ (V LVW QLFKW QXU  GHU EUJHUOLFK zwanghafte Raum aus Rainer Werner Fassbinders Film WARUM LÄUFT HERR R. AMOK? %XQGHVUHSXEOLN'HXWVFKODQG GHUGDVschool shooting mit der Eckcouch verbindet, das Kriegsgebiet Schule mit der befriedeten Idylle des Haushalts. Es sind die Posen und gewollten, stilisierten Bewegungen, die den Raum der Schlacht gegen die Menschheit eröffnen. Im wissenschaftlichen Sinne gebärdet sich Bosse hysterisch. Didi-Huberman konVWDWLHUWIUGLH+\VWHULNHUSDUWLHOOH,GHQWL¿NDWLRQHQHLQH'LIIXVLRQXQG$XIVSOLWWHUXQJ in die verschiedensten Rollen: „Eine Hysterikerin will alle Welt sein, oder vielmehr, sie will das Wesen von allem und jedem gehabt haben.“84 Bosse muss nichts über GLH6DOSrWULqUHLPDXVJHKHQGHQ-DKUKXQGHUWZLVVHQGLH7HFKQLNHQGHV6HOEVW¿Qden sich im populären Gedächtnis seiner Zeit: „I want to know everything / I want to be everywhere / I want to fuck everyone in the world / I want to do something that matters“.85 Bosse legiert verfügbare Narrative und Images zu einer school shooterPersonae und erzeugt über seine Bewegungen, seine Gestalt und seine Worte einen K\EULGHQ%LOGUDXPLQGHP0HGLDOHVXQG6R]LDOHVGDVÃ,FKµ%RVVHVXQG1DUUDWLYHDOV individuell-existentielle Lebenspraxis, verschmelzen. Der school shooter erscheint in seiner Inszenierung als unreines Bild, Körper und Fiktion sind untrennbar verwoben. 'LHPHGLDOHQ(LQÀVVHGDVPHGLDO(UOHEWHEOHLEHQVLFKWEDUVLQGDEHUYRQHLQHUÃ5HVWpersönlichkeit‘ nicht mehr abzutrennen. Auch für Bosse gilt, was für die Hysteriker gilt: Sie „opfern den Körper dem Bild.“868QGGLHVLQ]ZHLHUOHL+LQVLFKW=XPHLQHQDOVOHLEOLFKH5H¿JXUDWLRQPHGLDOHU %LOGHUVHLHQVLHÃNODVVLVFKµ¿NWLRQDORGHUGHUPHGLDOHQ7DJHVEHULFKWHUVWDWWXQJHQWQRPmen, als Formen, die die eigene Gestalt umhüllen und das Werden der Amok-Person garantieren. Zum anderen wird der Körper gegen das Bild des eigenen Vermächtnisses eingetauscht. Die Tat macht den Niemand zum Jemand, einen entsprechenden Wikipedia-Eintrag inbegriffen. Die fatalistische Geste des Kampfes gegen die Welt mündet in der Vernichtung der eigenen Existenz. Dabei werden die markierten, scheinbar konstitutiven Grenzen des Ichs aufgelöst. Statt von einem Innen und einem Außen sind die Schichtungen von Bildern im Bild des Gestus von Bosse als Faltung zu beschreiben, in der sich Innen und Außen verschlingen. Das Bild, das Bosse zunächst imaginär von sich entwirft, realisiert sich als Körperbild, als Bild seines Körpers und wird in diesem Prozess der Transformation von einem inneren zu einem äußeren Bild und entsprechend den Bedingungen des gewählten Mediums in die Sichtbarkeit gehoben. Der Körper fungiert dabei als Medium: „Wir 84_'LGL+XEHUPDQ  6 85 | So der Refrain des nine inch nails-Songs I do not want this. 86_'LGL+XEHUPDQ  6

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entkörperlichen in einem ersten Akt die äußeren Bilder, die wir zu Gesicht bekommen, XP VLH LQ HLQHP ]ZHLWHQ$NW QHX ]X YHUN|USHUQ HV ¿QGHW HLQ 7DXVFK ]ZLVFKHQ LKrem Trägermedium und unserem Körper statt, der seinerseits ein natürliches Medium bildet.“'LHÃ:DKUKHLWGHV:HVHQVµ%RVVHVOLHJWLP=ZLVFKHQEHUHLFKHLQHUGLVNXUVLY verankerten modernen Selbstentfaltung, in dem ein Ich als Keim immer schon angelegt ist und durch die Erfahrung der Reise zur Blüte gebracht werden muss und einem postmodernen Spiegel-Ich, das sich in einer souveränen Geste immer wieder neu entwirft.

Das imaginäre Publikum: der Bick des Anderen Bosse blickt direkt in die Kamera und auch wenn er in der Situation der Aufnahme seiner Botschaft nur das Objektiv sieht, spricht er doch zu einem imaginären Publikum, das – zeitlich verschoben – nach der Tat seine Worte hören soll und wird. Das $PRNVXEMHNW%DVWLDQ%RVVHLQVHLQHUVSH]L¿VFKHQ$XVJHVWDOWXQJNDQQVLFKDOVRQXU unter dem konstitutiven Blick der Anderen formieren, denn „das Verhältnis zu sich und der Prozess der Selbstwerdung sind fundamental an die Fähigkeit gebunden, sich mit den Augen der anderen, der Umgebung zu sehen – und ihren Blickwinkel antizipierend darzustellen.“88 So erfüllt seine Selbstinszenierung die gängigen Muster und Gesten, die von einem Zuschauer als zum Amokdiskurs zugehörig verstanden werden können. ,QGHP%RVVHGLHSUl¿JXULHUWHQPHGLDOHQ*HVWHQDOVNRQVWLWXWLYHQ7HLOVHLQHU,QV]HQLHrung zu sehen gibt, verdoppelt sich die Bildhaftigkeit seines Videos. Der Körper wird Bild – vor dem Objektiv und im Bild.89 Der Blick des Arztes Charcot wandelt sich in den entindividualisierten Blick einer GLIIXVHQ)LJXUÃGHV$QGHUHQµRGHUÃGHU$QGHUHQµ'LH%KQHGHU6DOSrWULqUHHQWJUHQ]W sich in den beliebigen öffentlichen und – durch die medialen Techniken – privaten Raum. Das Ausstellen der eigenen Person durch die Tat ist Effekt und Produkt der Funktion der Veröffentlichung im Sinne einer Amok-Subjekt-Werdung.

87 | Belting (2001), S. 21 88_%XEOLW]  6I 89 | Den scheinbar mechanischen Zwang der Kamera, ihren personalen Gegenstand immer schon in eine Pose zu zwingen beschreibt auch Roland Barthes. Vgl. Barthes (1985), 6I'LHIRWRJUD¿HUWH3HUVRQPDFKWVLFKVHOEVW]XP%LOGQRFKHKHGHU$XVO|VHUJHdrückt und das Bild entwickelt ist. So bilden sich durchschnittliche Formen des Vor-derKamera-Posierens, die noch in den privatesten Aufnahmen wirksam werden. Susanne Regener beschreibt dies am Beispiel eines Spiegel-Artikels über Robert Steinhäuser, EHLGHPLQHLQHPIDPLOLlUHQ.RQWH[WHQWVWDQGHQH)RWRJUD¿HQGHVschool shooters zur Illustration herangezogen wurden. „Die Montage des Spiegel-Titels ist der Versuch, in HLQHUYHUJOHLFKHQGHQ)RUPGDV3V\FKR3RUWUDLW]X¿QGHQ'LHVHV([SHULPHQWPX‰PL‰lingen, längst hat sich in den privaten Alben eine Fotogenität abgelagert, der Anpassung und Durchschnittlichkeit zu Grunde liegt. In der Selbstinszenierung wird man zum Teil eines medienvermittelten Bildes oder einer Scheinwirklichkeit.“ Regener (2003), S. 204

S ICHTBARKEITEN Die öffentliche Inszenierung intimer Dinge und ihre mediale Beobachtbarkeit befriedigt […] nicht vorrangig exhibitionistische und voyeuristische Affekte, sondern ist der Modus einer Subjektwerdung, die der Darstellung und Abbildung des immer wieder neu entstehenden Subjekts in der Öffentlichkeit anderer bedarf, um sich seiner selbst zu vergewissern und sich zu (re-)präsentieren.90

So werden durch die Momente des Leakings auch Grenzen getestet, die Subjektmodellierung ein ums andere Mal auf die Probe gestellt. Die offenen Ankündigungen von Eric Harris auf seiner Webseite, das geckenhafte Auftreten Ernst Wagners – all die gefährlichen Spielereien mit der medialen und sozialen Aufmerksamkeit gerinnen an dieser Stelle zu einem wesentlichen Punkt der Tatvorbereitung, weil sie sich als konstitutiver Teil der Ich-Werdung als Amoksubjekt zu erkennen geben. Im manifestartigen Abschiedsvideo fallen die Grenzen zwischen legitimen und illegitimen Aussagen endgültig. Der school shooter muss nichts mehr zurückhalten, er zeigt sich dem von Beginn an inkorporierten Blick der Anderen, ohne bestimmte Inhalte zu vermeiden. In den vorgängigen Selbstinszenierungen in Foren und auf Webseiten bleibt der Zeigegestus zensiert, ein vorsichtiges Spiel aus Aufdecken und Verhüllen. Mit dem letzten Video rufen sich school shooter – im Sinne performativer Praxis – selbst ins Leben, die Selbstinszenierung ist unmittelbar mit der Tat verschränkt, was im Bild erscheint ist die letzte solide Ausformung einer Subjektivität, die innerhalb der nächsten Stunden in die Schule fahren und Amok laufen wird. An dieser Stelle tritt der school shooter in eine neue Ordnung des Zeigens und des Sehens. Die Täter leuchten sich buchstäblich selbst ein, rücken sich ins rechte Licht, produzieren sich und fordern den alles sehenden und alles erkennenden Blick ihres direkt adressierten Publikums ein. Sie treten aus dem Halbschatten des Leakings heraus und geben sich als das zu erkennen, was sie sein werden, erhöhen die Entropie der Information zu einem Maximum des Alles-Aussprechens. Der Blick des – späteren – Publikums, die Auswirkungen der geplanten Tat auf (mediale) Zeugen geht dabei immer schon in die Eigeninszenierung mit ein: „Diese Rache wird so brutal und rücksichtslos ausgeführt werden, dass euch das Blut in den Adern gefriert“, schreibt Bastian Bosse in seinem Abschiedsbrief.91 Die quantitative Menge des adressierten Publikums explodiert dabei innerhalb der Geschichte des Phänomens. 1966 richtet Charles Whitman seine letzten Worte an einen noch unbekannten Adressaten. „To whom it may concern“ lautet die Anrede, die er an den Anfang der kurzen Notiz stellt, mit der er den Mord an seiner Mutter gesteht.92 Sein Geständnis ist nicht direkt an eine mediale Öffentlichkeit gerichtet, er begibt sich in die Hände eines anonymen Finders der Notiz, sei es der Pathologe, ein Polizist RGHUHLQ1DFKEDU'DJHJHQKDW6HXQJ+XL&KRHLQJDQ]EHVWLPPWHV%LOG±GLH

90_%XEOLW]  6 91_%RVVH]LWLHUWQDFK6]XPHOGD  6 92_9JO/DYHUJQH  6



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weltweite mediale Öffentlichkeit – im Kopf, als er seine Videobotschaft an einen Nachrichtensender schickt.

Selbsterfüllende Prophezeiung: Die Zeitlichkeit des Bildes (UVW GLH VSlWHUH 7DW ÃDXWKHQWL¿]LHUWµ GDV 9LGHR DOV %HNHQQWQLV 'DV$EVFKLHGVYLGHR Bosses wird erst durch die abgefeuerten Schüsse am 20. November 2006 in der Geschwister-Scholl-Schule in Emsdetten zu einem Dokument. Es entsteht also in einer eigenen Zeitlichkeit des noch-nicht oder des zu-früh. Das Videotape oder die Videodatei muss die Bilder konservieren, um die Zeitlichkeit der Rede Bosses, die Projektion seines Amokselbsts in die Zukunft, einholen zu können. Die Figur Bosses gerinnt so zu einem unreinen Bild, das in seine Erfüllung im sozialen Raum drängt, aber zunächst noch ein Bild bleiben muss. Retrospektiv, im Wissen um die Tat, ist die Figur Bosse in seinem Abschiedsvideo viel mehr als ein Bild. Es hat sich von seiner Bildqualität gelöst, um reale Schüsse im sozial-materiellen, taktilen Raum abzufeuern. Im Moment der Entstehung und im Moment der Rezeption holt sich das Bild Bosses also selbst nicht ein. Es ist immer zu früh oder zu spätLVWQLFKWDE]XO|VHQYRQGHUUHDOHQ7DW(VRV]LOOLHUW]ZLVFKHQDUWL¿]LHOOHP Bildraum und dem, was diskursiv über die Tat verbreitet wurde. Die zeitliche SubjektSRVLWLRQLP%LOGLVWDQHLQHPXQP|JOLFKHQ2UW]X¿QGHQLQHLQHP0RPHQWÄGHUQLFKW ist, aber nicht Nichts ist.“93 Das Reden verschwimmt zwischen den Markierungen der Zeit, Gegenwart ist immer schon Vergangenheit im selbstinszenierten Blick des Täters auf sich selbst als einem Dem-Tode-Geweihter. Bosse rekonstruiert sich aus der Projektion auf die Zeit nach den Taten. Eine Subjektposition, die weder dort ist noch hier. Die auf dem Weg ist in eine Zeit, die für sie schon Geschichte ist. Im Video manifestiert sich ein Raum-Zeit-Gefüge außerhalb des langsamen und chronischen Vergehens des alltäglichen sozialen Raums, nämlich das abgespaltene Raum-Zeit-Gefüge des Bildes, in dem Bosse als school shooter zu sich selbst kommt. Im Video lassen sich Verdichtungen von Vergangenheit (in Form einer Anamnese oder einer therapeutischen Rede), Gegenwart (das aktuelle Bild) und Zukunft (die Ankündigung der Tat) beschreiben, die das Bild des school shooters an einem unhaltbaren Ort neben oder außerhalb der chronologischen Zeit positionieren. Die zeitlichen Strukturen sind reversibel, verschwimmende Knotenpunkte, an denen im aktuellen Bild sowohl die Vergangenheit, die Gegenwart als auch die Zukunft neu entstehen. Wie Sigrid Adorf im Hinblick auf VIDEO NOW 86$ YRQ/\QGD%HQJOLVVFKUHLEWÄ,FKVDJWH also werde ich sein.“94 Bosse löst sich mit seiner Tat in einen Raum allgegenwärtiger Präsenz und Absenz auf, indem er Bild wird. Als Bild wird er durch die mediale Distribution und Verfügbarkeit tradiert. Dass der Bildraum vom sozialen, taktilen Raum abgekoppelt ist, ist dabei Vorbedingung dieser Verzeitlichung des eigenen Bildes. In diesem Sinne ist nicht von einem theatrum mundi zu sprechen, ohne die Rahmung der medialen Inszenierung, 93_$GRUI  6 94_$GRUI  6

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ohne die Begrenzung durch den Kader wäre die Traditionslinie der school shooter in diesem Sinne nicht möglich. Allein weil das Bild transportabel geworden ist, abgelöst von einem konkreten Köper in Zeit und Raum, kann Bosse die eigene körperliche Sterblichkeit gegen die Unsterblichkeit seines Bildes eintauschen.95 Mediale und reale Tat sind nicht nur ineinander verschränkt, sie bedingen und auWKHQWL¿]LHUHQVLFKJHJHQVHLWLJ2KQHGLH3HUIRUPDQ]GHV%LOGHVXQGGHU:RUWHZlUHGLH Tat eine andere, würde anders oder überhaupt nicht passieren. Ohne die Taten würde die Selbstinszenierung eine hohle Form bleiben. Die Gewalt und die eigene Diskursivierung der Gewalt verschränken sich im gemeinsamen Sinnhorizont, verschmelzen zu einer performativen Geste. Der mediale Ausdruck umschließt die Tat, macht sie möglich. Ohne die Tat bleibt das Bekenntnis ohne Wert. Ohne Bekenntnis bleibt die Tat ohne Wert. Video und reale Gewalt bedingen sich im Sinne einer Sinnproduktion, eines Mehr-als-nur-Tötens.

Geschlossene Kreise Der Eigenschaft des Mediums Video als closed-circuit kommt dabei eine entscheidende Bedeutung zu. Vielleicht wichtiger als die tatsächliche Anordnung des closedcircuit – also des simultanen Sich-Selber-Sehens auf einem Monitor im Moment der Aufnahme – ist die vertikale Integration der Produktions- und Vertriebswege. School shooter wie Bastian Bosse drehen ihr eigenes Video, schneiden und vertonen es, distribuieren das entstandene Werk via Internet. In geschlossenen oder beinahe geschlossenen Kreisen können sie so das eigene Bild modellieren und zu dem werden, als der sie sich medial inszeniert haben. Frühe avantgardistisch-künstlerische Überlegungen zum Medium Video folgen einer utopischen Idee der Fremdwerdung und performativen Selbstgestaltung und -transformation im Auge der Kamera. Somit treffen sie auch auf die heutigen Praktiken von school shootern zu: Returning to video, what is particularly inspiriting is the alterophilism (sic) that usually develops in those who see themselves on tape in a feedback session. […] We shall designate as ALTERIFICATION the process whereby EGO, OTHERS, and THIRD [das 0HGLXP6$@UHFLSURFDOO\WUDQVIRUPHDFKRWKHUE\PHDQVRIFULWLFLVPDQGUHGH¿QLWLRQ which include invention and even innovation.96

Sehen, Sich-selbst-Sehen, Neu-Sehen. Das Video ermöglicht beständige Verschiebungen in der Präsentation des Selbst. Details können verändert oder verbessert werden, 95 | Dabei schließt Bosse an eines der ältesten Paradigmen der Bildproduktion an, den Totenkult. „Das Medium besitzt im Totenkult ein uraltes Paradigma […]. Der Tote tauschte seinen verlorenen Körper gegen ein Bild ein, mit dem er unter den Lebenden verblieb. Nur im Bild ließ sich der Tausch mit der Präsenz des Toten eintauschen.“ Belting (2001), S. 29. Vgl. auch Bazin (2004a), S. 39f 96_:LOOHQHUHWDO]LWLHUWQDFK$GRUI  6

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die kontrollierbaren Bilder ermöglichen es immer stärker hineinzuwachsen in die neue, selbstgewählte Form der Subjektivität. Selbstinszenierung bedeutet, das Subjekt und Objekt in eins fallen, der Motor der Transformation ist gleichzeitig Gegenstand der Transformation. Damit wird das Videobild dem Spiegelbild und dem Schatten vergleichbar. Denn „das Besondere dieser Bilder liegt nicht nur darin, dass sich der Körper selbst als Bild sieht, sondern besteht eher darin, dass er sich selbst das Bild erzeugen sieht.“ Was mit dieser Analogie zudem aufgerufen ist, ist das paradigmatische und bekannteste Bild der – zunächst spielerischen – Gewaltsam-Werdung im postklassischen Film: jene berühmte Spiegelszene in Martin Scorseses TAXI DRIVER, in der der Loner Travis Bickle sein eigenes Spiegelbild herausfordert und dabei als Bild im Bild und ]XP%LOGZLUG,QGHQ:LHGHUKROXQJHQGHV6DW]HVÄ$UH\RXWDONLQJWRPH"³LQWHQVLviert sich die explosive Gewalt der Figur, die sich am Ende des Films ihren Ausweg brechen wird.98 In pragmatischer Perspektive laufen school shooterQLFKW*HIDKUGDVVLKUÃ6SLHOµLQ einem Labor, wo der Filmstreifen entwickelt werden müsste, entdeckt wird. Die Bilder sind und bleiben exklusiv in ihrer Hand. Sie brauchen weder Kameramann noch Tontechniker, d.h. erst mit der technischen-materiellen Verbreitung des Mediums Video werden solche audiovisuellen Selbstinszenierungen überhaupt möglich. 'LH.DGULHUXQJHQGHU.DPHUDELOGHQGHQÀH[LEOHQ5DKPHQGHU(LJHQNRQWXULHUXQJ des Ich. Die Videokamera verstreut die möglichen Subjektpositionen als Effekte des Bildes nicht ins unendlich Beliebige, sondern es kommt immer wieder zu temporären 6WDELOLVLHUXQJHQXQG9HUGLFKWXQJHQ¿[LHUWHQ(LQKHLWHQPLWSRU|VHQhEHUJlQJHQGLH in weitere temporär feste Formen diffundieren. Die Funktion dieser Bilder ist nur paUDGR[ DOV (LQKHLW YRQ %LOGXQJ XQG$XÀ|VXQJ ]X GHQNHQ DOV SUR]HVVXDOH /RJLN GHV Verschwindens und Auftauchens. Dabei ist das erscheinende Eigenbild keine bloße Illusion, kein vom Sozialen hermetisch abgeriegelter Bereich. Sigrid Adorf kommt zu dem Schluss, „dass über die Vermittlung des Videos Realitäten geschaffen werden: YHULQQHUOLFKWH%LOGHUUlXPOLFKHXQG]HLWOLFKH.RQ¿JXUDWLRQHQGLHGLH9RUVWHOOXQJYRQ Selbst und Wirklichkeit rahmen.“99 Statt bloßer spielerischer Rollen, die in der Fiktion des Bildraums eingeschlossen werden, bringt das Bild das Subjekt als modellierte Masse hervor. Der Bildraum Video gerät so zu einem offenen, hybriden und dynaPLVFKHQ )HOG GHU EHVWlQGLJHQ 9HUlX‰HUOLFKXQJ XQG 9HULQQHUOLFKXQJ GHU$XÀ|VXQJ von Subjektpostionen, deren Konstitution, Rekonstitution, Transformation und einem neuerlichen Zerfall. 97_%HOWLQJ  6 98 | Spiegelkonstellationen sind ein Topos in der Inszenierung des Übergangs einer ÃJXWHQµLQHLQHÃE|VHµ3HUVRQ9RQGHUMXQJHQ6FKDXVSLHOHULQDP(QGHYRQALL ABOUT EVE (Joseph L. Mankiewicz, USA 1950) bis hin zur Verwandlung des Wissenschaftlers Norman Osborne in den Superschurken Green Goblin in SPIDER M AN (Sam Raimi, USA 2002). 99 | Adorf (2008), S. 191

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Masken des Ausdr ucks Sieht man heute die Bilder aus den Überwachungskameras der Cafeteria der Columbine Highschool vom 20. April 1999, so fällt vor allem die absolute Emotionslosigkeit der Täter auf. Jens Hoffmann spricht von einem „Jagdmodus“ der Gewalt: „Die Bewegungsabläufe der beiden [Dylan Klebold und Eric Harris] wirken völlig entspannt und gelassen […]. Wir haben es bei Amok fast immer mit einem Jagdmodus von Gewalt zu tun, der unter anderem durch Kontrolliertheit, Zielorientierung und eine emotionale und physiologische Ruhe charakterisiert ist.“100 Die körperlichen und mimischen Ausdrücke der Täter bleiben den Morden fremd. Linda Feeney, eine Augenzeugin des school shootingsYRQ0LFKDHO&DUQHDODP'H]HPEHUJLEWEHUGLH9HUIDVVXQJ des Schützen während seines Amoklaufs zu Protokoll: „I will never forget that stare on Michael’s face in a million years… It was just blank, nothingness. It’s like there was nothing in him.“ 101 ,Q GLHVHQ %HVFKUHLEXQJHQ ¿QGHW VLFK GDV VR NRQVWLWXWLYH 0RPHQW GHU $PRN Erzählung – der Riss zwischen Innen und Außen, einer Ursache und ihrer Wirkung – sein sichtbares Äquivalent im Verhalten jugendlicher school shooter. Die Figuren der Schützen sind auf Ebene konventioneller Inszenierung nicht ins Bild verwoben, LKUH%HZHJXQJHQLKUH*HVWHQXQGLKUH0LQHQ]HLJHQDOVSULPlUH$XVGUXFNVÀlFKHQ menschlicher Emotion keinen Bezug zu ihrem Milieu und ihrem eigenen Handeln. Weder Zorn noch Hass sind abzulesen, nur eine absolute Gleichmütigkeit. Sie zeigen keine Reaktion auf das eigene Morden, auf die verzweifelten Reaktionen ihrer Opfer. Als wären sie nicht in der Situation, vollführen sie ausdruckslos das konstitutive bürgerliche Außen, die maßlose Raserei, die den normativen Kategorien bürgerlicher Selbstbeschränkung, dem maßvollen Spiel der Affekte und der Selbstbeherrschung, NRPSOHWWZLGHUVSUHFKHQ,KUH7DWHQN|QQHQQXUDOVÃNUDQNµXQGDEVHLWLJJHZHUWHWZHUden, aber sie verhalten sich in ihren Ausdrucksbewegungen während der Morde wie ÃQRUPDOHµ-XJHQGOLFKHÄ'DVPDFKWGLHJUR‰H,UULWDWLRQDXVGHQQGLH.UDQNKHLWEHZHJW GLH.|USHUREHUÀlFKHQLFKWPHKU³102 Vor der Tat stellt sich das Problem des Ausdrucks in den Selbstinszenierungsvideos. Dort wollen die school shooterVSH]L¿VFKH:LUNXQJHQLP=XVFKDXHUHU]HXJHQ XQGLKU%LOGIUGLH1DFKZHOWPRGHOOLHUHQ'HVKDOELVWGLH$XVJHVWDOWXQJLKUHUÃ3HUIRUmance‘ ein wichtiger Teil des Selbstbildes. Verschiedene Täter gehen unterschiedlich mit diesem Problem von Innen und Außen – man könnte sagen: mit dem Problem der Schauspielkunst – um.103 Wie stark die Strategien der Selbstinszenierung divergieren können, lässt sich anhand eines Vergleichs der Abschiedsvideos von Bastian Bosse und Seung-Hui Cho zeigen. 100 | Hoffmann (2003), S. 404 101 | Newman et al. (2005), S. 5 102 | Regener (2003), S. 204 103_(LQHVSH]L¿VFKHUHJOHPHQWLHUWH%H]LHKXQJ]ZLVFKHQ,QQHQXQG$X‰HQELOGHWÄGDV Muster melodramatischer Schauspielkunst. Der körperliche Ausdruck stellt ein Leid vor $XJHQGDVVLFKVSUDFKOLFKQLFKWDUWLNXOLHUHQNDQQ³.DSSHOKRII  6

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„You decided to spill my blood“: Seung-Hui Cho 6HXQJ+XL &KR OlXIW DP  $SULO  am Virginia Polytechnic Institute and State University (Virginia Tech) in Blacksburg Amok. Wie der Emsdettener school shooter hat Cho im Vorfeld ein Videomanifest produziert. Der 23-jährige unterbricht nach den ersten Morden seinen Amoklauf, um zum Postamt zu gehen. Dort schickt er einen Umschlag mit Videos und Fotos, in Seung-Hui Cho und auf denen er sich als Krieger inszeniert, dem Nachrichtensender NBC news. Dadurch, dass er nicht mit der „Faschopolizei“ wie Bastian Bosse rechnet und er seine Videos allein an die TV-Station schickt, GULQJHQGLHVHLPPHUVFKRQJH¿OWHUWGXUFKGHQ1DFKULFKWHQVHQGHULQGLHgIIHQWOLFKNHLW Es gibt verschiedene audiovisuelle Fragmente, die alle im gleichen Raum aufgenommen wurden. Cho steht oder sitzt vor einer weißen Backsteinmauer. Im Gegensatz zum Bildraum, in dem Bastian Bosse in Erscheinung tritt, ist der Hintergrund beliebig, auf ein Minimum reduziert, weckt keine Assoziationen des bürgerlichen Wohnzimmers oder eines anderen konkreten Milieus. Analog zu den Worten Bosses gibt Cho einen kurzen Abriss seines Lebens – konstruiert diese im Blick der Anderen, d.h. der globalen medialen Öffentlichkeit –, im Hinblick auf die zeitlich versetzte Tat. „You forced me into a corner and gave me only one option. The decision was yours.“ Er spricht zumeist direkt in die Seung-Hui Cho Kamera, adressiert den Betrachter als ein pauschales „you“ und differenziert sich so ins mediale Muster des einsamen Loners, GHUVLFKLQHLQHP¿QDOHQ6FKODJJHJHQGLH feindliche Außenwelt zu erkennen gibt. Wie bei Bosse ruft der kahlrasierte Schädel das Echo des ursprünglichen amucks auf, der sich für seine letzte Schlacht wappnet. Auf einigen der Fotos posiert OLDBOY Cho in militärischer Ver- oder Bekleidung, seine Waffen – Schusswaffen, Messer – direkt ins Objektiv der Kamera gerichtet. EiQHVGHU%LOGHUUXIWGLHSODVWLVFKH3RVHGHU¿OPLVFKHQ)LJXUHLQHV5lFKHUV'DHVX2K aus dem 2003 erschienenen OLD BOY (Chan-wook Park, Südkorea), auf. Frontal zur Kamera stehend schwingt Cho einen Hammer über dem Kopf und entgrenzt sich in die formale Gestaltung der medialen Vorlage auf dieselbe Weise, in der Bosse seine Gestalt mit der Figur Neo überblendet.

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In einem weiteren Punkt hat Chos Video die gleiche Funktion wie Bosses letzte Botschaft an die Welt: Der campus shooter will den globalen Kampf der Unterdrückten gegen die herrschenden Mächte aufrechterhalten. Spread the word. Cho bezieht sich in einem seiner Videos explizit auf Klebold und Harris, sieht sich – wie Bosse – als Erben jener Bewegung, die die Columbine-Attentäter bewusst ins Leben gerufen haben.104 „It’s not for me. For my children, for my brothers and sisters that you fucked. I did it for them...“ Chos Rede ist ungleich blumiger als die Worte Bosses, pathetisch knüpft er an Diskurse christlicher Motivik an. „Thanks to you I die like Jesus Christ – to inspire generations of the weak and defenseless people.“105 Er fühlt sich als Märtyrer, ist bereit sich zu opfern und löscht damit in seinen Zielen die allenfalls zerbrechliche Grenze zwischen Amokläufern und Selbstmordattentäter aus. Die Kritik an der bestehenden sozialen Ordnung ist vergleichbar mit den Ausführungen Bastian Bosses. In den Worten Chos scheint sich die Aggression Bosses gegenüber den falschen Versprechungen der Konsumkultur – Markenklamotten – zu wiederholen: „You had everything you wanted. Your Mercedes wasn’t enough, you brats. Your golden necklaces weren’t HQRXJK\RXVQREV>«@7KRVHZHUHQ¶WHQRXJKWRIXO¿OO\RXUKHGRQLVWLFQHHGV«@'RFKGDPDOVGDFKWHVLFKNHLQHUZDV dabei. […] Alle lachten über das Video. Es wurde über das interne Schul-Videosystem in allen Klassen gezeigt.“88 Was in der Betrachterperspektive als harmloses Schulprojekt erscheint, ist auf der Täterseite ein weiterer konstitutiver Schritt in der Realisierung eines Plans, der längst gefasst ist. Denn in der Rückschau ist der Film natürlich eine Vorinszenierung dessen, was am 20. April 1999 geschehen wird. Der Bildraum, wie er sich in HITMEN FOR HIRE manifestiert, kippt mit dem school shooting zurück in den materiell-sozialen Raum, dem er ursprünglich entstammt und der für die Opfer des Massakers als sicher galt. Die Bilder werden unrein, Bastarde zwischen Fiktion und Realität.

Feldformationen: R OCK’ N’R OLL 0LWIDVWVFKRQ]ZLQJHQGHU1RWZHQGLJNHLWOlVVWVLFKHLQ9LGHRYRQ%DVWLDQ%RVVH¿Qden, in dem er die Selbstinszenierungspraktiken von Klebold und Harris nachstellt. Der Titel des Videos: ROCK’N’ROLL. Der gebaute Raum ist dabei nicht die Schule, sondern – wie in RAMPART RANGE – ein Wald. Zwei in lange schwarze Mäntel und Sonnenbrillen gehüllte Gestalten – mit den Pseudonymen Seitenwinder und Bosse als ResistantX – inszenieren sich als bedrohliche Schützen. Der Wald gerinnt zum Kampfgebiet in den martialischen Posen der Akteure, mit direktem Blick in die Kamera strecken sie ihre Waffen ins Bild, zielen auf den Betrachter. Das Bewegungsbild wird eingefroren und die prozesshafte Zeitlichkeit der Selbstmodellierung in die Außerzeitlichkeit des Standbildes übersetzt. Als Song, an dessen Struktur sich das Video entfaltet, hat Bosse den Titel Die MF Die („die motherfucker die“) der Band Dope gewählt. Nach den Szenen im Wald folgt eine Sequenz, in der die beiden Figuren im Auto unterwegs sind, die Handkamera zumeist aus dem Fenster gehalten wird. Neben den Innenansichten des Wagens und dem Gesicht des am Steuer sitzenden Seitenwinder gibt es auch Bilder des sozialen Raums zu sehen, die eben nicht in der Inszenierung aufgehen und auf eine Alterität des Bildes verweisen. Die Fassade einer Häuserzeile, über die die Kamera schwenkt, bleibt den Posen des Videos fremd und gleichgültig. Dennoch gehen die beiden nur theoretisch zu trennenden Dimensionen des Bildraums auch ineinander auf, werden verwischt, das ländliche Milieu wird als Möglichkeitsraum erweitert, in dem es von der individuellen Entscheidung des Einzelnen abhängt, welche Potentiale des Bildes realisiert werden und welche nicht.

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Den Abschluss des Videos bildet eine minder spektakuläre Explosion. Ein Feuerwerkskörper – oder eine selbst gebastelte Bombe – wird auf einer Wiese gezündet. Die )ROJHQEOHLEHQEHUVFKDXEDUHLQHNXU]H6WLFKÀDPPHHLQHNOHLQH5DXFKZRONH'DPLW VFKOLH‰W%RVVHDQGLHÃ0LVVLRQHQµZLHVLH.OHEROGXQG+DUULVGXUFKIKUWHQDQ89 Aus dem kindlich-naiven Spiel keimen Handlungsfolgen, sinnliche – bisweilen medial aufgezeichnete sinnlich-anschauliche – Vermessungen der Welt, die den Raum bereits den Koordinaten des Erlebens und Wahrnehmens unterwerfen, die später im school shooting manifest werden. Die qualitativen Grenzen werden merklich verschoben: Von den Counterstrike-Maps, die Bosse entwirft, zu seinem Selbstinszenierungsvideo im Wald, bis hin zum Softair-Spieler Bosse, der in militärischer Kluft mit seinen Teamkollegen Krieg spielt.90 Entscheidend ist nicht so sehr das tatsächliche Bild und die reale Handlung, sondern die Verbindung zwischen dem aktuellen Bild und dem Bild des Möglichen, das die Täter im Kopf haben. In Bezug auf die Masse der Menschen, die Softair oder Counterstrike spielen, bleiben die Korrelationen zwischen Bild, Spiel und school shooting in jedem Fall kontingent. Matti Juhani Saaris Schüsse auf einen Apfel in einer verschneiten Landschaft sind uninteressant, belanglos, gewinnen erst mit dem tatsächlichen school shooting ihre Relevanz. Mit dem Bild des Massakers, das der Täter zu dieser Zeit schon imaginiert hat. Gleiches ist im RAMPART RANGE-Video von Harris und Klebold zu beobachten: Klebold schießt auf einen Baum, kurz danach wird lachend das Einschussloch im Stamm bewundert. „Imagine that in someone’s fucking brain!“, schlägt Harris vor. Der Gestus, in dem sie ihre Attentate am 20. April 1999 begehen, wird in diesen Bildern bereits konturiert. Wie eine Zeugin nach dem school shooting zu Protokoll gab: They were acting as if it was like a party, as if it, you know was like some video that they had, and about how – that it was just some great thing to witness. And after shooting people, they’d [sic] look at, like, how they shot them at close range and what they did and what they saw and how deep it went, and, you know, what damage that they had done to them . . . and they laughed about it.91

Was sich an dieser Stelle zeigt, ist die Verschlingung der Ebene des Fiktiven und des Realen bis zu einem Punkt der Ununterscheidbarkeit, d.h. 89 | Auf der Webseite von Eric Harris fand man die von ihm so genannten „Mission Logs“, in denen er die Missionen, die er mit Dylan Klebold im Vorfeld des school shootings ausführte, beschrieb: „Ich werde euch jetzt in das große Geheimnis unseres Clans einweihen. Wir sind kein gottverdammter Schisser-Clan! Wir sind eine Gang. Wir planen und führen Missionen aus. Unsere erste Mission war, dass wir ein ganzes Arsenal von Feuerwerkskrachern in einem Tunnel zündeten.“ Harris, zitiert nach Gaertner  6 90 | Vgl. Nareyek (2006) 91 | Pasquale, zitiert nach Frymer (2009), S. 1394



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Es sind zwei Interpretationen des Raums, die sich diametral gegenüberstehen und gleichzeitig nicht voneinander abzulösen sind. Die Überschreitung des materiell-soziDOHQ5DXPVHUIROJWLP+LQEOLFNDXIHLQHQPHGLDOSUl¿JXULHUWHQXQGGDPLWH[LVWHQWHQ Raum, der im school shooting seine Berechtigung einfordert.

0RGLGHU%HVFKUHLEXQJÃ(VZDUZLHLP)LOPµ Die Verlagerung medialen Erlebens und medialer Erfahrung in den sozialen Handlungsraum ist nicht eine exklusive Strategie der Schützen. Der Raum des Medialen offenbart sich auf Zeugenseite als gemeinschaftlich geteilter Raum, insofern die Beobachter den sozialen Raum, wie er sich während des school shootingsKHUVWHOOWDXI¿NWLonale Erfahrungen beziehen. Tatsächlich überschwemmt der school shooter den Raum mit entgrenzten Bildern des Krieges, die von einer Ordnung in eine andere schwappen und im Sinne einer Unreinheit nicht vollkommen im sozialen Raum aufgehen. Diese Perspektive zeigt sich auch auf Zeugenseite. So gibt Crystal Woodman Miller, die sich am 20. April 1999 in der Bibliothek der Columbine Highschool befand, über den Beginn des school shootings, als die ersten 6FKVVH¿HOHQDQGDVVVLH]XQlFKVWQXUHLQHQ*HGDQNHQJHKDEWKDEHÄ%HVWLPPWKDben die Schüler aus dem Videoseminar etwas vor – das ist sicher irgendein komisches Projekt.“93 Ob sie an ein Projekt wie HITMEN FOR HIRE gedacht hat, kann nur spekuliert werden. In ähnlicher Weise liest sich die Wiedergabe eines Notrufs der Lehrerin Patti 1LHOVRQDXVGHU6FKXOHÄ,FKVDJWHÃ:DVLVWORVGDGUDX‰HQ"µ1DMDZDKUVFKHLQOLFKLVW HV HLQH 6SLHO]HXJSLVWROH 9HUPXWOLFK HLQH 9LGHRSURGXNWLRQ 9HUVWHKHQ 6LH" 'LH PDchen solche Videos…“94 In einem Interviewband von Jens Becker mit Zeugen und Überlebenden des Erfurter school shootings ist die Bildmetapher die alles dominierende: „Die Bilder kommen nur manchmal so schlaglichtartig hoch.“ (Lutz Pockel, S. 11) / „Diese Bilder, die kommen immer mal wieder in mir hoch. Und sie verblassen nicht.“ (Nelli Hajdu, S. 25) / „Ich glaube, solche Bilder können nicht verblassen.“ (Manfred Ruge, S. 54) / „Die JDQ]H6LWXDWLRQNDPPLUVRXQZLUNOLFKYRUZLHLQHLQHP)LOP³ 'HWOHI%DHU6  „Die Bilder von damals kommen schon hin und wieder noch hoch.“(Hannes Niemann, 6 Ä'DODJMHPDQG8QGLFKVDK%OXW6FKODJDUWLJZDUPLUNODU*HUDGHSDVVLHUWHWwas wirklich Schlimmes. Aber gleichzeitig habe ich nicht geglaubt, daß das Wirklichkeit ist. Man denkt, man ist im falschen Film.“ (Anke Roschke, S. 126) / „Man erfaßt das Ganze dann nicht so einfach, man denkt, man ist in einem Film.“ (Pascal Mauf, S. 92 | Bublitz (2010), S. 86 93 | Woodman Miller (2008), S. 35 94 | Nielson, zitiert nach Gaertner (2009), S. 168

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 'LH8QVDJEDUNHLWGHVHLJHQHQ(PS¿QGHQVGLHLQGHQ6HOEVWDXVVDJHQGHU7lWHU über mediale Inhalte gefüllt wird, kehrt im Erleben der Zeugen als Grenze des Sagbaren wieder: „Irgendwelche Bilder tauchen immer wieder auf. Andererseits ist dieser Tag so weit weg, ich habe immer das Gefühl: Das kann nicht wahr sein, daß du dabei warst, daß du das erlebt hast. Man realisiert es einfach nicht. Manchmal stelle ich mir vor, einen Film mit ähnlicher Handlung gesehen zu haben.“ (André Förster, S. 108).95 Angesichts dieser Zeugenaussagen stellt sich die Frage nach dem eigentlichen %LOGGHV(UHLJQLVVHV=XU)RUPHOÃ(VZDUZLHLP)LOPµJHVHOOWVLFKGLH3UD[LVWURW] unmittelbarer Zeugenschaft das Fernsehbild als eigentliches Bild wahrzunehmen. Als Crystal Woodman Miller am 20. April 1999 die Schule endlich verlassen kann, setzt sie sich mit ihrer Familie vor den Fernseher und verfolgt die Berichterstattung: „Natürlich wollten wir alle erfahren, wie sich das Drama abgespielt hatte.“96 Brooks Brown, der von Eric Harris und Dylan Klebold am Eingang der Schule gewarnt wird, die Highschool an diesem Tag nicht mehr zu betreten, berichtet von den Stunden des Massakers: „Wir setzten uns hin und schauten fern. Wir schalteten jeden Fernseher im Haus an. […] Und wir schauten und schauten und während der Rest der Welt sich fragte, was zum Teufel dort los war, schauten wir, wer überlebt hat.“ Der Fernseher löst das Auge als epistemisches Werkzeug ab. Die Unreinheit des Bildes, die sich im school shooting zeigt, wird rückgeführt in eine Erzählung, in der das Bild wieder Distanz erlangt. Nelli Hajdu, die den Amoklauf Robert Steinhäusers am Johannes-Gutenberg-Gymnasium in Erfurt miterlebt, gibt über die unmittelbaren Tage nach dem Massaker zu Protokoll: Und dann mußte ich meine Geschichte natürlich immer wieder erzählen. Die ersten fünf Male ist man noch total fertig beim Erzählen, aber irgendwann erzählt man das so, als ob PDQHLQHQ.LQR¿OPHU]lKOHQZUGHDOVREPDQGDVQLFKWVHOEVWHUOHEWKDWXQGHVHLQHQ gar nichts angeht.98

Die Bild- und Filmmetapher ist die dominante Formel der Beschreibung von school shootings durch Augenzeugen.99 Im Ereignis überlagern sich die Dimensionen medi-

95 | Alle Zitate aus Becker, Jens (2005) 96 | Woodman Miller (2008), S. 58. An dieser Stelle werden die diffusen Grenzen zwischen dem Medialen und dem Sozialen ganz deutlich. „Reale Geschehnisse an einzelnen Orten sind zugleich globale Medienereignisse, die Bilder der Medien machen das reale Geschehen erst glaubwürdig. Der Glaube an die Authentizität der Bilder ist der Beleg für die Existenz des Realen.“ Klein/Friedrich, (2003), S. 112 97_%URZQ]LWLHUWQDFK*DHUWQHU  6I 98 | Becker, Jens (2005), S. 25 99 | Georg Seeßlen und Markus Metz untersuchen diesen Zusammenhang von medial SUl¿JXULHUWHU XQG DNWXHOOHU :DKUQHKPXQJ HLQHV NDWDVWURSKDOHQ VR]LDOHQ (UHLJQLVVHV anhand der Bilder vom 11. September 2001. Vgl. Seeßlen/Metz (2002), S. 19ff

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aler und sozialer Erfahrung.100 School shootings bedeuten die Konfrontation zweier Entwürfe, den Raum zu erfahren und zu strukturieren, soziale Wirklichkeit und Fiktionalität bezeichnen nichts anderes als die beiden Pole, zwischen denen sich der jugendliche Amokläufer bewegt. Die Planungen und die eigenproduzierten Filme im Vorfeld der Taten sind nichts anderes als die Umarbeitung des schulischen Raums in einen ±]XQlFKVW±¿NWLRQDOHQ,QQHQUDXPGHUPLWGHQ0RUGHQLQGHQVR]LDOHQ5DXPGUlQJW Die Map der eigenen Schule als Level eines Ego-Shooters – wie sie Bastian Bosse programmiert hat – ist dabei nur die anschaulichste Form dieser Transformation, die eben auch von den Medien der Schrift oder des Films geleistet werden kann.101

D IE WAHRHEIT DER F IKTION U ND DAS B ILD DES S OZIALEN The missing picture of a sniper in the Tower Die prägnante Verschmelzung von Sicht- und Sagbarem, von sozialer Materialität und medialem Erkennen ist auch an der Medialsierung des Amoks im öffentlichen Diskurs – auf der Ebene der Inszenierung – festzustellen. Die Verwischung der Grenze zwischen Dokument und Fiktion ist keine Technik, die sich allein auf Täterseite beschreiben ließe. Im Gegenteil. Schon mit dem Eintritt der school shootings ins mediale Gedächtnis entfaltet sich die diskursive Verschlingung von Sozialität und Narration, von Fiktivem und Materiellem. Um dies zu zeigen lohnt es sich, bis zur ersten diskursiven Verdichtung innerhalb der Geschichte der school shootings zurückzugehen. Aus dieser Perspektive machen nicht die Morde Charles Whitmans Amoklauf am 1. August 1966 einzigartig, sondern die Tatsache, dass das shooting live im Fernsehen übertragen wird. In den drei kurzen Clips – news bulletins des amerikanischen Senders KLNR –, die erhalten geblieben sind, stellt sich im Anschluss an Rancières Überlegungen zum ästhetischen Regime der Künste die Frage nach dem Verhältnis zwischen Sicht- und Sagbarem, Beschreibung und Intrige, sozialer Materialität und gesellschaftlicher Zeichenhaftigkeit von Neuem.

100 | Interessant in diesem Kontext ist auch die Beschreibungsformel Katherine Newmans zum Erleben der Lehrerin Mary Curtis, die während des school shootings von Andrew Golden und Mitchell Johnson am 24. März 1998 versucht, die verletzten Kinder zu versorgen: „Curtis’s heart was pounding as she grabbed towels and wrapped wounds, trying to remember what she had seen on TV shows like ER.“ Newman et al. (2005), S. 9 101 | Dass sich diese Verunreinigung der Räume auch im Medium der Oper vollziehen kann, zeigt der Schriftsteller Pascal Mercier sehr anschaulich in seinem Buch Der Klavierstimmer (München 2000). Jene Figur des Klavierstimmers kann einen Mord im sozialen Raum – dem Opernhaus – erst begehen, nachdem sie diesen Raum mit einen ¿NWLRQDOHQ,QQHQUDXP±GHU.ODYLHUVWLPPHUVFKUHLEWHLQHHLJHQH2SHULQGHUHUVHLQ VSlWHUHV+DQGHOQEHUHLWVSUl¿JXULHUW±EHUEOHQGHW

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Alle drei Clips zeigen die Aussichtsplattform des Turms der University of Texas, auf dem sich Whitman während seines Amoklaufs verschanzt. Der erste news bulletin präsentiert den linken Rand des Gebäudes in einer starren Aufnahme. Die Stimme eines Nachrichtensprechers im Off warnt vor der Bedrohung durch den Sniper, bittet die Bevölkerung, sich dem Schauplatz des Geschehens nicht zu nähern. „Please stay away from the University of Texas.“ Wort und Bild klaffen an dieser Stelle weit auseinander. Der akuten, tödlichen Bedrohung, von der die Stimme erzählt, stehen Aufnahmen zur Seite, auf denen nichts von dieser Gefahr zu erkennen ist. Die Fassade des Turms steht den Worten gleichgültig gegenüber, von Whitman ist keine Spur zu sehen, das Sichtbare verbindet sich in keiner Weise mit dem Sagbaren. Im zweiten Clip ist tatsächliche eine Bewegung hinter der Balustrade des Turms zu erkennen. Die Stimme im Off erklärt dazu: „Ladies and Gentlemen you can see the sniper if you look closely in the pothole at the bottom of the picture.“ Wieder sollen die Bilder die Worte illustrieren, von sich aus zeigen sie nur eine beliebige Bewegung. Die Kamera beginnt den Turm abzuschwenken, verliert die Stelle, an der Whitman vermutet wird, bisweilen aus den Augen. Es ist die Suche nach einem Unsichtbaren, einem Gegenstand, der die Nachricht tatsächlich zeigen würde. Aber es gibt nichts zu sehen. Stattdessen bleiben die Bilder stumm, wie der Sprecher im Off, minutenlang ist nur der Ausschnitt der Fassade des Turms wahrzunehmen, in die sich nach und nach die Erzählung einer unerhörten Katastrophe einschreibt. Die Aktions-Reaktionsmuster werden ausgesetzt. Es gibt allenfalls eine behauptete Verknüpfung zwischen dem Sicht- und dem Sagbaren, eine durch die Stimme in Szene zu setzende Relation zwischen den Bildern (der gleichgültigen Fassade) und ihrer Wirkung auf den Zuschauer (den Ort zu meiden). Im dritten Clip berichtet die Off-Stimme von den Bemühungen der Polizei, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Wieder ist nichts zu erkennen als Aufnahmen der Aussichtsplattform. Die Bilder bleiben fremd gegenüber der Erzählung. Rauch zieht von links nach rechts durch den Kader, die Sprecherstimme sagt: „Ladies and gentlemen, you may have seen the smoke just a moment ago, drifting by from the shot – I don’t know if you could hear the shot or not, probably not – but the man is still up there DQGWDNLQJVKRWV³:LHGHULVWYRQGHPÃHLJHQWOLFKHQµGKGHPKHUEHL]LWLHUWHQ(UHLJQLV – dem Schuss – nichts zu sehen. Wenn ein Schuss abgefeuert wurde, dann im horschamps, links neben der Bildkante. Gleichzeitig mit den erklärenden Worten schwenkt die Kamera nach links, um zu zeigen, was erzählt wird. Aber als das Bild die vermeintliche Quelle des Rauches erreicht hat, ist nichts mehr zu sehen, kein Heckenschütze, kein Mündungsfeuer. Nichts, außer der gleichgültigen Fassade des Turms. In der folgenden Minute schweigt die Stimme und zurück bleibt das Bild, es entfaltet sich ein gespanntes Warten auf den entscheidenden Augenblick, in dem ein Schuss oder der Sniper endlich zu sehen sind, sich die Tatsächlichkeit der Handlung als mediale Wirklichkeit im Bild manifestiert. Dokument und Erzählung überlagern sich, das Warten ist der Beginn der Fiktionalisierung, wie Godard anhand des Vergleichs zwischen Flaherty und Hitchcock postuliert. Die Aussichtsplattform geht rings um die

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Spitze des Turms herum, so dass noch nicht einmal sicher ist, ob sich Whitman auf der 6HLWHEH¿QGHWGLHGLH.DPHUDLQV$XJHIDVVW Nach Minuten des vergeblichen Wartens fängt die Kamera doch noch einen der Schüsse ein und die Stimme verdoppelt, erklärt, was das Bild zeigt: „Hey he is right in that hole.“ Was die Off-Stimme im Folgenden herzustellen versucht, ist ein geregeltes Verhältnis zwischen Reiz bzw. Aktion und Reaktion. „Students and other persons who are on campus can be seen crouching behind buildings.“ Die Kamera zeigt derweil die Fassade des Turms. Ein Suchbild. Ein Bild ohne wahrscheinlichen Anschluss an ein DQGHUHV%LOG:LHGDVHUVWH%LOGHLQHV.ULPLQDO¿OPVLQGHPGLH/HLFKHQRFKRKQHGLH Geschichte ihres Mordes zu sehen ist.

The story of a sniper in the tower: The Huntley-Brinckley Report An der weiteren Diskursivierung der Whitman-Morde lassen sich die Bauprinzipien der zunehmende Diskursivierung von school shootings, wie sie auch heute noch Gültigkeit besitzen, ablesen. Am Abend des 1. August 1966 widmet sich das renommierteste Nachrichtenformat des Senders NBC, der +XQWOH\%ULQFNOH\5HSRUW den Ereignissen in Austin. Dabei fällt zuerst die dominante Stellung des Wortes gegenüber den Bildern auf. Was sich in der Liveübertragung noch als gleichwertig nebeneinander stehend präsentierte, gerät im Huntley-Brinckley Report schnell zu einem Hierarchiegefälle. Aufgerufen wird die Geschichte Charles Whitmans, wie sie in Erfahrung gebracht wurGHVHLQHELRJUD¿VFKHQ(FNGDWHQGLHLQGHU=ZLVFKHQ]HLWHQWGHFNWHQ0RUGHDQVHLQHU Frau und seiner Mutter. In einer typischen Talking-Head-Einstellung verliest der Nachrichtensprecher in neutraler Stimme diese Informationen, als zusätzliches Bild gibt es nur auf der hinteren Wand des Fernsehstudios eine abstrakte Karte des Südens der USA zu sehen, auf der der Staat Texas als Ort des Schauplatzes farbig markiert ist. Als es um die Taten, also die Schüsse geht, blendet das Bild im Hintergrund über in ein Standbild, das den Turm der Universität in einer weiten Einstellung zeigt. Mit zunehmender Informationsdichte, also den Details, die verlesen werden, wird das eine Standbild in einen weiteren freeze frame geblendet: entlang der Dramaturgie der Aufdeckung der Geschichte ist ein Bild zu sehen, das nur die Aussichtsplattform des Turms, also den Tatort, zeigt. Die Bilder illustrieren die Geschichte, sind aber nicht mehr dominant zuständig für den Sinn. Der Nachrichtensprecher gibt ab zu einer Berichterstattung vor Ort, einem Beitrag, der die Geschehnisse des Tages in Wort und Bild zusammenfasst. Hier ist zunächst dieselbe Technik wie im Studio zu sehen. Diesmal wird in Bewegungsbildern von einer weiten auf eine nahe Einstellung des Turmes und der Aussichtsplattform The Huntley-Brinckley-Report geschnitten. Die Bilder der LiveübertraJXQJZHUGHQLQHLQQDUUDWLYHV*HÀHFKWHLQJHEHWWHWGDVGRPLQDQWYRQGHU6WLPPHGHV

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Sprechers im Off getragen wird. Der Kommentar ordnet ein, stutzt die Bilder als Illustration der Erzählung des Ereignisses zurecht. Die eigentliche Information sind die Eckdaten des campus shootings – die Anzahl der Opfer, genaue Zeitangaben, der Bericht von der Überwältigung Whitmans durch die Polizei usw. The Huntley-Brinckley-Report Doch auch die Bildfragmente werden gegeneinander gestellt und zum Kommunizieren gebracht. Am offensichtlichsten in unzähligen Reiz-Reaktionsschemata, den Iterationen des Schuss-Gegenschuss-VerfahUHQV9RP %LOG GHV7XUPV ZLUG LPPHU ZLHGHU DXI ÀFKWHQGH 6FKXW] VXFKHQGH XQG LQ'HFNXQJJHKHQGH3DVVDQWHQKLOÀRVH5HWWXQJVYHUVXFKHXQGDEIDKUHQGH.UDQNHQwagen geschnitten. Die Orientierungslosigkeit, die Wahllosigkeit der Schüsse wird so gestalterisch auf ein zu verstehendes Maß reduziert. Es ist nicht mehr die ängstliche und zugleich faszinierte Erwartung des nächsten Schusses, wie sie sich mit den LiveBildern verknüpft, sondern es manifestiert sich eine regulierte Sichtbarkeit, die die Bilder auf einen Horizont der Bedeutungsverknüpfung bezieht. Auf eine Ursache (die Schüsse) folgt eine Wirkung (die Flucht). Dennoch sind die Bilder nicht einseitig zu verstehen, gibt es im Huntley-Brinckley-Report auch Einblicke in die soziale Materialität wie in den Bildern der Liveübertragung. Eine Szene zeigt eine Frau aufsichtig von hinten. Sie hat die rechte Hand auf einen Baum gelegt, schaut neugierig um den Stamm herum. Ihre Haltung The Huntley-Brinckley-Report ist starr, unbeweglich und so setzt ihre Gestalt die eingeführte Verknüpfung der Bilder nach Aktion und Reaktion, aus. Es stellt sich die gleiche unsichere Erwartungshaltung ein, wie sie sich mit dem Warten Nanooks verknüpft. Ein Moment, in dem die Erzählung aussetzt und etwas zu sehen ist, was allein in der reinen Medialität der Bilder nicht aufgeht, sondern auf ein Außen verweist, eine Alterität des Bildes, das der soziale Raum ist. Im Off leitet der Sprecher simultan ein Interview mit einem Zeugen ein, so dass eine Bild-Ton-Schere entsteht, die das sichtbare Bild kaum berührt. Dann stoppt die Stimme im Off, das Bild der Frau ist zwar weiter zu sehen, aber jetzt mit dem Ton abgefeuerter Schüsse. Schließlich schwenkt die Kamera zum Turm hinauf und das Bild der Frau wird narrativ eingeholt, indem es über die Kamerabewegung mit dem Ereignis des Amoklaufs verbunden wird. Die Aktion enthüllt sich erst jetzt im audiovisuellen Bild von Rauchfahnen, die von der Plattform aufsteigen und kurzen Blicken auf eine Waffe durch die Balustrade.

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Im Anschluss an die Szene mit der erstarrten Figur der Frau folgt ein Interview mit einem Augenzeugen, der das eigene Erleben des Geschehenen vor der Kamera rekonstruiert. Das Objektiv schwenkt nach einem Zoom auf sein Gesicht über die 2EHUÀlFKH GLHVHV *HVLFKWHV YHUVXFKW LQ den Erscheinungen der sichtbaren Welt zu The Huntley-Brinckley-Report lesen. Die Handkamera gleitet nach unten, DXIGDV8QWHUKHPGGHV=HXJHQJHKWGHU6SXUGHU%OXWÀHFNHQQDFKXQGHU]lKOWVRHLQH eigene Geschichte, vermisst das Sichtbare im Gegensatz zur Erzählung des Augenzeugen, der eher lapidar und unaufgeregt die Ereignisse zusammenfasst.

Die Trennung von Dokument und Fiktion Im Huntley-Brinckley Report vermischen sich Medialität und soziale EreignishaftigNHLWXQDXÀ|VOLFK'DPLWVLQGDXFKGLH.RRUGLQDWHQJHVHW]WLQQHUKDOEGHUHUVLFKGLH Geschichte der school shootings entfalten wird.102 Um diese Verortung des school shooters als Bildformation in einem Bereich der Ununterscheidbarkeit zwischen Fakt XQG)LNWLRQLQV]HQLHUWHPXQGÃGRNXPHQWDULVFKHPµ%LOGJUHLIEDU]XPDFKHQORKQWVLFK der Vergleich zwischen zwei weiteren Filmen, die sich mit den Ereignissen des 20. $SULO  LQ /LWWOHWRQ EHVFKlIWLJHQ 'DV HLQH LVW7HLO GHV RI¿]LHOOHQ 'LVNXUVHV GHU Ebene der Inszenierung von school shootings: eine Folge der vom Discovery Channel produzierten DocuDrama-Reihe ZERO HOUR mit dem Titel Columbine High School Massacre (David Hickman, USA, 2004). Das andere Beispiel ist eine Montage im Internet verfügbarer Bilder des Nutzers kataclysmicminds auf der Videoplattform veoh. com mit dem Titel COLUMBINE 10TH YEAR ANNIVERSARY – ERIC AND DYLAN TRIBUTE – HEY MAN NICE SHOT! %HLGH )LOPH IKUHQ GLH hEHUODSSXQJHQ YRQ ¿NWLRQDOHQ XQG dokumentarischen Bildern in einen Bereich der Ununterscheidbarkeit.

Dem Ereignis ein Bild geben: Z ERO H OU R

ZERO HOUR dramatisiert entsprechend seines Titels und dem Format DocuDrama entlang einer Deadline die Ereignisse vom 20. April 1999 in Littleton von 11.10 bis 12.10 Uhr. Innerhalb dieses Zeitraums wird die Geschichte des Ereignisses chronologisch HU]lKOWGDEHLDEHULPPHUZLHGHUDXIIUKHUH(UHLJQLVVHLQGHQ%LRJUD¿HQGHU7lWHUGLH vermeintlich etwas mit dem Attentat zu tun haben, ausgegriffen.103 102 | So schreibt Benjamin Frymer über die Berichterstattung zu den Columbine-Morden 33 Jahre nach Whitman: „Even before the freshly spilled blood could dry, Columbine was an instant media-driven spectacle. As the carnage unfolded over a period of hours, local news covered the action as it unfolded—a perfectly mediated dramatic event.“ Frymer (2009), S. 1389. 103 | In Dramaturgie und Inszenierung – die wackelige Handkamera, die schnellen Schnitte, die allmächtige Deadline, die Split-Screens – verwendet ZERO HOUR Techni-

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Die Machart des Films wird bereits in der Eingangssequenz klar: Zu sehen ist die Fahrt entlang einer Häuserzeile in einem Vorstadtmilieu. Die Kamera wird aus dem Seitenfenster eines Autos gehalten. Den Score bilden Synthesizerklänge, die den BildUDXPPLWHLQHUP\VWHUL|VHQXQKHLPOLFKHQ$WPRVSKlUHDXÀDGHQ'LH%LOGHUVLQGEOlXlich-dunkel eingetrübt. Die Fahrt endet mit einer Einstellung auf ein Einfamilienhaus, das Bild wird mit dem Klicken des Auslösers eines Fotoapparates im Off eingefroren. Im rechten Kaderfeld erscheint ein Text: „Eric Harris’ house / 28 April 1998.“ So werden die später gedrehten Bilder, die Fahrt im Auto, durch den Medienwechsel diskursiv in ein Dokument verwandelt, mit allen kulturellen Konnotationen des Esist-so-gewesenGLHGLH)RWRJUD¿H]XELHWHQKDW'DV+DXVLP%LOGLVWGDVWDWVlFKOLFKH Elternhaus von Eric Harris, die stumme, gleichgültige Fassade wird durch die Einblendung des Datums zum Spielfeld für die Techniken der Nachinszenierung – „dramati]DWLRQVEDVHGRQUHFRUGLQJVRI¿FLDOGRFXPHQWVDQGH\HZLWQHVV³ZLHHVKHL‰W±PLW denen ZERO HOUR im Folgenden beginnt. Von der Außenansicht wird auf einen Innenraum geschnitten. Im unteren Teil des Kaders erscheint das Wort „reconstruction“, während die Kamera über die Gestalt eines Jugendlichen schwenkt, der auf einem Bett liegt. Im Off erklärt simultan eine männliche Sprecherstimme: „In the middleclass suburban town of Littleton near Denver, &RORUDGRD\HDUVROGPXUGHURXVIDQWDV\LVEHJLQQLQJWRWDNHVKDSH³'HU6FKZHQN setzt sich fort. Vom Gesicht des Jungen gleitet das Bild zu einem Schreibtisch, auf dem Block und Stift zu sehen sind. Die oberste Seite des Blockes ist zur Hälfte beschrieben. Entlang eines Zooms auf das Papier und die geschriebenen Worte verliest die Stimme der Figur auf dem Bett Auszüge aus dem Tagebuch von Eric Harris, wie sie nach seinem Tod veröffentlicht wurden. Ein Schriftzug wird über das Bild geblendet: „Words from Eric Harris’ Journal.“ Im Anschluss schneidet ZERO HOUR auf eine Talking Head-Einstellung, in der ein Schauspieler als Eric Harris zu sehen ist und die restlichen Worte des Tagebucheintrags mit direktem Blick in die Kamera spricht. Das Licht kommt frontal von rechts, erhellt die eine Seite des Gesichts, während die andere im Dunkeln ZERO HOUR verschwindet. Die Botschaft ist offensichtlich: Gut und Böse liegen nahe beieinander, ein Jugendlicher am Scheideweg zwischen Tag und Nacht. ZERO HOUR nutzt die einfachsten narrativen Formeln, um implizit immer schon DXIGDVODWHQWH]XHQWVFKOVVHOQGH*HKHLPQLV]XYHUZHLVHQGDVÃKLQWHUGHU)DVVDGHµ liegt – kurze Zeit später wird die Off-Stimme von bisher unbekannten Erkenntnissen

ken der mise-èn-sceneGLHYRUDOOHPGXUFKHLQ¿NWLYHV)RUPDW±GLH796HULH24 – populär wurden.

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sprechen, die ein neues Licht auf das Ereignis werfen.104 Fakt und Fiktion verschlingen VLFKLQHLQDQGHUGXUFKGLH0RQWDJHDXWKHQWL¿]LHUHQVLFKGLH%LOGHU±EHLVSLHOVZHLVHGLH aus dem sozialen Raum stammende Fassade und die nachinszenierte Szene – gegenseitig, entwickeln gemeinsam, in ihrer Verschränkung, einen Sinnhiorizont, auf den sich dann jedes noch so kleine Bildfragment beziehen lässt. So auch die folgenden Aufnahmen, private Bilder von Klebold und Harris, die vor der Tat entstanden sind. Die Aussagen der Augenzeugen wie etwa Brooks Brown gehen nahtlos in die Reinszenierung über und umgekehrt. Der Zeuge verleiht den Bildern den Status des Wahrhaftigen, wie die Bilder wiederum die Aussage des Zeugen realiVLHUHQXQGDXWKHQWL¿]LHUHQZERO HOUR ist keine Sammlung von Fakten, sondern setzt ein Bild des Ereignisses als geschichtliches performativ in Szene. Am augenscheinlichsten wird dies in den diversen Split-Screen-Anordnungen. Der Schauspieler als Figur Eric Harris zitiert Worte aus den Tagebüchern von Eric Harris und links neben seinem Gesicht ist ein kleineres Bild eingefügt, das die Cafeteria der Littleton Highschool am 20. April 1999 aus der Perspektive einer der Überwachungskameras zeigt. Hier und an anderer Stelle bedient sich ZERO HOUR eines ganzen Arsenals von Strategien der Überblendung von Realem und Imaginärem und löst die Bereiche auf im Amalgam einer Version der Wahrheit über Littleton, die genauso wahr ist wie alle anderen auch. ZERO HOUR In der Binnenlogik des Films ist es nur folgerichtig, dass die Schützen Klebold und Harris, die am 20. April 1999 im sozia104 | In dieser Form der Narration verdichten sich die frühen Muster des Amoks, die Beschreibung mörderisch-rasender Anfälle, die ohne Vorzeichen in den öffentlichen Raum brechen. Die Bauweise dieser Geschichte ist beliebt, erfüllt sie doch alle Bedingungen des Suspense und konstruiert in der Mitte der Erzählung ein noch zu füllendes Geheimnis. Es ist die immer gleiche Geschichte eines Killers, der bis zum Zeitpunkt seiner Morde unauffällig geblieben ist. Die journalistischen Artikel über school shootings UHNXUULHUHQQXUDOO]XRIWDXIGLHVHV(U]lKOPXVWHULQGHP]XQlFKVWGLHVSH]L¿VFKH )DOOK|KHGHU6]HQHULHEHUEOXPLJH%HVFKUHLEXQJHQGHUIULHGOLFKHQ,G\OOHÃLQGLHGDV Grauen einzog‘, festgelegt wird. Dann werden die narrativen Lücken zwischen dem Bild des Friedens und dem Bild des Mordens Stück um Stück gefüllt. Die sonnige Fassade, die sich die Täter gegeben hatten, wird dabei – seit Charles Whitman – ein ums andere Mal hervorgehoben: „Charles J. Whitman was a man who carefully hid himself behind a sunny face of good nature and warmth.“ Nevin (1966), S. 28

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len Raum mordeten und die Schauspieler Klebold und Harris aus dem DocuDrama ZERO HOUR am Ende des Films im %LOGGHV7RGHV]XVDPPHQ¿QGHQVLQGGLH Schauspielerkörper doch drapiert wie die Leichen der beiden Schützen, die in der Bibliothek gefunden wurden. Diese Faltungen von Fakt und Fiktion sind nicht ZERO HOUR im Sinne einer Täuschung des Zuschauers zu verstehen, sondern konstitutive Bedingung des Formats DocuDrama. Problematisch wird die Inszenierung des Massakers und seiner Protagonisten in ZERO HOUR erst im Hinblick auf die Selbstinszenierungen der school shooter in der Nachfolge von Columbine. Was innerhalb der medialen Kanäle inszeniert wird, ist eine Form des intimen Blicks auf Klebold und Das Bild der Leichen von Dylan Klebold und Eric Harris am 20.04.1999 Harris, der schließlich in den Tagebüchern Bastian Bosses – der Klebold und Harris als Freunde sieht – wieder auftaucht. Es ist eine bestimmte Form des Verständnisses für die Täter, das ZERO HOUR mit den kruden Ausführungen Bosses verbindet. Klebold und Harris werden für Bosse zu tatsächlichen Gestalten, wie Eric Harris nach dem Schnitt in das Haus seiner Eltern in Littleton eine tatsächliche Gestalt wird. Die verfügbaren Dokumente werden zu einer Person syntheWLVLHUW HLQHU VSH]L¿VFKHQ 6XEMHNWLYLWlW PLW HQWVSUHFKHQGHQ +DQGOXQJVP|JOLFKNHLWHQ LP |IIHQWOLFKHQ 5DXP 'DVV GLHVHU 6FKQLWW GHQ %LOGUDXP ¿NWLRQDOLVLHUW VSLHOW GDEHL eine untergeordnete Rolle. Es ist eine bestimmte sichtbare Vermessung eines EreignisVHVXQGVHLQHU3URWDJRQLVWHQGHVVHQGRPLQDQWH6WUDWHJLHGLHNRQVWDQWH$XÀ|VXQJDOOHU *UHQ]HQ]ZLVFKHQGHPÃ:LUNOLFKHQµXQGGHPÃ,QV]HQLHUWHQµLVW'LH:LUNOLFKNHLWLVW dabei nicht in der Materialisierung eines Bildes zu sehen, sondern in der Wirklichkeit der Bilder selbst. Bosse kennt Klebold und Harris nur als Bilder, aber die Verknüpfung heterogener Elemente zu einem homogenen Bildraum, in dem Fakt und Fiktion nicht mehr unterschieden werden ist eine Strategie der Inszenierung, die Bosse für seine Selbstinszenierungen, in denen er ein Bild von sich selbst herstellt, nutzt. Es ist bemerkenswert, wie stark ZERO HOUR letztlich genau das Bild der school shooter Eric Harris und Dylan Klebold herstellt, das sich die Schützen geben wollen. Als der Moment gekommen ist, in dem sich die school shooter auf ihren letzten Weg in das Schulgebäude machen, lässt ZERO HOUR keine inszenatorische Technik ZERO HOUR aus, um die mörderischen Jugendlichen in



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ein Bild der absoluten Gewalt und Coolness zu verklären. In langen Ledermänteln und Sonnenbrillen laufen die beiden Figuren abgeklärt auf das Schulgebäude zu und es besteht kein Unterschied zur Figur des Cool Killers in THE BASKETBALL DIARIES. Gezeigt wird der letzte Gang in Untersichten, die erhabene Schönheit der AugenbliZERO HOUR cke sorgsam unterstützt durch die Dramatik des Scores. Damit wird das Töten selbst noch zum Bild eines heroischen Aktes. Damit gerinnt die Ebene der Inszenierung der Täter zu einem Spiegel der Selbstinszenierungen der Täter. Gespielte und tatsächliche Handlung sind Teile eines nicht zu entwirrenden Bildgewebes, in dem bildhafte soziale Materialität – wie die Bilder aus den Überwachungskameras der Cafeteria – problemlos mit Bildern abgestufter Fiktionalität – nachgestellte Szenen, neu inszenierte Szenen – verbunden werden können ohne einen qualitativen Bruch des Bewegungsbildes als Ganzes einer Sequenz, eines Films, zu schaffen. Es ist ein stringentes und homogenes Bildgewebe, das sich aus der hybriden Verschmelzung der Bildfragmente ergibt, ein Ort des universellen Austauschs und der absoluten Durchlässigkeit zwischen Fiktion und sozialer Wirklichkeit, wie sie in einem Bild erscheint. Die Strategien Bastian Bosses und Seung-Hui Chos in ihren Abschiedsvideos sind analog zu lesen: Es gibt einen faktisch anwesenden Körper vor der Kamera, aber der Blick auf diesen Körper koppelt die Fiktion an die Materialität dieses Körpers, weil er die Grenzen der Bereiche nicht anerkennt. Im Hinblick auf die Wirklichkeit des Bildes spielen die vermeintlich zu differenzierenden Wahrheitswerte der unterschiedlichen Bildtypen keine Rolle. ZERO HOUR schneidet hart von den Bildern der Überwachungskamera auf die nachinszenierten Szenen mit Schauspielern, Bosse überblendet seinen ÃQDWUOLFKHQµ.|USHUPLWHLQHPDP9RUELOGFIGHT CLUB modellierten Körper. Der eine Körper ist deswegen nicht weniger wirklich als der andere. Er ist nicht das Produkt einer Verstellung. „Archie, you said that you´re gonna kill yourself in this movie of \RXUV$UHWKHVHVHULRXVWKRXJKWVRUMXVWDPRYLH"³±Ä,WVDVHULRXVPRYLH³

Columbine 10th year Anniversary: Eric and Dylan Tribute

Columbine 10th Anniversary...

Der User kataclysmicminds nutzt für seinen Tribut an Harris und Klebold dieselben Techniken der Verwischung zwischen Fakt und Fiktion. Der kurze found footage-Film verhehlt die eigene Bewunderung für das Killer-Duo nicht, schon zu Beginn ist ein Titel zu sehen, in dem es heißt: „Not of a Tragedy… / But of a Wake Up call…/ And in the memory of two heroes…“ Nach einem kurzen Moment der Stille sind im Off die Emergency-Calls vom

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20. April 1999 zu hören, zeitlich versetzt beginnt der Song +H\PDQQLFHVKRW der Band Filter.105 Eine Irisblende gibt das nächste Bild frei: Eine Einstellung aus HITMEN FOR HIRE, die Klebold und Harris zeigt, wie sie als Killer in schwarze Mäntel gehüllt eine Straße entlang laufen und auf die Kamera zukommen. Im Folgenden gehen die Bilder verschiedenster Provenienz nahtlos ineinander über: Bilder der Überwachungskamera, Bilder aus ZERO HOUR%LOGHUDXVGHQ9LGHR¿OPHQYRQ+DUULV und Klebold, Bilder aus anderen Filmen, die school shootings und Bullying thematisieren. Über den Filter-Song, dessen Lyrics als Titel über die jeweiligen Bilder geblendet wird und die immer wieder einsetzenden Notrufe – also über die durchgängige Tonspur – wird aus den hybriden Fragmenten eine weitere homogene Columbine 10th Anniversary... Version der Wahrheit produziert. Das Bild der Hinrichtung aus HITMEN FOR HIRE wird textlich wie auditiv mit den Worten „What a JRRGVKRWPDQ³DXIJHODGHQ=XHLQHU)RWRJUD¿HGHU2SIHUYRQ&ROXPELQHKHL‰WHVÄ, wish I would have met you!“ Das Bild der Leichen von Eric Harris und Dylan Klebold aus der Bibliothek vom 20. April 1999 wird zu einer Ikone verhübscht, auch wenn der Vorname von Harris falsch geschrieben ist. COLUMBINE 10TH YEAR ANNIVERSARY… zeigt sehr deutlich, dass die Techniken der divergenten Inszenierungen und Selbstinszenierungen an Medientechnologien geNRSSHOW VLQG GLH GLH 'LVWULEXWLRQV|NRQRPLHQ JHQDX ZLH GLH$XÀ|VXQJ VSH]L¿VFKHU Anredeverhältnisse zwischen Werk und Rezipient betreffen. Mit dem ästhetischen Regime der Künste und dem Siegeszug der Literatur verschwindet die lebendige Rede Platons, die Inhalte stehen für jedermann offen, zirkulieren ohne Restriktionen im öfIHQWOLFKHQ5DXPN|QQHQJHQXW]WXQGÃPLVVEUDXFKWµPLWYDULLHUHQGHQXQGGLYHUJHQWHQ Bedeutungen aufgeladen werden. Es ist eine Pluralisierung und die Abschaffung der bestehenden Hierarchieverhältnisse zu beobachten: „Die Demokratie der Schrift ist das Regime des Freibriefes, den jeder für sich verwenden kann, sei es, um sich das Leben der Romanhelden oder –heldinnen anzueignen, sei es, um selbst Schriftsteller 105_$XFK KLHU ¿QGHW VLFK HLQH 9HUELQGXQJ ]X HLQHP VR]LDOHQ (UHLJQLV 'HU )LQDQ]beamte Budd Dwyer – der wegen Bestechlichkeit verurteilt worden war – rief am 22. -DQXDUHLQH3UHVVHNRQIHUHQ]]XVDPPHQXQGYHUVSUDFKGHQ-RXUQDOLVWHQÄ/DVW0D\ I told you that after the trial, I would give you the story of the decade. To those of you who are shallow, the events of this morning will be that story.“ Nach seiner Erklärung an die Medien zog Dwyer eine Waffe und erschoss sich vor laufender Kamera. Die Band Filter greift in ihrem Song diesen Selbstmord auf.

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zu werden, sei es auch, um sich in die Diskussion über die gemeinsamen Angelegenheiten einzumischen.“106 Die Schrift bzw. das audiovisuelle Bild sind genuine Mittel der Emanzipation, weil sie über die Medialität in das Gefüge der Machtverhältnisse, der Ordnungsstrukturen, eingreifen können.

Die Fiktionalität des Sozialen Im Hinblick auf das Verhältnis von sozialhistorisch-materiellem Raum und Bildraum erfahren die Techniken der Fiktionalisierung, wie sie in der Liveübertragung der Whitman-Morde evident werden mit Columbine nur eine quantitative Steigerung, keine qualitative Veränderung. In der Iteration der immer gleichen Bilder, die mit Columbine im Kontext school shooting verfügbar wurden, zeigt sich in aller Deutlichkeit der Modus der Verschränkung von Realem und Imaginärem, einem Modus, dem Michelangelo Antonioni mit seinem Film BLOW-UP (UK 1966) ein Denkmal gesetzt hat. Dort knipst der Fotograf Thomas Bailey scheinbar nur den sozialen Raum, will die Ã1DWUOLFKNHLWµHLQHV3DUNVDEOLFKWHQXQGJODXEWGDEHLHLQ9HUEUHFKHQ]XHQWGHFNHQ Thomas verwandelt sich in einen Detektiv und geht auf Spurensuche. In seiner Dunkelkammer stellt er immer mehr Vergrößerungen her, aber je größer er die Negative aufbläst, desto mehr Versionen der Wirklichkeit entstehen in der groben Körnigkeit der Abzüge. Die Schatten verweisen auf Geschichten, vom Sehen springt der Zuschauer zum Lesen, der Bildraum verwandelt sich in einen Tatort. Was es dabei zu erkennen gibt, sind keine Beweise, sondern nur die Obsession des eigenen Blicks, der sehen, wissen, entdecken will. Er verschränkt sich mit dem passivmechanischen Blick der Kamera und entgrenzt sich in immer neue hermeneutische Wucherungen. Es gibt einen Punkt, das wird in der ausdauernden Befragung der auf die Leine gehefteten und an die Wand gespickten Schwarzweiß-Abzüge demonstriert, an dem das HLQJHIURUHQH LP 1HJDWLY ¿[LHUWH 2EMHNW VHLQH (UVFKHLQXQJ YHUlQGHUW XQG ± MD ZDV" VHLQ:HVHQVHLQHYHUGHFNWH(LJHQWPOLFKNHLWIUHLJLEW"RGHUGLH,PDJLQDWLRQHQGHVLKP JHJHQEHUVWHKHQGHQ6XEMHNWVGHV)RWRJUDIHQLQVLFKDXIQLPPW"'LH$QWZRUWZDKUscheinlich tut es beides.108

Die privat entstandenen Bilder von Klebold und Harris – von HITMEN FOR HIRE bis RAMPART RANGE – und die Bilder der Überwachungskamera der Columbine-Cafeteria erinnern in ihrer unendlichen Wiederholung – sei es im Fernsehen, im Kino oder im Internet – an die endlosen Vergrößerungen des Fotografen Thomas in BLOW-UP und die 106 | Rancière (2008a), S. 25 107_6RZLHGLH)RWRJUD¿HQ3DULVHU6WUD‰HQYRQ(XJqQH$WJHWXQWHUGHP%OLFN:DOWHU Benjamins zu Tatorten, zu „Beweisstücke[n] im historischen Prozeß“ werden. Benjamin (1963), S. 21. Ernst Wendt schreibt in diesem Kontext im Hinblick auf BLOW-UP: „Die ganze Welt ist ein Tatort, man muß nur ihre Spuren lesen können.“ Wendt (2002), S. 52 108 | Wendt (2002), S, 53

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Wirklichkeit, die der Blick erst herstellt.109'HUÃ5HDOLVPXVµGHV%LOGHVZLUGEHUODJHUW mit anderen Bildern, die vermeintlich in den Details zu erkennen sind, mit Fragmenten von Geschichten über Mord und Misshandlung. Angestrebt wird ein Punkt des absoluten Sehens und Wissens, einer Totalität, die aber in der Sichtbarkeit nur neue Ansätze von Geschichten hervorbringt. Je genauer der Blick, desto weniger sehen die Augen. Als würden die Bilder selbst schon eine Frage der Sichtbarkeit stellen, die mit einem Sagbaren beantwortet werden muss. Und dennoch: Was an BLOW-UP deutlich wird ist die Hinfälligkeit einer UnterVFKHLGXQJ]ZLVFKHQODWHQWHPXQGPDQLIHVWHP,QKDOWGHU%LOGHU8QWHUGHU2EHUÀlFKH liegt kein tieferer Sinn verborgen, es gibt keine Wahrheit zu entdecken, die wahrer wäre als das unmittelbar Sichtbare. Die zuweilen als allzu symbolisch verachtete Schlußsequenz [das Spiel mit einem imaginären, nicht-sichtbaren Ball] bezieht sich also vielleicht nicht so sehr auf die UnsicherKHLWEHU5HDOLWlWXQG,UUHDOLWlWEH¿QGHQ]XN|QQHQ>«@VRQGHUQEH]HLFKQHWYLHOPHKU gerade die Gleichgültigkeit solcher Kategorien in einer Welt, die selber das Kunstmäßige als das Selbstverständliche erklärt und damit den meist verachtungsvoll gebrauchten %HJULIIGHUÃ6FKHLQZHOWµDEJHVFKDIIWKDW110

Wie sich eine solche Welt fassen lässt und wie innerhalb der instabilen Grenzen von 5HDOHPXQG,PDJLQlUHPYHUVFKLHGHQH5HDOLVPXVEHJULIIHJDQ]VSH]L¿VFKH.RQ¿JXUDWLRQHQGHV6R]LDOHQXQGGHV0HGLDOHQKHUYRUEULQJHQVROOQXQDQKDQGHLQHV¿OPDQDO\tischen Vergleichs gezeigt werden.

D ER R AUM DES S OZIALEN U ND DES M EDIALEN – WEN N E LEFANTEN A MOK LAUFEN Folgt man Rancière so gibt es zwei Bezugspunkte des Raums, die in beständigem Austausch miteinander stehen. Entlang des Paradoxes der Kunst lassen sich ein Raum des Sozialen und ein Raum des Medialen abstrahieren. Wobei diese Differenz nur theoretisch zu ziehen ist, jede Form der Information über diese Räume – sei es in einem Bild, in Sprache oder Gesten – ist medial transportiert. Im Hinblick auf die medialen Inhalte, entlang denen school shooter ihr Selbstbild entwickeln und ihre Taten ausgestalten, VWHOOWVLFKDOVRQLFKWGLH)UDJHQDFKGHPÃ5HDOLVPXVµGHU'DUVWHOOXQJ±ZLHHVHWZDLQ den Diskussionen um die technische Perfektionierbarkeit von Ego-Shootern zum Ausdruck kommt –, sondern nach der bestimmenden Form des Realismus, die es aus dem jeweiligen Werk herauszuarbeiten ist. 109_:LH5RODQG%DUWKHVEHUGLH)RWRJUD¿HVFKUHLEWÄ6LHIKUWGDV$EELOGELVDQMHQHQ verrückten Punkt, wo der Affekt (Liebe, Leidenschaft, Trauer, Sehnsucht und Verlangen) das Sein verbürgt.“ Barthes (1985), S. 124 110 | Wendt (2002), S. 55

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'LH 8QWHUVFKLHGH PDQLIHVWLHUHQ VLFK LQ ,QWHQVLWlWHQ GHU ¿NWLRQDOHQ ,QWHUYHQWLRQ LQ$EVWXIXQJHQ GHU .XQVWZHUGXQJ GHU ÃDXWRPDWLVFKHQ:HOWSURMHNWLRQµ QDFK 6WDQOH\ Cavell und den Strategien, die den Handlungsraum in einen Bildraum verwandeln. Was sich auf theoretischer Ebene kondensieren lässt, ist ein Ort des (immer schon medial GXUFKZLUNWHQ 6R]LDOHQGHUVLFK7DJIU7DJLQGHUÃ1RUPDOLWlWµGHUVWDELOLVLHUWHQVR]Lalen Interaktionen herstellt und dessen Bild die Nachricht von der sozialen Katastrophe school shooting als Negativfolie implizit heraufbeschwört. Die divergierenden inszenatorischen Zugriffe auf den sozialen Raum erfüllen auf je XQWHUVFKLHGOLFKH:HLVHGLHUHDOLVWLVFKH0|JOLFKNHLWGHV)LOPV$QKDQGHLQHV¿OPDQDlytischen Vergleichs zweier Werke, die beide im Kontext von school shootings stehen, lässt sich diese Differenz präparieren, weil das erste Beispiel das Soziale dominant auf das Mediale und das zweite Beispiel das Mediale dominant auf das Soziale bezieht. Gemeint ist zum einen der Film, der spätestens seit den Columbine-Shootings im Zentrum öffentlicher Schuldzuweisungen steht: NATURAL BORN KILLERS von Oliver 6WRQH 86$ ,QGHU'LVNXVVLRQXPGHQ)LOPZHUGHQGLH$QJVW¿JXUHQHLQHUPHdialen Überwältigung Jugendlicher immer wieder durchdekliniert. Im Gegensatz dazu wurde das Gegenbeispiel ELEPHANT von Gus Van Sant (USA 2003) niemals Teil der Debatten um die möglichen Gefahren von Nachahmungstaten, obwohl der Film das Innere des Ereignisses school shooting inszeniert. Auf der Ebene der Selbstinszenierung zeigt sich das gleiche Phänomen: NATURAL BORN KILLERS gerinnt zu einer verdichteten Form aller Wünsche und Aggressionen der Täter, entlang der ästhetischen Praktiken des Films formulieren sie ihr Selbstbild und ihre Taten aus. ELEPHANT dagegen spielt in ihren Überlegungen und Fantasien keine Rolle. Vor dem +LQWHUJUXQGGHU5DQFLqUH/HNWUHVWHOOWVLFKHLQHHLQIDFKH)UDJH:DUXP"

Wie wir töten: N AT U R A L B OR N K I LLERS Die Kunde von einer Verbindung zwischen den Morden am 20. April 1999 an der Littleton Highschool und dem Film NATURAL BORN KILLERS verbreitete sich schnell. In den Tagebüchern von Eric Harris und Dylan Klebold wurde eine ganze Reihe von Querverweisen gefunden, die den Tag des Massakers mit Oliver Stones Werk verbinden. Der Film scheint prädestiniert, die Lücke zwischen Ursache und Wirkung in den Erklärungsansätzen zu füllen, inszeniert er doch ganze Register anarchistischer Gewalttätigkeit. Mit Columbine setzte sich die mit Klagen und Protestschreien gespickte Rezeptionsgeschichte des Films nahtlos fort.111 Auf dem Höhepunkt der Kontroverse sah sich sogar der Bestseller-Autor John Grisham berufen, in einem Text mit dem Titel Unnatu111 | Einen Überblick über die Gerichtsprozesse, denen Oliver Stone sich aufgrund von NATURAL BORN K ILLERS stellen musste, gibt Kendall Philipps. Vgl. Philipps (2008), S. INATURAL BORN K ILLERS ist nicht der erste Film Stones, der missverstanden wurde. Die Figur Gordon Gekko aus seinem Werk WALL STREET 86$ JHUDQQWURW] GHUNDSLWDOLVPXVNULWLVFKHQ,QWHQWLRQHQGHV5HJLVVHXUV]XHLQHU*DOOLRQV¿JXUGHU:DOO Street-Broker. Vgl. Katzenberger (2010)

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ral Killers Oliver Stones Film die Verantwortung an einem Mord vorzuwerfen.112 Eine $XÀLVWXQJYRQCopy-Cats nach der Rezeption von NATURAL BORN KILLERS hat es zu einem Wikipedia-Eintrag geschafft.113 Unter anderem wird der vermeintlich negative (LQÀXVV GHV )LOPV DXFK LP =XVDPPHQKDQJ PLW GHP school shooting von Michael Carneal herbeizitiert. Oliver Stone äußert sich zu den Anschuldigungen in einem Interview, das der Director’s Cut-Version seines Films auf DVD vorangestellt ist. NATURAL BORN KILLERS basiere auf seiner Erfahrung als Fernsehzuschauer in den 1990er Jahren, gewaltsam sei nicht der Film, sondern die Gesellschaftsformation, die er thematisiert: „The ¿OPPDNHU GRHV KLV EHVW WR UHÀHFW VRFLHW\ WKH ZD\ KH VHHV LW³114 Natürlich spiegelt der Film nicht eine bestehende Kultur, er stellt sie im medialen Spiegel her. Als Werk der Kunst greift NATURAL BORN KILLERS in die Aufteilung des Sinnlichen ein, denn GHU)LOPVFKDIIWJDQ]VSH]L¿VFKH5HODWLRQVYHUKlOWQLVVH]ZLVFKHQGHP6LFKWXQGGHP Sagbaren und entwirft die visuelle und auditive Karte der Nation Amerika – um nicht viel weniger geht es Stone – neu. Das Lesen und Zeigen der (medialen) Artefakte einer bestimmten Gesellschaft ist kein einseitiger Akt des Dechiffrierens, sondern immer auch die Fabrikation einer möglichen Welt.

Überblendungen Dass diese audiovisuelle Vermessung des Sichtbaren sozial anschlussfähig ist, transportabel in den schulischen Raum, belegen die Aufzeichnungen von Eric Harris und Dylan Klebold, die immer wieder obsessiv um den Film kreisen: „Vielleicht ist „NBK“ (Goooott) m. Eric der Weg, auszubrechen in die Freiheit.“ / „Ich kann ihn gar nicht erwarten, den heiligen Aprilmorgen der Natural Born Killers.“ / „Wir die Götter werden so viel Spaß haben mit NBK!!“ / „NBK wird die endgültige Rache sein, an den scheiß Leuten auf unserer Abschussliste, den Schweinen, allen!“ / „Sie werden sagen: Ã:DVKDEHQVLHVLFKJHGDFKW"µZHQQZLU1DWXUDO%RUQ.LOOHUVZHUGHQ³115 Die Bezüge 112 | Vgl. Grisham (1996). Siehe auch Seidl (1996), S. 13 113 | http://en.wikipedia.org/wiki/List_of _Natural_Born_Killers_copycat_crimes 114 | Die Figur des Spiegels und des Spiegelns der Gesellschaft hat eine lange Tradition in der Geschichte des Verhältnisses von Justiz und Film. Kendall Philipps zeigt dies anhand einer Gerichtsverhandlung im Jahre 1908, in der die Figur der Spiegelung +DXSWDUJXPHQWGHU9HUWHLGLJXQJZDU9JO3KLOOLSV  6I 115_$OOH]LWLHUWQDFK*DHUWQHU  61$785$/%251 KILLERS ist mit Sicherheit nicht der einzige Film, der für Harris und Klebold eine Rolle spielte. In seinem Dokument NBK.doc, das von der Polizei nach dem Massaker auf dem Server der Columbine Highschool gefunden wurde, schreibt Eric Harris „Alles wird Zerstörung und Chaos sein. Wenn ihr jemals die ersten Gewaltclips aus INVASION USA [Joseph Zito, USA 1985] gesehen habt, werdet ihr wissen, wovon ich rede“ In VHLQHQ ZHLWHUHQ $XVIKUXQJHQ ÀLH‰HQ GDQQ ¿OPLVFKH *HZDOWELOGHU XQG %LOGHU PHGLalisierter sozialer Gewalt ineinander: „Es wird sein wie die Unruhen in Los Angeles, Oklahoma City Bombing, der Zweite Weltkrieg, Vietnam und DOOM zusammen. Ich

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zwischen Tat und Film gehen weit über ein einfaches Bedingungsverhältnis hinaus. Klebold und Harris wollen NATURAL BORN KILLERS „werden“. Die Wendung zeigt zum einen klar die paradoxe Struktur der Subjektivitätsbildung, die rekonstruierend-konstruierende Perspektive der Selbstnarration. Im Zentrum steht ein Werden dessen, was seit Geburt an schon so gewesen ist. Die Gegenwart löst sich auf im Hinblick auf eine QDKH=XNXQIW GLH7DW HLQHQHX]XHQWZHUIHQGHELRJUD¿VFKH9HUJDQJHQKHLW natural born XQGHLQHQ%OLFNGHU1DFKZHOW Ä:DVKDEHQVLHVLFKJHGDFKW"³ =XPDQGHUHQZLderspricht der zeitliche Abstand zwischen Rezeption und Realisierung der Planungen zu einem school shooting den monokausalen Erklärungsansätzen einer Überwältigung durch medialen Konsum. Die ersten Erwähnungen des Films in den Aufzeichnungen der school shooter gehen bis ins Jahr 1998 zurück, d.h. dass die sinnlich-anschaulichen Vermessungen der Sichtbarkeit mit allen Potentialen möglichen Handelns, die in NATURAL BORN KILLERS manifest werden, bewusst und langfristig in die Vorbereitung des „heiligen Aprilmorgens“ einbezogen wurden. Was aus dem medialen Reich des Films deterritorialisiert und transferiert wird, sind zunächst offensichtliche Formeln der Inszenierung von Gesellschaft, wie Stone sie zeigt. In weiten Teilen präpariert NATURAL BORN KILLERS die unverhohlene, faszinierte Begeisterung der medialen amerikanischen Öffentlichkeit für Massen- und Serienmörder. Von Charles Whitman bis zu O.J. Simpson werden die Ikonen dieser Fankultur offen ausgestellt und frenetisch gefeiert.116 NATURAL BORN KILLERS kommentiert mal kritisch, mal zynisch die Praktiken der öffentlichen Inszenierung von Mördern aller Art, aber der Film kommt zu keiner eindeutigen Haltung gegenüber seinem Thema. Teilweise übernehmen Klebold und Harris Dialoge aus dem Film wörtlich, wie etwa: „Wie kommst du darauf, zu denken, dass ich und du Teil der gleichen Spezies sind.“ In NATURAL BORN KILLERS fallen die Sätze: „You’ll never understand. Me and you, Wayne, we’re not even the same species. I used to be you … then I evolved.“ Die Ideen von Göttlichkeit, Selbstermächtigung – vor allem über Gewalt –, Töten als Spaß und Fragen der Coolness werden in Übereinstimmung und in Differenz zu NATURAL BORN KILLERS verhandelt.118 Es gibt also eine ganz pragmatische Ebene, auf der Stones Film Teil der Tat im sozial-materiellen Raum wird. möchte einen bleibenden Eindruck auf der Welt hinterlassen.“ Harris, zitiert nach Gaertner (2009), S. 84f 116 | Der ehemalige amerikanische Footballspieler O.J. Simpson wurde 1994 wegen der Morde an seiner Ex-Frau und ihres Geliebten vor Gericht gestellt. 117 | Harris, zitiert nach Gaertner (2009), S. 126 118 | Im NBK.doc von Eric Harris steht zu lesen, dass sich die school shooter im Vorfeld T-Shirts für den 20. April 1999 machen lassen wollten, auf denen auf der Brustseite „NBK“ zu lesen sein sollte. Die T-Shirts stehen im Kontext weiterer Fragen zur Be-, oder Verkleidung, des speziellen Stils: „Wir werden ganz schwarz angezogen sein. Schwarze Halstücher, schwarze Army-Hosen […] Wir werden Sonnenbrillen aufsetzen, wenn wir all unsere Taschen mit dem Terrorismus- und Anarchismus-Scheiß in die Schule bringen.“ Harris, zitiert nach Gaertner (2009), S. 84f

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Doch soll es im Kontext dieser Arbeit und vor dem Hintergrund einer Aufteilung des Sinnlichen weniger um die direkt übernommenen und zitierten Passagen gehen. Stattdessen steht die Potentialität des audiovisuellen Bildes in den alltäglichen sozialen Raum zu intervenieren, im Fokus der Analyse. NATURAL BORN KILLERS entwickelt innerhalb des entfalteten Bildraums eine Ökonomie des Verhältnisses zwischen den Kategorien des Imaginären und des Realen, des Sozialen und des Medialen. Damit steht die Inszenierung der besonderen Wahrnehmung und des Erlebens von Welt, die der Film herstellt, zur Disposition. Ginge es allein um den Transfer einer inhaltlichen Dimension – des Tötens, der Gewalt – so könnten sich Klebold und Harris aus einem unüberblickbaren Arsenal solcher Darstellungen und Inhalte bedienen, die die mediale Kultur, in der sie sich bewegen, auf diachroner wie synchroner Achse bereitstellt. Allein die Inhalte differenzieren NATURAL BORN KILLERS nicht von anderen Filmen, in denen es um Töten, Heldentum und die Inszenierung bestimmter Gesellschaftsformationen geht. Klebold und Harris wählen aber genau Oliver Stones Film – und dies ist alles andere als ein Zufall.

Hermeneutische Wucher ungen NATURAL BORN KILLERS thematisiert keinen Amoklauf. Die Geschichte um das KillerPärchen Mickey und Mallory Knox zeigt ein wüstes Road-Movie, eine Irrfahrt zweier Protagonisten durch ein Amerika, das sich in ein Bild verwandelt hat. Die einzige Konstante der Reise durch diesen Albtraum sind die unzähligen Toten, die Mickey und Mallory auf ihrem Weg hinterlassen. Stones Film synthetisiert die Versatzstücke populär-kultureller Imagination zu einem heterogenen Bilderrausch, einem Strudel aus sozialen und medialen Bildern, aus dem es kein Entkommen gibt. $XIGHQHUVWHQ%OLFNVWHFKHQGLHDUWL¿]LHOOH,QV]HQLHUXQJXQGGLH,QV]HQLHUXQJGHV $UWL¿]LHOOHQLQNATURAL BORN KILLERS ins Auge. Etwa die Montageformen, die sich in ihrer Künstlichkeit selbst zur Schau stellen. In hoher Frequenz und vollkommen willkürlich wechseln sich schwarzweiße mit farbigen Bildern ab, die Einstellungen des )LOPVZHUGHQPLWÃ'RNXPHQWELOGHUQµPHGLDODXIJHSXPSWHU9HUEUHFKHQXQG6NDQGDOH – vom Prozess um den Ex-Footballstar O.J. Simpson bis zur Eisläuferin Tonya Harding119 – die die Aufmerksamkeit der medialen amerikanischen Öffentlichkeit temporär besetzten, hybridisiert. Die Einstellungswinkel entsprechen selten der Alltagswahrnehmung, die Partikel des Sichtbaren stellen in Differenz zur sozialen Wahrnehmung die künstlerische Gemachtheit des Filmbildes in jedem Moment prägnant aus. +LH‰HVLQGHU5RPDQWLNÃAlles spricht‘, so lautet diese Formel für NATURAL BORN KILLERSÃAlles schreit‘.

119 | Tonya Harding kam zu zweifelhaftem Ruhm, als sie 1994 ihre Konkurrentin um die amerikanische Eislaufmeisterschaft, Nancy Kerrigan, mit unlauteren Mitteln aus dem Wettbewerb drängte. Ihr damaliger Ehegatte heuerte einen Mann an, der Kerrigans Knie mit einer Eisenstange traktierte, bis die Eisläuferin sich aus dem Wettkampf zurückziehen musste.

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U NREINE B ILDER Es ist die Welt, wo sich alles vermischt, wo das Dekor der Ware einer fantastischen Grotte gleichkommt, wo jedes Reklameschild ein Gedicht wird und die Chiffre für eine gelebte Welt, jedes Prospekt eine unbekannte Vegetation, jeder Abfall das Fossil eines Moments der Zivilisation, jede Ruine das Denkmal einer Gesellschaft.120

Statt des dumpfen Abgrunds des Seins ist eine große Parataxe des semantischen ÜberVFKXVVHVGHULQMHGHP'HWDLOVWHFNW]XEHREDFKWHQ'LH%LOGHUVLQGKlX¿JLQ Layers organisiert, die Bildschichten wüst ineinander verschachtelt, wobei keine eindeutigen 6LQQEH]LHKXQJHQ ¿[LHUW ZHUGHQ N|QQHQ NATURAL BORN KILLERS setzt eine Gesellschaft der „hermeneutischen Wucherung“ in Szene.121 Im Bildraum gerinnt noch jedes winzige Detail zu einem schreienden, Aufmerksamkeit heischenden Zeichen. Der Film entfaltet eine Wahrnehmungsart, in der die Grenzen zwischen Kunst und /HEHQEHVWlQGLJDXÀ|VWZHUGHQ(LQ%LOGUHJLPHLQGHPMHGHU$NWXQGYRUDOOHPGHU Akt des Tötens zu einem Kunstwerk gerinnt und die Kunst ständig Gefahr läuft, als gesonderte Tätigkeitsform endgültig zu verblassen, weil sie mit aller Macht in den Alltag des sozialen Lebens drängt, die Artefakte sozialer Materialität bewohnt und verdeckt. Es ist das Pendant zur individuellen und kollektiven Gesundheit des Geistes und des Körpers, die seit Winckelmann als Wesen der griechischen Kunst gefeiert wird. [… Es] ist das Chaos der modernen Stadt, diese Vielfalt der Sätze und Gedanken, die auf die Dinge geschrieben sind, die die Körper deformieren und den Geist in einem beständigen Fieber halten.122

Anschaulich wird dies schon zu Beginn: Das erste Bild zeigt eine karge Wüstenlandschaft in schwarzweiß, aus dem Off ist der Beginn des Songs Waiting for the Miracle von Leonard Cohen zu hören. Die Bilder eines Wolfes und einer Klapperschlange folgen in unterschiedlichen Körnigkeiten des Filmmaterials. Im AnNATURAL BORN KILLERS schluss sieht man in Farbe, wie Kaffee in eine Tasse geschüttet wird. Es folgt das rot eingefärbte Bild eines Zuges mit der Aufschrift „Santa Fe“. Nach dem Bild eines Raubvogels schneidet der Film zum verfallenen Schild eines Diners. Es schließt sich die Großaufnahme eines Fernsehers an, in dem Bilder der unterschiedlichsten Herkunft zu sehen sind. Eine Hand greift in den Kader und zappt durch die Kanäle – das familiäre Idyll einer alten TV-Serie liegt neben historischen Aufnahmen Richard Nixons, der seinen Rücktritt erklärt. Von der Matt120 | Rancière (2008a), S. 32 121_5DQFLqUH D 6 122 | Rancière (2008a), S. 38f

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scheibe aus schwenkt die Kamera durch den Innenraum des Diners und erfasst den Rücken der Figur Mickey Knox, die sich im Gespräch mit der Kellnerin hinter dem 7UHVHQEH¿QGHW Mit der Montage der Eröffnungssequenz legt NATURAL BORN KILLERS bereits grob die Form und die Themen fest, die NATURAL BORN KILLERS der Film im weiteren Verlauf verhandeln wird. Zunächst ist die Konfrontation zwischen Natur (die Tierbilder) und Kultur (der Diner, der Zug, der Fernseher) zu nennen. Aus dieser Differenz wird sich später eine krude ideologische Rede Mickeys entwickeln, die so etwas wie den moralischen Bezugsrahmen des Films festlegt. Doch ist dieses ethische Gebilde nur ein weiterer Baustein einer wackligen Botschaft, die vielleicht Oliver Stone in Interviews benennen kann, die sich aber in seinem Film nicht herstellt.123 Die heroische Ursprünglichkeit und vermeintlich überlegene Wildheit der Natur in den Anfangsbildern wird sofort sarkastisch kommentiert: Die Reifen eines Pick-up-Trucks überfahren einen Skorpion, der die Straße überqueren will. Bild bleibt Bild und kann somit auf Filmebene keinen Mehrwert an Wahrheit beanspruchen, weil den verschiedenen Bild- und Blickregimen die ordnende Hand, die hierarchische Gliederung fehlt. NATURAL BORN KILLERS entpuppt sich nicht zuletzt als ein Film über Bilder, ihre Entstehung, Verbreitung, Kontextualisierung und Auslöschung. Was ins Auge fällt, ist die Inkommensurabilität der Bilder, ihre unterschiedliche Qualität und Farbigkeit. Die RIIHQH +HWHURJHQLWlW GHU )UDJPHQWH GLH VLFK QLFKW GLDOHNWLVFK DXÀ|VHQ OlVVW LVW GDV zentrale Bauprinzip des Bildraums. Im Sinne der großen Parataxe stehen die Bilder in endlosen Reihungen nebeneinander. Die Gleichwertigkeit der Elemente ergibt sich dabei nicht aus einem homogenen Fluss, sondern aus der Exaltiertheit jedes Elementes. Zentral wichtig in der Eingangssequenz ist, dass die Figur Mickey Knox am Ende des Schwenks, der auf einem Bildschirm beginnt, zum ersten Mal zu sehen ist. In dieser (LQVWHOOXQJZHUGHQEHUHLWVGLH%H]JH]ZLVFKHQPHGLDOHPXQGVR]LDOHP%LOGNRQ¿guriert, auf die NATURAL BORN KILLERS hinauswill: die Gleichwertigkeit aller Bildregime, ob imaginär oder real, medial oder sozial. Tatsächlich ist die Figur Mickey Knox – wie ihr Counterpart Mallory Knox – im Handlungsraum von ihrer medialen Erscheinung auf Filmebene nicht zu differenzieren. NATURAL BORN KILLERS vervielfältigt die Anzahl der Bildebenen, auf denen Mickey zu sehen ist – Cartoon, TV-Bild, etc. –, beständig, ohne aber im Sinne eines Wahrheitsausspruchs ein Bild als gültiger als die anderen zu markieren.

123 | In einem Interview mit Gavin Smith spielt Oliver Stone immer wieder auf eine ÃWLHIHUHµ%RWVFKDIWGHV)LOPVDQ9JO6PLWK*DYLQ  6



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Im kurzen Gespräch zwischen Mickey und der Kellnerin wird auch die zeitliche .RQ¿JXUDWLRQ GHV )LOPV HYLGHQW 0LFNH\ erkundigt sich nach dem aktuellen Kuchenangebot, und als die Kellnerin antwortet, löst sich die vermeintlich solide raum-zeitliche Figuration auf. Mit dem Wort „Geschmackssache“ werden zwei unterschiedliche Varianten ihres Gesichts gezeigt, ein desinteressiertes und im Anschluss – in schwarzweiß – ein offensiv ÀLUWHQGHV =ZHL $XVGUFNH GLH DXI GHU gleichen Ebene der Hierarchie liegen, keines ist wahrer als das andere. In diesem .RQWH[W LVW DXFK GLH Ã%HVFKULIWXQJµ GHU Kellnerin zu sehen, die statt eines gleich NATURAL BORN KILLERS drei Namensschilder an die Brust geheftet hat. Die zeitliche Strukturierung des Raums ist im Reich des Simultanen situiert – nicht im Chronologischen. Vom schwarzweißen Bild der alternativen und gleichzeitigen Ausdrucksgeste der Kellnerin springt das Bild mit einem harten Schnitt wieder in den Farbmodus. Von der verkanteten Einstellung auf Mickeys Rücken schwenkt die Kamera schließlich um 45 Grad nach links und rückt so Mallory ins Bild. Der Schwenk endet wiederum verkantet, die Blickposition bleibt markiert als Kunstgriff, als manieristische Spielerei – oder als Ausdruck des bald beginnenden Chaos oder beides. Im Anschluss fährt die Kamera an den Sitzreihen des Diners entlang, das Bild ist nun schwarzweiß. Die Gestalt eines Mannes ist, Zeitung lesend, an einem der Tische zu sehen, wird aber mit der Dauer der Fahrt langsam ausgeblendet. Er ist entweder da oder nicht da oder beides zugleich – der Film selbst wählt keine Möglichkeit, und das Verschwinden der Figur ist nicht als narratives Rätsel zu sehen, das es auf der Ebene der Rezeption zu lösen gälte. NATURAL BORN KILLERS lässt auch im späteren Verlauf immer wieder bewusst Möglichkeiten offen, stellt eine Ökonomie des Virtuellen her, in dem gerade nicht eindeutig entschieden wird, welchem der Bereiche – real oder imaginär – das einzelne Bild jeweils zuzurechnen ist. Diese formalen Strategien werden auch für die Inszenierung der Gewalt in NATURAL BORN KILLERS genutzt, wie der weitere Verlauf der Szene zeigt. Mallory wirft eine Münze in die Jukebox und beginnt zu tanzen. Zwei Männer betreten den Diner und bezeichnen Mallory abfällig als „Pussy“. Einer von ihnen beginnt sie unverhohlen an]XPDFKHQ6WRQHYHU]LFKWHWDXIHLQHP|JOLFKHÃ5HDOLVLHUXQJµGHV5DXPVRGHUGHU=HLW – im Sinne einer wirklicheren Wirklichkeit der Gewalt im Gegensatz zu den medialen Images, wie es die Story des Films bisweilen andeutet –, auch die nun ausbrechenden Gewalthandlungen werden über die Verschachtelung von Bildfragmenten inszeniert, über den Wechsel von Schwarzweiß zu Farbe und die unmotivierten Schnitte – unmotiviert in dem Sinne, das die neuen Einstellungen weder ein Plus an Sichtbarkeit noch ei-

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nen narrativen Zugewinn liefern. Auktoriale, fokalisierte und subjektive Einstellungen wechseln sich beliebig ab, die verschiedenen formalen Techniken sind nicht speziell kodiert, beinhalten keine eindeutige Sinndimension – d.h. es gibt zum Beispiel keine einfache, klassische Dichotomie, in der Farbe Gegenwart und Schwarzweiß Vergangenheit kodieren würde. Die zeitlichen Faltungen setzen sich nahtlos fort. Als Mickey das Wort „Pussy“ aus dem Mund eines der Männer hört, schneidet NATURAL BORN KILLERS – nach einer Großaufnahme von Mickeys Gesicht – Bilder eines blutüberströmten Mickeys mit einem Fleischerbeil in der Hand in einer halbnahen Einstellung ein. Was hier noch als Bild des Inneren – die aufwallende Aggressivität der Figur Mickey – gewertet werden kann, verliert als Technik der mise-en-scène im späteren Verlauf des Films schnell seine Eindeutigkeit. Solche Bildfragmente stehen in keinem normierWHQ9HUKlOWQLV]XHLQHU]XHQWZHUIHQGHQ¿guralen Innerlichkeit. Verinnerlichung und NATURAL BORN KILLERS Veräußerlichung sind in NATURAL BORN KILLERS komplementäre Prozesse. Die Figuren werden als Bildformationen organiVLHUWZREHLNDXPHLQ%LOGQXUHLQHU)LJXUÃJHK|UHQµZUGHGK%HVWDQGWHLOQXUHLQHU soliden Innerlichkeit wäre. Die Bilder durchwandern die medialen Kanäle und die Figuren, sind Außen und Innen zugleich. Das Subjekt verausgabt sich über Bilder und wird über Bilder dekliniert und formiert und dieser Prozess zieht sich über die ganze Länge des Films. NATURAL BORN KILLERS erreicht zu keinem Zeitpunkt eine wirkliche 6WDELOLWlWGLH%LOGHUEH¿QGHQVLFK]XMHGHU=HLWLP)OXVVPDUNLHUHQOLTXLGH3XQNWHDXI einer visuellen Landkarte der Gewalt.

Der beliebige Anschluss Die Heterogenität der Bildfragmente öffnet zugleich die Möglichkeiten der Montage: die Anschlussfähigkeit von Bildern erweitert sich beinahe ins Beliebige. Jedes denkbare Bild erscheint als Folgebild gleich wahrscheinlich. Die visuellen Partikel werGHQGDEHLPLWEHVWlQGLJHQÃXQGµ.RQVWUXNWLRQHQYHUEXQGHQNHLQ%LOG]HLJWGLH1RWZHQGLJNHLWHLQHVÃZHLOµNATURAL BORN KILLERS inszeniert unendliche Varianten der Überschreitung der konsensuellen Muster von Reiz und Reaktion. Die Narration bleibt offen, breitet einen unüberschaubaren Horizont an möglichen Wendungen, Handlungen und Erfahrungen aus und realisiert einige dieser Potentiale dann gleichwertig auf synchroner Ebene. Ein eindeutiger Sinn wird dabei nivelliert. Vom Grün des Kuchens, den Mickey in der Eingangssequenz bestellt, wird auf die Jukebox geschnitten, die im gleichen Grün

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leuchtet. Der Match-Cut stellt aber keine narrativ sinnvolle Beziehung zwischen den Elementen her – was er in einem klassischen Film tun würde –, sondern bleibt ein manieristischer Schachzug ohne bemerkenswerte Bedeutung. NATURAL BORN KILLERS kennt keine Kohärenz. Stattdessen stellt sich der Blick auf einen medial gewebten sozialen Raum her, in dem die Gewalt zu jeder Zeit aus eigentlich harmlosen Situationen hervorbrechen kann. Stone implementiert in die Parataxe und die beliebige Anschlussfähigkeit der Bilder untereinander die holzschnittartige Erzählung von einer obsessiv gewalttätigen kulturellen Gesellschaftsformation. Von den aufgespannten Möglichkeiten realisieren sich immer die brutalsten, wobei die Gewalt ohne große Vorzeichen aus den Szenen herausbricht oder in sie hineinbricht. In der Eingangssequenz beginnt Mallory den ihr – buchstäblich – zu Leib rückenden Fremden mit den Fäusten zu traktieren. Aus der eher spielerischen Aggressivität, die zunächst wie das ironische Zitat einer SaloonSchlägerei aus einem Western anmutet, entwickelt sich über nur wenige Schnitte ein Massaker. Mallory verteilt das Blut ihres Widersachers quer durch den Raum, dessen )UHXQGZLOOHLQJUHLIHQ0LFNH\]FNWHLQ0HVVHUXVZÃAlles schreit‘. Die konstitutiven Direktiven in NATURAL BORN KILLERS heißen Eskalation und Akkumulation. Seien es die eigentlichen Morde im Handlungsraum oder die journalistische Berichterstattung über diese Morde – gesucht wird nach Superlativen, Maximalzahlen an Opfern auf inhaltlicher Ebene, Bildarten und Einstellungswinkeln auf formaler Ebene. Die Gewalt steckt in jedem Bild, die systematische Beliebigkeit des Tötens verschränkt sich auf formaler Ebene mit der systematischen Beliebigkeit der Bilder. Das Morden als Akt der „Reinheit“ – wie es Mickey zu einem späteren Zeitpunkt des Films artikulieren wird – ist K\SHUDUWL¿]LHOO LQ 6]HQH JHVHW]W LQ HLQHU Weise durchmedialisiert, dass die Toten zu einem manieristisch-sarkastischen Witz der Bildgestaltung gerinnen. Als das Morden im Diner beginnt, tritt die Köchin mit erhobenem Fleischerbeil auf – in einer Pose, die man eher von einer Operndiva erwarten würde. Mickey zückt die Kanone, feuert, das nächste Bild ist eine Point of View(LQVWHOOXQJGHUÀLHJHQGHQ.XJHO Vor dem Gesicht der Köchin bleibt die Kugel kurz stehen, unterbricht die Bewegung, verharrt für den Augenblick des NATURAL BORN KILLERS entsetzten Schreis ihres Opfers. Dann ein Schnitt und man sieht Blut über eine Wand spritzen. ,Q GHPVHOEHQ DUWL¿]LHOOHQ *HVWXV EULQJW 0LFNH\ PLW HLQHP 0HVVHU GHQ GULWWHQ Fremden vor der Tür des Diners zur Strecke. Er wirft das Messer, die Kamera folgt dem Messer in einer Point of View-Einstellung, auf dem Soundtrack ist für die Dauer

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GHV%LOGHVHLQH2SHUQDULH]XK|UHQGDQQ6FKQLWWXQGGDVÀFKWHQGH2SIHUZLUGLQGHQ Rücken getroffen. Man kann an NATURAL BORN KILLERS Kritik üben, wie man will, auf HLQHU(EHQHGHUÃUHDOLVWLVFKHQµGKQDWXUDOLVWLVFKHQ'DUVWHOOXQJYRQ7|WXQJVKDQGOXQgen wird man den Film nicht zu greifen bekommen. Die Bilder werden ausgestellt als Bilder, der Bildraum ist zu künstlich, um ihn mit einer sozial-materiellen Situation zu verwechseln. NATURAL BORN KILLERS ist ein Vorfahre von MY SUICIDE, liquide Subjektpositionen konstituieren sich im Bilderrausch, es gibt keine Hierarchien zwischen den Ebenen der Darstellung, keine Merkmale von Echt und Unecht. Nach Mickey und Mallorys Massaker setzt beschwingt-sanfte Tanzmusik ein und das Killer-Pärchen gibt vor dem Bild eines Feuerwerks – das auf der hinteren Wand des Diners als Rückprojektion zu sehen ist – einen Walzer zum Besten. Das Licht im Raum wird im Bild gedimmt, bis nur noch die von Scheinwerfern leuchtend-weiß bestrahlten Silhouetten der beschwingt tanzenden Figuren zu sehen sind.

Travelling without moving Neben den Brüchen im affektiven Gestus des Films – vom Morden zum Tanzen – sind es vor allem die Konstruktionen von Zeit und Raum, die jegliche Stringenz im Bildraum von NATURAL BORN KILLERS zunichte machen. Im Anschluss an die DinerSzene sieht man Mickey und Mallory im Auto sitzen. Aber sie fahren durch keinen Raum, der sich als tatsächlich-materieller Raum ausgeben würde, das Killerpärchen durchreist reine Bildräume, die eigentliche Bewegung ist hinter dem Auto als Rückprojektion sichtbar gemacht. Vorder- und Hintergrund sind strikt getrennt, im ersten Bild sieht man eine schwarzweiße Landschaft, in der es einen Waldbrand gibt, das NATURAL BORN KILLERS Innere des Wagens dagegen leuchtet rotgelb. Der Raum der Rückprojektion ist diskontinuierlich, abrupt wird auf Bildformationen geschnitten, die zum Teil eine Reise durch Amerika verdichten – Las Vegas, ein JDORSSLHUHQGHV3IHUGUHLWHQGH,QGLDQHU±]XP7HLOELRJUD¿VFKHU+HUNXQIWVLQG±0DOlorys Vater – oder nicht zuzuordnen sind. Dazwischen tauchen immer wieder Schlagzeilen auf, die über die Morde von Mickey und Mallory berichten. Es ist kein sozialer oder materieller Raum, den das Killer-Pärchen durchquert, NATURAL BORN KILLERS ist ein Road-Movie, dessen Weg durch einen Bildraum führt. Die Bezüge zwischen Figur und Milieu sind dabei variabel, nicht durchgängig in einen Gegensatz zueinander gesetzt. Mickey und Mallory küssen sich und auf der Leinwand und vor ihnen ist eine Blumenwiese zu sehen. Die Korrelation von Innen

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(die Liebe) und Außen (die Blumenwiese) ist temporär und ein eher zufälliger Berührungspunkt zwischen den Figuren und ihrem Milieu. Es ist ein delirierender Blick auf die Welt, der Ich und Welt im Sinne eines stabilen cartesianischen Blickverhältnisses, das nach Subjekt und Objekt des Blicks differenziert, nicht mehr unterscheiden kann. Der Bildraum in NATURAL BORN KILLERS stellt sich vor wie der Antiquitätenladen bei Balzac: Es ist die Gleichwertigkeit aller Gegenstände, hoher wie niederer, alter wie neuer, die sich im Blick der Kamera ohne Hierarchie verbinden. Was der Film betreibt, ist die Entzifferung einer bestimmten historischen Gesellschaftsformation anhand ihrer Ausdrücke, wobei er die soziale Architektur aus der medialen Architektur, der Bildökonomie, rekonstruiert – und diese dabei auch immer konstruiert. Der Effekt einer Ichkonstitution in NATURAL BORN KILLERS lässt sich in der Szene, in der Mickey im Motel eine Geisel vergewaltigt, beobachten. Mickey und Mallory liegen zunächst auf dem Bett, das Fenster an der Wand des Zimmers ist eine Leinwand, auf der Bilder verschiedenster Herkunft zu sehen sind: rennende Pferde, eine nukleare Explosion, Josef Stalin, Adolf Hitler, ein kleiner Junge, der unsicher nach rechts ins hors-champ blickt und der im späteren Verlauf immer wieder als das Kind Mickey assoziiert wird. Das Eingewebt-Sein der Charaktere in den medialen Haushalt verdoppelt sich durch den Fernseher, auf den abwechselnd Mickey NATURAL BORN KILLERS oder Mallory blicken und in dem weitere Gewaltbilder zu sehen sind. Ein Mann mit Kettensäge, Fragmente aus William Friedkins CRUISING 86$ XVZ'RNXPHQWDULVFKHXQG¿NWLRQDOH%LOGHUVLQGXQWUHQQbar ineinander verschlungen. In der Bildkomposition wird sehr genau darauf geachtet, dass das Fenster und damit die medialen Bilder in der Kadermitte liegen, so dass die hierarchische Gliederung zwischen Vordergrund – dem Spiel der Figuren – und Hintergrund aufgehoben ist. Charakter und mediale Bilder liegen auf derselben Ebene, korrelieren oder bleiben sich fremd, bilden temporäre Gemeinschaften, bedingen sich oder verlieren sich. Der Sex zwischen Mickey und Mallory im Anschluss wird verknüpft mit den medialen Bildern, im Fenster und im Fernseher sind kopulierende Tiere zu sehen, während eine Stimme im Off Erklärungen zu deren Paarungsverhalten abgibt. Diese eindeutige Korrelation bleibt jedoch über die Länge des Films gesehen kontingent, bezeichnen die medialen Bilder doch allenfalls temporäre Subjektpositionen, veräußerlichte Innerlichkeiten oder verinnerlichte Äußerlichkeiten.

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I Love the American Maniac Mallory Knox An zwei prägnanten Beispielen wird ganz deutlich, mit welchen Strategien der Inszenierung NATURAL BORN KILLERS die kategorialen Unterschiede zwischen den %LOGHUQNRQVHTXHQWDXÀ|VWVRGDVVDXIGHU Ebene des Filmbildes die qualitativ-hierarchischen Unterschiede zwischen dem Sozialen und dem Medialen außer Kraft gesetzt werden. Im ersten Beispiel geht es um die Backstory der Figur Mallory, die nicht in konventionellen Rückblenden, sondern als TV-Show mit dem Titel I love Mallory inszeniert wird – als Parodie der TV-Serie I LOVE LUCY GLH YRQ  ELV  LP amerikanischen Fernsehen ausgestrahlt NATURAL BORN KILLERS wurde. Im Gegensatz zur idyllischen heilen Welt ihres Vorbildes entpuppt sich I love Mallory als Paradebeispiel der dysfunktionalen Kleinfamilie. Häusliche Gewalt, Missbrauch, Arbeitslosigkeit, ein trinkender, schlagender Patriarch – I love Mallory wird als Zersetzungsprozess aller Utopien inszeniert, die im Fernsehen der 1950er Jahre noch ein Rolle gespielt haben. Dabei behält NATURAL BORN KILLERS die konstitutiven Faktoren der Inszenierung, die sich mit dem Sitcom-Format verbinden, bei. Ganz deutlich ist etwa die Nähe zu MARRIED… WITH CHILDREN 86$   ]X HUNHQQHQ GLH ÀDFKH 6WDIIHOXQJ GHV %LOGUDXPV GLH Assoziationen zu einer bühnenhaften Präsentation weckt, das teilweise stark ins Klischeehafte strebende, übertriebene Spiel der Figuren, das White Trash-Ambiente, die erdigen, schmutzigen Farbtöne, die geschmacklose Zusammenstellung des Interieurs. Die Demütigungen und Beleidigungen, verbal oder körperlich, werden in I love Mallory durchgängig mit Salven aus der Lachmaschine beantwortet, die reglementierten Bezüge der adressierten Rezeptionshaltung des Genres Sitcom – nach jedem Gag ein Lacher aus der Dose –zwar beibehalten, aber ins Perverse verkehren.124 Natürlich bleibt auch der Bildraum, wie er sich in I love Mallory konstituiert, nicht kohärent, zuweilen werden Schwarzweißbilder eingeschnitten, die dann als tatsächliche Intensivierungen des intendierten Affekts – die Angst, die Geilheit – benutzt werden und DQGLHVHU6WHOOHHKHUGHQNRQYHQWLRQHOOHQ2UGQXQJHQGHU¿OPLVFKHQ6LQQSURGXNWLRQ 124 | Man kann streiten, wo die Grenzen des guten Geschmacks liegen und inwieweit Vor- und Nachbild tatsächlich differieren, zeichnet sich doch auch MARRIED... WITH CHILDREN hauptsächlich durch einen zynisch-sarkastischen Humor aus. Allerdings ist in I love Mallory der Zynismus auf die Spitze getrieben, manifestiert sich in den offenen Ankündigungen des Vaters, dass er seine Tochter in der Nacht missbrauchen wird, wofür er auf dem Laugh Track begeisterten Applaus erhält.

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entstammen. Hier und in späteren Konstellationen werden die Interaktionen beständig transponiert in andere Bildregime, die immer auch andere affektive Regelungen bedeuten. Die adressierten möglichen Reaktionen (auch eines Zuschauers) werden dadurch immer wieder vervielfältigt. Der Bezug auf ein Vorbild alleine ist MHGRFK NHLQH VSH]L¿VFKH (LJHQVFKDIW YRQ NATURAL BORN KILLERS, charakteristisch ist der Einsatz und die Präsentation: Der +DQGOXQJVUDXP ZLUG ]X %HJLQQ GHU ÃSitcom-Sequenz‘ gebrochen und ein Eröffnungsbild ist zu sehen, das an das Intro des Vorbildes I Love Lucy erinnert. Dazu gibt es eine Creditsequenz und einen Abspann I Love Lucy für das Format-im-Film I love Mallory. Damit pocht NATURAL BORN KILLERS auf die ausgestellte Künstlichkeit, die mediale Gewebtheit jeglicher möglichen Erfahrung. Gleichzeitig betont der Film, dass HVLQ%H]XJDXIGLHLQGLYLGXHOOH%LRJUD¿H keine Rolle spielt, ob die Vergangenheit Teil einer Sitcom ist oder auf Figurenebene ÃUHDOµHULQQHUWZLUG1XUZHLOGLH9HUJDQNATURAL BORN KILLERS genheit Mallorys innerhalb einer Matrix der ausgestellten narrativen Zurichtung in Szene gesetzt wird, heißt das nicht, dass sie nicht tatsächlich so passiert ist. Es gibt keine Materialität vor dem Bild, es gibt keine wirkliche Wirklichkeit, die einen Wahrheitsanspruch im Sinne eines Beweises darstellen könnte. Die Sitcom-Vergangenheit Mallorys ist auch nicht der verfälschenden, verdrängenden Erinnerung der Figur Mallory zuzurechnen. Es ist die Präsenz der Erscheinung, die nicht an einen Charakter gebunden ist, sondern die Wahrnehmungsweise und den epistemologischen Zugriff des Films selbst betrifft. Die Bilder aus I love Mallory sind nicht die manifesten Partikel eines zu rekonstruierenden Traumas, das seinen Ausdruck LQHLQHUHQWVWHOOWHQ)RUP¿QGHQZUGH'LH&KDUDNWHUHLQNATURAL BORN KILLERS sind nicht anhand einer psychoanalytischen Zurichtung der Erzählung des Selbst zu normalisieren, die Grenzen zwischen Imaginärem und Realem sind reversibel und können auf keine Eindeutigkeit reduziert werden. Auch wenn die Versatzstücke psychologischer (U]lKOXQJ(LQJDQJ¿QGHQ±HWZDZHQQGDV%LOG0DOORU\VPLWHLQHP%LOGLKUHV9DWHUV JHNRSSHOWZLUGGDVGXUFKHLQH:DVVHUÀlFKH GDV8QEHZXVVWH DXIJHQRPPHQLVW±VLQG sie nur eine Möglichkeit unter vielen. Diese grundsätzliche Vermischung der Bereiche ist auf der Ebene der Erfahrungswerte des Films selbst anzusiedeln. Was NATURAL BORN KILLERS damit inszeniert, ist eine Aufteilung des Sinnlichen, eine Erfahrbarkeit YRQ:HOWLQGHUGLH7UHQQXQJHQ]ZLVFKHQHLQHPÃZDKUHQµHLQHPVR]LDOWDNWLOHQXQG einem medialen Bildraum komplett aufgehoben sind.

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NATURAL BORN KILLERS setzt so ein paradoxes aktives couch potato-Bewusstsein in Szene, das die Welt gleichzeitig medial lebt und erlebt, durch die Kanäle zappt, einen :HUEHVSRWIU&RFD&ROD¿QGHWZHLWHUVFKDOWHWHLQ%LOGYRQ0LFNH\.QR[¿QGHWGHP ein kurzer Bericht mit der Information folgt, dass Mickey wegen Autodiebstahls ins Gefängnis musste. Die Bilder der Sitcom verlängern sich zunächst medial – Mallorys Vater drohte am Ende der I love Mallory-Sequenz Mickey zu verklagen, weil er sein $XWR XQG VHLQH 7RFKWHU HQWIKUW KDW ± XQG VFKOLH‰OLFK VR]LDO 'HU PHGLDO ¿JXULHUWH Raum der Sitcom setzt sich nahtlos in den Handlungsraum NATURAL BORN KILLERS fort. In der anschließenden Szene besucht Mallory Mickey im Gefängnis. Vor dem Horizont der Handlung – im Hinblick auf eine Auswahl und Realisierung bestimmter Bilder aus einer unendlichen Anzahl von möglichen Anschlussbildern – spielen die Unterscheidungen medial/sozial und real/imaginär keine Rolle. Die unterschiedlichen )LNWLRQDOLVLHUXQJHQOLHJHQDXIGHUJOHLFKHQÀDFKHQ(EHQH125 (VLVWHLQ'HQNHQGDVVLFKSHUPDQHQWLP$X‰HQEH¿QGHWDOVELOGOLFKH5HDOLVDWLon einer Innerlichkeit, deren Substanz reine Äußerlichkeiten bilden. Die Charaktere verschmelzen mit dem Handlungsraum zu einem Bildraum, in dem alles schreit, alles kommentiert und denkt, ohne dass eine Ordnung erkennbar wird. Die Welt präsentiert VLFK DOV ÀDFK JHZHEWHU %LOGUDXP HLQ HJDOLWlUHU 2UW GHU 9HUVWUHXXQJ YRQ$XIPHUNsamkeit. Darin gleicht NATURAL BORN KILLERS den Romanen von Flaubert: „Flaubert machte alle Wörter gleich, in derselben Weise wie er jede Hierarchie zwischen noblen und gemeinen Themen, zwischen Erzählung und Beschreibung, Vordergrund und Hintergrund und schließlich zwischen Menschen und Dingen abschaffte.“126 Die 3URMHNWLRQHQDXIGHQ2EHUÀlFKHQGHU'LQJHEXKOHQLQNATURAL BORN KILLERS um die Aufmerksamkeit des Betrachters wie die Figuren im Vordergrund und beide Elemente YHUHLQLJHQ VLFK LQ HLQHP 5DXP DEVROXWHU (JDOLWlW 'LH 2EHUÀlFKHQ GHV DUFKLWHNWRnischen und gebauten Raums sind mit projizierten Bildern überzogen, bedingen und veräußerlichen simultan die Innerlichkeit und Äußerlichkeit der Figuren. Deutlich wird dies auch am zweiten Beispiel einer medial-sozialen Ich-Werdung durch die True Crime-Show American Maniacs, die innerhalb des Films die Geschichte von Mickey und Mallory Knox featured und die somit als weiterer medialer Spiegel fungiert. Die TV-Show-im-Film-Konstellation wird erneut durch einen eingespielten Vorspann markiert, der den sensationslüsternen Ton der Sendung und den unverhohlenen Narzissmus des Produzenten, Regisseurs und Moderators Wayne Gale zur Schau stellt. Parodiert werden damit Formate wie ZERO HOUR, in denen die Verwischungen zwischen Fakt und Fiktion basales Bauprinzip sind. So gibt es auch in American Ma125 | In der späteren Analyse des Films TARGETS (Peter Bogdanovich, USA 1968) wird sich zeigen, dass diese Modi des Verhältnisses zwischen den Polen eine historische DiPHQVLRQEHVLW]HQXQGLQ%H]XJDXIGLH¿OPLVFKH9HUDUEHLWXQJGHU$PRN7KHPDWLNNHLnesfalls von Anfang an gegeben sind. In TARGETSLVWGLHVH9HUZLUUXQJYRQ¿NWLRQDOHQ und realen Elementen und Perspektiven noch an die Figur gebunden. Im Gegensatz dazu hat in NATURAL BORN K ILLERS die Kamera selbst diesen Blick angenommen. 126 | Rancière (2008a), S. 19

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niacsÄ$'5$0$7,=$7,21³]XVHKHQGLHPLWK\SHUDUWL¿]LHOOHP*HVWXVQDFK$XImerksamkeit heischt. Mickey und Mallory werden mit Schauspielern besetzt und als bildgewordene Klischees in Szene gesetzt, Barbie und Ken aus einem vollkommen pervertierten Universum. Dennoch – und das ist entscheidend – formuliert NATURAL BORN KILLERS keine Kritik an diesen Formen medialer Inszenierung, wie sie in American Maniacs ihren verdichteten Ausdruck erfährt. Eine ideologische Zurichtung – im Sinne einer Verkaufbarkeit von spektakulären Geschichten über Gewalt und Tod – mag sich in der Distanz der Rezeption herstellen, wo der Film aber auf die kritische Wahrnehmung seines Zuschauers angewiesen ist. Auf der Ebene des Films bedeutet American Maniacs keinen Bruch mit den charakteristischen Mitteln der Darstellung des Films NATURAL BORN KILLERS. Slow Motion, Jump Cuts, der Wechsel der medialen Formate in der mise-ènscene±)RWRJUD¿H3RODURLG)LOP±GLHXQNRPPHQWLHUWH5HLKXQJYRQ6FKZDU]ZHL‰ und Farbaufnahmen, die Exaltiertheit des Zeigens: All das beschreibt auch die prinzipiellen inszenatorischen Verfahren von NATURAL BORN KILLERS. Die in American Maniacs dargestellten Figuren Mickey und Mallory Knox mögen übertriebene Klischees sein, aber das differenziert sie in keinster Weise YRQ GHQ ÃHFKWHQµ &KDUDNWHUHQ GLH VHOEVW kein Klischee auslassen. Insofern ist kein :HUWXUWHLO ]ZLVFKHQ GHQ %LOGHUQ ]X ¿QGHQ HV JLEW NHLQ Ã*XWµ XQG NHLQ Ã%|VHµ NATURAL BORN KILLERS / jedes noch so abstruse Bild gliedert sich in American Maniacs den allgemeinen Bilderrausch ein. Die Wahrnehmung der Welt, wie sie sich mit NATURAL BORN KILLERS formiert, kennt keine Kriterien der Unterscheidung zwischen hohen und niederen Dingen oder Akten, keine Differenzierung zwischen Recht und Unrecht. 'LH%LOGUHJLPHVLQGÀXLGHLQEHVWlQdigem Wandel. Als Mickey und Mallory NATURAL BORN KILLERS heiraten, hoch erhoben auf einer Brücke über einem Fluss stehen, wird die Ehe mit Blut geschlossen. Zwei selbst zugefügte Schnitte an den Händen werden aufeinander gepresst. Mit dem Blut sind alle Konno127_$XFKGLH6]HQHGLHHLQHUUHODWLYHQÃ8UVSUQJOLFKNHLWµDPQlFKVWHQNRPPWGLH6]Hne mit dem Schamanen, der Mickey in einem bizarren Ritual von seiner Gewalttätigkeit zu heilen sucht, bilden keine Abweichung von diesen Strategien der mise-èn-scene. Der Raum, d.h. der Innenraum des Zeltes ist ebenso durchmedialisiert wie alle anderen Räume in NATURAL BORN K ILLERS, die Figur des Schamanen nichts weiter als ein bildgewordenes Klischee.

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tationen von wahrer Innerlichkeit aufgerufen, aber das Bild geht von den Tropfen, GLH DXV GHQ ,QQHQVHLWHQ GHU +DQGÀlFKHQ herauslaufen, in eine animierte Comicwelt über, in der das Blut neue Formen bildet – Wasserschlangen, die einander umschlingen. Die Materialität des Raums ist immer nur temporär – die Szene der Trauung ist eine der wenigen raumzeitlich beinahe stabilen Szenen des Films –, ehe sie sich in einem endlos liquiden Amalgam unterschiedlicher Perspektiven und BedeutunJHQHUQHXWYHUÀVVLJW$OVIHVWH)RUPWULWW das Blut schließlich als Trauring – einander umschlingende Schlangen – wieder in den Kosmos der festen Formen ein und symbolisiert die morsche Dauerhaftigkeit einer ewigen Liebe.

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NATURAL BORN KILLERS inszeniert die mediale Hysterie um Massen- und Serienmörder in den Vereinigten Staaten mit einem Blick, der die Sensationslust der DocuDrama-, und True Crime-Formate versucht an Schamlosigkeit und Geschwindigkeit zu überbieten. Dabei ist die Strategie des Films nicht als Kritik an bestehenden Verhältnissen zu verstehen, Zweifel an der amerikanischen Bildpraxis in den 1990er Jahre kann nur der Regisseur Oliver Stone im Interview äußern – NATURAL BORN KILLERS selbst reÀHNWLHUWGLHHLJHQHQ%DXSULQ]LSLHQQLFKWGHU)LOPIRUPXOLHUWNHLQH.ULWLN6WDWWGHVVHQ wird im Film eine Erfahrung von Welt vermittelt, in der die Unterscheidung zwischen einem Status des Vor-dem-medialen-Spiegels und einem Status des Im-medialen-Spiegels komplett aufgehoben ist. Ohne jegliche Kohärenz ist der Film aus audiovisuellen Partikeln gewebt, zumeist momentanen ikonischen Ausdrücken, die parataktisch PRQWLHUWVLQGXQGDOOHQIDOOVGXUFKGLHNOLVFKHHEHÀHFNWHBonnie & Clyde-Story zusammengehalten werden. NATURAL BORN KILLERS ist ein Sammelsurium (pop-)kultureller Zitate und Anspielungen, die in je unterschiedlichen Reihen sequentiell angeordnet und verschoben werden. Die Montage franst alle Vorstellungen von Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit aus – auf das Bild eines Mordes kann ein trauerndes Gesicht oder eine Werbeunterbrechung folgen. Der Modus der Gestaltung ist die Kombinatorik und die Hybridität, die genuinen und basalen Bauprinzipien der Selbstinszenierungen von school shootern. NATURAL BORN KILLERS agiert in einer Aufteilung des Sinnlichen, in der jedes Detail der individuellen Existenz – genau wie des sozialen, gemeinsam geteilten Raums – Produkt einer Mehrfachkodierung ist, semantisch überladen bis zum Siedepunkt. Dies ist der entscheidende Punkt, auch im Hinblick auf die folgende Analyse von ELEPHANT:



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In NATURAL BORN KILLERS ist jede Geste, jedes Wort, jede Botschaft und jede Erinnerung auf einen Horizont des medial Durchwirkten bezogen. Der soziale Raum gibt sich allenfalls als Effekt dieser Medialisierung zu erkennen. Ereignisse erscheinen als lose verbundene visuelle Blöcke, die Arten der Verbindung, der Montage sind beliebig, werden beständig revidiert, transformiert, in verschiedene Register des Audiovisuellen transponiert. NATURAL BORN KILLERS konstituiert sich über ein Chaos illegitimer Bilder, die medialen Erzählmodi – so offensichtlich beliebig konstruierend sie auch sein mögen – haben die Strukturierung der Raum-Zeit und der individuell-existentiellen %LRJUD¿H EHUQRPPHQ 'LH %LOGHU YHUVFKZLPPHQ LQ HLQHP 8QVFKlUIHEHUHLFK ]ZLschen medialem Klischee und sozialem Austausch, personale Interaktionen werden als Begegnung schematischer Bildformationen in Szene gesetzt. Damit lässt sich auch bestimmen, was Eric Harris und Dylan Klebold jenseits der monokausalen Übertragbarkeit bestimmter punktueller Zitate in NATURAL BORN KILLERS¿QGHQ(VLVWHLQH(UIDKUEDUNHLWYRQ:HOWHLQH0|JOLFKNHLWGHV+DQGHOQVLQGHU Welt, die auf einer gemeinsamen Ökonomie der Bildlichkeit, einer bestimmten Regulierung zwischen dem Medialen und dem Sozialen gründet. Aus der sozialen Materialität des Raumes Columbine Highschool in Littleton, Colorado, USA, lässt sich die Bildlichkeit des school shootings vom 20. April 1999 nicht ableiten. Die Bilder des 0DVVDNHUVN|QQHQQLFKWDXVGHUH[LVWHQWLHOOHQ%LRJUD¿HGHU7lWHUPRGHOOLHUWZHUGHQ aber sie sind anschlussfähig an bestimmte Formen der medialen Inszenierung von Gewalt, wie sie in NATURAL BORN KILLERS beständig in Szene gesetzt werden. Die Bilder, wie sie am 20. April 1999 über die Überwachungskamera in der Cafeteria der Schule ]XVHKHQVLQG¿QGHQLKU9RUELOGLQGHQPHGLDOHQ(UIDKUXQJHQGHU6FKW]HQ:DVNATURAL BORN KILLERS den Tätern zur Verfügung stellt, sind Modi der Montage, die den sozialen und den medialen Raum überblenden. Eine Art der Wahrnehmung von Welt, LQGHUGLHPHGLDOHQXQGGLHVR]LDOHQ%LOGHUDXIGHUJOHLFKHQÀDFKHQ(EHQHOLHJHQXQG so jedes Bild eine pragmatische Dimension gewinnt. Im school shooting werden Kunst ±GKPHGLDOH3Ul¿JXUDWLRQ±XQG/HEHQ±GKVR]LDOH:LUNOLFKNHLWGHU5DXPGHUJHmeinsamen Angelegenheiten – verschmolzen. Die basalen Strategien dieser Operation liefert NATURAL BORN KILLERS. Die Strategien einer Ich-Werdung über Bilder – wie sie besonders deutlich in Bastian Bosses Abschiedsvideo wurden – inszeniert NATURAL BORN KILLERS in unendlichen Varianten. Der Film bietet ein Modell der Subjektivitätskonstitution, in dem die offenVLFKWOLFKQDUUDWLYHQ=XULFKWXQJHQGHUHLJHQHQ%LRJUD¿HOHJLWLPH)RUPHQGHU6HOEVWHUzählung bedeuten. Zudem realisiert der school shooter mit seiner Tat ein bestimmtes Konglomerat aus sozialem Raum und medialem Bildraum, das sich aus NATURAL BORN KILLERS extrahieren lässt. Der Film ist also weniger als Anleitung, als Skript für eine Tötungshandlung zu sehen, sondern als Art des Denkens, Erkennens und Verstehens, die sich erst mit der Rezeption durch den anonymen Zuschauer erfüllt. Das Verhalten der school shooter ist an die verfügbaren medialen Erzählungen ihrer Zeit gekoppelt, der Schnitt vom Klassenzimmer auf ein Bild der Figur, die eine Waffe zieht und auf Schüler schießt, ist im befriedeten sozialen Raum zunächst ein unwahrscheinlicher Anschluss. Das Füllen der eigenen Rede mit der Figur NATURAL BORN KILLERS erfüllt

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die Funktion, die entsprechenden Anschlüsse wahrscheinlicher, denkbar und letztlich vollziehbar zu machen, denn die Differenzierung der Bilder verliert in einer Aufteilung des Sinnlichen nach NATURAL BORN KILLERS ihre Gültigkeit. In dieser Logik besitzt das mediale Bild, wie es in HITMEN FOR HIRE in Szene gesetzt wird, die gleiche Gültigkeit wie das soziale Bild des Schülers Eric Harris oder Dylan Klebold. Analog dazu ist die Tat ein Tauschhandel mit Bildern. Die school shooter tauschen das Bild ihres lebenden Körpers, ihr existenzielles Sein, gegen das mediale Bild, wie es mit Sicherheit hergestellt werden wird, ein. Diese beständige Zirkulation und Transposition der Bilder ist als sinnlich-anschauliches Denkmodell mit NATURAL BORN KILLERS gegeben.

Wie wir leben: E LEPH A NT

Im Gegensatz zu NATURAL BORN KILLERS thematisiert ELEPHANT von Gus Van Sant unmittelbar einen Amoklauf. In den Selbstaussagen und Modellierungen des Selbstbildes der Täter spielt der Film keine Rolle und zwar – so meine These – aus dem Grund, dass er den umgekehrten Weg nimmt, den NATURAL BORN KILLERS einschlägt. Oliver Stones Film bezieht noch die kleinsten Partikel des Sicht-, Erleb- und Denkbaren auf einen +RUL]RQWGHV0HGLDOHQ'LH%LRJUD¿HQYRQ0LFNH\XQG0DOORU\.QR[ZLHGLHNRQNUHten Räume, in denen diese sich bewegen, sind durchwirkt von unendlich gestaffelten Bildschichten. Im genauen Gegensatz dazu bezieht ELEPHANT jegliche Erscheinung des Medialen auf den Raum des Sozialen, einen Raum, der der Alltagswahrnehmung des Zuschauers durchaus vergleichbar ist. Dass dabei beide Filme Kunstprodukte bleiben, d.h. zu jeder Zeit einen ästhetischen Abstand a priori einhalten müssen, ist kein Ausschlusskriterium dafür, dass Oliver Stone und Gus Van Sant divergierende Begriffe des Realistischen anlegen. Es ist Rancières Differenz zwischen einer vielsagenden und einer stummen Spur, die uns in der Konfrontation der beiden Werke begegnet.

Das reale und das mediale Massaker Im Sprung von NATURAL BORN KILLERS zu ELEPHANT offenbart sich zunächst die eigentümliche Form der Zirkulation von Bilder und Narrativen innerhalb des school shooter-Diskurses. Oliver Stones Werk ist Vorbild für Eric Harris und Dylan Klebold – Anleitung zur Selbstinszenierung und Muster für Formen der Reinszenierung –, während Gus Van Sant das Ereignis Columbine aufnimmt, um es auf der Ebene der InszeQLHUXQJLQHLQHUEHVWLPPWHQ5HNRQ¿JXUDWLRQHUQHXWLQGHQPHGLDOHQ+DXVKDOWHLQ]Xspeisen. In der Gegenüberstellung zwischen NATURAL BORN KILLERS und ELEPHANT NRPPHQ]ZHLYHUVFKLHGHQH6WUDWHJLHQGHU.XQVWGHV)LOPPLWVSH]L¿VFKHQ5lXPHQ umzugehen, zum Vorschein. Vergleichbar sind die Werke insoweit, als sie sich beide dominant auf mediale Ökonomien, d.h. Bildökonomien beziehen – Stone thematisiert GLH%LOGHUÀXWGHUHU-DKUHLQ$PHULND9DQ6DQWGLHLNRQRJUDSKLVFKH.RGLHUXQJ des Columbine-Massakers. Als Folge der Morde von Klebold und Harris wurde das Schulgebäude, also der materielle Raum Columbine Highschool in Littleton, in allen Details medial vermessen und gerann so zu einem der überkodiertesten Orte der Welt: Wände und Fenster

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werden nach dem Ereignis Einschussloch für Einschussloch – stray bullet um stray bullet – kartographiert. Aus dem realen, sozialen Raum wurde so schnell ein Bildraum ]ZLVFKHQ)DNWXQG)LNWLRQ0DWHULDOLWlWXQGEHJULIÀLFKHU%HVWLPPXQJDXIJHODGHQPLW den Berichten, die hundertfach kursierten und bis heute neu produziert werden – absolut vergleichbar dem Bildraum Campus-der-Universität-Texas-am-1. August 1966. Die stammelnden Worte der Augenzeugen, die Kommentare der Zeitungen und Fernsehsender, die Blogs im Internet, die Videos und Schriften der Täter, die Polizeiberichte: All dies zeichnete und zeichnet bis heute ein emblematisches Bild, in dem ein bestimmtes Katastrophenszenario moderner Gesellschaften zwar nicht erklärbar, aber doch sagbar wurde. Auf diese Weise wurde das Ereignis Littleton in seiner heutigen Form überhaupt erst hergestellt.

Vom Sehen einer weißen Wand Die Formel in NATURAL BORN KILLERSODXWHW±ZLHEHUHLWVHUZlKQW±ÃAlles schreit‘. Im Gegensatz dazu bringt ELEPHANT die Geschichten, die sich mit Littleton verbinden, zum Schweigen, lässt Verstummen, setzt den Raum – in einer paradoxen Geste der Inszenierung – durch das In-Szene-Setzen der Tat in einen Zustand vor der Tat – bzw. der sich vor den Augen der Zuschauer abspielenden Tat – zurück. Konträr zur Zeichenhaftigkeit der Tagesberichterstattung über das Ereignis Littleton, in der die Bilder strikt dem Regime der Worte, der Texte unterliegen – die gleichsam als Anleitung dienen für das, was zu sehen sein muss – entfaltet ELEPHANT durch seine besondere Form der Inszenierung eine Ordnung des Sehens und Denkens, in der sich die medial konventionalisierten Bezüge zwischen der textlichen Referenz und dem Bild, dem Sicht- und GHP6DJEDUHQ]XQlFKVWYHUÀVVLJHQXQGVFKOLH‰OLFKDXÀ|VHQXPHLQQHXHV6HKHQXQG 'HQNHQ MHQVHLWV GHU PHGLDO ¿[LHUWHQ %H]JH DXIVFKHLQHQ ]X ODVVHQ (V JHKW XP HLQ Ã0DOHQYRUGHP*HPlOGHµHLQ:HL‰ZHUGHQGHU/HLQZDQGGDGXUFKGDVVGLH%LOGHUGLH der Grundierung virtuell immer schon eingeschrieben sind, ausgelöscht werden.128 SePLRWLVFKJHVSURFKHQ9DQ6DQWHQWOHHUWGLH6LJQL¿NDQWHQYRQLKUHPOverkillDQ6LJQL¿NDWHQO|VFKWGLH6LJQL¿NDWLRQXQGOlVVWGHQ=XVFKDXHUMHQVHLWVGHVQRUPLHUWHQ:LVVHQV in den Raum der Schule sehen. So verwandelt der Film mediale Zeichenhaftigkeit in Materialität, während in NATURAL BORN KILLERS die mediale Zeichenhaftigkeit materiell geworden ist. Van Sant inszeniert die prekäre Grenze zwischen den Bildern und ihrem Anderen, der Referenz, die sich im Sinne der medialen Präkodierung verdoppelt. Es gibt eine Schichtung von Handlungsraum, Bildraum und dem medial modellierten Innenraum der Columbine Highschool vom 20. April 1999. Dadurch haben die Bilder in ELEPHANT 128 | Gilles Deleuze fasst unter der Formel „Vor dem Malen: Das Gemälde…“ diese )RUPGHU3Ul¿JXUDWLRQLP+LQEOLFNDXIGLH0DOHUHL)UDQFLV%DFRQVÄ'HU0DOHUKDWYLHle Dinge im Kopf oder um sich oder im Atelier. Nun ist all das, was er im Kopf oder um sich hat, schon in der Leinwand, mehr oder weniger virtuell, mehr oder weniger aktuell, bevor er seine Arbeit beginnt. […] So daß der Maler keine weiße Fläche zu füllen hat, er müßte sie viel mehr leeren, räumen, reinigen.“ Deleuze, (1995), S. 55

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einen ambivalenten Status im Sinne einer Zweiseitigkeit des Bildes, der Verknüpfung zwischen Sicht- und Sagbarem. Sie bedeuten „Operationen, die das Sichtbare mit seiner Bedeutung und das Wort mit seiner Wirkung verbinden oder voneinander trennen, die Erwartungen hervorrufen oder enttäuschen.“129 In der journalistischen Berichterstattung, den schematischen Zeichensetzungen, schwingt immer schon ein Kanon mit, ein festes Bildrepertoire des Sensationellen, das genau das nicht in den Blick bekommt, was das eigentliche Thema von ELEPHANT ist: die banale Alltäglichkeit des Ereignisses school shooting.

Die Suche nach der Materialität der Dinge Die Funktion der Kunst und des Künstlers gleicht in ELEPHANT derjenigen, wie sie sich mit der Romantik und dem ästhetischen Regime der Künste verbindet: Wie Balzac und Flaubert wird die Kamera in ELEPHANT zum Archäologen, der die soziale Welt durchreist und die stummen Zeichen historischer Materialität zum Sprechen bringt. Damit hebt sich die Trennung zwischen Sensiblem und Intelligiblem, dem aktiven künstlerischen Willen und einer passiven, formbaren Materie, auf. ELEPHANT verknüpft seine Bilder nicht nach Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit, sondern inszeniert das Massaker tendenziell als reine Beschreibung. Dabei werden die Abläufe des school shootings in Littleton, wie sie nach dem Massaker rekonstruiert wurden – zeitlich moduliert –, beibehalten. Das Differenzkriterium zu anderen Arten der Darstellung – wie etwa in ZERO HOUR – ist allein auf der Ebene der konkreten Inszenierung zu verorten. Im Hinblick auf die Hierarchie zwischen den einzelnen Bildern kommt ELEPHANT zum gleichen Ergebnis wie NATURAL BORN KILLERS, auch wenn Van Sant und Stone vollkommen konträre Strategien der Inszenierung anwenden. In beiden Filmen werden GLH (LQVWHOOXQJHQ ÀDFK DXI HLQHU (EHQH DXVJHEUHLWHW XQG SDUDWDNWLVFK DQHLQDQGHUJHreiht. Jedes Bild kann gleichzeitig als Zeichen gelesen oder Nicht-Zeichen gesehen werden, Schlüssel zur Ursache des Ereignisses oder beliebiger Ausdruck sozialer Interaktion sein. Rancière spricht im Hinblick auf das ästhetische Regime der Künste von einer zweifachen Poetik des Bildes: Sie sind „ablesbare Zeugnisse einer Geschichte […] und reine Blöcke der Sichtbarkeit.“130 Denn „das Bild an sich hat sich verändert, und die Kunst ist zur Verschiebung zwischen diesen beiden Bilder-Funktionen geworden: zwischen den Inschriften, die sich wie eine Zeichenrolle auf den verschiedenen Körpern ausrollen und der unterbrechenden Funktion ihrer nackten bedeutungslosen Präsenz.“131 Ã3UlVHQ]µ EHGHXWHW KLHU ]XDOOHUHUVW HLQH 8QWHUEUHFKXQJ ]ZLVFKHQ GHP Sicht- und dem Sagbaren, meint also eine Visualität, die keiner unmittelbaren sprachlichen Aussage zuzuordnen ist und eine eigene Logik des Sprechens/Schweigens des Bildes bezeichnet. In einem Vergleich von NATURAL BORN KILLERS und ELEPHANT¿Qden sich diese beiden Pole der Potentialität des Bildes paradigmatisch inszeniert, wobei

129 | Rancière (2005), S. 11 130 | Rancière (2005), S. 19 131 | Rancière (2005), S. 22

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NATURAL BORN KILLERS beständig auf eine Etikettierung und Beschriftung hinauswill und ELEPHANT jegliche eindeutige, formelhafte Sinnzuschreibung verweigert. Die Label, mit denen NATURAL BORN KILLERS dauernd um sich wirft, kommen buchstäblich in der Sequenz zwischen Mickey und Mallory auf der einen Seite und einem Schamanen und seinem Enkelkind auf der anderen Seite zum Ausdruck. Als das Killerpärchen das Haus des Schamanen betritt, werden verschiedene Worte NATURAL BORN KILLERS auf die Leiber der Protagonisten projiziert: „demon“ oder „too much TV“ steht in Brusthöhe im Sinne einer eindeutigen Kennzeichnung des Sichtbaren zu lesen. Im Gegensatz dazu gerinnt in ELEPHANT noch der Akt des Tötens zu einem unbestimmten Ausdruck, die Gesichter der Figuren bleiben leer, sie können ihre Handlungen weder für sich selbst noch für den ELEPHANT Zuschauer in irgendeiner Form einordnen. Beispielhaft zeigt sich dies in der Szene, in der einer der beiden school shooter, Alex, die Mädchentoilette betritt und drei seiner Mitschülerinnen ermordet. Seine Mimik spricht allenfalls von freundlicher Neugier, zeigt aber keine Zeichen der Affektion, GLHJHPHLQKLQDQHLQ%LOGGHV7|WHQVJHNRSSHOWVLQG$OOHSUl¿JXULHUWHQ(UZDUWXQJHQ werden enttäuscht. Der Gegensatz zwischen NATURAL BORN KILLERS und ELEPHANT in der Bildgestaltung setzt sich auf der Ebene der Montage fort. Auch hier sieht Rancière eine zweifache ¿OPLVFKSRHWLVFKH0|JOLFKNHLWXQGHVEOHLEWGHP(LQ]HOZHUNEHUODVVHQZHOFKHVGLHser Potentiale dominant realisiert wird. Denn der Film ist innerhalb einer – nur theoretisch zu erreichenden – Polarität des reinen Erzählens und des reinen Zeigens verortet: So entwickelt sich eine Fiktion „durch das Wechselspiel zwischen der Macht der dramatischen Beglaubigung, die an die kausale und rhythmische Verknüpfung der Handlungen gebunden ist, und die lyrische Kraft, die durch eine Aussetzung von Ursachen und Rhythmus zur Wahrnehmung der Existenz zwingt.“132 Wo jedes Bild in NATURAL BORN KILLERS seine Botschaft herausschreit, werden die Bilder in ELEPHANT aus ihrer rein kommunikativen, wortgerechten Funktion befreit, um als Sichtbarkeiten, nicht als Lesbarkeiten auftauchen zu können.

Der Raum in dem wir leben Van Sant entgeht den konventionalisierten Bedeutungszuschreibungen dadurch, dass der Handlungsraum der Schule als ein alltäglicher Raum präsentiert wird und somit sämt132 | Rancière (2003), S. 234

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OLFKH(UZDUWXQJHQDQHLQHQ)LOPEHUGDVÃ&ROXPELQH0DVVDNHUµHQWWlXVFKWZHUGHQ ELEPHANT löst diese Sinnzuschreibungen in der raum-zeitlichen Rezeptionserfahrung GHV %LOGHV DXI 8QWHU GHP 6FKXWW PHGLDOHU %HGHXWXQJV]XZHLVXQJHQ ¿QGHW GHU )LOP in der Sichtbarkeit der Bilder einen sinnlich-anschaulichen Raum abseits der standardisierten Muster des Verstehens und zwingt seinen Zuschauer so den überkodierten Tatort als neutralen Schauplatz wahrzunehmen. In ELEPHANT sind Zeit-Bilder zu beobachten, reale Dauern, Zeitblöcke, in denen die Spanne, die es dauert, einen Gang zu durchschreiten, zum eigentlichen Inhalt des Bildes wird. Die Schnitte und die Plansequenzen verbinden die Stationen der schweifenden Kamera lose, brüchig, die Reiz-Reaktions-Schemata lösen sich in der Dauer der Einstellungen auf. ELEPHANT zeigt, führt den Blick des Zuschauers immer wieder DXIGLH2EHUÀlFKHGHV%LOGHV]ZLQJWLKQ]XVHKHQVWDWW]XXUWHLOHQXQGORFNHUWVRGLH Beziehungen zwischen dem Sichtbaren und jeglicher Bedeutung, entleert den diskursiven Raum, entleert die Bilder von dem, was der Zuschauer schon über den Raum und das Ereignis weiß. Der Film zeigt den schulischen Raum als einen Raum gewöhnlicher Verrichtungen, der schlichten und banalen sozialen Interaktionen, der seriell und monoton wiederholten Gesten, Gänge und Begegnungen. Im Gestus eines Archäologen des Sozialen schweift die Kamera gelassen durch das Schulgebäude, unentschieden zwischen totaler Gleichgültigkeit und unverhohlenem Interesse. „Es ist die Fähigkeit, geschriebene Zeichen auf einem Körper aufzuzeigen, jene Spuren, die von ihrer eigenen Geschichte eingeschrieben werden und somit wahrheitsgetreuer als jeder gesprochene Diskurs sind.“133 Statt einer strikten Handlungslogik präsentiert ELEPHANT die Zeitlichkeit, Modalität und Materialität eines alltäglichen sozialen Raums. Die Kamera teilt dem Zuschauer in diesem Sinne nichts über ein vergangenes Ereignis mit, nicht in der Form HLQHU Ã%HULFKWHUVWDWWXQJµ VRQGHUQ EHUQLPPW GLH )XQNWLRQ HLQHV VWXPPHQ =HXJHQ der nur beobachten kann, ohne zu verstehen. Er lässt die stummen Dinge sprechen, statt selbst das Wort zu ergreifen. Die toten Leiber der Opfer werden präsent in den gleitenden Körpern der Darsteller, die den Raum und die Zeit mit ihren Bewegungen vermessen. Gleichzeitig entfaltet ELEPHANT eine apersonale Wahrnehmung, die sich in den Überlagerungen der Zeitebenen und dem Spiel der Blickachsen äußert.134 Diese erinQHUQGH:DKUQHKPXQJIROJWHLQHUVWUHQJHQDUWL¿]LHOOHQPLWXQWHUWlQ]HULVFKHQ&KRUHRgraphie, ausgedrückt in den Bewegungen einer autonomen Kamera. In den Einstellungen, in denen sie sich frei durch das Gebäude bewegt, wird deutlich, dass die langen, schweifenden Gänge im Rücken der Figuren keine eindeutige Kopplung von Figur und Kamerablick bedeuten. Die synchronen Einheiten von Figuren- und Kamerabewegung 133 | Rancière (2005), S. 21 134 | Hermann Kappelhoff spricht im Hinblick auf Formen einer solchen apersonalen :DKUQHKPXQJYRQHLQHPÄO\ULVFKHQ,FK³Ä0DQZLUGGLHVHVÃO\ULVFKH,FKµ>«@YHUJHEOLFKLQGHU)LJXU]XIDVVHQVXFKHQHVLVWYLHOPHKUHLQJHZLUNWLQGDV$XVGUXFNVJHZHEH GHV%LOGUDXPVLVWGLHÃ)LJXUµGLHVHV:HEHQV³.DSSHOKRII  6

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sind Koinzidenzen, kein normatives Merkmal der Gestaltung. Die Kamera wechselt die Register zwischen aktiver und passiver Form, folgt den Opfern, den Tätern, nur um LPQlFKVWHQ$XJHQEOLFNXQDEKlQJLJYRQMHGHU¿JXUDOHQ=XULFKWXQJGHV%OLFNVGXUFK die Räume zu schweifen.135 In der Cafeteria, als die Mädchen Brittany, Jordan und Nicole ihr Essen holen, beobachtet die Kamera sie zunächst an der Essensausgabe, um sich dann suchend, erforschend durch die Küche zu bewegen und schließlich den Gang und Rhythmus der 0lGFKHQZLHGHUDXI]XQHKPHQ'LH.RQVWUXNWLRQGHVVSH]L¿VFKHQ5HDOLVPXVLQELEPHANT erfolgt nach den Prinzipien des realistischen Romans, wie Rancière ihn begreift, und der selbst noch eine Maschine des Verstehens und Wahrnehmens bedeutet. Das Prinzip dieser Form [des realistischen Romans], in der die Literatur ihre neue Macht EHKDXSWHWLVWNHLQHVZHJVZLHPDQHVJHOlX¿JVDJWGLH7DWVDFKHQLQLKUHU:LUNOLFKNHLW zu reproduzieren. Es besteht darin, ein neues Regime der Anpassung zwischen der Bedeutung der Wörter und der Sichtbarkeit der Dinge zu entfalten, ein Universum prosaischer Wirklichkeit wie ein immenses Gewebe von Zeichen erscheinen zu lassen, das die Geschichte einer Zeit, einer Zivilisation oder einer Gesellschaft geschrieben enthält.136

Durch die eigenwillige zeitliche und rhythmische Entwicklung des audiovisuellen Bildraums abstrahiert Van Sant vom referentiellen, alltäglichen Raum – ohne ihn einer Handlungslogik unterzuordnen. Die Bilder sind in der Dichotomie zwischen Bildobjekt und Zeichen, einem einfachen Entweder/Oder nicht zu verstehen. Im Gegenteil, ELEPHANT schafft eine paradoxe Wertigkeit der Bilder, sie sind Zeichen und reine Sichtbarkeit zugleich, gehören auf der HLQHQ6HLWH]XPUHIHUHQWLHOOHQ5DKPHQGHVKLVWRULVFKPHGLDOHQ(UHLJQLVVHVÃ/LWWOHWRQµ und schaffen zugleich ihren ureigensten Bildraum, der das Ereignis hermetisch abriegelt von jeglicher Sinndimension außerhalb des Bildraums, der sich als reine sichtbare Präsenz manifestiert. Das herstellende, ästhetisierende Moment in der Bildgestaltung wird unterstützt durch die Klänge des Score, der sich an der spartanischen, unaufgeregten Visualität bricht und dem Bildraum eine unwirkliche, fremde und ferne Atmosphäre gibt.

135 | Im Sinne des Bild-Satzes erfüllt die Kamera die Funktion einer Rahmung. Damit wird das basale Moment der Konstruktion im Gegensatz zu einer behaupteten Abbildung deutlich. Die Fiktion im ästhetischen Regime der Künste folgt einer je nach Werk herzustellenden Beziehung zwischen dem Sicht- und dem Sagbaren. Diese Relation ist notwendig, um nicht im Chaos der sich darbietenden Beliebigkeit der Geschichten zu verlieren. Wie Rancière schreibt: „Die im Entstehen begriffene Literatur setzt [… ihr] Wahrheitsmodell zugleich den hierarchischen Prinzipien der repräsentativen Tradition als auch der gesetzlosen Demokratie des umherirrenden Buchstabens entgegen.“ Rancière (2008a), S. 29 136_5DQFLqUH D 6I

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Die Charakteristika des Filmbildes wirken unterstützend, denn das Bewegungsbild tendiert ohne Frage zum Gewöhnlichen, löst den herausgehobenen Moment und die feste Form zugunsten einer Serie von Bildern ab, die keine herausgehobenen Momente mehr kennen. ELEPHANT thematisiert diese Qualität des Filmbildes in der Szene mit Elias, dem Fotografen, und John, der sich für eine Aufnahme in Pose wirft. In den VaULDWLRQHQGLHVHU6]HQHEQGHOQVLFKGLH7HFKQLNHQGHU¿OPLVFKHQ,QV]HQLHUXQJLQELEPHANT wie in einer Brennlinse: Dreimal wiederholt Van Sant diesen Moment und jedes 0DOHQWJHKWGHP=XVFKDXHUGHU$NWGHV)RWRJUD¿HUHQVGDV6WLOOVWHOOHQGHU%LOGHUGHU prägnante Augenblick. Als die Szenerie zum ersten Mal erscheint, ist der Betrachter abgelenkt durch das Mädchen Michelle, das, mit einem roten Oberteil bekleidet, an der linken Seite des Kaders an der Wand entlang in den Vordergrund rennt. Farbe und BeZHJXQJPDUNLHUHQVRGLHHKHUÃXQZLFKWLJHµ+DVW0LFKHOOHVDOVGDVHLJHQWOLFK%HPHUkenswerte im Bild. In der zweiten Variante, die von der anderen Seite aufgenommen ist, taucht Michelle plötzlich am linken Rand der Einstellung auf – kurz bevor Elias den Auslöser drückt – und zieht so die Aufmerksamkeit auf sich. In der dritten Variation folgt die Steady-Cam dem Rennen Michelles nahe an ihrem Hinterkopf, so dass Elias und John nur als verwischte Figuren in der Peripherie der Einstellung erscheinen. ELEPHANT folgt einer postaristotelischen Dramaturgie, jenseits der normativen Verknüpfung nach Ursache und Wirkung. Van Sant inszeniert ein Kino des Sehenden, in dem Reiz und Reaktion nur noch schwache bis keine Verbindungen mehr eingehen und die Figuren sich verhalten als ob das, was ihnen zustößt, „sie nicht wirklich betrifft und sie nur zur Hälfte angeht.“9HUGLFKWHW]HLJWVLFKGDVLQ-RKQVKLOÀRVHQ5HWWXQJVYHUsuchen, nachdem ihm die school shooter Alex und Eric auf ihrem Weg ins Gebäude gesagt haben, er solle verschwinden. John spricht die Mitschüler vor der Schule an, warnt VLHQLFKWLQV,QQHUH]XJHKHQGRFKHUNDQQOHW]WOLFKQXUKLOÀRVXQGKDQGOXQJVXQIlKLJ das Ausmaß des Spektakels, dass die eigenen, körperlichen und mentalen Kräfte übersteigt, von Außen betrachten. In den von jeder Reaktion entleerten Gesichtern trennen sich poesis und aisthesis, keine Betroffenheit könnte dem Zuschauer sagen, wie er auf das Geschehen zu reagieren hat. Reaction-shots werden schon durch das dominante Verfahren der Bildgestaltung, durch die endlosen Gänge im Rücken der Figuren, konsequent verweigert. In ELEPHANT gibt es keine Hierarchien zwischen den Bildern oder innerhalb der Aufteilungen in den Ebenen einzelner Einstellungen. Als Eric und Alex das Gebäude betreten, ist dieser Moment in der Inszenierung ein Augenblick wie jeder andere auch. Die Schützen laufen im Hintergrund in den Kader, aber als das eigentlich Sensationelle wird der Sprung eines Hundes im Bildvordergrund durch eine Slow-Motion markiert, während die school shooter teilweise durch den Hinterkopf der Figur John verdeckt werden. Als das school shooting in der Bibliothek beginnt, bleibt die Kamera starr in Großaufnahme auf dem Gesicht eines der Schützen. Die Einstellung ist so nah, dass der Betrachter die Reaktionen auf die Schüsse nur erahnen kann. Dem beginnenden Morden wird so keine adäquate affektive Dimension an die Seite gestellt, statt des137 | Deleuze (1999), S. 34

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sen schneidet der Film auf die leeren, allenfalls leicht verwunderten Gesichter zweier Schüler, die jenseits des Geschehens nichts von den Schüssen wissen.

Der dominante Bezug auf den alltäglichen Raum Die besondere Qualität von Van Sants Film liegt darin, dass er die Beziehung zwischen Bild und Bedeutung nicht aufgibt, sie jedoch in ihre Negation verkehrt. Statt mit GHQ%LOGHUQGHP(UHLJQLVHLQHQEHVWLPPWHQ6LQQ]XJHEHQXQGHVLQHLQHEHJULIÀLFKH Perspektive zu rücken – den Film anschlussfähig zu machen an die Bedeutungsüberproduktion, die sich mit Littleton verbindet – nivelliert ELEPHANT die möglichen Entsprechungen. Evident wird dies insbesondere am Umgang des Films mit medialen Bildern und Narrativen, die innerhalb des Diskurses um die vermeintlichen Ursachen für den Amoklauf von Eric Harris und Dylan Klebold als mitverantwortlich markiert wurden. 6R¿QGHQ]XP%HLVSLHOGLHEgo-Shooter-Bilder Eingang in den Film. Einer der Schützen spielt auf dem Laptop ein Ego-Shooter-Spiel, aber das Spiel wird dem Klavierspiel seines Mittäters, den Klängen von Ludwig van Beethovens Mondscheinsonate, gegenübergestellt und mit ihm gleichgesetzt. Ein Hobby ist wie jedes andere und aggressiv wird derjenige von den beiden, der am Klavier sitzt. Das Spiel kann in Korrespondenz oder in Dissonanz zu den realen Schüssen verstanden werden, der Film selbst trifft NHLQH (QWVFKHLGXQJ$XI GLHVH:HLVH YHUVFKUlQNHQ VLFK GLH (EHQHQ GHV DUWL¿]LHOOHQ Bildraums und des alltäglichen Raums und drohen immer wieder ihre Differenz zu negieren, ohne jedoch ineinander aufzugehen. Wo NATURAL BORN KILLERS jedes Element auf den medialen Raum bezieht – etwa die Backstory Mallorys in der Serie I Love Mallory –, verortet ELEPHANT jedes Detail im alltäglich erfahrbaren sozialen Raum. NATURAL BORN KILLERS selbst wird zitiert, ganz am Ende des Films, in der Kühlkammer, im Abzählreim des SchütNATURAL BORN KILLERS ]HQ$OH[GHUGLHJHÀFKWHWHQ0LWVFKOHU Nathan und Carrie mit der Waffe bedroht. Ganz im Sinne von Micky und Mallorys Credo – ein Opfer überlebt, um von ihren Taten zu berichten – beginnt der school shooter in ELEPHANT mit dem Abzählreim, der aus der ersten Sequenz in NATURAL BORN KILLERS, dem Massaker im Diner, bekannt ist. Aber die durch und durch meELEPHANT dial stilisierten und kodierten Bilder aus NATURAL BORN KILLERS – Point of View -Einstellungen der Killer über den zeigenden Finger oder den schussbereiten Lauf der Waffe hinweg –, erfahren in ELEPHANT keine Dramatisierung. Die Kamera entfernt sich, nimmt nicht die erschreckten, verzweifel-

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ten Gesichter der bedrohten Schüler auf, sondern sie verlässt den Schauplatz, rahmt den Schützen in der offenen Tür der Kühlkammer. Die Szene bricht ab, es gibt kein Ergebnis. Stattdessen sieht der Zuschauer eine Wahl, die nie zu einem Ende kommt, aufgehoben in der Zeit einer Ewigkeit. Im Anschluss folgen Wolkenbilder, als könnten GLHÀLH‰HQGHQ)RUPHQGHV+LPPHOVHLQH$QWZRUWELHWHQ ELEPHANT bezieht sich mehrfach auf mediale Bilder, die in den sozialen Raum eindringen, aber niemals die Ursache für das Verhalten der Figuren bilden. Eine Dokumentation über den Nationalsozialismus ist im Fernsehen zu sehen, aber der Blick der school shooter Alex und Eric ist gleichgültig, die dokumentarischen Bilder sind eingesperrt in das Viereck des Fernsehers. Wo die Bilder in NATURAL BORN KILLERS IUHLÀRWWLHUHQLPPHUZLHGHUGDVJDQ]H%LOGDXVIOOHQXQG]XPHLJHQWOLFKHQ$JHQVGHU Wahrnehmung, des Erlebens und des Handelns werden, bleiben sie in ELEPHANT an GHPLKQHQ]XJHZLHVHQHQ2UW¿[LHUW6LHEHGLQJHQGLH(UIDKUXQJQLFKWGLH6XEMHNWIRUPDWLRQDOV%LOGIRUPDWLRQLVWQLFKWGHU(IIHNWGHU%LOGHU'LHDQ]LWLHUWHQPHGLDO¿NWLonalen Bilder werden aufgelöst im Bildraum, der eine der alltäglichen Wahrnehmung verwandte Wahrnehmung präpariert. Das letzte gemeinsame Frühstück, das Eric und Alex in einem der Elternhäuser einnehmen, ist nicht mehr als das: ein gemeinsames Frühstück mit den Eltern, eine Szene familiären Zusammenseins, wie sie sich Tag für 7DJZLHGHUKROW(V¿QGHWVLFKQLFKWV6SHNWDNXOlUHVLQGLHVHQ%LOGHUQ*DQ]LP*HJHQsatz dazu gerinnt in NATURAL BORN KILLERS noch das bloße Bild des Kaffeeeinschenkens zu einem exaltierten, außergewöhnlichen Moment, der nach Aufmerksamkeit KHLVFKWXQGDOVÃ:HUNµZDKUJHQRPPHQZHUGHQZLOO (LQ ZHLWHUHV %HLVSLHO IU GLH $XÀ|sung medialer Bilder – die im Zuge des Columbine-Massakers unter Verdacht gerieten, das Verhalten von school shootern zu inspirieren – im Sozialen ist Alex’ erster Besuch der Cafeteria in ELEPHANT. Der Schüler macht sich Notizen, entwickelt den Plan, wie der Anschlag auszuführen ist. Er bleibt unsichtbar, wird angerempelt, EARSHOT hat keinen Kontakt zu seiner Umwelt. Dann setzt ein Dröhnen ein. Lauter und lauter lärmen die Stimmen der Mitschüler und das Klappern des Geschirrs. Der Ausdruck in Alex’ Gesicht wird ängstlich, die Bewegungen des Kopfes immer hektischer. Die Hände greifen zum Kopf, wollen die Stimmen aussperren, die Ohren verschließen vor dem Chaos, das die ELEPHANT Wahrnehmung ergreift. Damit zitiert ELEPHANT eine Szene aus der Folge EARSHOT (Regis B. Kimble, USA 1999) der amerikanischen TV-Serie Buffy the Vampire Slayer. Die Folge wurde unter dem Eindruck der



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(UHLJQLVVHYRP$SULOÃHLQJHIURUHQµXQGNRQQWHHUVW]XHLQHPVSlWHUHQ=HLWpunkt gesendet werden, weil sie ein school shooting thematisiert.138 ELEPHANT bringt GDVPHGLDOSUl¿JXULHUWH(PS¿QGHQGDVLP9RUELOGEHUGLH¿NWLRQDOH*HVWDOWGHU6Hrienheldin Buffy Summers ausgedrückt wird in den sehr konkreten sozialen Raum der aktuellen Schule zurück. Die Anordnung in EARSHOT ist analog: Buffy, die in der Cafeteria ihrer Schule steht und von den Geräuschen und Stimmen der Umwelt überwältigt wird. Van Sant passt diese Szene, diese Form der Wahrnehmung in ELEPHANT ein. Über die Reinszenierung der analogen Elemente verschmilzt das Vor-Bild ohne Brüche mit dem homogenen Bildraum der alles umfassenden Steady-Cam-Fahrten. So wird das vorgängige mediale Bild im Wahrnehmungsgefüge, das ELEPHANT realisiert und das dominant auf die alltägliche Wahrnehmung bezogen bleibt, verortet. 'LHPHGLDOHQ3Ul¿JXUDWLRQHQEOHLEHQGDEHLLPPHU±ZLHDXFKLQNATURAL BORN KILLERS – auf derselben Ebene wie die übrigen Bilder, d.h. es gibt kein Hierarchiegefälle in Bezug auf einen zu bestimmenden Wahrheitswert des Erlebens, eine Differenz zwischen Verstellung und authentischem Ausdruck. Beide Formen des Erlebens – das soziale und das mediale – liegen gleichwertig nebeneinander, umschlingen sich. Der entscheidende Unterschied ist: NATURAL BORN KILLERS bezieht alle Elemente auf den Horizont eines medial vermessenen Erlebens, während ELEPHANT die mediale Vermessung der Welt in jedem Bild auf einen sozial-materiellen – im wahrsten Sinne des Wortes zu durchschreitenden – Raum bezieht. In den endlosen Fahrten und Gängen der Figuren wird dieser Raum raum-zeitlich entfaltet, schreibt sich als Dauer in das Erleben des Zuschauers ein. Unter dem Vorzeichen eines Paradoxes der Kunst lässt sich mit Rancière die Beziehung zwischen dem Realen und Imaginären, dem Sozialen und dem Medialen systematisieren. Wie die Verschmelzung und der ästhetische Abstand der Ebenen aber konkret in Szene gesetzt und gedacht werden kann, zeigen Filme wie NATURAL BORN KILLERS und ELEPHANT. Dabei muss der grundsätzliche Unterschied zwischen dem sozialen Handlungsraum und der ästhetischen Erfahrung wesentliche Prämisse sein. Bastian Bosse und Seung-Hui Cho rahmen sich in ihren Selbstinszenierungsvideos, sie stellen sich als Bild und in einem Kader her, um ihrer sozialen Realität zu entkommen. Gerade im Hinblick auf school shooter ist der Übergang von Realität und Fiktion genauso wichtig wie der ästhetische Abstand, den der mediale Raum vom sozialen Handlungsraum hält. ELEPHANT ist als Vorbild für school shooter dysfunktional, weil der Film die RahPXQJHQGHUPHGLDOHQ%LOGHUDXÀ|VWLPVR]LDOHQ%LOG'LH7lWHUDEHUEUDXFKHQGLHVH medialen Bilder, um handlungsfähig zu sein. Ohne eine vermittelnde Instanz, die den Anschluss des sozial stabilisierten friedlichen Schulgeländes an das Bild eines Massakers gewährleistet, sind die Taten weder sagbar noch denkbar. School shootern geht es um das Entkommen aus den Notwendigkeiten und Wahrscheinlichkeiten des Alltags, die die Wahrnehmung zurichten. Und eine neue Form der Erfahrung und die Neuvermessung des sozialen Handlungsraums kann – wie es an HITMEN FOR HIRE evident 138 | Vgl. Parks (2003), S. 120

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wurde – nur über die mediale Erfahrung erfolgen, die nicht der sozialen Ordnung entspricht. NATURAL BORN KILLERS GLHQWDOV3Ul¿JXUDWLRQGHV+DQGHOQVGHUschool shooter, gerade weil der Film das Soziale beständig auf das Mediale bezieht. Wie sich diese Montageformen, die die Bilder aneinanderkoppeln und damit handlungsanleitend wirken, konkret realisieren, soll nun anhand eines Beispiels veranschaulicht werden, das die Faltungen von Realem und Imaginärem aus der Innenperspektive eines Schülers aufnimmt: BEN X YRQ1LF%DOWKD]DU %HOJLHQ 

U NREINE BILDER : B EN X Der Held zieht sein Schwert. Zwei Figuren bedrohen ihn, in knappen Lederkostümen, die ihre mächtigen, muskulösen Arme und Beine zur Schau stellen. Ihre Haut ist grün, sie tragen lange Bärte, überragen den am Boden knienden Helden. Wie zwei Türme stehen sie in der animierten Landschaft, bösartige Wesen zwischen Mensch und Troll. Der Held zieht sein Schwert und bedroht sie. In einem belgischen Park. Laub liegt am Boden, die Trolle sind jetzt Mitschüler, die den Protagonisten Ben quälen, erniedrigen. Ein Akt von Bullying wie ihn auch Bastian Bosse in seinem Abschiedsvideo beschreibt. Die Schläge der Trolle im animierten Raum werden nach einem Schnitt zu den sehr realen und schmerzhaften Schlägen der Mitschüler. Die Peiniger klauen Bens Handy, machen sich über den ankommenden Anruf der Mutter lustig. „Bennyboy, Bennyboy“, singen sie im Chor. Ben zieht seine Waffe, nicht ohne sie vorher mit einem Mausklick auszuwählen. Ein Popup erscheint in der linken BEN X Hälfte des Kaders, neben Bens Kopf. Er entscheidet sich für ein Kreuz mit einer scharfen Klinge am Ende, das er am Vormittag im Werkunterricht gebastelt hat. Der Ort der Szene erscheint als eine Überlagerung, ist zugleich der Handlungsraum eines Parks in einer belgischen Stadt und der animierte Bildraum des Rollenspiels, das Ben zu Hause in endlosen Stunden an seinem Computer spielt. Die verschiedenen Wahrnehmungen des Raums werden zunächst in harten Schnitten gegeneinander gestellt, dann werden sie ineinander geblendet, das

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Verschwimmen des sozialen Handlungsraums mit dem Raum des Computerspiels wird als Solarisation des aktuellen Bildes gestaltet.

A Map of the World BEN XKHL‰WGHU)LOPGHUGLH(UQLHGULJXQJHQVHLQHU+DXSW¿JXU%HQLPPHUZLHGHULQ den Mittelpunkt rückt. Der Regisseur Nic Balthazar entwirft das Psychogramm eines autistischen Jugendlichen, der von seinen Mitschülern gehänselt wird und schließlich seinen Selbstmord inszeniert. Damit zeigt BEN X kein school shooting, die Racheimpulse werden sublimiert, aber der Film kreist um das Thema der Gewalt, stellt die Frage nach den legitimen und den illegitimen Formen der Gewalt.139 Die Zeichen sind mit einer Präsenz und einer Familiarität ausgestattet, die mehr aus ihnen machen als nur Werkzeuge, über die wir verfügen oder Text, den wir entziffern können. Sie machen sie zu Bewohnern unserer Welt, zu Persönlichkeiten, die uns eine :HOWVFKDIIHQ>«@(VJLEW=HLFKHQÃXQWHUXQVµ'DVEHVDJWGD‰GLHVLFKWEDUHQ)RUPHQ sprechen und dass die Worte das Gewicht der sichtbaren Wirklichkeiten haben, daß Zeichen und Formen gegenseitig ihr Vermögen des sinnlichen Darstellens und des Bedeutens stimulieren.140

In kaum einem Film werden diese Gedanken Rancières zum ästhetischen Regime der Künste so plastisch vorgeführt wie in BEN X'LHHUVWHQ:RUWHGHU+DXSW¿JXUODXWHQ „Ich kann das nicht gut erklären. Ich kann mich nicht gut erklären.“ Damit wird der Raum der Sprachlosigkeit geöffnet, des Unverständnisses, des Risses zwischen einem subjektiven Bewusstsein und einer umgebenden Welt – wie es etwa bei Charles Whitman zu beobachten war. Ben ist eine Figur des Sich-selbst-Unverständlich-Bleibens, der schmerzhaften Isolation von der unmittelbaren sozialen Umwelt. Was ihn mit school shootern YHUELQGHW LVW GLH (LJHQPRGHOOLHUXQJ DQ SUl¿JXULHUWHQ %LOGHUQ GDV Schließen der Lücke zwischen Sicht- und Sagbarem durch mediale Inhalte. Das Medium, der Bildtransmitter zwischen Innen und Außen – einem individuellen Erleben und der Handlungsfähigkeit im sozialen Raum – ist im Falle Bens ein Online-Rollenspiel mit dem Titel Archlord. Nur in der Verschmelzung der animierten und der sozialen Bildökonomie – über die Zeichen, die ihm eine Welt erschaffen – kann der Schüler in der sozialen Welt funktionieren.

139 | In der zeitlichen Entfaltung des Films werden zudem immer wieder Interviewsequenzen eingeschnitten, die das bereits Geschehene aus einer zeitlichen Perspektive nach der Filmhandlung kommentieren und dramatisieren. So wird ein school shooting durch die Dramaturgie nahegelegt, mit der Möglichkeit der Katastrophe gespielt. 140 | Rancière (2005), S.45. In dieselbe Richtung argumentiert Hannelore Bublitz: „Zeichen beschreiben nicht (nur) die Dinge/die Welt, sondern sie verändern sie.“ Bublitz (2010), S. 86

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Wie weit diese Entgrenzung in die PHGLDO ¿JXULHUWHQ :DKUQHKPXQJVZHLse geht, zeigt eine der ersten Szenen des Films, in der sich die Ich-Konstitution Bens beispielhaft manifestiert: Der Schüler steht am Morgen vor dem Spiegel, um sich für den beginnenden Tag zu rüsten. Seine Stimme erklärt als Voice-Over die eigentümliche Beziehung zwischen dem eigenen Bewusstsein und dessen sichtbarem Ausdruck, dem Gesicht, das fundamental fremd bleibt: „In Games kann man sein, wer oder was man will. Hier kannst Du nur ein Mensch sein. Die Null, die Du im Spiegel siehst. Ich muss ihm alles beibringen. Das Lachen zum Beispiel BEN X muss ich ihm lehren. Das mögen die Leute.“ Die virtuellen Auswahlfenster des Videospiels Archlord werden in das aktuelle Bild integriert. Mit den Icons und Avataren möbliert Ben sein Ich-Bewusstsein, seine Subjektivitätskonstitution ist mit den Techniken der Gestaltung einer Figur in einem Videospiel synchronisiert. Die vermeintlich differenzierten Wahrnehmungswelten medial und sozial verschwimmen in einem Punkt der Ununterscheidbarkeit und sind JOHLFKÃZDKUµ Ben setzt die Bilder aus Archlord und die Handlungsoptionen, die sich mit ihnen verbinden, bewusst ein, um pragmatisch Herausforderungen des Alltags – Wie durchschreite ich den Raum bis zur BusKDOWHVWHOOH" ± ]X EHZlOWLJHQ 'HU VR]LDOH Handlungsraum wird immer wieder durch die verschiedenen Register medialer FärBEN X bung transponiert und als Raum verschiedener Möglichkeiten durchdekliniert. Ob in der Abstraktion einer animierten Karte, GLHGDV)HOGGHV6LFKWXQG+|UEDUHQVWUXNWXULHUW±XPGXUFKVLHGHU5HL]EHUÀXWXQJ der Außenwelt zu entkommen –, oder als Raum einer tatsächlichen Bewegung im Bild eines Avatars, der den virtuellen Raum Schritt für Schritt durchmisst. Der Autismus Bens – an dem das Asperger-Syndrom diagnostiziert wurde, also eine eher leichte Variante der Krankheit – äußert sich vor allem in der konstitutiven Trennung zwischen Reiz und Reaktion, was die Figur an die Erzählungen des Amoks anschließt. In den Worten Bens ausgedrückt: Es stimme etwas nicht, „etwas mit mir XQGPHLQHU+DQG³'LH(LJHQVFKDIWQLFKWÃNRUUHNWµUHDJLHUHQ]XN|QQHQHUVFKHLQW%HQ als Fluch, hinterlässt sie doch einen von der Welt ausgeschlossenen Geist, eingeschlosVHQLQHLQHQ.|USHUGHUVLFKQLFKWÃULFKWLJµ]XYHUKDOWHQZHL‰GHUQLFKWÃULFKWLJµEH-

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wegt werden kann. Die Figur Ben markiert ein Dazwischen, einen unendlichen Raum des Aufschubs einer Handlung.141 Die normierte Sensomotorik ist unterbrochen und %HQO|VWGDV+DQGOXQJVGH¿]LWEHUGLHFKDUDNWHULVWLVFKHQ9HUNQSIXQJHQGLHHULQQHUhalb der medialen Erfahrung in den Welten des Online-Rollenspiels entdeckt und Tag für Tag einübt. 'LH XUVSUQJOLFKH +LOÀRVLJNHLW %HQV – jenseits bzw. vor der Handlungsfähigkeit, die der Schüler aus Archlord gewinnt – wird über eine zeitliche Faltung gezeigt. In Rückblenden realisiert sich seine Backstory als Bild des Kindes Ben in der Turnhalle einer Schule. Den Ball hält der Junge fest umklammert, auch wenn seine Mitschüler massenhaft und schreiend um ihn herumstehen und ihn stürmisch zum Weiterspielen auffordern. Die spezielle Disposition Bens erscheint aber nicht nur in Formen des Affektbildes, also als Aufschub von sozial erwarteter Handlung. Im Anschluss an die Szene in der Turnhalle sieht man das Kind Ben – scheinbar ohne BEN X jeden Grund – in der Cafeteria der Schule wütend das Mobiliar umtreten. Auch wenn sich das Asperger-Syndrom in zwei grundsätzlich verschiedenen Weisen des Verhältnisses von Reiz und Reaktion äußert, liegt in beiden Fällen der VerhalWHQVDXIIlOOLJNHLW%HQVHLQ'H¿]LWLP+LQEOLFNDXIGLHVR]LDOQRUPLHUWHQ9HUNQSIXQJHQ YRQ8UVDFKHXQG:LUNXQJXQGGHUHQ]HLWOLFKHQ%H]JH]XJUXQGH'LHÃ)HKOOHLVWXQJHQµ Bens sind das Resultat einer originär anderen Montage zwischen Reiz und Reaktion. Über das Konglomerat von sozialem Handlungsraum und der virtuellen Welt Archlord macht BEN X die Logik im Verhalten seines Protagonisten – der sich über das Realisieren medialer Inhalte von dem Kind, das er gewesen ist, emanzipiert hat – sichtbar. Dabei könnte die Grenze zwischen sozialem Handlungsraum und Imaginärem im Sinne der Talking Cure aber nicht restabilisiert werden ohne den eigentlichen Teil der Subjektivität Bens – und damit die Blaupause seines gesamten Verhaltens – aus dem Blick zu verlieren. Im sozialen Raum der face-to-face-Interaktionen erscheint Ben als Sprachloser, VHLQH6WLPPH¿QGHWQXUDOVVoice-Over statt. Als Dialogpartner bleibt er stumm. Damit wiederholt sich auch hier die Konstellation, die bereits aus MY SUICIDE und den Selbstinszenierungsvideos von Bastian Bosse und Seung-Hui Cho bekannt ist: SagEDU XQG VLFKWEDU ZLUG GDV HLJHQH (PS¿QGHQ QXU LQ GHU PHGLDO SUl¿JXULHUWHQ )RUP 141 | Dadurch wird das Bild der Figur Ben als ein genuines Affektbild im Sinne von *LOOHV'HOHX]HOHVEDU=XP%HJULIIGHV$IIHNWELOGHVVLHKH'HOHX]H  6II

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Die animierten Bilder fungieren als Sprache mit einer eigenen Logik des Sagens und Schweigens. In dieser Sprache kann Ben aber nicht mit den Menschen in seiner Umgebung kommunizieren, weil er als einziger den sozialen Raum nach der sinnlich-anschaulichen Vermessung der Welt durch Archlord bevölkert. Kommunikation über das Spiel gelingt nur mit den anderen Playern. In BEN X wird diese Figur der adäquaten Sprachfähigkeit von einem Mädchen mit dem Pseudonym Scarlite verkörpert. Sie weckt – wie Sierra in MY SUICIDE – das Begehren des jugendlichen Protagonisten. Und dies JHVFKLHKWEHU%LOGHUVHLHVDOV3UR¿OIRWREHLPOnline-Chat oder als Videobotschaft auf Bens Mobiltelefon. BEN XUHÀHNWLHUWEHVWlQGLJGLH)XQNWLRQGHULQGLYLGXHOOHQ:HOWHUVFKDIIXQJGXUFK GLHhEHUEOHQGXQJPHGLDOHU,QKDOWHLQGHQVR]LDOHQ+DQGOXQJVUDXPVHW]WGLHVSH]L¿sche Ökonomie zwischen dem Medialen und Sozialen in immer neuen Varianten in Szene. Als Ben von seiner Klasse kollektiv gedemütigt wird – einer der Mitschüler zieht ihm die Hose von den Hüften, die anderen saugen das Bild begierig mit den Kameras ihrer Handys ein – erfährt dieser Zusammenhang eine weitere Wendung. Die Klasse lacht über den entblößten Ben, die Szene gerinnt zu einem Ausdruck totaler Erniedrigung, der nicht in den Schulräumen verbleibt, sondern von den Mitschülern als Video im Internet veröffentlicht wird. Ben sieht dieses Video obsessiv in iterativen Schleifen, Kompensation erfährt er erst in der virtuellen Welt seines Rollenspiels, wo 6FDUOLWHLKP+LOIHYHUVSULFKW%HQHUNOlUWLP2IIÄ6LHVDJWHÃ$OVR0DQQ:LHLVWGHLQ 3ODQ"'HLQ3ODQLQHLQHP:RUW"/DVVPLFK'LUKHOIHQµVDJWHVLHÃ8PDXV]XVWHLJHQ Rauszusteigen aus dir selbst.“ Damit ist das Problem der Verknüpfung erneut aufgerufen. Das Video von Ben mit heruntergerissener Hose ist der Reiz, der auf eine Reaktion wartet, eine Frage, die noch ohne Antwort ist. Das Bild ist eine Zurichtung der Person Ben, auf die eine Intervention folgen muss, will sich der Protagonist im sozialen Gefüge behaupten. Die Palette der Reaktionen ist dabei unendlich. BEN X setzt dies durch unzählige Überblendungen von Bens Gesicht vor dem Spiegel im heimischen Badezimmer in Szene. Die tastende Suche nach dem richtigen Verhalten, dem adäquaten Gesicht seiner selbst angesichts der Situation, funktioniert wie die ewig neue Wahl BEN X des richtigen Items, der richtigen Waffe in Archlord$XVJHKHQGYRQGHUPHGLDOHQ9HUEUHLWXQJGHU(UQLHGULJXQJVHLQHU+DXSW¿gur und der Frage nach den legitimen und illegitimen Reaktionen, knüpft BEN X den dramaturgischen Spannungsbogen in endlosen kleinen Andeutungen eines abrupten, unkontrollierbaren – destruktiven und/oder selbstdestruktiven – Gewaltausbruch Bens, ohne ihn am Ende einzulösen. Stattdessen inszeniert der Film die wirkliche Emanzipation seines Protagonisten.

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Diese Selbstwerdung erfolgt wiederum nicht innerhalb der sozialen Welt, sondern über das Bild: Ben muss seine Modi der Verknüpfung gegen die dominante und dominierende Sprache seiner Umwelt durchsetzen. Das Bild der Erniedrigung vereint Rahmung und Begrenzung, es sperrt das Subjekt Ben in eine bestimmte Vorstellung der Person Ben ein. Und Ben muss sich als Bild buchstäblich auslöschen, um diesem Bildgefängnis entkommen zu können. Der Plan ist einfach: Ben inszeniert seinen eigenen Selbstmord, stellt die Kamera auf das Deck eines Schiffes und gibt vor, ins Wasser zu springen. Bei der Trauerfeier in der Kirche kehrt er als Untoter und wiederum als Bild zurück – auf einer Leinwand hinter dem Altar ist ein von ihm montierter Film zu sehen, in dem auch die Bilder seiner Demütigung gezeigt werden. In seiner Selbstinszenierung rückt er sich als Talking-Head zunächst vor die ikonographische Gestalt seines Avatars in Archlord. Seine Sprache kann er nur als Bild XQG EHU GDV 0HGLDOH ¿QGHQ ± XQG HQWpuppt sich dabei als Bruder im Geiste von Archibald Holden Williams in MY SUICIDE und Bastian Bosse. In BEN X zielt die narrative Linie auf eine Geste der sympathischen Rache. Im Sinne einer konventionellen Verteilung von Gut und Böse werden die Peiniger bestraft, indem ihr Bild neu gerahmt, im sozialen Bildgefüge der öffentlichen Trauerfeier neu kontextualisiert und damit moralisch umgedeutet wird. Die Regeln zwischen einer normierten Relation von poesis und aisthesis werden über die endlosen Großaufnahmen der tränenüberströmten *HVLFKWHUGHUÃJXWHQµ0HQVFKHQ]XP$XVdruck gebracht. Aber jenseits dieser konventionellen Muster narrativer Ökonomie eröffnet BEN X in der Schlussszene ein BEN X Modell der realisierten Subjektwerdung, das den sozialen genau wie den medialen Raum betrifft und beide zum Kommunizieren bringt. Denn zu sich selbst kommt die Figur Ben nur als Bild und Innerlichkeit ist nichts anderes als die Montageform äußerer Bilder. Der Übertritt vom Bildraum in den Innenraum der Kirche erfolgt in Stufen: vom reinen Bild zum entkörperten Schatten

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auf dem Bild – Ben stellt sich auf der Empore in das Licht des Beamers – zum sozialen Bild – die Kamera zeigt die Gestalt Bens vor dem Lichtstrahl des Beamers, was VHLQHP$XIWULWWHWZDVGXUFKXQGGXUFK$UWL¿]LHOOHVYHUOHLKWLKQ]XHLQHUWDWVlFKOLFKHQ Erscheinung macht – hin zum Einklag von Figurenbild und Handlungsraum – Ben durchschreitet im Kirchenschiff den Weg zum Altar an den Besucherreihen vorbei. %HQVÃ$EVFKLHGVYLGHRµJHULHUWVLFKDOVJHQXLQSROLWLVFKHU$NW'LH%LOGHULQWHUYHnieren in eine bestimmte sichtbar gemachte und damit im Sozialgefüge verankerte Hierarchie: Auf der einen Seite steht Ben im Video, das seine Demütigung im Klassenzimmer festhält, nackt und isoliert auf dem Tisch, ausgestellt wie ein Tier. Auf der anderen Seite höhnt die geifernde und schreiende Gemeinschaft seiner Klassenkameraden. Ben begehrt mit Hilfe des medial-künstlerischen Ausdrucks gegen seine Bestimmung als Ausgeschlossener und Verspotteter auf. Die Inszenierung seines Selbstmordes gerinnt in der vermeintlichen Illusionshaftigkeit der Bilder zum dissensuellen Eingriff in eine sehr reale Ordnung, die Ben aus dem Kreis der Klasse ausschließt. Dabei sind Kunst und Politik gleichwertig GHQQEHLGHVLQGDQGHQ6FKHLQJHEXQGHQDQGHVVHQ0DFKWGDVÃ*HJHEHQHµGHU:LUNOLFKNHLWXQGVRJDUGHQ%H]XJ]ZLVFKHQ6FKHLQXQG:LUNOLFKNHLWQHX]XNRQ¿JXULHUHQ In diesem Sinne haben Kunst und Politik gemeinsam, dass sie Fiktionen produzieren, was nicht bedeutet, erfundene Geschichten zu erzählen. Fiktion bedeutet vielmehr, einen neuen Bezug zwischen Schein und Wirklichkeit, zwischen Sichtbarem und seiner Bedeutung, Einzelnem und Gemeinsamen zu stiften.142

Dies bedeutet Rancières Formel von den Zeichen, die unter uns sind. Die Bilder eröffnen Ben eine Welt, eine Welt, in der er leben und atmen kann. In der Kirche ist seine Stimme als Voice-Over zu hören: „Kreativ sterben, nannte sie [Scarlite] es. Selbstmord ohne Mord. […] Ich habe alles lernen müssen. Aber das wichtigste hab ich vergessen zu lernen: zu lügen. Zu betrügen.“ Die Strahlkraft der Lüge, die in den Bildern geborgen liegt, berechnet den Wahrheitswert der Aussage für die Konstitution des Sozialen. Das Band des Sozialen konstituiert sich über die Montage der Bilder. Die Fiktion beansprucht ihre Deutungshoheit im Hinblick auf den sozialen Raum und setzt sich schließlich durch: Kunst stellt Fiktionen oder Dissense her, indem sie jene Formen für sich beansprucht, die den gemeinsamen sinnlichen Raum aufteilen und die die Bezüge zwischen dem Aktiven und dem Passiven, dem Einzelnen und Gemeinsamen, Schein und Wirklichkeit, also die Zeit-Räume des Theaters, des Films, des Museums oder der gelesenen Seite, neu anordnen. Sie stellt damit Formen der Neugestaltung von Erfahrung her.143

142 | Rancière (2006c), S. 88f 143 | Rancière (2006c), S. 89

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Ben bekommt sein Leben, seine soziale Stellung über den medial vermittelten und von der Alltagswahrnehmung seiner Mitmenschen abgetrennten bildnerischen Raum des Rollenspiels in den Griff. Erst die mediale Welt erlaubt ihm den Zugriff auf die sozialmaterielle Welt.

Die mediale Möblier ung des sozialen Raums: Ego-Shooter Mit BEN X ist eines der zentralen Erklärungsmodelle im Themenkomplex school shooting aufgerufen: Die Schuldzuweisungen an die virtuellen Welten von Videospielen. 'LHVH'LVNXVVLRQÀDPPWQDFKMHGHPQHXHQ)DOOHUQHXWDXIJUXSSLHUWVLFKYRUDOOHP um Ego-Shooter oder First-Person-Shooter, in denen der jeweilige Spieler direkt in der %OLFNDFKVHVHLQHU6SLHO¿JXUGLHVHOEVWQLFKW]XVHKHQLVWYHURUWHWLVW'LH5HNRQVWUXNtion der Debatte um die Schuldhaftigkeit der Spiele ist müßig. Die eine Seite beschreibt darin eine neue, realisierte utopische Form der Vergemeinschaftung, die andere Seite gründet ein Aktionsbündnis und verbrennt die Spiele öffentlich.144 Im Bereich der school shootings]LHKWVLFKGLH'LVNXVVLRQXPGHQ(LQÀXVVYRQ&RPSXWHUVSLHOHQYRQ Columbine bis Winnenden so zäh wie der ewige Streit über die Verfügbarkeit von Waffen. Der Gewinnsteigerungsmaxime einer explosionsartig wachsenden Industrie mit entsprechender Lobbyarbeit scheinen handlungsunfähige Politiker gegenüberzustehen, die dem globalen Markt neoliberaler Prägung ohnmächtig ausgeliefert sind.145 Was die Debatte notwendigerweise zum Erliegen bringt, ist schließlich ein ums andere Mal die dichotome Gegenüberstellung zweier sich ausschließender Alternativen: Ego-Shooter-Spiele sind entweder verantwortlich oder sie sind es nicht. Vergleicht man die entsprechenden Dokumente zu und Selbstaussagen von school shootern, so kann man eine Relevanz der Spiele in Verbindung mit den Taten nicht abstreiten. Bastian Bosse kreierte Maps des Spiels Counterstrike, die dem späteren Tatort, der Geschwister-Scholl-Schule in Emsdetten nachempfunden sind. Lange vor seiner Tat durchreist er also den sozialen Raum als animierte Welt schon in der Perspektive des Schützen. Eric Harris schreibt in sein Tagebuch: „Doom ist so in mein Hirn eingebrannt, dass meine Gedanken fast immer mit dem Spiel zu tun haben. […] Und wenn jemand sagt: Ã'DVLVWGRFKQXUHLQ6SLHOµDQWZRUWHLFKÃ1DXQG"³146 Doom ist für ihn viel mehr als nur ein Spiel, er äußert den Wunsch: „I wish I lived in Doom“. Die Welt der Fantasien, auch und vor allem der gewalttätigen Fantasien drehen sich um und entzünden sich an den Bildern und Erlebensweisen in der animierten Welt.

144 | Nach dem school shooting in Winnenden hat sich ein Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden zusammengeschlossen. Eine der Aktionen bestand in der öffentlichen 9HUEUHQQXQJ YRQ Ã.LOOHUVSLHOHQµ 9JO R9   'DJHJHQ VHKHQ &RQVWDQ]H %DXVFK und Benjamin Jörissen in Action-Computerspielen und dem Spiel sozialer Akteure im Kontext von Lan-Partys die Verwirklichung von Gemeinschaft. Vgl. Bausch/Jörissen (2006), S. 359. 145 | Vgl. Deggerich et al. (2002), S. 38f und Beier et al. (2002), S. 218ff 146 | Harris, zitiert nach Gaertner (2009), S. 30

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Auf der zweiten Abbildung links manifestiert sich diese Nähe zwischen dem Spiel Doom und dem Massaker in der räumlichen Anordnung der Skizzen auf einer Seite in Eric Harris’ Journal: Die Skizzen der ausfantasierten Gewalt in der Mitte des Blattes stehen über einem Entwurf für ein noch zu animierendes Monster für Doom. Fleißig programmiert der spätere school shooter – wie auch sein Nachfolger Bosse – Maps des Spiels. Dabei geht es um bestimmte Figurationen des Erlebens und Muster des Wahrnehmens, wie sie Michael Althen beschreibt: Wer einen Abend lang Schach gespielt hat, kennt womöglich das Gefühl: Man geht zu Bett und stellt beim Einschlafen fest, daß man die Schachregeln auf die dahineilenden Gedanken und Bilder anwendet und das Personal des fortdämmernden BewußtVHLQV ZLH 6SLHO¿JXUHQ EHKDQGHOW 'DV *Hhirn scheint jenen Mustern zu folgen, auf die es sich die letzten Stunden konzentriert hat.

Seiten aus Eric Harris’ Journal

(VLVWHLQHÀXLGH:HOWGHUEHVWlQGLJHQ7UDQVIRUPDWLRQXQGGHV:HUGHQVVXEVWDQWLHOO verschlungen mit den Träumen und Imaginationen des Schülers Eric Harris: DOOM ist ein Ventil für meine Gedanken und Träume. Ich habe es geschafft, alles Mögliche in diesem Spiel neu zu entwerfen, die Schnelligkeit der Waffen, die Stärke und 0DVVHGHU0RQVWHUGLH2EHUÀlFKHQXQG)DUEHQGHU%|GHQXQG:lQGHXQG±GDVLVWGDV Größte – die ganze Szenerie, in der es spielt.“148

In Feedback-Schleifen entgrenzen sich die sozialen Wahrnehmungen in den virtuellen Raum, wie der virtuelle Raum sich in den sozialen Raum entgrenzt, die kategoriale Trennung zwischen Passivität und Aktivität, Sehen und Handeln, ist aufgehoben. Für Rancière ist dies die „normale Situation. Wir lernen und wir lehren, wir handeln und wir wissen auch als Zuschauer, die in jedem Augenblick das, was sie sehen, mit dem verbinden, was sie gesehen und gesagt, gemacht und geträumt haben. Es gibt überall 147 | Althen (2002), S. 43 148 | Harris, zitiert nach Gaertner (2009), S. 24



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Ausgangspunkte, Kreuzungen und Knoten.“149 Die eigenkonstruierten Maps sind ein =XJDQJ ]XU 6XEMHNWLYLWlW LKUHV$UFKLWHNWHQ GHU *DQJ GHU 6SLHO¿JXU HLQ :HJ GXUFK den Kopf des Schöpfers der virtuellen Welt: „Viele der Schauplätze und Geheimnisse kommen direkt aus meiner Fantasie. Ihr lauft also sozusagen in meiner eigenen Welt herum.“150 Veranschaulichen lässt sich die mediale Konstitution des sozialen Raums an den Ego-Shooter-Games, die in ihrem spielerischen Vollzug den Raum der gemeinsamen Angelegenheiten kollektiv-prozessual und performativ herstellen. Sie realisieren dies in verschiedenen Figurationen des Wirklichen, in unterschiedlichen Intensitäten des sozialen Austauschs. Ego-Shooter können Sozialität im Bild der zusammengeschlossenen Computer während einer Lan-Party verwirklichen, wo die einzelnen Spieler körperlich im gleichen Raum anwesend sind, oder virtuell über Netzwerke und das Spielen im Internet, wo jeder Spieler räumlich isoliert Teil des Gemeinsamen wird. Constanze Bausch und Benjamin Jörissen gehen in ihren Überlegungen zur sozialen Dimension von „Action-Computerspielen“ diesen Bildern nach, die die Sozialität im Kontext von Ego-Shootern ausbilden: „Der Charakter des permanenten Hergestelltwerdens ist ihnen nicht nur technisch-abstrakt inhärent, sondern konkret sichtbar und manifest. Denn das Spiel, das sich primär in Bildsequenzen manifestiert, ist in jedem Augenblick abhängig von den Handlungen der Spielenden.“151 Jeder einzelne Spieler sitzt vor seinem eigenen Bildschirm, ob im selben Raum während der Lan-Party oder räumlich getrennt, vernetzt über das Internet. Aber in beiden Fällen wird der gemeinsame Raum – der Raum der gemeinsamen Angelegenheiten – erst als Summe der unWHUVFKLHGOLFKHQ%OLFNSHUVSHNWLYHQNRQVWLWXLHUW'LH6SLHOHUEH¿QGHQVLFKDOOHDXIRGHU in der gleichen Map, die selbst aber nichts ist als das Amalgam ihrer Blicke und der Bewegungen und Handlungen ihrer Avatare: „Hinter der Flächigkeit der Monitorbilder wird eine in ihren Bedeutungen sozial bestimmte Bilderwelt geschaffen, die als zentrales Verbindungsmoment der Spieler-Gemeinschaft, als ihr genuiner Existenzraum, fungiert.“152 Die sich dominant daraus entfaltende Sozialität ist – den Untersuchungen von Bausch und Jörissen folgend – das Teamplay. Denn „koordiniertes Teamplay, gemeinsame Strategie und ein entsprechend diszipliniertes Handeln der einzelnen Mitspieler […] bestimmen den Spielverlauf.“153 Statt einer individuellen Programmierung zu Töten erscheint hier die Realisation einer utopischen Gemeinschaftlichkeit über das Medium des Computers auf.154 Die Gamer verwehren sich vehement gegen die Verbindungen zwischen den Spielen und den school shootings, es gibt T-Shirts, auf denen dieser diskursiv geknüpfte monokausale Zusammenhang ironisch kommentiert wird. 149 | Rancière (2009), S. 28 150 | Harris, zitiert nach Gaertner (2009), S. 26 151 | Bausch/Jörissen (2006), S. 346 152 | Bausch/Jörissen (2006), S. 359 153 | Bausch/Jörissen (2006), S. 356 154_9JO%DXVFK-|ULVVHQ  6

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Und dennoch: Fakt ist, dass eine überwiegende Mehrheit der school shooter Ego-Shooter vor ihren Taten gespielt hat. Allerdings bleiben auch hier die vermittelten Wahrnehmungs- und Erlebensweisen kontingent, bezogen und abhängig vom Erfahrungs- und Intentionshorizont des einzelnen Spielers, denn mit den animierten Bildkompositionen des Ego-Shooters ist nur eine weitere, mögliche Erfahrungsweise von Welt benannt. Im Sinne des Paradoxes der Kunst ist auch für die Games – von Counterstrike bis Doom – ein ästhetischer Abstand zur alltäglichen sozialen Welt konstitutiv. Ego-Shooter sind in dieser Perspektive eine weitere Semantik, mit der die Welt überzogen werden kann und die in LKUHU )LNWLRQDOLWlW XQG $UWL¿]LDOLWlW JHQDXVR relevant ist für den Raum der gemeinsamen Angelegenheiten wie alle anderen Zeichencluster auch. Deshalb lassen sich die Maps auch auf das Ereignis school shooting als konstitutives Element der Vermessung des sozialen Raums beziehen. „Der Umgang mit der bildlichen Darstellung von Tötungshandlungen erweist sich […] als hochgradig rationalisiert und entemotionalisiert, sie folgt durchaus einer Logik des Krieges“, schreiben Ein T-Shirt als ironischer Kommentar auf den medial zugeschriebenen monokausalen Constanze Bausch und Benjamin Jörissen Zusammenhang von Ego-Shootern und school shootings. über die Erfahrung der Spieler.155 Es sind Bilder eines entfesselten Krieges – zunächst eingesperrt in die Fläche eines Bildschirms –, die eine militärische Logik herstellen, die in analoger Weise in den Dokumenten von school shootern auftaucht. In seinem Attack Information-Dokument, das Pekka-Eric Auvinen vor seinem Amoklauf im Internet veröffentlicht, lässt sich diese Logik, wie sie sich über die Bilder eines animierten kriegerischen Geschehens vermittelt, durchaus ablesen. Der Amokläufer setzt die Informationen stramm hintereinander: „Event: Jokela High School Massacre. / Targets: Jokelan Lukio (High School Of Jokela), students and faculty, society, humanity, human race. / Date:Attack Type: Mass murder, political terrorism (altough I choosed the school as target, my motives for the attack are political DQG PXFK PXFK GHHSHU DQG WKHUHIRUH , GRQ¶W ZDQW WKLV WR EH FDOOHG RQO\ DV ÃVFKRRO shooting‘). / Location: Jokela, Tuusula, Finland. / Perpetrator’s name: Pekka-Eric 155_9JO%DXVFK-|ULVVHQ  6

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Auvinen (aka NaturalSelector89, Natural Selector, Sturmgeist89 and Sturmgeist). I also use pseydonym Eric von Auffoin internationally. / Weapons: Semi-automatic .22 Sig Sauer Mosquito pistol“. Die Ankündigung Auvinens liest sich wie die Auswahlmaske einer Map zu Beginn eines entsprechenden Videospiels. Der spätere school shooter gibt seine Pseudonyme gleich mit an, die Übertretung der Grenze zwischen Ã3HUVRQµXQGÃ3HUVRQDHµLVWLQGHU1HEHQHLQDQGHUVWHOOXQJVFKULIWOLFKDQJHOHJW Diese Konvergenzen von Fiktion und sozialer Wirklichkeit werden in BEN X facettenreich aufgefächert. Wo die Sprache sich immer nur an Hilfskonstruktionen wie ÃhEHUEOHQGXQJµ ÃhEHUVFKQHLGXQJµ RGHU ÃhEHUVFKDWWXQJµ DEDUEHLWHQ NDQQ UHDOLVLHUW der Film sinnlich-anschaulich verschiedene Aggregatszustände und Intensitäten dieser Verschränkungen und Faltungen. Wie die Figur Ben Archlord spielt, spielt Eric Harris Doom XQG HV ZlUH QDLY DQ]XQHKPHQ GDVV GLHV NHLQHQ (LQÀXVV DXI VHLQH:DKUQHKmung hätte. Der school shooter sieht mit den medialen Bildern auf die Welt, aber das eine überlagert das andere nicht vollständig. Es ist ein subjektiviertes und subjektives Sehen, eine Überblendung: „Wenn ich auf dem Boden des Schwimmbeckens durch das :DVVHUKLQGXUFKGLH)OLHVHQVHKHVHKHLFKVLHQLFKWWURW]GHV:DVVHUVXQGGHU5HÀH[H ich sehe sie eben durch jene hindurch, vermittels ihrer.“156 Eric Harris schreibt am 3. $SULO  7DJH YRU VHLQHP$PRNODXI LQ /LWWOHWRQ LQ VHLQ -RXUQDO Ä$OOHV ZDV ich sehe und höre, baue ich irgendwie in NBK ein. Seien es Bomben, Uhren, Waffen, Napalm, Menschen töten, alles bezieht sich darauf.“ Reales und Imaginäres liegen auf der gleichen Ebene, wie es in den Bildern von BEN X in immer neuen Varianten inszeniert wird.

156 | Merleau-Ponty (2003), S. 305 157 | Harris, zitiert nach Gaertner (2009), S. 149

VIII. Eine kurze Geschichte der Korrelation – ௘)LOPJHVFKLFKWHXQGGLH*HVFKLFKWHGHU ௘school shootings

BILDÖKONOMIEN Bilder und Narrative: ein historischer Wert Mit der Kopplung von Inszenierung und Selbstinszenierung ist implizit eine weitere Figur der Korrelation aufgerufen: diejenige zwischen der Geschichte medialer Bilder und Narrative und der Geschichte der school shootings. Vorbild kann nur werden, was zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt verfügbar ist. Ohne NATURAL BORN KILLERS hätte das Massaker in Littleton eine andere Verlaufsform genommen, hätten die Gedanken und Imaginationen der Täter eine andere Form gefunden. Aus medienwissenschaftlicher Perspektive stellt sich so die Frage nach der konkreten Ausgestaltung der destruktiven Energien von Amokläufern in ihrer historischen Entfaltung, denn die Inhalte variieren auf diachroner Ebene. Ernst August Wagner entwickelt seine Amokpersonae entlang von Friedrich Schillers Die Räuber, Michael Carneal beruft sich auf THE BASKETBALL DIARIES.1 Es zeigt sich, dass die Selbstinszenierung und die Inszenierung der Taten an die Bild- und Narrationspraxen derjenigen historischen Gesellschaftsformationen gebunden sind, in denen das Ereignis Amok bzw. school shooting auftritt. Die Verfügbarkeit bestimmter Imagos ist keine anthropologische Konstante, sondern die Bilder sind Produkte historischer Entwicklungen und Verschiebungen. Neben einem soziokulturellen Hintergrund gibt es einen medialen Hintergrund von Amok, der sich aus den virulenten – jeweils zeitgenössischen ±%LOGHUQXQG1DUUDWLYHQJHQHULHUW6SH]L¿VFKH*HVHOOVFKDIWVIRUPDWLRQHQEULQJHQHQWsprechende Bildökonomien hervor, denn Gesellschaft wird im medialen Raum selbst

1 | Ernst Wagner liest Die Räuber mit „größte[m] Genuß“ und Bernd Neuzner und Horst Brandstätter merken an: „Tatsächlich ist Wagners Vorgehen in der Nacht von Mühlhausen wie den Räubern abgeschaut.“ Neuzner/Brandstätter (1996), S. 125

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noch in erster Linie über die Inklusion und Exklusion von Bildern und Narrativen hervorgebracht.2 Die verfügbaren legitimen und illegitimen Bilder und Narrative bilden in ihrer Summe einen sich historisch erweiternden und ausdifferenzierenden Medienmarkt, auf dem die entsprechenden Muster des Verstehens und Erlebens von Welt verfügbar sind. Die künstlerischen Interventionen in die Aufteilung des Sinnlichen sind gekoppelt an diese Entfaltung medialer Felder vom Buchdruck bis zum Internet. Die Wahl der Vorbilder durch school shooter ist nicht beliebig und die Werke durch historische und kulWXUHOOH(LQÀVVHEHGLQJW(LQ)LOPZLHNATURAL BORN KILLERS ist nicht zu jeder Zeit denkbar und machbar, er steht in der Tradition bestimmter Bildpraxen, die das populäre amerikanische Kino in seiner diachronen Entfaltung hervorbringt. Wenn Bastian Bosse VLFKYRUVHLQHP$PRNODXIDOVGLH¿NWLYH)LJXUGHVVWXPPHQ.LOOHUV0LFKDHO0\HUVDXV John Carpenters HALLOWEEN 86$ VHOEVWLQV]HQLHUWVRLVWGHUVSlWHUHschool shooter zunächst abhängig von der bildlichen Existenz seines Vorbildes. Die Figur 0LFKDHO0\HUVZLUGMHGRFKHUVWGXUFKVSH]L¿VFKH.RQVWHOODWLRQHQDOV%LOGUHDOLVLHUEDU 'DEHLVSLHOHQVRZRKOVR]LDOHDOVDXFKLQQHU¿OPLVFKH3UR]HVVHHLQHHQWVFKHLGHQGH5ROle, um neue Sichtbarkeitsverhältnisse zu ermöglichen.

Das Bild Whitmans und die Aufteilung des Sichtbaren Die diachrone Entwicklung der verfügbaren medialen Bilder und Narrative und die Geschichte der school shootings ist dabei nicht als einseitiges Bedingungsverhältnis zu sehen, sondern als Korrelationsbeziehung. Die Frage des Ursprungs lässt sich auch KLHUQLFKWEHDQWZRUWHQGLH¿NWLRQDOHXQGVR]LDOH9HUPHVVXQJGHVJHVHOOVFKDIWOLFKHQ Raums gehen Hand in Hand, ohne dass die eine Seite der anderen vorgängig wäre. Es JLEWQLFKW]XHUVWGDV¿NWLRQDOH%LOGGHVschool shooters und dann seine Verlängerung im sozialen Handlungsraum – oder vice versa –, das konkrete Bild des school shooters, wie es sich seit den 1960er Jahren ausdifferenziert, ist eine Verknüpfung verschiedenster diskursiver Stränge, die mit der Liveübertragung des campus shootings von Charles Whitman am 1. August 1966 eine prägnante Verdichtung erfahren. Der Texas-Sniper ist eingebettet in den Kontext verschiedenster medialer und sozialer Verschiebungen seiner Zeit. Gleichzeitig rückt mit der Liveübertragung seiner Taten eine bestimmte – und bisher unbekannte – Form und Qualität der Gewalt unmittelbar und sinnlichanschaulich in die mediale öffentliche Wahrnehmung. Damit verändert das Bild Whitmans die Bildökonomie der 1960er Jahre und das noch zu benennende Ereignis school shooting greift direkt in die zeitgenössische Aufteilung des Sinnlichen ein, weil diese an Sichtbarkeitsregime geknüpft ist. School shootings werden als Teil eines Erlebens-,

2 | School shootings sind in diesem Kontext ein paradigmatisches Beispiel, greifen die Schützen doch die Gesellschaft als Ganzes an und die diskursive Verhandlung jeder einzelnen Tat nimmt diese Idee eines Ganzen auf und konstruiert über den Ausschluss des school shooters die Gesellschaft als verbindenden und verbindlichen Organismus in der Inszenierung der Trauergemeinschaft.

E INE

KURZE

G ESCHICHTE

DER

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Wahrnehmungs- und Verstehenshorizontes ins Leben gehoben, der über die mediale Verbreitung der Bilder und Berichte die Gesellschaft als Ganzes betrifft. Mit Whitman setzt ein Tauschhandel der Bilder zwischen dem Sozialen und dem Medialen ein und wenn es auch keine Notwendigkeit ist, dass der Regisseur Peter Bogdanovich nur zwei Jahre nach den tödlichen Schüssen das Ereignis in seinem Spiel¿OPTARGETS (USA 1968) aufgreift, so ist es dennoch keine Zufälligkeit. So wie die journalistischen Livebilder vom 1. August 1966 ein bestimmtes Ereignis anhand von *HVWHQGHV=HLJHQVXQG)LNWLRQDOLVLHUHQVLQ6]HQHVHW]HQVRUHÀHNWLHUWXQGLQV]HQLHUW Bogdanovich die Vorfälle in Austin und spinnt so die Geschichte der school shootings im medialen Raum fort. Mit seiner Diskursivierung rückt Whitman als Gegenstand von divergenten Bildräumen und damit als Wahrnehmungshorizont, als Gegenstand der Kunst, an dem VLFK)RUPHQGHV(PS¿QGHQV(UOHEHQVXQG'HQNHQVHQWIDOWHQN|QQHQLQGDV%HZXVVWsein einer historischen Gesellschaftsformation. Zugleich wird jenes Bild eingefroren, abrufbar für folgende Generationen. Als mediales Produkt spricht es von einer dissensuellen Aufteilung des Sinnlichen zum beliebigen Individuum. Im Sinne des Paradoxes der Kunst bleibt es bezogen auf einen gemeinschaftlich geteilten Horizont des Verstehens, denn die Geschichte des Films stellt sich als ein Feld medialer Möglichkeiten GHU(UIDKUXQJYRQ5HDOLWlWYRUÄGDVJHQDXVRZHLWGH¿QLHUWXQGHUVFKORVVHQLVWZLHHV Filme gibt, die diese Möglichkeiten behauptet, entdeckt und verwirklicht haben.“3 So ermöglicht die Verortung medialer Bilder innerhalb der Aufteilung des Sinnlichen den Zugriff auf das Verhältnis zwischen den Qualitäten des Bildraums und den Arten der Gewalt, die sich im sozialen Raum manifestieren. Denn auch wenn das Verhältnis von Reiz und Schwelle […] individuell unterschiedlich [ist], so bestehen im Zusammenspiel von medialer Repräsentation und öffentlichem Diskurs doch soziale Konsensregeln der Darstellung von körperlicher Gewalt. Mit diesen Regeln sind Vorstellungen und Bewertungen über die Legitimität von Gewalt und ihren Formen verbunden. Was an körperlicher Gewalt als zulässig gilt, wird in der westlichen Welt in hohem Maße optisch gesteuert.4

So zeigt sich, dass auch im Bildraum, den school shootings in ihrer diachronen Entfaltung als Summe der verfügbaren Bilder von Inszenierung und Selbstinszenierung hervorbringen, keine Beliebigkeit herrscht, weder in der Wahl der Waffen noch in der konkreten Umsetzung der Taten. Die Ereignishaftigkeit unterliegt gewissen Regeln der Inklusion und Exklusion, auch wenn in der schockhaften Erfahrung der Eindruck eines anything goes entsteht, halten sich school shooter streng an das Repertoire an Gesten und Aktionen, die die Ereignishaftigkeit in ihrer medialen Inszenierung tradiert.5 3 | Kappelhoff (2008), S. 15 4 | Knoch (2006), S. 200 5 | Von einer immer stärker werdenden Brutalisierung der Bilder zu sprechen, ist längt Allgemeingut. Dennoch gibt es unausgesprochene Restriktionen in der Darstellungs-

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Die zunächst theoretische Figur der Aufteilung des Sinnlichen gewinnt eine offen pragmatische Dimension und es ist nach den Inhalten und Inszenierungsweisen konkreter Einzelwerke zu fragen, vermessen sie doch den sinnlich erfassbaren Raum auf je unterschiedliche Weise und erweitern so beständig das Feld des Sicht- und des Sagbaren. In seiner Geschichte durchläuft das Medium Film – an dem ich meine folgenden Ausführungen dominant entfalten werde – diverse bildökonomische Perioden.6 Die Regularien der Kodes des Sichtbaren verändern sich, werden verändert, die Seite aus dem Tagebuch von Gebote und Verbote betreffend der Gegenstände Eric Harris und Situationen, die zu sehen sein dürfen, öffnen und schließen sich. Innerhalb des durch Inklusion und Exklusion gerasterten Feld des Sichtbaren gehen Film und school shooter fatale Bündnisse ein, die die Ebene der Inszenierung des jugendlichen Amokläufers im Kino genauso wie die Ebene der Selbstinszenierungen der Täter betrifft. Die Regime des Sichtbaren und des Sagbaren, des Möglichen und Wahrscheinlichen verschieben sich im medialen Haushalt und school shooter schließen an diese Transformationen an. Was Charles Whitman nicht zu benennen vermag, die Leerstelle innerhalb seiner Handlungslogik und seines Denkens, füllen Eric Harris und Dylan Klebold mit der Formel „going NBK“ auf.

weise. „So vermeiden die Serial-Killer-Filme des Mainstream-Kinos außer der Inszenierung von Nekrophilie auch die Darstellung von Kannibalismus, extremen Verstümmelungen und Fäkalien – obwohl all dies in den Biographien der realen Serienmörder eine Rolle spielt.“ Kaufmann (1998), S. 195. Die Argumentation Annette Kaufmanns ist tendenziell richtig, auch wenn es offensichtliche Ausnahmen gibt, etwa das THE SILENCE OF THE LAMBS-Sequel H ANNIBAL (Ridley Scott, USA 2001), in dem ein menschliches Gehirn verspeist wird. 6 | Dieser historische Rückblick kann im Rahmen dieser Arbeit selbst im Hinblick auf den Film nur schlaglichtartig geleistet werden. Abseits des Films entfaltet sich natürlich mit dem Fernsehen, dem Video und später mit dem Internet ein audiovisueller Raum, der kaum mehr zu vermessen ist und auf synchroner Ebene (fast) jedes gewünschte Bild verfügbar macht. Was für den Film noch historisch zu datieren ist, wird im Hinblick auf das Internet obsolet. Im weltweiten Netz gibt es keine regulative Instanz, die das Wuchern der Bilder in irgendeiner Form kontrollieren könnte. Die Inhalte und die Formen stehen jederzeit auf Knopfdruck zur Verfügung. Um überhaupt eine Entwicklung in der Bildökonomie sichtbar machen zu können, beziehe ich mich dominant auf den Film, weil die Bildökonomie des 20. Jahrhunderts zum einen stark an dieses Medium gekoppelt und zum anderen die Anzahl der für meine Analyse relevanten Werke überschaubar ist. Dabei erhebt diese Untersuchung aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

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So stellt sich im Kontext der Aufteilung des Sinnlichen die Frage nach den speziellen Praktiken bestimmter historischer Gesellschaftsformationen in Bezug auf die Legitimität ihrer Narrative und Bilder. Blickt man auf die KontrollmechaQLVPHQ PLW GHQHQ GHU RI¿]LHOOH PHGLDOH 'LVNXUV strukturiert wurde und wird, so ist das aktiv gestaltende Potential künstlerischer Produktion zu jeder =HLWPLWVSH]L¿VFKHQ±LPSOL]LWHQRGHUH[SOL]LWHQ – Zensurmaßnahmen, die der polizeilichen Ordnung zuzurechnen sind, konfrontiert. Der Film ist damit immer abhängig von Praktiken, die außerhalb seiner selbst liegen, seine Geschichte ist auch Seite aus dem Tagebuch von geknüpft an diverse industrielle und juristische Dylan Klebold Entscheidungen. In Bezug auf das populäre Unterhaltungskino westlicher Prägung, das im 20. Jahrhundert von Hollywood dominiert wurde, gibt es einen historischen Umbruch in den Regeln der Darstellung, der das westliche Bildrepertoire bis heute formt: Gemeint ist der Fall des Production Code, der die Grenzen von Inklusion und Exklusion in Hollywood seit 1934 hinweg geregelt hatte. Auf der diachronen Achse korreliert dieser Umbruch mit der sich formierenden Geschichte der school shootings.

Bilder eines entgrenzten Krieges Das Bild des modernen Amoklaufs und die Geschichte der school shootings verdichten sich am 1. August 1966, als sich Charles Whitman auf dem Turm der University of Texas verschanzt und wahllos auf Passanten schießt. Gleichzeitig mit dem eigentlichen Ereignis entsteht das mediale Bild Whitmans und seine Taten werden via Radio und Fernsehen in die ganze Welt gesendet. Was Whitman zum Ahnvater der Geschichte der school shootings im 20. und 21. Jahrhundert macht, ist diese simultane Produktion von medialer und sozialer Wirklichkeit. :KLWPDQLVWHLQHUGHU0|UGHUGHUHU-DKUHGLHGHQRI¿]LHOOHQ%LOGHUEHWULHE entscheidend verändern und damit erst für die Ausweitung bestimmter Phänomene via Copy-Cat sorgen. Die Art der Berichterstattung zu Whitman greift entscheidend ein in die Ordnung der legitimen und illegitimen Bilder, des Sichtbaren und des Ausgesparten. Wie der damals live berichtende Nachrichtensprecher Neal Spelce später zu ProtoNROOJDEÄ:HDUHQRWQRUPDOO\DEORRGDQGJXWVRSHUDWLRQ>«@,WZDVWKH¿UVWWLPHLQ

7 | Eines von vielen Beispielen wären die restriktiven Darstellungsformen während des Zweiten Weltkrieges in Amerika: „At no time was this apparatus, or its efforts at inclusion and exclusion, more active than during the Second World War, when an alliance between Washington, Hollywood, and American audiences carefully regulated how the horrors of war were represented.“, Slocum (2001), S. 6

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years we have shown a close-up of a dead body.“8 Das Bild des Verbrechers wird zum Faszinosum und durchwandert in Endlosschleifen die medialen Kanäle. 1999 verklären sich Eric Harris und Dylan Klebold schon vor ihren Taten und ihUHP7RG]X,NRQHQVSHNXOLHUHQZHUVLHLQHLQHU9HU¿OPXQJGHV&ROXPELQH0DVVDNHUV verkörpern wird. Es sind sehr bewusste und souveräne Techniken, die school shooter im Hinblick auf die mediale Öffentlichkeit entwickeln. Die Videomanifeste Bastian Bosses oder Seung-Hui Cho sind Bekenntnis und PR-Strategie gleichermaßen und werden von den Fernsehsendern dankbar ausgestrahlt. Damit offenbaren sich school shooter als Kinder ihrer Zeit. Sie sind Regisseur, Akteur und Gegenstand einer Bildökonomie, die sich seit den 1960er Jahren in eine bestimmte Richtung entwickelt hat. Die Gewalt wandert von den legitimen Orten in den alltäglichen Raum des Sozialen. Damit ist erneut eine Analogie zu den Frühformen des Amoks im asiatischen Raum aufgerufen, wo eine militärische Taktik in den sozialen Raum diffundiert. Im Amerika des 20. Jahrhunderts verschieben sich die Bilder des Krieges über den medialen Haushalt in die soziale WahrVietnam-Krieg 1965-73 nehmung. Oliver Stone verortet in einem Interview zu NATURAL BORN KILLERS den Beginn der Ausbreitung der Gewaltbilder in den alltäglichen, privaten und sozialen Raum mit dem Vietnamkrieg: „Vietnam, the media war, brought the virus into the living-room.“9 Neben der Kriegsberichterstattung ist der Virus der Gewalt und der Bilder, die er nach sich zieht auch im zeitgenössischen sozialen Raum zu beobachKent-State 1970 ten, wo er wiederum mediale Bilder der Gewalt hervorbringt. Ein Beispiel wären die Kent-State-ShootingsDOVGLHOhio National Guard bei einer Demonstration gegen die amerikanische Besetzung Kambodschas vier Studenten auf dem Campus der Kent State University erschoss.

8 | O.V. (1966a) 9 | Stone, zitiert nach Smith, Gavin (1994), S. 12. Ob dabei in den 1960er Jahren ein tatsächlicher Anstieg an Gewalthandlungen zu verzeichnen ist, spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Sicher ist, dass die Anzahl der medialen Gewaltbilder explodierte, was nicht zuletzt mit der zunehmenden Vermessung des Sozialen durch die (audio-) visuellen Massenmedien zusammenhängt. Wie Marilyn Manson nach Columbine lapidar anmerkte: „Times have not become more violent. They have just become more televised.“ Manson (1999)

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New Hollywood: Neukonf iguration des Sicht- und des Sagbaren Die Geschichte der Kunst – und damit diejenige des Films – lässt sich nur in Ungleichzeitigkeiten schreiben. Wenn Rancière den Kinematographen als das Medium beschreibt, das das Potential birgt, die romantischen Programmatiken und das ästhetische Regime der Künste zu einer Vollendung zu führen, so ist diese Möglichkeit nicht notwendigerweise und in jedem Werk realisiert. Im Gegenteil, was sich innerhalb des dominierenden Modus der Filmindustrie schnell herausbildet, ist das amerikanische Genresystem, das tendenziell eher einem repräsentativen Regime der Künste zuzurechnen ist.10 Mit den Genres werden entsprechende Affektökonomien eingerichtet, die ein geregeltes Verhältnis der Bewegung zwischen Werk und Zuschauer garantieren.11 Entsprechend formen sich Konventionen des schauspielerischen Emotionsausdrucks, stereotype Regeln der Inszenierung und Narration. Mit Rancière lässt sich der klassische Realismus Hollywoods als ein geregeltes Verhältnis zwischen einer poesis und einer aisthesis greifen. Die klassischen Filme gruppieren sich um spezielle – zwischen Machern und Rezipienten konventionalisierte – Arten der Erzählung, die nach diachron hervorgebrachten und stabilisierten Regularien von Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit funktionieren. So kann Maitland McDonagh das Musical A STAR IS BORN *HRUJH&XNRU XQGGHQVFKHLQEDUÃUHDOLVWLVFKHQµON THE WATERFRONT (Elia Kazan) – beide Filme entstanden 1954 in den USA – im gleichen System verorten, ohne dass sich aus den unterschiedlichen Thematiken ein Bruch ergibt: Beide [sind] Monumente der Künstlichkeit, sorgfältig konstruierte Gebäude ohne Riß XQG 0DNHO XQG GLH SHUIHNWH 9HUN|USHUXQJ GHV ¿OPLVFKHQ 0DLQVWUHDP,GHDOV +ROO\ZRRG¿OPH VWUHEHQ QDFK 1DKWORVLJNHLW QDFK HLQHU %HKHUUVFKXQJ GHU )LOPVSUDFKH GLH sich selbst und ihre technischen Hilfsmittel unsichtbar macht.12

In den 1960er Jahre vollzieht sich eine entscheidende Abkehr vom klassischen Studiosystem, eine Transformation und Modulation der herrschenden und vormals verbindlichen Bauprinzipien. Dieser Bruch mit den stabilisierten Techniken der Inszenierung ¿UPLHUWLQQHUKDOEGHU)LOPJHVFKLFKWHXQWHUGHP1DPHQ1HZ+ROO\ZRRG New Hollywood gilt gemeinhin als die Periode der größten künstlerischen Freiheit im amerikanischen Kino. Zentral bedeutsam für diese Revolution der Bildsprache 10 | Um es noch einmal deutlich zu machen: Es geht an dieser Stelle nicht um den Film an sich in allen Varianten, die das Medium in diachroner Perspektive hervorgebracht hat, sondern allein um eine theoretische Rahmung des populären Hollywood-Kinos. So erfüllt der Film der Neuen Sachlichkeit in der Weimarer Zeit – vor allem in den theoretischen Arbeiten Siegfried Kracauers – durchaus eine Poetik des ästhetischen Regimes der Künste. Vgl. Siegfried Kracauer Von Caligari zu Hitler – Eine psychologische Geschichte des deutschen Films Frankfurt am Main 1984 und Kappelhoff (2008), S. 59ff 11_1RsO&DUUROOHWZDGH¿QLHUWGHQ+RUURU¿OPEHUGLH(PRWLRQGHVÄDUWKRUURU³GLH das Genre im Zuschauer weckt. Carroll (1990), S. 15f 12 | McDonagh (1995), S. 94



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Hollywoods ist die einsetzende Korrosion des Production Codes, der bis in die 1960er Jahre als Selbstzensur Hollywoods das Feld des Sichtbaren ordnete und strukturierte. Nach dem Ende des Production Codes, der etwa Bilder offener Gewalt und Sexualität a priori aus dem Repertoire möglicher Bilder ausgrenzte, rückten die bisher marginaOLVLHUWHQ7KHPHQ XQG$XVGUXFNVP|JOLFKNHLWHQ LQ GDV =HQWUXP ¿OPLVFKHQ 6FKDIIHQV und die Phase zwischen der Mitte der 1960er Jahre und dem Beginn der 1980er Jahre bricht mit dem normierten klassischen Erzählen auf formaler wie inhaltlicher Ebene.13 Damit verbunden ist eine Neubewertung des Mediums Film als Mittel zur Intervention in den sozialen Raum: Der Reiz des marginalen Kinos [verdankt sich] immer auch seiner Ruppigkeit und Direktheit. Marginale Filme scheinen immer kurz davor zu stehen, die Kontrolle zu verlieren, sie krachen in den Nähten und legen den Prozeß des Filmemachens sowie das Rohmaterial hinter der Fiktion bloß.14

New Hollywood bezieht somit eine eindeutige Stellung innerhalb des Paradoxes der Kunst. Ist der klassische Realismus dominant durch seinen ästhetischen Abstand zur sozialen Wirklichkeit gekennzeichnet, so greift das Kino des New Hollywood auf den alltäglichen sozialen Raum aus, macht ihn kunstfähig und zu einem Gegenstand der Kunst. Die Bilder zeigen „das Rohmaterial hinter der Fiktion“, beziehen ästhetische und alltägliche Wahrnehmung unmittelbar aufeinander und variieren und transformieren in diesem Prozess den Raum des Sichtbaren als möglichen Raum der Gesellschaft. (VLVWGHU*HVWXVGHUVR]LDOHQ$UFKlRORJLHGHUGLH2EHUÀlFKHQGHUVR]LDOKLVWRrischen Welt entziffert, wobei in den Fossilien zu lesen auch immer die Herstellung einer neuen Welt bedeutet. Den Prozess des Filmemachens bloß zu legen meint auch die eigene Notwendigkeit des Erzählens sichtbar zu machen, statt sich auf das den klassischen Realismus dominierende aristotelische Modell zu berufen. New Hollywood pocht nicht auf seinen Status als autonomes Regime der Kunst, sondern situiert sich an der Schnittstelle von Medialem und Sozialem. Das Kino rebelliert gegen die durch

13 | Mit New Hollywood wird das ganze Feld der möglichen Beziehungen zwischen dem 6LFKWXQGGHP6DJEDUHQUHNRQ¿JXULHUWZREHLGDV6DJEDUHGXUFKDXVEXFKVWlEOLFKYHUstanden werden darf. Neben einer neuen Bildlichkeit inszeniert New Hollywood auch die Emanzipation der Rede, wie sie in den Dialogen erscheint: „Nicht, daß man spricht ist neu, sondern was man spricht. D.h.: Dialekte, Soziolekte, Slang und ansonsten alles, was verboten war – sexuelle Anspielungen und Überdeutlichkeiten, Anal- und Fäkalsprache, Flüche, lauter Distinktionsmerkmale gegenüber dem Old Hollywood.“ (Sannwald (2004), S. 50). Der Production Code sah unter dem Stichwort „Obscenity“ vor: „Obscenity in word, gesture, reference, song joke, or by suggestion […] is forbidden.“ Leff/Simmons (1990), S. 288 14 | McDonagh (1995), S. 95

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GDV6WXGLRV\VWHPNRQYHQWLRQDOLVLHUWHQ)RUPHQ¿OPLVFKHU:HOWNRQVWUXNWLRQLQGHPGLH zugrunde liegende Arbeit der Bildproduktion Teil des medialen Erlebens wird.15 Dadurch wird nicht nur die Matrix des medialen Erzählens sichtbar, sondern eben auch die mediale Matrix, die das Verstehen und die Sinnhaftigkeit von Welt überhaupt HUVWHUP|JOLFKW'LH5HÀHNWLRQGHUHLJHQHQ%DXSULQ]LSLHQEHGHXWHWVRDXFKLPPHUHLQH 5HÀHNWLRQGHU%DXSULQ]LSLHQGHUVR]LDOHQ*HPHLQVFKDIW Das kinematographische Bild erscheint als Möglichkeit, einen konkreten Zusammenhang zwischen […den] fragmentierten [gesellschaftlichen] Weltwahrnehmungen herzustellen und die gesellschaftlichen, historischen und medialen Bedingungen, die den Raum alltäglicher Wahrnehmung und damit die sinnliche Erfahrbarkeit der Welt festlegen, selbst noch sinnlich greifbar, anschaulich, evident zu machen.16

Somit ist jedes einzelne Werk viel mehr als ein reines Spiel mit Zeichen ohne Relevanz für die Wirklichkeit der geteilten Welt, stehen doch im Sinne der Aufteilung des Sinnlichen die Möglichkeiten von Erfahrung und Handlung im sozialen Raum in Frage. Die Filmemacher des New Hollywood kehren sich ab von der regulierten Praxis adäquater Gegenstände und Formen der Inszenierung, wie sie den klassischen Realismus dominierte und rücken das medial Ausgeschlossene verstärkt in den Fokus ihrer Arbeiten. Damit transformieren sie die Idee und die konkrete Umsetzung sozialen Lebens, entgegen den dominierenden Formeln des klassisch-realistischen Kinos. 'HQQGLHVH)LOPHÄVWW]WHQ>«@HLQHEHVWLPPWH9LVLRQYRQ$PHULND±GH¿QLHUWGXUFK Respekt vor dem Gesetz und Regierung, eheliche Treue, harte Arbeit, Patriotismus, Fairneß, persönliche Verantwortung, Prinzipienfestigkeit, Achtung der Familie und der Gemeinschaft sowie Ehrlichkeit.“ New Hollywood bricht mit der Idee eines Kinos als sinnlich-anschauliche Realisierung dessen, was die Gesellschaft in ihrem Innersten zusammenhält und entledigt sich so einer pädagogischen Funktion. Die Filme gerinnen ]XU5HÀHNWLRQXQG]XU,QV]HQLHUXQJHLQHUQHXHQ*HVHOOVFKDIW:LH$OH[DQGHU+RUZDWK mit Blick auf New Hollywood schreibt, realisierten die Filmemacher Bilder, die sich bewusst waren und sehr bewusst zeigten,

15_'HUHQWVFKHLGHQGH8QWHUVFKLHGEHVWHKWLQGHU6HOEVWWKHPDWLVLHUXQJGHU¿OPLVFKHQ Arbeit. Man darf diese Linie – von einem unsichtbaren zu einem sichtbaren Schnitt – QLFKWDOVDEVROXWVHW]HQUHÀHNWLHUWGRFKDXFKGHUNODVVLVFKH5HDOLVPXV±HWZDLPBackstage Musical – immer wieder die Gemachtheit seiner Werke. 16 | Kappelhoff (2008), S. 11 17 | McDonagh (1995), S. 88. Diese Zusammenfassung ist sehr formelhaft und nicht auf alle Produktionen – man denke etwa an den Film Noir – gleichermaßen anzuwenden. Aber Maitland McDonagh geht es nicht um die marginalen Erscheinungen, sondern um GLHDOOJHPHLQHQRI¿]LHOOHQ6WDQGDUGVGLHVLFKPLW1HZ+ROO\ZRRGYHUlQGHUQZLHHU an den verschiedenen Bearbeitungen des Bonnie & Clyde6WRIIHV±YRQXQG ±GHXWOLFKPDFKW9JO0F'RQDJK  6

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U NREINE B ILDER daß es im amerikanischen Leben kein gemeinsames Bindegewebe mehr gibt, auf das man progressive, eindeutige moralische Haltungen stützen könnte. Für diese Filme ist QXUPHKUPLWWHQLP0RUDVWPLWWHQLPGXQNOHQ)HOV]ZLVFKHQGHPÀLHKHQGHQVFKHLternden, abstrakten Individuum und den mächtigen, vielfach ausgehöhlten Felsformationen der überlieferten Mythologie, die dieses Individuum prägen, noch Momente der Erkenntnis möglich.18

In Horwaths Beschreibung kommt die Figur des Künstlers als Reisendem durch die YHUVWHLQHUWHVR]LDOH:HOWIDVWEXFKVWlEOLFK]XP$XVGUXFN'DV¿OPLVFKH%LOGJUHLIWDXI die sozial-materielle Welt zu – wie es etwa auch in ELEPHANT zum Ausdruck kommt. ÃAlles sprichtµ'LH=HLFKHQGLHVLFKEHUDOO¿QGHQZHUGHQLQQHXH.RQWH[WHLQHLQH neue kommunikative Zirkulation versetzt, bilden neue Verhältnisse zwischen dem Sicht- und dem Sagbaren. Die Bilder und Narrative dringen ein in den Bereich der Ununterscheidbarkeit zwischen den Regimen des Erzählens. Denn „die ästhetische Souveränität der Literatur ist […]nicht die Herrschaft der Fiktion. Sie ist im Gegenteil ein Regime der tendenziellen Unbestimmtheit zwischen der Ratio der deskriptiven und narrativen Anordnungen der Fiktion und der Beschreibung und Deutung der sozialhistorischen Phänomene.“19

Politik der Autoren Was sich mit dem Kino des New Hollywood im Bilderbetrieb der UnterhaltungsmaVFKLQHULH+ROO\ZRRGVGXUFKVHW]W¿QGHWXQGIDQGVHLQHQ9RUOlXIHULQGHQSDQHXURSlLschen Neuerungen der Filmpraktiken der 1960er Jahre.20 In Frankreich ist dieser Bruch mit den konventionalisierten und – folgt man Truffaut – längst verhärteten und sterilen Formen des Inszenierens und Erzählens durch die gedankliche Arbeit der Filmzeitschrift Cahiers du Cinéma am explizitesten gerahmt.21 Die Filmemacher der Nouvelle Vague – von Rohmer bis Godard – künden vom Aufbruch eines neuen Kinos. Dabei spielt die theoretische Neufassung der Möglichkeiten des Kinos eine entscheidende Rolle, wie sie an der Etablierung des Filmregisseurs als auteur evident wird. „Das lVWKHWLVFKH5HJLPHGHU.QVWH¿QJQLFKWPLW(QWVFKHLGXQJHQIUNQVWOHULVFKH%UFKH an, vielmehr begann es mit Entscheidungen, die bewirkten, das, was die Kunst macht, und die, die sie machen, neu zu interpretieren.“22$XI%DVLVGHUWKHRUHWLVFKHQ5HÀHNWLon des amerikanischen Films in den Texten der Cahiers du Cinéma setzt sich eine neue öffentliche Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung der Regisseure im Studiosystem Hollywoods durch. Von Frankreich aus revolutioniert die Filmkritik das Bewusstsein 18 | Horwath (1995), S. 25 19 | Rancière (2008c), S. 59 20_9JO'DPPDQQ  6 21 | Vgl. Truffaut, François Eine gewisse Tendenz im französischen Film In: Kotulla, Theodor (Hg.) 'HU)LOP±0DQLIHVWH'RNXPHQWH*HVSUlFKH%DQGMünchen 1964. S.165-192 22 | Rancière (2006c), S. 42

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um den klassisch-realistischen Film durch eine Neubewertung seiner Protagonisten. Die Rolle des Regisseurs von Alfred Hitchcock bis John Ford wird umgedeutet: Er steigt von einem bloßen Handwerker, der innerhalb eines hierarchisch geordneten und streng reglementierten Produktionsprozesses allein seine Arbeit zu verrichten weiß, in der Neuinterpretation der Produktionsästhetik durch die Cahiers du Cinéma zu einer .QVWOHU¿JXUDXI23 Diese theoretische Gestaltung des Mediums Film und seiner Protagonisten überträgt sich auf die junge Generation von amerikanischen Regisseuren. Sie „wurden mit der Autorenpolitik groß. Viele von ihnen wurden auf der Filmhochschule von einer Umgebung geprägt, die Film als Kunst und nicht als Produkt behandelte.“24 Die politique des auteurs gerinnt auf diese Weise zum entscheidenden Impuls eines neuen Verständnisses des Films und seiner Praktiken.25 Im Zuge dieser Neuinterpretation des Kinos als Kunstform wird die politische Möglichkeit des Mediums neu artikuliert und erweitert.26 Die Politik des Ästhetischen bezeichnet HLQ VSH]L¿VFKHV 9HUVWlQGQLV GHV lVWKHWLVFKHQ 'HQNHQV GHU ZHVWOLFKHQ 0RGHUQH 0LW diesem ist ein Begriff von Politik verbunden, der gerade nicht auf die gegebenen gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten abhebt. Politik bedeutet hier eine Öffnung der symbolischen Ordnungen, kommunikativen Systeme und medialen Strukturen, die diese Handlungsmöglichkeiten determinieren.

'DPLW DXIJHUXIHQ LVW GLH NQVWOHULVFK¿OPLVFKH ,QWHUYHQWLRQ LQ GHQ VR]LDOHQ 5DXP die Verwebung der Alltagspraxis mit ästhetischen Strategien der Entzifferung und Neuschreibung des Sozialen unter der Ägide des Fiktiven. „Das Fiktive, das wie von selbst sich aus der Realität erhebt, wenn Wünsche ausgestattet mit allen Anzeichen

23 | In diesem Kontext sind Francois Truffauts Interviews mit Alfred Hitchcock zu lesen. Vgl. François Truffaut 0U+LWFKFRFNZLHKDEHQ6LHGDVJHPDFKW"0QFKHQ 24 | McDonagh (1995), S. 93 25 | Jonathan Rosenbaum kommt in seiner kurzen Analyse amerikanischer Filmzeitschriften, die sich in den Jahren 1962 und 63 mit der Nouvelle Vague auseinandersetzen, zu folgendem Ergebnis: „Das hervorstechendste Merkmal der amerikanischen MagaziQHEHVWDQGMHGRFKGDULQGD‰VLHVLFKXPHLQHIDFHWWHQUHLFKH1HXGH¿QLWLRQGHVDPHULNDnischen Kinos bemühten, die nicht nur eine Neueinschätzung seiner Vergangenheit mit sich brachte, sondern auch ein intensives Nachdenken über seine mögliche Zukunft.“ Rosenbaum (1995), S. 104 26_9JO5RVHQEDXP  6:REHLGLHVHU*HGDQNHHLQHU$XWRUHQ¿JXUQDWUOLFK QLFKWGLHRULJLQlUH,GHHGHU1RXYHOOH9DJXHZDU9JO)ULVFK  6II(QWVFKHLdend ist, dass die Rolle des Regisseurs als Künstler in den Schriften der Cahiers du Cinéma an diesem historischen Punkt noch einmal explizit ausformuliert wurde. 27 | Kappelhoff (2008), S. 12





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GHU:LUNOLFKNHLWVLFKPDWHULDOLVLHUHQGDVLVW(U¿QGXQJZLHVLHGHP.LQRDQVWHKW³28 ,P6LQQHGHUHUQHXWHQ5HNRQ¿JXUDWLRQGHUgNRQRPLH]ZLVFKHQGHP*HGDFKWHQXQG dem Ungedachten, dem beliebigen und dem entscheidenden Detail – wie es in der Gegenüberstellung von romantischer Poetik und psychoanalytischer Rede zum Ausdruck kam –, zeigen die Filme der Nouvelle Vague „an Dingen vor aller Augen Aspekte […], die vorher weder wahrgenommen noch der Wiedergabe für wert erachtet wurden.“29 Jean-Luc Godard lässt seine Protagonisten in A BOUT DE SOUFFLE (F 1960) über die Pariser Champs-Elysées wandern, wo sie im Bild des zeitgenössischen sozialen IUDQ]|VLVFKHQ$OOWDJVYHUVFKZLPPHQ,P%DGLQGHU0HQJHVLQG)LOP¿JXUXQGEHOLHbige Passanten – die zuweilen neugierig direkt in die Kamera blicken – auf derselben hierarchischen Ebene des Bildraums verortet. Alles ist gleichermaßen kunstfähig geworden, die hohen Gegenstände wie die Erscheinungen und Ausformungen des gewöhnlichen Lebens. So ähnelt Godards PIERROT LE FOU (F 1965) dem Besuch eines Antiquitätenladens in einem Roman von Balzac: Profane wie sakrale, GebrauchsgeJHQVWlQGH GHU 8PZHOW ZLH :HUNH GHU KRKHQ .XQVW ¿QGHQ VLFK ]XVDPPHQ LQ HLQHU Szene der Gleichwertigkeit – von Elie Faures Essay über den Maler Velasquez bis hin zu popartigem Comic.30 PIERROT LE FOU ist die Idee eines Kinos, „das der Realität wieder herausrücken muß, was es ihr genommen hat.“31 Es ist ein Sinnsystem, in dem Geschichten schreiben und Geschichte schreiben denselben Wahrheitswert berechnen, die „Errichtung eines Entsprechungssystems zwischen den Zeichen des neuen Romans [oder Films] und jenen Zeichen, anhand derer die Phänomene einer Zivilisation beschrieben oder interpretiert werden.“32 Die Neufassung des Verhältnisses von Schein und Sein, der konstitutiven Bedingtheit zwischen Sein und Schein im europäischen der Kino 1960er Jahre lässt sich noch einmal am Fotografen David Bailey festmachen, der zum einen von Godards A BOUT DE SOUFFLE für seine Arbeit inspiriert wurde und zum anderen als Vorbild für den Fotografen Thomas in Michelangelo Antonionis BLOW-UP Pate stand.33 Bailey brachte GLH DOOWlJOLFKHQ 5lXPH /RQGRQV LQ GLH 0RGHIRWRJUD¿H ± RGHU XPJHNHKUW GLH 0RGHIRWRJUD¿HZXUGH7HLOGHVVWlGWLVFKHQ5DXPVÄ,QGLHNRQVHUYDWLYH0RGHIRWRJUD¿H mit ihren distinkten Gesten und der Atmosphäre der upper class, brachte er Ecken und Kanten, eine neue Gestensprache, die angeregt war von Beobachtungen im Stra-

28 | Grafe (2003), S. 13. Frieda Grafe paraphrasiert damit die Voice-Over zu Beginn von LE MÉPRIS (Jean-Luc Godard, F 1963), in der es heißt: „Le cinéma, disait André Bazin substitue à notre regard un monde qui s’accorde à nos désirs.“ Damit wird die Verwebung von Theorie (Bazin) und künstlerischer Praxis (Godard) deutlich. 29 | Grafe (2003), S. 14 30 | Vgl. Velázquez, Diego Rodriguez de Silva y Velázquez Gesamtwiedergabe seiner Gemälde / mit einer Einleitung von Elie Faure London 1939 31_*RGDUG]LWLHUWQDFK%HFNHU-|UJ  6 32 | Rancière (2006c), S. 59f 33 | Vgl. Becker, Jörg (2002), S. 41f

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ßenalltag – was man trug und wie man sich bewegte.“34 Und später heißt es: „Bailey produzierte die Attraktion des Gewöhnlichen, eine Art dokumentarischen Chic.“35 Es zeigt sich eine völlige Vermischung von Design- und Gebrauchswert, eine Ära des alles umfassenden Lifestyles, der Posen, die sich in noch in die alltäglichsten Gesten fortsetzen. Das Soziale diffundiert ins Mediale und umgekehrt.

A walking contradiction 1HZ+ROO\ZRRGVFKOLH‰WPLWVHLQHU¿OPLVFKHQ3RHWLNDQGLHVHV9HUKlOWQLV]XUVR]LDOHQ Wirklichkeit an. Es ist kein realistisches im Sinne eines naturalistischen Kinos. Die tradierten Muster des Erzählens werden in Frage gestellt, gleichzeitig bleibt die Bilderproduktion auf diese tradierten Formen bezogen.36%HJULIÀLFKYHUGLFKWHW¿QGHWVLFK diese Strategie im Titel von Alexander Horwaths Text zum amerikanischen Kino nach dem Ende des klassischen Studiosystems: „A walking contradiction – partly truth and SDUWO\¿FWLRQDO“. Die Veränderungen in den medialen Praktiken der Sinnproduktion sind Teil einer gesamtgesellschaftlichen Transformation, insoweit, als die erzählerischen Strategien sich ändern müssen, um mit den sozialen Erfahrungen des Publikums Schritt zu halten, denn der Wahrheitswert der klassisch-realistischen Darstellungsweise wird in Zweifel JH]RJHQÄ,QGHUgIIHQWOLFKNHLWKDWVLFKHLQHVWDUNH'LVNUHSDQ]]ZLVFKHQGHQRI¿]LHOlen Bildern und Redeweisen und der realen Erfahrung […] ergeben, und diese Kluft zieht die gebräuchlichen Darstellungsweisen selbst in Zweifel, die bis dahin als gültig und wahrheitsgetreu empfunden worden sind.“ Und so werden die theoretischen Texte, die sich mit jener Zeit und den Veränderungen innerhalb der Hollywood-Filmindustrie beschäftigen, immer wieder rückbezogen auf die gesellschaftlichen Veränderungen der 1960er Jahre.38 Die Filme des New Hollywood werden in dem Sinne politischer, als dass sie ihre gesellschaftliche Relevanz in jenen vormals ausgesparten Figuren des Marginalen und Unterdrückten explizit ausformulieren.

34 | Becker, Jörg (2002), S. 41 35 | Becker, Jörg (2002), S. 41 36 | So beschreibt auch Elisabeth Bronfen New Hollywood als Amalgam aus Tradition, Innovation und einem neuen Verhältnis zur sozialen Wirklichkeit: „Die Filmsprache des Ã1HZ+ROO\ZRRGµVWHOOW]ZDUHLQHQ1HXDQIDQJGDUEH]LHKWVLFKDEHUJOHLFK]HLWLJH[SOL]LW auf jene Bild- und Genretradition, die mit dem Zusammenbruch des Studiokinos brüchig geworden ist, und paßt diese einer neuen, nicht zuletzt auch von der französischen Nouvelle Vague inspirierten Filmsprache an sowie einer veränderten gesellschaftlichen 6LWXDWLRQ³%URQIHQ  6 37 | Horwath (1995), S. 12. Eine ähnliche Konstellation lässt sich während des Zweiten Weltkrieges beschreiben: „Popular audiences […] demanded increasingly direct images of violence, indeed of deaths and killings, when they concluded that sanitized images IDLOHGWRUHÀHFWWKHH[SHULHQFHVRIWKHLUORYHGRQHV³6ORFXP  6 38 | Vgl. McDonagh (1995), S. 88





U NREINE B ILDER ,QGHQ)LOPHQYRQXQGXP%%6>HLQHGHUPD‰JHEOLFKHQ3URGXNWLRQV¿UPHQMHQHU=HLW@ kulminiert die Tendenz des frühen New Hollywood, das Unbehagen an der politischen, sozialen, kulturellen Gegenwart Amerikas in individuelle Existenznöte zu transformieUHQ (V VLQG )LOPH EHU 'ULIWHU XQG 6SLQQHU LP =XVWDQG ]\QLVFKHU (QWIUHPGXQJ >@ Filme mit losem, undramatischen Duktus und offenen Schlüssen, weil kein alternativer =LHORUW NHLQH QHXH +HLPDW JHIXQGHQ ZHUGHQ NDQQ )LOPH GLH VLFK LQV )UHLH DXI GLH Straße, in den Alltag, zu einem neuen Realismus und einem offenen Arbeitsprozeß vorkämpfen, der die Konventionen der Hollywoodgenres durch authentischere Raum- und Zeiterfahrungen zu ersetzen versucht.39

Die Filme wechseln die Seite: vom Konsens zum Dissens. Sie greifen ein in die Aufteilung des Sinnlichen, zeigen Figuren, die aus der Perspektive der normativen Zeiten und Orte als anormal erscheinen, weil sie Zeiten und Räume besetzen, die keinem gesellschaftlich konventionalisierten Tagesablauf folgen.40

Sex values Mit New Hollywood erfolgt eine Neuvermessung des amerikanischen Mainstreamkinos unter der Perspektive einer Rede, die innerhalb des Regimes der Selbstregulierung unter dem Production Code nicht zum Vorschein kommen konnte. Die unterschiedlichen Varianten eines solchen Kinos sind zahlreich, voller Varianten und Widersprüche. Ihnen gemeinsam ist die Arbeit an einer Öffnung der restriktiven Bildpraxis. Die billigen Bilder der Midnight Movies mit ihrer obsessiven (Sehn-)Sucht nach Sex und *HZDOWGUlQJHQLQGLH6LFKWEDUNHLWGHURI¿]LHOOHQ'LVNXUVH41 Randständige Themen rücken in den Mittelpunkt der immer neuen Inszenierungen der Wirklichkeit Amerikas. Gleichzeitig etabliert sich der Film auch im hierarchisch-handwerklichen Studiosystem Hollywoods als Kunst. Dieser vermeintliche Widerspruch – zwischen einer ÃKRKHQµ.XQVWIHUWLJNHLWXQGÃQLHGHUHQµ*HJHQVWlQGHQ±WULWWDEHUQXULQHLQHUEHVWLPPWHQSUlH[LVWHQWHQ'H¿QLWLRQYRQ.XQVWDXIZLHVLHGHPUHSUlVHQWDWLYHQ5HJLPHGHU Künste eigen ist. Aber statt die Sichtbarkeit anhand vorformulierter Regeln zu inszenieren, schafft das neue amerikanische Kino seine eigene Gegenständlichkeit und löst sich vom normativen Gestus einer aristotelischen Poetik. Die marginalisierten, verdeckten Diskurse und Praktiken etwa in Bezug auf die Sexualität von Jugendlichen, die bis zu den 1960er Jahren nur in der Dunkelheit des Autokinos oder den sauberen 39 | Horwath (1995), S. 28 40 | „Die Umwertung des gegenkulturellen Rebellen zum eigentlichen Amerikaner, die Umwertung der Gegenkultur zur amerikanischen Kultur“ markiert Diedrich Diederichsen als Herzstück der Politik des Ästhetischen im Kino des New Hollywood. Diederichsen (2004), S. 61 41 | Die Midnight Movies EH]HLFKQHQ HLQ .LQR GHV 0DUJLQDOHQ XQG GHV ,QRI¿]LHOOHQ das seit den 1950er Jahren in Form von billig produzierten Exploitation-Filmen den Untergrund des amerikanischen Kinos markierte. Vgl. James Hoberman / Jonathan Rosenbaum 0LWWHUQDFKWVNLQR±.XOW¿OPHGHUHUXQGHU-DKUHSt. Andrä-Wördern 1998

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social-guidance$XINOlUXQJV¿OPHQLKUHQ3ODW]¿QGHQNRQQWHQZHUGHQQXQNXQVWIlKLJ XQGÄGLHWUDGLWLRQHOOHQ8QWHUVFKLHGH]ZLVFKHQ.XQVW¿OPNRPPHU]LHOOHU8QWHUKDOWXQJ XQG([SORLWDWLRQ¿OPYHUVFKZDPPHQ]XQHKPHQG³42 Mit dem Kino des New Hollywood tritt die offene, allzu sichtbare Bildlichkeit in Bezug auf zwei Themen in das Bildrepertoire westlich-populärer Imagination: 6H[XQG*HZDOWÄ'LH)LOPHEHQXW]HQGLH&KHFNOLVWHGHU6HOEVW]HQVXUDOVNDUWRJUD¿sches Instrument, um die sinnliche Realität der gesellschaftlichen Wirklichkeit neu zu vermessen.“43'DVLPPHUZLHGHUQHX]XGH¿QLHUHQGH=LHOLVWGLH$XÀ|VXQJGHU5HJHOQ der Darstellungsmodi, das zu zeigen, was in der klassischen Form ausgespart bleiben musste. Neben der Inszenierung offener Sexualität rückt vor allem ein Motiv in den Fokus der Filmemacher, das in den Tagen des Production Codes mit fast gleichwertiger puritanischer Moral wie die Sexualität marginalisiert wurde und das im Kontext der Untersuchung medialer Inszenierungen und Selbstinszenierung von school shootern das Zentrum bildet: die Gewalt. So schreibt Lorenz Engell: „Das erste und wichtigste 0HUNPDOGHV1HXHQ+ROO\ZRRG¿OPVLVWGLH*HZDOW'LH'DUVWHOOXQJGHU*HZDOWYHUHLnigt in sich alle Funktionen, die früher Suspense, Erotik und Romantik eingenommen hatten.“44 Dabei ist nicht die Quantität von Gewalthandlungen entscheidend, sondern die qualitative Neufassung der formalen Gestaltung von Gewalt.

Manifestation und Substitution Das repräsentative Regime der Künste ist durch die Abhängigkeit des Sichtbaren vom 6DJEDUHQGH¿QLHUW'DV:HVHQGHV:RUWHVLVWHVVLFKWEDU]XPDFKHQGDVYLVXHOOH)HOG zu ordnen und zu verschleiern, indem es ein Quasi-Sichtbares entwickelt, in dem zwei Vorgänge zusammentreffen: „die SUBSTITUTION (die einem das, was in Zeit und Raum weit entfernt ist, vor Augen hält) und die MANIFESTATION (die das sichtbar macht, was eigentlich dem Blick entzogen wird, die intime Spannkraft, welche die Personen und Handlungen vorantreibt).“45 Wie prägend dieser Zusammenhang ist, entfaltet Rancière paradigmatisch anhand des Ödipus-Stoffes und den Variationen, in denen HU GXUFK GLH (SRFKHQ KLQGXUFK ¿JXULHUW XQG UHNRQ¿JXULHUW HUVFKHLQW +LHU OlVVW VLFK der Übergang von einem repräsentativen zu einem ästhetischen Regime der Künste an einem Beispiel entfalten. Im Zentrum von Rancières historischer Analyse steht dabei GDVMHVSH]L¿VFKH9HUKlOWQLVYRQ=HLJHQXQG9HUEHUJHQNRQNUHWGHU6LFKWEDUNHLWGHU

42 | McDonagh (1995), S. 94 43 | Kappelhoff (2008), S.158. McDonagh argumentiert in dieselbe Richtung: „Die neue Freiheit spornte die Filmemacher weniger zu neuen Höhen ungezügelter Kreativität an, sie erlaubte ihnen vielmehr, die wichtigsten Themen zu legitimieren, die das marginale Kino seit langem besetzt hatte: Sex und Gewalt.“ Vgl. McDonagh (1995), S. 89 44 | Engell (1992), S. 266 45 | Rancière (2005), S. 131





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DXVJHVWRFKHQHQ$XJHQ GHU gGLSXV¿JXU LQ 5HODWLRQ ]XU QDUUDWLYHQ (LQEHWWXQJ GLHVHV Bildes.46 An der Umarbeitung des ursprünglichen Ödipus-Stoffes von Sophokles durch den IUDQ]|VLVFKHQ 'UDPDWLNHU 3LHUUH &RUQHLOOH LP  -DKUKXQGHUW HQWIDOWHW 5DQFLqUH SDUDGLJPDWLVFK GLH YHUVFKLHGHQHQ 0RGL¿NDWLRQHQ GHV UHSUlVHQWDWLYHQ XQG GHV lVWKHWLschen Regimes der Künste. Der Dramatiker remodelliert die Originalfassung im Sinne des repräsentativen Regimes der Künste. Dabei geht es zunächst um die Reihenfolge und die Entropie der Informationen, die dem Zuschauer vermittelt werden. Corneille implantiert eine Intrige für seine Fassung des Stoffes, d.h. ein reguliertes Verhältnis zwischen Wissen und Nichtwissen, eine Dramaturgie. Damit verschärft er gewisse Tendenzen in der Tradition der Umarbeitung des Stoffes, die mit der Aristoteles-Fassung begann. Diese war „der Versuch, das […] Pathos des Wissens in eine regulierte Beziehung zwischen einer poiesis und einer aisthesis einzuführen, in eine Beziehung zwischen einer Anordnung autonomer Handlungen und dem Aufgebot jener Affekte, die für die repräsentative Situation, und nur für die, spe]L¿VFKVLQG³48 Corneille wirft Aristoteles vor, dass der Zuschauer zu schnell zu viel zu sehen bekommt. Es ist das Problem der Auffächerung der Erzählung, wie sie bereits in der Genese der Talking Cure zu sehen war. Damit verbunden ist eine zu erzielende Wirkung im Sehenden/Hörenden, die analog zu Platons lebendiger Rede zu verstehen ist. Ein zweiter Punkt zwingt Corneille, die Fassung von Aristoteles zu ändern. Seine Bedenken betreffen den zu bildlichen, blutigen Akt des Augenausstechens, denn dieser offenbart „die brutale Eroberung des Raums des Sehens durch etwas, das die Unterwerfung des Sichtbaren unter das Sichtbarmachen des Wortes überschreitet.“49 Corneille streicht dieses allzu Sichtbare aus seiner Fassung, reguliert mit dem Sicht46_'DV'UDPDQDFK$ULVWRWHOHVNRQ¿JXULHUWVLFKGDEHLSULPlUDOV*HIJHYRQ+DQGlungen, das durch Muster des Verbergens und Enthüllens strukturiert ist. „Die Grundlage des Dramas bilden die Personen, die bestimmte Ziele verfolgen, und zwar unter GHU%HGLQJXQJWHLOZHLVH8QZLVVHQVGDVVLFKLP/DXIHGHU+DQGOXQJDXÀ|VW³5DQFLqUH (2006a), S. 16f 47 | Während das Problem des Ödipus in der antiken Fassung bei Sophokles als Krankheit des Zu-viel-Wissens und Immer-schon-Wissens erscheint. In diesem Sinne gibt es kein – entlang einer bestimmten Dramaturgie – erst noch zu enthüllendes Geheimnis: „Ödipus verkörpert hier denjenigen, der über die Grenzen des Vernünftigen hinaus wissen will und für den das Wissen die Unbegrenztheit seiner Kraft bedeutet. Diese Wissenswahn macht ihn von Anfang an zur einzige Person, die vor dem Orakelspruch und dem vorhergesagten Makel betroffen sein könnte.“ Rancière (2005), S. 133 48 | Rancière (2005), S. 133 49_5DQFLqUH   6  6HLQHQ $XVGUXFN ¿QGHW GLHV DXFK LP Production Code, der die Regeln von In- und Exklusion anhand der divergierenden Modi der Darstellung DXVOHJWÄ7KHODWLWXGHJLYHQWR¿OPFDQQRW>«@EHDVZLGHDVWKHODWLWXGHJLYHQWRERRN PDWHULDO>«@$ERRNUHDFKHVWKHPLQGWKURXJKZRUGVPHUHO\D¿OPUHDFKHVWKHH\HV and ears through the reproduction of actual events.“ Leff/Simmons (1990), S. 294

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baren das Wissen und rekonstruiert die Erzählung anhand der Dramaturgie der Handlungselemente. So wird die Beziehung zwischen den Wissenseffekten und den Pathoseffekten einer spe]L¿VFKHQ9HUVWlQGOLFKNHLWXQWHUJHRUGQHWQlPOLFKGHUNDXVDOHQ9HUNHWWXQJGHU+DQGlungen. Indem Corneille die von Aristoteles getrennten Kausalitäten der Handlungen und Charaktere vereint, gelingt ihm die Reduktion des ethischen Pathos der Tragödie auf die Logik der dramatischen Handlung.50

Im Hinblick auf den Film kann man von der Unterscheidung zwischen Plot (dem tatsächlich Sicht- und Hörbaren) und der Story (die Geschichte, wie sie der Zuschauer zusammensetzt) sprechen.51 Das Sichtbare ist bei Corneille immer der Regie des Sagbaren unterworfen und „es verbietet ihm [dem Sichtbaren], von sich aus zu zeigen – zu zeigen, was keine Worte braucht, das Entsetzen über die ausgestochenen Augen.“52

Unterdr ückte Sichtbarkeit: TH E C H I LDR EN’S H OU R Die Filmgeschichte hat ihrerseits verschiedene Ökonomien zwischen dem Sicht- und dem Sagbaren hervorgebracht, d.h. verschiedene Formen der narrativen Bindung der Sichtbarkeit, unterschiedliche Varianten der Darstellung ausgeschlossener Bilder. Als THE BASKETBALL DIARIES 1995 in die Kinos kommt, ist der Film ein Erbe verschiedenster Öffnungen des Möglichkeitshorizontes der Darstellung im populären UnterhalWXQJV¿OP'LH6HTXHQ]HLQHVschool shootings in all ihrer expliziten Brutalität baut auf eine Tradition der formalen Explikation von Gewalt, die historisch nur allzu bedingt ist. In WEST SIDE STORY (Robert Wise, USA) von 1961 etwa gerinnt das Thema Jugendgewalt – entsprechend der Darstellungsgebote für den A-Film seiner Zeit und der Notwendigkeit des Genres Musical – zwischen verfeindeten Banden in einem pittoresken Technicolor0DQKDWWDQ]XVWULNWFKRUHRJUDSKLHUWHQ7DQ]EHZHJXQJHQKRFKNRGL¿zierten Gesten, die immer nur eine bereits sublimierte Fassung der Gewalt ausdrücken. Die Handlung, die Figuren sind nur sehr locker mit dem Milieu verbunden. WEST SIDE STORY vermisst den urbanen Stadtraum nach den Regeln des Musicals, was sichtbar wird sind allein die Kodizes des Genres. Die Gewalt steht gleichermaßen unter der Ägide produktiver Verausgabung destruktiver Energien. Die Gegner umkreisen sich ständig in ästhetisierten Bewegungen, ohne sich je zu berühren.

50 | Rancière (2005), S. 134 51_6RGH¿QLHUWHV0XUUD\6PLWKÄ:KLOHWKHSORWUHIHUVWRWKHQDUUDWLYHPDWHULDODVLWLV presented to the viewer or reader (in terms of order, duration, and frequency), the story UHIHUV WR WKH UHRUGHULQJ DQG ÿOOLQJLQµ RI WKLV PDWHULDO DFFRUGLQJ WR D FDVXDO ORJLF³ 6PLWK0XUUD\  6 52 | Rancière (2006a), S. 16





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Ein anderer Film, der die Modi des UHSUlVHQWDWLYHQ (U]lKOHQV H[HPSOL¿]LHUW ist THE CHILDREN’S HOUR (William Wyler, USA 1961). Der Film thematisiert Gewalt in seiner autodestruktiven Variante: An einer Mädchenschule kommt es zu einem Selbstmord. Die Lehrerin Martha erhängt sich aufgrund der unerfüllten Liebe zu LKUHU.ROOHJLQGHU+DXSW¿JXU.DULQ'DV homosexuelle Begehren kann allenfalls mit Worten angedeutet werden, nicht einmal auf der verbalen Ebene – geschweige denn als Bild – expliziert werden. Entlang der strikten Linien des Production Codes JLEWHVNHLQH:RUWHZLHÃOHVELVFKµ53 Das In-Szene-Setzen des Selbstmords folgt beispielhaft den Regeln von Substitution und Manifestation. Karin geht im Garten spazieren, als Martha ihren Entschluss, Selbstmord zu begehen, fasst. Die Szene ist parallel geschnitten – eine melodramatische Variante der Duellsituation. Martha, die Karin weggehen sieht, Karin, die den Plan ihrer Kollegin realisiert. Vom Selbstmord ist nur das Schattenspiel des Stricks und ein umfallender Stuhl als Verweis auf das, was nicht zu sehen sein darf, inszeniert. Der Bildraum deutet nur an, was der Imagination und dem Wissen des Zuschauers überlassen bleibt. Die Sichtbarkeit verweist auf ein Sagbares, Denkbares, aber besitzt keinen eigenen StellenTHE CHILDREN’S HOUR wert. Die „sichtbare Manifestation bringt Gefühle und Wünsche zum Ausdruck, anstatt durch sich selbst zu sprechen.“54 Die weit aufgerissenen Augen Karins, ihr Rennen zurück zum Zimmer der Freundin, die sie eben erst verlassen hat, die Tränen – all dies regelt die Verbindung zwischen Sicht-

53 | Zur Darstellung von Sex heißt es im Production Code: „The sanctity of the institution of marriage and the home shall be upheld. […] Excessive and lustful kissing, lustful embraces, suggestive postures and gestures, are not to be shown.“ Leff/Simmons (1990), 6 54 | Rancière (2006a), S. 16

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und Sagbarem, einem Reiz und der angemessenen Reaktion. Die eigentliche Handlung, der Selbstmord muss unterdrückt, aus dem Bildfeld, dem Kader gerückt werden. 'HU =XVFKDXHU ZHL‰ LP 6LQQH VSUDFKOLFKHU 6LQQV\VWHPH GDVV YRQ Ã*HZDOW GLH Rede ist‘, aber die Sichtbarkeit jener Gewalt bleibt ausgespart, sei es in WEST SIDE STORY oder in THE CHILDREN’S HOUR. Ganz im Sinne des repräsentativen Regimes der Künste „hat das Wort das Wesen, sehen zu machen.“55 An der mise-en-scène in THE CHILDREN’S HOUR lassen sich so paradigmatisch die strikten Grenzen von Inklusion und Exklusion innerhalb der Bildökonomie Hollywoods ablesen, die mit dem Kino des New Hollywood ihre Gültigkeit verlieren werden. Einer Bewegung LQGHUVLFKGLHDOWHQ2UGQXQJHQXQG*UHQ]]LHKXQJHQGHU)LOPNXOWXUDXÀ|VHQXQGGDV gesamte Feld der visuellen Kultur sich neu strukturiert. Diese Restrukturierung vollzieht sich als eine permanente Attacke auf die Grenzen zwischen erlaubten und den verbotenen, den sauberen und den schmutzigen Bildern.56

Die „schmutzigen Bilder“ bedeuten eben jene im klassischen Hollywood ausgeschlossene Bildlichkeit von Sexualität und Gewalt, die über die Midnight Movies, den B-FilPHQGHUHU-DKUHLQGHQYRUPDOVÃVDXEHUHQµ.RVPRVGHU6LFKWEDUNHLWZHVWOLFKHU Imagination eindringt.

Explizite Gewalt So setzt sich mit dem Kino des New Hollywood im Bildbetrieb des Hollywood-Kinos Erzählweisen, Prinzipien der Verknüpfung zwischen Sicht- und Sagbarem durch, die ex negativo die Folie bilden, vor der Freud seine therapeutische Rede – die ihrerseits durch die kausale Verknüpfung der Elemente auf eine Erkenntnis zustrebt – entwickelt. Im Sinne Corneilles bleiben im repräsentativen Modus die ausgestochenen Augen ausgespart zugunsten der Intrige, der regulierten Spannungsökonomie. Mit New Hollywood werden die Wahrnehmungskonventionen des klassischen Realismus – der die explizite Bildlichkeit unterdrückte und weite Teile des Geschehens der Imagination des Zuschauers überlässt – aufgelöst und statt dessen das hors-champs des Production Code in den Kader gerückt. Die Darstellung von Gewalt im Film – als Eingriff in das Feld des Sichtbaren – ist somit historisch bedingt und greift über die Aufteilung des Sinnlichen, im Sinne der paradoxalen Stellung der Kunst, direkt in die Strukturierung des sozialen Feldes ein, schafft Möglichkeiten der Wahrnehmung und des Handelns über das durch die ästhetische Distanz von der übrigen Erfahrung abgetrennte mediale Erleben, das dennoch zu jeder Zeit in die soziale Wirklichkeit diffundiert.

55 | Rancière (2006a), S. 16 56 | Kappelhoff (2008), S. 152 57 | Der Historiker Arthur Schlesinger Jr. spitzt dies in der Formel „a pornography of violence“ zu. Schlesinger, zitiert nach Philipps (2008), S. 66



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Was die Gewalt des New Hollywood zudem qualitativ von den tradierten Formeln der Gewaltdarstellung unterscheidet, ist die Tatsache, dass sie nun entgegen der polizeilichen Ordnung auf der Leinwand erscheint. Die Bilder der Gewalt sind nicht mehr eingewebt in einen moralischen Kosmos, den die amerikanische Gesellschaft über das Kulturell-Imaginäre von sich selbst herstellt. Dass dieser soziale Organismus HQWODQJGHU'DUVWHOOXQJYRQ*HZDOWNRQWXULHUWZLUGLVWNHLQHJHQXLQH(U¿QGXQJGHV New Hollywood-Kinos. „Popular cinema employs certain images of violence and excludes others in the process of exploring and, for most part, validating the prevailing ideology.“58 Entscheidend ist die Differenzierung in legitime und illegitime Bilder der Gewalt, Bilder, die die soziale Ordnung stabilisieren und solche, die in eine bestehende Aufteilung des Sinnlichen dissensuell intervenieren. Mit dem Kino des New Hollywood wandern „die Sympathien des Publikums wurden regelmäßig auf die Seite der Kriminellen, Übeltäter und Sünder gelenkt, die dem gängigen Ideal einer korrekten Lebensweise eklatant widersprachen.“59 Die Gewalt, wie sie im Bildraum evoziert wird, gewinnt über die Thematisierung marginaler, gewalttätiger Figuren, die aus der Utopie des amerikanischen Traums ausgeschlossenen sind, einen – im Hinblick auf ihre legitimen und illegitimen Formen – ambivalenten Status.

Trips Die inhaltliche Ebene ist dabei immer gekoppelt an die formale, mit den marginalen Figuren entfalten sich bisher ausgeschlossene Wahrnehmungsweisen. Dies lässt sich an einem der zentralen Motive zeigen, dass das Kino des New Hollywood nachhaltig prägen sollte: die Drogenerfahrung.60 So ist Roger Cormans THE TRIP (USA   GLH ,QV]HQLHUXQJ HLQHU H[SHULPHQtellen Anordnung: Der krisengeschüttelte :HUEH¿OPSURGX]HQW 3DXO *URYHV ELWWHW seinen Freund John, ihn auf seinem ersten LSD-Trip zu begleiten. THE TRIP geULHUW VLFK ZLH HLQ NUXGHU /HKU¿OP JLEW THE TRIP Auskunft über die Gefahren des Drogenrauschs, zeigt Gifte und Gegengifte. Als das LSD zu wirken beginnt, soll Paul sich auf die Couch legen und entspannen. Der Film koppelt so die induzierte Wahrnehmungserweiterung bildhaft an den psychoanalytischen Diskurs und das Acid wird basaler Motor einer surreal-utopischen Selbsterfahrung. Der Status des Wirklichen gerät dabei schnell in Zweifel, Erkennen und Verkennen gehen Hand in Hand, deterritorialisieren 58 | Slocum (2001), S. 5 59 | McDonagh (1995), S. 92. Der Production Code vermerkte als verbindliche Leitlinie: „No picture shall be produced which will lower the moral standards of those who see it. Hence the sympathy of the audience should never be thrown to the side of crime, wrongdoing, evil or sin.“ Leff/Simmons (1990), S. 286 60_9JO'DPPDQQ  6II

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die Wahrnehmung, Gegenwart und Vergangenheit verschwimmen zu einem diffusen, hyperästhetisierten Bildraum. „Die Politik der Kunst, die dem ästhetischen Regime der Kunst eigen ist, ]HLFKQHWVLFKGXUFKGLH$XÀ|VXQJGHU9HUbindung zwischen Ursache und Wirkung aus“, schreibt Rancière.61 Damit ist zum einen das konstitutive Element der Amokerzählung aufgerufen und zum anderen die implizit politische Dimension der Drogenerfahrung. Das LSD reißt den smarten Paul aus seinen gewohnten Mustern von Reiz und Reaktion, der Arbeit der seriellen Verrichtung seiner notwendigen alltäglichen Handlungen. Mit dem Bewusstsein verändert sich der Horizont des Erlebens THE TRIP der unmittelbaren Umwelt. Es ist ein anderer, alternativer Seinszustand, der sich mit dem Acid verbindet. Paul eröffnet sich eine neue Welt, deren Wirklichkeit auf Figurenebene kaum mehr abzugrenzen ist von dem, was Paul als seine eigentliche Wirklichkeit zu erkennen gelernt hat. THE TRIP setzt ein über die Figur implantiertes Bild jenseits der Verknüpfungen von Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit, Ursache und Wirkung in Szene und bietet damit einen Erfahrungshorizont von Welt, der die konstitutive Kraft normierter sozialer Bezüge außer Kraft setzt. 'LHVH 0XVWHU GHV 9HUVWHKHQV VLQG XQDXÀ|VOLFK DQ GLH 0XVWHU GHU 0RQWDJH JHknüpft. Auf der Ebene der Wahrnehmung einer Figur mischt sich die soziale (das Erleben einer konkreten Raum-Zeit) mit der medialen (die Operationen der Montage) Dimension. THE TRIP]HLJWHLQH]XQlFKVW¿JXUDONRQVWUXLHUWH:DKUQHKPXQJVIRUPDEHU diese Erfahrung, wie sie sich für den Zuschauer herstellt, ist unmittelbar gekoppelt an die Interventionen und Inszenierungsformen auf der Ebene des Bildraums. Was sich auf der Ebene der Rezeption eröffnet, sind Modi der Verknüpfung von Bildern, die im Gegensatz zur Alltagserfahrung stehen. Mit der schwindenden Dominanz des klassischen Realismus verbindet sich eine neue Ökonomie zwischen Realem und Imaginärem, Aktuellem und Virtuellem. New +ROO\ZRRG UHNRQ¿JXULHUW GDV9HUKlOWQLV ]ZLVFKHQ GHP:LUNOLFKHQ XQG GHP 0|JOLchen, wie es sich mit dem Erzählen in den Werken des Studiosystems herausgebildet hatte. Es entstehen Zonen der Ununterscheidbarkeit, wie sie Deleuze für das moderne Kino im Anschluss an den Neorealismus aufzeigt.62 Damit spiegelt sich innerhalb der Filmgeschichte die Differenz zwischen einem ästhetischen Regime der Künste und einer Logik der Repräsentation, wie sie Freud als bestimmend für die Talking Cure 61_5DQFLqUH F 6 62 | Vgl. Deleuze (1999), S. 19f

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des psychoanalytischen Wissens bestimmt und die die diffuse Grenze zwischen den Regimen des Imaginären und des Realen zu restabilisieren sucht. Die neuen Formen des Erzählens, wie sie sich in THE TRIP manifestieren, weisen auf eine Dimension der Filmerfahrung, die – abseits der normierten Bestimmung von Real und Imaginär – unmittelbar an Formen der Wahrnehmung des sozialen Raums gekoppelt sind. Dieses Erzählen muss jenseits des europäischen Autorenkinos erst im populären amerikanischen Film installiert werden. In dieser Perspektive ist THE TRIP eine Bastardgeburt, die die verschobene Wahrnehmung zunächst allein über das subMHNWLYH (UOHEHQ GHV 3URWDJRQLVWHQ 3DXO XQG VHLQH VSH]L¿VFKH (UIDKUXQJ QXU DQKDQG eines konkreten Anlasses – dem Acid-Trip – ausdrücken kann. Erst im späteren Verlauf des Films nimmt der Blick der Kamera die neue Wahrnehmungsform, unabhängig vom VXEMHNWLYHQ%H¿QGHQGHU)LJXUDQ Der Übergang markiert damit eine Verschiebung in rezeptionsästhetischer Hinsicht: von der Betrachtung einer Figur auf einem Trip zur medialen Erfahrung des Trips. Auf diachroner Achse benötigt das Kino zunächst noch diese Verortung des Grundes IUGLHPRGL¿]LHUWH:DKUQHKPXQJLP+DQGOXQJVUDXPZlKUHQGVSlWHULQ)LOPHQZLH NATURAL BORN KILLERS der Bildraum analog zu den Trip-Sequenzen der 1960er Jahre gewebt ist, ohne dass diese Transformation im epistemologischen Zugriff des Bildes DXIGHU(EHQHGHV+DQGOXQJVUDXPVQRFKHLQH(QWVSUHFKXQJ¿QGHQZUGH:HQQVLFK das Wahrnehmungsbewusstsein der Protagonisten Mickey und Mallory Knox durch die Schlangenbisse im Anschluss an die Sequenz mit dem Schamanen in NATURAL BORN KILLERS lQGHUW VR EHGHXWHW GLHV ÃQXUµ HLQH ZHLWHUH 0RGXODWLRQ HLQHV D SULRUL hyperästhetisierten Bildraums. THE TRIP ist ein billig produzierter Exploitation-Film aus der Roger CormanFilmfabrik und ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie eben die schmutzigen Bilder der Midnight Movies gegen Ende der HU -DKUH GLH RI¿]LHOOH %LOG|NRQRPLH Amerikas erobern. Zwei der Schauspieler EASY RIDER aus THE TRIP werden sich zwei Jahre späWHU ]XVDPPHQ¿QGHQ XP JHPHLQVDP HLQHQ GHU *UQGXQJVP\WKHQ 1HZ +ROO\ZRRGV zu schaffen. Gemeint sind Peter Fonda und Dennis Hopper, deren Film EASY RIDER (Dennis Hopper, USA 1969) den Weg zu einer Neubelebung der amerikanischen Studios durch eine junge Generation von Regisseuren ebnete.63 An EASY RIDER zeigt sich zunächst noch die gleiche Bauweise wie in THE TRIP. Der Film ist an sich konventionell inszeniert, was die Analogie zur Alltagswahrnehmung durchbricht, ist die TripSequenz während des Mardi Gras in New Orleans, die zunächst auf der Ebene des Handlungsraums motiviert wird – die Protagonisten schlucken Pillen –, ehe sich das in Szene gesetzte Wahrnehmungsbewusstsein komplett entgrenzt.

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Eine neue Adressier ung des Zuschauers Was sich mit dem Kino des New Hollywood desweiteren durchsetzt sind die „shock values“, Bilder und Szenerien voller plastischer Gewalt, die sich mit einer entsprechenden Wirkungspoetik verbinden, die klar auf das somatische Erleben und weniger auf das kognitive Verstehen des Zuschauers zielen.64 Es ist ein „Kino der Attraktionen“, ein Kino, in dem der Schauwert zum gleichberechtigten Partner gerinnt, das 6HKHQGDV'HQNHQXQG(PS¿QGHQVWUXNWXULHUW65 Der Zuschauer ist nicht als Voyeur zu präparieren, die Bilder sind nicht auf Distanz zu halten, wirken als eine „auf das Bewußtsein und das Gefühl, auf den Körper des Zuschauers gerichtete Anordnung von Schlagbolzen.“66 Diese Neuregulierung zwischen poesis und aisthesis bleibt dabei kein reiner 6FKDXHIIHNW±LP6LQQHHLQHVÃVH[VHOOVµ±VRQGHUQEH]LHKWVLFKXQPLWWHOEDUDXIGHQ Horizont des gesellschaftlichen Verstehens, der sich in den Bildern manifestiert oder durch die Bilder zerrissen wird. 'LH$XÀ|VXQJGHU*UHQ]HQ]ZLVFKHQGHQ5HJLVWHUQGHUNXOWXUHOOHQ2UGQXQJGHUHODERrierten Kunst und dem rohen Gefühlsausdruck, ist selbst der Gewaltakt. Er zielt auf den *UXQG JHVHOOVFKDIWOLFKHU =XVDPPHQJHK|ULJNHLW GLH $XÀ|VXQJ GHU 2UGQXQJ XQVHUHU DOOWlJOLFKHQ 6LQQOLFKNHLW 6HLQHQ $XVGUXFN ¿QGHW GDV LQ HEHQMHQHQ *HZDOWGDUVWHOOXQgen, die sich hartnäckig jeder Semantisierung widersetzen.

Damit zielt die mediale Erfahrung auf die Transformation der Welterfahrung der ZuVFKDXHU'DV.LQRGHUHUXQGHU-DKUHÄ|IIQHWGLH6FKOHXVHQXQGOlVVWLQGHQ 0DLQVWUHDPGHURI¿]LHOOHQ.XOWXUHLQVWU|PHQZDVLQGHQ:LHGHUKROXQJVVFKOHLIHQGHV Underground-, des Horror-, Sex- und Exploitationkino sein Dasein behauptete: das insistierende Bewusstsein einer Erfahrung des Körpers als undurchdringlichen Grund

64 | Hermann Kappelhoff benennt mit den shock values die Bilder, die in ihrer Plastizität und Offenheit den konsensuellen Wahrnehmungshorizont durchschlagen. „Die entblößte Wunde, die obsessive Gewalt und die deregulierte Geschlechtlichkeit repräsentieren keine per se verbotenen Wünsche, sondern weisen auf ästhetische Verfahren, die den Bildraum des Kinos als Medium eines Genießen der Körper erschließen, das weder moralisch vernünftig noch sinnträchtig, noch wohlgefällig ist.“ Kappelhoff (2008), S. 161 65 | Tom Gunning argumentiert mit seinem Begriff „The Cinema of Attractions“ gegen eine Filmgeschichtsschreibung, die die ästhetische Entwicklung des Mediums von ihrem narrativen Ende her denkt und plädiert damit für eine Neu- und Aufwertung des Sichtbaren. Zum anderen wendet er sich gegen eine theoretische Rahmung der Rezeption, die den Zuschauer als reinen Voyeur beschreibt. Vgl. Gunning, Tom The Cinema of Attractions – Early Film, Its Spectator and the Avant-Garde In: Elsaesser, Thomas (Hg.) (DUO\&LQHPD±6SDFH)UDPH1DUUDWLYH/RQGRQ6 66_(LVHQVWHLQ  6 67_.DSSHOKRII  6

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aller sinnträchtigen Welterschließung.“68 Der Verlust allgemeiner moralischer StanGDUGV EHU GLH VLFK GHU =XVDPPHQKDOW GHU *HVHOOVFKDIW GH¿QLHUHQ N|QQWH ZLUG DOV VROFKHUQLFKWQXUGXUFKGDV.LQRUHÀHNWLHUWVRQGHUQGLHlVWKHWLVFKH(UIDKUXQJUHNRQ¿JXULHUWGLH*UHQ]HQGHV/HJLWLPHQXQG,OOHJLWLPHQ'HU)LOPELHWHWDOVGLVVLGHQWGHregulatives Element der Aufteilung des Sinnlichen Erfahrungsformen an, die vormals ausgeschlossen waren. An dieser Stelle greift die Deterritorialisierung der Erfahrungsformen durch mediale Bilder, indem das Kino als Verteiler marginalisierter Arten des Erlebens fungiert. Es trägt die schmutzigen Bilder der Großstadtkinos in neuem Gewand und unter dem Label New Hollywood in Milieus wie die amerikanische Vorstadt, deren Bildökonomie ganz anderen sozialen Vorbedingungen unterworfen ist.

Mediale und soziale Bildökonomie Unter der Ägide einer geöffneten medialen Bildökonomie formiert sich die Gestalt einer neuen Art der Gewalt, die eben nicht mehr, wie es noch im klassischen Western der Fall war, die Gemeinschaft begründet, sondern sie – ganz im Gegenteil – in Frage stellt.69 In dieser Hinsicht – schreibt Alexander Horwath – sei Sam Pekinpahs THE WILD BUNCH (USA, 1969) visionär und wegweisend, indem er eine Welt zeige, die sich LPÄ=XVWDQGJlQ]OLFKLUUDWLRQDOHU*HZDOWWlWLJNHLW>EH¿QGHW@GHUDOOH%HUHLFKH amerikanischer Kultur erfaßt zu haben scheint.“ Die Ermordung Martin Luther Kings 1968 in Memphis, die Attentate auf John F. und Robert Kennedy 1963 in Dallas und LQ/RV$QJHOHVGLH.HQW6WDWH6KRRWLQJV±XPQXUHLQLJHGLHVHU(UHLJQLVVH zu nennen. „Bring the war home!“ lautete die Parole der 1969 von den Weathermen initiierten Protestaktion in Chicago und damit schließt sich der Kreis zum Bild des Amoks als Signatur eines entfesselten Krieges. In diesem Sinne ist das Phänomen Amok in den 1960er Jahren eingebettet in den Kontext einer sich transformierenden Bildökonomie, die die zeitgenössische amerikanische Gesellschaft rahmt und bedeutet. Die Morde Whitmans sind nicht zuletzt ein Medienereignis und damit sind sie Teil einer neuen Art 68 | Kappelhoff (2008), S. 160 69 | Wie Richard Slotkin über die Funktion der Gewalt im klassischen Western schreibt: „The organizing principle at the heart of each subdivision of Western genre-space is the myth of regeneration through violence. […] Since the Western offers itself as a myth of American origins, it implies that its violence is an essential and necessary part of the process through which American society was established and through which its democratic values are defended and enforced.“ Slotkin (1992), S. 352 70 | Horwath (1995), S. 11. Vgl. auch das Kapitel 7KH*XQDQGWKH6RFLRSDWK in Ovid DeMaris´ America The Violent.'H0DULV  6(UIDVVWKDWWHGLHVH Gewalt nicht zuletzt die mediale Öffentlichkeit. Jack Valenti, Präsident der Motion Picture Association of AmericaNODJWHÄ)RUWKH¿UVWWLPHLQWKHKLVWRU\RIWKLVFRXQWU\ people are exposed to instant coverage of a war in progress. When so many movie critics FRPSODLQDERXWYLROHQFHLQ¿OP,GRQ¶WWKLQNWKH\UHDOL]HWKHLPSDFWRIWKLUW\PLQXWHV of the Huntley-Brinckley newscast – that’s real violence.“ Valenti, zitiert nach Philipps (2008), S. 69

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von Gewaltbildern, deren Ein- und Ausschlussverfahren neu geregelt werden und spreFKHQZLHGLH%LOGHUDQGHUHUVR]LDOHU(UHLJQLVVHXQG¿NWLRQDOHU:HUNHYRQHLQHP(Ufahrungshorizont des Sozialen, der die tradierte Aufteilung des Sinnlichen korrodiert. Die medialen Bilder der Whitman-Morde korrelieren mit einer ganzen Anzahl YRQ]HLWJHQ|VVLVFKHQ¿NWLRQDOHQXQGGRNXPHQWDULVFKHQ%LOGHUQ'HVKDOELVWHVQLFKW überraschend, dass das Thema Amok gerade in den 1960er Jahren und in den USA zu einem Gegenstand der Erzählungen wird. Trägt der Amok doch die „Signatur eines in jeder Hinsicht entfesselten […] Kriegs. […] Amok bezeichnet eine zeitliche wie räumliche Entgrenzung der kriegerischen Aktion, und dasselbe gilt auch für die Feindschaft, die sich darin manifestiert.“ %ULQJWKHZDUKRPH0LWGHU$XÀ|VXQJGHV Production Code gewinnt der amerikanische Mainstream-Film die Freiheit zu einer dissensuellen Konstruktion der gemeinsamen, gemeinschaftlichen Anschauung, eben auch im Hinblick auf die Gewalt: „With the corporation of the studios, the [Production] Code succeeded in circumscribing images of violence so that their function remained instrumental, mostly validating existing values, and never excessively subversive of mainstream assumptions.“ Was sich an Whitman zeigt, sind Akte der Gewalt für sich oder an sich, Taten, die auf kein Ziel und kein Verstehen deuten und quer zur bestehenden Ordnung liegen. Manifestationen, in denen das Sichtbare das Sagbare überrascht und außer Kraft setzt – wie es in der TV-live-coverage vom 1. August 1966 aus Texas zum Ausdruck kommt. Es ist die unsagbare und kaum zu kontextualisierende Wucht der Amoktaten, die den gemeinschaftlichen Sinnhorizont – im Sinne der Gesellschaft als eines Organismus – in Stücke reißen. Auch Vivian Sobchack setzt in einem persönlichen Rückblick auf die Darstellung von Gewalt im amerikanischen Kino die Zäsur zwischen den Regimen des Erzählens und Zeigens Mitte der 1960er Jahre an. Über die Zeit davor schreibt sie: „Those who died did so for a reason. In those days we didn’t even think in terms of assassination.“ Dann beginnt die neue Zeit: Then, in the mid-1960s, there was blood everywhere. […] People who looked and lived exactly as we did shot at us from water towers, slit our throats, went berserk, commited murder next door. […] None of the blood spilt was pituresque or patriotic. Death by violence became a possibility for all of us because it lacked sense and meaning much of the time, there was no drama or catharsis.

71_9RJO  60DUWLQ5XELQ¿QGHWGLH:XU]HOQGHULUUDWLRQDOHQ*HZDOWWlWLJNHLWHQWVSUHFKHQGLQGHU*HZDOWGHU*HJHQNXOWXUÄ,QWKHVWKHVSHFWUDO¿JXUHRI the savage killer rose up alongside the emergent violent revolutionary, walked next to him for a while, then nudged him aside and stalked on alone into the imaginations of post-1960s America.“ Rubin (1999), S. 56 72 | Slocum (2001), S. 6 73 | Sobchack (2001), S. 112 74 | Sobchack (2001), S. 113

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Whitmans Morde verweisen auf kein utopisches Jenseits, keinen transzendentalen Plan, kein Gut und Böse. In seiner Nachfolge treten Figuren wie Brenda Spencer auf, die nichts wissen und nichts erklären können und deren Taten medial vermittelt immer wieder den dunklen Abgrund im Herzen einer sich selbst als zivilisiert betrachtenden Gesellschaft sichtbar machen. Mit New Hollywood manifestiert sich im Sinne George Sorels eine Form der Gewalt, die als „violence³GH¿QLHUWZHUGHQNDQQXQGGLHLP*HJHQVDW]]XUÄforce“, jegliche instrumentelle Funktion verloren hat.„An die Stelle diskursiver Vermittlungspraxis und der vielgliedrigen Verfahrenskette parlamentarischer Demokratie setzt sie das 3KDQWDVPD HLQHV ÃDXWKHQWLVFKHQµ +DQGHOQV GDV HEHQVR ÃDXWKHQWLVFKHµ (UIDKUXQJ HUP|JOLFKWHLQHVÃUHLQHQµ0LWWHOVMHQVHLWVGHU6HW]XQJSRVLWLYHU=ZHFNH³ So taucht die Gewalt schließlich bei Oliver Stone wieder auf: als Akt der Reinheit, der Unbedingtheit, der in einem durchmedialisierten Kosmos den Mörder Mickey Knox als moralische Instanz in Abgrenzung zur „Medienpersönlichkeit“ Wayne Gale inszeniert. Die Taten bleiben dem Wissen und Verstehen verschlossen, ihre pure Manifestation bleibt GHP%OLFNEHUODVVHQ6LHPDUNLHUHQHLQHQ%HUHLFKJHVHOOVFKDIWOLFKHU$XÀ|VXQJGHQ eine bestehende Gesellschaft per se als illegitim ausgrenzen muss, will sie überleben.

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Jacques Rancières Ausführungen zum Kino implizieren die Negation einer stringenten Filmgeschichtsschreibung. Die diachrone Entfaltung der Filmform kennt keine singulären Daten, an denen lineare Übergänge zu markieren sind. So verwirft er den historischen Bruch, den Deleuze mit dem Aufkommen des Neorealismus in Italien und dem Bruch des sensomotorischen Bandes gegen Ende des Zeiten Weltkrieges setzt. Die neorealistischen Verfahren entstünden zu keinem konkreten Zeitpunkt und seien weniger datierbaren sozialhistorischen Umbrüchen zu verdanken, als strategischen Techniken bestimmter Einzelwerke. Rancière argumentiert nicht medienontologisch, was GHQ)LOPDOV0|JOLFKNHLWEHJUQGHWREOLHJWLQMHGHPHLQ]HOQHQ)DOOGHUVSH]L¿VFKHQ Verwendung des Mediums. Die individuelle Inszenierung spannt sich vor dem Horizont zweier gestalterischer Regime, eines organischen Erzählens und dem Eindringen – auf der Ebene des Plots ±DVLJQL¿NDQWHU0RPHQWHGHUUHLQHQ%HVFKUHLEXQJDXI Auch wenn der Film an sich das Potential besitzt, die Poetik des ästhetischen Regimes der Künste einzulösen – wie es etwa in ELEPHANT der Fall ist – so changiert er doch zwischen den Polen, zwischen einer repräsentativen und einer ästhetischen Logik. Vor allem das System Hollywood bringt im Laufe des 20. Jahrhunderts ein Genresystem hervor, das die alten Hierarchien, die exakte Verteilung der sozialen Rollen innerhalb der medialen Inszenierung von Film zu Film tradiert. Die Filmgeschichte 75 | Vgl. Ehrlicher (2001), S. 53 76 | Vgl. Ehrlicher (2001), S. 59 77 | Vgl. Rancière (2006b), S. 12

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lässt sich unter diesen Prämissen nicht linear, im Sinne einer stringenten Entwicklung und eines historischen Punktes entfalten, an dem das Medium von dem einen ins andere Regime der Kunst übertritt. Auf diachroner und synchroner Ebene koexistieren Aspekte beider von Rancière explizierter Systeme. Und weitergehend: In jedem Film VLQG(OHPHQWHGHVHLQHQZLHGHVDQGHUHQ5HJLPHV]X¿QGHQ'DVbVWKHWLVFKHXQGGDV Repräsentative überlagern sich, sind ineinander verwoben. „The young art of cinema did more than just restore ties with the old art of telling stories: it became that art’s most faithful champion. […] It reinstated plots and typical characters, expressive codes and the old motivations of pathos, and even the strict division of genres.“ Es sind zwei Traditionen, die sich treffen und deren Relation in jedem Werk neu zu bewerten ist. So greift der Film 2.37 (Murali K. Thalluri, Australien 2006) in seiner Thematisierung von Gewalt an Schulen die formalen Prinzipien, die ELEPHANT basal begründen – die endlosen Gänge, der ziellos schweifende Blick der Kamera, der von einer Figur zur nächsten wechselt – auf, um mit einem strukturierten Plot die einfache Intrige aristotelischer Provenienz wieder einzuführen. Trotz der offensichtlichen formalen Anlehnung an das Vorbild ELEPHANT ist der Film aufgrund der Dominanz der Story eher im repräsentativen Regime der Künste zu verorten. Die Bilder entwickeln kein Eigenleben, sie bleiben ihrer dramaturgischen Funktion untergeordnet. Ein weiteres Beispiel repräsentativen Erzählens im Spektrum der Thematisierung von Gewalt an Schulen ist AFTERSCHOOL (USA 2008) von Antonio Campos. Der Film reinstalliert psychoanalytische Muster des Erzählens, wobei die formalen Mittel nur schlecht über das inszenierte repräsentative Weltbild hinwegtäuschen. Dies jedoch nur tendenziell, schwingt die ästhetische Potenz des Filmbildes doch in jeglicher Form der Inszenierung unweigerlich mit. „The fact is that the mechanic eye lends itself to everything: to the tragedy in suspense, to the work of Soviet Kinoks, and not least to the illustration of old-fashioned stories of interest, heartbreak, and death.“ Es sind singuläre künstlerische Operationen, die Repräsentation und Ästhetik trennen, keine ontologischen Zuschreibungen in Bezug auf das Medium Film oder die Wertigkeit bestimmter Arten von Filmen. Dies bedeutet, dass das ästhetische Regime der Künste eben auch für jene populären Filme eine Rolle spielt, die das Zentrum dieser Arbeit bilden, weil sie im Fokus der reinszenatorischen und selbstinszenatorischen Praxis der school shooter stehen. Rancière verortet die Ästhetik grundsätzlich im Populären, auch und besonders auf den 0DVVHQJHVFKPDFNDE]LHOHQGÄ'LH,GHHQ]XYHUDQVFKDXOLFKHQXPVLHÃXQWHUV9RON]X bringen‘, um die Trennung zwischen denen, die denken, ohne zu fühlen, und jenen, die fühlen, ohne zu denken, aufzuheben, ist das älteste Programm der Ästhetik.“80 Die Kunst wendet sich an Jedermann, ohne Präferenz, ohne die Absichten der lebendigen platonischen Rede, hebt die Wertigkeiten in den Zuschreibungen zu den unterschiedlichen Sinnen verschiedener Klassen auf. Die Idee einer offenen Rede, die das beliebige Individuum einschließt, ist die basale Grundlage des emanzipatorischen Gedankens. 78 | Rancière (2006b), S. 3 79 | Rancière (2006b), S. 10 80 | Rancière (2003), S. 240



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Auch die poetologische Logik des New Hollywood-Kinos ist in diesem Kontext als Bastardgeburt zu beschreiben – zwischen Fakt und Fiktion, sozialer und medialer Wirklichkeit, originellem Erzählen und der Anlehnung an die alten, traditionellen Genremuster.81 New Hollywood ist kein radikaler Bruch mit allen Traditionen des NODVVLVFKHQ (U]lKOHQV VRQGHUQ GLH 5HNRQ¿JXUDWLRQ GHV )HOGHV GHV 6LFKWEDUHQ XQWHU Rückgriff und Bezug auf die alte Ordnung. Eine Form der Kombinatorik, aus der sich neue Wege eröffnen. „Es sind Filme, die sich von den Stereotypen des Genrekinos lösen, um aus deren Versatzstücken eine je eigene poetische Ordnung zu errichten.“82 Wie alle Filme sind also auch die Werke des New Hollywood zwischen den Polen der Repräsentation und der Ästhetik zu verorten. Denn „cinema literalizes a secular idea of art in the same stroke that it actualizes the refutation of that idea: it is both the art of WKHDIWHUZDUGVWKDWHPHUJHVIURPWKH5RPDQWLFGH¿JXUDWLRQRIVWRULHVDQGWKHDUWWKDW UHWXUQVWKHZRUNRIGH¿JXUDWLRQWRFODVVLFDOLPLWDWLRQ³83 Die Geschichte des Films kann nicht anhand einer chronologischen Zeitachse geschrieben werden. 'LHVH6\QFKURQL]LWlW¿OPLVFKHU)RUPXQG(U]lKOXQJLVWMHGRFKQLFKWQXUZHVHQWOLcher Bestandteil des Mediums und seiner Imaginationen. Tatsächlich liegen die beiden kinematographischen Potentiale den Selbstinszenierungen von school shootern basal zugrunde. Denn ihr Werden ist charakterisiert durch bestimmte Verknüpfungen von repräsentativen und ästhetischen Partikeln. Mit ihren Taten überschreiten die jugendlichen Amokläufer den medialen Raum, die Bilder werden unrein, aber die Selbsterzählungen, in denen sich school shooter konstituieren, ihre Geschichten von Demütigung und Rache, sind Teil eines repräsentativen Weltbildes. Diese Figurationen von Ästhetik XQG5HSUlVHQWDWLRQYHUGLFKWHQVLFKVHLWGHQHU-DKUHQQLFKW]XOHW]WLQGHQ¿OPLschen Thematisierungen des Amokphänomens. Wie sehr die jeweiligen Bearbeitungen eines Themas auseinanderdriften können, soll anhand der vergleichenden Analyse zweier Inszenierungen – Peter Bogdaovichs TARGETS und Jerry Jamesons THE DEADLY TOWER 86$ ±GHU:KLWPDQ0RUGH gezeigt werden.

Eine Bastardgeburt: TA RGETS Die neue Art des Erzählens und des Umgangs mit den Bildern von Sex und Gewalt, wie sie sich mit New Hollywood verbindet, lässt sich an Peter Bogdanovichs TARGETS]HLJHQ'HU)LOPHUVFKHLQWDOVGLH5HÀHNWLRQXQGJOHLFK]HLWLJH,QV]HQLHUXQJGHU veränderten Codizes des Kinos.84 Der Film entstand 1968, nur zwei Jahre nach den 81 | In diesem Sinne schreibt Alexander Horwath: „Doch die lineare, gleichsam logische (QWZLFNOXQJYRQHLQHPNODVVLVFKHQUHDOLVWLVFKHQ]XHLQHPPRGHUQHQUHÀH[LYHQ.LQR ist nachträglich betrachtet fast eine Schimäre.“ Horwath (1995), S. 13 82_.DSSHOKRII  6 83 | Rancière (2006b), S. 11 84 | Peter Bogdanovich ist Teil jener Generation von Filmemachern des New Hollywood, die die Talentschmiede Roger Cormans durchlaufen haben, „die ihr Handwerk nicht im Studiosystem, sondern in den Randgebieten von Hollywood gelernt hatten:

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Whitman-Morden, die als Inspiration und Vorlage dienen. Die Figur des Amokläufers Bobby Thompson ist am Vorbild des Texas-Snipers Charles Whitman modelliert, einige der Szenen im Film folgen direkt den Stationen der letzten Tage im Leben des campus shooters. So etwa die ersten Morde Whitmans an seiner Mutter und seiner Ehefrau, der Besuch eines Waffenladens im Vorfeld der Ereignisse und der Versuch des Amokläufers seine Mordgedanken einem ignoranten Umfeld mitzuteilen. ,QVHLQHUPHGLDO¿NWLRQDOHQ*HVWDOWLVW:KLWPDQDOV)LJXULQTARGETS Teil einer ¿OPLVFKHQ %DVWDUGJHEXUW ]ZLVFKHQ NODVVLVFKHP 5HDOLVPXV XQG GHU 3RHWLN GHV 1HZ +ROO\ZRRG.LQRV,P=HQWUXPVWHKWGLH5HÀHNWLRQGHU7UDQVIRUPDWLRQGHV¿OPLVFKHQ Systems. So beginnt er als Film-im-Film und entfaltet zunächst die Motiviken der alten Hammer+RUURU¿OPHGLHLKUHUVHLWVQXUGLH6XSHU]HLFKHQYLNWRULDQLVFKVFKDXULJHQ(Uzählens auf die Leinwand bringen. Den Auftakt markiert das Bild eines kreischenden, schwarzen Vogels. Es folgt ein Establishing Shot: Ort der Handlung ist ein sturm- und regengepeitschtes Schloss inmitten eines Meeres Nach einem Schnitt sieht man einen Diener in Livree in gebückter Haltung in die Katakomben des Spukschlosses hinuntergehen. Er öffnet einen Sarg, die folgende Großaufnahme des Gesichtes einer Leiche ist quergeschnitten mit einem neuerlichen Schrei des schwarzen Vogels und der weiten Außenaufnahme des Schlosses, in der sich ein Blitz am Himmel entlädt. 'LHPHGLDONRQ¿JXULHUWH5DXP=HLWLVWVRPLW]XQlFKVWQLFKWLQGHUVR]LDOHQ:LUNlichkeit der 1960er Jahre zu verorten, vielmehr zielt TARGETS auf das Wiedererkennen GHU6]HQHULHGXUFKGHQ=XVFKDXHUDQKDQGVHLQHUSRSNXOWXUHOOHQ(ULQQHUXQJ'DV¿OPLVFKH6\VWHPGDVVLFKKLHUHQWIDOWHWLVWGLHWUDGLWLRQHOOH$UWGHV+RUURU¿OPVGHUHU Jahre, des geregelten Verhältnisses zwischen poesis und aisthesis(VLVWGHU¿OPLVFKH Bildraum der absoluten Erwartbarkeit und des schaurig-schönen Erschreckens des Zuschauers, das mithilfe konventionaliserter Schockeffekte gewährleistet wird. Ins Bild gerückt wird ein normiertes Genresystem, eine repräsentative Logik, in der jedes Element seinen strikt zugewiesenen Platz einnimmt, die Montage regulierten Anordnungen nach Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit – die als Kategorien nicht durch die soziale Wirklichkeit, sondern durch die Genretradition stabilisiert sind – gehorcht. Jener Bildraum des Spukschlosses ist im Sinne des platonisch-aristotelischen Werturteils als eigenes Raum-Zeit-Gefüge zu markieren, das keinerlei Wahrheitsanspruch erhebt. Entsprechend sind die Gesten der Figuren – etwa eine geballte Faust, die zitternd vor den Mund erhoben wird, um den Schrei zu unterdrücken – restriktive Formeln eines $XVGUXFNVV\VWHPVLP6LQQHHPS¿QGVDPHQ6FKDXVSLHOVGLHGDV,QQHUHGHU&KDUDNWHUH als Formen der adäquaten Reaktion auf die Situation zum Ausdruck bringen. Die Film-im-Film-Konstruktion wird im Folgenden entlarvt durch den Umschnitt YRQHLQHU/HLQZDQG±DXIGHUGHU+RUURU¿OP]XVHKHQZDU±LQHLQHQNOHLQHQ.LQRVDDO wo sich eine neue Situation herstellt: Die Macher des eben gesehenen Films haben sich zu einem test screening versammelt. TARGETS setzt die Dichotomie Leinwand/sozialer Raum diegetisch nicht als einfache Opposition, ist die vermeintlich sozialrealistische LP)HUQVHKHQLP([SORLWDWLRQ¿OPXQGDQGHQ)LOPVFKXOHQ³0F'RQDJK  6 Corman agierte als Produzent für TARGETS.

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Szene – im Gegensatz zur Fiktionalität des Filmbildes – doch ein Zitat und die Bildkomposition angelehnt an Jean-Luc Godards LE MÉPRIS von 1963. Die Referenz an die Nouvelle Vague markiert den medialen Unterbau dessen, was im Anschluss an die Spukschloss-Sequenz in TARGETS als soziale Wirklichkeit inszeniert wird. TARGETS Reales und Mediales diffundieren zu jeder Zeit ineinander. In diesen Kontext ist auch das gestische Spiel des Protagonisten Byron OrORNV HLQHV DOWHUQGHQ +RUURU¿OPVWDUV ]X setzen. Sein gestisch-mimischer Ausdruck setzt die Darstellungskonventionen des LE MÈPRIS Hammer+RUURU¿OPV ZLH VLH HEHQ QRFK auf der Leinwand zu sehen waren, nahtlos fort. Im Kinosaal konfrontiert er den Regisseur und den Produzenten des Films mit seiner Entscheidung, in Zukunft keine Filme mehr zu drehen. Seine Worte unterstreicht er entsprechend durch eine pathetische Geste der Endgültigkeit und lässt bewusst einen Becher Wasser zu Boden fallen. Die Besetzung der Rolle des Byron Orlok mit dem tatsächlich alternden Horror¿OPVWDU%RULV.DUORII±ZLHNHLQDQGHUHUYHUN|USHUWHUGHQHammer-Horror, weil er in unzähligen Produktionen dieses Studios als Schauspieler zu sehen war – faltet eine weitere Ebene der Verschlingung der Bildräume und des sozialen Raums auf, indem GHU 6FKDXVSLHOHU 2UORN LQ HLQ$QDORJLHYHUKlOWQLV ]XU PHGLDO SUl¿JXULHUWHQ XQG DXV anderen diskursiven Zusammenhängen bekannten Person des Schauspielers Karloff gesetzt wird. Während die Entscheidung Orloks diskutiert wird, verlässt der Schauspieler das Studiokino und die folgenden Außenaufnahmen einer Straße in Los Angeles zeigen das Amerika der 1960er Jahre. Damit tritt das Spiel der Fiktion gleichermaßen in ein weiteres Verhältnis zur zeitgenössischen sozialen Wirklichkeit.85 Orlok bezeichnet sich 85 | Hermann Kappelhoff beobachtet anhand des szenischen Raumes in THE EXORCIST :LOOLDP )ULHGNLQ 86$   HLQH lKQOLFKH 'HWHUULWRULDOLVLHUXQJ GHU (OHPHQWH GHV +RUURU¿OPVLQGHQVR]LDOHQ5DXPÄHLQHXQ]ZHLIHOKDIWYRUKDQGHQHLQYLHOHQ'HWDLOV äußerst sorgsam beschriebene soziale Realität, die der Alltagsrealität des Zuschauers in jedem Punkt zu entsprechen sucht.“ Kappelhoff (2008), S. 181. Ein prägnantes Beispiel dieses Übergangs zwischen dem sozialen Bildraum und einem über den klassischen +RUURU¿OP NRQ¿JXULHUWHQ %LOGUDXP ¿QGHW VLFK LQ $OIUHG +LWFKFRFNV PSYCHO (USA, 1960), in der dichotomischen Aufteilung des (Horror-)Wohnhauses und der sehr realen Szenerie des Motels. „So ist PSYCHO in gewissem Sinne die Visualisierung von potenzierter Ängsten, eine Dokumentation darüber, wie beide Formen der Angst, die DOOWlJOLFKHUIDKUHQHXQGGLHJHWUlXPWHPLWHLQDQGHU]XVDPPHQKlQJHQHUVFKOLH‰WGLH

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als „Anachronismus“, will seinen Platz aufgeben zugunsten der jungen Generation. Die Montage verdoppelt indes diese Szene in fataler Weise: Der Kopf Orloks ist nun in einer Irisblende als target eines Zielfernrohrs kadriert, direkt in der Mitte eines Fadenkreuzes. Der Gegenschnitt zeigt das Auge eines jungen Mannes in TARGETS Großaufnahme, wie er durch das Zielfernrohr sieht. Ein weiteres Detail folgt: ein Finger am Abzugshahn. Durch diese Einstellungsfolge ist das Thema des Films früh gesetzt: Die Konfrontation des „old horrors“ in Gestalt von Orlok mit dem „new horror“, der in der Figur des All-American-Boy Bobby Thompson als mediale Spiegelung Charles Whitmans auftritt.86 Bobby und der alternde Schauspielstar sind durch nichts verbunden, weder durch Ursache und Wirkung noch eine wahrscheinliche oder notwendige Erzählung. Sie kennen sich nicht, es gibt kein Motiv. Damit kartographiert TARGETS die Gestalt des Amokläufers, wie sie im Wissen der Moderne seit dem 19. Jahrhundert erscheint. Sein Jagdrevier ist – im Gegensatz zum traditionellen Horror, der im Spukschloss seinen Ort ¿QGHW±GHU5DXPGHVVR]LDOHQ$OOWDJVVHLQ%HGURKXQJVSRWHQWLDOLVWGLIIXV2UORNZHL‰ nicht, dass er ins Visier genommen wird, die Gewalt ist – zunächst noch virtuell – in der absoluten Beliebigkeit aufgehoben. Es sind Bilder eines entfesselten Krieges, die sich im späteren Verlauf des Films im sozialen Raum realisieren werden. Damit manifestiert sich TARGETSQRFKHLQPDODOV.LQGGHUNQVWOHULVFK¿OPLVFKHQ Tendenzen seiner Zeit. Am Beginn des Post-Hammer+RUURU¿OPVVWHKWXQWHUDQGHUHP George A. Romeros NIGHT OF THE LIVING DEAD (USA 1968), der auf der Ebene des Bildraums wie TARGETS die Phantasmen des Albtraums mit dem sozialen Alltag zu verbinden weiß: Durch Romeros Handkamera-Arbeit, die Verwendung eines kontraststarken SchwarzWeiß-Materials sowie die öde Landschaft hat der Film die ganze Zeit etwas Unmittelbares an sich, wie ein Nachrichten-Beitrag im Fernsehen, ein Gefühl, das durch den geschickten Einsatz von Radio- und Fernsehmeldungen als narrativem Element noch verstärkt wird.

Zudem lässt sich in NIGHT OF THE LIVING DEAD derselbe deterritorialisierende Modus in der Inszenierung des Horrors verfolgen, wie er sich in TARGETS im Schnitt vom Spukschloss in den Innenraum des Kinosaals zeigt: die erste Szene in NIGHT OF THE Alltagsängste […] mit den Ängsten kurz, die in unseren Alpträumen aufgehoben sind.“ 6HH‰OHQ  6 86 | Peter Bogdanovich verwendet die Systematisierungen „old“ und „new horror“ in einem Interview, das als Extra der DVD-Version seines Films beigefügt ist. 87 | Hoberman/Rosenbaum (1998), S. 118

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LÍVING DEAD¿QGHWLKU Setting auf einem Friedhof, erst von dort breitet sich der Horror in Form der Zombies beliebig in den sozialen – nicht mit dem Tod assoziierten – Raum aus. Die Figur Bobby Thompson verschwimmt in TARGETS mit der Umwelt, es gibt keinerlei sichtbare Kennzeichen, durch die er als potentieller Gewaltverbrecher markiert wird, insofern verkörpert er die Normalgestalt der Amok-Erzählung, aus der die soziale Katastrophe ohne erkennbare Indizien hervorbricht. Seine Kleidung ist unauffällig elegant, er trägt Anzug und Krawatte, die Frisur ist adrett gescheitelt, freundlich lächelt er VHLQHQMHZHLOLJHQ*HJHQEHUDQ±HLQQLFKW]XLGHQWL¿]LHUHQGHU-HGHUPDQQ Bobby entlässt Orlok zunächst aus dem Fadenkreuz ohne zu feuern, die Dramaturgie durch die Parallelität zwischen ihm und Orlok – es gibt alternierend jeweils eine Szene mit der jeweiligen Haupt¿JXU ELV ]XP (QGH GHV )LOPV ± EHGHXWHW das verbindliche narrative Skelett von TARGETS. Dabei sind die Szenen aber nur TARGETS ORFNHUYHUEXQGHQDEJHVHKHQYRP¿QDOHQ Showdown zwischen Thompson und Orlok, der jedoch durch keine vorher entfaltete narrative Wahrscheinlichkeit motiviert ist. Die Beziehung der beiden Protagonisten besteht allein in der formelhaften Konfrontation verschiedener Arten des Horrors, sie folgen – entgegen den Normen der klassischen Erzählung – keinen Zielen, die ihren 8UVSUXQJLQFKDUDNWHUOLFKHQ'LVSRVLWLRQHQ¿QGHQXQGGLHLQ.RQÀLNW]XHLQDQGHUVWHhen würden. Die Szenenfolge des Films markiert lose Situationen und Stationen, die $XVHLQDQGHUVHW]XQJGHVDOWHQPLWGHPQHXHQ+RUURUGHU.RQÀLNW]ZLVFKHQ2UORNXQG Thompson ist dem Zufall geschuldet, nicht der Binnenlogik einer aristotelisch gebauten Erzählung.

The Portrait of an American Family Unaufgeregt verfolgt die Kamera Bobby Thompson an seinem letzten Tag, in den 6WXQGHQ YRU GHP ¿QDOHQ Shoot-Out. Der spätere Amokläufer fährt nach Hause und durchstreift das Pastellblau seines Heimes wie ein Fremder. Interessiert-distanziert und neugierig betrachtet er die ausgestellten Fotos, die ihn selbst und seine Frau zeigen. Im Off sind die Stimmen seiner Familie zu hören, aber er bleibt still, gibt sich nicht zu erkennen. An den Wänden hängen Gewehre wie dekorativer Schmuck. Das Haus atmet Künstlichkeit, ist in seiner überbordenden Perfektion als Schauraum amerikanischer Werte und Heimeligkeit inszeniert. Bobby begrüßt schließlich die Mitglieder jener FaPLOLHGLHVHLQHHLJHQHVHLQVROOVHW]WVLFKDQGHQ(VVWLVFK¿QGHW(LQJDQJLQHLQ%LOG das emblematisch die nicht zu erreichende Utopie der amerikanischen Kleinfamilie kadriert. Der Umgang ist herzlich, es wird viel gelächelt und geholfen, die Generationen – Vater und Sohn – verstehen sich. Später sitzt die Familie einig vor dem Fernseher, ein Bild, das der heilen 1950er Jahre Welt, die Oliver Stone in NATURAL BORN KILLERS von Zeit zu Zeit einschneidet, wie ein Ei dem anderen gleicht.

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Später am Tag vertreiben sich Vater und Sohn die Zeit mit gemeinsamen Schießübungen. Wie schon im Haus sind Waffen einfach konstitutiver Teil des Alltags, genuiner Bestandteil des Bildes der vorbildlichen amerikanischen Familie und fungieren als verbindendes Element zwischen den Generationen. Der Missbrauch der Jagdwaffe durch Bobby erscheint zunächst als Verlängerung dieser alltäglichen Normalität. Der Sohn zielt am improvisierten Schießstand mit der Waffe auf seinen Vater. Er tut dies mit einem Gesicht, das keinerlei emotionale Regung zeigt, der mimische Ausdruck bleibt leer, allenfalls eine interessierte Neugier ist in TARGETS GHU EODQNHQ 2EHUÀlFKH VHLQHV *HVLFKWHV zu erkennen. Die Kamera muss die Figur Bobby erst in ein relationales Verhältnis zur Umwelt setzen, um ihr Verhalten als Fehlverhalten zu markieren. Der Vater weist den Sohn scharf zurecht. Man ziele nicht auf Menschen. Bobby wird im Anschluss stark aufsichtig kadriert, die Inszenierung verwandelt ihn so in einen kleinen Jungen, der VLFKKLOÀRVDQVHLQ*HZHKUNODPPHUW'DPLWUFNWDXFKGLHVWUXNWXUHOOH+LHUDUFKLHGHU DPHULNDQLVFKHQ)DPLOLHLQLKU5HFKW.RQÀLNWHZHUGHQYRP3DWULDUFKHQPLWV\PEROLscher Gewalt geregelt.

Die sicht- und die sagbare Gewalt Bogdanovich setzt die beiden Arten der Bedrohung, den alten und den neuen Horror, entlang der zeitlichen Entfaltung von TARGETS beständig gegenüber. So sieht man Bobby zu seinem Wagen gehen, um eine Pistole zu holen. Währenddessen sitzt Orlok mit dem jungen Regisseur Sammy Michaels – den der Regisseur des Films Peter Bogdanovich spielt – in seinem Hotelzimmer und schaut im Fernsehen einen alten Film an, in dem der Schauspieler Byron Orlok / der Schauspieler Boris Karloff mitgespielt hat – Roger Cormans THE CRIMINAL CODE (USA) von 1931. Auf dem Bildschirm ist ein Bedrohungsszenario zu sehen, das alle Merkmale des alten Horrors, wie er sich mit den Hammer-Productions YHUELQGHWQRFKHLQPDODNWXDOLVLHUW'LHVWXPP¿OPKDIW ausgedrückten Szenen von Angst und Bedrohung funktionieren über die Konventionen der expressiven schauspielerischen Darstellung. Über den Film-im-Film werden die unterschiedlichen, sich mit New Hollywood transformierenden Kodes des Sichtbaren expliziert. THE CRIMINAL CODE repräsentiert die Gewalt nach Substitution und Manifestation. Die von Karloff gespielte Figur Ned Galloway treibt sein Opfer allein durch seine imposante Erscheinung vor sich her, die folgende Gewalt wird als Bild ausgespart. Galloway schließt die Tür hinter sich und sperrt damit den Blick des Zuschauers aus, die folgenden Aktionen bleiben allein der Fantasie des Rezipienten überlassen.

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Um den Unterschied in der Qualität des Horrors ein weiteres Mal zu explizieren, zeigt Orlok seinem Regisseur Sammy Michaels die Titelseite einer Tageszeitung, auf der er die Zeichen des zeitgenössischen Schauders zu erkennen glaubt. Der Aufmacher lautet: „Youth Kills Six In Supermarket“. Damit ist jene Gewalt herbeizitiert, die sich von den zugewiesenen Orten des Schreckens entkoppelt hat und unvermittelt, ohne Motiv in den sozialen Alltag einbricht. In einer späteren Szene erzählt Orlok William Somerset Maughams Kurzgeschichte The Appointment in Samara nach. Damit kategorisiert TARGETS die Formen der Gewalt. Der Horror, der über die Gestalt Orloks manifest wird, ist ein sagbarer, ein abstrahierter, ein wohliger Schauer, im Gegensatz zur Bildlichkeit und Sichtbarkeit, die sich mit Bobby Thompson verbindet. Orloks Gewalt zielt auf die Fantasien seiner Zuschauer/Zuhörer, Thompsons Gewalt zielt direkt auf den Körper seiner Opfer. In der Parallelszene liegt Bobby Thompson zu Hause rauchend auf dem Bett und wartet auf die Rückkehr seiner Frau. Als sie den Raum betritt, fordert er sie auf, das Licht nicht anzuschalten. Die Kamera zeigt seine liegende Gestalt, das Gesicht ist durch den Schatten verdeckt und illustriert die Gesichtslosigkeit des Killers. Kein-Gesicht-Haben und das Gesicht des durchschnittlichen Jedermanns treffen sich an einem 3XQNWGHUXQP|JOLFKHQ,GHQWL¿]LHUEDUNHLW Das Bedrohungspotential Bobbys realisiert sich auch in dieser Szene noch nicht, gerade weil sich der neue Horror von seinen tradierten Orten und Zeiten (die Dunkelheit der Nacht) entkoppelt. Erst in der Helligkeit des nächsten Morgens – Bobby sitzt gerade an der Schreibmaschine und tippt seinen Abschieds-, bzw. Bekennerbrief – ermordet Bobby seine Frau, als sie das Zimmer betritt. Ohne Vorwarnung erTARGETS schießt er sie, genau wie alle anderen Mitglieder seiner Familie, die im Haus seinen Weg kreuzen. Die Inszenierung der Morde ist hybride. Auf der einen Seite nutzt sie das alte System des reglementierten Ausdrucks der Gewalt über die vor Entsetzen verzerrten Gesichter der Schauspieler und formale Mittel wie die Slow Motion. Auf der anderen Seite lassen sich Elemente der ausbuchstabierten graphischen Gewalt beobachten, bei der der Akt des Tötens zu sehen ist – im Gegensatz zur Gewalt in THE CRIMINAL CODE, die den Augen des Zuschauers verschlossen bleibt. Der Mord Bobbys an seiner Frau LVWVFKQHOOKDUWXQGHOOLSWLVFKJHVFKQLWWHQYROOHU8QVFKlUIHQXQG*UR‰DXIQDKPHQ¿Omisches State of The Art der 1960er Jahre. Gleichzeitig ist der Eintritt der Kugel nicht ]XVHKHQGHUGXUFKGHQ5DXPÀLHJHQGH.|USHUGHU(KHIUDXYHUZHLVWDXIGHQW|GOLFKHQ Einschlag, aber nur über ein entsprechend reglementiertes Ausdruckssystem, das abstrahiert und dem Rezipienten bekannt sein muss, um das Geschehen zu verstehen. Die Morde sind unmotiviert, die Bilder zeigen die absolute Isolation Bobbys gegenüber seinem Milieu. Er ist ein Produzent von Bildern fataler Gewalt in einer idyllisch-befriedeten Pastellwelt, in der alles seinen Platz hat. Die Pose Bobbys ist die

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des Revolverhelden, des Cowboys, dekontextualisiert und deterritorialisiert aus dem medialen Ursprungsmilieu des Westerns, die Bildregime überlagern sich. Figur, Verhalten, architektonischer Raum und soziale Situation stehen sich fremd gegenüber und verschmelzen doch auf der Ebene des Bildraums zu einem unentwirrbaren Amalgam. Als Bobby im Inneren des Hauses die Leichen drapiert, sind im Off freudiges Vogelgezwitscher und die leisen Stimmen spielender Kinder zu hören. TARGETS lässt sich an dieser Stelle viel Zeit für reine Beschreibungen von Tätigkeiten, die keinerlei Spannung oder narrative Wertigkeiten versprechen und die sich an TARGETS den realen Vorgängen im Hause Charles Whitmans nach dessen ersten Morden orientieren. Nach dem Arrangieren der Leichen streift Bobby durch die Zimmer, wischt Blut vom Küchenboden, die Kamera streicht in autonomen, von der Figur entkoppelten %HZHJXQJHQEHUGLH2EHUÀlFKHQGHVDUchitektonischen Raums, wortlos, haltlos, eine Spurensuche, die keine Erkenntnisse bringt außer den wenigen Zeilen Bobbys, dem sauber getippten Bekennerschreiben: „TO WHOM IT MAY CONCERN: / IT IS NOW 11.40 A.M. MY WIFE / IS STILL $6/((3%87:+(16+(:$.(683 Das erste Opfer Whitmans: I AM GOING TO KILL / HER. THEN I seine Mutter Margaret Whitman AM GOING TO KILL / MY MOTHER.  , .12: 7+(GLH@*HOHKULJNHLWGHU.|USHUVLHZHLVHQMHGHP,QGLYLGXXP HLQHQ JHQDX JHNHQQ]HLFKQHWHQ 3ODW] ]X PHKU QRFK VLH GH¿QLHUHQ MHGHV ,QGLYLGXXP durch genau den Platz, den es im gesamten Funktionszusammenhang einnimmt.“ Gebauer (2004), S. 28. Gleichzeitig zeigt Gebauer im Anschluss an Bourdieu, dass dieser Prozess der Vergesellschaftung nicht einseitig deterministisch gedacht werden darf. Die soziale Ordnung bleibt immer abhängig von der Realisation der Ordnung durch die jeweiligen Subjekte. „Subjektive und objektive Ordnungen korrespondieren einander.“ Gebauer (2004), S. 28. Die Ausgestaltung des Sozialen (Verhaltens) bleibt somit immer eine Angelegenheit der individuellen Aushandlung.

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Untersicht. Die Einstellung symbolisiert Macht, gleichzeitig wird der sprechende Lehrer durch die Strukturierung des gebauten Raums als Spitze der Hierarchie inszeniert. Die Korrelation solcher Bilder zu den Selbstinszenierungen und –erzählungen heutiger school shooter ist keine abstrakte Analogie, sondern die Selbstaussagen der Täter sprechen von dieser bestimmenden Strukturierung des Raums und der Zeit, wie sie sich in IF… dem Betrachter eröffnet. Eric Harris schreibt in seinem Journal: +DVWGXGLUVFKRQPDOEHUOHJWZDUXPZLULQGLH6FKXOHJHKHQ">«@$XIGLHVH:HLVH will die Gesellschaft alle jungen Leute in gute kleine Roboter und Fabrikarbeiter verwandeln. Deshalb sitzen wir an Tischen in Reihen und richten uns nach Schulglocken und Stundeplänen […] Die wenigen, die ihren Instinkten folgen, werden ausgestoßen […] Gesellschaft und Regierung sind nur erfunden worden, um Ruhe und Ordnung zu bewahren, was genau das Gegenteil von menschlicher Natur ist.59

Bastian Bosse schreibt in seinem Tagebuch: „Und dann wäre Ja noch unsere geliebte Schule… Zu vergleichen mit der Hitler Jugend. Wirst einer Gehirnwäsche unterzogen, ohne das du es merkst. Dir wird eingeprügelt was gut und was schlecht ist… in ihren Augen.“60 Bild und gelebte Erfahrung gleichen sich an, IF… modelliert den sozialen 5DXP6FKXOHEHUGHQ%LOGUDXPDOV5HÀHNWLRQVUDXPHLQHUEHNDQQWHQXQGDOV0|Jlichkeitsraum einer noch nicht realisierten Anordnung von Handlungen.

Die Kunst des Delinquenten Zwei Elemente sind entscheidend für den Bruch mit der inszenierten hierarchischen Ordnung in IF… Zum einen die Deregulation der Bildökonomie des Internats durch GLH )RWRJUD¿HQ GLH GHQ SULYDWHQ 5DXP Micks beherrschen. Sie werden diametral der Kargheit des Klassenzimmers entgegengesetzt. Durch die Abbildungen aus Illustrierten, mit denen die Schüler den Raum – der ihrer eigenen Kontrolle unterliegt – tapezieren, öffnet sich ein anderer Möglichkeitsraum der Wahrnehmung und des Handelns. Die Waffen und die Gewalt dringen zuallererst über die Bilder in den hermetisch abgeriegelten (Bild-)Raum Schule. Mick liegt auf seinem Bett und IF... schießt mit einer Spielzeugpistole auf die )RWRJUD¿HQDQGHU:DQGVFKRQKLHUZDKOORVHUWULIIWNHLQH8QWHUVFKHLGXQJ]ZLVFKHQ 59 | Harris, zitiert nach Gaertner (2009), S. 124f 60_%RVVH]LWLHUWQDFK6]XPHOGD  6

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einem Pin-Up und dem Portrait Charles de Gaulles. Seine Einübung in die Gewalt, GLH]XP6FKOXVVGHV)LOPVLKUHQ$XVEUXFKLPDNWXHOOHQVR]LDOHQ5DXP¿QGHQZLUG schneidet IF… quer mit der Ansprache der Lehrer in einem Saal traditionellen AmbiHQWHV XQG GHP UK\WKPLVFKH %HLIDOO GHU ÃJXWHQµ 6FKOHU GK MHQHU GLH HQWVSUHFKHQG des zu verinnerlichenden hierarchischen Prinzips die geforderten Gesten produzieren. 'LH1HXDXIWHLOXQJGHV6LQQOLFKHQGLH]XQlFKVWDOV¿NWLRQDOHU,QQHQUDXPDXVJHdrückt über die Figur Micks, Gestalt gewinnt, offenbart sich als deregulierende Kraft der territorialen und zeitlichen Verschiebung, die über die Bilder medial vermittelt werden. Das Internat wirkt mit Ausnahme der privaten Schülerzimmer verschlossen gegenüber anderen Räumen und Erfahrungen. Es gibt eine von den Lehrern ausgesprochene Ausgangssperre, ein explizites Verbot, die Stadt zu besuchen. Im gleichen *HVWXVZHUGHQGLH6FKOHULQHLQHEHUNRPPHQH=HLWYHUVHW]WÃ0RGHUQLWlWµGKGDV zeitgenössische Leben der 1960er Jahre ist nur an der individuellen Gestaltung der Schülerzimmer abzulesen – zum Beispiel dem Plattenspieler in Micks Zimmer – der restliche Teil des Gebäudes verweigert sich jeglicher Neuerung und ist nur schwer historisch einzuordnen. Seine Raum-Zeit ist die Ewigkeit der Werte Loyalität, Tradition, Gott und Vaterland. Das zweite Element der Deregulation ist die Missachtung der Ausgangssperre. Mick und sein Mitschüler Johnny gehen trotz des Verbotes in die Stadt, klauen ein Motorrad und besuchen im Anschluss ein Café. Die Einübung der neuen Rolle als Juvenile Delinquent gerät auch hier zu einem Spiel mit medialen Images. Mick tätschelt vor dem Café das Motorrad als wäre es ein Pferd und er ein Cowboy. Die Raum-Zeit des Cafés ist eine ganz andere als die chronisch-stockende Zeit des Internats. Mick und Johnny bestellen an der Theke einen Kaffee, serviert wird er von einer unbekannten Schönheit, die in den Credits DOV Ã7KH *LUOµ JHIKUW wird. Unvermittelt beugt sich Mick über den Tresen, küsst sie und fängt sich eine Ohrfeige ein. Im Anschluss läuft er hinüber zur Jukebox, der sakrale Gesang eines Kinderchors ist zu hören. The Girl berührt Mick sachte an der Schulter, dreht ihn um, sagt „Look at me.“ Es entwickelt sich eine bizarre Sexszene zwischen dem IF... Internatsschüler und der Kellnerin, die aus GHU1RUPDOJHVWDOWXQYHUPLWWHOWKHUYRUEULFKWXQGLQLKUHU¿OPLVFKHQ*HVWDOWXQJDQGLH

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Eröffnungsszene in NATURAL BORN KILLERS erinnert. Die Annäherung der Leiber erfolgt über das spielerische Ausagieren einer fremden Rolle, eines Tier-Werdens von Mick und The Girl, die sich in Gestik und Mimik in Tiger verwandeln. Die am Internat – und somit im Film bis zu diesem Zeitpunkt – ausgeschlossene Erfahrung der Erotik, GLH GXUFK GLH )RWRJUD¿HQ DQ GHU :DQG GHV 6FKOHU]LPPHUV EHUHLWV (LQJDQJ JHIXQden hat in die Bildökonomie des Films, wird über die Montage als reines Spiel der Möglichkeiten inszeniert, in einem Feld der Ununterscheidbarkeit von Aktuellem und Imaginärem. Mick und The Girl wälzen sich nackt am Boden, nur um im Anschluss – nach einem harten Schnitt – mit Johnny gesellig an einem der Tische des Cafés zu VLW]HQ'HU6WDWXVGHU%LOGHUGHV6H[HVEOHLEWLP9DJHQ8QGH¿QLHUWHQUHLQHV3RWHQtial bezogen auf die Handlungslogik des Films. Die Stringenz eines durchgängigen Raum-Zeit-Kontinuums wird auf der Ebene des Bildraums und der Verknüpfung der Inhalte im Sinne sensomotorischer Verknüpfungen aufgegeben zugunsten eines freien Assoziierens der Bildfragmente. Die möglichen Anschlüsse werden unkontrollierbar und steigen ins Unendliche. Diese Entkopplung der normierten Bezüge zwischen den Bildern, zwischen dem Sicht- und dem Sagbaren, ist die konstitutive Vorstufe für das Massaker am Ende des Films. In den medialen und sozialen Erfahrungen, die die reglementierte Bildökonomie des Internats aufbrechen, manifestiert sich eine alternative Seins- und Wahrnehmungsweise, die zum Kern allen dissensuellen Verhaltens wird. Über die Fiktion und die Ununterscheidbarkeit der Regime Imaginär und Real formiert sich der Schülerkörper als emanzipierter sexueller und gewalttätiger Körper. Die Gewalt am Ende des Films richtet sich strikt gegen die Gemeinschaft als solche, das repräsentative Regime des alten Englands, die normierte und hierarchisch gegliederte Verteilung der sozialen Rollen. Die Opfer setzen sich zusammen aus Würdenträgern des Militärs und der Kirche, Armeehäuptern, Rittern, Bischöfen. Mick kämpft an gegen die repräsentative Ordnung und setzt das Prinzip der Demokratie in der Gleichheit der Opfer, die seine Maschinenpistole zur Strecke bringt, in Szene. Vor dem Mündungsfeuer sind alle gleich. Es ist die Welt des Chors und des gemeinsamen Gesangs, gegen die sich die Rebellion Micks richtet. Er kämpft gegen die Hierarchien innerhalb der opulenten Bilder, die in ihrer Gestaltetheit immer Machtverhältnisse implantieren, indem sie die sichtbare Welt vermessen. Über das Tier-Werden werden diese funktionalen Bezüge außer Kraft gesetzt.

Die Auf lösung der Repräsentation IF… changiert zwischen den Systemen, um den Untergang des einen zugunsten des anGHUHQLQ6]HQH]XVHW]HQ'DEHLVFKDIIWGHU)LOPVSH]L¿VFKH.RQ¿JXUDWLRQHQ]ZLVFKHQ den repräsentativen und den ästhetischen Elementen. Der Film ist hybride gewebt und inszeniert so die Abkehr vom reinen Drama, wie es etwa BLACKBOARD JUNGLE oder THE DELINQUENTS wählen. Damit ist IF… als politischer Film zu werten, greift er doch unmittelbar und dissensuell in die Aufteilung des Sinnlichen ein, indem er die Hierarchie der sozialen Rollen umkehrt. Der Film wendet sich explizit gegen die KompositiRQVVWUDWHJLHQGHU5HSUlVHQWDWLRQGHQQÄGDV6\VWHPGHU5HSUlVHQWDWLRQGH¿QLHUWH]Xgleich mit den Genres die Situationen und Ausdrucksformen, die der Niedrigkeit oder

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Höhe des jeweiligen Gegenstandes entsprachen. Das ästhetische Regime der Künste löst diese Verknüpfung von Gegenstand und Darstellungsweise auf.“61 IF… kennt die Genreelemente wie die Pose des Cowboys, deterritorialisiert die Western-Elemente und löst sie aus ihrem zeitlichen Horizont, um sie in spielerischironischer Form im England des 20. Jahrhunderts zu reinstallieren. So wird die klassisch dramatische Szene, in der ein Schüler in der Toilette misshandelt wird, gebrochen durch einen anderen Schüler, der in der Kabine nebenan sitzt und Gitarre spielt. Diese Hybridisierung ist eben nur im Kontext der allgemeinen Befreiung der Filmform in den 1960er Jahren zu lesen und wäre im Juvenile-Delinquent-Movie der 1950er Jahre undenkbar gewesen. Dort muss der Inhalt noch mit der sozial erwarteten und normierten Genreform verknüpft werden. Symptomatisch sind in dieser Hinsicht die jeweils einführenden Worte, die – entweder als Rolltext oder als Voice-Over – sowohl BLACKBOARD JUNGLE als auch THE DELINQUENTS vorangestellt sind. Beide Filme schließen direkt an die Strategien der Kopplung von Sicht- und Sagbaren an, wie sie durch den VRFLDOJXLGDQFH¿OP bekannt sind. Formal und inhaltlich stehen sie in der Tradition des pädagogischen Films und sind an ein gesellschaftlich konventionalisiertes System der Wirkung audiovisueller Inhalte gekoppelt. Dem Wortlaut nach geht es um die Sichtbarmachung sozialer Probleme, um Agendasetting. Die Bilder werden UKHWRULVFKJHEXQGHQDQHLQHUNOlUWHV=LHOGHU$XINOlUXQJLP6LQQHHLQHV/HKU¿OPVXQG die Bilder werden vor den moralisch gesicherten Horizont gesellschaftlicher Verhandlung gerückt. Die Erzählperspektive ist in beiden Fällen auf der Seite des Konsens zu ¿QGHQ DXI GHU 6HLWH GHV ÃJXWHQµ /HKUHUV 'DGLHU E]Z GHV ÃJXWHQµ 7HHQDJHUV 6FRWW\ White. BLACKBOARD JUNGLE und THE DELINQUENTS erklären damit ihren hohen moralischen Anspruch, tendenziell sind sie im repräsentativen Regime der Künste anzusiedeln. Denn erst mit dem ästhetischen Regime der Künste erscheint eine Ordnung des Denkens in der die Künste von den Normen der Darstellung entbunden sind, das heißt vom System der Äquivalenzen, Hierarchien und Korrespondenzen, die zum einen die wertvollen von den vulgären Sujets differenzieren, und zum anderen die Formen, die ihnen zukommen, und die Ausdrucksweisen, die ihnen angemessen sind, festlegen.62

IF… hingegen entfaltet die Perspektive des unerbittlichen Rebellen Mick, einen dissensuellen Blick auf die Zustände des sozialen Subsystems Schule, ersucht nicht defensiv um Verständnis und bietet keinerlei integratives Potential.

Legitime und illegitime Gewalt Ausgehend von den Umbrüchen der 1960er Jahre konkretisiert sich der Bildraum Schule als ein Ort des beinahe beliebigen Anschlusses. Spiele, Träume und Fantasien dringen ein, bevölkern den Raum als einen Horizont des Möglichen, bis hin zur bild61 | Rancière (2006c), S. 52 62 | Rancière (2003), S. 240

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gewordenen Rachefantasie in THE BASKETBALL DIARIES. Die Traditionen werden dabei nicht verworfen, wie Hermann Kappelhoff mit Blick auf das Verhältnis von Stanley Kubricks A CLOCKWORK ORANGE (UK 1971) und Nicholas Rays REBEL WITHOUT A CAUSE schreibt: Man wird feststellen, dass A CLOCKWORK ORANGE in einer Art grotesker Spiegelung an jeder dieser Szenen [aus R EBEL WITHOUT A CAUSE] die ihnen innewohnende asoziale Gewalt offenlegt. Die Mädchen, die den Helden umlagern, werden [in A CLOCKWORK ORANGE@ EXFKVWlEOLFK ]XP 'HNRU XQG GHU 6FKOXFN DXV GHU 0LOFKÀDVFKH ZLUG ]XP 6WUDKODXVGHQ%UVWHQGHU3ODVWLNVNXOSWXUHQGHU7DQ]GHUPHVVHUVWHFKHQGHQ5LYDOHQ wird von beschwingter Musik begleitet und die exhibitionistische Knutscherei der Jugendlichen wird zur Lifeshow einer Vergewaltigung auf offener Bühne.63

Gleichzeitig mit der Neustrukturierung des Sichtbaren erfolgt die Neukodierung des Juvenile Delinquent als positive Figur. Die Untersichten, die Mick am Ende von IF… schießend auf dem Dach zeigen, vermitteln durchaus eine Aura des Heroischen. Damit verbinden sich Vorstellungen und Wahrnehmungsweisen, die sich gesamtgesellschaftlich durchsetzten. „The oppositional stance of the [60s] counterculture, certainly among is righteous participants, often among chroniclers, was seen as a positive and pure response to the greater illness of the dominant culture.“64 Seung-Hui Cho versucht in und mit seinen Selbstinszenierungen an diese positive Besetzung des Außenseiters als Figuration des Rebellen, der gegen die normierte, unerträgliche soziale Ordnung aufbegehrt, anzuknüpfen.65 Eine Erfolgsgeschichte, die vor allem mit dem Bild James Deans ihren Anfang nimmt: „Through him [Dean] Rebel [Without a Cause] did more than depict the style and autonomy of teenage life in the 1950s: attractive in his alienation, self-assured even in his confusion, Dean validated it.“66 Was an IF… festgemacht werden kann, ist die Verschiebung der Gewalt, die an Orten manifest wird, an denen sie institutionell ausgeschlossen oder Teil einer HieUDUFKLHLVWGLHLQLKUHU)XQNWLRQIHVWGH¿QLHUWLVW'DVGLVVHQVXHOOH0RPHQWLVWQLFKW die strukturelle Gewalt, die manifest wird, als Mick von den Lehrern für seine Vergehen bestraft wird und seine Schreie das ganze Schul- und Internatsgebäude bedecken. Das dissensuelle Moment der Gewalt erscheint erst in der deterritorialisierten und dekontextualisierten revolutionären Gewalt am Ende des Films, weil diese an Bilder gebunden ist, die innerhalb der Bildökonomie des Ortes ausgeschlossen sind. Was mit 63 | Kappelhoff (2008), S. 162 64 | Doherty (1988), S. 49 65 | Laut Christian Fuchs liegen diese positive Assoziationen auch dem Akt des Filmemachens zugrunde: „Viele Filmemacher und Künstler – wie John McNaughton, Terence Mallick oder der New Yorker Maler Joe Coleman – suchen aber genau diesen Verstörungseffekt [der sich in bzw. nach den Taten von Serienmördern oder Amokläufern einstellt], weil sie darin Subversion verspüren.“ Fuchs (1995), S. 22 66_'RKHUW\  6

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New Hollywood erscheint ist weniger eine Militarisierung des Kinos, als eine Militarisierung der Ausgeschlossenen, denn New Hollywood konstituiert sich vor allem über eine Bildökonomie der illegitimen Gewalt. Mit Blick auf die Filmgeschichte und deren Verhandlung durch Zensur und Anklage offenbart sich das Risiko der Gewaltdarstellung nicht mit den Bildern des Tötens an sich, sondern allein mit der Darstellung des richtigen Tötens. Dies zeigt sich im Besonderen auch an school shootings und ihrer Funktion als Ereignis zur Herstellung der Gesellschaft als Ganzes: „More so than sexuality, violence stands as a potential threat to the very fabric of society, and the capacity to differentiate legitimate and illegitimate uses of force lies at the very heart of the notion of government.“68 Die Gewalt ist von Beginn an Teil kinematographischen Zeigens – drei frühe Filme der Edison-Company heißen THE EXECUTION OF MARY, QUEEN OF SCOTTS (Alfred Clark, USA 1895), SHOOTING CAPTURED INSURGENTS (USA, 1898), EXECUTION OF CZOLGOSZ WITH PANORAMA OF AUBURN PRISON (USA, 1901) und zeigen sehr explizit reinszenierte Hinrichtungen durch das Beil, das Gewehr und den elekEXECUTION OF CZOLGOSZ trischen Stuhl. Gleichzeitig bilden diese Filme keinen Anlass für kulturpessimistische Kritik, weil sie Formen der von der Regierung ausgeübten Gewalt in Szene setzen. Was dagegen schnell in den Fokus der =HQVXUJHUlWVLQGGLH%R[HU¿OPHGLHVHLWDOV*HIDKUIUGLHDOOJHPHLQH2UGQXQJ betrachtet werden.69 Die jeweilige Gesellschaftsformation rastert das Feld des SichtbaUHQQDFKOHJLWLPHQXQGLOOHJLWLPHQ%LOGHUQGHU*HZDOWXQGVFKDIIWGDPLWGLH'H¿QLWLRQ GHVVHQZDVVR]LDODN]HSWLHUWLVWXQGLQZHOFKHU)RUPGLH*HZDOWDXVGHURI¿]LHOOHQ Bildökonomie ausgeschlossen werden muss. So sind es in der ersten Hälfte des 20. -DKUKXQGHUWVSULPlUGLH*DQJVWHU¿OPH±LP*HJHQVDW]]XP:HVWHUQRGHUGHP.ULHJV¿OP±GLHLQGHQ9HUGDFKWGHU|IIHQWOLFKHQ0HLQXQJJHUDWHQ ,QFRQWUDVWWRWKHFRQVWHUQDWLRQRYHUJDQJVWHU¿OPV>«@WKHUHZDVUHODWLYHO\OLWWOHSXEOLF RXWFU\RYHUZHVWHUQV$QRWKHU¿OPJHQUHWKDWUHFHLYHGOLWWOHFULWLFDOFHQVXUHRYHUYLROHQFHZDVWKHLQKHUHQWO\YLROHQWJHQUHRIZDU¿OPV>«@7KHODFNRIRXWUDJHRYHUWKHVH two genres reinforces a broader sense that critiques of violence were not so much about 67 | Als solche ist die Gewalt selbst nur schwer zu greifen, d.h. der Begriff im Verhältnis zu seinen Bildern unterliegt mannigfaltigen kulturellen Deutungen: „Lurking behind PDQ\HIIRUWVWRGH¿QHDFWVRIYLROHQFHDUHWKHFRPSOH[FXOWXUDOSURFHVVHVZKLFKVRPH EHKDYLRUVDQGDFWLRQVDUHPDUNHGÃYLROHQWµDQGRWKHUVQRW³6ORFXP]LWLHUWQDFK3KLOLSSV (2008), S. 52 68 | Phillips (2008), S. 53 69 | Vgl. Phillips (2008), S. 55

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the depiction of violence itself as they were about the prosocial versus antisocial tone of the violence.

Im Herzen der Debatten um die mediale Inszenierung von Gewalt geht es also weniger um die Frage nach der Darstellung von Gewalt an sich, sondern immer nur um die 'H¿QLWLRQVPDFKWEHUGLH)RUPHQYRQOHJLWLPHUXQGLOOHJLWLPHU*HZDOW(UVWLQGHP Moment, in dem der Amoklauf seine kulturelle Kontur verliert, als sozial akzeptiertes Verhalten dekontextualisiert und als Modi der Beschreibung einer katastrophalen Ereignishaftigkeit in der alten Welt benutzt wird, etabliert er sich als Form der illegitimen und damit als Form der auszuschließenden Gewalt. In diesen Kontext ist auch der Verweis Michael Moores in BOWLING FOR COLUMBINE zu setzen, der im Interview mit Marilyn Manson anspricht, dass das Columbineshooting und die massivsten amerikanischen Bombenangriffe auf den Kosovo am selben Tag stattfanden. Damit wird der Unterschied zwischen legitimer – weil staatlich sanktionierter – und illegitimer – weil dem staatlichen Gewaltmonopol widerstreitender – Gewalt evident. Die Bilder des Krieges im Kosovo werden in keinen Zusammenhang zu Littleton gebracht, aber Marilyn Manson als Sündenbock der öffentlichen Meinung gesetzt, wobei die staatlich legitimierte Gewalt aus dem Blick gerät.

Charles Manson Superstar: Die Paranoia als Erzählform Die obsessive Beschäftigung mit dem Bild des Verbrechers und die Aura von Glamour, die sich mit der Ikonographie des Mörders verbindet, geht vor allem auf einen Mann zurück, der auch in NATURAL BORN KILLERS während des TV-Interviews zwischen Wayne Gale und Mickey Knox als der ungeschlagene König der TVQuote zitiert wird und der die – neben Marilyn Monroe – zweite Hälfte des Künstlernamens von Marilyn Manson bildet: Charles Manson. Das Bild des Massenmörders als Superstar erlebt seinen

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70 | Phillips (2008), S. 61 71 | Die Strategie des Sündebocks hat Tradition in der amerikanischen Geschichte: „The criminal and the violent act also serve the politics of scapegoating. Richard Nixon proQRXQFHG&KDUOHV0DQVRQÃJXLOW\µEHIRUHWKHFDVHZHQWWRWKHMXU\DQG0DQVRQ¶VSURVHFXWRUVSRNHRI0DQVRQDVÃWKHHYLOHVWPDQZKRHYHUOLYHGµDVWKHERPEVZHUHIDOOLQJRQ Cambodia.“ Sharrett (1999), S. 13 72_'LH 9HUHKUXQJ YRQ 0DVVHQ RGHU 6HULHQP|UGHUQ ¿QGHW LKUHQ 7UDGLWLRQVOLQLH LP Ruhm der Gangster im frühen 20. Jahrhundert. „In 1929, historian and social activist Waldo Frank observed the prominence of the celebrity status of gangsters, noting that

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endgültigen Aufstieg analog zu den Verschiebungen in der Bildökonomie in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Geburt des hybriden Weltbildes, das Manson zum Anführer einer von ihm gegründeten Kommune im Death Valley macht, ist aus der Popkultur geboren. Manson predigt seinen Anhängern ein apokalyptisches Szenario, einen Bürgerkrieg zwischen der weißen und der schwarzen Bevölkerung Amerikas und benennt seine Prophezeiung nach einem Songtitel der Beatles: Helter Skelter. In eiQHP¿QDOHQ(QGNDPSI]ZLVFKHQGHQ5DVVHQVLHJW6FKZDU]EHU:HL‰'LH6FKZDU]HQ wären danach allerdings unfähig, die Welt zu regieren. Zu diesem Zeitpunkt würde Manson, zusammen mit einer Gruppe von Anhängern, der Family, aus seinem Versteck im Death Valley zurückkehren und über die verbliebene schwarze Bevölkerung herrschen. Als der Rassenkrieg zu dem von Manson vorhergesagten Datum, dem Sommer 1969, noch nicht begonnen hat, beschließt der Sektenführer die von ihm als unvermeidlich postulierten Ereignisse zu provozieren. Mitglieder seiner Family begehen in den Nächten vom 8. und 9. August 1969 zwei publicity-wirksame Verbrechen, die Manson und seine verschrobene Weltsicht sofort ins Licht der medialen Aufmerksamkeit rücken: die Morde an der schwangeren Schauspielerin Sharon Tate und – einen Tag später – Leno und Rosemary LaBianca.

Eine melodramatische Imagination Neben der Vorreiterrolle als Star einer sich formierenden (Sub-)Kultur, die Massenund Serienmörder verehrt und die Hinterlassenschaften ihrer Idole wie Devotionalien behandelt, zeigt das Beispiel Charles Manson die fatale Verknüpfung von ästhetischen und repräsentativen Partikeln. Die Bildökonomien öffnen sich, die Beziehungen zwischen Fiktion und sozialer Welt werden im Film abseits des klassischen HollyZRRGV\VWHPV JUXQGVlW]OLFK QHX NRQ¿JXULHUW 'LH *HIDKU GLHVHV 8PEUXFKV OLHJW LQ der Verfügbarkeit und Entkopplung der Semantiken. Der Prozess der erzählerischen Emanzipation und der Demokratisierung der Zeichen, die eine Welt gleichzeitig becrime had become a cult so potent and popular that it outdoes politics and vies with sport LQLWVUDQNLQWKHSXEOLFSULQWV³3KLOLSSV  6 73 | Zur Idee des Helter Skelter siehe: http://en.wikipedia.org/wiki/Helter_Skelter_ (Manson_scenario)-DKUHVSlWHUWDXFKWHLQHlKQOLFKH,GHHLP7DJHEXFKGHVschool shooters%DVWLDQ%RVVHZLHGHUDXIÄ(ULF>+DUULV@KDWHVSHUIHNWJHVDJWÃ,I,FRXOGQXNH the world – I would‘ Dem kann ich mich nur anschließen […]. Im Idealfall bleiben ich und Meine Familie am Leben, und ein paar andere Menschen, die in Ordnung sind, um XQVIRUW]XSÀDQ]HQ³%RVVH]LWLHUWQDFK6]XPHOGD  6I'LHVH*HGDQNHQZLUken auch wie ein Nachhall auf die krude Ideologie des Arztes Alfred Brandon in I WAS A TEENAGE WEREWOLF. 74 | David Schmid widmet sich in seinem Buch Natural Born Celebrities dem Phänomen der Berühmtheit von Killern in der amerikanischen Kultur, besonders von Serienmördern. „The sale of murderabilia is just a small part of the huge serial killer indusWU\WKDWKDVEHFRPHDGH¿QLQJIHDWXUHRI$PHULFDQSRSXODUFXOWXUHVLQFHWKHV³ Schmid (2005), S. 1

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schreiben und konstruieren, ist kein Prozess der a priori positive Ergebnisse liefern muss. Manson ist die Nachtseite einer neuen Erzählbarkeit von Welt, der transformierenden Wirkung der Fiktion auf den gemeinschaftlichen Raum. In seiner kruden Ideologie verwendet er die künstlerischen Mittel, die das ästhetische Regime der Künste bereitstellt. Der Helter Skelter meint eine Seinsweise, eine ästhetisch-heterotrope Formulierung der Welt und gleicht damit den kruden Weltbildern heutiger school shooter wie Pekka-Eric Auvinen, Bastian Bosse oder Eric Harris und Dylan Klebold. Sie alle schaffen hybride Konstrukte, in denen die verschiedensten Versatzstücke aus Kunst und Politik zu einer porösen Erzählung des sozialen Raums legiert werden. „If Manson had an extraordinary perceptiveness or cultural savvy, it was displayed in his ability to coopt (and render somewhat coherent) the vast array of seemingly paradoxical fads and political crosscurrents crowding the air in the American sixties.“ Es sind Schatten YRQGLVVLGHQWHQLGHRORJLVFKHQ=XULFKWXQJHQGHUVR]LDOHQ:HOWGLHXQWHUGHP(LQÀXVV medialer Erfahrung an Gestalt gewinnen. Und die – zumindest im Falle Mansons – ein utopisches Moment in sich tragen: „At the heart of Manson’s visionary counter-culture was the promise of an alternative lifestyle. His calculated pitch for free love, commuQDOOLYLQJDQG DW¿UVW SOD\IXOODZOHVVQHVVZDVZHOOZLWKLQWKHERXQGVRIRWKHU OHVV eventually violent) living experiments.“ Gleichzeitig vollzieht sich mit Manson der Übergang von den gesamtgesellschaftlichen Utopien der 1960er Jahre hin zu einer entwerkten Gesellschaft im Sinne Nancys. &KDUOHV0DQVRQFDQEHVHHQDVDNH\WUDQVLWLRQDO¿JXUHLQWKHVHWHUPV+HDQGKLVFXOW encapsulated the development from a 1960s image of political /countercultural violence DV HYLGHQFHG E\ WKHLU PXUGHUVFHQH JUDI¿WL Ã'HDWK WR WKH 3LJVµ Ã3ROLWLFDO 3LJJ\µ  WR D PRUH GHSROLWLFL]HG GLVPLVVLEOH LPDJH RI VHQVHOHVV EXWFKHU\ LQÀLFWHG E\ GHPRQLDF RXWVLGHUV 7KH YLROHQFH RI WKH V DORQJ ZLWK WKH LPDJHV RI LQWHUQDO FRQÀLFW ZLWK which it challenged consensus assumptions, was blocked, turned in on itself, divested of its political dimensions, and diverted into forms that seemed solipsistic, gratuitous, and irrational.

Politische Gegenkultur und medial aufbereiteter Massenmord schöpfen aus derselben Bildökonomie, die historisch datierbar ist. Die Neubestimmung der Relevanz des Ästhetischen und der Funktion der Kunst kippt zurück in ein strikt repräsentatives Regime, in dem die sozialen Rollen – oder die Selektion derjenigen die sterben müssen und derjenigen, die leben dürfen – anhand ideologisch normierter Regeln verteilt werden. Die gleichmäßig ausgebreiteten Buchstaben auf einer Romanseite künden von der Gleichheit aller, vom Ende der unterschiedlichen Sinne. Gleichzeitig kristallisiert sich dieser Emanzipationsgedanke auch LQ,GHHQGHUÃQDWUOLFKHQµ6HOHNWLRQDXV'LHYHUVFKLHGHQHQ:HOWELOGHUVLQGlVWKHWLVFK 75 | Lewis (1992), S. 39 76_/HZLV  6 77 | Rubin (1999), S. 56



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gewebt, kombinieren popkulturelle Fragmente, bilden neue Verknüpfungen zwischen dem Sicht- und dem Sagbaren, behaupten mit aller Vehemenz und Gewalt die absolute Relevanz der Kunst und der Fiktion für die Ausgestaltung – oder das Ende – der Gesellschaft. Aber innerhalb ihrer Binnenlogik entfernen sich diese Erzählungen von jeglicher sozialen Entsprechung und driften ab in die Repräsentation, wo die Kunst keinerlei wahrnehmbaren Wahrheitswert mehr für die Wirklichkeit berechnet. Die Paranoia tritt als pathologischer Sonderfall und Endpunkt des ästhetischen Regimes der Künste hervor, denn das Herz der ästhetischen und der paranoiden Erzählung ist die Hermeneutik. Der Aufruf Mansons als kulturelle Ikone in NATURAL BORN KILLERS zeigt die enge Verwobenheit innerhalb dieses paranoiden Diskurses seit den 1960er Jahren. Die Bildökonomie und die Narrative sind begrenzt und es lassen sich immer neue Linien zwischen den erzählerischen Versatzstücken auf der Ebene der Inszenierung und Selbstinszenierung ziehen. Charles Manson bildet den Ausgangspunkt diverser Subströmungen innerhalb der (gegen-)kulturellen Entwicklung Amerikas. Das Schlagwort Ãpig‘, das die Anhänger Mansons nach ihren Morden mit dem Blut ihrer Opfer an GLH:lQGHGHU7DWRUWHVFKPLHUHQLVWGDVDPKlX¿JVWHQJHEUDXFKWH:RUWDXIGHPthe downward spiral-Album von nine inch nails. Die Platte wurde 1993 bis 94 in einem 6WXGLRQDPHQVÃ/H3LJµDXIJHQRPPHQGDVGLH%DQGLQHEHQMHQHP+DXVHLQULFKWHWH in dem die Schauspielerin Sharon Tate 24 Jahre zuvor von den Anhängern Mansons hingerichtet worden war. Der Schriftzug der Band taucht in den Tagebüchern von Eric Harris und Dylan Klebold auf, Trent Reznor, der Kopf der Band, ist wiederum verantwortlich für den Soundtrack von NATURAL BORN KILLERS.80 Er produzierte desweiteren das Album Antichrist Superstar von Marilyn Manson, der sich eben nach Charles Manson benannt hat. 'LH7UDGLWLRQGHU9HUZHQGXQJGHV:RUWHVÃpig‘ setzt sich im Amokdiskurs weiter fort. Als die am medialen Vorbild Charles Whitman modellierte Figur Bobby Thompson in Peter Bogdanovichs Film TARGETS im Waffenladen nach seinen Plänen befragt wird, antwortet der Amokläufer: „Let’s shoot some pigs.“ Brenda Spencer wird nach ihrem Amoklauf mit den Worten zitiert: „I shot a pig (policeman) I think and I want to shoot more.“ Dylan Klebold schreibt in seiner creative-writing-Klasse einen Aufsatz über Charles Manson.81 Die Worte und diskursiven Zurichtungen bleiben bestehen, 78 | Der paranoide Blick ist dann auch ein bevorzugtes Thema des New Hollywood-Kinos – von Francis Ford Coppolas THE CONVERSATION 86$ ELV]X$ODQ-3DNXODV THE PARALLAX VIEW 86$  79 | Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/The_Downward_Spiral 80 | Reznor war bis 1999 für zwei Soundtracks verantwortlich. Der eine entstand zu NATURAL BORN K ILLERS, der andere zu David Lynchs LOST HIGHWAY 86$ GHP /LHEOLQJV¿OPYRQ'\ODQ.OHEROG9JO*lUWQHU  6 81 | Der Titel des Essays ist Denkweise und Motive von Charles Manson. Vgl. Gaertner (2009), S. 133ff. Dylan Klebold fasst das Phänomen Manson in sehr deskriptiver Weise ]XVDPPHQVFKOLH‰OLFKLVWHVHLQRI¿]LHOOHV'RNXPHQW

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entleeren sich, verändern sich, werden wie das Wort pig mit neuen, diffusen BedeuWXQJHQDXIJHODGHQXQG¿QGHQ(LQJDQJLQQHXH.RQWH[WH±GHQ'LVNXUVGHUEHUGHQ Amok geführt wird und die Selbstdarstellungen der Täter. Die Verwebungen innerhalb dieses Diskurses formen die paranoiden Weltbilder ihrer Protagonisten. Die Figur Mark David Chapman erkennt in CHAPTER 27 (J.P. Schaefer, USA 2009) – der das Attentat Chapmans auf John Lennon thematisiert – die Ironie dieser Zusammenhänge: Er steht in der Kälte vor dem Wohnhaus von Lennon und wartet sehnsüchtig auf John Lennon und David Chapman ein Autogramm seines Stars. Dabei hört er die – tatsächliche – Geschichte des Gebäudes, in dem Lennon lebt. Der Name des Hauses ist The Dakota und diente als Location für den Film ROSEMARY’S BABY (USA 1968). Roman Polanski, der Regisseur des Films verlor seine schwangere Frau Sharon Tate durch die Manson-Morde, die wiederum vom Beatles-Song Helter-Skelter inspiriert waren. Chapman bekommt am 8. Dezember 1980 sein Autogramm von Lennon. Der Star und sein Fan werden auf einem Schnappschuss des Fotografen Paul Goresh, der die Szene zufällig beobachtet, verewigt. Lennon fährt ins Studio und als er in der 1DFKW]XUFNNHKUWZLUGHUYRQ&KDSPDQXQWHUGHP±ZLHHUEHKDXSWHW±(LQÀXVVYRQ J. D. Salingers The Catcher in the Rye erschossen. Die soziale Welt eröffnet sich dem beliebigen Betrachter im ästhetischen Regime GHU.QVWHDOVGXQNOHU$EJUXQGGHV6HLQVRGHUDOVEHVFKULHEHQH2EHUÀlFKHQLQGHQHQ immer schon die Zeichen der Welt zu entziffern sind, anhand derer sich die GesellVFKDIWVHOEVW]XHUNHQQHQJLEW'\ODQ.OHEROGXQG(ULF+DUULVUH¿JXULHUHQPLWLKUHQ DXWRELRJUD¿VFKHQ(U]lKOXQJHQGHQGXQNOHQ$EJUXQGGHV6HLQVLQGHPVLHGDV&KDRV und die Beliebigkeit des Tötens auf ein repräsentatives Weltbild rückbeziehen. Was sie mit Bastian Bosse und Seung-Hui Cho verbindet, ist die einfache Geschichte einer Rache, die über die Willkür des Mordens zementiert wird. Nicht die Performance sondern die Worte Chos rufen in seinem Abschiedsvideo die (OHPHQWHPHORGUDPDWLVFKHU,PDJLQDWLRQDXI(UYHUNOlUWVLFKLQHLQH1HXNRQ¿JXUDWLRQ der Rolle der gefallenen Unschuld, er inszeniert sich als eine melodramatische Heroine, die ganz im Gegensatz zu ihrer klassischen Ausprägung zwar ihre Symptome über eine Schriftsprache ausdrücken, den Gehalt ihres Leidens aber nicht als körperliche Manifestation ausagieren kann: „You have vandalized my heart, raped my soul, and WRUFKHGP\FRQVFLHQFH³&KRNRSSHOWVLFKDELQHLQHQVSH]L¿VFKHQ=XVWDQGGHV6HLQV er unternimmt einen desperate effort to renew contact with the scattered ethical and psychic fragments of the Sacred through the representation of fallen reality, insisting that behind reality, hidden

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U NREINE B ILDER by it yet indicated within it, there is a realm where large moral forces are operative, where large choices of ways of being must be made.82

Es ist ein allbedeutsamer Kosmos von Gut und Böse, eine Welt durchwirkt von divergenten moralischen Kräften, die Cho in seinem apokalyptischen Szenario entwirft. Der prominenteste Fall in der Frühzeit des westlichen Amoks, der Lehrer Ernst August Wagner, wurde nicht zu Unrecht als Paranoiker diagnostiziert, drehten sich seine Gedanken doch immer wieder obsessiv um die Feindlichkeit seiner Umwelt und die Angst, seine Mitmenschen könnten seine Geheimnisse entdecken. Die Welt der Paranoiker ist ein Raum voller Gedichte und es obliegt dem Einzelnen, in welcher Weise er die Zeichen liest und damit seine eigene Welt konstruiert. Die Paranoia ist nur eine weitere Art, die Welt wahrzunehmen und zu interpretieren. Sie ist eine Variante der melodramatischen Imagination, einer unbeschränkt verinnerlichten Äußerlichkeit oder vollkommen veräußerlichten Innerlichkeit. Das Melodram wirkt als erzählendes und erzählerisches Gespinst der Welt, das in einer säkularisierten Welt transzendentales Obdach verspricht. Es ist die Gegenbewegung zu den fragmentarisierenden Kräften, die das soziale Band aufzulösen drohen. Die Gemeinschaft wird reinszeniert im absoluten Ausschluss des Erzählers. „Jeder NHQQWMHGHQ,FKÀXFKHDOVZlUHLFKHLQ$XVJHVWR‰HQHU MHGHUYHUVFKZ|UWVLFKJHJHQ mich“, schreibt Dylan Klebold in seinem Journal.83 Entgegen des Modells der reinen Beschreibung ästhetischer Ordnung setzt das Melodram einen Kosmos der allumfassenden Bedeutung. Nicht diese oder jene Bedeutung, sondern eine Welt der allumfassenden Bedeutungskorrespondenzen, der Synchronizität zwischen der inneren und der äußeren Welt, zwischen den Bewegungen der Sterne und den Bewegungen der Gefühle, ein unendliches aufeinander Verwiesensein allen Geschehens und aller Erscheinung, eine barocke Allbedeutsamkeit bildet den Kern dieser Imagination.84

'DPLWIROJWHVHLQHUUHSUlVHQWDWLYHQ/RJLNLQGHUGLH.|USHUHLQHQIHVWHQ3ODW]¿QGHQ entsprechend ihrer sozialen Rolle handeln müssen, auch wenn es oft thematisch um die Befreiung der Individuen aus jenen vorstrukturierten Angeboten geht. New Hollywood bricht genau mit diesen Weltbildern, die nahtlos und schlüssig den Raum des Sozialen vermessen und die Gegenerzählungen – die Helter Skelters – erwachsen aus diesem diffusen Raum. Charles Manson steht exemplarisch für diese Form hybrider Identitäts- und Weltbildung, legiert er im Helter Skelter doch die unterschied82 | Brooks (1995), S. 21 83 | Klebold, zitiert nach Gaertner (2009), S. 53. Analog schreibt Kip Kinkel in seiner Confession Note: „I feel like everyone is against me, but no one ever makes fun of me, PDLQO\EHFDXVHWKH\WKLQN,DPDSV\FKR³.LQNHO]LWLHUWQDFK/LHEHUPDQ  6 84 | Hermann Kappelhoff schreibt dies im Hinblick auf James Camerons TITANIC (USA  .DSSHOKRII  6

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OLFKVWHQ(LQÀVVH±YRQ+LWOHUELVKLQ]XP neuen Testament. Manson entspringt einer bestimmten historischen Konstellation, ist .LQG VHLQHU =HLW 'HQ ÃSummer of Love‘ YHUEULQJWHUDOV*XUXLPWRSRJUDSKLschen Zentrum der Hippie-Bewegung, in San Franciscos Stadtteil Haight-Asbury. In der Figur Manson manifestiert sich eine tödliche Verbindung von Kunst und Gewalt: Zusammen mit den Mitgliedern seiner Family nimmt er ein Album auf, das den prophezeiten Rassenkrieg zuallererst auslösen soll. Auch wegen der Tate- und LaBianca-Morde ändert sich die Tonlage Covermotiv des Films CHARLES MANSON der Gegenkultur am Ende der 1960er JahSUPERSTAR (Nikolas Schreck, USA 1989) re, wie es etwa auch in EASY RIDER zum Ausdruck kommt. „Sie [die Gegenkultur] desavouierte ihre ursprünglichen Werte und ließ ihre Hoffnungsträger Droge, kommunales Leben, Rockmusik (in demselben Bild) zu Quellen von Wahnsinn, Gewalt und Paranoia verkommen: als Timothy Leary die Staffel weiterreichen wollte, war leider nur Charles Manson zur Stelle.“85 Die Verschmelzung von Hippie-Kultur, den Blumenkindern in ihrer absoluten Friedfertigkeit und den brutalen, paranoiden Morden, zeigt sich deutlich an einem kurzen Ausschnitt von Originalaufnahmen, die Eingang gefunden haben in den Film THE KILLING OF AMERICA (Sheldon Renan, USA 1982) und die einige Mitglieder der Manson-Family auf ihrem Weg in den Gerichtssaal zeigen: In bunte Kleider Mitglieder der Manson-Family gehüllt singen die jungen Frauen, die der auf dem Weg in den Gerichtssaal Morde verdächtigt werden, ein Lied.86 Die von Timothy Leary angestrebte Hoffnung auf Heilung und Befreiung durch LSD verkehrt sich in eine apokalyptische Vision. Mansons Popularitätswerte steigen Jahr um -DKU 6FKRQ LP -XQL  ]LHUW VHLQ *HVLFKW GLH 7LWHOVHLWH GHU$XVJDEH GHV Rolling Stone Magazine. Seitdem ist das Bild Mansons tief eingewebt in die Populärkultur und fungiert als Ikone verschiedenster gegenkultureller Strömungen. „From Jesse James to Charles Manson, the media, since their inception, have turned criminals into folk 85 | Horwath (1995), S. 23 86 | THE K ILLING OF A MERICA besteht ausschließlich aus Originalaufnahmen, die die Verbrechen im Amerika des 20. Jahrhunderts zeigen. Treffend ist also die Bezeichnung IRXQGIRRWDJH¿OP.

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heroes. […] They just created two new ones when they plastered those dipshits Dylan Klebold and Eric Harris’ picture on the front of every newspaper. Don’t be surprised LIHYHU\NLGZKRJHWVSXVKHGDURXQGKDVWZRQHZLGROV³UHÀHNWLHUW0DULO\Q0DQVRQ nach den Columbine-Morden.

Konsolidier ung Die Phase der Freiheit, die sich mit New Hollywood verbindet, währt nur ein paar Jahre. Über den Ruinen eines Kinos, das von einem Aufbruch kündete – und das mit Michael Ciminos HEAVEN’S GATE 86$ VHLQHQOHW]WHQVLJQL¿NDQWHQ$XVGUXFN erfährt – konsolidiert sich das klassische Hollywoodkino in den Blockbustern der 1980er, in denen sich Hollywood seiner tradierten Genremuster versichert und formal wie narrativ in weiten Teilen an die Schemata der Ära des klassischen Realismus anNQSIW±ZHQQDXFKXQWHUGHP9RU]HLFKHQHLQHVÃSRVWPRGHUQHQµ.LQRV88 Die Teenpics folgen diesem Trend und werden zu einem festen Bestandteil kultureller Imagination. Mit dem Aufkommen der Multiplex-Kinos differenzieren sich die Filme speziell für Jugendliche weithin aus und es bleibt nun dem einzelnen Besucher überlassen, welche Form der Erfahrung er wählt. „Teens in the eighties were then able to go to the mall and select the particular youth movie experience that most appealed to them, and Hollywood tried to keep up with changing teen interests and styles to ensure ongoing SUR¿WV³89 Der sich etablierende Videomarkt vergrößert das Angebot möglichen Erlebens zusätzlich.90 Stephen Tropiano unterteilt die Filme dieser Zeit in drei Kategorien: „horror ÀLFNVVH[FRPHGLHVDQGÃWHHQDQJVWµ¿OPV³91 Das weiterhin virulente serielle Muster OlVVW VLFK YRU DOOHP DP +RUURU¿OP DEOHVHQ .LOOHU)LJXUHQ ZLH )UHGG\ .UXHJHU A NIGHTMARE ON ELM STREET, USA 1984), Jason (FRIDAY THE 13TH, USA 1980) und Michael Myers (HALLOWEEN-RKQ&DUSHQWHU86$ HUOHEHQVWHLOHXQGYRUDOOHP ausdauernde Karrieren, die teilweise bis ins neue Millennium Bestand haben sollten. Sie stehen im Kontext einer veränderten Ikonographie des Serien- und Massenmörders, die mit Charles Manson begann und bis hin zur Verklärung Michael Myers durch Bastian Bosse reicht, der in seiner Freizeit Szenen aus HALLOWEEN nachstellt und auf Video aufzeichnet.

Mörder ohne Motiv Der Aufstieg Michael Myers, des Killers mit der Maske, der weder ein Ziel kennt noch ein Motiv hat außer dem Töten, deutet bereits auf eine bestimmte Figuration der Gewalt, die über den Slasher-Film(LQJDQJ¿QGHWLQGLH¿OPLVFKPHGLDOH.RQVWLWXWLRQ der Jugendgewalt und die im unbewegten Gesicht Eric Harris’ auf den Bildern der 87 | Manson (1999) 88 | Vgl. Schreckenberg (1998), S. 118ff 89 | Shary, zitiert nach Tropiano (2006), S. 141f 90 | Vgl. Tropiano (2006), S. 143 91 | Tropiano (2006), S. 143

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Überwachungskamera in der Cafeteria der Littleton Highschool vom 20. April 1999 ihUHQSUlJQDQWHVWHQ$XVGUXFN¿QGHW(VLVWGLH$ENRSSOXQJ]ZLVFKHQ,QQHQXQG$X‰HQ einer Tat und dem Fehlen jeglichen emotionalen Ausdrucks, die in der starren weißen 0DVNH0LFKDHO0\HUVLKUH(PEOHPDWLN¿QGHW Michael Myers ist eine Gestalt des Bösen, die sich – analog zum school shooter – psychologischen Deutungsmustern entzieht. Ihre Tradition lässt sich bis hin zu Artie West in THE BLACKBOARD JUNGLE zurückverfolgen. „Though a psychological explanation may be offered for their derangement, the emphasis is on caging, not curing, these sickies. [West] was part of a new criminal type that emerged on screen in the postwar period.“92 Die Storys der Filme treten in den Hintergrund und lösen sich fast YROOVWlQGLJ DXI VWDWWGHVVHQ IRNXVVLHUHQ VLH HLQH ÃXQYHUVWHOOWHµ %LOGOLFKNHLW YDULLHUHQ die Inszenierung von Jagen und Töten in immer neuen Wiederholungen. Es ist das Erbe des New Hollywood-Kinos, das sich in diesen Filmen realisiert. So schreibt Kendall Philipps über A CLOCKWORK ORANGE und THE WILD BUNCH. >7KHVH¿OPV@ZRXOGHVWDEOLVKWKHIXQGDPHQWDOQDUUDWLYHVWUXFWXUHRIYLROHQFHLQ$PHULFDQFLQHPDIRUWKHQH[WWKLUW\\HDUV>«@7KHYLROHQFHLQWKHVH¿OPVHUXSWVLQZD\V VLPLODUWRPXVLFDOQXPEHUVGXULQJDPXVLFDO¿OP±DVRUFKHVWUDWHGVSHFWDFOHVZKRVHHOHgance and choreography supersedes the narrative function the violence itself serves. 93

Die Slasher-Filme tradieren eine Sichtbarkeit, die in Filmen wie Tobe Hoopers THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE 86$ NXOPLQLHUW'HU)LOPKDQGHOWYRQQLFKWVDQGHrem als von der systematischen Zerstückelung einiger Teenager, die sich im Süden der USA verirren. Damit knüpft Hooper an frühere Filme wie THE SADIST (James Sandis, USA 1963) an, der seinerseits den Weg bereitete für die plastische Bildlichkeit New Hollywoods. Die Ausgangssituation ist in THE SADIST dieselbe wie in TEXAS CHAINSAW MASSACREGDVÃVDXEHUHµ¿QDQ]LHOODEJHVLFKHUWH$PHULNDYHUOLHUWVLFKLQGHQ5DQG]RQHQ±GLH zuweilen auch in der geographischen Mitte liegen können – der eigenen Nation und die Gruppe der Unschuldig-Verirrten wird nach und nach getötet, wobei die mise-en-scène dieser Morde der eigentliche Motor des Films ist. Die Kinetik, die BewegungsdynaPLNEHUGLHVLFKGHU7KULOOHUGH¿QLHUWZLUGLQTHE SADIST ausgesetzt über die Bilder stotternder Autos und die kreisenden Blicke der Gestrandeten, die nach Hilfe suchen.94 Im Folgenden gerinnen die Bedrohung und die Psychogrammatik des titelgebenden Sadisten zum eigentlichen Inhalt der fein komponierten Schwarzweißbilder, die sich kaum mehr nach Aktion und Reaktion verknüpfen. Die dominante Einstellungsgröße, 92 | Doherty (1988), S. 131 93_3KLOLSSV  6 94 | Die Gruppe Lehrer, die im Zentrum von THE SADIST stehen, havarieren an einer Tankstelle mit angeschlossener Werkstatt. Der Film lässt sich im Folgenden viel Zeit die endlose Landschaft liegengebliebener und ausgeschlachteter Wagen zu inszenieren, die wie ein Friedhof der Mobilität wirkt.

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die Großaufnahme, koppelt jegliche Motivation von der expliziten Darstellung der sadistischen Gewalt ab. Als der Killer einem Lehrer in den Kopf schießt, bleibt dieser Akt nicht der Imagination des Zuschauers überlassen, sondern wird als Bild in aller Sichtbarkeit inszeniert. Statt um die Entfaltung einer erzählbaren Geschichte geht es um die Ausgestaltung der Dauer des Quälens ohne Motiv. Dabei greift THE SADIST – im Sinne mehr und mehr diffus werdender Grenzen zwischen dem Sozialen und dem Medialen – auf das reale Vorbild des Serial-Killer-Pärchens Charles Starkweather und Caril Ann Fugate zurück, die das Kino von BADLANDS 7HUUHQFH 0DOLFN 86$   ELV KLQ zu NATURAL BORN KILLERS immer wieder inspirieren sollte. Charles Starkweather ist eine der frühen Figuren, an denen die beständigen Verschiebungen zwischen dem Sozialen und Medialen manifest James Dean werden. Der Serienmörder modelliert sein Selbstbild entlang der Ikonographie James Deans, wie er sie aus Zeitschriften und Filmen kennt. „Stundenlang stand Starkweather vor dem Spiegel, kämmte sich die Haare, arbeitete an seiner lässigen Körperhaltung, brachte seine Zigarette in die richtige Position, rückte Hemd und Hose zurecht, so lange bis er und Dean, Stark [die Rolle, die James Dean in REBEL WITHOUT A CAUSE spielt] und Starkweather eins wurden.“95 Mit THE SADIST hält Starkweather dann Einzug in den Raum des Kulturell-Imaginären. Charles Starkweather Gleichzeitig wird der Serial Killer und seine Helferin noch ganz als bürgerliches Außen inszeniert. Einfache Dichotomien – die sauberen Kleider der Lehrer gegen die schmutzigen Gestalten der Juvenile Delinquents, die sanfte Haut der Lehrerin gegen das dreckige Gesicht der Freundin des Sadisten – markieren die Bedrohung als Anderes, als Randständiges, Ausgeschlossenes. Im Gegensatz zu Bobby Thompson in TARGETS folgt Regisseur James Sandis in der Inszenierung seines Killers phrenologischen Überlegungen. Die Figur des Juvenile Delinquent sieht zurückgeblieben aus, der Wahnsinn ist an jeder seiner seltsamen Bewegungen abzulesen, an der Stellung der Augen, den zusammengewachsenen Augenbrauen, die ihn wie ein Tier erscheinen lassen. Er ist linkisch, verschlagen, sein Sadismus ist leicht an seiner sichtbaren Manifestation abzulesen. Damit setzt die Inszenierung noch eine normative, konventionalisierte Verknüpfung zwischen Innen und Außen, der Psyche und ihren körperlichen Manifestationen ins Bild. Die völlige Entkopplung dieser Beziehung bleibt den Filmen der folgenden Jahre vorbehalten.

95 | Marcus (1992), S. 258

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Im Vergleich zweier bildlicher Figurationen des Mörders lässt sich dieser Abstand in der Inszenierung von Innen und Außen zeigen. James Sandis’ Sadist ist ein Freak, der Brutalität seines Handelns entspricht die Brutalität seiner visuellen Erscheinung. Dagegen zeigt ZERO HOUR die Columbine-Mörder als zarte Jungen, ihre hübschen Gesichter stehen in keinerlei Verbindung zu einem Massaker. Dieser Riss zwischen Innen und Au‰HQGLH$ENHKUYRQHLQHPHPS¿QGVDPHQ Schauspiel und die Genese entsprechender Figurentypen ereignet sich mit den Filmen und der Literatur der 1980er Jahre. So kategorisiert Krik Curnutt eine Gruppe von Charakteren

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ZERO HOUR

THE SADIST

[constituting] a species of the walking dead, [who are] emotionally and morally abstruse. 8QOLNH PRVW \RXQJ WURXEOHG FKDUDFWHUV LQ DGROHVFHQWWKHPHG ¿FWLRQ WKH GLVDIIHFWHG disposition of young people in contemporary coming-of-age novels is not due to presVXUHIURPWKHLURSSUHVVLYHSDUHQWVRUVRPHRWKHUDXWKRULW\¿JXUHWRFRQIRUP7KH\DUH simply aimless, amoral, and in need of the very things that they lack: support, direction, and moral guidance from a parent or adult.96

Mit ihnen schreibt sich eine neue Form der Erfahrung ein, die den konsolidierten reSUlVHQWDWLYHQ7HQGHQ]HQGHUVSlWHQHUXQGHU-DKUHHQWJHJHQOlXIW'LH(U]lKlungen kommen fast ohne Story aus, die Figuren gerinnen zu passiven Beobachtern. Es ist die Bewegungssignatur des Driftens, die sich an dieser Stelle zeigt und die in

96_&XUQXWW]LWLHUWQDFK7URSLDQR  6&XUQXWWEHVFKUHLEWGLHVH&KDUDNWHUH anhand der jungen Literatur in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren. Ihren präJQDQWHVWHQ$XVGUXFN¿QGHWGLHVH$UWYRQ)LJXUHQLPKool Killer Jason Bateman, dem Protagonisten in Bret Easton Ellies American Psycho von 1991. Konstitutiv in der Figur Batemans ist die Verknüpfung von medialer und sozialer Wahrnehmung: „Bateman’s very perception is structured by the technical conventions of popular movies. He often GHVFULEHVZKDWKHVHHV±ÃWKH¿OPRIKLVYLVLRQµDVKHSXWVLW>«@±E\HPSOR\LQJVXFK cinematic terms as pans […], dissolves […], slow motion […], and even jump zooms […]. His erotic encounters, most of which inevitably turn violent and fatal, are set up in emulation of scenarios from pornographic movies.“ Grant (1999), S. 30 97 | Tropiano (2006), S. 208

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künstlerischen Praktiken wie dem Situationismus tradiert wird.98 Manifest wird sie in den 1980er Jahren in der Figur des Slackers oder der Figuration der Generation X und bleibt nicht nur auf Filme, die Gewalt thematisieren, beschränkt. Richard Linklater setzt dem Slacker mit seinem gleichnamigen Film von 1991 (SLACKER, USA) ein Denkmal und beschreibt sein Werk als „one long sequence in which each shot, each event, and character lead only to the next.“99 In Bezug auf die Aufteilung des Sinnlichen bedeutet dies zum einen eine Emanzipation vom Arbeiter-Körper-Sein, gleichzeitig ist diese Autonomie von gesellschaftlichen Erwartungshaltungen mit keinerlei utopischem Aufbruch mehr verbunden.100 Es ist eine Generation – ganz im Sinne Jean Luc Nancys – ohne gemeinsames Werk und ohne gemeinschaftliches Ziel. Eine Generation, die vom Individualismus und der erNlPSIWHQ)UHLKHLWGHUHUXQGHU-DKUHOHEWDEHUGLHVHQ)UHLUDXPPLWNHLQHUOHL politischen Ideen mehr verbindet. „[Slackers] continue aggressively NOT participate LQWKHV\PEROLFÃFKRRVLQJµDFWRIHPSRZHULQJHLWKHURIWKHIDFWLRQVRIRXURQH EXVLQHVV SROLWLFDOSDUW\WKDWDFWXDOO\UHSUHVHQWVRQO\RIRXUSRSXODWLRQ³JLEW5LFKDUG Linklater zu Protokoll.101 Entsprechend sind die Erzählprinzipien, die sich eher an der reinen Beschreibung als an einer aristotelischen Bauweise der Narration – wie es zu dieser Zeit dominant im Blockbuster-Kino zur Geltung kommt – orientieren. Es sind die alten Bedrohungsszenarien einer „alienated youth“ und einer „anomic youth“, die sich bereits mit dem Juvenile Delinquent verbanden und nun nicht mehr vor dem HinWHUJUXQGHLQHV*HQHUDWLRQHQNRQÀLNWVDXVJHWUDJHQZHUGHQ102 Allerdings werden – trotz aller kulturkritischen Diagnosen – politische Ideen durchaus verhandelt, auch wenn die Interventionen in die Aufteilung des Sinnlichen eine andere Gestalt annehmen.

98 | Das Driften, bzw. der „dérive“ verbindet sich als künstlerische Strategie im Situationismus mit einer ästhetischen Praxis. „Es gab zwei dieser Methoden: das dérive, eine mit der Suche nach anziehenden und abstoßenden Zeichen verbundenes Umherschweifen durch die Straßen der Stadt, und das détournement, die Entfernung ästhetischer Artefakte aus ihren Zusammenhängen und ihre Umleitung in neue, selbstentworfene Zusammenhänge.“ Marcus (1996), S. 162 99 | Linklater, zitiert nach Tropiano (2006), S. 218 100 | Wie Stephen Tropiano schreibt: SLACKER zeige „a certain segment of the twentysomething generation who are content with just hangin’ out after college […] instead of ZRUNLQJDWDQLQHWR¿YHGHVNWRS³7URSLDQR  6 101 | Linklater, zitiert nach Tropiano (2006), S. 218 102 | Jon Lewis, der die zeitgenössische Jugend 1992 untersucht, schreibt: „The breakdown of generational norms and values – destroyed by suburban leisure, the banality of the suburban nuclear family, and the cult of youth – OHDYHVWKH\RXWKZLWKQRWKLQJWR¿JKW IRUDQGQRWKLQJWR¿JKWDJDLQVW³/HZLV  6

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Die (vorerst) letzte Ausdifferenzier ung des school shooters Am Ende der 1980er Jahre gewinnt die Ikonographie des school shooters, wie sie sich heute manifestiert, endgültig ihre Kontur. In Michael Lehmanns HEATHERS (USA, 1989) ist der Name des Charakters Jason Dean – den alle nur J.D. nennen – mit Sicherheit nicht zufällig gewählt, ]LWLHUW HU GRFK VRZRKO GLH $KQ¿JXU GHV HEATHERS Juvenile Delinquent DOV DXFK GHQ Ä¿UVW 103 american teenager“ James Dean. J.D. ist das Scharnier zwischen den tradierten Figurationen jugendlichen Rebellentums und des kalten, zynischen Gesichts des school shooters in den 1990er Jahre. Sechs Jahre vor Leonardo di Caprios Auftritt in THE BASKETBALL DIARIES, der den amoklaufenden Schüler endgültig zum Heroen eines von struktureller Gewalt durchzogenen Schulsystems verklärt, bahnt sich J.D. seinen mörderischen Weg durch das Kastensystem des Bildraums Schule, das spätestens mit den 1990er Jahren vollständig ausdifferenziert und ausgestaltet erscheint. J.D. ist ein cooler, rauchender Außenseiter in einem langen schwarzen Mantel. Er fährt Motorrad und schwingt sich zum kruden politischen Anarchisten auf, der mit Präzision und Sarkasmus seine Morde als Selbstmorde der Opfer inszeniert.

Geeks und Cheerleader: das Kastensystem im Bildraum Schule HEATHERS entfaltet seine Geschichte in der totalitären Hierarchie der Popularitätswerte einer Highschool in Suburbia. Die drei elitären Schönheitsköniginnen an der Spitze des Aufmerksamkeitsregimes tragen alle den gleichen, titelgebenden Namen: Heather. Die einheitliche Namensgebung zeigt, dass es sich bei ihnen weniger um individuierte Figuren als einen sozialen Typus handelt. In ihrer Highschool strukturieren die Heathers den Korpus der Gemeinschaft beliebig über Demütigung und soziale In- bzw. Exklusion. Mit der Figur J.D. wird HEATHERS schließlich den Bruch mit diesem strikten Regelwerk formelhaft und überzeichnet explizieren. In der Creditsequenz sind die drei Heathers beim Kricketspielen zu sehen, das Ziel ihrer Schläge wird erst am Ende sichtbar: Eine im Boden verscharrte Protagonistin Veronica, die ihre moralischen Bedenken zugunsten eines Aufstiegs in den Popularitäts- und Aufmerksamkeitsökonomien aufgegeben hat. Die Teilhabe am Gewaltregime der Heathers ist der Preis für ihre soziale Sichtbarkeit. Als – wenn auch schwächster – Teil der Clique ist sie Partnerin und Mittäterin beim Bullying der Außenseiter, die das Versprechen auf Schönheit nicht mit ihren Körpern und Gesichtern einlösen können.

103 | Vgl. Doherty (1988), S. 106



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Das Kastensystem Highschool wird in HEATHERS über eine Umfrage für die Schülerzeitung im ersten Drittel des Films in Szene gesetzt. Dort kommen die prägenden Typologien, die das soziale System Schule hervorbringt, idealiter zum Ausdruck. Es gibt die Sportler, die Punks, die Streber usw. Am Ende der gnadenlosen Nahrungskette stehen die Geeks oder Nerds. Damit setzt HEATHERS die Tradition der Organisation des Sozialen fort, die VLFK LQQHUKDOE GHU ¿OPLVFKHQ (QWIDOWXQJ des schulischen Bildraums seit den 1950er Jahren entwickelt hat. In der binnenlogischen Evolution der Teenpics bildet sich ein strikt reglementiertes Kastensystem, das jedem Schüler seinen Platz in der sozialen Hierarchie und seine möglichen Formen des Ausdrucks zuweist. 3DUDGLJPDWLVFK YHUGLFKWHW ¿QGHW VLFK diese Matrix des Sozialen in John Hughes THE BREAKFAST CLUB (USA 1985), in dem die entsprechenden Rollen formelhaft ausbuchstabiert werden: „the delinquent, the jock, the rebel, the popular girl and the nerd“.104 Die typologisierte Rolle, die jeder Schüler zu spielen hat, bestimmt den sozialen Austausch, legt fest, wer mit wem reden darf, entscheidet, wer Opfer von Bullying wird und wer demütigen darf. Die Teenpics kreieren und stabilisieren ein repräsentatives Weltbild, in dem jeder SchüHEATHERS ler, meist aufgrund des Aussehens und der Herkunft – man blicke auf die Zwistigkeiten zwischen dem Outlaw John Bender und der Prinzessin Claire Standish in THE BREAKFAST CLUB – einen bestimmenden Platz in GHU+DFNRUGQXQJHLQQLPPWÄ,QWKHZRUOGRI-RKQ+XJKHVWHHQDJHUVKDYHDVSHFL¿F label stamped on their foreheads which indicate their social position in the Highschool

104_8QG 6KDU\ SUl]LVLHUW Ä(DFK RI WKH ¿OP¶V ¿YH WHHQV UHSUHVHQWV GLVWLQFW W\SHV RI young characters seen in American movies about high school since the 1950s.“ Shary (2005), S. 68

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caste-system.“105 Die ausschließlichen Währungsmittel heißen Popularität und Erfolg. 1996 setzt die Band Nada Surf diesem System mit ihrem Song Popular ein sarkastisches Denkmal. Die Lyrics und das Video nehmen die Tradition der social-guidanceFilme auf und geben zynische Tipps für das angemessene jugendliche Verhalten. „being attractive is the most important thing there is / […] you have to be as attractive as possible / make sure to keep your hair spotlessly clean / wash it at least every two weeks / […] and if you see johnny football hero in the hall / tell him he played a great JDPH³$XIGHU%LOGHEHQHGHV9LGHRV¿QGHWVLFKHLQH8QWHUULFKWVVLWXDWLRQLQV]HQLHUW in der der Lehrer seinen Schülerinnen – einer Gruppe attraktiver Cheerleader – die Regeln für das adäquate soziale Verhalten pädagogisch vermittelt. Der Refrain des Songs legt schließlich das Skelett der populärkulturellen Imagination schulischer Hierarchie offen: „i’m head of the class / i’m a quarterback / my mom says i’m a catch / i’m never last picked / i’m a cheerleading chick.“ Die Sportler stehen an der Spitze des Systems, das erprobt und zementiert ist, die Versatzstücke des schulischen Bildraums wandern durch divergente Diskurse und Kontexte, werden popkulturelle Superzeichen, an denen sich jede Generation von Neuem abarbeitet – von I WAS A TEENAGE WEREWOLF bis hin zu Nirvanas Videoclip zu Smells like Teen Spirit, in dem die Cheerleader den Aufstieg der Grunge-Welle in den Mainstream Mitte der 1990er Jahre bejubeln. „Load up on guns, bring your friends.“

Gesten des Politischen Veronicas Ausweg aus den Ansprüchen der Popularität einerseits und ihren Gewissensbissen gegenüber den schwachen Schülern, die immer wieder zur Zielscheibe des Spottes der Heathers werden, andererseits, ist J.D. Gemeinsam bringen sie Heather 1 ±GLHÃ2EHUKHDWKHUµ±ÃDXV9HUVHKHQµXPXQGODVVHQHVGDQQDOV6HOEVWPRUGHUVFKHLQHQ Die Suicide Note verfassen sie gemeinsam, indem sie auf die Klischeevorstellung des armen-reichen Mädchens zurückgreifen, die schematisierten Plots medialen Erzählens also bewusst und souverän in Stellung bringen.106 Die Frage, an der sich HEATHERS im Folgenden abarbeitet, ist die Frage nach einer Idee des Gemeinsamen, die Frage, wie Sozialität jenseits des totalitären Zugriffs der Popularität zu denken und zu verwirklichen ist. Im Sinne klassischer Narration modelliert der Film die Antwort als Duell zwischen den verqueren Überzeugungen J.D.s und der aufkeimenden Verantwortlichkeit Veronicas, die sich als moralisches Zentrum des Films zu positionieren beginnt.

105_7URSLDQR  6(LQZHLWHUHVSUlJQDQWHV%HLVSLHOIUGDV.DVWHQV\VWHPLVW Richard Linklaters DAZED AND CONFUSED (USA, 1993): „The nostalgic comedy [DAZED AND CONFUSEDVSLHOWLP-DKU@IROORZVDYDULHW\RIFKDUDFWHUVZKRDUHUHSUHVHQWDWLYHRIWKHPDMRUVRFLDOJURXSVRQHH[SHFWVWR¿QGVLQD+LJKVFKRRO¿OP WKHEUDLQVWKH jocks, the stoners, the derelicts, the incoming freshman).“ Tropiano (2006), S. 219 106 | Am Abend vor dem großen Finale am Ende des Films wird J.D. Passagen aus der kollektiven Suicide Note zum Besten geben, die er für die Schüler verfasst hat: „Our burning bodies will be the ultimate protest to a society that degrades us.“

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Es ist eine post-everything-Welt, in der sich die Leere im Inneren mit dem Vakuum der Inszenierungen des Sozialen verschlingt. Die Opfer von J.D.s Treiben sind aufs Kunstvollste drapiert und arrangiert in ihren Särgen und scheinen so als Leichen die starren Bilder sozialen Lebens besser zu erfüllen, als es die lebenden Körper in ihrer kitschigen Kinderzimmern jemals könnten. Veronica muss sich ab und an in die geometrischen Kompositionen ihres Elternhauses fügen, sie übernimmt jeweils temporär die Bildmitte in den gleichförmigen Ritualen des elterlichen Alltags, beleidigt immer wieder ihren Vater und entkommt mit einem geschwätzigen „You two…“ der Mutter. Die starren Rituale der Eltern sind durch nichts zu brechen, die Worte aus Veronicas Mund werden nicht verstanden, sie wird eher wie ein Haustier denn als Mensch behandelt. Eine Variation dieser kruden Familienbande, in GHQHQ GHU *HQHUDWLRQVNRQÀLNW NRPSOHWW ausgesetzt ist, ist das Verhältnis zwischen HEATHERS J.D. und seinem Vater. Als der Vater zum ersten Mal erscheint, begrüßt ihn sein Sohn mit „Hi son“. Und der Vater antwortet „Hi Dad.“ Die Ignoranz zwischen den Generationen ist entweder so groß, dass eine Kommunikation gar nicht mehr zustande kommt oder die Differenzen ebnen sich in einem *HIKOGHU.XPSHOKDIWLJNHLWYROOVWlQGLJHLQ'HUGLH7HHQSLFVELVLQGLHHU-DKUH KLQHLQ VWUXNWXULHUHQGH .RQÀLNW LVW YHUVFKZXQGHQ XQG GLH 6R]LHWlW GHU -XJHQGNXOWXU entfaltet sich vollkommen autonom. Im Umkreis der „disaffected disposition“ greifen die tradierten Erklärungsansätze nicht mehr. Die Figur des emotional abgestorbenen XQG]LHOORVHQ-XJHQGOLFKHQLVWZHGHUHLQH)ROJHGHV0LOLHXVQRFKHLQHV.RQÀLNWHVPLW der Elterngeneration. HEATHERS erzählt von einer Welt und konstruiert einen sozialen 107 | In diesem Kontext macht sich der Regisseur Wes Craven Gedanken über die Popularität seiner Killer-Figur Freddy Krueger aus A NIGHTMARE ON ELM STREET: „We tried the Ozzie and Harriet thing in the 50’s, and that didn’t work. We tried the hippie peace-and-loving thing, and that didn’t work either. We tried the yuppie thing and the ZRUOGJRWZRUVH6RZKDW¶VQH[W">«@,PDNHKRUURUPRYLHVLQZKLFKDFKDUDFWHUFRPHV out of people’s dreams and slashes away at anything that’s bullshit. All I can tell you, I guess, is that I´m not surprised that Freddy Krueger is a teen hero.“ Craven, zitiert nach /HZLV  6

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Raum, in dem die Schüler nur noch eine Bedrohung für sich selbst und ihre Mitschüler VLQG-'UHLEWVLFKQLFKWDQVSH]L¿VFKHQ$XWRULWlWHQDXIOHW]WOLFKJLOWHVGDVJHVDPWH soziale Subsystem Schule auszuradieren. Auf dem Höhepunkt seiner Delinquenz verteilt er Bomben in der Schule, die er per Zeitzünder steuert. Als Veronica ihn aufhalten will, ist dieser Shoot-Out parallel geschnitten zu den Bildern der begeistert tobenden Schüler- und Lehrerschar, die über dem Kellerraum, den J.D. in die Luft sprengen will, unter Einsatz der Cheerleader sich selbst feiert. Damit ist der Juvenile Delinquent nicht mehr weit entfernt von Eric Harris’ Ausspruch: „If I could nuke the world, I would.“ Wie bei seinem Vorgänger Mick Travis in IF… wird der gesamte soziale Korpus zum Ziel von J.D.s Tötungswunsch.108 Der Rebell beginnt zunächst zusammen mit Veronica als Revolutionär gegen ein herrschendes System, jedoch diffundiert das Ziel seiner Aggressionen am Ende ins Wahllos-Beliebige: „Let’s face it OK: The only place different social types can genuinely get along with each other is in heaven. […] Seriously people will look at the ashes of Westerberk [Highschool] and say: Now there is a school that self-destructs NOT because society didn’t care, but because the school WAS society“, erklärt er Veronica. Wie in IF… muss die Gewalt ihren :HJ HUVW LQ GLH 6FKXOH ¿QGHQ 'LH 6SXU der Morde führt vom Privatzimmer, in dem die erste Heather ermordet wird, zu einem Wald nahe der Schule, in dem J.D. (absichtlich) und Veronica (unabsichtlich) zwei der Jocks, der Sportler töten. Am Ende entzündet sich der Zweikampf zwiHEATHERS schen Veronica und J.D. eben auch über die Deutungshoheit der architektonischen Aufteilung des Bildraums, die Frage, in welchem Zusammenhang die Gewaltbilder legitim sind und wo sie erscheinen dürfen. Nach dem Scheitern seines Plans sprengt sich J.D. vor dem Eingang der Schule in die Luft. Veronica steht dabei vor dem Haupteingang der Schule Wache. Nach dem Tod J.D.s geht sie hinein, nimmt Heather 2, der Nachfolgerin von Heather 1, das rote Haarband, das die Macht und die Kontrolle über die Gemeinschaft symbolisiert, ab und bindet sich damit die Haare. „Heather my love, there is a new sheriff in town“, lautet ihr kämpferischer Kommentar. HEATHERS inHEATHERS szeniert diesen letztlichen Sieg einer neuen demokratischen Idee konsequent über den Verfall der Äußerlichkeit. Die Macht YHUGLFKWHWVLFKLP6\VWHP+HDWKHULQGHQ2EHUÀlFKHQGHV*HVLFKWVXQGGHV.|USHUV 108 | Seine Inspiration zieht J.D. aus den medialen Bildern: der Plan für die Explosion VWDPPWDXVHLQHPNXU]HQ9LGHR¿OPGHQLKPVHLQ9DWHU]HLJW

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Dieses Regime der Sichtbarkeit, in dem Schönheit Macht bedeutet, außer Kraft zu setzen, manifestiert sich bildnerisch in den Verwüstungen des Bildes Veronica, den rußverdreckten Klamotten und der zerrütteten Frisur. Am Ende drückt sie Heather  HLQHQ .XVV DXI GLH:DQJH EHÀHFNW VLH mit ihrem Schmutz und so mit der Idee HEATHERS einer neuen Demokratie. Im Schlussbild verschwistert sich Veronica mit der unbeliebtesten Schülerin und gemeinsam gehen E]ZUROOHQVLHGHQ6FKXONRUULGRUKLQXQWHU0DUWKDÃ'XPSWUXFNµ'XQQVWRFNVLW]WQDFK einem gescheiterten Selbstmordversuch im Rollstuhl.

Mediale Terroristen Filme wie HEATHERS geben sich medial durchsetzt, die Einrichtung der Innenräume ist von Abbildungen in Einrichtungskatalogen nicht mehr zu unterscheiden. Seinen Höhepunkt wird diese Form der Ästhetisierung des Privaten mit David Finchers FIGHT CLUB ¿QGHQZRGDV0RELOLDUJOHLFK]HLWLJPLWGHP9HUOHVHQVHLQHU%HVFKUHLEXQJHQDXVHLQHP ,NHD.DWDORJ GXUFK GLH 6WLPPH GHU +DXSW¿JXU LP Off im Raum erscheint. Die mediale Gemachtheit des sozialen Raums und des eigenen Erlebens, die Überformung GHU:DKUQHKPXQJXQGGHU(UIDKUXQJGXUFKPHGLDOHQ.RQVXPZHUGHQ7HLOGHV¿OPLschen Bildraums. Dabei liegen die verschiedenen Modi des Erlebens auf der gleichen hierarchischen Ebene. Dass der soziale Raum durch und durch medialisiert ist, gerinnt zur Gewissheit der Alltagserfahrung. In diesem Sinne wird die mediale Fabrikation GHVJHPHLQVDPJHWHLOWHQ(UOHEHQVQLFKWPHKUDOV)LJXUHLQHVÃIDOVFKHQµ%HZXVVWVHLQV UHÀHNWLHUW(VJLEWNHLQHQ8QWHUVFKLHG]ZLVFKHQGHP5HDOHQXQGGHP0HGLDOHQ In SCREAM (Wes Craven, USA 1996) wird der Erfahrungshorizont, der aus dem Konsum von Slasher-Filmen gewonnen wurde zum alleinigen Horizont des Handelns und Verstehens. Die Genreregeln werden zu einem symbolischen Kode im Sinne LuhPDQQVGHUZLHGLH9HUOLHEWKHLWGHVEUJHUOLFKHQ6XEMHNWHVUHÀHNWLHUWDEHUWURW]GHP nicht gebrochen werden kann.109 Die Genreregeln informieren die Worte, Gesten und das Verhalten der Protagonisten in SCREAM bis in die banalste Geste hinein. Figuren wie Layne in RIVER’S EDGE (Tim Hunter, USA 1986) sind frühe, aber paradigmatische Manifestationen dieser Gleichwertigkeit. „Layne’s a sociopath whose conceptions are 109_'DVUHÀH[LYH:LVVHQXPGHQV\PEROLVFKHQ&RGHLVWGLHEDVDOH9RUDXVVHW]XQJGHV (PS¿QGHQVÄ0HKUDOVLP%HUHLFKLUJHQGHLQHVDQGHUHQ.RPPXQLNDWLRQVPHGLXPVZLUG LQGHU/LHEHVVHPDQWLNGLH&RGLHUXQJVFKRQIUKUHÀHNWLHUWXQG]ZDUDOVGLUHNWH)ROJH GHV%XFKGUXFNV>@6FKRQLP-DKUKXQGHUWZHL‰PDQGLH'DPHKDW5RPDQHJHOHVHQ und kennt den Code. Das steigert ihre Aufmerksamkeit. Sie ist gewarnt – und eben dadurch gefährdet. […] Ebenfalls gelesen hat man die Floskeln und Gesten, die zur Kunst der Verführung gehören. Man hat damit zu rechnen, daß die Damen sie durchschauen, XQGZHL‰DXFKGD‰VLHWURW]GHPZLUNHQ³/XKPDQQ  6

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only half-formed and came from the movies or media.“110 So beschreibt der Regisseur des Films Tim Hunter seine Figur. Die verschiedenen Sequels der Teenage-HorrorFilme gehen in dieser vollkommen durchmedialiserten Welt auf. SCREAM 3 (Wes Craven, USA 2000) spielt in den Kulissen eines Filmes, der die Morde aus dem ersten Teil GHU7ULORJLH DOV 6SLHO¿OP UHLQV]HQLHUW HALLOWEEN: RESSURECTION (Rick Rosenthal, USA 2002) kehrt zum Tatort des ersten Teils zurück, um Michael Myers sechs Studenten zerlegen zu lassen, die im Myers-Haus eine Reality-TV-Show drehen wollen. Das Mediale hat sich über das Soziale gelegt. In ähnlicher Weise wiederholen sich in THE FACULTY (Robert Rodriguez, USA 1998) en Detail die Plots früher Science-FictionFilme wie THE INVASION OF THE BODY SNATCHERS (Don Siegel, USA 1956) in einer kleinen amerikanischen Highschool. Die einzige Überlebensstrategie legiert sich aus der Kenntnis der richtigen Filme.

Der Konsens im Bildraum Schule: E A RSHOT Unter dem Eindruck des school shootings von Eric Harris und Dylan Klebold wird die Folge EARSHOT der Serie Buffy the Vampire Slayer (BtVS) 1999, eine Woche nach dem Columbine-Massaker, vom verantwortlichen Sender aus dem Programm genommen. Zu nah scheint die Verbindung zwischen der Wirklichkeit der Morde an einer ameriNDQLVFKHQ+LJKVFKRROXQGGHU7KHPDWLVLHUXQJYRQ$PRNLQHLQHU¿NWLYHQ6HULHQZHOW Die Grenze zwischen Kunstautonomie und sozialer Wirksamkeit medialer Produkte wird hier erneut Gegenstand ambivalenter Strategien, präpariert BtVS doch Woche für Woche den hermetisch abgeriegelten Kunstraum einer phantastischen Welt voller Vampire, Monster und Magie in Relation zum Alltag an einer durchschnittlichen amerikanischen Highschool. Die Serie schließt an frühe Teenpics wie I WAS A TEENAGE WEREWOLF an, innerhalb eines phantastischen Kosmos werden sehr reale Probleme verhandelt. Auf dem Spiel steht Show für Show, Season für Season die gegenseitige Durchdringung der vermeintlich ausdifferenzierten Bereiche Fiktion und Sozialität in LPPHUQHXHQ9DULDWLRQHQ8QWHUGHP9RU]HLFKHQHLQHUÃSRVWPRGHUQHQµ+\EULGLWlWXQG einem beständigen Bewusstsein der medialen Gemachtheit von sozialer Wirklichkeit verbindet BtVSGLH7RSRLGHV+RUURU¿OPV±YRQ)UDQNHQVWHLQELV'UDFXOD±PLWGHQ Alltagssorgen seiner pubertierenden Charaktere. Was an der Eigenkonstruktion von school shootern pathologisiert wird – die Selbstwerdung anhand von medialen Vorbildern –, ist hier normaler Alltag, ein selbstverständliches Element der eigenen biogra¿VFKHQ.RQVWUXNWLRQ Im Hinblick auf die Politik der Kunst im Teenpic nach den 1980er Jahren ist EARSHOTLQ]ZHLHUOHL+LQVLFKWW\SLVFK'LH)ROJHLQV]HQLHUWXQGUHÀHNWLHUW]XJOHLFKHQ Teilen ein hierarchisch-repräsentatives System Schule, wie es aus HEATHERS bekannt ist, und legt dabei gleichzeitig die Koordinaten der konsensuellen Wirklichkeit aus, innerhalb derer sich die Verhandlungen des Themas der Inklusion und Exklusion im sozialen Gebilde Schule medial iterativ vollziehen. EARSHOT ist die positive Variante der Gemeinschaftsbildung, das Gelingen sozialer Praxis, im Zentrum steht die Integration 110 | Hunter, zitiert nach Tropiano (2006), S. 210

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des isolierten Individuums. Damit zeigt die Serie das Gegenstück zur misslungenen Sozialisation des school shooters. EARSHOT breitet die Mechanismen des sozialen Ortes Schule zunächst in den bekannten Mustern von Inklusion und Exklusion anhand von Popularitätswerten aus. Die Sportler stehen an der Spitze der Hackordnung, die wirkende Hierarchie der schulischen Gemeinschaft wird anhand einer Cheerleader-Veranstaltung – der Anfeuerung des Sportteams vor dem Schulgebäude – in Szene gesetzt. Dabei bedeutet EARSHOT VFKRQGLH5HÀHNWLRQDXIJlQJLJH0XVWHUGHU,QV]HQLHUXQJGHVVFKXOLVFKHQ5DXPV'LH 9HUVDW]VWFNHSRSXOlUNXOWXUHOOHQ(U]lKOHQVZHUGHQNODUPDUNLHUWGXUFKGLHDUWL¿]LHOOH $XVJHVWHOOWKHLW GHU (OHPHQWH GLH DOO]X GHXWOLFKH 6]HQRJUD¿H GHU %LOGHU GLH IU GLH Serie eher untypisch sind. Die narrative Hauptlinie der Folge eröffnet dann eine Infektion: Über das Blut HLQHV'lPRQVGHQGLH+DXSW¿JXU]X%HJLQQW|WHWEHUWUlJWVLFKHLQH(LJHQVFKDIWGHV Monsters auf sie. Buffys neue Fähigkeit zeigt sich schnell: Sie kann die Gedanken ihrer Mitmenschen hören. Das Marginale, Verdrängte rückt in den Mittelpunkt des GescheKHQVEHUGLH)RNDOLVDWLRQGHU+DXSW¿JXUGULQJHQGLHXQHUK|UWHQXQGXQDXVJHVSURchenen Gedanken der Schüler in die Sicht- bzw. Hörbarkeit. Die normierten Regeln GHU ,QNOXVLRQ XQG ([NOXVLRQ XQG GHU OHJLWLPHQ )RUPHQ GHV 5HGHQV KHEHQ VLFK DXIà in diesem Sinne inszeniert EARSHOT auf diegetischer Ebene das Feld des Politischen. Die Gestalt der Anteilslosen materialisiert sich in der Gestalt des Schülers Jonathan. Er tritt zum ersten Mal neben Buffy an der Essensausgabe der Cafeteria auf, einer seiner ersten Gedanken ist „She [Buffy] doesn’t even know I’m here.“ Dies bezeichnet das zentrale Problem der Folge: die Unsichtbarkeit Einzelner in einem schulischen Kastensystem, das anhand der Popularität die Sichtbarkeiten reguliert. In diesem Sinne verbindet sich mit der Figur Buffy eine alternative Seinsweise, rückt das Ausgeschlossene doch über das Gedanken-Hören-Können in den Bereich der Sprachfähigkeit. Gleichzeitig gerät dieses Potential außer Kontrolle, die Stimmen, die allein Buffy zu hören vermag, nehmen überhand. Was ausgeschlossen war, kann jetzt nicht mehr ausgeschlossen werden. Buffy lässt das Tablett fallen, greift sich verzweifelt an den Kopf, hält sich die Ohren zu. Dies ist die Szene, auf die sich Gus Van Sant später in ELEPHANT beziehen wird. Ein einzelner Satz ist im Stimmengewirr klar verständlich: „This time tomorrow, I’ll kill you all.“ Somit ist der thematische Rahmen – ein geplantes school shooting – gesetzt. Die Intrige entspinnt sich an der Frage, welchem Gesicht, welcher Person diese Aussage zuzuordnen ist – aus dem Pathos des Wissens wird also wieder eine narrativ-restriktive Form der Enthüllung des Geheimnisses entlang eines Spannungsbogens, dessen Zeitlichkeit die der Deadline inklusive Last-Minute-Rescue ist – wobei sich die Ökonomie der Information dem tatsächlichen Problem der school shootings anpasst: Statt einer zu geringen Informationsdichte steigt die Entropie ins Unermessliche, jeder Schüler und jeder Lehrer kann sich als Täter enthüllen, jeder Gedanke kann im Folgenden der Entscheidende sein. Die All-Präsenz der fremden Gedanken verschleiert die wichtige Information in einer endlosen Reihe von unwichtigen Informationen.

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$P7DJGHVDQJHNQGLJWHQ$WWHQWDWVEHVWHLJWGHUÃXQVLFKWEDUHµ6FKOHU-RQDWKDQ den Turm der Schule. Er öffnet seinen Koffer und nimmt ein Gewehr heraus. Die Zitation des campus shootings von Charles Whitmans ist nur allzu offensichtlich, gerade weil jener Turm auf dem Schulgelände in keiner der anderen 143 Folgen von BtVS zu VHKHQLVW%XII\¿QGHWGHQYHUPHLQWOLFKHQSniper rechtzeitig, ehe er den ersten Schuss abgeben kann. In einem Gespräch zwischen ihr und Jonathan werden anschließend die Koordinaten von Inklusion und Exklusion, Aufmerksamkeit und Unsichtbarkeit im Bildraum Schule explizit verhandelt. Die harten Währungen innerhalb dieses Systems ZHUGHQYRQ-RQDWKDQDOV6FK|QKHLWXQG6SRUWOLFKNHLWGH¿QLHUW,QGHUNODVVLVFKHQ'LIferenz der hermeneutischen Lektüre steht der Blick Jonathans also für das Manifeste, das im Folgenden durch die Enthüllung des latenten Inhalts – der Buffy aus den unDXVJHVSURFKHQHQ*HGDQNHQLKUHU0LWVFKOHUEHNDQQWLVW±LQHLQ%LOGGHUÃ(LJHQWOLFKNHLWµPRGL¿]LHUWZLUG'LH)RUPHOODXWHWÃ8QWHUGHU2EHUÀlFKHµ8QWHUGHU2EHUÀlFKH sind wir alle – auch die schönen und populären Gesichter – einsam und verwirrt, ohne =LHOXQGRKQHGDVVXQVGLH$QGHUHQLQXQVHUHUÃ:DKUKDIWLJNHLWµDOV,QGLYLGXHQHUNHQQHQ 'HQ WHLOHQGHQ XQG GLYHUVL¿]LHUHQGHQ 0lFKWHQ GHV 6LFKWEDUHQ OLHJW HLQ GRSSHOW XQJHWHLOWHVVR]LDOHV(PS¿QGHQ]XJUXQGH=XPHLQHQYHUHLQLJWGLHVHV(PS¿QGHQDOOH 6FKOHU LQ HLQHP 2UJDQLVPXV MH LQGLYLGXHOOHU +LOÀRVLJNHLW ]XP DQGHUHQ LVW GLHVHV (PS¿QGHQQLFKWH[SOL]LHUEDUHVLVWGDV$XVJHVFKORVVHQHGHVRI¿]LHOOHQDOOWlJOLFKHQ schulischen Ablaufs und wird von niemandem artikuliert.111 Die Szene im Turm inszeniert im Folgenden das Bild einer gelungenen ReintegraWLRQGHVLVROLHUWHQ,QGLYLGXXPVDXIGHU0DWUL[HLQHVJHPHLQVFKDIWOLFKHQ(PS¿QGHQV 'LH]XU6SUDFKHJHEUDFKWHQXQGDOVXQLYHUVHOOGH¿QLHUWHQ*HIKOHGHU,VRODWLRQXQG der Angst fungieren als sozialer Kitt, der den Einzelnen – Jonathan – rückbindet an die Gemeinschaft.112 EARSHOT inszeniert prototypisch die Bildung des Raums der gemeinsamen Angelegenheiten, in dem es keine Ausgeschlossenen (mehr) gibt. Es ist das Eingeständnis der eigenen Schwäche, das ein ums andere Mal die Trennung der Charaktere aufhebt. Am explizitesten wird dies in THE BREAKFAST CLUB in Szene gesetzt, wobei dieser Mechanismus den allgemeinen Horizont der Teenpics in den 1990er Jahren bildet. Über den Dialog, das Sagbare, wird das Sichtbare, die Trennung anhand YRQ6FK|QKHLW.OHLGXQJHWFQHXGH¿QLHUWLP6LQQHHLQHUUHDOLVLHUWHQ*HPHLQVFKDIW 111_'LH0DWUL[GLHVHUW\SLVFKHQ(U]lKOXQJ¿QGHWVLFKVWLOELOGHQGLQGHQ7HHQSLFVGHV Regisseurs John Hughes inszeniert: „In the world according to John Hughes, teenagers, like the members of The Breakfast Club, begin to bond once they are ready to overlook their differences and recognize that they share many of the same problems, insecurities, and fears.“ Tropiano (2006), S. 180 112 | Bereits 1995 hatte der Regisseur John Singleton die Figur des school shooters als Sniper in seinem Film HIGHER LEARNING (USA), der an einer Universität angesiedelt ist, aufgegriffen. Jenseits der ethnischen Leitdifferenz des Films erscheint der Freshman Remy als Produkt fehlgeschlagener Integration. Am Ende kennt er keinen Ausweg mehr als – primär rassistisch motiviert – vom Dach eines Gebäudes auf dem Campus in die Menge zu schießen.

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LQ GHU GLH REHUÀlFKOLFKHQ 'LIIHUHQ]HQ DXI GHU %DVLV JHWHLOWHU (PS¿QGXQJ DXIJHKRben sind. Die Fragen von sozialer Inklusion und Exklusion werden nicht mehr über Szenerien des Duells ausgetragen. Sowohl BLACKBOARD JUNGLE als auch HEATHERS bilden die Gemeinschaft über den Ausschluss des sozialen Übels in Gestalt von Artie West bzw. dem Rebellen J.D. In den medialen Welten, wie EARSHOT sie zeigt, sind alle &KDUDNWHUH8QWHUGHU2EHUÀlFKH:HVHQ:LHGDV0lGFKHQ6LHUUDLQMY SUICIDE. In ihrer blonden Schönheit und als Teil der perfekten Familie ist sie Ausdruck des amerikanischen Traums, der absoluten Vollkommenheit, aber als Archie nur ein bisschen an GHU2EHUÀlFKHNUDW]W]HLJHQVLFKVRIRUWGLH5LVVHGLHGHQ$X‰HQVHLWHU$UFKLHXQGGDV populäre Mädchen Sierra als Teil derselben Erfahrung vereinen.

Teenpics und die Politik des Ästhetischen: P U M P U P

THE

VOLU M E

Belegen lässt sich die politische Dimension amerikanisch-populären Kinos an einem weiteren Beispiel: PUMP UP THE VOLUME (Allan Moyle, Kanada 1990). Der Film führt eine Demokratisierung des Schulsystems paradigmatisch vor. Dabei kehrt sich die Perspektive aus EARSHOT LQLKU*HJHQWHLO'LHÃXQVLFKWEDUHµ)LJXUZLUGQLFKWEHUHLQH hierarchisch höher stehende Figur integriert, sondern der Anteilslose gerinnt zur transformierenden Kraft, die die Gemeinschaft zuallererst bildet. Mark Hunter heißt der neue Schüler – der Freshman – an der Highschool in einer kleinen, weißen amerikanischen Vorstadt. Er ist ein Außenseiter, unfähig, mit seinen Mitschülern face-to-face zu kommunizieren, ein Sprachloser wie Archibald Holden Williams in MY SUICIDE. Mark ÀFKWHWVLFKLQ6FKZHLJHQYHUEULQJWGLH3DXVHQHLQVDPXQGYHUODVVHQPLWHLQHP%XFK in der Hand in einem versteckten Winkel des Schulgeländes. Im Sinne einer Politik des Ästhetischen entfaltet PUMP UP THE VOLUME über die 6SDOWXQJGHU+DXSW¿JXUH[SOL]LWGLH3HUVSHNWLYHGHUPDUJLQDOLVLHUWHQ(UIDKUXQJGLH ihre Stimme über die Kunst gewinnt: In der Nacht verwandelt sich Mark Hunter in den Piratendiskjockey Hard Harry Hard-On und sendet ein Programm, in dem er offen all das anspricht, was im normalen Schulalltag nicht erscheinen darf: das Gefühl der Einsamkeit, Masturbation, die endlose Leere eines Lebens als Teenager, Selbstmord. Die Radioshow entwickelt sich zur Parallelwelt, in der die unausgesprochenen Ängste und Gedanken der Schüler über Briefe, die Mark/Harry vorliest, ins Licht der Öffentlichkeit treten. Im Sinne der Teenage-Angst-Filme der 1980er und 90er Jahre legt die Radioshow die gemeinsamen Bezugspunkte jugendlicher Probleme offen: die Sexualität, die Enge der Hierarchien, der Druck, der auf den Schülern lastet. Die mediale Intervention in den Raum der gemeinsamen Angelegenheiten hat Erfolg, immer mehr Zuhörer schalten ein. Sie beginnen sich im sozialen Raum zu treffen, sitzen in ihren Autos auf dem Sportgelände um das Programm Harrys/Marks aufmerksam zu verfolgen. PUMP UP THE VOLUME entwickelt die neu entstehende Gemeinschaft in den immer gleichen formalen Motiviken, den harten Gegenschnitten zwischen Harry/Mark und seinen Zuhörern. Die Schule gewinnt eine neue – buchstäbliche – Lesbarkeit, die Botschaften Harrys/Marks, die er durch den Äther schickt – „So be it“, „The truth is a virus“ – werden auf Transparente gemalt und an die Außenwänden des

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Schulgebäudes gehängt oder direkt auf den Rasen vor dem Schulgelände gesprüht. Soziale Materialität wird so umkodiert. Im Laufe des Films fallen die binären Kodierungen – Tag/Nacht, Alltag/Show, privater/schulischer Raum. Die Worte Harry Hard-Ons/Marks deregulieren die Verhaltensökonomie der Highschool und der Vorortwelt mehr und mehr. Die Schüler befreien sich über das mediale Erleben aus den starren Vorgaben der Eltern und Lehrer. Die strikt reglementierten sozialen Rollen verlieren ihre Gültigkeit und unter der Ägide einer Neuvermessung der sichtbaren und sagbaren Welt im Sinne der Stimme Harrys/Marks vermischen sich die Gruppen. Es kommt zu einer Entdifferenzierung, die solidarische Gemeinschaft aus In- und Outsidern formiert sich gegenüber den neuen Feinbildern: Lehrern, Eltern, der Regierung und den Medien, die mit dem rebellischen Verhalten der Kids Quote machen wollen. PUMP UP THE VOLUME kann die Intrige nicht aufgeben und kommt am Ende zu einem ambivalenten Happy-End. Die herrische Direktorin wird des Betrugs entlarvt und von Harry überführt. Mark Hunter wird verhaftet, söhnt sich aber gleichzeitig mit seinem Vater aus und so wird der Film über den harmonischen Ausgleich der Generationen in den konsensuellen Kosmos zurückgeholt. Die Duellsituation am Ende des Films wirkt aufgesetzt, versucht PUMP UP THE VOLUME doch in ein repräsentatives System zurückzukehren, dessen Ende und Abschaffung der Film am Anfang als Kern des 3UREOHPV¿[LHUWKDWXQGGHVVHQGVWHUHIDWDOLVWLVFKH6WLPPXQJPLWGHQ.OlQJHQYRQ Leonard Cohens Everybody knows, das jeweils den Auftakt zu Harrys Sendung bildet, $EHQGIU$EHQGDNXVWLVFKXQWHUPDOW'XUFKGLH$XÀ|VXQJLP+DSS\(QGVFKHLWHUW PUMP UP THE VOLUME so an den eigenen Prämissen, indem er die dissidente Stimme Happy Harrys auf die konsensfähige Versöhnung mit dem Vater reduziert.



X. Die Neukonfiguration des Sozialen: school shooter und die Funktion der Kunst

Die Intervention des school shooters School shootings bilden als soziale Ereignisse die sichtbare Manifestation einer misslungenen integrativen Erzählung. Ihre Geschichte entfaltet sich jenseits der organischaristotelischen Narration, auf die PUMP UP THE VOLUME die dissidente Sprachfähigkeit VHLQHU+DXSW¿JXUUFNEH]LHKWXQGVRPLWLQGHQNRQVHQVXHOOHQ.RVPRVJHVHOOVFKDIWOLchen Erzählens einpasst. School shooter lassen sich als Problem der verfügbaren Modi des Erzählens präparieren, gewinnt die Überblendung von medialem und sozialem Handlungsraum in der Tat doch einen prägnanten Ausdruck. Es sind zunächst Orte der sozialen Wirklichkeit, in denen school shootingsDXIWUHWHQDEHUGLH0RUGH¿QGHQ HEHQVRLPPHGLDOSUl¿JXULHUWHQ5DXPVWDWWZLHLKQGLH7HHQSLFVLQLKUHUGLDFKURQHQ Entfaltung seit den 1950er Jahren als Kastensystem hervorgebracht haben. :DV]XQlFKVWJURWHVNNOLQJWJHULQQWLPPHGLDOXQGVR]LDO¿JXULHUWHQ5DXPGHU7lter und der Zeugen dennoch zu einer Gewissheit: „Wir Europäer belächeln das wie ein ¿NWLYHV*HQUH*HVHW]DEHUGDVLVWHLQJUR‰HU,UUWXP'DV6R]LDOV\VWHPGHU6FKOHULVW mit der Gesellschaft deckungsgleich. Die Sache ist ernst.“1 Einen Einblick, wie ernst die Sache ist, gewinnt man anhand des Beschreibungsmodells einer schulisch-sozialen Ordnung, das Katherine Newman und ihre Koautoren aus der soziologischen Untersuchung der school shootingsYRQ0LFKDHO&DUQHDOXQGGHP$PRNODXIGHV'XRV Andrew Golden und Mitchell Johnson 1998 gewinnen. Dabei liegt die Vorbildfunktion medialer Inhalte nicht im Spektrum der Analyse der Autoren und sie versuchen die 1_.QLHEH  6(LQHQJDQ]EHVRQGHUHQ%OLFNRIIHQEDUW&U\VWDO:RRGPDQ0LOOHU auf den peer pressure an der Columbine Highschool: „Im ersten Jahr an der Highschool wurde mein Dilemma immer größer. Auf der einen Seite hielt ich an meinem Entschluss, Jesus nachzufolgen, fest, aber auf der anderen Seite wuchs in mir die Sehnsucht nach dem, was die Welt zu bieten hatte. Und in kürzester Zeit war ich dann bereit zu tun, was immer nötig war, um so beliebt, angesehen und cool zu werden wie die anderen an meiQHU6FKXOH³:RRGPDQ0LOOHU  6,KUH$ENHKUYRQ*RWWHUIOOWVLFKVFKOLH‰OLFK mit dem Kauf neuer Klamotten und dem Besuch von Partys am Wochenende.

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Taten allein aus dem sozialen Handlungsraum zu präparieren. Überraschenderweise kommen sie jedoch zu einem hierarchischen Modell, das sie zwar aus sozialen Räumen – der Heath High School in West Paducah, Kentucky, bzw. der Westside Middle School in Jonesboro, Arkansas – destillieren, das aber ebenso gut den medialen Raum Schule, wie er sich über die 7HHQSLFVWUDGLHUWEHVFKUHLEWÄ7RIDLOWKHÃWHVWRIFRROµLV to be subjected to withering attacks on one’s self-worth.“2 (QWVSUHFKHQG IXQNWLRQLHUW GLH *UD¿N GLH GDV KLHUDUFKLVFKH 6R]LDOV\VWHP 6FKXOH anschaulich macht, innerhalb derselben Koordinaten wie der Bildraum Schule: Am oberen Ende der Pyramide sind die Jocks mit ihren Cheerleadern]X¿QGHQGLHNerds werden nur noch von den Goths unterboten, die den Versuch einer Integration in die Gemeinschaft scheinbar endgültig aufgegeben haben. Das Kastensystem lässt sich nun als Matrix des Erlebens und Han„The Social Pyramid at Heath Highschool“ delns bis in die Selbstinszenierunnach Newman et al. (2005), S. 133 gen der Täter und die Ausgestaltung ihrer school shootings zurückverfolgen. Am 20. April 1999 sind die Jocks, die sich an der Littleton Highschool über weiße Baseballkappen von den anderen Schülern differenzieren, die von Eric Harris und Dylan Klebold bevorzugten Ziele.3 Dass die in den Teenpics zu beobachtenden Muster der Aufmerksamkeitsverteilung anhand einer repräsentativen Ordnung im Erleben der Schüler wirksam werden, lässt sich an einem Interview mit einem der Mitschüler von Eric Harris und Dylan Klebold ablesen. Brooks Brown gibt zu Protokoll: Columbia High School hatte eine sehr bösartige Hierarchie: An der Spitze waren die Jocks, die Sportler, die Siegertypen, vor allem die Quarterbacks. Und ihre Begleiterinnen, die Mädchen, die am besten aussahen. Und die mit dem meisten Geld. Die waren bei allen Aktivitäten die Ersten. Und über die ganze Skala von oben nach unten schikanierten

2 | Newman et al. (2005), S. 126 3 | Harris oder Klebold – Woodman Miller kann die Stimme im Nachhinein nicht genau zuordnen – betritt die Bibliothek der Columbine Highschool am 20. April 1999 mit den Worten: „Alle Sportler sind tot. […] Wenn ihr ein weißes T-Shirt oder eine weiße Kappe aufhabt, dann verabschiedet euch. Ihr seid tot.“ Woodman Miller (2008), S. 40. Die Jocks als primäres Ziel zu setzen ändert nichts daran, dass sich die Morde während des school shootings ins Wahllose verstreuen. In der Tat verschränken sich beide Modi des Tötungswunsches zu einer paradoxen Einheit.

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die Leute, die in der Hierarchie höher standen, die weiter unten. […] Alle in der Schule haben es gemacht. Und Eric und Dylan waren die unterste Schicht.4

Eine weitere Mitschülerin – Tiffany Typher – spricht während ihrer Vernehmung durch die Polizei über die Demütigungen der „arroganten Sportlertypen“, denen Harris und Klebold ausgesetzt waren und fügt an: „Eric regte sich richtig auf, wenn er über die Jocks redete.“5 Die Oberen der schulischen Hierarchie ordnen die Sichtbarkeiten, geEHQGHQDQGHUHQ*UXSSHQLKUH1DPHQZLHHWZDGHUÄ7UHQFKFRDW0D¿D>«@HLQHORVH Gruppe von Freunden, die sich benachteiligt fühlten und die Jocks hassten.“6 '\ODQ .OHEROG UHÀHNWLHUW LQ VHLQHP 7DJHEXFK LPPHU ZLHGHU VHLQH 5ROOH LQ GHU schulischen Hierarchie: „Wenn ich die Leute an der Schule sehe… manche gut, manche schlecht… sehe ich, wie anders ich bin (sind wir das nicht alle, wirst du sagen), aber ich bin es in einem so viel größeren Maße. Ich sehe, wie die Jocks Spaß haben, Freunde, Frauen. LEBEN…“ Popularität ist die einzig harte Währung im sozialen System Highschool. Als Dylan Klebold sich verliebt, schreibt er über die Angebetete: „Yet everything about her I love. From her good body to her almost perfect face, her charm, her wit, & cunning, her NOT Being popular.“8 Diese Aussagen von sowohl Tätern als auch Zeugen zeigen, wie stark das soziale Leben mit dem medialen Erleben – wie es etwa in PUMP UP THE VOLUME zur Geltung kommt – synchronisiert ist. Bezeichnend in diesem Kontext ist auch, dass HITMEN FOR HIREGHU.XU]¿OPYRQ(ULF+DUULVXQG'\ODQ.OHEROGGHUGDVVSlWHUHschool shooting LQDOOHQ)DFHWWHQEHUHLWVELOGOLFKLQ6]HQHVHW]WHLP9RUIHOGYRQGHQ6FKOHUQDOV¿NWLonales Werk im Sinne von HEATHERS rezipiert wurde: Eric und Dylan, in schwarzen Trenchcoats, erschießen die Sportlertypen, die Stars der Klasse. […] Doch damals dachte sich keiner was dabei. Es war einfach zu lustig. Denn an jeder Schule gibt es Mobbing, überall gibt es die Stars der Klasse, und die Stars sind die, die sich über die anderen lustig machen. Und das sind immer die Jocks. […] Es war einfach so typisch Highschool.9

Und das medial implementierte Kastensystem gilt nicht nur für das Erleben des amerikanischen Schulsystems, wie an den Aussagen Bastian Bosses in seinem Abschiedsvideo deutlich geworden ist. Was der Emsdettener school shooter mit den Regeln der 4 | Brown, zitiert nach Gaertner (2009), S. 52. In ZERO HOUR präzisiert Brooks Brown den Begriff Jocks: „Jocks are not necessarily athletes. A jock is anyone who believes that they – because they wear nice clothes, because they screw the best looking girl, because the teachers treat them different – deserve and are better than everyone else.“ 5 | Typher, zitiert nach Gaertner (2009), S. 53 6 | Anderson, zitiert nach Gaertner (2009), S. 56 7 | Klebold, zitiert nach Gaertner (2009), S. 119f 8 | Vgl. http://www.acolumbinesite.com/dylan/journal8.html 9_%URZQ]LWLHUWQDFK*DHUWQHU  6I

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Inklusion und Exklusion, die anhand von „Markenklamotten“ in seiner Schule verhandelt werden, aufruft, entspricht im Bildraum der Teenpics den Letterman Jackets, jenen Wolljacken mit Lederärmeln, die die Farben und Anfangsbuchstaben der jeweiligen Highschool tragen und die nur die elitäre Kaste der Sportler tragen darf.10 Es sind Insignien der sozialen Distinktion, die die Hierarchien innerhalb der Schülergemeinschaft Tag für Tag inszenieren und legitimieren. Bastian Bosse arbeitet sich im Deutschland GHV-DKUHVDQGLHVHQ,PDJHVXQG%HJULIÀLFKNHLWHQDE,QVHLQHP$EVFKLHGVEULHI schreibt er: Ich merkte mehr und mehr in was für einer Welt ich mich befand. Eine Welt in der das Geld alles regiert, selbst in der Schule ging es nur darum. Man musste das neuste Handy KDEHQGLHQHXVWHQ.ODPRWWHQXQGGLHULFKWLJHQÃ)UHXQGHµKDWPDQHLQHVGDYRQQLFKW ist man es nicht wert beachtet zu werden. Und diese Menschen nennt man Jocks. Jocks sind alle, die meinen aufgrund von teuren Klamotten oder schönen Mädchen an der Seite über anderen zu stehen.11

'DV(U]lKOHQGHUXQPLWWHOEDUHQ8PZHOWHUIROJWLQPHGLDOSUl¿JXULHUWHQGHWHUULWRULDlisierten Mustern – das direkte Milieu wird durch diese Muster sicht- und sagbar. Die 'H¿QLWLRQGHUXQWHUVFKLHGOLFKHQVR]LDOHQ5ROOHQXQGGLHHLJHQH3RVLWLRQLHUXQJLQQHUhalb dieser Hierarchie ist unmittelbar gekoppelt an die sinnliche Vermessung des Ortes Schule durch die Populärkultur. Die social-guidance-Filme der 1950er Jahre beweisen in dieser Perspektive ihre visionäre Kraft. Wenn sie auch formal nicht den neuesten Standards entsprechen, so setzt sich das Agendasetting von damals nahtlos in die heutige Zeit fort: „The social-guidDQFH¿OPVUHVSRQGHGWRWKHSUHVVXUHVWHHQDJHUVZHUHXQGHUWRPDLQWDLQDQDFWLYHVRFLDO OLIHE\H[SODLQLQJ>«@KRZWRPDNHIULHQGV¿WLQZLWKWKHFURZGDWWDLQSRSXODULW\DQG ask a girl out on a date.“12 Die Themen werden variiert, die Problemstellungen bleiben dieselben, allerdings mit einer enormen Ausdifferenzierung möglicher Antworten und

10 | Die BtVS-Folge HIM (Michael Gershman, USA 2002) arbeitet sich am fast magischen – und in der Serie tatsächlich magischen – Potential dieser Jacken ironisch ab. Die Jacke ist ein Erbstück, mit einem Liebeszauber belegt und bringt sämtliche weibliche – und einige männliche – Charaktere fast um den Verstand. DBC Pierre nimmt diese Figur des Ausschlusses in seinem Roman -HVXVYRQ7H[DVder aus der Perspektive des Freundes eines school shooters erzählt ist, lakonisch auf: „Ich glaub nicht, daß er [der Freund, der Amok gelaufen ist] noch so eine Woche wie die letzte durchsteht, sein Verlangen nach irgendeinem Zipfelchen Macht ist manchmal wirklich beängstigend. Weder LVWHUHLQ+HOGLP6SRUWQRFKHLQhEHUÀLHJHULQGHU6FKXOHDEHUZDVYLHOVFKOLPPHU LVW(UNDQQVLFKNHLQHQHXHQ0DUNHQVDFKHQOHLVWHQ'LHRI¿]LHOODQHUNDQQWHQ:HJH]XU Rechtschaffenheit sind ihm damit versperrt.“ Pierre (2004), S. 319 11_%RVVH]LWLHUWQDFK6]XPHOGD  6 12 | Tropiano (2006), S. 24

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Auswege. Die Bildökonomie erfährt in diachroner und synchroner Perspektive eine kaum zu überblickende Ausweitung.

Die Intervention der Kunst: Sprecher positionen I have assumed the role of Antichrist.13

Die Frequenz der Schnitte wird kürzer und kürzer. Wiederholt werden die Formeln der Schuldzuweisung, die nach dem Columbine-Massaker 1999 in den Massenmedien endlos reproduziert wurden: Waffen, Videospiele, die TV-Serie South Park, Satan selbst. Die Bandbreite variiert und wird verkürzt, bis nur noch ein Name zu verstehen ist: Marilyn Manson. Anhand dieser Montage aus BOWLING FOR COLUMBINE gewinnt man den Eindruck, dass der Sänger nach dem school shooting von Eric Harris und '\ODQ.OHEROGIUGLHNRQVHUYDWLYHQ0HGLHQGLHSHUVRQL¿]LHUWH$QWZRUWDXIDOOH)UDJHQ QDFK GHP Ä:DUXP"³ ZDU ,P NXPXODWLYHQ$UUDQJHPHQW GHU %LOGIUDJPHQWH DXV Nachrichtensendungen gerinnt Manson zur Figur eines infektiösen Virus, einer Krankheit, die den unschuldigen Vorortteenager aus seiner Unschuld reißt. Zu viel Konsum seiner Texte und Videos führt beinahe unweigerlich zu einem school shooting, so der Aussagegehalt der Botschaft bestimmter amerikanischer Lobbys. Michael Moore ist diese These zu kurz gegriffen, also macht er sich in BOWLING FOR COLUMBINE auf, mit dem umstrittenen Sänger selbst zu sprechen. Im Interview wird dann das genaue Gegenteil des Images gezeigt, als das Manson in den massenmedialen Diskursen zuvor erschienen ist. Statt die Pose eines mit dem Teufel im Bunde stehenden Ikonoklasten einzunehmen, gibt sich der Sänger smart und abgeklärt. 'LHHQWVFKHLGHQGH:HQGXQJLP'LVNXUVEHUGDV(UHLJQLVÃ/LWWOHWRQµHUIROJWDP Ende der Interview-Sequenz, als Marilyn Manson auf die Frage des Regisseurs, was er – hätte er noch die Möglichkeit – zu Eric Harris und Dylan Klebold sagen würde, antwortet: „I wouldn’t say a single word, I would listen to what they have to say and that’s what no one did.“ Der Sänger formuliert an dieser Stelle eine genuin politische Position, die die massenmediale Form der Diskursivierung nach Columbine unmittelbar angreift, denn – so Rancière – „die Politik ist die Aufrechnung derer, die aus jeder 5HFKQXQJKHUDXVIDOOHQGLHVLFKMHQVHLWVMHGHU%HUHFKQXQJEH¿QGHQXQGGLH5HGHGHrer, die man nicht reden sieht.“14 Statt die Rede der school shooter ins Reich der pathologischen Erscheinungen zu verweisen, erkennt Manson die Täter als Teil des Gemeinsamen an, weil er Eric Harris und Dylan Klebold zugesteht, für sich zu sprechen. Der Mensch ist nach Aristoteles das sprachbegabte Wesen und die Verteilung nach Inklusion und Exklusion innerhalb einer Gemeinschaft regelt sich über die Anerkennung einer Stimme als Sprache, wie Rancière konstatiert: „Zu allen Zeiten ist die Weigerung, bestimmte Kategorien von Personen als politische Wesen anzusehen, über die Weigerung verlaufen, die ihren Mündern entströmenden Töne als vernünftige Rede

13 | Manson (1999) 14 | Rancière (2000), S. 104

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zu verstehen.“15 Wo der school shooter in den medialen Kanälen auftaucht, werden seine audiovisuellen Zeugnisse dominant eingebettet in den moralischen Kosmos der konsensuellen Rede. In Bezug auf die Trauergemeinschaft, in Bezug auf einfache Erzählungen der Intrige, wie es etwa im Aufmacher der Bild-Zeitung nach Blacksburg zum Ausdruck kommt. Die Rede des school shooters tradiert sich allein unter dem 5DGDUGHURI¿]LHOOHQ5HGHLP,QWHUQHWVLHLVWQLFKW7HLOGHU)HUQVHKGHEDWWHQRGHUGHU Printmedien. Seung-Hui Chos Videomanifeste werden auf NBC ausgestrahlt, aber nur kontextualisiert innerhalb narrativer Anordnungen, die seine Botschaften auf den konsensuellen Verstehenshorizont rückbeziehen. Damit wird aber eine Ebene von school shootings verdrängt, die konstitutiv dafür ist, dass sie überhaupt passieren, denn die Frage nach der Teilhabe der eigenen Rede am Gemeinschaftlichen ist einer der zentralen Punkte im Handeln der school shooter.

Die Figur des Ausgeschlossenen School shooter erscheinen in der medialen Aufbereitung sowie in den späteren Aussagen der Zeugen immer als die Ausgestoßenen und Marginalisierten. Im Sinne des repräsentativen Regimes, das sich mit GHQ6FKXO¿OPHQHWDEOLHUWVLQGHVGLHNerds oder die Geeks. Sportler laufen nicht Amok, sie sind Opfer von school shootings. Die Popularitätsskala regelt die Sichtbarkeit, die Stimme, die dem Einzelnen innerhalb der Gemeinschaft zugebilligt wird. Bastian Bosse sieht sich selbst als Unsichtbarer, das school shooting scheint ihm als einziger Weg, die Bühne der Sichtbarkeit zu betreten. Seite aus Dylan Klebolds Tagebuch: the dark is a punishIm Falle Robert Steinhäusers, der der Schule „... to be kept inment“ verwiesen wurde, ist die Exklusion nur allzu offensichtlich. Sein Amoklauf richtet sich in erster Linie gegen Lehrer, d.h. diejenigen, die die Macht besitzen, in der institutionellen Ordnung über die sprachbegabten Wesen zu entscheiden. Dylan Klebold schreibt in seinem Tagebuch: „to be kept in the dark is a punishment!!!“ und Brooks Brown fügt an: „Eric und Dylan passten nicht mal zu den Verlierern.“16 Seung-Hui Cho wird in analoger Weise immer wieder als Einzelgänger beschrieben. School shooterKDEHQNHLQ3UR¿ON|QQHQQLFKWLGHQWL¿]LHUWZHUGHQZHLO sie in der Masse verschwinden, unauffällig sind. Sie haben keinen Anteil und treten deshalb vor ihren Taten nicht Erscheinung. Was den school shooter nun zu seinen Taten treibt, ist nicht zuletzt die Sehnsucht und der Wunsch nach Sichtbarkeit. In diesem Sinne ist die Tat nur der letzte, gewaltsame Weg eines Eindringens in Gemeinschaften, von denen er ausgeschlossen ist bzw. in denen er nicht wahrgenommen wird. Mit ihren Amokläufen drängen sich school 15 | Rancière (2008b), S. 35f 16 | Brown, zitiert nach Gaertner (2009), S. 53

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shooter in den Mittelpunkt des Felds der öffentlichen Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit. Jenseits des postmodernen Heilsversprechens auf 15 Minuten Ruhm im medialen Raum entfaltet sich das Gewaltpotential der school shooter in ihrer unmittelbaren sozialen Umwelt. Die Taten erfüllen also nicht ausschließlich die Funktion der Tradierung des eigenen Bildes in den medialen Kanälen. Es ist der Versuch einer sowohl medialen als auch sozialen Neustrukturierung der Aufteilung des Sinnlichen. Denn die „Verteilung und […] Neuverteilung der Räume und Zeiten, der Plätze und Identitäten, der Sprache und des Lärms, des Sichtbaren und des Unsichtbaren, macht das aus, was [Rancière] Aufteilung des Sinnlichen nenn[t].“ Statt die Rede der Täter unter dem Lärm ihrer diskursiven Verhandlung zu begraben, verlangt Manson im Interview mit Michael Moore nun, diese Rede als verständliche Sprache anzuerkennen und zuzuhören. Statt den Gesellschaftsorganismus über den Ausschluss der school shooter ]XLQV]HQLHUHQXQGGLHXUVSUQJOLFKHQSUlGHOLNWLVFKHQ+LHUDUFKLHQXQUHÀHNWLHUW±DOV schuldlos – zu verschweigen, fordert er die verlorene Rede der Täter auf, sich zu zeigen. In diesem Sinne ist Mansons Appell eine politische Aussage, denn nach RanciqUHNRQ¿JXULHUWÄGLHSROLWLVFKH$NWLYLWlW>«@GLH$XIWHLOXQJGHV6LQQOLFKHQQHX6LH bringt neue Objekte und Subjekte auf die Bühne des Gemeinsamen.“18 Erst auf dieser Basis ist die politische Aktivität der Ästhetik verstehbar, erst durch diese Bühne des Gemeinsamen entfaltet sie ihr Potential zur Intervention in das gemeinschaftliche und individuelle Leben. Denn „die Politik bestimmt, was man sieht und was man darüber VDJHQNDQQVLHOHJWIHVWZHUIlKLJLVWHWZDV]XVHKHQXQGZHUTXDOL¿]LHUWLVWHWZDV]X sagen.“19 So ist Marilyn Manson nicht als kausale Ursache von Gewalt an Schulen zu sehen, sondern als Verdichtung einer Ikonographie, die das auf die Bühne der Öffentlichkeit bringt, was ausgeschlossen wird.

Die Sprache der Tiere Was Manson in seinen Songs und vor allem in seinen Videoclips herstellt, ist eine DEVROXW DUWL¿]LHOOH :HOW GLH JOHLFK]HLWLJ LPPHU ZLHGHU LQ GHQ RI¿]LHOOHQ %LOGHUGLVkurs eingreift, in dem sich die Inszenierungen in den Videoclips transformierend und UHNRQ¿JXULHUHQGDXIGLHNRQVHQVXHOOHQ%LOGHUEH]LHKHQ,P&OLS]XComa White wird so eines der genuinen amerikanischen (Bild-) Traumata reinszeniert: die Ermordung John F. Kennedys am 22. November 1963 in Dallas, wie sie über den Super-8-Film des Hobbyfotografen Abraham Zapruder tradiert wird. Die Spiegelbildlichkeit legt die Künstlichkeit der Inszenierung offen und beansprucht die historischen Dokumente als 7HLOGHUHLJHQHQ%LRJUD¿HDOV%DXVWHLQGHVNQVWOHULVFKHQ6HOEVWELOGHV'LHXUVSUQJlichen Bilder werden überschrieben und neukodiert, als Teil eines Bilderbetriebs der Ausgestoßenen und Marginalisierten, als dessen Protagonist Manson sich inszeniert. In die Bildökonomie des weißen, sauberen Amerikas rückt so die verzerrende Perspektive

17 | Rancière (2008a), S. 14 18 | Rancière (2008a), S. 14 19 | Rancière (2006c), S. 26

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der Anteilslosen, die als dissensuelle Figur mit einem eigenen Bilderhaushalt über die .XQVW¿JXU0DULO\Q0DQVRQJUHLIEDUXQGVLFKWEDUZLUG Die schmutzigen Bilder Mansons glänzen dabei noch strahlender als ihre Referenzbilder, sie setzen GHU %KQH GHU RI¿]LHOOHQ 3ROLWLN NHLQHQ 1DWXUDOLVPXV HQWJHJHQ VRQGHUQ HLQH QRFK DUWL¿]LHOOHUH Ästhetik – sie sind sozusagen Verkünstelungen des Verkünstelten. „Her mouth was an empty cut / And she was waiting to fall / Just bleeding like a polaroid that / Lost all her dolls“ heißt es in den Lyrics von Coma White. Die Bilder sind Mutationen der reglementierten Bildökonomie, die Nachtseite der normierten Ordnung, die in ihrem Wesen aber nicht wahrer, sondern genauso konstruiert ist wie die vorgängige Bilderwelt, auf die sie sich bezieht. Marilyn Manson legt an den utopischen InszeComa White QLHUXQJHQGHVRI¿]LHOOHQ6HOEVWELOGHVGHQDVR]LDOHQ Anteil frei, überblendet die Inhalte und Ikonographien des Erlaubten mit surrealen Alptraumwelten. Dabei bezieht sich seine Bildsprache des Öfteren auf den medialen Raum Schule, wie er von den Teenpics in ihrer diachronen Entfaltung hergestellt wurde – und wie er als Tatort im school shooting erscheint. So taucht das Kastensystem in einer groJFK-Assassination / tesken Variante auch in einem der Videoclips von Zapruder-Film Manson auf. Unter dem Slogan „We’re happy to live in America“ spielt die Band auf einer Bühne den Fight Song, während sich auf dem Rasen die Jocks – als Team Holywood – mit den Punks – als Team Death Valley – im amerikanischen Volkssport Football messen. Der Clip endet mit dem Bild eines brennenden Footballtors, das die Ku-Klux-Klan-Emblematik von brennenden Kreuzen aufgreift. Dazu heißt es in den Lyrics: „The death of one is a tragedy / But death of a million is just a statistic“.20 Mansons Position ist ein möglicher Baustein zur Schaffung eines eigenen, eklektischen Weltbildes, das die normativen Werte des Konsenses verweigert.

20 | Damit nimmt Marilyn Manson in seinem Song die Frage nach den Formen der legitimen, d.h. staatlich sanktionierten Gewalt und der illegitimen Gewalt auf.

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Im Video zu Tainted Love manifestiert sich der ausgeschlossene Anteil der Sexualität in den Bonbon-Arrangements der Zimmer femininer Filmcharaktere von HEATHERS bis MY SUICIDE als tanzende Gruppe von erotisierten Frauenkörpern. Die Stofftiere als Signum einer unabgeschlossenen Kindheit werden in eine Imagination obszön-sexueller Attraktion verlebendigt. Das verdrängte Außen der bürgerlichen Familie wird so szenisch ausbuchstabiert. Das, was keine Sprache besitzt, das Substituierte der aristotelischen Erzählung wird visuell expliziert. „I am, Tainted Love in the end, a poster-boy for fear, because I represent what everyone’s afraid of, because I do and say what I want.“21 Man wird vorrechnen können, wie viele Platten Manson verkauft hat, wie erfolgreich er mit seinen Strategien der Provokation ist – die auch immer ein Verkaufskonzept sind – und wie sehr er im allgemeinen Konsens aufgeht. Aber auf dieser Ebene wird PDQ GLH 4XDOLWlW GHU .XQVW¿JXU 0DULO\Q 0DQVRQ QLFKW ]X IDVVHQ EHNRPPHQ 'HQQ die Bildökonomie, die sich mit ihm verbindet, macht die Grenzen zwischen Konsens und Dissens zuallererst sichtbar, markiert Linien der Konfrontation und offenbart so die impliziten Regeln, nach denen die zeitgenössische Bilderproduktion funktioniert. $OV.XQVW¿JXUVHW]W0DQVRQGLHSDUDGR[HlVWKHWLVFKH$XWRQRPLHJHJHQGLH5HJHOQ von Ein- und Ausschluss, gegen die normativen Setzungen dessen, was gesagt werden darf und was nicht. Das 2000 erschienene Album Holy Wood (In the Shadow of the Valley of Death) WKHPDWLVLHUWXQGUHÀHNWLHUWGDV(UHLJQLV&ROXPELQHXQGVHLQHGLVNXUVLYH Verhandlung in den Massenmedien. Dabei gerinnen die Täter Eric Harris und Dylan Klebold zum Gegenstand der Kunst, ihre Position wird sprachfähig und sichtbar über die von Manson gewährleistete Ästhetisierung des Marginalen. Damit ist der Sänger jedoch nicht Sprachrohr der Täter, Er rechtfertigt oder verbreitet nicht ihre Botschaften, sondern er gibt dem Ausgeschlossenen eine Ikonographie und macht sichtbar, was nicht gesehen werden darf. Er fungiert als bildlich-sprachliche Figuration jener, die anteilslos sind. Die Lyrics auf Holywood klingen dann auch wie die klanggewordenen Aufmerksamkeitswünsche jugendlicher school shooter: „We are the nobodies / Wanna be somebodies / We’re dead, we know just who we are“. Auf dem Spiel steht GLH$QHUNHQQXQJGHU/DXWHGHUHUGLHDOVQLFKWVSUDFKIlKLJGH¿QLHUWZHUGHQHLQH]X entwerfende Sprache, die Manson mit seinen Lyrics hervorbringt: „We have no future, heaven wasn’t made for me / We burn ourselves to hell, as fast as it can be / And i wish that i could be a king, then i’d know / That i am not alone“, heißt es in dem Song In The

21 | Zitiert nach dem Interview in BOWLING FOR COLUMBINE.



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Shadow of the Valley of Death. Zum Ausdruck kommt der Wunsch nach einem KönigSein, um die Isolation, die Unsichtbarkeit im sozialen System zu verlassen.

Die Worte eines stummen Jungen Die Kunst, die Musik und die Lyrics greifen in die politische Aufteilung der Rollen ein, indem als Stimme markiert wird, was die Gesellschaft als Sprache nicht anerkennt. Als weiteres Beispiel ließe sich Pearl Jams Jeremy anführen, ein Song, der den Selbstmord des 15-jährigen Jeremy Wade Delle aufgreift, der sich 1991 während des Unterrichts vor den Augen seiner Mitschüler und der Lehrerin im Klassenzimmer erschossen hat. Der Refrain des Liedes lautet: „Jeremy spoke in class today.“ Im dazugehörigen Videoclip ist ein Junge zu sehen, der mit nacktem Oberkörper den Klassenraum betritt, seiner Lehrerin etwas zuwirft, sich vor die versammelten Mitschüler stellt und sich schließlich einen Revolver in den Mund steckt. Die Bild-Text-Schere ist evident – auf der visuellen Ebene kommt kein Wort über die Lippen des Jungen –, denn sie markiert das Bild des Aktes Selbstmord als Sprache, die gehört und verstanden werden kann. Der Song holt somit den Suizid, dessen Folgen sich in den folgenden Bildern allenfalls aus der stummen Bestürzung in den blutverschmierten Gesichtern der KlassenkameraGHQKHUDXVOHVHQOlVVWLQGHQ%LOGUDXPGHU.XQVWXQGTXDOL¿]LHUWLKQEHUGLH$XIWHLlung des Sinnlichen als mögliche Position zu Sprechen und sich zu verhalten. In diesem Sinne ist Jeremy ein politischer Song, d.h. politische Aktivität, denn diese „macht sichtbar, was unsichtbar war, sie macht diejenigen als sprechende Wesen hörbar, die nur als lärmende Tiere verstanden wurden.“22 Auszüge aus den Aufzeichnungen Kip Kinkels, der als 16-jähriger am 20. Mai  DQ VHLQHU +LJKVFKRRO LQ 6SULQJ¿HOG ]ZHL VHLQHU 0LWVFKOHU W|WHW ]HXJHQ YRQ der Überblendung künstlerisch-musikalischen Ausdrucks und den Mustern der Selbsterklärung, mit denen school shooter ihre Taten artikulieren. Nachdem Kinkel in der Nacht vor dem school shooting seine Eltern ermordet hat, schreibt er eine Confession Note, in der er die Lücken, die Charles Whitman in seinem Verständnis des eigenen Handelns 1966 noch hinterlässt, mit Partikeln aus Songtexten füllt. Sie sind entweder direkte Zitate –„I hate myself for what I’ve become“ (aus dem Song Gave Up) – oder Variationen der Texte – so wird aus „I just want something I can never have“ in den Worten Kinkels „I want to be something I can never have“ – der Band nine inch nails. Die Confession Note HQGHW PLW GHQ :RUWHQ Ä:KDW KDYH , EHFRPH"³ DXV GHP 6RQJ Hurt, der auf dem The Downward Spirale-Album von nine inch nails]X¿QGHQLVW23 22 | Rancière (2008a), S. 14. In diesem Kontext steht auch der einleitende Satz des Abschiedsvideos der school shooter in Ben Coccios ZERO DAY (USA 2003), der auf den Columbine-Morden basiert. In Großaufnahme sprechen die Schüler die Worte „We aren’t animals“ ins Objektiv der Kamera, als müssten sie zunächst etwas Fundamentales klar stellen. 23 | Kinkels Confession Note¿QGHWVLFKLQ/LHEHUPDQ  6IIThe downward spirale ist das Album, das am Schauplatz des Mordes an der Schauspielerin Sharon Tate durch die Manson-Family aufgenommen wurde.

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Desweiteren entdeckt die Polizei nach dem school shooting im Elternhaus die zwei Hälften eines zerstörten Sandsacks, auf dem „Nothing can stop me now“ zu lesen steht.24 Die Worte werden formelhaft auf dem the downward spiral-Album wiederholt. Über die Fragmente der Lyrics bringt Kinkel zum Ausdruck, wofür er sonst keine verständliche Sequenz von Worten kennt. Die Zitationen machen aus seiner Stimme erst eine Sprache, formen einen Ausdruck, über den er kommunizieren kann, was er nicht zu benennen vermag.25 Die Lyrics schließen bestimmte Einstellungen zur Welt ein, Arten der Wahrnehmung und des Verhaltens, schaffen Verbindungen zu gewissen affektiven Potentialen, denen sie eine Form geben und die sie in der Performativität des Augenblicks gleichzeitig erst im Akt des singulären – wenn auch jederzeit medial wiederholbaren – Erlebens erzeugen. Damit erfüllen die Lyrics die Funktion, die Charles Whitman in den 1960er Jahren noch in den Provenienzen psychoanalytisch-psychiatrischen Sprechens sucht. Der Texas-Sniper fühlt sich verfolgt von einem Unsagbaren, verdächtigt die Physiologie seines Gehirns als Ursache, geht auf der Suche nach Hilfe zu einem 3V\FKLDWHU(UUHÀHNWLHUWVLFKLQSV\FKRSDWKRORJLVFKH.DWHJRULHQEULQJWVHLQH0XWWHU und seine Frau um und schreibt anschließend einen Abschiedsbrief, in dem er versucht seine Taten in irgendeine Form der Anschlussfähigkeit zu den Diskursen seiner Zeit zu bringen. Diese Funktion der Anschlussfähigkeit, des Ausdrückens in einer verstehbaren Sprache, übernimmt in den Selbstzeugnissen der school shooter seit den 1990er Jahren dann die Musik bzw. Filme.

Die Gemeinschaft der Ausgeschlossenen Über die Musik und die Lyrics aktualisieren sich imaginäre Gemeinschaften. „Sometimes music, movies and books are the only things that let us feel like someone else IHHOVOLNHZHGR,¶YHDOZD\VWULHGWROHWSHRSOHNQRZLW¶V2.RUEHWWHULI\RXGRQ¶W¿W in the program“, schreibt Marilyn Manson in seinem Statement nach Columbine.26 Für die Dauer ihrer Länge bieten die Songs die Möglichkeit, sich gemeinsam zu fühlen, als Teil einer offenen Gemeinschaft, die sich über ein unscharf gestaltetes „we“ oder 24 | Lieberman (2006), S. 35 25 | Anhand bestimmter Bands wird die Traditionslinie der school shootings und die Bezugnahme der Täter untereinander Durch Romeros Handkamera-Arbeit, die Verwendung eines kontraststarken Schwarz-Weiß-Materials sowie die öde Landschaft hat der Film die ganze Zeit etwas Unmittelbares an sich, wie ein Nachrichten-Beitrag im Fernsehen, ein Gefühl, das durch den geschickten Einsatz von Radio- und Fernsehmeldungen als narrativem Element noch verstärkt wird. evident: Dylan Klebold und Eric Harris zeichnen das Logo der Band nine inch nails bisweilen in ihre Notizbücher, genau wie den Schriftzug der Band KMFDM, deren Song Stray Bullet Pekka-Eric Auvinen als Soundtrack für das Video benutzt, mit dem er seinen Amoklauf ankündigt. KMFDM ist – im Kontext von school shootings ein sehr treffendes – Akronym für „Kein Mehrheit Für Die Mitleid“. 26 | Manson (1999)

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„I“ im Gegensatz zu einem ebenso diffusen „you“ oder „they³GH¿QLHUW'LH*UHQ]HQ und Formen dieser Positionen können im Akt des Hörens jeweils neu gezogen bzw. gestaltet werden. Diese Figurationen der Songs, die das Ich als ausgeschlossenen Anteil konturieren, ZLUNHQVWLOELOGHQGDXIGLH.RQ¿JXUDWLRQGHV6HOEVWLQGHQ(LJHQLQV]HQLHUXQJHQYRQ school shootern. Weniger als konkrete Inhalte vermittelt die Musik eine Position zu Sprechen innerhalb eines hierarchisch gerasterten Feldes möglicher – legitimer oder illegitimer – Aussagen. Ganz deutlich wird dies in den letzten Videotape-Botschaften von Seung-Hui Cho. Er läuft Amok „for my children, for my brothers and sisters that you fucked.“ Damit gibt er der „We“/„They“-Konstellation seine individuelle Kontur. Die Erfahrung einer Gemeinschaft in der Selbstinszenierung oder der Rezeption ist dabei keine Verkennung, keine parasoziale Aktivität, sondern das reale emotionale Erleben von Gemeinschaftlichkeit. Das „I“ in einem Song von nine inch nails oder Marilyn Manson bezeichnet keine en Detail konkretisierte Person, sondern die Figur einer Sprecherposition, eine Form der Wahrnehmung, des Erlebens von Welt, eine dissensuelle Position im Gefüge einer Aufteilung des Sinnlichen, die von der Figur des „you“ zugerichtet und dominiert wird. Die Subjektpositionen in den Songs erschließen dabei die Orte der Unsichtbaren, der Stimmlosen.

Verantwortlichkeiten Mit dem Potential der Kunst, den Anteilslosen eine Sprecherposition zur Verfügung zu stellen, verbindet sich auch die nicht zu umgehende Frage nach der Verantwortung der Medien im Hinblick auf school shootings. Diese Verantwortung lässt sich auf zwei (EHQHQ VWHOOHQ DQKDQG GHV:HUNHV RGHU DQKDQG HLQHU SRVWXOLHUWHQ$XWRUHQ¿JXU ,P Kontext eines als singulär zu denkenden Rezeptionsaktes müssen die Antworten notwendigerweise ambivalent und kontingent bleiben. Wie die Buchstaben des modernen Romans sind die Bilder nicht an eine eindeutige Aussage gekoppelt, sie treffen das Auge des beliebigen Zuschauers in den Kinosälen und vor den Bildschirmen dieser :HOWRKQHIUHLQHÃULFKWLJHµDQJHPHVVHQHaisthesis einstehen zu können. GrundleJHQGHV 0HUNPDO GHV lVWKHWLVFKHQ 5HJLPHV GHU .QVWH LVW GLH$XÀ|VXQJ GHU OHEHQdigen Rede Platons. Die Kunst ist immer schon politisch – oder apolitisch – und ihre Manifestationen bleiben gleichgültig gegenüber den Intentionen ihres Urhebers, genau wie eine Waffe indifferent gegenüber den Zielen ihres Benutzers ist. In Bezug auf die unscharfen Grenzen zwischen Kunst und Leben lässt sich mit Rancière sagen, dass es „keine ästhetische Reinheit im Gegensatz zu einer politischen Unreinheit [gibt].“ 'DVlVWKHWLVFKH5HJLPHGHU.QVWHGH¿QLHUWVLFKEHUGDV3DUDGR[GHU.XQVWGLH:HUke sind immer schon ein vom Sozialen hermetisch abgeriegelter Erfahrungsraum der zugleich nach seiner künftigen Verwirklichung in der Gemeinschaft strebt. Die Realisation eines Filmes im sozialen Raum als neue Form des Lebens, „seine Wirksamkeit [hängt] in letzter Instanz von etwas ab […], was sich außerhalb von ihm abspielt.“28 27 | Rancière (2006c), S. 83 28 | Rancière (2006c), S. 99

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Oliver Stone mag seine Beobachtungen der medialisierten amerikanischen Gesellschaft in den 1990er Jahren mit NATURAL BORN KILLERSÃQXUµLQV%LOGUFNHQ±GK an den Ort der Kunst holen –, dabei entwirft er aber eine neue Möglichkeit von Welt, die es so vorher nicht gegeben hat und die, entsprechend der paradoxen Logik der abgetrennten ästhetischen Erfahrung, jederzeit in Leben umschlagen kann. Denn „das Problem besteht […] darin, dass die Kunst eine eigene Politik besitzt, die mit den anderen konkurriert, die aber auch dem Willen der Künstler voran geht.“29 Das Werk auf der Leinwand ist abgespalten von den Wirkungen, die es entsprechend den Wünschen des $XWRUVRGHU5HJLVVHXUVHLJHQWOLFK]XHUIOOHQKDW(VJLEWNHLQHÃIDOVFKHµRGHUÃULFKWLJHµ Rezeption. Die Bilder stehen dem Gebrauch individueller Existenzen offen, können als Instrumente der Bedeutungszuschreibung beliebig eingesetzt werden. Sie machen sichtbar, was unsichtbar sein musste, sie vermessen die Karte des Sichtbaren neu und eröffnen GDV 6SLHO GHU +HWHURWURSLHQ 6LH VFKDIIHQ HLQ VSH]L¿VFKHV 6HQVRULXP GHU (UIDVVXQJ und des Erlebens von Welt. Denn die Kunst ist nach Rancière „weder politisch aufgrund der Botschaften, die sie überbringt, noch aufgrund der Art und Weise, wie sie VR]LDOH6WUXNWXUHQSROLWLVFKH.RQÀLNWHRGHUVR]LDOHHWKQLVFKHRGHUVH[XHOOH,GHQWLWlW darstellt.“30 Die Politik der Kunst liegt in der Intervention in die konsensuelle Ordnung GHU$XIWHLOXQJGHV6LQQOLFKHQLQGHU$XÀ|VXQJGHUEHVWLPPHQGHQ6WUXNWXUHQYRQ,Qklusion und Exklusion. Oliver Stone macht das Killerpärchen Mickey und Mallory Knox zu einem Gegenstand der Kunst, schafft die Möglichkeit, für die Länge seines )LOPV ÃIDOVFKHV %HZXVVWVHLQµ ]X HUOHEHQ XQG ± MHQVHLWV HLQHU UHJXOLHUWNDWKDUWLVFKHQ :LUNXQJXQGHLQHP0RPHQWGHUÃZDKUHQ(UNHQQWQLVµ±]XGXUFKOHEHQ 'LUHNWPLWGHU)UDJHQDFKGHU9HUDQWZRUWXQJYRQ$XWRUHQ¿JXUHQLVWGLH)UDJHQDFK der Verantwortung des Einzelwerkes verknüpft. Sie stellt sich als Frage des VerhältnisVHV]ZLVFKHQGHP6LFKWXQGGHP6DJEDUHQGHU(LQEHWWXQJ¿JXUDOHU6]HQHULHQLQGLH Story, wie sie sich auf Ebene der Rezeption herstellt. Die Problematik dieses VerhältQLVVHVLQ%H]XJDXI¿OPLVFKH*HZDOWGDUVWHOOXQJHQOlVVWVLFKELVLQGDVHUVWH'ULWWHOGHV 20. Jahrhunderts zurückverfolgen. ,Q-RVHSK+ROPHV¶VVWXG\VWUHVVHGWKHRYHUDOOPRUDOLW\RI¿OPQDUUDWLYHVLQZKLFK the moral forces of good triumphed in the end over immoral characters and acts, and accordingly found no evidence of harmful effects. […] Holmes’s critics focused on individual spectacles – shootings, whippings, beatings, stabbings – which immorality could not be redeemed or contained by the moral ending.31

THE BASKETBALL DIARIES will eine explizit moralische Botschaft verbreiten, dennoch schneidet, demontiert Michael Carneal eine einzelne Sequenz – das Bild des school shootings – aus dem Film heraus, um es im sozialen Handlungsraum zu reinszenie29 | Rancière (2006c), S. 99 30_5DQFLqUH F 6 31 | Slocum (2001), S. 6





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UHQ-HQVHLWVHLQHUVSUDFKOLFK]XIDVVHQGHQ¿OPLVFKHQ$XVVDJHZLUGGLH6]HQHLQLKUHU Bildhaftigkeit deterritorialisiert und als Wahrnehmungs-, Handlungs-, und Erlebensform auf individueller Ebene wirksam. Die Partikel des Sichtbaren können durch die Narration in THE BASKETBALL DIARIES nicht in den am Ende entworfenen moralischen Horizont kontextualisiert werden. Sie entwickeln ein Eigenleben jenseits ihrer normativen Funktion als Illustration der erzählten Geschichte. Die Filme sind angewiesen auf präexistente Schemata moralischen Urteilens, die extradiegetisch ihren Ursprung in der Disposition des jeweiligen Zuschauersubjekts ¿QGHQ'LH=XULFKWXQJGHV9HUVWHKHQVKRUL]RQWHVYRQ)LOPHQHUIROJWVR]XP7HLOLPPHU DX‰HUKDOEGHUNRQNUHWHQ:HUNHXQGLKUHUVSH]L¿VFKHQ,QV]HQLHUXQJHQ'HU*HKDOWYRQ Bildern in ihrer polysemantischen Sinndimension lässt sich – jenseits der Prämisse eines moralisch vollwertigen Zuschauers – nicht durch binnenlogisch vermittelte moralische Aussagen kausal vermitteln.32

32 | Prototypisch lässt sich die Distanz zwischen expliziter Message und dem variierenden Erkenntnispotential von Bildern an THE SADIST verfolgen: Der Film beginnt als YHUPHLQWOLFKHU/HKU¿OPEHUVDGLVWLVFKHV9HUKDOWHQXQGGH¿QLHUWVHLQH+DXSW¿JXUDOV gesellschaftliche psychopathologische Problematik. Gleichzeitig exerziert der Film im $QVFKOXVVDOOH9DULDQWHQVDGLVWLVFKHQ(PS¿QGHQVGXUFKXQGGLH%LOGHUVSUHFKHQVLFK von jeder artikulierten moralischen Dimension frei. Die kausale Kopplung von poesis und aisthesis bleibt ein frommer Wunsch.

XI. Der Körper des school shooters

Bei aller Bildhaftigkeit und Inszenierung, der Abhängigkeit von medialen Vorbildern und Narrativen ist das Handeln des school shooters in erster Linie eine tödliche Aktion, die sich jenseits des Körpers und – dem Ende – der individuellen Existenz nicht denken lässt. Die Gefahr, diese existentielle Dimension aus den Augen zu verlieren, zeigt sich am Beispiel des soziologischen Konzeptes der Rolle, wie es für die theoretischen Ausführungen Heiko Christians in seiner Geschichte des Amoks konstitutiv ist.1 Charles Whitman

[Der] entscheidende Kritikpunkt am Rollenkonzept ist, dass es […] die unhintergehbaUH.|USHUOLFKNHLWGHV0HQVFKHQDXVEOHQGHW$OVÃ%QGHOYRQ9HUKDOWHQVHUZDUWXQJHQµ EOHLEWGLHVR]LDOH5ROOHHLQÃPHQWDOHVN|USHUORVHV6XEVWUDWµ6R]LDOHV+DQGHOQVSLHOWVLFK LP5DKPHQGHU5ROOHQWKHRULHÄYRUDOOHPLQGHQ.|SIHQGHU,QGLYLGXHQDEµGLHVRÃLP Grunde als reine Geisteswesen konzipiert (werden), als Handelnde, die ohne Körper agieren.‘2

School shootings sind kein rein postmodernes Spiel mit variierenden, endlos und wahllos zu adaptierenden Verhaltensmodellen und kulturellen Semantiken. Der Körper ist YRUNRGLHUWHQWZLFNHOWDQVSH]L¿VFKHQ5HJHOQGHVVR]LDOHQ/HEHQVHUOlVVWVLFKQLFKW beliebig transformieren und in neue Muster des Verhaltens einpassen. Er stellt selbst noch einen Ort der Widerständigkeit sozialer Materialität dar. Im nur theoretisch zu differenzierenden Verhältnis von Geist und Körper wiederholt sich so die Gefahr der repräsentativen Trennung zwischen aktiv und passiv – der 1 | Vgl. Christians (2008), S. 39ff 2 | Alkemeyer (2004), S. 45



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,VROLHUXQJ]ZHLHU0HQVFKKHLWHQGH¿QLHUWEHULKUHXQWHUVFKLHGOLFKHQ6LQQH±DXILQGLvidueller Ebene. Denn die Figur der Geist/Körper-Dichotomie bedeutet im abendländischen Denken, dass „der Geist den Körper regiere, also ein Herr-Knecht-Verhältnis zwischen Kognition und Motorik herrsche.“3 In der Tat markieren school shootings keine Planspiele auf einem Stück Papier, sie vollziehen sich im sozialen Raum, der einen mit dem Körper zu erschließenden Raum meint. Dieser ist wie der individuelle .|USHUSUl¿JXULHUWNHLQOHHUHV*HIl‰GDVYRPMHZHLOLJHQ,QGLYLGXXPEHOLHELJJHIOOW werden könnte. Der Raum der Schule ist eine „konkrete, in Raum und Zeit lokalisierte, immer schon gesellschaftlich strukturierte Umgebung: eine von Machtbeziehungen, .XOWXUWHFKQLNHQXQGÃVR]LDOIHVWJHOHJWHQ%HGHXWXQJVVWUXNWXUHQµGXUFK]RJHQHXQGJHprägte gesellschaftliche Welt, die demzufolge auch nicht beliebig verfüg- und formbar ist.“4 Die Bedeutungskonstitution, die etwa in HITMEN FOR HIRE aufscheint, ist Ergebnis einer Auseinandersetzung mit dem präkodierten sozialen und medialen Raum, der eine eigene Widerständigkeit besitzen. Es ist kein reiner, abstrakter Entwurf eines individuellen Schöpfers, sondern markiert eine Architektur, eine gebaute Materialität bzw. begrenzte Medialität jenseits der Imaginationen von Eric Harris und Dylan Klebold. Analog dazu ist der Körper geprägt von der normativen Bestimmung der Zeiten und Räume, der Aufteilung des Sinnlichen, den internalisierten Regeln des zwischenmenschlichen Zusammenseins. Die Selbstkonstruktion des school shooters als Amokpersonae und das Verhältnis zu seiner unmittelbaren sozialen wie medialen Umwelt lässt sich im Hinblick auf eine existentiell-körperliche Perspektive unter der theoretisch-pragmatischen Figur der Mimesis, wie sie von Gunter Gebauer und Christoph Wulf erarbeitet wurde, fassen.

Mimesis Ausgehend von Helmuth Plessners Modell der exzentrischen Positionalität des Menschen wird das Individuum bei Gebauer und Wulf als immer schon in der sozialen Welt verankert beschrieben.5 Dabei obliegt es dem Einzelnen – auf der Basis des 3 | Klein (2004), S. 136 4 | Alkemeyer (2004), S. 50. Siehe auch Klein (2004), S. 145 5 | So heißt es bei Gebauer und Wulf: „Im Unterschied zu anderen Lebewesen reicht es für den Menschen nicht aus, in der Welt zu sein. Sie müssen ein Teil von ihr werden und HLQHQ3DUWLQLKUVSLHOHQ³*HEDXHU:XOI  6'LH$XVJHVWDOWXQJGHV.|USHUVLVW dabei als historisch-kulturell relativ zu denken, nicht in anthropologisch-essentiellen Kategorien. „Im Gegensatz zu einem substantiellen, essentiellen Körperbegriff der den Körper als vorsozial und grundsätzlich triebhaft ansieht, braucht eine Soziologie der Bewegung einen Körperbegriff, der den Körper als ein soziales Konzept versteht, das erst LP+DQGOXQJVYROO]XJDOVRLQGHU%HZHJXQJLQ5DXPXQG=HLWÃZLUNOLFKµGKVLQQOLFK HUIDKUEDUXQGVR]LDOZLUNVDPLVW³.OHLQ  6'HU.|USHULVWNHLQHRQWRORJLsche Kategorie, er unterliegt Wandlungen, ist von sozialen Hierarchien durchmessen und kodiert.

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historisch-kulturell-sozialen Milieus – etwas aus sich zu machen und ein Jemand zu ZHUGHQ Ä'DV :RUW Ã0LPHVLVµ NHQQ]HLFKQHW ZLH VLFK GLH 0HQVFKHQ JHJHQEHU GHU Welt verhalten, in der sie leben. Sie nehmen die Welt auf, lassen sie aber nicht passiv über sich ergehen, sondern antworten auf sie mit konstruktiven Handlungen.“6 Damit wird der Begriff der Mimesis als dynamisch-aktives Konzept angesprochen. Die paradoxe Konstellation der Nutzung eines vorgängigen Bildes zum Selbstausdruck und der gleichzeitigen Unterwerfung unter dieses Bild, wie sie anhand der Selbstinszenierungen der school shooter GHXWOLFKZXUGH¿QGHWVLFKLQGLHVHU)RUPHODXIGHU(EHQH körperlich-gesellschaftlichen Seins expliziert. Dabei bedeutet Mimesis immer einen sozial-interaktiven Prozess: „Wenn man die kürzeste Formel für mimetische Handlungen sucht, könnte man sagen, dass diese die Welt noch einmal machen. Dieses Machen hat eine symbolische und eine materielle, praktische und körperliche Seite. Es ist eine Vermenschlichung der vorgefundenen Welt im Sinne einer menschlichen Aneignung.“8 Die Verwurzelung des Menschen in jener Welt wird deutlich am leibhaftigen Sein in der Welt. Mimetische Prozesse gerinnen so zu einem aisthetischen Prozess der formenden Wiederholung der Welt, wie sie sich dem Subjekt eröffnet. Dass der mediale Bildhaushalt dabei eine ebenso entscheidende Rolle spielt wie der soziale, wird im Kontext des konstitutiven Bezugs zu medialen Vorbildern im Denken und Handeln der school shooter deutlich. Worauf sich Bastian Bosse in seinem Abschiedsvideo – sei es in Gesten, Körperhaltungen oder Worten – bezieht, ist nicht sein soziales Milieu, sondern sein mediales. Es gibt in Emsdetten, Deutschland, nach der Jahrtausendwende kein soziales Handlungsfeld school shooting, ähnlich-machen kann Bosse sich nur den medialen Bildern, wie er sie aus Filmen und vorgängigen school shootings destilliert. Der gebaute Raum, das bürgerliche Wohnzimmer, in dem er sein Abschiedsvideo inszeniert, bleibt gegenüber den Bildern des school shootings, wie sie später in der medialen Berichterstattung auftauchen werden, zunächst fremd. %RVVHV*HVFKLFKWHGLH$QDPQHVHVHLQHU%LRJUD¿HVHLQOHW]WHV*HVWlQGQLVZLUGDOOHLQ über die in den Blick kommenden Bezüge zu medialen Vorbildern sichtbar. Die Worte bleiben im Verhältnis zu den versuchten Morden leer, sprechen von Demütigung und Erfahrungen der Ausgrenzung, wie sie unzählige Schüler Tag für Tag durchleben müssen. Bosse versucht mit seinen Worten einzuholen, was der Körper schon weiß, was er sich in den Selbstinszenierungsvideos, den Feldformationen und den Lektionen im Umgang mit der Waffe antrainiert hat. Der Weg aus dem sozialen Milieu ins mediale Milieu führt zunächst und auch über den Körper, der eine Dimension des vorsprachlichen Seins jenseits moralischer Dispositionen impliziert. Gebauer und Wulf rekurrieren auf Bourdieus connaissance par corps: „In mimetischen Akten wird weder zwischen wahr und falsch noch zwischen 6_*HEDXHU:XOI  6)UGLHDNWLYH'LPHQVLRQGHU0LPHVLVVLHKHDXFK.OHLQ (1999), S. 264. 7 | So ist „Mimesis zweierlei: Nachahmung von etwas Gegebenem und dessen ForPXQJ³*HEDXHU:XOI  6 8 | Gebauer/Wulf (2003), S. 8





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gut und böse XQWHUVFKLHGHQ PLPHWLVFKH 3UR]HVVH ULFKWHQ VLFK DXI 9HUKDOWHQ (PS¿QGXQJVZHLVHQ XQG 9RUVWHOOXQJHQ YRU GHUHQ ZDKUKHLWVWKHRUHWLVFKHU XQG HWKLVFKHU Bewertung.“9 Dabei dürfen die somatische und die kognitive Dimension dieses Werdens nicht strikt getrennt werden, um nicht einseitig in einen Anti-Descartismus zu fallen. Wort und Tat, Schrift, Sprache und Handlung sind ineinander verschlungen, bedingen sich gegenseitig, eines geht aus dem anderen hervor, ohne dass sich ein UrVSUXQJ¿[LHUHQOlVVW

Schule Exemplarisch lässt sich das Verhältnis zwischen Individuum und seiner sozialen Funktionalisierung, der Widerstreit eines Amokkörpers und eines Schülerkörpers und die Konfrontation divergierender Semantiken, die die Deutungshoheit über denselben Raum beanspruchen, auf der Ebene der institutionellen Zurichtung der Subjektivität und des Körpers veranschaulichen: Wenn der mimetischen Welt im Verhältnis zur historischen Wirklichkeit die eigentliche Bedeutung zukommt, wird die Macht der Zeichen erhöht und die (politische) Macht mit Hilfe der Zeichen gestärkt […]. Sie richtet eine Bühne ein, die die Welt so repräsentiert, wie sie sein soll. Mimesis wirkt auf diese Weise in die Handlungspraxis hinein: als 9HUKDOWHQVPRGHOOLHUXQJ ,QV]HQLHUXQJ GHU 0DFKW 'H¿QLWLRQ YRQ 5HDOLWlW $XWRULWlUH 5HJLPHQXW]HQPLPHWLVFKH9HUIDKUHQ]XP$XIEDXYRQ¿NWLRQDOHQ(UHLJQLVVHQGLHGHQ Platz der Wirklichkeit einnehmen. Als Erzeugung gesellschaftlicher Fiktionen tritt Mimesis aus dem Bereich der Ästhetik heraus und wirkt als eine soziale Kraft.10

Was Gebauer und Wulf an dieser Stelle als Strategie autoritärer Systeme entwerfen, lässt sich bis auf die basale Ebene des alltäglichen schulischen Raums durchdeklinieren. Als Ausdruck strikter Hierarchien und einer bis ins Detail reglementierten Aufteilung des Sinnlichen kommt dies im Bild des Chors in IF… zum Ausdruck: Der formelhafte, ornamentale Aufbau des Bildes ergibt sich aus der gleichgeschalteten mimetischen Funktion, die das Verhalten der Schüler in denselben Ausdruck implementiert. Mit den 6WHOOXQJHQ GHU .|USHU ZLUG JOHLFK]HLWLJ GLH LQQHUH +DOWXQJ GHV ÃJXWHQ 6FKOHUVµ ]X modellieren versucht. Insofern ist das Bild des Chors weit mehr als ein Bild. Es ist die von Platon geforderte Szene, in der „das passive Publikum der Zuschauer sich in sein Gegenteil verwandeln soll, in den aktiven Körper einer Gemeinschaft, die ihr Lebensprinzip ausagiert.“11 Die Hierarchien, die Machtverhältnisse strukturieren das Bild, das die Gemeinschaft von sich selbst im performativen Akt der Herstellung dieses Bildes leibhaftig erfährt. In IF… wird das Potential zur mimetischen Veränderung und Selbstgestaltung unterdrückt und unter Strafe gestellt. Die Deregulierung dieser Formation erfolgt über 9 | Gebauer/Wulf (2003), S. 28 10 | Gebauer/Wulf (2003), S. 39 11 | Rancière (2009), S. 15

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die Verwandlung Micks, der seinen Schülerkörper im Café in einen sexuellen Körper transformiert. Diese Neuausrichtung erfolgt zunächst vorsprachlich, als Tier-Werden, das die Gesten verändert, die Möglichkeiten der Bewegung und des Gestus erweitert und somit neue Haltungen und Zugänge zur Welt eröffnet. „Untersucht man die Beziehung von Wahrnehmung, Erfahrung und Medien, rückt eine Kategorie in den Vordergrund […]: der Körper. Wahrnehmung und Erfahrung vollziehen sich über und am Körper, er ist der Ort, an dem sich Erfahrenes einschreibt und sichtbar wird.“12 Die körperliche Dimension rückt in den Fokus einer Verschiebung, eines Werdens, das Tätscheln des Motorrads ist die Geste der Befreiung, des Cowboy-Werdens im ironischen Spiel. Micks Verwandlung ist nicht nur ein rebellisches Wort, keine blanke Theorie der Revolution, sie vollzieht sich ganz existenziell am Körper des Schülers. Wie weit diese Transformation bei school shootern gehen kann, zeigt die Zeugenaussage von Kelly Carneal, der Schwester von Michael Carneal, die ihren Bruder am  'H]HPEHU  DXI GHP 3DXVHQKRI NDXP ZLHGHUHUNHQQW Ä$QG P\ EURWKHU ZDV standing there. He had the gun in his hands… and he was looking straight ahead. His face looked different, and his body posture was different…. He looked like a completely different person.“13 Das Schütze-Sein markiert in aller Deutlichkeit eine Differenz zum Alltagskörper. Gleichzeitig braucht es für den mimetischen Zusammenhang nicht die totalitäre Herrschaft des Internatssystems, wie es in IF… in Szene gesetzt wird. Die Reglementierung der Bewegung ist basales Prinzip institutionalisierter Ordnung, wie sie in jeder Schule – über das Stillsitzen, die Ausrichtung der Blicke zur Tafel etc. – Tag für Tag erfahrbar wird. Schule meint auch Erziehung zur Sozialität hin, das Einstudieren der ÃULFKWLJHQµZHLODQJHPHVVHQHQ3UDNWLNHQXQG9HUKDOWHQVZHLVHQ8QGGLHVHUSlGDJRJLsche Auftrag verläuft nicht zuletzt in der körperlichen Zurichtung. Als Medium dieser gleichzeitigen Internalisierung wie Externalisierung beschreibt Gebauer die körperliche Bewegung: Von der frühesten ontogenetischen Entwicklungsstufe an werden die menschlichen %HZHJXQJHQJHIRUPWVLHZHUGHQhEXQJHQXQWHUZRUIHQXQGLQEHVWHKHQGH2UGQXQJHQ eingefügt: in festgelegte Zeitabläufe, in organisierte Räume, in strukturierte Weisen des Zusammenlebens, so dass sie die Form von sozial kodierten Handlungen annehmen. Auf der anderen Seite wirken Bewegungen auf die Welt ein: Sie bilden Regularitäten, organisierende und gestalterische Momente, die der Welt Ordnungen auferlegen, sie regelhaft machen.14

Schule bedeutet die Gliederung des Tages in Zeiten, Orte und Rhythmen, die eine soziale Ordnungshaftigkeit sowohl körperlich als auch kognitiv implantieren. Was in den Selbstinszenierungsvideos der school shooter zum Ausdruck kommt, ist die Trans12 | Klein (1999), S. 226 13 | Newman et al. (2005), S. 4 14 | Gebauer (2004), S. 24





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formation des Schülerkörpers in einen Gewalt-, einen Waffenkörper, der über ganz andere Bewegungsabläufe und entsprechende Möglichkeiten zu handeln verfügt. Entsprechend der Selbstmodellierung an medialen Bildern und den technisch-formalen Vorbedingungen der jeweiligen Medien, die für den Selbstausdruck verwendet werden, wird so ein immer neuer Körper performativ und mimetisch hergestellt.

Der Geschmack des Kör pers Die repräsentative Ordnung, die nach Rancière zwei Menschheiten über die Qualität LKUHU 6LQQH XQWHUVFKHLGHW ¿QGHW VLFK EHL 3LHUUH %RXUGLHX EHU GHQ %HJULII GHV Geschmacks in das 20. Jahrhundert verlängert.15 Was mit der theoretischen Rahmung Bourdieus in den Blick gerät, ist die Kategorie des Körpers als Referenzpunkt und sinnliche Manifestation der Ästhetik im Raum des Sichtbaren. $QGHQ.|USHUQPDWHULDOLVLHUWVLFKIU%RXUGLHXGHUNODVVHQVSH]L¿VFKH*HVFKPDFNGHU Menschen und zwar zunächst über dessen physische Dimensionen wie Umfang, Gewicht, Form und Muskelaufbau. Diese unterschiedlichen Körperarchitekturen werden YHUVWlUNW XQG YHUIHLQHUW GXUFK VSH]L¿VFKH +DOWXQJHQ XQG %HZHJXQJHQ GHV .|USHUV durch Gestik und Mimik sowie über kulturelle Praktiken, den Körper zu gebrauchen, LKQ]XSÀHJHQ]XHUQlKUHQXQGHLQ]XVHW]HQ16

Im hierarchisch-repräsentativen Regime der Schule ist Schönheit die Grundlage für Popularität. Die Ausgeschlossenen werden entweder über die Differenz zu normativen körperlichen Schönheitsidealen in Szene gesetzt – der untersetzte Jonathan in EARSHOT, der dickliche Schüler Jimmy Edwards in der Folge WITH TIRED EYES, TIRED MINDS, TIRED SOULS, WE SLEPT (Gregory Prange, USA 2006) aus der TV-Serie One Tree Hill, der seine Mitschüler mit einer Waffe bedroht, der Killer aus THE SADIST – RGHUEHUGLHVSH]L¿VFKHQ%HZHJXQJVVLJQDWXUHQ±ZLHHVHWZDLQGHQHLQJH]RJHQHQ 15 | Vgl. Pierre Bourdieu Die feinen Unterschiede – Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft Frankfurt am Main 2010 16 | Klein (1999), S. 248. Gleichzeitig gilt Bourdieus Begriff des Geschmacks an dieser Stelle ausschließlich zur Beschreibung eines repräsentativen Systems, wie es medial festgelegt ist und sich durch die verschiedenen Ebenen des Sozialen durchdekliniert. Damit soll nicht die konstitutive Kraft der Ästhetik, wie sie von Rancière theoretisch fundiert wird, relativiert werden. Ästhetik erscheint in den Augen Rancières bei Bourdieu als ideologisch durchwirkte Kraft der sozialen Trennung: „Die ästhetische Distanz würde dazu dienen, eine soziale Realität zu verdecken, die geprägt ist von der radikalen 7UHQQXQJ]ZLVFKHQGHPÃ*HVFKPDFNGHU1RWZHQGLJNHLWµGHUGHP+DELWXVGHV9RONHV eigen ist, und den Spielen der kulturellen Unterschiede, die denen vorbehalten sind, die es sich leisten können.“ Rancière (2008b), S. 11. Der ästhetische Raum und die ästhetische Erfahrung sind Räume und Erfahrungen der Intervention in die Kategorisierung verschiedener Klassen über den Geschmack, die alte Trennung zwischen zwei MenschKHLWHQGH¿QLHUWEHUXQWHUVFKLHGOLFKH6LQQHVROOQLFKWUHSURGX]LHUWZHUGHQ

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Schultern und dem starren Blick zu Boden bei Mark Hunter in PUMP UP THE VOLUME zum Ausdruck kommt. Der Körper ist „durchweg sozial konstruiert und konnotiert.“ Und die medialen Bilder gerinnen zum Pool der Bedeutungen, anhand derer sich eine bestehende Gemeinschaft über die Hierarchieverhältnisse informiert. Der Körper fungiert als sichtbare Manifestation des Selbst im Raum des Sozialen, von der physiologischen Architektur bis hin zu bestimmten Ausstattungsmerkmalen und symbolisch strikt konnotierten Gegenständen, die eine entscheidende Rolle im individuellen und sozialen Werden des jeweiligen Subjektes spielen.18 Die von der Kunst verfügbar gemachten Sprecherpositionen – die Haltungen zur Welt und bestimmte Arten der Subjektivierung einschließen –, kommen nicht nur als Sprache zum Ausdruck, sondern manifestieren sich in analoger Weise anhand von BeZHJXQJVNRQ¿JXUDWLRQHQ'LH5HGHGHV$XVJHVFKORVVHQHQUHDOLVLHUWVLFKQLFKW]XOHW]W LQ±YRQGHUÃ1RUPDOIRUPµ±DEZHLFKHQGHQ6WHOOXQJHQGHV.|USHUV Die bewegungslogische Differenz verbindet den Amok sowohl mit dem psychopathologischen Vergleichsfall der Hysterie als auch mit den ästhetischen Politiken Marilyn Mansons. Ohne im Sinne Charcots divergierende Bewegungssignaturen innerhalb der Mediengeschichte auf ein singuläres The Nobodies Krankheitsbild zu reduzieren, lassen sich GRFK GLH 0XWDWLRQHQ GHU ÃULFKWLJHQµ ÃJHsunden‘ Bewegung in ein Analogieverhältnis setzen. „We’re the nobodies / Wanna be somebodies“ heißt es im Song The Nobodies von Marilyn Manson, und der Sänger nimmt die Figuration des Unerhörten in Variationen von spastisch-zuckenden Bewegungen an, wie sie von Augustine und aus der fotogra¿VFKHQ.OLQLN-HDQ0DUWLQ&KDUFRWVEHNDQQW sind. Die Position des Marginalisierten realisiert sich im Clip zu The Nobodies – neben der offensichtlichen Ästhetisierung über die Hysterika mise-en-scène und die Jump-Cuts – zuallerHUVWEHUGLH1HXNRQ¿JXUDWLRQGHVPRWRULVFKHQ$EODXIVGLHGDVNRQYHQWLRQHOOH*HVWHQUHSHUWRLUHGHU0XVLNYLGHR3HUIRUPDQFHEHUVWHLJWXQGLQVÃ3DWKRORJLVFKHµYHUNHKUW

17 | Klein (1999), S. 248 18 | In den Teenpics sind es vor allem die Zahnspange und die Brille, die solche Übergänge signalisieren. Das Abnehmen der Brille bedeutet die soziale Initiation, die Aufnahme in den sozialen Korpus der populären Schüler. Paradigmatisch setzt dies zum Beispiel Regisseur Robert Iscove in SHE’S ALL THAT (Robert Iscove, USA 1999) in Szene.



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'LH+HUVWHOOXQJGHU6SUHFKHUSRVLWLRQGHV0DUJLQDOLVLHUWHQ¿QGHWVRVHLQHQ8UVSUXQJLQ einer Signatur des körperlichen Ausdrucks. An den Deformationen der körperlichen Bewegung lässt sich die gesellschaftliche Inklusion und Exklusion beschreiben, vollzieht sich doch die Marginalisierung und die Abkehr vom sozialen Korpus über die mutierte Bewegung. Der Veitstanz im Mittelalter ist über eine Abweichung von der reglementierten sozialen Bewegung charakterisiert. Dieser Verstoß ist es auch, der die Analogie von Tanzwut und Hysterie in den Augen Charcots und Richers gegen Ende des 19. Jahrhunderts als sinnvoll erscheinen lässt. „Im 14. und 15. Jahrhundert wurden die Rheinprovinzen von der berühmt-berüchtigten Veitstanz-Epidemie heimgesucht, welche […] ganz augenfällige Parallelen zur heute bekannten großen Hysterie aufweist.“19 In ihren nachfolgenden Ausführungen versuchen die beiden Autoren die Verwandtschaftsbeziehung anhand der Stellungen des Körpers auf alten Stichen und Gemälden nachzuweisen. Prägnant bleibt dabei die Deformation der Bewegungssignatur der Leiber. Das 20. Jahrhundert tradiert seinerseits GLHVH,GHHGHUÃIDOVFKHQµ%HZHJXQJYRUDOOHPGHU+RUURU¿OPVHW]WGLH%HGURKXQJLQ )RUPYRQ¿JXUDOHQ1RUPDEZHLFKXQJHQLQ6]HQH0DQGHQNHDQGLH6SDVPHQXQG9HUrenkungen des besessenen Mädchens Regan in THE EXORCIST oder den schleppenden Gang der Zombies in NIGHT OF THE LIVING DEAD. Über den Körper unterscheiden sich die Subjekte grundlegend voneinander, „der Körper als Träger und Produzent distinktiver kultureller Zeichen ist die Basis des Habitus. Am Körper materialisieren sich auch Dispositionen und Einstellungen – die Körperhaltung korrespondiert mit der Haltung zu sich selbst und zur Welt.“20 Die Abseitigkeit Marilyn Mansons, sein Verstoß gegen die normativen Erwartungshaltungen vollzieht sich zuallererst über die Zurschaustellung seines Körpers. Tätowierungen und Narben sind Akte der sozialen Distinktion, der offenen Abkehr von den Körpervorstellungen einer herrschenden Meinung, die der Sänger durch seine Provokation immer wieder performativ aufruft und herstellt. Entsprechend sind seine Clips voll von mutierten Gestalten und Bewegungen, buchstäblich hysterischen Verrenkungen, die dem Normverstoß auf körperlicher Ebene seine Basis geben. Der Bildraum zeigt entstellte, deformierte Leiber in unendlichen Zuckungen der Körper und der Montage, die ihrerseits die Bewegung manipuliert. 19 | Charcot/Richer (1988), S. 52 20 | Klein (1999), S. 249. Der Begriff des Habitus sorgt dabei für ein Modell der Translation zwischen gesellschaftlichem und individuellem Handeln, insofern Machtstrukturen – aber auch Spuren des Widerstands gegen jene Macht – am Körper zum Ausdruck kommen und von der Verankerung des Sozialen in der individuellen Existenz sprechen. In meinem Gebrauch des Begriffes folge ich Gabriele Klein: „[Bourdieu] beschreibt [… GHQ +DELWXV@ DOV ÃVR]LDOLVLHUWH 6XEMHNWLYLWlWµ DOV ÃGDV .|USHU JHZRUGHQH 6R]LDOHµ DOV Produkt inkorporierter sozialer Strukturen und zugleich als Produzenten individueller und kollektiver Praktiken, als ein System dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, als eine Erzeugungs- und Ordnungsgrundlage für Praktiken und Vorstellungen, als strukturierende und strukturierte Struktur.“ Klein (1999), S. 249

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Anhand der Konzepte von Mimesis und Bewegung wird so evident, dass sich in den Selbstinszenierungen der school shooter nicht die Falschheit oder Verstellung einer Pose zeigt, sondern eine leibgewordene Haltung zur Welt, die sich im Raum des Sichtbaren – als Bild – äußert. Wie Gabriele Klein mit Blick auf Bourdieu schreibt: „Der Habitus ist […] eine aus den sozialen Existenzbedingungen hervorgegangene körpergewordene Struktur. Als solche prägt er das Handeln, Fühlen und Denken der Menschen.“21'LHVH([LVWHQ]EHGLQJXQJHQXPVFKOLH‰HQVR]LDOHZLHPHGLDOHRGHU¿Ntionale Vor-Bilder. Exemplarisch führt dies die Szene des Bullying im Park in BEN X YRUDOVGLH+DXSW¿JXU%HQYRQVHLQHQEHLGHQ0LWVFKOHUQJHGHPWLJWXQGHUQLHGULJW ZLUG,PVR]LDOHQ+DQGOXQJVUDXPLVW%HQ]XQlFKVWKLOÀRVHUVWEHUGLHhEHUEOHQGXQJ des alltäglichen Raums mit der Gestik des animierten Archlord-Avatars gelingt es ihm, Widerstand zu leisten.

Das Wissen des Kör pers Was sich mit den Selbstinszenierungsvideos der school shooter verknüpft ist der Aufbau eines Körperwissens, das über das Bildhafte der Handlungen hinausweist. In diesem Sinne ist die mediale Form unwiederbringlich gekoppelt an die Taten, weil ein Schülerkörper von sich aus nicht weiß, was ein Amokkörper wissen muss: wie die Waffe zu halten ist, wie der Abzug zu drücken ist etc. All dies wird primär über mediale Inhalte – oder die Sozialität eines Schützenvereins – eingeübt und perfektioniert. Die Unterscheidung zwischen virtueller und tatsächlicher Handlung, also zwischen den Schüssen auf einem Bildschirm – Film-, TV- Bild oder pragmatisch-digitalem EgoShooter-Bild – spielt dabei keine qualitative Rolle: Sich körperlich ausdrückende Handlungen, Verhaltensweisen und Reaktionen werden nachvollzogen und werden als Bilder, Lautfolgen, Bewegungssequenzen erinnerbar. Sie werden Teil der inneren Bilder-, Klang- und Bewegungswelt, werden der Einbildungskraft verfügbar und können in neuen Zusammenhängen aktiviert und transformiert und zur Inszenierung des Lebens verwendet werden.22

Das Potential zur Verschiebung, zur Rekontextualisierung der Bewegungen in den sozialen Handlungsraum ist den trainierten und in die Körper geschriebenen Handlungen und Bewegungssequenzen inhärent. Was Dylan Klebold und Eric Harris am 20. April DQ%HZHJXQJ]HLJHQZLVVHQLKUH.|USHUVFKRQDXVLKUHP9LGHR¿OPHITMEN FOR HIRE. Der Mimesisbegriff enthält also – wenn man ihn als aktiv-kreativen Prozess begreift – drei Elemente, die beispielhaft für das Werden des school shooters stehen, denn „nicht nur die Nachahmung von äußeren Bildern ist ein mimetischer Vorgang, VRQGHUQDXFKGLH'DUVWHOOXQJGHV¾,QQHUHQ½LQGHUlX‰HUHQ:HOW'DV¾$X‰HQ½GDV%LOG von sich selbst und die leibliche Erfahrung sind drei untrennbare Bestandteile mime21 | Klein (1999), S. 249 22 | Wulf (1996), S. 209f. Vgl. auch Klein (2004) , S. 142

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tischer Prozesse.“23 Inneres und Äußeres gehen Hand in Hand. Die Pose ist kein rein REHUÀlFKOLFKHV (UHLJQLV VRQGHUQ EULQJW LQ GHU NRQNUHWHQ *HVWDOWXQJ +DOWXQJHQ ]XU Welt zum Ausdruck und vor allem auch hervor. „Dass man bestimmte Positionen oder Körperhaltungen einnimmt heißt […], dass die von diesen ausgedrückten Gefühle einJHÀ|‰WRGHUYHUVWlUNWZHUGHQ'LH*HVWHYHUVWlUNWZLHGDV3DUDGR[GHV6FKDXVSLHOHUV oder Tänzers lehrt, das Gefühl, das wiederum die Geste verstärkt.“24 Das unbewegte Gesicht, das Fehlen jeglicher Affektion ist im Sinne der Pose des Cool-Killers in diesem Zusammenhang kein Widerspruch. Die Stellung des Körpers bringt eine räumliche Struktur hervor. An school shootings wird dies überdeutlich, erzeugt die Gestik des Täters – das Heben der Waffe, GHU$PRNODXI±VSH]L¿VFKH.RQ¿JXUDWLRQHQGHUVR]LDOHQ%HZHJXQJ±GLH)OXFKWGDV Verstecken, das Versperren der Türen zu den Klassenzimmern. Die BewegungsdimenVLRQ¿QGHWLP5DXPVWDWWVLFKWEDULQGHUNRQNUHWHQ'DXHUGHVschool shootings ist der Täter selbst noch das Bild, das alle anderen Bilder um sich gruppiert, Bewegungsräume als Fluchtwege eröffnet, Sackgassen anzeigt.25 Was Dylan Klebold und Eric Harris mit HITMEN FOR HIRE realisieren – genau wie Bastian Bosse mit den Maps der Geschwister-Scholl-Schule als Doom-Level – ist eine zunächst mediale Vorstrukturierung des Raums: Mit Hilfe der [in diesem Fall virtuellen oder realen] Bewegung organisieren [Subjekte] LKUH8PJHEXQJVLHVWHOOHQHLQHQV\PEROLVFKHQ%HZHJXQJVUDXPKHULQGHPGLH'LQJH nach ihren Umgangsqualitäten geordnet werden. Dieser enthält mehr als die gegebene Dimension, insofern als er mögliche und zukünftige Bewegungen miteinbezieht. Viel mehr als eine einfache Strukturierung, enthält die symbolische Ordnung des Bewegungsraums potentielle, virtuelle und zukünftige Bewegungen und verknüpft sie mit GHQÃ8PJDQJVYRUVFKULIWHQXQG*HEUDXFKVDQGHXWXQJHQµGHU'LQJH26

Der Raum ist immer schon ein verzeitlichter Raum, in dem Erinnerung und Projektion mitschwingen, eingearbeitet sind. In diesem Sinne wird der Tatort des school shootings als virtueller Raum im Bildraum von HITMEN FÜR HIRE schon sichtbar.

23_.OHLQ  6I 24 | Bourdieu, zitiert nach Gebauer (2004), S. 29. In diesem Sinne liest Gunter Gebauer Bewegungen nicht als einfache motorische Aktivitäten, sondern als komplexe Gebilde aus Erinnerungen, Projektionen, Assoziationen und affektiven Einstellungen, Vgl. Gebauer (2004), S. 33f 25 | Gabriele Klein benennt dies den Handlungsraum, der nicht ontologisch gegeben, „sondern als ein in der Bewegung erst hergestellter Raum“ zu begreifen ist. Klein (2004), S. 148 26 | Gebauer (2004), S. 25

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Spiele Dem Spiel kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, implizieren Spiele doch oft HLQHQJUXQGOHJHQGSHUIRUPDWLYHQ&KDUDNWHUHLQHVSH]L¿VFKH6HLQVZHLVHGLHPLWXQG über den Körper vollzogen wird. Im Sinne der Erzeugung eines Amokkörpers sind die Spiele der school shooter im rekonstruktiven Blick nicht unschuldig, sondern ein zeitlich vorgängiger aber integraler Bestandteil der Tat. Was im Spiel zur Geltung kommt, ist eine Welterweiterung, eine Öffnung des sozialen Feldes möglicher Handlung, wie sie auch im Umbau und der Neuinterpretation der Schule als Tatort zum Ausdruck kommt: „Spiele schaffen eigene Welten, die aber zugleich Bezüge zu anderen Welten außerhalb ihrer Grenzen haben, ohne diese abzubilden.“ Mit Blick auf HITMEN FOR HIRE lassen sich drei konstitutive Welten analytisch greifen, die im Bildraum des Films verdichtet und verschränkt werden. Zum einen der sozial-materielle Raum der Columbine Highschool, wie er aus den Blickperspektiven der Zeugen und Selbstbeschreibungen der Täter rekonstruiert werden kann. Zum anderen die mediale Vermessung des Raums, wie sie aus der historischen Perspektive auf die Teenpics abgeleitet werden kann. Und zum dritten der Tatort Schule, wie er erst im school shootingDP$SULOUHDOLVLHUWZHUGHQZLUG,P%LOGUDXPLVWGLHVHÃGULWWH Welt‘ nur im Blick zurück als Imagination der Schützen ersichtlich. Durch den Bezug auf die mediale Vermessung der Schule, die narrative Rahmung der Spielhandlung in Mustern von Demütigung und Vergeltung passen sich Klebold und Harris in den Rahmen der Fiktion ein, schaffen sich dadurch aber auch als Rachepersonae. Wie Gebauer und Wulf schreiben: „Das Spiel ist in Grundzügen schon vor dem Spieler da. Dieser EHHLQÀXVVWGDV6SLHODQGHPHUEHWHLOLJWLVWDEHUYRUDOOHPZLUGHUVHOEVWDOV6SLHOHU durch das Spiel mitgeschaffen.“28 Es ist nicht nur ein (Schau-) Spiel, das in HITMEN FOR HIRE zur Aufführung kommt, sondern ein dissensueller Eingriff in die Aufteilung des Sinnlichen, eine Neuvermessung des Sichtbaren und die spielerische Gestaltung und Realisierung einer neuen, heterotropen Welt, die nicht originär geschaffen wird, sondern bezogen bleibt auf mediale Vorbilder. Im Spiel ist ein Werden zu beobachten, eine Transformation des Körpers und der ihn umgebenden Welt. Mit dem Spieltrieb hat man es mit einer lebendigen Kraft zu tun, die die Verteilung der /HEHQHQWUHJHOW'LHVLVWDOVRHLQHVLFKQHXEHVWLPPHQGH.RQ¿JXUDWLRQGHU%H]LHKXQJ ]ZLVFKHQGHP/HEHQXQGGHQNQVWOHULVFKHQ)RUPHQ'LHVH.RQ¿JXUDWLRQLQVWLWXLHUW eine separierte Sphäre des Lebens für die ästhetische Erfahrung. 29

Die emanzipierende Kraft der Kunst gewinnt im Spiel eine leiblich-individuelle Dimension, insofern der Raum des Spiels einen Übergangsraum zwischen Kunst und Leben darstellt. So bleibt das Spiel zwar bezogen auf die polizeiliche Ordnung, er27 | Gebauer/Wulf (1998), S. 20 28 | Gebauer/Wulf (1998), S.28 29_5DQFLqUH F 6I

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öffnet aber gleichzeitig die Möglichkeit zu einer Befreiung aus der sozialhierarchisch zugewiesenen Position, wie es an HITMEN FOR HIRE nur allzu deutlich wird. Das Video ist die Sichtbarwerdung des Punktes, an dem aus einem Schülerkörper ein Amokkörper wird. Denn nach Rancière sind die „Kategorien der Erscheinung, des Spiels und der Arbeit […] eigentlich Kategorien der Aufteilung des Sinnlichen. Sie schreiben sich nämlich in das Gewebe selbst der gewöhnlichen Erfahrung der Formen der Beherrschung oder der Freiheit ein.“30 Die ästhetische Distanz, der Abstand zwischen einer sozialen und einer medialen Wirklichkeit bleibt dabei erhalten, ist unmittelbare Voraussetzung für die körperliche Transformation. In diesem Sinne lässt sich die Inszenierung in HITMEN FOR HIRE noch an die frühesten mit dem Medium Video gekoppelten Hoffnungen lesen GHQQGDV0HGLXP9LGHR>ZXUGHLQGHUPHGLDOHQ@3UD[LV>GHUHU-DKUH@DOVHLQH0|Jlichkeit betrachtet […], gleichsam am eigenen Fleisch zu operieren – an dem, was zu nah war, um mit Abstand betrachtet und analysiert zu werden […]. Video erzeugte neue Rahmenbedingungen, um das Verhältnis von Subjekt und (Bild-)Umgebung erfahrbar zu machen.31

Wie im freien ästhetischen Spiel Friedrich Schillers öffnet sich mit dem Übertritt ins Bild ein neuer Raum sinnlicher Erfahrung, losgelöst von den Erfordernissen alltäglichserieller Gesten und Erwartungen. Video heißt demnach auch sich selbst und seiner Umgebung fremd-werden. In dieser Perspektive sind auch die Softair-Spiele Bastian Bosses keine für das school shooting irrelevanten Momente.32 Mit den Feldformationen, dem ROCK’N’ROLLVideo erfüllt sich auf körperlicher Ebene die utopische und dennoch Stück für Stück realisierte Emanzipation der individuellen Existenz, wie sie medial konstruiert wird und mit den Avataren und virtuellen Existenzen im Internet beginnt: „Wir müssen unser virtuelles Selbst Eurer Souveränität gegenüber als immun erklären, selbst, wenn unsere Körper weiterhin Euren Regeln unterliegen“, heißt es in der Unabhängigkeitserklärung des Internets.33 Dieser Mangel an Körperlichkeit wird von Bosse durch das Spiel, seine Missionen ausgeglichen und bis an einen Punkt geführt, von dem aus sich der gespielte Körper als Amokkörper im sozialen Raum realisiert.

30 | Rancière (2008b), S. 42 31 | Adorf (2008), S. 20 32 | Wie Peter Wuss schreibt: „Spielverhalten befähigt den Menschen zur Konstruktion möglicher Welten, die ihm eine Umbewertung der Realität erleichtern. [… Im Spiel] entsteht für die Protagonisten temporär eine Welt ohne Verbote oder Repressionen, eine andere Art von Leben, die sich auch im künftigen Handeln nicht mehr ganz zurückQHKPHQOlVVW³:XVV  6$XFK7LP.UHWVFKPHUZDUHLQ6RIWDLU6SLHOHU9JO Bornhöft et al. (2009), S. 34f 33_%DUORZ  6

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Spiegelnde Neuronen: Sehen und Handeln Der Zusammenhang zwischen individueller Wahrnehmung, Denken und Bewegung lässt sich auf eine neurobiologische Funktion rückbeziehen, die den Menschen in Be]LHKXQJ]XVHLQHUXQPLWWHOEDUHQ8PJHEXQJVWDUNEHHLQÀXVVWGLH6SLHJHOQHXURQHQ0LW ihnen lässt sich die Verbindung zwischen medialem und sozialem Handeln und Erleben auf einer neurophysiologischen Basis fassen. Dabei ist die Grenze zwischen medialer und sozialer Erfahrung porös, mit den Spiegelneuronen ist zunächst eine Brücke geschlagen zwischen den NaturwissenschafWHQXQGVSH]L¿VFKHQ3RWHQWLDOHQGHU.XQVW:LHGHULWDOLHQLVFKH1HXURSK\VLRORJH*LDcomo Rizzolatti – der maßgeblich an der Entdeckung der Spiegelneuronen Mitte der 1990 Jahre beteiligt war – in der Einleitung des Buches, in dem er die Ergebnisse seiner bisherigen Forschungen zusammenfasst und das er mit seinem Kollegen Corrado Sinigaglia herausgegeben hat, schreibt: Peter Brook sagte vor einiger Zeit in einem Interview, die Neurowissenschaften hätten mit der Entdeckung der Spiegelneurone zu verstehen begonnen, was das Theater seit jeher gewußt habe. Für […Brook] wäre die Mühe des Schauspielers umsonst, verstünde er es nicht, über alle sprachlichen oder kulturellen Schranken hinweg die Laute und Bewegungen seines eigenen Körpers den Zuschauern mitzuteilen und diese dadurch zu Mitwirkenden eines Ereignisses zu machen, zu dessen Entstehung sie beitragen müssen.34

Aufgerufen sind damit Formen der Teilhabe und des Sich-ähnlich-Machens, die sich im Kontext der Spiegelneuronen auf ein affektives und motorisches Antwortverhalten im Zuschauer beziehen. Emotional contagion erscheint als originärer und konstitutiver Baustein menschlicher Interaktion: „Menschen steigen auf Stimmungen und Situationen, in denen sich DQGHUHEH¿QGHQHPRWLRQDOHLQXQGODVVHQGLHVGXUFKYHUVFKLHGHQH)RUPHQGHU.|Upersprache auch sichtbar werden, meist dadurch, das sie die zu einem Gefühl gehörenden Verhaltensweisen unbewusst imitieren oder reproduzieren.“35 Damit ist ein Aspekt der Spiegelneuronen angesprochen, der sich im Hinblick auf das Werden von school shootern als äußert fruchtbar erweist: die starke Verbindung zwischen Wahrnehmung und Handlung. Emotionen werden in aller Sichtbarkeit reproduziert, mit einem Gefühl verbinden sich körperliche Ausdrücke im Sinne von Handlungsimpulsen. Die starre Abgrenzung zwischen perzeptiven, kognitiven und motorischen Prozessen entpuppt sich […] als weitgehend künstlich: Nicht nur scheint die Wahrnehmung in die Dynamik der Handlung verwickelt und stärker artikuliert zu sein, als man bisher JHGDFKW KDW YLHOPHKU LVW GDV agierende Gehirn auch und vor allem ein verstehendes Gehirn.36 34 | Rizzolatti/Sinigaglia (2008), S. 11 35 | Bauer (2005), S. 11 36 | Rizzolatti/Sinigaglia (2008), S. 13f

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Im Hinblick auf die Spiegelneuronen hat Sehen immer schon eine Bewegungsdimension. In der Wahrnehmung einer Bewegung, eines Aktes, sind bereits die motorischen Antwortfunktionen des Betrachters aktiviert. Die generelle – wenn auch graduelle – Ununterscheidbarkeit zwischen Sehen und Handeln ist ein zentraler Aspekt, will man die substantielle Verbindung zwischen medialem und sozialem Erleben und Handeln des school shooters verstehen. Denn „die Beobachtung einer durch einen anderen vollzogenen Handlung aktiviert[…] im Beobachter ein eigenes neurobiologisches Programm, und zwar genau das Programm, das die beobachtete Handlung bei ihm selbst zur Ausführung bringen könnte.“ Und nicht nur das Beobachten einer Handlung aktiviert die entsprechend kodierten Zellen, sondern auch die reine Vorstellung dieser Handlung.38 Damit bilden Spiegelneurone ein Bindeglied zwischen den imaginierten und den realisierten Praktiken der school shooter. Sie sind die neurobiologische Basis des Übergangs vom Bild zur Realisation dieses Bildes im sozialen Handlungsraum. Die Selbstinszenierungsstrategien in verschiedenen Medien dienen immer dem JOHLFKHQ =ZHFN GHP$XIEDX XQG GHP7UDLQLQJ VSH]L¿VFKHU 0|JOLFKNHLWHQ ]X KDQGHOQXQG]XHPS¿QGHQ'LH0HGLHQGLIIHUHQ]YRQ6FKULIWXQG%LOGVSLHOWNHLQHTXDOLtative Rolle, ebenso wenig wie die Differenz zwischen körperlichen Praktiken – das Ausagieren der Rolle des school shooters in HITMEN FOR HIRE – und vermeintlich rein kognitiven Praktiken – den beständigen Mordgedanken Charles Whitmans. Mit den Spiegelneuronen werden nicht zuletzt die Grundlagen eines hierarchisch JHVHW]WHQ0HQVFKHQELOGHVLQ)UDJHJHVWHOOW'LHÃQLHGHUHQµGKPRWRULVFKHQ)XQNWLRQHQVLQGNHLQHVZHJVGHQÃK|KHUHQµGKNRJQLWLYHQ)XQNWLRQHQXQWHUJHRUGQHWVRQdern beide Dimensionen sind nur in egalitärer Gleichheit zu denken. So wiederholt sich in individuell-existentieller Perspektive die Idee einer Gleichheit der Sinne, wie sie Rancière formuliert. Es gibt keinen autonomen menschlichen Geist, der der Materie – hier den Muskeln – seinen Willen frei aufzwingen könnte, sondern die Figur einer Handlung, eines Bewegungsimpulses, ist nur in der Verschränkung von Kognitivem und Motorischem denkbar. Die Spiegelneuronen unterscheiden verschiedene Akte und Handlungen, der Aufbau des neuronalen Systems erfolgt durch Lernen. Im Hinblick auf den school shooter bedeutet dies, dass das Abfeuern einer Waffe nicht anthropologisch gegeben ist, VRQGHUQ GLH HQWVSUHFKHQGH +DQGOXQJVVHTXHQ] Ã:DIIH DEIHXHUQµ HUVW HUOHUQW ZHUGHQ

37 | Bauer (2005), S. 23. Dieser Zusammenhang gibt auch früheren medienwissenschaftlichen Beobachtungen eine neurophysiologische Basis: „Bei den über eine Fernsehanlage in die Hörsäle übertragenen chirurgischen Eingriffen haben Medizinstudenten von Anfang an eine merkwürdige Wirkung festgestellt – sie glaubten, nicht bei einer Operation zuzusehen, sondern selber zu operieren. Sie meinten, sie selber führten das Skalpell.“ McLuhan (1994), S. 496 38 | Bauer (2005), S. 25

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muss.39 Gleichzeitig scheint die niedrigere – aber vorhandene und messbare – Aktivität der Spiegelneuronen bei der Beobachtung nicht trainierter Gesten die These Dave Grossmans, Michael Carneal habe das Schießen allein aufgrund der Stunden vor dem Computer gelernt, zu erhärten. Während seines school shootings hatte Carneal acht Mal geschossen und achtmal getroffen. Daraus folgert Grossman: „Im zarten Alter von 14 Jahren hat er das Töten von Menschen buchstäblich zigtausendfach geübt. Sein Übungsplatz waren Ego-Shooter-Spiele.“40 Entsprechend eindeutig formuliert Joachim Bauer seine Überlegungen zur medialen Gewalt: Das Gehirn ist ein permanent lernendes System. Es macht ausgerechnet dann, wenn es um die für Jugendliche überaus spannende und brisante Darbietung von Gewaltverhalten geht, keine Lernpause. Was wir sehen […], wird in Nervenzellnetze eingeschrieben, die die Programme für eigene Handlungsmöglichkeiten kodieren. Sicher: Etwas zu sehen bedeutet nicht, die gesehene Handlung auch selbst auszuführen. Dazu sind noch weitere Faktoren erforderlich. Was wir an Handlungen sehen, wird jedoch als Modell abgespeichert, und es erzeugt […] Handlungsbereitschaften.41

Es ist ein dynamisches Konzept des Lernens, das sich hier eröffnet, ein Modell in dem VR]LDOH$XWRULWlWV¿JXUHQZLH/HKUHUHEHQVRHLQHSlGDJRJLVFKH)XQNWLRQJHZLQQHQZLH mediale Bilder. Damit lässt sich die kognitive und motorische Ebene der Dekontextualisierung und Deterritorialisierung vom Krieg in befriedeten Gebieten auf der Ebene GHU(QWZLFNOXQJGHULQGLYLGXHOOHQXQGLQGLYLGXLHUWH$PRN¿JXUJUHLIHQ In diesem Kontext ist auch der Gebrauch von Ego-Shooter-Spielen zu Rekrutierungszwecken zu sehen. Sie übernehmen damit Stück für Stück die Aufgaben, die früher Filme wie TOP GUN (Tony Scott, USA 1986) ausfüllten.42 Das US-Marine-Corps VHW]WHLQHPRGL¿]LHUWH9HUVLRQYRQDoom ein. Der Militärpsychologe und ehemalige Lehrer an einer Militärakademie Dave Grossman erklärt den Nutzen des Ego-Shooters: „Die wichtigste Funktion […] besteht darin, den Willen zu töten auszubilden, indem der Tötungsakt so oft wiederholt wird, bis er ganz natürlich wirkt.“43 Das Ziel ist nach GHQÃVFKOHFKWHQµ(UIDKUXQJHQGHV=HLWHQ:HOWNULHJHV±LQGHPÄ6ROGDWHQLP.ULHJHLQH Menge Zeit damit verbracht [haben], mit ihren Waffen in die Luft oder gar nicht zu feuern“ – die Tötungshemmung gezielt herabzusetzen.44

39 | Giacamo Rizzolatti und Corrado Sinigaglia nennen diese Selektivität der Neuronen, die jeweils allein für eine motorische Sequenz bestimmend sind das „Wörterbuch der Akte“. Siehe Rizzolatti/Sinigaglia (2008), S. 56ff 40 | Grossman/DeGaetano (2003), S. 19 41 | Bauer (2005), S. 121f 42 | Vgl. Patalong (2002) 43 | Grossman/DeGaetano, S. 91 44_*URVVPDQ'H*DHWDQR6*URVVPDQKDWXQWHUGHP(LQÀXVVGHU]XQHKPHQGHQ Zahl von school shootings in Amerika seinen Dienst beim Militär quittiert. Seitdem ver-



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Mit der Entdeckung der Spiegelneuronen gewinnen traditionelle Fragestellungen der Medienwissenschaft neue Bedeutung, etwa im Hinblick auf die Funktion der als Bild präsenten Figur. Joachim Bauer reduziert die Aktivierung der Spiegelneuronen auf die Darstellung menschlicher Figürlichkeit: „Darstellungen von Handlungen lebender Personen in Medien wie Film oder Fernsehen [können] das System der Spiegeleneurone erreichen und zur Resonanz bringen.“45 Um die affektive Dimension des Bildes nicht einseitig und ausschließlich auf den Charakter zu beziehen, ist es sinnvoll, den adressierten und adressierenden Bereich der Aktivität der Spiegelneuronen auf das ganze audiovisuelle Bildfeld zu beziehen Wie Hermann Kappelhoff am Beispiel von THE THIN RED LINE (Terrence Malick, USA 1998) ausführt, ist der audiovisuelle Bildraum von einer apersonalen, aber subjektivierten Wahrnehmung gewebt. Diese vermittelt alle Ein- und Ausdrücke über das konkrete Bild, das so – unabhängig von seinem jeweiligen Gegenstand – selbst noch zu einem Gesicht wird: „Das wogende Gras [...] wird hier zu einem puren Raum der Erfahrung, wir sehen nichts anderes als endlose Felder ohne Fortschritt, ohne Logik, ohne ¿[H3HUVSHNWLYH7DWVlFKOLFK]HLJWVLFKGLH1DWXULQGLHVHP)LOPDOVHLQDSHUVRQDOHV *HVLFKWDOV$XVGUXFNHLQHUHPS¿QGVDPHQ6HHOHGLHQLFKWGHQ,QGLYLGXHQJHK|UW.“46 Der gesamte Bildraum wird – jenseits der anthropologischen Figur – als das Gesicht HLQHU/DQGVFKDIWJHIDVVWZHLOGLHVHDOV$XVGUXFNVÀlFKHYRQVSH]L¿VFKHQ$IIHNWLRQHQ HUVFKHLQW'HU%LOGUDXPÄLVWGHU5DXPGHU(PS¿QGXQJHQGHV=XVFKDXHUVVHLQHVVLQQlichen, affektiven und libidinösen Verwobenseins mit der Welt. Das Aggregat dieses affektiven Weltbezugs ist für uns in der westlichen Welt das Gesicht.“ Das menschliche Antlitz ist jedoch nur aufgrund der kulturhistorischen Prägung die bevorzugte $XVGUXFNVÀlFKHGHU(PRWLRQ±ZDVQLFKWJOHLFKEHGHXWHQGGDPLWLVWGDVQLFKWMHGHU beliebige Gegenstand über die Ästhetisierung im Bildraum in einer Gesichtshaftigkeit erscheinen kann. Dass Spiegelneuronen auch jenseits des Gesichts aktiviert werden, zeigt Robin Curtis anhand eines Experimentes, bei dem sich Balletttänzer und Capoeira-Kämpfer kurze Videoaufzeichnungen von Ballett- und Capoeirabewegungen ansehen sollten.48 Abseits emotionaler Kodierung – die in den Tanz- bzw. Kampfkunstbewegungen nicht VWUHQJGH¿QLHUWHUVFKHLQHQ±ZHUGHQ6SLHJHOQHXURQHQDNWLYLHUW±GHU*UDGGHU6WlUNH variiert je nachdem, ob die beobachteten Bewegungen vorher trainiert wurden, also

sucht er in Vorträgen und Büchern auf den Zusammenhang von medialer und sozialer Gewalt aufmerksam zu machen. 45 | Bauer (2005), S. 38 46 | Kappelhoff (2001), S. 34. Joachim Bauer weiß um die Aktivität der Spiegelneuronen auch bei Geräuschen, gleichzeitig bleiben seine Ausführungen dem Beispiel der Figur verhaftet. Vgl. Bauer (2005), S. 24. Zur Beziehung zwischen Gesicht und Affekt siehe DXFKGLH'H¿QLWLRQGHV$IIHNWELOGHVEHL*LOOHV'HOHX]H9JO'HOHX]H  6II 47 | Kappelhoff (2001), S. 34 48 | Vgl. Curtis (2008), S. 50

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dem Betrachter und seinem Körper bekannt waren oder nicht.49 Die Bewegung des Bildes initiiert die Aktivität der Siegelneuronen. Robin Curtis versucht diesen Zusammenhang mit der Figur des „kinästhetischen Bildes“ nach Theodor Lipps, das die Wahrnehmung und die simultane motorische Aktivität des Beobachters in sich vereint, zu verdeutlichen. Wie Lipps schreibt: Was uns bei solcher Nachahmung gegeben ist, was wir demnach bei unserer Nachahmung einzig als Vorbild haben, ist ein bestimmtes optisches Bild. Die Leistung dagegen, die wir vollbringen, besteht für uns in der Hervorbringung gewisser Vorgänge in den Muskeln, Sehnen, Gelenken, endlich auch der Haut, kurz gesagt, von der vollbrachten eigenen Leistungen unmittelbar nur ein kinästhetisches Bild.50

Solche Reaktionen, die Sensorik und Motorik in sich vereinen, erscheinen nicht nur in Bezug auf die bildhafte Figur. Sie deuten auf eine allgemeine Haptik der Rezeption im Betrachten eines Bildes. Gleichzeitig sind die Posen, wie zum Beispiel Bastian Bosse sie immer wieder einnimmt, viel mehr als ein spielerischer Ausdruck, sondern auch auf neurobiologischer Ebene die performative Hervorbringung einer Personae mit einer entsprechenden Haltung zur Welt und einem bestimmten Affekthaushalt: Neurobiologisch gesehen ist die gezielte Imitation, also das angeleitete Nachmachen von emotional bedeutsamen mimischen Ausdrucksformen und Körpergesten, mehr als das Erzeugen eines äußeren Scheins ohne innere Bedeutung. Untersuchungen mit modernen bildgebenden Verfahren konnten zeigen, dass die Imitation einer von Gefühlen begleiteten Geste auch die jeweils dazugehörenden Emotionszentren aktivieren kann.51

'LH OHHUH$XVGUXFNVÀlFKH GHV *HVLFKWHV GHV Cool-Killers korrespondiert damit mit einer bestimmten inneren Haltung und einer Möglichkeit, sich zu verhalten. Mit Blick auf die Spiegelneurone lässt sich zudem der reale Gebrauch der Waffe – wie es in RAMPART RANGE oder den Selbstinszenierungsvideos von Matti Juhani Saari zu sehen ist – in Beziehung setzen zu den Ego-Shootern, die als Verstärkung und als WDWVlFKOLFKHV7UDLQLQJGHV+DQGOXQJVDEODXIVÃ6FKLH‰HQµEHWUDFKWHWZHUGHQN|QQHQ52 49 | Wie Daniel Glaser, der Forscher, dessen Experiment Curtis zitiert, in einem Interview zu seinen Ergebnissen erklärt: „Das ist der erste Beweis dafür, dass das persönliche Repertoire an Bewegungen – die Dinge, die man selbst als Individuum gelernt hat – die Art verändern, wie das Gehirn auf das Sehen von Bewegung reagiert.“ Glaser, zitiert nach Curtis (2008), S. 50 50 | Lipps, zitiert nach Curtis (2008), S. 53 51 | Bauer (2005), S. 141 52 | Auf diese Weise spielt auch die Intensität und die Dauer der erlernten Handlungen eine Rolle. Wie Joachim Bauer die Grundregel der Funktionsweise des Gehirns lakoQLVFKHUOlXWHUWÄ8VHLWRUORVHLW³%DXHU  6

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Bild und soziale Handlung sind ineinander verschlungen, die Grenze zwischen der )LNWLRQDOLWlW HLQHV 7H[WHV HLQHV %LOGHV XQG VSH]L¿VFKHQ 5HDOLVLHUXQJHQ LP VR]LDOHQ Handlungsraum verschwimmt. So bekommt auch die Vermessung des Sichtbaren wie in HITMEN FOR HIRE eine neurobiologische Wendung, denn „das Gehirn kartiert die Welt als eine Sammlung von Handlungs- und Interaktionsoptionen.“53 Mit dem Bildraum werden die Möglichkeiten sich zu verhalten geöffnet und Eric Harris und Dylan Klebold greifen am 20. April 1999 auf das zurück, was ihre Körper schon wissen. „Spieler müssen mit ihren Fingern denken können“, zitiert Sue Morris einen EgoShooter-Spieler.54 Damit verwirklicht der Spieler die Emanzipation des Körpers, die beginnt wenn man den Gegensatz zwischen Sehen und Handeln in Frage stellt, wenn man versteht, dass die Offensichtlichkeiten, die so die Verhältnisse zwischen dem Sagen, dem Sehen und dem Machen strukturieren, selbst der Struktur der Herrschaft angehören. Sie beginnt, wenn man versteht, dass Sehen auch eine Handlung ist, die diese Verteilung der Positionen bestätigt oder verändert.55

hEHUGDV9HUKlOWQLVYRQ$XJHXQG+DQGVFKUHLEWVLFKHLQHVSH]L¿VFKH$XIWHLOXQJGHV Sinnlichen in den Körper des Individuums ein – im Unterricht wird dies zum Beispiel in der Geste des Finger- oder Handhebens, um sprechen zu dürfen, evident –, gleichzeitig bedeutet jeder Eingriff in dieses normierte Verhältnis die Schaffung einer neuen Welt, einer neuen Hierarchie und alternativer Möglichkeiten des Sich-bewegenKönnens und Sich-verhalten-Könnens.

53 | Bauer (2005), S. 165 54_0RUULV  6 55 | Rancière (2009), S.23

XII. Die Bewegung von Inszenierung ௘XQG6HOEVWLQV]HQLHUXQJ

Mit Blick auf das System der Spiegelneuronen gerät der Film – oder allgemeiner gefasst: das Bild – wieder in den Fokus der theoretischen Rahmung des Phänomens school shooting, wird die zeitgenössische Rezeptionsästhetik des Mediums doch – in $EJUHQ]XQJ]XGHQLGHRORJLHNULWLVFKHQ)RUPHOQGHUHU-DKUH±LQH[SOL]LWVRPDWLVFKHQ%HJULIÀLFKNHLWHQJHGDFKW1 Kino bedeutet nicht nur Sehprozesse, sondern auch Körperprozesse, in denen – jenseits ethischer Überlegungen – der Zuschauer den Film „als eine emotionale Bewegung zu verwirklichen [hat], die er in den affektiven, perzeptiven und kognitiven 3UR]HVVHQGHU¿OPLVFKHQ5H]HSWLRQGXUFKOlXIW³2 Es ist eine beständige Bewegung des Austauschs zwischen Innen und Außen, der Dynamik der Bilder und der affektiven Modellierung des Zuschauers zu beobachten: In diesem Sinne ist […] das kinematographische Bild selbst als eine Struktur zu beJUHLIHQLQGHUVLFKGLHlX‰HUH%HZHJXQJGHU$NWLRQHQLP5DXPPLWGHUÃLQQHUHQµ%Hwegung der Gedanken und Emotionen verbindet. Hin- und hergehend zwischen dem Ã,QQHQµXQGGHPÃ$X‰HQµHQWIDOWHWVLFKGDV¿OPLVFKH%LOGLQVHLQHU]HLWOLFKHQ'LPHQVLRQ XQGEULQJWGDULQ]XJOHLFKGLHVHVÃ,QQHQµGHV=XVFKDXHUVXQGGLHVHVÃ$X‰HQµGHV%LOGHV als eine zeitliche Korrelation hervor.3

1 | Steven Shaviro etwa entwickelt ein rezeptionsästhetisches Modell, das – in Abgren]XQJ]X-HDQ/RXLV%DXGU\XQG&KULVWLDQ0HW]±HLQXQPLWWHOEDUHV$I¿]LHUW6HLQGHV Zuschauers zur Grundlage hat: „Film’s virtual images do not correspond to anything actually present, but as images, or as sensations, they affect me in a manner that does not leave room for any suspension of my response. I have already been touched and altered by these sensations, even before I have had the chance to become conscious of them.“ Shaviro (2000), S. 46 2 | Kappelhoff (2004), S. 19 3 | Kappelhoff (2004), S. 21

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So ist die Filmrezeption ein Teilaspekt gesellschaftlichen Lebens, der die individuelle mit der kulturellen Fantasietätigkeit verbindet, Muster des Erlebens und Wahrnehmens strukturiert und im Sinne mimetischer Prozesse „dem Menschen [ermöglicht], die Außenwelt in seine Innenwelt hineinzuholen und die Innenwelt auszudrücken.“4 Es sind konkrete Bewegungen in Raum und Zeit, die das Individuum mit dem Sozialen verbinden oder den Einzelnen von der Gemeinschaft isolieren. So formiert sich EHUGHQPHGLDOHQ5DXPGHUVR]LDOH+DQGOXQJVUDXPDOV.RQ¿JXUDWLRQGHV6LFKWXQG des Sagbaren. Davon abhängig sind die individuellen Möglichkeiten, sich in diesem Raum zu verhalten. Die untrennbare Verschlingung von Inszenierung und Selbstinszenierung lässt sich in der diachronen Entfaltung des – sowohl medialen als auch sozialen – Bildes von Amok an Schulen nun noch einmal auf drei Ebenen greifen: Zum einen vollzieht sich die Selbstgestaltung der school shooterDQGHQYRUKDQGHQHQ¿NWLRQDOHQ0XVWHUQ GHU6XEMHNWLYLHUXQJGKGLHVSH]L¿VFKHQ)RUPHQGHU,FK:HUGXQJNRUUHOLHUHQ=XP anderen transformiert sich das Verhältnis zwischen Real und Imaginär innerhalb der Geschichte der Thematisierung des Amoks synchron zur veränderten Ökonomie zwischen diesen Bereichen in den Selbstbeschreibungen der school shooter. Und drittens LVWGLHVRXYHUlQH9HUZHQGXQJSUl¿JXULHUWHU%LOGHUDXIGHU(EHQHGHU6HOEVWLQV]HQLHrung selbst noch Produkt der diachronen Entfaltung dieser Strategien auf der Ebene der Inszenierung.

Der Bildraum Whitmans: TH E S N I PER Die Genealogie der Diffusion zwischen Fiktion und sozialer Wirklichkeit wird durch einen Rekurs auf Charles Whitman deutlich, der zeigt, wie fundamental school shooter von der Bildökonomie ihrer Zeit abhängig sind. Die Morde vom 1. August 1966 wurden bisher nur unter der Perspektive der kulturell-medialen Inszenierung analysiert. So erscheint Whitman zunächst als Quelle einer noch zu benennenden sozialen Ereignishaftigkeit im Amerika der 1960er Jahre – den school shootings. Mit Blick auf Edward Dmytryks Film THE SNIPER von 1952 (USA) zeigt sich, dass auch Whitman an die vorhandenen Diskurse seiner Zeit und seiner Kultur anschließt, sein Verhalten nicht die Folge einer originär sozialen und psychopathologischen Abweichung ist. Zwar gibt es keinen Hinweis darauf, dass Whitman den Film gesehen hat, aber THE SNIPER zeigt – als einer der ersten Serial-Killer-Filme – das prototypische Bild des Mehrfachmörders der 1950er und der frühen 1960er Jahre, in dem sich Whitmans Selbstbeschreibungen spiegeln. Durch den Film wird verständlich, dass der Texas-Sniper in seinem Abschiedsbrief versucht, legitime Symptome im Sinne Edward Shorters zu produzieren. Denn mit THE SNIPER stellt sich ein Bildraum her, der mit den Taten und dem Eigenbild Whitmans in Analogie zu setzen ist, gerade weil der Film eines der wenigen zeitgenössischen Werke ist, anhand derer sich die Bildökonomie, in der das Selbstbild des campus shooters verortet ist, offenbart. So lässt sich in diachroner Perspektive zeigen, dass den verfügbaren diskursiven Bildern des Mehrfach4 | Gebauer/Wulf (2003), S. 28

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mörders seit den 1960er Jahren entsprechende Typen von school shootern im sozialen Raum korrelieren. Das Selbstbild des Texas-Snipers korrespondiert mit dem Image des Snipers Eddie 0LOOHU±GHU+DXSW¿JXULQ'P\WU\NV)LOP±LQPHKUIDFKHU+LQVLFKW,P*HJHQVDW]]X späteren Typen des school shooters ist das Morden in THE SNIPER ein Akt des beständigen Aushandelns zwischen zwanghafter Mordlust und den Versuchen des Schützen, diese Impulse zu unterdrücken. Miller und Whitman versuchen in analoger Weise die Kontrolle über eine als befremdlich empfundene Innerlichkeit zu behalten. Aufgrund ihrer Zerrissenheit sind sie unfähig, ein integraler Teil ihres unmittelbaren sozialen 8PIHOGHV]XVHLQ,QGHU¿OPLVFKHQ)LJXUGHVSnipers¿QGHWVLFK:KLWPDQV:HUGHQ zum Sniper, als der er am 1. August 1966 den Turm der University of Texas in Austin besteigt, vorgezeichnet. Der Kosmos des Films ist, wie der moralische Horizont Whitmans, durchwirkt YRQ GHQ .RRUGLQDWHQ Ã*XWµ XQG Ã%|VHµ Miller ist sich seiner mörderischen Triebe und der Gefahr, die sie für ihn und seine Umwelt bedeuten, sehr bewusst. Wie der Texas-Sniper sucht er den Rat eines Psychiaters und weist später immer wieder auf seine psychische Disposition, seine ÄngsHENRY - PORTRAIT OF A SERIAL KILLER WH XQG =ZlQJH KLQ ± XQG ¿QGHW GHQQRFK NHLQ*HK|ULVWLQGHU¿OPLVFKHQ8PVHW]XQJHLQHU0|UGHU¿JXUZHGHUHWZDVYRQ der freudigen Erwartung im Hinblick auf den Tag des Amoks – „have fun“, wie Eric Harris in sein Journal schreibt – noch von der eisigen Kaltblütigkeit des Tötens – wie es etwa in der Figurenzeichnung in John NcNaughtons HENRY: PORTRAIT OF A SERIAL KILLER (USA 1986) zum Ausdruck kommt – oder von der Coolness der schicken Auftragskiller Vincent und Jules in Quentin Tarantinos PULP FICTION (USA 1994) zu sehen. Eddie Miller ist ein Getriebener, ein Kämpfer gegen die eigenen Gedanken und Impulse. Whitmans Thoughts to Start the DayN|QQWHQYRQGHU)LOP¿JXUVWDPPHQ Sein Gestus leitet sich aus den großen Gebärden melodramatischen Schauspiels her. Die selbstquälerische Innerlichkeit wird impulsiv und kraftvoll ausagiert, unterstützt von der mise-en-scène und der THE SNIPER aufbrausenden Affektion des Scores, den DQVFKZHOOHQGHQ *HLJHQNOlQJHQ 'DV *HVLFKW VSLHJHOW LP 6LQQH GHU HPS¿QGVDPHQ Schauspielkunst die innere Bewegtheit der Figur, drückt expressiv die ambivalenten, kämpfenden Kräfte im Herzen des Subjektes aus. Mit den mimischen Bewegungen des Gesichtes, den verschiedenen Erscheinungen der Verbindung zwischen Innen und Außen ändert sich die Bedeutung des Akts des Tötens. Wie Gabriele Klein im Hinblick

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auf die Bewegung schreibt: Sie ist „Vermittler zwischen Mensch und Welt, […] das Medium, mit dem und über das der Mensch Welt erfährt.“5 Die Bilder der Überwachungskamera der Cafeteria der Columbine Highschool offenbaren dagegen einen Riss der konventionellen Bezüge zwischen Innen und Außen. Aus der Perspektive melodramatischer Schauspielkunst, die auch den sozialen Ausdruck prägt, sind Eric Harris und Dylan Klebold nur über ihren Kleidungsstil und die Waffen – nicht über ihre Gestik und Mimik – als school shooter zu greifen. Ihre HalWXQJlKQHOWQLFKWGHUVHOEVW]ZHLÀHULVFKHQ*UEHOHLGHU)LOP¿JXU(GGLH0LOOHURGHUGHV Texas-Snipers Charles Whitman, sondern ihre kühle Distanz ist das Echo des Gestus, in dem Mickey und Mallory Knox in NATURAL BORN KILLERS töten. In THE SNIPER verschließt Eddie Miller ganz im Sinne des Erzählens psychoanalytischer Provenienz sein Gewehr in der Schublade seines Schreibtischs, als könne er in einem veräußerlichten topographischen Modell der Psyche die mörderischen Impulse ausschließen, als könne er an Salvador Dalís Bild des körperlichDer anthropomorphe Kabinettschrank psychischen Aufbaus in dem Gemälde Der anthropomorphe Kabinettschrank (1936) anschließen. Miller ringt mit sich, schmeißt GHQ6FKOVVHOGHU6FKXEODGHZHJVXFKWLKQVSlWHU¿QGHWLKQZLHGHUYHUVDJWVLFKGDV Morden erneut. Als Selbstbestrafung presst er seine Hand auf eine glühende Herdplatte. Was in den großen Gesten Millers zum Ausdruck kommt, sichtbar wird, ist dieses „Es“, das Whitman in seinem Abschiedsbrief beschreibt: die nicht zu kontrollierenden Gedanken, die an frühe Formen der Besessenheit erinnern. Miller ist kein souveräner, überlegter Mensch, verzweifelt sucht er immer wieder nach Hilfe. Als er die Mordimpulse nicht mehr unterdrücken kann, schreibt er der Polizei eine Nachricht. Er will gefunden, zur Strecke gebracht werden. Er weiß, dass das, was er tut, falsch ist, wie es 1966 Charles Whitman weiß, der sein Gehirn der Forschung spenden will, damit THE SNIPER Fälle wie der seine in Zukunft ausbleiben mögen. In seiner Selbstanamnese begreift sich der Texas-Sniper als psychisch schwer gestört, er kann sich selbst nicht ausdrücken, wie Miller im Gespräch mit einem Arzt keine Worte kennt für das, was ihn bedrückt. Der Sniper tritt in Form von Eddie Miller im Jahre 1952 als psychopathologischer Fall in die Bildökonomie des populären Kinos. Damit lassen sich die Koordinaten LGHQWL¿]LHUHQLQGHQHQVLFK&KDUOHV:KLWPDQ-DKUHVSlWHULQVHLQHP$EVFKLHGVEULHI 5 | Klein (2004), S. 140

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selbst erzählen wird. Im Sinne der Motivation und der Verknüpfung nach NotwendigNHLW XQG:DKUVFKHLQOLFKNHLW ZLUG GLH %LRJUD¿H (GGLH 0LOOHUV QXU YDJH DXVJHVWDOWHW Sein mörderischer Hass auf Frauen bleibt im Film zwar ein Objekt psychiatrischer Spekulation, seine Backstory wird aber nicht auserzählt. Damit wird THE SNIPER dem Film vergleichbar, der heute als Ahnvater des Serial-Killer-Genres und des SlasherFilms gilt: Alfred Hitchcocks PSYCHO.6 Das Verhältnis des Charakters Norman Bates ]XUEHUPlFKWLJHQ0XWWHU¿JXULVWDQDORJ]XOHVHQ]X0LOOHUVREVHVVLYHQ'HPWLJXQJVerfahrungen, die immer an Erlebnisse mit Frauen geknüpft sind. So manifestiert sich zu Beginn des Serial-Killer-Films ein epistemologischdeskriptiver Zugriff, der noch stark den zeitgenössischen psychopathologischen BeVFKUHLEXQJVPRGHOOHQYHUKDIWHWLVW'LHLQGLYLGXHOOH%LRJUD¿HYHUEOHLEWLQGHQIROJHQden Jahren mehr und mehr im Dunklen, bis sie schließlich ganz verschwindet. Die Sniper-Figur in Luis Bunuels LE FANTÔME DE LA LIBERTÉ (Frankreich) gibt unvermittelt LKUHW|GOLFKHQ6FKVVHDE'HU)LOPNRPPWLQGLHDPHULNDQLVFKHQ.LQRV)QI Jahre später wird Brenda Spencer auf die Frage, warum sie zwei Menschen erschossen und neun weitere verletzt hat, antworten: „I just did it for the fun of it. I don’t like Mondays.“ Die moralisch-ethischen Koordinaten der Filme ändern sich synchron zu den zugeschriebenen Motive der Täter. Wie Oliver Stone in einem Interview zu NATURAL BORN KILLERS erklärt: „The idea of killing 52 people would never have occurred to me in 1969, even after Bonnie and Clyde. The idea when they killed was that they were victims of the Depression. But in Natural Born Killers they kill because they kill, there’s no moral sense or excuse for it.“ In Korrelationsbeziehungen entfalten sich die Filmgeschichte und die Geschichte der school shootings seit den 1960er Jahren, entgrenzen den Raum des Sicht- und Sagbaren, den möglichen Horizont individuellen Handelns. Und jede historische Gesellschaftsformation bringt – entsprechend der verfügbaren Narrative und der BildökoQRPLH±VSH]L¿VFKH7\SHQYRQschool shootern hervor.

Das Imaginäre und das Reale Diese Korrespondenz von Inszenierung und Selbstinszenierung betrifft auch die sich YHUlQGHUQGH %HGHXWXQJ ¿NWLRQDOHU ,QKDOWH IU GLH 5HGH GHU7lWHU:DV PLW 0LFKDHO Carneals Amoklauf und seinem Bekenntnis „I saw it in the Basketball Daries“ evident ZLUGLVW]XQlFKVWHLQH7UDQV¿JXUDWLRQPHGLDOHQ(UOHEHQVLQGHQVR]LDOHQ+DQGOXQJVraum. Die inszenatorischen Praktiken und die Entwicklung des Selbstbildes anhand medialer Vorbilder prägen die Strategien des school shooters. Sie verweisen auf eine VSH]L¿VFKHgNRQRPLH]ZLVFKHQGHP5HDOHQXQGGHP,PDJLQlUHQGLHGHQNRQYHQWLRQHOOHQ0RQWDJHPXVWHUQ±GHUSV\FKRDQDO\WLVFKHQ=XULFKWXQJGHU%LRJUD¿HLQGHUTalking Cure – widerspricht. Die Tat bedeutet weder ausschließlich Bild noch prämediale 6 | Wie Barry Keith Grant schreibt: „Alfred Hitchcock’s Psycho (1960), of course, is WKH¿OPWKDWFDQEHVDLGWRKDYHLQDXJXUDWHGWKHFRQWHPSRUDU\FLQHPD¶VWUHDWPHQWRI violence.“ Grant (1999), S. 24 7 | Smith, Gavin (1994), S. 12

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soziale Wirklichkeit, sondern beides zugleich, ein unreines Bild, die Überblendung zweier Interpretationen des Raumes Schule. Mit Blick auf die Geschichte der school shootings und die Geschichte der Thematisierung des Amoks im Film, stellt sich die Ökonomie zwischen dem Realen und dem Imaginären selbst noch als Korrelationsprozess dar. School shooter schließen an die medial zugerichteten Aufteilungen dieser Beziehung an, sie realisieren damit Montageprinzipien, die innerhalb der diachron entfalteten Logik des Erzählens in Bildsequenzen realisiert werden. Die Wahl für das mediale, virtuelle, mögliche Bild, das den sozialen Raum der Schule besetzt, ist im Sinne der Unreinheit der Bilder eine Form der Einheit von Virtuellem und Aktuellem. Ganz deutlich wird dies an HITMEN FOR HIRE und den Columbine-Morden, wo die Grenzen des Inszenierten und des Verwirklichten sowohl im Blick der Täter als auch in der Perspektive der Zeugen verschwimmen. Auf diachroner Achse lassen sich auf Seiten der erzählerischen Strategien des Films und der konkreten Ökonomie zwischen Realem und Imaginiertem innerhalb der Thematisierung von Amok analoge Techniken beschreiben. &KDUOHV :KLWPDQ EH]LHKW VLFK QLFKW DXI ¿NWLYH 9RUELOGHU VHLQH 5HGH YHUEOHLEW im Bereich des psychopathologischen Wissens, das Reales und Imaginäres strikt zu differenzieren versucht. Die Strukturierung der Ökonomie zwischen der Fiktion und dem konkreten Handlungsraum muss sich innerhalb der Binnenlogik der Evolution der Amokthematik ändern, ehe Eric Harris und Dylan Klebold ihr school shooting unter der Formel „go NBK“ fassen können. Damit bleibt die Strategie der Subjektivierung anhand von medialen Vorbildern ein konstantes Element, nur die inszenatorischen Formen dieser Logik ändern sich innerhalb der Filmgeschichte. Kay Kirchmann unterscheidet die Logiken des Erzählens als „modale Opposition von Indikativ und Konjunktiv […], die Differenz von Wirklichkeits- und Möglichkeitsform.“8 Im Kontext der school shootings ließe sich die Wirklichkeitsform ]XQlFKVW DOV GLH ,QVWLWXWLRQ 6FKXOH JUHLIHQ GLH PHGLDO ZLH VR]LDO LQ HLQHU VSH]L¿VFK zugerichteten narrativen Anordnung erscheint. Die inszenatorische Möblierung des Raumes Schule durch den school shooter kann als Möglichkeitsform gekennzeichnet ZHUGHQDOV%LOGGDV]ZDUDXIGHUJOHLFKHQUlXPOLFKHQXQG]HLWOLFKHQ$FKVH]X¿QGHQ ist, aber (noch) nicht eingetreten ist, sich (noch) nicht realisiert hat: Basal ist diesen Operatoren [Indikativ und Konjunktiv] die ontische Differenzierung YRQ *HJHJHEHQHP ÃUHDOLVµ  XQG 0|JOLFKHP ÃLUUHDOLVµ  ]XU 0DUNLHUXQJ XQWHUVFKLHGlicher Seinszustände eines je fraglichen Sachverhalts. Allgemeiner gefaßt, ist jedes SKLORVRSKLVFKH DOOWDJVSUDNWLVFKH lVWKHWLVFKH PHGLDOH  Ã6SUHFKHQ EHU :HOW6HLQ Wirklichkeit‘ somit zugleich ein Kommentar über die Existenz alternierender Seinsentwürfe, die entweder durch die Markierung der eigenen Aussage als Möglichkeitsform in Rechnung (Konjunktiv) oder aber – sei es von vornherein oder erst im Aussagevollzug 8 | Kirchmann (2006), S. 160. Kay Kirchmann entwickelt die Formen des konjunktiven und indikativen Erzählens anhand des Fernsehens, macht aber in narratologischer Perspektive selbst den Sprung zum Film. Vgl. Kirchmann (2006), S. 160

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– durch die Festlegung eines monothetischen Wirklichkeitsstatus (Indikativ) in Abrede gestellt wird.9

Was an dieser Stelle erneut erscheint, ist die Differenzierung zwischen einem Realen und einem Imaginären, die Freud in der Talking Cure auf eine Eindeutigkeit bezieht. Die therapeutische Formel will genau jene möglichen Welten ausschließen, auf ein ErNHQQHQGHU%LRJUD¿HKLQDXVLQGHUMHGHV'HWDLODXIGLHLQGLNDWLYH(EHQHGHU(U]lKOXQJ bezogen ist. Die Ökonomie zwischen dem Realen und dem Imaginären zielt im Kontext des Films zunächst auf zwei verschiedene Weisen des Erzählens. Klassisches Erzählen […] wäre somit immer ein indikatives Erzählen, indem es die onWLVFKH'LIIHUHQ]YRQ$NWXHOOHPXQG9LUWXHOOHPDXIUHFKWHUKlOWGLHÃSRVVLEOHZRUOGVµDXI HLQH$NWXDOLVLHUXQJKLQUHGX]LHUWXQGGHUJHVWDOWPLWGHPÃ5HDOHQµGHV(U]lKOWHQNXU]schließt. Demgegenüber wäre als konjunktivistisches Erzählen die UHÀH[LYH 7KHPDWLsierung alternativer Selektionsoptionen im Erzählvorgang selbst, und zwar in Gestalt alternativer und zugleich antinomischer Handlungsentwürfe innerhalb einer Narration zu verstehen.10

:DV VLFK VRPLW DXI GHU (EHQH PHGLDOHQ (U]lKOHQV PDQLIHVWLHUW LVW HLQH VSH]L¿VFKH Zurichtung von Erzählung, wie sie sich auf der Ebene individueller Selbstgestaltung VSLHJHOW XQG ZLHGHU¿QGHQ OlVVW 'DV WDWVlFKOLFKH /HEHQ LVW LPPHU VFKRQ GXUFKVHW]W PLWGHP/HEHQZLHHVP|JOLFKZlUH'LH3RWHQWLDOH¿QGHQVLFKDOVPHGLDOH1DUUDtive des Selbst in Szene gesetzt. Jedoch ist durch diese beständige Konfrontation mit dem Möglichen der Status des Gegebenen unsicher geworden: „Das faktische Leben erscheint aus dieser Perspektive in gewisser Weise als bloß hypothetische Existenz, da es immer auch anders sein könnte […]. Wie das Leben auch anders sein könnte, wird medial vorgeführt.“11 Anhand von HITMEN FOR HIRE und dem ästhetischen Abstand zum sozialen Handlungsraum der Littleton Highschool lassen sich die Bilder des Kurz¿OPV]XQlFKVWDOVYLUWXHOOHU*HJHQSDUWDOVP|JOLFKH:HOWLQ'LIIHUHQ]]XHLQHPVR]LDO realisierten Raum greifen. Damit sie sich im sozialen Handlungsraum manifestieren können, braucht es eine Umkodierung der Bilder, ein Scharnier, eine Montageform, die Aktuelles und Virtuelles in Kommunikation treten lässt. Der Status der Potentialität des Bildes muss geändert werden, es kommt zu einer Verschiebung in der Ökonomie zwischen dem Realen – als normierter Raum alltäglicher sozialer Praxis – und dem Imaginären – den Mordfantasien und Inszenierungen der school shooter. Im school shooting ]HLJWVLFKGDQQGLH$XÀ|VXQJGHU*UHQ]H]ZLVFKHQ9LUWXHOOHP und Aktuellem, der Bereich zwischen den Bildern und dem sozialen Handlungsraum wird ununterscheidbar. In dieser Perspektive erscheint BEN X als Film der beständigen 9 | Kirchmann (2006), S. 161 10 | Kirchmann (2006), S. 163 11 | Bublitz (2010), S. 208



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Wahl, weil er den sozialen und aktuellen Raum immer auf die Formen des Imaginären und des Virtuellen bezieht. Ben ist nicht entweder/oder in der virtuellen Welt des Computerspiels, es gibt unendliche Bereiche der Überlappung, Überblendung, Überschattung. Die Bilder auf dieselbe hierarchische Ebene zu legen ist nun selbst noch 7HLOHLQHUVSH]L¿VFKHQ/RJLNGHV(U]lKOHQVGLHVLFKYRQHLQHPNODVVLVFKHQ(U]lKOHQ das im Sinne modaler Logik nur von konkreten Aktualisierungen ausgeht, unterscheidet. Diese Erzähllogik verlegt die Differenz von Aktuellem und Virtuellem, dem Bild und seiner Konkretisierung im sozialen Handlungsraum, mehr und mehr in einen BeUHLFKGHU8QXQWHUVFKHLGEDUNHLWZLHVLFKDQGHUGLDFKURQHQ¿OPLVFKHQ(QWIDOWXQJGHU Amokthematik nachweisen lässt. So erscheint TARGETS als ein Resonanzraum der frühen Inszenierung des Todesschützen in THE SNIPER, erschießt Eddie Miller sein erstes Opfer doch vor ihrem eigenen Bild – einem Plakat, das sie als Barpianistin ankündigt. Mit der Figur Bobby Thompson gerät die Aufteilung zwischen Schein und Sein, dem Charakter und seinem Bild ins Wanken und kann erst THE SNIPER durch den Vertreter der alten Ordnung Byron Orlok, wiederhergestellt werden. Bobby kann während des Duells im Handlungsraum nicht entscheiden, ob er auf die Leinwand, in den Bildraum aus THE TERROR, oder in den sozialen Raum des Autokinos schießen soll. THE BASKETBALL DIARIES lässt den Status der school shooting-Sequenz in der Schwebe zwischen Aktuellem und Virtuellem. Zwar gibt der Film mit dem Bild des einschlafenden Protagonisten Jim Carroll zunächst den Marker schlechthin für eine geträumte Episode, gleichzeitig ist die Verschlingung von Traum und Realität über das Drogenmotiv und die entsprechenden inszenatorischen Motiviken konstitutiver Bestandteil des Weltgewebes, wie es sich in THE BASKETBALL DIARIES entfaltet. Die $XVJHVWHOOWKHLW GHU ,QV]HQLHUXQJ LQ GHU$PRNVHTXHQ] JOHLFKW GHP DUWL¿]LHOOHQ %LOGraum einer früheren Szene, in der Jim Carroll in einer Kirche den Tod eines Freundes betrauert. Diese Szene verlängert sich in den Handlungsraum als Form indikativen Erzählens, aber durch die Gleichheit der Inszenierung von Trauer- und school shootingSzene wird der Status beider Sequenzen unsicher. Vielmehr als eine echte Zuweisung der narrativen Implikationen auf die Eindeutigkeit konjunktivistischer oder indikativer (U]lKOIRUP JHULQQW GHU )LOP GDPLW ]X HLQHU 5HÀH[LRQ EHU GDV 9HUKlOWQLV XQG GLH mögliche oder unmögliche Isolierung der beiden Modi. Die Grenze zwischen dem Realen und dem Imaginären wird eingeebnet und verliert schließlich ihre konstitutive Kraft, bis hin zu NATURAL BORN KILLERS oder MY SUICIDE, wo die Differenz der Ebenen komplett aufgehoben ist.

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Der prägnante Augenblick des Umschwungs, der Aufhebung zwischen den Mächten des indikativen und des konjunktiven Erzählens ist in THE SHINING (Stanley Kubrick, USA 1980) zu sehen. Der amoklaufende Familienvater Jack Torrance wird in die Kühlkammer in der Küche des Overlook-Hotels gesperrt und seine mörderisch-rasende Bewegung unTHE SHINING terbrochen. Befreit wird er von den vermeintlichen Kräften des Virtuellen, dem Hotelangestellten Delbert Grady, der aus der zeitlichen Faltung des Bildraums schlüpft und auf indikativer Ebene Jack aus seinem Gefängnis entlässt. Konsequenterweise verlässt Jack am Ende des Films den indikatiYHQ5DXPXPLP9LUWXHOOHQHLQHU)RWRJUD¿HVHLQHOHW]WH+HLPDW]X¿QGHQ

Die Bilder in Stellung bringen Diese zunehmende Einebnung der Differenz von Aktuellem und Virtuellem auf der Ebene der Inszenierung korreliert mit der Ununterscheidbarkeit der Modi auf Ebene der Selbstinszenierung von school shootern'LH5H]HSWLRQHLQHVVSH]L¿VFKHQ:HUNHV ist zwar ein kontingenter und singulärer Akt und in letzter Instanz liegt es beim Zuschauer, Zuhörer oder Leser, in welche Relation die mediale Erfahrung zum sozialen Leben gesetzt wird. Jedoch zielt im Kontext von school shootings die Frage nach der Rezeptionsleistung nicht – wie in den Überlegungen Rancières zur Ästhetik – pauschal auf das beliebige Individuum, sondern auf die speziellen Praktiken jugendlicher Amokläufer. Dabei ist diese Arbeit am und mit dem Werk, der Transfer inszenatorischer Praktiken auf die Ebene des Handlungsraums, ein prozessuales Element der diachronen Entfaltung des Phänomens school shooting, dessen Geschichte innerhalb der Koordinaten passiver Überwältigung und einer bewusst vorgeführten Verhaltensform positioniert werden kann. „Especially in a modern society mediated by popular culture, these questions [conFHUQLQJWKHWUDQVIHUEHWZHHQ¿FWLRQDQGUHDOLW\@DUHFRPSOLFDWHGE\VSHFWDWRUV¶ORVLQJ track of the distinctions between representation and reality in everyday life“, schreibt David Slocum.12 Doch diese Pathosformel greift eben nicht im Hinblick auf school shooter, die sehr wohl zwischen Fiktion und sozialer Wirklichkeit unterscheiden können.

12 | Slocum (2001), S. 3

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Die Analyse der diachronen Entfaltung GHU¿OPLVFKHQ7KHPDWLVLHUXQJGHV$PRNV macht den Übergang in der Funktionsweise der Kunst für das Handeln der Täter deutlich. „GALA RE-OPENING TONIGHT/ BYRON ORLOK IN PERSON & / ON SCREEN IN THE TERROR“ steht auf dem Schild vor dem Autokino zu lesen, das den Abend der Wiedereröffnung in TARGETS ankündigt. Was sich im anschließenden Shoot-Out zwischen Bobby Thompson und Byron Orlok zeigt, ist die Differenz zwischen der ästhetischen und der repräsentativen Lektüre des sozialen Raums. Bobby Thompson verwechselt das Bild des Schauspielers Orlok auf der Leinwand des Autokinos mit der leibhaftigen Person des Schauspielers Orlok, die YRULKPVWHKW'HUDOWHUQGH+RUURU¿OPGDUsteller ist die Instanz, die die Unterscheidung zwischen Zelluloidbild und sozialer Wirklichkeit, zwischen einer Logik des Ästhetischen und einer Logik des Repräsentativen, wiederherstellen und stabilisieTARGETS ren muss. :DVLQ%RJGDQRYLFKV)LOPDQJHOHJWLVWDEHUQRFKDXIGHQEHU2UORNUHÀHNWLHUWHQ Charakter Bobby Thompson beschränkt bleibt, erfüllt sich in NATURAL BORN KILLERS: Die Differenzierungen zwischen Person und Bild, Image und sozialem Individuum sind komplett aufgehoben. Die Übertretungen der Ebenen werden nicht mehr reduziert DXI HLQH DOV SDWKRORJLVFK ]X NODVVL¿]LHUHQGH )LJXU :lKUHQG TARGETS im Blick der Kamera und der Konfrontation zweier Blickperspektiven die Unterscheidung zwischen Fiktion und Wirklichkeit aufrechterhält, gibt Oliver Stone die Idee einer hierarchischen Gliederung auf und die Wahrnehmung in NATURAL BORN KILLERS korrespondiert so mit dem Blick jugendlicher school shooterGLH¿NWLRQDOH,QKDOWHLQGHQVR]LDOHQ5DXP tragen und die Grenzen zwischen beiden – nur theoretisch zu trennenden – Bereichen ]XP(LQVWXU]EULQJHQ'LHhEHUEOHQGXQJGHU3HUVSHNWLYHQ¿NWLRQDOXQGUHDOLVWLQNATURAL BORN KILLERS nicht Sache einer Figur, sondern der Kamerablick selbst hat diese Wahrnehmung angenommen. Die von Bogdanovich postulierte Ablösung des „old horror“ durch den „new horror“ lässt sich nicht auf einfache Narrateme und Charaktermodellierungen reduzieren, sie bedeutet in diesem Fall eine völlig andere Wahrnehmung der sozialen Welt und der möglichen Relationen zwischen Bild und Wirklichkeit. Orlok bildet zunächst noch die Instanz der Unterscheidung einer repräsentativen Ordnung, in der Kunst und Leben

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klar differenziert werden können. Dagegen spricht Mickey Knox als Figur im sozialmedialen Handlungsraum am Ende von NATURAL BORN KILLERS die ästhetische ForPHODXVÄ)UDQNHQVWHLQW|WHW'U)UDQNHQVWHLQ³'LH¿NWLRQDOHQ9HUPHVVXQJHQGHU:HOW und der Möglichkeiten, in ihr zu handeln, werden bewusst und souverän eingesetzt. Wie Christina Bartz treffend darlegt, ist jenes Moment einer scheinbaren Verwechslung zwischen medialer und sozialer Welt nichts anderes als ein anachronistisches Diskursfragment, das zu einem bestimmten historischen Datum sinnvoll erschien. So kann dem an der Lektüre der Erbauungsliteratur geübten Leser das Moment der FiktioQDOLWlWHQWJHKHQVFKOLH‰OLFKZLUGGLH(UEDXXQJVOLWHUDWXUDXI:DKUKDIWLJNHLWYHUSÀLFKtet. […] Was hier anlässlich einer noch nicht habitualisierten Lektürekonvention des 18. Jahrhunderts als Problem auftritt, wird […] aus seinem historischen und situativen Kontext gelöst und als Bestandteil eines Wissens über Medien allgemein etabliert.13

Der Transfer medialen Erlebens in den sozialen Handlungsraum bildet kein Muster verkennender Lektüre und bildet auch kein Re-Entry historisch-überkommener Praktiken des lesenden oder sehenden Verstehens. School shooter innerhalb dieser Matrix zu verankern, führt nur die alten Unterscheidungen der binären Differenzen zwischen Kunst und Leben wieder ein, die – folgt man Rancière – bereits mit der Romantik ihre Gültigkeit verloren haben. Die konkrete Funktion dessen, was als Kunst publiziert und distribuiert wird, bleibt in jedem Fall allein dem Verstehen des anonymen, individuellen Leser/Zuhörer/Zuseher vorbehalten. Die %LOGJHQHULHUXQJHQWIDOWHWVLFKDOVRQLFKWQXUDXVHLQHUSRGXNWLRQVlVWKHWLVFKGH¿QLHUWHQ Dynamik heraus, sondern auch und gerade durch die Rezeption als einen gleichermaßen dynamisch und gestaltungsaktiv bestimmten Prozess von Aneignung und Verdrängung, des Eindringens und der Aufdeckung, der Enthüllung und Überlagerung und dabei der unablässigen Veränderung durch Projektion und Imagination.14

Kulturelle Inhalte erscheinen in ihrer Bedeutungskonstitution polysemisch, der konkrete Bezugsrahmen, die individuelle Interpretation und Erlebensdimension kann von den Bildern selbst nicht determiniert werden. Gabriele Klein fasst dies prägnant zusammen: „Kulturkonsum ist selbst ein Akt kultureller Produktion.“15

13_%DUW]  6 14_.UJHU  6 15 | Klein (1999), S. 238

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XIII. Shoot-Out

Austin 1966 – San Diego 1979 – Great Barrington 1992 – West Paducah 1997 – JonesERUR±6SULQJ¿HOG±&ROXPELQH±(UIXUW±(PVGHWWHQ± Montreal 2006 – Blacksburg 2007 – Jokla 2007 – Kauhajoki 2008 – Winnenden 2009. School shootings bewegen sich durch die Zeit und über nationale Grenzen hinweg. Durch die Körper der Täter. Sie konfrontieren die Augen und Leiber der Opfer und Zeugen mit Bildern eines entfesselten Krieges, der seine mediale Rahmung verloren hat und den Raum des Sozialen zum Raum der Apokalypse deklariert. Die Rede der Täter verschmilzt divergierende Diskurspartikel zu einem Amalgam der beliebigen Feindschaft, die Schüsse im sozialen Handlungsraum holen ein, was als Bild und Text schon lange inszeniert war. Die Grenzen zwischen Fiktion und dem, was als Wirklichkeit stabilisiert zu sein scheint, werden aufgehoben in Formen der Überblendung und Verunreinigung, deren prägnanteste und klarste Ausdrücke sprachlich kaum zu fassen, dafür aber als Bild in endlosen Variationen ausinszeniert sind. Das Selbstbild der Täter differenziert sich innerhalb der diachronen Entfaltung des Phänomens seit den 1960er Jahren immer stärker: Die Sprachlosigkeit Whitmans transformiert sich in die Formel „going NBK“, mit der Eric Harris und Dylan Klebold anhand von medialen Vorbildern ihr school shooter-Werden gestalten und garantieren. School shootings lassen sich als Form einer sozialen Epidemie beschreiben. Mehr und mehr beginnen sich die Täter aufeinander zu beziehen, Columbine ist der Punkt der Verdichtung, an dem Amokläufe an Schulen endgültig zu einer bewusst vorgeführten Verhaltensform gerinnen. Das Phänomen verbreitet sich global über die medialen Kanäle. Damit lässt es sich in Analogie setzen zu historischen Formen des als psyFKRSDWKRORJLVFKNODVVL¿]LHUWHQ$XVGUXFNV6RZRKOLQGHUPHGLDOHQgIIHQWOLFKNHLWGHV XQG-DKUKXQGHUWVDOVDXFKLQGHUIRWRJUD¿VFKHQ.OLQLN-HDQ0DUWLQ&KDUFRWV verbreitet sich ein vom Sozial-Konsensuellen abweichendes Verhalten über Bilder und deren Rezeption. Das Auge empfängt, was der Körper im Anschluss zu erfüllen hat. In der Salpêtrière setzt der Arzt Charcot am Ende des 19. Jahrhunderts eine Zirkulation YRQ%LOGHUQLQ*DQJGLHGLH*UHQ]H]ZLVFKHQPHGLDOIRWRJUD¿VFKHP%LOGXQGVRPDtischem Leiden außer Kraft setzt, die Hysteriker zu Bildern der Hysterie werden lässt. Innerhalb seiner binären Logik zwischen Real und Fiktional erkennt er – wie später sein Schüler Sigmund Freud – das konstitutive Moment der Selbstmodellierung ent-

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lang von Vorbildern nicht in seinem vollen Umfang an. Die Idee eines Zustandes des Oszillierens zwischen den Polen des Fiktionalen und der sozialen Wirklichkeit bleibt verschlossen. Freud bezieht die Worte seiner Patienten auf die organisch-repräsentative Matrix aristotelischen Erzählens – und damit entgeht ihm die Logik der Ästhetik, die Tendenz der Kunst in die Aufteilung des Sinnlichen, den Raum der gemeinsamen Angelegenheiten, wirkend zu intervenieren. School shooter lassen sich in die Tradition jenes von Jacques Rancière entworfenen ästhetischen Regimes der Künste stellen. Nicht die konkreten Inhalte – die Weltbilder, die die Täter mit ihren Worten kreieren und die nur allzu oft in kruden Mustern einer natürlichen Selektion gerastert sind – sondern die Formen der Montage, der Verknüpfung zwischen medialem und sozialem Bild sind ästhetisch-künstlerischen Praktiken vergleichbar. An school shootings wird das von Rancière postulierte Paradox der Kunst DXJHQIlOOLJ.XQVWXQG/HEHQQlKHUQVLFKLQ¿QLWHVLPDODQXPLQGHU7DW]XYHUVFKPHOzen. Der school shooter wird zum Medium, zum Vermittler zwischen den Welten, der medialen und der sozialen Praxis, überschwemmt den Raum im Sinne eines hysterischen Anfalls mit Bildern, schafft das Spektakel, dessen Schauspieler er ist. Die mediale Selbstinszenierung ist Voraussetzung des späteren school shootings. Bastian Bosse nutzt das Bild als Mittel zur Transformation des eigenen Ichs, indem er sein Bild und Sich-selbst-als-Bild aus dem unmittelbaren sozio-kulturellen und historischen Umfeld herausschneidet. Damit verlässt er die Regeln und Ordnungen, die sich mit dem Ort Emsdetten im Jahre 2006 verbinden und die Gewissheit seiner alltäglichen Existenz. Bosse etabliert eine Subjektposition – sein Ich als Mittelpunkt jeglichen Handelns in seiner Schule –, die ihm innerhalb seines Milieus, in dem er sich sozial isoliert fühlte, verweigert wurde. Dem von ihm als Determination empfundenen gesellschaftlichen Sein entkommt er durch die Flucht in ein alternatives RaumZeit-Gefüge – dem des Videobildes. Damit schließt der school shooter an sein zeitgenössisches mediales Milieu an, koppelt sein Bild an Möglichkeiten des Erlebens und Handelns, die die Bildökonomie in ihrer diachronen Entfaltung hervorgebracht hat. Diese Subjektformation als Bildformation wird spätestens mit dem konkreten AmokODXIDXWKHQWL¿]LHUWGDVKHL‰WHVJLEWNHLQÃKLQWHUµGHQ%LOGHUQ%RVVHQLPPWVLFKDOV %LOGJHJHEHQ'LHPHGLDOSUl¿JXULHUWH*HVWLNLVWNHLQHVFKDXVSLHOHULVFKH'DUVWHOOXQJ sie stellt Wirklichkeit her. Bild und Person liegen auf derselben Ebene von Handlung. Die Spuren, die Bosses school shooter-Werden hinterlässt, sind nicht primär in seinem sozialen Umfeld zu suchen, sondern in seinem medialen. Mit der Selbstinszenierung, dem Ins-Bild-Rücken öffnet sich der Vorstellungs- und Handlungsraum des Emsdettener Schülers. Das Gefühl der Entfremdung und der sozialen Isolation wird – um es gelinde auszudrücken – positiv umgedeutet. Statt Unterlegenheit nun das wahnhafte *HIKOYRQhEHUOHJHQKHLW'LH*RWWlKQOLFKNHLWZLUGDOV7HLOHLQHV6HOEVW¿QGXQJVSUR]HVVHVGHNODPLHUW±DXFKZHQQGLHVHULQSUl¿JXULHUWHQ%DKQHQYHUOlXIWZHLO%RVVHPLW seiner Selbstgestaltung die Muster der Ich-Bildung seiner Vorbilder Eric Harris und Dylan Klebold reinszeniert. Der school shooter wird zu einem Dazwischen, zwischen einer Person und einem Image, das eigene Bild ist aufgehoben an einem utopischen zeitlichen Ort. Es entsteht

S HOOT -O UT

ein unreines Bild, das ohne den Einsatz verschiedener Medien nicht zur Erscheinung gekommen wäre. Die Unsterblichkeit der Taten und des eigenen Bildes bei gleichzeitiger Auslöschung des eigenen Lebens gewährleisten school shooter über Texte und Bilder. Evident wird die Abhängigkeit der school shooter von medialen Vorbildern an Filmen wie NATURAL BORN KILLERS, der vor allem in den Imaginationen und Planungen von Eric Harris und Dylan Klebold eine wesentliche Rolle spielt. Oliver Stone entwickelt seine Geschichte um das Killerpärchen Mickey und Mallory Knox über unendliche Faltungen der Perspektiven und Bilder. Die Images wandern durch die Zeiten, 5lXPHXQG6XEMHNWIRUPDWLRQHQ0LWGHU5H]HSWLRQGHV)LOPVVWHOOWVLFKHLQHVSH]L¿sche Erfahrung von Welt über das Betrachten her. Es sind die multiplen Anschlüsse und (sinnhaften) Bezüge die im Fokus der Montage stehen, das Durchdeklinieren der Subjektformationen und Räume auf den verschiedenen, heterogenen Ebenen von Fiktion und Inszenierung. NATURAL BORN KILLERS setzt damit ein konstitutives Überschreiten XQG9HUVFKOLQJHQGHV¿NWLRQDOHQXQGGHVVR]LDOHQ5DXPVLQ6]HQHNUHLHUW0XVWHUXQG Verfahrensweisen des sozialen Lebens mit und in der Fiktion, eine Matrix des Austauschs, der Kommunikation und Information der ineinander diffundierenden Ebenen. So spielt die Neustrukturierung des Feldes des Sichtbaren – die direkt in die Aufteilung des Sinnlichen eingreift – seit den 1960er Jahren eine entscheidende Rolle in der Ausdifferenzierung des Phänomens school shooting. Der Konstitution und beständigen 1HXUHJXOLHUXQJGHUgNRQRPLHGHV%LOGUDXPV6FKXOHDXIGHU0DNURHEHQH¿OPLVFKHU Inszenierung entspricht eine Vermessung des sozialen Raums Schule auf der Mikroebene individueller school shooter. In jedem Fall gilt: Der schulische Raum muss in einen Schauplatz und schließlich in einen Tatort verwandelt werden, ehe es zu den konkreten Taten kommen kann. 'HU2UWGHU0RUGHZLUG]XQlFKVWLQHLQHQ¿NWLRQDOHQ,QQHQUDXPXPJHDUEHLWHW'Dfür spricht zum einen die Zeitlichkeit der school shootings, die eben keinen spontanen Ausbruch markieren, sondern die Umsetzung eines detaillierten Plans. Auf der anderen Seite stehen bildgebende Verfahren, die den Raum inszenatorisch transformieren und die Grenzen möglicher Handlungen verschieben. Eric Harris und Dylan Klebold GUHKHQYRULKUHP0DVVDNHUGHQ.XU]¿OPHITMEN FOR HIRE, in dem sie die Ereignisse vom 20. April 1999 bereits en Detail durchspielen. Bastian Bosse kreiert Doom-Levels, die seine Schule, die Geschwister-Scholl-Oberschule in Emsdetten, in das Level eines Ego-Shooter-Spiels transferiert. Die medialen Bilder wirken deregulierend in den sozialen Raum hinein, eröffnen Möglichkeiten. Der soziale Raum Schule wird auf diese Weise zu einem transgressiven Raum und die bestehende Aufteilung des Sinnlichen – die normierte und stabilisierte Ordnung – entgrenzt. Als Vorbild kann schließlich nur das mediale Bild fungieren, da die Bilder eines school shootings aus der Bildökonomie der Vor- und Kleinstädte ausgeschlossen sind. Die Deregulation des Bildraums entgrenzt sich im Ereignis school shooting in den sozialen, architektonischen Raum. Jene Überblendung fasst Alexander Kluge mit dem dadaistischen Spiel des Cross-Mappings: „Man versucht mit einer Stadtkarte von Groß-London den Harz zu durchwandern. Das ist in der Kunst ein Gedankenspiel und

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ungefährlich. Wenn sie aber die Literatur verlassen und die Realität betreten, wird Cross-Mapping gefährlich.“1 Jenseits der postulierten Ausdifferenzierung von Fiktion und Realität greift der Dadaismus als historische Avantgardebewegung im Sinne des Paradoxes der Kunst immer schon auf die soziale Wirklichkeit aus. Es sind Schichtungen von Bildräumen, Layers, wie es etwa in BEN X sichtbar wird. Damit stehen die Strategien von school shootern in der Tradition avantgardistischer Techniken wie der Collage. Die Täter weben die heterogenen Elemente in die Homogenität des zu UHDOLVLHUHQGHQ7DWRUWV 6FKXOH HLQ 'LH IUDJPHQWLHUHQGH ÀDFKH +LHUDUFKLH GHU %LOGHU JHZLQQWLQGHU6\QWKHVHOHLVWXQJGHVVSH]L¿VFKHQ%LOGUDXPVHLQHQHXH+RPRJHQLWlW Es sind genuin ästhetische Praxen, Formen der Montage, auf die die school shooter zurückgreifen. School shootings wirken in ihrem Bildgewebe wie die zufällige Begegnung eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf einem Seziertisch, jene von Lautréamont beschriebene Szene, die als paradigmatisches Beispiel für die surrealistischen Strategien fungiert.2 Der Ausdruck in den Selbstinszenierungen der Täter ist hybride, ihr Bild ist das Ergebnis einer Mehrfachbelichtung, einer beständigen Überschreibung und ÜberblenGXQJ ]ZLVFKHQ .|USHU XQG %LOG Ã,FKµ XQG Ã:HOWµ Ã:LUNOLFKHPµ XQG Ã)LNWLRQDOHPµ ]ZLVFKHQKHWHURWURSHQ%LOGXQG'LVNXUVJHÀHFKWHQ'HU5DXPGHVschool shooters ist ZHGHU GHU VR]LDOPDWHULHOOH 5DXP GHV 6FKXOJHElXGHV QRFK GHU ¿NWLRQDOH %LOGUDXP wie ihn die Teenpics seit den 1950er Jahren hervorbringen. Nur wenn man beide überHLQDQGHUOHJWGLHPHGLDOHQ,QVFKULIWHQDXFKDOVVR]LDOH,QVFKULIWHQEHJUHLIW¿QGHWPDQ den Ort des school shooters. Das ist es, was es im Hinblick auf school shooter zu lernen gilt und zu sehen gibt.

1 | Kluge (2002) 2 | Vgl. Mathy (1994), S. 84

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