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German Pages 388 Year 2015
Matthias Uhl Medien – Gehirn – Evolution
Die Reihe »Medienumbrüche« wird herausgegeben von Peter Gendolla.
Matthias Uhl (PD Dr. phil. Dipl. biol.) lehrt Medienwissenschaften an der Universität Siegen und unterrichtet Naturwissenschaften und Ethik an der Freiherrvom-Stein-Schule in Wetzlar. www.matthias-uhl.de
Matthias Uhl
Medien – Gehirn – Evolution Mensch und Medienkultur verstehen. Eine transdisziplinäre Medienanthropologie
Medienumbrüche | Band 43
Der Druck dieser Arbeit wurde gefördert durch die Ludwig Sievers Stiftung, Berlin, die Gabriele Siegel Stiftung, Heidenheim, sowie das Kulturwissenschaftliche Forschungskolleg 615 und das Institut für Medienforschung der Universität Siegen.
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© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Matthias Uhl Lektorat: Matthias Uhl, Georg Rademacher Satz: Matthias Uhl Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1255-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt Dank ............................................................................................................................ 9 Einleitung ................................................................................................................11 Teil 1: Warum wirken Medien? ..........................................................................27 Rezeptionsmodelle ...................................................................................................34 Die Anfänge........................................................................................................35 Konkurrierende Perspektiven...........................................................................38 Empirische Medienwirkungen ................................................................................47 Methodenfragen .................................................................................................49 Untersuchungsgeschichte..................................................................................52 Empirie und Reflexion ......................................................................................60 Anthropologie ...........................................................................................................72 Der Mensch als Bezugspunkt ...........................................................................73 Welche Anthropologie?.....................................................................................75 Anthropologie als integratives Projekt ............................................................82 Teil 2: Der evolvierte Rezipient .........................................................................87 Evolution – Leben als nichtzufälliger Umgang mit der Umwelt........................90 Vom Haushalt des Lebens und seiner Organismen ......................................90 Warum die biologische Vergangenheit hilft die kulturelle Gegenwart zu verstehen ........................................................................................................92 Das biologische Werden der Spezies Mensch ......................................................94 Paläoanthropologie ............................................................................................96 Kognition als Ökonische...................................................................................98 Kultur-Natur: Der kreative Teufelskreis .......................................................101 Intelligenz, Wahrnehmung, Kommunikation .....................................................104 Arttypische Umwelten.....................................................................................106 Die Struktur der Intelligenz ............................................................................111 Lernen und Kommunikation..........................................................................118 Emotionen als handlungsleitende Heuristiken ...................................................123 Medien: Neue Stimulusquellen – alte Verarbeitungsmechanismen...........125 Orientierung in der Welt – gefühlte Entscheidungen .................................133 Die Natur der Aufmerksamkeit ............................................................................136
Teil 3: Der Rahmen der Medien – der sensorisch-neuronale Weltbezug des Menschen ................................................................................. 143 Verarbeitungsmechanismen im Gehirn .............................................................. 145 Neuronale Verarbeitung und Vernetzung .................................................... 148 Funktion, Lokalisation und Plastizität .......................................................... 151 Sinnesorgane als Schnittstellen............................................................................. 154 Schnittstellen .................................................................................................... 155 Repräsentationen ............................................................................................. 157 Von den Sinnen zum Sinn.............................................................................. 159 Vom Sehen der Welt.............................................................................................. 161 Das Auge .......................................................................................................... 162 Mechanismen des Erkennens......................................................................... 166 Lesen, Welterleben und trügerische Gewissheiten...................................... 174 Auditive Verarbeitung ........................................................................................... 180 Reizaufnahme, -leitung und -verarbeitung ................................................... 181 Verstehen.......................................................................................................... 184 Die Konstruktion der (Um)Welt ................................................................... 187 Unterschiede: Nichtmediales und mediales Welterleben.................................. 190 Abgrenzungskonzepte: Realität – Medienrealität ........................................ 191 Verarbeitungskontinuität ................................................................................ 194 Der Mensch: Ready for Media....................................................................... 198 Teil 4: Evolutionäre Medienanthropologie .................................................. 201 Grundlagen der evolutionären Medienanthropologie....................................... 205 1. Kausalität ...................................................................................................... 206 2. Prozessierung ............................................................................................... 209 3. Fokussierung ................................................................................................ 212 4. Erlebniskontinuität...................................................................................... 215 5. Attraktivität .................................................................................................. 217 Übersicht........................................................................................................... 220 Medienerkenntnisse in komplexen Lebenswelten....................................... 220 Evolvierte Informationsverarbeitung und Medienwahrnehmung................... 223 Die limitierte Ressource Kognition............................................................... 223 Die evolutionäre Herausbildung von Präferenzen...................................... 226 Emotionen – die Einfallstraße des Medialen ............................................... 229 Repräsentation und Konzentration – Medien als Superstimuli................. 234
Die (un-)gleichen Geschwister: Information und Unterhaltung......................240 Stimulusdichotomie oder -kontinuum...........................................................240 Information und Unterhaltung als Aspekt der Umweltwahrnehmung.....244 Teil 5: Evolutionär-anthropologische Medienanalyse...............................249 Film...........................................................................................................................251 „Bigger than life“ – Film als Superstimulus..................................................253 Alte Umweltinformationen neu verpackt – Sterben auf der Leinwand....259 Was ist Handlung? – Eine evolutionäre Eingrenzung.......................................265 Veränderung......................................................................................................267 Kausalität...........................................................................................................270 Intentionale Akteure ........................................................................................275 Soziale Interaktionen .......................................................................................280 Emotionalität ....................................................................................................285 Leitmedium Fernsehen ..........................................................................................288 Mainstreaming – Fernsehen als Umwelt .......................................................291 Parasoziale Beziehungen – Soziale Sinnestäuschung...................................294 Die Qual der Wahl mit dem Kanal: Gratifications, Moods und Evolution ...........................................................300 Teil 6: Mediengesellschaften – Kulturelle Vielfalt, technische Innovationen und alte Präferenzen.................................................................307 Transdisziplinäre Medienforschung .....................................................................308 Eine Kultur – viele kulturelle Perspektiven: ein Integrationsmodell.........310 Anthropologie des medialen Menschen ..............................................................314 Medienbürger....................................................................................................317 Die menschliche Gesellschaft in Zeiten der Medien...................................321 Understanding media means/needs understanding man ..................................323 Anhang....................................................................................................................331 Literaturverzeichnis ......................................................................................331 Personenregister ............................................................................................361 Sachregister.....................................................................................................367 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis.....................................................385
Dank Bevor die kommenden Seiten die ungewohnte aber in der Zukunft wahrscheinlich sehr produktive Verbindung von Medienwissenschaften, Evolutions-, Neuro- und Kognitionsforschung aufzeigen, ein paar Worte an die Menschen, die über kurz und lang zum Entstehen dieser Arbeit beigetragen haben. Ohne die beiden Leiter des ehemals am Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg Medienumbrüche der Universität Siegen beheimateten und inzwischen beendeten Projektes Soziale und anthropologische Faktoren der Mediennutzung würde es dieses Buch nicht geben. Prof. Peter M. Hejl und Prof. Manfred Kammer brachten mich als Biologen und Philosophen in die stimulierende Situation, gleichzeitg vor dem Hintergrund Hollywoods in die indische Filmkultur einzutauchen und Medienwirkung und –nutzung aus einer fächerübergreifenden Perspektive neu zu denken. Die im Weiteren folgenden Gedankengänge sind direkte Früchte dieser Tätigkeit und entscheidend durch die kulturenvergleichende Untersuchung von westlichen und indischen Erfolgsfilmen in Siegen geprägt. Danke für diese außergewöhnliche Chance zu lernen und für die gute Zeit. Mein Dank gebührt darüber hinaus allen Angehörigen des Forschungskollegs, die mir durch zahllose Diskussionen halfen, Probleme an der Schnittstelle von Geistes- und Naturwissenschaften klarer zu sehen. Für die stete Unterstützung in allen praktischen Angelegenheiten wie auch für die Hilfe beim Erstellen dieses Buches gilt mein Dank dem Koordinationsbüro des Kollegs. Ebenfalls bedanken möchte ich mich bei den Mitarbeitern des Zentrums für Medienforschung der Universität Siegen, das mir zweitweise Arbeitsplatz war und über Jahre die Möglichkeit bot, meine Ideen an den verschiedensten Ansätzen zur Theorie und Analyse der Medien reifen zu lassen. Die Anfänge meiner Beschäftigung mit dem Grenzgebiet von Geistesund Naturwissenschaften finden sich jedoch anderswo. Ich hatte das Glück meine Ausbildung als Biologe/Philosoph an einem Ort zu absolvieren, an dem der Kontakt zwischen den zwei Kulturen erfolgreich institutionalisiert wurde, in Form des Zentrums für Philosophie und Grundlagen der Wissenschaft der Justus-LiebigUniversität in Gießen. Sichtbarstes Zeichen dafür war für mich, dass ein Philosophieprofessor die Größe hatte, einen in dieser Disziplin erst beginnenden Biologen als Mitarbeiter einzustellen und dessen Entwicklung geduldig zu begleiten und zu fördern. Danke, Prof. Becker. Neben der konzeptuellen Inter-/Transdisziplinarität ist das Zentrum für Philosophie und Grundlagen der Wissenschaft in Gestalt von Prof. Eckart Voland eine Hochburg des evolutionären Denkens. Ein mit ihm zusammen verfasstes Buch über biologische Aspekte der Kommunikation war es, das den Kontakt zur Siegener Projektgruppe schuf und somit am Anfang der hier vorgelegten
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Überlegungen steht. Danke für diese weitreichende Brücke zwischen den Disziplinen. Ein besonderer Dank für die Erweiterung meines medienwissenschaftlichen Wissens gebührt Prof. Keval J. Kumar aus Pune, Indien. Zu einer Zeit, als indischer Film in Deutschland noch eine Terra incognita war, hatte ich das Privileg, unter seiner wissenden Begleitung die Werke und Kultur der größten Filmindustrie dieses Planeten kennenzulernen. Ein Teil dieses Buches wurde am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld geschrieben, wo ich der Forschungsgruppe Embodied Communication in Humans and Machines angehörte. Stellvertretend für die Vielzahl der beteiligten Wissenschaftler geht mein Dank für einen fantastischen Sommer an die Leiter der Forschungsgruppe, Prof. Ipke Wachsmuth und Prof. Günther Knoblich. Dafür, dass diese an der Universität Siegen unter dem Titel „Evolutionäre Medienanthropologie. Eine transdisziplinäre Theorie der Wahrnehmung, Wirkung und Nutzung von Medien“ vorgelegte Habilitationsschrift nun als Buch vorliegt, gebührt mein besonderer Dank der Ludwig-Sievers-Stiftung und der Gabriele Siegel Stiftung, die die Drucklegung dieses Projektes großzügig unterstützt haben. Desweiteren haben es sich sowohl das Kulturwissenschaftliche Forschungskolleg Medienumbrüche als auch das Institut für Medienforschung der Universität Siegen nicht nehmen lassen – neben den schon angeführten großen intellektuellen Beiträgen – die Publikation dieser Arbeit auch finanziell zu unterstützen. Abschließend möchte ich mich bei meiner Familie einschließlich meiner Schwiegermutter bedanken, die meine ständige Abend-, Nacht- und Wochenendarbeit über viele Jahre verständnisvoll ertragen und dabei nie das Vertrauen in mich und mein Projekt verloren hat. Für genau diese Art Vertrauen möchte ich mich auch bei meinen Eltern, Ingrid und Willi Uhl, bedanken, die die Größe hatten, meinen labyrinthisch anmutenden Lebensweg zu unterstützen und mir stets mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Der größte Dank gebürt jedoch meiner Frau Anja, die seit fast zwanzig Jahren die intellektuellen und existenziellen Abenteuer dieses Weges mit mir teilt. Ohne ihre Unterstützung und die beständige Möglichkeit, meine Gedanken mit ihren Augen zu sehen wäre dieses Buch nicht was es ist und ich nicht der, der ich bin. Danke.
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Einleitung Diese Arbeit untersucht, wie die stammesgeschichtliche Entstehung des Gehirns und damit der psychischen Verarbeitungsmechanismen des Menschen unsere Wahrnehmung von und unseren Umgang mit Medien beeinflusst und formt. Dabei geht es nicht darum Kultur und kulturellen Ereignissen mit Simplifizierungen biologistische Gewalt anzutun, sondern um die Erschließung eines bisher nicht genutzten Verstehensmehrwertes. Kein entweder/oder von Kultur und Natur, kein unauflöslicher Gegensatz, sondern ein synergetisch integrierendes Und – dessen Erklärungs- und Erkenntnispotential zu groß ist, um es Disziplingrenzen oder fehlenden Denktraditionen zu opfern – steht im Mittelpunkt meiner Ausführungen. Der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Medien öffnen sich durch den Einbezug der Erkenntnisse aus Evolutions-, Kognitionsund Neurowissenschaften Perspektiven, die – als eine evolutionäre Medienanthropologie – ein besseres Verständnis einer sich rasant medialisierenden Lebenswelt erlauben. Was ist mit einem solchen evolutionär-medienanthropologischen Ansatz gemeint? Wenn ein Mensch diese und die folgenden Zeilen liest, werden bestimmte Regionen seines Gehirns aktiv. Würde man das grau-rosa Gewebe innerhalb der Schädelkapsel dabei mit geeigneten bildgebenden Verfahren quasi belauschen, so könnte man erkennen, wie speziell zwei Bereiche in der linken Gehirnhälfte, das Wernicke- und das Brocazentrum, vermehrt arbeiten. Dieser Aktivitätsschub ist keinesfalls zufällig, da diese Areale für die neuronale Verarbeitung von Grammatik und Semantik zuständig sind. Bildlich gesprochen, werden hier die wahrgenommenen Buchstaben, Wörter, Sätze und die mit diesen verbundenen Bedeutungen verdaut. Betrachtet man den Vorgang des Lesens genauer, erweist sich der auf den ersten Blick befremdliche Begriff der Verdauung als durchaus angemessen. So wie der Magen-Darm-Trakt ausgewählten Teilen unserer Umwelt einen energetisch-physiologischen Nutzen abgewinnt, so generiert unser Gehirn auf der Basis umweltabhängiger, sensorischer Inputs einen – in seiner prominentesten Form als Bewusstsein erscheinenden – informationellen Nutzen. Die funktionale Gleichartigkeit beider Vorgänge verweist dabei auf eine Gemeinsamkeit aller Lebensformen: Magen-Darm-Trakt, Gehirn, alle anderen Organe und die aus diesen bestehenden Lebewesen sind Ergebnisse der Evolution – eines seit mehreren Milliarden Jahren ablaufenden Prozesses der Anpassung von Lebensformen an ihre Umwelt, der sich durch Reproduktion, Mutation und Selektion vollzieht. Auf Grund der unterschiedlich großen Komplexität der dabei entstandenen Strukturen verwundert es nicht, dass die Vorgänge, die im menschlichen Gehirn zwischen In- und Output liegen, bis zum heutigen Tage
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weitaus weniger verstanden sind als andere Funktionen des menschlichen Körpers. Der Begriff Evolution erschöpft sich aber nicht in einem alle Lebensformen verbindenden Verweis auf ferne Vergangenheiten. Als theoretisches Konzept zum Verständnis unterschiedlichster Problemlösungsstrategien lässt sich das Wissen um die spezifischen Mechanismen und Dynamiken dieses Prozesses vielfach nutzen. So bevorzugen Menschen Zucker und Fette als Hauptnahrungsbestandteile, weil diese in der Vergangenheit unserer Art knapp waren – so die relativ unspektakuläre evolutionäre Erklärung dieses alltäglichen Phänomens. Aber auch die Tatsache, dass Menschen die Welt im Gegensatz zu vielen anderen Säugetieren in Farbe sehen, lässt sich konsistent nur im Licht dieser Betrachtungsweise nachvollziehen. Die jüngste wissenschaftliche Entwicklung zu dieser Fragestellung belegt klar, dass eine evolutionäre Betrachtung ein auf Falsifizierbarkeit angelegter faktenbasierter Ansatz ist und kein selbstimmunisierendes Spekulationskonglomerat der Biowissenschaften. Stammesgeschichtliche Rekonstruktionen weisen im Einklang mit speziesvergleichenden Erbgutuntersuchungen darauf hin, dass sich das Farbensehen menschlicher Vorfahren vor ca. 40 Millionen Jahren entwickelte (Nathans 1999).1 Auslöser hierfür waren – so nahm man bisher auf Grund von Rekonstruktionen der Lebensbedingungen an – zum einen die beständig anzutreffende genetische und in der Folge auch morphologische und physiologische Varianz von Nachkommen und zum anderen eine ökologische Nische, in der ein starker Selektionsdruck zugunsten eines Potentials zur visuellen Diskriminierung von Farben wirkte.2 In einem Lebensraum, in dem es strategisch wichtig war, reife Früchte in einem Meer grüner Blätter zu finden, waren farbsensitive Individuen im Vorteil – ein Vorteil, der über differentielle Reproduktion zur allgemeinen und speziesweiten Etablierung dieser Eigenschaft führte. Dieser Erklärung, die auf Kenntnissen des Lebensraums basiert und sehr plausibel klingt, ist in jüngster Vergangenheit ernstzunehmende Konkurrenz erwachsen. Ernst zu nehmen deshalb, weil die alternative Erklärung sehr konkrete empirische Befunde vorweisen kann. Vergleichende Studien an Affen zeigen, dass deren Fähigkeit Farben zu sehen umso besser ist, je mehr nackte Haut die Vertreter einer Art zeigen.3 Dieser Befund deutet darauf hin, dass möglicherweise doch nicht das Erkennen von Früchten der Auslöser für die Entwicklung des Farbensehens war, sondern Erfordernisse der sozialen Kognition. So erlaubt 1
Vgl. Nathans: „The Evolution and Physiology of Human Color Vision“.
2
Vgl. Osaorio u.a.: „Detection of Fruit and the Selection of Primate Visual Pigments for Color Vision“.
3
Vgl. Changizi u.a.: „Bare Skin, Blood and the Evolution of Primate Colour Vision“.
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Einleitung
die Wahrnehmung des Durchblutungszustandes der Haut Rückschlüsse auf das Befinden und die Verfassung eines Individuums sowie dessen mögliche Handlungsweisen. Diese zwei Versionen der Entstehung des Farbensehens erwähne ich, um deutlich zu machen, dass evolutionäre Erklärungen mehr sind als geschickt angelegte Robinsonaden – prinzipiell nicht prüfbare aber wissenschaftlich anmutende Ursprungsmythen (Ketelaar und Ellis 2000). Prüfstein für evolutionäre Erklärungen und methodisches Kriterium zum Ausschluss möglicher kontrafaktischer Spekulationen oder sogar Fiktionen ist die empirische Auseinandersetzung mit theoretisch möglichen Kausalstrukturen. Da es bei der Evolution um die Beschaffenheit und die Auswirkungen biohistorischer Prozesse geht, muss meist – wie im Fall der Farbwahrnehmung – in indirekter, aber deshalb nicht weniger aussagekräftiger Weise, vorgegangen werden. Die Auseinandersetzung mit der Frage, wie die Farbsensitivität Eingang in den Stammbaum der Primaten fand, zeigt aber auch exemplarisch, dass evolutionäre Anpassungen nicht nur die Ursachen des menschlichen Körperbaus sind sondern auch als treibende Kraft hinter der Entstehung des gesamten sensorischen und informationsverarbeitenden Apparates der menschlichen Art stehen. Wer verstehen will, wie Menschen ihre Welt wahrnehmen und in welcher Weise die menschliche Psyche diesen Input in Verhalten umsetzt, kann aus einer an der evolutionären Entstehung des Gehirns orientierten Betrachtungsweise der Medien nur Gewinn ziehen. Bei der wissenschaftlichen Betrachtung dieser vielgestaltigen Phänomene geht es darum, wie Werner Früh mit Blick auf die Fernsehunterhaltung ausführt, dass „alle relevanten Einflussfaktoren, gleichgültig ob psychologischer, physiologischer, sprachwissenschaftlicher, soziologischer oder sonstiger Art einbezogen werden.“4 Zwar darf man angesichts einer sozial und medial hochkomplexen Lebenswelt nicht annehmen, dass ein evolutionär-anthropologischer Ansatz die direkte Beantwortung offener Fragen zur Mensch-Medien-Interaktion nach sich zieht, angesichts der Bedeutung unseres evolutionären Erbes kann man jedoch davon ausgehen, dass theoretische Rekonstruktionen von Kausalstrukturen zu kurz greifen, wenn sie nicht auf die biohistorisch gewachsenen Fundamente des menschlichen Umgangs mit der Welt rekurrieren. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei an dieser Stelle noch einmal angemerkt, dass dieser Ansatz keinen biologistischen Determinismus propagiert, der die menschliche Zivilisation und Kultur deduktiv an gegenwärtiges Wissen über Gene, Neuronen oder physiologische Vorgänge fesselt. Es verhält sich vielmehr so, wie es der amerikanische Neurowissenschaftler Antonio Damasio in einem treffenden Bild gefasst hat: Wir machen „die faszinierende Entde4
Früh: Unterhaltung durch das Fernsehen, S. 84.
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ckung, dass der Schatten unserer entwicklungsgeschichtlichen Vergangenheit noch auf die höchsten und spezifisch menschlichsten Ebenen geistiger Aktivität fällt.“5 Ein Schatten, wohlgemerkt, der sich dem tieferen Verstehen dieser Ebenen als höchst dienlich erweisen kann, ohne auch nur im Ansatz die Gefahr eines deterministischen „reductionism“6 heraufzubeschwören; jener mehr oder weniger dunklen Ahnungen einer drohenden Degradierung des Menschen zum sklavischen Abbild seiner biohistorischer Vergangenheit. Derartige Bedenken zu möglichen epistemischen Nebenwirkungen eines evolutionär-anthropologischen Ansatzes lassen sich auf breiter Front entkräften. So verwandelt, nach Damasio, die Abhängigkeit von niederen Gehirnbereichen die höhere Vernunft nicht in niedere Vernunft. Dass das Handeln nach einem ethischen Grundsatz auf die Beteiligung einfacher Schaltkreise im Inneren des Gehirns angewiesen ist, tut dem ethischen Grundsatz keinen Abbruch. Die Wertordnung bricht nicht zusammen, die Moral ist nicht bedroht, und der Wille des Menschen bleibt sein Wille ...7 Die einzigen Kulturgüter, von denen zu befürchten steht, dass sie einer derartigen Entwicklung zum Opfer fallen, sind unzutreffende Annahmen über die Beschaffenheit der Welt, ihrer Bewohner und deren kausale Wechselwirkungen. Die lange und teilweise vehement geführte Debatte darüber, ob sich der faszinierende Reichtum von Menschen gemachter kultureller Lebenswelten aus natürlichen oder kulturellen Wurzeln speist, erscheint in diesem Zusammenhang als überholt – überholt in einem äußerst produktiven Sinn: Die Fragestellung, ob nature (Natur) oder nurture (Erziehung, individuelle Lernvorgänge) das Fundament der Kultur bilden, hat sich als nicht haltbare Dichotomie erwiesen. In den Diskussionen der letzten Jahre ist sie weitgehend der Auffassung eines nurture through nature, beziehungsweise „Kultur via Natur“8 gewichen. Michael Tomasello beschreibt die Vielschichtigkeit, der alle Analysen gerecht werden müssen: Die heutige Kognition von erwachsenen Menschen ist nicht nur das Ergebnis von genetischen Ereignissen, die über viele Millionen Jahre hinweg in einem evolutionären Zeitraum stattfanden, sondern gleich-
5
Damasio: Descartes Irrtum, S. 14
6
Segerstråle: Defenders of the Truth. The Sociobiology Debate, S. 3.
7
Damasio: Descartes Irrtum, S. 14.; Vgl. auch Ridley: Die Biologie der Tugend.
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Voland: Natur oder Kultur?, S. 50.
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Einleitung
falls das Resultat von kulturellen Ereignissen, die über viele zehntausend Jahre hinweg in einem geschichtlichen Zeitraum auftraten, und von persönlichen Ereignissen, die sich über zehntausende von Stunden hinweg während der Ontogenese abspielten.9 Mit diesem Wechsel von einem letztlich ontologischen entweder/oder von Kultur und Natur zu einem kausal synergetischen Ansatz eröffnet sich der Wissenschaft ein Betätigungsfeld, das erkenntnisgenerierende Potentiale für viele Bereiche des menschlichen Lebens bietet. Diese sowohl theoretisch als auch praktisch bedeutsame Entwicklung verdient vor allem deswegen Beachtung, weil sie eine produktive Verbindung zwischen den meist separat agierenden Disziplinen der Geistes- und Naturwissenschaften ermöglicht und stellenweise schon etabliert hat – eine Verbindung, bei der es vor allem um einen transdisziplinären Gewinn an Weltverständnis geht. In den im Internet zu findenden Reith Lectures der BBC, The emerging mind, aus dem Jahre 2003 hat der Neurologe Vilayanur Ramachandran diese Perspektive speziell für die Kunst in folgenden Worten umschrieben: When I speak of artistic universals I am not denying the enormous role played by culture. Obviously culture plays a tremendous role, otherwise you wouldn’t have different artistic styles – but it doesn’t follow that art is completely idiosyncratic and arbitrary either or that there are no universal laws. Let me put it somewhat differently. Let’s assume that 90% of the variance you see in art is driven by cultural diversity or – more cynically – by just the auctioneer’s hammer, and only 10% by universal laws that are common to all brains. The culturally 90% is what most people already study – it’s called art history. As a scientist what I am interested in is the 10% that is universal – not in the endless variations imposed by cultures. The advantage that I and other scientists have today is that we can now test our conjectures by directly studying the brain empirically.10 Seit Beginn der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, dem offiziellen Jahrzehnt des Gehirns, sind große Fortschritte im Verständnis dieses oberflächlich so unspektakulären Gewebes erzielt worden. Kein anderes Organ unterscheidet den Menschen so sehr von anderen Lebewesen wie dieses. Durch die Entwicklung leistungsfähiger bildgebender Verfahren wurde es möglich, dort ablaufende Stoffwechselvorgänge in hoher räumlicher und zeitlicher Auflösung darzustellen. Genetik und Molekularbiologie haben parallel dazu das Verständ9
Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, S. 250.
10 Ramachandran: „The Emerging Mind, Lecture 3“.
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nis für diese Abläufe immens erweitert. Trotz nach wie vor intensiver Forschung sind wir von einem erschöpfenden Nachvollzug des Geschehens im 100 Milliarden Nervenzellen-Netzwerk Gehirn noch weit entfernt. Erkenntnisgewinne aus jüngster Zeit liefern jedoch gewichtige Einsichten in das hier angelegte Wirkungs- und Wechselwirkungsgeflecht von Mensch und kulturell ausgestalteter Umwelt – Einsichten, die in vielfacher Weise andere Wissenschaftsdisziplinen befruchten können. Der akkumulierte Wissensgewinn der Hirnforschung in den vergangenen Jahrzehnten ging zeitlich einher mit der Entwicklung einer evolutionär basierten Theorie der menschlichen Psyche in der biologischen Anthropologie. In diesem der Hirnforschung vergleichsweise fernen Bereich der Biowissenschaften wurde seit Ende der achtziger Jahre der Evolutionsgedanke konsequent zu einer neuen Sichtweise des Mentalen weiter entwickelt: der evolutionären Psychologie.11 Diese noch relativ junge Theorie erlaubt es, die Vielzahl der Erkenntnisse über menschliches Denken und Handeln über die Grenzen verschiedener Disziplinen hinweg zu integrieren. Grundgedanke ist, dass das Gehirn unserer Spezies eine evolutionäre Antwort auf Probleme der Reizverarbeitung und Handlungssteuerung darstellt, mit denen sich unsere Vorfahren konfrontiert sahen. Der Mensch ist, so führt Edward O. Wilson aus, „a biological species that evolved over millions of years in a biological world, acquiring unprecedented intelligence yet still guided by complex inherited emotions and biased channels of learning.“12 (Wilson 2005a, 49) Die Sichtweise, der Edward O. Wilson hier Ausdruck verleiht, stellt einen grundlegenden Wandel gegenüber der seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts vorherrschenden behavioristisch geprägten Ansicht dar, dass das menschliche Gehirn – gleich einem Computer – eine Allzweck-Informationsverarbeitungsplattform ist. In den letzten Jahrzehnten hat sich gezeigt, dass das menschliche Denkorgan ganz im Gegenteil eine biologische Anpassung an konkrete Probleme darstellt. Das Gehirn, das in den letzten zwei Millionen Jahren auf fast das dreifache seiner Größe anwuchs, muss als modulares Netzwerk von funktionalen Untereinheiten mit relativ spezifischen Funktionen verstanden werden. Einen direkten empirischen Hinweis auf eine derartige Beschaffenheit liefert die transkraniale Magnetfeldstimulation. Dieses Verfahren, bei dem ein starkes Magnetfeld durch den Schädel hindurch auf Teile des arbeitenden Gehirns einwirkt, führt – je nach Ort der Einwirkung – zu höchst selektiven Beeinträchtigungen: So können unter anderem die mathematischen
11 Vgl. Barkow u.a: The adapted mind; Buss: Evolutionary Psychology; Buss: The Handbook of Evolutionary Psychology. 12 Wilson: „Can Biology Do Better than Faith?“, S. 49
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Einleitung
Fähigkeiten13 der die Farbwahrnehmung oder das Erfassen von Bewegungen gestört sein. Dieses modulare Modell kognitiver Mechanismen, die hinter bewussten und unbewussten Gehirnfunktionen stehen, impliziert, dass Menschen der Welt nicht als jenes unbeschriebene Blatt14 entgegentreten, das John Locke einst in seinem An Essay Concerning Human Understanding in ihnen sah.15 Als ein zentraler, wenn auch nicht mehr ganz neuer Beleg dafür, dass dieses Blatt alles andere als leer ist, lässt sich die Sprache anführen: Linguisten wie Steven Pinker gehen im Anschluss an Noam Chomsky 1957 vorgestellte universelle Grammatik16 (Chomsky 1973) davon aus, dass das Erlernen einer Sprache unmöglich wäre, verfügte unser Gehirn nicht über Prädispositionen, die man pointiert am besten als „Sprachinstinkt“17 beschreibt. Individuelle Sprachfähigkeiten sind demnach nicht das Resultat der Interaktionen eines universellen biologischen Lernsystems mit seiner Umwelt, sondern entstehen auf der Basis spezifischer, evolutionär angelegter Lernmechanismen und Kommunikationsdispositionen. Diese verbesserte anthropologisch-wissenschaftliche Sicht des Menschen als Individuum und kollektivem Erzeuger einer hochdifferenzierten Kultur erlaubt der Medienwissenschaft in dreifacher Weise zu partizipieren. Zum einen führt die Integration der Einsichten und Konzepte aus Hirn- und Evolutionsforschung an vielen Stellen zur Erweiterung und Vervollständigung bereits bekannter Kausalstrukturen. Eine Wissenschaft, die sich mit technisch vermittelter Kommunikation und Weltwahrnehmung auseinandersetzt, kann von einem derart expandierenden Blick auf den Rezipienten nur profitieren. Zweitens steht zu erwarten, dass die Aneignung der angeführten Ansätze in vielen Fällen zu neuen Hypothesen und Forschungskonzepten für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem je eigenen Untersuchungsbereich führt. Besonders durch die methodische Erweiterung der empirischen Zugriffsmöglichkeiten auf das zu untersuchende Geschehen, sollte es zu qualitativ neuen Einsichten in die Wechselwirkungsgeflechte der Mediengesellschaft kommen. Drittens, zeichnet sich vor dem Hintergrund dieser expandierenden Erkenntnisbasis eine – mit dem Ziel eines Geistes- und Naturwissenschaften konstruktiv einenden Menschenbildes – transdisziplinäre Kooperation zwischen zuvor weitgehend berührungslosen Wissenschaftsbereichen ab. Die Chance, einen in-
13 Boyer/Barrett: „Domain Specificity and Intuitive Ontology“, S. 111. 14 Vgl. Pinker: Das unbeschriebene Blatt. 15 Vgl. Locke: An Essay Concerning Human Understanding. 16 Vgl. Chomsky: Strukturen der Syntax. 17 Pinker: Der Sprachinstinkt, S. 19ff.
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tellektuellen Bogen von den Semantiken, Dramatiken und Ästhetiken der Medieninhalte zu den evolutionär gewachsenen verarbeitenden Strukturen zu spannen, sollte zu verlockend sein, um sich von den oft beklagten aber selten verlassenen Traditionen von C. P. Snows „zwei Kulturen“18 abschrecken zu lassen. Speziell für anthropologische Fragestellungen, die auf das Verständnis komplexer Erlebens- und Interaktionsphänomene abzielen, ist eine transdisziplinäre Erweiterung des Betrachtungsrahmens unausweichlich.19 Die Medienwissenschaften sind für eine derartige theoretische und forschungspragmatische Kooperation prädestiniert, weil der Gegenstand ihrer Untersuchungen ein hochdynamischer Teil der selbst geschaffenen Umwelt unserer Art ist, der zudem essentiell auf den evolutionär entstandenen kognitiven Fähigkeiten und Dispositionen des Homo sapiens aufbaut. Gebhard Rusch formuliert diese Perspektive so: Wenn wir es also bei Medien mit einem – wie hier nur angedeutet – multiplexen Gegenstand zu tun haben, kann nur ein Ansatz wirklich produktiv sein, der die Konstitutionsbedingungen für Medien, deren Wechselwirkungen und Dynamik im Zusammenhang thematisieren kann. Keine der bekannten Einzelwissenschaften ist dazu allein in der Lage. Eine transdisziplinäre Medienwissenschaft könnte sich dieser Aufgabe stellen.20 Neue Einsichten sind zu erwarten, weil die menschliche Lebenswelt wie nie zuvor von Technologien zum Vermitteln von kommunikativen Botschaften und Angeboten geprägt ist – aber auch, weil neue konzeptionelle und analytische Entwicklungen es erlauben, die Untersuchungen zunehmend auf das menschliche Gehirn und dessen Verarbeitungsmechanismen auszudehnen, wo mediale Unterhaltung und Information letztendlich wirken. Es steht zu erwarten, dass etliche bis heute nur unbefriedigend beantwortete Fragen der Medienwirkung eine über die derzeitigen Erkenntnisgrenzen hinausgehende Analyse erfahren werden. Das Feld der Medienwissenschaft erweitert sich von der Untersuchung verschiedener Medienprodukte und Nutzungsweisen über den demographischen Nachvollzug von Konsummustern zur Analyse der kognitiven Kausalstrukturen, die die Wurzeln des zivilisatorischen Phänomens Medium bilden. So, wie die erwähnte Universalgrammatik der Linguistik neue Horizonte eröffnete, ist diese Entwicklung dazu angetan, das Verständnis
18 Snow: „Die zwei Kulturen“, S. 20. 19 Vgl. Stephan/Walter: Natur und Theorie der Emotion, S. 13; Markowitsch/Welzer: Das autobiographische Gedächtnis, S. 39. 20 Rusch: „Medienwissenschaften als transdisziplinäres Programm“, S. 82.
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Einleitung
menschlicher Kommunikationsfähigkeiten und -potentiale nachhaltig zu verbessern. Der Mehrwert einer transdisziplinären Medienwissenschaft kann als Schritt zu einem umfassenden Verständnis der komplexen Kommunikationsvorgänge innerhalb heutiger Informations- und Mediengesellschaften beschrieben werden – ein intellektueller Schritt der Selbsterkenntnis in einer medial durchdrungenen Gesellschaft. Neben der Herausarbeitung dieser epistemischen Synergien von Medien, Neuro-, Kognitions- und Evolutionswissenschaften besteht der wissenschaftliche Fortschritt – zu dem diese Arbeit beitragen soll – in der systematischen Fokussierung und Weiterentwicklung einer bisher in den Medien- beziehungsweise Geisteswissenschaften weitgehend vernachlässigten Perspektive auf die Nutzung, Produktion und kognitive Verarbeitung umfassende Kausalbeziehung von Mensch und Medien: dem anthropologischen Fundament, auf dem jegliche sozialen und kulturellen Wirkungen und Wechselwirkungen aufbauen. Die Mensch-Medien-Beziehung stellt dabei einen komplexen Untersuchungsgegenstand dar, der aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick genommen werden kann und dessen Verständnis durch eine einseitige Betrachtung – gleich aus welchem Blickwinkel – unvollständig bleiben muss. Die kausale Komplexität von Mensch-Medien-Interaktionen und -Wirkungen lässt sich analytisch, wie Abbildung 1 darstellt, in drei unterschiedliche aber nicht separierbare und intensiv wechselwirkende Großbereiche gliedern: Kultur, Natur und individuelles Lernen und Erfahren. Partiell weitergehende Differenzierungen sind je nach disziplinärem Hintergrund und forschungstheoretischer oder -pragmatischer Ausrichtung seit langem üblich und ebenso sinnvoll wie notwendig. Diese führen jedoch zu keiner Erweiterung des Geflechts der Kausalbeziehungen, sondern lediglich zu einer veränderten Struktur beziehungsweise Gewichtung der verschiedenen Bereiche. Der anthropologische Aspekt der Menschen-Medien-Beziehung wird in dieser Darstellung durch den Begriff der Natur repräsentiert, der für die biologisch bedingten kognitiven Möglichkeiten, Wahrnehmungsweisen und Verarbeitungs- und Verhaltenspräsdispositionen unserer Spezies steht. Kulturelle Wirkmechanismen liegen immer dann vor, wenn Menschen mit den von unserer Spezies geschaffenen Beständen an Wissen, Narrationen, Techniken und Praktiken umgehen. Dies beginnt beim bloßen auf sich wirken lassen und setzt sich fort im zu Eigen machen, modifizieren, neu schaffen und verbreiten. Individuelles Lernen und Erfahren tritt dabei in Form konkreter Inhalte, Rezeptionssituationen und damit zusammenhängender menschlicher Interaktionen auf, die sich vor dem Hintergrund spezifischer ökonomischer und sozialer Lebensbedingungen ereignen. Im Gegensatz zu diesen in der Mediendiskussion durchgängig präsenten Wirkgrößen handelt es sich bei dem für den Umgang mit Medien ebenfalls wichtigen Aspekt der Natur – dem biolo-
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gisch-anthropologischen Faktor – um eine Perspektive, die auf ein Verständnis der evolutionär bedingten und deshalb dem Menschen inhärenten Wirkfaktoren zielt. Kognitive Potentiale, psychische Verarbeitungsmechanismen und Verhaltensdispositionen sind als Ergebnisse einer selektionsbedingten Anpassung an eine spezifische Umwelt entstanden und haben Auswirkungen auf die Wahrnehmung, Nutzung und Wirkungen eines medial geprägten Alltags, weil dessen Verarbeitung und Bewältigung nur mittels dieser stammesgeschichtlich alten Mechanismen erfolgen kann.
Abbildung 1: Der kausale Kontext der Mensch-Medien-Beziehung
Schon diese kurze Charakterisierung der Kultur-, Natur- und Individualanteile der Kausalbeziehung Mensch-Medien macht deutlich, dass es sich trotz dreier distinkter Begriffe nicht um kausal separierte Sphären der Wechselwirkung handelt. Eine disziplinäre Selbstgenügsamkeit, wie sie einst Emil Durkheim für den Bereich des Sozialen sah, der soziale Phänomene nur sozial erklären wollte21 – „die sozialen Tatsachen seien in gewissem Sinn von den Individuen unabhängig und stünden außerhalb des individuellen Bewusstseins“22 – erweist sich angesichts der vorliegenden Komplexität als kontraproduktiv, auch wenn es sehr wohl Fragen gibt, die für eine gehaltvolle Antwort keiner holistischen
21 Vgl. Durkheim: Die Regeln der soziologischen Methode. 22 Durkheim: Soziologie und Philosophie, S. 71.
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Einleitung
Tour de Force über alle Erklärungsebenen bedürfen. Jede dieser drei Betrachtungsweisen vermittelt Zugänge zum Phänomen Medien, die auf unterschiedliche Kausalzusammenhänge ausgerichtet sind und je nach Fragestellung mehr oder weniger – ohne Rückgriff auf die anderen Perspektiven – befriedigende Antworten ermöglichen. In Vergangenheit und Gegenwart wurden und werden kulturell und individualgeschichtlich bedingte Wahrnehmungen und Wirkungen von Medien intensiv untersucht. Die anthropologische Ebene der Mensch-Medien-Beziehung hat dagegen bisher wenig oder keine Beachtung erfahren, vielmehr wurde ihre Existenz implizit oder sogar mit Nachdruck bestritten. Zwei Gründe für diese höchst unterschiedliche Zuwendung sind die Langzeitwirkungen des einst fast monolithischen Forschungsparadigmas Behaviorismus23 und die methodischen Probleme, die mit anthropologisch ausgerichteten Untersuchungen zum Thema Medien verbunden sind. Das Anliegen der vorliegenden Arbeit ist es, den Blick auf die Mechanismen der anthropologischen Ebene der MenschMedien-Beziehung zu lenken und die Zusammenhänge herauszuarbeiten, die zwischen den hier angesiedelten Verarbeitungsprozessen und den traditionell ausschließlich individualgeschichtlich und kulturbedingt gesehenen Wechselwirkungen von Mensch und Medien bestehen. Stark komprimiert lautet die zentrale Aussage dieser Arbeit: Die menschlichen Reaktionen auf mediale Stimuli werden zu einem erheblichen Teil durch das Wirken von stammesgeschichtlich alten, nichtbewussten Verarbeitungsmechanismen bestimmt. Erheblich bedeutet, dass die Berücksichtigung dieser Mechanismen für die Erklärung vieler Phänomene notwendig ist, wenn „ultimate“ Erklärungen mit universellem oder fast universellem Charakter angestrebt werden. Auf Grund der nichtbewussten Verarbeitungsmechanismen tendieren Menschen zu Reaktionen auf mediale Inhalte, die an die Wahrnehmung und Verarbeitung von Ereignissen und Interaktionen in der nichtmedialen Umwelt anschließen. Grund ist die Beschaffenheit der anatomisch subkortikal angesiedelten unbewussten Verarbeitungsmechanismen, die an der Medienwahrnehmung beteiligt sind. Diese wurden evolutionär selektiert, um Handlungsfähigkeit gerade auch unter spärlichen und ungünstigen Stimulusbedingungen herzustellen, und unterscheiden aus diesem Grund nicht zwischen realweltlich und medial bedingten Stimuli – eine Unterscheidung, die als bewusster Akt im Alltag erfolgt, die aber die Wirkungen der kognitiven Automatismen nicht neutralisiert. Aus diesem Grund besitzen mediale Repräsentationen, auch wenn sie bewusst als Erzeugnisse spezifischer Technologien klassifiziert werden können, das Potential – auch im Falle von Fiktionen – starke emotionale Reaktionen und Aufmerksamkeit hervorzurufen. Die Möglichkeit der bewuss23 Wuketits: Die Entdeckung des Verhaltens, S. 103ff.
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ten Distinktion zwischen sonstigen Umweltreizen und medialen Stimuli neutralisiert das Wirken der stammesgeschichtlich alten Verarbeitungsmechanismen nicht, sondern baut darauf auf. Dies führt dazu, dass Menschen solche Typen von Stimuli bevorzugen, die als Bestandteile der direkten Umwelt früher strategisch hochgradig relevant für die eigene Handlungsplanung waren und es heute oft noch sind. Die Konzentration gerade fiktionaler Medieninhalte auf die Themen Partnerwahl und Umgang mit existenziellen Bedrohungen erweist sich vor diesem Hintergrund als das Ergebnis stammesgeschichtlich alter Präferenzen in der Umweltwahrnehmung. Individuen, die derartigen Ereignissen in ihrer Umgebung keine Aufmerksamkeit schenkten, nahmen Informationsdefizite in Kauf und damit strategische Nachteile. Auf Grund der kompetitiv schlechteren Ausrichtung eigener Aktionen und Interaktionen gehören derartig „desinteressierte“ Individuen im statistischen Mittel, wie Manfred Spitzer es formuliert, „nicht zu unseren Vorfahren“24. Die differentielle Reproduktion solch kognitiv unterschiedener Individuen der menschlichen Ahnenreihe führte in der Konsequenz zu inhaltlichen Präferenzen in der Umweltwahrnehmung. Medienprodukte aktivieren diese evolutionär entstandenen Mechanismen zur Aufmerksamkeitssteuerung, indem sie in Form von Repräsentationen jene Stimulustypen offerieren, die in vormedialen Umwelten unausweichlich mit wichtigen Ereignissen verbunden waren. Vor dem Hintergrund dieser kognitiven Kontinuität verbindet diese Arbeit die Erkenntnisse der Medienwissenschaften mit den theoretischen und empirischen Einsichten aus der evolutionären Anthropologie und den Neuround Kognitionswissenschaften. Auf diesem Fundament aufbauend wird eine evolutionäre Medienanthropologie entworfen – als synergetischer Schritt zu einer transdisziplinären Theorie der Mediengesellschaft. Anhand der Bewegtbildmedien werden die Implikationen einer evolutionären Medienanthropologie für eine prominente Unterklasse des medialen Phänomenbereiches näher ausgeführt. Ein kurzer Ausblick auf die sich abzeichnenden Zukunftsperspektiven einer, um eine evolutionär anthropologische Perspektive angereicherten, Medienwissenschaft bildet den Abschluss. In ihrem Vorgehen gliedert sich die vorliegende Arbeit dabei in sechs Teile, die den Gang der Gesamtargumentation strukturieren: Im ersten Teil, Warum wirken Medien?, werden Rezeptionstheorien und -konzepte vorgestellt, die sich parallel zur Entwicklung der Medien im vergangenen Jahrhundert herausgebildet haben. Flankierend hierzu werden die Methoden und Erkenntnisse der Medienwirkungsforschung dargestellt. Daran anschließend unterziehe ich die anthropologischen Hintergründe, die den ver24 Spitzer: Vorsicht Bildschirm!, S. 269.
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Einleitung
schiedenen Ansätzen und Betrachtungsweisen explizit oder implizit zugrunde liegen, einer näheren Analyse – Voraussetzung der Anbahnung einer konstruktiven transdisziplinären Kooperation. Im zweiten Teil, Der evolvierte Rezipient, werden die Fundamente für eine Medienwissenschaft gelegt, die sich in Richtung der Biowissenschaften erweitert. Grundlage ist das Darwinsche Konzept der Evolutionstheorie, die jegliches Lebewesen und damit auch den Menschen als Ergebnis eines historischen Prozesses von selektionsbedingten Anpassungen begreift. Neben einer allgemeinen Darstellung dieses Prozesses, gilt meine besondere Aufmerksamkeit dem stammesgeschichtlichen Werdegang unserer eigenen Art, dem Homo sapiens. Dabei liegt der Fokus der Betrachtungen auf der Frage, in welcher Weise die Wahrnehmungs- und Kommunikationsfähigkeiten und -defizite heute lebender Menschen in vorgeschichtlicher Zeit geformt wurden. Einen besonderen Schwerpunkt lege ich in diesem Zusammenhang auf die Phänomene Emotionen und Aufmerksamkeit, weil auf deren Verhaltensrelevanz die seit langem weltumspannende Industrie der medialen Vermittlung aufbaut. Der dritte Teil, Der Rahmen der Medien – der sensorisch-neuronale Weltbezug des Menschen, richtet den Blick auf das Gehirn, und damit auf das Organ, welches hinter jedem sensorischen und motorischen Umgang mit der Welt steht. Dabei werden einleitend die grundlegenden Eigenschaften jeglicher Sinnesmodalitäten und deren neuronaler Verarbeitung erörtert, um im Weiteren vertiefend auf die für Medienrezeption wichtigen Sinne, Sehen und Hören, einzugehen. Der Schwerpunkt liegt dabei nicht so sehr auf dem jeweiligen Sinnesorgan, das die Welt in einer spezifischen Modalität zugänglich macht, sondern darauf, wie das Gehirn mit dem in Nervensignale gewandelten Input aus diesen Quellen umgeht. Auf dieser Basis wird in der Folge erörtert, inwieweit sich mediales und nichtmediales Welterleben unterscheiden und ob es möglich und sinnvoll ist, eine grundsätzliche klassifikatorische Trennlinie zwischen diesen Bereichen erlebbarer Wirklichkeit zu ziehen. Ein Blick auf die kognitiven Mechanismen, die in beiden Fällen involviert sind, legt nahe, dass die Gemeinsamkeiten in der Prozessierung der eingehenden Reize viel größer sind als es mögliche Distinktionsversuche nahe legen, da es sich um ein System handelt, das funktional auf Handlungsplanung ausgelegt ist. Im vierten Teil, Evolutionäre Medienanthropologie, werden die argumentativen Fäden der vorausgehenden Abschnitte zu fünf zentralen Aussagen einer evolutionären Medienanthropologie zusammen geführt, die als Basis einer konsistenten, transdisziplinären Sichtweise auf die kausalen Beziehungen von Mensch und Medien dienen können. Ausgangspunkt ist die selektive Gerichtetheit der menschlichen Weltzuwendung – Aufmerksamkeit und Interesse als nichtzufällige sensorisch-kognitive Strategien im Umgang mit einer an potentiell verarbeitbaren Reizen überreichen Umwelt. Diesen evolvierten In-
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putpräferenzen wird von Seiten der Medien seit jeher Rechnung getragen, ohne dass das Bestehen dieser auf Stimulusselektion angelegten Wahrnehmung bisher in einer theoretisch konsistenten Weise anthropologisch aufgearbeitet wurde. Die Zusammenschau der dargelegten Erkenntnisse unterschiedlicher Wissenschaftsbereiche ermöglicht das Schließen dieser explikatorischen Lücke – die z. B. dazu führt, dass nicht erklärt wird, warum ein Wesen, das bis zum heutigen Tag als ökonomischer Nutzenoptimierer beschrieben wird, viel Zeit in meist unproduktiver Weise auf den Umgang mit Medien verwendet. Unausweichlich im Rahmen einer konsistent evolutionären Erklärung medialer Phänomene ist dabei eine Betrachtung der klassischen Dichotomie von Information und Unterhaltung. Diese scheinbar so selbstverständliche Teilung erweist sich vor dem Hintergrund der hier entwickelten Theorie als heuristisch-pragmatische Untergliederung eines Erlebniskontinuums – eine Aufteilung, die zwar innerhalb der Medienindustrie seit langem etabliert ist, die aber mit Blick auf die beteiligten kognitiven Mechanismen nicht haltbar ist. Im fünften Teil wird das hier vorgestellte Modell einer evolutionären Medienanthropologie anhand der audiovisuellen Medien näher ausgeführt. Eine Analyse des für mediale Inhalte zentralen Konzepts der Handlung zeigt, dass narrative Strukturen Verarbeitungsmechanismen ansprechen, die für realweltliche Handlungsplanung selektiert wurden. Medien offerieren in Form von Repräsentationen tendenziell jene Typen von Umweltreizen, die in der Prähistorie der menschlichen Spezies wichtig waren. Eine Grundlage hierfür sind die Ergebnisse einer transkulturellen Untersuchung erfolgreicher Filme des Hollywood- und Bollywoodkinos, die es erlauben, Aussagen über universelle menschliche Interessensstrukturen im Bereich der Unterhaltung zu machen. Zentrales Leitmedium der sowohl visuell als auch auditiv stimulierenden Kommunikationstechnologien ist – in seiner kulturellen Dominanz weitgehend uneingeschränkt – nach wie vor das Fernsehen. Mit speziellem Blick auf dessen Konsum hatte Dolf Zillmann in den 1980er Jahren seine Theorie des Mood Managements entworfen25, die das Nutzerverhalten als eine gezielte Instrumentalisierung dieser Stimulusquelle mit dem Ziel einer „excitatory homeostasis“26 darstellt. Die evolutionäre Medienanthropologie erlaubt es, diesen Ansatz in produktiver Weise auszubauen und darüber hinaus eine Reihe von Phänomenen des Fernsehkonsums, wie Mainstreaming und parasoziale Beziehungen, besser zu erklären.
25 Zillmann/Bryant: „Affect, Mood, and Emotion as Determinants of Selective Exposure“, S. 157ff. 26 Zillmann/Bryant: „Affect, Mood, and Emotion as Determinants of Selective Exposure“, S. 186.
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Einleitung
Der sechste und letzte Teil Die Mediengesellschaft – Kultur der Stimulation weitet die Perspektive der hier entworfenen evolutionären Medienanthropologie zu einer Betrachtung der weltweit entstehenden Mediengesellschaft(en). Die in diesem Zusammenhang oft benutzten Begriffe der Informations- oder Wissensgesellschaft gewinnen ein deutlich aussagestärkeres Profil, wenn man sie vor dem Hintergrund der evolutionär entstandenen kognitiven Fähigkeiten der sie konstituierenden Individuen betrachtet. Die aus der evolutionären Genese hervorgegangenen Adaptationen für den Umgang mit für unsere Vorfahren relevanten Stimuli sind das psychisch-kognitive Erbe, auf dessen Fundamenten heutiges menschliches Miteinander beruht, inklusive dessen technologisch vermittelter Anteile. Zum Verständnis aber auch zum Umgang mit dieser komplexen Lebenswelt trägt evolutionäre Medienanthropologie einen wichtigen Teil bei – einen Teil, der auf lange Sicht die Annäherung, Verständigung und gegenseitige Bereicherung von Geistes- und Naturwissenschaften entscheident fördern kann.
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Teil 1: Warum wirken Medien? „The never-ending talk of present times as the Information Age is not necessarily misleading. However, what is usually overlooked is that the monumental capacity to generate, manipulate, and transmit information is likely to serve leisure as much as labor, if not more so.“ (Dolf Zillmann1)
Die Frage, warum Medien wirken, erscheint deplaziert in einer Gesellschaft, die sich spätestens seit den 90er Jahren als Medien- oder Informationsgesellschaft begreift. Die Wirkungen der verschiedensten Formen technisch ermöglichter Kommunikation – Print, TV, Radio, Internet, um nur einige zu nennen – sind scheinbar evident und allgegenwärtig. Die Antwort auf diese Frage scheint offensichtlich: Medien wirken, weil sie interessieren, informieren und unterhalten und das Weltbild und die Handlungen ihrer Nutzer beeinflussen. „Medien“ nehmen, wie Werner Faulstich es formuliert, „in unserer Gesellschaft als dominante Steuerungs- und Orientierungsinstanzen in allen Teilsystemen eine Schlüsselrolle“2 ein. Trotz ihrer Eingängigkeit und offensichtlichen Plausibilität weist diese an der Alltagspsychologie orientierte Antwort, dass Medien auf Grund ihres informativen und unterhaltenden Charakters wirken, eine nicht akzeptable analytische Schwäche auf. Die für die Leistungsfähigkeit jeder Erklärung zentrale Unterscheidung von Ursache und Wirkung verläuft in diesem Fall nicht sauber differenzierend zwischen Medium und Rezipient, sondern wird in den Rezipienten verlagert. Eine korrekte Analyse, ohne die ein produktives Weiterarbeiten nicht möglich ist, muss jedoch lauten: Dass Medien interessieren, informieren und unterhalten ist bereits Teil der Medienwirkung und nicht ihre Ursache! Die subjektiven Zustände, die mit der Nutzung von Medien einhergehen, sind Auswirkungen von jeweils spezifischen Stimulusinputs auf individuelle Rezipienten. Das gesamte Spektrum dieser möglichen Befindlichkeiten, von tödlich gelangweilt bis brennend interessiert oder angeekelt, ist, wenn sie medial induziert sind, Medienwirkung. Wer nur Verhaltens- und Weltbildänderungen der Nutzer als Wirkungen kategorisiert, übersieht mit dem jeweiligen Erleben die unmittelbarste Wirkung. Die zuvor angeführte Antwort auf das Warum der Medienwirkungen bietet somit eine nicht auf den ersten Blick erkennbare Tautologie. Weniger offensichtlich als im klassischen Fall des weißen Pferdes, dessen Farbe darauf zurückgeführt wird, dass es ein Schimmel 1
Zillman: „The Coming of Media Entertainment“, S. 27.
2
Faulstich: Grundwissen Medien, S. 7.
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ist, werden hier unterschiedliche Aspekte rezeptiver Phänomene zum einen als Ursache und zum anderen als Wirkung darstellt. Überraschend an der Frage, warum Medien wirken, ist, dass diese trotz ihrer langen kulturellen und wissenschaftlichen Geschichte fortbesteht, obwohl oder gerade weil Antworten alles andere als rar sind. „Schon Platon (427-347 v. Chr.) riet dazu“, so Klaus Merten, „gewalthaltige Passagen in der Ilias oder der Odyssee des Homer gegenüber Kindern und Jugendlichen zu verschweigen und notfalls sogar zu leugnen – womit er sich, nebenbei gesagt, zum Urvater der Bewahrpädagogik machte.“3 So rät Platon, „dass in den Staat nur der Teil von der Dichtkunst aufzunehmen ist, der Gesänge an die Götter und Loblieder auf treffliche Männer hervorbringt.“4 Dieser Ratschlag beruht implizit auf der Annahme, dass mediale Darstellungen einen schlechten Einfluss auf ihre Nutzer haben können. Vollkommen konträr hierzu ist der nur wenige Jahre jüngere Standpunkt von Platons Schüler Aristoteles: In seinen Augen resultiert aus der Darstellung von moralisch verwerflichen Handlungen nicht nur ein abstoßender, sondern vielmehr ein die Psyche reinigender, kathartischer Effekt, so dass „durch Mitleid und Furcht die Bereinigung solcher Gefühle (Entladung solcher Veranlagungen)“5 bewirkt wird. Diese sich ausschließenden Standpunkte der beiden einflussreichsten Denker der Antike zeigen exemplarisch, dass die heutige Diskussion über die Wirkung von Medien eine lange Tradition besitzt. Der Blick auf die Ursprünge der abendländischen Kultur zeigt jedoch ebenfalls, dass das anhaltende Interesse an möglichen Medienwirkungen sich nicht nur aus reinem Erkenntnisinteresse sondern auch aus praktischen Überlegungen speist: Dem Wunsch, die Einflussfaktoren auf das individuelle oder kollektive Verhalten zu kennen und/oder zu kontrollieren. Klaus Merten bringt dieses Verdachtsmoment auf den Punkt: „Pointiert gesagt, scheint es so etwas wie eine Urfurcht vor den Wirkungen von Kommunikation und deren Medien zu geben.“6 Diese Furcht kann auf zahlreiche Beispiele für negative Medienwirkungen verweisen, die bei weitem nicht ausschließlich Erscheinungen der jüngsten, multimedialen Vergangenheit sind. So führte das Erscheinen von Goethes Sturm-und-Drang-Roman Die Leiden des jungen Werther (1774) zu einer Suizidwelle, deren Akteure in enger Anlehnung an den literarischen Protagonisten Liebesqualen litten und sich schließlich ob
3
Merten: Gewalt durch Gewalt im Fernsehen?, S. 161.
4
Platon: Politeia, 607a.
5
Aristoteles: Poetik 6.
6
Merten: Gewalt durch Gewalt im Fernsehen?, S. 160.
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Teil 1: Warum wirken Medien?
ihrer unerfüllten Hoffnungen das Leben nahmen.7 Auf diesen Modellfall verweisend werden mediale Stimulationen von ansonsten nicht realisierten Handlungsoptionen in der Literatur mit dem griffigen Namen Werther-Effekt beschrieben. Wenn es sich nicht um Personen des Zeitgeschehens handelt, werden Selbstmorde auf Grund dieser Ansteckungsgefahr üblicherweise aus der tagesaktuellen Berichterstattung ausgeschlossen – ein journalistischer Verhaltenskodex8, der nicht nur auf dem angeführten literarischen Beispiel beruht, sondern auch auf deutlich jüngeren Untersuchungen. Diese belegen einen signifikanten Anstieg von Selbstmorden z. B. mittels Eisenbahn, bei entsprechenden medialen Vorlagen.9 Wenn jedoch schon das Handansichlegen eines fiktionalen Charakters im vergleichsweise medienarmen 18. Jahrhundert derartig gravierende Wirkungen hatte, so ist es legitim zu fragen, wie sich die Menge, Beschaffenheit und Intensität der artifiziellen Stimuli einer Mediengesellschaft auf menschliches Handeln auswirken? Eine Zusammenstellung der durchschnittlichen täglichen Mediennutzung in Deutschland im Jahr 2005 zeigt: Spitzenreiter ist das Fernsehen mit 247 Minuten, gefolgt vom Radio mit 226 Minuten, der Gesamtheit der Tonträger mit 45 Minuten, dem Internet mit 34 Minuten, der Tageszeitung mit 30 Minuten, Büchern, denen durchschnittlich 25 Minuten gewidmet werden, 12 Minuten für Zeitschriften-Lektüre und 5 Minuten für Video oder DVD.10 Insgesamt kommen so 624 Minuten Mediennutzung täglich zustande – eine Zeitspanne, die deutlich oberhalb des normalen Schlaf- oder Arbeitspensums liegt. Die Zeitdauer, die Menschen im statistischen Mittel täglich mit Mediennutzung oder -interaktion verbringen, ist zwar betreffend der Inanspruchnahme kognitiver Ressourcen höchst eindrucksvoll, jedoch nicht zwingend bedenklich mit Blick auf mögliche Handlungskonsequenzen. So dienen gerade die Spitzenreiter in der Publikumsgunst – Radio und Fernsehen – als „Hintergrundmedien“11 und so häufig lediglich der Aufwertung des persönlichen Umfelds, während gleichzeitig etwas anderes gemacht wird. Ein Mehr an Medienexposition geht jedoch unausweichlich einher mit einem Mehr an 7
Vgl. Phillips: „The Influence of Suggestion on Suicide“, S. 340ff; Ziegler/Hegerl: „Der Werther-Effekt“, S. 41ff.
8
Deutscher Presserat: Richtlinie 8.5.
9
Vgl. Phillips: „The Influence of Suggestion on Suicide“; Schmidtke/Häfner: „Die Vermittlung von Selbstmordmotivation und Selbstmordhandlung durch fiktive Modelle“; Schmidtke/Häfner: „The Werther effect after television films“.
10 Eimeren/Ridder: „Trends in der Nutzung und Bewertung der Medien 1970 bis 2005“, S. 498ff. 11 Röser: Fragmentierung der Familie durch Medientechnologien?, S. 30.
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potentiell rezipierten Medieninhalten – und damit möglicherweise nicht unerheblichen Wirkungen auf soziale Verhaltensweisen. Als Beispiel sei hier eine frühe Beschreibung der Auswirkungen des Kinos von Albert Hellwig aus dem Jahre 1911 angeführt: Als erste und allgemeinste schädliche Wirkung des Schundfilms möchte ich anführen, dass durch sie bei zahlreichen Personen, namentlich natürlich Jugendlichen, aber auch bei dazu disponierten Erwachsenen, eine verderbliche Trübung des Wirklichkeitssinnes, eine Erweckung phantastischer Vorstellungen, stattfindet, welche durchaus nicht unbedenklich ist, namentlich auch deshalb nicht, weil sie den Keim legt, die Vorbedingungen schafft, welche ein Kriminellwerden des Jugendlichen begünstigen.12 Bei dieser Einschätzung handelt es sich nicht um die allein stehenden Bedenken eines möglicherweise kulturpessimistischen Intellektuellen, das belegt ein Verwaltungsakt drei Jahre zuvor. Als direkte Folge eines Knabenmordes im Kölner Stadtwald verbot der Kölner Polizeipräsident 1908 die Darstellung von Verbrechen im Kinematographentheater.13 Der Vorgang macht deutlich, welches verhaltensbeeinflussende Potential dem noch in seinen Anfängen befindlichen visuellen Massenmedium zugetraut wurde. Diese und ähnliche Vorfälle belegen den in der Alltagspsychologie seit langem sowohl implizit als auch explizit vorhandenen Glauben an die verhaltensrelevante Wirkung der Medien. In der öffentlichen Auseinandersetzung wird diese Kausalannahme jedoch meist nur in Fällen von überdurchschnittlich antisozialen oder gewalttätigen Handlungen als Erklärungsmodell bemüht. An dieser in unregelmäßigen Abständen wiederkehrenden Diskussion fällt auf, dass der immer wieder thematisierte mögliche Zusammenhang von spezifischen Mediennutzungsmustern mit realem Fehlverhalten die Medienpraxis in der Vergangenheit vergleichsweise wenig beeinflusst hat. Grund für diese Diskrepanz sind die widersprüchlichen Antworten auf die Leitfrage dieses Abschnitts: Wie wirken Medien? Mögliche und mitunter nachdrücklich geforderte Veränderungen der Rahmenbedingungen unserer medialisierten Gesellschaft bedürfen eines Verständnisses der kausalen Zusammenhänge. Jegliche potentielle Medienkontrolle zielt auf eine der weltweit inzwischen bedeutendsten Sparten ökonomischen Handelns. Zu volkswirtschaftlichen Einwänden gesellen sich Erwägungen, die ein potentiell restriktives
12 Hellwig: Schundfilms, S. 41, so in: Merten: Gewalt durch Gewalt im Fernsehen?, S. 164. 13 Kunczik: Brutalität aus zweiter Hand, S. 10.
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Teil 1: Warum wirken Medien?
Einwirken auf Medienangebot und -konsum als problematisch für die freie Meinungsäußerung und das demokratische Ideal des mündigen Bürgers sehen. Eine zentrale Schwierigkeit dieser Diskussion ist die kausale Zuordnung. Wann ist ein feststellbares Verhalten das Ergebnis eines bestimmten Medienkonsums? Inwieweit lassen sich Amokläufe von Schülern durch die Hinwendung zu gewaltzentrierten Videospielen erklären oder handelt es sich um eine inverse Verkettung, in der sich Individuen mit vorhandenen negativen Verhaltensdispositionen vermehrt derartigen Angeboten zuwenden? Vertreter der Produzenten und Konsumenten derartiger Medienprodukte verweisen immer wieder darauf, dass der größte Teil der vornehmlich männlichen Jugendlichen, die sich in virtuellen Gewaltszenarien bewegen, nicht nur nie einen Mord begeht, sondern sozial unauffällig ist. Manche Vertreter dieses Standpunktes schließen daraus, dass hier politisch opportun das Freizeitvergnügen einer gesellschaftlichen Gruppe ohne starke Lobby zum Sündenbock gemacht wird. In den folgenden drei Abschnitten wird der Stand, der für diese Diskussion relevanten Theorie- und Forschungsfelder – Rezeptionsmodelle, empirische Medienwirkungen und anthropologisches Menschenbild – dargestellt. Dies ist eine Untergliederung, die zum einen der wechselseitigen Bedingtheit der Begriffe Rechnung trägt und zum anderen die für die vorliegende Fragestellung relevanten Wissenschaftsbereiche darstellt. Rezeptionsmodelle entstanden und entstehen auf der Grundlage von beobachtbaren, vermuteten oder als plausibel erscheinenden Medienwirkungen. Empirische Untersuchungen knüpfen an diese Modelle an und erlauben durch ihre Ergebnisse deren mehr oder weniger umfangreiche Bestätigung, Korrektur oder Infragestellung. Beide Bereiche der Auseinandersetzung mit Medien, sowohl die Untersuchung von Medienwirkungen als auch die Arbeit an Rezeptionsmodellen, stehen in Abhängigkeit von in der Regel nicht explizit formulierten anthropologischen Annahmen. Für das Verhältnis von Medienwissenschaften und Anthropologie bedeutet dies, dass für die partiell überlappenden Objektbereiche Kompatibilität der Aussagen angestrebt werden muss. Die Erklärung des medienbezogenen Verhaltens moderner Menschen kann langfristig nicht im Gegensatz zur anthropologischen Sicht auf deren Denken und Handeln stehen – wobei die Entdeckung eines Widerspruchs nicht automatisch enthüllt, welcher der kontradiktorischen Standpunkte vorzuziehen ist. Das anthropologische Bild des Menschen ist damit sowohl Ergebnis bisheriger disziplinenübergreifender Erkenntnisbemühungen als auch Grundlage für weitere Untersuchungen, die ihrerseits dieses Fundament modifizieren.
Die Dynamik der Wechselbeziehungen zwischen den angeführten Theorie- und Forschungsfeldern resultiert damit aus der unausweichlichen gegen-
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Medien – Gehirn – Evolution
seitigen Bezugnahme dieser Bereiche (siehe Abb. 2). Im Zusammenhang interdisziplinärer Betrachtungen fällt auf, dass der Begriff Anthropologie in den nicht explizit so bezeichneten Diskursen wenig prominent ist. Der Grund für diesen Befund dürfte darin liegen, dass in diesen zumeist auf der Basis impliziter Anthropologien geforscht und kommuniziert wird.
Abbildung 2: Die interdisziplinäre Dynamik von Wirkungsforschung, Theorie und Anthropologie
Rezeptionsmodellen liegen, wie gerade angesprochen, stets für den Medienbereich ausdifferenzierte anthropologische Annahmen über die Fähigkeiten, Grenzen und Rahmenbedingungen menschlicher Kommunikation zugrunde – ganz gleich, ob dieser anthropologische Bezug explizit hergestellt oder implizit gegeben ist. Aus diesen Rezeptionsmodellen lassen sich deshalb Annahmen über das menschliche Verhalten unter realen Bedingungen ableiten. Die beobachtende oder experimentelle Überprüfung dieser Prognosen erlaubt in der Folge die Evaluierung der jeweiligen theoretischen Grundlage. Gerade im Fall von Falsifikationen oder konkurrierenden Modellen wirken experimentell formulierte Fragen an die Welt auf die weitere theoretische Entwicklung.14 Durch empirischen Test von aus Modellen abgeleiteten Hypothesen kann es zur Bestätigung, Weiterentwicklung aber auch zur Widerlegung von Rezeptionsmodellen kommen. Diese Dynamik im theoretischen Nachvollzug realweltlicher Zusammenhänge kann wiederum zurückwirken auf die Anthropologie, die – wie schon erwähnt – oft nur implizit das Fundament jeglicher Mo14 Vgl. Popper: Logik der Forschung, S. 77ff.
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Teil 1: Warum wirken Medien?
dellierung des menschlichen In-der-Medienwelt-Seins bilden. Eine Anthropologie, die dabei den Menschen nicht als unbeschriebenes Blatt a la John Locke15 sieht – wie sie auch im Rahmen dieser Arbeit vertreten wird –, bedingt dabei zusätzlich eine Differenzierung in proximate und ultimate Erklärungen. Erstere erklären beobachtbare Vorgänge durch kontextbezoge Rekonstruktion von Intention und Nutzen, während zweitere die evolutionär entstandenen kognitiven Mechanismen der jeweiligen Verhaltensweisen ins Auge fassen. Der im Weiteren benutzte Medienbegriff bezieht sich auf Medien als technisch ermöglichte Formen der Kommunikation, die insbesondere mit einer „Vergrößerung des Adressatenkreises“16 einher gehen und damit an das „alltagsweltliche Vorverständnis“17 anschließen. Musterbeispiel für die verfolgte Fragestellung sind die Massenmedien als kulturell zentrale Kombinationen aus materiellen Zeichenträgern und Zeichensystemen: „... technische[n] Verbreitungs-, Verarbeitungs- und/oder Speichermedien wie Buchdruck, Radio, Film, Fernsehen, Computer oder Internet.“18 Für den weiteren Fortgang der Überlegungen ist eine intensivere Auseinandersetzung mit der lange und mitunter vehement geführten Debatte um die Definition dieses Begriffs nicht produktiv.19 Für die zentrale Aussage dieser Arbeit – das Fortbestehen und Wirken stammesgeschichtlich alter kognitiver Mechanismen im Kontext moderner Kommunikation – ist zudem der Zuschnitt und Umfang des Medienbegriffs weitgehend unerheblich. Konzeptuell separiert der Medienbegriff einen Teil der stimulatorisch auf den Menschen einwirkenden Umwelt von deren Rest. Diese klassifikatorische Grenzziehung kann dabei durch die Wahl der Kriterien vielfältig variiert werden – gerade durch den spezifischen Einsatz der Begriffe Technologie/Zeichenträger, Repräsentation/Zeichensystem und Kommunikation. Die Perspektive einer evolutionären Medienanthropologie ist nicht von der Verwendung eines speziellen Medienbegriffs abhängig, sondern kann für sehr unterschiedliche Bedeutungen des Begriffs fruchtbar gemacht werden. Der Begriff bezieht sich im Folgenden, wie schon angekündigt, vornehmlich auf den Bereich der Massenkommunikation (Print, Radio, TV) oder deren multimediale Entwicklungen in den vergangenen 15 Jahren (Web, Computerspiele). Mit Blick auf die Rezipienten handelt es sich dabei um einen Ge-
15 Vgl. Locke: An Essay Concerning Human Understanding. 16 Merten: „Evolution der Kommunikation“, S. 150. 17 Spangenberg: „Medienerfahrung – Medienbegriff – Medienwirklichkeit“, S. 85. 18 Sandbothe: „Medien - Kommunikation – Kultur“, S. 258. 19 Vgl. Hoffmann: „Geschichte des Medienbegriffs“.
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brauch, „der Medien sowohl als Informations- beziehungsweise Kommunikationstechnologien wie auch als Sozialisationsinstanzen versteht“20.
Rezeptionsmodelle „Warum ‚opfern‘ die Menschen in den Industrienationen einen Großteil ihrer Freizeit der Zuwendung und der Beschäftigung mit Medien, im speziellen mit medialen Unterhaltungsangeboten, obwohl dies für sie – nach eigener Auskunft – in der Regel weder sinnvoll noch befriedigend ist?“ (Peter Vorderer/Holger Schramm21)
Die Frage, die ein Rezeptionsmodell beantworten soll, lautet: Wie nehmen Menschen Medieninhalte wahr und welche Konsequenzen erwachsen daraus für ihre Weltsicht und ihre Handlungen? Die Beantwortung dieser Frage hat sich dabei im letzten Jahrhundert mehrfach gewandelt. Ging die in den 1930er Jahren beginnende Massenkommunikationsforschung noch von einem passiv den Medien ausgelieferten Nutzer aus, so hat sich dieses Bild über mehrere Zwischenstufen zu dem eines nur bedingt beeinflussbaren, selbst entscheidenden Rezipienten gewandelt.22 Im Folgenden wird zuerst das am Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Medien stehende Stimulus-Response-Modell mit seinen Weiterentwicklungen vorgestellt. Der Produktivität dieses Forschungsbereiches ist es zuzuschreiben, dass daran anschließend nur ausgewählte Stationen der Modellentwicklung angesprochen werden können. Für eine umfassende Diskussion sei auf die umfangreiche Literatur zu dieser Thematik verwiesen.23
20 Groeben: „Medienkompetenz“, S. 30 21 Vorderer/Schramm: „Medienrezeption“, S. 129. 22 Vgl. Gitlin: „Media sociology“, S. 22ff. 23 Bonfadelli: Medienwirkungsforschung I + II; Jäckel: Medienwirkungen; Leffelsend u.a.: „Mediennutzung und Medienwirkung“; Schenk: Medienwirkungsforschung.
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Teil 1: Warum wirken Medien?
Die Anfänge „Wie Karl Popper einmal festgestellt hat, ist nichts so praktisch wie eine gute Theorie.“ (Gebhard Rusch24)
Das klassische Stimulus-Response-Modell (S-R-Modell) sieht die Medien als Technologien, deren Reize zwingend und in gesetzmäßiger Weise Reaktionen hervorrufen. Diesem wirkmächtigen Einfluss kann sich der Rezipient nicht oder lediglich durch Vermeidung der Exposition entziehen. Klaus Merten beschreibt diese initiale Sichtweise der Medienforschung als Übernahme bereits etablierter Paradigmen „aus der Physik (Gesetz des elastischen Stoßes) und Psychologie (Reiz-Reaktions-Theorie)“25. Analog zu Mechanik und Konditionierung wurde der Menschen als Element einer deterministischen Kausalkette gesehen, in der das Medium als Ursache in gesetzmäßiger Regelhaftigkeit Wirkungen beim Rezipienten hervorruft. Gleich physikalischen Gesetzen schien auf diese Weise erklärbar, wie Medien auf Individuen und in der Folge auf die gesamte Gesellschaft wirken: Wann immer ein Stimulus S mittels eines Mediums M auf einen Rezipienten R einwirkt, wird dieser in der Folge ein ganz bestimmtes Verhalten zeigen. Diese starke und starre Verknüpfung der Bestandteile des untersuchten Zusammenhangs führte dazu, dass dieser Ansatz auch als „bullet theory“26 beziehungsweise die Medien als „hypodermic needle“27 bezeichnet wurden, was den Anspruch dieser Sichtweise in griffiger Weise pointiert. Diese weit reichenden Annahmen, bei denen unter anderem der pavlovsche Hund Pate stand28 – möglicherweise auch die von Pudovkin geschilderten Kulesowschen Filmexperimente29 – bedienen sich eines Instrumentariums30, das in anderen Disziplinen die entscheidende Komponente wesentlicher Durchbrüche war. Neben dem mechanischen Weltbild der Physik ist hier besonders die zu dieser Zeit wissenschaftlich prosperierende Strömung des Behaviorismus mit deren Hauptvertretern John B. Watson31 und Burrhus
24 Rusch: „Theoretische Konzepte und Arbeitsfelder“, S. 83. 25 Merten: Gewalt durch Gewalt im Fernsehen?, S. 64. 26 Schramm/Roberts: The Process and Effects of Mass Communication, S. 8. 27 Vorderer/Schramm: Medienrezeption, S. 123. 28 Vgl. Pavlov: Conditioned Reflexes, S. 16ff. 29 Vgl. Pudovkin: Filmtechnik, S 64ff. 30 Vgl. Lasswell: Propaganda Technique in World War I. 31 Vgl. Watson: „Psychology as the Behariorist Views it“.
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F. Skinner32 zu nennen. In diesem Ansatz, der davon ausgeht, dass Menschen über einen universellen Lernmechanismus verfügen33, wird der moderne Mensch als leistungsfähigere Version des pavlowschen Hundes gesehen. So wie jener, nach einer Konditionierungsphase, mit Speichelfluss auf den bloßen Ton der Essensglocke reagiert, agiert der Mensch und entwickelt sich – lediglich im Rahmen eines deutlich komplexeren Umfeldes. Aus dieser Perspektive betrachtet ist der Rezipient ein passiver Spielball der auf ihn einwirkenden Medieneinflüsse. Ein durch automatische und naturgesetzhafte Reaktionen bestimmter Mensch steht damit einer Technologie gegenüber, die durch die Präzision ihrer Stimulusgenerierung dafür prädestiniert ist, auf ihn einzuwirken. Die theoretische Essenz des Stimulus-Response-Modells besteht dabei aus vier Annahmen34: Erstens wird von einer kausalen Struktur ausgegangen, in der Wirkungen auf kommunikative Ursachen zurückgeführt werden. Zweitens wird eine Proportionalität angenommen, die dazu führt, dass die Stärke des Stimulus das Ausmaß der erzielten Wirkung bedingt. Drittens wird im Sinne einer Transitivität davon ausgegangen, dass es zu einem Transfer wirkmächtiger semantischer Inhalte vom Kommunikator zum Rezipienten kommt und viertens wird diesen drei Annahmen ein nomologischer Status zugesprochen, womit deren universelle und gesetzmäßige Gültigkeit postuliert wird. Von dieser theoretischen Basis ausgehend, konnte das Ziel der Medienwissenschaft in ihrer Frühzeit nur die exakte Beschreibung der bestehenden kausalen Verknüpfungen sein. Eindeutige Ursache-Wirkungs-Beziehungen waren zwingender Bestandteil dieses Modells, unklar schien lediglich, wie diese konkret beschaffen sind. Die Schwächen einer behavioristisch ausgerichteten Medienwirkungsforschung wurden jedoch bereits in den späten 1930er Jahren des vorigen Jahrhunderts offensichtlich. Die Studie von Hadley Cantril zur Ausstrahlung des von Orson Wells in Szene gesetzten Hörspiels „Invasion from Mars“ zeigte, dass Rezipienten sich keinesfalls wie Medienvieh von einem Stimulus zu einheitlichen Reaktion treiben lassen.35 Es ist eine moderne Legende, dass alle Hörer – in Verkennung der Fiktionalität – panisch aus ihren Häusern flohen.36 Ein Teil des Publikums „analyzed the internal evidence“37 und kam so zu der
32 Vgl. Skinner: „Two Types of Conditioned Reflex and a Pseudo Type“. 33 Vgl. Skinner: „Are Theories of Learning Necessary“. 34 Vgl. Merten: Gewalt durch Gewalt im Fernsehen?, S. 64f. 35 Vgl. Cantril: The Invasion from Mars, S. 87f. 36 Vgl. Dombrowsky: „Entstehung, Ablauf und Bewältigung von Katastrophen“, S. 169. 37 Cantril: The invasion from Mars, S. 88.
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Überzeugung, dass es sich nicht um dokumentarischen Inhalt handeln könne. Eine weitere Gruppe überprüfte den Status des Gehörten mit Hilfe anderer Radiosender oder des Programms – zum Teil erfolgreich, zum Teil nicht – während lediglich der verbleibende Teil der Hörerschaft, ohne einen Versuch der Infragestellung, von der Realität des Gehörten ausging. Das endgültige Ende einer Sichtweise der Massenkommunikation, die monokausal die Macht der Medien und die Passivität der Rezipienten betonte, kam mit einer Studie unter der Leitung von Paul F. Lazarsfeld im Jahr 1940 anlässlich der US-Präsidentenwahl zwischen Roosevelt und Willkie.38 Die Untersuchung des Wahlverhaltens rund 600 erwachsener Bürger im Kreis Erie County, Ohio, brachte zu Tage, dass Menschen keinesfalls sklavisch imperativischen Botschaften ausgeliefert sind, die ihnen von den Medien übermittelt werden. Vielmehr wurde zum ersten Mal empirisch der Nachweis erbracht, dass Menschen zwar mit Medieninformationen umgehen, diesen aber nicht ausgeliefert sind. Entgegen der zu diesem Zeitpunkt dominierenden Sichtweise wurden nur bescheidene Effekte der Medienwirkung nachgewiesen. Eine Aussage, die aus sechs Befragungen vor der Wahl und einer weiteren nach diesem Ereignis resultierte. Erhoben wurden dabei sowohl das geplante beziehungsweise tatsächliche Wahlverhalten, als auch der Medienkonsum in Form von Radio und Zeitung. In 53 % aller Fälle wurde lediglich die bereits getroffene Entscheidung verstärkt. Bei 14 % der Untersuchten kam es zur Aktivierung latent vorhandener Positionen. Nur 17 % ließen eine unterschiedlich geartete Meinungsänderung erkennen, während bei den verbleibenden 16 % keine Wirkung festzustellen war.39 Das Resultat führte dazu, dass der als sicher gesehene Zusammenhang zwischen medialem Stimulus und Reaktion möglicher Rezipienten hinfällig und zum Erklärungsdesiderat wurde. So schrieb Wilbur Schramm 1972: Indeed, the most dramatic change in general communication theory during the last forty years has been the gradual abandonment of the idea of a passive audience, and its replacement by the concept of a highly active, highly selective audience, manipulating rather than being manipulated by a message – a full partner in the communication process.40 Die wissenschaftliche Antwort auf diesen offensichtlichen Mangel im theoretischen Nachvollzug menschlicher Mediennutzung bestand in einer Erweiterung 38 Lazarsfeld u.a.: Wahlen und Wähler, S. 14ff. 39 Lazarsfeld u.a.: Wahlen und Wähler, S. 141. 40 Schramm: The Process and Effects of Mass Communication, S. 8.
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des Stimulus-Response-Modells zu einem Stimulus-Rezipient-Response-Modell (S-R-R-Modell). Darin wird der Rezipient nicht mehr als passiv ausführendes Element der Kausalkette gesehen, sondern als variable Verbindung zwischen Ursache und Wirkung. Diese Weiterentwicklung des Modells kann als die Entdeckung des Individuums und der vielfältigen Einflüsse, die sein Verhalten bestimmen, in der Medienforschung gesehen werden. Der damit verbundene Verlust des mechanistisch-linearen Zusammenhangs zwischen medialem Input und Verhaltensoutput machte die Frage umso drängender, welche Auswertungs- und Verarbeitungsmechanismen bei der Verbindung der beiden Größen wirken. Die weitere analytische Auseinandersetzung mit diesem komplexeren Untersuchungsgegenstand führte in der Folge zum Einbezug der jeweiligen Rezeptionssituation. Klassifikatorisch konsistent führte diese Erweiterung zum Stimulus-Rezipient-Situation-Response-Modell (S-R-S-R-Modell). Das Aufbrechen der anfangs angenommenen rigiden unidirektionalen Wirkung von Medien auf Menschen führte zu gewichtigen Folgeproblemen: Da der Mensch den Medien nicht mehr sklavisch unterworfen ist, bleibt die Frage: Warum entscheidet sich ein Akteur überhaupt für die Nutzung von Medien? Im Fall des Konsums realweltlich relevanter Information lässt sich dies durch den resultierenden Nutzen erklären. Eine derart plausible Rechtfertigung ist jedoch für einen der wichtigsten Medieninhalte – die Unterhaltung – nicht möglich. Der Nutzer wendet Zeit und Geld für Inhalte mit unklarem Nutzen auf – wobei es grundsätzlich fraglich scheint, ob Nutzen im Sinne von Handlungsrelevanz eine in diesem Zusammenhang adäquate Kategorie ist.
Konkurrierende Perspektiven „... Medienforschung braucht Konzepte dafür, wie Medienangebote aus Kommunikation resultieren und in Kommunikation verarbeitet werden.“ (Siegfried J. Schmidt41)
Eine frühe Erklärung der Nutzung von Unterhaltungsangeboten stellt die Eskapismustheorie dar, deren argumentatives Grundmuster sich schon vor dem Ersten Weltkrieg findet. Dieser Ansatz geht davon aus, dass Nutzer Unterhaltungsangebote als Mittel zur psychischen Flucht aus dem Alltag verwenden. „Die meisten Menschen sind als kleines Maschinenteilchen dem großen wirtschaftlichen Gesamtmechanismus eingegliedert“42, führt Emilie Altenloh mit 41 Schmidt: „Medienwissenschaften im Verhältnis zu Nachbardisziplinen“, S. 62. 42 Altenloh: Zur Sociologie des Kinos, S. 48.
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Blick auf die Besucher der neu entstandenen Kinos aus. Ausgehend von einer derartigen Unfreiheit großer Bevölkerungsteile wird die Motivation für den Besuch der Lichtspielhäuser entweder in einer latent empfundenen Langeweile oder in den prinzipiell entfremdeten Lebens- und Arbeitsbedingungen gesehen. Die Inhalte von Unterhaltungsformaten bieten eine vielfältige Stimulation, die es erlaubt, die sensorisch-emotionale Monotonie des Alltags hinter sich zu lassen. Besonders anzumerken ist im Rahmen dieses Erklärungsansatzes, dass er dem Siegeszug des Fernsehens voraus ging. Primär entwickelt wurde er, um die Wirkung von Radioformaten wie Quiz und Soap-Operas zu erklären.43 Bis hinein in die 1980er Jahre wurde im Zusammenhang mit diesem Modell darüber spekuliert, inwieweit es sich beim Phänomen des Eskapismus um eine Verhaltensweise handelt, die überwiegend durch eine niedrige soziale Position bedingt ist. Umfassendere Untersuchungen über Nutzungsdauer und Gewohnheiten machten jedoch deutlich, dass sich die Intensität der Mediennutzung nicht im Sinne einer sozialen Stratigrafie differenziert. Bei eingehender Analyse erweist sich zudem der zentrale Ursache-Wirkungs-Zusammenhang des Eskapismusmodells als problematisch: die Flucht aus einer öden oder frustrierenden Realität in ein Reich fiktionaler Seligkeiten und Erfüllungen. Wenn ein stimulatorisch ungenügender oder unerfreulicher Alltag die Ursache für den Konsum medialer Unterhaltungsprodukte ist, dann kann im Umkehrschluss dies als Indikator für eine psychische defizitäre Verfassung der Individuen gesehen werden. Jeder, der sich derartigen Angeboten zuwendet, erscheint damit als unterstimuliert, frustriert oder sogar beides – eine Beschreibung der Nutzerschaft, die sowohl von deren Selbsteinschätzung als auch von Untersuchungen zu deren Motiven deutlich abweicht. Eine Generalisierung des von der Eskapismustheorie angenommenen Zusammenhangs ist deshalb nicht möglich, was gleichzeitig die Aufgabe eines allgemeinen nomologischen Erklärungsanspruchs für diese These bedeutet: Nicht alle Menschen, die mediale Unterhaltung konsumieren, fliehen vor ihrem wirklichen Leben! Die generelle Frage nach der Anziehungskraft von fiktionalen Geschichten bleibt bestehen – auch, wenn es Menschen gibt, für die das Dunkel der Vorführsäle oder das Rechteck des Bildschirms sehr wohl ein Fluchtpunkt ist. Als eine Alternative zu diesem letztendlich ungenügenden Erklärungsversuch entwickelte sich ein Ansatz, der in ähnlicher Weise den Schlüssel zum Verständnis des Phänomens Unterhaltung im Alltag lokalisierte. Im Zentrum dieses Entwurfs steht die individuelle Verortung innerhalb der sozialen Stratigrafie. Leon Festinger beschrieb in den 1950er Jahren fiktionale Narrationen 43 Herzog: Professor Quiz, so in Bonfadelli: Medienwirkungsforschung I., S. 170.
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als Möglichkeit, sich selbst mit Anderen zu vergleichen. Diese selbstevaluierende Medienwahrnehmung findet sich in zwei entgegengesetzten Ausprägungen: dem Vergleich mit sozial höher stehenden Individuen (upward comparison) und dem Vergleich mit niedriger gestellten Akteuren (downward comparison). In beiden Fällen wird die eigenen Person mit medial vermittelten Akteuren verglichen. Im Fall des downward comparison vergleicht sich der Rezipient mit einer Figur, die ihm in Bezug auf Status, Besitz und Potential unterlegen ist. Dadurch fühlt er sich in seiner Lebensweise und seinem Handeln bestätigt. Weniger affirmativ, möglicherweise auch frustrierend, fällt dagegen das emotionale Fazit aus, wenn er sich mit Akteuren mit höherer sozialer Position und höherem Status vergleicht. Die Schwäche dieses Ansatzes ist, dass die aus ihm resultierenden zwei Varianten des Mediennutzungsmotivs sich nur sehr unbefriedigend mit dem subjektiven Erleben realer Medienkonsumenten decken und in deren statistisch erfassbarem Verhalten nur schwer nachzuvollziehen sind. Hinter diesem postulierten Mechanismus steht die Vorstellung, dass es sich beim Umgang mit Medien, in diesem Fall speziell dem Fernsehen, um eine Aktivität handelt, die an reale soziale Interaktionen anschließt. Sie findet sich auch in weiteren Erklärungsansätzen. Mit dem Konzept der parasozialen Kommunikation beziehungsweise der parasozialen Beziehung führten Donald Horton und Richard R. Wohl 1956 eine Sichtweise ein, die mediale Akteure mit zwischenmenschlichem Sozialverhalten verband. The most remote and illustrious men are met as if they were in the circle of one's peers; the same is true of a character in a story who comes to life in these media in an especially vivid and arresting way. We propose to call this seeming face-to-face relationship between spectator and performer a para-social relationship.44 Anstatt der realweltlich normalen, bi-direktionalen Interaktionen handelt es sich bei parasozialer Kommunikation um eine unidirektionale Kommunikation. Trotz dieser Reduktion – die Aufmerksamkeit des Rezipienten bezieht sich lediglich auf die mediale Repräsentation einer wirklichen oder fiktionalen Person – werden psychische Verhaltensmuster hervorgerufen, die für den direkten zwischenmenschlichen Umgang typisch sind.45 Der Konsument entwickelt – teilweise im Rahmen regelmäßiger und ritualisierter Rezeption – eine differenzierte Einschätzung von Charakteren und integriert diese in das psychologische Netzwerk seiner sozialen Bezüge. Dieser Vorgang kann dazu führen, dass 44 Horton/Wohl: „Mass communication and parasocial interaction“, S. 215 45 Vgl. Vorderer: Fernsehen als „Beziehungskiste“.
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Familien auf die Begrüßung des Nachrichtensprechers im Chor antworten oder dass Menschen sich angesichts notwendiger Entscheidungen fragen, was dieser oder jener Charakter wohl an ihrer Stelle tun würde. Die durch Medien ermöglichte Wahrnehmung nichtpräsenter Personen kann somit zu deren Integration in den jeweiligen Alltag führen. Das Modell der parasozialen Interaktionen beruht ebenso wie Festingers Konzept des medienvermittelten Sozialvergleichs auf der Annahme, dass Medienkonsum psychische Mechanismen aktiviert, die primär dem nichtmedialen Leben entstammen. Die Chancen für einen derartigen Transfer sozialer Orientierungsleistungen, der schon Mitte des vergangenen Jahrhunderts postuliert wurde, sind auf Grund des technischen Fortschritts deutlich gewachsen. Stephan Schwan und Friedrich W. Hesse konstatieren angesichts dieser Entwicklung: Für das Verstehen hoch realistischer Medien können Mediennutzer/innen auf Grund der Übereinstimmung mit unmittelbaren Wahrnehmungsbedingungen auf medienunspezifische kognitive Verarbeitungsprozesse zurückgreifen.46 Die hier getroffene Feststellung, dass Mediennutzer an ihre alltäglichen Erfahrungs- und Beurteilungsroutinen anknüpfen, stellt die Medien in ein Erlebniskontinuum zur nichtmedialen Lebenswelt. Exemplarisch für den Film, lässt sich dieses Anknüpfen in den Worten Christian Mikundas beschreiben: Die Entscheidung, auf welchen Elementen im Bild die Schärfe liegt, wie Licht und Schatten verteilt sind, welche Einstellungsgröße der Kameramann wählt und ob die Kamera statisch oder bewegt ist, formt das gefilmte Material. Es wird dadurch in unserer Wahrnehmung auf bestimmte Weise vorinterpretiert, quasi verschlüsselt.47 Die explikativen Möglichkeiten einer solchen Verbindung von nichtmedialem Weltbezug und Medienerleben stoßen jedoch genau da an Grenzen, wo schlüssige Erklärungen besonders wünschenswert wären. So ergibt sich für den Konsum von Gewalt- oder Horrorfilmen aus dieser Perspektive keine erhellende Möglichkeit des Nachvollzugs. Wie Peter Winterhoff-Spurk anmerkt, bleibt die Frage offen, warum sich Zuschauer diese Bilder überhaupt ansehen, gelten doch nach allgemeinpsychologischen Befunden… angstauslösende Reize eher als Auslöser für Flucht- und Vermei46 Schwan/Hesse: „Kognitionspsychologische Grundlagen“, S. 80. 47 Mikunda: Kino spüren, S. 15f.
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dungsreaktionen. Offenbar muss es zumindest bei manchen Zuschauern auch ein Nutzungsmotiv geben, das sich aus Angst und dem Vergnügen an dieser Angst konstituiert. Dieses Motiv kann als Angstlust beschrieben werden.48 Die Schwäche des ausdrucksstarken Begriffs Angstlust, der 1959 von dem Psychoanalytiker Michael Balint49 eingeführt wurde, besteht darin, dass er nicht mehr als eine Beschreibung der zu erklärenden Beobachtungen liefert. Medial vermittelte und somit real nicht vorhandene Gefahrensituationen erzeugen eine Lust in Form von Faszination und/oder Unterhaltung. Warum Menschen jedoch psychopathischen Serienkillern oder mordenden Monstern unterschiedlichster Provenienz zusehen, wenn diese auf der Leinwand erscheinen, lässt sich mit dem Term Angstlust zwar beschreiben, aber in keiner Weise erklären. Nichtfiktionale Wahrnehmungen ähnlicher Art im persönlichen Umfeld führen bei der überwiegenden Mehrheit der Rezipienten – aus guten Gründen – zu Fluchtreaktionen. Dieser scheinbar eklatante Verhaltenswiderspruch in unterschiedlichen Lebensbereichen wird jedoch erklärlich, wenn man von einem allgemeinen menschlichen Potential zum Umgang mit sowohl fiktionalen als auch nichtfiktionalen Kausalketten ausgeht. Sich auf Jerome Bruner und dessen „two modes of cognitive functioning“50 beziehend, verweisen Stephan Schwan und Friedrich W. Hesse auf „die narrativen Strukturen, die einer Vielzahl von Medieninhalten zu Grunde liegen“, und die „einen grundlegenden medienunabhängigen Modus der kognitiven Organisation personaler Erfahrungen reflektieren.“51 Das bizarre Verhalten im Zustand der Angstlust – nämlich angesichts eines beängstigenden Stimulus nicht zu flüchten – wird auf diese Weise schlüssig mit nichtmedial bedingten Verhaltensweisen verknüpft. Entscheidend ist, dass eine medienunabhängige allgemeinmenschliche Fähigkeit angenommen wird, mit Narrationen umzugehen. Auf eine solche Fähigkeit lässt auch die Machart von Medienprodukten schließen. So werden Filme, wie es Peter Ohler und Gerhild Nieding ausführen, „nicht als eine mediale Abbildung von Gegebenheiten in der Welt konzipiert, sondern eher als ein multiples Zeichensystem zum Zweck des Erzählens von Geschichten.“52 „Darüber hinaus“, so führen Schwan und Hesse aus, „sind massenmediale Inhalte häufig so inszeniert, dass sie den Zuschauer/die Zuschauerin nicht direkt adressieren,
48 Winterhoff-Spurk: Medienpsychologie, S. 75. 49 Balint: Angstlust und Regression, S. 17ff. 50 Brunner: Actual Minds, Possible Worlds, S. 11. 51 Schwan/Hesse: „Kognitionspsychologische Grundlagen“, S. 81. 52 Ohler/Nieding: „Kognitive Filmpsychologie zwischen 1990 und 2000“, S. 11.
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wie dies bei interpersonaler Kommunikation der Fall ist, sondern ihm die Illusion einer unmittelbaren Zeugenschaft vermitteln.“53 Im Rahmen des wissenschaftlichen Nachvollzugs von Medienrezeption beherrscht das angesprochene Phänomen – Wahrnehmung fiktionaler Gewaltdarstellungen – die öffentliche Diskussion. Medienpädagogisch und -politisch wird immer wieder diskutiert, wie sich der Konsum medialer Gewaltdarstellungen auf Menschen, besonders auf Heranwachsende auswirkt. Die Frage, wie diese Inhalte rezipiert werden, steht in direktem Zusammenhang mit jener nach den möglichen, zu erwartenden oder auch auszuschließenden Auswirkungen. Dem Rezeptionsmodell kommt dabei die Aufgabe zu, eine schlüssige kausale Verbindung zwischen dem medialen Input und dem als Verhalten sichtbaren Output eines Wirk- oder Verarbeitungsprozesses herzustellen. Es sind speziell die Bildschirmmedien, allen voran das Fernsehen, die als mögliche wirkmächtige Einflussgrößen auf menschliches Verhalten im Gespräch sind.54 Gründe hierfür sind sowohl die schon angeführten hohen Expositionszeiten als auch die sensorische Reichhaltigkeit im Vergleich zu anderen Medien. Es gibt mehrere Ansätze, die speziell die Frage zu beantworten suchen, wie sich rezipierte Gewaltdarstellungen auf menschliches Verhalten auswirken. So nahm Leonard Berkowitz in den 1960er Jahren des vorigen Jahrhunderts55 die schon früher geäußerte These auf, dass aggressive Verhaltensweisen als „frustration reactions“56 entstehen können. Bei dieser Ausgangslage bestünde die Möglichkeit, dass medialer Input ansonsten nie zutage tretendes Verhalten provozieren könne. Diese Annahme wird auch als Stimulationsthese bezeichnet. Dabei ist wichtig, dass die Medien nicht die eigentliche Ursache des devianten Verhaltens sind sondern lediglich dessen Auslöser. Verhaltensoptionen, die ohne einen derartigen Einfluss nicht realisiert würden, werden auf Grund der medialen Stimulation in die Tat umgesetzt. Ein weiterer Ansatz, sich möglichen Auswirkungen medialer Gewalt theoretisch zu nähern, ist die auf George Gerbner zurückgehende Kultivierungshypothese: Sie geht davon aus, dass intensiver Fernsehkonsum unbewusste Lernvorgänge auslöst, die langfristig und tief greifend den Nutzer verändern. Gerbner wies in diesem Zusammenhang auf die zentrale und gerade deshalb problematische Rolle dieses Mediums im Rahmen US-amerikanischer Sozialisation hin. Durch den Vorgang der Kultivierung komme es dazu, dass sich das Weltbild des Rezipienten nicht mehr auf die ihn umgebende reale Welt bezie53 Schwan/Hesse: „Kognitionspsychologische Grundlagen“, S. 82. 54 Vgl. Postmann: Wir amüsieren uns zu Tode; Spitzer: Vorsicht Bildschirm!; Winterhoff-Spurk: Kalte Herzen. 55 Vgl. Berkowitz: „The Frustration-Aggression Hypothesis Revisited“. 56 Berkowitz: „Frustration-Aggression Hypothesis“, S. 71.
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he, sondern auf die von ihm wahrgenommenen medialen Inhalte. Eine dadurch verschobene Sicht befördere die Wahl dezidiert aggressiver Verhaltensweisen. Flankiert wird diese Annahme George Gerbners57 von einer weiteren These, die einen Vorgang namens Mainstreaming postuliert. In gleicher Weise wird dabei davon ausgegangen, dass gerade das Fernsehen das Weltbild seiner Konsumenten fundamental forme und es sich dabei um einen dosisabhängigen Effekt handele. Dies führe dazu, dass Vielseher unterschiedlichster sozialer Herkunft sich in ihren Meinungen und Ansichten mehr ähnelten als vergleichbare Menschen, die wenig oder keine Zeit vor dem Bildschirm verbringen. Es gibt jedoch auch Experten, die einer derart wirkmächtigen Beurteilung des Medieneinflusses skeptisch gegenüber stehen. Die soziale Lerntheorie vertritt in diesem Zusammenhang die so genannte Ambivalenzthese. Albert Bandura führt aus, der Konsum von mit Gewalthandlungen befrachteten Medieninhalten sei weder eine hinreichende noch eine notwendige Bedingung für aggressives Verhalten.58 In welcher Weise Inhalte sich auf das Verhalten ihrer Rezipienten auswirkten, hänge vielmehr von den erlernten Umgangsweisen mit Stimuli dieses Typs ab. Dieser Erklärungsansatz und die vorherigen unterscheiden sich darin, dass die Lerntheorie nicht davon ausgeht, dass vorhandene Verhaltensdispositionen bedient werden. Die zentrale Annahme ist vielmehr, dass Dispositionen, die menschliche Reaktionen auf Medienstimuli formen, zur Gänze während der individuellen Entwicklung – der Ontogenese – erworben werden. Diese kognitive Plastizität erlaubt ein breites Spektrum von möglichen Reaktionsmustern und Umgangsweisen, die bei entsprechenden Rahmenbedingungen alle in gleicher Weise möglich sind. Neben den Wirkungen möglicher Sanktionen oder Nutzeffekte, wird in diesem Ansatz speziell das Lernen am Modell, in den Mittelpunkt gerückt. Die Präsentation von Modellpersonen (auch in den Medien) liefert den Rezipienten/in/en die Möglichkeit, Wissen, Fähigkeiten und spezifische Verhaltensweisen durch Beobachtung zu erwerben.59 Auch die Katharsisthese des Aristoteles60 findet sich nach wie vor in der Diskussion. Während andere Ansätze von negativen Wirkungen auf die Psyche des Rezipienten ausgehen, erscheint aus dieser Perspektive das Medium als Ventil, das es erlaubt, mit diesen potentiell negativen inneren Zuständen fertig 57 Vgl. Gerbner u.a.: „The ‘Mainstreaming’ of America“. 58 Bandura: Social Learning Theory. 59 Leffelsend u.a.: „Mediennutzung und Medienwirkung“, S. 62. 60 Aristoteles: Poetik, 6.
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zu werden und die aus anderen Gründen entstandenen Erregungszustände und Handlungsneigungen wieder zu beruhigen. So schreibt Jib Fowles: „By having television entertainment with adequate sex and violence, Americans are nightly able to empty their subconscious; aggressive fantasies produce tranquil minds.“61 Dabei wird ein invers reziproker Zusammenhang zwischen medialem Gewaltkonsum und der Neigung zu gewalttätigem Verhalten postuliert. Als neuzeitliche Gewährsmänner dieser Sichtweise werden Sigmund Freud62 und Konrad Lorenz63 angeführt. Das Konzept der medial bedingten Katharsis wird dabei im Einklang mit deren triebtheoretischen Ansätzen gesehen. So wichtig die Frage ist, wie Medien wahrgenommen und verarbeitet werden, so wichtig ist die damit verbundene Fragestellung, warum Menschen überhaupt Medien nutzen? Was sind die Motive für dieses Verhalten? Bei Peter Winterhoff-Spurk findet sich eine kompakte Zusammenstellung möglicher Beweggründe, wobei auf deutliche Unterschiede, je nach Methodik und Erhebungsweise, hingewiesen wird: Greenberg (1973) beispielsweise geht von acht Motivationsdimensionen aus: Entspannung, Geselligkeit, Information, Gewohnheit, Zeitfüller, Selbstfindung, Spannung und Eskapismus. Lometti, Reeves und Bybee (1977) ermitteln die drei Dimensionen Kontrolle der Umwelt/Unterhaltung, affektive Unterstützung und Verhaltenshinweise. Rubin (1981) findet durch Clusteranalysen neun Motivgruppen, die er Gewohnheit/Zeitvertreib, Sozialkontakte, Anregung, Interesse an spezifischen Sendungen, Entspannung, Information, Eskapismus, Unterhaltung und soziale Interaktion nennt. McQuail (1983) führt das Informationsbedürfnis, das Bedürfnis nach persönlicher Identität, das Bedürfnis nach Integration und sozialer Interaktion sowie das Unterhaltungsbedürfnis an. In einem Übersichtsartikel fassen Roberts und Bachen (1981) folgende Liste von Merkmalen zusammen, die in der Forschungsliteratur zum Thema bereits gefunden wurden: ‚Surveillance, excitement, reinforcement, guidance, anticipated communication, relaxation, alienation, information acquisition, interpretation, tension reduction, social integration, social and parasocial interaction, entertainment, affective guidance, behavioral guidance, social contact, self and personal identity, reassurance, escape and so on …‘“64
61 Fowles: Why viewers watch, S. 244. 62 Freud: „Das Ich und das Es“, S. 246ff. 63 Lorenz: Die Rückseite des Spiegels, S. 79ff. 64 Winterhoff-Spurk: Medienpsychologie, S. 49.
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Eine Schwierigkeit dieser Fragestellung ist die implizite Annahme bewusster Motive. Es gibt aber keine Gewissheit darüber, ob die psychischen Mechanismen, die in Zusammenhang mit einem derartigen Verhalten stehen, durchgängig bewusst sind und introspektiv erschlossen werden können? Dolf Zillmann wies in den 1980er Jahren auf diese Schwäche hin. Menschen wählen nicht in einem durchgängig dem Bewusstsein transparenten Prozess aus den möglichen Medienangeboten aus, sondern bauen dabei auch auf automatische Verarbeitungsprozesse, die er als Mood Management65 beschrieb. Der Prototyp eines in dieser Weise agierenden Rezipienten ist der mit Fernbedienung ausgerüstete Fernsehzuschauer, der so lange durch die Kanäle wandert, bis er auf ein Angebot stößt, welches den von ihm erwünschten Erregungs- und Emotionszustand hervorruft – „…what mode of media entertainment cheers them up or relaxes them…“66 Die Auswahl medialer Inhalte dient einer individuellen und durchaus auch kurzfristigen Modifizierung des eigenen Erlebens und Befindens. Alle angeführten Ansätze sind mit einer ökonomischen Haushaltstheorie und dem daraus folgenden Schluss einer „optimalen Allokation des begrenzten Gutes Zeit“67 kompatibel. Das Wort optimal wird dabei nicht nur im Sinne eines direkten wirtschaftlichen Nutzens verstanden, sondern bedeutet, dass monetäre und emotionale Resultate von Tätigkeiten gegeneinander abgewogen werden. An dieser Stelle setzt ein Ansatz ein, dessen Fokus auf den individuellen Unterschieden möglicher Rezipienten liegt. Menschen sind verschieden, und verschiedene Menschen entscheiden sich für unterschiedliche Medieninhalte. Wäre dies nicht so, dann hätte es unter anderem nach der Etablierung der ersten Fernsehsender keinen Grund für die weitere Differenzierung des Angebots gegeben. Der Nutzenansatz, im englischsprachigen Raum als Uses-andGratifications bezeichnet, analysiert Mediennutzungen auf Bedürfnisse, Nutzeraktivitäten, Bedürfnisbefriedigung bzw. sonstige Folgen hin. Durch das Erfassen individueller Motivationen, Handlungsmuster und daran anschließender Auswirkungen auf den Nutzer lassen sich unterschiedliche Verhaltensweisen aus einer „publikumszentrierte[n] Perspektive“68 nachvollziehen. Die Schwachstelle des Nutzenansatzes ist, dass er sowohl beim Erfassen der Nutzungsmotivation als auch bei der Bewertung der sich einstellenden Ef65 Vgl. Zillmann: „Mood Management“; „Mood Management Through Communication Choices“. 66 Cooper-Chen: Global Entertainment Media, S. 4. 67 Jegen/Frey: „TV-Konsum und Rationalität“, S. 151. 68 Rubin: „Die Uses-And-Gratifications-Perspektive der Medienwirkung“, S. 137; vgl. Blumler/Katz: The Uses of Mass Communications.
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fekte auf die Äußerungen der untersuchten Personen angewiesen ist. Dabei wird davon ausgegangen, „dass die Rezipienten über ihre Motive wahrheitsgemäß Auskunft geben, was aber voraussetzt, dass sie dazu überhaupt in der Lage sind, d. h. sie müssen sich ihrer Bedürfnisse in der Mediensituation überhaupt bewusst sein.“69 Mit dieser Annahme steht auch der Nutzenansatz in der Tradition einer ökonomischen Sichtweise des Menschen als bewusstem Entscheider – rational choice –, deren analytisches Instrumentarium für implizite Motive jedoch nicht ausgelegt ist.
Empirische Medienwirkungen „James Reston schrieb in der ‚New York Times‘ vom 7. Juli 1957: ‚Ein Direktor des Gesundheitsdienstes … berichtete diese Woche, dass eine kleine Maus, die vermutlich ferngesehen hatte, ein kleines Mädchen und eine ausgewachsenen Katze angegriffen habe … Katze und Maus blieben beide am Leben, und der Vorfall wird hier erwähnt, um daran zu erinnern, dass manche Dinge sich zu ändern scheinen. ‘“ (Marshall McLuhan70)
Medien wirken auf Menschen, diese Überzeugung wird seit Jahrtausenden von unterschiedlichsten Akteuren vertreten. Jede Zensur – so unterschiedlich die zugrunde liegenden Abwägungen sein mögen – ist ein politischer Ausdruck der Überzeugung, dass Medieninhalte das Denken und die daraus resultierenden Handlungsweisen von Menschen beeinflussen. Auch in literarischen Quellen lässt sich dieser Glaube an die Macht der Medien belegen. So verweisen Lukesch und Mitarbeiter auf eine Stelle in Dantes göttlicher Komödie71 – geschrieben in den Jahren 1307 bis 1320 – in der es zum Ehebruch kommt. Grund hierfür ist eine gemeinsame Lektüre der Lancelot-Sage, die gleichzeitig verwirrend und stimulierend auf die „unverdächtig“72 zusammengekommene Leserschaft aus Mann und Frau wirkt. Die Schuldfrage wird knapp beantwortet: „Verführer war das Buch und der ’s geschrieben“73.
69 Bonfadelli: Medienwirkungsforschung I, S. 174. 70 McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 15. 71 Lukesch: Das Weltbild des Fernsehens, S. 18. 72 Dante: Inferno, V, 129. 73 Dante: Inferno, V, 137.
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Im Sinne kausaler Zusammenhänge ist jedes Rezeptionsmodell ein Versuch, den archimedischen Punkt zu bestimmen, der Medieninhalte und deren Wirkungen verbindet. Ein Blick auf die Vielzahl und die weitgehende Unvereinbarkeit der im vorhergehenden Abschnitt dargestellten Modelle lässt ahnen, dass kein Konsens zu möglichen Aussagen über mediennutzungsinduzierte Zustands- und Verhaltensänderungen besteht. Im Sinne einer Definition lassen sich solche Wirkungen allenfalls als kognitive und emotionale Veränderungen mit möglicherweise daraus resultierenden Handlungskonsequenzen fassen. Das Spektrum potentiell feststellbarer Auswirkungen erfasste Michael Schenk schon in den 1980er Jahren: Die Massenmedien wurden und werden immer wieder dafür verantwortlich gemacht, 1. Einstellungen zu verändern, 2. Einstellungen zu verstärken, 3. der Ablenkung und Erholung zu dienen, 4. Kulturerfahrung zu vermitteln, 5. Geschmacksabsenkungen hervorzurufen, 6. bestimmte Verhaltensweisen zu stimulieren, 7. Stellvertretende Erfahrungen zu ermöglichen, 8. Zeit und Geld von anderen, z. T. wünschenswerteren, Aktivitäten abzuziehen, 9. Status und Prestige zu geben, 10. Reputation zu zerstören …“74 Eine Liste, die fast einzig die Frage offen lässt, welche Folgeerscheinungen dem Einfluss von Medien noch nicht zugesprochen wurden? Die Aufzählung kaschiert aber die eindeutig prominenteste und gesellschaftlich wichtigste Frage in der Diskussion um Medienwirkungen, die nach dem möglichen Zusammenhang zwischen rezipierter und real ausgeübter Aggression. Im Fokus der – nicht nur fachwissenschaftlichen – Aufmerksamkeit stehen dabei vor allem die Bildschirmmedien, allen voran das Fernsehen, ebenso wie Videospiele und Speichermedien wie DVD und Video. Die Aussagen reichen dabei von der Postulierung völliger Wirkungslosigkeit von Gewaltdarstellungen oder sogar kathartischen Effekten über Metaanalysen, die auch nach geschätzten 5000 Publikationen zum Thema, den Erkenntnisfortschritt nur als „minimal“75 bezeichnen, bis zu Statements, die den fraglichen Zusammenhang als in ähnlicher Weise evident einstufen, wie die Verbindung von Rauchen und Lungenkrebs76.
74 Schenk: Medienwirkungsforschung, S. 34. 75 Kunczik: Wirkungen von Gewaltdarstellungen, S. 141. 76 Lukesch: Das Weltbild des Fernsehens, S. 8.
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Methodenfragen „Wie kaum ein anderes Forschungsfeld ist das Gebiet der Medienwirkungsforschung durch eine Fülle von empirischen Befunden zu Medienwirkungen gekennzeichnet, die zum Teil widersprüchlich sind.“ (Michael Schenk77)
Derart unvereinbare Stellungnahmen ausgewiesener Fachleute – in einem Feld das seit Jahrzehnten intensiv untersucht wird – lassen im günstigsten Fall auf eine herausfordernde und hochkomplexe Problematik schließen. Diagnostiziert man einen für den Erhalt eindeutiger Antworten ungünstigeren Fall, so finden sich die Hemmnisse nicht nur auf der Ebene der untersuchten Objekte und Zusammenhänge. Das Aufzeigen der für den Untersuchungsgegenstand relevanten Ursache-Wirkungs-Muster erschweren vielmehr konkurrierende wissenschaftliche Theorien, die unterschiedliche Methoden zum Erreichen des Ziels ins Feld führen. Diese Methodenkonkurrenz impliziert, dass es sich bei den verschiedenen Aussagen zur Wirkung von Medien nicht um einen reinen Faktenstreit handelt, sondern um die Auswirkungen eines abstrakteren, wissenschaftstheoretischen Dissenses. In den Worten Michael Jäckels nimmt sich die hier aufscheinende Theorienpluralität wie folgt aus: Ein in naturwissenschaftlichem Denken verankerter Wirkungsbegriff konkurrierte sowohl mit einer kulturkritischen Perspektive als auch mit Erklärungsmodellen, die an die Stelle der Eindeutigkeit der Wirkung bestimmter Stimuli eine Unbestimmtheitsrelation setzten und diese unter Bezugnahme auf hermeneutische und/oder (wissens-)soziologische Theorien rechtfertigten.78 Ein Minimalkonsens der verschiedenen Wissenschaftsbegriffe findet sich in der übergreifend geteilten und instrumentalisierten basalen Struktur wissenschaftlicher Aussagen: Phänomen A steht zu Phänomen B in der Relation R, was beinhaltet, dass das Auftreten von Phänomen A in einer spezifischen Weise R mit dem Auftreten von Phänomen B zusammenhängt. Dieses Aufeinanderbezogensein von A und B bewegt sich dabei im Kontinuum zwischen den Extremen einer vollkommenen Unabhängigkeit und eines strengen Deter-
77 Schenk: „Schlüsselkonzepte der Medienwirkungsforschung“, S. 71. 78 Jäckel: Medienwirkungen, S. 19.
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minismus und stellt damit ein „explicit quantitative model of potential observations“79 dar. Das wissenschaftliche Problem liegt darin, dass zwar alle Methoden prinzipiell die gleiche Form von Aussagen anstreben, sich dabei jedoch auf unterschiedliche Praktiken der Wissensgewinnung stützen. Eher naturwissenschaftlich ausgerichtete Untersuchungen beruhen auf dem klassischen Modell der Hypothesenprüfung. Dabei werden Annahmen über die kausale Verknüpfung von Vorgängen mittels systematischer Experimente oder Beobachtungen geprüft. Die mathematisch statistische Auswertung anfallender Ergebnisse ist der zentrale Bestandteil dieser auf Falsifikation oder Bestätigung der zu prüfenden Hypothese zielenden Praxis. Alternative Methoden hierzu lassen sich im weitesten Sinne und unabhängig von ihrer Etikettierung als hermeneutisch vorgehende Verfahren klassifizieren.80 Auch hier wird auf die fraglichen Phänomene Bezug genommen, wobei die Schlussfolgerungen, die sich aus diesen Betrachtungen ergeben, nicht durch mathematisch-statistische Verfahren oder andere Methoden gestützt werden, wie z. B. Experimente, Simulationen, Kulturvergleiche und Fallstudien etc. Es werden vielmehr plausible Rekonstruktionen und detaillierte Analysen der untersuchten Zusammenhänge entworfen, die mit illustrierenden Verweisen auf erkennbare Entwicklungen und Beispiele belegt werden. Der fundamentale Unterschied der beiden Herangehensweisen liegt in der Prüfbarkeit und Verallgemeinerbarkeit der erzielten Ergebnisse. Generalisierende wissenschaftliche Aussagen, die sich dezidiert nicht auf singuläre Ereignisse beziehen sondern auf „empirical regulatities“81 weisen zwangsläufig die Charakteristika allgemeiner Gesetzmäßigkeiten auf. Allgemeine Gesetzmäßigkeiten sind – in einem epistemisch-pragmatischen naiv-realistischen Wirklichkeitsverständnis – um so aussagestärker, je mehr sich aus ihnen „überprüfbare Vorhersagen herleiten lassen“82, um potentielle Fehler aufzudecken. Eine wissenschaftliche Theorie kann aus dieser Perspektive nur dann als fruchtbar bezeichnet werden, wenn sie Ereignisse so abbildet, dass nicht nur interpretative, sondern darüber hinaus prüfbare, prädiktive Aussagen generiert werden. Die scheinbare Unvereinbarkeit naturwissenschaftlicher und hermeneutischer Ansätze zur Untersuchung der vorliegenden Fragestellung ist dabei keineswegs so absolut, wie sie oberflächlich erscheinen mag. Beide Ansätze bedienen sich vielmehr der gleichen Grundelemente, die jedoch unterschied-
79 Lewin-Koh u.a.: A Brief Tour of Statistical Concepts, S. 5. 80 Vgl. Grondin: Einführung in die philosophische Hermeneutik. 81 Weinert: Laws of Nature – Laws of Science, S. 4. 82 Barrow: Die Natur der Natur, S. 25.
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lich gewichtet und ausgeprägt in die resultierende Methodik einfließen. So werden die Hypothesen in der naturwissenschaftlichen Vorgehensweise analog zur hermeneutischen Erarbeitung von Schlüssen gewonnen. In beiden Fällen werden konkrete Aussagen über Objekte und Wirkzusammenhänge gemacht. Der diskursiv belegten Plausibilität und dem Nachvollzug einer hermeneutischen Argumentation entspricht das formale Analyse- und Auswertungsverfahren der Naturwissenschaften. Dies bedeutet, dass der fundamentale Unterschied beider Ansätze nicht in einer vollständigen Inkompatibilität liegt, sondern auf einer unterschiedlichen Gewichtung und Ausgestaltung prinzipiell gleicher methodischer Bausteine beruht. Im Fall hermeneutischer Betrachtungen liegt der Schwerpunkt auf der diskursiv plausibilisierten inhaltlichen Aussage, während diese in naturwissenschaftlichen Argumentationen nur vor dem Hintergrund reproduzierbarer und formal aufbereiteter Ergebnisse ein eigenes Gewicht bekommt. Eine mögliche Zukunftsperspektive, die jedoch ein deutliches Aufeinanderzugehen der unterschiedlichen Wissenschaften erfordert, könnte dass Beste aus diesen Betrachtungsweisen vereinen: das hermeneutische Potential zur Generierung von Hypothesen und die naturwissenschaftlichen Vorgehensweisen, um diese auf ihr Erklärungspotential zu prüfen. Eine in dieser Weise integrative wissenschaftstheoretische Perspektive liegt meinen Überlegungen zu Grunde. Ich möchte das hypothesengenerierende Potential geisteswissenschaftlicher Ansätze mit den Validierungs- und Selektionsverfahren der empirischen Wissenschaften zusammenbringen. Einzig jene Ansätze können nicht in eine solche integrative Sichtweise scheinbarer Gegensätze assimiliert werden, die sich auf eine problematische, weil von reiner Beliebigkeit nicht zu unterscheidende, Sicht des Konstruktivismus berufen.83 Derartige Betrachtungen aus dem Umfeld eines „radical relativist academic Zeitgeist“84 stehen jedem Konzept eines intersubjektiv kommunizierbaren wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns entgegen. Für die Frage nach der Wirkung von Medien bedeutet dies, dass es innerhalb des aufgezeigten Spektrums existierender Meinungen auch falsche gibt. Wie schon der Satz vom verbotenen Widerspruch in der aristotelischen Metaphysik sagt, ein und dasselbe Ding kann – zumindest so lange es sich um makroskopische Phänomene handelt – nicht sowohl eine Eigenschaft haben als auch nicht haben.85 Sich widersprechende Auffassungen können nicht gleichzeitig wahr sein. 83 Vgl. Hejl: Konstruktivismus und Universalien – eine Verbindung contre nature?, S. 29ff. ; Glasersfeld: Einführung in den radikalen Konstruktivismus, S. 16ff. 84 Sokal/Bricmont: Defense of a Modest Scientific Realism, S. 19. 85 Aristoteles: Metaphysik, 1005b.
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Untersuchungsgeschichte „Die Herausbildung eines eigenständigen Wissenstyps Medienwissenschaft stellt insofern den Abschluss eines langfristigen Prozesses sukzessiver Anpassung klassischer Wissensmodelle an medial veränderte Verhältnisse dar.“ (RaimundKlauser/ Rainer Leschke86)
Schon Untersuchungen im Kontext der kritischen Bewegung der 1960er und 70er Jahre deuteten auf Zusammenhänge zwischen Medienrezeption und individuellem Verhalten hin. Die von Elisabeth Noelle-Neumann87 postulierte Schweigespirale sieht die Medien als Element der kommunikativen Interaktion zwischen Gesellschaft und Einzelnem. Es zeigt sich, dass von ihnen ein nicht zu unterschätzender Druck zur gesellschaftlichen Konformität ausgeht. Wichtiger als das eigene Urteil ist dem Individuum, sich nicht zu isolieren. Dies ist anscheinend eine Konstante der menschlichen Natur, Bedingung menschlichen Zusammenlebens, es könnte sonst wohl ein hinreichender Zusammenhalt nicht erreicht werden. Speziell in unserem Zusammenhang nehmen wir an, dass diese Furcht sich zu isolieren (nicht nur Furcht vor Absonderung, sondern auch vor dem Zweifel an der eigenen Urteilsfähigkeit), Bestandteil aller Prozesse öffentlicher Meinung ist.88 Ein anderer Ansatz, der Wirkungsbeziehungen demonstrieren konnte, ist das Agenda-Setting.89 Dabei wurde in konstruktiver Weise die Einsicht in die Unzulänglichkeiten des Stimulus-Response-Modells aufgenommen, indem man den potentiellen Einfluss der Medien von den Überzeugungen auf die Themen verlagerte. Die mediale Wirkung bestand somit nicht mehr darin, Menschen zur Übernahme einer bestimmten Meinung zu veranlassen, sondern ein Thema in der Aufmerksamkeits- und Interessehierarchie der Konsumenten zu positionieren. Maxwell McCombs und Donald Shaw resümierten die Erkenntnisse ihrer Untersuchungen wie folgt: While the mass media may have little influence on the direction or intensity of attitudes, it is hypothesized that the mass media set the 86 Klauser/Leschke: „Strukturmuster medienwissenschaftlicher Pragmatik“, S. 338. 87 Noelle-Neumann: Öffentlichkeit als Bedrohung, S. 169ff. 88 Noelle-Neumann: Öffentlichkeit als Bedrohung, S. 172. 89 Vgl. Rössler: Agenda-Setting.
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agenda for each political campaign influencing the salience of attitudes toward political issues.90 Eindrucksvolle Belege gegen die Annahme medialer Wirkungslosigkeit finden sich – möglicherweise überraschend – innerhalb medizinischer Langzeitstudien. Als Einflussgröße wird dabei die täglich vor dem Fernseher verbrachte Zeit in Relation gesetzt zur feststellbaren körperlichen und geistigen Verfassung. Hierbei handelt es sich um einen rein quantitativen Ansatz, der vielen Medienfachleuten auf Grund der vollständigen Vernachlässigung inhaltlicher Aspekte fraglich oder unorthodox erscheinen dürfte. Die Erfassung der reinen Nutzungsdauer gestattet jedoch eine sehr strukturierte Vorgehensweise: Wenn nichts von dem tatsächlich wirkt, was medial geboten wird, dann müsste in der Folge auch unerheblich sein, was und wie viel davon konsumiert wird? Eine in ihren Konsequenzen mit 0 zu beziffernde Wirkung sollte durch keine Steigerung der Expositionszeit zu potenzieren sein, da jeglicher Zeitfaktor nur zu einem Vielfachen dieser 0 führt. Doch dies ist nicht so, wie eine über 20 Jahre durchgeführte Längsschnittstudie von Robert J. Hancox und Kollegen an rund tausend neuseeländischen Kindern verdeutlicht.91 In dieser Untersuchung stellte sich heraus, dass die täglich vor dem Fernseher verbrachte Zeit und das Körpergewicht in einem beeindruckenden Zusammenhang stehen. Bei jener Teilgruppe der untersuchten Heranwachsenden, die sich mehr als 3 Stunden täglich vor der Glotze aufhielten, ergab sich eine Wahrscheinlichkeit von 40%, dass dieses Verhalten mit körperlichem Übergewicht korreliert. Diejenigen Teilnehmer, die im Mittel ihrer Tagesverläufe nur weniger als eine Stunde vor dem Fernseher verbrachten, hatten dagegen mit 25% eine deutlich geringere Wahrscheinlichkeit, Übergewicht zu entwickeln. Dieser Zusammenhang mag nicht besonders überraschend sein, aber er belegt deutlich, dass die mediale Welt sehr wohl – und im wahrsten Sinne des Wortes massive – Einflüsse auf die reale Welt hat. An diesem Punkt kann man einwenden, dass es sich um eine Beobachtung handelt, die zwar einen starken und überzeugenden Zusammenhang zwischen zwei Größen – dem durchschnittlichen Fernsehkonsum und der Wahrscheinlichkeit von Übergewicht – herstellt, es sich dabei jedoch keinesfalls um direkte Wirkungen handelt. Vielmehr könnte es sich um einen Sekundäreffekt des Medienkonsums handeln, der sich aus der motorisch inaktiven Rezeptionssituation ergibt. Ein Einwand, der darauf hinausläuft, dass der beschriebene Zusammenhang nicht Fernsehkonsum und Körpergewicht koppelt, sondern den 90 McCombs/Shaw: „The Agenda-Setting Function of Mass Media“, S. 177. 91 Vgl. Hancox u.a.: „Association Between Child and Adolescent Television Viewing and Adult Health“.
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Körperfettanteil von einer sitzend-liegenden Körperhaltung abhängig macht. Wenn aber Fernsehen und körperliche Passivität zusammenhängen und letztere zum Übergewicht führt, bleibt der anfänglich beschriebene Zusammenhang bei verlängerter Kausalkette erhalten. Noch interessanter ist ein weiteres Ergebnis der neuseeländischen Studie: Wer viel fernsieht, raucht mehr! Erneut ist es die Gruppe der Vielseher – mit mehr als drei Stunden Fernsehkonsum täglich – von denen zirka 45% eine Präferenz für den Genuss von Rauchwaren aufwiesen. Kinder und Jugendliche, die mit weniger als einer Stunde TV-Einfluss aufwuchsen, zeigten dagegen nur eine Rauchneigung von etwas mehr als 25%. Aus den während der zwanzigjährigen Untersuchung gewonnenen Daten ließ sich errechnen, dass bei 17% der am Ende der Studie erwachsenen Raucher dieses Verhalten seine Ursache im kindlichen Fernsehkonsum hatte. In gleicher Weise wie für Übergewicht und Rauchen lassen sich starke Zusammenhänge auch mit mangelnder Fitness sowie hohem Cholesterinspiegel und Blutdruck nachweisen – Medienwirkungen, die für Lebensqualität und – perspektiven wichtig sind. Die Bedeutung des Fernsehkonsums für die Entwicklung junger Menschen wird schon lange von Pädagogen immer wieder betont: „Neben Familie, Schule und den Gruppen der Gleichaltrigen (Peergroups) sind die Medien längst zu einer vierten wichtigen Sozialisationsinstanz geworden.“92 Untersuchungen über Abhängigkeit schulischer Leistungen von erhöhtem Fernsehkonsum zeigen, dass dieser nicht nur auf die physiologische Formung heranwachsender Generationen einwirkt. Diese Forschungen belegen u. a., dass die wohl wichtigste individuelle Schlüsselkompetenz der Neuzeit, das Lesen, bei hohem TV-Konsum deutlich schlechter ausgebildet wird. Tests an Kindern in der ersten bis dritten Klasse erbrachten, dass die Lesefähigkeiten sich umso langsamer verbessern, je mehr Zeit täglich vor dem Fernseher verbracht wird. Die Vielseher erreichten erst in der dritten Klasse das Leseniveau, das die Wenigseher schon in der zweiten Klasse vorweisen konnten.93 In der mehrjährigen Untersuchung zeigte sich auch die Langfristigkeit der untersuchten Zusammenhänge. Die Fernsehgewohnheiten während des Kindergartens oder der ersten Klasse ließen akkurate Vorhersagen über die in der dritten Klasse zu erwartenden Leseleistungen zu. Es sei an dieser Stelle nicht unterschlagen, dass sich in der Untersuchung von Marco Ennemoser auch die Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Schichten deutlich auswirkte.94 Über
92 Vollbrecht: Aufwachsen in Medienwelten, S. 13. 93 Vgl. Spitzer: Vorsicht Bildschirm!, S. 135. 94 Vgl. Ennemoser: „Effekte des Fernsehens im Vor- und Grundschulalter“.
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alle Schichten hinweg waren jedoch eindeutige Effekte des Fernsehkonsums zu beobachten, was in der Konsequenz bedeutet, dass insbesondere Bildschirmmedien auf die Entwicklung junger Menschen großen Einfluss haben. Ein weiterer Schlüssel zur Untersuchung dieses Zusammenhangs ist die Möglichkeit, bestimmte physiologische Werte zu messen, z. B. Hautwiderstand, Atemfrequenz, Blutdruck und Herzfrequenz, und so ein gutes Bild über den Erregungs- und Aktivitätszustand eines Individuums zu gewinnen. Diese Werte können, wenn sie mit einem Bewegungssensor korreliert werden, sehr detailliert darüber Auskunft geben, auf welche Ursache eine Steigerung des Stoffwechselgeschehens zurückzuführen ist: körperliche Aktivität, psychische Anspannung oder Involviertheit. Da alle Messgrößen auch mit gut transportablen Geräten erfasst werden können, ist es möglich komplette Tage von Versuchspersonen zu erfassen. Eine derartige Untersuchung von Michael Myrtek an Schülern brachte eine auf den ersten Blick überraschende Einsicht: Der Stress im Leben dieser Bevölkerungsgruppe findet in der Freizeit statt. In den Worten des Autors: „Es lässt sich somit kein ‚Schulstress‘, sondern vielmehr ein ‚Fernsehstress‘ ausmachen.“ Diese Aussage kann weiter differenziert werden: Vielseher reagieren auf das Fernsehen emotional schwächer als Wenigseher. Es zeigt sich weiterhin, dass die jüngeren Schüler beim Fernsehen emotional beanspruchter sind als die älteren; in der Schule lässt sich dieser Unterschied nicht nachweisen. Subjektiv wird die Schulzeit im Vergleich zum Fernsehen von allen Schülern als aufregender und unangenehmer beurteilt. Der ‚Schulstress‘ […] kann nicht mit physiologischen Daten belegt werden; vielmehr ist das Fernsehen beanspruchender als die Schulzeit.95 Berücksichtigt man in diesem Zusammenhang – wie in Teil drei dieser Arbeit Der Rahmen der Medien – der sensorisch-neuronale Weltbezug des Menschen näher ausgeführt – dass die emotionale Intensität von Erlebnissen direkt mit ihren potentiellen Auswirkungen im Gehirn zusammenhängt, dann legen diese Beobachtungen nahe, dass der mit Fernsehkonsum verbrachte Teil des Tages die Entwicklung des Gehirns von Kindern oder Jugendlichen stärker beeinflusst als die Schule. Eine Erkenntnis, deren Konsequenzen mit Blick auf aufklärerische, humanistische oder pädagogische Ideale fatal sind. Im Jahre 2002 gingen Meldungen durch die Presse, die als Beleg für positive Wirkungen der Bildschirmmedien dienten. Der Umgang mit Computer-
95 Myrtek: „Fernsehkonsum bei Schülern“, S. 131.
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spielen steigere potentiell die Wahrnehmungsleistung.96 Probanden, die für zehn Stunden mit gängigen Spielen im virtuellen Raum trainierten, konnten die Anzahl kurz aufblinkender Leuchtpunkte deutlich besser bestimmen als Versuchspersonen, die kein derartiges Training absolviert hatten. Der Bereich des Gesichtsfeldes, der durch die visuelle Aufmerksamkeit abgedeckt wird, hatte sich geweitet und konnte zwischen verschiedenen Lichtphänomenen unterscheiden, die so im täglichen Leben nicht vorkommen. Ein relativ kurzes Training hatte in diesem Fall eine basale Fähigkeit der Weltwahrnehmung deutlich messbar verändert. Die Frage nach Wirkungen wird dabei schon seit mehreren Jahrzehnten fast ausschließlich im Zusammenhang mit Bildschirmmedien gestellt – eine Fokussierung, die alles andere als überraschend ist, angesichts der festzustellenden Nutzungsdauer. Widersprüchliche Untersuchungsergebnisse, die sowohl prosoziale97 als auch antisoziale Effekte98 postulieren, werden oft als Begründung für die Forderung nach analytisch genaueren Betrachtungen angeführt. Die Fülle der unterschiedlichen Inhalte und die Vielfalt möglicher Wirkungen könne nur in dieser Weise angemessen betrachtet werden. Im Folgenden wird, abweichend von diesem Vorgehen, eine Zahl von Studien herangezogen, die erneut – wie im Zusammenhang mit Körpergewicht, Lesefähigkeit und anderen Erscheinungen – auf die Etablierung quantitativer Relationen zwischen Mediennutzung und beobachtbaren Effekten setzt. Diese für manchen Medienbeobachter ungerechtfertigte Reduktion der Komplexität des Phänomens Fernsehen ist freilich keine prinzipielle Absage an die Untersuchung einzelner Formate oder individueller Werke. Es eröffnet sich vielmehr eine komplementäre Sichtweise, die es erlaubt, allgemeine Medienwirkungen in den Blick zu nehmen. Helmut Lukesch formuliert dieses Vorgehen treffend: Im Grund mag es als Hybris erscheinen, pauschalierende Aussagen über die Inhalte des Fernsehens treffen zu wollen. Die Vielfalt des Angebots aus zigtausenden Studien der jährlich gesendeten Programme und der – bei digitaler Empfangsmöglichkeit – ebenfalls die Tausender-Grenze übersteigenden Anzahl international zugänglicher Sender ist auf den ersten Blick so unterschiedlich, dass man auf der Ebene der Einzelsendungen, also der vielen Produkte, für die Drehbuch-
96 Vgl. Rötzer: „Wer sich früh übt ...“; Johnson: Neue Intelligenz. 97 Vgl. Mares: Positive Effects of Television on Social Behavior; Fisch: „Children’s Learning from Television“. 98 Vgl. Room: „The Movies and the Wettening of America“; Anderson: „An Update on the Effects of Playing Violent Video Games“.
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schreiber, Redakteure und Produzenten sowie ganze Redaktionen verantwortlich zeichnen, den sprichwörtlich gewordenen Wald vor lauter Bäumen nicht erfassen kann. Aber, um im Bild zu bleiben, trotz der Unterschiedlichkeit der einzelnen Bäume lassen sich auf einer übergeordneten Ebene wieder Gemeinsamkeiten erkennen, und nicht nur dem Botaniker ist es möglich, trotz aller individuellen Varietäten treffende Kennzeichnungen der von ihm untersuchten Arten und Gattungen abzugeben.99 Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die Ergebnisse derartiger Betrachtungen statistisch starke Aussagen ermöglichen, die aber beim Individuum nicht zu deterministischen Vorhersagen führen. Vielmehr handelt es sich um probabilistische Phänomenbeschreibungen, deren Aussagewert sich anhand eines Sets von sechs Würfeln demonstrieren lässt: Wenn man mit dieser Anzahl gleicher Würfel spielt, dann ist die Wahrscheinlichkeit eine Sechs zu würfeln gleich eins. Dies bedeutet, dass wenn man eine größere Serie derartiger Würfe machen würde, im Schnitt bei jedem Wurf einer der Würfel sechs Augen zeigt. Diese Vorhersage kann von jedermann experimentell überprüft werden, sofern sechs Würfel zur Hand sind. Trotz der in dieser Weise prüfbaren, hohen Akkuratesse der Prognose kommt es jedoch auch zu Würfen ohne jegliche Sechs, oder zu solchen mit zwei oder mehr Würfeln, die diese Zahl zeigen. Trotz der hohen Genauigkeit, mit der zuvor das durchschnittlich zu erwartende Ergebnis angegeben wurde, sind derartige „Ausreißer“ nicht vorhersagbar. Noch unzuverlässiger sind Prognoseversuche, die sich bemühen vorauszusagen, welcher Würfel als nächstes die gesuchte Zahl zeigen wird – eine Variante, die man mit farblich unterschiedlichem Spiel- beziehungsweise Untersuchungsmaterial durchführen kann. Trotz des Zutreffens der Aussage – dass, wenn man mit sechs Würfeln gleichzeitig würfelt, im Schnitt immer eine Sechs erscheint – ergibt sich aus diesem Erkenntnisgewinn kein prädiktiver Zugriff auf die involvierten Einzelfälle. Fassbar werden nicht die einzelnen Ereignisse, die quasi die Atome der Ereignismasse sind, aus der sich der gewonnene Schluss speist – fassbar werden vielmehr Merkmale von Geschehnissen, die entweder parallel oder hintereinander stattfinden. Es handelt sich um Aussagen, die angeben wie wahrscheinlich ein bestimmter Ausgang eines wiederkehrenden Ereignisses innerhalb bestimmter Rahmenbedingungen ist. Im Falle der statistisch-probabilistischen Beurteilung von Medienwirkungen – mit dem Paradefall Gewalt – sieht man sich einem weit komplexeren System gegenüber, das dennoch Ähnlichkeiten zu dem geschilderten Würfel-
99 Lukesch: Das Weltbild des Fernsehens, S. 17.
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spiel ausweist: Generelle und sichere Aussagen zur Wahrscheinlichkeit von Ereignissen sind möglich, eine prädiktive Klassifikation von Einzelfällen nach einem tritt-ein-tritt-nicht-ein-Muster ist jedoch nicht möglich. Auch a posteriori kann – angesichts der Komplexität des vorliegenden Systems – ein Ursache-Wirkungs-Zusammenhang bei Einzelfallprüfung nur probabilistisch konstruiert werden. Helmut Lukesch fasst die epistemologischen Rahmenbedingungen der Medienwirkungsforschung wie folgt: Auch wenn über Einzelereignisse nur aufgrund der Kenntnis der individuellen Gegebenheiten bei einer Tat geurteilt werden kann, so kann die allgemeine Wirkungsforschung doch aufzeigen, ob einem Medieneinfluss weiter nachgegangen werden soll oder ob diese Ursachenvermutung von eher geringer Erklärungskraft ist.100 Dies bedeutet, dass auch in Fällen, in denen statistische Aussagen starke Belege für die Existenz oder Nichtexistenz eines kausalen Zusammenhangs liefern, konträre Einzelereignisse möglich sind – ebenso wie der seit der Pubertät Tabakrauch inhalierende Hundertjährige kein Gegenbeweis für die Schädlichkeit des Rauchens ist. „Die hohe Unterschiedlichkeit von Person zu Person“, so merkt Monika Suckfüll mit Blick auf das Verhältnis Individuum-Massenmedien an, „bedeutet aber nicht, dass rezeptive Prozesse beliebig sind. Wären sie das, würde massenmediale Kommunikation nicht funktionieren.“101 Die technischen Möglichkeiten der zur globalen Leitindustrie aufsteigenden Kommunikationsbranche stellen die Frage nach Wirkungen besonders bedeutungsvoll, wenn es um potentiell antisoziale, also Einzelne oder die Gesellschaft als Ganze schädigende Folgeerscheinungen geht. Der zentrale Punkt weit über die wissenschaftliche Auseinandersetzung hinaus ist, ob und wenn ja welcher Zusammenhang zwischen medial rezipierter und real praktizierter Gewalt besteht – als gängige und publikumsträchtige Formulierung: „Macht Fernsehen Kinder und Jugendliche gewalttätig“?102 Im vorangehenden Abschnitt wurde schon erwähnt, dass bereits vor der Fernsehära, in den frühen Zeiten des Stummfilms, die Vermutung weit verbreitet war, dass Filme mit kriminellem und gewalttätigem Inhalt schwache beziehungsweise noch nicht ausgereifte Persönlichkeiten zur Nachahmung verleiten könnten. Eine erste systematische Untersuchung, die darauf angelegt war, diesen möglichen Zusammenhang zu erhellen, analysierte von 1929 bis 1932
100 Lukesch: Das Weltbild des Fernsehens, S. 7f. 101 Suckfüll: Rezeptionsmodalitäten, S. 13. 102 Medi-Kids&Teens: Macht Fernsehen Kinder und Jugendliche gewalttätig.
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1.500 Kinofilme. Der Ansatz dieser als Payne Fund Studies103 bekannt gewordenen Arbeit war inhaltsanalytisch ausgerichtet.104 Ganz im Sinne des Stimulus-Response-Modells ging man davon aus, dass die Erfassung der Inhalte ein konzises Urteil über die Konsequenzen des Konsums erlauben würde. Die zehn Untersuchungskategorien wurden von Liebe (29,4%), Kriminalität (27,4%) und Sex (15,0%) dominiert.105 Aus diesem Ergebnis wurde auf einen sowohl kriminalisierenden als auch moral- und sittenverderbenden Einfluss der populären Lichtspiele geschlossen. Die gewonnenen Daten waren Grundlage des ersten medienpädagogischen Buches: Edgar Dales The Content of Motion Pictures.106 Die methodische Schwachstelle dieser umfangreichen Untersuchung ist die angenommene Korrelation von rezipiertem und praktiziertem Verhalten. Die Vorannahme einer derartigen Verknüpfung führte dazu, dass die Kernfrage, ob Gewalt in den Medien reale Gewalt erzeugt, nicht beantwortet wurde. Nicht besonders überraschend war die Feststellung, dass es viel Gewalt und andere im gesellschaftlichen Leben nicht gewünschte Verhaltensweisen im Film gibt. Eine – bei aller Kritik – jedoch alles andere als triviale Feststellung! Zum ersten Mal wurde im Rahmen einer wissenschaftlichen Standards entsprechenden Analyse ein mehr als impressionistischer Beleg für die Überzeugung erbracht, dass, „solange es Medien gibt… es auch Darstellungen von Gewalt in den Medien“107 gibt. Unterschiedliche Fragestellungen zum Thema Gewalt – von denen hier nur ein Teilbereich behandelt wird – werden deutlich, wirft man einen Blick auf das Spektrum der Disziplinen, die sich mit diesem Thema beschäftigen: Psychologie, Soziologie, Philosophie, Politikwissenschaften, Kriminologie, Pädagogik, Kommunikations- und Medienwissenschaften.108 Dieses fächerübergreifende Interesse am Thema hat zur Folge, dass allen Untersuchungen eine transdisziplinäre Dimension innewohnt. Die schon vor den Payne Fund Studies existente Überzeugung, dass Bewegtbildmedien in besonderer Weise geeignet sind, Einfluss auf ihre Betrachter zu nehmen, gewann Mitte des vergangenen Jahrhunderts mit der Einführung des Fernsehens an Aktualität: „... it was the introduction of television into the average American home in the early 1950s that really stimulated an explosion of scientific research on the 103 Vgl. Dale: The Content of Motion Pictures. 104 Vgl. Dale: „Methods for Analyzing the Content of Motion Pictures“. 105 Charters: Motion Pictures and Youth, so wiedergegeben in Merten: Gewalt durch Gewalt im Fernsehen?, S. 65. 106 Dale: The Content of Motion Pictures, so in Merten: Gewalt durch Gewalt im Fernsehen?, S. 65; s.a. Dale u.a.: Motion Pictures in Education. 107 Spitzer: Lernen, S. 361. 108 Vgl. Merten: Gewalt durch Gewalt im Fernsehen?, S. 33.
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topic.“109 . Dieses technisch neue Medium steht in einer Erlebniskontinuität zur seit Ende des 19ten Jahrhunderts gewachsenen Filmindustrie. „Die Entwicklung des Fernsehens ist deshalb eingebunden in die Geschichte der kulturellen Wahrnehmung,“ wie Knut Hickethier anmerkt und knüpft – bei aller Innovation – an „Fotografie, Film und Radio“ an.110 In einer Studie aus dem Jahr 1954 ließ Manfred Koch 126 Personen ohne Vorerfahrungen ihr erstes Fernseherlebnis beurteilen. Dass dieses, trotz der offensichtlichen technologischen Innovation, keineswegs als besonders überraschend oder beeindruckend erlebt wurde, wurde in der Folge auf die im Alltag wohl etablierten und teils ritualisierten Kinobesuche zurückgeführt. „Das Fernsehen [...] wird als Kreuzung von Film und Radio aufgefasst“111. Die Technik war zwar neu, das Erlebnis nicht.
Empirie und Reflexion „Es gibt kaum ein Thema von öffentlichem Interesse, das nicht früher oder später eine Diskussion zu den möglichen Einflüssen der Massenmedien nach sich zieht. Zugleich ist es ein Faktum, dass es schwer ist, auf solche Fragen klare und eindeutige Antworten zu geben.“ (Dennis McQuail112)
Ein entscheidender Fortschritt zur Erklärung möglicher Korrelationen zwischen medialer Gewalt und sozialem Verhalten waren Experimente in einem Umfeld, das es erlaubte, die mögliche Ursache in Zusammenhang mit der vermuteten Wirkung zu bringen. Wie im Falle der Payne Fund Studies existierten auch in diesen Fällen Annahmen darüber, wie es zu der erwarteten Wirkung kommen könnte – forschungspragmatisch unabwendbar, da ansonsten aussagestarke Versuchsanordnungen nicht entworfen werden können. Zwar hatte man sich von der Vorstellung verabschiedet, dass die genutzten Medieninhalte den Konsumenten quasi zwingen, sich in analoger Weise zu verhalten, ein direkter Zusammenhang wurde jedoch trotzdem vorausgesetzt. Anstelle der deterministisch gedachten Verkettung der Hypodermic-Needle-Sichtweise trat ein individueller Lernprozess im Rahmen der Sozialisation. Als Hauptvertreter 109 Huesmann/Tayler: „The Case against the Case against Media Violence“, S. 107. 110 Hickethier: „Fernsehen, Modernisierung und kultureller Wandel“, S. 171. 111 Koch: „Fernsehen als neuer Umweltfaktor“, S. 27. 112 McQuail: „Medienwirkungen als Thema der kommunikationswissenschaftlichen Forschung“, S. 31.
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der sozialen Lerntheorie untersuchten Albert Bandura113 und andere diese Annahme. In einem Fall wurde Kindern ein Film gezeigt, in dem ein Erwachsener eine aufblasbare Plastikpuppe in höchst aggressiver und gewalttätiger Weise behandelte. Ein anschließendes freies Spielen, bei dem unter anderem auch eine Puppe wie im Film zur Verfügung stand, zeigte, dass die Kinder mit dieser Puppe ebenfalls in äußerst aggressiver Weise umgingen. Als Kontrollgruppe dienten Kinder, die die gleiche Spielmöglichkeit erhielten, ohne jedoch vorher den Film zu sehen. Im Unterschied zu ihren medial präparierten Altersgenossen waren sie deutlich friedlicher – ein Unterschied, der angesichts der gleichen Voraussetzungen ein Resultat des gezeigten Films sein musste.114 Die Vertreter der sozialen Lerntheorie schlossen hieraus, dass es sich bei dem geschilderten Experiment um ein exemplarisches Lernen am Modell handelt. Der im Film gezeigte und zudem erwachsene Mensch diente als Vorlage oder besser gesagt als Modellperson – um in der Terminologie dieses Ansatzes zu bleiben –, zum Erlernen situationsadäquaten Verhaltens. Dieser Lernvorgang kann aber nicht in direkter Weise analog zur geschilderten Experimentalanordnung gesehen werden. Eine fast deckungsgleiche Entsprechung von Medieninhalt und realer Handlungsoption, wie sie in dieser Situation gegeben war, liegt im Standardfall nicht vor. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass das Verhalten vom Umfeld stark moduliert und damit beeinflusst wird. Dieser Ansatz des sozial-kognitiven Lernens besagt, dass häufiger Konsum von aggressiven TV-Angeboten Handlungen disponiert, die in Abhängigkeit von sonstigen Umweltfaktoren mehr oder weniger wahrscheinlich auftreten. Menschen können „die verschiedensten Verhaltensstile vom Fernsehsessel aus beobachten und lernen“115. Mehrere Metaanalysen, so führt Winterhoff-Spurk aus, legen nahe, dass Konflikte der Eltern und kriminelle Konfliktlösungsmuster im Umfeld die Übernahme negativer Verhaltensweisen signifikant befördern.116 Nicht nur das Verhalten wird durch den Einfluss der Medien modifiziert, wie weitere Studien belegen. Vielmehr werden auch die Bewertungsvorgänge, die als moralisch-kognitive Basis des praktizierten Verhaltens gesehen werden müssen, durch Medieneinwirkung transformiert. Diese Einsicht wurde nicht nur mittels erfragter Introspektion gewonnen, sondern auch experimentell untersucht anhand der Verbindung von menschlicher Psyche und Physis. Man bediente sich dabei der Technik des Lügendetektors: Wenn Menschen unter
113 Vgl. Bandura: Sozial-kognitive Lerntheorie. 114 Vgl. Leffelsend u.a.: „Mediennutzung und Medienwirkung“. 115 Bandura: Sozial-kognitive Lerntheorie, S. 34. 116 Winterhoff-Spurk: Medienpsychologie, S. 166.
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Anspannung geraten oder emotionalem Stress ausgesetzt sind, dann wirkt sich dies auf mehrere physiologische Parameter aus: Hautleitfähigkeit, Herzschlag, Blutdruck, Atemfrequenz oder Lidschlag, um nur einige zu nennen. Die Betrachtung inakzeptabler Gewalthandlungen führt zu einer messbaren Veränderung dieser Größen. Durch den Einsatz eines Sets unterschiedlicher intensiver Stimuli wie Bildern von verschieden schweren Verletzungen oder auch Verbrechen, kann die intuitive Reaktion von Probanden gemessen werden. Dabei zeigte sich, „dass bei häufiger Konfrontation mit aggressiven Inhalten eine – auch physiologisch nachweisbare – Abstumpfung eintritt“117. Diese nachlassende Sensibilität geht einher mit einer Verschiebung des Weltbildes, in der sich die Realitätsvorstellungen mehr und mehr an der in den Medien repräsentierten Wirklichkeit ausrichten. „Zudem generalisiert das Verhalten vom Film auf die Realität.“118 Der Fernsehkonsum nimmt in der Tat Einfluss auf das Verhalten der Nutzer, wie auch die von Rowell L. Huesmann und Laurie S. Miller zusammengestellten Langzeitstudien nahe legen.119 Eine dieser Untersuchungen, an der Huesmann beteiligt war, erfasste den Zeitraum von 1960 bis 1981.120 Für die teilnehmenden 875 Kinder, bei denen es sich nur um Jungen handelte, wurde sowohl der Fernsehkonsum im Verlauf des Aufwachsens erhoben als auch erfasst, inwieweit sie durch gewalttätige Verhaltensweisen mit dem Gesetz in Konflikt kamen. Die statistische Prüfung offenbarte in der Folge, dass diese beiden Faktoren in einer deutlichen Abhängigkeit zueinander standen: „Die Studie zeigte eindeutig“, in den Worten von Manfred Spitzer, „dass die Menge der Gewaltszenen, die die Kinder im achten Lebensjahr im Fernsehen gesehen hatten, die Gewalttätigkeit der Menschen im späteren Leben vorhersagen konnte.“121 Beeindruckend und überzeugend war auch eine weitere groß angelegte Untersuchung, die Mitte der 80er veröffentlicht wurde.122 Aufgrund geografischer Besonderheiten und damit verbundener technischer Probleme war in Kanada ein nicht näher benannter Ort bis in dieses Jahrzehnt von der Invasion der Bildschirme verschont geblieben: Es gab kein Fernsehen. Die späte aber letztendlich nicht aufzuhaltende Einführung dieser zivilisatorischen Errungenschaft nutzten Wissenschaftler für eine groß angelegte vergleichende Studie.
117 Vgl. Leffelsend u.a.: „Mediennutzung und Medienwirkung“, S. 63. 118 Spitzer: Lernen, S. 371. 119 Vgl. Huesmann/Miller: „Long-Term Effects of Media Violence“, S. 162ff. 120 Vgl. Huesmann/Miller: „Long-Term Effects of Media Violence“, S. 166ff. 121 Spitzer: Lernen, S. 365. 122 Joy u.a.: „Television and Children’s Aggressive Behavior“.
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Neben dem ungenannten Ort wurden zwei ähnlich große aber bereits TV-versorgte Gemeinden ausgewählt, um als Vergleichsgrößen zu dienen. In allen dreien wurde das Verhalten von Kindern und Jugendlichen über die gleiche Zeitspanne erfasst – sowohl vor als auch nach Ankunft des Fernsehens in der letzten medialen Wildnis Nordamerikas. In den folgenden zwei Jahren nahm bei den Heranwachsenden die Zahl gewalttätiger Handlungs- und Spielweisen signifikant zu. In den Referenzorten hingegen, die seit langem Bestandteil der telemedialen Moderne waren, ergaben sich keine Verschiebungen in den Verhaltenshäufigkeiten; bei ansonsten identischen Charakteristika ein zwingender Hinweis darauf, dass die festgestellte Wandlung im Interaktionsgebaren direkt mit dem Faktor Fernsehen zusammenhängt. Wie in der zuvor angeführten Studie, zeigte sich ein Zusammenhang zwischen der Menge der Zeit, die Kinder und Jugendliche vor dem Fernseher verbrachten und der Art und Weise, wie sie miteinander umgingen. Um es positiv zu formulieren: Am friedlichsten waren die, die ihre Tage mit anderen Dingen als fernsehen verbrachten. Dieser Zusammenhang wurde dabei nicht nur für Jungen belegt, sondern ebenso für Mädchen unabhängig vom jeweiligen Alter. Die Statistik wies aus, dass die verbale Aggressivität sich verdoppelte, während die Häufigkeit körperlicher Aggression am Ende nahezu das Dreifache des Ausgangsniveaus erreicht hatte. Wirft man, angesichts solcher Ergebnisse, einen näheren Blick auf den Inhalt des Fernsehens, dann wird deutlich, dass Gewalt in der Tat eine bedeutende Rolle spielt. Deren Auftreten untergliedert sich dabei, wie Heinz Bonfadelli ausführt, wie folgt: „Der überwiegende Teil der Fernsehgewalt (85%) bezieht sich auf fiktionale Beiträge (Serien und Filme); Nachrichten und Dokumentationen machen den Rest aus und 26 % der Aggressivität ereignet sich in Trickfilmen.“123 Diese Verteilung ist mit Blick auf die durch Medienkonsum veränderte Wirklichkeitswahrnehmung wichtig, da sich aus ihr ergibt, dass es vor allem die fiktionalen Formate sind, die hinter den festgestellten Wirkungen stehen. Im Licht dieser Befunde werden andere Ergebnisse nachvollziehbar. So äußerten bei einer US-amerikanischen Umfrage aus dem Jahr 1993 mehr als ein Drittel der amerikanischen Schüler (35%) im 12. Schuljahr die Vermutung, „sie würden nicht alt, denn sie glauben, vorher erschossen zu werden.“124 Eine düstere Einschätzung, die in keiner Weise mit jener Wahrscheinlichkeit von 0,0055 % einher geht, mit der ein US-Bürger im Jahr 2000 mit seinem gewaltsamen Ableben rechnen musste. Diese Diskrepanz bleibt selbst dann bestehen, wenn man berücksichtigt, dass junge Männer das ver-
123 Bonfadelli: Medienwirkungsforschung II, S. 233. 124 Spitzer: Vorsicht Bildschirm?, S. 7.
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gleichsweise höchste Risiko tragen, Opfer eines Verbrechens mit Todesfolge zu werden.125 Schon lange ist bekannt, dass das Fernsehen eine Menge an Gewalt in die Wohnzimmer der Menschen bringt. Schon eine Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes INFAS zeigte zu Beginn der 70er Jahre, einer aus heutiger Sicht prähistorisch fernseharmen Ära, dass nicht nur Wissenschaftler, sondern auch die große Masse der Konsumenten sich über diese Gewaltlastigkeit im Klaren waren. Zwei Drittel der erwachsenen Westdeutschen äußerten die Meinung, dass es ein Überangebot an Gewalttätigkeiten im deutschen Fernsehen gäbe. Eine sehr deutliche Aussage der Mehrheit. Gewisserweise im Widerspruch dazu bekannten jedoch 53 % der Erwachsenen, dass ihre liebste Fernsehkost Krimis und Western sind, also gerade jene Genres, in denen gewalttätige Handlungen besonders häufig sind.126 Manche Autoren gehen in diesem Zusammenhang davon aus, dass selbst wenn Gewalttaten nicht explizit dargestellt werden, diese sehr wohl dennoch auf den Zuschauer wirken. HansWerner Ludwig und Guido Pruys gehen sogar noch einen Schritt weiter: „Der eigentliche Gewaltakt spielt sich ausschließlich in der Phantasie des Zuschauers ab. Die Wirkung kann auf diese Weise gesteigert werden, weil die Vorstellung der Tat schlimmer sein kann als die Tat selbst.“127 Diese Hypothese ist problematisch, da sie sich insbesondere auf eine Vergewaltigungsszene bezieht, die zwar nicht gezeigt, aber akustisch vermittelt wird – ebenfalls eine mediale Vermittlung, auch wenn diese nicht das volle sensorische Potential ihres Trägermediums ausnutzt. Das offenbar kontradiktorische Verhalten der Fernsehkonsumenten – zum einen ein zu Viel an Gewalt zu beklagen, zum anderen aber gerade gewalttätige Darstellungen zu konsumieren – muss selbst als Phänomen gesehen werden, das von einer umfassenden Theorie des Mediengebrauchs und der Mediennutzung zu erklären ist. Eine Kategorisierung von Gewaltdarstellungen als lediglich Aufmerksamkeit erzeugende Stimuli greift angesichts der zu beobachtenden Wirkzusammenhänge zu kurz. Derartige Inhalte als bloße Eyecatcher zu verstehen, als „…schnell verfügbare und leicht instrumentalisierbare Aufmerksamkeitsindikatoren“, wie Patrick Rössler und Kollegen ausführen, sagt „sehr wenig darüber aus, weshalb die Zuwendung erfolgte und was sie für Konsequenzen haben könnte.“128
125 Vgl. auch Glasser: The Culture of Fear. 126 Janssen: „Gewalt – Thema Nr. 1“. 127 Ludwig/Pruys: »... so brauch’ ich Gewalt!«, S. 94. 128 Rössler u.a.: Theoretische Perspektiven der Rezeptionsforschung, S. 7.
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Zwar ist schon das Erkennen von Medien-Präferenzen als wissenschaftlicher Fortschritt zu sehen, gesellschaftlich relevant ist jedoch die Frage, wie dieser Konsum sich auf die sozialen Interaktionen auswirkt. Das Erzeugen von Aufmerksamkeit ist kein sich in sich selbst genügender Vorgang, sondern notwendige Bedingung für Wirkungen, die deutlich über die bloße Rezeption hinaus reichen. So konnte Jeanne B. Funk129 die erwähnte handlungsrelevante Verschiebung der Weltwahrnehmung schon für Grundschulkinder belegen. Bei einer Studie, die an 150 Schülern in den ersten Schuljahren den Einfluss von Gewalt-Videospielen untersuchte, zeigte sich, dass deren Konsum signifikant zu einer Abstumpfung gegenüber derartigen Verhaltensweisen führte. Solche Veränderungen der Umweltbewertung aber sind gewichtige Faktoren für das eigene Handeln. Welche realweltlichen Konsequenzen aus dem Einfluss der Medien resultieren, ist nach wie vor ein kontrovers diskutiertes Thema. Historisch belegt sind einige sehr auffällige Koinzidenzen: Nachdem in den 50er Jahren in den USA und Kanada das Fernsehen eingeführt worden war, kam es dort zu einer Verdopplung von Tötungsdelikten innerhalb von zehn bis 15 Jahren. Während des gleichen Zeitraums nahm die Zahl der Tötungsdelikte in Südafrika um 7% ab. Nach Einführung des Fernsehens in Südafrika im Jahre 1975 stiegen im Zeitraum bis 1987 die Tötungsdelikte um 130%.130 Aus diesen und anderen Angaben mit den etablierten Mitteln der medizinischen Statistik interpolierend, folgert der Epidemiologe Brandon Centerwall: [...] the evidence indicates that if, hypothetically, television technology had never been developed, there would today be 10,000 fewer homicides each year in the United States, 70,000 fewer rapes, and 700,000 fewer injurious assaults. Violent crime would be half what it is.131 Zahlreiche Medienforscher stehen einem derartig konkreten Benennen und Beziffern von Wirkungen skeptisch gegenüber. So wendet Merten ein, dass es fünf große Probleme gibt, wenn man die Wirkungen von Medien messen möchte:
129 Vgl. Funk u.a.: „Violenceexposure in Real-Life, Video Games, Television, Movies, and the Internet“. 130 Spitzer: Vorsicht Bildschirm!, S. 203, sich beziehend auf Centerwall: „Exposure to Television as a Cause of Violence“. 131 Centerwall: „Our cultural perplexities“.
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a) Es gibt kein Gegenteil von Wirkungen, b) Messung von Wirkungen von Kommunikation setzt weitere Kommunikation voraus (Reaktivität), c) die zeitliche Verzögerung zwischen Wirkung und Messung, d) die valide Zurechnung von Ursachen und e) die Veränderung von Wirkungen mit der Zeit.132 Dieses Set von Einwänden umfasst einen großen Teil der Rahmenbedingungen mit denen Wirkungsstudien umgehen müssen, wobei zu Punkt a) anzumerken ist, dass an dieser Stelle kein erkenntnistheoretischer oder methodologischer Bedarf nach einem Gegenteil von Wirkungen besteht. Wer – um noch einmal auf das verwendete Würfelbeispiel zurück zu kommen – das Auftreten von Sechsen untersucht, muss sich keine Gedanken machen über ein mögliches Nichtwürfeln, sondern lediglich über andere Ereignisausprägungen, die aus den gleichen Anfangsbedingungen folgen können. Die vorgestellten Studien, die Rezipienten in unterschiedliche Gruppen gemäß der Menge ihrer Medienexposition aufteilen, tun genau dies: Sie untersuchen quantifizierbare Variablen, wie Leseleistung oder Gesetzeskonflikte, und betrachten diese in Abhängigkeit von der Stärke der Medieneinwirkung – ein Vorgehen, das in keiner Weise auf ein Gegenteil von Wirkungen angewiesen ist. Es werden vielmehr unterschiedliche Wirkungsausprägungen miteinander korreliert, so dass statistisch wahrscheinliche Zusammenhänge aufgezeigt werden. Diese statistischen Korrelationen determinieren nicht den Einzelfall. Konkret bedeutet dies, dass auch ein maximaler Konsum von Bildschirmmedien im Kindesalter nicht zwingend dazu führt, dass sich die Lesefähigkeit ungewöhnlich langsam entwickelt und dass es im späteren Leben zu Konflikten mit dem Gesetz aufgrund von gewalttätigem Verhalten kommt. Die probabilistische Beschaffenheit der gewonnenen Erkenntnisse ermöglicht aus erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Gründen keine derartig zwingenden Aussagen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es sich um schlechte Wissenschaft oder fragwürdige Ergebnisse handelt. Es handelt sich vielmehr um statistische Aussagen, die nicht in Vorhersagen für konkrete Individuen transformiert werden können. Für unser Beispiel bedeutet dies, dass man wissenschaftlich abgesichert sagen kann, dass Kinder, die mehr Zeit vor dem Fernseher verbringen, im Schnitt länger brauchen bis sie in der Lage sind flüssig zu lesen. Dieser Zusammenhang gilt aber nicht für jedes Kind mit fernsehintensivem Lebensstil. Auf Grund der zu erwartenden Varianz wird es auch innerhalb dieser Gruppe Individuen geben, die sich mit hoher Geschwindigkeit die zentrale Fähigkeit der klassischen Bildung aneignen. Diese Fälle stehen mit der Aussage, dass Fernsehkonsum das Erlernen des Lesens erschwert, insofern in Einklang, 132 Merten: Gewalt durch Gewalt im Fernsehen?, S. 67.
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als es sich bei ihnen um unwahrscheinliche Ereignisse innerhalb der zu erwartenden Varianz handelt. Beispielhaft ausformuliert bedeutet dies: Begleitet man mit dem Vorwissen um den Zusammenhang zwischen Fernsehkonsum und Lesenlernen eine Gruppe von hundert Viel- und eine Gruppe von hundert Wenigsehern vom Kindergartenalter an durch die ersten Schuljahre, kann man im Vorhinein nichts über die Entwicklung jedes einzelnen Kindes sagen. Mit Sicherheit kann man aber sagen, dass in der Gruppe der Vielseher rund 50 Kinder erst im dritten Schuljahr die Lesefähigkeit erreichen werden, die der Durchschnitt der Vergleichsgruppe schon im zweiten Schuljahr hat. Jedes zweite Kind der Gruppe mit hohem Fernsehkonsum wird somit im dritten Schuljahr eine Jahr Rückstand bei der Ausbildung seiner Lesefähigkeiten aufweisen. Würde man die gesamte Gruppe der Vielseher anlässlich der Einschulung in einem Raum versammeln, dann kann man sicher sein, dass jedes zweite Kind binnen zwei Jahren einen Entwicklungsrückstand von einem Jahr gegenüber den Wenigsehern haben wird. Trotz dieser Sicherheit gibt es jedoch keine Möglichkeit zu sagen, welche der anwesenden Schulanfänger es sein werden. Würde man die Eltern dieser Gruppe über die zukünftige Entwicklung informieren, so könnten diese mit Recht einwenden, dass davon ja nicht unbedingt ihr Kind betroffen sein muss. Es wird – das ist das Wesen der statistischen Varianz – in dieser Gruppe Kinder geben, die sich das Lesen ebenso schnell aneignen wie der durchschnittliche Wenigseher – manche sogar schneller. So stark die statistischen Zusammenhänge auch sein mögen, die Entwicklung jedes einzelnen Individuums ist dadurch in keiner Weise vorherbestimmt. Die Fernsehnutzung ist nur einer der Faktoren, die auf die Ausbildung der Lesefähigkeit wirken – wenn auch ein sehr gewichtiger. Dieser Hinweis auf die nicht deterministische Natur des hier angeführten Kausalzusammenhanges für den Einzelnen ist notwendig: zum einen, weil die menschliche Psyche Schwierigkeiten im Umgang mit Wahrscheinlichkeiten hat und zum anderen, weil ein in dieser Weise quantifizierender Wissensbegriff im Widerspruch zum stark werk- und individuenorientierten Ansatz der traditionellen Geisteswissenschaften steht. Die Hoffnung der Eltern, dass ihr Kind die Ausnahme in der Gruppe der Langsamen sein wird, ist identisch mit der Hoffnung aller Raucher, dass ihnen der permanente Giftkonsum nichts anhaben wird. „Die Parallele zum Zigarettenkonsum muss erlaubt sein“133, wie es bei Lukesch heißt. Die tendenzielle Unfähigkeit von Menschen in handlungsadäquater Form mit Wahrscheinlichkeiten umzugehen, kann man sich an einer Frage deutlich machen, die Gerhard Vollmer anführt: Wie viele Menschen müssen in einem Raum sein, damit die Wahrscheinlichkeit, dass zwei am 133 Lukesch: Das Weltbild des Fernsehens, S. 8.
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gleichen Tag Geburtstag haben, größer als 50 % ist? Nahezu jeder Befrage, der nicht über ein vertieftes mathematisch-statistisches Wissen verfügt, wird mit einer deutlich höheren Zahl als dreiundzwanzig antworten. Das aber ist die richtige Antwort.134 Im Zentrum der Tätigkeit von Geisteswissenschaftlern stehen traditionell die Inhalte kultureller Erzeugnisse, wie die Handlungen von Büchern bestimmter Autoren oder die Farbarrangements von Malern auf Leinwänden. Behandelt werden dabei im weitesten Sinne Fragen wie: Was findet sich in diesen Werken? Wie sind sie zustande gekommen? In welchem Zusammenhang stehen sie zu anderen Werken oder Ereignissen? Dies sind zentrale Fragen, wenn es darum geht Inhalt, Geschichte und eben auch Wirkungen von Werken, künstlerischen Schulen oder ganzen Epochen zu benennen. Der Wirkungsbegriff und der wissenschaftliche Impetus, durch das Aufdecken von nicht offensichtlichen Zusammenhängen die Vielfalt der Welt besser zu verstehen, fokussieren sich auf Inhalte. Die fachliche Entwicklung der historisch noch jungen Medienwissenschaften leitet sich aus den mit Literatur und Kunst befassten Geisteswissenschaften ab.135 In ihnen setzt sich eine weit ins neunzehnte Jahrhundert zurückreichende Tradition des wissenschaftlichen Umgangs mit kulturellen Erzeugnissen fort. Kennzeichnend für die Medienwissenschaften ist, dass sich ihre Betrachtungen auf massenmedial verbreitete Inhalte aber auch Wirkungsmechanismen beziehen. Da die moderne Medienwissenschaft ein noch junger Spross einer inhaltszentrierten Wissenschaftstradition ist, wird verständlich, warum eine Vernachlässigung dieser Dimension für viele Vertreter des Faches nicht akzeptabel ist. Die Frage scheint plausibel. Was soll man über die Wirkungen von Medieninhalten sagen, wenn man die Inhalte nicht en detail kennt? Es ist jedoch eine ebenfalls lohnende Strategie, erfolgreiche Methodiken anderer Wissenschaftsdisziplinen einzusetzen, die sich gleich der Medienwissenschaft mit Phänomenen befassen, die durch massenhaftes Auftreten von Einzelereignissen charakterisiert sind. Hier bietet sich insbesondere die Medizin an, die im Verlauf ihrer Geschichte ein Instrumentarium entwickelt hat, um gewünschte und unerwünschte Wirkungen bestimmter Ereignisse zu erfassen. Dabei kann es sich um so unterschiedliche Fälle wie Vorlieben für bestimmte Nahrungsmittel, Aufenthalte in unterschiedlichen Landstrichen, das Überschreiten einer Gewichts- oder Altersgrenze und natürlich auch die Einnahme oder Nichteinnahme von bestimmten Medikamenten handeln.
134 Vollmer: Was können wir wissen? Bd. 1, S. 124. 135 Vgl. Viehoff: „Von der Literaturwissenschaft zur Medienwissenschaft“.
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Die zitierten Aussagen von Centerwall136 beruhen auf derartigen Methoden und stellen einen zahlenmäßig sehr genauen Zusammenhang her zwischen der Existenz der Bildschirmmedien und der Menge von Gewaltdelikten in den USA. Diese Methoden werden ansonsten in einem der individuell bedeutsamsten und deshalb risikosensibelsten Bereiche der Gesellschaft eingesetzt: im Gesundheitswesen. Diese Verfahren, die mit dem Ziel entworfen wurden, Entscheidungen über mögliche Medikationen von Menschen zu treffen, bieten sich an, die gleiche Aufgabe für mediale Einflüsse zu erfüllen. Die noch nicht weitergehend erörterten Probleme einer gelingenden Wirkungsforschung, laut Merten „die zeitliche Verzögerung von Wirkung und Messung, die valide Zurechnung von Ursachen und die Veränderung von Wirkungen mit der Zeit“137 scheiden als Fehlerquellen weitgehend aus, denn sie finden sich in diesen Methodiken berücksichtigt. Ein berechtigter Einwand ist, dass die Medienwirkungsforschung nicht in gleicher Weise wie die medizinische Forschung Tests durchführen kann, speziell wenn es sich um langfristige Fragestellungen handelt. Manfred Spitzer geht davon aus, dass eine solche Langzeitstudie aus ethischen Gründen verboten würde: Würde man es heute fertig bringen, eine experimentelle randomisierte kontrollierte Studie zu den Auswirkungen des Fernsehens an einer größeren Gruppe von – sagen wir – 20.000 Menschen durchzuführen, würde diese Studie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus ethischen Gründen vorzeitig abgebrochen werden müssen.138 Diese fehlende Möglichkeit, streng kontrollierte Tests durchzuführen, lässt sich jedoch durch die Berücksichtigung natürlicher Varianz innerhalb der Untersuchung kompensieren – sei es durch besondere Umstände, wie im Fall der kanadischen Ortschaft oder einfach durch die mehrfach erwähnten Vergleiche zwischen Viel- und Wenigsehern. Die bisher angeführten wenigen Untersuchungen bedeuten aber nicht, dass es sich um ein erst entstehendes Forschungsgebiet handelt. Lukesch und Mitarbeiter geben die Zahl empirischer Untersuchungen zum Thema Auswirkungen von Mediengewalt mit rund 800 an. Diese Studien vergleichen insgesamt etwa 2.400 einzelne Effekte.139 Berücksichtigt man die Arbeiten zu Medien und Gewalt, die keine empirischen Studien sind, dann steigt die Summe der Referenzschriftstücke, auf die sich 136 z.B. Centerwall: „Our Cultural Perplexities“. 137 Merten: Gewalt durch Gewalt im Fernsehen?, S. 67. 138 Spitzer: Vorsicht Bildschirm?, S. 182. 139 Lukesch: Das Weltbild des Fernsehens, S. 111.
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eine thematische Diskussion beziehen kann, auf die schon angeführte, von Michael Kunczik mit 5000 geschätzte Zahl.140 Auf die 2004 vorgelegte „Expertise über die Gewaltwirkungen des Fernsehens und von Computerspielen“141 stützen sich Lukesch und Mitarbeiter: Gewalthaltiger Medienkonsum ist demnach ein nicht in Abrede zu stellender Faktor, der eine Zunahme des Aggressions- und Gewaltpotenzials auf individueller und auch gesellschaftlicher Ebene bewirkt… Diese globale Feststellung der Wirkung violenten Medienkonsums kann heute in vielfacher Weise näher erläutert werden. An dem dargestellten Haupteffekt der Gewaltwirkungsforschung lässt sich aber nicht rütteln.142 Die zweieinhalbtausend Jahre alte Katharsisthese muss vor diesem Hintergrund als widerlegt gelten – auch wenn sie zum intellektuellen Urgestein des Abendlandes zählt. Peter Winterhoff-Spurk belegt die Erkenntnis mit präzisen Werten, „dass Gewaltdarstellungen im Fernsehen wie in Videospielen nicht zum Abbau realen aggressiven Verhaltens beitragen“143. Es zeigen sich in allen zum Thema durchgeführten Metaanalysen positive Korrelationen zwischen .11 und .31 für das Fernsehen (vgl. Übersicht bei Bushmann & Anderson, 2001) und von .15 bis .19 für Videospiele. Die für das Fernsehen gefundene Korrelation von .31 liegt nur wenig hinter denen zum Zusammenhang von Rauchen und Lungenkrebs und deutlich über der Korrelation zum Zusammenhang von Passivrauchen und Lungenkrebs (vgl. Bushmann & Anderson, 2001).144 Der liebgewordene Gedanke mancher Diskussionsteilnehmer zur Wirkung von Medien, dass man quasi homöopathisch Gleiches mit Gleichem bekämpfen könne, erweist sich damit nicht nur als falsch sondern als gefährlich. Um eine Analogie zu Nahrungsmitteln zu bemühen: es handelt sich hier um den Versuch, eine Gewichtsreduktion durch den Konsum großer Mengen von Zuckerwasser herbei zu führen. Aussagen wie die folgende von Jib Fowles sind deshalb falsch und arbeiten darüber hinaus gesellschaftlichen Erscheinungen zu, deren mediale Eingrenzung sie postulieren – auch wenn die gewählte Diktion quasi Sigmund Freud als geistigen Paten dieser Therapieidee 140 Kunczik: „Wirkungen von Gewaltdarstellungen“, S. 141. 141 Lukesch: Das Weltbild des Fernsehens, S. 111ff. 142 Lukesch: Das Weltbild des Fernsehens, S. 8. 143 Winterhoff-Spurk: Medienpsychologie, S. 132. 144 Winterhoff-Spurk: Medienpsychologie, S. 132.
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anführt: „By having television entertainment with adequate sex and violence, Americans are nightly able to empty their subconscious; aggressive fantasies produce tranquil minds.“145 Diese klare Absage an eines der klassischen Wirkungsmodelle ist ein eindeutiger Fortschritt im wissenschaftlichen Streben nach einem besseren Verständnis von Medienwirkungen. Jedoch auch gemeinsam mit dieser klaren Aussage zum Zusammenhang von Medienkonsum und Gewalt bleibt die zentrale Frage nach den Ursachen unbeantwortet – eine statistisch hoch abgesicherte Aussage darüber, dass zwei Klassen von Geschehnissen eine kausale Abhängigkeit aufweisen, ist lediglich die Deskription einer bestehenden Wirkung ohne den dazugehörigen Mechanismus zu offenbaren. Für die Besetzung dieser Position B, in der von A nach C führenden probabilistischen und komplexen Kausalkette, wie sie hier vorliegt, gibt es dabei sehr wohl Kandidaten. Eine durchaus populäre Annahme fasst Sabine Trepte zusammen, dass die Verarbeitungskapazität des Menschen und insbesondere die von Kindern und Jugendlichen durch das Fernsehen überfordert wird und sich die Flut an Reizen auf Grund mangelnder kognitiver Verarbeitung andere Kanäle sucht, so zum Beispiel kriminelles Verhalten oder physische Störungen.146 Im weiteren Verlauf dieser Arbeit soll deutlich werden, nur eine bisher nicht unternommene Zusammenschau von Medienwissenschaften und anthropologischen Erkenntnissen der Neuro-, Gehirn- und Evolutionswissenschaften kann eine leistungsfähige Antwort auf die Frage nach dem Zusammenhang von Medienrezeption und individuellem Verhalten geben. Dieses Unterfangen belegt die Einsicht von Peter Vorderer und Silvia Knobloch: „It seems that suspense bears the same relevance to the understanding of what happens with the audience as conflict does to the definition of drama.“147 Medien wirken, weil sie Präferenzen bedienen, die nicht nur kulturell bedingt sind. Mediale Repräsentationen werden von evolutionär alten Informationsverarbeitungsmechanismen des menschlichen Gehirns verarbeitet, die zur Erzeugung situationsadäquaten Verhaltens entstanden.
145 Fowles: Why Viewers Watch, S. 244. 146 Trepte: „Zur Geschichte der Medienpsychologie“, S. 7. 147 Vorderer/Knobloch: „Conflict and Suspense in Drama“, S. 59f.
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Anthropologie „Sie stritten sich beim Wein herum, Was das nun wieder wäre; Das mit dem Darwin wär gar zu dumm Und wider die menschliche Ehre.“ (Wilhelm Busch148)
Weder Rezeptionsmodelle noch Erklärungen von Medienwirkungen kommen ohne ein anthropologisches Fundament aus – auch wenn dieses zumeist nicht explizit formuliert wird. Beide Klassen von Aussagen beschreiben regelhafte Zusammenhänge in Mensch-Umwelt-Interaktionen. Die anthropologische Komponente ist unvermeidbar, weil beide Fälle gehaltvolle Aussagen über die Kognition und die emotionalen und reflexiven Eigenschaften des Menschen erfordern. Sowohl Hypothesen darüber wie Medien rezipiert werden, als auch sensorischen Input und Verhalten verbindende Modelle sind nur als Aussagen über regelhafte Charakteristika des Wesens Mensch konzipierbar. Diese über den Einzelfall hinausgehende Deskription des Menschen ist seit jeher das Feld der Anthropologie149 – wie es auch schon die Wortbedeutung, Lehre vom Menschen, nahe legt. Die Motivation zu diesem Erkenntnisstreben ist der Wunsch, hinter der Vielfalt menschlicher Lebensweisen die grundlegenden Beschaffenheiten und Eigenschaften der Spezies Mensch aufzuzeigen. Die Geistesgeschichte des Abendlandes weist eine große Zahl von Werken auf, die sich der Beantwortung dieser existenziellen Fragen widmen. Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht150 kann dabei als philosophische Vorläuferin heutiger empirisch angelegter Bemühungen gesehen werden. Charakteristikum der zeitgenössischen Anthropologie ist es, dem Wesen des Menschen nicht nur theoretisch-allgemein sondern in seinen spezifischen Lebens- und Tätigkeitsbereichen nachzugehen.
148 Busch: Sämtliche Werke, Bd. VI, S. 259. 149 Marquard: „Anthropologie“, S. 362ff. 150 Vgl. Kant: „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“.
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Der Mensch als Bezugspunkt „Unsere kognitive Ausstattung ist das fehlende Teil vieler Puzzles, darunter auch Erziehung, Bioethik, Ernährung, Wirtschaft und unser Verständnis des Menschen selbst.“ (Steven Pinker151)
Aus der Zunahme von Medienangeboten und Mediennutzung im vergangenen Jahrhundert speist sich die Relevanz, die dem kantischen Fragen nach dem Wesen des Menschen heute zukommt. Zwar ist es nicht nur die Anthropologie, die sich um Antworten bemüht – im Kanon der Sozialwissenschaften setzen sich Rezeptions- und Wirkungsforschung seit langer Zeit mit diesem äußerst vielgestaltigen Phänomen auseinander. Wie schon unter der Überschrift Warum wirken Medien? ausgeführt, besteht die Medien betreffend eine gegenseitige Abhängigkeit von Anthropologie, Rezeptionsmodellen und Wirkmechanismen. Es ist zum einen nicht möglich, eine gehaltvolle Anthropologie zu formulieren, die im Widerspruch zu Erkenntnissen der Rezeptionsund Wirkungsforschung steht, zum anderen generieren diese Forschungsrichtungen durch ihr empirisches Arbeiten Hypothesen und Aussagen über spezifisch menschliche Reaktionen, so dass eine an der Praxis orientierte Anthropologie sie nicht ignorieren kann. Die Medienanthropologie steht somit nicht nur in der Tradition spekulativer philosophischer Anthropologien sondern erwächst auch aus der Integration empirischer Ansätze und Ergebnisse der Naturwissenschaften. Eine Medienanthropologie, die im medialisierten Alltag ernst genommen werden will, muss das Erklärungspotential der empirischen Wissenschaften konsequent einbinden. Prinzipiell falsifizierbare Aussagen fungieren dabei als Korrektiv, das eine dynamische Anpassung an neue Erkenntnisse erlaubt. Der Anspruch auf Relevanz, den eine solche Anthropologie erhebt, geht damit mit der Formulierung von Prüfkriterien einher. Anthropologische Entwürfe, die sich auf diese Weise an empirische Erkenntnisse binden, erlauben konkrete und handlungsrelevante Aussagen zum Umgang des Menschen mit seiner Umwelt. Anthropologie unter expliziter Einbeziehung der empirischen Wissenschaften zu betreiben, ist dabei kein neues Konzept. Sowohl Arnold Gehlen als auch Helmuth Pleßner, die zwei bekanntesten Vertreter der philosophisch geprägten deutschsprachigen Anthropologie, haben genau dieses getan. Die Weiterentwicklung der Biowissenschaften hat jedoch dazu geführt, dass inzwischen große Teile ihrer Entwürfe als obsolet anzusehen sind. Pleßners Ent151 Pinker: Das unbeschriebene Blatt, S. 310.
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wurf einer exzentrischen Positionalität152 des Menschen ist mit Blick auf evolutions- und neurobiologisches Wissen um Wahrnehmung und Denken problematisch. Ebenso lässt sich Arnold Gehlens Konzept des Mängelwesens Mensch153 angesichts der biologischen Einsichten in Evolution und Diversifizierung der Arten nicht aufrechterhalten. Die Weiterentwicklung, die sich hier zeigt, stellt dabei weder eine Geringschätzung der Autoren noch eine Absage an deren Bedeutung im Rahmen der Entwicklung der Geisteswissenschaften dar, sondern ist ein Charakteristikum einer sich immer wieder in Frage stellenden Wissenschaft. Analog dazu ist die Medienanthropologie vom Wissen der Rezeptionsforschung abhängig, weil gehaltvolle Aussagen dem empirische Wissen über die Wahrnehmung der medialen Umwelt gerecht werden müssen. Rezeptionsmodelle erweisen sich aus dieser Perspektive als anthropologischen Konzepten korrespondierende Modelle menschlicher Umweltinteraktionen – als empiriebezogene Antwortversuche für einen Teilbereich der Frage nach dem Wesen des Menschen. Die Wirkungsforschung sowohl als beobachtende als auch experimentelle Disziplin schließt an dieser Stelle nahtlos an, sobald der Schritt von der Theorie zur konkreten Erfassung kausaler Zusammenhänge gemacht wird. Weil sie die theoretischen Werkzeuge zum Umgang mit Wirkungen sind, können Rezeptionstheorie und Anthropologie nicht langfristig zu den Ergebnissen der Wirkungsforschung im Widerspruch stehen. Über die Anthropologie fließt in diese enge Beziehung mit Rezeptionstheorie und Wirkungsforschung eine Vielzahl von Erkenntnissen anderer Fachgebiete ein. Medienrezeption und -wirkung – Unterkategorien der menschlichen Verarbeitung von Umweltstimuli – gehören zum Kanon jener Disziplinen, die sich empirisch mit menschlichem Verhalten auseinandersetzen. Dieses Spektrum spannt sich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – von der Ethnologie über die Gehirnforschung und Psychologie bis hin zur Soziologie. Spezifische Aussagen über die Interaktionen von Menschen und Medien knüpfen somit an einen umfangreichen Fundus von Erkenntnissen über das menschliche Verhalten an.
152 Pleßner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 288ff. 153 Gehlen: Der Mensch.
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Welche Anthropologie? „Das Lichtspiel folgt den Gesetzen des Bewusstseins mehr als denen der Außenwelt.“ (Hugo Münsterberg154)
Jeder Gebrauch des Wortes Anthropologie ist jedoch mit der Möglichkeit von Missverständnissen verbunden. Dabei geht es nicht darum, wie möglicherweise revolutionär oder sprachlich entrückt Theorien oder Hypothesen sind. Grund für Miss- oder Unverständnisse ist vielmehr die Existenz mehrerer, so gut wie unabhängig voneinander bestehender, wissenschaftlicher Diskurse. Die drei Wissenschaftsbereiche, die sich in ihren Selbstcharakterisierungen als Anthropologie verstehen, lassen sich in einer ersten Annährung wie folgt verorten: Die erste Strömung speist sich aus der Tradition der philosophischen Anthropologie, die zweite umfasst jene Beobachtungen, die man traditionell als Ethnographie oder Völkerkunde bezeichnet, die dritte schließlich stützt sich auf Teildisziplinen der Biologie, nimmt aber auch Ergebnisse und Methoden anderer Disziplinen wie Paläontologie oder Klimaforschung auf. Diese unterschiedlichen Anthropologien produzieren in ihrer Konsequenz eine kommunikative Inkompatibilität, die einen Vergleich zur babylonischen Sprachverwirrung mit der anschließenden Turmbau-Katastrophe aus der Bibel als durchaus adäquat erscheinen lässt. So formuliert Hans Belting: „Jede Spielart von Anthropologie zieht Missverständnisse auf sich, nachdem der Begriff sehr verschiedenen Disziplinen gedient hat und in seiner Geschichte oft genug ideologisch gefärbt wurde.“155 Die Situation der Anthropologien ist für eine interdisziplinäre konstruktive Zusammenarbeit noch problematischer, als es das offensichtlich schon hohe Potential an Missverständnissen und Fehlinterpretationen vermuten lässt. Ein kontinuierlicher Diskurs ist unmöglich, weil sich die verschiedenen Erkenntnisdiskurse sowohl dies- als auch jenseits der Demarkationslinie156 zwischen Geistes- und Naturwissenschaften befinden. Dieses mit dem Begriff Anthropologie verknüpfte Wissenschafts-Patchwork ist vielen der Akteure, die sich in den unterschiedlichen Teildiskursen bewegen, nicht bewusst. So kommt Ludwig Pfeiffer in seinen Überlegungen zu Medienanthropologie zu dem problematischen Schluss:
154 Münsterberg: „Film als Objektivierung psychischer Akte“, S. 135. 155 Belting: Bildanthropologie, S. 22. 156 Vgl. Snow: „Die zwei Kulturen“.
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‚Anthropologie‘ - abgesehen von ihrer selbst seit langem problematisch gewordenen ethnographischen britisch-amerikanischen Ausrichtung – gibt es als wissenschaftliche Disziplin nicht. Ein Wesen des Menschen hat sich nicht ausmachen lassen. Moderne, gleichsam ‚harte‘ medien- und systemtheoretische Ansätze haben diese Unmöglichkeit zementiert. Was jeweils als Wesen des Menschen auftritt sind danach Effekte bzw. Semantiken, die durch Medientechnologien und soziale oder auch sprachliche Differenzierungen erzeugt werden.157 Die hier angesprochene Frage nach dem Wesen des Menschen, die Kern jeder ernsthaften Anthropologie ist, soll an dieser Stelle zurück gestellt werden. Die Aussage, dass empirische Wissenschaften sich mit dieser Frage nicht auseinandersetzen, ist problematisch angesichts mehrerer medizinischer und biologischer Institutionen im deutschsprachigen Raum, einschließlich des MaxPlanck-Instituts für evolutionäre Anthropologie, die das Wort Anthropologie im Namen führen. Auch die von Ludwig Pfeiffer problematisierte Anthropologie als Völkerkunde besteht nach wie vor, auch wenn sie sich durch die globale Entwicklung der letzen Jahrzehnte gewandelt hat: Die Anthropologie – lange Zeit der selbsternannte Interpret und Vertreter für kulturell ‚Andere‘ – besitzt nicht länger einen privilegierten Zugang zu interkulturellem Wissen (nicht, dass sie diesen je zur Gänze besessen hätte). Auch sind die Anthropologen nicht mehr die erste Wahl als Übersetzer oder Vermittler für die Gemeinschaften, mit denen wir uns auf Versuche gegenseitigen Verstehens und Begreifens einlassen. Nach wie vor bleiben Anthropologen der Mehrung ethnographischen Wissens und interkulturellem Verstehens verpflichtet – auch wenn es heute CNN, Hollywood, MTV und andere globale Medien sind, die für den größten Teil der Weltbevölkerung andere Kulturen präsentieren und repräsentieren.158 Die geschichtlich gewachsene Teilung der akademischen Welt in Geistes- und Naturwissenschaften erweist sich im Kontext der Anthropologie als kontraproduktiv und konfliktträchtig. Gerhard Roth erinnert an die Parallele zur Diskussion um die Psychologie und deren Eingliederung im Fächerkanon: Eine ähnliche Spaltung existiert auch für die Anthropologie, die dann als Kompromiss häufig in eine ‚biologische Anthropologie‘, eine ‚So-
157 Pfeiffer: Das Mediale und das Imaginäre, S. 11. 158 Askew: The Anthropology of Media, S. 1, Übersetzung des Autors.
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zialanthropologie‘ und eine ‚philosophische Anthropologie‘ aufgeteilt wird.159 Diese Differenzierung mit den sich anschließenden fachinternen Unterteilungen resultiert dabei in einer kommunikativen Fragmentierung dieser Anthropologien. Wenn Stefan Rieger von Anthropologie und Neurologie als „in sich konträren Wissensformen“160 spricht, dann belegt dies diese Fragmentierung im Verständnis einer Wissenschaft vom Menschen. Es existieren anthropologische Paralleluniversen, deren Vertreter mitunter die ideologisch zementierte Tendenz haben, die Legitimität der anderen semantisch-epistemischen Kosmen zu negieren. In Anlehnung an Dirk Blothner lässt sich sagen, dass sich die geisteswissenschaftliche Anthropologie darum bemüht, den Menschen und dessen kulturelles Leben zu beschreiben, „ohne es mit aus den Naturwissenschaften entlehnten Formalisierungen stillzulegen und unkenntlich zu machen.“161 Diese sich aus Rationalismus, Idealismus, und im Weiteren von Nietzsche, Freud und anderen Denkern herleitende Betrachtungsweise wird im Gegenzug von Vertretern des naturwissenschaftlichen Ansatzes als problematisch gesehen, da sie aus Sicht der Empiriker zentral auf einer „Leugnung der menschlichen Natur“162 aufbauen. Ein Eindruck davon, wie im allgemeinen das Resümee eines geisteswissenschaftlich orientierten Anthropologen über die Parallelwelten der Naturwissenschaftler ausfällt, findet sich bei Harald Welzer: Nach dem Studium der neurowissenschaftlichen Standardliteratur fühlt man sich ein bisschen wie der Besucher einer gigantischen neuen Fabrikanlage, in der sich freundliche Ingenieure alle Mühe geben, einem die sinnreichen Funktionen jeder einzelnen Maschine en detail näherzubringen, während einen die ganze Zeit die Frage beschäftigt, ob denn dass alles wohl zur Herstellung von Panzern oder von Margarine dient. Im Grund ist man so irritiert, dass man sich nicht einmal mehr sicher ist, ob man den Hinweis über dem Fabriktor, welchem Zweck das Wunderwerk dient, nur übersehen hat oder ob es ihn überhaupt gab.163
159 Roth: Aus der Sicht des Gehirns, S. 197. 160 Rieger: Die Individualität der Medien, S. 374. 161 Blothner: Das geheime Drehbuch des Lebens, S. 9. 162 Vgl. Pinker: Das unbeschriebene Blatt. 163 Welzer: Das kommunikative Gedächtnis, S. 8f.
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Dieses Bild präsentiert in sehr eingängiger Weise den innerhalb der Geisteswissenschaften häufigen Schluss, dass den Vertretern der empirischen Wissenschaften, die sich mit Anthropologie auseinandersetzen, die wesentlichen Fragen dieses Problemfeldes abhanden gekommen oder – viel gravierender – nicht bekannt sind. Lutz Wingert formuliert im Rahmen eines Interviews diesen Verdacht auf einen chronisch blinden Fleck der Naturwissenschaften wie folgt: Die Frage ist doch, ob wir den Menschen auch als ein urteilendes und wertendes Wesen – und nicht nur in seiner organischen Existenz – als Teil der Natur auffassen können. Können wir den Menschen komplett, wie andere Teile der Natur auch, allein mit den Mitteln der disziplinierten Naturbetrachtungen beschreiben? Oder verschwindet unter dieser Beschreibung nicht doch ein zentrales Element von uns, nämlich all das, was mit der Fähigkeit zur Metarepräsentation und zur Selbstkritik zu tun hat? Ich glaube, ja.164 Betrachtet man die intellektuellen Fundamente dieses offensichtlichen Konflikts der Anthropologien wird deutlich, dass es sich im Kern um ein philosophisch-ontologisches Problem handelt. Verdeutlichen lässt sich dies an einem weiteren Zitat von Harald Welzer, in dem dieser sich wiederum mit dem Gehirn, genauer dessen Nervenzellen und -bahnen, auseinandersetzt: Und das wirft eine wichtige Frage auf: was denn die Substanz ist, die über all die endlosen Kilometer labyrinthischer Netzwerke geschickt wird und uns selbst und damit unser Bewusstsein ausmacht, was also der Stoff ist, den die Millionen und Abermillionen Neuronen so emsig und kreativ verarbeiten. Sowenig dieser Stoff materiell sein kann, so wenig genügt sich doch das Gehirn selbst – denn Gedanken sind etwas anderes als synaptische Verschaltungsmuster, und das ‚Engramm‘, das neuronale Verschaltungsmuster, das etwa einen Vers aus dem ‚Faust‘ repräsentiert, ist nicht identisch mit dem Sinn, den wir diesem Vers beimessen.165 Bereinigt man diese Ausführungen um ihre figurativen Elemente, dann tritt aus ihnen eine dualistische Weltsicht zutage. Die Substanz, von deren Wegen durch endlose labyrinthische Netzwerke hier die Rede ist, ist die Res cogitans des Begründers der neuzeitlichen Philosophie, Rene Descartes166. Ohne sie 164 Wingert: „Gespräch mit Wolf Singer“, S. 17. 165 Welzer: Das kommunikative Gedächtnis, S. 8. 166 Descartes: Meditationen über die erste Philosophie.
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fehlt der Res extensa, der Materie, das Entscheidende zum Menschsein. Woraus sich wiederum ergibt, dass empirischen Ansätzen, die auf Grund ihrer Methodik auf die Aufklärung materieller Zusammenhänge zielen, dieser entscheidende Teil des Menschseins stets verborgen bleiben wird. Eine solche Unterteilung der Welt in grundsätzlich geschiedene Seinskategorien – denkendes und stoffliches Sein – ist ontologisch legitim. Zieht man in Betracht, dass ein epistemologischer Anspruch auf Letztbegründung für kein Weltmodell umzusetzen ist, so ist eine solche ontologische Vorgabe sogar unvermeidlich. Eine derartige Zweisubstanzentheorie, die neben der Materie dem Geist eine eigene Existenz zubilligt, sieht sich jedoch gegenüber den pragmatisch-heuristischen Problemen in einem permanenten Rückzugsgefecht. Die jüngste wissenschaftliche Vergangenheit hat eine Fülle von naturalistischen Aussagen über ehemals nur introspektiv zugängliche Zustände produziert.167 Aussagen, die reproduzierbar belegen, dass geistige Phänomene in hoch regelhafter Weise mit biologischen Vorgängen verknüpft sind. Diese systematische Auseinandersetzung mit kognitiven Prozessen und die gewonnenen Erkenntnisse sind, wie Wolf Singer es fasst, in der Tat in ihren Konsequenzen problematisch für Vertreter von Wissenschaftstraditionen, deren methodische Essenz die Reflexion ist: Wenn Neurobiologen Wahrnehmungsprozesse erforschen und erkennen, wie konstruktivistisch und zugleich wenig objektiv unsere Wahrnehmungen sind, und wenn sich ferner erweist, dass dies auch für die Prozesse gilt, die unserem Denken zugrunde liegen – dann muss das für jemanden, der davon ausgeht, dass man durch Nachdenken alleine zu verlässlicher Erkenntnis vorstoßen kann, irritierend wirken.168 Trotz dieser möglichen Irritationen ist es angesichts der Problematik, dass zwei Wissenschaftstraditionen scheinbar nicht oder wenig kompatible Aussagen zum gleichen Phänomenbereich produzieren, kurzsichtig und kontraproduktiv, auf ein manichäisches Entweder-Oder hinzuarbeiten. Die Lösung des Widerspruchs kann nur sein, dass ein produktiver Ausweg aus dem Konflikt das Beste beider Seiten kombinieren muss. So führt Wolf Singer aus: Ich sehe jedoch nicht, wie sich semantische Gebilde – Gedanken, Behauptungen und so weiter – naturalisieren lassen, ohne das die Natur167 Vgl. Greenfield: Reiseführer Gehirn; LeDoux: Das Netz der Gefühle; Ramachandran: Die blinde Frau, die sehen kann; Ramachandran: Eine kurze Reise durch Geist und Gehirn; Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit; Roth: Fühlen, Denken, Handeln; Singer: Ein neues Menschenbild. 168 Singer: Ein neues Menschenbild, S. 11.
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wissenschaftler nicht ständig auf das Vokabular zurückgreifen müssten, das die Geisteswissenschaftler bereitstellen.169 Basis jeder Frage nach dem Wesen des Menschen ist – wie bereits angesprochen – eine implizit oder explizit vorausgesetzte Anthropologie. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Fähigkeiten und Seinsweisen des Homo sapiens ist nicht möglich, ohne deren Umweltbezüge näher zu charakterisieren. Die historische Entwicklung von Geistes- und Naturwissenschaften, die durch ihre zunehmenden Überschneidungen den Bedarf nach einem einheitlichen Menschenbild nährt, wurde vom Literaten und Mediziner Gottfried Benn schon 1910 in emphatischen Worten beschworen: Was die Resultate in ihrer Gesamtheit bedeuteten, war mehr als eine völlig neue Erkenntnis von der Bedeutung der nervösen Organe; vielmehr handelte es sich um dies: man hatte an Geweben des Körpers experimentiert und hatte Reaktionen bekommen aus dem Gebiet des Seelischen; man hatte sich während der Arbeit mitten im Bereich der Physiologie dem Psychischen gegenübergesehen; man war an eine Stelle gekommen, da waren die beiden Lebensbereiche zusammengeknotet und man konnte von hier aus sich in das dunkle rätselhafte Reich des Psychischen tasten. Und damit stand man vor etwas unerhört Neuem in der Geschichte der Wissenschaften: das Psychische, das Pneuma, das Über- und Außerhalb der Dinge, das Unfassbare schlechthin ward Fleisch und wohnte unter uns.170 Dieser Jubel Gottfried Benns gilt einer kausalen Einheit der Welt. Er sah den Geist – in all seiner Größe und Schönheit – nicht mehr als Bewohner materieferner Reiche, sondern in Reichweite der empirischen Erkenntnis. Die sich seit Descartes Wirken im 17. Jahrhundert fortsetzende dualistische Intuition der Neuzeit brach jedoch mit den ersten empirischen Belegen einer Kopplung von Physis und Psyche nicht zusammen. Eine über Generationen und Epochen tradierte Weltsicht und damit einhergehend die scheinbare Evidenz des subjektiven Erlebens stellen noch immer einen fruchtbaren Nährboden für Dualismen unterschiedlichster Ausprägung dar. Daniel C. Dennett skizziert in seiner Arbeit über Darwin das Spektrum möglicher Ausprägungen dieser Haltung: Ein Weg [Geist und Gehirn als separate Entitäten zu sehen (M.U.)] bestünde darin, für einen regelrechten cartesianischen Dualismus ein169 Singer: Ein neues Menschenbild, S. 15f. 170 Benn: „Beitrag zur Geschichte der Psychiatrie“, S. 8f.
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zutreten: Der Geist kann nicht einfach das Gehirn sein, sondern er ist ein anderer Ort; dort laufen große, geheimnisvolle alchemistische Vorgänge ab und formen das eingespeiste Rohmaterial – die kulturellen Einheiten, die wir Meme nennen – zu neuen Gebilden um, die ihre Quellen auf eine wissenschaftlich schlicht nicht zugängliche Weise hinter sich lassen.171 Diese die Unabhängigkeit des Geistes stärkende Haltung steht dabei einer mehr pragmatisch ausgerichteten Variante gegenüber: Etwas weniger radikal kann man die gleiche ablehnende Haltung unterstützen, indem man einerseits einräumt, der Geist sei letztlich zwar nur das Gehirn und damit ein physisches Gebilde, das allen Gesetzen der Physik und Chemie unterliegt, und andererseits aber darauf beharrt, er erfülle seine Aufgaben auf eine Art, die sich der wissenschaftlichen Analyse entziehe.172 Das dualistische Konzept der Beschaffenheit des Menschen ist deshalb so machtvoll, weil jede Sekunde menschlichen Erlebens es zu bestätigen scheint: So tief man auch nachdenkt, nie kommt man bei den Nervenzellen an, die für diesen Vorgang verantwortlich sein sollen – nicht die geringste Spur einer stofflichen Komponente offenbart sich der aufrichtig nach Erkenntnis suchenden Introspektion. Diese Dichotomie – dass Dinge einer materiellen Kausalität unterliegen und Geist sich in eigenen Sphären bewegt – findet sich in einer disziplinär und methodisch höchst uneinheitlichen Anthropologie wieder. Die Plausibilität des subjektiven Erlebens steht hier gegen die Reproduzierbarkeit empirischer Ergebnisse und den prädiktiven Charakter der jeweils verbundenen Theorien. Auf diese Situation passt das Urteil Stefan Riegers, es seien „immer noch und immer wieder die semantischen Altlasten des 19. Jahrhunderts, von denen eine Auskunft über das 21. Jahrhundert erwartet wird.“173 An anderer Stelle führt Rieger aus, dass sich Erkenntnistraditionen von Geistesund Naturwissenschaften vor allem durch ihre selektive Zuwendung entweder zum Erlebnis oder zum Ereignis unterscheiden: Im Gegensatz zu Erlebnis, dem Leitbegriff einer verstehenden Hermeneutik und darauf gründenden wissenschaftlichen Derivaten, setzt das Ereignis nicht mit der Biographie, mit der Rekonstruktion in sich abgeschlossener, damit auch erzählbarer Lebensganzheiten ein. Statt171 Dennett: Darwins gefährliches Erbe, S. 512f. 172 Dennett: Darwins gefährliches Erbe, S. 513. 173 Rieger: Kybernetische Anthropologie, S. 33.
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dessen geraten Serien experimentell erzeugter Ereignisse in den Blick, denen kein persönliches Erleben und keine biographische Auktorialität zugrunde liegen muss. Damit steht das Bewusstsein als – anthropologische – Leitgröße selbst zur Disposition: als Größe, die affirmiert wird, und als Größe, die zeitlich unterlaufen, durch technische Dispositive ausgeschaltet werden kann und ausgeschaltet wird.174 Diese Charakterisierung der empirischen Wissenschaften betont deren prinzipiellen Unterschied zu den Geisteswissenschaften. Die Argumentation fällt jedoch da, wo sie sich auf das Bewusstsein bezieht, deutlich hinter den gegenwärtigen Stand der kognitionswissenschaftlichen Diskussionen zurück. Seit dem Ende des Behaviorismus, Mitte des letzten Jahrhunderts, besteht von Seiten der Naturwissenschaften keine Tendenz mehr, dass Bewusstsein als hochrelevanten Faktor der menschlichen Lebenswelt zu ignorieren oder gar zu negieren.
Anthropologie als integratives Projekt „Our minds are just what our brains nonmiraculously do, and the talents of our brains had to evolve like every other marvel of nature.“ (Daniel C. Dennett175)
In seinem Buch zur kulturellen Entwicklung des menschlichen Denkens führt der Anthropologe Michael Tomasello aus, dass es müßig ist, von der Auseinandersetzung über derartige Dichotomien einen wirklichen Erkenntnisfortschritt zu erwarten: Alles in allem sind die abgenutzten, alten philosophischen Kategorien von Natur versus Umwelt, angeboren versus gelernt oder etwa Gene versus Umgebung einfach ungeeignet – weil sie zu statisch und kategorisch sind [...] 176 Das Ziel, das für ihn im Hintergrund wissenschaftlicher Anstrengungen steht, ist „eine dynamische Darwinsche Erklärung menschlicher Kognition in ihren evolutionären, geschichtlichen und ontogenetischen Dimensionen [...] 177
174 Rieger: Die Ästhetik des Menschen, S. 45. 175 Dennett: Freedom Evolves, S. XII. 176 Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, S. 251. 177 Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, S. 251.
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Der zentrale Begriff in dieser Zielsetzung – der auch im Zentrum dieser Arbeit steht – ist die Darwinsche Erklärung – eine Erklärung, die die evolutionäre Entstehung des Menschen mit dem kulturellen Reichtum der Gegenwart und Geschichte verschränkt. Das anvisierte Erklärungsmodell zielt damit auf den theoretischen Nachvollzug der realweltlichen Kompatibilität unterschiedlichster Organisationsstufen menschlicher Existenz. Kultur – von Literatur über Musik bis zum Steuerrecht – stellt sich aus dieser Perspektive als wichtiger Kausalfaktor für die Entwicklung des Einzelnen aber auch ganzer Gesellschaften dar. Wie integral der Faktor Kultur zu einer solch evolutionär orientierten Theorie gehört, akzentuiert Tomasello: Organismen erben ihre Umwelt so, wie sie ihr Genom erben. Das kann nicht genug betont werden. Fische sind dazu geschaffen, sich im Wasser zu bewegen, und Ameisen sind dazu geschaffen, in Ameisenhaufen zu leben. Menschen sind dazu geschaffen, in einer bestimmten Art sozialer Umwelt zu leben, und ohne eine solche würden die Jungen (vorausgesetzt, man könnte sie am Leben halten) sich weder sozial noch kognitiv normal entwickeln.178 Aus einer evolutionär orientierten Anthropologie resultiert somit keine Dichotomie von Natur und Kultur, sondern vielmehr ein Kontinuum von Kausalzusammenhängen, die in sehr unterschiedlichen Bereichen der Lebenswelt anzusiedeln sind und diese gleichzeitig verbinden. Die Kulturfähigkeit und die gewordene Kultur der Spezies Mensch sind in deren Natur angelegt – was jeglichen Versuch hinfällig macht, Kultur und Natur als einander grundsätzlich ausschließende Phänomenbereiche zu fassen. „Lernfähigkeit und Kulturfähigkeit sind ebenfalls Produkte einer Anpassung durch Selektion (culture by nature)“, wie es der Psychologe Frank Schwab fasst.179 Diese Einsicht betont, dass die Fähigkeiten, die menschliche Kultur ermöglichen, gleich dem Körperbau, Ergebnisse einer langen biologischen Entwicklung sind. Physis und Psyche des Menschen wurden einander nicht von kausal berührungslosen Sternen zugesandt, sondern entstammen einem gemeinsamen stammesgeschichtlichen Werdegang. Das Wissen um diese (bio)historisch gemeinsame Wurzel all dessen, was den heutigen Menschen ausmacht, bedeutet jedoch nicht, dass Kultur ein bloßes Produkt dieser biologischen Entwicklung ist – jeglicher Versuch einer Reduktion muss ebenso fehlschlagen wie der einer dichotomen Separierung.
178 Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, S. 97. 179 Schwab: Evolution und Emotion, S. 55.
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„Culture by nature“180 oder „Kultur via Natur“181, wie es bei Eckart Voland heißt, besagt vielmehr, dass die biologische Beschaffenheit des Menschen den Rahmen aufspannt, in dem sich Kultur entwickelt. Wie schwierig es ist, diesem Wechselspiel analytisch gerecht zu werden, deutet wiederum Michael Tomasello mit Verweis auf zwei große Denker des zwanzigsten Jahrhunderts an: Wir sind, wie Wittgenstein und Vygotskij so deutlich gesehen haben, Fische im Wasser der Kultur. Als Erwachsene, die die menschliche Existenz erforschen und über sie nachdenken, können wir nicht einfach unsere kulturelle Brille abnehmen, um die Welt kulturunabhängig zu sehen und sie dann mit der Welt unserer kulturellen Wahrnehmung zu vergleichen.182 Auch das Kulturprodukt Wissenschaft verfügt über keinen Zugriff, der sich dieser prinzipiellen Einschränkung entzieht. Verwendet man empirische Daten systematisch, so kann man auch komplexe Phänomene produktiv untersuchen, wenn man berücksichtigt, dass wissenschaftliche Aussagen stets nur vorläufig gelten. Ein wichtiger Gegenstand der anthropologischen Diskussionen, die im 21. Jahrhundert um die Kultur, ihre Voraussetzungen und Auswirkungen kreisen, ist das menschliche Gehirn. Menschliches Verhalten – in seinem ganzen Reichtum – entsteht hier. Von diesem komplexesten Organ des menschlichen Körpers war bis Anfang des letzten Jahrhunderts nicht bekannt, ob es gleich anderer Gewebe aus Zellen besteht oder ob es sich um eine holistisch agierende Makrostruktur handelt. In der Entwicklung der Hirnforschung seit diesem Zeitpunkt stellten sich nicht nur mehr und mehr Details zum zellulären Aufbau heraus, sondern auch größerskalige funktional-strukturelle Differenzierungen wurden deutlich. Es zeigte sich, wie Manfred Spitzer es formuliert, dass das Gehirn nicht eine einförmige Masse ist, in der der Geist irgendwie bzw. überall vorhanden ist. Das Gehirn besitzt vielmehr einen modularen Aufbau. Die einzelnen Module sind zwar flexibel und sie interagieren in vielfältiger Weise miteinander, um höhere geistige Leistungen zustande zu bringen, dennoch werden jeweils bestimmte Aspekte der Außenwelt überwiegend in ganz bestimmten Modulen kodiert.183
180 Schwab: Evolution und Emotion, S. 55. 181 Voland: „Natur oder Kultur?“, S. 50. 182 Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, S. 249. 183 Spitzer: Lernen, S. 341.
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Diese Einsicht eröffnet eine Möglichkeit, einer Vielzahl von physischen und psychischen Phänomenen auf neuronaler Ebene nachzugehen. Dieses Potential zum Nachvollzug unterschiedlichster Wahrnehmungs-, Verarbeitungs- und Handlungsvorgänge erlaubt es, konkrete Zusammenhänge zwischen individuellen Fähigkeiten und daraus resultierenden sozialen und kulturellen Phänomenen herzustellen. Das Gehirn ist die Schnittstelle von Natur und Kultur: Ohne die Verarbeitungsmechanismen und Lernpotentiale dieses Organs wäre die Entstehung und Ausbreitung von kulturellen Inhalten nicht möglich. Das Beruhigende an jeglichen Erkenntnissen, die aus einer derartigen Betrachtungsweise resultieren, ist, das sei an dieser Stelle für Skeptiker angemerkt, dass sich die faktische Position des Menschen in der Welt durch das Erkennen dieser engen Verbindung von Gehirn und Kultur nicht ändert. Wissen um organische Strukturen und deren Funktionalität verändert diese nicht, sondern nur die Art und Weise, wie sie wahrgenommen werden. Da es sich um einen deskriptiven Wissensgewinn handelt, erwachsen keine unmittelbaren ethischen Konsequenzen184 – wobei ein kultureller Umgang mit derartig neuen Erkenntnissen notwendig ist. Ein Teil der Diskussionen, die in der jüngeren Vergangenheit um die Konsequenzen der Hirnforschung geführt wurden, geht jedoch an dieser, letztlich in der kategorialen Trennung von Sein und Sollen wurzelnden Trennung von Faktenwissen, Ethik und Moral vorbei.185 An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass es sehr wohl anthropologische Ansätze mit fundamental normativer Ausrichtung gibt. So führt Norbert Groeben im Rahmen des Konzepts einer Medienkompetenz als „oberster anthropologischer Grundwert“ das „gesellschaftlich handlungsfähige Subjekt“ an, „das die normative Rechtfertigung für die gesellschaftliche Zielidee der Medienkompetenz und die daraus resultierenden Anforderungen an die Entwicklung(sfähigkeit) des Individuums darstellt“.186 Die parallele Existenz sowohl deskriptiver als auch normativer anthropologischer Ansätze kann als Ursache für ungerechtfertigte Aussagen zweierlei Typs gesehen werden: zum einen für naturalistische und zum anderen für moralistische Fehlschlüsse. In der Diskussion um die Bedeutung der empirischen Wissenschaften war in der Vergangenheit sehr oft von den von George Edward Moore so benannten naturalistischen Fehlschlüssen die Rede – oder zumindest von der Gefahr, dass es zu diesen kommen könne. Schlüssen also, die in fälschlicher und logisch unzulässiger Weise von einer Beobachtungsaussage über die Welt zu einem Sollen im moralischen Sinne gelangen. Es existiert
184 Vgl. Moore: Principia Ethica. 185 Vgl. Geyer: Hirnforschung und Willensfreiheit. 186 Groeben: Medienkompetenz, S. 31.
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jedoch auch – und das zumeist unbemerkt – die Möglichkeit eines Fehlschlusses in kausal umgekehrter Richtung. Ein solcher moralistischer Fehlschluss187 liegt dann vor, wenn von einem moralischen Gebot auf die Beschaffenheit der Welt zurück geschlossen wird. So wurden viele pädagogische Bestrebungen in der Vergangenheit von Fehleinschätzungen des menschlichen Lernvermögens begleitet, die von einem quasi standardisierten kognitiven Potential ausgingen. Entgegen der Annahme dieser Pädagogik, dass die intellektuelle Entwicklung eines jungen Menschen ausschließlich von seiner Umwelt abhängt, resultiert diese auch aus einer genetischen Komponente. Steven Pinker beschreibt diesen Zusammenhang wie folgt: Das menschliche Gehirn arbeitet so, wie es arbeitet. Sich ein Gehirn mit Funktionen zu wünschen, die gewissermaßen auf Schleichwegen irgendein ethisches Prinzip rechtfertigen könnten, läuft der Wissenschaft wie auch der Ethik zuwider (denn was geschieht mit dem Prinzip, wenn die wissenschaftlichen Fakten in die entgegengesetzte Richtung weisen?)188 Wissenschaft als Tätigkeit zielt auf die deskriptive Beschreibungen der Welt oder einzelner Phänomene. Legitim sind deshalb alle Aussagen, die überprüfbare Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge postulieren. Für die Anthropologie existieren dabei sowohl eine geisteswissenschaftliche als auch eine naturwissenschaftliche Tradition, die jeweils für sich in Anspruch nehmen, die Fragestellungen der Lehre vom Menschen adäquat zu bearbeiten. In der Auseinandersetzung mit dem Phänomen Medien, die beide Entwicklungsstränge in gleicher Weise berührt, gilt es deshalb nicht nur beiden Seiten gerecht zu werden, sondern auch ein produktives Miteinander dieser Perspektiven zu erzeugen. Grundlage einer sich synergetisch, integrativ mit Mensch und Medien auseinandersetzenden Anthropologie muss es sein, das Beste aus beiden Ansätzen füreinander fruchtbar zu machen. Eine solche Kombination bietet die parallele Nutzung empirischer Techniken zur Prüfung fraglicher Zusammenhänge bei gleichzeitiger Anwendung geisteswissenschaftlicher Methoden zur Generierung von Hypothesen.
187 Crawford: Public Policy and Personal Decision, S. 7. 188 Pinker: Der Sprachinstinkt, S. 480f.
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Der Medienrezipient ist ein aus wissenschaftlicher Sicht nicht ausreichend verstandener Akteur. Die offenen Fragen zielen dabei sowohl auf die theoretische Modellierung als auch auf potentielle Nutzungswirkungen und Steuerungspotentiale: Wie lassen sich beobachtbare Präferenzen und Muster der Mediennutzung erklären und in welcher Weise beeinflussen diese weiteres – auch nicht medienbezogenes – Verhalten? Zwar gibt es eine große Zahl von Untersuchungen, die sich unterschiedlichen Aspekten dieses Fragenkomplexes widmen – die konkreten kognitiven Mechanismen blieben jedoch bis jetzt weitgehend außerhalb der Reichweite wissenschaftlicher Rekonstruktion. Die Wurzeln dieses Verständnisdefizits reichen dabei deutlich über den Begriff des Rezipienten als medienkonsumierendes Individuum hinaus. Grund hierfür ist die Abhängigkeit jedes Rezipientenmodells von einer weiter ausgreifenden anthropologischen Position. Nur im Kontext eines über die Mediennutzung hinausgehenden Modells der kognitiven Potentiale und Mechanismen des Menschen ist ein angemessener und produktiver Umgang mit der vorliegenden Fragestellung möglich. Diese strukturbedingt unausweichliche – und auf den ersten Blick nicht immer ersichtliche – anthropologische Positionierung bestimmt die theoretische Einbettung des jeweiligen Rezipientenmodells und dessen interdisziplinäre Anschlussfähigkeit. Eine in den Medienwissenschaften bisher weitgehend vernachlässigte Perspektive ist die evolutionäre Anthropologie – Ausnahmen im deutschsprachigen Raum sind die Arbeiten von Clemens Schwender2 und Peter M. Hejl3. Ausgehend von einem Menschenbild, das sich aus den Erkenntnissen der Bio-, Neuro- und Kognitionswissenschaften speist, lässt sich eine Anbindung an die theoretischen und empirischen Fortschritte dieser für das moderne Weltverstehen zentralen Disziplinen erreichen. Ein transdisziplinär angelegter Ansatz eröffnet einen Erklärungshorizont der geeignet ist, Antworten auf zentrale 1
Vowinckel: „Biotische, psychische und soziokulturelle Konstruktionen der Wirklichkeit und wie sie zusammenhängen“, S. 259.
2
Schwender: Medien und Emotionen.
3
Hejl: „Konstruktivismus und Universalien“.
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Fragen der Nutzungs- und Wirkungsbeziehungen von Mensch und Medien zu geben. Der evolutionäre Ansatz stellt dabei die methodisch konsequente Fortsetzung des in vielen Geisteswissenschaften erfolgreichen historischen Denkens dar. So wie es eine Vielzahl kultureller Errungenschaften und Erscheinungen gibt, deren Existenz ohne einen Verweis auf deren geschichtliche Genese nicht zu erklären ist – so existieren Phänomene, die ohne einen Verweis auf ihre evolutionäre Entstehung nicht oder zumindest nicht hinreichend erklärt werden können. Die Anatomie unserer Spezies ist das Resultat dieses Prozesses. Weniger bekannt ist, dass auch die psychische und kognitive Beschaffenheit des heutigen Homo sapiens ein Ergebnis dieses biologischen Werdeganges ist. Die im Gehirn entstandenen Möglichkeiten zur Wahrnehmung und motorischen Auseinandersetzung mit der Umwelt bilden den Rahmen menschlicher Kulturfähigkeit. Jegliche kulturelle Manifestation erwächst aus diesem Fundament – einem Fundament, das im Unterschied zu einem Computer jedoch nicht beliebig programmierbar ist. Die kulturschaffende Freiheit der Individuen resultiert in der Wahrnehmung wie im Handeln aus evolutionär entstandenen Potentialen und Prädispositionen. Dieses perzeptivkognitive Erbe schließt auch die Emotionen und das Spektrum subjektiv erlebbarer Zustände ein.
Abbildung 3: Der Neckerwürfel
Exemplarisch lässt sich diese „Voreingenommenheit“ menschlicher Wahrnehmung und Kognition am Neckerwürfel vorführen (siehe Abb. 3). Die Wahrnehmung dieses Linienkonstrukts verdeutlicht, dass die Verarbeitungsmechanismen des Sehens für den Umgang mit einer dreidimensionalen Um-
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welt selektiert sind. Aus dem gegebenen, zweidimensionalen Stimulus resultiert bei normalsichtigen Betrachtern der Eindruck eines räumlichen Würfels. Eine rein geometrische Analyse der zwölf verschiedenen Linien zeigt sieben in einer Ebene liegende umgrenzte Flächen. Bei deren Betrachtung kommt es jedoch zu einer erheblichen (re)konstruktiven Transformation des Stimulus. Diese Standardeinstellung des visuellen Systems – mach drei Dimensionen aus zwei, wenn es möglich ist – ist entstanden, um auch unter schlechten Inputbedingungen mit der Beschaffenheit eines dreidimensionalen Lebensraumes umzugehen. Auf das typische Kippen des Neckerwürfels, das ebenfalls aus dem systemeigenen (re)konstruktiven Imperativ resultiert, gehe ich an späterer Stelle ein. Eine evolutionäre Sichtweise der Medien und der Mechanismen bei deren Rezeption und Wirkung ist nicht möglich ohne ein grundsätzliches Verständnis der biologisch-entwicklungsgeschichtlichen Dynamik und der stammesgeschichtlichen Prozesse, die zur Entstehung des heutigen Menschen geführt haben. Der folgende Teil dieser Arbeit erläutert die theoretischen Voraussetzungen, natürlich mit Blick auf deren Verwendbarkeit im Kontext der Medienwissenschaften. Im ersten Abschnitt, Evolution – Leben als nichtzufälliger Umgang mit der Umwelt, werden die Grundprinzipien und Dynamiken des Evolutionsprozesses dargestellt. Im Anschluss daran geht es – unter der Überschrift Das biologische Werden der Spezies Mensch – um das kursorische Nachzeichnen der biologischen Entwicklungslinie, an deren derzeitigem Ende der Mensch des frühen 21. Jahrhunderts steht. Der Abschnitt Intelligenz, Wahrnehmung, Kommunikation fokussiert, in welcher Weise diese Entstehungsgeschichte Einfluss auf die kognitiven Potentiale der menschlichen Art genommen hat. Die Betrachtung einengend greift der Abschnitt Emotionen als handlungsleitende Heuristiken den für den Medienbezug zentralen psychologischen Mechanismus heraus. Abschließend wird unter dem Titel, Die Natur der Aufmerksamkeit, eine evolutionäre Rekonstruktion dieser motivational zentralen Größe im Umgang mit den Medien unternommen.
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Evolution – Leben als nichtzufälliger Umgang mit der Umwelt „The single most limiting resource to reproduction is not food or safety or access to mates, but what makes them each possible: the information required for making adaptive behavioral choices.“ (John Tooby Leda Cosmides4)
Mit seinem 1859 erschienen Buch über die natürliche Entstehung der Arten begründete Charles Darwin das moderne evolutionäre Denken.5 Sein intellektueller Durchbruch bestand dabei nicht so sehr darin, dass er der Welt eröffnete, dass sich biologische Arten verändern – diese Einsicht war, unter anderem durch Lamarck6, in der damaligen wissenschaftlichen Diskussion präsent – sondern darin, dass er einen Mechanismus vorweisen konnte, der diesen Vorgang erklärte. Der entscheidende Fortschritt war: Er entdeckte die Fortpflanzung als Schlüssel zum Verständnis dieses biohistorischen Prozesses und suchte die Erklärung für die Veränderungen im Bau der Lebewesen, auf die unter anderem Fossilienfunde hinwiesen, nicht in deren individueller Lebensspanne. Maximal kondensiert fasst Anne Campbell dieses Konzept in den fünf Worten: „random genetic variation, non-random selection“7.
Vom Haushalt des Lebens und seiner Organismen „Im Kampf ums Überleben ist die Natur der einzige Richter, was die Intelligenz einer Art betrifft. Die Überlebenden waren schlau genug weiterzuleben, die Ausgestorbenen hingegen nicht.“ (Marc D. Hauser8)
Grundlage der Überlegungen, die Darwin zur Formulierung seiner Theorie führten, war die Beobachtung, dass alle Arten mehr Nachkommen haben, als zum rein quantitativen Erhalt der Art und somit dem bloßen Ersetzen der Elterntiere erforderlich sind. Würden alle Nachkommen einer Tierart überleben – gleich welcher – dann wäre eine unmittelbare Bestandsexplosion mit exponentieller Vermehrung der Individuenzahl unvermeidlich. Dass derartige 4
Tooby/Cosmides: „Conceptual Foundations of Evolutionary Psychology“, S. 47.
5
Darwin: Die Entstehung der Arten.
6
Lefèvre: Die Entstehung der biologischen Evolutionstheorie, S. 20ff.
7
Campbell: A Mind of Her Own, S. 8.
8
Hauser: Wilde Intelligenz, S. 322.
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Vorgänge nicht permanent zu beobachten sind, ist eine Folge der ökologischen Rahmenbedingungen. Sowohl Lebensraum, als auch alle anderen zum Überleben und Fortpflanzen notwendige Ressourcen sind – in ökonomischen Begriffen – knappe Güter. Daraus folgen universell „vier evolutionäre Probleme“9: Ressourcenzugang, Räubervermeidung, Fortpflanzung und Jungenaufzucht. Im übertragenen Sinne teilen sich alle Lebewesen gemeinsam einen großen Kuchen. Partielle Gewinne werden immer durch adäquate Verluste an anderer Stelle ausgeglichen. Darwin entdeckte diesen Zusammenhang10 durch die Lektüre von Thomas Malthus, der feststellte, „that population, when unchecked, increased in a geometrical ratio, and subsistence for man in an arithmetical ratio.“11 Zur Entstehung von Darwins Theorie führte auch eine zweite und alles andere als revolutionäre Beobachtung, nämlich dass die Nachkommen eines Elternpaares sich in Körperbau und Fähigkeiten fast nie genau gleichen. Es lassen sich Variationen beobachten. Mitunter zeigen sich aber auch neue Eigenschaften, so genannte Mutationen. Als Faustregel gilt seit Alters her, dass sich die Eigenschaften der Elterntiere in einer nicht vorhersehbaren Mischung in den Individuen der nächsten Generation wieder finden.12 Eine Einsicht, die für den passionierten Taubenzüchter Darwin aus eigener Anschauung offensichtlich war. In seinem epochemachenden Buch, das mit vollem, aber nur selten verwendetem Titel Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl heißt, führte er diese beiden unspektakulären Erkenntnisse zu einem neuen Verständnis der generationenübergreifenden Entwicklungsprozesse in der Natur zusammen. Konsequent zu Ende gedacht, bildet die Kombination einer zahlenmäßig nicht überlebensfähigen Nachkommenschaft mit individuell unterschiedlichen Fähigkeiten den Schlüssel zum Verständnis der Entstehung heutiger Fauna und Flora. Herbert Spencer war es, der diesen Zusammenhang in der bekannten Formulierung des Survival of the Fittest am prägnantesten bündelte. Heutige Theoretiker vermeiden eine derartig historisch belastete Wortwahl und bevorzugen Begriffe wie selektionsbedingte Anpassungen oder Adaptationen. Grund hierfür ist auch die analytische Einsicht, dass es kein objektives Fitnessmaximum für Körperbau und Verhalten gibt. Vielmehr können Änderungen der Umweltbedingungen dazu führen, dass ein vormals marginalisierter Typus
9
Kappeler: Verhaltensbiologie, S. 33f.
10 Desmond/Moore: Darwin, S. 302ff. 11 Malthus: Essay on the principles of population, Kap. II. 12 Vgl. Driesch: „Evolution und Haustiere“, S. 393ff.
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einen dauerhaften Wettbewerbsvorteil gegenüber der bisher dominanten Variante erhält.13 Der Motor hinter der Entstehung der Arten ist die Konkurrenz zwischen verschiedenen Individuen um begrenzte Ressourcen. Erfolg – wenn man diesen morallastigen Begriff angesichts des nicht in moralische Kategorien fallenden Geschehens verwenden will – bedeutet erstens Überleben, um sich, zweitens, fortzupflanzen. Die knappen Ressourcen der Umwelt wirken damit wie ein Nadelöhr, das nur einem Teil jeder Generation erlaubt, sein Erbgut weiter zu geben.
Warum die biologische Vergangenheit hilft die kulturelle Gegenwart zu verstehen „Complex adaptations necessarily reflect the functional demand of the cross-generationally long-enduring structure of the organism’s ancestral world, rather than modern, local, transient, or individual conditions. “ (John Tooby/Leda Cosmides14)
Entscheidend für das Verständnis des Evolutionsprozesses ist, dass man die Fähigkeiten und Eigenschaften heutiger Organismen als durch differentielle Reproduktion selektierte Anpassungen an Probleme aus der stammesgeschichtlichen Vergangenheit begreift. Diese Probleme lassen sich bei vielen Arten nach wie vor beobachten. Bei anderen Arten, zu denen auch der Mensch gehört, ist der selektive Kontext, der zum gegenwärtigen Phänotyp geführt hat, nicht mehr unmittelbar zugänglich. Dies bedeutet nicht, dass heutige Menschen keine Probleme hätten. Ihr Lebensraum und damit auch die Schwierigkeiten, die es für eine erfolgreiche Lebensführung zu meistern gilt, haben sich jedoch in erdgeschichtlich jüngster Vergangenheit umfassend gewandelt. Wie unmittelbar Lebensraum und Physiognomie einer Art zusammen hängen, lässt sich an Spezies beobachten, deren Vertreter sowohl kalte als auch warme Klimata bewohnen: Die Extremitäten der in kühleren Landstrichen lebenden Vertreter sind kürzer und die Tiere größer – so zum Beispiel bei Wölfen und Füchsen. Kurzgliedrigkeit und mehr Körpermasse sind angesichts der niedrigeren Umwelttemperaturen physiologisch sinnvolle Anpassungen, da ein solches Verhältnis von Körperoberfläche zu Körpervolumen den Wärmever-
13 Vgl. Weimer: Der Schnabel des Finken. 14 Tooby/Cosmides: „Conceptual Foundations of Evolutionary Psychology“, S, 9.
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lust und die Stoffwechselkosten reduziert.15 Die menschliche Fähigkeit zum Farbensehen entstand analog dazu ebenfalls als umweltbedingte Anpassung – eine biologische Antwort auf ein wichtiges und deshalb Selektionsdruck ausübendes Problem innerhalb der Primatenphylogenese. Die meisten Säugetiere – die zoologische Großgruppe zu der auch Homo sapiens gehört – sehen keine Farben. Erst innerhalb des Affenstammbaums entwickelte sich das visuelle System in einer Weise, die es erlaubte die Umwelt farbig wahrzunehmen. Die Probleme, die nach gegenwärtigen Erkenntnissen als treibende Kraft hinter dieser sehr speziellen sensorischen Weiterentwicklung stehen, sind entweder das Auffinden von Früchten im Grün der Urwälder oder die Erfordernisse sozialer Kognition. Die Herausbildung dieser spezifischen Fähigkeit veränderte jedoch nicht nur die Augen, sondern zog sowohl Anpassungen des Verhaltens als auch der Hirnanatomie nach sich. John Allman konnte belegen, dass die möglicherweise durch verbesserte Farbwahrnehmung entstandene fruchtzentrierte Ernährung mancher Affenarten zu einer stärkeren Entwicklung der Großhirnrinde führt. Im Vergleich mit Blattfressern benötigen Fruchtfresser ein leistungsfähigeres Gedächtnis, um den logistisch höheren Ansprüchen ihrer Ernährungsweise gerecht zu werden.16 Die Evolution ist ein konservativer Vorgang und muss es – da immer nur das Vorhandene modifiziert werden kann – auch sein. Sie ist, wie Antonio Damasio anmerkt, „sparsam und improvisiert mit dem, was vorhanden ist.“17 Daraus ergibt sich die bis zum heutigen Tage wissenschaftlich hochgradig fruchtbare Möglichkeit, die Grundlagen menschlicher Kognition an anderen und teilweise viel einfacheren Organismen zu untersuchen. Auf Grund der artübergreifenden Ähnlichkeit neuronaler Strukturen und Funktionsmechanismen, lassen sich an Tieren gewonnene Ergebnisse in hohem Maß auf den Menschen übertragen. Zwar bestehen zwischen relativ einfachen Wirbellosen und dem Menschen als hochdifferenziertem Wirbeltier sehr wohl Unterschiede – ein Vergleich der Nervensysteme zeigt jedoch, dass die neuronale Verarbeitung denselben Prinzipien folgt. Das menschliche Gehirn und seine kulturgenerierende Leistungsfähigkeit beruhen nicht auf neu entstandenen Eigenschaften, sondern auf der evolutionär bedingten Anpassung stammesgeschichtlich alter Strukturen und Mechanismen. Diese Strukturen und Mechanismen spiegeln das gemeinsame lebensstrategische Charakteristikum aller Lebensformen wieder: Den nicht zufälligen Umgang mit der Umwelt. Wer wahllos in alle Bestandteile seiner Umwelt beißt
15 Siewing: Lehrbuch der Zoologie, Bd. 1, S. 692. 16 Vgl. Allman u.a.: „Brain weight and life-span in primate species“. 17 Damasio: Descartes Irrtum, S. 259.
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oder unterschiedslos jedes Objekt anbalzt, vergeudet unproduktiv Kraft und Zeit. Die strategische Grundausrichtung aller Organismen besteht vielmehr darin, relevante Ressourcen zu lokalisieren und zu nutzen. Körperbau, Stoffwechsel und artspezifisches Verhaltensrepertoire sind Anpassungen an eine Umwelt, in der Überleben und Reproduktion nicht selbstverständlich sind. Je nach ökologischer Nische kann der selektive Druck in unterschiedlichem Umfang vom Lebensraum, der Nahrungsituation oder den Sozial- und Geschlechtspartnern ausgehen. Leben als solches ist ein energetisch extrem unwahrscheinlicher Zustand, der darin besteht, dass ein hochgeordnetes dynamisches System seine innere Ordnung gegen die Zerfallstendenz einer universalen Entropie aufrechterhält. Der biohistorische Vorgang der Evolution ist aus dieser Perspektive eine um die Möglichkeit der Reproduktion erweiterte dynamische Konkurrenz derartiger Systeme. Jeder Organismus, der Ressourcen besser lokalisiert und nutzt, ist gegenüber der Konkurrenz im Vorteil. Wenn man, was problematisch ist, in diesem seit Milliarden von Jahren dauernden Wettkampf nach Gewinnern fragt, scheint die Antwort überraschend: Alle heute existierenden Lebewesen, von der Darmbakterie bis zum Blauwal, müssen als Gewinner des Äonen umspannenden Prozesses Evolution gesehen werden. Im Gegensatz zu mehr als 99,9 Prozent aller Arten, die je auf der Erde gelebt haben, sind sie nicht ausgestorben und haben eine Heimat in einem oder mehreren der Ökosysteme, die sich von der Tiefsee bis zu den Gipfeln der höchsten Berge erstrecken. Die Erfolgsgeschichte des Menschen ist mit Blick auf paläontologische Zeiträume sehr jung. Bevölkerten noch vor 10.000 Jahren nur ungefähr 10 Millionen Exemplare dieser Spezies die Erde18 so sind es heute – erdgeschichtlich kaum einen Augenblick später – mehr als 6 Milliarden dieser Wesen.
Das biologische Werden der Spezies Mensch „Licht wird auch fallen auf den Menschen und seine Geschichte“ (Charles Darwin19)
Die Schrift wurde vor zirka 6.000 Jahren erfunden.20 Der Zeitraum, auf den wir hier zurück blicken, umfasst ein Tausendfaches dieser schon imposanten
18 Diamond: Der dritte Schimpanse, S. 299. 19 Darwin: Die Entstehung der Arten, S. 676. 20 Vgl. Schnaze: Handbuch der Mediengeschichte, S. 218f.; Buddemeier: Von der Keilschrift zum Cyberspace, S. 9ff.
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Dauer. Im engeren Sinne beginnt die Geschichte unserer Art, als sich die Linie unserer Vorfahren vom Stammbaum der heutigen Schimpansen trennte. Dieser Zeitpunkt kann auf Grund molekularbiologischer Uhren auf zirka sechs Millionen Jahre in der Vergangenheit datiert werden, wobei neue Ergebnisse das Ende des genetischen Austauschs zwischen den Arten erst vor vier Millionen Jahren ansiedeln. Geht man weiter in der Erdgeschichte zurück zeigt sich, dass die Menschen und damit auch die Menschenaffen ein Seitenzweig der großen Familie der Altweltaffen sind21, die sich vor ungefähr 45 Millionen Jahren von der zweiten großen Affenfamilie, den Neuweltaffen, trennten22. Die erdgeschichtlich noch weiter zurückliegende Initialzündung für den Aufstieg dieser weit verzweigten Familien ehemaliger Baumbewohner war das Aussterben der Saurier vor 65 Millionen Jahren. Durch das Verschwinden der Großechsen eröffnete sich den Säugetieren die Chance, ihre ökologische Nische als nachtaktive Kleinlebewesen zu verlassen und in der Folge fast alle Lebensräume der Erde in großer Artenvielfalt zu besiedeln. Die für den Menschen entscheidenden letzten sechs Millionen Jahre fasst Michael Tomasello in außergewöhnlich komprimierter Form zusammen – Grund für das folgende, ausgiebige Zitat: Irgendwo in Afrika wurde vor etwa sechs Millionen Jahren eine Population von Menschenaffen durch ein unscheinbares Evolutionsereignis von ihren Artgenossen reproduktiv isoliert. Diese neue Gruppe entwickelte sich fort und teilte sich in weitere Gruppen auf, so dass schließlich verschiedene Arten eines zweibeinigen Affen der Gattung Australopithecus entstanden. Alle bis auf eine dieser neuen Arten starben aus. Diese eine Art überlebte bis vor zwei Millionen Jahren und hatte sich in der Zwischenzeit so sehr verändert, dass sie nicht nur nach einer neuen Art-, sondern auch nach einer neuen Gattungsbezeichnung verlangte, nämlich Homo. Im Vergleich mit seinen australopithezinen Vorfahren, die etwa 1,20 groß waren, Gehirne mit einer anderen Affen vergleichbaren Größe hatten und keine Steinwerkzeuge herstellten, war Homo größer, hatte ein größeres Gehirn und machte Werkzeuge aus Stein. Schon bald begann Homo seine weite Reise über den Globus anzutreten, obwohl es keinem seiner frühen Raubzüge von Afrika aus gelang, Populationen zu etablieren, die dauerhaft überlebten. Vor ungefähr 200.000 Jahren und noch immer in Afrika schlug dann eine Population von Homo eine neue und andere Entwicklungslinie ein. Diese Population begründete zunächst eine neue Lebensweise in 21 Vgl. Diamond: Der dritte Schimpanse, S. 32. 22 Vgl. Boyd/Silk: How Humans Evolved, S. 305.
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Afrika selbst und breitete sich dann über die ganze Welt aus, wobei sie alle anderen Populationen von Homo verdrängte und Nachkommen hinterließ, die heute als Homo sapiens bekannt sind. Die Angehörigen dieser neuen Art hatten verschiedene neue Körpereigenschaften, darunter etwas größere Gehirne. Aber am auffälligsten waren ihre neuen kognitiven Fertigkeiten und die Gegenstände, die sie herstellten […] wobei jede Population dieser Art ihre eigene ‚Industrie‘ des Werkzeuggebrauchs schuf – mit dem Ergebnis, dass einige Populationen schließlich so etwas wie computergesteuerte Produktionsprozesse erfanden.23
Paläoanthropologie „Evolutionary specializations are not trivia; they are the essence of human nature.“ (Todd M. Preuss24)
Wie kurz die sechs Millionen Jahre der menschlichen Entwicklung mit Blick auf die Entwicklung des Lebens auf der Erde sind, wird deutlich, wenn man die Verwandtschaftsverhältnisse im evolutionären Umfeld des Menschen betrachtet. Vergleicht man die genetische Ausstattung der großen Menschenaffen mit der unserer Art, dann findet sich der größte Graben im Erbmaterial nicht zwischen Tieren und Menschen. Es stellt sich dabei vielmehr heraus, wie Gerhard Roth anmerkt, dass der Mensch, Homo sapiens, und die beiden Schimpansenarten der Gattung Pan (die ‚normalen‘ Schimpansen, Pan troglodytes, und die Bonobos, Pan paniscus) viel enger miteinander verwandt sind, als die Schimpansen mit der nächstverwandten Großaffengruppe, den Gorillas.25 Der für seine anthropologischen Arbeiten bekannt gewordene Physiologe Jared Diamond pointiert dieses Faktum: „Ein Zoologe von einem fremden Stern würde nicht zögern, den Menschen als dritte Schimpansenart zu klassifizieren…“26
23 Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, S. 11f. 24 Preuss: „What is it Like to Be a Human“, S. 7. 25 Roth: Aus der Sicht des Gehirns, S. 49. 26 Diamond: Der dritte Schimpanse, S. 10.
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Der aufrechte Gang, einer der offensichtlichsten Unterschiede zwischen Homo sapiens und seinen nächsten Verwandten, ist nach gegenwärtigem Stand der Forschung seit zirka 3,5 Millionen Jahren die Fortbewegungsweise unserer Vorfahren.27 An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass die wissenschaftliche Rekonstruktion der menschlichen Stammesgeschichte keinesfalls als abgeschlossenes Projekt zu betrachten ist. Trotz 150 Jahren Forschung sind nach wie vor viele Fragen nicht oder nicht ausreichend beantwortet. Immer wieder bringen Ausgrabungen Zeugnisse der Vergangenheit ans Licht die neue Perspektiven eröffnen – wie die umstrittenen Fossilien des Zwergmenschen Homo floresiensis auf der Südseeinsel Flores, der auf Grund seiner Größe auch als „Hobbit“ bezeichnet wird28 Die Rede vom menschlichen Stammbaum täuscht dabei außerhalb der Fachdisziplin der Paläoanthropologie darüber hinweg, dass es mehrere unterschiedliche Entwürfe eines solchen gibt – wobei jede dieser Rekonstruktionen mit Belegen und Argumenten gestützt werden kann. Außer Zweifel steht, dass die Bühne der frühen Geschichte unserer Art Afrika ist und dort insbesondere der Osten, mit den heutigen Ländern Kenia, Tansania und Äthiopien. Das Geschehen auf dieser Bühne liegt bis zum heutigen Tag zu großen Teilen im Dunkel der Prähistorie. Ein Grund hierfür ist, dass unsere Ahnen bis vor ungefähr vier Millionen Jahren in den Wäldern lebten, die sich zu diesem Zeitpunkt flächendeckend von Küste zu Küste des Kontinents erstreckten. Sehr zum Leidwesen der Forscher wirkte das Klima dieses tropisch-feuchten Lebensraumes jeglichen Fossilisationsprozessen entgegen. Die Bedingungen für die Entstehung von Versteinerungen und anderen Zeugnissen, die einen Blick zurück in die Vergangenheit erlauben, verbesserten sich erst durch einen großflächigen Klimawandel. Als Folge sich ändernder Meeresströmungen wurde Ostafrika trockener, was zur Entstehung der heutigen Savannenlandschaften führte.
27 Boyd/Silk: How Humans Evolved, S. 333. 28 Brown u.a.: „A New Small-Bodied Hominin from the Late Pleistocene of Flores, Indonesia“.
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Kognition als Ökonische „Our bodies, in a deep sense, reflect the causal structure of the world. They are modular because, crudely speaking, the world is.“ (Edward H. Hagen29)
Der aus heutiger Sicht wichtigste Veränderungsprozess in der Geschichte der Menschheit – die signifikante Vergrößerung des Gehirns – begann vor zirka zwei Millionen Jahren. Unterschiedlich alte Schädel zeigen, dass sich nach und nach die grundlegenden Proportionen dieser knöchernen Struktur wandelten: Der Gesichtsschädel wurde kleiner, während der Hirnschädel in beeindruckender Weise an Volumen gewann. Die Unterteilung in Gesichts- und Hirnschädel spiegelt die zwei unterschiedlichen Funktionszusammenhänge wieder, denen der Kopf dient. Er ist zum einen die wichtigste sensorisch-physiologische Schnittstelle des Körpers zur Interaktion mit der Welt: Atmen, Essen, Trinken, Sehen, Riechen, Schmecken, Hören und Sprechen – alles findet hier statt. Gleichzeitig beherbergt der Schädel die für das Verhalten zentrale Ansammlung von Nervenzellen – das Gehirn. Dieses befindet sich gut geschützt in einer knöchernen Kapsel, die außer dem auf der Wirbelsäule sitzenden Hinterhauptsloch nur einige relativ kleine Öffnungen für Blutgefäße und Nerven aufweist.30 „Primaten sind neben den Walen (Cetacea)“, wie Winfried Henke und Hartmut Rothe ausführen, „diejenigen Säugetiere mit den am höchsten entwickelten Gehirnen.“31 Ein großes Gehirn bietet für die Interaktion mit der Umwelt den Vorzug, auf Reize nicht nur mit angeborenen Verhaltensweisen reagieren zu können. Das Verhalten kann vielmehr an die aktuellen Erfordernisse angepasst werden, was einen flexiblen und je nach Umweltbedingungen auch effektiveren Umgang mit den Fährnissen des Lebens ermöglicht. Gleichzeitig wird für diese Leistungssteigerung ein nicht unerheblicher Preis bezahlt: Die Unterhaltung von Nervengewebe ist in Stoffwechselmaßstäben extrem teuer. Der physiologische Aufwand für ein Gehirn – die als Brennstoff benötigten Kalorien zu dessen Aufrechterhaltung – ist zehnmal größer als für andere Gewebe. „Wegen der Verdreifachung unseres Hirnvolumens – verglichen mit unseren nächsten Verwandten, den Primaten – müssen wir zehn Prozent mehr Nahrung finden.“32
29 Hagen: „Controversial Issues in Evolutionary Psychology“, S. 162. 30 Romer/Parson: Vergleichende Anatomie der Wirbeltiere. 31 Henke/Rothe: Stammesgeschichte des Menschen, S. 25. 32 Jourdain: Das wohltemperierte Gehirn, S. 83.
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Vor zwei Millionen Jahren beginnt bei den Frühmenschen eine Entwicklung, die weit über das schon große Gehirn der Säuger und das noch größere Gehirn der Primaten hinausgeht. Innerhalb der evolutionär kurzen Zeitspanne bis zum heutigen Tage wächst dieses Organ fast auf das Dreifache seiner damaligen Größe. Waren für Homo habilis, der vor zwei Millionen Jahren die ersten Werkzeuge einsetzte, um die 500 Kubikzentimeter Gehirnvolumen normal, so verfügt der heutige Mensch über durchschnittlich 1.400 Kubikzentimeter Schädelinnenraum. Die entscheidende Frage angesichts dieser erstaunlichen Veränderung des Gehirns ist, warum es zu diesem beeindruckenden Größenwachstum kam? Purer Zufall scheidet als mögliche Ursache aus: Eine große Ansammlung eines energetisch so unvorteilhaften Gewebes konnte nur durch einen kompensierenden Nutzen zur Standardausstattung unserer Art werden – „growing and maintaining neural tissue entail substantial energetic costs…“33. Es gibt mehrere Hypothesen, die diese Entwicklung zu erklären suchen. Frühe Überlegungen gingen davon aus, dass es die Herstellung und Handhabung von Werkzeugen waren, die den Boden für diesen entscheidenden Schritt der Menschwerdung bereiteten.34 Ein anderer Ansatz sieht den Auslöser für diese Entwicklung in einer außergewöhnlich hohen Koordination sensorischer und motorischer Leistungen beim Einsatz von Distanzwaffen wie Speere.35 Eine vergleichsweise junge, seit den 90er Jahren jedoch weitverbreitete Hypothese, siedelt den Selektionsdruck, der zur Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit des Menschen führte, in einem ganz anderen Bereich der einstigen ökologischen Nische an. Anstelle der Nutzung von Werkzeugen oder Waffen, war es demnach der soziale Umgang, der dem menschlichen Gehirn den entscheidenden Wachstumsschub bescherte. Dieser heute unter dem Namen „social intelligence hypothesis“36 bekannte Ansatz wurde zuerst als „Machiavellian Intelligence“37 formuliert. So wie es diese Bezeichnungen in recht bildhafter Weise ausdrücken, leitet diese These das menschliche Gehirnwachstum nicht aus der Manipulation von Dingen, sondern aus den sozialen Interaktionen unserer Vorfahren ab. Das Gehirn des Menschen wuchs, weil es als Organ zur Orientierung innerhalb komplexer Jäger- und Sammlergesellschaften von Vorteil war.
33 Kaplan/Gangestad: „Life History Theory and Evolutionary Psychology“, S. 74. 34 Oakley: Man the Tool-Maker. 35 Calvin: Die Symphonie des Denkens; Neuweiler: „Der Ursprung unseres Verstandes.“ 36 Kummer u.a.: „The Social Intelligence Hypothesis“, S. 157ff. 37 Byrne/Whiten: Machiavellian Intelligence.
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Belege für diese These erbrachte in den 90er Jahren der Anthropologe Robin Dunbar, der in eleganter Weise Ergebnisse vergleichender Gehirnanatomie und primatologischer Verhaltensforschung verband.38 Ansatzpunkt war, dass das heutige menschliche Gehirn kein vergrößertes Abbild eines Primatengehirns ist. Das menschliche Denkorgan vergrößerte sich in den vergangenen zwei Millionen Jahren nicht wie ein an Volumen gewinnender Luftballon – „there is more to human brain evolution than enlargement“39 sondern wuchs vor allem überproportional in der stammesgeschichtlich jüngsten Region, dem Endhirn. Die näher am Rückenmark angesiedelten Hirnregionen gewannen vergleichsweise wenig an Volumen. Aber auch das Endhirn wuchs nicht gleichmäßig. Quantitativer Gewinner dieses Prozesses ist die Hirnrinde, der Neokortex, die mit ihren Einfaltungen dem Gehirn sein wallnussähnliches Erscheinungsbild gibt. Anatomische Untersuchungen bestimmen unter anderem, wie groß der Anteil des Neokortex am gesamten Gehirn ist. Für unsere eigene Art handelt es sich hier um eine relativ uninteressante Messgröße. Dunbar kontrastierte diese mit den Vergleichswerten verschiedener Affenarten. Deren Neokortex ist zwar durchgängig kleiner als beim Menschen, ist aber bei den verschiedenen Spezies keinesfalls gleich groß. Es gibt sowohl Arten, bei denen dieser Hirnteil relativ klein ausfällt als auch solche, die deutlich mehr vorzuweisen haben. Bei der Suche nach einem Grund für diese Unterschiede in der Gehirnanatomie zeigte sich ein erstaunlicher Zusammenhang mit der sozialen Umwelt der jeweiligen Arten. Es stellte sich heraus, dass die Größe des Neokortex mit der Größe der typischen Sozialgruppe zusammenhängt.40 Die Beziehung zwischen Gruppengröße und Hirnproportionen kann als mathematische Funktion ausgedrückt oder auch als Diagramm dargestellt werden. Wendet man dies auf die Hirnproportionen des Menschen an, ergibt sich ein Näherungswert, für welche Sozialgruppengröße die kognitiven Möglichkeiten dieses inzwischen nackten Primaten evolutionär ausgelegt sind. Das Resultat dieser Prozedur ist eine Zahl in der Größenordnung um 150 Individuen – aus ethnologischer Sicht nicht sonderlich überraschend, weil für Jäger- und Sammlergemeinschaften typisch.41 Der evolutionär-selektive Druck zugunsten einer leistungsfähigen Kognition ergibt sich dabei aus der strategischen Komplexität, die in Folge der Sozi-
38 Dunbar: Klatsch und Tratsch. 39 Preuss: „What is it like to Be a Human“, S. 5. 40 Dunbar: Klatsch und Tratsch, S. 85. 41 Dunbar: Klatsch und Tratsch, S. 92ff.
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alstruktur jeder Alltagsinteraktion zukommt – wie Whiten und Byrne ausführen: Imagine a primate who takes into account just three conditions in social interaction, and each of these conditions has just two states; for example, whether or not the interactant is of higher or lower rank than itself; whether its own mother is present or absent, and whether the interactant has allies present or absent. The number of possible social scenarios (unique combinations of these possibilities), is sc (where c is the number of conditions and s is the number of states each condition can take) and thus, in this example, 23 or 8. Imagine another Primate who discriminates three states for each condition (say, whether the interactant is higher ranking or about the same, and so on for the other conditions) and it also takes into account two more conditions, like how altruistic the other has been, and whether the other had allies nearby. Now sc becomes 35 or 243 different social scenarios. This is, of course, a very artificial example, and it is not implied that 243 different responses would need to be learned; but the exercise helps us to consider more precisely what may be involved in the oft-used, but vague term ‚social complexity‘.42 Das strategische Denken, das somit für eine erfolgreiche Lebensführung unerlässlich wurde, lässt sich pointiert in Worten fassen! Es geht darum, „einen Gegner zu überlisten, der das gleiche … versucht.“43
Kultur-Natur: Der kreative Teufelskreis „In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden.“ (Friedrich Nietzsche44)
Von dieser Warte aus betrachtet erscheint die Entwicklung der menschlichen Art in der evolutionär kurzen Zeitspanne der letzten zwei Millionen Jahre als bemerkenswert aber vollständig konform mit der Dynamik biologischer Entwicklungslinien. Spezifische Umweltbedingungen führten zu einer extremen Ausprägung bereits bestehender Entwicklungstrends. Der große Hirnschädel 42 Byrne/Whiten: Machiavellian Intelligence, S. 59. 43 Dixit/Nalebuff: Spieltheorie für Einsteiger, S. 1. 44 Nietzsche: „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“, S. 875.
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des heutigen Menschen ist Resultat dieser selektionsbedingten Anpassung. Indirekt hat diese Entwicklung, mit der sich unsere Vorfahren an das Leben in größeren Sozialgemeinschaften adaptierten, auch die kognitiven Grundlagen der menschlichen Kultur hervorgebracht. Ohne die auf diese Weise gesteigerte Leistungsfähigkeit unserer zentralen Nervenansammlung wäre das „Erkennen“ – wie Friedrich Nietzsche es nannte45 – bis zum heutigen Tage nicht erfunden. Michael Tomasello spricht in diesem Zusammenhang von einer „neuen Form sozialer Kognition“46 und führt aus: Die kulturellen Prozesse, die diese eine Anpassung in Gang setzte, brachten neue kognitive Fertigkeiten nicht aus dem Nichts hervor, sondern gründeten vielmehr auf den bestehenden individuellen kognitiven Fertigkeiten, wie z. B. auf solchen, die die meisten Primaten für die Orientierung im Raum und den Umgang mit Gegenständen, Werkzeugen, Quantitäten, Kategorien, sozialen Beziehungen, Kommunikation und sozialem Lernen besitzen, und transformierte sie in neue, kulturell basierte kognitive Fertigkeiten mit einer sozial-kollektiven Dimension.47 Edward O. Wilson sieht hier einen rückkoppelnden Prozess am Werk: The long-term interactions of genes and culture appear to form a cycle, or more precisely a forward traveling evolutionary spiral, of the following sequence: Genes prescribe epigenetic rules, which are the regularities of sensory perception and mental development that animate and channel the growth of culture. Culture helps to determine which of the prescribing genes survive and multiply from one generation to the next.48 Bis zur Sesshaftwerdung und dem Beginn des Ackerbaus vor zirka 10.000 Jahren lebten unsere Vorfahren als Jäger und Sammler und damit in der sozialen Umwelt, die aus gegenwärtiger Sicht zur Entstehung des heutigen Gehirns führte. Die Zeit seit diesem einschneidenden Wechsel der Lebensweise ist vergleichsweise unbedeutend für die Entwicklung der grundlegenden kognitiven Fähigkeiten. Der letzte größere Entwicklungsschritt, der Wandel vom anatomisch archaischen zum modernen Homo sapiens49, liegt deutlich weiter in der 45 Nietzsche: „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“, S. 875. 46 Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, S. 17. 47 Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, S. 17. 48 Wilson: „Foreword from the Scientific Side“, IX. 49 Schrenk u.a.: „Die Frühzeit des Menschen“, S. 355.
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Vergangenheit. Paläoanthropologen datieren diesen Übergang auf einen Zeitraum zwischen 200.000 und 100.000 Jahren. Damals gab es – zuerst in Afrika – Hominiden, die vom Körperbau und von den fossilen Zeugnissen der Gehirnentwicklung nicht von heutigen Menschen zu unterscheiden sind. Der Verweis auf die reine Gehirngröße ist keine universelle Antwort auf alle Fragen zur Genese des heutigen Menschen, wohl aber zentraler Beleg für eine Entwicklung mit weitreichenden Konsequenzen. So variiert die Größe dieses Organs bei heutigen Menschen erheblich. Im Durchschnitt weisen Männer ein Volumen von 1.400 ccm auf und Frauen eines von 1.360 ccm, wobei dieser Unterschied im Zusammenhang mit dem statistisch um 10 % differierenden Körpergewicht der beiden Geschlechter steht. Individuelle Unterschiede können weit gravierender ausfallen und belegen, dass die Größe eines Gehirns keinen Rückschluss auf die geistige Leistungsfähigkeit seines Besitzers erlaubt. So beherbergte der Schädel des Literaturnobelpreisträgers Anatol France ein Gehirn von weniger als 1.000 ccm.50 Hinter der Stirn des seinerzeit berühmten Paläontologen George Cuvier, befand sich dagegen ein Denkorgan, dass annähernd doppelt so viel Raum einnahm.51 Zu Cuviers Lebzeiten im 19. Jahrhundert war die Vorstellung verbreitet, dass die Größe des Gehirns und somit die Kopfgröße – gleich einem geistigen Hubraum – Aussagen über den Intellekt einer Person zulasse. Vor diesem Hintergrund ist die Anekdote zu sehen, dass am Eingang von Cuviers Wohnung immer einer seiner Hüte lag, der es Besuchern ermöglichte sich – durch bloßes Anprobieren – vor Augen zu führen, welchem geistigen Riesen sie in Kürze gegenübertreten würden. Ein anderer Beleg dafür, dass Gehirngröße wichtig ist, aber nicht alles erklärt, ist das Verschwinden der Neandertaler. Diese nahen Verwandten des Menschen verfügten nicht nur, wie man anhand der Muskelansätze rekonstruieren kann, über weit größere körperliche Kräfte, sie besaßen auch ein im Schnitt größeres Gehirn.52 Dennoch verschwanden sie vor zirka 30.000 Jahren aus Europa. Es ist davon auszugehen, dass sie im direkten Wettstreit um Lebensgrundlagen den Vorfahren der heutigen Menschen unterlagen. Bisher konnte jedoch nicht geklärt werden, welche spezifische Ursache für das Aussterben dieser einst koexistierenden zweiten Hominidenlinie verantwortlich war. Die Ausbreitung und Vermehrung der Menschheit, die rückblickend leicht als durchgängige Erfolgsgeschichte interpretiert werden kann, wird einer sol-
50 Gould: Ever since Darwin, S. 180. 51 Gould: The Panda’s Thumb, S. 124. 52 Boyd/Silk: How Humans Evolved, 3. Aufl., S. 363.
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chen Charakterisierung nur unvollständig gerecht. Über erdgeschichtlich lange Zeiträume war die Zahl der verstreut über alle Kontinente lebenden Menschen nicht deutlich größer als die anderer Großsäuger. Man schätzt, dass bis zur Erfindung des Ackerbaus nicht mehr als 10 Millionen Exemplare der Spezies Mensch die Erde bevölkerten.53 Der epochale Fortschritt, vom Sammeln und Jagen zum Kultivieren, stellt sich zudem bei genauerer Analyse als Notfallstrategie dar, die angesichts übernutzter Ökosysteme eine alternative Existenzgrundlage bot. Eine glückliche Wendung: aus der Sicht der heute lebenden Menschen. Der sechsmilliardste Erdenbürger erblickte um die Wende zum dritten Jahrtausend das Licht der Welt. Auch wenn diese Zahl, je nach demoskopischem Modell, im Verlauf des kommenden Jahrhunderts noch auf 13 bis 15 Milliarden ansteigen wird – die körperliche und geistige Grundausstattung aller lebenden Menschen geht auf eine Millionen Jahre währende Phase des Jäger- und Sammlerlebens von sozial lebenden Primatennachfahren mit großen Köpfen zurück.
Intelligenz, Wahrnehmung, Kommunikation „Wir sind das Ergebnis einer langen biologischen Entwicklung, und auch unser gegenwärtiger Geisteszustand ist Teil dieser Entwicklung.“ (Gerhard Roth54)
Die von Darwin 1859 begründete evolutionäre Sichtweise hat weit über die Grenzen der Biowissenschaften dazu geführt, dass der menschliche Körper als Ergebnis der Evolution betrachtet wird. Der Anwendungsbereich dieses Ansatzes hat sich dabei im Laufe der Zeit immer mehr erweitert – von der anfangs allgemein anatomischen Ebene über die Erklärung einzelner molekularer Mechanismen und Bestandteile des Körpers, bis zu den genetischen Grundlagen, die hinter diesen stehen. Der Mensch ist aus dieser Perspektive eine an ihre ökologische Nische angepasste Lebensform. Ein Status des „In-der-Weltseins“, der kein Optimum sondern ein biologisches work-in-progress darstellt: So lassen sich die Rückenprobleme moderner Menschen als Nebeneffekt einer zweibeinigen Lebensweise verstehen, während genetisch bedingte Sichelzellenanämie mit einer Immunität gegen Malaria einher geht.55
53 Diamond: Der dritte Schimpanse, S. 299. 54 Roth: Aus der Sicht des Gehirns, S. 66. 55 Wehner/Gehring: Zoologie, S. 574.
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Auch das im vorhergehenden Abschnitt angeführte Wachstum des Gehirns stellt eine evolutionäre Anpassung dar. Das beeindruckende Größenwachstum kann allerdings nur als gewichtiges Indiz im Rahmen der Entstehungsgeschichte geistiger Fähigkeiten dienen. Der eigentliche Schlüssel zu deren Verständnis liegt in der Analyse der spezifischen kognitiven Mechanismen, auf denen die menschliche Kulturfähigkeit beruht. Kulturfähigkeit, als die Möglichkeit Verhaltensweisen durch Lernen von anderen Individuen zu erwerben, ist dabei keine exklusive Eigenschaft von Homo sapiens. Sie findet sich sowohl bei den großen Menschenaffen, als auch bei zahlreichen anderen Tierarten.56 Der Unterschied zwischen tierischer und menschlicher Kultur geht dabei entgegen Kafkas literarischem Bericht für eine Akademie nicht auf das Durchleben einer mehr oder weniger reichhaltigen Sozialisation zurück, sondern primär auf organisch angelegte Lernpotentiale, die den jeweils individuellen Anschluss an eine bestehende Kultur ermöglichen. Im Rückblick überraschend und mit Blick auf die heutige Kultur Aufsehen erregend ist das Wachstum des durchschnittlichen Gehirnvolumens des Homo sapiens auf knapp das Dreifache innerhalb der letzten 2 Millionen Jahre, was zirka 150.000 Ahnengenerationen unserer Abstammungslinie entspricht. Eine Entwicklung, mit der auch ein allgemeines Körperwachstum einherging – der 3,7 Millionen Jahre alte Frühmensch, dessen Skelett unter dem Namen Lucy Weltruhm erlangte, war nur ungefähr einen Meter und fünf groß57. Die evolutionäre Zunahme der Hirnmasse ist deshalb so bedeutungsvoll, weil es sich bei diesem Organ um das materielle Korrelat scheinbar so immaterieller Fähigkeiten wie Intelligenz, Wahrnehmung und Kommunikation handelt. Diese kognitiven Potentiale wurden in unspezifischer Weise schon seit Beginn der Paläoanthropologie mit der Größe des Gehirns in Verbindung gebracht – eine weitergehende Anwendung evolutionärer Prinzipien zum Verständnis dieser für den Menschen so charakteristischen Entwicklung des verhaltenssteuernden Organs unterblieb jedoch bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts. Bis zu diesem Zeitpunkt und darüber hinaus ist – vor allem außerhalb der engeren Fachgrenzen evolutionär orientierter Teildisziplinen der Biowissenschaften – Evolution stets als ein durch Selektion auf den Körper wirkender Vorgang begriffen worden: der kausale Mechanismus, der für die physiognomische Veränderung der Arten im Laufe der Erdgeschichte verantwortlich ist. Die Anatomie der Akteure ist jedoch im übertragenen Sinne nur die halbe Antwort auf die evolutionär zentralen Probleme Überleben und Reproduktion.
56 Vgl. Waal: Der Affe und der Sushimeister. 57 Johanson/Edey: Lucy, S. 22.
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Die andere, weit weniger offensichtliche Hälfte potentiellen evolutionären Erfolges liegt in der Steuerung des Verhaltens. Es gibt bessere und schlechtere Möglichkeiten mit Fressfeinden, Nahrungsengpässen, Konkurrenten, unvorteilhaften Umweltbedingungen und anderen Eventualitäten umzugehen. Mit Blick auf diese Dualität von Körperbau und Körpersteuerung wird deutlich, dass das Fortbestehen einer Art im großen Maße auch das Ergebnis von Orientierungs- und Entscheidungsleistungen ist.
Arttypische Umwelten „Like hearts and lungs, the specialized physical/chemical configuration of a neural circuit provides a distinctive ability to effect a particular environmental transformation–– usually of other neural circuits or muscles–– precipitating causal cascades that, in the EEA [Environment of evolutionary Adaptedness; M.U.] of the adaptation, increased reproduction.“ (Edward H. Hagen58)
Die Aufgabe mit einer arttypischen Umwelt umzugehen, ist keineswegs so trivial wie sie auf den ersten Blick erscheint. „Humans and animals make inferences about their world with limited time, knowledge, and computational power.“59 Ohne ein Nervensystem, das auf Grund seiner evolutionären Genese in hohem Maße auf die wahrscheinlich auftretenden Aufgaben vorbereitet ist, ist höheres Leben nicht möglich. Welche Wege die Evolution biologischer Informationsverarbeitung genommen hat, um mit der ökologisch bedingten Fülle an Stimuli und Handlungsoptionen umzugehen, wurde Ende der 50er Jahre in Versuchen zum Beutefangverhalten von Fröschen deutlich.60 Es zeigte sich, dass die Tiere hochselektiv auf kleine runde, sich bewegende Objekte reagieren – was einer abstrakten Modellierung der allgemeinen Erscheinungs- und Verhaltensweisen von Insekten entspricht. Anders geformte und unbewegte Objekte werden verschmäht – ein Frosch inmitten toter Fliegen ist aus kognitiven Gründen zum Hungertod verurteilt. Der Beutefangmechanismus ist außerstande auf einer allgemeineren Ebene zwischen Nahrung und Nicht-Nahrung zu unterscheiden. Nur Umweltbestandteile, die dem ungefähren Bild eines sich bewegenden Insekts entsprechen, werden als Nahrung erkannt und für den eigenen Organismus nutzbar gemacht. 58 Hagen: „Controversial Issues in Evolutionary Psychology“, S. 156. 59 Gigerenzer/Todd: Simple Heuristics that Make Us Smart, S. 5. 60 Vgl: Lettvin u.a.: „What the Frog’s Eye tells the Frog’s Brain“, S. 233ff.
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Für den langfristigen Fortbestand einer Spezies sind somit sowohl Körperbau als auch Verhaltensregulation von zentraler Bedeutung. Nervensysteme sind die biologische Antwort auf die komplexe Herausforderung, mit Hilfe von Umweltinformationen das Verhalten möglichst effizient auszurichten. Deren weite Verbreitung im Tierreich hat in der Vergangenheit umfangreiche vergleichende Studien ermöglicht, deren Haupterkenntnis sich exemplarisch mit den Worten Wolfgang Singers wiedergeben lässt: „Unsere Nervenzellen unterscheiden sich nur wenig von denen einer Schnecke. Sie sind bei uns nur viel komplexer vernetzt.“61 Diese stammesgeschichtlich weit reichende und funktional enge Verwandtschaft zwischen höchst unterschiedlichen Organismen lässt mit Blick auf den Menschen den Schluss zu, dass dessen Gehirn eine spezielle Ausprägung eines insgesamt höchst erfolgreichen Organtyps ist. Damit unterscheidet sich sein Besitzer nicht prinzipiell von anderen hoch entwickelten Säugetieren. Eine biologische Alleinstellung der menschlichen Art basiert – wenn überhaupt – nach den vorliegenden Erkenntnissen nicht auf qualitativen, sondern quantitativen Kriterien: Kein anderer Organismus gleicher Größe und Masse verfügt über ein vergleichbar großes Gehirn, das einen Anteil von 2,33 Prozent am Körpergewicht hat. Das mit acht Kilo deutlich schwerere und größere Gehirn des Elefanten trägt dagegen nur mit 0,2 Prozent zum Gewicht des Tieres bei.62 Aus den hochselektiven Veränderungen in der Schädelanatomie des Menschen lassen sich weit reichende Schlüsse ziehen: Da Anpassungen das Ergebnis selektiv wirkender Umweltbedingungen sind, entstanden die heute existierenden Strukturen als überlebens- und reproduktionsrelevante Vorteile. Im vorausgehenden Abschnitt wurden die Ergebnisse von Robin Dunbar dargelegt, der die Wurzel der geistigen Leistungsfähigkeit heutiger Menschen in der Komplexität des innerartlichen Miteinanders sieht.63 Die Implikationen dieses Gedankens sind in diesem Zusammenhang geradezu revolutionär: Auch wenn unsere Vorfahren von Löwen, Säbelzahntigern und Höhlenbären bedroht wurden – von anderen Widrigkeiten gar nicht zu reden – waren es nicht diese beeindruckenden Raubtiere, die die Entwicklung unserer Art vorantrieben. Der wahre Selektionsdruck und somit die formende Kraft, die letztendlich zur Menschwerdung führte, ging vielmehr von weitaus harmloser wirkenden Geschöpfen aus – den eigenen Mit(früh)menschen. Bringt man diese Erkenntnis zusammen mit der von Manfred Spitzer prägnant gefassten Einsicht in die fundamentale Aufgabe von Nervensystemen
61 Singer: Ein neues Menschenbild, S. 47. 62 Greenfield: Reiseführer Gehirn, S. 29. 63 Vgl. Dunbar: Klatsch und Tratsch.
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– „Nervensysteme sind dafür da, eingehende Impulse (den Input) rasch und effektiv in ausgehende Impulse (den Output) umzusetzen“64 – dann lässt sich daraus eine grundlegende Hypothese über die Beschaffenheit menschlicher kognitiver Fähigkeiten ableiten: Die Fähigkeiten des Menschen sind im Kontext ganz bestimmter lebensweltlicher Problemszenarien entstanden und eine Anpassung an die Erfordernisse genau dieses selektiven Umfelds. Dies folgt auch aus den stoffwechsel-ökonomischen Rahmenbedingungen biologischer Informationsverarbeitung, wie sie im Falle jedes Nervensystems vorliegen: Auf Grund der energetisch außergewöhnlich hohen Kosten dieses Gewebetyps ist eine Zunahme im Rahmen evolutionärer Prozesse nur möglich, wenn der sich ergebende Nutzen die Stoffwechsel-Mehrkosten übersteigt. Aus dieser biologisch-ökonomisch bedingten Ausrichtung an den artspezifischen Problemen folgt, dass eine unter derartigen Rahmenbedingungen entstandene Informationsverarbeitung spezifisch an die Umweltbedingungen ihrer Entstehung angepasst ist. Dies bedeutet, dass das menschliche Gehirn auf Grund seiner evolutionären Genese kein Organ mit einer allgemein abstrakten Verarbeitungskapazität ist und auch nicht sein kann. Durch seinen evolutionären Werdegang ist es vielmehr auf die kognitiven Bedürfnisse des Lebensraums zugeschnitten in dem es entstand – Anthropologen sprechen hier vom „Environment of Evolutionary Adaptedness“65 (EEA). In der Konsequenz bedeutet dies, dass das menschliche Gehirn, ungleich einem handelsüblichen Computer, nicht über eine generalisierte und unspezifische Fähigkeit zur Verarbeitung von Daten oder Informationen verfügt. Das Gewebe im menschlichen Schädel ist keine Hardwareplattform zum Ausführen beliebiger Programme. Die funktionale Trennung in Hard- und Software, wie sie im IT-Bereich üblich ist, erweist sich zudem für die menschliche Kognition als deskriptiv nicht haltbar66 und im historischen Rückblick als eindeutig kontraproduktiv. Derartige Denkansätze waren es, die in den 50er Jahren dazu führten, dass den noch jungen Elektronenhirnen zwar in naher Zukunft das perfekte Verständnis von Sprache zugetraut wurde, die strategischen Höhen meisterlichen Schachs jedoch in unerreichbare Zukunft verlegt wurden.67 Im halben Jahrhundert seit diesen Prognosen unterlag zwar der Schachweltmeister mehrfach einem Computer, ein maschinelles Sprachverständnis außerhalb sehr enger Kontexte ist jedoch nach wie vor ein unerfülltes Desiderat.
64 Spitzer: Lernen, S. 81. 65 Tooby/Cosmides: „Conceptual Foundations of Evolutionary Psychology“, S. 22f. 66 Vgl. Singer: Ein neues Menschenbild, S. 97. 67 Vgl. Hoffman: Visuelle Intelligenz.
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Ein Blick auf die seit Jahrzehnten andauernden Versuche zweibeinig laufende Roboter zu entwickeln, zeigt ebenfalls, dass Schachspielen im Vergleich zu den Anforderungen scheinbar simpler Bewegungsabläufe eine vergleichsweise primitive Aufgabe ist. Diese Umkehr der Schwierigkeitshierarchie unterschiedlicher Tätigkeiten geht auf die relativ junge Einsicht zurück, dass die erlebte Schwierigkeit keinen direkten Schluss auf die vorhandene Komplexität zulässt. Gleich dem Froschbeispiel handelt es sich um eine kognitive Brille: Menschen sehen die Welt durch den Zerrspiegel der kognitiven Potentiale, die sie im Verlauf ihrer Stammesgeschichte entwickelt haben. Tomasello folgert auf dieser Basis: Menschliche Kognition ist eigentlich eine Form der Primatenkognition. Menschen haben den größten Teil ihrer kognitiven Fertigkeiten und ihres Wissens mit anderen Primaten gemein. Das gilt sowohl für die sensu-motorische Welt der Gegenstände mit ihren räumlichen, zeitlichen, kategoriellen und quantitativen Beziehungen als auch für die soziale Welt der Artgenossen mit ihren vertikalen (Dominanz) und horizontalen (Verwandtschaft) Beziehungen. Außerdem setzen alle Primatenarten ihre Fertigkeiten und ihr Wissen dazu ein, kreative und einsichtsvolle Strategien zu entwickeln, wenn sie mit Problemen in der sozialen oder physischen Welt konfrontiert sind.68 Auf Grund seiner Entstehung greift das menschliche Gehirn auf evolutionär bewährte kognitive Mechanismen zurück. Dieser biologisch unvermeidliche Konservatismus des menschlichen Gehirns ist jedoch gleichzeitig ein individuell höchst dynamisches System, das in weiten Bereichen auf Lernen angelegt ist und deshalb im Verlauf des Lebens im Rahmen beeindruckender plastischer Potentiale formbar ist. Gerade für Sprache existieren dabei zeitlich begrenzte Lernfenster so genannte „sensible Phase[n]“69. Die unterschiedlichen Sprachlernerfolge von Kindern und Erwachsenen führen dies vor Augen. Unterschiede die so weit gehen, dass der Linguist Steven Pinker von einem „Sprachinstinkt“ spricht. Kinder lernen die Sprache ihrer Umwelt, ja schaffen sogar aus einem Gemisch verschiedener Sprachen neue und hoch strukturierte Sprachen.70 Diese Fähigkeiten gehen auf Grund hirninterner Modifikationen mit der Pubertät verloren. Die Veränderungen der kognitiven Potentiale geht dabei so weit, dass es plausibel ist anzunehmen:
68 Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, S. 233. 69 Blakemore/Frith: Wie wir lernen, S. 62. 70 Vgl. Pinker: Der Sprachinstinkt.
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Wer mit dem Gehirn, das er als Erwachsener hat, geboren worden wäre, hätte möglicherweise nie sprechen gelernt. Hierfür spricht die Beobachtung, dass Menschen, bei denen der Spracherwerb bis zum 13. Lebensjahr nicht erfolgt ist, auch bei intensivem Training keine Sprache mehr lernen.71 Umfangreiche und sehr spezifische kognitive Prädispositionen zeigen sich auch an anderer Stelle. Untersuchungen des Psychologen Frank Keil72 legen nahe, dass es beim Erlernen von Sprache abstrakte Begriffe gibt, die im kindlichen Sprachgebrauch einen genetisch bedingten Vorsprung gegenüber potentiellen Konkurrenten haben. Dazu zählen Wörter, die mit dem Konzept des Lebendigseins und des Eigentums zusammenhängen, wie zum Beispiel Besitzen, Geben, Nehmen, Behalten und Verstecken. Es scheint so, dass die Begriffscluster, die mit diesen Bedeutungen zusammenhängen, im Gehirn des Kindes „bereits eine teilweise aufgebaute Heimstatt“73 vorfinden. Der Anthropologe Pascal Boyer folgert darüber hinaus die Existenz unterschiedlicher, für das menschliche Denken fundamentaler, evolutionär entstandener intuitiver ontologischer Kategorien.74 Der handlungsrelevante Gewinn derartiger kognitiver Kategorien besteht darin, dass, wenn etwas wie ein Tier, eine Person oder ein Artefakt aussieht oder sich anfühlt, sofort spezifische Schlussfolgerungen über dieses Ding zustande gebracht werden. Man greift die verschiedenen Hinweise auf und verarbeitet die Informationen entsprechend, je nachdem, ob das Ding ein Tier, eine Person, ein Artefakt oder ein Naturobjekt wie etwa ein Fels ist.75 Als ein Beleg für die Existenz derartiger Kategorien wird die menschliche Bereitschaft angeführt, von intentional wirkenden Bewegungen auf Bewusstsein und Willen zurückzuschließen. Sobald zwei Farbpunkte sich auf einem Monitor in unregelmäßigen Bahnen bewegen, wobei der eine stets mehr oder weniger dicht hinter dem anderen ist, entsteht bei Betrachtern die Interpretation, dass es sich um eine Verfolgung handelt.
71 Spitzer: Lernen, S. 358. 72 So referiert in Dennett: Darwins gefährliches Erbe, S. 512. 73 So wiedergegeben in Dennett: Darwins gefährliches Erbe, S. 512f. 74 Vgl. Boyer/Barrett: „Domain Specificity and Intuitive Ontology“. 75 Boyer: Und Mensch schuf Gott, S. 121.
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Eine menschliche Prädisposition für Sprache belegen Untersuchungen von Alison Gopnik und Kollegen.76 Sie zeigen, dass Babys am Beginn ihres Lebens in der Lage sind, alle Lautelemente aller auf der Welt gesprochenen Sprachen zu unterscheiden. Schon vor Beginn der eigenen Sprachproduktion reduziert sich dieses Analysepotential auf den Lautumfang der gehörten Sprachäußerungen. Die Existenz und Beschaffenheit dieses perfekten phonetischen Analysepotentials bei Säuglingen und dessen weitere Entwicklung zeigen deutlich, dass das Gehirn kein unspezifisches Lernorgan ist. Wäre dies der Fall, so stände ein ganz anderer zeitlicher Verlauf zu erwarten: Die Fähigkeit zum Differenzieren zwischen unterschiedlichen Lauten sollte sich erst im Laufe der Zeit durch learning by hearing entwickeln. Der kindliche Reifungsprozess müsste genau konträr zum beobachtbaren Entwicklungsgang verlaufen. Statt vom Alleskönner zum Kulturanpasser sollten Menschen mit keiner oder nur geringer akustischer Unterscheidungsfähigkeit geboren werden, um sich dann dem Lautkanon der eigenen Kultur entgegen zu entwickeln. Derartige Einsichten in die Beschaffenheit und die biographische Dynamik des menschlichen Denkorgans stehen in direktem Zusammenhang mit der Frage nach der grundsätzlichen Beschaffenheit von Intelligenz. Intelligenz kann dabei als „allgemeine Lern-, Denk-, Vorstellungs-, Erinnerungs- und Problemlösefähigkeit“, aber auch als „Besitz von Kenntnissen aus bestimmten Gebieten (‚Expertenwissen‘)“77 gefasst werden. Zyniker verweisen bei der Frage nach Intelligenz gerne darauf, dass Intelligenztests keineswegs Intelligenz messen, sondern umgekehrt, dass man das, was sie messen, Intelligenz nennt.
Die Struktur der Intelligenz „We no longer live in small, face-to-face societies, in seminomadic bands of 20 to 100 people, many of whom were close relatives. Yet, our cognitive programs were designed for that social world.“ (John Tooby/ Leda Cosmides78)
Was das Wesen oder – weniger philosophisch – die Beschaffenheit von Intelligenz betrifft, stehen sich zwei Sichtweisen gegenüber: Die Erste geht davon aus, dass geistige Leistungsfähigkeit das Ergebnis eines allgemeinen und unspe76 Gopnik u.a.: Forschergeist in Windeln, S. 132. 77 Roth: Aus der Sicht des Gehirns, S. 109. 78 Tooby/Cosmides: „Conceptual Foundations of Evolutionary Psychology“, S. 17.
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zifischen kognitiven Potentials ist. Gehirn und Geist werden als universalistisch oder „domain general“79 gesehen. Der Mensch kann diese breit angelegte Verarbeitungsleistung je nach Wunsch und Bedarf einsetzen. Die zweite und deutlich jüngere Antwort leitet sich aus den Einsichten der Kognitions- und Verhaltenswissenschaften her. Demnach basiert die intellektuelle Leistungsfähigkeit des Menschen auf einer modularen Architektur kognitiver Mechanismen. Zum ersten Mal prägnant formuliert wurde diese Sichtweise in dem 1983 erschienen Buch The modularity of mind von Jerry Fodor. Zu Beginn der 90er wurde dieses Konzept, im Rahmen der evolutionären Psychologie, durch das swiss army knife-Model des menschlichen Geistes von John Tooby und Leda Cosmides aufgegriffen. Im Kern bezieht sich dieses Verständnis von Intelligenz auf die schon angeführten Belege für die entstehungsbedingte Problemspezifität menschlicher Kognition. Menschen haben ihre kognitiven Stärken in den Lebensbereichen, in denen Dummheit für unsere Vorfahren am schädlichsten war. Die kognitiven Fähigkeiten des Menschen sind, gemäß diesem Ansatz, ein Konglomerat spezifischer Problemlösungsmechanismen. Dabei greift jedes dieser Module selektiv auf einen Teil der verfügbaren Umweltinformation zu und übersetzt diesen mittels evolutionär entstandener Verarbeitungsroutinen in Verhaltenssteuerung. Jeder Berufstätige, der auf Grund seines Arbeitsumfeldes unter Stress steht, kann an sich selbst ein Beispiel für einen derart evolvierten Mechanismus beobachten: Es handelt sich um eine auf Gefahrensituationen ausgelegte extreme Aktivierung kognitiver und motorischer Potentiale – eine auf die Alternativen Flucht oder Kampf angelegte Reaktion, die zum einen der Vielfalt von Handlungsoptionen einer modernen Arbeitswelt unangemessen sind und zum anderen als Dauerzustand Psyche und Physis in Mitleidenschaft ziehen. Der Modularität, so wie sie von John Tooby und Leda Cosmides konzipiert wurde, setzte Mitte der 90er Jahre Dan Sperber ein anderes Konzept der Modularität entgegen80, bei dem die verschiedenen Module ihren Output in andere Module weiter leiten. Mit diesem Modell, das auch eine Metarepräsentation von neuronalen Ereignissen ermöglicht, sind nach Sperber die soziokognitiven Fähigkeiten unserer Art besser zu erklären. Eine entscheidende Komponente ist die Postulierung eines Moduls, das auf die Simulation von möglichen und wahrscheinlichen Vorgängen ausgelegt ist. Im zwischenmenschlichen Kontext ermöglicht dieses den Nachvollzug der Gedankengänge anderer Menschen und verbessert so den Umgang mit komplexen Kooperations- und Konkurrenzsituationen. Zahlreiche Ergebnisse der Autismusfor-
79 Barett u.a.: Human evolutionary psychology, S. 270. 80 Vgl. Sperber/Hirschfeld: „Culture, Cognition and Evolution“.
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schung scheinen die Annahme eines solchen Gedankenlesemoduls zu stützen, das gerade bei Autisten seiner Funktion nicht nachkommt.81 Ein selektiver Ausfall, der durchaus – was jedoch nicht die Regel ist – mit beeindruckender geistiger Leistungsfähigkeit einhergehen kann. Wie sich dieser Ausfall aus der Perspektive der Betroffenen zeigt, lässt sich aus einer Gesprächsnotiz des Neuropsychologen Oliver Sacks erahnen. Die hochfunktionale und als Konstrukteurin von Tierzucht- und Schlachtanlagen sehr erfolgreiche Autistin Temple Grandin gestand ihm mit Blick auf das Shakespeare-Drama Romeo und Julia, „ich habe nie verstanden, worum es ihnen ging“82. Starke empirische Hinweise für das Bestehen modularer und problemspezifischer Verarbeitungsmechanismen auf kognitiv höherer Ebene ergeben sich auch aus Untersuchungen, die sich auf den 1966 von P. C. Wason entwickelten Wason Selection Test83 beziehen. Dieser Test wurde entwickelt um der Hypothese nachzugehen, dass Menschen sich von Natur aus wie Wissenschaftler verhalten und Probleme in logisch strukturierter Weise handhaben. Die experimentelle Vorgehensweise besteht darin, ein und dasselbe Problem in zwei verschiedenen Aufmachungen zu präsentieren: zum einen als soziale Entscheidungssituation und zum anderen als mathematisch formalisierte Aufgabe. Entgegen der ursprünglichen Erwartungen zeigte sich, dass es keineswegs irrelevant war, mit welcher Formulierung des Problems die Probanden konfrontiert wurden. So souverän die große Mehrheit im Fall einer sozialen Einbettung des Problems die richtige Lösung fand, so führte die rein formale Darstellung dazu, dass nur noch eine Minderheit zur korrekten Lösung gelangte. Konkret sieht der Test, von dem es auf Grund seiner vielseitigen Verwendbarkeit inzwischen verschiedene Versionen gibt, wie folgt aus: Der Proband soll sich vorstellen, dass er in einer Bar dafür verantwortlich ist, dass die gesetzlichen Bestimmungen zum Ausschank von Alkohol nicht verletzt werden – kein Alkohol an Personen unter 21 Jahren. An einem Tisch sitzen vier Gäste, von denen der erste Cola trinkt und der zweite Bier. Von den beiden anderen weiß man, dass sie 16 und 21 Jahre alt sind. Wer, so die Frage, muss kontrolliert werden, um sicher zu stellen, dass das Gesetz nicht verletzt wird? Man kann diesen Test in Kartenform durchführen, wobei jede Karte für eine Person steht. Auf der einen Seite befindet sich jeweils die Altersangabe und auf der anderen Seite ist das Getränk vermerkt. Jede Versuchsperson wird mit einem Viererssatz dieser Karten konfrontiert. Aufgabe ist es, die Karten auszu-
81 Vgl. Baron-Cohen: Vom ersten Tag an anders. 82 Sacks: „Vorwort“ zu Grandin: Ich bin die Anthropologin auf dem Mars, S. 16. 83 Vgl. Wason: „Reasoning“.
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wählen, deren Rückseite kontrolliert werden muss, um sicher zu stellen, das es zu keinem Gesetzesverstoß kommt. Es bietet sich die folgende Wahl:
Abbildung 4: Der Wason Selection Test als soziale Aufgabe
Bei den von Wason durchgeführten Tests wählte die überwältigende Mehrheit der Probanden, fast 80 Prozent, mit Bier und 16 die beiden Karten die umgedreht werden müssen, um festzustellen, ob möglicherweise die geltenden Bestimmungen verletzt werden. Konfrontiert man die gleichen Versuchspersonen jedoch mit folgendem Kartenarrangement, so legen diese – trotz eindeutiger Anweisungen – ein deutlich weniger situationsadäquates Verhalten an den Tag.
Abbildung 5: Der Wason Selektion Test als logische Aufgabe
Die einzige Regel in diesem Fall ist, dass jede Karte die einen Vokal auf der einen Seite hat auf der anderen eine gerade Zahl haben muss. Die Frage, die es zu beantworten gilt ist, welche Karten umgedreht werden müssen, um zu kontrollieren, ob kein Regelverstoß vorliegt? Weit weniger als die Hälfte der Versuchspersonen entscheiden sich letztendlich für das A und die 7, die in diesem Fall die richtigen Antworten darstellen. Beide Versionen dieses Kartentests stellen logisch das gleiche Problem dar. Es geht darum, die Regel, wenn P dann Q, zu überprüfen. Würde der menschliche Verstand als universelle Datenverarbeitung funktionieren, so stän-
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de zu erwarten, dass die beiden Versionen des Problems gleich gut oder schlecht gelöst werden. Die Ergebnisse zeigen dagegen, dass die menschliche Kognition ihr Leistungsmaximum im Bereich sozialer Zusammenhänge hat. Weitere Untersuchungen, in denen logisch korrekte und sozial sinnvolle Entscheidungen nicht wie im angeführten Fall identisch waren, ergaben, dass Menschen gerne Handlungsoptionen wählen, die im sozialen Kontext sinnvoll sind.84 Durch eine elegante Versuchskonzeption gelang es Gerd Gigerenzer und Klaus Hug nachzuweisen, dass diese Präferenz in erheblichem Umfang durch die Wahl potentieller sozialer Perspektiven beeinflusst wird.85 Ein weiterer Kartentest führte als zu prüfende Gesetzmäßigkeit ein, dass Arbeitnehmer nur dann einen Anspruch auf eine Pension haben, wenn sie mindestens 10 Jahre für den Arbeitgeber tätig waren. Der Teil der Versuchspersonen, der sich in die Perspektive des Arbeitgebers versetzen sollte, entschied sich dafür die Karten umzudrehen, auf denen von einem geringeren Zeitraum als 10 Jahren und einer Pensionszahlung die Rede war. Die hypothetischen Arbeitnehmer entschieden sich stattdessen, zu kontrollieren, was sich auf der Rückseite der Karte mit mehr als 10 Jahren und jener die keine Pensionszahlung signalisierte befand. Die Vertreter der beiden Versuchsgruppen agierten strategisch so, wie es angebracht wäre, um mögliche Betrugsversuche des in diesem Test imaginierten Sozialpartners aufzudecken. Die Intelligenz unserer Spezies – die Fähigkeit Probleme zu lösen – ist, wie diese Untersuchungen zeigen, kein abstraktes Potential mit der Umwelt umzugehen, sondern ein auf konkrete Umweltbedingungen zurückgehendes Konglomerat von kognitiven Kompetenzen. Die domain general-Hypothese der Intelligenz, die besagt, dass der menschliche Geist und damit auch das ihn materiell konstituierende Gehirn ein Allzweck-Datenverarbeitungsgerät ist, hat auf Grund dieser Erkenntnisse in den vergangenen Jahrzehnten viel von ihrer einstigen Plausibilität eingebüßt. Die Lernforschung ist ein anderer Wissenschaftszweig, dessen Resultate ebenfalls eine Abkehr von der einst monolithischen Sicht der Intelligenz nahe legen. Universelle, sich lediglich durch Versuch und Irrtum differenzierende Informationsverarbeitungssysteme können menschliche Lernleistungen nicht erbringen. Damit scheiden sie als Erklärungsmodelle aus. Der bloße sensorische Input würde eine nicht vorstrukturierte biologische Datenverarbeitung quantitativ überlasten. Im Zeithorizont einer menschlichen Biographie könnten sich leistungsfähige Verallgemeinerungen nicht herausbilden, wie sie zum Umgang mit der Umwelt unverzichtbar sind. Dabei sind mit leistungsfähigen
84 Vgl. Cosmides/Tooby: „Cognitive adaptations for social exchange“, S. 163ff. 85 Vgl. Gigerenzer/Hug: „Domain-specific reasoning“.
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Verallgemeinerungen hier sowohl mentale Rekonstruktion physikalischer Gesetze, aber mehr noch Alltagsprobleme, wie Gesichtserkennung und Sprachverstehen, gemeint. Die Intelligenz als Konglomerat kognitiver Fähigkeiten muss zudem in Verbindung mit den Sinnesorganen gesehen werden. Erst die Fähigkeit zur Wahrnehmung der Welt macht ein Reagieren auf deren Beschaffenheit und Wandlungen möglich. Gehirne sind in diesem Zusammenhang funktionale Einheiten, die zwischen sensorischem Input und motorischem Output vermitteln. Im Verlauf der Entwicklung des Lebens konnten sie nur im Ergebnis einer intensiven Wechselbeziehung mit Sinnesorganen und Bewegungsapparat entstehen. Gehirne lassen sich somit allgemein als hochkomplexe und auf Verhaltenssteuerung ausgelegte Verbindung zwischen diesen beiden funktionalen Komponenten eines Organismus verstehen – und sind das Ergebnis eines Erdzeitalter umspannenden Differenzierungsprozesses. Ein Mehr an Verarbeitung im Gehirn ist dabei jedoch nicht für alle Problemstellungen von Gewinn, wie – was überraschen mag – am Kniesehnenreflex demonstriert werden kann. Den meisten Menschen ist dieser Automatismus ihres Körpers lediglich von Arztbesuchen bekannt: Bei einem gezielten, leichten Schlag auf die Kniesehne zuckt der Unterschenkel nach vorne – ein Mechanismus, der im Alltag dazu dient Stürze zu vermeiden, wenn die Kniesehne wieder Erwarten durch ein Hängen bleiben des Fußes gedehnt wird. Da es sich hier um ein Problem handelt, dass eine besonders schnelle Reaktion erfordert um negative Folgewirkungen zu vermeiden, überrascht es nicht, dass sich ein neuronaler Mechanismus herausgebildet hat, der genau dieser Einschränkung Rechnung trägt. Beim so genannten monosynaptischen Reflex, um den es sich hier handelt, stimuliert ein Dehnungsrezeptor einen sensorischen Nerv der diesen Impuls zum Rückenmark weiterleitet und dort direkt an ein Motoneuron weitergibt. Dieses verursacht in der Folge das Zucken der Muskulatur, das im Ernstfall dem Abfangen der bereits begonnenen Fallbewegung dient. Das Gehirn spielt für diesen Antistolpermechanismus keine Rolle. Wäre es involviert, stände zu erwarten, dass Menschen häufiger dem Drängen der Schwerkraft folgen würden. Grund hierfür wäre das Mehr an Zeit, dass für eine zentral gesteuerte Reaktion notwenig wäre. Die größere Strecke, die Nervensignale in diesem Fall zurücklegen müssten und die Verzögerung bei jeder Weitergabe zwischen Nervenzellen, würden die benötigte schnelle Reaktion bedrohlich verzögern. Aus einer evolutionären Perspektive handelt es sich beim Kniesehnenreflex um ein für eine bestimmte Problemstellung adaptiertes Weltmodell – nicht unähnlich dem Beutefangverhalten des Frosches. Ein spezifisches Motorprogramm spricht dabei selektiv auf eine nicht intendierte Zustandsänderung des Beines an. Dieses wichtige aber sehr eingeschränkte Steuerungsprogramm hat
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zur Folge, dass dieser Mechanismus auch dann in Aktion tritt, wenn keinerlei Stolpergefahr besteht sondern ein Mediziner den Reflexhammer schwingt. Die ausführliche Darstellung, dieses in Bezug auf Medien irrelevanten Automatismus, verdeutlicht, dass die menschliche Wahrnehmung die Welt nicht objektiv oder philosophischer formuliert als kantisches Ding an sich wiedergibt. Auch die Sinnesorgane sind Ergebnisse von Anpassungsprozessen und damit sensorische Antworten auf bestimmte Problemstellungen. Die philosophisch drängende Frage nach der Wahrheit des menschlichen Weltbildes findet sich bei Roth in eleganter Weise beantwortet: Wenn unsere Wahrnehmungen also Konstrukte sind (wenngleich keine bewusst-willkürlichen) und keine Abbilder, wieso sind sie trotzdem in aller Regel verlässlich. Dies können wir am ehesten verstehen, wenn wir uns klarmachen, dass nicht unsere Wahrnehmungen ‚richtig‘ sein müssen, sondern unsere Verhaltensweisen.86 Analog zur evolutionären Genese der Intelligenz lässt sich auch für die Sinnesorgane feststellen, dass diese nicht als universelle Rezeptionswerkzeuge entstanden. Wahrnehmung ist aus stoffwechselphysiologischer Sicht ein teures Unterfangen, das auf für den Lebenserfolg relevante Bereiche beschränkt bleiben muss. Im Sinne einer effizienten Umwelterschließung muss man somit sagen: „eine zentrale Leistung des Organismus ist die Reizauswahl“87. Die Entstehung und Beschaffenheit der Sinnesorgane ist ebenfalls nur zu verstehen, wenn man sie als Antworten auf existenzielle Probleme im Rahmen der Stammesgeschichte begreift. Der Eindruck visueller Vollständigkeit, den ein Normalsichtiger im Blick auf seine Umwelt hat, relativiert sich, wenn man in Betracht zieht, dass es sowohl infrarote als auch ultraviolette Phänomene in der menschlichen Lebenswelt gibt, deren sensorische Unzugänglichkeit zumeist mit Gleichmut hingenommen wird. Die meisten weißen Blumen weisen Zeichnungen im ultravioletten Bereich auf. „We possess no ability to see the ultraviolet ligth that guides butterflies“.88 Infrarotsichtigkeit, die unter anderem von Schlangen genutzt wird, verbessert die Orientierung bei Dunkelheit. Diese und analoge Begrenzungen für andere Sinnesmodalitäten zeigen, dass sich die Leistungen aber auch Beschränkungen menschlicher Sinnesorgane in einen evolutionären Kontext einbetten lassen, der ein besseres Verstehen des menschlichen Weltbezugs erlaubt. Im Rahmen der Darstellung von Gesichtssinn und Gehör im dritten Teil dieser Arbeit wird auf diese beiden Sinnesmodalitäten, deren 86 Roth: Aus der Sicht des Gehirns, S. 86. 87 Schwab: Evolution und Emotion, S. 24. 88 Wilson: „Foreword from the Scientific Side“, S. IX.
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Stimulusspezifitäten, die sich anschließenden neuronalen Verarbeitungsmechanismen und den daraus resultierenden Weltbezug näher eingegangen.
Lernen und Kommunikation „Das Gehirn ist die Maschine, die Lernen in allen Formen möglich macht… Zugleich ist das Gehirn auch der natürliche Mechanismus, der unserem Lernen Grenzen setzt.“ (Sarah-Jayne Blakemore/Uta Frith89)
Wahrnehmungen und die sich anschließende Verarbeitung der eingehenden Stimuli erfüllen prinzipiell die Aufgabe den motorischen Umgang des Organismus mit seiner Umwelt zu regulieren. Ein zentraler Aspekt innerhalb des Verhaltensspektrums sind Aktivitäten, die der Kommunikation dienen. Kommunikation bedeutet ein direktes oder indirektes Interagieren mit anderen Organismen, mit dem Ziel, deren Verhalten kurz- oder langfristig zu beeinflussen. Bei der kommunikativen Interaktion hebt sich die Spezies Homo sapiens deutlich von ihrem evolutionären Umfeld ab. Anders als andere Vertreter des Primatenstammbaumes sind Menschen in der Lage, sich mittels symbolischer Werkzeuge auf nicht gegenwärtige Sachverhalte zu beziehen und diese Aussagen bei Bedarf mit Hilfe kulturell entwickelter Techniken zu konservieren. Derartige Kulturfähigkeiten stellen keine prinzipielle Grenze zwischen Mensch und Tier dar, das wurde anhand von Versuchen deutlich, in deren Verlauf verschiedene Menschenaffenarten bewiesen, dass sie in der Lage sind Systeme symbolischer Kommunikation zu erlernen. Deutlich zeigten die Langzeitexperimente jedoch auch, in welchem Umfang sich die Fähigkeiten der verschiedenen Spezies unterscheiden. Kanzi, der erfolgreichste äffische Schüler, brachte es nach jahrelangem Training auf ein Vokabular von zirka 1000 Symbolen, die er handhaben und zu sinnvollen Kombinationen verbinden konnte.90 Dieser Bestand entspricht ungefähr dem eines zweijährigen Kindes – ein frühes Durchgangsstadium der kindlichen Entwicklung, die im Durchschnitt erst eineinhalb Jahrzehnte später und nach Aufbau eines weit umfangreicheren Vokabulars91 an Dynamik verliert. Die Affenexperimente zur symbolischen Kommunikation machen deutlich, welch immensen Einfluss die kulturelle Einbettung eines kulturfähigen Organismus auf dessen Ontogenese hat. Der Philosoph Daniel C. Dennett postuliert in diesem Zusammenhang das Entstehen eines neuen kau89 Blakemore/Frith: Wie wir lernen, S. 12. 90 Vgl. Savage, Rumbaugh: Kanzi, der sprechende Schimpanse. 91 Vgl. Pinker: Der Sprachinstinkt.
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salen Ereignisraumes und betont damit die fundamentale Wichtigkeit und das Potential des Kulturwerkzeugs Sprache: „Sie schafft die Infosphäre, in der sich die kulturelle Evolution abspielt.“92 Das Hineinwachsen junger Menschen in die sie umgebende Kultur erweist sich so als Wechselspiel zwischen angeborenen Potentialen und kulturellen Angeboten. Die biologische Anpassung der Kinder an kulturelle Vererbung versetzt sie in die Lage, an bestimmten Formen sozialer Interaktion teilzunehmen. Es sind jedoch diese sozialen Interaktionen selbst, die das Kind tatsächlich dazu führen, verschiedene Perspektiven auf andere Dinge und sich selbst einzunehmen. Eine treffende Analogie stellen solche kulturspezifischen Tätigkeiten wie das Schachspiel oder Basketball dar. Natürlich erzeugt eine Kultur nicht die kognitiven oder sensu-motorischen Fähigkeiten des Individuums, die nötig sind, um diese Spiele zu spielen. Aber es ist unmöglich, ein Geschick darin zu entwickeln, ohne dass man einige Zeit – tatsächlich mehrere Jahre – diese Spiele mit anderen wirklich gespielt und Erfahrungen darüber gesammelt hat, was gut funktioniert, was nicht und was der Partner in bestimmten Situationen wahrscheinlich tun wird. Menschenkinder haben ein großes biologisches und kulturelles Erbe; aber es gibt trotzdem noch viel für sie zu tun.93 Für das Verständnis der Vergleiche von Menschen und Menschenaffen ist die geringe zeitlich und genetische Entfernung dieser Spezies von entscheidender Bedeutung. Die sechs Millionen Jahre, die den Menschen vom letzten gemeinsamen Vorfahren mit den Schimpansen trennen, sind eine evolutionär kleine Spanne. 99 Prozent des einstmals gemeinsamen Erbmaterials haben sich in dieser Zeit nicht verändert. Eine ähnlich enge Verwandtschaft findet sich zum Beispiel „zwischen Löwen und Tigern, Pferden und Zebras oder Ratten und Mäusen.“94 So beeindruckend die symbolischen Fähigkeiten des Menschen auch sind, so beruhen diese doch, ebenso wie alle anderen kognitiven Leistungen, auf evolutionär alten Mechanismen und sind „letztendlich eine Fähigkeit des menschlichen Gehirns“95. Hirnuntersuchungen bei verschiedenen Säugetieren und ebenso an Vögeln haben gezeigt, dass deren Zentrum für Kommunikation durchgängig in der linken Gehirnhälfte lokalisiert ist. Im Kontext dieser Be92 Dennett: Darwins gefährliches Erbe, S. 482. 93 Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, S. 232. 94 Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, S. 13. 95 Herrmann/Fiebach: Gehirn & Sprache, S. 3.
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funde steht zu vermuten, dass das menschliche Sprachzentrum, das ebenfalls Bestandteil der linken Hirnhemisphäre ist, auf eine viel ältere funktionale Spezialisierung innerhalb der Großhirnrinde zurückgeht. Die weite Bereiche des Tierreichs umspannende anatomische Übereinstimmung der Lage des Kommunikationszentrums macht deutlich, dass die hier verankerten Fähigkeiten, schon seit erdgeschichtlich langer Zeit eine wichtige Rolle im Leben höherer Wirbeltiere spielen. Die Fähigkeit Andere mittels symbolischer Kommunikation als intentionale Akteure zu verstehen und mit diesen zu interagieren, ist eine Weiterentwicklung stammesgeschichtlich alter Fähigkeiten. „Das heißt also“, so Tomasello, „dass Sprache zwar besonders ist, aber nicht überaus besonders.“96 Die ehedem häufige Überschätzung der Sprache als Motor der Entwicklung menschlicher Kognition geht dabei in gleicher Weise fehl, „wie wenn man Geld als evolutionäre Ursache menschlicher Wirtschaftstätigkeit ausgeben würde.“97 Vom verhaltensbiologischen Standpunkt aus dient die innerartliche Kommunikation vorrangig dem Zweck mögliche Sozialpartner zu gewinnen, beziehungsweise Konkurrenzsituationen zu handhaben. Das kommunikative Repertoire verschiedener Arten kann dabei sehr wohl kulturanaloge Ausprägungen aufweisen, wie zum Beispiel die regional unterschiedlichen Gesangsweisen von Walen oder Singvögeln. Bei letzteren weiß man, dass die zu beobachtenden Dialekte mittels Imitation während des Heranwachsens erworben werden. Daran anknüpfende Experimente haben gezeigt, dass das Nachahmen von Gesängen bei vielen Vogelarten jedoch anlagebedingten Grenzen unterworfen ist. Die im Rahmen der Hominisation gewachsenen kommunikativen Fähigkeiten der Spezies Mensch stellen die Grundlage des Großphänomens Kultur dar – eine Aussage, die nicht mit der gänzlich unzutreffenden Behauptung verwechselt werden darf, dass alles Kulturelle genetisch bedingt sei. Es ist vielmehr die Umwelt, der ontogenetisch der entscheidende Einfluss an der Entwicklung symbolischer Kompetenz zukommt. Kommunikative Phänomene speisen sich aus drei Komponenten: genetisch angelegten Fähigkeiten, einem kulturellen Umfeld, in dem sich diese entfalten, und individuell entstehenden Kompetenzen und Präferenzen für deren Einsatz. Michael Tomasello beschreibt diese gegenseitige Bedingtheit wie folgt: Die Grundidee ist also, dass Menschen kognitive Fertigkeiten besitzen, die biologisch über eine phylogenetische Zeitspanne hinweg vererbt werden; sie verwenden diese Fertigkeiten, um kulturelle Ressour96 Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, S. 241. 97 Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, S. 114.
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cen zu nutzen, die sich über einen historischen Zeitraum entwickelt haben; und sie nutzen diese Ressourcen während der ontogenetischen Zeitspanne.98 In einem Lehrbuch zur Medienpsychologie wird der Umgang mit der Umwelt wie folgt charakterisiert: „Dementsprechend handelt es sich bei der menschlichen Informationsverarbeitung um einen aktiven Prozess, bei der die Umgebungsinformationen im Lichte der Anforderungen, Bedürfnisse und Ziele des Individuums bewertet und adaptiert werden.“99 Der Vorgang der Informationsverarbeitung adaptiert jedoch nicht nur im Rahmen individueller Erfordernisse, sondern ist selbst das Ergebnis eines evolutionären Adaptationsvorgangs. Die beobachtbaren kognitiven Möglichkeiten und Mechanismen bestehen in der vorliegenden Form auf Grund früherer Umweltbedingungen. Jegliche Betrachtung kognitiver und damit in der Konsequenz auch kommunikativer Fähigkeiten, die diese Genese außer Acht lässt, läuft Gefahr, auf Grund eines inadäquaten Modells ihrem Untersuchungsgegenstand nicht gerecht zu werden. Der Neurowissenschaftler Joseph LeDoux sieht die Essenz der Nachwirkungen prähistorisch ferner Vergangenheiten darin, „dass unser Gehirn von der Evolution darauf programmiert wurde, auf wichtige Situationen in bestimmter Weise zu reagieren.“100 Der im Mittelalter der Bescheidenheit dienende Verweis, dass jede intellektuelle Leistung nur erbracht werden könne, weil man auf den Schultern von Riesen – den geistigen Größen der Vergangenheit – stehe, findet in dieser Betrachtung menschlicher Kognition eine Entsprechung von erdgeschichtlicher Dimension: Die intellektuellen, rezeptiven und kommunikativen Fähigkeiten, über die heutige Menschen verfügen, kommen diesen nur zu, weil sie im metaphorischen Sinne auf den Schultern stammesgeschichtlicher Vorfahren stehen. Eine ontologisch-psychologische Verbrüderung, die jedoch keinen Anspruch auf Exklusivität geltend machen kann. Alle Säugetiere leben in grundsätzlich derselben sensu-motorischen Welt dauernder Gegenstände, die in einem Repräsentationsraum angeordnet werden; Primaten, Menschen eingeschlossen, verfügen in dieser Hinsicht über keine besonderen Fertigkeiten.101
98 Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, S. 202. 99 Schwan/Hesse: „Kognitionspsychologische Grundlagen“, S. 75. 100 LeDoux: Das Netz der Gefühle, S. 288. 101 Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, S. 26.
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Die Bedeutung des stammesgeschichtlichen Erbes des heutigen Menschen wird dabei umso deutlicher, je anschaulicher die verschiedenen Phasen dieser Entwicklung gegenüber gestellt werden. Komprimiert man die Zeitspanne von den prähistorischen Anfängen bis zum heutigen Tag auf 24 Stunden, so wird deutlich wie fast revolutionär neu auch die ältesten Medien sind. Abweichend von anderen Entwürfen102 soll hier – mit den vergangenen zwei Millionen Jahren – die Phase des exzeptionellen Gehirnwachstums der menschlichen Art zugrunde gelegt werden. Der Tag, der sich auf Grund dieser Komprimierung dem Betrachter bietet ist ein Tag der Sammler und Jäger. Die Abkehr von dieser Lebensform und damit den Beginn der Sesshaftigkeit läuten einzelne Teilpopulationen erst ungefähr sieben Minuten (10.000 Jahre) vor Mitternacht und damit dem Heute ein. Die Schrift, als unverzichtbares Werkzeug jeglicher Hochkulturen, wird dreieinhalb Minuten vor Ende des Tages erfunden (ca. 3000 v. Chr.). Gutenbergs technologische Potenzierung dieses Symbolwerkzeugs, der Buchdruck, tritt einundzwanzigeinhalb Sekunden vor Ende des Tages in die Welt (1440). In der Folge jagen sich die Ereignisse in ansteigender Frequenz. Daguerre erfindet um 23.59.53 Uhr (1839) die Fotografie. Etwas mehr als vier Sekunden vor Ende des Tages führen die Gebrüder Lumiere und Louis Jean in Paris den ersten Kinofilm vor (1895). Der erste Comic erscheint (1896). Ende der nächsten Sekunde beginnt die Ausbreitung des Mediums Radio (1923) und wird kurz darauf von den ersten Fernsehversuchen gefolgt (1936). Vor etwas mehr als zwei Sekunden hebt dann der Aufstieg dieser audiovisuellen Technologie zum weltweiten Leitmedium an. Am Beginn der letzten Sekunde stellen die Druckereien der westlichen Welt vom seit Gutenberg praktizierten Bleisatz auf Fotosatz um. Fast im gleichen Moment (1981) wird der PC erfunden und leitet eine alle Branchen umfassende Transformation der Arbeits- und Produktionsprozesse ein. 1990, mit 0.6 Sekunden nur einen Lidschlag vor Ende des Tages, wird HTML, die Programmiersprache des Internet, vom Forschungszentrum CERN für den öffentlichen Gebrauch freigegeben. In nur etwas mehr als 0,2 Sekunden entsteht und vergeht die medienund technologiegetriebene New Economy. Mobile Telefone steigen in den letzten 0,4 Sekunden zum Alltagsgegenstand auf und ermöglichen in vielen nichtentwickelten Ländern zum ersten Mal den Aufbau einer leistungsfähigen Telefoninfrastruktur. Auf Grund terroristischer Aktivitäten findet in den letzten eineinhalb zehntel Sekunden ein Anstieg der weltweiten Kontrollen des Datenverkehrs statt. Diese rasante Entwicklung – an wenigen Wegmarken vorgeführt – kann aber nicht darüber hinweg täuschen, dass während des größten Teils dieses Tages, der für die letzten zwei Millionen Jahre der Menschheit steht, keines der 102 So angeführt bei Winterhoff-Spurk: Medienpsychologie, S. 35.
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erwähnten Medien existierte. Selbst die frühesten Höhlenmalereien erscheinen erst gegen 23.08 Uhr (80.000). Zu diesem Zeitpunkt war der anatomisch moderne Mensch – Individuen, die man mit der entsprechenden Frisur, passender Kleidung aber auch vom Intellekt her, ohne weiteres in den heutigen Alltag integrieren könnte – schon mindestens eine dreiviertel Stunde alt (ca. 150.000). Der auch im hier vorliegenden Maßstab noch langsame Vorgang des Gehirnwachstums spielt sich vollständig vor dem Entstehen jeglicher Hochkultur ab. Die letzten fünf Minuten dieses Tages, die für den Teil der menschlichen Geschichte stehen, der von der Geschichtsschreibung erfasst wird, sind eine Zeit fast unglaublicher Entwicklungen und Revolutionen, die die biologischen Voraussetzungen des Kulturwesens Mensch nicht mehr verändern, wohl aber in inflationärer Weise die Kultur mit der jede neue Generation aufwächst. Intelligenz, Wahrnehmung und Kommunikationsfähigkeit erweisen sich in diesem Sturm der Kultivierung als basale arteigene Dispositionen, die ihren Besitzern gestatten sich eine oder mehrere von tausenden unterschiedlichen Sprachen anzueignen, die jeweils notwendigen motorischen Fähigkeiten zu erlernen und mit den kommunikativen Kodizes ihres Umfeldes umzugehen.
Emotionen als handlungsleitende Heuristiken „Ungeachtet der Tatsache, dass Lernen und Kultur den Ausdruck von Emotionen verändern und ihnen neue Bedeutungen verleihen, sind Emotionen biologisch determinierte Prozesse, die von angeborenen Hirnstrukturen abhängen, und diese wiederum verdanken ihre Existenz einer langen evolutionären Geschichte.“ (Antonio R. Damasio103)
Die Emotionen oder Gefühle haben in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Menschen lange ein relativ unbedeutendes Dasein geführt. Zu mächtig waren zum einen die von der Aufklärung herrührenden Vorstellungen, dass ein mündiger Bürger einzig den Einsichten seines Verstandes folgt und zum anderen die Nachwirkungen des Behaviorismus, der diese subjektiven Phänomene aus der Sphäre der legitimen Forschungsgegenstände ausschloss. Sich mit Blick auf Medien mit Emotionen zu beschäftigen ist vor diesem Hintergrund erklärungsbedürftig – warum soll für das Verständnis dieses Phänomenbereichs eine Auseinandersetzung mit dieser Klasse psychischer
103 Damasio: Ich fühle, also bin ich, S. 68.
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Zustände notwendig sein? Eine erste Antwort soll an dieser Stelle auf zweierlei verweisen: erstens besteht der größte Teil der weltweiten Medienproduktion aus Unterhaltungserzeugnissen, die keinen primär rationalen Nutzen erfüllen, sondern durch ihren Konsum emotionale Zustände hervorrufen und zweitens hat sich gezeigt, dass eine handlungsrelevante Beurteilung sachlicher Informationen ohne die wertenden Qualitäten von Emotionen nicht möglich ist. Emotionen sind evolutionär entstandene und neuronal verankerte Bewertungsmechanismen, die subjektiv als wertende Wahrnehmungen auftreten und der Handlungssteuerung dienen. Evolutionär orientierte Theoretiker sehen diese „als Metaprogramme, die zur Lösung adaptiver Probleme unsere Kognition in spezifischer Art und Weise beeinflussen.“104 „The function of emotions lies in reliably regulating and triggering survival-oriented patterns of behavior.“105 Die lebens- und überlebensstrategische Ausrichtung dieser Mechanismen ist dabei outputorientiert: „Emotionen haben mit dem Leben eines Organismus zu tun, seines Körpers, um genau zu sein, und ihre Aufgabe besteht darin, dem Organismus zu helfen, am Leben zu bleiben.“106 Im Kontext der körpereigenen Vorgänge rangieren diese „gewissermaßen zwischen der Grundausstattung fürs Überleben (z.B. Regulation des Stoffwechsels, einfache Reflexe, Motivationen, Biologie von Schmerz und Lust) und den Mechanismen höherer Denkprozesse, gehören aber weitgehend noch zur Hierarchie der lebensregulierenden Mechanismen.“107 Harald Traue und Henrik Kessler betonen, dass die evolutionäre Genese der Emotionen als „Individuum-Umwelt-Anpassung“ zwei kausal wichtige Konsequenzen nach sich zieht: Die evolutionsgeschichtlich neueren Strukturen überlagern die alten Strukturen, heben deren Funktion jedoch nicht vollständig auf, sondern machen sie kontrollierbar. Darüber hinaus stehen Emotionen und ihre individuelle Entwicklung in engem Zusammenhang mit der sozialen Lebensform des Menschen. Sie sind ein wichtiges interindividuelles Signalsystem, mit dem internale Zustände und Handlungsabsichten kommuniziert werden.108 Definitorisch ist es wichtig eine Abgrenzung zu nahe verwandten Zuständen vorzunehmen, die sich in gleicher Weise durch ihre subjektiven Qualitäten auszeichnen. In der Emotionspsychologie hat sich in diesem Zusammenhang die 104 Schwab: Evolution und Emotion, S. 9. 105 Metzinger: Being No One, S. 199. 106 Damasio: Ich fühle also bin ich, S. 68. 107 Damasio: Ich fühle also bin ich, S. 72. 108 Traue/Kessler: Psychologische Emotionskonzepte, S. 30.
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Unterscheidung zwischen Affekt, Emotion (Gefühl), Stimmung und Empathie durchgesetzt. Ein Affekt ist eine extrem heftige innere Reaktion auf ein Geschehen, die unkontrollierbar ist und zu spontanen und nicht reflektierten Handlungsweisen führt. Bei einer Emotion handelt es sich ebenfalls um eine subjektive Wahrnehmung, die ein Faktum bewertet: zum Beispiel angenehm oder unangenehm! Deutlich davon zu unterscheiden ist die Stimmung; bei ihr handelt es sich um eine mittel- oder langfristige Veränderung des individuellen Befindens, die keine Reaktion auf einen oder mehrere konkrete Reize ist. Das letzte Phänomen aus diesem Kontext ist die Empathie, bei der es sich um die Wahrnehmung affektiver, emotionaler und stimmungsmäßiger Befindlichkeiten Anderer handelt, gemeinsam mit der Erfassung des situativen Kontextes des jeweiligen Individuums.109
Medien: Neue Stimulusquellen – alte Verarbeitungsmechanismen „Equating mediated and real life is neither rare nor unreasonable. It is very common, it is easy to foster, it does not depend on fancy media equipment, and thinking will not make it go away. The media equation – media equal real life – applies to everyone, it applies often and it is highly consequential. And this is surprising.“ (Byron Reeves/Clifford Nass110)
Hirnanatomisch liegen die neuronalen Zentren, auf deren Aktivität die Emotionen zurückgehen, außerhalb der bewusstseinsgenerierenden Regionen des assoziativen Bereichs der Großhirnrinde. Diese Trennung führt zu einem spezifischen Erleben emotionaler Zustände, wie es der Neurowissenschaftler Joseph LeDoux beschreibt: Emotionen sind eher etwas was uns zustößt, als etwas, dessen Eintreten wir herbeiwünschen. Zwar schaffen Menschen ständig irgendwelche Situationen, um ihre Emotionen in einem bestimmten Sinne zu modulieren – sie gehen ins Kino oder in einen Vergnügungspark, sie essen etwas Leckeres oder konsumieren Alkohol und andere der Entspannung dienende Drogen -, aber dabei werden lediglich äußere Er-
109 Vgl. Schwab: Evolution und Emotion, S. 58. 110 Reeves/Nass: The Media Equation, S. 5.
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eignisse so arrangiert, dass die Reize, welche automatisch bestimmte Emotionen auslösen, gegeben sind.111 Die Pointe und für den Umgang mit Medien wichtige Konsequenz dieser intentionalen Unerreichbarkeit gerade von positiven Emotionen ist, dass diese durch ein gezieltes Einwirken auf die äußeren Umstände des Individuums indirekt herbeigeführt werden können und müssen. Medien sind in diesem Zusammenhang, wie der Medienwissenschaftler Dolf Zillmann schon in den 80er Jahren erkannte, das kulturelle Werkzeug par excellence um unterschiedlichste emotionale Zielzustände zu erreichen – je nach individuellem Bedarf: „[...] individuals consume media entertainment purposively in efforts to manage moods.“112 Der kausale Ursprung für diese stimulativ-manipulative Macht der Medien geht diesen historisch weit voraus. Vielmehr bedienen sich diese einer „Umwelt-Organismus-Schnittstelle“113, die keinesfalls ein Privileg der menschlichen Stammeslinie ist, sondern die, zumindest in gewissem Umfang, „für alle Tiere einen Überlebensvorteil“114 bietet. Antonio Damasio attestiert, dass es sich dabei um zentralnervöse Verarbeitungsroutinen handelt, die weit älter als Homo sapiens sind: Die Emotion wurde im Laufe der Evolution wahrscheinlich vor der Morgendämmerung des Bewusstseins angelegt und meldet sich in uns allen, wenn wir auf Auslösereize reagieren, die wir häufig gar nicht bewusst wahrnehmen. Andererseits rufen Gefühle ihre endgültigen und dauerhafteren Wirkungen im Theater des Bewusstseins hervor.115 Wie schon angeführt, haben die Emotionen ihren Ursprung außerhalb der für das Bewusstsein konstitutiven Bereiche des Gehirns. Sie gehen auf Strukturen zurück, die tiefer im Inneren des Gehirns sitzen und die im Vergleich zur erst in evolutionär naher Vergangenheit angewachsenen Hirnrinde alt und vergleichsweise ursprünglich sind. Zusammenfassend werden diese Hirnstrukturen als limbisches System bezeichnet und leiten sich in ihrer stammesgeschichtlichen Entwicklung vom Riechhirn früher Wirbeltiere her.116 Dass die Emotionen auf eine neuronale Basis zurückgehen, die sich entwicklungsge111 LeDoux: Das Netz der Gefühle, S. 22. 112 Zillmann: „Mood Management“, S. 147. 113 Traue/Kessler: Psychologische Emotionskonzepte, S. 24. 114 Kämper: „Emotionen bei Tieren“, S. 35 115 Damasio: Ich fühle also bin ich, S. 51. 116 Erk/Walter: „Funktionelle Bildgebung der Emotionen“, S. 52.
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schichtlich aus dem Riechhirn abgespalten hat – das beim Menschen weitgehend zurückgebildet ist – kann als symptomatisch für deren Rolle in der Beziehung von Individuum und Umwelt gesehen werden. So wie der Geruchssinn zur Unterscheidung zwischen genießbarer und ungenießbarer Nahrung aber auch zwischen potentiell gewünschten Sozialpartnern (Paarungspartners) und möglicherweise gefährlichen Konkurrenten dient, so sind auch die Emotionen darauf angelegt die Situationen zu bewerten, um adäquates Verhalten zu ermöglichen. Der Einfluss auf das Verhalten erfolgt über Nervenbahnen, die den Output des limbischen Systems in die Großhirnrinde und damit ins bewusste Erleben einspeisen. Eine vielsagende Tatsache im Zusammenhang mit diesen hirninternen Verbindungen ist, wie Joseph LeDoux ausführt, dass die Verbindungen von den kortikalen Bereichen zur Amygdala weit schwächer sind als die Verbindungen von der Amygdala zum Kortex. Das könnte erklären, warum emotionale Informationen so leicht in unsere bewussten Gedanken eindringen, während es uns schwer fällt, bewusste Kontrolle über unsere Emotionen zu gewinnen.117 Die Amygdala, auch Mandelkern genannt, von der LeDoux hier spricht, kann stellvertretend für die Gesamtheit der limbischen Strukturen gesehen werden – diese haben zwar starke Wirkungen auf das bewusste Erleben der Welt, das bewusste Denken hat im Gegenzug jedoch nur geringen Einfluss auf deren Aktivität. Die Amygdala, von der soeben die Rede war, ist im Gefüge des limibischen Systems besonders für eines zuständig: die Angst. Angst ist im Kontext ihrer evolutionären Entstehung keineswegs eine negative Errungenschaft. Vielmehr handelt es sich bei ihr um das fühlbare Resultat eines Warn- und Alarmmechanismus, der gleich dem Kniesehnenreflex dazu dient, schnelle und potentiell lebensrettende Reaktionen zu ermöglichen. Die Verrechnung der eingehenden Stimuli erfolgt dabei in einer Weise, die als quick and dirty bezeichnet werden kann. Die Amygdala erhält unter anderem direkten Input von einer phylogenetisch alten Umschaltstation in der Sehbahn. Das hat zur Folge, dass schon vor der bewussten Wahrnehmung eines Stimulus eine Kopie an das hirneigene Alarmzentrum geht. Die eingehenden Informationen werden dort relativ grob auf bekannte Gefahrenmomente untersucht. Liegt ein solcher vor, wie im Fall einer Schlange oder auch nur eine fälschlicherweise angenommenen Schlange, dann wird der gesamte Organismus durch die Ausschüttung des
117 LeDoux: Das Netz der Gefühle, S. 286.
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Hormons Adrenalin aktiviert und eine Fluchtreaktion eingeleitet. Dieser Automatismus vermeidet gezielt längere Reflexionsphasen, da im evolutionären Kontext eine unnötige Flucht viel weniger riskant war als ein einziges zu langes Nachdenken. Wie archaisch gerade die Angst ist, lässt sich daran erkennen, dass deren krankhafte Formen, die Phobien, auffällige Regelmäßigkeiten aufweisen. So sehen sich die Verhaltens- und Psychotherapeuten überall auf der Welt dem Phänomen gegenüber, dass die Ängste von Großstädtern sich nicht – vergleichsweise vernünftig – auf Autos, elektrischen Strom oder Haushaltsleitern beziehen. Vielmehr treten stereotyp, überall auf der Welt zwanghafte Angstzustände angesichts von Spinnen, Schlangen, Höhe oder engen Räumen auf. Besonders interessant für das Verstehen der Angst sind Phobien, die sich auf Spinnen und Schlangen beziehen. Menschen verfügen für diese Phobien über eine Disposition, deren Vorhandensein Arne Öhman im Rahmen seiner Bereitschaftstheorie beschreibt.118 Im Gegensatz dazu sind Blumen als Objekte für das Auslösen von Phobien gänzlich ungeeignet. Diese Zusammenhänge wurden an Rhesusaffen experimentell untersucht. Jungtiere lernen durch die Präsentation eines Videofilms, der einen panisch reagierenden Erwachsenen zeigt, sich vor Schlangen zu fürchten. Durch geschickte Schnitte kann die Schlange im Film vollständig durch eine Blume ersetzt werden. Dann, wie Irenäus Eibl-Eibesfeld es ausführt, „sieht das Jungtier, wie ein erwachsener Affe vor einer Blume erschrickt, und das berührt ihn interessanterweise überhaupt nicht.“119 Phobien als übersteigerte Form der Angst greifen somit nicht nur auf einen evolutionär entstandenen Mechanismus zurück, sondern treten bevorzugt angesichts bestimmter Objektkategorien auf, die im Rahmen der Phylogenese von besonderer Bedeutung waren: „This module is sensitive to, and is automatically activated by, a very specific class of stimuli…“120 Abstrahiert man von den konkreten Anlässen der Angst, dann wird die Funktion dieses neuropsychologischen Mechanismus deutlich. Er hebt bestimmte Objekte aus dem Kontinuum der Wahrnehmung hervor. Vor etwas Angst zu haben bedeutet, dass dieses Etwas im negativen Sinne wichtig ist. Eine derartige Auszeichnung, die einzelne Dinge oder Situationen im Gegensatz zu anderen als wichtig hervorhebt, hat Orientierungsfunktion. Bei der Angst besteht diese darin, die Aufmerksamkeit auf ein potentiell gefährliches Objekt zu fokussieren und entweder eine größere räumliche Distanz zu diesem aufzubau-
118 Öhman: „Fear and anxiety as emotional phenomena“. 119 Eibl-Eibesfeld: Die Biologie des menschlichen Verhaltens, S. 117. 120 Simpson/Campbell: „Methods of Evolutionary Sciences“, S. 138.
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en oder anders mit diesem umzugehen – flight or fight, wie es im englischen Sprachgebrauch heißt. Die Orientierungsfunktion von Emotionen ist jedoch nicht nur angesichts lebensbedrohlicher Situationen wichtig, sondern vielmehr ein unverzichtbarer Bestandteil der menschlichen Alltagspraxis. Ein Experiment von Cahil und Kollegen121 gibt einen Einblick in die Art und Weise, wie die Orientierung durch Emotionen im täglichen Leben funktioniert. Zwei Gruppen von Versuchspersonen wurden zwei teilweise verschiedene Geschichten vorgelesen. Geschichte 1: Ein Junge fährt mit seiner Mutter durch die Stadt, um den Vater, der im Krankenhaus arbeitet, zu besuchen. Dort zeigt man dem Jungen eine Reihe medizinischer Behandlungsverfahren. Geschichte 2: Ein Junge fährt mit seiner Mutter durch die Stadt und wird bei einem Autounfall schwer verletzt. Er wird rasch in ein Krankenhaus gebrach, wo eine Reihe medizinischer Behandlungsverfahren durchgeführt werden.122 Im Anschluss bekamen beide Gruppen von Versuchspersonen eine identische Reihe von Behandlungen aufgezählt. Eine Woche später wurde getestet, wie viele dieser medizinischen Maßnahmen die Probanden behalten hatten. Dabei zeigte sich, dass die zweite Gruppe, in deren Geschichte es um eine schwere Verletzung oder sogar Leben und Tod ging, sich den Katalog der Behandlungsmöglichkeiten deutlich besser gemerkt hatte als die erste Gruppe. Trotz gleicher Länge und gleichem Aufbau der unterschiedlichen Geschichten zeigte sich ein signifikanter Unterschied in der Behaltensleistung. Die inhaltlich dramatischere Variante 2 führte durch die Aktivierung emotionaler Reaktionen zu einer hirnintern höheren Relevanz des geschilderten Geschehens und damit zu einer besseren Verankerung des Präsentierten im Gedächtnis. Um die erhaltenen Ergebnisse besser abzusichern, wurde ein Kontrollexperiment durchgeführt. Dabei wurde das ursprüngliche Experiment in identischer Weise wiederholt, lediglich mit dem Unterschied, das beide Versuchsgruppen unter dem Einfluss von Betablockern standen. Diese Medikamentenklasse blockiert einen Rezeptorentyp, der für das Entstehen körperlicher Erregung durch das sympathische Nervensystem verantwortlich ist. Die im Fall emotionaler Aktivität auftretenden Symptome, wie beschleunigter Herzschlag, verstärktes Schwitzen aber auch Anspannung, werden normalerweise als Feedback vom Gehirn wahrgenommen. Betablocker unterbinden diese Erregungssymptome. Die Ergebnisse der Kontrollgruppen unterschieden sich, auf
121 So wiedergegeben in Spitzer: Lernen, S. 158. 122 Spitzer: Lernen, S. 158.
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Grund dieses medikamentösen Eingriffs in den körpereigenen Emotionshaushalt, dann auch in sehr bezeichnender Weise von der ersten Versuchserie. Die Versuchspersonen, die mit der nüchternen Geschichte konfrontiert wurden, zeigten die gleichen Ergebnisse wie im ersten Durchgang. Die zweite Gruppe, bei der die Schilderung durch den Unfall des Jungen ungleich dramatischer war, zeigte jedoch nach einer Woche eine viel schlechtere Behaltensleistung als ihre unpräparierten Vorgänger. Ihre Ergebnisse entsprachen dem Niveau der beiden Versuchsgruppen, die mit der nüchternen und wenig involvierenden Variante der Geschichte konfrontiert worden waren. Dieser Versuch belegt eindrucksvoll die bedeutende Rolle von Emotionen bei der hirninternen Hierarchisierung von Informationen – „emotions can also function as heuristic principles for guiding and stopping information search“123. Ereignisse, die mit starken emotionalen Reaktionen einhergehen, werden prinzipiell als bedeutsamer eingestuft als Geschehnisse, denen diese Wahrnehmungsqualität fehlt. Diese Beschreibung wird jedoch der Bedeutung nicht vollkommen gerecht, die Emotionen für das Verhalten von Menschen haben. Es handelt sich bei ihnen nicht nur um Wahrnehmung strukturierende Bewertungsprozesse, sondern um neuronale Bewertungsmechanismen ohne die vernünftiges Entscheiden und Handeln nicht möglich sind. Antonio Damasio spricht in diesem Zusammenhang von einem „verborgenen Präferenzsystem“124. Aus der Situation von Patienten, die dieses verborgene Präferenzsystem verloren haben – Patienten mit einer Schädigung des ventromedialen präfrontalen Cortex oder der Amygdala –, wissen wir, dass der Entscheidungsapparat in erheblichem Maße beeinträchtigt ist. Vermutlich ist also das nichtbewusste System so eng mit dem bewussten schlussfolgernden System verflochten, dass eine Störung des ersteren zu einer Beeinträchtigung des letzteren führt.125 Antonio Damasio verweist hier neben der Amygdala auf den ventromedialen präfrontalen Kortex, einen Bereich der Hirnrinde, der für die Integration von Emotionen in die Verhaltenssteuerung von zentraler Bedeutung ist. Eines seiner Experimente macht deutlich, in welcher Weise Emotionen für einen vernünftigen Umgang mit der Umwelt unverzichtbar sind. Versuchspersonen wurde 2.000 Dollar Spielgeld als Startkapital ausgehändigt. Dann wurden ihnen vier verdeckte Kartenstapel (A bis D) mit Ereigniskarten vorgelegt. Die Auf123 Gigerenzer/Todd: „Fast and Frugal Heuristics“, S. 31 124 Damasio: Ich fühle also bin ich, S. 361. 125 Damasio: Ich fühle also bin ich, S. 361f.
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gabe bestand darin, den erhaltenen Geldbetrag durch das Ziehen von Karten zu mehren. Stapel A und B enthielten dabei Karten, bei denen der Proband sowohl große Summen vom Versuchsleiter erhielt als auch immer wieder große Strafbeträge an diesen zahlen musste. Die Gewinnmöglichkeiten in den Stapeln C und D waren demgegenüber deutlich kleiner, gleichzeitig waren jedoch auch die dort vorhandenen Strafen deutlich milder dimensioniert. Das Spiel war so konzipiert, dass ein Spieler der konsequent auf die ersten beiden Stapel zugriff sein gesamtes Geld verlieren musste. Neben der Beobachtung des Verhaltens der Versuchspersonen wurde deren Hautleitfähigkeit gemessen, um das zu dokumentieren, was Antonio Damasio somatische Marker nennt – Anzeichen von Emotionen, körperliche Zustandsänderungen, die sich als Gefühle im Entscheidungsprozess bemerkbar machen. Der normale Spielverlauf bei Testpersonen, die nichts über die unterschiedliche Beschaffenheit der Kartenstapel wussten, war, dass diese nach einem erstem ungezielten Probieren zuerst zu den finanziell verheißungsvollen Stapeln A und B tendierten, sich jedoch nach mehrmaligem hohen Verlusten den Alternativen C und D zuwandten. Verfügten die Testpersonen jedoch über ein gestörtes Emotionssystem, dann gestaltete sich der Verlauf des Spiels deutlich anders. Auch in diesem Fall wandten sich die Probanden nach kurzer Zeit selektiv C und D zu. Im Gegensatz zu den anderen Versuchspersonen war dieses Verhalten jedoch nicht von Dauer. Nach kurzer Zeit entschieden sich die Testpersonen erneut für die riskanten Stapel, was zur Folge hatte, dass sie letztlich ihre gesamte Spielgeldbarschaft verloren. Wie sich die hinter diesen Strategien stehenden kognitiven Prozesse unterschieden, wurde anhand der gleichzeitigen Hautwiderstandsmessungen deutlich. Die normalen Versuchspersonen zeigten anfangs, nachdem sie eine Karte gezogen hatten, einen markanten Anstieg der Hautleitfähigkeit – ein Effekt der emotionalen Reaktion auf die positive oder negative Auswirkung der jeweiligen Karte. Diese Spitze verlagerte sich im Verlauf des Spiels in die Zeit vor dem Ziehen der Karte, also in die Phase, in der es darum ging den Stapel zu wählen. Die emotional defizitären Testkandidaten zeigten im Gegensatz dazu über den gesamten Versuchsverlauf keine Änderung ihrer Hautleitfähigkeit – ein Beleg für das Fehlen emotionaler Reaktionen. Befragungen dieser intellektuell normal leistungsfähigen Probanden ergaben, dass diese im Rahmen des üblichen Ausprobierens sehr wohl erkannten, worin die Unterschiede zwischen den verschiedenen Stapeln bestanden. Diese zutreffende Analyse der vorliegenden Situation führte jedoch nie zur Wahl einer dauerhaft sicheren Strategie. Die Hinwendung zu C und D erfolgte stets nur direkt nach Verlusten und führte im weiteren Spielverlauf ausnahmslos zur Rückkehr zu den kurzfristig gewinnträchtigeren Wahlmöglichkeiten A und B.
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In den Augen Damasios kann man an diesem Experiment die emotionsbasierte Natur von Entscheidungsprozessen besonders gut nachvollziehen: Bei den normalen Versuchspersonen bildet sich ein hochgradig vernünftiges und spielentscheidendes Gefühl für die Ereignispotentiale der verschiedenen Kartenstapel heraus – ein Gefühl, das letztlich einen rationalen Nachvollzug des strategischen Vorgehens nach sich zieht, wenn man die Personen lange genug spielen lässt. In der Analyse dieses am Einzelfall immer wieder zu beobachtenden Verhaltens wird deutlich, dass die Entstehung einer der Situation angemessenen Entscheidungskompetenz mit der Verschiebung des Hautwiderstands-Peaks zusammenhängt. Waren anfangs emotionale Reaktionen nur angesichts der Ergebnisse der getroffenen Entscheidungen zu beobachten, so traten mit fortschreitendem Spielverlauf diese indikatorhaften Zustandsänderungen schon ein, wenn es darum ging sich für die nächste Karte zu entscheiden. Dieses Auftreten emotionaler Zustände im Entscheidungsprozess moduliert diesen so, dass, nach einer Phase des Ausprobierens, konsequent eine sichere Strategie angewandt wird. Fehlt dieser emotionale Input für die Entscheidungsfindung, kehrt der Proband immer wieder zu den kurzfristig gewinnträchtigeren aber langfristig ruinösen Wahlmöglichkeiten zurück. Diese im Labor gewonnene Einsicht über das Verhalten von Menschen mit defektem Emotionssystem deckt sich mit Beobachtungen in deren Alltag. Trotz normaler Intelligenz sind diese Menschen außerstande sich ein normales Leben und ein soziales Umfeld aufzubauen – das Fehlen der entscheidungsleitenden Einflüsse der Emotionen führt zu Verhaltensweisen, die längerfristigen Beziehungen entgegen wirken. In sehr bildlicher Weise wird der Zustand derartiger neurologischer Fälle auch als Seelenblindheit bezeichnet. Bei den so in ihrer Weltwahrnehmung eingeschränkten Personen ist wohlgemerkt das intellektuelle „Verständnis für das Konzept von Angst oder Furcht unbeeinträchtigt“126. Diese rationale Kompetenz führt jedoch zu keiner Kompensation der emotionalen Defizite. Derartige Patienten haben vielmehr „klare Beeinträchtigungen darin, emotionale Gesichtsausdrücke (insbesondere ängstliche) als solche zu erkennen“127. Phänomenologisch bleiben infolge derartiger Defekte „die kognitiven Informationen gefühlsmäßig neutral, ihnen fehlt die emotionale Tönung. Dadurch sind die Betroffenen in ihrer Entscheidungsfähigkeit stark behindert, denn sie fühlen nicht mehr, was für sie ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ ist, obwohl die Informationen logisch korrekt verarbeitet werden.“128
126 Erk/Walter: „Funktionelle Bildgebung der Emotionen“, S. 57. 127 Erk/Walter: „Funktionelle Bildgebung der Emotionen“, S. 57. 128 Traue/Kessler: Psychologische Emotionskonzepte, S. 21.
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Diese Beteiligung der Emotionen an Entscheidungsprozessen ist ein evolutionär alter Mechanismus. Affen bei denen auf beiden Gehirnseiten die Amygdala samt dem umgebenden Gewebe zerstört ist, sind nicht mehr in der Lage, Reize mit Belohnungen oder Bestrafungen zu assoziieren. „Die Tiere fressen nach einem solchen Eingriff z. B. Dinge, die sie vorher gemieden haben, und sie zeigen eine untypische Furchtlosigkeit…“129 Ebenso wie die angeführten Beobachtungen an Menschen weisen diese Ergebnisse auf die stammesgeschichtlich alte Natur der beteiligten Mechanismen hin. Es handelt sich bei diesen gefühligen Elementen des subjektiven Welterlebens also nicht um einen mehr oder weniger romantischen Zusatz zu einem grundsätzlich rational funktionierenden Organismus. Die positiven oder negativen Färbungen der Erlebniswelt sind vielmehr das kognitive Fundament, um überhaupt mit der Welt umgehen zu können.
Orientierung in der Welt – gefühlte Entscheidungen „Similarly we have been shaped to savor art and stories more immediately, more viscerally, more emotionally than we can respond to new scientific explanations.“ (Brian Boyd130)
Die Orientierungsfunktion der Emotionen und deren tiefe Verankerung im menschlichen Gehirn lassen sich nicht nur an pathologischen Fällen demonstrieren. Auch an gänzlich intakten Versuchspersonen kann bei entsprechendem Experimentaldesign der Einfluss unterschiedlicher Reize beobachtet werden. Eine Möglichkeit ist, Probanden direkt hintereinander zwei Bilder zu präsentieren, wobei das erste der beiden Bilder nur für 0,005 Sekunden zu sehen ist, während das zweite Bild für mehrere Sekunden gezeigt wird. Bei den Versuchspersonen entsteht dabei der Eindruck nur ein einziges Bild, nämlich das zweite zu sehen. Man spricht in diesem Fall davon, dass das erste Bild durch das zweite maskiert wird und somit nicht bewusst wahrgenommen wird. Dass die entscheidungsrelevanten Aktivitäten des Gehirns in hohem Maße mit emotionalen Vorgängen verknüpft sind wird deutlich, sobald im ersten Bild wahlweise ein lächelndes oder grimmiges Gesicht gezeigt wird und die Zuschauer im Anschluss eine Entscheidung darüber fällen müssen, wie gut ihnen das zweite Bild gefallen hat. Wird zu Beginn – ohne, dass sich die Versuchspersonen im Nachhinein daran erinnern können – ein freundliches Gesicht gezeigt, dann fällt ein wertendes Urteil über das bewusst wahrgenomme129 Kämper: „Emotionen bei Tieren“, S. 40. 130 Boyd: „Evolutionary Theories of Art“, S. 172.
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ne Bild deutlich besser aus, als wenn man ein unfreundliches Gesicht vorausschickt.131 Diese Beeinflussbarkeit der bewussten Beurteilung durch unbewusst wahrgenommene Stimuli zeigt die grundsätzliche Abhängigkeit jeglicher Entscheidungsfindung von der Aktivität emotionaler Mechanismen. Darüber hinaus erlaubt dieser Versuch einen Einblick in die Geschwindigkeit und Leistungsfähigkeit, mit der subkortikal-unbewusste Mechanismen Umweltsignale verarbeiten. Wie zentral Emotionen für den Umgang mit der Umwelt sind, wird auch deutlich, wenn man den gleichen Versuchsaufbau an Phobikern testet. Wird ein phobisch besetztes Objekt als nicht ins Bewusstsein kommender Reiz präsentiert, so lässt sich bei einer anschließenden Blutprobe ein deutlich erhöhter Level des Stresshormons Adrenalin feststellen. In einer anderen Versuchsreihe wurde Freiwilligen Adrenalin injiziert, das in der Folge zu einer künstlichen Erregung des sympathischen Teils des autonomen und somit unbewussten Nervensystems führte. Stellte man nun eine als positiv oder als negativ zu beurteilende Gesamtsituation her, dann veränderte sich die Stimmung der Testkandidaten entsprechend. Bei Ersatz des Adrenalins durch ein Placebo blieben die gleichen Änderungen im Umfeld der untersuchten Person wirkungslos.132 In welcher Weise Menschen auf ihr Umfeld emotional reagieren, ist somit stark vom Adrenalinspiegel als physiologischem Parameter abhängig. Dieser wiederum wird gesteuert von den informationsverarbeitenden Prozessen, die sowohl phylogenetische als auch ontogenetische Anpassungen sind. Diese Beobachtungen zeigen, in welch starker Interdependenz die begrifflich oft in Physis und Psyche getrennten Funktionsbereiche des menschlichen Körpers stehen. Angesichts dieser experimentell gewonnenen Erkenntnisse zur Rolle der Emotionen liegt Freuds Diktum vom Ich, das nicht Herr im eigenen Haus ist, nahe. Der Mensch ist nicht nur was er denkt, sondern wird entscheidend durch unbewusste Faktoren bestimmt. Freuds Sicht der Psyche geht so gesehen konform mit einer Vielzahl experimenteller Daten. Bei einem genauen Vergleich fallen jedoch auch die Differenzen zwischen den Ideen des Wiener Arztes und den Ergebnissen der experimentellen Emotionsforschung ins Auge. Hinter dem faszinierend vagen Begriff des Unbewussten stehen konkrete Hirnstrukturen mit jeweils spezifischen Zuständigkeiten im neuronalen Geschehen. Zwar existieren, wie Freud es annahm, konkrete Mechanismen, die Einfluss auf Handeln und Befinden nehmen, diese unterscheiden sich in ihrer Ausgestaltung jedoch mitunter deutlich von den angenommenen Wirkmechanismen der Psychoanalyse. Die evolutionär gewachsenen und neuronal verkörperten
131 Vgl. LeDoux: Das Netz der Gefühle, S. 65. 132 Vgl. LeDoux: Das Netz der Gefühle, S. 53.
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kognitiven Dispositionen des Menschen sind in gewisser Weise trivialer als Konzepte wie Penisneid, Ödipuskomplex und Todestrieb. Die Aufgabe der Gehirnstrukturen, deren Wirken als Emotionen ins Bewusstsein dringt, ist es das Überleben des Organismus zu sichern. Die zwei basalen strategischen Mechanismen, die dazu eingesetzt werden, sind das Vermeiden bekannter Gefahren und das aktive Herbeiführen positiver Zustände. Das Wirken des ersten Mechanismus, das sich in Gefühlen wie Angst und Ablehnung äußert, ist vor allem mit der schon mehrfach erwähnten Amygdala verbunden. Zwar gibt es allem Anschein nach Objektkategorien, die besonders leicht zum Auslöser für diesen Mechanismus werden, prinzipiell ist dieser jedoch offen und – positiv formuliert – lernfähig. Diese wichtige Charakteristik erlaubt eine Anpassung an wechselnde Umweltbedingungen. Der zweite angesprochene Mechanismus, der dem Herbeiführen positiver Zustände dient, ist das Belohnungssystem des Gehirns. Bei angenehmen Erlebnissen, gerade bei solchen, die mögliche Erwartungen übertreffen, wird diese Struktur aktiv. In derartigen Situationen setzt das im Vorderhirn befindliche Belohnungszentrum den Neurotransmitter Dopamin frei, der ein allgemeines Hochgefühl beziehungsweise ein angenehmes Empfinden des jeweiligen Geschehens auslöst. Dieses körpereigene positive Feedback dient der Schaffung lebensstrategisch sinnvoller Handlungspräferenzen. Gleich der Angst- und Vermeidungsreaktion verfügt auch dieser Mechanismus über eine große Plastizität, was auf dessen evolutionäre Anpassung an wechselnde Bedingungen zurückgeht. Dabei handelt es sich um keine exklusive Spezifik des menschlichen Gehirns, sondern um einen Lernmechanismus, der ebenso bei Tieren auftritt. Bei Menschen zeitigt dieser psychophysiologische Mechanismus jedoch auch negative Folgeerscheinungen, wie verschiedenste Formen von Suchtverhalten. Das ursprünglich auf den Erwerb nützlicher Verhaltensmuster ausgelegte Belohnungserleben wird in diesen Fällen mit Stimuli verknüpft, die gänzlich gegenteilige Effekte für den Organismus haben. Es steht zu erwarten, dass in den nächsten Jahren und Jahrzehnten die Erforschung der emotionalen Komponenten des menschlichen Umgangs mit der Welt deutliche Fortschritte machen wird. Welchen Grad an Differenzierung die beteiligten neuronalen Mechanismen erreichen können – was im Rahmen dieser Arbeit nicht näher ausgeführt werden kann – lässt sich anhand des Faktums demonstrieren, dass Frauen über die Fähigkeit verfügen olfaktorisch zu beurteilen, wie unterschiedlich das Immunsystem eines Mannes von ihrem eigenen ist133 – je unterschiedlicher das Immunsystem, desto angenehmer wird der Körpergeruch des Besitzers empfunden. Wie sensibel derartige Leistungen in den Gesamtkontext des Körpers eingebunden sind, wird gerade dadurch 133 Vgl. Wedekind u.a.: „MHC-dependent mate preference in humans“.
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deutlich, dass diese Fähigkeit zur immunologischen Analyse durch die Einnahme empfängnisverhütender Hormone inaktiviert wird. Gegenwärtiger Stand der Emotionsforschung ist – unromantisch aber funktional adäquat –, dass es sich bei diesen scheinbar so privaten Zuständen um die Ergebnisse von Informationsverarbeitungsprozessen handelt, die permanent dem Bewusstsein zuarbeiten und dessen Entscheidungskompetenz fundamental konstituieren. Der Emotionsforscher Paul Ekman bringt diese Charakteristika in eleganter Weise zusammen, wenn er davon spricht, dass es sich um evolutionär gewachsene Antworten auf „fundamental life tasks“134 handelt. Eine derartige Anbindung der jüngsten Erkenntnisse an kulturelle Bestände findet sich auch bei Antonio Damasio. Pascals Verdikt, „Das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht kennt“135, so führt er aus, lautet im Lichte dieser Einsichten: „Der Organismus hat einige Gründe, von denen die Vernunft Gebrauch machen muss“136
Die Natur der Aufmerksamkeit „Wir Menschen sind eine bemerkenswert vielseitig interessierte Spezies. Eines aber interessiert uns ganz besonders: wir selbst.“ (Andreas Paul137)
Das Phänomen Aufmerksamkeit, das gerade im Medienkontext zentral ist, wird meist in unreflektierter Weise als gegeben hingenommen. Diese fehlende Sensibilität gegenüber der Frage nach den neuropsychologischen Mechanismen ist dabei einer lebensweltlich zutiefst kompetitiven Situation geschuldet. Die für praktische Belange primär relevante Frage ist nicht, was Aufmerksamkeit ist, sondern wie man diese in einem konkurrenzgeprägten kommunikativen Kontext nutzen kann. Für das Mediengeschehen der ausgehenden 90er Jahre hat Georg Frank mit dem Titel Die Ökonomie der Aufmerksamkeit, die zentrale Stellung eines auf die kognitive Zuwendung des Einzelnen aufbauenden Wirtschaftsgeschehens prägnant formuliert. Als individueller Zustand ist Aufmerksamkeit, gleich den Emotionen, eine Leistung der neuronalen Informationsverarbeitung. Menschen sind prinzipiell in der Lage, sich für etwas zu interessieren und ein entsprechendes Verhalten
134 Ekman: „All Emotions Are Basic“, S. 15. 135 Pascal: Über die Religion und einige andere Gegenstände, 142, Frag. 277. 136 Damasio: Descartes Irrtum, S. 272. 137 Paul: Von Affen und Menschen, S. VII.
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an den Tag zu legen, weil die Möglichkeit einer Fokussierung auf Teilbereiche der Umwelt sich in der stammesgeschichtlichen Vergangenheit als nützlich erwiesen hat. Sie dient dazu, einzelne Reizmerkmale zu einer sinnvollen ‚Gestalt‘ zu integrieren, um Handlungen zu steuern, bzw. im weitesten Sinne Informationsverarbeitung und Verhaltensanpassung zu regulieren, und wir verbinden mit allen Reizen, denen wir unsere Aufmerksamkeit widmen, bewusst oder unbewusst die Erwartung, dass sie uns bei der Auseinandersetzung mit unserer Umwelt dienlich sein könnten.138 Auf die steuernde Funktion dieses Mechanismus rekurrierend wird dabei häufig auch von selektiver Aufmerksamkeit gesprochen. Die psychische Fähigkeit, auf die sich diese Benennung bezieht, „verbessert die Wahrnehmung der Reize auf die sie gerichtet ist und erschwert die Wahrnehmung der Reize, die nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen“139. Die zentrale Fokussierung auf einen Ausschnitt der Umwelt besteht in einer Konzentration der sensorischen und kognitiven Ressourcen auf eben diesen Aspekt. Einer gängigen Vorstellung gemäß, auf die sich Karl R. Gegenfurtner bezieht, kann man sich Aufmerksamkeit vorstellen als einen Scheinwerfer, der alle Objekte im Scheinwerferlicht besonders beleuchtet, während alles andere in gleichem Maße vernachlässigt wird und eventuell überhaupt nicht ins Bewusstsein gelangt.140 Manfred Spitzer weist darauf hin, dass der Begriff Aufmerksamkeit eine gewisse Unschärfe birgt und für insgesamt drei verschiedene Hirnaktivitäten verwendet wird – Wachheit oder Vigilanz, selektive Aufmerksamkeit und Konzentration. Funktional und neuroanatomisch lassen sich diese jedoch deutlich unterschieden: Die biologischen Wurzeln der drei genannten und leider zuweilen verwechselten Prozesse, die man mit ‚Aufmerksamkeit‘ bezeichnet, sind ganz verschieden: Die Vigilanz wird automatisch von sehr alten Zentren im Hirnstamm geregelt; die Zentren zur Steuerung des Scheinwerfers der selektiven Aufmerksamkeit liegen im Parietalhirn, dem Thalamus und dem Mittelhirn. Die Fähigkeit zur Konzentration auf
138 Pritzel u.a.: Gehirn und Verhalten, S. 457. 139 Pinel: Biopsychologie, S. 229. 140 Gegenfurtner: Gehirn & Wahrnehmung, S. 78.
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das Wesentliche und zum Ausblenden von jeweils irrelevanten Reizen ist hingegen vor allem im Frontalhirn lokalisiert.141 Letzteres ist der Vorgang, der im alltäglichen Sprachgebrauch am häufigsten als Aufmerksamkeit bezeichnet wird und dessen Auswirkungen innerhalb des Gehirns die beobachtbare Fokussierung auf Stoffwechselebene widerspiegeln. Je nach dem, auf welchen Teil und welche Aspekte der eingehenden Sinnesdaten sich die Aufmerksamkeit richtet, werden Areale mit spezifischen Verarbeitungsfunktionen aktiviert oder treten in den Hintergrund. Ein Beispiel von Manfred Spitzer: Wer gerade auf die Farbe der ihn umgebenden Dinge achtet, der aktiviert Bereiche der Großhirnrinde, die für die Verarbeitung von Farbe zuständig sind. Wendet er sich demgegenüber den Bewegungen der Dinge in der Außenwelt zu, so aktiviert er Bereiche, die für die Analyse von Bewegungen zuständig sind [...] 142 Ein solcher Vorgang, der den gezielten Einsatz von Wahrnehmung und anschließender Informationsverarbeitung steuert, belegt, dass sich Menschen seit jeher in der Situation des so genannten information overload befinden – auch ohne Medien- und Informationsgesellschaft. In einer eleganten Formalisierung stellt sich dieses fundamentale Problem jeglichen organischen Lebens wie folgt dar: „The world can be carved up into an infinite number of discrete events or objects. Which of them deserve monitoring?“143 Das Informationsangebot der menschlichen Umwelt ist nicht erst seit heute, sondern war zu jeder Zeit größer als die darauf gerichteten Verarbeitungskapazitäten. Aufmerksamkeit und Interesse sind somit kognitive Werkzeuge, die sich zum Umgang mit dieser quantitativen Überforderung herausgebildet haben. Eine indirekte Frucht der klassifikatorischen Tätigkeit des psychischen Mechanismus, aus dem Aufmerksamkeit und Interesse erwachsen, ist die Fähigkeit Langeweile zu empfinden. Langeweile, die mitunter lapidar damit beschrieben wird, dass nichts los ist, besagt nicht, dass die jeweilige Umwelt frei von sensorischen Eindrücken ist. Langeweile ist der Zustand, in dem kein Geschehnis, beziehungsweise Nichtgeschehnis, einschließlich psychischer Vorgänge, in der individuellen Wahrnehmung als Aufmerksamkeitsattraktor fungiert und eine darauf gerichtete selektive Wahrnehmung erzeugt. Das umgangssprachliche Urteil, dass nichts los ist, steht für eine momentane Abwesen141 Vgl. Spitzer: Musik im Kopf, S. 146. 142 Spitzer: Lernen, S. 146. 143 Hertwig u.a.: „Quick Estimation“, S. 215.
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heit von Stimuli, die die kognitiven Kapazitäten des jeweiligen Individuums auf sich fokussieren. Eine zutreffende Beschreibung müsste betonen, dass keine Veränderungen stattfinden, beziehungsweise lediglich Dinge passieren, die im Hinblick auf die individuelle Aufmerksamkeit als Nichtereignisse klassifiziert werden. Wie hochgradig selektiv aber auch variabel diese Bewertung von Umweltreizen sein kann, zeigen unter anderem die Interessen von Autisten. Menschen mit diesem Syndrom können sich zum Teil lange und für sie in sehr befriedigender Weise mit so unspektakulären Alltagsobjekten wie den unregelmäßigen Erhebungen einer Rauhfasertapete beschäftigen. Im Alltag wird die prinzipiell beschränkte Wahrnehmungs- und Verarbeitungskapazität des Menschen fortlaufend auf besonders relevante Weltausschnitte konzentriert. „Das heißt, aus der Gesamtmenge der eingehenden Information (sowie der im Gedächtnis gespeicherten Information) muss ständig die relevante Teilmenge ausgewählt werden, um effizientes und störungsfreies Handeln zu ermöglichen.“144. Wie hochgradig modifizierend dieser Mechanismus auf die Wahrnehmung der Umwelt einwirkt, wurde 1999 von Simons und Chabris experimentell demonstriert.145 Die beiden Psychologen drehten eine Videosequenz, in der zwei durcheinander laufende Dreierteams sich jeweils einen Ball zuspielten. Die Spieler einer Mannschaft waren an der Farbe ihrer T-Shirts zu erkennen. Die Aufgabe der Probanden war es, sich auf eines der Teams zu konzentrieren und mitzuzählen, wie oft sich dessen Spieler den Ball zupassten. Die Versuchspersonen hatten, bis auf wenige Ausnahmen, mit dieser Aufgabe keine Probleme und konnten exakt angeben, wie oft die Angehörigen ihres Teams den Ball weitergegeben hatten. Der Kern des Experiments war jedoch nicht das Protokollieren der sportlichen Aktivitäten, sondern die Frage, ob den Versuchspersonen etwas Besonderes aufgefallen sei? In verschiedenen Versionen des Films146 waren jeweils deutlich sichtbare Ereignisse integriert, die nichts mit dem Ballspiel zu tun hatten. Die provokanteste Variante zeigte einen Menschen im Gorillakostüm, der von links ins Bild kam, in der Mitte stoppte, sich mit Blick in die Kamera auf die Brust trommelte und dann seinen Weg nach rechts fortsetzte. Gut die Hälfte der Versuchspersonen, die sich ihrer Aufgabe gemäß auf das Geschehen auf dem Bildschirm konzentriert hatten, war sich nach Ende des 75 Sekunden langen Films nicht bewusst, dass während dieser Zeit für fünf Sekunden eine Gorillagestalt von gleicher Größe wie die Spieler auf dem Bildschirm zu sehen war.
144 Müller: „Funktionen und Modelle der selektiven Aufmerksamkeit“, S. 245. 145 Simons/Chabris: „Gorillas in our midst“. 146 Simons/Chabris: Film.
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Wurde der Film im Gegensatz dazu ohne einen konkreten Arbeitsauftrag präsentiert, so nahmen die Betrachter die auffällige Gestalt des Gorillas deutlich als unerwartetes Ereignis wahr. Dieser in den Betrachtungsumständen wurzelnde Unterschied im Erleben ein und der selben Szene macht deutlich, in welcher Weise die Kapazität der menschlichen Informationsverarbeitung limitiert ist und welchen Einfluss der aktive Einsatz dieser Ressourcen ausübt. Simons und Chabris sprechen von einer „sustained inattentional blindness“147, einer andauernden unaufmerksamkeitsbedingten Blindheit. Diese und andere Ergebnisse148 belegen die Begrenztheit menschlicher Informationsverarbeitung. Die hier exemplarisch dargestellte Blindheit ist kein experimentell bedingter Sonderfall (experimentell bedingt ist lediglich deren außergewöhnlich gute Sichtbarkeit) – sondern ein Ergebnis der prinzipiell begrenzten Kapazitäten im menschlichen Umgang mit der Umwelt. Das alltäglichste Beispiel hierfür ist der so genannte Cocktailpartyeffekt: So kann man sich im akustischen Durcheinander eines Festes aussuchen, wem man zuhören will (Fokussierung). Mehreren Personen gleichzeitig zuzuhören übersteigt jedoch, auch bei äußerster Anstrengung, die kognitiven Kapazitäten des Menschen. Auf Grund einer seit jeher stimulusreichen Umwelt – gerade vor dem Hintergrund der sozialen Komponente der Menschwerdung – verwundert es nicht, dass die basalen Mechanismen zur Steuerung von Aufmerksamkeit und Interesse schon weit vor jedem Medieninhalt ansetzen. Auf Grund des dynamischen Charakters aller Ökosysteme lässt sich dabei schon auf einer theoretischen Ebene eine Eingrenzung der strategisch relevanten Geschehnisse vornehmen. Für einen Organismus, der in und von einer nicht vollständig vorhersehbaren Umwelt lebt, sind deren Veränderungen die entscheidenden Marker für eine adäquate Verhaltenssteuerung. Jeder Wandel kann eine potentielle Chance sein, eine mögliche Bedrohung; oder keines von beiden. Im letzten Fall sind keine über das Wahrnehmen und Klassifizieren des Ereignisses hinausgehenden Aktivitäten erforderlich. In beiden anderen Fällen sollte dem Geschehen in der kurz- oder langfristigen Handlungsplanung Rechnung getragen werden. Diese prinzipiellen Erwägungen zur Beschaffenheit der Aufmerksamkeit machen deutlich, dass die Selektion sensorischen Inputs nach ihrer Handlungsrelevanz ein stammesgeschichtlich alter Mechanismus ist. Im menschlichen Verhalten finden sich zahlreiche Belege für die herausgehobene Bedeutung von Veränderungen in der Umwelt: So führen laute und unerwartete Geräusche zu einer reflexbedingten Orientierung in deren Richtung. Bewegungen im peripheren Bereich des Sehens, die nicht mehr bewusst
147 Simons/Chabris: „Gorillas in our midst“, S. 1959. 148 Pinel: Biopsychologie, S. 229.
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wahrgenommen werden, lösen „unbewusste Reflexe aus, die das Auge auf das bewegte Objekt richten.“149 Diese alltäglich wahrnehmbaren Verhaltensweisen sind das Ergebnis der evolutionär entstandenen neuronalen Informationsverarbeitung. Veränderungen im eigenen Lebensraum schnell wahrzunehmen bedeutet einen potentiellen Informationsvorsprung vor anderen Akteuren. Ein biologisches System das sensorisch-kognitive Dispositionen aufweist, die permanent auf einen derartigen Vorsprung hinwirken, ist gegenüber weniger sensitiv auf ihre Umwelt reagierenden Konkurrenten im Vorteil. Ein auf Grund derartiger Mechanismen sich schneller aktualisierendes Umweltmodell erlaubt bessere Verhaltenssteuerung. Der menschliche Umgang mit Medien basiert auf einem evolutionär entstandenen Ensemble von bewussten und unbewussten Mechanismen zur Erzeugung und Steuerung von Aufmerksamkeit. Die verschiedenen Formen technisch vermittelter Kommunikation bedienen sich der sensorisch alten Umwelt-Organismus-Schnittstellen ebenso wie der neuronal verankerten Verarbeitungsalgorithmen im zentralen Nervensystem. Wie an späterer Stelle noch ausgeführt werden wird, verändert sich mit der kulturellen Entwicklung der Medien vor allem die Möglichkeit des Individuums auf den Stimulusgehalt seiner Umwelt einzuwirken – eine Art des Umweltmanagements die prinzipiell nicht neu ist. Zu den klassischen Alternativen der Standortveränderung oder Einwirkung auf die direkte Umgebung kam durch den technischen Fortschritt der Zugriff auf Repräsentationen aufmerksamkeitsgenerierender Stimuli. Die Bewertung dieser neuartigen Stimuli basiert dabei fundamental auf den gleichen Mechanismen, die für den Umgang mit der nichtmedialen Umwelt Leitfunktion haben.
149 Gregory: Auge und Gehirn, S. 77.
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Teil 3: Der Rahmen der Medien – der sensorisch-neuronale Weltbezug des Menschen „The brain’s evolved function is to extract information from the environment and use that information to generate behavior and regulate physiology.“ (John Tooby/ Leda Cosmides1) „Illusionen schärfen unser Bewusstsein dafür, dass eine große Kluft besteht zwischen den Dingen der Welt einerseits und ihrer Repräsentation in unserem Gehirn andererseits und dafür, dass wir die Funktionsweise unseres eigenen zentralen Nervensystems bisher nur sehr bedingt verstehen.“ (Manfred Fahle2)
Im vorangegangenen Abschnitt wurde der Mensch als Ergebnis der Evolution dargestellt. Die für unseren Zusammenhang zentrale Aussage dieser Betrachtungen ist, dass nicht nur die körperliche Konstitution, sondern auch die kognitiven Fähigkeiten des Homo sapiens Ergebnisse dieses Entwicklungsprozesses sind. Die Kausalität von organischer Beschaffenheit und Weltbezug eröffnet der Wissenschaft die Option, ehemals als rein subjektiv klassifizierte Phänomene empirisch zu untersuchen. Die Möglichkeit bewusste und unbewusste Verarbeitungsprozesse im Gehirn in ihrer adaptiven Funktionalität zu sehen bedeutet jedoch nicht, dass jegliches Verhalten zum besseren Verständnis einer derartigen Rückführung bedarf – ein Nachvollzug des Verliebtseins auf der Ebene der Neurotransmitter3 enthüllt zwar dessen kausale Wurzeln, ist aber für den Betroffenen ähnlich uninteressant wie die Betrachtung eines Fußballspiels auf Quantenebene für den erklärten Fan. Es handelt sich demgemäß bei evolutionär ausgerichteten Betrachtungen menschlicher Fähigkeiten und Leistungen nicht um eine lebensweltliche „Theory of Everything“4. Diese Begrenztheit geht jedoch mit einer intellektuellen unausweichlichen Implikation einher: Die Tatsache, dass jegliche geistigen Zustände und jede Art menschlicher Informationsverarbeitung Funktionen des Gehirns sind, konstituiert für alle in diesen Bereich 1
Tooby/Cosmides: „Conceptual Foundations of Evolutionary Psychology“, S. 16.
2
Fahle: Visuelle Täuschungen, S. 66.
3
Vgl. Vincent: Biologie des Begehrens.
4
Bordwell: „Foreword“, S. XII; Weinberg: Der Traum von der Einheit des Universums.
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fallenden Phänomene einen prinzipiellen Zusammenhang mit der evolutionären Entstehung dieses Organs – auch wenn dieser biohistorische Hintergrund bei vielen Fragen nicht das zentrale Element des wissenschaftlichen Nachvollzugs sein kann. Forschungspragmatisch lässt sich feststellen, „viele Funktionen des Gehirns“, so Vilayanur Ramachandran, „lassen sich am besten aus einem evolutionären Blickwinkel verstehen“5. Welche Leistungen das Gehirn – gerade im Bezug auf die Medien – im Zusammenspiel mit den Sinnesorganen erbringt, und inwieweit dabei Spuren der stammesgeschichtlichen Genese aufscheinen und von Bedeutung sind, soll im Folgenden dargestellt werden. Nach einer kurzen Einführung in die grundlegende Beschaffenheit und Funktionalität des Gehirns wird die prinzipielle Bedeutung der Sinnesorgane ausgeführt. Der Ausrichtung dieser Arbeit auf Medien geschuldet, werden im Weiteren nicht alle Sinnesmodalitäten sondern lediglich Sehen und Hören in ihrer Beschaffenheit eingehender präsentiert. Es werden nur Erkenntnisse dargestellt, die der Frage folgen, wie sich sensorische und neuronale Mechanismen auf den Umgang mit Medien auswirken. Abschließend wird beleuchtet, wie sich Wahrnehmung und Verarbeitung von Medialem und Nichtmedialem unterscheiden? Die epistemologische Nützlichkeit von Illusionen, die der Neurobiologe Manfred Fahle im Zitat am Anfang dieses Abschnitts anführt, wird im Folgenden dafür genützt, einige der präsentierten Einsichten in die menschliche Reizverarbeitung für einen individuellen Nachvollzug deutlicher zu machen. Auf Grund der medialen Darreichungsform dieser Arbeit als Druckerzeugnis, können dabei bedauerlicher Weise nur visuelle Täuschungen eingesetzt werden – auch wenn vergleichbare und teilweise sehr eindrucksvolle Phänomene für praktisch alle anderen Sinne bekannt sind. Diese Erlebnisqualität soll jedoch nicht über den zweiten und sehr wesentlichen epistemischen Nutzen von Illusionen, auf den Fahle verweist, hinwegtäuschen: Die Erkenntnis, dass das zentrale Nervensystem des Menschen und seine Funktionsweise, trotz großer Fortschritte, in weiten Bereichen noch als Terra incognita betrachtet werden muss.
5
Ramachandran: Eine kurze Reise durch Geist und Gehirn, S. 18.
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Teil 3: Der Rahmen der Medien – der sensorisch-neuronale Weltbezug des Menschen
Verarbeitungsmechanismen im Gehirn „Gehirne sind Regelextraktionsmaschinen. Sie können gar nicht anders.“(Manfred Spitzer6)
Das Gehirn hat sich als Organ zur Handlungssteuerung entwickelt. Es handelt sich dabei um eine Ansammlung von zirka 100 Milliarden Nervenzellen7, die zum einen über eingehende Nervenbahnen mit Signalen der Sinnesorgane versorgt wird und zum anderen über ausgehende Nervenbahnen die Aktivitäten des Organismus lenkt. Diese imposante Zahl darf jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass es sich nur „bei jeder zehnten Hirnzelle… um ein Neuron“8 handelt. Im Längsschnitt lassen sich die verschiedenen makroskopisch unterscheidbaren Bestandteile dieses Organs erkennen9: Das Groß- oder Endhirn (Telencephalon) mit der Hirnrinde, den Basalganglien und dem limbischen System befindet sich unterhalb der Schädeldecke und wurde schon im Zusammenhang mit dessen überproportionaler Größenzunahme in den letzten zwei Millionen Jahren erwähnt. Quasi im Brennpunkt der rundlichen Form des Großhirns und funktional absteigend in Richtung Wirbelsäule finden sich das Zwischenhirn (Dienzephalon) mit Thalamus und Hypothalamus und das Mittelhirn. An dieses schließt sich das Hinterhirn mit dem Pons und dem Kleinhirn (Cerebellum) an, das vor allem für die Koordination komplexer Bewegungsabläufe zuständig ist. Die Verbindung zum Rückenmark, welches durch das Hinterhauptsloch den Schädel verlässt, wird von hier aus durch das so genannte verlängerte Mark (Medulla oblongata) hergestellt. Gleich einem unregelmäßigen Strang verbinden die stammesgeschichtlich alten Gehirnteile verlängertes Mark, Pons und Mittelhirn die sensorischen und motorischen Nervenstränge des Rückenmarks mit dem aus End- und Zwischenhirn bestehenden Vorderhirn. Je näher diese Strukturen anatomisch dem Rückenmark sind, desto stammesgeschichtlich älter und ursprünglicher sind sie. So befinden sich zahlreiche vitale Funktionen im verlängerten Mark, wie das Atemzentrum oder die Kontrolle der Körpertemperatur. Im Gegensatz dazu sind die Funktionen, die normalerweise als höchstentwickelt bezeichnet werden, wie der bewusste Umgang mit der Umwelt, in den assoziativen Arealen der Hirnrinde angesiedelt. Die prinzipielle Aufgabe des Gehirns ist es, sensorischen Input in motorischen Output umzusetzen und so für ein umweltadäquates Verhalten zu sor6
Spitzer: Lernen, S. 75.
7
Vgl. Greenfield: Reiseführer Gehirn, S. 105.
8
Kempermann: „Kopfgeburten“, S. 32.
9
Vgl. Roth: Aus der Sicht des Gehirns, S. 11.
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gen. „Menschliches Verhalten ist“ in der Folge „die Konsequenz aus dem komplexen Wechselspiel zwischen inneren Bedürfnissen und äußeren Sachzwängen.“10 Diese Funktion impliziert eine grundsätzliche Differenz zu allen sonstigen Bestandteilen des Organismus: „Neuronen unterscheiden sich von anderen Zellen des Körpers dadurch, dass sie für etwas stehen. Man sagt auch, Sie repräsentieren etwas.“11 Diese Repräsentationsfunktion ist Teil der Informationsverarbeitung, die zwischen In- und Output steht. So wie das Verdauungssystem chemische Verbindungen verarbeitet, die der Umwelt entstammen, verarbeitet das Gehirn sensorische Stimuli in Form neuronaler Repräsentationen von Umweltaspekten. „Der erste Schritt zum Verständnis der Wahrnehmung verlangt also von uns“, so führt es Vilayanur Ramachandran aus, „die Vorstellung von Bildern im Gehirn aufzugeben und stattdessen Umwandlungen oder symbolische Repräsentationen von Objekten und Ereignissen in der Außenwelt zu denken.“12 „Wahrnehmung hängt zwar mit Umweltereignissen zusammen, welche die verschiedenen Sinnesorgane erregen“, so Gerhard Roth im gleichen Kontext, sie ist jedoch nicht abbildend, sondern konstruktiv. Dies gilt für die einfachsten Wahrnehmungsinhalte wie der Ort und die Bewegung eines Punktes, die Orientierung einer Kante, der Umriss und die Farbe einer Fläche genauso wie das Erkennen einer Person oder Melodie. Diese Konstruktionen sind aber nicht willkürlich, sondern vollziehen sich nach Kriterien, die teils angeboren, teils frühkindlich erworben wurden oder auf späterer Erfahrung beruhen. Insbesondere sind sie nicht unserem subjektivem Willen unterworfen. Dies macht sie in aller Regel zu verlässlichen Konstrukten im Umgang mit der Umwelt.13 Die Repräsentation als Charakteristikum von Nervenzellen und Gehirnzuständen beinhaltet, dass diese internen Zustände das Erleben einer subjektiv scheinbar unmittelbar zugänglichen Welt bedingen. Durch Wahrnehmung entstehen neuronale Aktivierungsmuster als kognitive Repräsentate für einwirkende Stimuli, von denen auf gegebene Umweltaspekte zurück geschlossen wird. Dass es sich bei diesem Vorgang um eine komplexe Konstruktion und nicht um ein epistemisch objektives Abbild handelt, lässt sich anhand des folgenden Selbstversuchs demonstrieren14: Fixiert man unter einer starken Lichtquelle 10 Schnider: Verhaltensneurologie, S. 2. 11 Spitzer: Vorsicht Bildschirm!, S. 54. 12 Ramachandran: Eine kurze Reise durch Geist und Gehirn, S. 37. 13 Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, S. 125. 14 Vgl. Kast: Revolution im Kopf, S. 22f.
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das auf der dieser Seite zu sehende Kreuz, im Mittelpunkt des schwarzen Ringes, dann bildet sich nach einiger Zeit ein Nachbild auf der Netzhaut. Wendet man nun den Blick von dieser Grafik ab und einer weißen Wand zu, dann nimmt man an dieser eine helle Scheibe wahr. Ursache für dieses Phänomen ist ein Ermüden der Zellen der Netzhaut, die für die Dauer der Blickfixierung den Ring abbildeten. In der Wahrnehmung wird dieser physiologische Erschöpfungszustand jedoch nicht als körpereigenes Ereignis klassifiziert, sondern so verarbeitet, als handele es sich um einen Umweltreiz. Die basale Eigenschaft des sensorisch-kognitiven Apparates, dass dieser von Sinneseindrücken auf Umweltbeschaffenheit zurück schließt, führt hier zur Wahrnehmung eines objektiv in der Außenwelt nicht vorhandenen Phänomens: des hellen Rings an der Wand.
Abbildung 6: Testbild zur Demonstration der konstruktivistischen Beschaffenheit menschlicher Wahrnehmung – Anleitung im Text (nach Kast: Revolution im Kopf, S. 22).
Macht man einen Schritt vor oder zurück wird deutlich, dass es sich bei dieser durch unbewusste Verarbeitungsprozesse generierten Erscheinung nicht um eine Störung in einer ansonsten objektiven Wahrnehmung handelt, sondern um eine Modifikation eines beständig ablaufenden, hochkomplexen neuronalen Konstruktionsvorgangs. Bei Bewegungen auf die weiße Fläche zu wird die helle Scheibe kleiner, ein Mehr an Abstand führt zu deren Anwachsen.
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Grund hierfür ist, dass die von den ermüdeten Netzhautzellen erzeugte Repräsentation mit der Entfernung des Objekts verrechnet wird, zu dem diese scheinbar gehört. So wird angesichts dieses visuellen Phänomens exemplarisch sichtbar „dass der Wahrnehmungsvorgang ein aktiver Prozess ist, wobei die Interpretationsregeln in der Architektur des Gehirns verankert sind.“15 Daraus folgt prinzipiell, so Wolf Singer: „Die Art, wie wir die Welt sehen, ist determiniert durch die Struktur unserer Gehirne, die vermutlich auch anders hätte ausfallen können.“16 Für das individuelle Erleben der Welt bedeutet dies: „Während unsere Sinnessysteme vieles ausblenden, was in der Außenwelt passiert, enthält umgekehrt unsere Wahrnehmungswelt auch ihrem Inhalt nach sehr vieles, was keinerlei Entsprechung in der Außenwelt hat.“17
Neuronale Verarbeitung und Vernetzung „Auch wenn die einzelnen biologischen Modelle des Gehirns und der Nervensysteme von Lebewesen sich in vielen Aspekten unterscheiden, herrscht allgemeine Übereinstimmung darüber, dass ,das Wesen der Funktion des Nervensystems Kontrolle durch Kommunikation ist‘.“ (Rojas 2001, 270)
Grundlage aller im Gehirn ablaufenden Prozesse und kausales Element der dortigen Informationsverarbeitung sind dessen Bausteine, die Nervenzellen oder Neuronen. Diese bestehen, auch wenn sie sehr unterschiedliche Formen aufweisen, prinzipiell aus drei verschiedenen Teilen: den Dendriten, dem Zellkörper und dem Axon – oder auch mehreren Axonen.18 In dieser Reihenfolge treten die Bestandteile der Nervenzellen auch in Aktion. Aufgabe der Dendriten ist es, auf Grund chemischer Signale von Nachbarzellen elektrochemische Potentiale auszubilden und diese zum Zellkörper weiter zu leiten. Hier laufen die auf eine Zelle wirkenden Inputs in Form dieser weitergeleiteten, elektrochemischen Membranpotentiale zusammen. Überschreitet die Potentialdifferenz zwischen Innenraum und Außen an der Stelle, an der das Axon aus dem Zellkörper austritt, einen bestimmten Schwellenwert, so wird vom Axonhügel, der sich hier befindet, ein so genanntes Erregungspotential generiert – die Nervenzelle feuert. Dieses Erregungspotential wird in der Folge aktiv ent15 Singer: Ein neues Menschenbild, S. 72. 16 Singer: Ein neues Menschenbild, S. 72. 17 Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, S. 253. 18 Vgl. Roth: Aus der Sicht des Gehirns, S. 14.
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lang des Axons weitergeleitet und über die Synapsen an dessen Enden an andere Nervenzellen weiter gegeben. Die vom Axon überbrückte Distanz kann dabei bis zu einem Meter betragen. In den Synapsen werden entsprechend der einlaufenden Erregungspotentiale chemische Botenstoffe in den Zwischenraum zum Dendriten der nächsten Nervenzelle frei gesetzt. Diese Neurotransmitter überbrücken die zirka ein tausendstel Millimeter Distanz zwischen den Membranen der verschiedenen Zellen, den synaptischen Spalt, und wirken an den Dendriten der nachfolgenden Zellen auf Rezeptoren ein, was wiederum zum Entstehen eines elektrochemischen Signals führt. Die Rolle der Neuronen ist aber nicht vollständig beschrieben, wenn man diese nur als passive Leitungs- und Verrechnungselemente darstellt. Die im Zusammenhang mit den beobachtbaren Gehirnleistungen wichtigste Charakteristik der Nervengewebs-Bausteine ist ihre Plastizität. Diese Formbarkeit bezieht sich auf die Verbindungen der Neuronen untereinander, die Synapsen. Werden diese in Folge wiederkehrender Vorgänge häufig genutzt, dann verfestigen und intensivieren sich die so genutzten Nervenverbindungen. Dies führt dazu, dass das Gewicht dieser Signale in der Gesamtheit der ablaufenden Verrechnungsprozesse zunimmt. Derartige zelluläre Anpassungen an spezifische Anforderungen sind die anatomische Grundlage für Veränderungs- und Lernvorgänge, sowohl bewusste als auch unbewusste. Diese auf Grund von Training sich verstärkenden Verbindungen von Nerven untereinander gehen bei der Schaffung informationeller Ordnung mit einem weiteren Mechanismus Hand in Hand. Bei komplexen Aufgaben lässt sich beobachten, dass die Nervenzellen, die an diesen beteiligt sind ihre Aktivität synchronisieren, auch wenn sie sich nicht in direkter räumlicher Nachbarschaft befinden. Die sich durch diesen rhythmischen Gleichklang auszeichnenden Nervennetze bilden Verbünde, die komplexe neuronale Umgehensweisen mit bestimmten Herausforderungen der Umwelt darstellen. Das beständige Wirken solcher inhaltlich ausgerichteter Neuronennetzwerke kann man an Hand eines kleinen Experimentes, das auch zum Selbstexperiment taugt, aufzeigen.19 Die folgenden Fragen müssen so schnell wie möglich laut beantwortet werden:
19 So in Spitzer: Vorsicht Bildschirm“, S. 233f.
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Welche Farbe hat Schnee? Welche Farbe hat die Bettdecke im Hotel? Welche Farbe hat Papier? Welche Farbe hat Kalk? Was trinkt die Kuh? Abbildung 7: Schnell lesen und beantworten – eine Demonstration von Bahnungsphänomenen im menschlichen Gehirn (nach Spitzer: Vorsicht Bildschirm!, S. 233)
Wer immer auf die letzte Frage mit Milch antwortet, erlebt beziehungsweise demonstriert damit das Wirken des so genannten Bahnungseffektes. Dieser tritt auf, weil alle Fragen bis auf die Letzte das neuronale Bedeutungsnetzwerk um die Farbe Weiß aktivieren. Unter der Bedingung schnell antworten zu müssen, kann es leicht dazu kommen, dass nicht die korrekte Antwort: Wasser, gegeben wird. Die Aktivierung des Bedeutungsnetzwerks der Farbe Weiß erweist sich als so dominant, dass der Name einer mit Kühen assoziierten weißen Flüssigkeit genannt wird. Die zentrale Leistung, die aus der anforderungsorientierten Plastizität der Reizleitung und der Etablierung synchron arbeitender Nervennetze folgt, ist die Fähigkeit aus Serien von Einzelereignissen Kategorien und Regeln zu bilden, die einen systematischen Umgang mit der Umwelt erlauben. Dieses systemisch verankerte Erzeugen allgemeiner Orientierungskompetenz meint Manfred Spitzer, wenn er, wie am Anfang dieses Kapitels zitiert, Gehirne als Regelextraktionsmaschinen beschreibt, die nicht anders können, als vom Einzelfall zur Konstruktion übergreifend anwendbarer Urteilskriterien fortzuschreiten. Die Effekte dieser Verarbeitungscharakteristiken lassen sich überall beobachten, wie Spitzer an einem Alltagsgegenstand aufzeigt: Sie haben sicherlich in ihrem Leben schon Tausende von Tomaten gesehen bzw. gegessen, können sich jedoch keineswegs an jede einzelne Tomate erinnern. Warum sollen Sie auch? Ihr Gehirn wäre voller Tomaten! Diese wären zudem völlig nutzlos, denn wenn Sie der nächsten Tomate begegnen, dann nützt Ihnen nur das, was Sie über Tomaten im Allgemeinen wissen, um mit dieser Tomate richtig umzugehen.20
20 Spitzer: Lernen, S. 75f.
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Der den menschlichen Nervenzellen und damit dem Gehirn eingebaute Suchmechanismus nach Regelmäßigkeiten bezieht sich dabei auf alle Sinnesmodalitäten gleichermaßen. Jegliche Signale werden in einer universalistischen Manier behandelt. „Es gibt“, wie Gerhard Roth feststellt, überhaupt keine neuronale Aktivität, die für Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken spezifisch wäre, ebenso wenig wie für die einzelnen Farben, für Melodien, Druck und Schmerz, und dasselbe gilt auch für solche neuronalen Aktivitäten, die mit Denken, Vorstellen und Erinnern zu tun haben.21
Funktion, Lokalisation und Plastizität „Bei Gehörlosen jedoch, die Sprache von den Lippen ablesen können, beginnt die Hörrinde auf Mundbewegungen zu reagieren. Sie wird nicht überflüssig, sondern beginnt auf Signale zu reagieren, die gehörlose Menschen verarbeiten und verstehen müssen.“ (Sarah-Jayne Blackmore/Uta Frith22)
Grundsätzliche Einsichten in die Verarbeitungsmechanismen des Gehirns finden sich jedoch nicht nur auf der mikroskopischen Ebene der Nervenzellen, sondern auch in der makroskopischen Struktur: Unterschiedliche Funktionen sind in unterschiedlichen Bereichen des Gehirns, speziell der Hirnrinde angesiedelt. Antonio Damasio spricht in diesem Zusammenhang von einer Triangulation von „Geist, Verhalten und Gehirn“23, die seit ihrer Entdeckung im 19. Jahrhundert den wissenschaftlichen Fortschritt entscheidend befördert hat. Die Neurologen Paul Broca und Carl Wernicke waren es, die zu dieser Zeit als erste den direkten Zusammenhang zwischen einer spezifischen Fähigkeit, in diesem Fall der Sprache, und einem bestimmten Gehirnareal herstellten. Wie sich herausstellte unterteilt sich die Gehirnrinde, trotz ihres histologisch relativ monotonen Aufbaus, in zirka hundertfünfzig funktional unterscheidbare Regionen – „Wir dürfen uns das Gehirn nicht als einen großen Klumpen von Neuronen vorstellen, die überall, wo sie sind, das gleiche tun“24. Das normalerweise unmerkliche Zusammenspiel dieser funktionalen Module
21 Roth: Aus der Sicht des Gehirns, S. 83. 22 Blackmore/Frith: Wie wir lernen, S. 185. 23 Damasio: Ich fühle also bin ich, S. 25. 24 Damasio: Descartes Irrtum, S. 70.
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ist die Maschinerie hinter jedem Erleben und jeglichen Fähigkeiten. Selektive Ausfälle können dabei unterschiedliche Abweichungen vom psychologischkognitiven Normalzustand nach sich ziehen: „Das Benennen belebter Objekte kann im Vergleich zum Benennen unbelebter Objekte selektiv gestört sein“25 oder die Patienten sind selektiv nicht mehr in der Lage, „die Orientierung von Objekten zu bestimmen, obwohl sie diese Objekte nach wie vor einwandfrei identifizieren können“26, oder verwechseln die eigene Frau mit einem Hut, wie im Titel des Buches von Oliver Sacks27. Die überzeugendsten Belege für diese Erkenntnisse stammen von Patienten mit winzigen Läsionen, die lediglich eine Schädigung von V4, dem Farbareal, oder MT, dem visuellen Bewegungsareal, bewirken. Wenn beispielsweise V4 auf beiden Seiten des Gehirns geschädigt ist, führt das zu einem Syndrom, das als kortikale Farbenblindheit oder Achromatopsie bezeichnet wird. Patienten mit kortikaler Achromatopsie sehen die Welt in Grautönen, wie einen Schwarzweißfilm, aber sie haben keine Probleme, die Zeitung zu lesen, die Gesichter von Menschen zu erkennen oder Bewegungsrichtungen wahrzunehmen. Ist hingegen MT, das mediotemporale Areal, geschädigt, können die Patienten zwar noch Bücher lesen und Farben sehen, aber nicht sagen, in welche Richtung oder wie schnell sich etwas bewegt.28 Es handelt sich bei derartigen pathologischen Störungen nicht nur um simple Ausfälle, sondern um Eingriffe in ein hochkomplexes Konstruktions- und Repräsentationssystem. Das wird an Fällen deutlich, in denen die Modularität der involvierten Funktionen sich in besonderer Weise manifestiert. So konnte ein Patient die rechte Seite eines ihm bekannten Platzes detailliert und flüssig beschreiben. Über die aus seiner Perspektive linke Seite des Platzes konnte er jedoch so lange nichts aussagen, bis man ihn aufforderte, sich den Platz vom anderen Ende her vorzustellen. Jetzt konnte er die ehemals linke und nun rechte Hälfte des Platzes detailliert beschreiben und zeichnen. Über die zuvor gut erinnerte rechte und nun in der Vorstellung links liegende Seite des Platzes konnte der Patient jedoch keine Angaben mehr machen.29 Obwohl der Platz im Gehirn komplett repräsentiert war und auch schwierige Operationen wie eine mentale Rotation möglich waren, war stets nur die rechte Hälfte des Repräsentats bewusst zugänglich. 25 Weniger: „Aphasien“, S. 387. 26 Karnath: „Agnosie von Objektorientierungen“, S. 134. 27 Sacks: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verweckselte. 28 Ramachandran: Eine kurze Reise durch Geist und Gehirn, S. 38f. 29 Karnath: „Neglect“, S. 226.
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Unter sehr spezifischen Bedingungen macht sich die funktionale Gliederung des Gehirns auch im nichtpathologischen Normalfall bemerkbar. So können Menschen, wenn wahlweise Buchstabensalat oder Worte gezeigt werden, diese schneller unterscheiden, wenn sie rechts von einem fixierten Punkt dargeboten werden. Die gleichen Stimuli links von diesem Punkt brauchen deutlich länger für ihre Verarbeitung, weil sie zuerst in die rechte Gehirnhälfte übermittelt werden, während das Sprachzentrum, das zur Bewältigung der gestellten Aufgabe unerlässlich ist, in der linken Hirnhälfte sitzt30. In gleicher Weise benötigen Versuchpersonen 50 Millisekunden länger, um die Farbe eines Lichtreizes zu bestimmen als nur dessen bloßes Erscheinen festzustellen, weil mehr Hirnareale in die Verarbeitung involviert sind31. Die funktionale Basis dieser Beobachtungen ist die Arbeitsteilung innerhalb des Gehirns – die Lokalisation spezifischer Verarbeitungsleistungen in unterschiedlichen Regionen dieses Organs. In diesem Zusammenhang muss jedoch angemerkt werden, das bislang nicht geklärt ist, wie die Ergebnisse dieser parallelen Verarbeitungen „zu kohärenten Objektrepräsentationen zusammengefasst werden.“32 Aus evolutionärer Perspektive zeigen die Spezialisierungen unterschiedlicher Gehirnbereiche, dass sich die Fähigkeiten dieses Organs nicht als eine allgemeine Verarbeitungskapazität herausgebildet haben, sondern buchstäblich gewachsene Antworten auf konkrete Probleme sind. Diese saubere Aufteilung, gerade der Großhirnrinde, in unterschiedliche Zuständigkeiten darf jedoch nicht statisch gesehen werden. Genau wie die Zellen, weisen auch diese kortikalen Landkarten eine hohe Plastizität auf. Wird eine Funktion häufiger benötigt, so kann sich das zuständige Areal vergrößern und mehr Verarbeitungsleistung und ein höheres Differenzierungsvermögen zur Verfügung stellen. „Lernt ein Mensch die Blindenschrift (Braille), so vergrößert sich dadurch, dass der rechte Zeigefinger beim Lesen Millionen von kleinen Erhebungen ertasten muss, das kortikale Areal, das für die Fingerkuppe seines rechten Zeigefingers zuständig ist.“33 Dieses neuronale Anpassungspotential hat in jüngster Vergangenheit, mit dem Aufkommen von Handys und SMS, zu einer bemerkenswerten Veränderung in der Repräsentation der verschiedenen Finger geführt. Auf Grund des technologiebedingt mehr geforderten Daumens ist es nicht mehr der Zeigefinger, hinter dem das vergleichsweise größte Verarbeitungsareal steht, sondern der Daumen. Diese Möglichkeit der anforderungsabhängigen Modifikation von Gehirnleistungen kann dabei als ein Schlüssel zum Verständnis von Unterschieden zwischen Individuen gesehen werden. 30 Vgl. Spitzer: Lernen, S. 311. 31 Vgl. Erk/Walter: „Funktionelle Bildgebung der Emotionen“, S. 58. 32 Engel: „Neuronale Grundlagen der Merkmalsintegration“, S. 39. 33 Spitzer: Lernen, S. 106.
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Die quasi automatische Anpassung des Gehirns an die Erfordernisse der Umwelt ist ein Mechanismus, der sich nicht nur beim Homo sapiens beobachten lässt. Auch andere Organismen können sich in dieser Weise an ihre spezifischen Lebensumstände anpassen. Experimentell hat man gezeigt, dass bei Affen, die auf das Unterscheiden von Tönen trainiert werden, die Regionen wachsen, in denen diese akustischen Reize repräsentiert werden.34 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Gehirn als informationsverarbeitendes Organ über ein Set von grundlegenden Strukturen und Mechanismen verfügt, die diese Leistung erst ermöglichen. Die Basis aller Abläufe bilden die Nervenzellen mit der Fähigkeit ihre Verbindungen dynamisch anzupassen und sich zu synchron feuernden Netzwerken zu verbinden. Auf dieser zellulären Basis fußt die funktionale Aufteilung des Gewebes in Bereiche, die jeweils unterschiedliche Aspekte der Umwelt repräsentieren und verarbeiten. Diese spezialisierten Areale reagieren wiederum auf die Häufigkeit mit der ihre jeweiligen Leistungen benötigt werden mit relativer Vergrößerung oder Verkleinerung. Aus der Beschaffenheit des Gehirns, als System bei dem man „zwischen Hard- und Software nicht unterscheiden kann“35, resultieren dabei zwei grundsätzliche funktionale Eigenarten im Umgang mit der Umwelt. Zum einen wird von einer Regelmäßigkeit des Umfeldes ausgegangen, die es erlaubt von Einzelereignissen zu abstrahieren und Objektklassen und Wirkzusammenhänge zu konstruieren, die zur Steuerung des Verhaltens eingesetzt werden können. Zum anderen passen sich die neuronalen Verarbeitungsressourcen, die als modulares Netzwerk organisiert sind, im Rahmen ihrer Plastizität dynamisch an die Aufgaben an, die für den jeweiligen Organismus von Bedeutung sind.
Sinnesorgane als Schnittstellen „Erfahren heißt, ohne Ausnahme und in jeder Sinnesmodalität, konstruieren.“ (Donald D. Hoffman36)
Sinnesorgane sind Anpassungen an Lebensräume und deren stimulatorische Gegebenheiten. Dies bedingt, dass es sowohl bei Tieren als auch bei Menschen, wie Gerhard Roth ausführt, prinzipiell nicht darum geht, „die Welt so
34 Spitzer: Musik im Kopf, S. 321. 35 Singer: Ein neues Menschenbild, S. 97. 36 Hoffman: Visuelle Intelligenz, S. 74.
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zu erfassen, wie sie tatsächlich ist.“37 Zum einen kann nur ein kleiner Teil dessen, was in der Welt passiert die Sinnesorgane erregen und zum anderen ist auch nur ein kleiner Teil dieser Geschehnisse für die Lebensführung relevant. Die Sinnesorgane beschränken unsere Wahrnehmung schon durch ihre Bau- und Funktionsweise auf einen sehr kleinen Ausschnitt des Gesamtgeschehens in der Welt. Dieser ist allerdings meist derjenige, der von besonderer Bedeutung für unser Überleben ist und entsprechend der Bereich, in dem die Sinnesorgane am besten arbeiten.38 Diese Passung von Sinnesorganen und Lebenswelt ist im Konstruktivismus39 aber auch im Rahmen der evolutionären Erkenntnistheorie40 ausgeführt worden.
Schnittstellen „Die Evolution hat andere Lösungen für die Analyse visueller Bewegung gewählt als explizite Raum- und Zeitmessung.“ (Thomas Haarmeier41)
Die Sinnesorgane lassen sich gemäß ihrer Stimulusspezifität in drei Gruppen einteilen: die Exterorezeptoren, die sich, wie Auge und Ohr, Reizen der Umwelt widmen; die Propriorezeptoren, die Lage, Position und Bewegung unseres Körpers und seiner Gliedmaßen registrieren und die Enterorezeptoren, die das Gehirn mit Informationen über den chemisch-physiologischen Zustand des Organismus versorgen. Im Zusammenhang dieser Arbeit sind es die zur Exterorezeption gehörenden Sinne Sehen und Hören, die in besonderer Weise interessieren und auf die in den folgenden Abschnitten, über die hier präsentierten allgemeinen Überlegungen zum Thema Sinnesorgane hinaus, eingegangen wird. Die sensuelle Auseinandersetzung mit der Umwelt ist ein von Anfang an aktiver Prozess. Das ergibt sich daraus, dass in keiner Sinnesmodalität der eingehende Reiz die Energie liefert, die zu dessen Weiterleitung und Verarbeitung notwendig ist. Funktional handelt es sich bei den Sinnesorganen um Umwelt37 Roth: Aus der Sicht des Gehirns, S. 72. 38 Roth: Aus der Sicht des Gehirns, S. 72. 39 Vgl. Hejl: „Konstruktivismus und Universalien“. 40 Vgl: Vollmer: Evolutionäre Erkenntnistheorie, S. 45f. 41 Haarmeier: „Bewegungssehen“, S. 21.
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Organismus-Schnittstellen42, die einen Zugriff auf verhaltensrelevante und deshalb evolutionär selektierte Aspekte der umgebenden Welt ermöglichen. Die biohistorische Gewachsenheit menschlicher Wahrnehmungsstrukturen und die damit entstandenen Adaptationen an gegebene Reizverhältnisse werden auch angesichts des jeweiligen Empfindlichkeitsbereiches der verschiedenen Sinnesorgane deutlich: So nimmt das Auge elektromagnetische Wellen in genau dem Frequenzbereich wahr, in dem die Erdatmosphäre für diese durchlässig ist43, während der Frequenzbereich des Ohres oberhalb der Resonanzfrequenzen der menschlichen Skelettknochen beginnend sich über den für die Kommunikation bedeutenden Bereich erstreckt und dann endet. Wie selektiv die Beschaffenheit des menschlichen Sensoriums ist und damit das daraus resultierende Bild der Welt, belegen auch die Chemorezeptoren des Geschmackssinnes. Es sind zwei Stoffklassen mit hohem physiologischem Brennwert, Fette und Zucker, die die menschliche Geschmackswelt dominieren. Nährstoffe und Vitamine sind – so sinnvoll es wäre – im sensorischen Erleben nicht präsent. Diese höchst eingeschränkte Wahrnehmung der chemischen Zusammensetzung der Nahrung ist ein Resultat des phylogenetisch existenziellen Problems der Versorgung des Körpers mit physiologisch hochenergetischem Brennstoff. Andere Nährstoffe wurden bei der Deckung dieses Bedarfes automatisch aufgenommen und resultierten somit nicht – mit Ausnahme des Salzes – in Sinnesleistungen formenden Selektionsdrücken. Zu dieser eingeschränkten Leistungsfähigkeit des Geschmackssinnes merkt Karl R. Gegenfurtner mit Blick auf moderne kulinarische Errungenschaften an: Im Laufe der Evolution hat es vermutlich keine große Rolle gespielt, ob wir Sauce Bernaise oder Hollandaise bevorzugen. Wichtig war und ist, dass keine schädlichen Stoffe aufgenommen werden und dass Stoffe, an denen es mangelt, aufgenommen werden.44 Jegliche Reflexion zum Thema sensorische Wahrnehmung muss dabei der Tatsache Rechnung tragen, dass das phänomenale Erscheinen der Welt für den Menschen bereits eine hochkomplexe Aufarbeitung der zugrunde liegenden Stimuli ist, wie auch Olaf Breidbach es beschreibt: „Die Gestaltung, die die Reizmuster in der Anschauung erfahren, sind Äußerungen einer Innenwelt des Ichs, die die Bilder der Realität schon vor einer rational-reflexiven Sicherung strukturieren.“45 Donald Hoffman bezeichnet das Ergebnis der vorbewussten, 42 Traue/Kessler: Psychologische Emotionskonzepte, S. 24. 43 Vgl. Vollmer: Evolutionäre Erkenntnistheorie, S. 45. 44 Gegenfurtner: Gehirn & Wahrnehmung, S. 69. 45 Breidbach: Das Anschauliche oder über die Anschauung von Welt, S. 1.
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visuellen Aufarbeitung „als eine mit hübschen Icons ausgestattete, bedinungsfreundliche Benutzeroberfläche, die uns mit den Dingen verbindet, die wir relational sehen (was für Dinge es auch immer sein mögen).“46 Die Vorgänge der nichtbewussten Aufarbeitung sensorischen Inputs, von denen hier die Rede ist, hat Jerry Fodor in treffender Weise als „informationally encapsulated“47 beschrieben. Dabei bezeichnet die informationelle Verkapselung, dass es sich um funktionale Module handelt, deren Arbeitsweise nicht dem willkürlichen Zugriff unterliegt. Vielmehr werden in ihnen eingehende Nervenimpulse in konstanter Weise prozessiert und für die Weitergabe an andere Gehirnregionen aufbereitet.
Repräsentationen „Die Augen mögen uns täuschen und der Gesichtssinn konstruiert sein, doch der Tastsinn, so unsere tiefe Überzeugung, liefert uns ein zuverlässiges Abbild der Wirklichkeit. Sie betrachten den Tisch und räumen vielleicht ein, dass das, was sie sehen, Ihr Konstrukt ist. Doch dann zerstreuen Sie alle Zweifel, indem Sie einfach auf den Tisch schlagen. Damit ist die Frage ihrer Meinung nach entschieden, denn der Schlag hat doch einen direkten, und keinen konstruierten Kontakt hergestellt.“ (Donald D. Hoffman48)
Jede sensorische Interaktion mit der Umwelt lässt sich unter Berücksichtigung dieser Verarbeitungsautomatismen mit einer Standardbeschreibung fassen. Am Anfang steht ein Umweltphänomen, das physikalisch auf ein Sinnesorgan wirkt. Dies bedingt eine Veränderung, die durch die Rezeptoren des jeweiligen Organs und deren aktive Verstärkung und Transformation in einen Erregungszustand übersetzt wird. Dieser wird auf sensorische Nerven übertragen und gelangt über deren Bahnen, in Form von Aktionspotentialen, zu den sinnesspezifischen Gehirnzentren. Nach der hier erfolgenden Verarbeitung wird in höheren Gehirnzentren – in Form eines Umkehrschlusses und unter vollständiger Ausblendung der rezipierenden, leitenden und verarbeitenden Mechanismen – das Ergebnis dieses Geschehens als in die Umwelt projizierender Sinneseindruck bewusst. 46 Hoffman: Visuelle Intelligenz, S. 22. 47 Vgl. Fodor: The Modularity of Mind. 48 Hoffman: Visuelle Intelligenz, S. 224.
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Die so linear und stringent wirkende Abfolge der verschiedenen Elemente, aus denen letztendlich Wahrnehmung resultiert, verschleiert zu einem gewissen Grad, dass es sich um ein Nacheinander verschiedener interner Repräsentationen handelt. Sie wurden zwar von dem ursprünglichen Stimulus ausgelöst, sind jedoch nicht mehr mit diesem identisch. Die erste Repräsentation ist das Erregungsmuster, welches sich in Folge der Einwirkung in den Sinneszellen des jeweiligen Organs aufbaut. Diese primäre Wirkung des Reizes wird darauf hin in eine zweite Abbildung transformiert: das Erregungsmuster der Nerven, die die Distanz zwischen Sinnesorgan und zentraler Verarbeitung im Gehirn überbrücken. Eine weitere, dritte, Abbildung entsteht, wenn diese Impulse in den zuständigen sensorischen Zentren verarbeitet werden. Erst ab diesem Punkt kann es in einer vierten Stufe zur Integration des jeweiligen Stimulus in Bewusstseinsprozesse kommen. Sinnesorgane und die angeschlossenen Verarbeitungsmechanismen sind somit Mittler zwischen der Welt in der Menschen leben und deren Fähigkeit, sich sowohl reflexiv als auch unbewusst mit dieser auseinander zu setzen. Die Vermittlerrolle sensorisch-neuronaler Mechanismen lässt sich dabei durchaus mit der Weltvermittlung durch technische Medien parallelisieren. Der entscheidende Unterschied hierbei ist jedoch, dass die mediale Funktion, die diese neuronalen Mechanismen für das subjektive Erleben haben, vollständig unterdrückt wird. Der Wissenschaftsautor Bas Kast hat hierfür eine adäquate Beschreibung gefunden: Das Hirn ist wie ein perfektes Buch, wie ein perfekter Film. Denn das, was die Bilder hervorbringt, nämlich Hirnaktivität, verschwindet nicht nur ansatz- und zeitweise, sondern vollständig. Die Hirnaktivität als solche taucht erst gar nicht in Ihrem Bewusstsein auf. Bei einem Buch können Sie wenigstens feststellen, dass es Buchstaben sind, die die Bilder in ihrem Kopf hervorrufen. Beim Film können Sie den Fernseher ja immerhin noch sehen. Ihre Hirnzustände aber sehen Sie nicht, nie, Sie sehen und spüren nur, was diese Hirnzustände hervorbringen: die Welt im Kopf.49 Diese neuronal erzeugte Repräsentation einer anders nicht zugänglichen Außenwelt weist auf ein weiteres Charakteristikum des subjektiven Weltbezugs hin, nämlich das Erleben von Qualitäten – Philosophen reden gerne auch von Qualia –, die in dieser Weise nicht existieren. Weder Geschmack noch Geruch sind stoffliche Eigenschaften. Vielmehr kommt es bei Kontakt mit diesen Stoffen zu Interpretationen des sensorisch-kognitiven Systems. Ins Bewusst-
49 Kast: Revolution im Kopf, S. 16f.
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sein gelangt in der Folge nicht eine chemische Substanz, sondern ein mit dieser in regelhafter Weise verbundenes Repräsentat, das durch subkortikale und somit unbewusste Zentren unseres Gehirns generiert wird. Auch dies belegt, dass menschliches Welterleben im Sinne des Konstruktivismus eine interne Rekonstruktion der Umwelt darstellt. Die strukturelle Fixiertheit der dabei aktiven Vorgänge und deren fehlende willkürliche Beeinflussbarkeit unterscheiden einen derartigen „neurobiologischen Konstruktivismus“50 strickt von anything-goes-Konstruktivismen postmodernistischer Prägung. Die evolutionär entstandenen Verarbeitungsmechanismen des menschlichen Gehirns lassen seinem Besitzer keine freie Wahl in seinem sensorischen Welterleben – eine Einschränkung, der alle anderen lebenden Organismen ebenfalls, wenn auch artspezifisch, unterliegen, wie Richard Dawkins es ausdrückt: „What the animal perceives is a virtual reality rendering of salient aspects of the real world, continuously updated by sensory information.“51
Von den Sinnen zum Sinn „Wir erleben subjektiv oft eine Einheit, wo es objektiv keine Einheit zu geben scheint.“ (Bas Kast52)
Die Auswirkungen der neuro-sensorischen Beschaffenheit der menschlichen Kognition reichen jedoch noch weiter. Im Rahmen der unbewussten Verarbeitung der rezipierten Reize werden diese zum Teil eindeutig inhaltlich vorinterpretiert. Das bekannteste Beispiel, an dem sich dieses immanente Suchen nach Bedeutungen exemplifizieren lässt, ist der in dieser Arbeit schon angeführte Neckerwürfel. Trotz der Zweidimensionalität dieses Linienarrangements greifen hier Verarbeitungsroutinen, die gewöhnlich zur Rekonstruktion dreidimensionaler Reizquellen eingesetzt werden. Das „Kippen“ des Würfels, das sich bei längerer Betrachtung einstellt – so, dass ein und dieselbe Ecke abwechselnd als vorne und als hinten gesehen wird – resultiert aus dem Versuch des visuellen Systems, den eingehenden Nervenimpulsen eine in der dreidimensionalen Lebenswelt sinnvolle Bedeutung zu geben53. Versuche mit bildgebenden Ver-
50 Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, S. 330. 51 Dawkins: „Afterword“, S. 976. 52 Kast: Revolution im Kopf, S. 77. 53 Vgl. Hoffman: Visuelle Intelligenz, S. 43.
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fahren zeigen, dass das erlebte „Kippen“ der Würfeldarstellung mit der wechselnden Dominanz konkurrierender Neuronennetzwerke verbunden ist.54 Die Klassifizierung sinnvolle Bedeutung im Zusammenhang mit vorbewussten Mechanismen bedeutet dabei, dass die neuronalen Verarbeitungsmechanismen darauf ausgelegt sind, Repräsentationen zu generieren, die einen für die Verhaltenssteuerung möglichst großen Nutzen erbringen. Dieser strukturell verankerte Imperativ kann dabei im Rahmen besonderer Reizkonstellationen zur Erzeugung mentaler Repräsentationen führen, die Auffälligkeiten oder Inkonsistenzen aufweisen. Eine derartige Inkonsistenz tritt im Erleben des Neckerwürfels zutage: Eine zweidimensionale Graphik kann zum einen nicht dreidimensional sein und zum anderen kann sich die Orientierung eines Objekts nicht verändern, ohne dass sich dieses bewegt. Diese zusätzlichen und nicht realen Gehalt generierenden Mechanismen funktionieren offensichtlich parallel zur emotionalen Aufbereitung von Umweltereignissen. In beiden Fällen werden auf vorbewusster Ebene dem erlebten Stimulus primär nicht zukommende zusätzliche Qualitäten generiert, die im reflexiven Umgang mit diesem als potentielle Orientierungshilfen erscheinen. Die neuronalen Algorithmen, die hinter dieser Verarbeitung von Sinnesdaten stehen, müssen dabei als evolutionär entstandene Strategien gesehen werden, um mit phylogenetisch wichtigen Problemen umzugehen. Im Fall des Neckerwürfels scheint es sich dabei um einen Verarbeitungsmechanismus zu handeln, der die räumliche Struktur eines Objekts auch unter schwierigen Rahmenbedingungen nachvollzieht. Der zu beobachtende, irritierende Effekt ist damit eine Begleiterscheinung eines Mechanismus zum Erzeugen einer für die Handlungsplanung möglichst leistungsfähigen dreidimensionalen Repräsentation der Umwelt. Im folgenden Abschnitt werden derartige hochkomplexe Verarbeitungsmechanismen im visuellen System eingehender dargestellt und untersucht. Im Kontext der allgemeinen Auseinandersetzung mit den Umwelt-Organismus-Schnittstellen der Spezies Homo sapiens muss zusammenfassend festgestellt werden, dass es sich bei keiner Sinnesmodalität um eine, gleich einem mechanischen Abdruck, einfach vermittelte Wahrnehmung der Umwelt handelt. Die Phänomene, die die bewusste Wahrnehmung der Welt konstituieren, sind Ergebnisse sensorischer Aktivitäten, neuronaler Leitungsvorgänge und Verarbeitungsroutinen, die den jeweiligen Individuen nicht bewusst sind. Das menschliche Weltbild ist, wie Donald Hoffman es fasst, eine „Benutzeroberfläche“55, die auf den evolutionär erworbenen Charakteristiken von Sinnesorganen und neuronaler Verarbeitung basiert. 54 Vgl. New Scientist, 26 Nov 2005, S. 52. 55 Hoffman: Visuelle Intelligenz, S. 22.
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Vom Sehen der Welt „A modern neurobiologist would, or at least should, approve heartily of Henri Matisse’s statement that ‚Seeing is already a creative operation, one that demands an effort.‘“ (Semir Zeki56)
Es gibt Untersuchungen, dass Menschen „rund 90 % der Umweltinformationen“57 über die Augen aufnehmen. So problematisch eine exakte Zergliederung der Informationsaufnahme eines Organismus sein mag, so sind die Visualisierung der menschlichen Kultur und damit einhergehende Muster der Mediennutzung starke Indizien für eine in der Gegenwart eindeutig aus dem rezeptiven Kanon herausgehobene Bedeutung des Gesichtssinns. Anatomische Karten des Gehirns machen zudem deutlich, dass die Vormachtstellung des Visuellen kein bloßes Kulturphänomen ist: Ein großer Teil der im hinteren Teil des Kopfes angesiedelten Großhirnrinde ist mit der Verarbeitung der von den Augen kommenden Nervenimpulse befasst. Kein anderes Sinnesorgan verfügt über ein Hirnareal gleicher Größe. Die Sehvorgänge lassen sich, in den Worten von Gerhard Roth, in komprimierter Form darstellen: Wenn das Bild eines Gegenstandes auf die Netzhaut (Retina) meines Auges fällt, dann werden in einer bestimmten Region der Netzhaut die Photorezeptoren, d. h. Stäbchen und Zapfen, erregt, die wiederum nachgeschaltete Retinaganglienzellen aktivieren. Das daraus entstehende neuronale Erregungsmuster läuft über den Sehnerv vor allem zum lateralen Kniehöcker im dorsalen Thalamus des Zwischenhirns und von dort zur primären Sehrinde im Hinterhauptscortex. Von dort werden auf komplizierte Weise zahlreiche sekundäre und assoziative Hirnrindenareale aktiviert, in denen Einzelmerkmale des Bildes verarbeitet, zusammengesetzt und mit Gedächtnisinhalten vermischt werden, bis das Gesehene als Objekt, Gesichter oder farbige, bewegte Szenen bewusst wird.58 Angemerkt sei, dass die sonst für analytische Zwecke so funktionale Trennung zwischen Gehirn und Sinnesorgan im Fall der Augen nicht haltbar ist. Die Grenze verläuft in diesem Fall mitten durch das Organ. Die Netzhaut, die den hinteren Teil des Auges auskleidet und für die Umwandlung des Lichtes in 56 Zeki: Inner Vision, S. 6. 57 Winterhof-Spurk: Medienpsychologie, S. 57. 58 Roth: Aus der Sicht des Gehirns, S. 37.
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nervöse Erregung verantwortlich ist, ist eine Ausstülpung des Gehirns – „ein spezialisierter Teil der Gehirnoberfläche, der nach außen verlagert und lichtempfindlich wurde“59.
Das Auge „Das Grundproblem des Sehens. Das Bild im Auge lässt zahllose mögliche Interpretationen zu.“ (Donald D. Hoffman60)
Das Auge als Ganzes kann – was nicht selten gemacht wird – mit einer Kamera verglichen werden: Dabei wirken die Hornhaut und die Linse als Objektiv, während die Iris als Blende fungiert und die Netzhaut das Analogon zum photosensitiven Film darstellt. So perfekt dieses Zusammenspiel auf den ersten Blick auch erscheinen mag, so zeigen sich doch deutliche Schwachstellen: Einzig am Punkt mit der höchsten Lichtrezeptordichte, der so genannten Fovea, wird ein wirklich scharfes Bild für die weitere Verarbeitung erzeugt. Wegen des an anderer Stelle aus dem Augapfel austretenden Sehnervs und der dort fehlenden Rezeptorzellen gibt es einen gänzlich blinden Fleck in der Wahrnehmung der Umwelt. Darüber hinaus wird die Farbwahrnehmung zur Peripherie des Seefeldes hin immer schlechter und versagt unter schwachen Lichtbedingungen vollständig.61 Diese, gemessen an optischen Geräten, dürftige Beschaffenheit des Auges und die Tatsache, dass Menschen diese im Normalfall nicht wahrnehmen sind Ergebnisse der Phylogenese. Bei einem vergleichenden Blick auf andere Organismen werden die Vorzüge des menschlichen Gesichtssinns schnell deutlich. So verfügen „viele Tiere nicht über einen Farbsinn oder binokuläres Sehen“62. Ursprünglicher Nutzen der Sensitivität für Licht war offenbar die Detektion von Bewegungen, denn es „ist keine einzige Tierspezies bekannt, die nicht ein System zur Analyse von Bewegungen entwickelt hätte.“63 Das menschliche Auge muss als hochdifferenzierte Antwort auf die Herausforderungen einer Umwelt gesehen werden, in der besser rezipierte und aufgearbeitete visuelle Stimuli ein Vorteil waren. Zur Nutzung dieser Vorteile war eine durchgängig hochauflösende Repräsentation der Umwelt jedoch kein
59 Gregory: Auge und Gehirn, S. 74. 60 Hoffman: Visuelle Intelligenz, S. 30. 61 Vgl. Gregory: Auge und Gehirn, S. 72ff. 62 Haarmeier: „Bewegungssehen, Stereopsis und ihre Störungen“, S. 30f. 63 Haarmeier: „Bewegungssehen, Stereopsis und ihre Störungen“, S. 30f.
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praktikabler Weg. „Wäre das räumliche Auflösevermögen im gesamten Gesichtsfeld so hoch wie in der Fovea, so müsste unser Sehnerv den Durchmesser eines Elefantenrüssels haben.“64 Würde von jedem Rezeptor in der Netzhaut eine Nervenfaser ins Gehirn ziehen, dann wäre der Sehnerv statt 3 Millimeter 1,5 Zentimeter dick. Die evolutionäre Lösung dieses Problems ist in jedem menschlichen Auge realisiert und sorgt – mit Schwächen - mittels des vergleichsweise dünnen Sehnervs dafür, dass „Augenbewegungen möglich werden“65. In der Konsequenz werden über ein relativ weites Gesichtsfeld brauchbare Informationen erhoben, die es erlauben, einen vergleichsweise kleinen Bereich höchster Seefähigkeit dorthin auszurichten, wo präzisere Stimulusrezeption notwendig ist oder sein könnte. Die spezifische und vom Rest der Netzhaut unterschiedene Beschaffenheit der Fovea lässt sich mit einem Blick an den Nachthimmel demonstrieren: Ganz schwach leuchtende Sterne verschwinden aus der Wahrnehmung sobald man sie fixiert, denn die Fovea verfügt von den zwei im Auge vorhandenen Rezeptortypen nur über farbsensitive Zapfen und nicht über helligkeitssensitive Stäbchen, die zahlenmäßig die Netzhaut dominieren. „Die farbsensitiven Zapfen brauchen mehr als tausendmal so viel Licht um aktiv zu sein wie die schwarz-weiß sehenden Stäbchen.“66 Die mosaikartige Verteilung der Rezeptoren auf der Netzhaut bedingt dabei eine spezifische Beschaffenheit des primären Erregungsabbildes, die Donald D. Hoffmann wie folgt beschreibt: „Das Bild in Ihrem Auge ist diskret. Sie können es sich vorstellen wie ein pointillistisches Gemälde von George Seurat – ganz und gar aus winzigen, getrennten Farbklecksen zusammengesetzt.“67 Eine Beschaffenheit aus der Hoffman für den weiteren Wahrnehmungsprozess folgert: Ihr Bild besitzt, wie Seurats Gemälde, weder Kurven noch Flächen – nur Punkte. Aber Sie sehen mehr als Punkte; sie sehen Kurven und Flächen. Nach allen Gesetzen der Logik müssen sie deren Urheber sein. Das bedeutet auch, dass Sie jede Linie und jeden Punkt in Kanizsas Zeichnung konstruieren. (Ja, auch die Punkte konstruieren Sie!)68 Die Wahrnehmung von Lichtreizen durch die Rezeptorzellen der Retina ist der Beginn der neuronalen Verarbeitung. Die Prozessierung des ursprünglich in 64 Ilg/Thier: „Zielgerichtete Augenbewegungen“, S. 312. 65 Gregory: Auge und Gehirn, S. 74. 66 Birbaumer/Schmidt: Biologische Psychologie, S. 376. 67 Hoffman: Visuelle Intelligenz, S. 93. 68 Hoffman: Visuelle Intelligenz, S. 93.
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den Rezeptorzellen erzeugten Erregungsmusters beginnt direkt in der Retina, in der zum einen die Nervenzellen lateral miteinander in Kontakt stehen und zum anderen zwei dieser Zellschichten hintereinander angeordnet sind. Dieses Netzwerk verbindet die 120 Millionen Rezeptorzellen der Netzhaut mit einer Million ableitenden Nervenfasern des Sehnervs69, wobei gerade in der Peripherie größere Bereiche und damit zahlreiche Rezeptorzellen zu einem einzigen Signal integriert werden. Es kommt hier jedoch nicht nur zu einer bloßen Datenreduktion, sondern auch zu einem den Informationsgehalt verändernden Prozess. Verschaltungen der Nervenzellen sorgen dafür, dass Kontraste selektiv verstärkt werden – ein Mechanismus, der Strukturen deutlicher hervortreten lässt und so die visuelle Differenzierungsleistung verbessert. Das Wirken dieses Mechanismus kann mit Hilfe von Darstellungen wie Abbildung 8 sichtbar gemacht werden: Obwohl die senkrechten Grauflächen den gleichen Ton haben, erscheint die linke dunkler als die rechte. Die Kontrastverstärkung der visuellen Verarbeitung akzentuiert Unterschiede, was unter speziellen Stimulusbedingungen diese aktive (Re)konstruktionsarbeit im Umgang mit der Welt deutlich werden lässt.
Abbildung 8: Kontrastverstärkung – beide senkrechten Grautöne sind gleich (nach einer Vorlage von Manfred Fahle).
Die optische Wahrnehmung des Menschen ist also nicht auf ein akkurates Abbild der Umwelt hin angelegt (dann müssten beide Graus gleich aussehen), sondern auf eine im Normalfall möglichst nützliche Sicht (Strukturen unterscheiden zu können). Diese, den Gehalt des ursprünglichen Stimulus modifizierende Bearbeitung, resultiert in einer gegenüber den eintreffenden Lichtwellen verfremdeten Sichtweise. Dieses – zumindest mit Blick auf die Kontraste – verzerrte Weltbild macht deutlich, dass die Mechanismen der visuellen Wahrnehmung nicht in Richtung einer möglichst objektiven Abbildung selektiert wurden. Der lebensstrategische Zweck der sensuellen Auseinandersetzung mit
69 Vgl. Gregory: Auge und Gehirn, S. 74.
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der Umwelt war es zu keiner Zeit, richtige Sinneseindrücke zu erzeugen, sondern richtiges Verhalten zu ermöglichen.70 Die Verbindung zwischen Auge und Gehirn erfolgt durch den schon erwähnten Sehnerv, dessen zirka eine Million Nervenfasern parallel Signale zur Sehrinde des Großhirns transportieren. Dabei verläuft die Nervenbahn – von jedem Augen geht einer dieser Stränge aus – über den seitlichen Kniehöcker (Corpus geniculatum laterale) im Zwischenhirn, bevor sie ihr Ziel in der Großhirnrinde erreicht. Dabei handelt es sich beim seitlichen Kniehöcker jedoch nicht nur um eine neuroanatomische Wegmarke, sondern um eine hirngeschichtlich alte Region zur Verarbeitung visueller Informationen. Die weiterzuleitenden Signale werden hier einer einfachen und sehr schnellen Verarbeitung unterzogen, die die Amygdala und andere subkortikale Zentren am sensorischen Input der Großhirnrinde teilhaben läßt.71 Auf dem Weg der Sehnerven zur Großhirnrinde wechseln, noch vor Erreichen des seitlichen Kniehöckers, jeweils die Hälfte der Nervenfasern in die andere Gehirnhälfte. Dies hat zur Folge, dass im weiteren Verlauf der Prozessierung jeweils eine Hälfte des Blickfeldes in einer Gehirnhälfte verarbeitet wird: Rechts wird prozessiert, was in der linken Hälfte unseres Gesichtsfeldes geschieht, während die rechte Hälfte der Welt dementsprechend ihre neuronale Verarbeitung linksseitig erfährt. Damit verarbeitet in der Konsequenz jede Seite des Gehirns eine Hälfte unseres visuellen Weltbildes, wobei zwei Versionen in diese Verarbeitung eingehen – jeweils eine von jedem Auge. Die primäre Sehrinde, auch V1 genannt, in der die erste Aufbereitung der durch den Sehnerv eintreffenden Signale erfolgt, befindet sich im Hinterkopf, wie auch die weiteren visuellen Areale. Sie weist eine topologische beziehungsweise retinotope Organisation auf, was besagt, dass die Repräsentationen benachbarter Regionen der Retina auch hier benachbart sind. Dabei handelt es sich jedoch um eine stark disproportionale neuronale Abbildung der Retina. Mehr als die Hälfte der primären Sehrinde verarbeitet die Reize der Fovea und somit den Input der vergleichsweise kleinen Region optisch maximaler Leistung – ein weiterer Hinweis auf die strategisch selektive Informationsgewinnung, auf die dieses System ausgelegt ist.
70 Vgl. Roth: Aus der Sicht des Gehirns, S. 86. 71 Vgl. Zihl: „Zerebrale Blindheit und Gesichtsfeldausfälle“, S. 89.
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Mechanismen des Erkennens „Aus Sicht sowohl der Verhaltensforschung als auch der evolutionären Psychologie oder der Soziobiologie werden Wahrnehmung und Verhalten nachhaltig von evolutionär entstandenen Dispositionen beeinflusst.“ (Peter M. Hejl72)
Die Analyse der eingehenden Signale erfolgt in der primären Sehrinde durch Nervenzellen, die selektiv auf Linien beziehungsweise Kanten mit einer bestimmten Ausrichtung ansprechen. Dies bedeutet, dass diese Nervenzellen feuern, wann immer in ihrem Bereich des Sichtfeldes eine gerade Grenzfläche mit ihrer bevorzugten Orientierung gegeben ist. Dieser Vorgang, gleich der Kontrastverstärkung in der Retina, ist darauf ausgelegt die gegebenen Umweltinformationen zu optimieren, wie Bilder nichtexistenter geometrischer Figuren wie das folgende Dreieck zeigen.
Abbildung 9: Gestaltsehen – die menschliche Wahrnehmung generiert Kanten, wo keine sind (nach einer Vorlage von Manfred Fahle).
Hier erzeugt die Analyse den Eindruck von Kanten, wo keine sind. Dass es sich hier um eine äußerst vielsagende Sinnestäuschung handelt, die auf stammesgeschichtlich alte Mechanismen der Informationsaufbereitung zurückgeht, haben neurobiologische Untersuchungen an Makaken gezeigt. Für das Verhalten der Zellen in V1 angesichts subjektiver Grenzen – dort wo ein nichtexistenter Rand einer Figur zu sein scheint – hat man bei diesen „festgestellt, 72 Hejl: Konstruktivismus und Universalien, S. 35.
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dass ungefähr die Hälfte der Zellen erregt wird, wenn die Grenze die richtige Position und Ausrichtung hat […] Ähnliche Ergebnisse haben Untersuchungen an Katzen gezeigt.“73 Der angesichts des nichtvorhandenen Dreiecks kuriose Effekt der Entstehung lediglich subjektiv existenter Grenzen ist speziesübergreifend als Resultat einer neuronalen Ausrichtung auf Objekterkennung und Objektintegration zu sehen. Gleich dem kontrastverstärkenden Mechanismus der Retina handelt es sich hier um eine Verarbeitungsroutine, die der besseren Strukturierung der Umwelt dient. Von der primären Sehrinde aus werden die Nervensignale an andere visuelle Areale weitergegeben, von denen jedes bestimmte Aspekte der optischen Information analysiert, wobei „eine zunehmende Spezialisierung der Neurone“74 festzustellen ist. Das hervorstechende Charakteristikum der visuellen Verarbeitung in der Großhirnrinde ist deren modulare Organisation, bei der unterschiedliche Gehirnareale jeweils spezifische Aspekte der eintreffenden Signale verarbeiten. Charakteristisch für diesen Prozess ist jedoch auch, dass dessen neuronale Architektur normalerweise subjektiv nicht wahrgenommen wird – was dazu führt, dass es mitunter schwierig ist, wie Heinrich Bülthoff und Alexa Ruppertsberg ausführen, Fachfremden zu erklären, warum ein so simpel anmutender Vorgang wie „das Erkennen von Objekten ein nicht triviales Problem darstellt.“75 Donald D. Hoffman führt hierzu aus: „Unser Sehvermögen arbeitet normalerweise so rasch und sicher, so verlässlich und informativ und allem Anschein nach so mühelos, dass wir, ohne darüber nachzudenken, tatsächlich annehmen, es sei mühelos.“76 Seit der Entwicklung bildgebender Verfahren ist es möglich, das Gehirn quasi bei der Arbeit zu beobachten. So können die verschiedenen neuronalen Einheiten, die in ihrem Zusammenspiel das normalerweise homogene Weltbild konstituieren, sichtbar gemacht werden. Eine Testaufgabe, die diese modulare Beschaffenheit in der Alltagswahrnehmung sichtbar macht, findet sich in Abbildung 10. Beim Versuch in zügiger Folge die Farben der Wörter zu benennen, stellen sich im Regelfall Fehler ein. Dies passiert, weil in diesem Fall zwei Module der visuellen Verarbeitung objektrelevante Ergebnisse produzieren. Es kommt so zum Konflikt zwischen dem für das Farbensehen zuständigen Areal und den Regionen, die für das sinnhafte Erfassen von Worten zuständig sind.77 73 Hoffman: Visuelle Intelligenz, S. 101. 74 Gegenfurtner: „Farbwahrnehmung und ihre Störungen, S. 16. 75 Bülthoff/Ruppertsberg: „Funktionelle Prinzipien der Objekt- und Gesichtserkennung“, S. 95. 76 Hoffman: Visuelle Intelligenz, S. 9. 77 Vgl. Spitzer: Lernen, S. 244.
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Abbildung 10: In der modularen Verarbeitung des Gehirns kommt es zu Konflikten, wenn man versucht die Farben der Worte zügig zu benennen.
Dieses Beispiel demonstriert, wie hochkomplex das menschliche Gehirn arbeitet, ohne das dies bewusst wahrgenommen wird. Das laute Lesen eines Wortes ist ein erlerntes sprachliches Interpretieren einer Abfolge bekannter Zeichen. Das Sehen von Farben ist dagegen ein scheinbar ursprüngliches Erlebnis, interpretationsbedürftig nur in Bezug auf Benennung und assoziierte Bedeutungen. Ein Blick in die Physik zeigt aber, dass schon Newton wusste: „Es ist nicht das Licht, das farbig ist“78, und dementsprechend kann auch die Umwelt nicht farbig sein. Farbe, oder besser die Farben, sind eine Ingredienz, mit der der unbewusste Teil unseres visuellen Systems die unterschiedlichen Wellenlängen der eintreffenden Stimuli für das bewusste Erleben aufbereitet. Farben sind eine auf dem auslösenden Stimulus fußende Konstruktion des neuronalen Systems – eine evolutionär zur neuronalen Struktur gewordene Interpretationsleistung. Menschen erleben Farben nicht, weil Objekte farbig sind, sondern weil sich in einer prähistorischen Phase der Entstehung unserer Art ein neurosensorischer Verstärkermechanismus zur besseren Differenzierung innerhalb des physikalischen Phänomenkontinuums Licht herausgebildet hat. Statt eines quantitativen Unterschiedes, wie er der Natur des Stimulus entspricht, erleben wir visuelle Reize als qualitativ verschieden, als unter anderem rot, grün und blau. Die damit verbundene, unbewusste Transformation der ur-
78 Gegenfurtner: „Farbwahrnehmung und ihre Störungen“, S. 11.
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sprünglichen Stimulusqualität ist dabei vollständig und subjektiv absolut überzeugend. Der evolutionäre Hintergrund dieser Fähigkeit wird deutlich angesichts der Leistungen, die Farben ermöglichen: „Farbe wird üblicherweise definiert als diejenige Empfindung, die es uns ermöglicht, zwischen zwei strukturlosen Flächen gleicher Helligkeit zu unterscheiden.“79 Genetische Untersuchungen legen nahe, dass diese Unterscheidungsfähigkeit vor zirka 45 Millionen Jahren bei urwaldlebenden Primaten entstand. Grund hierfür war die Nahrungskonkurrenz, die als selektiver Druck auf eine sensorische Anpassung zur besseren Lokalisierung nährstoffreicher Fruchtkörper hinwirkte. Eine konkurrierende Theorie legt dagegen nahe, dass das Farbensehen im Kontext der sozialen Wahrnehmung früher Primaten entstand. Untersuchungen von Mark Changizi80 und Kollegen fanden einen Zusammenhang zwischen der Empfindlichkeit von Farbrezeptoren in den Netzhäuten verschiedener Primatenarten und deren Behaartheit: Je mehr Haut am Körper und im Gesicht sichtbar ist, desto besser die Farbwahrnehmung. Ein Zusammenhang der darauf hindeutet, dass möglicherweise das Erkennen von durchblutungsbedingten Farbunterschieden der Haut eine wichtige Informationsquelle im Kontext der Individualkommunikation war. Pathologische Fälle verdeutlichen, dass die für das menschliche Welterleben so zentrale Farbigkeit eine modulare Komponente des visuellen Systems ist. Oliver Sacks berichtet von einem Maler mit einer Schädigung der Sehrinde: Und er schien nicht nur das Vermögen eingebüßt zu haben, Farben zu sehen, sondern auch die Fähigkeit, sie sich vorzustellen oder sich an sie zu erinnern, ja sogar von ihnen zu träumen. Trotzdem – wie einem Amnesiepatienten war ihm, nachdem er sein Leben lang Farben hatte sehen können, der Verlust des Farbensinns bewusst, und er klagte, seine Welt sei nun verarmt, grotesk und abnorm – seine Kunst, das Essen, sogar seine Frau erschienen ihm ‚bleiern‘.81 Derartige Ausfälle belegen die Grundaussage eines Neurokonstruktivismus, dass das neurosensorische System die Welt nicht abbildet, sondern konstruiert, wenn auch in meist praktisch sehr dienlicher und gänzlich unauffälliger Weise. Komplexe und im Normalfall nicht separierbare Eigenschaften des visuellen Erscheinens erweisen sich so als Bestandteile einer aus neuronal-modularen Komponenten zusammengesetzten Stimulusverarbeitung. Dies umfasst unter 79 Gegenfurtner: „Farbwahrnehmung und ihre Störungen“, S. 11. 80 Vgl. Changizi u.a.: „Bare skin, blood and the evolution of primate colour vision“. 81 Sacks: Die Insel der Farbenblinden, S. 20.
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anderem Fälle, in denen Menschen trotz organischer Sehfähigkeit keine Objekte mehr erkennen können82, den Verlust der Bewegungswahrnehmung, der dazu führt, dass die Welt wie in einer Folge von Stroboskopblitzen erscheint83 oder dass Dinge nicht richtig benannt werden können, obwohl ihr Gebrauch pantomimisch korrekt dargestellt werden kann84. Durch eine technische Möglichkeit, die Aktivität in ausgewählten Hirnarealen zu unterbinden (transkraniale Magnetfeldstimulation) können derartig verzerrte Erlebniswelten zum Teil auch willkürlich erzeugt werden. Die temporäre Inaktivierung des ungefähr einen Quadratzentimeter großen Areals V5 führt so zum Ausfall der Bewegungswahrnehmung und zur Transformation des subjektiven Welterlebens in eine Standbildfolge.85 Besonders aussagekräftig für ein evolutionäres Verständnis der neuronalen Modularität des Sehens ist jedoch mit der Prosopagnosie ein Defekt, der sich meist auf die Verarbeitung einer für Menschen besonders bedeutungsvollen Objektklasse bezieht: menschliche Gesichter. Die von diesem Zustand Betroffenen verlieren, obwohl sie die Dinge des Alltags gut handhaben und unterscheiden können, die Fähigkeit Gesichter zu erkennen. Bis zum Jahr 2000 ging man von einem spezifischen Gesichtererkennungsareal aus, das sich jedoch bei genaueren Untersuchungen als nicht nur auf diesen Bereich beschränktes Areal visueller Expertise erwies.86 Neben dem Verlust der Fähigkeit, Gesichter zu unterscheiden, können deshalb noch andere, aber nicht im gleichen Maße generalisierbare Probleme auftreten: Ein Gebrauchtwagenhändler mit Prosopagnosie beispielsweise hat Schwierigkeiten im Beruf, weil er die Autos (mit den Scheinwerferaugen und dem lachenden Kühlergrill) nicht mehr so gut wahrnehmen kann. Ein Farmer mit Prosopagnosie kann seine Kühe nicht mehr unterscheiden.87 Der Schlüssel zum Verständnis der analytischen Leistung des betreffenden Areals liegt in den Differenzierungsproblemen, die eine zuverlässige Individualisierung innerhalb einer Klasse hochgradig ähnlicher Umweltelemente mit sich bringt. 82 Vgl. Goldenberg: „Visuelle Objektagnosie und Prosopagnosie“, S. 129. 83 Hoffman: Visuelle Intelligenz, S. 183. 84 Vgl. Goldenberg: „Visuelle Objektagnosie und Prosopagnosie“, S. 123. 85 Vgl. Hoffman: Visuelle Intelligenz, S. 183. 86 Vgl. Gauthier u.a.: „Expertise for cars and birds recruits brain areas involved in face recognition“. 87 Spitzer: Lernen, S. 212.
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Anders als beim Erkennen von Objekten geht es beim Erkennen von Gesichtern um die Identifizierung einzelner Exemplare einer Art. Diese Aufgabe stellt in der perzeptiven Phase höchste Ansprüche an die Integration von lokalen Details, globalen Formen und räumlichen Verhältnissen und an die Extraktion von charakteristischen und konstanten Merkmalen oder Merkmalskonstellationen.88 Goldenberg weist zudem auf die Möglichkeit einer doppelten Dissoziation „zwischen Objekt- und Gesichtererkennen“ hin, die darauf hinweist, „dass sie von unabhängigen zerebralen Prozessen abhängen.“89 Diese Eigenständigkeit der Gesichtserkennung im Umfeld visueller Wahrnehmung verweist auf die Existenz grundsätzlich unterschiedlicher strategischinformationeller Wertigkeiten verschiedener Objektklassen innerhalb der Umwelt. Dabei zeigt sich erneut ein hochgradig selektiver Einsatz von neuronalen Verarbeitungsressourcen. So wie die Fovea, die die Hälfte der primären Sehrinde beansprucht, als Beleg für die informationelle Inhomogenität der Umwelt gesehen werden kann, so stellt das Gesichtserkennungsareal eine selektive, zusätzliche Zuweisung von Verarbeitungskapazität für eine besonders relevante Objektklasse dar. Gesichter sind für die Angehörigen einer sozial lebenden Spezies als Schlüsselelement zur Individualisierung von Beziehungen von besonderer Bedeutung. Nur deren akkurate Identifizierung und Zuordnung zu vergangenen Begegnungen, kommunikativen Akten und zu gegenwärtigen Handlungsentwürfen erlaubt den Aufbau und Erhalt von langfristigen Interaktionen. Die Objektkategorie, die das Gesichtserkennungszentrum in der Regel verarbeitet – menschliche Gesichter – erweist sich somit als die stammesgeschichtlich wichtigste informationelle Ressource der Spezies Mensch. Die vergleichsweise geringen Unterschiede zwischen Gesichtern von Individuen erfordern ein Differenzierungspotential, das deutlich über die ansonsten benötigte Unterscheidungsfähigkeit für Objekte hinausgeht. Dieses zusätzliche Differenzierungspotential unterliegt Grenzen, das erweist sich im Umgang mit ungewohnten Stimulusausprägungen, wie Manfred Spitzer anführt: „Für einen Durchschnittseuropäer sehen alle Japaner oder Chinesen zunächst einmal gleich aus.“90 Dabei handelt es sich wohlgemerkt um einen Effekt, der aus fehlender Konfrontation mit dieser Stimulusausprägung resultiert und der auf Grund der Plastizität der zugrunde liegenden Mechanismen verlernt werden kann.
88 Goldenberg: „Visuelle Objektagnosie und Prosopagnosie“, S. 129. 89 Goldenberg: „Visuelle Objektagnosie und Prosopagnosie“, S. 129. 90 Spitzer: Lernen, S. 213.
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Das Gesichtserkennungszentrum, als Region besonderer visueller Expertise, ist dabei keine exklusive Differenzierung des menschlichen Gehirns. „Gesichtszellen, die sogar bei Affen in einem Alter von nur 5 Wochen gefunden wurden, entladen deutlich stärker bei der Wahrnehmung von Gesichtern als bei jedem anderen einfachen oder komplexen Reiz.“91 Bei Lebewesen, die gleichfalls in komplexen sozialen Gemeinschaften leben, finden sich die gleichen Anforderungen für die informationelle Umweltanalyse und die sichere Identifizierung von Interaktionspartnern. Die menschliche Eigenschaft, Gesichter zu erkennen, erweist sich damit als altes Erbe eines Stammbaums, für den komplexe Sozialbeziehungen typisch sind.
Abbildung 11: Der Thatcher-Effekt. In dieser Orientierung erkennt man die Bearbeitungsspuren am Bild. Erst wenn man die Seite auf den Kopf stellt wird die dadurch erzeugte Entstellung deutlich.
Die analytischen Grenzen der zusätzlichen Verarbeitungskapazität des Gesichtserkennungszentrums, auf die schon verwiesen wurde, macht auch der so genannte Thatcher-Effekt92 deutlich, wie die Abbildung 11 zeigt. Das auf dem Kopf stehende Gesicht wirkt bei normaler Orientierung dieser Seite auf die meisten Betrachter nicht ungewöhnlich. Dreht man jedoch die Seite um 180 91 Logothetis: „Neuronale Implementierung der Objekt- und Gesichtserkennung“, S. 112. 92 Vgl. Spitzer: Lernen, S. 216.
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Grad, so wird deutlich, dass es sich hier um eine grotesk verunstaltetes Abbild handelt: Mund und Augen wurden jeweils um 180 Grand gedreht. Diese monströs wirkende Veränderung wird jedoch nur wahrgenommen, wenn die Orientierung des Gesichts der Ausrichtung ähnelt, die Menschen im Alltag haben. Das auf dem Kopf stehende Gesicht lässt sich nicht in gleicher Weise vom Gesichtserkennungszentrum erfassen und wird deshalb zwar als verändert, aber nicht als deformiert empfunden. Die höhere Differenzierungsfähigkeit des visuellen Systems für Gesichter greift auf Grund der ungewöhnlichen Orientierung des Stimulus nicht. Die informationelle Ausrichtung der visuellen Signalverarbeitung des Menschen auf Gesichter wird auch an neugeborenen Babys deutlich. Präsentiert man diesen gleichzeitig zwei Bilder, von denen das eine ein Gesicht zeigt und das andere die gleichen Komponenten in abstrakter Anordnung, so richten die Neugeborenen ihren Blick und damit ihre Aufmerksamkeit signifikant mehr auf die Gesichter.93 Diese Versuche wurden in den ersten 24 Lebensstunden gemacht, so dass von einem durch Lernen erworbenen Verhaltensmuster nicht ausgegangen werden kann. Dies legt nahe, dass es sich um eine ererbte Stimuluspräferenz handelt, die als Anpassung an die Lebensbedingungen im Environment of Evolutionary Adaptedness (EEA) zu sehen ist. Das Gehirn des Menschen scheint damit schon von Geburt aus darauf ausgelegt, sich bevorzugt der Objektklasse zuzuwenden, die für ein hochsoziales Wesen lebenslang als eine zentrale Informationsquelle fungiert. Im Zuge der von einfachen Merkmalen zu komplexen Eigenschaften aufsteigenden Analyse im visuellen Kortex finden sich in der weiteren Stimulusverarbeitung zwei funktional unterschiedliche neuronale Systeme: Das dorsale System spielt eine wesentliche Rolle für Leistungen der visuellen Raumwahrnehmung; es wird deshalb vereinfacht auch als ‚Wo‘-System bezeichnet. Das ventrale System ist hingegen für die Analyse von Objektmerkmalen (z.B. Form, Farbe) sowie von Objekten und Gesichtern wichtig und wird deshalb als „Was“-System bezeichnet.94 Dabei findet sich auf der neuronalen Ebene ein interessanter Unterschied zwischen diesen „Systemen“ und den Bereichen des visuellen Kortex, die am Anfang der Verarbeitung stehen. Die „frühen“ Areale der Sehbahn „sind retinotop organisiert und weisen kleine rezeptive Felder auf.“95 In den „späteren“ 93 Gopnik u.a.: Forschergeist in Windeln, S. 45. 94 Zihl: „Zerebrale Blindheit und Gesichtsfeldausfälle“, S. 75. 95 Kerkhoff: „Störungen der visuellen Raumorientierung“, S. 177.
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Arealen der dorsalen und ventralen Route reagieren die „Zellen weitgehend unabhängig von der Position des Objektes im Gesichtsfeld.“96 Diese Generalisierung im Antwortverhalten kann dabei als ein neuronales Korrelat zum intellektuellen Vorgang der Abstrahierung verstanden werden.
Lesen, Welterleben und trügerische Gewissheiten „For those interested in the study of human nature, literature, a product of our evolved human brains, is a bountiful source of data on human desires and dispositions, drawing attention to what is really important in our lives.“ (Catherine Salmon97)
Eine visuelle Fähigkeit, die im Kontext von Schriftkulturen von besonderem Interesse ist, ist das Lesen. Das Lesen ist eine im Vergleich zur menschlichen Stammesgeschichte junge Entwicklung, die mit den protosumerischen Keilschriften vor ungefähr 6000 Jahren entstand. Aus diesem Grund kann man annehmen, dass die Hirnregionen, die hierfür verwendet werden, sich ursprünglich für andere Aufgabenstellungen entwickelten. Manfred Spitzer illustriert diesen Zusammenhang wie folgt: Wer liest, der missbraucht also zunächst einmal seinen Wahrnehmungsapparat für eine nicht artgerechte Tätigkeit, etwa wie ein Fliesenleger seine Knie missbraucht, um in Bädern herumzukriechen, oder wie ein Tennisspieler, der seinem Ellenbogen das Aufnehmen von mehr Kräften zumutet, als dieser verkraften kann.98 Beim Lesen findet sich eine besonders starke Gehirnaktivität in den Bereichen von Gyrus angularis und Gyrus circumflexus der linken Großhirnhemisphäre. Bei Schädigungen des inneren Bereichs des Gyrus angularis kommt es zur Alexie. Diese kann bedeuten, dass Wörter nicht mehr gelesen werden können (verbale Alexie) oder sogar Buchstaben nicht mehr als Bausteine dieser größeren Bedeutungseinheiten erkannt werden. Interessant ist, dass die Fähigkeit ideographische Schriften, wie Chinesisch, zu lesen von einer linksseitigen Schädigung kaum betroffen ist. Diese Funktion ist vielmehr im rechtsseitigen Gyrus angularis lokalisiert.
96 Kerkhoff: „Störungen der visuellen Raumorientierung“, S. 177. 97 Salmon: „Crossing the Abyss“, S. 244. 98 Spitzer: Lernen, S. 243.
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Eine plausible Hypothese zur neuronalen Entwicklung der Lesefähigkeit ist, dass hierfür Areale rekrutiert wurden, die für visuelle Pars-pro-toto Erkennung zuständig sind. Deren Funktionalität im Schließen von einem Bestandteil auf ein ganzes Objekt – z. B. von einer Spur auf ein Lebewesen – könnte im Rahmen eines Transfers für das Lesen nutzbar gemacht worden sein. Konkret ist für das Lesen, wie Zihl ausführt, ein zentraler Gesichtsfeldausschnitt erforderlich, der etwa 8° Durchmesser aufweist. Dieses so genannte Lesefenster ist asymmetrisch: für Menschen mit der Leserichtung von links nach rechts umfasst es links von der Fovea etwa 3-4 Buchstaben, rechts von ihr hingegen bis zu 15 Buchstaben [...] Es ermöglicht die simultane Aufnahme eines längeren Textausschnittes und bildet die Grundlage für die regelrechte und kontinuierliche Weiterführung der Fixation.99 Nachdem der Input eine Vorverarbeitung in den primären visuellen Arealen erfährt, wird er über sekundäre visuelle Areale weitergeführt und „in einem Areal weiterverarbeitet, das visual word form area genannt wurde und für die Gestalt von Wörtern zuständig ist. Dieses Areal liegt in der Nähe des Gesichtsareals und hat auch eine ähnliche Funktion: Es ist auf eine ganz bestimmte Klasse von Wahrnehmungsobjekten spezialisiert.“100 Von hier aus wird der aufbereitete Stimulusinput an den Temporallappen weitergeleitet, wo die eigentliche Objekterkennung und das Verstehen stattfinden und in deren Zentrum das sensorische Sprachzentrum (Wernickezentrum) steht. Im Fall des lauten Lesens schließen sich das motorische Sprachzentrum (Brocazentrum), eine Vielzahl von Motorprogrammen und schließlich der primäre motorische Kortex an. Hier entstehen die Steuersignale, die die Muskeln koordinieren, die das Aussprechen des Gelesenen ermöglichen.101 Bildgebende Untersuchungen an Personen, die von Geburt an blind sind, ergeben ebenfalls grundsätzliche Einsichten in die Funktionsweise des visuellen Kortex. Hier zeigt sich, dass der fehlende Sinnesinput keinesfalls ein gänzliches Brachliegen dieses Areals nach sich zieht. Die Verarbeitungskapazitäten der sonst als Sehrinde fungierenden Kortexanteile werden vielmehr für komplexe Tastaufgaben genutzt. Speziell die taktilen Stimuli bei der Rezeption der aus Erhebungen bestehenden Brailschrift führen hier zu deutlichen Aktivitäten – nicht jedoch bloßes Tasten, wie dass Berühren von Dingen.102 Diese unterschiedliche Verarbeitung von Tastreizen legt nahe, dass der visuelle Kortex in besonderer Weise dafür ausgelegt ist, komplexe repräsentationale Probleme zu handhaben. 99 Zihl: „Zerebrale Blindheit und Gesichtsfeldausfälle“, S. 80. 100 Spitzer: Lernen, S. 245. 101 Spitzer: Lernen, S. 246. 102 Spitzer: Lernen, S. 116.
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Die bewusste visuelle Wahrnehmung setzt, wie schon an der Darstellung der verschiedenen Verarbeitungsstationen deutlich geworden, erst in einem sehr weit fortgeschrittenen Stadium der gehirninternen Prozesse ein. Dabei gestattet das sich anschließende bewusste Erleben keine adäquaten Rückschlüsse auf die vorausgegangenen, unbewussten Verarbeitungsroutinen. Sowohl die ansteigende Komplexität der analysierten Stimuluseigenschaften als auch die Modularität dieses Prozesses treten unter Normalbedingungen nicht in Erscheinung. Das bewusste visuelle Erleben gleicht, wie Donald Hoffman es fasst, einer „Benutzeroberfläche“103, deren aufwendig generiertes Erscheinungsbild so evident und unmittelbar authentisch wirkt, dass die Annahme von verborgener und aufwendiger Informationsverarbeitung intuitiv nur wenig überzeugend scheint. Zu dieser komplexitätsverkennenden Sichtweise trägt auch die Überzeugung bei, dass Sehen ohne Bewusstsein nicht funktioniert, weil in diesem Falle kein Wahrnehmender das so aufwendig generierte Repräsentat der Außenwelt nutzt. Dabei wird jedoch unberechtigterweise angenommen, dass eine Orientierungsleistung wie das Sehen nur im Kontext bewusster Reizrezeption möglich ist. Dies ist jedoch nicht der Fall, wie pathologische Fälle belegen, in denen es auf Grund von Kortexschädigungen zu Gesichtsfeldausfällen kommt. Bei den von diesen Ausfällen betroffenen Menschen weist das Gesichtsfeld blinde Stellen auf – Netzhautregionen, deren weitergeleitete Reize auf Grund von Hirnrindenschädigungen nicht wahrgenommen werden. Präsentiert man solchen eingeschränkten Menschen in ihrem blinden Fleck einen Lichtreiz, so kann dieser nicht bewusst wahrgenommen werden. Bittet man diese Personen zu raten, wo genau sich die Reizquelle befindet und in die vermutete Richtung zu zeigen, so erweist sich die Mutmaßung als nahezu exakte Positionsbestimmung des Reizes – auf Grund dieser charakteristischen Fähigkeiten wird auch von Blindsicht gesprochen. Dies belegt, dass der visuelle Input der Augen nicht nur in der bisher dargestellten Weise verarbeitet wird. Die Nervensignale der Netzhaut erreichen nicht nur den visuellen Kortex, sondern werden auf ihrem Weg dorthin auch ins Mittelhirn, zum Hypothalamus und zum Prätektum weitergeleitet. Bei allen diesen Strukturen handelt es sich um subkortikale Zentren, deren Verarbeitungsaktivitäten jedoch keine bewussten Zustände nach sich ziehen. Bewusst werden visuelle Erlebnisse nur dann, wenn sie über das visuelle Areal V1 verarbeitet werden.104 Die subkortikalen Regionen von denen hier die Rede ist stehen jedoch mit verschiedenen Bereichen des Kortex in Kontakt. Das führt zu dem eigentümlichen Ergebnis, dass die Versuchsper-
103 Hoffman: Visuelle Intelligenz, S. 23. 104 Vgl. Zihl: „Zerebrale Blindheit und Gesichtsfeldausfälle“, S. 89.
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sonen betonen, nicht wissen zu können, wo sich der Reiz befindet, diesen aber dennoch korrekt lokalisieren. Es lassen sich darüber hinaus experimentell Wechselwirkungen mit den Reizen feststellen, die über den normalsichtigen Teil des Gesichtsfeldes rezipiert werden. Die Identifikation eines Reizes „– seiner Farbe (rot oder grün) oder seiner Form (E oder O) – gelingt schneller, wenn der flankierende Reiz kongruent ist, während der inkongruente Reiz die Reaktion auch dann verlangsamt, wenn er im blinden Feld erscheint“.105 Derartige Beobachtungen machen, wie schon zuvor angeführt, den Charakter des bewussten visuellen Erlebens als konstruktivistisch erzeugte Benutzeroberfläche in besonderer Weise deutlich: Das subjektive Erleben dieses Verarbeitungs-Bewusstseins-Interfaces gestattet keine hinreichenden Rückschlüsse auf die zugrunde liegenden Verarbeitungsprozesse. Was Menschen visuell erfahren ist keine Abbildung der Welt, sondern ein durch evolutionär selektierte Mechanismen erzeugtes Konstrukt – ein Output von kognitiven Anpassungen zur besseren Handhabung der Umwelt. Mit diesem Mangel an Entsprechung zwischen der bewussten Repräsentation der Welt und den tatsächlichen Gegebenheiten geht einher, dass das visuelle System in vielen Fällen keinen Output generiert, der es erlaubt dessen Leistungsfähigkeit adäquat zu beurteilen. So gibt es unter den Blindsichtpatienten nicht wenige, für die der eigene Ausfall unsichtbar ist, weil das Gehirn diese Lücke in der Verarbeitung der Umwelt füllt, beziehungsweise an das wahrgenommene Umfeld angleicht. Dass es sich hierbei nicht um einen nur in pathologischen Fällen auftretenden Mechanismus handelt, lässt sich am blinden Fleck des menschlichen Auges demonstrieren. An der mit diesem Namen bezeichneten Stelle der Netzhaut befinden sich keine Rezeptorzellen, da hier die gesammelten, im Auge verlaufenden Nerven, in Form des Sehnervs austreten. Würde das bewusste visuelle Erleben eine akkurate Abbildung dieser anatomischen Gegebenheit bieten, so müsste bei Sicht durch lediglich ein Auge, dieser sensorische Mangel offensichtlich werden – bei binokularer Sicht kann eine gegenseitige Kompensation erfolgen. Monokulares Welterleben führt im Normalfall nicht zur Wahrnehmung dieser Einschränkung, wie man jedoch mittels spezieller Stimulusanordnungen demonstrieren kann. Fixiert man das obere Kreuz, in der Mitte von Abbildung 12, bei geschlossenem rechten Auge, und nähert sich der Abbildung, so verschwindet der Kreis zur Linken, bei einem Abstand von 30 bis 40 Zentimetern. Die gleiche Beobachtung lässt sich auch mit dem rechten Auge machen. An die Stelle des jeweils verschwundenen Kreises tritt eine weiße Fläche, die keinen Hinweis darauf enthält, dass es sich bei ihr nicht um eine Umweltrepräsentation handelt sondern um vom Gehirn passend zur Umgebung generiertes Füllmaterial. Es handelt sich hier um einen 105 Zihl: „Zerebrale Blindheit und Gesichtsfeldausfälle“, S. 88.
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Füllmechanismus, der der Beschaffenheit des visuellen Umfeldes Rechnung trägt, wie sich am unteren Kreuz demonstrieren lässt.
Abbildung 12: Den blinden Fleck wahrnehmen (Anleitung im Text).
In gleicher Weise, wie in der darüber liegenden Zeile, verschwindet auch hier der Kreis. An seiner Stelle erscheint jedoch kein weißes Feld, wie in der darüber liegenden Zeile, sondern das schwarze Umfeld setzt sich hier nahtlos fort. Dass die hierfür verantwortlichen Verarbeitungsmechanismen auch in komplexeren Kontexten ihr Werk verrichten, belegt der folgende historische Verweis: Als der britische König Charles II., der ‚Wissenschaftskönig‘, der die Royal Society gegründet hat, von dem blinden Fleck erfuhr, machte es ihm großes Vergnügen, seine Hofdamen kopflos zu machen oder zum Tode verurteilte Missetäter mit dem blinden Fleck zu enthaupten, bevor sie tatsächlich geköpft wurden.106 Die stimulusselektierenden Augenbewegungen modifizieren das Weltbild noch umfangreicher. „Nur wenige und einfache Objekte lassen sich auf einen Blick erfassen, insbesondere um komplexere Szenen oder Gegenstände vollständig wahrzunehmen, muss das Auge Blicksprünge oder Blickbewegungen durchführen.“107 Bei diesen sprunghaften Augenbewegungen, von denen bis zu fünf in einer Sekunde stattfinden können, bewegt sich das gesamte Abbild der Umwelt über die Netzhaut. Der gleiche Punkt einer statischen Szene wechselt somit beständig seine Position auf der Retina. Diese dauernde Stimulusbewegung über die Rezeptorfläche müsste ohne massive Einflussnahme auf der Verarbeitungsebene als Bewegung wahrgenommen werden. Man geht, so Gerhard Roth, davon aus dass die neuronale Aktivität in der Sehrinde, die hierbei entstehen müsste, durch das Kommando für die Augenbewegungen unterdrückt wird und wir für einen Bruchteil einer Sekunde ‚blind‘ sind, ohne das wir dies merken. Unser Bewusstsein füllt diese winzige zeitliche Lücke 106 Ramachandran/Blakeslee: Die blinde Frau, die sehen kann, S. 158. 107 Winterhoff-Spurk: Medienpsychologie, S. 57.
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zwischen den stabilen Blicken aus, und zwar offenbar so, dass das bisher Gesehene in diese Lücke hinein verlängert wird.108 Es ist ein Fall bekannt, in dem selektiv dieser kortikale Mechanismus gestört ist. Bei der betroffenen Person entsteht auf Grund der Folgebewegungen Übelkeit, die jedoch bei Schließen der Augen abklingt.109 Dieser Mechanismus, ebenso wie die zuvor dargestellten, ist ein weiterer Beleg für die prinzipielle Aufgabe des funktionalen Verbundes von Sinnesorganen und Gehirn, „die in der Umwelt verfügbaren und relevanten Informationen aufzunehmen.“110 Das visuelle System verkörpert in diesem Zusammenhang eine spezifische, sensorisch-neurologische Anpassung an eine bestimmte Klasse von Umweltreizen. Die Menge an Verarbeitungsressourcen, die für die Aufarbeitung dieses speziellen Stimulusaspekts der Welt eingesetzt wird, ist Hinweis darauf, wie wichtig der Gesichtssinn in der stammesgeschichtlichen Vergangenheit unserer Art war. Die entscheidende Einsicht bei der Analyse des Reizrezeptions- und verarbeitungsprozesses, der gewöhnlich als Sehen bezeichnet wird, ist, dass die selektiven Kräfte, die dessen Entstehen bedingten, primär nicht auf eine eins zu eins Abbildung der Umwelt hingewirkt haben, sondern auf die effiziente Nutzung potentiell verfügbarer Informationen für die Verhaltenssteuerung. Wenn man den Blick in Anbetracht seiner Entstehung auf den Vorgang des Sehens wendet, dann ist das Erstaunliche nicht, dass die Welt nicht genau so ist, wie Menschen sie empfinden oder sie sich vorstellen. Viel erstaunlicher in einem wissenschaftlich wahrscheinlich zukünftig sehr lohnenden Sinne ist, dass das visuelle Weltbild des Menschen auf einer Vielzahl extrem leistungsfähiger sowohl einfacher als auch komplexer Verarbeitungsmechanismen beruht, die jedoch in keiner Weise Bestandteil des beständig in menschlichen Köpfen entstehenden Bildes der Welt sind. Gleich dem blinden Fleck der Retina bleiben, bis auf Ausnahmesituationen, die beständig in Echtzeit ablaufenden Verarbeitungsvorgänge des visuellen Systems außerhalb der Reichweite menschlicher Wahrnehmung.
108 Roth: Aus der Sicht des Gehirns, S. 44. 109 Vgl. Haarmeier: „Bewegungssehen, Stereopsis und ihre Störungen“, S. 26. 110 Gegenfurtner: Gehirn & Wahrnehmung, S. 6.
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Auditive Verarbeitung „Man erzählt, dass die Mutter Heinrichs IV. während ihrer Schwangerschaft jeden Morgen eine Frau zu sich kommen ließ, die in ihrer Nähe musizieren musste. Man ging damals davon aus, dass Musik vom Fötus gehört wird und bei ihm positive Wirkungen auf den späteren Charakter im Sinne der Verhinderung schlechter Stimmung bewirkt. Glaubt man den Historikern, so hat es funktioniert, denn Heinrich IV. soll zeitlebens guter Laune gewesen sein…“ (Manfred Spitzer111)
Das Hören ist – neben der visuellen Wahrnehmung – der zweite Sinn, durch den technische Medien im großen Umfang auf den Menschen wirken. Die prinzipielle Parallele beider Sinnesmodalitäten besteht dabei, wie schon erwähnt, in deren funktionaler Ausrichtung darauf, eingehende Reize in neurokonstruktivistischer Weise in interne Repräsentationen zu verwandeln, die der Verhaltenssteuerung dienen. Unterschiede in der Verarbeitung dieser zwei Reizklassen werden dabei schon auf einer relativ oberflächlichen Phänomenebene deutlich: Gehen von einem Punkt Lichtsignale verschiedener Wellenlängen aus, so wird lediglich eine Farbe wahrgenommen – im Zuge der Verarbeitung findet eine Verrechnung statt, die die möglicherweise zahlreichen unterschiedlichen physikalischen Wellenlängen, die das jeweilige Erleben bedingen, verschwinden lässt. Im Gegensatz dazu hat das Ohr – zumindest das geübte – keine Schwierigkeit separate Töne, die der gleichen Quelle entstammen, auch als solche wahrzunehmen.
111 Spitzer: Schokolade im Gehirn, S. 32.
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Reizaufnahme, -leitung und -verarbeitung „Wenn Sie nicht erkennen, dass es sich bei einem gegebenen Objekt um einen Tiger handelt, weil Sie seine Teile nicht gesehen haben, kann es Ihnen den ganzen Tag verderben.“ (Donald D. Hoffman112)
Ursprung jeden Hörerlebnisses sind 14.000 Rezeptorzellen im Innenohr – eine sehr bescheidene Zahl, verglichen mit den 120 Millionen Sinneszellen des Auges. Während der Reizrezeption werden von Umgebungsereignissen verursachte Luftdruckschwankungen, um die es sich bei jeder Art von Schall handelt, in nervöse Erregung umgesetzt. Die Bewegungen der Luft erreichen nach Passage des Gehörgangs das Trommelfell und versetzen dieses in Schwingungen – bis hierhin spricht man vom Außenohr. Dahinter, im Mittelohr, sorgt die hebelartige Anordnung der drei Gehörknöchelchen für die Weiterleitung von Energie und Rhythmus jedes Schalls an das Innenohr, wo die eigentliche Wahrnehmung erfolgt. Dort befindet sich eine in Lymphe gelagerte, schneckenartig aufgerollte und mit so genannten Haarsinneszellen besetzte Membran. Nervensignale entstehen, wann immer die mikroskopisch kleinen Haare der Haarsinneszellen aus ihrer Ruhestellung ausgelenkt werden. Zu derartigen signalgenerierenden Bewegungen kommt es, wenn über Trommelfell und Gehörknöchelchen weitergeleitete Töne die Membran in Bewegung versetzen. Auf Grund der anatomischen Beschaffenheit, der Verjüngung der Membran von ihrer Basis zum Ende hin, führen tiefe Töne stets zu Auslenkungen in der Nähe der Basis, während sich die mechanischen Auswirkungen hoher Töne, je höher diese sind, zunehmend in Richtung des schmalen Endes verlagern. Die kollektive Leistungsfähigkeit der Komponenten des Ohrs ist so gut, dass eine weitere Steigerung der Empfindlichkeit die ständigen Molekularbewegungen der Luft hörbar machen würde, was lediglich ein dauerhaftes Grundrauschen zur Folge hätte und somit nutzlos wäre.113 Die Signale der 14.000 Rezeptorzellen, die im Zusammenspiel mit der biomechanischen Reizaufnahme und Weiterleitung die Schallereignisse in nervöse Erregung wandeln, werden durch die 32.000 Fasern des Hörnervs an das Gehirn weitergeleitet. Die Verarbeitung der in elektrochemische Signale gewandelten akustischen Reize beginnt im Rahmen dieser Leitung bereits in der stammesgeschichtlich ältesten Region des Gehirns, dem Gehirnstamm. Die eingehenden Impulse werden vor allem darauf untersucht, wo in der Umwelt die Quelle des dazugehörigen Stimulus lokalisiert ist. Die geringen Zeitunter112 Hoffman: Visuelle Intelligenz, S. 115f. 113 Spitzer: Musik im Kopf, S. 50.
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schiede mit denen ein Stimulus – je nach Position relativ zum Hörer – die Ohren erreicht, werden dabei zur Analyse der Richtung des jeweiligen Ereignisses verwandt: Je größer der Zeitunterschied, desto weiter befindet sich die Ursache der Schallwellen rechts oder links der Mittellinie des jeweiligen Hörers. Wichtigster Hinweis auf die Entfernung der Geräuschquelle ist der Anteil an hohen Frequenzen des eintreffenden Schalls. Je weiter der Ursprung des Stimulus entfernt ist, desto mehr tiefere Schallwellen erreichen das Ohr. Ursache hierfür ist die vergleichsweise bessere Leitfähigkeit der Luft für tiefe Frequenzen. Dieser Beginn der auditiven Verarbeitung im Gehirnstamm verweist darauf, dass Hören – gleich der visuellen Wahrnehmung – ein Ergebnis eines modularen Verarbeitungsprozesses ist; einer Verarbeitung, deren funktionale Struktur im letztlich subjektiv wahrgenommenen Ergebnis nicht mehr auszumachen ist. Die Verarbeitung im Stammhirn weist auf die evolutionär ursprünglichste Funktion des Hörsinns hin: das Potential festzustellen, wo etwas in der Umwelt eines Lebewesens passiert. Innerhalb des Hirnstammes gibt es mehrere Kerne (Nervenzentren), die mit der Verarbeitung und Weiterleitung der von den Ohren kommenden Schallinformationen zu tun haben. Der erste in der Kette der neuronalen Aufarbeitung ist der Cochleariskern (Nucleus cochlearis), der sowohl mit der Lokalisation als auch mit der Frequenzanalyse befasst ist. In diesem, wie in fast allen anderen Kernen bis zum Kortex, sind die Nerven frequenzabhängig angeordnet. Dies bedeutet, dass sich die neuronalen Repräsentationen tiefer und hoher Töne jeweils an den entgegengesetzten Abschnitten dieser funktionalen Einheiten finden. Aufgabe der benachbarten Kerne des Olivenkomplexes ist eine detailliertere Auswertung, um die Lage der Schallquelle zu bestimmen. Hier finden sich Nervenzellen, die nur bei bestimmten Intensitätsunterschieden oder nur bei bestimmten Zeitverzögerungen aktiv werden. Eine zusätzliche Qualität erfährt diese Analyse der externen Reizquelle durch die weiter oben im Hirnstamm liegenden unteren Hügel (Colliculi inferiores). Dabei wird hier ermittelt, inwieweit sich die Geräuschquelle im Raum bewegt und soweit möglich, in welche Richtung diese Bewegung erfolgt? Das neuronale Ortungssystem im Gehirnstamm, das Schallquellen im Raum lokalisiert, arbeitet somit parallel mit verschiedenen Aspekten der eingehenden Signale: Zeitverzögerung, Klang und Lautstärke. Spielt man Versuchspersonen über Kopfhörer Töne vor, die für jedes Ohr individuell angepasst werden, so wird ein Ton auf einer der beiden Seiten lokalisiert, sobald er mehr als ein dB lauter ist als der gleichzeitig gegebene Vergleichston. Eine Verzögerung des Tons auf einer Seite um 0,00001 Sekunden reicht aus um den Eindruck zu erzeugen, dass die dazugehörige Schallquelle leicht seitlich der Mittellinie liegt. Dieser simulierte Raumeindruck lässt sich jedoch dadurch neutralisieren, dass man den zweiten Ton lauter macht als den ersten. Dies macht
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deutlich, dass es sich bei der Reizquellenlokalisation um einen komplexen Prozess handelt, der auf mehrere Komponenten des akustischen Geschehens zurückgreift und diese zu einem einzigen Output integriert. Das Ergebnis dieser Auswertungen wird dann an die benachbarten oberen Hügel (Colliculi superiores) weiter geleitet. Hier laufen Informationen sowohl aus dem akustischen, als auch aus dem optischen und dem taktilen Sinnessystem zusammen. Neben der Lokalisation visueller Stimuli und einer Kontrolle der Augenbewegung wird hier eine interne Karte der Körperoberfläche und des umgebenden Raumes erstellt. Die ursprünglich von den Sinneszellen des Ohres ausgegangenen Nervenimpulse enden schließlich im primären auditorischen Kortex, einem Bereich der Großhirnrinde, der sich symmetrisch auf den Temporallappen beider Seiten des Gehirns befindet. Von Außen liegt diese Region drei bis vier Zentimeter vom Oberrand der Ohren entfernt, schräg nach hinten unter der Schädeldecke. Dabei befindet sich jedoch nur ein Teil dieses Areals auf der Außenseite des Gehirns während der Rest in einer Falte des Temporallappens liegt. Ein großer Teil der internen Aktivität des primären auditorischen Kortex besteht aus gegenseitiger Hemmung der dort angesiedelten Nerven: Die Neurone, die starke Eingangssignale erhalten, hemmen Zellen, die vergleichsweise weniger stimuliert werden. Auf diese Weise wird der zentrale Gehalt der eingehenden akustischen Information herausgearbeitet. Stör- und Hintergrundgeräusche werden so aus der weitergehenden Verarbeitung eliminiert, die im angrenzenden sekundären auditorischen Kortex stattfindet. Untersuchungen deuten darauf hin, dass darüber hinaus bei rund 85 Prozent der Neuronen des primären auditorischen Kortex ein als Habituation (Gewöhnung) bezeichnetes Verhalten zu beobachten ist: Je länger diese Zellen mit dem gleichen Reiz stimuliert werden, desto weniger reagieren sie. In der Konsequenz bedeutet dies, das die Verarbeitung primär auf die Wahrnehmung neuer Reize ausgerichtet ist, während die Signale konstanter und daher informationell uninteressanter Stimuli zu einem hohen Maße aus dem weiteren Prozess eliminiert werden. Gleich den Nervenkernen im Stammhirn, findet sich hier eine räumliche Aufteilung nach Frequenzen – ähnlich einer tonalen Kartierung. Die Zellen der verschiedenen Bereiche sprechen dabei jeweils selektiv auf Stimuli bestimmter Tonhöhen an. Zur weiterführenden Analyse werden die aufbereiteten Nervensignale an den sekundären auditorischen Kortex weiter geleitet, der den primären auditorischen Kortex umgibt. Im Zuge zunehmender analytischer Komplexität sind die Neuronen dieses Areals auf die Untersuchung der Beziehungen mehrerer Töne ausgerichtet. Wenn es sich bei dem gegebenen Stimulus um Musik handelt, lässt sich zudem ein lateraler Unterschied in der Zuständigkeit ausmachen. Dem sekundären auditorischen Kortex der rechten Gehirnhälfte
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obliegt schwerpunktmäßig die Verarbeitung simultaner Klänge und die harmonische Analyse des Gehörten. Der Verarbeitungsschwerpunkt des linksseitig gelegenen Pendants ist dagegen auf die temporäre Abfolge des Gehörten ausgerichtet, was impliziert, dass dieser Bereich zentral Areal für die Wahrnehmung und den Nachvollzug von Melodien ist.
Verstehen „Soziale und kulturelle Prozesse während der Ontogenese erzeugen keine kognitiven Grundfähigkeiten. Stattdessen verwandeln sie diese Grundfähigkeiten in äußerst komplexe und verfeinerte kognitive Fähigkeiten.“ (Michael Tomasello114)
Für den Alltag des Menschen viel wesentlicher ist die Aufarbeitung komplexer Klänge, die im sekundären auditorischen Kortex stattfindet und auf die Verständnis ermöglichende Analyse von Sprachlauten spezialisiert ist. Diese selektive Ausrichtung auf für die verbale Kommunikation relevante Schallphänomene ist keine exklusive Eigenschaft des menschlichen Gehirns, sondern findet sich auch bei Affen. Treten in diesem Bereich Läsionen (Unterbrechungen der Nervenbahnen) auf, werden Sprachlaute nicht mehr verstanden, obwohl die akustische Unterscheidungsfähigkeit in keiner Weise gestört ist – gleiche Ausfälle führen bei Affen zu Störungen beim Erkennen arttypischer Lautäußerungen. Dass es sich bei der neuronalen Aufbereitung von akustischen Stimuli um ein hoch konstruktives Erschließen des Schalls handelt, lässt sich an Hand der kulturübergreifenden Oktavengleichheit115 in der Musik exemplifizieren. Der Begriff Oktavengleichheit verweist darauf, dass Menschen zwei Töne unterschiedlicher Tonhöhe als prinzipiell gleichartig empfinden, wenn die Frequenz des Oberen ein Zwei- oder Vierfaches oder ein weiteres 2n-faches des Unteren ist. Diese klangliche Identität physikalisch nicht identischer Ereignisse ist ein Resultat der neuronalen Aufarbeitung der eintreffenden Reize. Zwar lässt sich feststellen, dass der vorliegende Gleichartigkeitseindruck mit einer sehr präzisen mathematischen Beziehung der beteiligten Tonfrequenzen einhergeht – aus dieser physikalischen Entsprechung folgt jedoch in keiner Weise zwingend eine Gleichheit im Erleben.
114 Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, S. 220. 115 Vgl. Spitzer: Musik im Kopf, S. 83.
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Bei der auditiven Verarbeitung handelt es sich um einen modularen und gestuften Prozess, der die Beteiligung verschiedener Verarbeitungsareale beinhaltet. Das wird ebenfalls deutlich anhand der Dauer, mit der ein Reiz einwirken muss, um verschiedene Qualitäten von Urteilen zu erlauben: Ein Klang muss nur eine tausendstel Sekunde zu hören sein, um wahrgenommen zu werden. Dass es sich um zwei aufeinander folgende Töne handelt wird erfasst, sobald der Abstand zwischen diesen mehr als zwei Millisekunden beträgt. Die Tonhöhe wird erst ab einer Dauer von mindestens dreizehn Millisekunden wahrgenommen, während die Lautstärke fünfzig Millisekunden braucht um ins Bewusstsein vorzudringen. Mindestens doppelt so lange, also hundert Millisekunden oder mehr, sind notwendig bis sich ein erster Eindruck der Klangfarbe des dargebotenen Stimulus bildet.116 Die Empfindlichkeit des menschlichen Ohres ist dabei im Frequenzbereich zwischen 3000 und 4000 Hz am größten – ein Charakteristikum, das eine Anpassung an die informationell ergiebigsten Ereignisse darstellt, da die Laute der menschlichen Sprache in diesen Bereich fallen.117 Während es im vorhergehenden Kapitel möglich war, Sinnestäuschungen zu präsentieren, die die Beschaffenheit des neuronalen Verarbeitungsprozesses aufzeigen, versagt das Medium Buch bei der Darstellung gleichartiger Erscheinungen im Bereich der akustischen Wahrnehmung. Gleichwohl ist eine Anzahl von Phänomenen bekannt, die parallel zum gut eingeführten Begriff der optischen Sinnestäuschung als akustische Sinnestäuschungen zu klassifizieren sind. Gleich ihren visuellen Pendants geben sie Einblick in die Spezifika der stattfindenden Verarbeitungs- und Analysevorgänge. In einem klassischen Versuch werden Versuchspersonen mit Hilfe von Kopfhörern zwei Melodien gleichzeitig vorgespielt: eine dem rechten und eine dem linken Ohr. Es handelt sich um Töne gleicher Dauer, Intensität und Qualität. Wie nicht anders zu erwarten, registrieren die ungleich stereophon Beschallten sehr wohl, dass es sich um zwei unterschiedliche Tonfolgen handelt. Auch sind sie in der Lage anzugeben, was jedes Ohr gehört hat oder glauben dies zumindest. Anstatt der mehrfach auf und ab führenden Intervalle, die jedes Ohr hört, entsteht jedoch der Eindruck, dass es sich auf einer Seite um eine erst ab- und dann wieder ansteigende Reihung von Tönen handelt, während dem anderen Ohr eine genau umgekehrt beschaffene Reizfolge präsentiert wird. Abbildung 12 stellt die als Stimuli gegebenen Tonfolgen und deren abweichende Wahrnehmung gegenüber. Der vom Stimulus deutlich unterschiedene subjektive Eindruck verweist darauf, dass auch die mit der Verarbei-
116 Vgl. Jourdain: Das wohltemperierte Gehirn, S. 181. 117 Vgl. Gegenfurtner: Gehirn & Wahrnehmung, S. 32.
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tung auditiver Stimuli beschäftigten Gehirnareale primär auf die Suche nach sinnvoll erscheinenden Umweltinformationen ausgerichtet sind. Dies bedeutet: Die mit der Verarbeitung von Schall beschäftigten Areale erbringen im Rahmen ihrer der Orientierung des Organismus dienenden Tätigkeit nicht so sehr eine Abbildungsleistung sondern eine Konstruktions- beziehungsweise Interpretationsleistung. Ins Bewusstsein dringt somit nicht zwangsläufig ein Repräsentat, das einen gegebenen Stimulus abbildet, sondern ein Hörerlebnis, das ein von den neuronalen Verarbeitungsmechanismen als wahrscheinlich erachtetes Stimulusgefüge rekonstruiert. Die hochartifiziellen Stereoreize, die im geschilderten Experiment verwendet wurden, zeigen deshalb, in welch massiver Weise sich die neuronalen Mechanismen des Hörens mitunter auf die Repräsentation gegebener Stimuli auswirken – im gegebenen Fall handelt es sich um eine hochkomplexe aber ebenso wirklichkeitsverzerrende Auswertung der ursprünglichen Reize.
Abbildung 13: Die Tonleitertäuschung (nach Jourdain 1998, 307)
Die auditive Verarbeitung ist – gleich ihrem visuellen Pendant – in ihrer Rekonstruktion des Stimulusinputs nicht auf bloße Abbildung, sondern auf die Suche nach für den Organismus relevanten Informationen angelegt, was auch andere Beobachtungen deutlich machen. Führt man in Melodien zufällig ausgewählte Töne ein, so führt dies, zumindest wenn die Tonfolgen schnell gespielt werden, nicht zu deren Unkenntlichwerden. Versuchspersonen ist es meist ohne Probleme möglich, die entstellten Melodien zu erkennen.118 Dies deutet darauf hin, dass Melodien nicht Ton-für-Ton analysiert werden, sondern dass die Aufarbeitung des gegebenen Stimulus vielmehr auf das Erfassen eines Gesamtbildes oder etwas, was man als tonale Kontur bezeichnen könnte, zielt.
118 Vgl. Jourdain: Das wohltemperierte Gehirn, S. 113.
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Die Konstruktion der (Um)Welt „Jede Kognition ist eine Interpretation, d. h. jede Verstehensleistung stiftet auch Sinn.“ (Vinzenz Hediger119)
Deutlich wird die permanente Suche der auditiven Teile des Gehirns nach informationell bedeutsamen Ereignissen auch anhand des Phänomens, dass künstlich erzeugte Obertöne das Erleben eines nicht vorhandenen Grundtons zur Folge haben: Nehmen wir an, wir hören Sinustöne der Frequenzen 820,1020 und 1220 Hz. Das Gehör interpretiert dieses Gemisch aus Frequenzen nicht als drei verschiedene (Sinus-)töne, sondern als einen Ton, wobei es als Grundton 204 Hz annimmt, denn hierzu passen die tatsächlich vorhandenen Frequenzen einigermaßen als vierter, fünfter und sechster Oberton (816, 1020 und 1224 Hz). Wir hören also einen Ton von 204 Hz, obwohl unser Trommelfell gar nicht mit diese Frequenz schwingt. Wir machen uns den Grundton als beste „Erklärung“ dessen, was am Trommelfell geschieht.120 Das scheinbar Unmittelbare jeglichen Hörerlebnisses ist somit trügerisch und kann, in der Analyse dieses Vorgangs, als Beleg für die Leistungsfähigkeit der dahinter stehenden Verarbeitungsmechanismen genommen werden. Diese sind darauf ausgelegt, Ereignisse in der Umwelt des Organismus zu identifizieren und zu lokalisieren, wie an einem weiteren Experiment deutlich wird: Wird ein zuvor gleich bleibender Ton plötzlich lauter, so wird dies nicht als Lautstärkenzunahme wahrgenommen, sondern als ein zweiter, zusätzlicher Ton. Wird die Lautstärke dagegen langsam erhöht, entsteht – wie zu erwarten – der Eindruck eines langsam lauter werdenden Tons. Dieser Unterschied im Erleben weist auf einen inhärenten Bewertungsmechanismus in der auditiven Verarbeitung hin, der graduelle Veränderungen als Kontinuitäten interpretiert, sprunghaft diskontinuierliche Stimulusentwicklungen jedoch als separate Ereignisse. Der evolutionär entstandene Verarbeitungsalgorithmus hinter diesem Phänomen ist: „Die Natur macht keine Sprünge, wenn also ein Ton plötzlich lauter und dann wieder plötzlich leiser wird, dann handelt es sich am ehesten um einen zweiten Ton.“121
119 Hediger: „Des einen Fetisch ist des anderen Cue“, S. 53. 120 Spitzer: Musik im Kopf, S. 109. 121 Spitzer: Musik im Kopf, S. 122.
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Das Gehör ist in seiner neuronalen Verarbeitung primär nicht auf ein bloßes Abbilden der Umweltreize ausgelegt, sondern auf aktives Suchen nach potentiell relevanten Informationen. Spielt man z. B. Versuchspersonen einen Ton vor, der von zeitweiligem Rauschen unterbrochen wird, so hören die Probanden den Ton auch in den Phasen bloßen Rauschens. Bei einem unterbrechungsfreien Übergang vom tonalen Stimulus zum Störgeräusch des Rauschens produziert die auditive Verarbeitung einen Kontinuitätseindruck für den abwesenden Reiz, der auch dann erhalten bleibt, wenn die Versuchspersonen wissen, dass sie keinen Ton hören können. Diese Illusion bricht jedoch zusammen, wenn das Rauschen nicht unmittelbar an den zuvor zu hörenden Ton anschließt. Dies legt einen Mechanismus nahe, der für die Identifizierung auditiv bestimmbarer Einheiten in der Umwelt auch unter schwierigen Bedingungen verantwortlich ist.122 Die Modularität der Verarbeitung von Hörereignissen tritt jedoch nicht nur im Zusammenhang mit einfachen Aspekten des Stimulusmaterials zutage. Wie schon erwähnt, kann durch neuronale Schädigungen, die nicht das Hören an sich betreffen, die Wahrnehmung von Sprache gestört sein. Neben einer generellen Unfähigkeit Sprachäußerungen zu verstehen, lassen sich sehr spezifische Ausfälle beobachten. Gesprochene Sprache vermittelt neben den Worten die Identität, das Alter, das Geschlecht und die Befindlichkeit eines Sprechers sowie den emotionalen Gehalt seiner Äußerung. Das Erkennen solcher paralinguistischen, nonverbalen Klangmerkmale der gesprochenen Sprache kann selektiv gestört sein.123 Bei Oliver Sacks findet sich eine sehr eindruckvolle Schilderung einer Patientin, die in dieser Weise blind für die Sprachmelodie geworden ist – ein Analysepotential, das vor allem in den Zentren der rechten Gehirnhälfte lokalisiert ist. Er schildert hier auch Patienten, denen selektiv die worterkennenden Verarbeitungsfähigkeiten der linken Gehirnhälfte fehlen. Die in ihrer Wahrnehmung eingeschränkten Menschen beziehen in der Folge ihr Verständnis von sprachlichen Äußerungen zur Gänze aus deren Melodie- und Klangcharakter. Eine Kompensation, die so leistungsfähig ist, dass der vorliegende Ausfall mitunter nur schwer diagnostiziert werden kann.124 Neuere Untersuchungen wiesen auf weitere Differenzierungen in der auditiven Verarbeitung hin: „Inhalts-
122 Hoffman: Visuelle Intelligenz, S. 176. 123 Engelien: „Auditive Agnosien“, S. 143. 124 Vgl. Sacks: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verweckselte, S. 115ff.
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wörter und Funktionswörter scheinen in zwei anatomisch getrennten Gebieten des Kortex verarbeitet zu werden.“125 Den zutiefst konstruktivistischen Charakter des Hörens – dass nicht gehört wird, was außerhalb des eigenen Körpers ist, sondern dass in komplexer Weise konstruiert wird, was außerhalb des Körpers sein könnte – veranschaulicht Manfred Spitzer in einem „Gedankenexperiment“126. Mit Hilfe zweier Ohren die Schwingungen der Luft zu nutzen, um das Was, Wie und Wo von schallgenerierenden Vorgängen in der Umgebung des Organismus zu rekonstruieren, gleicht der Situation, anhand der Wellen in zwei Ausläufern eines Sees das Geschehen auf dessen Oberfläche erfassen zu wollen. Es bedarf hoch komplexer Verrechnungsmechanismen, um von den direkt feststellbaren Bewegungsphänomenen – dem Schwanken des Wasserspiegels – auf die Geschehnisse, die ursprünglich hinter diesen Erscheinungen stehen, zurück zu schließen. Gleiches trifft für den Hörsinn zu. Die eintreffenden Luftdruckschwankungen haben per se keine Bedeutung, sondern erlangen diese erst durch eine aufwendige Aufarbeitung, von der nur das Endergebnis zum bewussten Erlebnis wird. Wichtig ist, gerade im Zusammenhang mit dem medialen Einsatz von Tönen, Klängen und Geräuschen, dass vom Gehörsinn eine sehr intensive Verbindung zu den Emotionszentren des limbischen Systems besteht. Matthias Keller hat in seinem Buch über den Sound im Kino die funktionale Arbeitsteilung zwischen den Sinnesorganen in Bezug auf Leinwanddarbietungen wie folgt beschrieben: „Die ‚Fühlarbeit‘ (im Unterschied zur Denkarbeit des Auges) leistet im Film das Ohr.“127 Geschehnisse werden somit nicht in einem neutralen Sinne wahrgenommen, um diese dann zu bewerten. Akustische Eindrücke wirken vielmehr direkt auf die subkortikalen Gehirnzentren, die für den Gefühlszustand eines Individuums und dessen Bewertung einer Situation verantwortlich sind. Dabei wirken sowohl Sprache, als auch Geräusche und alle Arten von Klängen, wobei man in besonderer Weise das Kulturprodukt Musik erwähnen muss. Steven Pinker geht in diesem Zusammenhang so weit, Musik als „auditory cheesecake“128 zu bezeichnen. Zwar sind die individuellen Vorlieben sehr unterschiedlich, dennoch lässt sich feststellen, dass die richtige Musik das Belohnungszentrum im Gehirn ihres Hörers aktiviert, wie es sonst wohlschmeckende Nahrungsmittel oder Drogen tun. Im Fall der berühmten Gänsehaut, die mit bestimmten Musikstücken oder auch einzelnen Passagen
125 Friederici: „Neurobiologische Grundlagen der Sprache“, S. 371. 126 Spitzer: Musik im Kopf, S. 49. 127 Keller: Stars and Sound, S. 27. 128 Pinker: How the mind works, S. 534.
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verbunden sein kann, geht dieser Zustand mit einem ganz spezifischen „Aktivierungs-, bzw. Deaktivierungsmuster im Gehirn“129 einher. Bei der Musik ist gegenwärtig nicht abschließend geklärt, wie dieses Kulturphänomen durch evolutionär entstandene Auswertungsmechanismen erklärt werden kann. Zwar weiß man, dass auch hier eine Arbeitsteilung zwischen den Hirnhemisphären besteht – Klang und Harmonien werden rechts verarbeitet, Melodien links – unklar ist jedoch, welche Verarbeitungsmodule dabei genutzt werden. Dass auch diese Verstehensleistung an das Gefüge der modular organisierten Hörprozesse geknüpft ist, wird anhand einer neurologischen Störung deutlich. Im Fall einer Amusie sind die davon Betroffenen außerstande Musik zu verstehen, wobei jedoch gleichzeitig Sprachverständnis und andere Gehörleistungen von diesem Ausfall unberührt sein können. Das Hören, so lässt sich diese kurze Darstellung dieser Sinnesmodularität zusammenfassen, ist gleich den anderen Sinnen ein biologisches Geschehen, das auf die Gewinnung von relevanten Informationen aus der Umwelt angelegt ist. Diese evolutionär entstandene Ausrichtung auf Relevanz ist ein Anpassungsphänomen, das eine aktive Rekonstruktion und vorbewusste Interpretation der eintreffenden Stimuli umfasst.
Unterschiede: Nichtmediales und mediales Welterleben „Modern media now engage old brains. People can’t always overcome the powerful assumption that mediated presentations are actual people and objects. There is no switch in the brain that can be thrown to distinguish the real and mediated worlds. People respond to simulations of social actors and natural objects as if they were in fact social, and in fact natural.“ (Byron Reeves/Clifford Nass130)
Das Unterscheiden zwischen Medien, deren Inhalten und einer nichtmedialen Realität hat eine lange Tradition. Es bestehen dabei unterschiedliche Konzepte, in welcher Weise diese Bestandteile der Umwelt des modernen Menschen getrennt werden. In der Literatur finden sich sowohl quantitativ als auch qualitativ ausgerichtete Unterscheidungen.131 Die wahrscheinlich stärkste und prägnanteste Akzentuierung erfährt eine derartige Distinktion in dem Begriff der Realität, dem eine Medienrealität gegenüber gestellt wird. 129 Spitzer: Musik im Kopf, S. 187. 130 Reeves/Nass: The Media Equation, S. 12. 131 Vgl. Schwan/Hesse: „Kognitionspsychologische Grundlagen“, S. 82.
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Es ist wichtig an dieser Stelle anzumerken, dass im Zusammenhang mit einer solchen Dichotomie die Definition des Medienbegriffs nebensächlich ist. Gleich welcher der Begriffe des Mediums verwendet wird, stets resultiert aus der Summe der geschiedenen Phänomene die gleiche Gesamtheit lebensweltlicher Erscheinungen und Geschehnisse. Eine nähere Analyse der Potentiale einer Realität/Medienrealität-Unterscheidung zeigt, dass diese epistemisch vor allem im Kontext pragmatisch-heuristischer Auseinandersetzungen mit spezifischen Aspekten von Medienfragen sinnvoll ist. Im vorliegenden Zusammenhang wird der Medienbegriff – wie schon an anderer Stelle ausgeführt – in einer technologisch basierten Variante verwendet. Mit ihm wird auf die Klasse technischer Gerätschaften und deren Inhalte verwiesen, die als Massenmedien bezeichnet werden. Jeglicher Anspruch, dass diese das prinzipielle Verhältnis des Menschen zur Realität verändern oder dass ein kategorialer Unterschied zwischen Realität und Medienrealität besteht, impliziert die Annahme eines grundsätzlichen Wandels in der neuronalen Verarbeitungsweise des Gehirns, die den Realitätsbezug des Menschen generiert – eine kausale Kopplung, die durch empirische Daten nicht belegt werden kann. Diese bedeutet nicht, dass Medien nicht an einer Vielzahl ontogenetischer Veränderungs- und Lernvorgänge beteiligt sind. Derartige Modifikationen beruhen jedoch auf dem plastischen Potential der stammesgeschichtlich alten neuronalen Verarbeitungsmechanismen – was in der Folge bedeutet, dass Medien sehr wohl Veränderungen im quantitativen Welterleben bedingen können, aber keine gänzlich neuen Qualitäten einführen.
Abgrenzungskonzepte: Realität – Medienrealität „Watching TV is our form of participating in civic groups because we do not really know that we are not participating in them.“ (Satoshi Kanazawa132)
Der quantitative Ansatz zur Abgrenzung von Medien und Nichtmedien im Kontinuum der Lebenswelt geht von einer unterschiedlichen Häufigkeit von Stimuli aus. In den Worten von Friedrich Hesse und Stephan Schwan: Medien zeichnen sich gegenüber natürlichen Umgebungsreizen durch eine besonders hohe Informationsdichte aus – man denke etwa an die Vielzahl von Berichten allein in der Ausgabe einer einzelnen Tageszeitung, an die umfangreichen Kapitel eines Lehrbuchs oder an die dich132 Kanazawa: „Bowling with Our Imaginary Friends“, S. 171.
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te Abfolge von Sendungen und Beiträgen, die täglich von den verschiedenen Fernsehsendern ausgestrahlt werden.133 Die Informationsdichte, auf die hier verwiesen wird, ist dabei kein inhärentes Phänomen der Medientechnik, sondern ein Ergebnis marktorientierter Produktionsvorgänge. Inhalte wie Nachrichten oder Spielfilme werden lieber konsumiert als statische Inhalte, wie zum Beispiel ein Testbild. Eine quantitative Unterscheidung von Medien und deren Umwelt bedient sich eines anthropologischen Informationsbegriffs, der sich von einem rein technischen Verständnis dieses Terminus deutlich unterscheidet. Im Zentrum dieser Sicht steht kein logisch-formaler Informationsbegriff, sondern eine Differenzierung medialer Inhalte nach dem Maßstab potentieller menschlicher Aufmerksamkeit. Medien zeichnen sich demgemäß vor allem dadurch gegenüber der nichtmedialen Umwelt aus, dass sie ein Mehr an aufmerksamkeitsgenerierenden Inhalten präsentieren. Die Informations-Definition von Gregory Bateson aufgreifend – „the difference that makes a difference“134 – lässt sich feststellen, dass Menschen nicht an allen möglichen Unterschieden gleichermaßen interessiert sind. Die Beschreibung von Medien als exzeptionell informationsdicht kann somit nur als eine Annäherung an die zentrale Charakteristik dieser Klasse von Kommunikationswerkzeugen gesehen werden. Der zweite Ansatz, Medien und deren Bezug zur menschlichen Wahrnehmung der Welt in Form einer Abgrenzung zu beschreiben, bedient sich einer qualitativen Unterscheidung: Medien bedeuten nicht nur ein Mehr an verfügbarer Information, sondern besitzen gegenüber unmittelbarer Umgebungsinformation grundsätzlich auch einen qualitativ anderen Status. Denn Medien beruhen auf dem Gebrauch von Zeichen, die auf etwas außerhalb des Zeichens Liegendes verweisen, es also repräsentieren. Die Zeichen operieren dabei nicht isoliert, sondern sind jeweils Bestandteil eines spezifischen Zeichensystems, das nach bestimmten Prinzipien organisiert ist [...] 135 Der fundamentale Unterschied, den diese Definition betont, beruht darauf, dass mediale Inhalte als Repräsentate gesehen werden – eine Charakteristik, die anderen Umweltelementen, aus dieser Sicht, nicht zukommt.
133 Schwan/Hesse: „Kognitionspsychologische Grundlagen“, S. 82. 134 Bateson: Mind and nature, S. 99. 135 Schwan/Hesse: „Kognitionspsychologische Grundlagen“, S. 76.
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Dieser durchaus plausible Ansatz zur qualitativen Abgrenzung des Medienerlebens weist eine problematische Schwäche im Gebrauch des Repräsentationsbegriffs auf. Menschliches Welterleben entsteht, wie in den vorangehenden Abschnitten ausgeführt, durch einen hochkonstruktiven Prozess sensorisch-neuronaler Verarbeitung, an dessen Ende ein bewusst wahrnehmbares Repräsentat der jeweiligen Umwelt steht. Die für den Medienzusammenhang exklusiv beanspruchte Repräsentationalität ist angesichts dieser beständig ablaufenden Verarbeitungsprozesse nicht zu halten. Das als exklusiv für die Medien postulierte Charakteristikum der Repräsentationalität ist kein qualitatives Unterscheidungsmerkmal, sondern ein Bestandteil jeglicher Wahrnehmungsprozesse. Der immanente Verweischarakter medialer Repräsentationsprozesse, dass zum Beispiel eine Fernsehsendung einen Teil der Welt darstellt, der jeglichem direkten sensorischen Zugang entzogen ist, ist nicht geeignet eine qualitative Alleinstellung der Medien zu begründen. Schon in der fernen, von technischen Medien freien, Vergangenheit, erfüllte ein Teil der Kommunikation unserer Spezies genau diese Funktion. Wie Chris Knight unter der Überschrift Apes: too clever for words?136 darlegt, war gerade die Integration einer solchen Verweisfunktion – eine für den Adressaten über das unmittelbar Verifizierbare hinausgehende symbolische Repräsentation – der entscheidende Schritt in der Weiterentwicklung von der äffischen zur menschlichen Kommunikation. Ein repräsentationaler Bezug auf nichtpräsente Dinge oder Vorgänge ist somit kein durch die technischen Medien neu eingeführtes Element im Umgang mit der Welt, sondern die technologische Inanspruchnahme eines stammesgeschichtlich seit langem vorhandenen Grundpotentials menschlicher Kommunikation. Siegfried J. Schmidt hierzu: Statt also einschichtig zwischen ‚Realität‘ und ‚Medienrealität‘ unterscheiden und deren Verhältnis nach dem Muster wahrer oder falscher Abbildungen bestimmen zu wollen, sollte man genauer auf die jeweiligen konstruktiven Prozesse und ihre empirischen Konditionierungen achten.137 Der Gebrauch repräsentationaler Konzepte in der Aufarbeitung von Sinnesdaten im Sinne eines neurobiologischen Konstruktivismus ist dabei weit älter, als das kommunikative Werkzeug Sprache. Aus Aktivierungsmustern von Rezeptorzellen der Netzhaut oder von der Beschaffenheit der mechanischen Auslenkung der Hörsinneszellen auf ein Ereignis im Raum zu schließen, bein136 Knight: „Ritual/speech coevolution“, S. 72. 137 Schmidt: „Die Wirklichkeit des Beobachters“, S. 18.
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Medien – Gehirn – Evolution
haltet unausweichlich die Konstruktion einer kausalen Verknüpfung unterschiedlicher Ereignisse. In einem semantisch anspruchsvolleren Sinne findet sich repräsentationales Schließen im Rahmen sozialer Interaktion. Jedes Verstehen eines nonverbal ausgedrückten Gemütszustandes nutzt die hoch entwickelte Fähigkeit, von äußeren Anzeichen auf innere Zustände zu schließen. Eine Geste oder ein Gesichtsausdruck wird im Sinne einer leistungsfähigen Repräsentationalität nicht als bloße Bewegung von Körperteilen oder -regionen gesehen, sondern als Ausdruck von Wollen, Fühlen und Befinden. Wie zentral und kompliziert dieses System ist, wird an den Schwierigkeiten deutlich, die hochfunktionale Autisten, denen genau diese Fähigkeit fehlt, im Umgang mit nicht verbalen kommunikativen Signalen haben. Repräsentationalität ist somit keine durch die Medien neu eingeführte Qualität in der menschlichen Wahrnehmung der Welt. Die Inhalte, die auf diese Weise dargeboten werden und die auf reale und fiktionale Referenzpunkte verweisen, werden von evolutionär alten und damit vormedial entstandenen Mechanismen verarbeitet. Die beeindruckende und zum Teil explosionsartige Entwicklung der Medien in den letzten Jahrhunderten darf aus diesem Grund nicht mit der Entstehung gänzlich neuer, bewusster oder auch unbewusster Verarbeitungsformen des menschlichen Erkenntnisvermögens verwechselt werden. Die historisch vergleichsweise neue, sehr bedeutende Klasse massenmedialer Umweltereignisse bedingt auf der Rezipientenseite keine gänzlich neuen Wahrnehmungsweisen, sondern Rezeptions-, Veränderungs- und Lernprozesse eines in seiner Beschaffenheit konservativen und modularen Systems zur Reiz- und Informationsverarbeitung.
Verarbeitungskontinuität „Even in a lifelong couch potato, the visual system never ‚learns‘ that television is a pane of glowing phosphor dots, and the person never loses the illusion that there is a world behind the pane.“ (Steven Pinker138)
Neue Medien bedingen keine neuen Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesse. Sie sind in ihrer Verarbeitung und damit auch Wirkung von der Kontinuität evolutionär gewachsener Mechanismen bestimmt, das zeigt exemplarisch eine Reihe von Experimenten von Byron Reeves und Clifford Nass139. Der Grundansatz der Untersuchungen war, dass Menschen als rationale Wesen bestimmte 138 Pinker: How the Mind Works, S. 29. 139 Reeves/Nass: The Media Equation.
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Teil 3: Der Rahmen der Medien – der sensorisch-neuronale Weltbezug des Menschen
Verhaltensweisen nicht an den Tag legen sollten, wenn der Interaktionspartner ein Computer ist. In einem Experiment hatten Versuchspersonen eine bestimmte Aufgabe an einem Computer zu lösen. Im Anschluss daran wurde ihnen, entweder auf dem gleichen Computer oder auf einem anderen Rechner, eine Reihe von Fragen präsentiert, wie gut ihnen der Computer beim Erfüllen ihrer Aufgabe geholfen hat? Hintergrund dieses Versuchs ist die im sozialen Umgang von Menschen zu beobachtende Rücksichtnahme. Die Leistung eines Menschen wird signifikant besser beurteilt in einer Stellungnahme, die sich an diesen selbst wendet, im Vergleich zu möglichen anderen Adressaten. Im Falle eines rationalen Akteurs stände zu erwarten, dass ein solches, sozial nachvollziehbares und sinnvolles Verhalten, zwar gegenüber menschlichen Interaktionspartnern gezeigt wird, nicht jedoch gegenüber technischen Geräten. In früheren Versuchsanordnungen hatte sich jedoch herausgestellt, dass Menschen keinen derartigen Unterschied machen in ihrem Verhalten. Die Hypothese war somit in diesem Fall, dass die abschließende Beurteilung durch die Versuchspersonen deutlich besser ausfällt, wenn diese auf dem Computer abgegeben wird, auf dem auch die Aufgabe ausgeführt worden war. „As predicted, the participants who answered questions on the same computer gave significantly more positive responses than did participants who answered on a different computer. The computers got the same treatment that people would get. The respondents who interacted with the same computer throughout the experiment rated it more positively on twenty of the twenty-two adjectives presented.140 Diese signifikanten Unterschiede in der Bewertung korrespondieren dabei nicht mit einem Bewusstsein für derart unterschiedliche Handlungsweisen: „What did the participants themselves think about these results? When we told them what we predicted (after the experiment was over, of course), all of them said confidently that they did not, and never would, change their evaluations just to be polite to a computer. From these comments, we concluded that social responses to media were unconscious and automatic.141 Die Reaktionen der Versuchspersonen auf die Ergebnisse der Studie, an der sie selbst beteiligt waren, zeigen, dass der subjektive Zugang und die Einschätzung eigener Verhaltensweisen in direktem Widerspruch zu empirischen Ergebnis140 Reeves/Nass: The Media Equation, S. 24. 141 Reeves/Nass: The Media Equation, S. 24.
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sen stehen kann. Selbstbeobachtungen beziehungsweise durch Introspektion gewonnene Einsichten in Bezug auf den Umgang mit Medien können deshalb nicht als unmittelbar verlässliche Wissensquellen dienen. Die Erklärung, die Reeves und Nass für das von ihnen beobachtete Phänomen liefern, greift auf die evolutionär entstandene Anpassung der Verarbeitungsmechanismen des menschlichen Gehirns zurück: „The human brain evolved in a world in which only humans exhibited rich social behaviors, and a world in which all perceived objects were real physical objects. Anything that seemed to be a real person or place was real.“142 Diese Fassung der kausalen Ursache für das beobachtete Verhalten verweist auf einen zentralen Unterscheidungsmechanismus, der Objekten in der Umwelt auf Grund ihrer Erscheinung und Dynamiken personale Qualitäten zuordnet oder auch nicht – ein Mechanismus, der im Kontext moderner Mediengesellschaften eine kategorienscheidende Trennschärfe vermissen lässt. Aus dieser Erklärung und den zugrunde liegenden Versuchen folgt: „strong evidence for the psychological equivalence of real and mediated worlds.“143 Der schon angeführte Anthropologe Pascal Boyer spricht in diesem Zusammenhang von ontologischen Kategorien, die dem menschlichen Umgang mit der Welt zugrunde liegen. Diese erlauben eine strategische Einteilung der Welt in Klassen unterschiedlicher kausaler Bedeutung.144 Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, ob es sich bei etwas um ein bloßes Ding oder um eine intentional agierende Einheit handelt. Dass die zweite Kategorie nicht exklusiv auf Menschen angewandt wird, zeigt ein bereits erwähntes Experiment auf das Boyer verweist: Zwei unterschiedliche Farbpunkte auf einem Bildschirm rufen, solange sie sich nicht bewegen, keine weiterführenden Interpretationen hervor. Werden diese Punkte in Bewegung versetzt, so dass einer von ihnen sich unregelmäßig über die gegebene Fläche bewegt und der andere diesem folgt, wobei Bahn und Abstand in gewissem Maße variieren, ergibt sich ein vollkommen anderer Eindruck bei möglichen Beobachtern. Ihr Eindruck von dem Geschehen ist, dass der eine Punkt versucht dem anderen zu entkommen, der ihn beständig verfolgt. Die Art und Weise, wie zwei Lichtpunkte auf einem Bildschirm bewegt werden, vermittelt spontan das Gefühl, dass es sich um zwei sich intentional verhaltende Objekte handelt – der eine Punkt will entkommen, während der andere ihn fangen oder zumindest einholen will. Dieses Zuschreiben von Zielen, Wünschen und Absichten, das im sozialen Umgang normal ist und auch
142 Reeves/Nass: The Media Equation, S. 12. 143 Reeves/Nass: The Media Equation, S. 82. 144 Vgl. Boyer: Und Mensch schuf Gott, S. 121.
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Teil 3: Der Rahmen der Medien – der sensorisch-neuronale Weltbezug des Menschen
für die medialen Repräsentationen von Menschen sinnvoll ist, wird hier intuitiv auf sich unregelmäßig bewegende Objekte angewandt. Diese Zuordnung muss als Ergebnis der von Boyer postulierten evolvierten ontologischen Kategorien gesehen werden. Die Zuordnung zur Kategorie der intentionalen Objekte erfolgt tendenziell großzügig, da die fälschliche Ausgrenzung eines intentionalen Akteurs strategisch bedenklicher ist als die irrtümliche Berücksichtigung von Dingen ohne motivationales Innenleben. Sobald etwas nicht den bekannten und einfachen Gesetzen der Physik folgt, führt dies zu dem Umkehrschluss, dass dahinter ein zielgerichtetes Handeln steht. Ein empirischer Beleg für diese kognitiv kategoriale Aufteilung der Welt findet sich in einer vergleichenden Studie von Ami Klin.145 Anhand des interaktionsintensiven Films Wer hat Angst vor Virginia Woolf? wurden die Augenbewegungen von normalen Betrachtern mit denen eines hochfunktionalen Autisten verglichen. Letzterer zeigt ein vollkommen anderes Blickverhalten als die Referenzbetrachter. Anstatt die Fovea fast unausgesetzt für die Wahrnehmung der Gesichter der Beteiligten zu verwenden, wandert der Blick des Autisten über die Szenerie ohne einen erkennbaren Unterschied zwischen den Personen und den sie umgebenden Gegenständen zu machen. Nichtautistische Individuen bevorzugen Personen und speziell deren Gesichter bei der Aufmerksamkeitszuwendung. Das ist eine Strategie, die aus dem nichtmedialen Kontext stammt und in gleicher Weise in medialen Zusammenhängen eingesetzt wird. Dabei rufen die Eindrücke, die auf diese Weise gewonnen werden, ein breites Spektrum emotionaler Reaktionen hervor – eine Klasse von individuellen Zuständen, die gleichfalls ihren Ursprung im nichtmedialen Kontext hat. Ein erheblicher Teil der weltweiten Medienproduktion baut darauf auf, dass durch entsprechende Stimuli diese subjektiven Befindenszustände gezielt hervorgerufen werden. Wie der Medienpsychologe Peter Winterhoff-Spurk es fasst: Im Laufe seiner Mediensozialisation erwirbt das Individuum die Erfahrung, dass Medienbotschaften in der Lage sind, ein spezifisches, vom Individuum bevorzugtes, mindestens mittleres Ausmaß an Erregung zu gewährleisten.146 Die Frage nach dem Unterschied zwischen medialem und nichtmedialem Erleben wird hier so beantwortet: Es gibt keinen prinzipiellen Unterschied und auch neueste Medien werden durch ein stammesgeschichtlich altes System verarbeit. Das stützen zudem experimentelle Befunde, die nicht an Menschen ge145 Klin u.a.: „Defining and Quantifying the Social Phenotype of Autism“. 146 Winterhoff-Spurk: Medienpsychologie, S. 171.
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wonnen wurden. Grundlage war die alltagsweltliche Erfahrung, dass der Akt des Gähnens nicht nur bei Menschen ansteckend ist, sondern auch bei Schimpansen. Dieser Effekt tritt jedoch nicht nur auf, wenn echte Schimpansen in Sichtweite eines Artgenossen diese Verhaltensweise an den Tag legen, sondern auch, wenn einem isolierten Individuum Videosequenzen von gähnenden Tieren vorgeführt werden.147 Wie auch in den für Menschen angeführten Fällen wird hier ein Verarbeitungsmechanismus, der sich für einen dezidiert nichtmedialen Zusammenhang entwickelte, mit Hilfe eines Medieninhalts angesprochen, was in gleicher Weise wie der realweltliche Stimulus die damit assoziierten Verhaltensweise auslöst. Ein grundsätzlicher, qualitativer Unterschied zwischen medialem und nichtmedialem Welterleben lässt sich empirisch somit nicht ausmachen. Ein Differenzieren zwischen medialen und nichtmedialen Stimuli scheint jedoch in quantitativer Weise sowohl möglich als auch sinnvoll. An diese stimulatorische Kontinuität von Realität, Medien und Medieninhalten schließt sich auch das Konzept einer evolutionären Medienanthropologie an, das im nächsten Teil dieser Arbeit vorgestellt wird.
Der Mensch: Ready for Media „Dann schloss er an die Kamera einen Bildschirm an und baute diesen vor dem Schimpansen auf. Nun hieß die Aufgabe: Schau dir deinen Arm und die Wand auf dem Monitor an, und finde mit Hilfe dieser Abbildung das Obst. Die Schimpansen zögerten keine Minute. Um die Möglichkeit auszuschließen, dass sie das Futter durch Abtasten fanden, wurde schließlich statt Futter ein schwarzer Tintenklecks auf die Halterung angebracht. Die Affen mussten den Fleck berühren und erhielten dann ihre Belohnung aus der Hand des Experimentators, sobald sie nahe genug herangekommen waren. Die Schimpansen lösten auch diese Aufgabe.“ (Marc D. Hauser148)
In Analogie zum Slogan Ready for Windows, mit dem Computerhardwareproduzenten die Kompatibilität ihrer Produkte zum Betriebssystem des Softwareriesen Microsoft hervorhoben, kann von der Spezies Mensch gesagt werden, dass sie auf Grund der evolutionär entstandenen Beschaffenheit ihres sensorischneuronalen Systems Ready for Media war, noch bevor diese überhaupt erfunden 147 Anderson u.a.: „Contagious yawning in chimpanzees“. 148 Hauser: Wilde Intelligenz, S. 140.
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wurden. Der Kern dieser Passung liegt in der von Gerhard Roth gemachten Feststellung, dass jegliche Erkenntnisfähigkeit sich nicht herausgebildet hat, um die Realität oder die Wahrheit über diese zu erkennen, sondern um Handlungen zu ermöglichen.149 Dieser primär auf Aktion und nicht auf Erkenntnis im philosophischen Sinne ausgelegte Wahrnehmungsapparat bedingt, dass Medien, um wirklichkeitsanalog zu wirken, keine vollständige Repräsentation der Realität bieten müssen. Die Verarbeitungsmechanismen des Gehirns sind vielmehr darauf ausgerichtet, auch aus spärlichem sensorischem Input handlungsleitende Umweltrekonstruktionen zu generieren. Dass Menschen mediale Präsentationen „als eine ‚Als-ob-Realität‘“ erfahren, wie es bei Werner Früh unter Verwendung eines Ausdrucks von Lothar Mikos heißt150, ist aus diesem Grund nicht überraschend, sondern spiegelt das Fundament der menschlichen Reizverarbeitung wider. Wie bereitwillig Menschen mediale Stimuluskonstellationen als realitätsanalog aufnehmen, sei abschließend anhand eines alltäglichen Beispiels von Donald D. Hoffman noch einmal hervorgehoben: Wie sie dabei verfahren, können Sie bei jedem Kinobesuch beobachten. Wenn Sie Platz nehmen und sich den Film anschauen, ist eine Möglichkeit, Ihr Gesichtsfeld zu interpretieren, die folgende: es gibt ein großes, weißes, flaches Objekt (die Leinwand), das an verschiedenen Stellen mit Licht von verschiedener Farbe beleuchtet wird, wobei sich dieses Licht ständig verändert.151 Dass diese mögliche Interpretation unter Kinobesuchern nicht vorherrscht, stellt die Geschäftsgrundlage eines der weltweit bedeutendsten Zweige der Unterhaltungsindustrie dar. Diese Basis der Mensch-Medien-Interaktion beruht auf evolutionär entstandenen und auf Handlungspraxis ausgelegten Wahrnehmungs- und Verarbeitungsmechanismen. Leider ist das in der wissenschaftlichen Diskussion bisher nur wenig präsent. Die Erweiterung des Medienbildes um eine anthropologische Perspektive erlaubt es, die kognitiven Fundamente heutiger Medien- und Informationsgesellschaften in den Blick zu nehmen und damit gleichermaßen dem Verständnis von Mensch und Medien näher zu kommen.
149 Vgl. Roth: Aus der Sicht des Gehirns, S. 86. 150 Früh: Unterhaltung durch das Fernsehen, S. 59. 151 Hoffman: Visuelle Intelligenz, S. 149.
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Teil 4: Evolutionäre Medienanthropologie „Human thought consists of first, a great capacity for recognition, and second, a capability for selective search.“ (Herbert A. Simon1)
Medienanthropologie ist angesichts der weltweiten Medialisierung eine notwendige Form wissenschaftlich betriebener individueller und gesellschaftlicher Selbsterkenntnis. Die Zunahme und der Umfang von Medieninteraktionen verlangen nach einem möglichst akkuraten Nachvollzug dieser Arbeits-, Kommunikations- und Konsumvorgänge. Aus der ökonomischen Bedeutung der Medien in einer globalisierten Welt folgt, dass eine so fokussierte Anthropologie das menschliche Sein nicht primär spekulativ-essayistisch bespiegelt, sondern sich um das Aufzeigen von Kausalzusammenhängen und Wirkmechanismen bemüht. Kausale Abhängigkeiten verbinden dabei eine Vielzahl unterschiedlicher Bereiche: die Medien, ihre Inhalte, die daran anschließenden Rezeptions- und Nutzungsvorgänge sowie die wiederum daraus resultierenden Konsequenzen für menschliche Aktionen und Interaktionen – auch für primär nichtmediale Lebensbereiche und Handlungsweisen. Zentrale Aufgabe der Medienanthropologie ist die Beschreibung der Beziehung von Mensch und Medien und das Aufzeigen der Gesetzmäßigkeiten, die diesem Verhältnis zugrunde liegen. Eine dezidiert evolutionäre Perspektive berücksichtigt, dass die menschliche Wahrnehmung, Reizverarbeitung und Verhaltenssteuerung nicht verstanden werden kann ohne die stammesgeschichtliche Gewachsenheit dieser Verarbeitungsmechanismen. Neuronal verankerte Bewertungs- und Orientierungsprozesse, die durch die Lebensverhältnisse prähistorischer Vorfahren selektiert wurden, haben entscheidenden Anteil an den Dynamiken des noch jungen Medien- und Informationszeitalters. Der Fortschritt einer evolutionär medienanthropologischen Betrachtungsweise besteht darin, dass dieser Ansatz originär geisteswissenschaftlich-qualitative Betrachtungen mit naturwissenschaftlich gestützten quantitativen Analyseverfahren verbindet – z.B. das Konzept der Handlung mit den kognitiven Mechanismen, die deren Erfassen und Nachvollziehen möglich machen. Dieser Brückenschlag zwischen den wissenschaftlichen Großbereichen ermöglicht eine umfassende Phänomenrekonstruktion, die unterschiedliche Analyseansätze berücksichtigt. Der quantitative Aspekt dieser Betrachtungsweise wirkt dabei als Feedback, das zwar eine spekulative Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsgebiet erlaubt, einen Wildwuchs und eine langfristige Etablierung von
1
So wiedergegeben in Gigerenzer u.a.: Simple Heuristics that Make Us Smart, S. 37.
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Medien – Gehirn – Evolution
just-so-stories jedoch verhindert. Relevante Aussagen über die Interaktion von Mensch und Medien müssen prinzipiell über einen prädiktiven Gehalt verfügen und damit potentiell einer empirischen Kontrolle unterliegen. Der Gedanke, dass evolutionär entstandene Verarbeitungsmechanismen Auswirkungen auf den Umgang mit medialen Inhalten haben, ist dabei keineswegs neu. Es finden sich in verschiedenen Disziplinen Ansätze, die von zeitund kulturübergreifenden Mustern in Medieninhalten auf biologisch gewachsene Präferenzen der Rezipienten zurückschließen. Seitens der Medienwissenschaften kommt Clemens Schwender in seiner Arbeit zu Emotionen im medialen Kontext zu dem Ergebnis: „Medien sind Attrappen für unsere visuelle und auditive Wahrnehmung“2. Dabei leitet er diesen Attrappencharakter aus der technischen Inanspruchnahme der stammesgeschichtlich alten Bewertungsmechanismen Emotionen ab. Auch Torben Grodal räumt ein, „…that ‚physical‘ films try to cue and activate such responses…“3, ebenso wie er davon ausgeht, dass „the evolution of cognitive skills has pragmatic origins…“4 Seitens der Psychologie wurden evolutionäre Überlegungen zum besseren Verständnis der Zustandsklasse Emotionen in umfangreicher Form durch Frank Schwab5 vorgelegt, der in einem solchen Ansatz ein Erkenntnispotential sieht, welches durch eine klassisch kognitivistische Betrachtung psychischer Vorgänge nicht ausgeschöpft wird. Die erste groß angelegte literaturwissenschaftliche Arbeit, die dezidiert einen Zusammenhang zwischen dichterischen Werken und der evolutionären Genese der sie schaffenden Organismen herstellt, wurde 1995 von Joseph Carroll vorgelegt. Der Autor tritt darin dafür ein, „that literature is thus itself a biological phenomenon“6. Im deutschen Sprachraum findet sich mit dem Buch Animal Poeta - Bausteine der biologischen Kultur- und Literaturtheorie von Karl Eibl ein Werk, das parallel evolutionäre Ansätze zum besseren Verständnis kulturell entstandener Objekte heranzieht. Für die US-amerikanische Zeitungswissenschaft muss die umfangreiche zehn Nationen vergleichende Studie von Pamela Shoemaker genannt werden, die zum besseren Verständnis ihrer empirischen Ergebnisse auf evolutionäre Erklärungsmodelle rekurriert.7 Für die Ästhetik und Kunsttheorie sind es die
2
Schwender: Medien und Emotionen, S. 4.
3
Grodal: Moving Pictures, S. 42.
4
Grodal: Moving Pictures, S. 5.
5
Schwab: Evolution und Emotion.
6
Carroll: Evolution and Literary Theory, S. 1.
7
Shoemaker: News Around the World.
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Teil 4: Evolutionäre Medienanthropologie
Arbeiten von Ellen Dissanayake, die einen dezidierten Zusammenhang dieser Phänomene mit Darwinschen Theorieansätzen ausführen.8 An dieser Stelle muss einem häufigen Missverständnis in der Wahrnehmung einer evolutionären Medienanthropologie vorgebeugt werden: Auch wenn dieser Ansatz die Gewachsenheit menschlicher Orientierungs-, Verarbeitungs- und Bewertungsmechanismen betont, so folgt daraus keine deterministische Festlegung der rezeptiven und psychologischen Erlebens- und Verarbeitungsweise des Individuums. Die handlungsrelevanten Präferenzen, die sich aus diesem Ansatz ergeben – und von denen im Weiteren noch die Rede sein wird – sind vielmehr statistische Phänomene, die sich nur bei der Betrachtung größerer Mengen von Rezipienten oder Medienprodukten zeigen. Phylogenetisch entstandene Präferenzen können durch die Ontogenese in vielfacher Weise modifiziert werden. Ein Beispiel hierfür sind Morde in Spielfilmen, wie im Abschnitt über audiovisuelle Medien ausführlich dargelegt wird. Ein Film kann sowohl unterhaltsam als auch künstlerisch wertvoll sein, ohne dass ein einziger Mensch im Verlauf der Handlung eines gewaltsamen Todes stirbt. Jedoch in 70 der 100 ökonomisch erfolgreichsten Hollywoodfilme aller Zeiten stirbt mindestens ein Akteur eines nichtnatürlichen Todes. Dieser hohen Dichte von Filmtoden jenseits von Altersschwäche und Herzinfarkten steht die erfreuliche Seltenheit derartiger Vorgänge im echten Leben gegenüber: Von 10.000 Bewohnern der Bundsrepublik Deutschland stirbt statistisch gesehen pro Jahr einer durch Mord. Die Relevanz, die ein derartiges Vorkommnis im Rahmen einer prähistorischen Kleingruppe hatte – potentielle Bedrohung, Umwälzung der Sozialstruktur – und die unsere Psyche geformt hat, bedingt die starken Emotionen mit denen die Wahrnehmung derartiger Ereignisse, seien sie real oder fiktional, einhergeht. Die Intensität dieser emotionalen Reaktionen, die eben auch durch Filmhandlungen evoziert werden können, führt realweltlich zu dem großen Interesse an menschlichen Interaktionen im Umfeld von Gewaltverbrechen. Das Interesse an Handlungen, die sich mit dem gewaltsamen Tod von Menschen beschäftigen, ist eine psychologische Hinterlassenschaft der menschlichen Frühgeschichte. Dieses Erbe impliziert jedoch nicht, dass alle Filme einen oder mehrere Morde in ihrer Handlung aufweisen müssen. Ebenso wenig bedeutet es, dass Zuschauer sich ausschließlich Filme ansehen, in denen intentionale Tötungsakte vorkommen. Es bedeutet vielmehr, dass Menschen ein Interesse an Morden haben, das durch ihr heutiges Lebensumfeld nicht zu rechtfertigen ist. Die Spannung, die der Medienrezipient von heute vor dem Fernseher, im Kino oder auch gegenüber einem Buch empfindet, ist das psychologische Überbleib8
Dissanayake: Homo Aestheticus; Dissanayake: Art and Intimacy.
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Medien – Gehirn – Evolution
sel der direkten Betroffenheit und existenziellen Verunsicherung, die ein solcher Vorfall für die Angehörigen einer prähistorischen Kleingruppe mit sich brachte. Das zahlreiche und parallele Auftreten evolutionärer Ansätze, das in der jüngeren Vergangenheit in unterschiedlichen medienorientierten Wissenschaftsdisziplinen zu beobachten ist, kann als Beleg für das Erklärungspotential gesehen werden, das sich mit einer derartigen Betrachtungsweise verbindet. Das theoretische Fundament, auf das sich alle aus evolutionärer Perspektive argumentierenden Ausführungen stützen, sind die von Darwin9 formulierten Prinzipien von Mutation und Selektion. Ein derart breites Rekurrieren auf die basalen Sätze der Evolutionstheorie ist für die Zwecke einer evolutionären Medienanthropologie jedoch zu unspezifisch. Die Ausrichtung auf eine biologische Spezies und die noch weiter gehende Fokussierung auf deren Rezeptionsund Handlungsweise in Bezug auf eine spezifische, kulturell entstandene Objektklasse bedarf einer – im Blick auf die klassische Evolutionstheorie – deutlich weiter differenzierten Ausgangsposition. Eine solche Position, die als Fundament für medienanthropologische Untersuchungen unterschiedlichster Ausrichtung dienen kann, wird im anschließenden Abschnitt, Grundlagen der evolutionären Medienanthropologie, vorgestellt. Die hier vorgestellten Aussagen beschreiben die Beschaffenheit des Mensch-Medien-Bezugs auf der Basis evolutionär-anthropologischer Erkenntnisse. Aufgabe dieses Sets deskriptiver Aussagen ist es, die kausale Beschaffenheit des Ereignisraumes zu beschreiben und damit einen Referenzrahmen für evolutionär medienanthropologische Untersuchungen unterschiedlichster Ausrichtung zu bieten. So wird eine allgemeine und anschlussfähige Basis für evolutionär orientierte Untersuchungen und Überlegungen zum Thema Medien gelegt. Der nächste Abschnitt Evolvierte Informationsverarbeitung und Medienwahrnehmung expliziert den übergreifenden Grundgedanken der vorgestellten Thesen – dass der menschliche Umgang mit der medialen Umwelt auf Basis einer evolvierten Funktionalität von Gehirn und Psyche erfolgt – anhand zahlreicher empirischer Befunde. Diese zeigen, dass es sich bei den informationsverarbeitenden Fähigkeiten des Menschen um ein System handelt, dessen individuelle Ausprägungen stets auf der Basis stammesgeschichtlich gewachsener und universell vorhandener kognitiver Potentiale erfolgen. Die Existenz und Steuerung von Aufmerksamkeit und Interesse – die zentralen psychologischen Funktionen der Mediennutzung – sind in ihren Ausprägungen zwar hochgradig individuell, gehen als Formen selektiv gerichteter Weltbezogenheit jedoch auf evolutionär entstandene Kompetenzen und Präferenzen zur Handhabung der Umwelt zurück. 9
Darwin: Die Entstehung der Arten.
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Der darauf folgende Abschnitt, Die (un-)gleichen Geschwister: Information und Unterhaltung, setzt sich auf dieser Basis mit der problematischen Unterscheidung von Information und Unterhaltung auseinander – einer Unterscheidung, die pragmatisch von Nutzen ist, systematisch aber nicht aufrecht erhalten werden kann. Die Dualität dieses Begriffspaares erweist sich bei näherer Analyse als kontinuierlicher Ereignisraum. Betrachtet man beide Erlebenszustände – sich Unterhalten und sich Informieren – als selbstreflexive Befindlichkeitszuschreibungen eines Mediennutzers, so wird ihre Gleichartigkeit deutlich: In beiden Fällen handelt es sich um das Rezipieren von Inhalten die stimulatorische Präferenzen bedienen. Unterhaltung entsteht tendenziell durch das Wahrnehmen handlungsrelevanter Vorgänge in einem nicht handlungsrelevanten Kontext, während auf Realität verweisende Inhalte als Information klassifiziert werden.
Grundlagen der evolutionären Medienanthropologie „Die für uns wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen. (Man kann es nicht bemerken – weil man es immer vor Augen hat.) Die eigentlichen Grundlagen seiner Forschung fallen dem Menschen gar nicht auf.“ (Ludwig Wittgenstein10)
Das theoretische Fundament der evolutionären Medienanthropologie lässt sich in fünf Aussagen fassen, die die grundsätzliche Beschaffenheit der menschlichen Reiz- und Informationsverarbeitung beschreiben und deren prinzipielle Verknüpfung mit dem Phänomenbereich Medien charakterisieren. Diese definieren nacheinander die Kausalität, die Prozessierung, die Fokussierung, die Erlebniskontinuität und die Attraktivität von Medien und modellieren den Ereignisraum möglicher Mensch-Medien-Interaktionen. Der Gewinn dieser Rekonstruktion grundlegender Zusammenhänge liegt in der systematischen Ausformulierung der Erkenntnis, dass aus der evolutionären Genese der menschlichen Reiz- und Informationsverarbeitung Präferenzen für den Umgang mit unterschiedlichen Klassen von Stimuli resultieren. Menschen verfügen über rezeptive, prozessierende und verhaltenssteuernde Strukturen, die das Erbe prähistorischer Lebensbedingungen darstellen. Jede der folgenden Thesen hebt einen spezifischen Aspekt dieses grundsätzlichen Zusammenhangs hervor. Der Kern einer evolutionär anthropologischen Sichtweise ist, dass der menschliche
10 Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 304, §129.
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Umgang mit Medien entscheidend durch stammesgeschichtlich ererbte Wahrnehmungs- und Verarbeitungsmechanismen bestimmt wird. Im Abschnitt über Wahrnehmung als evolvierte, selektive Informationsverarbeitung werde ich diesen Zusammenhang eingehend erläutern. Im Sinne einer wissenschaftstheoretischen Charakterisierung des hier vorgestellten Thesensatzes sei angemerkt, dass dieser weder ganz noch im Detail sakrosankt oder abgeschlossen ist. Vielmehr handelt es sich um ein theoretisches Modell, im Sinne einer allgemeinen Beschreibung der Beziehung von Mensch und Medien, das prinzipiell offen und entwicklungsfähig ist. Zukünftige Einsichten, Erkenntnisse aber auch Korrekturen können in diesen Satz medienanthropologischer Kernaussagen eingearbeitet werden. Diese Struktur erlaubt eine dynamische Anpassung an zukünftige Fortschritte einer evolutionären Medienanthropologie, die Medienwissenschaften, Neuro- und Kognitionswissenschaften und evolutionäre Ansätze verbindet.
1. Kausalität Die menschlichen Fähigkeiten zum Umgang mit Medien beruhen a) auf evolutionär entstandenen Wahrnehmungs- und Reizverarbeitungsmechanismen und b) auf individuell erworbenen kulturellen Fähigkeiten, die Menschen sich auf Grund evolvierter Lernpotentiale aneignen. Die Aussage, dass die Fähigkeiten zum Umgang mit Medien entweder direkte Ergebnisse der Evolution oder zumindest durch diese bedingt sind, speist sich aus der Verbindung von evolutionären Ansätzen11 und Gehirnforschung12. Die damit implizierte Verbindung von Erlebens- und Bewusstseinszuständen mit der neuronalen Ausstattung des Menschen wird durch die empirische Forschung der letzten Jahrzehnte gestützt.13 „Angeborene Schaltkreise sind nicht nur an der Körperregulation beteiligt, sondern auch an der Entwicklung und an der erwachsenen Aktivität der evolutionär modernen Strukturen des Gehirns.“14 Feinere und differenziertere Untersuchungsmethoden ermöglichen immer weiter gehende Einblicke in die stofflichen Korrelate geistiger Aktivitä-
11 Barkow u.a.: The adapted mind; Dunbar: Klatsch und Tratsch; Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens; Buss: The Handbook of Evolutionary Psychology. 12 Roth: Fühlen, Denken, Handeln; Karnath/Thier: Neuropsychologie; Gazzaniga: The Cognitive Neuroscience III. 13 Vgl. Roth: Fühlen, Denken, Handeln. 14 Damasio: Descartes Irrtum, S. 157.
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ten.15 Man weiß inzwischen unter anderem welche Gehirnbereiche für Angst16, Sprache17 oder das Sehen18 zuständig sind und dass diese Fähigkeiten leiden, wenn Schädigungen in diesen Arealen vorliegen. Dabei ist trotz des Erkenntnisgewinns der letzten Jahrzehnte offensichtlich, dass der neurobiologische Nachvollzug komplexer geistiger Tätigkeiten ein noch in den Anfängen befindliches Forschungsfeld darstellt. Diese Sicht der Kausalbeziehung von Mensch und Medien räumt gleichzeitig der Individualentwicklung und damit der Sozialisation weitreichende Bedeutung ein, so dass aus dieser Annahme keine Verarmung des Individualbegriffs folgt. Ohne Wissen um das kulturelle Umfeld und die spezifische Geschichte eines Individuums kann aus der Existenz der für Angst, Sprache und Sehen verantwortlichen Gehirnbereiche weder auf konkret angstauslösende Reize, noch auf die gesprochene Sprache, noch auf ästhetische Vorlieben geschlossen werden. Die evolutionäre Anlage dieser Fähigkeiten und Eigenschaften bestimmt nicht deren Ausprägung, sondern konstituiert deren funktionalen Rahmen und damit ein Möglichkeitsspektrum.19 “Soweit evolutionär moderne Gehirnteile betroffen sind“, so Antonio Damasio, legt das Genom aller Wahrscheinlichkeit nach allgemeine und keine genauen Anordnungen der Systeme und Schaltkreise fest. Und wie kommt es zur genauen Anordnung? Sie entsteht unter dem Einfluss von Umweltbedingungen, die durch die Wirkung der angeborenen und genau festgelegten – für die biologische Regulation zuständigen – Schaltkreise ergänzt und begrenzt werden.20 Die prinzipiell evolutionäre Bedingtheit von Wahrnehmungs-, Verarbeitungsund Handlungsprozessen in Bezug auf Medien führt dazu, dass ein umfassendes und systematisches Verstehen dieses Teils der Lebenswelt ohne eine Berücksichtigung des biologischen Erbes der Spezies Mensch nicht möglich ist.21 Dabei müssen Erklärungsmodelle, die der gegebenen Komplexität gerecht werden wollen, wie LeDoux in anderem Zusammenhang ausführt, „offen-
15 Vgl. Birbaumer/Schmidt: Biologische Psychologie. 16 LeDoux: Das Netz der Gefühle, S. 169ff. 17 Herrmann/Fiebach: Gehirn & Sprache, S. 91ff. 18 Zeki: Inner Vision. 19 Vgl. Pinker: Der Sprachinstinkt; Pinker: How the mind works. 20 Damasio: Der Spinoza-Effekt, S. 157. 21 Vgl. Hejl: „Konstruktivismus und Universalien“.
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kundig über die Evolution hinausgehen, aber nicht, indem wir sie ignorieren, sondern indem wir begreifen, was sie dazu beigetragen hat.“22 Einem zu simplen und pauschalisierenden Evolutionsverständnis in kulturellen Zusammenhängen gilt es jedoch vorzubeugen: Dass die Biohistorie unserer Art Bedeutung für die Sphäre kultureller Objekte und Praktiken hat, heißt nicht, dass deren Gesamtheit durch diese Betrachtungsweise abschließend zu erklären wäre – evolutionäre Medienanthropologie ist keine kulturelle „Theory of everything“23. Oder, wie Torben Grodal es fasst: „To emphasize that our embodied brain is a product of evolution is not an argument for a normative ‚ecological‘ aesthetic, in which evolution has dictated some optimal ways of representation…“24 Die Berücksichtigung der biologischen Beschaffenheit des Menschen bietet vielmehr die Chance, eine Vielzahl von Phänomenen besser und zudem im wahrsten Sinne des Wortes menschlicher zu erklären. Diese Aussage zur Kausalität des Phänomenbereichs steht gezielt am Beginn der Ausführungen zur evolutionären Medienanthropologie. Ohne die postulierte kausale Anbindung von Wahrnehmung und Verhalten an evolvierte kognitive Mechanismen besteht kein Grund andere Prozesse als die der Individualentwicklung für die Erklärung menschlicher Weltbezogenheit zu bemühen. Damit formuliert diese Ausage das ontologisch-monistische Fundament dieses Ansatzes. Ohne die Annahme der Verbindung von evolutionärem Prozess und Weltwahrnehmung und -verarbeitung degenerieren die folgenden Punkte zu einer Ansammlung vergleichsweise willkürlicher Behauptungen. Aussagenlogisch ist die Kausalitätsbeziehung die Prämisse, von deren Annahme die Konsistenz der vorgestellten Grundlagen evolutionärer Medienanthropologie abhängt. Ein Standpunkt, der diese kausale Verbindung von evolutionärer Genese und medienrelevanten Fähigkeiten bestreitet, resultiert für potentielle Verfechter in zwei – in meinen Augen – unüberwindbaren Problemen: Zum einen kann die Vielzahl kulturübergreifender Phänomene in Linguistik, Emotionsforschung, Narration, Ästhetik und nicht zuletzt Medien25 nicht befriedigend durch zufällige Parallelentwicklungen oder gegenseitige Beeinflussungen erklärt werden – es stände vielmehr eine (noch) größere Varianz an kulturellen Erscheinungen zu erwarten. Zum anderen führt der ontologische Dualismus 22 LeDoux, Das Netz der Gefühle, S. 191. 23 Vgl. Bordwell: „Foreword“, S. XII; Weinberg: Der Traum von der Einheit des Universums. 24 Grodal: Moving Pictures, S. 6. 25 Vgl. Pinker: Der Sprachinstinkt; Ekman: Gefühle lesen; Campbell: Der Heros in tausend Gestalten; Dissanayake: Homo Aestheticus; Dissanayake: Art and Intimacy; Shoemaker u.a.: News Around the World.
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einer dezidierten Trennung von menschlicher Entstehungsgeschichte und gegenwärtiger rezeptiver Fähigkeiten ebenfalls zu unüberwindbaren Schwierigkeiten beim Versuch, die Wechselwirkungen von geistigen und körperlichen Aspekten beim Mediengebrauch konsistent zu erklären. Ein Blick auf die immer deutlicher zutage tretenden Interdependenzen von Physis und Psyche zeigt, „wie unangemessen es ist, Gehirn, Verhalten und Geist durch den Gegensatz von Natur und Kultur oder von Genen und Erfahrung verstehen zu wollen.“26 Wie plausibel die postulierte Verknüpfung des evolutionären Prozesses mit bewussten und unbewussten Geschehnissen im Rahmen der menschlichen Reiz- und Informationsverarbeitung ist, wurde schon im Rahmen der beiden Abschnitte über den Menschen als evolvierten Rezipienten und über die Beschaffenheit und Leistungsfähigkeit seiner sensorischen und neuronalen Ausstattung dargelegt. Der sich anschließende Abschnitt „Wahrnehmung als evolvierte, selektive Informationsverarbeitung“ nimmt diese Fäden wieder auf und führt anhand von Befunden und experimentellen Ergebnissen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen vor, dass der menschliche Umgang mit der Welt und speziell mit deren medialen Bestandteilen nur vor dem Hintergrund der evolutionären Genese von Sinnesorganen, Gehirn und auch psychischen Mechanismen umfassend verstanden werden kann.
2. Prozessierung Wahrnehmung und Verarbeitung von Medienstimuli erfolgen durch bewusste und unbewusste Mechanismen, die introspektiv nicht vollständig erschlossen werden können. Diese Aussage verbindet die wissenschaftliche Rekonstruktion von Rezeptions- und Verarbeitungsvorgängen mit dem subjektiven Erleben. Die Einsicht aus der Divergenz dieser beiden Perspektiven ist, dass psychologische und kognitions- und neurowissenschaftliche Betrachtungsweisen keinen identischen Zugang zum untersuchten Phänomen bieten. Ausschließlich auf Selbstreflexion gestützte kausale Rekonstruktionen von Zuständen und Aktivitäten müssen als unvollständig und unzuverlässig in Bezug auf die Repräsentation der Verarbeitungsvorgänge angesehen werden.27 Fehleinschätzungen auf der Basis intuitiv überzeugender aber wissenschaftlich unzuverlässiger Beurteilungen von Verarbeitungsvorgängen waren es, die – wie bereits erwähnt – Com26 Damasio: Descartes Irrtum, S. 159. 27 Vgl. Schwab: Evolution und Emotion; Ramachandran: Die blinde Frau, die sehen kann.
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puterwissenschaftler in den fünfziger Jahren dazu führten anzunehmen, es sei eine Leichtigkeit, einem Computer Hören, Sprechen und Laufen beizubringen, während das Erlernen von Schach in absehbarer Zukunft auszuschließen sei.28 Ein exemplarischer Beleg für diese mangelnde Selbsttransparenz ist der für Medien so wichtige visuelle Weltbezug des Menschen: Große Teile der Reizwahrnehmung und der sich anschließenden Verarbeitung erfolgen ohne eine bewusste Repräsentation der ablaufenden Vorgänge.29 Kein Mensch hat introspektiv Zugang zu den vier Typen von Fotorezeptoren auf seinen Netzhäuten und deren dortiger Verteilung.30 Ebenfalls verborgen bleiben die Verarbeitungsschritte, in denen unterschiedliche Areale der Gehirnrinde z. B. Kanten, Farben, Gestalten und andere Umweltqualitäten aus den eintreffenden Nervensignalen (re)konstruieren. Charakteristikum des Gesichtssinns ist, dass aus dem Erleben nicht auf die Komplexität der involvierten Verarbeitungsvorgänge zurück geschlossen werden kann. Auch jahrhundertelange akribischste Selbstbefragung könnte aus diesem Grund nie in die Erkenntnis unterschiedlicher Rezeptortypen und Verarbeitungsstrukturen münden. „Wir haben keinerlei Bewusstsein davon“, stellt Gerhard Roth verallgemeinernd fest, „wie unsere Netzhaut visuelle Erregung verarbeitet oder was der Hirnstamm oder das Kleinhirn gerade tun. Nur dasjenige, was von diesen Prozessen eine Repräsentation im assoziativen Cortex besitzt, kann überhaupt bewusst erlebt werden.“31 Dass auch komplexe Verarbeitungsleistungen gänzlich bewusstseinsunabhängig erfolgen können, macht das Phänomen der Blindsicht deutlich – Blind sight im englischen Sprachgebrauch.32 Davon Betroffene haben auf Grund einer Schädigung des visuellen Kortex einen partiellen Gesichtsfeldausfall – in der visuellen Wahrnehmung dieser Personen klafft ein Loch! Sie können folglich nicht angeben, was sich in diesem Bereich befindet oder was dort geschieht. Präsentiert man den so Eingeschränkten einen Reiz im für sie unsichtbaren Feld ihrer Wahrnehmung und bittet sie auf diesen zu zeigen, so erklären diese, dass es sich um ein vollkommen unsinniges Anliegen handelt, da sie gerade in diesem Bereich nichts sehen. Fordert man die Probanden auf, zu raten und auf gut Glück dahin zu zeigen, wo der Reiz sein könnte, so erzielen die 28 Vgl. Hoffman: Visuelle Intelligenz. 29 Vgl. Haarmeier: „Bewegungssehen, Stereopsis und ihre Störungen“; Fahle: „Visuelle Täuschungen“; Zihl: „Zerebrale Blindheit und Gesichtsfeldausfälle“; Stoerig: „Blindsehen“. 30 Vgl. Gegenfurtner: „Farbwahrnehmung und ihre Störungen“. 31 Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, S. 219. 32 Vgl. Pöppel/Edingshaus: Geheimnisvoller Kosmos Gehirn, S. 75ff.; Zihl: „Zerebrale Blindheit und Gesichtsfeldausfälle“.
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Versuchspersonen eine nicht zufällig zu erklärende Trefferrate von zirka 99 Prozent. Im subjektiven Empfinden der Getesteten handelt es sich dabei um ein äußerst abstruses Laborspiel. Die Erklärung für die beobachtbare Akkuratesse der Zeigebewegungen ist, dass der visuelle Input nicht nur bewusst sondern auch unbewusst verarbeitet wird. Trotz der intuitiv nicht zugänglichen Natur dieser Prozesse wirken sich diese jedoch auf das bewusste Handeln aus. Dass diese unbewussten Wahrnehmungen und Verarbeitungsleistungen von erheblicher Komplexität sind wird daran deutlich, dass Blindsicht-Patienten nicht nur den Ort eines Reizes lokalisieren können sondern auch in der Lage sind, Gesichtsausdrücke „zu erraten“33, die ihnen im für sie bewusst unzugänglichen Teil ihres Gesichtsfeldes präsentiert werden. So beeindruckend die Studien an Patienten mit neurologischen Schädigungen auch sind, Phänomene, die sich auf unbewusste Verarbeitungsmechanismen zurückführen lassen, treten bei jedermann auf, wenngleich das Wirken dieser Mechanismen nicht offensichtlich ist. Susan Crawley und Kollegen haben 2002 ein in dieser Hinsicht sehr erhellendes Experiment durchgeführt, das für die Probanden als Untersuchung zur Aufdeckung außersinnlicher Wahrnehmungsfähigkeiten gestaltet war.34 Anstatt erahnen oder erraten zu müssen, um welche von fünf verschiedenen so genannten Zenerkarten (Rückseite: neutral; Vorderseiten: Kreuz, Welle, Stern, Quadrat oder Kreis) es sich bei einer verdeckt auf dem Tisch liegenden Karte handelt, wurde diese Experimentalsituation auf den Bildschirm verlegt. Die Versuchspersonen bekamen jeweils die Rückseite einer Karte auf dem Monitor gezeigt und mussten dann eine Vermutung abgeben, um welche Karten es sich handelt. Für den sehr kurzen Zeitraum von 14,3 Millisekunden wurde jedoch – jeweils vor Einblendung der Rückseite der nächsten Karte – schon einmal die dazugehörige Bildseite gezeigt – eine Zeitspanne, die für eine bewusste Wahrnehmung zu kurz ist. Ein Teil der Probanden lag in der Folge deutlich über der zufällig zu erwartenden Trefferwahrscheinlichkeit. Seitens der Versuchspersonen wurden diese Ergebnisse als Beleg für mehr oder weniger stark ausgeprägte übersinnliche Fähigkeiten interpretiert und nicht als Effekte einer nichtbewussten Stimulusverarbeitung. Mit diesem Wissen – dass die Verarbeitung von medialen Stimuli im Gehirn in weitaus mehr Arealen als nur dem für das Bewusstsein zentralen assoziativen Kortex erfolgt – ist das Rekurrieren auf Ergebnisse der empirischen Wissenschaften eine unverzichtbare Komponente für eine anspruchsvolle
33 Ramachandran: Eine kurze Reise durch Geist und Gehirn, S. 42. 34 Vgl. Crawley u.a.: „Evidence for transliminality from a subliminal card-guessing task“.
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Rekonstruktion des menschlichen Umgangs mit Medien.35 Das schon im Zusammenhang mit der evolutionären Funktionalität der Emotionen angeführte Freud Diktum vom Ich, das nicht Herr im eigenen Haus ist36, erweist sich somit in einer unspektakulär alltäglichen Lesart als Beschreibung eines permanenten Zustands der Wahrnehmung.
3. Fokussierung Aufmerksamkeit ist ein evolutionär entstandener Mechanismus zur selektiven Fokussierung auf potentiell handlungsrelevante Umweltereignisse. Das grundlegende lebensweltliche Faktum hinter dieser Aussage ist, dass a) die Umwelt beständig mehr an Stimuli bietet, als die Sinnesorgane aufnehmen können und b) die Sinnesorgane dem Gehirn beständig mehr neuronalen Input zuleiten, als dieses verarbeiten kann. „Our senses are continuously feeding a mass of information into our brains, which have to block or ignore most of it to save us from being snowed under.“37 „Das heißt, aus der Gesamtmenge der eingehenden Information (sowie der im Gedächtnis gespeicherten Information) muss ständig die relevante Teilmenge ausgewählt werden, um effizientes und störungsfreies Handeln zu ermöglichen.“38 „All information processing requires allocation of time and effort from limited shared resources…“39 Als Beleg für diese Aussagen kann der vorliegende Text genommen werden: Eine intensive Lektüre schließt ein aufmerksames Beobachten der sonstigen Umwelt aus – und auch wenn man die ganze Seite auf einmal in den Blick nehmen kann, so ist es unvermeidlich (zumindest für alle Leser, die dem Autoren bekannt sind) für eine gewinnbringende Lektüre, die Wörter in weitgehend linearer Abfolge in ihrer Bedeutung wahrzunehmen und zu verarbeiten. Das im wahrsten Sinne überwältigende Missverhältnis zwischen vorhandenen und durch das Gehirn verarbeitbaren Umweltstimuli ist eine phylogenetische Konstante der menschlichen und vormenschlichen Geschichte. Diese informationelle Rahmenbedingung führte, gepaart mit der Notwendigkeit um knappe und stark nachgefragte Ressourcen zu konkurrieren, in der Vergangenheit zu einem spezifischen Selektionsdruck auf kognitive Mechanismen. Der Druck wirkte dabei sowohl auf eine Automatisierung von Wichtig-Unwichtig35 Vgl. Schwender: Medien und Emotion. 36 Freud: „Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse“, S. 11. 37 Phillips: „Looking for inspiration“, S. 40. 38 Müller: „Funktionen und Modelle der selektiven Aufmerksamkeit“, S. 245. 39 Kaplan/Gangestad: „Life History Theory and Evolutionary Psychology“, S. 89.
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Unterscheidungen hin als auch auf eine schnelle Umsetzung spezifischer Stimulusinputs in adäquate Verhaltensweisen. Im Rahmen der Gestaltpsychologie40 entdeckte Integrationsmechanismen, die Wahrnehmungsfragmente zu einem erkennbaren Geschehen oder einer auffälligen Gestalt verbinden, belegen diese pragmatische Ausrichtung der menschlichen Wahrnehmung in eindrucksvoller Weise. Studien zeigen die direkte Verbindung von Informationsselektion und Handlungsanbahnung und belegen einen klaren Zusammenhang von Stimulusbeschaffenheit und körperlichen Parametern, wie allgemeiner Erregung, Herzfrequenz, Blutdruck und der Ausschüttung von Adrenalin.41 Wahrnehmung in jeder Form ist aus evolutionärer Perspektive kein Selbstzweck sondern ein informationelles Regulativ zur Verhaltenssteuerung. Aufmerksamkeit und Interesse sind die bewusst erfahrbaren Zustände dieser evolutionär gewachsenen strategischen Ausrichtung menschlicher Reizund Informationsverarbeitung. Dabei lassen sich eine exogene, reizgetriggerte beziehungsweise reflexive Orientierung, die durch eine „relativ ‚automatische‘ Funktionsweise gekennzeichnet ist“42, und eine intentionale willentliche Orientierung unterscheiden. In beiden Fällen wird das sensorische und kognitive Potential auf einen Ausschnitt der jeweiligen Umwelt konzentriert. Wie sehr es sich bei Aufmerksamkeit und Interesse um biologisch bedingte aber auch biologisch limitierte kognitive Fähigkeiten handelt, verdeutlichen neurologische Ausfallerscheinungen. Im Falle des zumeist auf einen Schlaganfall zurückgehenden Neglects kommt den davon Betroffenen in einem sehr wörtlichen Sinn die linke Hälfte ihrer Lebenswelt abhanden. Trotz Fortbestehens der allgemeinen intellektuellen Leistungsfähigkeit werden nur Dinge in der rechten Hälfte des Gesichtsfeldes wahrgenommen. Ein Verweis auf die doch offensichtlich vorhandene andere Hälfte der Welt kann von den so Eingeschränkten nicht nachvollzogen werden. Praktisch führt dies dazu, dass Frauen sich nur einseitig schminken, Männer ihre Rasur an der Symmetrieachse ihres Gesichts beenden und mitunter eigene Gliedmaßen als fremde Extremitäten klassifiziert werden.43 So adäquat diese Menschen sich mit ihrer intakten Körperhälfte auseinander setzen, so unmöglich ist es ihnen, ihre Aufmerksamkeit auf die andere Körperhälfte zu lenken. Weniger dramatisch sind die Erscheinungen bei Patienten, die unter dem neurologischen Phänomen der Extinktion leiden. Diese Personen können Rei40 Vgl. Metzger: Gesetze des Sehens; Fitzek/Salber: Gestaltpsychologie; Hoffman: Visuelle Intellligenz; Gregory: Auge und Gehirn. 41 Vgl. Suckfüll: Film erleben; Frey: Die Macht des Bildes; LeDoux: Das Netz der Gefühle. 42 Müller: „Funktionen und Modelle der selektiven Aufmerksamkeit“, S. 251. 43 Vgl. Sacks: Der Mann der seine Frau mit einem Hut verwechselte, S. 84ff.
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ze gleichermaßen in beiden Hälften des Gesichtsfeldes erkennen; bietet man ihnen jedoch den gleichen Reiz simultan und symmetrisch auf beiden Seiten dar, so wird ein Stimulus erkannt, der andere aber gänzlich übersehen. Man geht in diesem Fall davon aus, dass konkurrierende Mechanismen in der Verarbeitung zu einer Fokussierung der Aufmerksamkeit in einer Hälfte des Gesichtsfeldes führen, während die Wahrnehmung des zweiten Stimulus unterdrückt wird. Ähnlich verhält es sich auch beim Bálint-Holmes-Syndrom, das zumeist mit einer schweren Simultanagnosie einhergeht, d. h. einer Unfähigkeit, mehr als ein Objekt gleichzeitig wahrzunehmen.44 Diese drei neurologischen Erscheinungen machen deutlich, wie eng Aufmerksamkeit und Interesse als grundlegende Mechanismen des menschlichen Weltbezugs mit der organischen Beschaffenheit des menschlichen Gehirns zusammenhängen. Dabei kommt der Aufmerksamkeit eine sehr spezifische Funktion zu: „je stärker die Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Geschehen gerichtet ist, desto bewusster ist es.“45 Aufmerksamkeit ist somit der kognitive Schlüsselmechanismus zum aktiven Umgang mit der Umwelt. Dass es sich bei diesem Mechanismus um ein evolutionär altes Element im Gefüge menschlicher Kognition handelt, wird bei der Betrachtung der funktionalen Verankerung in den subkortikalen Bereichen des Gehirns deutlich. Auswahlentscheidungen gemäß der Kriterien „wichtig-unwichtig“ und „bekannt-unbekannt“46 fallen bereits in den stammesgeschichtlich sehr alten Strukturen des Raphe-Systems und des Locus-coeruleus-Systems. Nur Reize, die hier mit „Gedächtnisinhalten und deren Bewertungskomponenten verglichen werden“ und als „auffällig“47 kategorisiert werden, gehen in der Folge in die bewusste Wahrnehmung ein. Ein weiteres Argument dafür, dass Aufmerksamkeit als kognitiver Mechanismus weitaus älter ist als die Spezies Homo sapiens, liefert die Verhaltensforschung. Aufmerksamkeit als temporärer Zustand einer sensorisch-rezeptiven Gerichtetheit lässt sich bei einer Vielzahl nichtmenschlicher Lebewesen beobachten. Auch diese stehen – gleich dem Menschen – mit beschränkten Verarbeitungskapazitäten einer stimulatorisch überreichen Umwelt gegenüber. Aufmerksamkeit, so zeigt die Tierwelt, ist nicht an die Existenz von Bewusstsein gebunden und damit keine exklusive Errungenschaft der jüngeren Menschheitsgeschichte. Vielmehr handelt es sich um einen vergleichsweise
44 Vgl. Driver: „Störungen der Aufmerksamkeit“, S. 269ff. 45 Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, S. 214. 46 Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, S. 229. 47 Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, S. 229.
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ursprünglichen kognitiven Mechanismus, der jedoch auf Grund seiner lebensstrategischen Bedeutung auch im menschlichen Bewusstsein zentral ist.
4. Erlebniskontinuität Die kognitiven Mechanismen des Menschen reagieren auf mediale und reale Stimuli in tendenziell gleicher Weise – die Unterschiede sind gradueller, nicht prinzipieller Natur. Die postulierte Kontinuität im Erleben und Verarbeiten medialer und nichtmedialer Welt wurde im letzten Teil des Abschnitts über die sensorischen und neuronalen Grundlagen des menschlichen Welterlebens ausgeführt. Auch wenn sich Medien, als der Repräsentation dienende Objektklasse, von anderen Objektklassen zumeist klar unterscheiden, so resultiert aus dieser Distinktion kein qualitativer Unterschied in ihrer Wahrnehmung. Die Medien und ihre Inhalte sind vielmehr Elemente einer Umwelt, die seit jeher sehr differenziert mit Aufmerksamkeit und Interesse bedacht wird. Schlüssel zum Verständnis der Kontinuität menschlichen Welterlebens ist die konstruktivistische Beschaffenheit der kognitiven Prozesse, die auf Grund von sensorischen Nervensignalen das bewusst erfahrbare Bild der jeweiligen Umwelt erzeugen. Im Input, der diesen internen Repräsentationen zugrunde liegt, finden sich keine Unterschiede zwischen medial und nichtmedial verursachten Nervensignalen. Getroffen wird diese Unterscheidung im für das Bewusstsein verantwortlichen assoziativen Kortex. Viele der für die handlungsrelevante Bewertung von Umweltgeschehnissen zuständigen Strukturen des Gehirns sind jedoch kein Bestandteil dieses Bewusstseinsbereichs, sondern befinden sich in stammesgeschichtlich alten subkortikalen Zentren. Ein früher Beleg für die Kontinuität von Wahrnehmung und Verhalten ist das von Donald Horton und Richard Wohl diagnostizierte Auftreten parasozialer Beziehungen zu Medienakteuren, wie Nachrichtensprechern oder Serienfiguren.48 Bei manchen Rezipienten kommt es dabei zu Verhaltensweisen, die denen realer Beziehungen gleichen: Der Interaktionspartner wird begrüßt, sobald er auf dem Bildschirm erscheint oder bei eigenen Entscheidungen wird in Betracht gezogen, wie sich dieser oder jener nur medial bekannte Charakter verhalten würde. Als Beleg dafür, dass menschlicher Umgang mit Medien an soziale Praktiken anschließt, sei hier auch an die im Abschnitt über Verarbeitungskontinuität
48 Vgl. Horton/Wohl: „Mass communication and parasocial interaction“; Vorderer: Fernsehen als "Beziehungskiste".
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angeführte Untersuchung von Byron Reeves und Clifford Nass erinnert49: Menschen zeigen – bei entsprechender Versuchskonzeption – höflichkeitsanaloges Verhalten gegenüber Computern, auch wenn sie dieses vehement bestreiten. Medien und ihre Inhalte werden nicht nur im für das Bewusstsein zentralen Teil unseres Gehirns als rationale Klasse der technisch vermittelten Repräsentationen verarbeitet, das wird auch an Ergebnissen deutlich, die Joseph LeDoux an Phobikern gewonnen hat.50 Präsentiert man Spinnenphobikern und nichtphobischen Kontrollpersonen für ganze 5/1000 einer Sekunde das Bild einer großen, hässlichen Spinne, direkt gefolgt von einer blühenden Wiese, so erleben beide Gruppen bewusst nur das friedvolle Bild der Wiese. Eine vergleichende Blutuntersuchung zeigt jedoch, dass es im Organismus der Phobiker zur Freisetzung von Adrenalin kommt, einer typischen Angstreaktion. Diese Reaktion ist auf das Wirken subkortikaler Mechanismen der Reizverarbeitung zurückzuführen, die entgegen dem bewussten Erleben auf den so kurzzeitig präsentierten Reiz reagieren. Damit wird auf einen medialen Stimulus in genau der gleichen Weise reagiert, wie es angesichts dessen realer Entsprechung sinnvoll wäre. Mediale und nichtmediale Stimuli wirken in dieser Weise primär gleichartig auf ihre Rezipienten. Das bewusste Wissen darum, dass es sich im ersten Fall nur um Film, Fernsehen, Foto oder auch ein Buch handelt, neutralisiert keine nichtbewusst entstehenden Wirkungen, sondern modifiziert diese lediglich – ein Charakteristikum, ohne dass z. B. nicht zu erklären wäre, warum Menschen sich im Kino ängstigen können. Angst ist eine Erlebensqualität, die primär im subkortikal gelegenen Mandelkern (Amygdala) generiert wird und erst sekundär Einzug in die bewusste Wahrnehmung hält. Wie machtvoll gerade die vom limbischen System bedingten emotionalen Zustände für das Bewusstseins sind, kann ansatzweise daran ermessen werden, dass Aufforderungen wie, „keine Angst, ist doch nur ein Film“, für den Rezipienten nur unwesentliche Erleichterung bringen. Ein wichtiger Teil des Gehirns reagiert auf mediale Reize schlicht so, als handele es sich bei diesen um reale Geschehnisse im direkten Umfeld des Rezipienten: Reale und mediale Stimuli können somit rezeptiv nicht grundsätzlich voneinander geschieden werden – wie es der mitunter verwendete Begriff einer Medienrealität nahe legt – sondern müssen auf Grund einer Verarbeitungsweise, die diese Unterscheidung nur partiell trifft, als in ihrer Wirkung eng verwandte Inputs des sensorisch-neuronalen Systems gesehen werden.
49 Reeves/Nass: The Media Equation. 50 Vgl. LeDoux: Das Netz der Gefühle.
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5. Attraktivität Medien beziehen ihre Attraktivität a) aus dem Fortbestehen stammesgeschichtlich entstandener Stimuluspräferenzen und b) aus der selektiven Präsentation von Inhalten, die diesen Ereignis- und Interaktionskategorien entsprechen. Ein bedeutender Teil der Attraktivität der Medien speist sich aus der systematisch selektiven Darstellung von Aktions-, Interaktions- und Stimulustypen, die in und für frühmenschliche Kleingruppen strategisch wichtig waren – wie Konkurrenz, Kooperation, Partnerwahl, Gefahren, individuelle Fähigkeiten und Ressourcenverteilung. Aufmerksamkeit erhalten diese Medieninhalte – neben einer teilweise gegebenen Handlungsrelevanz – durch eine Aktivierung von Mechanismen der Aufmerksamkeitssteuerung, die für die Wahrnehmung des Nahumfeldes selektiert wurden. Mediale Geschehnisse und Handlungen werden zumindest von Teilen der nichtbewussten Verarbeitungsprozesse im Gehirn, speziell dem limbischen System, tendenziell so verarbeitet, als handele es sich um für das eigene Leben und Handeln relevante Vorgänge. In der Folge erhalten diese Inhalte ein Maß an Aufmerksamkeit und Interesse, das rational nicht zu begründen ist. Jerome Barkow legte schon Anfang der 1990er Jahre unter dem Titel Beneath New Culture Is Old Psychology: Gossip and Social Stratification Überlegungen zur Bedeutung evolvierter Mechanismen in der menschlichen Kommunikation vor.51 Die Vorliebe für Klatsch, die sich in allen Kulturen der Welt findet, ist gemäß Barkows Analyse eine kommunikative Präferenz aus den Tagen als die Vorfahren der heutigen Menschen ihr Leben in überschaubaren Kleingruppen verbrachten.52 Für einen derartigen Zuschnitt der menschlichen Kognition auf die Sphäre des Sozialen sprechen eine Vielzahl von Belegen.53 Diese selektionsbedingte kognitive Anpassung an ein Kleingruppenleben, der gesellschaftliche Abschied von dieser Lebensform in den letzten zehntausend Jahren und die grundsätzliche Ausrichtung des Gehirns auf das Ziehen schneller Schlüsse auch bei spärlichem Input54 haben in der Kombination erhebliche Folgen in einer entscheidend durch mediale Repräsentationen geprägten Umwelt. Die Verarbeitungsroutinen der heutigen Medienrezipienten entstanden in einem Umfeld, in dem wahrnehmbare Stimuli stets durch Geschehnisse in direkter Reichweite der Sinnesorgane verursacht wurden. Alles was gesehen oder gehört wurde, konnte auf Grund der räumlichen Nähe direkte Auswirkungen 51 Barkow: „Beneath New Culture Is Old Psychology“, S. 625. 52 Vgl. Barkow u.a.: The Adapted Mind. 53 Vgl. Baron-Cohen: Vom ersten Tag an anders; Buss: Evolutionary Psychology. 54 Vgl. Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, S. 266f.
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haben und war somit potentiell handlungsrelevant. Dies gilt insbesondere für die Geschehnisse in der sozialen Umwelt frühzeitlicher Jäger und Sammler mit ihrer ungefähren Gruppengröße von 150 Individuen.55 Im sozialen Umfeld der Vorfahren heutiger Menschen waren insbesondere die Aktionen und Interaktionen von Individuen mit hohem Status handlungsrelevant, aber auch Ereignisse, die entweder den Status einzelner Individuen oder in komplexerer Weise die Struktur der Gruppe veränderten. Ein Beleg für die aus diesen Gründen zu erwartende Selektivität in der Zuwendung von Aufmerksamkeit findet sich bei Rhesusaffen.56 Gleich Menschen sind diese sozial lebenden Primaten fähig, die Angehörigen ihrer Gruppe auf Fotos zu identifizieren. Bei entsprechendem Versuchsarrangement zeigt sich zudem, dass die Tiere bereit sind mit Fruchtsaft zu bezahlen, um Bilder ihrer Artgenossen anzusehen. Die Bereitschaft, vom eigenen Saft etwas abzugeben um im Gegenzug ein Bild ansehen zu dürfen, schwankt jedoch, je nach dem, um wessen Bild es sich handelt. Das entscheidende Kriterium ist der Status des gezeigten Individuums. Wer einen hohen Status in der Gruppe hat, der ist auch als fotografische Reproduktion begehrt, während für die Bilder rangniederer Gruppenangehöriger kein Interesse besteht. Dieser Versuch zeigt, dass Rhesusaffen ein am Status der Gruppenangehörigen orientiertes Aufmerksamkeitsmanagement an den Tag legen: Wahrgenommen werden bevorzugt die Tiere, die für das Geschehen innerhalb der Gruppe von Bedeutung sind. Ein solcher Mechanismus bei Primaten kann als starker Hinweis auf einen analogen Mechanismus als Bestandteil der menschlichen Kognition genommen werden – so wie es auch die Arbeiten von Jerome Barkow nahe legen. Die Aufmerksamkeit für Medieninhalte hängt damit zusammen, ob Aktions- und Interaktionstypen gezeigt werden, die stammesgeschichtlich von Bedeutung waren, wie eine kulturvergleichende Studie nahe legt.57 Ein inhaltsanalytischer Vergleich von westlichen und indischen Erfolgsfilmen58 zeigt, dass es kulturübergreifend besonders die Topoi der Partnerwahl und der Gefahr sind, die Aufmerksamkeit erregen. Im Gefolge dieser Leitthemen finden sich des Weiteren kooperative und kompetitive Interaktionen, individuelle Fähigkeiten und Fragen der Ressourcenverteilung als zentrale Handlungselemente. Diese themenbezogene Ausrichtung menschlicher Weltbezogenheit impliziert, dass der weltweite Umgang mit Medien nicht nur eine Frage der Kultur
55 Vgl. Dunbar: Klatsch und Tratsch. 56 Vgl. Deaner u.a.: „Monkeys Pay Per View“. 57 Vgl. Uhl/Hejl: Die alten Geschichten sind die Besten. 58 Vgl. Uhl/Kumar: Indischer Film.
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ist. Rezipienten sind nicht nur durch ihr jeweiliges soziokulturelles Umfeld geprägt, sondern unterliegen auch den Auswirkungen der basalen Beschaffenheit der Reiz- und Informationsverarbeitung unserer Spezies: Menschen haben kulturunabhängige Stimulusvorlieben, die dazu führen, dass sie sich bestimmten Inhalten tendenziell häufiger und intensiver zuwenden als möglichen Alternativen, die diese Präferenzen nicht oder schlechter bedienen.59 Das Erleben dieser Inhalte geht dabei mit kognitiven Prozessen einher, die als angenehm beziehungsweise fortsetzungswürdig empfunden werden. Individuelle Präferenzen, wie sie sich im Rahmen jeder Sozialisation herausbilden, entstehen somit auf der Basis stammesgeschichtlich angelegter Wahrnehmungspräferenzen. Es deutet dabei einiges darauf hin, dass die Vorlieben für bestimmte Inhalte eng mit den subkortikal erfolgenden emotionalen Bewertungen verbunden sind, deren funktionaler Entstehungskontext auf effiziente Handlungssteuerung hinwirkende Selektionsdrücke waren. Die Intensität dieser emotionalen Reaktionen ist ein zentraler Faktor sowohl im Rahmen der Zuwendung von Aufmerksamkeit als auch für die weitere Prozessierung eingehender Stimuli. Studien zur Arbeitsweise des Gedächtnisses haben gezeigt, dass die Einzelheiten einer fast identischen Geschichte besser behalten werden, wenn es in dieser um Leben und Tod geht.60 Ein Leistungsunterschied, der nahe legt, dass wahrgenommene Inhalte eine Klassifizierung erfahren, die sich an der hypothetischen Bedeutung der jeweiligen Geschehnisse für das Nahumfeld des Rezipienten orientiert – Bedeutung für das Nahumfeld deshalb, weil im Rahmen der subkortikalen Verarbeitung der rational alltägliche Unterschied zwischen das sind wichtige Ereignisse in der für mich relevanten Umwelt und das sind wichtige Ereignisse aber in einem anderen Teil der Welt oder in einem fiktionalen Zusammenhang nicht angelegt ist. Dieses Interesse für Inhalte, die reich an für sozial lebende Primatenabkömmlinge strategisch wichtigen Interaktions- und Ereignistypen sind, ist durchaus mit dem Geschmackssinn zu vergleichen. In beiden Fällen handelt es sich um Anpassungen an die Lebensbedingungen prähistorischer Vorfahren der heutigen Menschen. Wie der Geschmack der selektiven Aufnahme von hochenergetischer Nahrung dient, so hat das menschliche Gefallen an bestimmten Handlungen und Handlungsarchetypen mit dem strategischen Nutzen zu tun, der mit dem Erwerb bestimmter Informationen in menschlichen Kleingruppen verbunden war.
59 Vgl. Carroll: Evolution and Literary Theory; Schwender: Medien und Emotionen; Shoemaker u.a.: News Around the World. 60 Vgl. Spitzer: Lernen, S. 158.
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Übersicht Zur besseren Übersicht über die Grundlagen der evolutionären Medienanthropologie hier die Kernaussagen noch einmal in direkter Folge: 1.
Kausalität: Die menschlichen Fähigkeiten zum Umgang mit Medien beruhen a) auf evolutionär entstandenen Wahrnehmungs- und Reizverarbeitungsmechanismen und b) auf individuell erworbenen, kulturellen Fähigkeiten, die Menschen sich auf Grund evolvierter Lernpotentiale aneignen können.
2.
Prozessierung: Wahrnehmung und Verarbeitung von Medienstimuli erfolgen durch bewusste und unbewusste Mechanismen, die introspektiv nicht vollständig erschlossen werden können.
3.
Fokussierung: Aufmerksamkeit ist ein evolutionär entstandener Mechanismus zur selektiven Fokussierung auf potentiell handlungsrelevante Umweltereignisse.
4.
Erlebniskontinuität: Die kognitiven Mechanismen des Menschen reagieren auf mediale und reale Stimuli in tendenziell gleicher Weise – die Unterschiede sind gradueller, nicht prinzipieller Natur.
5.
Attraktivität: Medien beziehen ihre Attraktivität a) aus dem Fortbestehen stammesgeschichtlich entstandener Stimuluspräferenzen und b) aus der selektiven Präsentation von Inhalten, die diesen Ereignis- und Interaktionskategorien entsprechen.
Medienerkenntnisse in komplexen Lebenswelten „[...] audiences will not change just because technological means alter.“ (Noël Carroll61)
Medien- und Kulturwissenschaftler, und auch Teile der Öffentlichkeit, kommunizieren seit langem in wellenartigen Intensitätsschüben und mit wechselnden Schwerpunkten über Wesen, Bedeutung, Funktion und Wirkung der Medien, beziehungsweise von Teilbereichen derselben. Welchen Gewinn bringt die evolutionäre Medienanthropologie für diese Diskussion? Der primäre Erkenntnisgewinn dieser Betrachtungsweise besteht in einem leistungsfähigen Modell, das evolutionäre Genese und aktuelle Beschaffenheit der menschlichen Kognition mit der Nutzung und Wirkung von Medien ver-
61 Carroll: A Philosophy of Mass Art, S. 13.
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bindet. Diese integrierende Sichtweise erlaubt – wie die Beispiele in den vorangegangenen Abschnitten belegen – einen anthropologisch ausgerichteten wissenschaftlich-empirischen Zugriff auf Medien. Das Neue ist dabei nicht die empirische Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsgegenstand, sondern die gezielte Ausrichtung der Analysen auf die Aufdeckung der anthropologischen Fundamente des komplexen Verhältnisses von Menschen und Medien. Auf diese Weise werden universelle kognitive Mechanismen in den Blick genommen, die die Basis sowohl für kollektive Kulturphänomene als auch für individuelle Enkulturation liefern – ein fundamentaler und wichtiger Aspekt im Wirkungsgefüge von Mensch, Medien und Gesellschaft, der im Rahmen bisheriger Untersuchungsansätze vernachlässigt wurde. Insgesamt lassen sich – wie schon angeführt – die Faktoren, die auf mögliche Mensch-Medien-Interaktionen einwirken, in drei Klassen aufteilen: die kulturellen Faktoren, die auf Menschen durch im- oder explizite Lernvorgänge wirken; die individuellen Faktoren, die aus einer individuellen Lebenspraxis resultieren und die anthropologischen Faktoren, die Menschen universell als Homo sapiens eigen sind. Die bisherige Medienforschung hat sich in intensiver Weise mit den ersten beiden Faktorenklassen beschäftigt. Eine evolutionäre Medienanthropologie fokussiert hingegen die dritte, bisher in ihrer Wirkung vernachlässigte Klasse und deren Bedeutung für Kultur und Individuum. Auf Grund der vorliegenden Komplexität des Untersuchungsgegenstandes ist es dabei wichtig, ausdrücklich auf den in vielen Fällen statistischen Charakter evolutionär medienanthropologischer Aussagen hinzuweisen. Statt starker, binärer Kausalkopplungen, nach denen auf A entweder immer oder nie B folgt, liegen graduelle Zusammenhänge vor, die angeben mit welcher Wahrscheinlichkeit B auf A folgt oder anders gesagt, wie groß der Einfluss eines Ereignisses A ist, dass es in der Folge zu B kommt. In diesem Zusammenhang muss auf die Rolle von einzelfallartigen Beispielen, im Sinne von Belegen oder Widerlegungen, eingegangen werden: Aus logischen Gründen sind derartige Verifikationen oder Falsifikationen von solitären Beispielen nicht zu leisten. Im Kontext statistischer Aussagen, die keine null- oder hundertprozentige Kopplung der angeführten kausalen Elemente konstatieren, können Beispiele nur im Sinne argumentativer Illustrationen verwendet werden. Exemplarisch lässt sich dies durch einen erneuten Blick auf Morde in den hundert erfolgreichsten Filmen Hollywoods demonstrieren. Dass 70 Prozent dieser Filme im Kontext ihrer Handlung mindestens eine intentionale Tötung aufweisen, bedeutet nicht, dass dieses Element für einen Erfolgsfilm unverzichtbar ist. Die Existenz von Filmen, die keine absichtliche Tötung aufweisen, stellt keine Widerlegung des starken Zusammenhangs zwischen ökonomischem Erfolg und der Präsentation von Mord dar. Unter anderem kommen die Filme E.T., Mary Poppins und 101 Dalmatiner ohne dieses
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Handlungselement aus – wenngleich in zwei dieser Filme ein intentionaler Tötungsakt als Bedrohung präsent ist. Es ist somit legitim zu sagen, dass Menschen in Filmen Morde sehen wollen, auch wenn dies nicht impliziert, dass Filme ohne Mord prinzipiell kein Publikum finden. Präziser und für den wissenschaftlichen Kontext sinnvoll wäre es, davon zu sprechen, dass Menschen eine starke Präferenz für audiovisuelle Handlungen haben, in denen Akteure durch andere Akteure zu Tode kommen. Problematisch werden Aussagen, die Zusammenhänge als mehr oder weniger starke Präferenzen oder Tendenzen fassen, tendenziell dann, wenn sie als Grundlage für weiteres Handeln dienen – problematisch deshalb, weil aus Aussagen jenseits einer ja-nein-Dichotomie kein einfaches Pro oder Contra möglicher Maßnahmen gefolgert werden kann. So belegt die im Abschnitt zur Medienwirkung schon angeführte Studie von Tannis MacBeth Williams62 für einen kleinen kanadischen Ort, dass durch Einführung des Fernsehens aggressives Verhalten unter Kindern und Jugendlichen signifikant zunahm – im Sinne einer sprachlich unpräzisen Verallgemeinerung: Fernsehen macht aggressiv. Nicht statistisch denkende Betrachter wenden in solchen Fällen ein, dass in diesem Schluss ein Fehler vorliegen müsse, weil auch nach dem beobachteten medientechnischen Sprung viele Heranwachsende kein sozial negatives Verhalten an den Tag legten. Die argumentative Schwäche dieses Einwandes ist, dass er Einzelfälle gegen eine statistische Aussage ins Feld führt, die sprachlich präzise als Fernsehen macht tendenziell aggressiv gefasst werden müsste. Der quantitative Charakter der analytischen Aussage wird in diesem Fall nicht berücksichtigt. Hinter derartigen Einwänden steht aber auch die Vision einer wie auch immer gearteten holistischen Analyse, der es gelingt die vorliegenden Wechselwirkungen vollständig offen zu legen. Ein derartiger epistemischer Vollständigkeitsanspruch ist im Kontext moderner Lebensphänomene nicht umzusetzen. So begrüßenswert ein vollständiger Nachvollzug medialer Wirkungen wäre, so ausgeschlossen ist dieser auf Grund der multifaktoriellen Beschaffenheit des Problemfeldes – eine Beschaffenheit, die es aber sehr wohl zulässt, statistisch valide Aussagen über die Wirkung einzelner Faktoren zu machen.
62 Williams: The Impact of Television, S. 4ff.
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Teil 4: Evolutionäre Medienanthropologie
Evolvierte Informationsverarbeitung und Medienwahrnehmung „Medien sind Attrappen für unsere visuelle und auditive Wahrnehmung“ (Clemens Schwender63)
Das zentrale Problem aller Lebewesen ist die Orientierung in der Umwelt und das Finden und Selektieren von möglichen Verhaltensoptionen. Der Mensch stellt in dieser Beziehung keine Ausnahme dar. Vielmehr muss er als Paradefall dieser allgemeinen Beschreibung der strategischen Herausforderung Leben betrachtet werden: Nur wenige andere Organismen – wie Bakterien, Ratten und Mäuse – leben in einer solchen Vielzahl geographisch, klimatisch und ökologisch unterschiedlicher Umgebungen und kein anderer Organismus muss mit einer ähnlichen Diversität von Wahrnehmungen und Verhaltensoptionen umgehen. Für die sensorische und daran anschließend neuronale Verarbeitung folgert Monika Suckfüll: Es steht außer Frage, dass der menschliche Organismus, beständig konfrontiert mit einer komplexen, veränderlichen Umwelt, über Filterprozesse verfügen muss, die ihm erlauben, aus der Fülle der Informationen die wesentlichen zu entnehmen und diejenigen, die nicht unmittelbar relevant erscheinen, auszublenden oder allenfalls beiläufig zu registrieren.64
Die limitierte Ressource Kognition „Aufmerksam sein heißt gerade, dass man die Menge der verarbeiteten Informationen gegenüber der Menge der verfügbaren Informationen klein hält.“ (Georg Felser65)
Die informationelle Überfülle der Umwelt ist kein Phänomen des Medienoder Informationszeitalters, sondern eine Grundcharakteristik menschlichen Weltbezugs. Gigerenzer und Todd zeigen deshalb auf, in welcher Weise die wissenschaftliche Auseinandersetzung erfolgen muss, um langfristig in ein adäquates Verständnis menschlicher Fähigkeiten zu münden:
63 Schwender: Medien und Emotionen, S. 4. 64 Suckfüll: Rezeptionsmodalitäten, S. 261. 65 Felser: Werbe- und Konsumentenpsychologie, S. 124.
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Medien – Gehirn – Evolution
If we want to understand how real human minds work, we must look not only at how our reasoning is ‚limited‘ compared to that of supernatural beings, but also at how our minds are adapted to real-world environments.66 In den Abschnitten zur Evolution des Menschen und zu dessen sensorischer und neuronaler Ausstattung habe ich an vielfältigen Beispielen diese Anpassung unserer Spezies an ihr real-world-environment dargestellt: unter anderem die bei Säugetieren unüblichen Farbrezeptoren67, die Ausbildung eines spezifischen Mechanismus zur Erkennung von Gesichtern68 und die Fähigkeit zur nachgeburtlichen Anpassung des auditiven Diskriminierungsvermögens an das Phonemvokabular der jeweiligen Umwelt69. Diese Anpassungen sind „daraufhin optimiert […], die in der Umwelt verfügbaren und relevanten Informationen aufzunehmen“70 Sinnesorgane und Gehirn dienen dazu, auf Grund der physikalischen Umwelt-Stimuli das individuelle Verhalten zu steuern. „Das Gehirn muss (hinreichend) Verlässliches über die Umwelt erfahren, um ein überlebensförderndes Verhalten zu erzeugen.“71 Das strategisch entscheidende Kennzeichen realer Umwelt ist die universelle Ressourcenknappheit, an deren lokaler Ausformung sich das individuelle Handeln ausrichtet. Dies erfolgt im Falle des Menschen – genau wie bei anderen Organismen – nicht durch allgemeine und unspezifische Fähigkeiten zur Wahrnehmung und Verarbeitung von Umweltimpulsen, sondern auf den kognitiven Schultern stammesgeschichtlicher Vorfahren.72 Die Beschaffenheit des Auges, der Sinnesorgane überhaupt und des Gehirns sind unter kompetitiven Bedingungen entstandene Anpassungen biologischer Reizund Informationsverarbeitungsstrukturen an die Erfordernisse der Umwelt. Prinzipiell kann jeder Umweltreiz als Information betrachtet werden, die potentiell rezipiert und verarbeitet wird. Kennzeichnend für Sinnesorgane und Gehirn ist jedoch, dass das weite Feld potentiell verfügbarer Stimuli und sich anschließender Verarbeitungsoptionen durch die evolutionär bedingte Beschaffenheit dieser Organe eingeschränkt ist. Auch wenn es in Zeiten des Ozonlochs nützlich wäre, zu sehen wie viel UV-Strahlung das Tageslicht beinhaltet, so liegt dies außerhalb der Leistungsfähigkeit der vier Lichtrezeptorty66 Gigerenzer/Todd: „Fast and Frugal Heuristics“, S. 21. 67 Vgl. Penzlin: Lehrbuch der Tierphysiologie, S. 496. 68 Vgl. Goldenberg: „Visuelle Objektagnosie und Prosopagnosie“, S. 127ff. 69 Vgl. Gopnik u.a.: Forschergeist in Windeln, S. 127ff. 70 Gegenfurtner: Gehirn & Wahrnehmung, S. 5. 71 Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, S. 108. 72 Vgl. Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, S. 26.
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Teil 4: Evolutionäre Medienanthropologie
pen, mit denen das menschliche Auge ausgestattet ist – ein Merkmal, das einer willentlichen Modifikation nicht zugänglich ist. Ebenso wenig ist es möglich, starke aber im Alltag unsinnige Angstreaktionen, wie zum Beispiel die vor großer Höhe, willentlich zu neutralisieren73, weil dieser Zustand in einem Teil des Gehirns entsteht, der nicht der bewussten Kontrolle unterliegt74. Sinnesorgane und Gehirn geben so den Rahmen für die Informationsaufnahme und -verarbeitung des Menschen vor. Daraus folgen zwei zentrale Konsequenzen: Zum einen sind Wahrnehmungs- und Verarbeitungsvorgänge nicht möglich, die in diesem Organverbund nicht angelegt sind. Zum anderen resultieren daraus Wahrnehmungs- und Verarbeitungspotentiale, die sinnvoll nur als Anpassungen an die evolutionäre Vergangenheit unserer Spezies verstanden werden können: Menschen erleben und verarbeiten die Welt so, wie es für ihre stammesgeschichtlichen Vorfahren nützlich war. Für eine anthropologische Charakterisierung des Menschen bedeutet das: Die subjektiv empfundenen Freiheiten jedes Individuums beim perzeptiven, reflexiven und emotionalen Umgang mit der Welt gründen sich auf keine beliebigen Zustände. Vielmehr handelt es sich in jedem Fall um Zustände innerhalb des sensorisch-neuronal vorgegebenen Ereignis- und Aktivitätsspektrums, das die evolutionär gewachsenen Strukturen der Sinnesorgane und des Gehirns erst ermöglichen. Daraus ergeben sich zwei entscheidende Implikationen für die Beschaffenheit des menschlichen Weltbezugs: Zum einen resultiert aus dieser prinzipiellen Begrenztheit des Ereignisraumes kein Determinismus, zum anderen, aus den biologischen Voraussetzungen unausweichlich eine nichtzufällige Auswahl und ein nichtzufälliger Umgang mit den Informationen der Umwelt. Aus einer derartigen biologisch bedingten Beschränkung des Weltbezugs folgt keine deterministische Sicht des Menschen, das ist von anthropologisch zentraler Bedeutung. Dieser Vorwurf, der mitunter gegen anthropologische Erklärungsansätze erhoben wird, die sich Ergebnissen der Naturwissenschaften bedienen, stützt sich auf einen offensichtlichen Fehlschluss. Die evolutionsbedingte Beschränkung potentiell möglicher Wahrnehmungs-, Verarbeitungs- und Reaktionsweisen schließt zwar eine Vielzahl potentiell möglicher Optionen des menschlichen Umgangs mit der Umwelt aus – daraus resultiert jedoch für den verbleibenden Handlungsspielraum kein Determinismus. Eine quantitative Beschränkung von Möglichkeiten bedeutet keine Determinierung des Verhaltens, sondern lediglich eine Reduzierung der potentiellen Wahrnehmungs- und Handlungsoptionen.
73 Vgl. Ekman: Gefühle lesen, S. 54. 74 LeDoux: Das Netz der Gefühle, S. 171ff.
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Medien – Gehirn – Evolution
Die evolutionäre Herausbildung von Präferenzen „Unsere Wahrnehmungssysteme sind so geartet, dass sie Aspekte der Außenwelt registrieren, die wichtig für unser Überleben sind [...]“ (Steven Pinker75)
Zwei Stufen eines nichtzufälligen Umgangs mit der Umwelt folgen aus den sensorisch und neuronal möglichen Zuständen des Menschen. Die erste findet sich in den schon angeführten organischen Beschränkungen der Reizaufnahme – Menschen besitzen keine Sinnesorgane für Stimuli, von denen nie ein nennenswerter Selektionsdruck ausging. Die zweite nichtzufällige Unterteilung findet sich innerhalb der grundsätzlich wahrnehmbaren Stimuli. Hier haben Selektionsdrücke in der Vergangenheit dazu geführt, dass lebensstrategisch wichtige Reize und Geschehnisse bevorzugt wahrgenommen und verarbeitet werden. Diese werden neuronal als besonders handlungsrelevant prozessiert. Dabei handelt es sich nicht um Kategorisierungen, die auf bewusste Evaluationen der eingehenden Stimuli zurückgehen, sondern um Bewertungsprozesse auf der Basis von evolvierten Präferenzen und Dispositionen. Ein Beispiel ist das reflexbedingte Zurückzucken beim Berühren eines heißen Gegenstandes. Der Stimulus führt – noch vor einer bewussten Aufarbeitung – zu einer eindeutigen und sinnvollen Reaktion. Der proximate bzw. unmittelbare Grund hierfür liegt in der Temperatur des Gegenstandes. Der wichtigere ultimate Grund dieser Reaktionsweise ist, dass dieser Stimulustyp im Verlauf der gesamten Stammesgeschichte mit destruktiven beziehungsweise verletzenden Konsequenzen einher ging, die als Selektionsdruck zu einem für dieses Problem spezifischen Vermeidungsmechanismus führten, der „extrem wichtig für unser Überleben ist“76. Individuen deren Schmerzsystem ausfällt – eine seltene neurologische Ausfallerscheinung – verlieren die Fähigkeit auf einen relevanten Stimulustyp adäquat zu reagieren, was eine signifikant niedrigere Lebenserwartung zur Folge hat.77 Dieses alltägliche Beispiel des schmerzbedingten Zurückzuckens zeigt anschaulich die Grundcharakteristik der evolvierten Informationsverarbeitung in Sinnesorganen und Gehirn: Menschen reagieren auf Reize und Situationen, die stammesgeschichtlich wichtig waren. Im Sinne eines informationellen Erbes sind es diese Anpassungen der Vergangenheit, die nach wie vor einen erheblichen Einfluss auf Wahrnehmung und Verhalten haben. Ohne derartige, ererb-
75 Pinker: Das unbeschriebene Blatt, S. 282. 76 Pinel: Biopsychologie, S. 221. 77 Vgl. Pinel: Biopsychologie, S. 221; Gegenfurtner: Gehirn & Wahrnehmung, 67.
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te Dispositionen wäre es nicht nachzuvollziehen, warum auch in modernen Großstädten Psychotherapeuten Spinnen- und Schlangenphobiker behandeln, auch wenn unter den dortigen Umweltbedingungen Auto- und Haushaltsleiterphobien deutlich plausiblere Mechanismen wären. Solche Beobachtungen führten Arne Öhman zu der Einsicht, dass Menschen für bestimmte Angst erregende Objekte prädisponiert sind.78 Zwar verfügen Menschen über keine angeborene Angst vor Spinnen oder Schlangen, sie erlernen diese jedoch unter kontrollierten, experimentellen Bedingungen um vieles schneller und dauerhafter als die vor „Blumen, Pilzen oder geometrischen Körpern“79. Exemplarisch wird hier die Grundbeschaffenheit des sensorisch-neuronalen Umweltbezugs deutlich: Nicht alle Stimuli sind gleich. Stammesgeschichtlich entstandene Filtermechanismen lassen Input, der ihren evolvierten Kriterien entspricht, in privilegierter Weise auf Wahrnehmung und Verhalten eines Individuums wirken. Wie wirkt sich nun diese Beschaffenheit des menschlichen Weltbezugs auf den Umgang mit Medien aus? Technische Medien waren, im Gegensatz zu mimischer, gestischer und lautlicher Kommunikation, kein Bestandteil des Environment of Evolutionary Adaptedness80. Deshalb kann man auf Grund der fehlenden prähistorischen Präsenz von Medien fragen: In welcher Weise ist der Umgang mit dieser geschichtlich neuen Objektklasse von viel älteren kognitiven Strukturen abhängig? Eine Fragwürdigkeit, die in den Augen Ekmans auch schon für das vergleichsweise alte Medium der Schrift zulässig ist: „…es ist doch erstaunlich, dass etwas, das in der Geschichte unserer Art so spät entstanden ist – geschriebene Sprache – Emotionen auslösen kann.“81 So gestellt ist die Frage nach dem Zusammenhang von evolutionär bedingter Informationsverarbeitung und Medien potentiell missverständlich. Schuld hieran ist die implizite Fokussierung auf Medien als diskrete Objekte und nicht als technologische Plattformen für die Repräsentation von Inhalten. Den Medien kommt nicht Kraft ihrer bloßen Dinglichkeit ihre bedeutende Rolle in der Entwicklung der Menschheit zu. Ausgeschaltete Fernseher, Radios und Computer sind zumeist ebenso wenig packend wie zugeschlagene Bücher. Es sind vielmehr die von ihnen vermittelten Repräsentationen, die ihre kulturelle Stellung begründen. So innovativ, epochemachend und damit auch diskontinuierlich die Entwicklung der Medien als Gerätschaften ist, so eindeutig
78 Vgl. Öhman: „Fear and anxiety as emotional phenomena“, S. 518ff. 79 Ekman: Gefühle lesen, S. 38. 80 Vgl. Barkow u.a.: The Adapted Mind. 81 Ekman: Gefühle lesen, S. 49.
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ist die Kontinuität der Inhalte. Peter Wuss82 führt in diesem Zusammenhang Hans Heinrich Bosshards Buch Natur-Prinzipien und Dichtung an: Er vergleicht zur Analyse dieses menschlichen Wesens Inhalte, Themen und Stoffe moderner medienvermittelter Unterhaltung und von deren Vorläufern, von Märchen, Mythen und Dramen, und findet dabei kulturüberdauernde, geschichtslose thematische Strukturen, wie die Darstellung von Liebe und Gewalt in einer einfachen, linearen Handlungsstruktur – sie stellen archetypische Situationen des menschlichen Lebens dar.83 In gleicher Weise lässt sich auch das mittlerweile klassische Werk von Campbell, Der Heros in seinen tausend Gestalten, aus den Vierzigern des vergangenen Jahrhunderts lesen, in dem dieser eine zeit- und kulturenübergreifende Grundstruktur von Heldenepen und -geschichten aufzeigt. Der irritierende Charakter der Frage, wie sich die evolutionäre Vergangenheit der Spezies Mensch auf deren Umgang mit Medien auswirkt, liegt darin, dass sie zuerst auf den technischen Aspekt verweist und damit den Blick auf inhaltliche Kontinuitäten verstellt. Die Idee, dass Menschen epochen- und erdzeitalterübergreifende inhaltliche Präferenzen haben ist – wie die Arbeiten von Campbell und Bosshart belegen – nicht neu und zudem kein Konzept, das seinen intellektuellen Ursprung in einem evolutionstheoretischen Kontext hat. Neu an einer so gearteten evolutionär medienanthropologischen Perspektive ist die Möglichkeit, über den bisher nur inhaltsanalytisch gegebenen deskriptiven Phänomenzugang hinauszugehen. Experimentelle und empirische Verfahren unterschiedlicher Disziplinen erlauben es – im Kontext einer evolutionstheoretischen Modellierung menschlicher Informationsverarbeitung – derartigen Vorlieben und Regelmäßigkeiten in Mediennutzung und -wahrnehmung nachzugehen. Ein einfacher und gleichzeitig eleganter Ansatz bedient sich zu diesem Zweck der Gedächtnisleistung. Byron Reeves und Clifford Nass konfrontierten zwei Versuchsgruppen mit der narrativ gleichen Handlung. Der Unterschied der Präsentationen bestand darin, dass einmal sehr moderate Bilder eingesetzt wurden, während die Vergleichsgruppe aufwühlende Darstellungen mit Blut und Gedärmen zu sehen bekam. „Participants could recall more details about the pictures of blood and guts and other negative material than they could about the same stories with tamer pictures.“84 Dieser Unterschied in der 82 Vgl. Wuss: „Das Leben ist schön…“, S. 18. 83 Bosshard: Natur-Prinzipien und Dichtung, S. 21ff. 84 Reeves/Nass: The Media Equation, S. 126.
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Gedächtnisleistung ist ein Effekt des Informationsmanagements der menschlichen Reiz- und Informationsverarbeitung. Die gleiche Handlung heftiger bebildert löst stärkere emotionale Reaktion aus, was wiederum eine bessere Verankerung des Inhalts im Gedächtnis zur Folge hat.85 Dieser Zusammenhang hat wichtige und weit reichende Implikationen, die auch bei Bosshart und Campbell schon angelegt sind: Ein evolutionär entstandenes biologisches Informationsmanagement weist sowohl einfache wie auch komplexe Präferenzen innerhalb des Spektrums sensorisch möglicher Inhalte auf. Komplexe informationelle Präferenzen bedeutet hier, dass es nicht nur das überraschende Auftauchen eines Reizes oder lediglich eine schnelle Bewegung ist, die durch Aktivierung von unspezifisch veränderungssensitiven kognitiven Automatismen Interesse und Aufmerksamkeit auf sich zieht. Komplexe Bewertungsmechanismen dienen darüber hinaus einer Evaluation von Situationen. In der Konsequenz bedeutet dies, dass Menschen „über automatische Bewertungsmechanismen verfügen, die unsere Umwelt unablässig durchmustern und sofort erkennen, wenn etwas geschieht, das für unser Wohlergehen von Bedeutung ist.“86 Der adaptive Zweck solch evaluativer Mechanismen liegt in der Vorbereitung situationsadäquater Reaktionen und Handlungsweisen. Die primäre Entscheidung, die es dabei zu treffen gilt, ist, inwieweit die jeweilige Situation Chancen oder auch Gefahren für den wahrnehmenden Organismus birgt. Es erfolgt eine Bewertung der vorliegenden Gegebenheiten. Die komplexeren Auswertungsabläufe des evolutionär entstandenen Informationsmanagements sind darauf ausgelegt, Bedeutung im Sinne von handlungsdienlichen Klassifizierungen zu generieren.
Emotionen – die Einfallstraße des Medialen „Im Laufe der Geschichte hat sich deutlich herauskristallisiert, dass die verschiedenen Medien auf unterschiedliche Weise emotionstauglich sind und deshalb bei der Selektion ihrer Themen und Darstellungsmodi sorgfältig selegieren müssen, um erfolgreich zu sein.“ (Siegfried J. Schmidt87)
85 Vgl. Spitzer: Lernen, S. 158. 86 Ekman: Gefühle lesen, S. 29. 87 Schmidt: Medien und Emotionen, S. 31.
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Die Darstellung der Rolle evolvierter Informationsverarbeitungsprozesse innerhalb der menschlichen Wahrnehmung zwingt erneut, die Emotionen in den Blick zu nehmen. Ihre Funktion kann als die, „handlungsleitender Heuristiken“88 beschrieben werden: Emotionen sind als Anpassungen entstandene und „von unserer evolutionären und persönlichen Vergangenheit“89 modulierte Mechanismen der Verhaltenssteuerung – eine identische Beschreibung zu den Charakteristiken der komplexen Auswertungsmechanismen, von denen im vorhergehenden Abschnitt die Rede war. Diese Dopplung rührt daher, dass Termini – bedeutungsgenerierende Auswertungsmechanismen und Emotionen – das Gleiche meinen. Im Zusammenhang der Verwendung des Wortes Emotion bzw. des Plurals Emotionen ist es wichtig, noch einmal auf ihre Abgrenzung zum Gefühl hinzuweisen: Gefühl ist subjektives Erleben, wohingegen eine Emotion der körperliche Zustand ist, der diesem Bewusstseinsphänomen zugrunde liegt. Dies bedeutet, dass zwar Gefühle immer auf emotionale Zustände zurückgehen, emotionale Prozesse jedoch keineswegs immer bewusst sind.90 Emotionen sind Evaluationsprozesse, deren Ergebnisse dem Individuum in Form von Gefühlen bewusst werden können. Erst die Generierung von Bedeutung durch sie sorgt dafür, dass Menschen ihre Umwelt nicht als neutrale Abfolge von Ereignissen empfinden. Das Gefühl, dass etwas wichtig oder unwichtig, traurig oder schön ist, ist eine subjektive Erlebensqualität, die ohne Emotionen nicht möglich ist.91 In der Konsequenz führen diese als biologische Hardware angelegten Evaluationsverfahren zu dem schon angeführten, nichtzufälligen Umgang mit der Umwelt. Von besonderem Interesse ist mit Blick auf die Medien die daraus resultierende Affinität zu bestimmten Typen von Stimuli. Dieser Effekt beruht darauf, dass nicht alle Teile der Umwelt gleich wichtig sind, wenn es darum geht, Handlungsalternativen für die nähere oder fernere Zukunft abzuwägen. Auf der Ebene kognitiver Strukturen findet sich damit eine Ausrichtung, die eine klare Analogie zur Beschaffenheit der Sinnesorgane aufweist: So wie sensorisch nur das wahrgenommen wird, was in der phylogenetischen Vergangenheit wichtig war, so widmet sich die neuronale Verarbeitung tendenziell-selektiv den Aspekten des Inputs, die in der Vergangenheit handlungsrelevant waren.
88 Ekman: Gefühle lesen, S. 18. 89 Ekman: Gefühle lesen, S. 18. 90 Vgl. Schwab: Evolution und Emotion. 91 Vgl. Damasio: Descartes Irrtum, S. 64ff.
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Für den heutigen Menschen, aber auch für dessen Vorfahren, lassen sich zwei aufeinander aufbauende Kategorien konstatieren, die als basale Heuristiken für ein sozial lebendes Wesen anzusehen sind. Wichtig sind erstens andere Menschen. Die scheinbare Trivialität dieser Leitlinie resultiert aus deren Wirken. Menschen wissen intuitiv, dass der kleine Schauspieler wichtig ist und nicht der imposante Theatervorhang hinter ihm. Die Gesichtserkennungsregion des visuellen Kortex liefert einen weiteren Hinweis auf die im wahrsten Sinne des Wortes herausgehobene Bedeutung unserer Mitmenschen. Wichtig sind zweitens Situationen, die starke Emotionen hervorrufen – wobei das sichtbare Auftreten derartiger Emotionen bei Mitmenschen als starker Hinweis für das Vorliegen derartiger Situationen gesehen wird. Belege für diese angeborene Prädisposition des Menschen finden sich bereits im Verhalten von Neugeborenen. Schauen wir noch einmal auf das schon genannte Experiment von Simon Baron-Cohen: In diesem Versuch wurden einen Tag alte Babys mit dem Gesicht eines Menschen konfrontiert, der sich über ihre Wiege beugte, gleichzeitig und in gleichem Abstand mit einem Mobile, das aus den fotografierten Bestandteilen eines Gesichts zusammengesetzt war. Die Babys wurden dabei mit einer Videokamera gefilmt, so dass später rekonstruiert werden konnte, wie lange der Blick der neuen Erdenbürger jedem der dargebotenen Reize zugewandt war. Um ein geschlechtsspezifisches Verhalten von Seiten der Experimentatoren zu vermeiden waren diese (soweit wie möglich) in Unkenntnis des Geschlechts des jeweiligen Kindes. In den anschließenden Analysen des Materials zeigte sich, „dass die Mädchen länger auf das Gesicht schauten und die Jungen länger auf das Mobile.“92 Im Kontext des evolutionär entstandenen Informationsmanagements ist es nicht überraschend, dass dieses Ergebnis nicht der Vorstellung vom Neugeborenen als metaphorisch unbeschriebenem Blatt entspricht. In jenem Fall sollte sich, auf Grund der gerade erst begonnenen Lernkarriere, noch eine gleiche Verteilung der Aufmerksamkeit feststellen lassen, die durch deren noch zufällige Steuerung bedingt ist. Stattdessen zeigen sich klare Präferenzen. Dieses von einer zufälligen Aufmerksamkeitsverteilung abweichende Verhalten ist ein Beleg für von Geburt an vorhandene informationelle Präferenzen. Dieses Ergebnis macht auch deutlich, dass es zwischen den Geschlechtern deutliche Unterschiede in der Ausrichtung der Aufmerksamkeit gibt. Dieser Trend setzt sich auch in der weiteren kindlichen Entwicklung fort: In einem Experiment, in dem einjährigen Mädchen und Jungen parallel ein Film über sprechende Gesichter und ein Film über Autos gezeigt wurde, – beides ohne Ton – widmeten die Mädchen den gezeigten Gesichtern mehr Zeit, während
92 Baron-Cohen: Vom ersten Tag an anders, S. 85.
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die Jungen ihre Aufmerksamkeit mehr den Autos zuwandten.93 Das Interessante an dieser Untersuchung ist, dass es sich um eine mediale Versuchsanordnung handelt – die Testreize werden als Bewegtbild dargeboten. Trotz dieses Unterschiedes zum vorausgehenden Versuch lassen sich für die beiden Geschlechter erneut Präferenzen feststellen. Auf der subjektiven Ebene bedeutet dies, dass Mädchen Gesichter als interessanter empfinden, während Jungs dem technischen Objekt Auto mehr Aufmerksamkeit schenken. Clemens Schwender fasst die Wechselwirkungen zwischen Menschen und Medien, die sich hier implizit abzeichnen, in der schon angeführten These, dass Medien Attrappen für die visuelle und auditive Wahrnehmung sind.94 Dazu führt er weiter aus: „Medien sind in dem gleichen Sinn Attrappen wie Vogelscheuchen Attrappen sind für Vögel. Sie müssen so gestaltet sein, dass sie genügend Gemeinsamkeiten mit Figuren haben, die Augen und mentale Verarbeitung der Vögel zu täuschen und sie müssen genügend Gemeinsamkeiten mit Figuren haben, um von Vögeln als Thematisierung ihrer sozialen Umwelt – hier als Feinde – wahrgenommen zu werden.“95. Der postulierte Attrappencharakter und insbesondere der Vergleich mit der Vogelscheuche beschreiben in griffiger Weise eine zentrale Einsicht in die Verarbeitung medialer Repräsentate: Das menschliche Gehirn ist darauf ausgelegt, aus vergleichsweise spärlichem Input sinnvolle Bedeutung zu generieren. Beispielhaft hat dies Johansson96 schon vor drei Jahrzehnten demonstriert: Wird eine Person in einem vollständig dunklen Raum mit kleinen Lichtern an den Arm- und Beingelenken ausgestattet, dann sieht ein Beobachter, solange sich die Person nicht bewegt, nur eine scheinbar beliebige Ansammlung leuchtender Punkte. Sobald sich die Person bewegt, die auf Grund der Dunkelheit unsichtbar ist, entsteht jedoch nicht der Eindruck einer rein zufälligen räumlichen Verschiebung der Punkte. Die sich nun bewegenden Lichtquellen führen vielmehr spontan zur Wahrnehmung des nicht sichtbaren Menschen. Bei dieser beeindruckenden Leistung handelt es sich um die Generierung einer hochkomplexen Bedeutung – dort ist ein Mensch – auf Grund eines an Informationen vergleichsweise armen Inputs. Die Zusammenführung von Schwenders These, dass Medien Attrappen für die menschliche Wahrnehmung sind, und den Versuchsergebnissen Johanssons ergibt, dass die menschliche Weltwahrnehmung darauf zielt auf der Basis von vergleichsweise bescheidenem Stimulusmaterial zu situationsadäqua93 Vgl. Baron-Cohen: Vom ersten Tag an anders, S. 85. 94 Schwender: Medien und Emotionen, S. 4. 95 Schwender: Medien und Emotionen, S. 28. 96 Johansson: „Visual motion perception“; Chouchourelou u.a.: „The visual analysis of emotional actions“.
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ten Einschätzungen und Reaktionen zu kommen. Dabei handelt es sich nicht um einen Nebeneffekt eines eigentlich auf optimalen Reizinput ausgelegten Verarbeitungsapparates. Die Fähigkeit, auf Grund rudimentärer Hinweise komplexe Folgerungen zu ziehen, ist das Ergebnis eines auf die Generierung von semantischem Gehalt zielenden konstruktivistischen Prozesses: Das System ist darauf ausgelegt, aus spärlichen und fragmentarischen Inputs handlungsorientierenden Bedeutungsoutput zu generieren. Augenfällige Belege dieser Charakteristik sind z.B. die schon besprochenen Wahrnehmungsphänomene der Gestaltpsychologie. Evolutionstheoretisch gibt es für die beobachtbare Konstruktions- beziehungsweise Interpretationsfreudigkeit der menschlichen Weltwahrnehmung gute Gründe. Eine möglichst schnelle und adäquate Einschätzung von Situationen ist ein strategischer Vorteil. Selbst ein tendenziell überinterpretierendes Informationsverarbeitungssystem und das damit gegebene Risiko von Fehlreaktionen war in der Vergangenheit nützlicher als ein Warten auf eindeutige Umweltreize. Joseph LeDoux spricht in diesem Zusammenhang von den Schnellen und den Toten. Im Interesse des Überlebens ist es besser, auf potentiell gefährliche Dinge so zu reagieren, als wären sie wirklich gefährlich, als nicht zu reagieren. Langfristig ist es vorteilhafter, einen Stock irrtümlich für eine Schlange zu halten, als eine Schlange für einen Stock zu halten.97 Bereit – oder wenn man will anfällig – für Repräsentationstechnologien, die im Sinne von Attrappen wirken, ist der Mensch somit auf Grund der Arbeitsweise seiner Bewertungsmechanismen, die auch aus spärlichem Input handlungsrelevante Bedeutung extrahieren. In einer blumigen Formulierung von Richard Lazarus handelt es sich um „die Weisheit der Zeiten“98, was jedoch auch in den Worten von Gerd Gigerenzer und Peter Todd als „ecological rationality“99 gefasst werden kann. Methodologisch gesehen ist diese Grundbeschaffenheit der menschlichen Weltwahrnehmung kein um Falsifikation bemühtes wissenschaftsanaloges Verfahren, sondern ein stammesgeschichtlich etabliertes Set von handlungsrelevanten Umweltindikatoren – nicht größtmögliche Entscheidungssicherheit durch maximale Informationsaufnahme ist Ziel dieser Verarbeitungsmechanismen sondern schnellstmögliche Reaktion auch unter widrigsten Umständen.
97 LeDoux: Das Netz der Gefühle, S. 178. 98 So wiedergegeben in Ekman: Gefühle lesen, S. 41. 99 Gigerenzer/Todd: „Fast and Frugal Heuristic“s, S. 13.
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Die Einsicht, dass Medien wie Attrappen auf Menschen wirken, geht dabei Hand in Hand mit einem neurobiologischen Konstruktivismus100: Menschen haben zu keinem Zeitpunkt der Vergangenheit und werden auch zukünftig nicht ihre Umwelt so wahrnehmen, wie sie ist. In unseren Köpfen werden vielmehr beständig aktiv Repräsentationen dieser Lebenswelt konstruiert, die sich aus den von den Sinnesorganen in Nervenimpulse gewandelten Stimuli speisen. Dabei haben sich die Sinnesorgane evolutionär als sensorische Fenster zu den physikalischen Bereichen der Umwelt entwickelt, die in der Stammesgeschichte unserer Art von informationeller Bedeutung waren. Der kulturelle Erfolg der Medien ist jedoch durch den auf der Konstruktnatur der menschlichen Weltwahrnehmung beruhenden Attrappeneffekt noch nicht erschöpfend erklärt. Weil auf Medienkonsum zurückgehende Reaktionen und Verarbeitungsvorgänge Anpassungen an eine existenziell bedeutsame, nichtmediale Realität darstellen, lässt sich ein zweites Charakteristikum ausmachen: Medieninhalte bieten Stimuluskonzentrationen im Sinne von Handlungen oder Ereignissen pro Zeiteinheit, die in der realen Welt nicht oder selten auftreten. Unabhängig davon, ob man sich einer Nachrichtensendung oder einem Liebesfilm zuwendet, trifft man auf eine extrem hohe Konzentrationen von potentiell handlungsrelevanten Stimuli: Große Entscheidungen, Revolutionen und Katastrophen auf der einen Seite, das entscheidende Treffen, die Intrige des Rivalen und das erlösende Jawort auf der anderen Seite. Medien beziehungsweise deren Inhalte (re)präsentieren Lebenszusammenhänge, aber sie tun dies nicht in Form einer maßstabsgetreuen Komprimierung, sondern durch Akzentuierung der Elemente, für die sich Menschen besonders interessieren.
Repräsentation und Konzentration – Medien als Superstimuli „Kein Auge bleibt im Saal trocken, obwohl wir nichts anderes tun, als in einem Sessel zu sitzen und eine Leinwand anstarren.“ (Frans de Waal101)
Diese inhaltliche Akzentuierung und die häufige Inszenierung der Inhalte sind Medienalltag und in diesem Sinne trivial. Nichttrivial ist jedoch, dass die aufbereiteten Inhalte auf Wahrnehmungsmechanismen treffen, die nicht nur bestimmte Typen von Stimuli bevorzugen, sondern innerhalb dieser Präferenzen wiederum nach emotionaler Intensität selektieren. Ein derartiger Mechanismus 100 Vgl. Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. 101 Waal: Der Affe in uns, S. 239.
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ist für einen effizienten Umgang mit der Umwelt von Vorteil. Gerade für soziale Lebensformen, wie es der Mensch und seine Vorfahren schon seit Millionen von Jahren sind, ist ein derartiger Bewertungsmechanismus von Vorteil. Wie im Rahmen der Darstellung der evolutionären Geschichte des Homo sapiens gesehen, lebte dieser in der Prähistorie in Gruppen von zirka einhundertfünfzig Individuen. Um die Herausforderungen eines solchen Zusammenlebens zu meistern, ist die Kenntnis der Beziehungen der Mitglieder zueinander wichtig. Der strategische Idealzustand in dieser Lebenssituation wäre, die Handlungen und Interaktionen aller Individuen zu registrieren und das eigene Handeln daran auszurichten. Auf Grund lebensweltlicher und kognitiver Beschränkungen ist ein derartiger Zustand der Informiertheit jedoch nicht herstellbar. Jeder Gruppenangehörige hat im täglichen Leben permanent mit einer suboptimalen Informationssituation umzugehen. Da alle Angehörigen einer solchen Gruppe in dieser Hinsicht gleich sind, geht es für das einzelne Individuum darum, über bessere Informationen zu verfügen. Ein solcher Vorteil kann aber nur dann zu Stande kommen, wenn das Individuum seine Aufmerksamkeit auf die folgenreichsten Geschehnisse und Aktionen fokussiert – wer wie viel schläft ist vergleichsweise unwichtig, wer mit wem schläft dagegen sehr. Diese strategische Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf die folgenreichsten Umweltereignisse ist als permanentes, aktives Suchverhalten zu verstehen. Sie richtet sich dabei sowohl nach dem Informationstyp – im Fall der Medien die Art der Attrappe – als auch nach der emotionalen Intensität der Inhalte. Menschen als soziale Lebewesen sind fundamental daran interessiert, andere im Kontext von Kooperationen und Konkurrenzen wahrzunehmen, was implizit zu deren Evaluation als potentielle Sozialpartner führt. Je größer die möglichen Gewinne oder Verluste innerhalb der beobachteten Interaktionen sind, desto stärkere emotionale Reaktionen rufen diese hervor und desto größer ist das Interesse. Die Intensität eines medialen Stimulus ergibt sich somit nicht nur aus seiner physikalischen Darreichungsform, sondern aus der potentiellen Bedeutung des Inhalts für den Rezipienten. Bei diesen Bewertungsmechanismen handelt es sich um keine rationalen und durchgängig bewussten Vorgänge. Mechanismen zum Umgang mit der nichtmedialen Umwelt nutzend, werden dabei fiktionale Inhalte prinzipiell gleichartig verarbeitet wie dokumentarisches Material. Mediale Inhalte erlauben dabei eine Konzentration von Informationen und Interaktionen, die in der realen Umwelt so nicht auftreten. Mediale Inhalte können in diesem Sinne als potentielle Stimuluskonzentrate oder Superstimuli bezeichnet werden, die informationell hochverdichteten sensorischen Input bieten. Dieser Superstimuluscharakter bedeutet noch einen Schritt über den Attrappencharakter der Medien hinaus, der ja eine fundamentale Gleichsetzung
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in der Wahrnehmung von nichtmedialer Realität und Medien postuliert. Das Potential der Medien solche Superstimuli zu erzeugen, resultiert aus der Möglichkeit, interessante Vorgänge in Dramatisierungen und Häufigkeiten zu präsentieren, die selbst unter außergewöhnlichen Umweltbedingungen im realen Leben nicht oder nur selten auftreten. Warum Medien im Sinne von Realität überbietenden Superstimuli auf Rezipienten wirken, macht ein klassischer Versuch der Verhaltensforschung deutlich, der auf den ersten Blick eher fern liegt102: Präsentiert man einem männlichen Rotkehlchen die Attrappe eines anderen Männchens, jedoch ohne den typischen roten Fleck auf der Brust, dann zeigt dieses keinerlei Interesse. Sobald sich jedoch auf der Brust des künstlichen Doubles ein roter Fleck befindet, beginnt das Männchen zu reagieren als hätte es einen echten Rivalen vor sich. Dabei gilt: Je größer der Fleck, desto vehementer die Reaktion. Ungerührt von Ton- und Bewegungslosigkeit attackiert der kleine Vogel, die als Konkurrent um das Revier wahrgenommene Attrappe. Ersetzt man die Rotkehlchenattrappe durch einen roten Federbüschel, dann führt dies nicht zum Abklingen des nur bei realen Konkurrenten sinnvollen Verhaltens. Der vergleichsweise abstrakte Reiz erlangt durch seine unnatürliche Farbigkeit vielmehr einen Grad an Handlungsrelevanz, mit dem reale Konkurrenten nicht mithalten können. Grund für diese bizarren Vorgänge ist ein Bewertungsmechanismus im Gehirn der männlichen Vögel. Dabei handelt es sich um eine einfach angelegte Heuristik zur Lokalisation möglicher Konkurrenten. Verbalisiert würde diese Verhaltensleitlinie ungefähr bedeuten: Veranlasse Objekte gleicher Größe, die einenroten Fleck aufweisen und die sich nicht wie ein Weibchen verhalten,dass eigene Revier zu verlassen. Logiker würden hier von einer biologisch implementierten wenn-dann-Bedingung sprechen: Diese stellt die Kriterien zur Identifizierung eines gesuchten Objekts bereit und veranlasst bei deren Vorhandensein die Ausführung eines bestimmten Verhaltens. Das Wichtige an diesem Beispiel sind die Kriterien, die zur Identifikation des Zielobjekts dienen. In der normalen Umwelt von Rotkehlchen sind diese – gleiche Größe, roter Fleck – trennscharf. Ohne das hochartifizielle Einwirken von Verhaltensforschern sind Irritationen ausgeschlossen. Für Rotkehlchenmännchen gab es in der Vergangenheit keinerlei Objekte, die ein derartiges Fehlverhalten auslösen konnten. Das Rotkehlchen-Experiment belegt den rezeptiv-kommunikativen Sachverhalt, dass biologische Systeme wichtige Entscheidungen häufig auf der Basis weniger und evolutionär selektierter Kriterien treffen. Derartige Mechanis-
102 Lack: The Life of the Robin.
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men zur Verhaltenssteuerung weisen für die Umweltbedingungen ihrer Entstehung eine hohe Effizienz auf. Veränderungen der Umwelt können jedoch dazu führen, dass aus einer bisher nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip funktionierenden Anpassung ein kontraproduktives Fehlverhalten resultiert. Die Einfachheit des Bewertungsmechanismus – kein avanciertes Gesamtbild der Situation, statt dessen Schlüsselreize als Auslöser – eröffnet prinzipiell die Möglichkeit, dass derartige Mechanismen zur Verhaltenssteuerung von anderer Seite instrumentalisiert werden. Was aber hat das Rotkehlchen mit dem Mensch-Medien-Verhältnis zu tun? Diese Frage ist an dieser Stelle berechtigt. Dass diese Spezies hier als Modell präsentiert wird bedeutet nicht, dass Menschen in jeder Beziehung diesem Singvogel gleichen. Es gibt jedoch Elemente menschlichen Verhaltens, die diesem Tiermodell in erstaunlicher Weise entsprechen. Drei Beispiele aus früheren Teilen dieser Arbeit sind höfliches Verhalten gegenüber Computern, Angstreaktionen von Arachnophobikern auf Spinnenbilder und parasoziale Beziehungen zu Medienakteuren. In allen Fällen lösen mediale Stimuli Verhaltensweisen aus, die angesichts der gegebenen Situation deplaziert erscheinen und mit Blick auf den Alltag des 21ten Jahrhunderts fraglich bis problematisch sind. Der Schlüssel zum Verständnis dieser und anderer Phänomene liegt im menschlichen Umgang mit der Umwelt, der nicht auf einer durchgehend rationalen Verarbeitung eingehender Reize beruht, sondern auch auf das Wirken von evolutionär entstandenen nichtbewussten Bewertungsmechanismen zurück geht. Diese nichtrationalen Anteile der Medienwahrnehmung funktionieren wie die Verhaltenssteuerung des Rotkehlchens. Die Bereitschaft von Menschen, auf den Konsum von Unterhaltungsmedien mit Tränen zu reagieren, lässt sich als Beleg für diese funktionale Entsprechung heranziehen. Medial verursachte Ausbrüche von Traurigkeit sind ein funktionales Analogon zur Attrappenaggressivität des Rotkehlchens: Ein im Kontext evolvierter Umweltbedingungen sinnvolles Verhalten wird durch einen spezifisch entworfenen Stimulus in einem gänzlich anderen Kontext gezeigt. Ursprünglich handelt es sich beim Zustand der Trauer und den damit einhergehenden Tränen um einen deutlich sichtbaren Schmerz über einen Verlust im sozialen Umfeld. Anthropologen gehen davon aus, dass diese emotionale Reaktion eigentlich der Stärkung der verbleibenden Sozialbeziehungen dient. Heulen und Schluchzen auf Grund von zweidimensionalen Repräsentationen fiktionaler Handlungen auf Kinoleinwand oder Fernsehschirm kann dagegen nicht als situationsadäquates Verhalten begriffen werden. Mit Blick auf das Rotkehlchenmodell mag man einwenden, dass die menschliche Reaktion auf komplexe audiovisuelle Medienprodukte mit der fast schon unglaublichen Täuschungsbereitschaft des kleinen Vogels nicht verglichen werden kann.
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Medien – Gehirn – Evolution
Ein Gedankenexperiment kann an dieser Stelle helfen, einer naheliegenden selbstreflexiven Blindheit zu entgehen: Würden Fledermäuse oder Delphine das Verhalten von Menschen angesichts realer Trauerfälle und medial-fiktional verursachter Traueranfälle beobachten, dann würden sie das zweite Verhalten eindeutig als Beispiel für eine artifiziell bedingte Täuschung eines recht eng angelegten Beurteilungsmechanismus klassifizieren. In ihrer Ultraschallwahrnehmung hätten die Trauerreaktionen hervorrufenden Medienstimuli nichts gemein mit Interaktionen bei denen dieses Verhalten sinnvoll auftritt. Anstelle auf ein dreidimensionales Sozialgeschehen zu reagieren, würden diese Beobachter feststellen, dass sitzende Menschen die gleiche Reaktion gegenüber unterschiedlich großen planen Oberflächen zeigen. Erforderlich wäre nur die akustische Imitation der Begleiterscheinungen von Verlustvorgängen, gekoppelt mit einer zweidimensionalen Repräsentation im Wellenlängenbereich von 400 bis 750 Nanometern. Für einen Organismus, der den größten Teil seiner Umweltinformationen durch ein Ultraschallsystem bezieht, das aktiv ein dreidimensionales Bild der Umgebung erzeugt, muss die menschliche Reaktion auf den Kinofilm Titanic als Effekt fehlgeleiteter Beurteilungsmechanismen erscheinen. Eine kognitive Einschränkung oder Täuschbarkeit, die den Betroffenen in der gleichen Weise entgeht, wie dem Rotkehlchen seine Unfähigkeit zwischen echten Konkurrenten und Attrappen zu unterscheiden. Das Auslösen von Traurigkeit mittels audiovisueller Techniken ist ein Effekt, der auf der informationellen Beschaffenheit des spezifischen Auslösemechanismus beruht. Wie wirkmächtig dieser Mechanismus ist, zeigt sich daran, dass derartige Reaktionen auch bei bewusster Nutzung fiktionaler Inhalte auftreten, mitunter gegen den Willen des Rezipienten. Diese Wirkung kann ebenso bei mehrfachem Konsum eintreten, was deutlich macht, dass es sich hier nicht um einen wissensbasierten Vorgang handelt. Es handelt sich vielmehr um eine Reaktion, die im Vollzug eines einmaligen oder auch mehrfachen Erlebens generiert wird. Die Medien als technisches Instrumentarium eröffnen die Möglichkeit, evolutionär entstandene Bewertungsmechanismen durch spezifische Stimuli anzusprechen. Der gezielte Einsatz gestattet es, emotionale Reaktionen von einer im Alltag nur selten anzutreffenden Intensität hervorzurufen. Da emotionale Intensität als kognitiver Indikator für Wichtigkeit fungiert, wirkt das alltägliche Leben im Vergleich zu Medienangeboten eher fade und langweilig. Der Attrappencharakter der Medien beinhaltet somit das Potential 1. sowohl Stimuli von außergewöhnlich großer Intensität zu erzeugen, als auch 2. diese mit hoher Frequenz zu präsentieren. Beide Merkmale sprechen damit evolutionär angelegte Mechanismen der Aufmerksamkeitssteuerung an. Die allgemeine Attraktivität von Medien wirkt vor diesem Hintergrund alles andere als über-
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raschend. Medien sind Stimulusquellen, deren Inhalte darauf zugeschnitten werden können, menschliche Aufmerksamkeit zu erregen. Die menschliche Affinität zu Medien erweist sich somit als Effekt eines stammesgeschichtlich alten Informationsmanagements, das Sinnesorgane und Gehirn betreiben. Medieninhalte müssen keine Realität repräsentieren um interessant zu sein, sondern jene Bewertungsmechanismen ansprechen, die sich im Verlauf der Evolution durch die Anforderungen der Umwelt herausgebildet haben. Diese Mechanismen sind jedoch nicht starr auf eine bestimmte Situation ausgerichtet, sondern vergleichsweise abstrakt und offen. Das Rotkehlchen ist genetisch auf die Erkennung von Artgenossen programmiert beziehungsweise auch auf deren Verkennung, wenn Verhaltensforscher Attrappen in seiner Nähe postieren. Menschliche Bewertungsmechanismen sind dagegen nicht an eine einzige Standardsituation gekoppelt. Zwar lässt sich Trauer archetypisch universell als Reaktion auf den Verlust eines Kindes beobachten103, die gleiche Reaktion kann jedoch auch durch gänzlich andere Ursachen hervorgerufen werden. Diese Variabilität muss als Effekt der menschlichen Kultur gesehen werden – die Reaktion bleibt die Gleiche, der Anlass kann wechseln. Sowohl die individuelle Entwicklung als auch die kulturelle und soziale Einbindung entscheiden darüber, ob ein Mensch die Niederlage eines Fußballteams, den scheinbaren Tod des Bären Balu im „Dschungelbuch“ oder das Verscheiden seines Staatsoberhauptes betrauert. Nur der Verlust von etwas oder jemandem, dem ein Wert beigemessen wird, führt dazu, dass Menschen trauern. Andere universelle menschliche Emotionen sind in ähnlich komplexer Weise in das Leben von Individuen und Kulturen eingebunden.104 Es bietet sich in diesem Zusammenhang das Bild einer reaktiven Klaviatur an, die je nach kulturellen Vorgaben und den daraus resultierenden individuellen Erlebnissen unterschiedlich bespielt werden kann und wird. Resümee dieser Überlegungen ist: Medienwahrnehmung erfolgt auf der Basis evolutionär alter kognitiver Mechanismen zur Verhaltenssteuerung. Zwar hat der Erfolg von Medien auch mit deren Werkzeugcharakter zu tun, deren globaler Siegeszug im Verlauf der Neuzeit und speziell der jüngsten Vergangenheit erklärt sich jedoch nur teilweise aus diesem Effizienzgewinn. Ökonomisch triumphieren Repräsentationstechniken vielmehr gerade da, wo es nicht um Nutzen, sondern um Freizeit und Unterhaltung geht.
103 Vgl. Ekman: Gefühle lesen, 121ff. 104 Vgl. Ekman: Gefühle lesen, S. 1ff.
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Die (un-)gleichen Geschwister: Information und Unterhaltung „From the perspective of producers, the primary purpose of the preponderance of today’s electronic media messages is entertainment“ (Jennings Bryant/Dorina Miron105)
Gesellschaftlich bedeutsame Medieninhalte sind Stimuli – unabhängig davon ob es sich um Information oder Unterhaltung handelt –, die in einem kompetitiven Umfeld in signifikanter Weise die Aufmerksamkeit von Mediennutzern auf sich ziehen. Drei Fragen stehen bei der Auseinandersetzung mit diesem Phänomen im Zentrum: Welche Prozesse laufen bei der Wahrnehmung von Information und Unterhaltung ab? Wie und inwieweit ähneln oder unterscheiden sich diese? Und welche Aussagen über das Mensch-Medien-Verhältnis lassen sich anhand dieser Ähnlichkeiten oder Differenzen treffen? Mediales Informieren und Unterhalten sind zwei Zustände, die aus der Perspektive des Rezipienten eng zusammen liegen. In beiden Fällen wird die Aufmerksamkeit fokussiert und von sonstigen Reizquellen abgezogen. In beiden Fällen kann dieses Verhalten durch subjektive Urteile wie interessant, nützlich oder spannend, lustig oder beeindruckend gerechtfertigt werden – und in beiden Fällen liegen derartigen Verbalisierungen Erlebensqualitäten zugrunde, aus denen eine Motivation resultiert diesen Medienkonsum fortzusetzen. Die Hypothese, die ich auf Grund dieser Gemeinsamkeiten im Folgenden vertrete ist: Information und Unterhaltung sind zwei Ausprägungen eines kontinuierlichen Erlebnisspektrums, das zum einen durch die Aktivierung aufmerksamkeitsgenerierender subkortikaler Bewertungsmechanismen charakterisiert ist und zum anderen durch eine bewusste Evaluation, die eingehende Stimuli als handlungsrelevant bzw. fiktional klassifiziert.
Stimulusdichotomie oder -kontinuum „Das menschliche Gehirn gibt uns die Möglichkeit, uns in einer Welt voller Gegenstände, Lebewesen und anderer Menschen zu behaupten. Diese Gegebenheiten haben großen Einfluss auf unser Wohlergehen, und wir können davon ausgehen, dass sich das Gehirn ausgezeichnet darauf versteht, sie und ihre Auswirkungen zu entdecken.“ (Steven Pinker106)
105 Bryant/Miron: „Entertainment as Media Effect“, S. 549. 106 Pinker: Das unbeschriebene Blatt, S. 280.
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Angesichts der begrifflichen Unterscheidung in Information und Unterhaltung gilt es zu berücksichtigen, dass keine der beiden Kategorien unverbrüchlich mit diesem oder jenem Medieninhalt verbunden ist. Paradebeispiel für den Zuschreibungscharakter sind die Sport- und insbesondere die Fußballberichterstattung. Von Frauen wird diese zumeist als Unterhaltung klassifiziert, während Männer die Wiedergabe von Spielverläufen und Resultaten überwiegend als Information betrachten. „Für den Terminus ‚Unterhaltung‘ kennt“, laut Michael Meyen, „die deutsche Sprache mindestens drei Bedeutungen: für den Lebensunterhalt sorgen, ein Gespräch führen, die Zeit auf angenehme Weise verbringen.“107 Diese Bedeutungsbreite sieht auch Werner Früh, der jedoch ausführt, dass diese Vieldeutigkeit sich keinesfalls verliert, wenn man den fraglichen Kontext auf die Medien beschränkt: Unterhaltung ist ein ‚Allerweltsbegriff‘: Jeder spricht darüber und doch meint kaum jemand dasselbe. Fragt man einen Medienpraktiker, wird er eine Reihe von Sendungs- oder Texttypen aufzählen und behaupten, dies sei Unterhaltung. Literaturwissenschaftler werden einige Qualitätskriterien nennen, die literarische Kunstwerke von Unterhaltung unterscheiden, der Psychologe wird sich dagegen auf kognitive und emotionale Erlebensaspekte von Individuen beziehen, während ein Soziologe bestimmte Freizeitaktivitäten identifiziert und der Philosoph sagt, Unterhaltung sei Spiel. Ähnlich wie Gewalt oder Information ist auch Unterhaltung ein Begriff, zu dem fast alles irgendwann, irgendwo, von irgendjemand schon einmal gesagt oder geschrieben wurde, und dennoch erscheint er völlig unzureichend beschrieben und definiert.108 Hans-Bernd Brosius weist angesichts der Bemühungen um eine anspruchsvolle und leistungsstarke Fassung des Begriffs Unterhaltung darauf hin, dass es sich bei der Unterscheidung zwischen diesem und dem der Information keineswegs um eine Erscheinung des an medialen Entwicklungen so reichen zwanzigsten Jahrhunderts handelt. Die Dualität von Information und Unterhaltung ist historisch gewachsen und keine Besonderheit des gegenwärtigen Mediensystems. Das hypothetische Dorf im Mittelalter oder im Altertum war bereits dieser Dualität ausgesetzt. Es gab grob kategorisiert zwei Sorten von Außeneinflüssen. Da waren zum einen die von der Regierung oder 107 Meyen: Hauptsache Unterhaltung, S. 27. 108 Früh: Unterhaltung durch das Fernsehen, S. 67.
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anderen offiziellen Stellen entsandten Boten und die Reisenden. Beide vermeldeten Neuigkeiten und Geschehnisse aus anderen Teilen der Welt; sie informierten also. Und zum anderen gab es damals auch schon den Zirkus, den Zauberer, den Märchenerzähler; Leute also, die in das Dorf kamen, um zu unterhalten.109 Sowohl Information als auch Unterhaltung haben seit jenen Tagen früher Dichotomien eine umfangreiche Entwicklung durchlaufen, wie Früh konstatiert: War Unterhaltung früher eher eine eng begrenzte Enklave des menschlichen Lebens und der Gesellschaft, so durchdringt sie mittlerweile zunehmend alle Lebensbereiche. Dabei lässt sich allerdings nicht genau unterscheiden, ob sich ‚die Unterhaltung aufmachte, die Welt zu erobern‘, oder ob wir erst jetzt nach und nach bemerken, wo Unterhaltung überall enthalten und wirksam ist.110 Diese Entwicklung wird, nicht erst in jüngster Vergangenheit, dadurch verstärkt, dass die Produktion und der Vertrieb medialer Unterhaltung ein lukratives Geschäftsfeld darstellen. Die Ausgestaltung der Inhalte lässt sich dabei in einem ersten Zugriff als „Nachfragegetrieben“ beschreiben, „schließlich haben wir es mit einer Industrie zu tun, die mit den Gefühlen der Zuschauer auf gradem Wege Geld verdienen will und der es völlig egal ist, in welcher Richtung dabei dem offensichtlichen Publikumsbedürfnis nach Affekten Rechnung getragen wird“111, so Peter Wuss. Dolf Zillmann und Peter Vorderer kommen bei der Analyse der InhaltsKategorie Unterhaltung zu dem Schluss, dass „entertainment offerings obtrusively dominate media content and are bound to do so in the foreseeable future.“112 Eine Einschätzung, die sich auch bei Hans-Jörg Stiehler findet, der mit Blick auf das Phänomen Unterhaltung im Fernsehen attestiert: trotz dessen Zentralität in „modernen Gesellschaften, hinkt die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihm doch um Einiges nach.“113 Werner Früh formuliert, auf diese Defizite aufbauend, ein Desiderat für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Phänomen: Wenn bisherige Unterhaltungstheorien in der Regel implizit oder explizit davon ausgehen, dass Unterhaltung nur bei sog. Unterhaltungs109 Brosius: Unterhaltung als isoliertes Medienverhalten?, S. 75. 110 Früh: „Theorien, theoretische Modelle und Rahmentheorien“, S. 9. 111 Wuss: „Das Leben ist schön…“, S. 123. 112 Zillmann/Vorderer: Media Entertainment, S. VII. 113 Stiehler: „Einleitung“, S. 7, in Früh/Stiehler: Theorie der Unterhaltung.
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sendungen entstehen kann, dann sollte eine leistungsfähigere Theorie in der Lage sein, Unterhaltung auch im Kontext von Informationssendungen oder Bildungsangeboten zu identifizieren. Darüber hinaus wissen wir, dass Mediennutzung nicht immer ein motiviertes und streng zielgerichtetes Verhalten darstellt, sondern oft auch habitualisiert abläuft. Deshalb muss eine Theorie auch in der Lage sein zu erklären, wie Unterhaltung eher beiläufig und absichtsfrei entstehen kann.114 Es handelt sich somit bei der Unterscheidung zwischen Information und Unterhaltung um keine objektivierbare Aufteilung medialer Stimuli. Vielmehr steht die wissenschaftliche Betrachtung einer Dichotomie gegenüber, die aus nur bedingt formalisierbaren subjektiven Zuschreibungen erwächst. Die theoretischen Schwierigkeiten, die daraus resultieren, fasst Werner Früh wie folgt: Wenn Unterhaltung sich jedoch nicht als Merkmal von Medienangeboten, sondern als Merkmal menschlichen Erlebens manifestiert, könnten Medienangebote, die üblicherweise nicht als Unterhaltung deklariert werden (z.B. Infotainment, Sport, Dokumentationen, Nachrichtenjournale etc.) nicht zur Unterhaltung gerechnet werden, obwohl sich das Publikum dabei unterhält, und umgekehrt kann es Medienangebote geben, bei denen sich niemand unterhält, die aber zur Unterhaltung gerechnet werden.115 Dies bedeutet, dass jegliche Einteilung, die ihren Ursprung im Produkt hat, sich nicht in adäquater Weise in der Rezeption abbildet. In gleicher Weise sind aber auch die Rezeptionserlebnisse der Nutzer nicht geeignet, eine trennscharfe Klassifizierung zu erzeugen, da diese beim gleichen Stimulusmaterial bis zur Kontradiktion differieren können. Die Tatsache, dass Information und Unterhaltung alles andere als strikt geschiedene Kategorien sind, verdeutlichten schon in den 1980er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Untersuchungen zur Rezeption von Nachrichtensendungen. In diesen geben die Befragten an, dass die Nachrichten kaum etwas mit ihrem persönlichen Leben zu tun hätten. Zwischen 40 und 50 % sehen Nachrichten zudem mit gänzlich anderen Motiven: Sie finden sie unterhaltsam, bequem, entspannend und billiger als andere Aktivitäten. Dazu passen Befra-
114 Früh: Unterhaltung durch das Fernsehen, S. 68. 115 Früh: Unterhaltung durch das Fernsehen, S. 79.
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gungsergebnisse, nach denen schlechte Nachrichten um bis zu 33 % lieber als gute Nachrichten gesehen werden [...] 116 Bereits dieser kurze Blick auf die Rezipientenseite beim hervorstechendsten Informationsangebot des Fernsehens zeigt, dass der begrifflichen Dualität keine faktische Dichotomie entspricht. Gerade der Befund, dass eine nicht geringe Zahl von Nachrichtenkonsumenten sich von diesem Medienformat unterhalten lässt, belegt die enge Verwandtschaft zwischen Informationsaufnahme und Unterhaltung. Diese Einsichten führen aber auch vor Augen, dass die in Zusammenhang mit der Medienproduktion so gängige Unterscheidung zwischen Information und Unterhaltung zwar pragmatisch sinnvoll aber nicht analytisch haltbar und schon gar nicht wissenschaftlich produktiv ist. Für die Analyse resultiert aus dieser uneinheitlichen Rezeption, dass zuerst die Geschehnisse auf Rezipientenseite zumindest ansatzweise nachvollzogen werden müssen. Ob ein Inhalt im subjektiven Erleben Information, Unterhaltung oder nichts von beiden ist, darüber entscheidet einzig und allein das wahrnehmende Individuum. Werner Früh pointiert diese unveräußerbare Entscheidungshoheit des einzelnen Menschen am Beispiel der Unterhaltung: „Wenn sich eine Person unterhält, so muss sie dies in irgendeiner Weise bemerken, denn ein nicht empfundenes Lustempfinden ist trivialerweise keines.“117 Dies trifft auch dann noch zu, wenn die Person die einzige unter Tausenden ist, die sich bei einem Erfolgsfilm zu Tode langweilt. Das Erleben jeglicher Stimuli und die daran anschließende Beurteilung finden zu allererst im Prozess der individuellen Wahrnehmung statt.
Information und Unterhaltung als Aspekt der Umweltwahrnehmung „Das „Paradox der Fiktion“ besagt ja genau, dass der Zuschauer emotional auf etwas reagiert, von dem er weiß, dass es nicht existiert [...]“ (Hans J. Wulff118)
Die fundamental individuelle Entscheidungskompetenz zur qualitativen Kategorisierung von Medienprodukten hat ihre Wurzeln im stammesgeschichtlich entstandenen Informationsmanagement unserer Spezies. Wie deutlich wurde, zeichnen sich sowohl gelungene Unterhaltungs- als auch Informationsangebote dadurch aus, dass sie die Aufmerksamkeit des Nutzers bleibend auf sich 116 Winterhoff-Spurk: Medienpsychologie, S. 105. 117 Früh: Unterhaltung durch das Fernsehen, S. 77. 118 Wulff: „Das emphatische Feld“, S. 110.
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ziehen. Aufmerksamkeit ist dabei eine evolutionär entstandene Verhaltensoption zur selektiven Aufnahme und Auseinandersetzung mit Umweltaspekten. Es handelt sich dabei um einen Mechanismus, der an die allgemeinen Orientierungsreaktionen des Organismus anknüpft und darauf zielt, bevorzugt handlungsrelevante Aspekte der Umwelt, besonders Veränderungen, wahrzunehmen. Ein Verweilen der Aufmerksamkeit auf einem Umweltausschnitt dient dazu, mehr von einem Stimulus zu rezipieren, der aufgrund von kulturellen, individuellen und stammesgeschichtlich evolvierten Kriterien als bedeutungsvoll eingestuft wird. Aus der evolutionstheoretischen Perspektive rechtfertigt sich eine derart kontinuierliche Aufmerksamkeitszuwendung durch ihren potentiellen strategischen Nutzen – einer Vorliebe für bestimmte Geschehnisse und Inhalte, die sich primär eben nicht auf der Ebene bewusster Urteile manifestiert, sondern in Erlebnisqualitäten, die die Basis für den bewusst reflektierenden Umgang mit dem jeweiligen Stimulusmaterial bilden. Ein leistungsfähiges Verständnis von Unterhaltung und Information muss auf den basalen Charakteristiken der Weltwahrnehmung als biologischem Informationsverarbeitungsprozess aufbauen. Für die Information erscheint dieser Zusammenhang relativ evident: Wenn in der Entwicklung von Lebensformen die Individuen einen strategischen Vorteil haben, die vorhandene Ressourcen besser nutzen, dann muss dies auch für den Bereich der Information zutreffen. Insofern ist es nicht überraschend, dass eine Spezies, die über ein in einzigartiger Weise entwickeltes Organ zum Umgang mit Umweltreizen verfügt, ihre Aufmerksamkeit selektiv den für sie wichtigen Aspekten dieser Umwelt zuwendet. Die außergewöhnliche Ausprägung, zu der das Gehirn der Säugetiere in der Stammeslinie des Menschen herangereift ist, kann als direkter Beleg für den Wert einer leistungsfähigen Verarbeitung von Umweltinformationen gesehen werden. Die spezifische biologische Anpassung im Rahmen der menschlichen Entwicklung besteht vor allem in der Entwicklung effizienter Mechanismen zur Aufmerksamkeitssteuerung und leistungsfähiger Verarbeitungswege zum Entwerfen und Bewerten komplexer Handlungsoptionen. Vor diesem Hintergrund ist das Interesse heutiger Menschen an Medieninhalten, die mehr oder weniger präzise als Information kategorisiert werden können, ebenfalls alles andere als überraschend. Die dominante Rolle der Unterhaltung im Mediengeschehen erscheint deshalb auf den ersten Blick unverständlich und sogar mit der handlungsorientierten Informationsverarbeitung im Gehirn unvereinbar. Genau dies ist es, worauf das Zitat von Hans J. Wulff am Anfang dieses Abschnitts anspielt, wenn vom Paradox der Fiktion die Rede ist. „It is after all only a film“119, wie Ed Tan zutreffend konstatiert. Paradox 119 Tan: Emotion and the Structure of Narrative Film, S. 1.
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am menschlichen Umgang mit Fiktionen ist, dass die Vertreter unserer Spezies immer wieder und teilweise sehr emotional - auf Präsentationen von Zusammenhängen reagieren, von denen die Rezipienten wissen, dass diese keine reale Entsprechung haben. Ja, es kann sich dabei auch um Fälle wiederholten Konsums handeln, so dass der Faktor Neuigkeit als treibende Kraft hinter der Rezeption ausgeschlossen werden kann. So nützlich die Beschäftigung mit potentiell verwendbaren medialen Informationsangeboten sein mag, so unnütz erscheint aus einer Kosten-Nutzen-Perspektive die Zeit, die für den Konsum einer breiten Palette von Unterhaltungsprodukten aufgewendet wird. Dieser scheinbar so grundsätzliche Unterschied von Information und Unterhaltung verschwindet jedoch beim Blick auf die Beschaffenheit neuronaler Reizverarbeitung. Die Fähigkeiten zum Umgang mit der Umwelt bildeten sich in einem langandauernden biohistorischen Prozess. Dabei entstand kein Organ, das lediglich auf die Aufnahme und Verarbeitung nützlicher Informationen ausgelegt ist. Zwar ist das Gehirn heutiger Menschen das Ergebnis eines kompetitiv-selektiven Prozesses, das Gehirn selbst ist jedoch keine Verkörperung dieses effizienzsteigernden Prozesses sondern Bestandteil eines an eine spezielle Ökonische angepassten Organismus. Das menschliche Gehirn ist somit keine biologische Informationsverarbeitungsmaschine, die in universeller Weise darauf ausgelegt ist, maximal effizientes Verhalten zu produzieren. Vielmehr ist dieses Organ mit seinen kognitiven Mechanismen eine Anpassung an die Rahmenbedingungen seiner evolutionären Geschichte: eine Antwort auf spezifische Umwelt- und Ressourcensituationen. Aus dieser Beschaffenheit leitet sich meine Hypothese her: Das interessierte Wahrnehmen medialer Information und Unterhaltung ist ein Zustand innerhalb des Erlebenskontinuums, das aus dem evolutionär entstandenen Informationsmanagement des menschlichen Gehirns resultiert. Sich informieren und sich unterhalten sind keine entgegengesetzten Zustände, sondern verschiedene Erscheinungsformen innerhalb eines kontinuierlichen Spektrums menschlicher Aufmerksamkeit – beide Wahrnehmungsweisen und auch deren Mischformen leiten sich funktional aus dem Umgang mit handlungsrelevanten Umweltinformationen her. Das Interesse an nützlichen Informationen, aber auch an faktisch nutzlosen Geschichten und Darbietungen ist ein Produkt des biologisch verankerten Informationsmanagements des menschlichen Gehirns. In beiden Fällen generiert das Gehirn Aufmerksamkeitszustände, gepaart mit der Fokussierung der beteiligten Sinnesorgane auf den jeweiligen Stimulus. Zentral für die Schaffung und Aufrechterhaltung dieses Zustands sind dabei subkortikal entstehende Bewertungen des präsentierten Stimulus. Dies bedeutet, dass hirnintern eine qualitativ über bloßes Erkennen und Einordnen hinausgehende existenzielle Färbung der Rezeptionssituation generiert wird. Kurz gesagt, das informationelle
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Pendant zum Geschmacks-Urteil beim Essen: Das ist gut, ich will mehr davon. Audiovisuelle Inhalte können, genau wie Nahrungsmittel, durch die Qualität mit der sie erlebt werden, Handlungsmuster hervorrufen, die auf eine Aufrechterhaltung oder Intensivierung der jeweiligen Nutzungssituation zielen. Im Fall der medialen Informationsaufnahme wurden diese Erlebensqualitäten bisher weitgehend vernachlässigt. Der Erklärung, dass es nur zu natürlich ist, sinnvolle und möglicherweise nützliche Informationen über die eigene Umwelt zu konsumieren, wurde bisher eine Plausibilität zugesprochen, die Korrekturen oder Ergänzungen unnötig erscheinen ließ. Die Erkenntnisse der Emotionsforschung im Lichte evolutionärer Überlegungen verdeutlichen, dass es sich auch bei den Konsumenten der Fernsehnachrichten nicht um das Animal rationale des Aristoteles handelt. Der Mensch erweist sich vielmehr als Akteur mit zwei untrennbar verbundenen kognitiven Seiten: stammesgeschichtlich alten Mechanismen der Aufmerksamkeitssteuerung und emotionalen Bewertung sowie einer kulturell sozialisierten bewussten Rationalität, die auf diesen ursprünglicheren Mechanismen aufbaut. Ein Hintergrund, der das Paradox der Fiktion in seiner Konsequenz der Paradoxie beraubt, weil er ersichtlich macht, dass ein Für-wichtig-nehmen scheinbar unwichtiger Stimuli nur im Rahmen einer auf ausschließlich rationale Verarbeitung konzentrierten unvollständigen Sichtweise menschlicher Kognition rätselhaft bleibt. Aus evolutionärer Perspektive zeigt sich vielmehr, dass gelingendes Informations- und Unterhaltungserleben und deren mögliche Amalgamierungen sich aus stammesgeschichtlich alten kognitiven Mechanismen zur Aufmerksamkeitssteuerung speist. Erfolgreiche Medienprodukte, gleich welcher Couleur, regen subkortikale Verarbeitungsmechanismen an, die auf Verhalten zur Fortsetzung der medialen Stimulation zielen. Der entscheidende Unterschied innerhalb dieses Erlebniskontinuums ist, dass nur im Fall der Information der Konsum intersubjektiv als notwendig und vernünftig legitimiert werden kann. Trotz dieses Rechtfertigungsvorsprungs informationshaltiger Medienprodukte sind die Erlebenszustände Information und Unterhaltung gleichermaßen Varianten des alten und essentiellen Urteils wichtig.
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Teil 5: Evolutionär-anthropologische Medienanalyse „Wer hat Angst vor Charles Darwin? Die Filmkunst im Zeitalter der Evolution.“ (Murray Smith1)
Die audiovisuellen Medien sind die Leitmedien der globalen Medienkultur. Dabei ist dem Fernsehen und den artverwandten Formen Kino, Video und DVD in den letzten zwei Jahrzehnten in Form der Video- und Computerspiele ein erfolgreicher Konkurrent erwachsen, speziell bei den jüngeren Konsumenten. Der scheinbar so selbstverständliche Erfolg der audiovisuellen Medien in unserer Gesellschaft ist dabei alles andere als selbstverständlich. Im Gegensatz zu vielen anderen Medien verlangen sie ihren Nutzern durch ihre geringe Mobilität ein hohes Maß an Anpassung an ihre spezifischen Nutzungsmöglichkeiten ab. Es bleibt abzuwarten, welchen Einfluss die Entwicklung und der Einsatz von leistungsfähigen Kleindisplays, Speichertechnologien und drahtloser Breitbandanbindung für Handys und mobile Abspielgeräte auf zukünftige Nutzungsgewohnheiten haben werden. Ein Ausgleich zu der bisherigen Immobilität der bewegten Bilder im Wettbewerb mit anderen Medien erwächst aus den sensorischen Qualitäten des Stimulusmaterials: „Das Fernsehen spricht als audiovisuelles Medium zwei Sinneskanäle gleichzeitig an und kann daher von den Nutzer/inne/n ganzheitlicher wahrgenommen werden als zum Beispiel das Radio.“2 Zudem handelt es sich bei diesen zwei Sinneskanälen um die sensorischen Hauptinformationsquellen unserer Spezies. Von den fünf Sinnen, über die der Mensch verfügt, – Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen – sind nur drei darauf ausgerichtet Stimuli zu verarbeiten, zu deren Quellen kein direkter Körperkontakt besteht. Audiovisuelle Medien sprechen die beiden wichtigsten Sinne an: Sehen und Hören. Der Geruchssinn, so sehr er den Menschen emotional mit seiner Umwelt verbindet3, ist im Vergleich mit den Orientierungsleistungen der anderen Distanzsinne unbedeutend. Bei der für Bewegtbildmedien typischen simultanen Darbietung zweier Stimulusmodi gibt es starke Hinweise, dass sich diese unterschiedlichen Reize in ihrer Wirkung nicht einfach addieren sondern, dass es zu synergetischen Effekten kommt, die das Erleben modifizieren und intensivieren. In einem sehr aufschlussreichen Experiment wurden Versuchspersonen auf einem Bildschirm zwei Kreise gezeigt, die auf entgegengesetzten Seiten erschienen, sich auf glei1
Smith: Wer hat Angst vor Charles Darwin?, S. 289.
2
Schramm/Hasebrink: „Fernsehnutzung und Fernsehwirkung“.
3
Vgl. Milinski: „Perfumes“.
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Medien – Gehirn – Evolution
cher Höhe aufeinander zu bewegten, sich auf diesem Weg zeitweise überlagerten und schließlich an den entgegengesetzten Rändern der Bildfläche wieder verschwanden.4 Diese Darbietung wurde kombiniert mit einem Kollisionsgeräusch, das – wenn es genau dann zu hören war, wenn die beiden Kreise einander berührten –, dazu führte, dass sich die Wahrnehmung der visuell dargebotenen Bewegung grundlegend wandelte. Die Versuchspersonen hatten nun nicht mehr den Eindruck, dass die Kreise wechselwirkungslos ihren ursprünglichen Bahnen folgten, sondern dass diese zusammenstießen, voneinander abprallten und die Bewegungsrichtung sich umkehrte. Bild und Ton stehen in den audiovisuellen Medien in keinem zwingenden Zusammenhang, dadurch eröffnet sich jedoch nicht nur die Möglichkeit Dargebotenes, je nach Arrangement, unterschiedlich wahrzunehmen, sondern auch – durch real nicht mögliche Stimuluskombinationen – Wahrnehmungen zu erzeugen, die in erstaunlicher Weise von den präsentierten Reizen abweichen. Ein Beispiel hierfür ist der so genannte McGurk-Effekt: Hören Versuchspersonen die Silbe ba, während ihnen auf einem Bildschirm ein Sprecher gezeigt wird, der die Silbe ga ausspricht, so geben diese Menschen an, der Akteur auf dem Bildschirm habe die Silbe da gesagt.5 Die divergierenden, optischen und akustischen Teile des Stimulus werden als solche nicht bewusst, sondern im Verlauf der kognitiven Verarbeitung zu einem einzigen, für die Versuchsperson stimmig erscheinenden Eindruck verrechnet. Diese Beispiele zeigen erneut den (neuro)konstruktivistischen Grundcharakter der menschlichen Wahrnehmung. Eindrücke und Erlebnisse sind keine Eins-zu-Eins-Abbildungen von Umweltereignissen, sondern sensorisch-neuronale Konstrukte, die aus den eintreffenden Reizen (re)konstruiert werden. Das reizverarbeitende System ist nicht darauf ausgelegt die Wirklichkeit im Sinne einer philosophischen Wahrheit abzubilden, sondern adäquates und schnelles Handeln zu ermöglichen. Die Konsequenz für audiovisuelle Medien ist, dass Menschen nicht an reale Ereignisse gebunden sind, wenn es darum geht, verschiedene Qualitäten des Spektrums bewusster und emotionaler Zustände hervorzurufen. „Vielmehr genügt“, wie Gerhard Roth schreibt, „das Vorliegen einer bestimmten kritischen Menge von Daten, damit das vollständige Bild einer Gestalt hergestellt werden kann.“6 Gestalt bezieht sich hier nicht nur auf die Erscheinung eines Menschen oder eines Tieres, sondern auch auf die Grundstruktur von Situationen und ihr Erfassen. Audiovisuelle Medien stimulieren
4
Vgl. Hoffman: Visuelle Intellligenz; Bach: Motion-Bounce Illusion.
5
Vgl. Herrmann/Fiebach: Gehirn & Sprache, S. 116; McGurk/MacDonald: „Hearing lips and seeing voices“.
6
Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, S. 266f.
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Teil 5: Evolutionär-anthropologische Medienanalyse
das Gehirn so, als wären die repräsentationalen Inhalte Bestandteile der realen Umwelt. Der Erfolg dieser Kategorie von Medien beruht somit auf der Tatsache, dass das menschliche Gehirn durch seine evolutionäre Vergangenheit darauf ausgerichtet ist, auch bei fragmentarischer Informationslage handlungsfähig zu bleiben. Je besser die Fähigkeit entwickelt war, von Hinweisen und Anzeichen adäquat auf die Gesamtheit einer Situation zu schließen, desto frühzeitiger konnte in angemessener Weise reagiert werden. Die audiovisuellen Medien erscheinen vor diesem Hintergrund als technologische Nutznießer der Umwelt unserer Vorfahren, die es ihnen schwer machte, adäquat und schnell genug zu reagieren. Der erste der folgenden drei Abschnitte widmet sich dem Film, als Stammvater der modernen audiovisuellen Medien. Unter der Fragestellung, Was ist Handlung? – eine evolutionäre Antwort, lege ich in einem zweiten Schritt dar, welche Charakteristika ein Medieninhalt aufweisen muss, um – sei es dokumentarisch oder fiktional – als Handlung wahrgenommen zu werden. Unabhängig von der medialen Umsetzung lassen sich Strukturen aufzeigen, die auf evolutionär entstandene Präferenzen des kognitiven Systems zurückgeführt werden können: Veränderung, Kausalität, intentionale Akteure, soziale Interaktionen und Emotionalität. Der letzte Abschnitt widmet sich dem Fernsehen und untersucht einige Befunde der Fernsehforschung aus der Perspektive der evolutionären Medienanthropologie.
Film „Der Film ist ein Spiegel der menschlichen Seele“ (Dirk Blothner7)
Dirk Blothners metaphorische Charakterisierung, was das Wesen des Films ausmacht, kann einer evolutionären Medienanthropologie als Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit diesem Medium dienen. Dem Film kommt in der Tat eine Spiegelfunktion für den Menschen zu – auch wenn es sich bei dem, was enthüllt wird, nicht um die Seele, sondern um rezeptive Präferenzen sowohl evolutionärer als auch kultureller Herkunft handelt. In gleicher Weise, in der Marktgeschehen Aussagen über die Vorlieben von Käufern liefert, lassen sich auch aus dem Medium Film Rückschlüsse ziehen. Primär bieten Filme audiovisuelle Erlebnisse, für die deren Konsumenten bereit sind, sowohl Geld als auch Zeit aufzuwenden.
7
Blothner: Das geheime Drehbuch des Lebens, S. 9.
251
Medien – Gehirn – Evolution
Die Inhalte der Kinofilme, um die es im Weiteren gehen wird, sind marktwirtschaftliche Wetten auf den Geschmack und die Präferenzen potentieller Nutzer. Im Fall des Gelingens kommt es zu millionenfachen Kleintransaktionen an der Kinokasse, die zum einen zufriedene Zuschauer und zum anderen erfolgreiche Schauspieler, Regisseure und Produzenten hinterlassen. Würde diese Interaktion in einem Labor unter standardisierten Bedingungen stattfinden, wäre es legitim von einem Experiment zu sprechen. Da es sich jedoch bei Veröffentlichung und Besuch von Filmen um das wirkliche Leben handelt, können Schlussfolgerungen nicht in gleicher Weise gezogen werden, als handele es sich um eine kontrollierte Untersuchung des geheimnisvollen Wesens Rezipient. Geheimnisvoll deshalb, weil sich sein Verhalten scheinbar nicht auf einfache Gesetzmäßigkeiten zurückführen lässt. Auch wenn die Filmindustrie durch rezepthafte Abmischung der Handlungsingredienzien in Blockbuster- und HighConcept-Filmen eine Minimierung des wirtschaftlichen Risikos anstrebt, so haben diese Anstrengungen noch keine Blaupause für Erfolgsfilme hervorgebracht. Stars können bedeutungslose Produktionen zu Erfolgen machen oder nur Schauspieler in Filmen sein, die kein Mensch sehen will. Regisseuren mögen geniale Werke und Kassenschlager gelingen, was die gleichen Filmschaffenden jedoch nicht daran hindert beim nächsten Film gleichermaßen den Geschmack von Kritik und Publikum zu verfehlen – von Filmen die entweder nur die Kritik oder nur das Publikum liebt gar nicht zu reden. Low-BudgetProduktionen können an der Kinokasse Großproduktionen in den Schatten stellen. Die Wiederauflage eines erfolgreichen Konzepts kann sich als Goldgrube oder als kaum bemerkter Flop erweisen. Schon diese wenigen Einflussfaktoren auf die Entstehung eines Films vermitteln einen Eindruck von der Komplexität dieses kulturellen Konsumgutes. Warum nutzen Menschen diese Medienprodukte? Auf diese Frage vermittelt die evolutionäre Medienanthropologie neue Einsichten. Hinter jeder individuellen Entscheidung zur Rezeption steht die Erwartung, durch diesen Vorgang bestimmte emotionale Zustände zu erleben. „Der Film stellt“, wie Jens Eder es formuliert, „die Partitur für ein vielstimmiges Sinfoniekonzert der Zuschaueraffekte bereit…“8. Ed Tan verbindet die beiden Faktoren Stimulus und Emotionen mechanistisch und spricht vom „Film as an emotion machine“9. Der besondere Beitrag einer evolutionären Perspektive zur umfangreichen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Medium Film wird beim Blick auf die kognitive Filmtheorie deutlich. „Die zentrale Metapher der kognitiven Filmtheorie ist“, wie Vinzenz Hediger ausführt,
8
Eder: „Noch einmal mit Gefühl“, S. 100.
9
Tan: Emotion and the Structure of Narrative Film.
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Teil 5: Evolutionär-anthropologische Medienanalyse
wie die der Kognitionswissenschaft, der Computer. Das menschliche Hirn kalkuliert, lautet die Grundannahme, und der zu sehende Film stellt eine Art Rechenaufgabe dar. Gegenstand der Filmtheorie sind demnach die spezifischen mentalen Operationen, die zur Verarbeitung des filmischen Stimulusmaterials in Gang gesetzt werden, also für die Prozesse, die zur Konstruktion der Welt des Films – oder zur Konstruktion des Films als ästhetischer Gegenstand – notwendig sind.10 Die evolutionäre Medienanthropologie kann dieses Bild von der Verarbeitung des Stimulusmaterials Film entscheidend präzisieren: Die auf kompetitive Effizienz in der Handlungssteuerung zielenden selektiven Bedingungen der Entwicklung des menschlichen Gehirns haben spezifische Mechanismen der Aufmerksamkeitssteuerung und daran anschließender Bewertungsprozesse herausgebildet. Der menschliche Umgang mit Filmen ist nicht nur Ergebnis der kulturellen und sozialen Einflüsse, sondern auch ein Resultat der Umweltbedingungen, unter denen die Spezies Mensch sich entwickelte: Menschen tendieren dazu, sich Klassen von Stimuli zuzuwenden, die in der stammesgeschichtlichen Vergangenheit eine effiziente Handlungsorientierung erlaubten.
„Bigger than life“ – Film als Superstimulus „Die visuelle Landschaft wird eindeutig von Aufnahmen dominiert, die den Gesichtsausdruck lesbar machen [...]“ (Murray Smith11)
Frank Schwab legt in seinem eleganten Aufsatz Unterhaltung: Eine evolutionspsychologische Perspektive dar, dass ein Aufenthalt im Kino in vielfältiger Weise an evolutionär alte Mechanismen anschließt. So technisch das Medium in seiner Produktion ist, so biologisch sind die kognitiv-psychologischen Mechanismen seiner Rezeption. Der klassische Hollywood-Slogan, dass Film bigger than life ist, erweist sich aus dem Blickwinkel einer evolutionären Medienanthropologie als analytisch erstaunlich adäquat. Wäre das Medium Film nicht stimulatorisch größer als das reale Leben – was angesichts der Nutzungsentscheidung um die es geht gleichbedeutend mit interessanter ist –, bestände kein Grund, warum Menschen den Aufenthalt in einem nur einseitig mit wechselfarbigem Licht beleuchteten Raum einem Blick aus ihrem Wohnzimmerfenster oder einem Spaziergang im Wald vorziehen sollten. 10 Hediger: „Des einen Fetisch ist des anderen Cue“, S. 47. 11 Smith: Wer hat Angst vor Charles Darwin?, S. 293.
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Medien – Gehirn – Evolution
Das Kino als Ort an dem Filme vorgeführt werden – und hier schließt es sich dem klassischen Theater an – ist ein Raum, der so angelegt ist, dass die gebotenen Stimuli ein Maximum an Wirkung entfalten. Psychologisch zentral ist in beiden Fällen das Bemühen um ein Umfeld, in dem neben dem jeweils Präsentierten keine weiteren Aufmerksamkeits-Attraktoren existieren. So fokussiert die Abdunklung die visuelle Wahrnehmung auf die Leinwand, während dicke Wände und geschlossene Türen den Raum akustisch isolieren und potentielle Störgeräusche ausschließen. Auf diese Weise entsteht ein artifizielles Umfeld, das darauf ausgelegt ist den präsentierten Medienstimuli maximale Wirkung zu verschaffen. Die weitgehend konstante Körperhaltung führt darüber hinaus dazu, dass tast- und proprio-rezeptive Sinneseindrücke auf Grund von Habituation in den Hintergrund treten, so dass das Erleben zur Gänze von den medial dargebotenen visuellen und auditiven Reizen dominiert wird. Trotz dieses idealen Umfeldes, in dem Filme präsentiert werden, bleibt die Frage, warum diese eine so große Wirkung auf ihre Zuschauer ausüben. Die Anwesenden wissen genau, dass die wahrnehmbaren Medieninhalte auf kein gegenwärtiges Geschehen und in den allermeisten Fällen auch auf keinen realen Bezug referieren. Ein Zustand, der in die paradoxe Situation mündet, dass Menschen sich unter diesen Bedingungen freiwillig und oft mit Genuss Handlungen ansehen, die sie im realen Leben meiden würden wie z.B. Morde, Schlachten oder Monsterattacken. Im Gegensatz dazu finden Handlungen, die üblicherweise als erstrebenswert gelten, hier nur sehr beschränkte Aufmerksamkeit – Dinner in teuren Restaurants, Nachmittage am Strand oder Abende auf der Couch. Der Film schafft somit bei seinen Konsumenten ein paradox anmutendes Verhalten, das es zu erklären gilt: Warum konfrontieren sich Menschen mit Szenarien, die sie selbst nie erleben wollen und warum vermeiden sie Reizkonstellationen, die persönlich angestrebten Lebenssituationen entsprechen? Der Grund für dieses scheinbar widersinnige Verhalten liegt darin, dass sich a) die Präferenzen für die Umweltwahrnehmung und die Eigenbefindlichkeit erheblich unterscheiden und b) die Rezipienten sich sehr wohl darüber im Klaren sind, wann sie realen und wann sie medialen Situationen ausgesetzt sind. Die neurokognitive Basis des fraglichen Verhaltens beruht dabei auf der Beteiligung sowohl der bewussten Reizverarbeitung durch die reflexiven Mechanismen des assoziativen Kortex als auch einer unbewussten Prozessierung der eingehenden Reize durch subkortikale Mechanismen, die sich wiederum auf das bewusste Erleben auswirken. Auch wenn diese verschiedenen Verarbeitungsmodi zu einem phänomenal einheitlichen Ergebnis führen, nämlich dem Erleben der jeweiligen Situation, wird dieser kognitive Prozess durch eine evolutionär bedingte Dichotomie geprägt: Im Gegensatz zu den bewussten kortikalen Aktivitäten, die unter der Prämisse erfolgen, dass es sich um keinen
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Teil 5: Evolutionär-anthropologische Medienanalyse
handlungsrelevanten Umweltreiz handelt, erfolgen die Verarbeitungen durch die subkortikalen Mechanismen so, als würde es sich um einen realen Reiz im direkten Umfeld des Rezipienten handeln. Daraus folgt, dass medialer Input vom menschlichen Gehirn in einer Art und Weise verarbeitet wird, die seiner repräsentationalen Natur nur zum Teil gerecht wird: die implizite Ontologie der subkortikalen Verarbeitung sieht Reize ohne real gegebene Entsprechung nicht vor, während die für das Bewusstsein verantwortlichen Mechanismen des Kortex hier sehr wohl unterscheiden. Ein exemplarischer Beleg für diese zwiegespaltene Verarbeitung ist das Verhalten, das Phobiker medialen Präsentationen ihrer jeweils angstbehafteten Objekte entgegenbringen. Viele Spinnen- oder Schlangenphobiker sind nicht oder nur unter großen Schwierigkeiten im Stande, Bilder dieser Lebewesen zu berühren. Der Grund hierfür liegt in der oben beschriebenen kognitiven Dichotomie: Auch wenn sich der oder die Betreffende eindringlich vor Augen hält, dass es sich um ein Foto handelt, reagieren die nichtbewussten Verarbeitungsmechanismen, als bestände eine reale Konfrontation. Dazu kommt, dass die subkortikale Verarbeitung in massiver Weise auf Bewusstseinsprozesse einwirkt – viel mehr, als diese im Gegenzug auf die evolutionär älteren affektiven Zentren einwirken.12 Aus diesem Grund können auch hochintelligente Phobiker nicht entspannt lächelnd innigen Hautkontakt zu Darstellungen ihres Angstauslösers aufnehmen: Angst und Ekel werden als Elemente des Spektrums emotionaler Reaktionen in den unbewussten Regionen des Gehirns generiert und lassen sich aus diesem Grund nicht willentlich abschalten. So bedauerlich und problematisch die Auswirkungen dieser parallelen Prozessierung im Falle von Phobikern sind, so erfreulich sind sie im Hinblick auf die verschiedenen Formen des Medienkonsums. Filme sind nur deswegen aufwühlend, packend oder mitreißend, weil ihre Rezipienten sie in ähnlicher Weise erleben wie der Angstgeplagte Spinnen- oder Schlangenbilder. Wer jemals einen Film verlassen hat, weil er ihm zu eklig, zu brutal oder zu angsteinflößend war, hat diese Beschaffenheit der menschlichen Weltwahrnehmung am eigenen Leib erfahren. Was immer auch der konkrete Anlass dieser starken Wirkung war, die Fiktionalität nicht kennende subkortikale Verarbeitung hat in diesem Fall über die psychische Sphäre des reflexiven Entscheidens triumphiert bzw. deren willentlichen Entschluss erst ermöglicht. Im Normalfall ist es jedoch gerade dieses Zusammenwirken der verschiedenen Hirnareale, das für die angenehmen und erwünschten Erlebnisse einer Filmvorführung verantwortlich ist. Zur angenehmen Sicherheit des bewussten Wissens einem Geschehen beizuwohnen, das in keiner Weise handlungsrelevant ist, gesellen sich evolutionär für den Umgang mit der direkten Umwelt se12 Roth: Fühlen, Denken, Handeln, S. 318ff.
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lektierte emotionale Zustände, die den gebotenen Inhalten Bedeutung verleihen, für die es rational keinen Grund gibt. Für Medienproduzenten wie -nutzer erweist es sich als Glücksfall, dass diese emotionsgenerierenden Mechanismen nicht zwischen realem und medialem Input unterscheiden – eine Charakteristik, die wenig überraschend ist, da zu keinem Zeitpunkt der Stammesgeschichte des Menschen ein selektiver Druck bestand, der auf eine derartige kognitive Kategorisierung hätte hinwirken können. Bestände im Rahmen der Prozessierung audiovisueller Stimuli das Potential für eine solche Unterscheidung, so hätte sich der Film nie als Freizeitmedium etabliert. Liebe und Leid auf der Leinwand würden potentielle Rezipienten kalt lassen und allerhöchstens Fragen provozieren, warum man Zeit für derartige Bedeutungslosigkeiten verwenden solle. Dass das Medium Film jedoch gerade durch sein emotionsevozierendes Potential gekennzeichnet ist, hebt auch der Filmwissenschaftler Peter Wuss hervor, wenn er schreibt: „Das Kino ist seit jeher ein privilegierter Ort für Emotionen, und wer über Film und Filmerleben redet, schließt dabei im Grund stets die emotiven Wirkungen ein, denn sie gehören essenziell dazu.“13 Ed Tan unterscheidet im Rahmen ähnlicher Überlegungen zwischen „FiktionsEmotionen“, die sich auf den Film als fiktionalen Handlungs- und Weltentwurf richtet, und „Artefakt-Emotionen“, die auf den Film als Kunstwerk zielen. Dies kann vor diesem Hintergrund als heuristische und nach Stimuluskategorien differenzierende Pragmatik gesehen werden.14 Eine Unterscheidung zwischen distinkt verschiedenen rezeptiven Zuständen, die mit kulturell unterschiedenen Stimulusquellen verbunden sind, ist wenig sinnvoll, da derartige Zustände sich auf Grund ihrer evolutionär bedingten Beschaffenheit innerhalb der prinzipiell möglichen Ausprägungen des kognitiven Systems bewegen. Dass Filme für ihre Rezipienten alles andere als bedeutungslos sind und mitunter sogar nach einer kritischen Begutachtung noch als bigger than life bezeichnet werden, ist ein Ergebnis der zu emotionalen Bewertungen führenden Aktivitäten subkortikaler Mechanismen. Auch das Wissen darum, dass es sich um mediale Stimuli handelt, ändert nichts daran, dass Filme Gefühle evozieren, die evolutionär als handlungsleitende Elemente menschlicher Kognition angesichts der Geschehnisse in der eigenen Umwelt selektiert wurden. Das Miteinander bewusster und unbewusster Verarbeitung führt jedoch in diesem Fall dazu, dass Handlungsabläufe mit Genuss wahrgenommen werden, die in der Realität ein unmittelbares Handeln erfordern würden. Die Gewissheit, dass es sich im Falle eines Films um den Konsum eines repräsentationalen Medien-
13 Wuss: „Das Leben ist schön…“, S. 123. 14 Tan: Emotion and the Structure of Narrative Film, S. 64ff.
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produkts handelt, ermöglicht auf der unbewussten Ebene das Entstehen von ansonsten nicht tatenlos hinnehmbaren Emotionen. Intensive Gefühle, die mit der Rezeption eines Filmes häufig einhergehen, erlauben im Gegenzug einen Rückschluss auf die informationelle Beschaffenheit des gebotenen Stimulus. Evolutionshistorisch sind Emotionen kognitive Mechanismen, die selektiert wurden, weil mit ihnen kompetitive Handlungsvorteile verbunden waren. Es handelt sich bei ihnen um Prozesse, die auf strategisch relevante Umweltgeschehnisse ansprechen. Kinofilme beziehen somit einen großen Teil ihres Unterhaltungspotentials daraus, dass sie in fiktionalen Kontexten Typen von Geschehnissen darbieten, die evolutionshistorisch in der für die Entstehung der menschlichen Art relevanten Umwelt von entscheidender Bedeutung waren. Das weit verbreitete Gefallen an diesem Medium stellt in diesem Sinne keine kulturelle Loslösung von unseren biologischen Wurzeln dar, sondern eine komplexe und bewundernswerte kulturelle Überformung evolutionär alter informationeller Präferenzen. Gefühle als kognitive Mechanismen stehen tendenziell in einer proportionalen Relation zur strategischen Bedeutung der sie auslösenden Ereignisse: Je wichtiger das wahrgenommene Geschehen, desto stärker die emotionale Reaktion. Medieninhalte allgemein, nicht nur filmische Fiktionen, bedienen sich dieser Kopplung und präsentieren bevorzugt menschliche Interaktionen und Aktionen, die – fänden sie in der direkten Umwelt statt – von hoher Handlungsrelevanz wären. Gezeigt werden Konflikte und Kooperationen unter denkbar extremen Situationen und mit existenziellen Konsequenzen für die beteiligten Individuen. Aus diesem Grund ist die Bezeichnung bigger than life für das Medium Film höchst angemessen, weil hier emotionale Zustände hervorgerufen werden, die deutlich über der Aktivierung dieser kognitiven Mechanismen im Alltag der Rezipienten liegen. Diese Beschaffenheit des Mediums Film belegt jedoch auch eine rezeptive Charakteristik des Menschen: Den Hang zu großen Gefühlen – ein Hang, der sich im Lichte der bisherigen Ausführungen als eine informationelle Präferenz darstellt. Die Lust an der medialen Stimulation des affektiven Spektrums zu dem der Mensch fähig ist, ist kein Selbstzweck, sondern die kulturelle Erscheinungsweise einer ursprünglich handlungsbezogenen Vorliebe für strategisch wichtige Umweltereignisse. Diese Auswirkungen der unbewusst-emotionalen Verarbeitung lassen sich auch anhand des rational nicht erklärbaren Mehrfachsehens von Filmen aufzeigen. Weil eine Handlung nach einmaliger Exposition den Status des Unbekannten und somit Überraschenden verloren hat, scheidet Neugier als antreibende Kraft für etwaige Wiederholungskonsumenten aus. Grund für die teilweise extreme Kultivierung des mehrfachen Konsums bestimmter Filme sind die stets wiederkehrenden Reaktionen der beteiligten subkortikalen Mechanis-
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men. Genauso, wie diese Mechanismen nicht zwischen realem und medialem Input differenzieren, besteht auch kein grundsätzlicher Unterschied zwischen dem ersten Wahrnehmen einer komplexen Stimulusabfolge und deren Wiederholungen. Zwar sind Habituierungseffekte nicht auszuschließen, grundsätzlich erfolgen jedoch bei jeder erneuten Exposition die gleichen kognitiven Reaktionen. Ohne dieses Potential zur prinzipiell endlosen Wiederholung der gleichen affektiven Reaktionen auf identische Stimuli wären Kultfilme oder Filmklassiker undenkbar. Dieser Grundmechanismus der Filmwirkung – die Handlung wird bewusst als rein rezeptives Ereignis und unbewusst als relevante Umweltbegebenheit verarbeitet – wirkt sich auch auf die Inszenierung aus. Wie noch im Abschnitt über evolutionäre Grundlagen des Handlungskonzepts dargestellt wird, werden bevorzugt jene Momente aus einem sich möglicherweise über Jahre oder sogar Jahrhunderte erstreckenden Handlungsverlauf präsentiert, in denen strategisch wichtige Veränderungen stattfinden: Anfang oder Ende einer Partnerschaft, einer Kooperation oder eine Konkurrenzsituation, Konflikte, sowie Situationen aus denen bedeutsame Änderungen des Bestehenden resultieren. In diesem Sinne stellt jeder Film ein Handlungskonzentrat eines bestimmten Zeitraums dar, jedoch ohne die Abschnitte, die für einen Betrachter – nach Annahme von Autor, Regisseur und Produzent – nur von untergeordnetem Interesse sind. Aus diesem Grund folgen im Medium Film kausal meist höchst konsistent aneinander anschließende Geschehnisse (Umweltereignisse aus der Perspektive der subkortikalen Verarbeitung) im Minutentakt aufeinander. Diese zeitliche Konzentration eigentlich nicht direkt aufeinander folgender Ereignisse ist dabei kein Spezifikum des Mediums Film sondern ein Charakteristikum vieler Medientypen. In der Konsequenz bezieht das Medium Film seine Wirkung aus dem Ineinandergreifen einer in der Alltagsrealität zumeist nur schwach gegebenen Ansprache subkortikaler Mechanismen und einer in der Wirklichkeit normalerweise nicht anzutreffenden Häufung von existenziell wichtigen Geschehnissen, die genau diese außergewöhnlich starken emotionalen Reaktionen hervorrufen. Die bewegten Bilder bieten somit gleich zwei Mal im wahrsten Sinne des Wortes Irreales: Handlungen und Ereignisse, die trotz ihrer hohen emotionalen Bedeutung nicht auf der Handlungsebene beantwortet werden müssen und eine Zeitraffung, die zu einer verzerrten Repräsentation von Interaktionen zugunsten strategisch wichtiger Ereignisse führt. Ich halte es an dieser Stelle für legitim – aufgrund der dargestellten Intensität und Konzentration des Stimulusmaterials – von Filmen als Superstimuli zu sprechen. Superstimuli deshalb, weil ihre produkttypischen Spezifika auf einen Rezeptionsvorgang zielen, der sich sowohl durch die hohe Frequenz strategisch potentiell wichtiger Ereignisse als auch durch die Dichte und Intensität
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Teil 5: Evolutionär-anthropologische Medienanalyse
der so evozierten Emotionen deutlich vom Alltagserleben der Nutzer unterscheidet. Diese Beschaffenheit eröffnet dabei keinen originär kulturellen Raum des Erlebens, sondern muss als eine Etablierung von Kulturtechniken gesehen werden, die eine gezielte Beeinflussung evolutionär alter menschlicher Erlebenszustände erlauben. Bigger than Life darf der Film deshalb genannt werden, weil es ihm in den vergangenen mehr als hundert Jahren der Filmgeschichte mit großer Konstanz gelungen ist, seinen Zuschauern derartige Erlebenszustände zu verschaffen, die emotional Mehr oder Anders sind als das, was der Alltag außerhalb der Kinosäle zu bieten hat.
Alte Umweltinformationen neu verpackt – Sterben auf der Leinwand „Recent research has begun to suggest that human expertise about the natural and social environment, including what is often called semantic knowledge, is best construed as consisting of different domains of competence.“(Pascal Boyer/ Clark H. Barrett15)
Die implizite Zielsetzung eines Kinobesuchs, die unspezifisch mit sich unterhalten lassen umschrieben wird, ist funktional die Hoffnung auf eine stimulusinduzierte Herbeiführung eines subjektiv positiv zu bewertenden emotionalen Zustandes.16 Starke affektive Reaktionen, die für eine solche artifizielle Beeinflussung des emotionalen Zustandes notwendig sind, entstehen jedoch nicht wahllos sondern nur, wenn die dargebotenen Geschehnisse und Handlungen von den unbewusst agierenden subkortikalen Verarbeitungsmechanismen als bedeutungsvoll und wichtig behandelt werden. Da diese stammesgeschichtlich alten kognitiven Prozesse auf Medienstimuli in analoger Weise reagieren, wie auf eine reale Situation – der emotionale Effekt wächst proportional zur lebensstrategischen Bedeutung der medial vermittelten Situation – resultiert daraus, dass die Ereignisse auf der Leinwand eine generelle Tendenz ins Superlativische aufweisen müssen, um starke Reaktionen beim Rezipienten hervorzurufen. Klischees, wie die größte Liebesgeschichte, die schrecklichste Bedrohung und die kühnste Heldentat, sind somit schon in der grundsätzlichen neurokognitiven Beschaffenheit menschlicher Medienrezeption angelegt.
15 Boyer/Barrett: Domain Specificity and Intuitive Ontology, S. 96, Hervorhebungen im Original. 16 Zillmann/Vorderer: Media Entertainment.
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Diese allgemeine Charakteristik von Filmhandlungen beinhaltet auch, dass die Konflikte und Probleme, denen sich die Protagonisten gegenübersehen, das Maß alltäglicher Herausforderungen bei weitem übersteigen. Dramaturgisch ist die zentrale Frage in diesem Zusammenhang, wie man eine Gefahr für Leib und Leben, also eine Situation in der es um Alles geht, am überzeugendsten darstellt. Gefahr an sich ist kein objektiv gegebener Gegenstand sondern ein subjektives Urteil auf Grund einer mehr oder weniger komplexen Bewertung einer Situation. Eine auf Gefahren ausgerichtete Beurteilung impliziert die Einschätzung möglicher Zukunftsszenarien auf Grund vergangener und gegenwärtiger Geschehnisse. Meine medienanthropologische These ist, dass Menschen auf Grund ihrer evolutionären Vergangenheit ein Interesse für die Wahrnehmung von intentionalen Tötungen und deren Begleitumständen entwickelt haben. Die Häufigkeit von Morden in allen Medien – der Anspruch dieser Aussage geht dabei dezidiert über den bloßen Bereich des Films hinaus – ist ein Erbe der einstigen Lebensbedingungen unserer Spezies. Die Aufmerksamkeitsmuster beim Medienkonsum legen nahe, dass das Interesse an lebensbedrohlichen Situationen und Tötungsakten auf einer rezeptiven Präferenz fußt. Bedient wird diese Vorliebe zwar durch kulturelle Produkte wie eben den Film, dies bedeutet jedoch nicht, dass sie vollständig durch mediale Einflüsse bedingt ist, denen ein Mensch in seinem täglichen Leben ausgesetzt ist. Eine genaue Analyse der Situation belegt, dass die häufig beklagte hohe Zahl an Morden in Unterhaltungsfilmen auch aus einer evolutionär entstandenen inhaltlichen Präferenz menschlicher sozialer Wahrnehmung resultiert. Warum ist es möglich, von einer rezeptiven Präferenz für intentionale Tötungsakte auszugehen? Das wird deutlich beim Blick auf die Umweltbedingungen, in denen sich der heutige Mensch entwickelte. Mord im Film befördert die involvierende Wirkung der dargebotenen Konfliktsituation in besonderer Weise, weil es sich um ein Geschehnis handelt, das im Kontext einer Kleingruppe von existenzieller Bedeutung war. Im Gegensatz zu den Auswirkungen natürlicher Tode brachte das gewaltsame Ableben eines Gruppenangehörigen eine Reihe existenzieller Fragen mit sich: Wer steht hinter dieser Tat? Was war das Motiv? Sind weitere Taten zu erwarten? Bin ich gefährdet? Auf wen kann ich mich verlassen? Wie kann ich mich schützen? Innerhalb einer Kleingruppe ist ein Mord ein eindeutiges Zeichen für eine nicht stabile und für alle Beteiligten potentiell höchst gefährliche Situation – für einen Konflikt, der eine maximale Intensität erreicht hat. In einer Gruppe, in der sich ein derartiger Vorfall ereignet, gibt es zumindest einen Akteur, der für seine Ziele nicht nur bereit ist zu töten, sondern dies bereits getan hat. In den evolutionär relevanten Zeiträumen waren Individuen, die in derartig bedrohlichen Lebenssituationen ihre Aufmerksamkeit in besonderer Weise
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der Gewalttat und den daraus resultierenden Folgen widmeten, besser in der Lage, ihr Verhalten an den Erfordernissen auszurichten und so zum eigenen Nutzen zu handeln. Der aus dieser differentiellen Umgangsweise resultierende Überlebens- und Reproduktionsvorteil führte stammesgeschichtlich zur neuronalen Verankerung eines spezifisch für diese Probleme selektierten psychischen Verarbeitungsmechanismus. Ein Mechanismus, der an der unbewussten Steuerung menschlicher Aufmerksamkeit teilhat, und dessen Wirken dazu führt, dass Menschen dazu tendieren, Morden große Aufmerksamkeit zu schenken, so eben auch im Film. Die wissenschaftliche Attraktivität der Hypothese einer menschlichen Wahrnehmungspräferenz für intentionale Tötungsakte und deren Begleitumstände liegt dabei in ihrer Testbarkeit. Es handelt sich um eine qualitative Aussage über das Vorliegen konkreter inhaltlicher Präferenzen, die quantitativ untersucht werden kann. Das Mittel der Wahl ist in diesem Fall ein statistischer Vergleich von Realität und Medieninhalten, der es ermöglicht, anhand von Daten einen genaueren Blick auf den beschriebenen Verarbeitungsmechanismus zu werfen. Im Folgenden werden deshalb zuerst die Daten zu verschiedenen realen Todesformen in der Bundesrepublik Deutschland vorgestellt, und dann deren Auftreten in den erfolgreichsten Filmen der letzten siebzig Jahre untersucht. Traurige bundesdeutsche Realität ist: jedes Jahr werden zirka 6000 Morde begangen, wobei es begründete Vermutungen gibt, dass die Dunkelziffer mindestens ebenso hoch ist. Dies annehmend kommt man auf eine Zahl von 12.000 Individuen, die innerhalb dieses Landes jährlich der Bösartigkeit, der verbrecherischen Gier oder den Rachegelüsten ihrer Mitbürger zum Opfer fallen. Umgerechnet auf 80 Millionen Bewohner heißt dies, dass ein bis zwei von 10.000 Menschen im Jahr Opfer eines Gewaltverbrechens werden. Die Relation zu anderen Ereignissen wird deutlich, wenn man weiß, dass von diesen 10.000 Menschen pro Jahr ungefähr 100 durch Krankheit und Alter sterben17, während statistisch gesehen noch nicht ein einziger im Straßenverkehr ums Leben kommt18. Etwas höher liegt dagegen die Rate der Suizide, nämlich bei etwas mehr als einem pro 10.000 Bürger und Jahr. Bei den Filmen, die in Relation zu diesen realen Zahlen gesetzt werden, handelt es sich um eine inflationsbereinigte Zusammenstellung der 100 in den USA ökonomisch erfolgreichsten Filme aller Zeiten aus dem Jahr 2002.19 Der Datensatz, auf den ich mich im Folgenden immer wieder beziehe, ist im Rah17 Statistisches Bundesamt Deutschland: „Natürliche Bevölkerungsbewegung – ab 1945 bis 2005“. 18 Statistisches Bundesamt Deutschland: „Verkehr. Verkehrsunfälle. 2005“, S. 44. 19 The Movie Times: „Top Grossing Films of All Time in the U.S“.
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men des Projekts Soziale und anthropologische Faktoren der Mediennutzung des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs Medienumbrüche der Universität Siegen entstanden.20 Durch eine Filmauswahl auf Grund des monetären Erfolges ist sichergestellt, dass es sich um eine durch keine Vorlieben oder Abneigungen verzerrte Auswahl von Werken handelt, die ihre Attraktivität für Nutzer bewiesen haben. Geringfügige Modifikationen der Liste waren jedoch notwendig, da nicht alle Filme zugänglich waren und zwei Filme mit dem benutzten Analyseraster nicht bearbeitet werden konnten. Diese Ausfälle wurden durch Filme ersetzt, die im Jahr 2004 neu in die Liste der ökonomisch erfolgreichsten Filme aller Zeiten aufgenommen wurden. Die benutzte Rangliste ist, um ein Bestmaß an Vergleichbarkeit herzustellen, inflationsbereinigt, so dass Filme aus insgesamt acht Jahrzehnten in diese Untersuchung eingingen. Der älteste Film war Vom Winde verweht aus dem Jahre 1939. In der Analyse der Filme wurde – um unterschiedlichsten Handlungskonstellationen gerecht werden zu können – unter anderem nach physical danger, der Gefahr für Leib und Leben, innerhalb der Handlung gefragt. Von den 100 untersuchten Filmen wurde dieses Kriterium in 82 Fällen erfüllt, wobei es in 27 Filmen ein zentrales, handlungstreibendes Moment war. In weiteren 32 Fällen handelte es sich um einen notwendigen, wenn auch nicht vorherrschenden Aspekt der Handlung, während in weiteren 23 Werken dieses dramatische Element anzutreffen war, wenngleich es weder im Zentrum der Handlung stand, noch deren notwendiger Bestandteil war. Dabei sahen sich die männlichen und weiblichen Hauptdarsteller mit deutlich unterschiedener Häufigkeit tödlichen Bedrohungen gegenüber, nämliche in 54% beziehungsweise 35%. Zum Vergleich mit dem wirklichen Leben dienen diese Bedrohungsszenarien jedoch nur bedingt, da es für sie keine realweltlichen statistischen Entsprechungen gibt. Interessant sind vielmehr Größen, die einen präzisen Vergleich des Medialen und des Nichtmedialen erlauben: Mord, Verkehrstod, Selbstmord und der Tod durch Alter oder Krankheit. Mord, als intentionale Tötung einer Figur, die in der Filmhandlung zumindest eine Nebenrolle einnimmt, findet sich in ungefähr der Hälfte der Filme, akzidenteller Verkehrstod und Selbstmord dagegen in keinem. Der Tod durch Alter oder Krankheit, den häufigsten Todesursachen in westlichen Gesellschaften, kommt dagegen nicht einmal in einer Hand voll Filmen vor. In der folgenden Tabelle werden die Angaben zu den verschiedenen Todesarten im echten Leben und im Film gegenüber gestellt. Die Aussagen zum Film beziehen sich dabei erneut auf die Auswahl der 100 erfolgreichsten Hollywoodfilme aller Zeiten. Sie entstammen jedoch nicht der schon angeführten
20 Hejl: Abschlussbericht der beendeten Teilprojekte, S. 6ff.
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Teil 5: Evolutionär-anthropologische Medienanalyse
Inhaltsanalyse, sondern sind Ergebnis einer späteren, überblicksartigen Erfassung durch den Autor, da es in der Folge nicht um Einzelfälle sondern um die Häufigkeit bestimmter Handlungselemente geht. Echtes Leben
Film
(Häufigkeit/Jahr in %)
(Häufigkeit in den 100 erfolgreichsten Hollywoodfilmen in %)
ca. 0,015
ca. 50
Verkehrstod
0,01
ca. 0
Selbstmord
0,01
ca. 0
Tod durch Alter oder Krankheit
1,5
ca. 2
Mord
Tabelle 1: Die Häufigkeit von Todesarten im echten Leben und im Film
Auffällig an dieser Gegenüberstellung von Häufigkeiten in Realität und Film ist, dass sich diese nirgendwo so signifikant unterscheiden wie beim Mord. Die restlichen Werte differieren in vergleichsweise geringem Umfang. Der zahlenmäßig extreme Unterschied der Häufigkeit von Mord belegt jedoch, dass sich Menschen für diese Form der irreversiblen Interaktion in einer Weise interessieren, die sich deutlich von deren Bedeutung in der Alltagswelt unterscheidet. Angesichts dieser Zahl wird deutlich, dass es nicht der Tod als allgemeines Phänomen ist, der Filmzuschauer interessiert, sondern Mord im speziellen. Filme, die diese Komponente beinhalten, haben es in einer großen – aber mit Blick auf die Medienrealität nicht überraschenden – Anzahl in die Liste der 100 erfolgreichsten Filme aller Zeiten geschafft. Eine Feststellung, gegen die man einwenden könnte, dass es eindeutig mehr Filme gibt, die Mord in der einen oder anderen Weise beinhalten, als solche in deren Verlauf Selbstmord oder Verkehrstod eine Rolle spielen und es somit zwangsläufig zu der beobachteten Verteilung kommen muss. Dieser Einwand setzt dabei implizit voraus, dass die vorgefundenen Häufigkeiten nicht primär die Interessen der Rezipienten widerspiegeln, sondern ein von diesen deutlich unterschiedenes Angebot der Filmbranche. Unter den Bedingungen eines funktionierenden und von der Produzentenseite hochkompetitiv um die Gunst der Rezipienten buhlenden Marktes werden derartige Bedenken jedoch hinfällig. Ein derartiges Marktgeschehen lässt sich wissenschaftlich in gleicher Weise wie ein großformatiges Experiment auswerten. Die Zeile für Mord belegt, dass sich Menschen mit einer durch ihre reale Umwelt nicht zu rechtfertigenden Intensität für Mord interessieren. Aus dieser
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Medien – Gehirn – Evolution
inhaltlichen Präferenz folgt jedoch nicht automatisch, dass es sich bei den Ursachen dieser Verhaltensmuster um evolutionär entstandene und verankerte Verarbeitungsroutinen des menschlichen Gehirns handelt. Vorstellbar wäre auch, dass es sich um einen kulturell bedingten Effekt handelt, der möglicherweise als Resultat der Individualisierung westlicher Gesellschaften zu sehen ist. Ich möchte – wie schon an anderer Stelle – vorschlagen von einer unproduktiven kausalen Dichotomisierung auf entweder Kultur oder Natur abzusehen. Weitere Daten legen vielmehr nahe, dass es sich beim zu beobachtenden Verhalten um eine Mischung aus beidem handelt: eine evolutionär angelegte Wahrnehmungs- und Verhaltensdisposition wird durch das jeweilige kulturelle Umfeld modifiziert.
Physical Danger Lebensgefahr für den Hauptdarsteller Lebensgefahr für die Hauptdarstellerin
Hollywood(%)
Indische Filme (%)
82 54 35
70 44 30
Tabelle 2: Die Bedeutung des Handlungselements Gefahr in Hollywoodfilmen und indischen Filmen.
Die Daten, die für eine solche gemischte Kausalität sprechen, stammen aus einer parallelen Untersuchung indischer Erfolgsfilme. Die indische Filmindustrie bot sich für diesen Vergleich an, da es sich bei ihr – bezogen auf die Menge produzierter Filme – um die weltweit größte überhaupt handelt. Während Hollywood im Jahr zirka 400 Filme auf den Markt bringt, wartet der indische Subkontinent mit etwa 1000 neuen Produktionen im gleichen Zeitraum auf. Analog zur Untersuchung der Hollywoodfilme wurden 50 der erfolgreichsten indischen Filme inhaltlich analysiert. Dabei zeigte sich, dass diese eine vergleichsweise geringere Präsenz von physical danger, also Gefahr für Leib und Leben, aufweisen, nämlich 70% gegenüber den 82% der Hollywoodproduktionen. Auch die Gefährdung der Hauptfiguren fällt deutlich geringer aus, so dass der wichtigste männliche Protagonist in 44% der Filme tödlich bedroht wird, während die wichtigste Protagonistin sich nur in 30% der Handlungen einer tödlichen Gefahr gegenüber sieht. Die anschließende Tabelle stellt die Werte für Hollywood und Indien gegenüber. Trotz der Unabhängigkeit der indischen Filmindustrie, die durch den politischen Isolationismus Indiens bis zum Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts bedingt ist, zeigt sich auch hier eine eindeutige Tendenz zur Darstellung von gefährlichen Handlungsverläufen. Dieses unabhängige Auftreten der gleichen inhaltlichen Vorliebe innerhalb zweier verschiedener Kulturkreise legt nahe, dass sich diese Parallele nicht nur aus kulturellen Quellen speist, son-
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dern das Ergebnis einer universalen Präferenz für Handlungen ist, die in ihrem Verlauf tödliche Bedrohungen bieten. Die vorgestellten Zahlen liefern Hinweise auf die Existenz eines evolvierten psychologischen Mechanismus, der die Steuerung menschlicher Aufmerksamkeit für fiktionale Handlungen signifikant beeinflusst. Eine weitere wissenschaftliche Bearbeitung dieser transkulturellen inhaltlichen Präferenz muss an dieser Stelle als Desiderat vermerkt werden. Eine Option zur weiteren Analyse dieses Zusammenhangs wären Studien, in denen parallel verschiedene relativ abstrakt verkörperte Handlungen dargeboten werden, während die Aufmerksamkeit der Rezipienten und deren Verlauf mit Hilfe eines Eyetrackers kontrolliert wird. Aus evolutionär medienanthropologischer Sicht legen die vorgestellten Daten nahe, dass Menschen im Kino und in anderen Medien Darstellungen von Morden bevorzugt deshalb konsumieren, weil es sich dabei um eine Ereigniskategorie handelt, die im speziesspezifischen Environment of Evolutionary Adaptedness wichtig war. Diese einstige Wichtigkeit hat, mittels selektiver Formung der Psyche, ihre Spur auch im Homo sapiens des dritten nachchristlichen Jahrtausends hinterlassen. „Organisms“, so wie Jeffry Simpson und Lorne Campbell es fassen, und dazu zählt auch der Mensch, „are living historical documents.“21
Was ist Handlung? – Eine evolutionäre Eingrenzung „The mind is a narrative machine, guided unconsciously by the epigenetic rules in creating scenarios and creating options.“ (Edward O. Wilson22)
Alle Kulturen der Welt kennen Heldenepen, -sagen oder -geschichten. Der Kampf eines Menschen gegen eine scheinbar unbesiegbare Gefahr, seien es Drachen, fremde Heere oder die Götter persönlich, ist ein universeller Topos. Die genaue Ausgestaltung – wie die Gefahren aussehen und worin das heldenhafte Verhalten im Einzelnen besteht – kann dabei in immer wieder faszinierender Weise variieren: je nach Ursprungsort, Entstehungszeit und -umständen und beteiligten Akteuren. „To put it in media-related terms, drama dwells on conflict and its resolution by depicting events that impact the welvare of persons, animals, and animated things.“23 Wie schon angeführt, legte Joseph 21 Simpson/Campbell: „Methods of Evolutionary Sciences“, S. 126. 22 Wilson: „Foreword from the Scientific Side“, S. IX. 23 Vorderer/Knobloch: „Conflict and Suspense in Drama“, S. 59.
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Campbell 1949 mit Der Heros in seinen tausend Gestalten eine materialreiche Monographie vor, die den universellen Aspekt der weltweit anzutreffenden Narrationen von Heldentaten in den Blick nimmt. Campbells Fazit ist nach einer umfangreichen Sichtung kultureller Bestände, dass es über Kulturen und Kontinente hinweg eine basale Struktur für dieses Narrationsgenre gibt: Erst nach anfänglichem Widerstand bricht der Held ins Abenteuer auf, eignet sich durch Interaktionen mit anderen Individuen die Fähigkeiten an, mit der vor ihm liegenden Herausforderung umzugehen, besiegt nach Rückschlägen schließlich seine Gegner und geht aus seinem Abenteuer als gewandelter und gereifter Mensch hervor. In modifizierter Weise wird dieses Konzept schon seit längerem in der Filmindustrie als Blaupause für Erfolgsfilme genutzt und in Form von Consulting, Seminaren und Büchern feilgeboten.24 Ähnlich der generalisierenden Aussage Campbells zur Essenz des Heldenepos umreißen Neurowissenschaften und evolutionäre Psychologie grundlegende Stimuluscharakteristika erfolgreicher Medienangebote. Im Gegensatz zur Inhaltsanalyse heroischer Mythen setzt eine evolutionär medienanthropologische Betrachtung bei den kognitiven Mechanismen der Rezipienten an. Diese produzieren durch ihre neurobiologisch-konstruktivistische25 Verarbeitung der eingehenden Sinnesdaten die bewusst erfahrbare Repräsentation der Umwelt. Der durch Milliarden parallel arbeitender Nervenzellen entstehende Eindruck der Umwelt resultiert dabei aus der Tätigkeit spezifischer Mechanismen, die sich in der Stammesgeschichte auf Grund ihres kompetitiven Nutzens herausgebildet haben. Der Abschnitt über visuelle Verarbeitung hat unter anderem die Kanten betonende und somit Konturen verstärkende Verschaltung der Netzhautzellen angeführt. Dieses Beispiel für die Verarbeitung sensorischen Inputs steht repräsentativ für die evolutionär entstandene Ausrichtung des gesamten sensorisch-neuronalen Systems: Sinnesorgane und Gehirn sind durch phylogenetische Selektion darauf ausgerichtet strukturell (wo kann ich mich festhalten?) und strategisch (welche Bestandteile der Umwelt sind gefährlich?) wichtige Umweltinformationen zu erfassen. Ein funktionaler Zuschnitt, der den Entstehungshintergrund des kognitiven Systems als Handlungssteuerung offensichtlich macht. „The mind is not like a video camera, passively recording the world but imparting no content of its own.“26 Medien und Medieninhalte sind Umweltbestandteile unter anderen und als solche den gleichen Verarbeitungsmechanismen von Wahrnehmung und Bewusstwerdung unterworfen. Medienrezipienten entscheiden beständig, zum
24 Vgl. Vogler: Die Odyssee des Drehbuchschreibers. 25 Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, S. 334ff. 26 Tooby/Cosmides: „Conceptual Foundations of Evolutionary Psychology“.
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Teil bewusst, zum Teil unbewusst, welchen Aspekten ihres sensorischen Inputs sie Aufmerksamkeit schenken. Um innerhalb einer an Stimuli reichen Umwelt kurz- und/oder langfristig Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, werden Medieninhalte so konzipiert, dass sie die Präferenzen der aufmerksamkeitssteuernden Mechanismen menschlicher Kognition bedienen. Medieninhalte, die geeignet sind die Aufmerksamkeit von Rezipienten auf sich zu ziehen, weisen ein Set gemeinsamer Charakteristika auf. Diese universellen Produktcharakteristika lassen sich als strukturelle Anpassungen in einem Aufmerksamkeitswettbewerb um potentielle Rezipienten verstehen. Welche der jeweils möglichen Verhaltensoptionen ein Individuum realisiert, ist zwar erheblich von Sozialisation, Bildungshintergrund und vorliegender Interessenlage abhängig, ebenso aber sind evolvierte menschliche Stimuluspräferenzen für diesen Prozess von Bedeutung. Die nachfolgende Eingrenzung dessen, was Menschen gemeinhin als Handlung klassifizieren – bei dokumentarischen Inhalten kann auch von Geschehen gesprochen werden –, macht deutlich in welchem Umfang der kulturelle Umgang mit Medien durch evolutionär selektierte Mechanismen menschlicher Kognition beeinflusst ist.
Veränderung „Das allermeiste, was um uns herum passiert, ist zwar in einem trivialen Sinne neu, aber es ist nicht sonderlich interessant; unser kognitives System schützt sich geradezu vor dem Befassen mit immer neuen, aber unwichtigen Dingen.“ (Gerhard Roth27)
Die erste – scheinbar trivial anmutende – Charakteristik erfolgreicher Medienangebote ist, dass deren Inhalte Veränderungen beziehungsweise Neues darbieten müssen – d.h. eine Geschichte mit unerwarteten Ereignissen oder unerwarteter Erzählweise – um für ihre Rezipienten interessant zu sein. Niemand betrachtet über längere Zeiträume einen Bildschirm auf dem nichts passiert. Keine kommerziell interessante Leserschaft widmet sich einem Buch, in dem sich das gleiche Wort immer und immer wieder wiederholt. Wirkung entfaltet ein Medieninhalt nur dann, wenn dieser in der Umweltrepräsentation potentieller Rezipienten Auswirkungen hat, die Aufmerksamkeit erregen. Diese kognitive Bevorzugung von Veränderungen oder Neuigkeiten, für die alle wirtschaftlich erfolgreichen Medienangebote Zeugnis ablegen, hat ihren Ursprung darin, dass es prinzipiell Veränderungen sind, die neue Handlungsoptionen 27 Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, S. 107.
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und -erfordernisse schaffen und neue Einblicke in potentiell handlungsrelevante kausale Verknüpfungen der jeweiligen Umwelt bieten. Durch Orientierungsreflexe, wie das Hinwenden zu überraschenden akustischen oder visuellen Stimuli, ist die menschliche Wahrnehmung schon auf einer sehr basalen, physiologischen Ebene darauf ausgelegt, ihre Wahrnehmungs- und Verarbeitungskapazitäten auf Veränderungen in der Umwelt zu richten. „When we sat at the video player with a record of the EEG in front of us, we were quite surprised to see that every time attention increased quickly, something had moved on the screen“28. Der größte Teil der Umwelt bleibt aber zumeist konstant, während nur einzelne Bestandteile sich in makroskopisch relevanten Größenordnungen verändern. Als Beleg hierfür kann die große Zahl der Webcams genommen werden, die an verschiedensten Orten der Welt positioniert sind und rund um die Uhr ein zumeist statisches Bild per Internet verfügbar machen.29 Auf der neurobiologischen Ebene finden sich zelluläre Mechanismen, die diese allgemeine Präferenz menschlicher Wahrnehmung für Veränderungen belegen. Eine große Zahl von Sinneszellen aber auch nachgeschalteter Neuronen zeigt „ein ‚phasisches‘ Antwortverhalten, d. h. sie antworten nur bei Beginn und/oder beim Ende eines Reizes.“30 Im Rahmen der Informationsverarbeitung werden Veränderungen im sensorischen Input akzentuiert. Länger anhaltende Reize führen in vielen Fällen dazu, dass Nervenzellen, „die hochfrequent auf den Reizbeginn antworten …dann stark abfallen oder sogar schweigen“31. Man spricht bei diesem Verhalten davon, dass die Rezeptoren an einen gleich bleibenden Reiz adaptieren. Bei Fröschen führt diese Beschaffenheit der visuellen Wahrnehmung dazu, dass bei konstanter Blickrichtung nur bewegte Reize wahrgenommen werden – ein, verglichen mit der menschlichen Wahrnehmung ungewöhnliches Umwelterleben, das jedoch bei Fixierung des Kopfes und medikamentöser Inaktivierung der Augenmuskulatur auch beim Menschen auftritt. Im Rahmen der menschlichen Reizverarbeitung treten jedoch nicht nur konstante Reize – wie der Lärm einer vielbefahrenen Straße – in den Hintergrund, sondern auch solche Ereignisse, die sich beständig wiederholen, wie das Ticken einer Uhr. Der Grund dieses Phänomens ist, dass die überwiegende Anzahl sich wiederholender Ereignisse keine zusätzlichen Informationen generieren. Es kann somit als Lerneffekt beziehungsweise als kognitive Öko-
28 Reeves/Nass: The Media Equation, S. 222. 29 z.B. www.globocam.com 30 Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, S. 110. 31 Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, S. 109.
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nomie des menschlichen Gehirns gesehen werden, wenn derartigen Geschehnissen nur sehr kursorisch Aufmerksamkeit zuteil wird. Wie bei statischen Reizungen handelt es sich um eine Anpassung an die Stimuluscharakteristiken der jeweiligen Umwelt, die dazu dient die Wahrnehmung handlungsrelevanter Ereignisse zu verbessern. Dieser Mechanismus führt dazu, dass die Kapazitäten des kognitiven Systems bevorzugt auf das gelenkt werden, was Gregory Bateson in seiner schon angeführten Informationsdefinition „the Difference that makes a Difference“32 genannt hat – Veränderungen, die von Bedeutung sind. Der neurophysiologische Hintergrund für diese Gewöhnung an wiederkehrende Reize ist ein Lernmechanismus, der von Sensibilisierungsvorgängen bekannt ist, jedoch nur selten mit Desensibilisierungsphänomenen – wie im vorliegenden Fall – verbunden wird: die Konditionierung. Das klassische Beispiel hierfür sind die Fütterungsversuche von Pavlov an Hunden.33 Nachdem den Tieren eine Zeit lang immer nach dem Läuten einer Glocke ihr Fressen gegeben wurde, führte dies zu einer Verbindung dieser Ereignisse in der Stimulusverarbeitung der Hunde: Der Klang der Glocke reichte nun aus, um bei den Tieren den mit der Nahrungsaufnahme zusammenhängenden Speichelfluss zu produzieren. Der Lernvorgang führt dazu, dass ein ursprünglich neutraler Reiz regelhaft mit verhaltensrelevantem Geschehen verbunden wird. Dieser Reiz wird somit assoziativ aufgewertet und gewinnt Bedeutung für den Umgang der Versuchstiere mit ihrer Umwelt. Gleiches gilt ebenfalls für Reize, die mit keinen lebensstrategisch wichtigen Ereignissen in erkennbarem Zusammenhang stehen. In diesem Fall erfolgt jedoch keine kognitive Aufwertung dieser Reize, sondern es kommt zu einer erlernten Unterdrückung von Wahrnehmung und Aufmerksamkeitszuwendung. Experimentell ist dieser Zusammenhang von Eric Kandel am Seehasen Aplysia belegt worden, der binnen kurzem lernt, die ursprünglichen Schutzreaktionen auf bestimmte Reize einzustellen, wenn diese keine weiteren negativen Auswirkungen haben.34 Im auffälligen Kontrast zu diesem Gewöhnungsmechanismus an konstante oder wiederkehrende Reize lässt sich bei Medienprodukten konstatieren, dass sie informationsneutrale Wiederholungen geradezu vermeiden. Ein Spannungsbogen entsteht nicht durch das Zeigen eines Menschen, der jeden Tag in der gleichen Weise seiner Arbeit nachgeht – mag er dabei auch noch so zufrieden oder unzufrieden sein. Eine Dynamik entfaltet das Geschehen erst, wenn von außen etwas in das gegebene Gleichmaß einbricht oder ein Mensch ver-
32 Bateson: Mind and Nature, S. 99. 33 Vgl. Pavlov: Conditioned Reflexes. 34 Vgl. Kandel u.a.: Principles of Neural Science, S. 1148ff.
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sucht aus diesem auszubrechen. Interesse generieren in diesem Zusammenhang speziell die Handlungen und Geschehnisse, die sich von immer wiederkehrenden Routinen abheben und potentiell implizieren, dass sich die Situation verändert.
Kausalität „We cannot understand how the viewer grasps a cut between two shots, let alone a longer sequence of shots, without assuming that some mental structure is in operation, one that has been made active by the narration.“ (Ed Tan35)
In der Philosophie gibt es einen Jahrhunderte alten Streit darüber, welche Basis die menschliche Vorstellung von einer kausalen Verbundenheit der Geschehnisse in der Welt hat. Nach David Hume handelt es sich dabei um eine Generalisierung auf Grund gemachter Erfahrungen. Immanuel Kant geht im Gegensatz dazu davon aus, dass es sich dabei um eine a priori gegebene Voraussetzung jeglicher Erfahrung handelt. Wichtig ist der Begriff der Kausalität für die Auseinandersetzung mit Medien deshalb, weil er in sehr allgemeiner Weise die innere Kohärenz beschreibt, die Rezipienten von Medienprodukten wie Filmen, Büchern und Nachrichten erwarten: Erfolgreiche Medienprodukte präsentieren nicht wahllos Veränderungen oder Stimulusabfolgen, sondern Reihungen von Handlungen und Geschehnissen, die in relativ strenger Weise ursächlich aufeinander zurückzuführen sind. „Wie viele Tierarten scheinen auch die Menschen diesen Sinn“ für Ursache und Wirkung „in einem sehr frühen Lebensalter zu erwerben.“36 Die schon von Aristoteles in seiner Poetik erhobene Forderung, dass Dramen einen Anfang, ein Mittelteil und ein Ende haben müssen und in sich geschlossen sein sollen, bedient diese Kausalitätsforderung von Rezipientenseite ebenso wie die Beantwortung der journalistischen W-Fragen (wer, was, wo, wann, wie, warum, wozu, weshalb) eines Zeitungsartikels. Relevante Medienrezeption – belegt durch Verkaufszahlen oder Einschaltquoten – kommt nur da zustande, wo Inhalte ursächliche Verkettungen von Taten und Ereignissen bieten. Dass medial als ursächlich verknüpft wahrgenommene Ereignisse dies keineswegs sein müssen, verdeutlichten schon zu Beginn der 1920er Jahre des
35 Tan: Emotion and the Structure of Narrative Film. 36 Devlin: Das Mathe-Gen, S. 27.
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vergangenen Jahrhunderts die Montageexperimente von Lev Kulešov37, auf die sich unter anderem Vsevolod I. Pudovkin in einem seiner beiden Hauptwerken zum Film bezieht38. Eine identische Einstellung des Gesichts des Schauspielers Ivan Mozžuhin wurde dabei wahlweise mit Aufnahmen eines Tellers Suppe, einer Frau in einem Sarg oder eines kleinen Mädchens zusammengefügt. Nach Pudovkin, der später die Ergebnisse des Experiments beschrieb, zeigte sich das Publikum höchst begeistert von Mozžuhins subtiler und affektiver Fähigkeit, solch unterschiedliche Emotionen wie Hunger, Traurigkeit und Zuneigung zu vermitteln.39 Diese Ergebnisse zeigen eine Disposition menschlicher Weltwahrnehmung, die Ereignisse, die zeitlich oder räumlich in enger Beziehung zu stehen scheinen wie z. B. aufeinander folgende Einstellungen, als kausal miteinander verbunden sieht – eine Heuristik, die um so verständlicher wird, wenn man in Betracht zieht, dass bis zur Erfindung medialer Technologien zeitliche und räumliche Nähe evidente Hinweise auf eine mögliche kausale Verknüpfung waren. Experimentell wurde die menschliche Tendenz zur Herstellung von kausalen Zusammenhängen zwischen Stimuli auch von Albert Michotte belegt.40 Dieser ließ Probanden verschiedenfarbige, sich annähernde und wieder entfernende Linien auf sich drehenden Scheiben durch einen Spalt beobachten, der lediglich einen Blick auf wenige Winkelgrade des rotierenden Objekts freigab.41 Die so eingeschränkten Beobachter tendierten dazu, die für sie erkennbaren Bewegungen der verschiedenfarbigen Markierungen als kausal verknüpft wahrzunehmen. Ein Aufeinandertreffen der sichtbaren Farbstücke wurde zum Beispiel als Grund dafür gesehen, dass ein vorher unbewegliches Element, wie nach einem mechanischen Stoß, seine bisherige Position verließ. Ein anderes optisches Phänomen, das die Ausrichtung menschlicher Wahrnehmung auf das Erkennen von Zusammenhängen belegt, ist das PhiPhänomen42, das insbesondere von den Gestaltpsychologen Anfang des 20. Jahrhunderts intensiv untersucht wurde. Im einfachsten Fall handelt es sich um zwei Lichter die abwechselnd an- und ausgehen. Bei entsprechendem 37 Vgl. Monaco: Film verstehen, S. 429. 38 Pudovkin: Filmtechnik, S. 94ff. 39 Monaco: Film verstehen, S. 429. 40 Vgl. Gregory: Auge und Gehirn, S. 155f. 41 Vgl. Wagemans u.a.: „Introduction to Michotte’s heritage in perception and cognition research“. 42 Vgl. Gregory: Auge und Gehirn, S. 154.
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räumlichem und zeitlichem Abstand entsteht dabei der Eindruck, dass es sich nicht um zwei voneinander unabhängige Erscheinungen handelt, sondern um ein einziges, sich bewegendes Licht. Dieses Erleben unterscheidet sich signifikant von den gegebenen Stimuli, wird aber als Rekonstruktion möglicher Geschehnisse nachvollziehbar, sobald man berücksichtigt, dass die menschliche Wahrnehmung in einer Umwelt entstand, in der räumlich und zeitlich korrelierte Stimuli mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine einheitliche und sich bewegende Reizquelle zurückzuführen waren. Das Konzept der Kausalität ist aber nicht nur im Zusammenhang der optischen Wahrnehmung wichtig, sondern ein fundamentaler Faktor im kognitiven Weltbezug, wie Untersuchungen an Splitbrainpatienten belegen.43 Aufgrund schwerster Epilepsie wurde bei diesen Menschen der Balken (Corpus callosum) durchtrennt, die Verbindungsstruktur zwischen rechter und linker Großhirnhemisphäre. Dieser Eingriff führt dazu, dass keine Signale mehr zwischen den beiden Hemisphären ausgetauscht werden und damit keinerlei Informationen über die jeweiligen Aktivitäten. Um die Auswirkungen dieses hirninternen Kommunikationsabbruchs zu untersuchen, kann man sich zunutze machen, dass die neuronalen Prozesse streng systematisch verteilt sind: Reize aus der rechten Hälfte des Körpers und die rechte Hälfte des Blickfeldes werden von der linken Gehirnhälfte verarbeitet, während linksseitige Stimuli auf der rechten Seite prozessiert werden. Diese Arbeitsteilung ermöglicht es einer der beiden Gehirnhälften Informationen zu geben, beziehungsweise diese zu Aktionen zu veranlassen, von denen die andere Gehirnhälfte nichts weiß. Dabei zeigt sich, dass rechtsseitige Aktivitäten des Gehirns, die mit Bewegungen der linken Körperhälfte einhergehen, dem links angesiedelten sprachlichen Bewusstsein der Personen vollständig verborgen sind. Befragt man Menschen in derartigen Versuchen, so ergibt sich jedoch ein Bild, das auf den ersten Blick nicht dieser Unwissenheit entspricht. Anstatt zu sagen, dass sie nicht wissen, warum ihre linke Hand gerade diese oder jene Tätigkeit ausführt, präsentieren diese Personen Scheinerklärungen für die fraglichen Vorgänge. Auf Grund sowohl der linkshemisphärisch verfügbaren Sinneseindrücke als auch von Erinnerungen werden Aussagen über die Aktionen der fraglichen Hand und die dahinter stehenden Gründe generiert. Diese Charakteristik deutet darauf hin, dass das explizit sprachliche Weltbild, das durch die linke Hirnhemisphäre konstruiert wird, einer inneren Tendenz zur kausalen Verknüpfung vorliegender Ereignisse unterliegt – auch wenn eine rationale Einsicht in die vorliegenden Kausalitäten nicht gegeben ist.
43 Vgl. Gazzaniga: „Rechtes und linkes Gehirn“.
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Such observations have led Ramachandran to suggest that in healthy brains there is a back and forth between believing the old and accepting the new. The left hemisphere, he maintains, tries to impose consistency, whereas the right hemisphere plays devil’s advocate, trying to get us to question our beliefs in the light of new evidence.44 Michael Tomasello sieht den menschlichen Hang zur Konstruktion kausaler Zusammenhänge auch in der Sprache: Am grundlegendsten ist die Tatsache, dass in allen Sprachen der Welt Kausalität eine wichtige strukturgebende Rolle spielt. Ein Großteil der kanonischen Sprachkonstruktionen aller Sprachen ist in der einen oder anderen Form transitiv oder kausativ. Daran lässt sich erkennen, dass Kausalität ein grundlegender Aspekt menschlicher Kognition ist und deshalb ist die Struktur der Sprache ein historisches Ergebnis, und nicht die Ursache des kausalen Verstehens.45 Diese verschiedenartigen Beispiele für die menschliche Vorliebe, Geschehnisse kausal zu verknüpfen, können als Belege für die zentrale Bedeutung kausaler Modellierung von Umweltzusammenhängen für die menschliche Kognition gesehen werden. Kompetitive Handlungskompetenz – die als selektiver Faktor hinter der Evolution biologischer Reiz- und Informationsverarbeitungssysteme steht – erwächst zentral aus der Fähigkeit, aus Beobachtungen auf verborgene oder zukünftige Ereignisse zu schließen und das eigene Verhalten gemäß dieser Einsichten zu gestalten. Es ginge an dieser Stelle zu weit, von einem menschlichen Kausalitätssinn zu sprechen. Vielmehr deuten die angeführten Beobachtungen und Experimente darauf hin, dass die menschliche Kognition als Ergebnis ihrer evolutionären Selektion in einer von kausalen Wechselwirkungen geprägten Umwelt darauf ausgelegt ist, derartige Kopplungen zwischen Objekten und Kräften nicht nur zu erkennen sondern aktiv zu suchen und in der Folge für die Verhaltenssteuerung zu nutzen. Dieser Verhaltensrelevanz von kausal verknüpften Umweltgeschehnissen entspricht die Tatsache, dass Menschen sich bevorzugt Medieninhalten zuwenden, die starke Ursache-Wirkungs-Strukturen aufweisen – eine Präferenz, die bei näherer Betrachtung trivial erscheinen mag, weil es sich bei derart strukturierten Inhalten um das handelt, was gemeinhin als Handlung oder Geschehen bezeichnet wird. Bei weiter gehender Betrachtung zeigt sich jedoch, dass Stimulusabfolgen, deren einzelne Elemente in einer kausalen Architektur verknüpft sind, medial das genaue Gegenteil trivialer Ereignisse sind. Die Mög44 Motluk: „Particles of faith“, S. 36 45 Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, S. 214.
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lichkeit beliebige Wörter, Töne, Bilder oder Bildsequenzen – je nach Medium – zu kombinieren, macht eine Abfolge, die eine konsistente kausale Struktur aufweist, zu einem statistisch hochgradig unwahrscheinlichen Ereignis. Genau diese Abfolgen sind es aber, auf die Menschen mit Aufmerksamkeit reagieren. Sie sind der Grund, dass sich weder changierende Farbspiele noch Webcambilder der reizvollsten Gegenden der Erde eine wirtschaftlich bedeutsame Nische im Medienmarkt erobern konnten. Um dauerhaft Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, müssen Medieninhalte Abfolgen oder Netzwerke von kausal miteinander verknüpften Ereignissen präsentieren. Die Attraktivität wird dabei meist durch zeitliche Komprimierung gesteigert: Anstatt Ereignisse in den Abständen aufeinander folgen zu lassen, in denen sie ausserhalb des Mediums stattfinden bzw. zu erwarten sind, werden die Veränderungen in geraffter Form dargeboten, wobei statische und wenig dynamische Zwischenphasen ausgeblendet werden. Stellt man eine solche kausale Abfolge abstrahiert als A Æ B Æ C dar, so liegt der Schwerpunkt medialer Repräsentation nicht auf den Zeiträumen in denen die einzelnen Elemente bestehen, sondern auf den Übergängen zwischen den verschiedenen Zuständen der kausalen Abfolge. Diese Überlegungen zur Rolle, die kausale Strukturen in Medieninhalten auf Grund der basalen Beschaffenheit menschlicher Kognition spielen, müssen an dieser Stelle hypothesenhaft bleiben. Die vorgelegten Belege können als Bestätigungen für die zentrale Bedeutung dieses Faktors in der Medienwahrnehmung gesehen werden. Ein eindeutiges Desiderat sind jedoch Untersuchungen, die einer derartigen Bevorzugung kausal strukturierter Medieninhalte empirisch nachgehen. Diese Vorliebe für kausal konsistente Medieninhalte ist ein Ergebnis der selektiven Drücke, denen der menschliche Kognitionsapparat in seiner Stammesgeschichte ausgesetzt war. So spezifisch die vorliegende Präferenz ist, so spezifisch sind auch die Umweltbedingungen, die zu deren Entstehung geführt haben. Medial präsentierte konsistente Handlungen und Geschehnisse sind Stimuluskomplexe, die in ihren Charakteristika Umweltereignissen entsprechen, die handlungsrelevante Information beinhalten.
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Intentionale Akteure „Accordingly, the human cognitive architecture has evolved two separate inference systems for these two domains: a mind-reading system for inferring the mental states of people (which can be selectively impaired in autism…) and an object mechanics system for understanding the interactions of inanimate objects…“ (John Tooby/Leda Cosmides46)
Um als Handlung – und nicht nur als Geschehen – begriffen zu werden, muss ein dokumentarischer oder fiktionaler Medieninhalt intentionale Akteure aufweisen. Intentionalität ist dabei nicht an Menschen als Träger gebunden, sondern kann durch unterschiedlichste Akteure verkörpert werden, wie zum Beispiel Tiere, Roboter oder Dinge. Frans de Waal pointiert diesen Sachverhalt: Walt Disney ließ uns vergessen, dass Mickey eine Maus und Donald eine Ente war. Sesamstraße, die Muppets oder Barney: die Fernsehkanäle sind voll von sprechenden und singenden Tieren, die zu ihren Pendants in der Wirklichkeit kaum noch einen Bezug aufweisen.47 Die zuerst nur in Computerspielen agierende virtuelle Heldin Lara Croft – reiner „Pixelbrei“, wie Astrid Deuber-Mankowsky einen Jugendlichen zitiert – brachte begeisterte Spieler so weit, ihr Gedichte zu schreiben.48 Sie und alle rein medialen Existenzen zeichnen sich dadurch aus, dass sie Ziele haben gemäß derer sie auf ihre Umwelt reagieren und die als kausaler Grund eigenständigen Handelns fungieren. Diese Charakteristik trifft im wirklichen Leben am ehesten auf Menschen zu, scheint jedoch auch in vielen Fällen tierischen Verhaltens erfüllt zu sein. Laut Pascal Boyer gibt es in diesem Zusammenhang gewichtige Gründe, die dafür sprechen, dass Menschen beim Betrachten der sie umgebenden Welt kognitiv grundsätzlich zwei ontologische Kategorien unterscheiden (Boyer 2004). In einer späteren Publikation heißt es: That is, it may well be the case that young children and adults develop not one general intuitive physics that spans the entire ontological category of medium-size solid objects, but two quite distinct systems: one 46 Tooby/Cosmides: „Conceptual Foundations of Evolutionary Psychology“, S. 46. 47 Waal: Der Affe und der Sushimeister, S. 72. 48 Vgl. Deuber-Mankowsky: Lara Croft – Modell, Medium, Cyberhelding, S. 10.
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focused on these solid objects, their statics, and dynamics, and the other one focused on biological motion.49 Eine der zwei Kategorien umfasst die Dinge, die als rein physische Körper in die Wechselwirkungsbeziehungen der Umwelt eingebunden sind und den allgemeinen physikalischen Gesetzen folgen. Die zweite Kategorie ist die der intentionalen Akteure. Diese evolutionär entstandene Differenzierung wertet Marc D. Hauser als die „wohl wichtigste Voreingenommenheit“50 der menschlichen Kognition. Beim Nachvollzug von Umweltgeschehnissen werden Objekte gemäß dieser Aufteilung klassifiziert: Bei Vorgängen, die nicht direkt auf physikalisch-mechanistische Gesetzmäßigkeiten zurückgeführt werden können beziehungsweise welche aus scheinbar nicht kausal schlüssig aufeinanderfolgenden Elementen bestehen, liegt demnach das Wirken intentionaler Akteure vor. An Boyers Beispiel zweier sich auf einem Bildschirm jagender Farbpunkte, die von Beobachtern als Fliehender und als Verfolger interpretiert werden, wird deutlich wie bereitwillig Menschen nicht mechanistisch erklärbare Vorgänge als intentional verursacht kategorisieren.51 Die Bereitwilligkeit, mit der Medienrezipienten nichtmenschlichen Lebensformen aber auch agierenden Dingen Intentionalität zuschreiben, deutet darauf hin, dass es sich hier um eine kognitive Klassifizierung handelt, die tendenziell überschießend eingesetzt wird, um – ähnlich der emotionalen Kategorie Angst – keine handlungsrelevanten Bestandteile der Umwelt zu übersehen. Die Zuschreibung von Intentionalität ist somit ein kognitiver Filter, der einem adäquaten Umgang mit einer sowohl aus größtenteils statischen Dingen als auch aus Akteuren bestehenden Umwelt dient. Strategisch erfordert diese Umwelt, dass die verfügbare Aufmerksamkeit primär auf vorhandene intentionale Akteure gerichtet wird. Im Gegensatz zur überwältigenden Zahl statischer Bestandteile von Umwelten, lassen sich die Aufenthaltsorte und Aktionen aktiv handelnder Entitäten und daraus resultierende Konsequenzen viel weniger voraussehen. Um möglichen Gefahren zu entgehen und um mögliche Chancen zu nutzen, ist es strategisch klug, kognitive Ressourcen vorrangig für ein Monitoring anderer Akteure einzusetzen, die wie der Rezipient eigene Ziele haben – wobei sowohl das Wissen um gleichartige als auch um abweichende Zielsetzungen für die Planung des eigenen Handelns von entscheidender Bedeutung sein kann.
49 Vgl. Boyer/Barrett: „Domain Specificity and Intuitive Ontology“, S. 110. 50 Hauser: Wilde Intelligenz, S. 270. 51 Vgl. Heider/Simmel: „An Experimental Study of Apparent Behavior“; Castelli u.a.: „Autism“.
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Seit langem hat es sich deshalb eingebürgert jenen Wesen, die Andere als intentionale Akteure begreifen, eine Theory of Mind zuzuschreiben.52 Dabei handelt es sich mehr um eine Fähigkeit als um eine Theorie, die darin besteht die Äußerungen und Taten Anderer als Resultate nichtoffensichtlicher innerer Vorgänge zu begreifen, die aber an äußeren Anzeichen beobachtet und „entziffert“ werden können. Mitunter wird diese Fähigkeit auch als alltägliche Form des Gedankenlesens benannt. Es gibt jedoch auch eine Gruppe von Menschen ohne diese Fähigkeit und die aus diesem Grund, mit einem Terminus von Simon Baron-Cohen als Mindblind als Geistesblind bezeichnet werden können: Autisten.53 Wie wichtig der Besitz einer Theory of Mind für einen Menschen ist, wird an den Alltagsproblemen von sehr intelligenten, so genannten hochfunktionalen Autisten deutlich. Die Unfähigkeit kausale Verbindungen zwischen dem Agieren einer Person und einem ursächlich dahinter stehenden mentalen Zustand herzustellen, bedingt extreme Schwierigkeiten beim sozialen Umgang. Da es sich bei dieser Gruppe von Autisten um Menschen handelt, deren Intelligenzquotient zum Teil weit über dem Bevölkerungsdurchschnitt liegt, wird deutlich, dass der vorliegende kognitive Mangel kein Nebeneffekt einer insgesamt dürftigen intellektuellen Leistungsfähigkeit ist.54 Es handelt sich vielmehr um den selektiven Ausfall eines für den Umgang mit intentionalen Akteuren evolvierten Verarbeitungsmechanismus im menschlichen Gehirn. Diese Fähigkeit ist aber ein zentrales Element im Umgang mit Medien, das legt schon die bereits angeführte Äußerung der akademisch hoch erfolgreichen Autistin Temple Grandin zu Shakespeares Romeo und Julia nahe: sie „habe nie verstanden, worum es ihnen ging“55 – eine Äußerung die exemplarisch deutlich macht, wie sehr die Wahrnehmung medial dargebotener Geschehnisse und Handlungen vom Besitz einer Theory of Mind abhängt. Offensichtlicher – im wahrsten Sinne des Wortes – wird diese essentielle Bedeutung einer Theory of Mind für den Umgang mit Medien in der bereits erwähnten vergleichenden Untersuchung von Ami Klin und Kollegen, der ich mich nun vertiefend zuwenden möchte.56 Der Mediziner Klin hat dabei sowohl einem seiner autistischen Patienten, Peter, der „an einer bekannten Universität studiert“57 hat, als
52 Vgl. Premack/Woodruff: „Does the chipmanzee have a theory of mind?“; Metzinger: Bewusstsein. 53 Vgl. Baron-Cohen: Vom ersten Tag an anders. 54 Vgl. Hermelin: Rätselhafte Begabungen. 55 Sacks: „Vorwort“, S. 16. 56 Klin u.a.: „Defining and Quantifying the Social Phenotype of Autism“. 57 Gladwell: Blink, S. 215.
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auch Nichtautisten den oscarprämierten Film Wer hat Angst vor Virginia Woolf? von Mike Nichols – mit Elizabeth Taylor und Richard Burton – vorgeführt. Die Versuchspersonen trugen während sie den Film sahen einen Eyetracker, ein Gerät, dass die genaue Blickrichtung eines Menschen aufzeichnet. Da die Fovea, der Netzhautbereich des schärfsten Sehens nur einen winzigen Teil des gesamten Blickfeldes erfasst, wird diese Region mittels Augen- und Kopfbewegungen stets auf den Brennpunkt des individuellen Interesses ausgerichtet. Diese Eigenart der Augenbewegungen erlaubt es, den Vorgang der visuellen Wahrnehmung und – auf eine indirekt sehr gehaltvolle Weise – auch die damit einhergehende geistige Auseinandersetzung mit dem dargebotenen Geschehen präzise nachzuvollziehen und zu analysieren. Die Grundlage einer solchen Untersuchung sind die Aufzeichnungen einer Kamera, die vom helmartigen Eyetracker aus, das Geschehen im Gesichtsfeld der Versuchsperson festhält. Durch Kombination mit den Daten einer zweiten Kamera wird eine Markierung generiert, die wiedergibt, wohin der Proband zu welchem Zeitpunkt gesehen hat, und wie und wohin sich seine Augen im Laufe des Rezeptionsvorgangs bewegt haben. Auffällig an den Ergebnissen dieser Untersuchung ist, dass der intellektuell sehr leistungsfähige Autist Peter in einer signifikant anderen Weise als die übrigen Testpersonen mit dem filmischen Geschehen umgeht. Im Gegensatz zu allen Anderen konzentriert er sich nicht auf die Gesichter der Akteure. Angesichts des kammerspielartigen Charakters des auf die Leinwand gebrachten Theaterstücks ist dies ein sonderbares Verhalten. Es gibt so gut wie keine Geschehnisse im Rahmen der Handlung, die von den Interaktionen der Akteure ablenken. Rahmenbedingungen, die im Falle der nichtautistischen Testpersonen dazu führen, dass deren Blicke fast auschließlich auf die Gesichter der Akteure und speziell auf deren Augen und Münder gerichtet sind. Der Unterschied begründet sich darin, dass Autisten das Gesicht und auch die Gestik anderer Menschen nicht als zentrale Informationsquelle zum Erfassen menschlicher Interaktionen nutzen. Dieses aus dem Fehlen einer Theory of Mind resultierende Verhalten zeigt, dass es sich hier um einen selektiven Ausfall in der kognitiven Verarbeitung von Umweltreizen handelt, der in hochspezifischer Weise die Wahrnehmung und Verarbeitung sozial relevanter Umweltmerkmale verhindert. Für einen solch modularen Ausfall von Verarbeitungskapazitäten, die auf den Umgang mit Mitmenschen ausgerichtet sind, spricht, dass hochfunktionale Autisten die Gesichter ihrer Mitmenschen nicht wie üblich in einer separaten Region des visuellen Kortex verarbeiten sondern deren
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Auswertung im gleichen Areal erfolgt, das für den Umgang mit Dingen verantwortlich ist.58 Die Studie von Klin führt exemplarisch eine Szene an, in der Nick und Honey, das jüngere Paar, zusammen mit George in dessen Arbeitszimmer an einem Tisch sitzen und Nick fragt, während er mit der Hand auf ein Bild von mehreren an der Wand deutet, wer dieses gemalt habe. Der Blickverlauf nichtautistischer Rezipienten beginnt während dieser wenigen Sekunden beim Gesicht von Nick, folgt dessen deutender Hand zu dem Bild auf der Wand, streift es kurz und verlagert sich von dort direkt zum Gesicht von George, in dessen Heim die Handlung stattfindet. Von Georges Gesicht kehrt die Aufmerksamkeit der Betrachter dann zu Nick zurück, von dem sie auch ausging. Innerhalb dieser Handlung ist dies eine adäquate und stringente Abfolge in der Verlagerung des kognitiven Fokus. Im Falle des Autisten Peter, streift jedoch dessen Blick während der gesamten Szene nicht ein einziges Mal die Gesichter der beteiligten Personen. Zwar wird der explizite Verweis auf ein Bild an der Wand aufgenommen und umgesetzt, die präzisierende Geste von Nick wird jedoch nicht als Orientierungshilfe genutzt, so dass der optische Fokus zwar eine Zeit lang auf der Wand mit dem Bild ruht, aus dem zeitlichen Verlauf jedoch ersichtlich wird, dass für den Betrachter nicht klar ist, um welches der Bilder es sich handelt. Die Person von George, auf den die Frage zielt – auch wenn er in deren Formulierung nicht ausdrücklich erwähnt wird – wird zu keiner Zeit von Peters Blick berührt. Diese extremen Unterschiede in der visuellen Aufmerksamkeit belegen zum einen, wie fundamental eine Theory of Mind für das Verstehen intentionaler Akteure ist, zum anderen aber auch, wie zentral das Verstehen intentionaler Akteure für den Umgang mit Medieninhalten ist. Man kann diese Aussage erweitern, da es sich hier um eine Kompetenz handelt, die nicht nur für den Umgang mit medial dargebotenen menschlichen Interaktionen wichtig ist: Intentionale Akteure sind die Bausteine des menschlichen Miteinanders. Wenn, wie unter anderem die Ergebnisse von Robin Dunbar59 nahe legen, die menschliche Intelligenz ein Ergebnis der über stammesgeschichtlich lange Zeiten gegebenen sozialen Komplexität ist, spricht viel dafür, dass die damals selektierten kognitiven Fähigkeiten und Präferenzen gerade diesen Entstehungshintergrund widerspiegeln. Die Medien und ihre Inhalte belegen so eine Bevorzugung von Geschehnissen, in denen intentionale Akteure die zentrale Komponente sind. Gerade in der medialen Unterhaltungsindustrie wird diese Ausrichtung der Wahrnehmung offensichtlich: Handlung findet nur da statt, 58 Vgl. Hubl u.a.: „Functional imbalance of visual pathways indicates alternative face processing strategies in autism“. 59 Dunbar: Klatsch und Tratsch.
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wo Protagonisten – mögen sie Menschen, Tiere, Dinge oder metaphysische Wesen sein –, gegen unterschiedlichste Schwierigkeiten ihre Ziele verfolgen. Mögliche Medieninhalte, die dieser Grundcharakteristik nicht entsprechen, werden im Gegenzug nicht nur als langweilig, sondern viel entscheidender als ohne Handlung und damit prinzipiell uninteressant angesehen. Die menschliche Präferenz für intentionale Akteure zeigt sich jedoch nicht nur in den unterschiedlichen medialen Genres des Fiktionalen, auch die Inszenierung dokumentarischer Inhalte wird auf diese Vorliebe ausgerichtet. So zeigen personalisierende Strategien der Darstellung vergleichsweise abstrakte Sachverhalte anhand einzelner Individuen. Ebenso werden auch die Aktivitäten anderer Lebewesen häufig in Form dramatischer Spannungsbögen in Szene gesetzt, die diese als intentionale Akteure darstellen.
Soziale Interaktionen „Group living is what we do as a species. It offers a bounty of benefits through cooperation and an abundance of costs through social conflict. As a consequence, it is reasonable to expect that humans have evolved a large number of specialized adaptations for dealing with other humans, both for within-group interactions and for dealing with other groups.“ (David Buss60)
Die Bedeutung sozialer Interaktionen für Handlungen im Allgemeinen resultiert in direkter Linie aus der Wichtigkeit intentionaler Akteure: „The label ‚the social brain‘ characterises an essential part of our evolutionary history, because it is very likely that our being animaux sociale has shaped our emotional and cognitive brain mechanisms in very decisive ways.“61 In einer Umwelt in der es strategisch angeraten ist, sich den Aktionen einzelner Handelnder zuzuwenden, ist es in der Folge logisch, auch möglichen Interaktionen zwischen mehreren Subjekten erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken. Ein Grund hierfür ist – wie schon angeführt – , dass so Einsichten in die jeweiligen Handlungsplanungen zu erwarten sind, die für das eigene Verhalten relevant sein können. Ein weiterer Grund für die Bereitschaft, den Umgang anderer Individuen miteinander zu beachten, resultiert aus dem Faktum, dass derartige soziale Vorgänge geeignet sind, Auskünfte über die Fähigkeiten und Potentiale der beteiligten
60 Buss: The Handbook of Evolutionary Psychology, S. 583. 61 Brüne: „Preface“, S. XIIV-XIV.
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Individuen zu geben, die es wiederum erlauben deren Wert als potentielle soziale Partner oder Konkurrenten einzuschätzen.62 Die überwiegende Zahl nichtmenschlicher Primaten lebt in sozialen, hierarchisch organisierten Gruppen zusammen. Dabei lässt sich – wie schon angeführt – eine Korrelation feststellen zwischen Gruppengröße und Größe des Neokortex63 – ein Zusammenhang der nahe legt, dass zunehmende soziale Komplexität als selektiver Druck auf das Gehirn wirkt und die festzustellende Gewebezunahme sowie die selektierten kognitiven Mechanismen als eine organische Antwort auf derartige Umweltbedingungen zu verstehen sind. Ferner deuten die Untersuchungen zur menschlichen Prähistorie darauf hin, dass sowohl Hominiden als auch ihre Vorfahren, seit der genetischen Trennung von der Erblinie der heutigen Schimpansen vor zirka sieben Millionen Jahren, beständig in Sozialverbänden lebten.64 Komplexe Sozialität war somit ein beständiger Faktor in der Vorgeschichte des heutigen Menschen und zudem wahrscheinlich äußerst bedeutsam für dessen kognitiv-psychische Ausstattung. Schon im Rahmen einer abstrakten Modellierung eines sich in einer Umwelt mit begrenzten Ressourcen geschlechtlich vermehrenden Organismus, sind bestimmte strategische Problemstellungen zu erwarten, mit denen ein Individuum umgehen muss65: Dies ist zum einen der Umgang mit anderen Vertretern der gleichen Spezies bei der unausweichlichen Konkurrenz um die Existenzgrundlagen, wie Nahrung und Lebensraum, und zum anderen die Suche nach einem Partner für die Fortpflanzung. Wie zentral diese lebensstrategischen Probleme auch in medialen Kulturprodukten sind, belegt die bereits erwähnte Untersuchung von 100 Hollywood- und 50 Bollywoodfilmen. Erfolgreiche Filme, gleich aus welcher Kultur und welcher Entstehungszeit, beziehen das strategische Gerüst ihrer Handlungen aus evolutionär alten Konfliktkonstellationen, wie der Partnersuche und dem Umgang mit Bedrohungen durch Artgenossen. Als einziger Film innerhalb der erfolgreichsten Filme Hollywoods66 ist Disneys Fantasia von 1940 nicht um zentrale Konflikte aus Partnerwahl, Finden und Sichern der Lebensgrundlagen und Umgang mit Gefahren aufgebaut. Dies liegt zum einen daran, dass bei der Produktion dieses ersten Trickfilms in Spielfilmlänge besonderer Wert darauf gelegt wurde, die ästhetischen Möglichkeiten der Animationstechnik auszunutzen und zum anderen besonders an der episodischen Struktur die-
62 Vgl. Uhl/Voland: Angeber haben mehr vom Leben. 63 Vgl. Dunbar: Klatsch und Tratsch. 64 Vgl. Boyd/Silk: How Humans Evolved. 65 Vgl. Voland: Grundriss der Soziobiologie. 66 Vgl. The Movie Times: „Top Grossing Films of All Time in the U.S“.
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ses Werkes, die keine zentrale handlungstreibende Konstellation kennt. Die Analyse der einzelnen lose aneinander gereihten Handlungseinheiten zeigt jedoch, dass auf dieser adäquateren Analyseebene sehr wohl die beschriebenen archetypischen Problemstellungen als dramatischer Motor der präsentierten Geschehnisse fungieren. Der menschliche Umgang mit der Welt wird von der Präferenz geprägt, die Aufmerksamkeit auf soziale Zusammenhänge zu lenken, das belegen auch weitere Untersuchungen von Robin Dunbar. Er und seine Mitarbeiter analysierten Gespräche in Cafes oder Kneipen. Dabei stellten sie fest: „ungefähr zwei Drittel der Unterhaltung drehen sich um zwischenmenschliche Belange. Wer was mit wem tut, und ob es gut oder schlecht ist. Wer wichtig ist und wer nicht und warum“67. Auf diese kommunikative Neigung zum Klatsch hat zuvor – wie an anderer Stelle angemerkt – schon Jerome H. Barkow hingewiesen68. In erhellender Weise vergleicht er die Vorliebe für Klatsch mit dem Hang, Schokolade zu essen. In beiden Fällen entnimmt der Organismus etwas aus seiner Umwelt, das prähistorisch essentiell für dessen Fortbestehen war: zum einen energiereiche Substanzen, die den Stoffwechsel aufrechterhalten und zum anderen Informationen über das soziale Umfeld, die eine Orientierung der eigenen Handlungen erlauben. Im Falle der Schokolade ist relativ offensichtlich, dass der selektive Druck zur Herausbildung einer spezifischen Nahrungspräferenz geführt hat: Ein großer Teil der Menschheit konsumiert gerne süße Lebensmittel, auch wenn auf Grund der modernen Lebensbedingungen deren Brennwert dem Körper mehr schadet als nutzt. Ähnlich verhält es sich mit sozialen Informationen: Medien erlauben ihren Konsum sowohl in dokumentarischer als auch in fiktionaler Form, wobei die gebotenen Inhalte in vielen Fällen nichts mit der Lebensführung und Handlungsplanung des Rezipienten zu tun haben. Das Äquivalent zur angenehmen Geschmacksempfindung, die mit hochkalorischen Lebensmitteln einhergeht, sind in diesem Fall das Erleben von Interesse, Neugier, Betroffenheit oder Involviertheit. Dabei ist die genaue Klassifikation des vorliegenden Gefühlszustandes in diesem Zusammenhang weniger wichtig als der Effekt, dass dieser zu einer Fortsetzung des Medienkonsums führt – gerade auch dann, wenn sich aus den dargebotenen Stimuli keine relevanten Informationen für den Konsumenten ergeben. Im Sinne einer – wohlgemerkt einfachen – Kosten-NutzenRechnung werden hier kognitive Ressourcen auf Umweltaspekte verwandt, aus deren intensiver Wahrnehmung nur eine sehr beschränkte Verhaltensorientierung erfolgen kann, da es sich um mediale Geschehnisse handelt, die keine
67 Dunbar: Klatsch und Tratsch, S. 13. 68 Barkow: „Beneath New Culture is Old Psychology“.
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oder nur geringe kausale Wechselwirkung mit der nichtmedialen Lebenswelt ihrer Rezipienten aufweisen Zu den bisherigen Befunden und Überlegungen, warum sich Menschen besonders für ihresgleichen und deren Mit- und Gegeneinander interessieren, gesellen sich in jüngster Zeit auch Ergebnisse von bildgebenden Gehirnuntersuchungen bei gerade aktiven Rezipienten. Wie die Bilder zeigen, wird – sobald die menschliche Wahrnehmung mit sozialen Aktivitäten konfrontiert wird – der mediofrontale Kortex aktiviert.69 Ein Comic, in dem lediglich ein physikalisches Objekt einen Hang hinunter rollt, führt zu keinerlei Aktivierung in diesem Bereich. Handelt es sich jedoch um eine in gleicher Weise dargebotene Interaktion verschiedener Menschen kommt es zu einer vermehrten Durchblutung dieser Region, die auf eine gesteigerte Aktivität schließen lässt.70 Die mediofrontale Region, die im Licht dieser Ergebnisse als eine Art Detektor für soziale Interaktion erscheint, kann jedoch auch Aktivität zeigen, wenn in der entsprechenden Bildergeschichte nur eine Person zu sehen ist. Interessanterweise – und damit stark auf eine mögliche Funktion als Sozialinteraktions-Detektor hinweisend – lassen sich derartige Aktivitäten immer dann beobachten, wenn die gezeigte Person Tätigkeiten nachgeht, die eine eindeutig soziale Ausrichtung haben. So führt der Anblick eines Mannes, der ein Geschenk einpackt, zu einem deutlichen wenn auch im Vergleich zu Interaktionen schwachen Anstieg der Durchblutung, wohingegen das Aufheben einer Flasche keinerlei Wirkung in dieser Hirnregion nach sich zieht. Die menschliche Empfindung von Handlung und Geschehen beim medialen Erleben resultiert aus den für eine nichtmediale Lebenswelt selektierten kognitiven Potentialen. Dieser Sachverhalt zeigt sich in der Bevorzugung von medial dargebotenen Handlungen gegenüber anderen möglichen Inhalten, wie zum Beispiel eintönigen Wiederholungen, monochromen Farbflächen, DadaBotschaften und statischen oder bewegten Farb- und Musterarrangements. Einen auf den ersten Blick überraschenden Beleg für den Zusammenhang von Medieninhalten, evolvierten Verarbeitungsmechanismen und physiologischen Erscheinungen erbrachte eine Untersuchung des Einflusses von Pornofilmen auf die Qualität männlichen Ejakulats.71 Bei der Untersuchung von Spermaproben, die normalerweise der Fruchtbarkeitsfeststellung dienen, stellte sich heraus, dass deren Gehalte an motilen, also bewegungsfähigen und damit fortpflanzungsfähigen Spermien je nach filmischem Inhalt in auffälliger Weise variiert. Männer, die ein lesbisches Miteinander von Frauen rezipieren, pro-
69 Vgl. Walter u.a.: „Motivating forces of human actions“. 70 Vgl. Walter u.a.: „Understanding Intentions in Social Interaction“. 71 Vgl. Kilgallon/Simmons: „Image Content influences men’s semen qualitiy“.
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duzieren weniger motile Spermien als Männer, denen eine Interaktion von einer Frau und mehreren Männern präsentiert wird. Diese Beobachtung deutet auf eine psychologisch-physiologische Anpassung von Männern an sexuelle Konkurrenz hin. Von vielen Spezies sind anatomische Anpassungen in Form von großen Keimdrüsen an Reproduktionssituationen mit Spermienkonkurrenz bekannt. Die Ergebnisse der angeführten Studie sprechen für eine analoge, jedoch psychisch angelegte Anpassung des Homo sapiens. Wichtig ist für den hier untersuchten Zusammenhang, dass diese Beobachtungen auf der Basis von Medienstimuli gemacht wurden. Der Medienstimulus führt hier zu einer quantitativ auf der physiologischen Ebene feststellbaren Veränderung – einer Veränderung, die sich im realen Fortpflanzungskontext als Anpassung herausgebildet hat, die aber im Zusammenhang mit Mediennutzung ein bloßes Kuriosum darstellt. Diese Wirkung belegt jedoch exemplarisch, dass Menschen eine psychologisch tief verankerte Tendenz aufweisen, auf mediale Inhalte analog zu deren realweltlichen Vorlagen zu reagieren. Im Resümee dieser Befunde lässt sich sagen: Menschen sind soziale Wesen, deren kognitive Anpassungen an diese Lebensweise auch im Umgang mit Medien aktiv sind. Handlung als Inhalt von Medienprodukten ist deshalb so stark von der Darstellung sozialer Interaktion abhängig, weil Menschen kognitive Präferenzen für diesen Typ von Umweltgeschehen aufweisen. Mit Blick auf eine mehrmillionenjährige Vergangenheit als hochsoziale Lebensform ist ein bevorzugter Einsatz von Aufmerksamkeit für derartige Zusammenhänge alles andere als überraschend: „…human beings use specific neural-cognitive mechanisms to process signals of the intentions and dispositions of others.“72 Weil das Wahrnehmen und Verfolgen sozialer Interaktionen in der Vergangenheit existenziell wichtig war, entwickelten Menschen eine Präferenz, ihre Aufmerksamkeit derartigen Geschehnissen zuzuwenden. Mediale Inhalte können diese kognitiv alten Mechanismen bedienen und so dafür sorgen, dass Texte, Töne, Bilder und Filme über das Potential verfügen, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen – auch wenn sie keine instrumentell nutzbaren Inhalte bieten.
72 Brothers: „Introduction“ in „The Social Brain“, S. 1.
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Emotionalität „Everyone understands an action movie. If I tell you a joke, you may not get it but if a bullet goes through the window we all know to hit the floor, no matter what the language.“ (Larry Gordon73)
An diesem Punkt der Rekonstruktion dessen, was Menschen als Handlung verstehen und mit Aufmerksamkeit bedenken, schlägt die Stunde der bei Aristoteles beginnenden klassischen Dramentheorie.74 Interessant wird ein intentionaler Akteur erst dann, wenn er mit einem Konflikt umgehen muss. Konflikt bedeutet, dass Schwierigkeiten auftreten, die einer Umsetzung intendierter Zielvorstellungen entgegenstehen. In den allermeisten Fällen sind diese Schwierigkeiten nicht rein physischer Natur sondern stehen in Zusammenhang mit den Aktivitäten eines oder mehrerer anderer handelnder Individuen.75 Eine solche Konfrontation unterschiedlicher Protagonisten mit sich gegenseitig ausschließenden Zielvorstellungen entspricht fundamental den universellen Charakteristika eines sozialen Konflikts. Medieninhalte vermitteln jedoch nicht abstrakt die strategische Spannung, die aus einer solchen Konstellation resultiert, sondern legen ihren dramaturgischen Schwerpunkt auf die Auswirkungen einer Situation und daran anschließender Handlungen oder Geschehnisse auf den Zustand der beteiligten Individuen. Die Nachvollzugs- und Partizipationsmöglichkeit für die Konsumenten erwächst dabei zentral aus der Darstellung emotionaler Zustände der Beteiligten. Wie wichtig, bedeutend oder folgenreich ein Geschehen ist, wird dabei auch anhand der emotionalen Reaktionen der Protagonisten vermittelt. Im Rahmen der Behandlung des Menschen als evolviertem Medienrezipienten wurde schon auf den selektiv-funktionalen Hintergrund emotionaler Zustände eingegangen. Es handelt sich bei diesen um Bestandteile der kognitiven Ausstattung des Menschen, die Umweltgeschehnisse auf einer nichtrationalen Ebene erfassen und sich in der Folge auf das Verhalten auswirken. Die schon angeführten Ergebnisse von Gedächtnisexperimenten76 belegen, dass die Merkfähigkeit steigt, wenn Informationen in Zusammenhang mit dramatischen Ereignissen präsentiert werden. Die emotionale Intensität von wahrge73 Gordon, Produzent von Stirb langsam in: Steven: The No-Nonsense Guide to Global Media, S. 22. 74 Vgl. Aristoteles: Poetik; Lessing: Hamburgische Dramaturgie; Booker: The Seven Basic Plots. 75 Vgl. Vogler: Die Odyssee des Drehbuchschreibers. 76 Vgl. Spitzer: Lernen, S. 158.
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nommenen Handlungen und Interaktionen ist entscheidend dafür, ob eine beobachtete Interaktion zwischen Menschen als bedeutungsvoll wahrgenommen wird und ob und wie viel kognitive Ressourcen auf den Umgang mit ihr verwendet werden. Zentrale Struktur für diese Prozesse ist die Amygdala, die auch Mandelkern genannt wird. Beide Gehirnhälften verfügen in den Temporallappen über diese in der Tat ungefähr mandelgroßen Gebilde, die ein wichtiger Bestandteil des limbischen Systems sind. In seltenen Fällen, wie zum Beispiel der UrbachWiethe-Krankheit, kann es dazu kommen, dass diese Strukturen mineralisieren, was zum Untergang des dortigen Nervengewebes führt.77 Bei B.P., einem Patienten der von diesen Veränderungen betroffen war, beschreibt Hans Markowitsch die Auswirkungen wie folgt: Die Gedächtnisstörung bestand primär in einer Unfähigkeit, bedeutende von unbedeutenden Informationen unterscheiden zu können. Wurde B. P. beispielsweise eine Geschichte erzählt, in der eine Frau im gelb-schwarz-geblümten Kleid einen Raum betrat und im weiteren Verlauf der Geschichte ein Mann sie von hinten erdolchte, so erzählte B. P. eine halbe Stunde später eher von dem Kleid als von dem Mord. Diese Fallbeschreibung verdeutlicht die Bedeutung von Emotion für Gedächtnis und damit einen weiteren Aspekt der Hirnorganisation – die Verschränktheit unterschiedlicher Hirnregionen bei kognitiven Verarbeitungsprozessen.78 Dieses Beispiel belegt, in welcher Weise die als normal erscheinende Wahrnehmung von Handlungen an die Tätigkeit des menschlichen Emotionssystems gebunden ist. Die Spannung, die einem Buch, einem Bild oder einem Film zugesprochen wird, ist keine Eigenschaft, die dem Medienprodukt inhärent ist. Ein solcher Zustand entsteht vielmehr dann, wenn ein kognitives System, das prinzipiell darauf angelegt ist einen solchen Zustand hervorzubringen, in spezifischer Weise stimuliert wird. Es sind nicht wenige Bücher, Bilder oder Filme, denen es gelingt, Millionen von Menschen zu gleichen oder ähnlichen Reaktionen zu verleiten. Dieser Tatbestand verweist darauf, dass das emotionale Fundament der menschlichen Weltwahrnehmung universal ist – auch wenn die individuell präferierten affektiven Zustände, die auf dieser Basis entstehen, sehr wohl von kulturellen und individuellen Faktoren geformt werden. Ed Tan, der speziell den Film als „Emotion Machine“ untersucht hat, stellt hierzu fest „…in general, narration
77 Vgl. Cahill u.a.: „Involvement of the amygdaloid complex in emotional memory“. 78 Markowitsch: „Neuroanatomie und Störung des Gedächtnisses“, S. 475.
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may be seen as the systematic evocation of emotion in an audience, according to a preconceived plan.“79 Paul Ekman hat in seinen kulturvergleichenden Untersuchungen aufgezeigt, dass die grundlegenden Emotionen und ihre Ausdrücke universelle Phänomene sind.80 Eingeborene aus Papua Neuguinea verstehen das Lächeln eines Eskimos. Inuit wiederum haben keine Schwierigkeit, vom mimischen Wutausdruck eines Urwaldbewohners auf dessen Gefühlszustand zurückzuschließen. Das Potential mimischer Ausdrücke liegt somit darin, dass diese einen kommunikativen Austausch auf einer weltweit zwar nicht einheitlichen aber ähnlichen vorsprachlichen Ebene erlauben. Mehr als Worte können Mimik und Gestik als Fenster gesehen werden, die einen Blick auf den inneren Zustand eines Individuums gestatten. Die Entdeckung der Spiegelneuronen im menschlichen Kortex hat gezeigt, dass der Terminus Mitgefühl durchaus wortwörtlich genommen werden kann81, denn: Beobachtet ein Proband auf einem Monitor einen Menschen, der sich weh tut, so werden die gleichen Hirnareale aktiv, die auch bei eigenen Missgeschicken für die Gefühlsqualität Schmerz verantwortlich sind. Menschen fühlen also im wahrsten Sinne des Wortes mit, auch wenn die Zielpersonen für dieses Mitgefühl nur medial gegeben sind. Die biologisch angelegte Emotionalität des Menschen erweist sich somit – zusammen mit den kognitiven Mechanismen für Veränderung, Kausalität, intentionale Akteure und soziale Interaktion – als unverzichtbarer Faktor für ein umfassendes Verständnis von Handlung und narrativen Strukturen. Dieser Erklärungsanspruch der evolutionären Medienanthropologie soll dabei nicht missverstanden werden. Das Wissen um evolutionär entstandene kognitive Mechanismen liefert einen Beitrag zum Verständnis dieser Phänomene, keinen Universalschlüssel. Dieser Beitrag bedingt aber, dass zukünftig anspruchsvolle Auseinandersetzung mit Handlung und Narration nicht umhin kommen, sowohl die kulturellen als auch die biologischen Anteile in deren Beschaffenheit zu berücksichtigen.
79 Tan: Emotion and the Structure of Narrative Film, S. 250. 80 Vgl. Ekman: Gefühle lesen. 81 Vgl. Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst, S. 18ff.
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Leitmedium Fernsehen „Das Fernsehen ist das meist genutzte Medium.“ (Holger Schramm/ Uwe Hasebrink82)
Holger Schramm und Uwe Hasebrink, von denen diese statistische Feststellung stammt, räumen ein, dass die Nutzungszahlen für das Radio vergleichbar hoch sind. Dieses quantitative Äquivalent beschreibt jedoch die Situation nicht angemessen, da das Radio viel öfter als Nebenbei- oder Hintergrund-Medium konsumiert wird, während das Fernsehen „mehr ungeteilte Aufmerksamkeit der Nutzer/innen auf sich“83 zieht. „Das Medium ist allgegenwärtig, und seine Nutzung und sein Gebrauch sind fester Bestandteil der Alltagsaktivitäten fast aller Bevölkerungsgruppen.“84 Fernsehen, so auch die deutlich ältere und auf die USA bezogene Aussage von George Gerbner und Kollegen, ist „the central and most pervasive mass medium in American culture“85. Aber auch die Entwicklung in ehemaligen Dritte-Welt-Ländern wie Indien – in denen das Fernsehangebot von zwei staatlichen Sendern Ende der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts auf gegenwärtig mehr als hundert Satellitenprogramme anwuchs86 – macht deutlich, dass derartige Aussagen für den überwiegenden Teil der internationalen Staatengemeinschaft gelten. So ist die heimische Bildröhre mit ihrer auf Projektion, LCD oder Plasma setzenden technischen Konkurrenz zwar weder die flexibelste, noch die glamouröseste Form von Medien im Alltag, aber die wahrscheinlich einflussreichste: leicht zu konsumieren, stark involvierend, wirkmächtig und nicht selten das Zentrum privaten Lebens. Die Wirkungsweise dieser heimischen Quelle audiovisueller Unterhaltung und Information entspricht dabei prinzipiell den Ausführungen zum Filmkonsum: Parallel zur bewussten und den repräsentationalen Charakter erkennenden Wahrnehmung der angebotenen Inhalte erfolgt eine nichtbewusste Verarbeitung, die auf verhaltenssteuernden Mechanismen beruht, die als strategischkognitive Anpassungen an einstige Umwelten selektiert wurden. Für die kognitive Funktionalität im medialen Alltag bedeutet dies: In jedem Fernsehzuschauer gibt es einen für dessen Empfinden und Denken höchst wichtigen Teil, der nie verstehen wird, dass es sich bei medialem Input nicht um Ge-
82 Schramm/Hasebrink: „Fernsehnutzung und Fernsehwirkung“, S. 467. 83 Schramm/Hasebrink: „Fernsehnutzung und Fernsehwirkung“, S. 467. 84 Mikos: Fernsehen im Erleben der Zuschauer, S. 1. 85 Gerbner u.a.: „The ‘Mainstreaming’ of America“, S. 14, so wiedergegeben in Jäckel: Medienwirkungen, S. 203. 86 Vgl. Uhl/Kumar: Indischer Film, S. 116f.
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schehnisse, Konflikte und Gefühle im eigenen Lebensumfeld handelt. Positiv an diesem – rational betrachtet – permanenten Irrtum ist, dass dieser die Grundlage dafür schafft, einen Großteil der Fernsehinhalte tendenziell als aufmerksamkeitswürdigen Stimulus wahrzunehmen. Würden die Repräsentationen von Ereignissen, Aktionen und Interaktionen keine Aktivierung dieser zum größten Teil für den Umgang mit einer sozialen Umwelt evolvierten Verarbeitungsmechanismen nach sich ziehen, so wäre das Fernsehen eine Erfindung, deren akustisch unterlegte zweidimensionale Präsentationen wechselnder Helligkeits- und Farbwerte nie das Potential zum Massenmedium Nummer Eins gehabt hätten. Der Grund dafür, dass Fernsehen die Menschen anzieht, involviert, betroffen macht, liegt in der Tatsache, dass die menschliche Weltwahrnehmung evolutionär darauf hin selektiert wurde, auch aus unvollständigen Umweltinformationen Handlungsfähigkeit zu generieren. Nicht nur ein Geschehen, das den Sinnen unmittelbar zugänglich ist, kann in dieser Weise wirken, sondern auch dessen – wie auch immer gestörte – direkte oder indirekte Wahrnehmung, wozu auch die mediale Vermittlung gehört. Die kognitive (Re)konstruktion auf Grund eingehender Stimuli der verursachenden Ereignisse beinhaltet zentral die Tätigkeit von nicht bewussten Bewertungsmechanismen. Diese beeinflussen die Intensität der Aufmerksamkeit, die diesem spezifischen Teil der Umwelt gewidmet wird, und haben zum anderen die weitergehende Aufgabe, eine der Situation angemessene Handlungsbereitschaft herzustellen. Medial präsentierte Zusammenhänge werden aus diesem Grund – auf der Ebene ihrer nichtbewussten Verarbeitung – funktional wie mögliche reale Geschehnisse behandelt. Dies bedeutet in der Konsequenz, dass das Fernsehen die Aufmerksamkeit seiner Rezipienten am besten an sich binden kann, wenn es Inhalte präsentiert, die als interessant oder wichtig klassifiziert würden, fänden sie im direkten Umfeld des Rezipienten statt. Im Kern speist sich damit der Erfolg des Fernsehens aus zwei sehr unterschiedlichen Quellen: zum einen aus einer zum großen Teil unbewussten kognitiven Kontinuität (für nichtmediale Umwelten selektierte Verarbeitungsmechanismen prozessieren mediale Repräsentationen) und zum anderen aus einer stimulatorischen Diskontinuität (der technischen (Re)-Produktion von ehemals nur mit realen Umweltereignissen einhergehenden audiovisuellen Stimuli). Besonders elegant und aussagekräftig wird dieser Zusammenhang von kognitiver Kontinuität und Stimulusverselbstständigung an der schon angeführten Untersuchung von James Anderson und Kollegen zum Gähnen bei Schimpansen deutlich.87 Die spezielle Aussagekraft dieser Studie liegt dabei darin, dass sie den Effekt von Medien an tierischen Probanden untersucht und somit die Ge87 Vgl. Anderson u.a.: „Contagious yawning in chimpanzees“.
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fahr möglicher sozialisations- oder kulturbedingter Störfaktoren minimiert. Mehrfach auf einem Bildschirm zu sehendes Gähnen anderer Schimpansen reicht aus, um beim jeweiligen Versuchstier mit signifikanter Häufigkeit gleiches Verhalten hervorzurufen. Ansteckendes Gähnen ist dabei ein, wenn auch relativ unspektakulärer, Teil des artspezifischen Sozialverhaltens. Die wichtige Einsicht mit Blick auf das Fernsehen hieraus ist, dass technisch erzeugte audiovisuelle Stimuli kognitive Mechanismen und Verhaltensweisen aktivieren können, die evolutionär für den Umgang mit einer gänzlich nichtmedialen Umwelt entstanden sind. Im Folgenden gehe ich anhand von drei medienwissenschaftlich seit langem bekannten Fragestellungen beziehungsweise Phänomenen auf den Beitrag einer evolutionären Medienanthropologie zur Auseinandersetzung mit dem Medium Fernsehen ein. Im Zusammenhang mit dem seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts beobachteten Phänomen des Mainstreamings88, also der Angleichung der Sichtweisen von Vertretern sozial unterschiedlichen Gruppen, wird dabei auf die Bedeutung medialer Umwelten für die individuelle Orientierung eingegangen. Das noch deutlich länger bekannte Auftreten von parasozialen Interaktionen und Beziehungen89 wird in der Folge aus einer evolutionären Perspektive analysiert. Sie liefert starke Anhaltspunkte dafür, dass stammesgeschichtlich alte kognitive Mechanismen der hochsozialen Lebensform Mensch für das Verständnis derartiger Vorgänge eine große Rolle spielen. Auch die Behandlung der generellen Frage, warum Menschen sich dem Medium Fernsehen zuwenden – auf die Theorien wie Uses and Gratifications und Mood Management zielen – lässt sich durch den Einbezug evolutionärer Gesichtspunkte in einem produktiven Sinne weiter entwickeln. In allen drei Fällen zeigt sich, dass ein besseres Verständnis des menschlichen Verhältnisses zum Medium Fernsehen, sei es aus der was-macht-das-Medium-mit-dem-Rezipienten- oder der was-macht-der-Rezipient-mit-dem-Medium-Perspektive, nur unter Berücksichtigung der anthropologischen Beschaffenheit eben dieses Rezipienten möglich ist.
88 Vgl. Gerbner u.a.: „The ‘Mainstreaming’ of America“. 89 Vgl. Horton/Wohl: „Mass communication and parasocial interaction“.
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Mainstreaming – Fernsehen als Umwelt „Die Fernsehwelt bestätigt sozusagen unmittelbare Umwelterfahrungen und trägt letztlich doch zu einer Verstärkung bereits vorhandener Dispositionen bei.“ (Michael Jäckel90)
Es waren George Gerbner und seine Kollegen von der Annenberg School of Communication, die in ihren Studien zur Gewalt im Fernsehen den Begriff Mainstreaming prägten.91 Sie bezeichneten damit den Effekt, dass ein Mehr an Fernsehkonsum zu einer zunehmenden Angleichung der Meinungen und Sichtweisen von Rezipienten führt und dies auch, wenn deren soziale Hintergründe differieren. Gerade in Bezug auf das empfundene Bedrohungspotential der realen Umwelt zeigte sich, dass die Gruppe der Vielseher, mit mehr als vier Stunden täglichem Konsum, deutlich homogener war als die Gruppe der Wenigseher: Je höher die Exposition gegenüber dem Medium Fernsehen, um so wahrscheinlicher wurde die Möglichkeit eingeschätzt selbst Opfer eines Verbrechens zu werden. Da diese Ergebnisse auf erworbenen Einstellungsänderungen durch medialen Einfluss beruhen, wird in diesem Zusammenhang vom Kultivierungseffekt gesprochen: Fernseheinwirkung führt dazu, dass sich Sichtweisen und Meinungen verändern. Die Veränderungen führen jedoch zu keiner Meinungsvielfalt im Sinne eines weltanschaulichen Pluralismus, sondern zu einer Angleichung auch über sonst trennende Sozialbarrieren hinweg. Es besteht dabei eine klare positive Korrelation zwischen durchschnittlicher Sehdauer und der zu erwartenden Angleichung eines Individuums an den entstehenden Mainstream. Das Fernsehen wird der Bezeichnung Massenmedium in diesem Fall in doppeltem Sinne gerecht, da es nicht nur eine zahlenmäßig große Masse von Rezipienten erreicht, sondern eine homogene oder zumindest vergleichsweise homogenisierte Masse überhaupt erst schafft. Funktional handelt es sich bei Mainstreaming und Kultivierung um das kollektive Resultat individueller Lernprozesse. Dabei handelt es sich jedoch nicht um Lernvorgänge deklarativer Art, in denen bewusst Wissen verinnerlicht wird, vielmehr kommt es durch den Einfluss des Mediums Fernsehen zu einer Modifikation des impliziten Umweltmodels der Rezipienten. Mit dem schleichenden Wandel der Umweltrepräsentation ändert sich die Wahrscheinlichkeit mit der bestimmte Geschehnisse im eigenen Umfeld erwartet werden.
90 Jäckel: Medienwirkungen, S. 210. 91 Vgl. Gerbner u.a.: „The ‘Mainstreaming’ of America“.
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Entscheidend hierbei ist, dass die beobachtbaren Effekte sich auf der Ebene des bewussten Umgangs mit Medien nicht vollständig erklären lassen. Ansonsten müsste davon ausgegangen werden, dass der hohe Medienkonsum zu einer zunehmenden Verwechslung von medialer und realer Sphäre führt, was in der Konsequenz einen Realitätsverlust nach sich zieht. Grund für den entstehenden Mainstream ist jedoch, dass das Umweltmodell, das Menschen als Basis ihres Entscheidens und Handels dient, kein gänzlich rational-bewusstes Konstrukt ist. Erfahrungen, seien sie medial oder nichtmedial, werden nicht nur in den für das Bewusstsein verantwortlichen kortikalen Regionen des Gehirns verarbeitet, sondern ebenso in den nichtbewussten aber das Bewusstsein beeinflussenden subkortikalen Regionen. Diese Verarbeitungsvorgänge resultieren dabei nicht nur in aktuellen Wahrnehmungen, Empfindungen und Handlungen, sondern wirken ihrerseits auf die Struktur und Prozessierung dieses reiz- und informationsverarbeitenden Systems. Eine besondere Rolle in der dynamischen Wechselwirkung zwischen dem, was verarbeitet wird und dem, wie es verarbeitet wird, kommt den Emotionen zu: Emotionen und insbesondere starke Emotionen während der Rezeptionsvorgänge wirken sich modifizierend auf den Umgang mit der Umwelt aus. Diese Modifikationen können sowohl die erwartete Wahrscheinlichkeit von Ereignissen als auch die Wahrscheinlichkeit von Verhaltensweisen beeinflussen. Für die Entwicklung einer medial verschobenen Einschätzung des Gefahrenpotentials der eigenen Umwelt ist folgende Kausalkette wahrscheinlich: Das Wahrnehmen medialer Gewalttaten führt in den subkortikalen Regionen des Gehirns zu Zuständen analog der realen Wahrnehmung solcher Taten. Als bewusste Auswirkungen solcher Rezeptionsereignisse stellen sich Gefühlzustände im Spektrum von Spannung, Interesse, Ekel, Angst und Betroffenheit ein. Das Wahrnehmen vieler medialer Gewalttaten erzeugt jedoch nicht nur derartige evolutionär ursprünglich auf effiziente Handlungssteuerung zielende Zustände, sondern aktiviert ein ums andere Mal die limbische Verarbeitung von Angst und Gefahr und deren Verbindungen und damit den Einfluss dieses subkortikalen Bereichs auf andere Hirnregionen. Mit diesem Lernvorgang passt sich das Gehirn an eine Umwelt an, in der potentiell bedrohliche Gewalttaten scheinbar keine Seltenheit sind, sondern gehäuft auftreten. Die funktionale Beschaffenheit dieser dynamischen Anpassung der Reiz- und Informationsverarbeitung an die Umwelt eines Menschen differenziert dabei nicht zwischen einer medialen und einer nichtmedialen Umwelt. Die emotionalen Reaktionen auf die reale Umwelt werden so, auch wenn es bewusst nicht intendiert ist, durch die medialen Anteile der Umwelt verändert. Auch wenn das Phänomen des Mainstreamings ursprünglich als eindrucksvoller Beleg für die Frage was-machen-die-Medien-mit-den-Menschen? Angesehen wurde, so legen diese Betrachtungen nahe, dass sehr wohl auch der
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Mensch etwas mit den Medien macht. Die feststellbare Wirkung eines intensiven Fernsehkonsums ist nur zu erklären vor dem Hintergrund eines Gehirns, das die in der bewussten Auseinandersetzung so offensichtliche Unterscheidung von Realität und Medienrealität nicht in allen Bereichen seiner kognitiven Auseinandersetzung mit der Lebenswelt durchhält. Was daraus resultiert ist keine bewusste Verwechslung, sondern ein Vorgang, der möglicherweise am besten als eine unbewusst vonstatten gehende Verfühlung umschrieben wird. Medien können – bei entsprechender Dosis – dafür sorgen, dass sich die gefühlten Umwelteigenschaften ändern: eine als real empfundene Veränderung der Wahrscheinlichkeit bestimmter Ereignisse im eigenen Umfeld, die jedoch kausal auf eine Verschiebung emotionaler Bewertungsmechanismen zurückgeht. Mainstreaming ist somit eine medieninduzierte Auswirkung der evolutionär alten Fähigkeit des Gehirns, sich den Ereignishäufigkeiten und Handlungserfordernissen unterschiedlicher Umweltgegebenheiten anzupassen. Diese anforderungsorientierte Plastizität ist dabei jedoch nicht zu beliebigen Modifikationen fähig, sondern in ihren Möglichkeiten limitiert und an die Beschaffenheit des ehemaligen Environment of Evolutionary Adaptedness angepasst. In dieser stammesgeschichtlich wichtigen Umwelt waren jegliche wahrgenommene Handlung und Interaktion potentiell wichtig für das eigene Verhalten. Die Häufigkeit unterschiedlicher Typen von Vorkommnissen ermöglichte die Verhaltensanpassung an die jeweiligen Erfordernisse. Eine strenge Differenzierung zwischen wahrgenommenen Handlungen, die in dieses Umweltmodell eingehen sollen und solchen, die zwar mit Aufmerksamkeit bedacht werden, aber letztlich für das Individuum irrelevant sind, war nicht notwendig und wurde deshalb im kognitiven System nicht angelegt. Die Studien von George Gerbner und Kollegen können als Beleg für diese These genommen werden. Gäbe es bei den emotionalen Bewertungen von rezipierten Handlungen die Möglichkeit diese separat für mediale und nichtmediale Stimuli zu verarbeiten, so wäre dies insbesondere bei Vielsehern zu erwarten. Die Fernsehdauer von vier oder mehr Stunden am Tag sollte in diesen Fällen dazu führen, dass sich eine kognitiv separate Verarbeitung der Medienstimuli herausbildet. In der Konsequenz dürfte die Menge des Fernsehkonsums keinen Einfluss auf die Einschätzung der eigenen Umwelt haben. Die Untersuchungsergebnisse belegen jedoch das genaue Gegenteil: Fernsehen wirkt sich auf die Weltsicht seiner Konsumenten umso mehr aus je mehr es Teil des Alltags ist. Es ist damit einer der Aspekte, die Edward H. Hagen meint, wenn er ausführt, dass „some aspects of the modern environment do diverge quite radically from their EEA“92. Mainstreaming ist somit ein Phä92 Hagen: „Controversial Issues in Evolutionary Psychology“, S. 154.
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nomen, das aus der mangelhaften Passung eines durch evolutionäre Selektion entstandenen psychologischen Mechanismus auf die gegenwärtige Umwelt des Menschen resultiert. Wenn Menschen ihre Umwelt bei viel Fernsehkonsum als gefährlicher empfinden, ist dies ein Beleg für die archaischen Wurzeln der kognitiven Mechanismen, mit denen sie das Medienzeitalter sowohl gestalten als auch nutzen.
Parasoziale Beziehungen – Soziale Sinnestäuschung „[...] that the human brain has difficulty distinguishing real friends and people they see on TV, because TV did not exist in the EEA, where every realistic image of someone you repeatedly and routinely saw was your real friend.“ (Satoshi Kanazawa93)
Fernsehinhalte wirken auf ihre Rezipienten im Sinne einer Umwelt, das zeigt sich auch am Phänomen der parasozialen Beziehungen. Donald Horton und Richard Wohl entwickelten in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts dieses Konzept um bestimmte Verhaltensweisen von Zuschauern zu erklären, die im Kontext einer unidirektionalen Kommunikation unerwartet und überraschend erschienen.94 So zeigte sich, dass eine Vielzahl von Rezipienten auf Äußerungen von Nachrichtensprechern oder Showmastern in einer Weise reagiert, die einer zwischenmenschlichen Interaktion angemessen wäre. Im heimischen Wohnzimmer beantwortete Fragen oder auch die freundlich erwiderte Grußformel des Moderators zeigten Charakteristika sozialer Kommunikation angesichts eines nichtsozialen Rezeptionsvorganges. Aus derartigen parasozialen Interaktionen können mit der Zeit parasoziale Beziehungen erwachsen, wie Peter Vorderer und Holger Schramm ausführen: „Wenn der Zuschauer über die mehr oder weniger regelmäßig stattfindenden parasozialen Interaktionen hinaus Gefühle etwa für einen Nachrichtensprecher oder besser noch für einen Seriendarsteller entwickelt, wenn er ihn erwartet oder sogar vermisst an Tagen, an denen dieser einmal ausfällt, wenn er ihm also wie ein guter alter Bekannter, fast schon wie ein Freund erscheint, dann spricht man von einer parasozialen Beziehung.95
93 Kanazawa: Bowling with Our Imaginary Friends, S. 171. 94 Vgl. Horton/Wohl: „Mass communication and parasocial interaction“. 95 Vorderer/Schramm: „Medienrezeption“, S. 126f.
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Parasozialität liegt somit immer dann vor, wenn Menschen gegenüber Medien und deren Inhalten Äußerungen, Handlungen und Haltungen an den Tag legen, die nur in sozialen Situationen sinnvoll scheinen. Ich möchte an dieser Stelle eine These vorstellen, die einen besseren theoretischen Nachvollzug des beobachteten Phänomens erlaubt und einen neuen methodischen Zugang zu dessen empirischer Untersuchung eröffnet: Der Grund für die Möglichkeit derartig fehlgeleiteter sozialer Bezogenheit liegt in meinen Augen zum einen in der evolutionär entstandenen psychologischen Unterscheidung zwischen den zwei ontologischen Klassen physischer Objekte und intentionaler Akteure96 und zum anderen in der Bereitschaft des kognitiven Systems, die Zuordnung zu diesen Kategorien auch auf Grund weniger sensorischer Daten vorzunehmen.97 Parasoziale Erscheinungen im Umgang mit Medien speisen sich fundamental aus dem medieninduzierten Wirken spezifischer, für die soziale Kognition evolvierter psychischer Mechanismen. Trotz ihrer erkennbar repräsentationalen Beschaffenheit werden Menschen und andere Handlungsträger in unterschiedlichsten Medienformaten als intentionale Akteure klassifiziert und evozieren in der Folge die prinzipiell gleichen emotionalen Reaktionen wie real präsente Sozialpartner. Diese emotionale Aktivierung und Involvierung durch mediale Repräsentationen ist der kausale Mechanismus hinter den beobachtbaren Verhaltensweisen, da Emotionen ihrer evolutionären Entstehung nach sowohl handlungsanbahnende als auch handlungsauslösende Mechanismen sind98. Natürlich sind sich Fernsehkonsumenten bewusst, dass sie ihre Aufmerksamkeit keinem realen Gegenüber schenken, sondern dass es sich dabei um eine temporäre Repräsentation auf der Oberfläche eines technischen Gerätes handelt. Diese bewusste Klassifizierung der wahrgenommenen Stimulusquelle setzt jedoch die angeführten kognitiven Mechanismen nicht außer Kraft. Grund hierfür ist, dass diese funktional nicht im für das Bewusstsein verantwortlichen assoziativen Kortex angesiedelt sondern subkortikal lokalisiert sind. Diese phylogenetisch alten Mechanismen zur Beurteilung von Umweltgegebenheiten – zu denen auch die Gegenwart und die Aktivitäten anderer Menschen gehören – sprechen auch auf mediale Akteure an. Dies hat zur Folge, dass Schauspieler, Moderatoren aber auch sonstige Personen, die im Fernsehen gezeigt werden, subkortikal durch für die reale Umwelt selektierte emotionale Reaktionen bewertet werden. Diese ständig stattfindenden Reaktionen ha-
96 Vgl. Boyer: Und Mensch schuf Gott, S. 121. 97 Vgl. Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, S. 266. 98 Vgl. Damasio: Der Spinoza-Effekt, S. 67.
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ben jedoch nur in Fällen, in denen sie vergleichsweise stark ausfallen, das Potential als Gefühl bewusst zu werden oder zu parasozialen Interaktionen zu führen, zum Beispiel dem Beschimpfen eines Fußballspielers oder der Anfeuerung einer Quizkandidatin. In jedem Fall tragen diese Bewertungen zum Verhalten eines Fernsehnutzers bei, denn sie haben Anteil an der Entscheidung für oder gegen das aktuelle Programm. Treten Akteure auf dem Bildschirm periodisch oder zumindest häufig wiederkehrend auf, arbeiten die gleichen Bewertungsmechanismen im Hintergrund, denn auf das Wiedererkennen sind das visuelle und das emotionale System ausgelegt. Die kognitive Charakteristik von parasozialen Interaktionen und Beziehungen ist, dass eine Wiedererkennung subkortikal als Wiedersehen bewertet wird. Genauso, wie sich Menschen im echten Leben beispielsweise als vertrauenswürdig erweisen und dieses Urteil bei jeder Interaktion präsent ist, genauso führt ein häufiges und möglicherweise eindrucksvolles mediales Erscheinen zur Herausbildung eines derartigen impliziten Urteils. Erst eine solche subkortikal angelegte Wert- oder Unwertschätzung ermöglicht die Entstehung parasozialer Beziehungen. In gleicher Weise wie einmalige, emotional intensive Auftritte von Personen auf dem Bildschirm das Potential haben, Aktionen seitens des Betrachters hervorzurufen, erzeugen langfristig etablierte Bewertungen eine motivationale Disposition, die in der Konsequenz zu den beobachtbaren Verhaltensweisen einer parasozialen Beziehung führen kann. Tendenziell reagieren Menschen emotional auf medial repräsentierte Menschen wie auf echte Menschen, weil die subkortikalen Bewertungsmechanismen keinen Unterschied zwischen diesen Ereigniskategorien machen. In beiden Fällen weist der sensorische Input Charakteristika auf, die durch nichtbewusste Verarbeitungsmechanismen automatisch mit der Präsenz und Aktivität anderer Menschen (intentionaler Akteure) in Verbindung gebracht werden, woraus eine Behandlung als sozial relevante Information resultiert. Diese Klassifikation bereitet damit den Boden für den Einfluss medialer Stimuli, die in realitätsanaloger Weise Einfluss auf die psychische Verfassung eines Individuums nehmen und so Dispositionen für unterschiedliche Handlungen schaffen beziehungsweise diese initiieren. Der erste Beleg, der als starker Hinweis für eine derartige Beschaffenheit der funktionalen Struktur hinter parasozialen Phänomenen spricht, ist das Capgras-Syndrom, eine seltene neurologische Ausfallerscheinung.99 Im Fall, auf den ich mich hier beziehe, schildert Vilayanur Ramachandran einen jungen Mann, der nach einem Autounfall und einer dabei erlittenen Kopfverletzung wieder gänzlich normal wirkte – bis auf eine sehr sonderbare Verhaltensweise: Wann immer die Mutter dieses Mannes den Raum betrat behauptete er, es 99 Vgl. Ramachandran: Eine kurze Reise durch Geist und Gehirn, S. 20ff.
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würde sich, auch wenn diese Person so aussähe, nicht um seine Mutter handeln, sondern um eine Hochstaplerin. Rief ihn seine Mutter hingegen an, freute er sich und es entspann sich ein angeregtes Gespräch. Wie die Untersuchungen zeigten, lag der Grund für dieses äußerst befremdliche Verhalten in einer durch den Unfall bedingten Zerstörung der Nervenbahnen, die visuelle Informationen zur Amygdala leiten. Die Amygdala, „die manchmal auch als Tor zum limbischen System bezeichnet wird“100, ist eine zentrale Struktur für die Beurteilung von Umweltinformationen. Im Normalfall ist sie es, die – gerade bei Menschen die einem so lange und intensiv bekannt sind wie die eigene Mutter – das spezifische Gefühl erzeugt, das mit dem Erscheinen eines solchen Menschen einhergeht. Aufgrund der Beschädigung der entsprechenden Nervenbahnen gelangten bei dem jungen Mann die visuellen Informationen nicht zu diesem Tor des limbischen Systems und konnten aus diesem Grund auch keine emotionale Wirkung entfalten. Die hieran anschließende, unbewusste mentale Interpretation des so vom Schicksal Geschlagenen rekonstruiert Ramachandran wie folgt: „Sie sieht zwar genauso aus wie meine Mutter, aber wenn sie es ist, warum empfinde ich dann nichts für sie? Nein, das kann unmöglich meine Mutter sein; das ist eine Fremde, die so tut, als wäre sie meine Mutter.“101 Dieser Fall belegt sehr deutlich, welch eminente Bedeutung subkortikale Mechanismen für den sozialen Umgang von Menschen haben. Hier werden gewissermaßen die Blaupausen gelagert, die für einen angemessen differenzierten Umgang mit unterschiedlichen Individuen sorgen. Ohne diesen unbewussten Mechanismus verliert die Wahrnehmung der Mitmenschen ihren zentralen Gehalt. Jede Wiederbegegnung ist somit more than meets the eye und beruht auf einem neuronalen Integral bisheriger Kommunikationen und Interaktionen. In gleicher Weise – so meine Sicht – verhält es sich mit parasozialen Beziehungen. Der Idealfall, um diese Hypothese zu überprüfen, bestände dem gemäß in einem Capgras-Patienten, der vor dem Auftreten dieses Ausfalls eine intensive parasoziale Beziehung zu einem Fernsehakteur (X) unterhielte. Erschiene nun X auf dem Bildschirm, so müsste die Reaktion in der Behauptung bestehen, dass es sich trotz gleichen Aussehens um einen Hochstapler handelt, der an die Stelle von X getreten ist. Es ist fraglich, ob eine derartige Untersuchung je möglich ist. Es gibt jedoch einen weiteren empirischen Zugang, der einen Blick auf das medienrelevante Wirken des limbischen Systems eröffnet: Dabei handelt es sich um die schon seit mehr als einem halben Jahrhundert bekannte Messung der Hautleit-
100 Ramachandran: Eine kurze Reise durch Geist und Gehirn, S. 21. 101 Ramachandran: Eine kurze Reise durch Geist und Gehirn, S. 21.
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fähigkeit. Der Zusammenhang zwischen den so zu ermittelnden Werten und dem emotionalen Zustand ist vergleichsweise einfach. Sobald etwas wichtig ist, sei es gut oder schlecht, sinkt der elektrische Widerstand der Haut, weil durch die Poren Schweiß abgesondert wird. Bei unwichtigen und somit emotional neutralen Ereignissen bleibt diese Reaktion aus. Grund für diesen Zusammenhang zwischen Umweltwahrnehmung und Hautleitfähigkeit ist die evolutionäre Entwicklung eines psychophysiologischen Automatismus, der bei bedeutungsvollen Ereignissen das autonome Nervensystem des Körpers aktiviert, um potentiell notwendige Handlungen vorzubereiten. Diese Erhöhung der Grunderregung eines Menschen bedingt eine erhöhte Schweißabsonderung und kann durch Hautleitfähigkeitsmessung direkt ermittelt werden. Eine Möglichkeit dieses Verfahren zur Untersuchung von Medienwirkungen einzusetzen bieten Versuche an Patienten mit Stirnhirnschäden, die – ähnlich dem Capgras-Syndrom – die Fähigkeit zur emotionalen Bewertung ihrer Umwelt verloren haben. Die kognitiven Einschränkungen einer solchen Schädigung können sehr spezifisch sein, so dass darüber hinausgehend die allgemeine intellektuelle Leistungsfähigkeit nicht in Mitleidenschaft gezogen wird. In der Folge verlieren für die Geschädigten nicht nur reale Stimuli, sondern auch Medienreize jene Erlebnisqualitäten, die über einen rein rationalen Nachvollzug hinausgehen. Antonio Damasio hat dies mit einem Experiment belegt, in dem Probanden eine Reihe von Dias gezeigt wurden, von denen einige im höchsten Maße aufwühlende Szenen wie Morde oder Unfälle zeigten. Die Ergebnisse waren eindeutig. Versuchspersonen ohne Stirnhirnschädigung – normale Personen wie Patienten mit Hirnschädigungen, die nicht die Stirnlappen betrafen – zeigten intensive Hautleitfähigkeitsreaktionen bei der Darbietung beunruhigender Bilder, nicht aber bei den harmlosen. Dagegen traten bei stirnhirngeschädigten Patienten überhaupt keine solchen Reaktionen auf. Ihre Aufzeichnungskurven waren völlig flach.102 Eine an der Schweißabsonderung erkennbare unbewusste Ausrichtung des Organismus an den Gehalten der sensorischen Inputs fehlte in diesen Fällen vollständig. Weil es sich bei den Probanden um rational leistungsfähige und zur Selbstreflexion fähige Individuen handelte, erhielt Antonio Damasio zusätzlich auch Auskunft über die subjektive Dimension des Rezeptionsvorgangs. In einer der ersten Besprechungen erklärte uns einer der Patienten spontan und mit großer Einsicht, dass noch mehr fehle als nur die
102 Damasio: Descartes Irrtum, S. 282.
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Hautleitfähigkeitsreaktion. Er berichtete, dass er, nachdem er all die Bilder gesehen habe und er sich über ihren beunruhigenden Inhalt klar geworden sei, selbst nicht beunruhigt gewesen sei.103 Die stärkste Aussagekraft hätte es, wenn man auf mindestens einen Fall verweisen könnte, in dem ehemals eine oder mehrere parasoziale Beziehungen bestanden und rezeptionsbegleitend der Hautwiderstand sowohl vor als auch nach Auftreten dieser besonderen Stirnhirnschädigung gemessen worden wären. Es stände zu erwarten, dass die parasozialen Beziehungen dem allgemeinen Verlust der emotionalen Reaktionen zum Opfer fallen würden – der Betroffene würde zwar den fraglichen Medienakteur wieder erkennen, diese Wahrnehmung jedoch gänzlich neutral erleben, eine Änderung des Hautwiderstandes wäre nicht festzustellen. In der Konsequenz würde dies bedeuten, dass der neuronale Defekt gleichermaßen jene emotionalen Strukturen und Abläufe beeinträchtigt, die für normale soziale Kontakte aber auch für parasoziale Phänomene verantwortlich sind. Ein derartig enger Zusammenhang von realen zwischenmenschlichen Beziehungen und parasozialen Erscheinungen spräche dafür, dass hinter beiden Phänomenen der gleiche Mechanismus wirkt. Durch das Hinzuziehen anderer Untersuchungen lässt sich diese Vermutung in hohem Maße plausibilisieren. Siegfried Frey hat in den neunziger Jahren im Rahmen einer aufwändigen Untersuchung zur medialen Rezeption von Politikern gezeigt, dass Menschen in hochdifferenzierter Weise auf die mediale Präsentation anderer Menschen reagieren.104 Zum einen reicht schon ein lediglich zehn Sekunden langer Clip, um die Betrachter in die Lage zu versetzen, den gesehenen Akteur anhand eines 15 Positionen umfassenden Fragebogens charakterlich zu bewerten. Messungen des Hautwiderstandes während der Clipdarbietung zeigten, dass die Reaktionen alles andere als stereotyp waren und keine generalisierende Antwort auf die mediale Präsentation eines Menschen boten. Es zeigte sich vielmehr ein Spektrum, dessen Extreme durch keine beziehungsweise durch sehr starke Reaktionen markiert wurden. Die zu beobachtenden Unterschiede wurden dabei durch das Stimulusmaterial – also die medial präsentierten Personen – ausgelöst. Dabei gab es Charaktere, die überwiegend starke bis sehr starke Reaktionen hervorriefen und solche, die gleichfalls für zehn Sekunden präsentiert wurden und trotzdem beim autonomen Nervensystem so gut wie keine Reaktionen hervorriefen. Alle Clips präsentierten gleichermaßen kurze Filmstücke ohne Ton, die Politiker beim Sprechen zeigten. Die kurzen Stimulusfrequenzen in Freys Untersuchung richten den Blick auf die kleinsten Bestandteile jeglicher parasozialer Phänomene, die 103 Damasio: Descartes Irrtum, S. 283f. 104 Vgl. Frey: Die Macht des Bildes, S. 123ff.
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einzelnen parasozialen Interaktionen. Die beobachteten physiologischen Reaktionen zeigen dabei, dass durch das Fernsehen vermittelte Rezeptionsereignisse gerade von den nichtbewussten kognitiven Mechanismen des Menschen prinzipiell in gleicher Weise prozessiert werden wie reale Kontakte. Parasoziale Beziehungen lassen sich vor dem Hintergrund diese Befunde als soziale Sinnestäuschungen beschreiben. Dabei darf das Wort Täuschung in diesem Zusammenhang nicht mit Lüge, Betrug oder Irrtum verwechselt werden. Diese liegen vor, wenn Individuen aus verschiedensten Gründen falsche Annahmen über die Beschaffenheit bestehender sozialer Zusammenhänge hegen. Dass es sich bei parasozialen Beziehungen um soziale Sinnestäuschungen handelt, bedeutet vielmehr, dass ein medialer Stimulus auf die emotionale Verfassung und die Verhaltensdispositionen eines rezipierenden Individuums so einwirkt, als ob eine reale Interaktionssituationen gegeben ist. Analog zu anderen sensorischen Täuschungen generieren auch hier automatische Verarbeitungsmechanismen einen subjektiv erlebbaren Output, der von den faktischen Gegebenheiten der Umwelt erheblich abweicht.
Die Qual der Wahl mit dem Kanal: Gratifications, Moods und Evolution „Die Idee, den Leuten einen Spielfim anzubieten und sie kurz vor Ende dann selber entscheiden zu lassen, wie es denn ausgehen soll, hat wohl keine Zukunft mehr. Das ist ungefähr so, als würden sie einem Kind ein unglaublich spannendes Märchen erzählen und kurz bevor der Höhepunkt kommt fragen: ‚Und wie hättest Du gerne, dass es ausgeht?‘. Unterhaltung ist daher in erster Linie ein passiver Vorgang.“ (Jo Groebel105)
Das Fernsehen bedient individuelle und kollektive stimulatorische Vorlieben und ist auf Grund der daraus resultierenden Konsumentscheidungen zum dominierenden Freizeitmedium weltweit aufgestiegen. Theoretisch ist diese Entwicklung zum einen mit einer Betonung der bewussten Auswahlprozesse im Uses-and-Gratifications-Ansatz modelliert worden106 und zum anderen, wobei unbewusste Auswahlprozesse in den Vordergrund treten, in der Theorie des Mood Management107. Eine evolutionär medienanthropologische Sicht der 105 Groebel: „Medienzukunft aus nationaler und internationaler Perspektive“, S. 16. 106 Vgl. Rubin: „Die Uses-And-Gratifications-Perspektive der Medienwirkung“. 107 Vgl. Zillmann/Bryant: „Affect, Mood, and Emotion as Determinants of Selective Exposure“.
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TV-Nutzung knüpft an die Erklärungsleistungen dieser Theorien an und erweitert diese. Wie das Mood-Management den Grundgedanken des Uses-andGratifikations-Ansatzes um die Dimension der nicht bewusst reflektierten Entscheidungskomponenten erweitert, so ergänzt eine evolutionär medienanthropologische Betrachtungsweise die Analyse der Mediennutzung um ein Konzept der kausal beteiligten kognitiven Strukturen und deren stimulatorisch-informationelle Ausrichtungen. Es handelt sich damit nicht um eine Alternative zu diesen bereits seit langem wissenschaftlich etablierten Erklärungsmodellen, sondern vielmehr um eine Erweiterung der vorhandenen Ansätze. Die evolutionäre Medienanthropologie ermöglicht sowohl eine umfassendere theoretische Modellierung als auch eine Ausweitung des empirischen Zugriffs auf das fragliche Phänomen. Die zentrale Frage mit Blick auf das Medium Fernsehen lautet: Wie ist der Entscheidungsvorgang beschaffen, der zur kurz- oder auch langfristigen Wahl zwischen verschiedenen Programmen führt? Während diese Entscheidungen ständig in fast allen Teilen der Welt getroffen werden und somit eher unspektakulär zum Alltag der Menschen gehören, sind die kognitiven Mechanismen hinter diesem Verhalten nur ungenügend begriffen. Offensichtlichstes Zeichen für mangelnden Nachvollzug ist, dass die Einführung neuer Sendungen und Formate meist einem Glücksspiel ähnelt: Mitunter versagen aufwendig in Szene gesetzte Formate in der Publikumsgunst, während deutlich bescheidenere Produktionen die in sie gesetzten Erwartungen bei weitem übertreffen. So ist es auch nicht überraschend, dass Mitte des vergangenen Jahrhunderts mit dem Uses-and-Gratifikation-Ansatz ein Entwurf entstand, der eine Klärung dieser scheinbar so trivialen aber für die Medienmacher zentralen Konsumentenentscheidung anstrebte.108 In diesem Modell wählt der Konsument als rationaler Akteur eine bestimmte Option aus dem bestehenden Angebot, weil er sich von dieser einen bestimmten Nutzen verspricht. Die Motivation für spezifische Programm-Entscheidungen resultiert dabei aus der Antizipation des erwarteten Nutzens. Bei dieser Modellierung der Vorgänge, die hinter individuellen Mediennutzungs-Entscheidungen stehen, handelt es sich um eine Adaptation des in der Ökonomie klassischen Entscheidungsmodells. Angesichts der vorliegenden Situation – in diesem Fall des zu wählenden Medienangebots – reflektiert der potentielle Konsument das Angebot und die sich daraus für ihn ergebenden Optionen und Konsequenzen, die jede der Wahlmöglichkeiten mit sich bringt. Aus diesem bewussten Abwägen von Gegebenheiten, Handlungsmöglichkeiten und zu erwartenden Folgen erwächst in intersubjektiv nachvollziehbarer 108 Vgl. Blumler/Katz: „The Uses of Mass Communications“.
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Weise die persönliche Entscheidung. Die medienbezogene Auswahlsituation, also die Qual der Wahl vor der ein Individuum mit bestimmten Präferenzen und rezeptiven Reaktionsmustern steht, soll so, mittels der Erfassung eben dieser Vorlieben und potentiell resultierender Wirkungen, transparent werden. Dolf Zillmanns Mood Management Theorie übernimmt diese grundlegende Rekonstruktion des aufzuklärenden Vorgangs109, verändert aber die kausale Struktur auf der Ebene des entscheidenden Individuums: Im Gegensatz zur Annahme einer introspektiven Zugänglichkeit der entscheidungsbestimmenden Beweggründe geht er davon aus, dass das beobachtbare Verhalten aus nichtbewussten Prozessen hervorgeht, deren Einfluss nichtpropositionaler Natur ist. Individuals are apparently sensitive to the effects of a variety of properties of available messages, and they apparently employ this sensitivity to select exposure to messages that are more capable than others of achieving desirable ends. Generally speaking, these ends are excitatory homeostasis, the maximization of positive affect, and the minimization of aversion.110 Damit verändert sich das Bild des Mediennutzers in einschneidender Weise. Die wichtigste Erkenntnis dieser veränderten Sichtweise ist, dass auch aufwendigste Rezipientenbefragungen ungeeignet sind, die real wirkenden Einflussgrößen bei Entscheidungen zur Mediennutzung präzise zu erfassen. Was Zillmann in seiner Theorie mit Moods bezeichnet – und was sich am besten mit Stimmungen übersetzen lässt – sind komplexe menschliche Befindlichkeiten, die auf die Handlungsweise von Individuen Einfluss nehmen. Er geht davon aus, dass Menschen je nach Charakter und Lebensumständen unterschiedliche Medienstimuli wählen, um durch sie den eigenen Erregungsund Stimmungszustand in Richtung eines intuitiv angestrebten Sollzustandes zu beeinflussen. Untersuchungen belegen, dass Menschen aus einem eintönigen Umfeld bevorzugt stimulierende Medienprodukte nutzen. Im Gegensatz dazu greifen Rezipienten, die Stress und einem reizintensiven Umfeld ausgesetzt sind, bevorzugt zu Angeboten, die entspannend und beruhigend auf die psycho-physische Gesamtverfassung einwirken.111
109 Vgl. Zillmann: „Mood Management Through Communication Choices“. 110 Zillmann/Bryant: „Affect, Mood, and Emotion as Determinants of Selective Exposure“, S. 186. 111 Zillmann/Bryant: „Affect, Mood, and Emotion as Determinants of Selective Exposure“, S. 161ff.
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Der Beitrag der evolutionär mediananthropologischen Perspektive zu diesen Erkenntnissen ist ein besseres Verständnis der kognitiven Mechanismen, die hinter diesem Nutzerverhalten stehen. Die Notwendigkeit für eine solche Expansion der vorhandenen theoretischen Modelle ergibt sich aus der Einsicht, dass das Agieren von Nutzern das Ergebnis eines multifaktoriellen Prozesses ist, in den Wirkkomponenten eingehen, die traditionell sowohl der Kultur als auch der Natur zugerechnet werden – eine lang gepflegte Dichotomie, die aber – wie an anderer Stelle ausgeführt – zum einen faktisch falsch ist und zum anderen die analytischen Auseinandersetzungen mit der menschlichen Lebenswelt in wissenschaftliche Sackgassen führt. In der Konsequenz bedeutet dieser duale Einfluss, dem jedes Individuum unterliegt, dass nicht alle Vorlieben und Abneigungen bei der Nutzung von Medien und deren Inhalten während der Kindheit oder im Laufe des Lebens erlernt wurden. Der evolutionäre Ansatz fügt dem Wissen um kulturelle Phänomene wie dem Medienkonsum einen bisher vernachlässigten aber für ein umfassendes Verständnis wichtigen Aspekt hinzu. Im Abschnitt über Handlung aus der Perspektive einer evolutionären Medienanthropologie habe ich bereits die Grundlagen inhaltlicher Präferenzen des Menschen erläutert. Es wurde dargestellt, dass Veränderung, Kausalität, intentionale Akteure, soziale Settings und die Vermittlung von Emotionen entscheidende Kriterien dafür sind, dass ein Inhalt zum einen überhaupt als Handlung angesehen wird und zum anderen mehr als nur momentane Aufmerksamkeit hervorruft. Auf dieser Basis und im Anschluss an die Kernaussage des Mood Managements, dass Menschen Medien nutzen um ihr subjektives Empfinden zu beeinflussen, wird deutlich, dass stammesgeschichtlich alte psychologische Anpassungen eine erhebliche Rolle bei der Formung der Medienlandschaft spielen: Evolutionär bedingtes Mood-Management erklärt sowohl Inhalte als auch Strukturen der Medien. Besonders anschaulich werden derartige evolutionär entstandene Präferenzen beim Blick auf die tendenziell unterschiedlichen Programmvorlieben von Männern und Frauen. Das Sportangebot des Fernsehens hat mehr männliche als weibliche Zuschauer.112 Seifenopern erreichen hingegen mehr Rezipientinnen als Rezipienten, so dass sie mitunter als „‚gynocentric‘ genre“113 gesehen werden. Der Grund dieser unterschiedlichen Publikums-Zusammensetzungen dürfte auch in den differierenden stimulatorischen und informationellen Vorlieben der Geschlechter liegen. Auch wenn sowohl Sportübertragungen als auch Talkshows geschichtlich sehr junge Phänomene sind, knüpfen diese Pro112 Vgl. Rühle: „Sportprofile im deutschen Fernsehen“; Rühle: „Sportprofile im deutschen Fernsehen 2002“. 113 O´Conner/Boyle: „Dallas with balls“, S. 107.
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grammtypen an evolutionär alten Interessenspräferenzen an. Das Verhalten von Frauen, so führt Anne Campbell in ihrem Werk zur evolutionären Psychologie der Frau aus, ist „marked by a relative indifference to public status and an active aversion to flaunting dominance over others.“114 Genau diesen Status setzen aber Sportveranstaltungen in Szene. Gezeigt werden Wettkämpfe, deren Teilnehmer besser sein wollen als die Konkurrenz, während es erklärtes Ziel der Zuschauer ist, zu erfahren wer den Sieg und die Platzierungen davon trägt. Der Typus der präsentierten sozialen Relationen entspricht tendenziell einer männlichen Informationspräferenz, die in Kategorien des besser als und schlechter als differenziert. Beim Interesse eines Individuums an sozialen Informationen unterscheidet Anne Campbell zwischen den Dimensionen „agency“ (Tätigkeit, Wirkung) und „communion“ (Gemeinschaft) und führt aus, dass der Unterschied zwischen den Geschlechtern primär in deren tendenziell unterschiedlicher Gewichtung liegt: Agency is about dominance over others and this dimension characterizes men’s relationships more than women’s. Communion […] is about bonding and interdependence with others and this interpersonal orientation characterizes women more than men.115 Die abweichenden Interessenspräferenzen von Männern und Frauen resultieren also nicht nur aus einem gesellschaftlich geprägten Rollenverständnis, sondern auch aus evolutionär selektierten, geschlechtsspezifischen psychologischen Mechanismen beim Umgang mit sozialen Situationen. In den bereits erwähnten Talkshows wird im Gegensatz zur Sportberichterstattung jene Art von Informationen medial dargeboten, an denen Frauen tendenziell mehr interessiert sind als Männer: Wie kommen die Beteiligten miteinander zurecht? Wer geht wie mit einem Konflikt um? Wer unterhält welche Beziehungen zu wem? Zu Deutsch: Wer mit wem ist wichtiger als wer ist der Beste! An dieser Stelle möchte ich mit Nachdruck anmerken, dass diese Betrachtungen keine Wertung darüber enthalten, wie kulturell wertvoll das eine oder andere Fernsehgenre ist. Aus der Sicht der klassischen Homo-oeconomicusPerspektive erweisen sich beide in den meisten Fällen als ineffektiver Zeitvertreib, weil sie Zeit in Anspruch nehmen ohne einen handlungsrelevanten Nutzwert zu haben. Informationsökonomisch gibt es deshalb keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen diesen Programmangeboten! Die medialen Interessensstrukturen der Geschlechter, die bei Sport und Soap-Operas zutage treten, speisen sich aus unterschiedlich selektierten stra114 Campbell: A Mind of Her Own, S. 136. 115 Campbell: A Mind of Her Own, S. 136.
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tegischen Umgehensweisen mit den Problemen einer sozialen Lebensweise. Untrennbar verbunden mit diesem unterschiedlichem Verhalten sind unterschiedliche stimulatorische, beziehungsweise informationelle Vorlieben. Wer das leistungsfähigste Mitglied einer Gruppe sein will, braucht keine Auskünfte über deren Beziehungsnetzwerk. Wer hingegen wissen will, welches Maß an sozialer Unterstützung ein Individuum erwarten kann, dem ist mit Informationen im Sinne einer Leistungsskala nicht geholfen. Bezeichnet man die von Anne Campbell zur Unterscheidung der verhaltenspsychologischen Geschlechtsspezifika gewählten Begriffe agency und communion als hierarchie- und netzwerkorientiert, so wird deutlich, dass ein starker Zusammenhang zwischen der jeweils präferierten Verhaltensweise in der Gruppe und der Beschaffenheit der potentiell für das Individuum wichtigen Information besteht. Es steht zu erwarten, dass diese geschlechtsspezifisch unterschiedlichen informationellen Präferenzen, die mit der bisherigen Charakterisierung nur in sehr grober Weise umrissen sind, auch im Umgang mit vielen anderen Medien Wirkung zeigen. Für die künftige Entwicklung der evolutionären Medienanthropologie öffnet sich hier ein weites Feld möglicher Untersuchungen. So scheint es höchst plausibel zu sein, dass die unterschiedliche Zusammensetzung der Publika von Action- und Liebesfilmen sich aus genau der gleichen informationellen Unterscheidung speist, wie die beobachtete differentielle Fernsehnutzung von Sport und Seifenopern. Das Modell des Mood Management gewinnt unter Einbezug evolutionärer Überlegungen an kausaler Tiefe. Sprachen Dolf Zillmann und Jennings Bryant anfangs ihrer Überlegungen in den 80er Jahren im Zusammenhang mit den Moods noch von einer „excitatory homeostasis“116, so wird auf Grund der Erkenntnisse der vergangenen zwei Jahrzehnte deutlich, dass die individuelle Suche nach diesem Zustand und seiner Beschaffenheit eindeutig von stammesgeschichtlich alten informationellen Präferenzen beeinflusst wird. Fernsehen bietet in aktueller, kulturell modifizierter und konsumentenorientierter Aufbereitung bevorzugt jene Formen von Stimuli und menschlichen Interaktionen dar, die in der Umwelt der menschlichen Prähistorie wichtig waren. Die individualpsychologischen Zielvorgaben, die den jeweils angestrebten Zustand charakterisieren, sind somit tendenziell nicht beliebig, sondern spiegeln überindividuelle Vorlieben für Umweltreize wieder. Das jeweilige individuelle Verhalten speist sich damit aus drei Faktoren: den stammesgeschichtlich selektierten psychologischen Mechanismen, der Gesamtheit der sozialisationsbedingten Lernvorgänge und den situativen Gegebenheiten samt deren psychologischer Auswirkungen im zeitlich direkten Vorfeld der Rezeption. Der Beitrag der 116 Zillmann/Bryant: „Affect, Mood, and Emotion as Determinants of Selective Exposure“, S. 186.
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evolutionären Medienanthropologie zum besseren Verständnis von Entscheidungen bei der Mediennutzung liegt in der Zukunft darin, die Bedeutung und die Beschaffenheit des ersten dieser drei Faktoren zu präzisieren und aufzuzeigen, in welcher Weise die phylogenetischen und ontogenetischen Faktoren zur Erzeugung des real beobachtbaren Verhaltens interagieren.
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Teil 6: Mediengesellschaften – Kulturelle Vielfalt, technische Innovationen und alte Präferenzen „Requiem for the age of Boredom“ (Edward Castronova1)
In den vorausgehenden Teilen dieser Arbeit habe ich dargelegt, dass der Umgang mit Medien kein bloßes Ergebnis kultureller Lernvorgänge ist, sondern umfassend nur verstanden werden kann, wenn Wahrnehmen, Kognition und Handeln als biologisch evolvierte Funktionen begriffen werden (vgl. Teil 2-5). Aus diesem evolutionär medienanthropologischen Ansatz folgen in der Konsequenz nicht nur neue Antworten sondern unvermeidlich auch neue Fragen. Praktisch lassen sich diese in zwei Kategorien unterteilen: eine, die auf eine Präzisierung, transdisziplinäre Ausweitung und konstruktive Kritik der Theorie- und Faktenbasis einer evolutionären Medienanthropologie zielt, und eine andere, die nach der anthropologischen und damit allgemeinen Bedeutung dieses Ansatzes fragt. In die erste Kategorie fallen unter der Kapitelüberschrift Transdisziplinäre Medienforschung die Fragen: Wie kann dieser Ansatz getestet werden, wie lässt sich das konkrete Zusammenspiel von biologischen und kulturellen Faktoren untersuchen und modellieren, und wie kann die Kooperation von Geistes- und Naturwissenschaften auf dieser Basis gestaltet werden? Unter dem Titel Anthropologie des medialen Menschen wird daran anschließend den Problemen der zweiten Kategorie nachgegangen, die zu zwei grundsätzlichen Fragen kondensieren: Zum einem, welche über die Medien hinausgehenden Konsequenzen ergeben sich aus den Einsichten meines Ansatzes für das Selbstbild des modernen Menschen, zum anderen, was folgt aus dieser erweiterten Beschreibung des Akteurs Mensch für das Verständnis der modernen Medien- und Informationsgesellschaft? Anspielend auf einen Buchtitel von Marshall McLuhan2 versucht das abschließende Kapitel Understanding media means/needs understanding man ein Resümee der in dieser Arbeit entwickelten Sichtweise der Mensch-Medien-Beziehung.
1
Castronova: Synthetic Worlds, S. 272.
2
McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media.
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Transdisziplinäre Medienforschung „Die gegenwärtige „Themen-fokussierte“ Forschung kann auch gar nicht mehr in den alten Disziplingrenzen verharren – sie erfordert transdisziplinäres Denken.“ (Achim Stephan/Henrik Walter3)
Eine wissenschaftlich disziplinenübergreifende Auseinandersetzung mit Wahrnehmung, Wirkung und Nutzung von Medien liegt im Interesse medial verfasster Gesellschaften. Die für das Selbstverständnis moderner Gesellschaften unausweichlichen Fragen, was Medien mit Menschen machen und was Menschen mit Medien machen, werden bisher meist selektiv von einzelnen Disziplinen und deren spezifischer Expertise beantwortet.4 Die gegenwärtige und zukünftige Herausforderung des wissenschaftlichen Umgangs mit Medien besteht jedoch darin, diese separaten analytischen Kompetenzen in Sachen Medien in einer fruchtbaren Kooperation zusammen zu führen. Neu und wissenschaftlich viel versprechend an transdisziplinären Medienbetrachtungen ist, dass sich kulturwissenschaftliche Analysen und kognitive, neuronale und evolutionäre Einsichten gegenseitig mehr als metaphorisch befruchten können. Die prinzipielle Interessenskonvergenz der Medien- und Kognitionswissenschaften an der Frage: wie geht ein Organismus mit Stimuli um?, kann weitreichende synergetische Kooperationen initiieren. Konvergierende Fragestellungen und sich ergänzende Methoden ermöglichen so einzelwissenschaftlich nicht erreichbare Erkenntnisgewinne. Ansatzpunkte hierfür sind Fragen, die den bewussten Umgang mit und das bewusste Erleben von Medien, individuell und kulturell, mit den daran beteiligten kognitiven Mechanismen verbinden. Das Überlappen des Top-DownAnsatzes der Medien- und Kulturwissenschaften mit dem Bottom-Up-Approach der Kognitionswissenschaften ermöglicht weit umfassendere Fragestellungen als bisher wissenschaftlich verfolgbar. Die Fülle untersuchbarer Konstellationen, die individuelle, kulturelle, kognitive und evolutionäre Aspekte verbinden, verbietet eine konkrete Auflistung von Einzelfragen. Sinnvoller ist zunächst ein Erfassen der Phänomenkomponenten von Mensch-Medien-Interaktionen im Allgemeinen. Dabei handelt es sich um keine Systematik, sondern um eine Heuristik, die den praktischen Umgang mit diesem weit gespannten Feld erleichtern soll. Fachübergreifende Untersuchungen können auf diese Weise 3
Stephan/Walter: Natur und Theorie der Emotion, S. 13.
4
Vgl. Bolz: Am Ende der Gutenberggalaxis; Kurzweil: Homo s@piens; Mangold u.a.: Lehrbuch der Medienpsychologie; Negroponte: Total digital; Pfeiffer: Das Mediale und das Imaginäre; Turkle: Leben im Netz.
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danach klassifiziert werden, welche Phänomenkomponenten des Mediengeschehens sie miteinander in Beziehung bringen. Für eine pragmatische Unterteilung von Mensch-Medien-Interaktionen und damit als konzeptioneller Baukasten für transdisziplinäre Fragen bieten sich folgende Komponenten an: 1.
Physikalische Beschaffenheit eines Reizes
2.
Kulturell/semantische Beschaffenheit eines Reizes
3.
Subjektives Erleben und subjektive Bedeutung des Reizes
4.
Individueller Hintergrund des Rezipienten
5.
Kultureller Hintergrund des Rezipienten
6.
Physiologische Reaktionen des Rezipienten
7.
Neurobiologische Reaktionen des Rezipienten
8.
Evolutionär entstandene kognitive Mechanismen der Rezipienten
Das Erbe der „zwei Kulturen“5 wird in dieser Aufzählung deutlich. Die Punkte 1 und 6 bis 8 gehören traditionell in den Bereich der Naturwissenschaften, während die Fragestellungen der Punkte 2 bis 5 den Geisteswissenschaften entstammen. Untersuchungen, die beanspruchen medienrelevante Fragestellungen transdisziplinär zu behandeln, müssen diese Lager verbinden. Wichtig ist, dass es dabei nicht um einen bloßen Import fachfremder Terminologie geht, sondern um eine inhaltliche Zusammenführung unterschiedlicher Erklärungsmuster. Dieser Baukasten einer transdisziplinären Medienwissenschaft kann für unterschiedliche Forschungsanliegen genutzt werden. Potentiell gesellschaftlich relevant sind dabei Aussagen über Mechanismen auf drei unterschiedlichen Ebenen: 1.
Für den einzelnen Menschen: Mit welchen kognitiven Mechanismen sind Menschen ausgestattet und in welchem Umfang können diese durch die Umwelt geformt werden?
2.
Für die Kultur einer Gesellschaft: Welche Dynamiken weisen kollektive Kulturphänomene, wie Sprache, Kunst, Wissenschaft und Medien auf und wie lassen sich diese im Allgemeinen aber auch kleineren Stichproben und Einzelbetrachtungen als Ergebnisse einer Mischung von kulturellen und biologisch-kognitiven Kausalkräften verstehen.
5
Vgl. Snow: „Die zwei Kulturen“.
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3.
Für die Kommunikation zwischen den Kulturen: Welche kommunikativen Möglichkeiten und Probleme ergeben sich durch den medialen aber auch direkten Umgang von Individuen und Kollektiven mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund und wie können die unterschiedlichen kulturellen Ausprägungen vor dem Hintergrund einer universalen kognitiven Ausstattung nachvollzogen werden?
Auch wenn jeglicher Mediennutzer Teil einer Kultur6 und damit an den Vorgängen des interkulturellen Verstehens bzw. Nichtverstehens beteiligt ist, so erlaubt es diese Unterteilung komplexen Phänomenen der menschlichen Lebenswelten analytisch strukturiert zu begegnen. Das kausale Kontinuum eben dieser Lebenswelt wird durch eine solche heuristische Strukturierung besser handhabbar.
Eine Kultur – viele kulturelle Perspektiven: ein Integrationsmodell People’s responses to media are fundamentally social and natural.“ (Byron Reeves/Clifford Nass7)
Eine nützliche Differenzierung bieten die oft bemühten zwei Kulturen des Charles Percy Snow.8 Der wissenschaftliche Alltag der Forscher dieser Welt bewegt sich meist dezidiert entweder in den Geistes- oder in den Naturwissenschaften und überschreitet die imaginäre Trennlinie zwischen diesen nur selten. Dieser etablierte Modus operandi des Wissenschaftsbetriebs darf jedoch produktive Kooperationen nicht verhindern, wie sie sich mit Blick auf die Medien anbieten.9 Ein konstruktives Zusammengehen „von Naturwissenschaften mit den Sozial- und Geisteswissenschaften“10 stellt dabei keine feindliche Übernahme einer der beiden Seiten durch die andere dar, sondern zielt auf einen Erkenntnismehrwert durch die Annahme fachfremder Erkenntnisse. Dieser Gewinn ist nur um den Preis einer aktiven Annäherung der verschiedenen Diskurse zu haben – einer Annäherung, die Toleranz und Konstruktivität im Umgang mit 6
Vgl. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, §199; Vygotskij: Geschichte der höheren psychischen Funktionen.
7
Reeves/Nass: The Media Equation, S. 251.
8
Vgl. Snow: „Die zwei Kulturen“, S. 20.
9
Vgl. Hasson u.a.: „Intersubject Syncronization of Cortical Activity during Natural Vision“; Klin: „Defining and Quantifying the Social Phenotype of Autism“.
10 Wilson: Die Einheit des Wissens, S. 356.
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Äußerungen voraussetzt, die auf anderen als den jeweils eigenen Methoden und Ansätzen fußen. Um ein interdisziplinäres Aufeinanderzugehen zu erleichtern, schlage ich einen diskursiven Rahmen vor, der unterschiedliche Betrachtungsweisen des Mensch-Medien-Phänomens konzeptionell integrieren kann. Die Antwort auf zwei in der Regel nicht explizit gestellte Fragen bildet die Struktur dieser schon in der Einleitung angeführten Sichtweise: erstens, welche Objekte oder Wirkgrößen konstituieren ein Phänomen? Zweitens, die Frage nach den möglichen Dynamiken zwischen diesen? Die Bereiche möglicher Untersuchungen in Zusammenhang mit Medien sind – in Antwort auf Frage eins – sowohl die mediale Umwelt, als auch die Interaktionen, die Mediennutzer mit dieser haben und die Beschaffenheit dieser Nutzer (siehe Abbildung 16).
Abbildung 14: Der kausale Kontext der Mensch-Medien-Beziehung – mit Beispielen primärer Zuordnung unterschiedlicher Phänomene.
Die Grafik verdeutlicht die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Wirkgrößen dieses Models: Mensch-Medien-Interaktionen erfolgen stets im komplexen Kontext von kultureller Umwelt, individuell durchlaufener Geschichte und biologisch bedingten kognitiven Fähigkeiten. Zu jedem Bereich werden exemplarisch einige Phänomene angeführt. Je nach Fragestellung können dabei die Verbindungen in die anderen Großbereiche mehr oder weniger naheliegend sein.
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Der Vorteil dieses Modells besteht darin, dass unterschiedlichste Fragestellungen aber auch Ergebnisse als Elemente eines kausalen Kontinuums begriffen werden. Die Feststellung Michael Tomasellos – „Das kausale Verstehen ist der kognitive Leim, der der menschlichen Kognition in allen besonderen Wissensbereichen Einheit verleiht“11 – wird damit auf einer transdisziplinären Ebene fruchtbar gemacht. Hier finden sowohl die Untersuchung literarischer Texte als auch neuronale Aspekte der Wahrnehmung – kurz, „alle relevanten Einflussfaktoren“12 – ihren Platz. Aus diesem Modell folgt die Einsicht, dass für einen konstruktiven wissenschaftlichen Umgang mit Medien unterschiedliche Erklärungen sehr wohl produktiv zusammenwirken können: „[...] consilience across disciplines does not require the surrender of one field to the goals and methodological habits of a more basic one.“13 Phänomenlogische14 wie neuro- und kognitionswissenschaftliche15 Aussagen zu Medien sind innerhalb dieses Modells der evolutionären Medienanthropologie möglich, ohne dass diese per se unvereinbar sind. Zwar bleibt die Möglichkeit, dass es zwischen unterschiedlichen Sichtweisen zu expliziten oder impliziten Widersprüchen kommt – das Bestehen dieser unterschiedlichen Sichtweisen stellt jedoch nicht schon an sich einen Widerspruch dar. Es zeigt sich vielmehr, dass dieser integrative Rahmen zur Analyse von Kommunikation und speziellen Aspekten der Medienkommunikation es erlaubt, unterschiedliche Fragen zu stellen und auch mit unterschiedlichen Erklärungen aufzuwarten. Aus der Sicht der Medien- und Geisteswissenschaften wird damit der Fehler vermieden, durch Ausschluss von im weitesten Sinne biowissenschaftlichen Aspekten „einen wichtigen Problem- und Materialgenerator der Kultursphäre“16 nicht zu nutzen, wie Karl Eibl betont. „Neues Wissen in Wissenschaftsform entsteht nicht nur innerhalb der klassischen Fächer und Disziplinen,“ wie auch das „Manifest Geisteswissenschaften“ betont, „sondern mehr und mehr auch an deren Grenzen bzw. in Kooperation mit anderen Fächern und Disziplinen.“17 Unterschiedliche Erklärungen greifen da11 Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, S. 220. 12 Früh: Unterhaltung durch das Fernsehen, S. 84. 13 Crews: „Foreword from the Literary Side“, in Gottschall/Wilson: The Literary Animal, S. XIV. 14 Vgl. Rieger: Die Individualität der Medien; Die Ästhetik des Menschen; Kybernetische Anthropologie. 15 Vgl. Fahle: „Visuelle Täuschungen“; Gregory: Auge und Gehirn; Hoffman: Visuelle Intelligenz. 16 Eibl: Animal Poeta, S. 9. 17 Gethmann u.a.: Manifest Geisteswissenschaft, Punkt 1.2.
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bei, trotz möglicher inhaltlicher Differenzen, meist auf eine gemeinsame Grundstruktur zurück: X wird in Abhängigkeit von Y als Regelfall, Einzelfall, statistisches Korrelat oder kausal nicht beeinflusst erklärt. Diese Formalisierung umfasst sowohl traditionell naturwissenschaftliche als auch traditionell geisteswissenschaftliche Fragestellungen. Diese strukturelle Gleichheit von Aussagen über Mensch-Medien-Phänomene erlaubt es, unterschiedliche Bereiche und Aspekte des kausalen Rahmens miteinander in Kontakt zu bringen. In allgemeinster Form bedeutet dies, dass ein Aspekt dieses Kontinuums mit anderen Aspekten in einem entweder a) regelhaft kausalen, b) Einzelfall-, c) statistisch formulierbaren oder d) keinem Zusammenhang steht. Die folgende Tabelle führt exemplarisch mögliche Konstellationen aus. Phänomen X steht Beispiele: x Inhalte von Spielfilmen x Neuronale Verarbeitungsmechanismen x Spezifika im Oevre eines Literaten x Medienkonsum
mit Phänomen Y Beispiele: x Evolutionär entstandene Präferenzen und Mechanismen x Kulturell bedingte Erwartungen x Spezifika der Individualgeschichte x Situative Gegebenheiten
Im Zusammenhang Z x Regelfall x Einzelfall x statistisch-prozentuale Abhängigkeit x Kein feststellbarer kausaler Zusammenhang
Tabelle 3: Aussagetypen für medienrelevante Aussagen
Das Bestehen eines kausalen Kontinuums, das alle Aspekte von Mensch und Medien umfasst, bietet die systematische Basis, um Ansätze unterschiedlichster Disziplinen einander anzunähern. Trotz der Vielgestaltigkeit der Perspektiven, die in einen solchen integrativen Rahmen eingehen können, bleibt dieser auf Konsistenz angelegt. Widersprüchliche Aussagen zum gleichen Sachverhalt sind zwar möglich, indizieren aber die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen. Dieses Modell ist – wie die Dynamiken zeigen, die zwischen seinen Elementklassen bestehen – nicht auf eine reduktionistische Erklärung ausgerichtet, sondern auf die kausale Verbindung unterschiedlicher Phänomene innerhalb des Kontinuums. „Art obviously originates in the brain“18, wie Vilayanur Ramachandran zur Verbindung von Kultur- und Naturwissenschaften an-
18 Ramachandran: „The Emerging Mind. Lecture 3“.
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merkt. Ob für den Forscher neuronale Verarbeitungsroutinen oder soziale Muster der Mediennutzung in den Vordergrund treten, hängt weitestgehend von der jeweiligen Fragestellung ab. Dabei ist es längst nicht immer notwenig alle Ebenen der Betrachtung einzubeziehen. Die Fähigkeit einer Nervenzelle Aktionspotentiale auszubilden19, muss nicht aus dem sozialen Kontext erklärt werden, ebenso wie der Gebrauch einer neuen Redewendung nicht auf den evolutionär entstandenen Bauplan des Gehirns zurückgeführt werden kann, auch wenn es „Hinweise auf das Vorhandensein von Grammatikgenen“20 gibt. Solche Fragen können sinnvoll disziplinintern erklärt werden, was nicht darüber hinweg täuschen soll, dass ein prinzipieller Zusammenhang zwischen den angeführten Wissenschaftsbereichen besteht – ein Zusammenhang der im Rahmen zukünftiger Untersuchungen mehr und mehr an Bedeutung gewinnen wird.
Anthropologie des medialen Menschen „In the light of modern biology, what is then human nature? It is not the genes, which prescribe human nature. Nor is it just the universal traits of culture, such as the creation myths, incest taboos, and rites of passage, possessed by all societies. Rather, it is the inherited regularities of sensory and mental development that animate and channel the acquisition of culture.“ (Edward O. Wilson21)
Medien sind Bestandteile der Umwelt und unterliegen den kognitiven Rahmenbedingungen, die durch evolutionäre Anpassungen im Erbgut angelegt sind und sich individuell ausformen. Trotz der daraus resultierenden phänotypischen Einzigartigkeit jedes Menschen – selbst bei eineiigen Zwillingen – lassen sich kognitive Gattungsmerkmale ausmachen, die für den Umgang mit repräsentationalen Technologien überindividuell von Bedeutung sind.22 Diese lange vor dem Aufkommen technisch vermittelter Kommunikation entstandenen Verarbeitungsmechanismen sind für deren Verständnis von zentraler Be-
19 Vgl. Roth: Fühlen, Denken, Handeln, S. 100ff. 20 Pinker: Der Sprachinstinkt, S. 377. 21 Wilson: „Foreword from the Scientific Side, S. VIII. 22 Vgl: Barkow u.a.: The Emerging Mind; Buss: The Handbook of Evolutionary Psychology.
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deutung.23 Viele artifiziell erzeugte Stimuli sprechen diese Mechanismen in gleicher oder ähnlicher Weise an, wie deren reale Vorlagen oder Pendants.24 Aus diesen Einsichten in den menschlichen Umgang mit natürlichen und künstlichen Stimuli resultiert die Erkenntnis, dass die klassisch dichotome Unterscheidung zwischen Natur und Kultur im Umgang mit Medien- und Informationsgesellschaft kein analytisch sinnvolles Instrument darstellt. Menschliche Erlebens- und Verhaltensweisen speisen sich stets aus beiden Quellen, wobei nicht jedes Phänomen einer beide Sphären umfassenden Erklärung bedarf. Besucherzahlen von Filmen lassen sich sehr wohl durch Bezug auf Werbung oder narrative Trends interpretieren, ohne dass ein Exkurs in die neurobiologisch-kognitive Ausstattung der Besucher notwendig ist. Die einst eherne Grenze zwischen Natur und Kultur wird durchlässiger, wenn wir ankennen, dass menschliches Zusammenleben und Kulturschaffen komplexer ist, als in bisherigen dichotomen Entwürfen gesehen.25 Menschen sind mit der biologischen Welt nicht nur über ihre Empfänglichkeit für Krankheiten verbunden sondern auch über ihre Empfänglichkeit für Stimuli: Homo sapiens ist nicht das in die Welt geworfene Individuum des Existenzialismus26 sondern das Produkt einer nachvollziehbaren Geschichte27. Daraus ergibt sich die Perspektive eines „Nurture through Nature“ 28, die keinen naturalistischen Bildersturm auf kulturelle Errungenschaften, Werte und Konzepte darstellt, sondern der Gefahr eines Kultursolipsismus entgegenwirkt, der aus ideologischen Gründen nur kulturelle Faktoren zur Erklärung kultureller Phänomene zulässt. Beiträge der Naturwissenschaften werden häufig als Reduktionismusversuche gesehen, die danach trachten jegliche Erscheinungen auf eine biologisch-physikalistische Ebene zu reduzieren.29 Der Fehler dieser Sichtweise liegt in der Annahme, dass sich für die Erklärung komplexer Phänomene durchgängig eine naturwissenschaftliche Diskursbasis etablieren könnte, die andere Ebenen der Auseinandersetzung überflüssig macht.30 Diese Befürchtungen verkennen aber, dass komplexe Phänomene im Rahmen einer
23 Vgl. Carroll: Evolution an Literary Theory; Schwender: Medien und Emotionen; Schwab: Evolution und Emotion. 24 Vgl. Reeves/Nass: The Media Equation. 25 Vgl. Pinker: Das unbeschriebene Blatt. 26 Vgl. Sartre: Der Ekel; Camus: Der Mythos von Sysiphos. 27 Boyd/Silk: How Humans Evolved. 28 Voland: „Natur oder Kultur?“, S. 50. 29 Vgl. Wilson: Die Einheit des Wissens, S. 356. 30 Vgl. Welzer: Das kommunikative Gedächtnis.
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disziplinären „Vernetzung“31 auf mehreren, miteinander verbundenen Ebenen betrachtet werden können. Welcher Ansatz gewählt wird, hängt von der verfolgten Fragestellung ab. Ein Fußballspiel kann auf quantenphysikalischer oder neurobiologischer Ebene nachvollzogen werden – der Sinn erschließt sich aber nur anhand kultureller Konzepte wie Spiel, Mannschaft, Spieler und Regel. Der scheinbare Manichäismus in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Kultur und dem Menschen als kulturschaffendem Wesen wird in der Zukunft einem weniger heroisch und mehr pragmatisch orientierten Umgang mit dieser Fragestellung weichen müssen. In den Worten des Literaturwissenschaftlers Jonathan Gottschall: „Aspects of our culture and intelligence mean that we are different from other apes, but they do not emancipate us from biology or lift us above other animals onto an exalted link of the chain of being.“32 Wer den Menschen, sein Verhalten und seine Kultur verstehen will, muss auch die evolutionär entstandene Biologie dieses Lebewesens mit einbeziehen. Die Betonung liegt dabei auf auch! Auch bedeutet, dass keineswegs, wie im Fall eines Paradigmenwechsels33, eine wissenschaftliche Umwertung aller Werte zu erfolgen hat, sondern eine Ergänzung und Erweiterung bestehender Erklärungsmuster. Der wissenschaftlich wichtige Schritt vorwärts in diesem gemischten Erklärungsansatz liegt im Abschied von einer intellektuell zweigeteilten menschlichen Lebenswelt, die Debatten nährt „so polarized that they reveal the worst aspects of tribalism in our species.“34 So sehr der Sprachgebrauch auch einen Gegensatz von Natur und Kultur nahe legt; die in dieser Arbeit angeführten Ergebnisse machen deutlich, dass diese Begriffe überlappende Großbereiche eines kausalen Kontinuums bezeichnen. Den medialen Menschen der Gegenwart zu verstehen, wird somit zu einem Projekt, das als Beitrag zur Überwindung der Grenze zwischen Geistesund Naturwissenschaften dienen kann. Artifizielle Medien und evolvierte kulturfähige Nutzer sind zwei Seiten ein und derselben Medaille.35 Ein adäquates Bild des Menschen in der Medien- und Informationsgesellschaft führt diese Aspekte zusammen.
31 Wilson: Die Einheit des Wissens, S. 356. 32 Gottschall: Fictional selection, S. 39. 33 Vgl. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 34 Wilson: „Evolutionary Social Constructivism“, S. 20. 35 Carroll: Evolution an Literary Theory.
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Medienbürger „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben wissen, wissen wir durch die Medien“ (Niklas Luhmann36)
Dieser prägnante Satz von Niklas Luhmann weist in knapper Form darauf hin, wie unentbehrlich Medien als kommunikative Transmissionsriemen in modernern Gesellschaften sind. So gewinnend diese Feststellung auf den ersten Blick erscheint, so hängt ihre Richtigkeit von der Bedeutung der Begriffe Welt und Medien ab. Gültig wird diese Aussage nur durch einen entweder stark eingeschränkten Begriff von Welt, der sich ausschließlich auf Objekte und Geschehnisse außerhalb des direkten sinnlichen Horizontes bezieht, oder einen sehr weiten Begriff von Medien, der jeglichen Sinnes-Input als medienverursacht sieht. Lässt man diese unproduktive Begriffsrestriktion bzw. -expansion hinter sich, dann wird deutlich, dass menschliches Weltwissen aus mehr besteht, als medial vermittelten Wissensstrukturen. Zu diesen treten sowohl nichtmedial erworbene Kenntnisse als auch Verarbeitungsmechanismen, die dem Umgang mit realen wie medialen Stimuli vorausgehen.37 So wichtig und funktional zentral die Medien heute im menschlichen Miteinander sind, so undenkbar sind diese ohne ein kulturelles Fundament, das seinerseits auf den ererbten Kognitions- und Verhaltenspotentialen38 der menschlichen Art ruht. Vor dem Hintergrund dieser Differenzierung müsste deshalb eine präzisere Variante der Luhmannschen Feststellung lauten: Was wir über die Welt außerhalb der direkten Reichweite unserer Sinne wissen, wissen wir durch die Medien. Das Fundament menschlichen Wissens sind – trotz ihrer immensen Bedeutung – nicht die Medien. Am Beginn jedes menschlichen Umgangs mit der Welt stehen vielmehr die Wechselwirkungen der genetisch vorgegebenen sensorischen und neuronalen Mechanismen mit der Umwelt im Laufe der Embryonal- und Individualentwicklung.39 Die Ergebnisse dieses Entwicklungsprozesses tragen dabei in wechselndem Maße die Spuren sowohl der ererbten stimulusverarbeitenden Spezifika des kognitiven Systems – „Wahrnehmung und Verhalten [werden] nachhaltig durch evolutionär entstandene Dispositionen beeinflusst“40 – als auch der natürlichen und kulturellen Charakteristika der 36 Luhmann: Die Realität der Massenmedien, S. 9. 37 Vgl. Diamond: Der dritte Schimpanse. 38 Vgl. Pinker: How the Mind Works. 39 Vgl. Gopnik u.a.: Forschergeist in Windeln. 40 Hejl: „Konstruktivismus und Universalien“, S. 35.
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jeweiligen Umwelt41. So weist das Lächeln neugeborener Babys gegenüber denen, die sie anlächeln, auf ein hochkomplexes, festverdrahtetes Wissen um eine bis dahin nie gesehene Welt hin. Babys können „von Geburt an menschliche Gesichter und Stimmen von anderen Dingen und Geräuschen unterscheiden“42. Die anschließende phonemspezifische Ausformung des auditiven Kortex dagegen, findet zwar bei allen Menschen in prinzipiell gleicher Weise statt, passt sich jedoch auf Grund der jeweils vorherrschenden Sprache/n, an deren spezifisches Lautvokabular an. Ein derartiges Ineinandergreifen von biologischen und kulturellen Kausalfaktoren ist der Normalzustand menschlichen Lebens. Michael Tomasello führt dieses Ineinandergreifen anhand eines Spiels vor Augen: Natürlich erzeugt das Schachspiel bei Kindern nicht grundlegende kognitive Fertigkeiten wie Gedächtnis, Planen, räumliche Intelligenz oder Kategorisierung – das Spiel konnte sich nur deshalb entwickeln, weil Menschen diese Fertigkeiten schon besaßen –, aber es lenkt grundlegende kognitive Prozesse in neue Bahnen und trägt dadurch zur Schaffung neuer und sehr spezialisierte kognitiver Fertigkeiten bei.43 In gleicher Weise stehen auch die Aktivitäten von Erwachsenen stets sowohl in Beziehung zum biologisch-stammesgeschichtlichen als auch zum historischkulturgeschichtlichen Erbe der Spezies Mensch.44 Der sich vielerorts und in vielen Formen artikulierende Unwille eine Bedeutung evolutionär entstandener Merkmale der menschlichen Psyche für die Kultur in Betracht zu ziehen, speist sich aus einer Phalanx von lieb gewonnenen Gewohnheiten, metaphysischen Weltanschauungen und ideologischem Anti-Egalitätsverdacht. Gewohnheit deshalb, weil die seit der Aufklärung erwachsene Hochachtung vor kühnen Gedankengängen und individueller Kreativität mit evolutionär entstandenen Präferenzen in Wahrnehmung, Denken und Handeln nur schwer vereinbar scheint. Im Zusammenhang mit der Analyse der kognitiven Potentiale unserer Art und deren Wurzeln haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten sowohl die Neuro- und Kognitionswissenschaften als auch die evolutionär ausgerichteten
41 Vgl. Spitzer: Lernen. 42 Gopnik u.a.: Forschergeist in Windeln, S. 45. 43 Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, S. 240. 44 Buss: Evolutionary Psychology.
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Ansätze entscheidende Schritte gemacht.45 Die Fortschritte machen deutlich, dass auch neueste kulturelle Entwicklungen – wie die digitalen Medien – nur mittels stammesgeschichtlich alter psychologischer Mechanismen wirken.46 Hinter der faszinierenden Vielfalt menschlicher Kulturen – gegenwärtiger und historischer – tritt eine universelle Beschaffenheit hervor: Menschen wurden durch die in evolutionären Zeiträumen wirkenden selektiven Drücke zu Kulturwesen geformt – Kulturfähigkeit ist eine spezifische Anpassung unserer Art!47 Das Aufkommen der so genannten Neuen Medien, speziell des Internet, hat Euphorien geschürt und Einschätzungen hervorgebracht, die den stattfindenden Wandel als radikalen Neubeginn und gesellschaftlichen Paradigmenwechsel glorifizieren.48 Kritisch betrachtet ist an dieser Beurteilung haltbar, dass gerade vernetzte Technologien in der jüngeren Vergangenheit eine bedeutsame Wirkung für viele Lebensbereiche entfaltet haben und voraussichtlich auch noch weiter entfalten werden.49 Die Begeisterung für das „Mehr“ an Möglichkeiten hat mitunter dazu geführt, von der Wandelbarkeit der Medientechnologien auf eine analoge Plastizität der Rezipienten zu schließen. Im Verlauf dieser Arbeit habe ich an vielen Beispielen dargelegt, dass eine derartige universelle Plastizität nicht der funktionalen Beschaffenheit der menschlichen Kognition entspricht.50 Für das Verhalten des einzelnen Menschen in einer stark medialisierten Gesellschaft folgen aus diesem evolutionären Erbe vier zentrale Einsichten: 1.
Die Verteilung von Aufmerksamkeit zwischen realen und medialen Stimuli erfolgt durch stammesgeschichtlich alte Mechanismen, die eine zentrale Funktion im sozialen und kulturellen Miteinander ausüben.51
2.
Diese Mechanismen weisen inhaltliche Präferenzen auf, die sich auf Nutzungsentscheidungen auswirken.52
45 Vgl. Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit; Fühlen, Denken, Handeln; Aus der Sicht des Gehirn. 46 Vgl. Damasio: Descartes Irrtum; Ich fühle, also bin ich; Der Spinoza-Effekt. 47 Vgl. Waal: Der Affe und der Sushimeister. 48 Vgl. Bolz: Am Ende der Gutenberggalaxis; Dyson: Release 2.1; Kurzweil: Homo s@piens. 49 Vgl. Castells: Das Inforamtionszeitalter; Die Netzwerkgesellschaft; Die InternetGalaxie; Castronova: Synthetik Worlds; Turkle: Leben im Netz. 50 Vgl. Pinker: Das unbeschriebene Blatt. 51 Vgl. Schwender: Medien und Emotionen; Schwab: Evolution und Emotion. 52 Vgl. Carroll: Evolution and Literary Theory; Kanazawa: „Bowling with our imaginary friends“; Smith: „Wer hat Angst vor Charles Darwin?“.
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3.
Mediennutzung zielt in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen auf instrumentelle Unterstützung von Handlungskompetenzen und Befriedigung stimulatorischer Vorlieben.53
4.
Das medienrelevante Verhalten von Menschen resultiert somit sowohl aus evolutionär entstandenen Stimulus- und Handlungspräferenzen als auch aus individuell erworbenen Fähigkeiten und Vorlieben, die Menschen sich in ihrer natürlichen und kulturellen Umwelt mittels ebenfalls evolvierter Lernmechanismen angeeignet haben.54
Nach einem Jahrhundert fortgesetzten Technologiewandels kommen wir zu der wichtigen Einsicht, dass der Mensch als intellektuell-kreativer Motor hinter diesem Geschehen nur begrenzt wandelbar ist.55 Inhaltlich haben die medialen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte – wenn man von den Sphären der künstlerischen Avantgarde absieht – keine grundsätzlichen Neuerungen gebracht.56 Ego-Shooter bieten das seit Anbeginn der Schriftkultur bekannte Muster des Kampfes gegen eine Bedrohung für Leib und Leben an57, Erotikwebseiten in aller Welt haben ein schon zuvor bestehendes Geschäft lediglich auf eine neue technische Ebene verlagert58, genau wie Internetauktionshäuser und -shops lediglich zu einer Verlagerung schon zuvor bestehender ökonomischer Interaktionsmuster geführt haben59. Kurzum: Neue Technologien schaffen keine neuen Menschen. Jede Generation von Nutzern setzt die ihnen zur Verfügung stehenden Medien ein, um jene strategischen Ziele zu erreichen, die auch schon ihre nahen und fernen Vorfahren hatten.
53 Zillmann/Vorderer: Media Entertainment. 54 Vgl. Blakemore/Frith: Wie wir lernen. 55 Vgl. Ramachandran: Eine kurze Reise durch Geist und Gehirn. 56 Vgl. Vogler: Die Odyssee des Drehbuchschreibers; Castronova: Synthetik Worlds. 57 Vgl. Wolf: The Medium of the Video Game; Wolf/Perron: The Video Game Theory Reader. 58 Vgl. Glaser: Vierundzwanzig Stunden im 21. Jahrhundert. 59 Vgl. Castells: Die Internet-Galaxie.
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Die menschliche Gesellschaft in Zeiten der Medien „Man kann den Affen aus dem Urwald nehmen, aber nicht den Urwald aus dem Affen. Dies gilt auch für uns zweibeinige Affen. Seit unsere Vorfahren sich von Baum zu Baum hangelten, dreht sich bei uns alles um das Leben in kleinen Gruppen. Wir können nicht genug kriegen von Politikern, die sich im Fernsehen an die Brust schlagen, von den Stars der Soap-Operas, die sich von Bett zu Bett hangeln, und von den RealityShows, bei denen es darum geht, wer drin bliebt und wer draußen ist.“ (Frans de Waal60)
Die zentrale Einsicht der evolutionären Medienanthropologie mit Blick auf menschliche Gesellschaften ist, dass diese, ebenso wie jedes einzelne Individuum, nicht gänzlich plastisch sind und in ihren Dynamiken von den Rahmenbedingungen menschlicher Kognition abhängen. Mehr und mehr Belege sprechen dafür, dass Menschen „evolved a large number of specialized adaptations for dealing with other humans“61. Diese Sichtweise verabschiedet, was Edward O. Wilson als politischen Behaviorismus bezeichnet: die Vorstellung, dass mit Hilfe geeigneter Steuerungsmaßnahmen beliebige soziale Verhaltensmuster mit nahezu identischem Aufwand etabliert werden können.62 Die Stimulus- und Verhaltenspräferenzen des Einzelnen führen in der Konsequenz zu kollektiven Tendenzen im Medienverhalten. Daraus folgen für die intellektuelle Auseinandersetzung mit Mediengesellschaften: Das Mediengeschehen einer Gesellschaft ist kein ausschließlicher Ausdruck kultureller Zustände und Dynamiken.63 Es verweist deshalb nicht nur auf die geistig-moralische Verfassung eines Gemeinwesens, sondern auch auf die universelle anthropologisch-kognitive Ausstattung seiner Angehörigen. Medien sind ein Teil der menschlichen Umwelt, die ihre Wirkungen im Rah-
60 Waal: Der Affe in uns, S. 9. 61 Buss: The Handbook of Evolutionary Psychology, S. 583; Vgl. Cosmides/Tooby: „Neurocognitive Adaptations Designed for Social Exchange“; Campbell: „Aggression“; Kurzban/Neuberg:„Managing Ingroup and Outgroup Relationships“; Cummins: „Dominance, Status, and Social Hierarchies“; MacNeilage: „The Evolution of Language“; Haselton u.a.: „The Evolution of Cognitive Bias“; Krebs: „The Evolution of Morality“. 62 Wilson: „Can biology do better than faith?“, S. 48f. 63 Vgl. Schwender: Medien und Emotionen.
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men von Wahrnehmungs-, Verarbeitungs- und Verhaltensmustern entfalten, die evolutionär angelegt sind und kulturell ausgestaltet werden.64 Die Dynamik einer Mediengesellschaft speist sich dabei aus zwei Quellen: einer ökonomischen und einer stimulatorischen. Im ersten Fall handelt es sich um alle Formen von Mensch-Medien-Interaktionen, die auf ökonomischen Nutzen zielen. Im zweiten Fall liegt das Ziel des Umgangs mit Medien in den Erlebnisqualitäten, die aus diesem Vorgang resultieren. Diese Zweiteilung verkörpert dabei kein Ausschlussprinzip. So kann ein Filmkritiker eine Filmvorführung sowohl aus beruflichen Gründen besuchen als auch gleichzeitig genießen. Für die weitere Betrachtung der Mediengesellschaft aus evolutionär medienanthropologischer Perspektive ist diese Zweiteilung von erheblicher Bedeutung. Handlungen, die einen direkten Nutzen mit sich bringen und das Leben einzelner oder der ganzen Gesellschaft verbessern, lassen sich im Licht eines ökonomischen Nutzenkalküls analysieren.65 Problematischer für einen erklärenden Nachvollzug sind dagegen Handlungen, mit denen kein ökonomisch fassbarer Nutzen verbunden ist: wie das Verhalten von Menschen, die fast zwanghaft bestimmten Fernsehsendungen folgen, sich mit Nachrichten aus der Welt des Hochadels beschäftigen oder ihr Herzblut an eine bestimmte Sportmannschaft oder einen Athleten hängen66. Aus der naiven Sichtweise einer „Alltagspsychologie“67 handelt es sich dabei um keine erklärungsbedürftigen Phänomene, weil Menschen eben so sind, dass sie wissen wollen, wie eine Geschichte weitergeht, was die Berühmten der Welt machen und ob ihr Team triumphiert? Dieser intuitive Nachvollzug von Verhaltensweisen, die als Massenphänomene den gesellschaftlichen Umgang mit Medien prägen, darf jedoch nicht über analytische Defizite hinweg täuschen. Eine – zugegeben – sehr nüchterne Analyse der Sportart Fußball zeigt ein fast absurdes Geschehen: Zwei Gruppen von jeweils elf Individuen versuchen ein rundes Objekt mit den Füßen oder dem Kopf in gegenüberliegende mit einem Netz versehene Rechtecke zu befördern. Die Beteiligten verausgaben sich dabei teilweise bis zum Äußersten und verursachen damit bei den direkt oder medial beteiligten Zuschauern Zustände äußerster Erregung von Euphorie bis hin zu Depressionen68. Das Handeln der Akteure auf dem Spielfeld ist zumindest zum Teil
64 Vgl. Schwab: Evolution und Emotion. 65 Vgl: Friedman: Der ökonomische Code. 66 Vgl. Vorderer: Fernsehen als "Beziehungskiste". 67 Asendorpf: Psychologie der Persönlichkeit, S. 2ff. 68 Vgl. Stollwerk: Sport, Zuschauer, Medien.
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durch ökonomische Rationalität zu erklären. Das Verhalten der Zuschauer kann dadurch nicht erklärt werden. Die philosophische Anthropologie des vergangenen Jahrhunderts redet in diesem Zusammenhang vom Homo ludens69, dem Menschen als einem Wesen, das durch das Spiel zu sich selbst findet und in diesem sein wahres Selbst zeigt. Bei genauer Betrachtung zeigt sich aber, dass dieser Begriff wenig mehr als einen attraktiven Namen für das beobachtete Phänomen bietet. Die eigentliche Frage, warum verhalten sich Menschen so?, bleibt unbeantwortet, denn die Aussage, dass Menschen derartige Verhaltensmuster an den Tag legen, weil diese ihrem Wesen und damit ihren ureigensten Verhaltensmustern entsprechen, ist eine klassische Tautologie. Eine medienanthropologische Annäherung an diese und andere massenmedial relevante Erscheinungen bietet die Möglichkeit, das Verständnis weit verbreiteter Phänomene und Verhaltensweisen voran zu treiben.70 Dabei resultieren aus einem solchen Perspektivwechsel keine direkten Antworten sondern vielmehr Fragen und ein theoretischer Rahmen, der es erlaubt mit diesen konstruktiv umzugehen. Unter der Voraussetzung, dass das Gehirn keine neutrale und universelle Verarbeitungsplattform ist, lassen sich empirisch prüfbare Fragen nach jenen kognitiven Gesetzen formulieren, die kollektiven Verhaltensmustern zugrunde liegen.
Understanding media means/needs understanding man „Es erforscht die Grenzen unserer in den Techniken ausgeweiteten Menschennatur und sucht das Prinzip, mit dem jede von ihnen verständlich wird.“ (Marshall McLuhan71)
Wer verstehen will, wie Medien funktionieren, hat eigentlich drei Fragen zu beantworten: wie funktionieren Medien als technische Apparate? Wie funktionieren Menschen als wahrnehmende, handelnde und kommunizierende Lebewesen und wie gestaltet sich die Wechselbeziehung zwischen Mensch und Technik? Die Ausführungen zur ursprünglichen Frage – wie funktionieren Medien? – konzentrieren sich häufig auf den dritten dieser Teilaspekte, die Wechselbeziehung von Mensch und Technik. Dabei tritt die kognitive Beschaffenheit des 69 Vgl. Huizinga: Homo ludens; Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen 57ff. 70 Vgl. Voland/Grammer: Evolutionary Aesthetics; Shoemaker: News Around the World. 71 McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 18.
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Menschen weitgehend in den Hintergrund, auch wenn Annahmen hierzu unausweichlich in jegliche Rekonstruktion des Verhältnisses Mensch-Medien einfließen. Jede Aussage zu dieser Wechselbeziehung beruht auf anthropologischen Annahmen, deren Zutreffen entscheidend für eine adäquate Modellierung der tatsächlich vorliegenden Mechanismen und Dynamiken ist. Das zentrale Argument dieser Arbeit ist: Menschen sind anders als die Medienwissenschaften bisher explizit und/oder implizit angenommen haben. Medienrelevante Fähigkeiten, Vorlieben und Verhaltensweisen werden zwar durch Sozialisation und Kultur geformt, aber diese Entwicklung findet nicht auf dem unbeschriebenen Blatt eines John Locke72 statt, sondern in einem durch Selektionsdrücke evolutionär geformten Gehirn73. Menschliche Wahrnehmung und die Wirkung von Medien auf menschliches Verhalten sind nicht nur Ergebnis des persönlichen Werdeganges sondern auch Resultate stammesgeschichtlich entstandener Dispositionen74. So zutreffend das Bernhard von Chartres zugeschriebene Bild der Riesen ist, auf deren Schultern heutige Menschen kulturell und intellektuell stehen, so stehen wir gemeinsam mit diesen Riesen auf den Schultern von Vormenschen und früheren Lebensformen75. Genauer: wir nutzen den evolutionär entstandenen sensorischen und kognitiven Apparat, der diese Leistungen erst ermöglicht.76 Diese neurosensorische Ausstattung stellt das funktionale Fundament aller individuellen und kollektiven Kulturleistungen dar.77 Die daraus historisch erwachsene kulturelle Vielfalt hat zusammen mit einer cartesianischen Ontologie, dem Konzept des Behaviorismus und den „Computer-Analogien“78 zur menschlichen Kognition in der Vergangenheit die Vorstellung befördert, Menschen seien in ihrem Handeln und Denken ausschließlich Frucht ihrer Umwelt. Die kritische Betonung dieser sehr kurzen Darstellung liegt dabei auf dem Wort ausschließlich. Natürlich sind individuelle Wahrnehmungs-, Denkund Handlungsweisen stets Ergebnisse einer individuellen Entwicklung79 – aber nicht ausschließlich. Sie sind gleichfalls Resultat der Beschaffenheit des biologischen Verarbeitungs- und Lernapparates: des menschlichen Gehirns. Der Mensch ist nicht nur das, wozu er gemacht wird und wozu er sich selbst
72 Vgl. Locke: An Essay Concerning Human Understanding. 73 Vgl. Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. 74 Vgl. Damasio: Descartes Irrtum. 75 Vgl. Darwin: Die Entstehung der Arten. 76 Vgl. Pinker: How the Mind Works. 77 Vgl. Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. 78 Sacks: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, S. 38. 79 Vgl. Richerson/Boyd: Not by genes alone.
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macht, er ist immer auch das Ergebnis einer biologischen Entwicklung, bedingt sowohl durch die genetisch angelegte Beschaffenheit des Körpers als auch durch die gleichermaßen im Erbgut angelegt Beschaffenheit des Geistes. Was Menschen machen und wie sie es machen, bewegt sich im Ereignisrahmen des über evolutionäre Zeiträume entstandenen physisch-psychischen-in-derWelt-seins der Spezies Homo sapiens. Bei der Verfolgung der anthropologischen Kernfrage nach dem Wesen des Menschen springt zunächst dessen morphologische Einzigartigkeit ins Auge, auch wenn dieses Erscheinungsbild lediglich eine Variante des ökologisch insgesamt sehr erfolgreichen Säugetierbauplans ist80. Verhaltensforscher wissen darüber hinaus seit langem, dass verschiedene Arten auf Grund evolutionärer Anpassungen unterschiedliche Verhaltensweisen und Lernpotentiale aufweisen.81 Kognition ist in diesem Zusammenhang, so zeigen zahlreiche Vergleiche, kein Selbstzweck, sondern gleich dem Körperbau ein biohistorisch entstandenes Werkzeug, um mit den Anforderungen eines Lebensraums umzugehen. Gleich der Form von Körper und Gliedmaßen ist dieser kognitive Apparat nicht universal variabel.82 Seit den 1990er Jahren des vergangenen Jahrhunderts vertritt ein wachsender Kreis von Wissenschaftlern den Standpunkt, dass nicht nur die Verarbeitungsmechanismen von Tieren sondern auch die von Menschen einen spezifischen Zuschnitt aufweisen.83 Wie Menschen Stimuli wahrnehmen, verarbeiten und in Verhalten umsetzen, hängt – im Prinzip wenig überraschend – von dem Organ ab, das diese Vorgänge ausführt.84 Für die Untersuchung von Medienphänomenen bedeutet dies, dass sich die wissenschaftlichen Optionen nicht auf das Korrelieren von Medienstimuli, kulturellen Einflüssen und Verhaltensweisen beschränken. Menschen verfügen über tendenzielle Vorlieben und Abneigungen, die aus der evolutionären Entstehung von Wahrnehmung und Verhaltenssteuerung resultieren. Ed Tan kommt mit seinem Konzept des „film as emotion machine“85 dieser Sichtweise sehr nahe, wenngleich die eigentliche Emotionsmaschine nicht der Film sondern die verarbeitende Kognition ist.86 Der Konsum von Filmen zieht – genau wie der von anderen Medien – Emotionen nicht deshalb nach sich, weil
80 Vgl. Romer/Parsons: Vergleichende Anatomie der Wirbeltiere, S. 89ff. 81 Vgl. Arzt/Birmelin: Haben Tiere ein Bewußtsein? 82 Vgl. Buss: Evolutionary Psychology. 83 Vgl. Barkow u.a.: The Adapted Mind. 84 Vgl. Jourdain: Das wohltemperierte Gehirn; Gregory: Auge und Gehirn. 85 Tan: Emotion and the Structure of Narrative Film. 86 Vgl. Uhl: Kinomagie und Gehirnfunktion.
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diese ein irgendwie gearteter Bestandteil des Stimulus sind.87 Die Beteiligung der Rezipienten erwächst vielmehr daraus, dass mediale Repräsentationen von Verarbeitungsmechanismen prozessiert werden, die im Gesamtsystem des Gehirns zum Umgang mit einer direkt präsenten natürlichen und sozialen Umwelt entstanden. Das Gehirn macht das, was es seit jeher in Lebewesen gemacht hat: es richtet das Verhalten des Organismus entsprechend artspezifischer Verarbeitungsmechanismen und Verhaltensweisen aber auch individueller Lernvorgänge an der Umwelt aus – es „verbessert die ‚Einpassung‘ der Individuen in ihre konkreten und situativen Lebensumstände“88. Trivial ist, dass Menschen ihr Verhalten an Umweltgeschehnissen ausrichten. Von Bedeutung ist dagegen, dass die bewusste Wahrnehmung dieses planvollen Verhaltens nur einen Teil der dahinter stehenden Kausalvorgänge wiedergibt, dass, wie Malcolm Gladwell es ausdrückt, ein Teil der „Entscheidungen hinter der verschlossenen Tür getroffen wird.“89 Der versteckte und für das Verständnis von Medien ebenfalls wichtige Teil der Mensch-Umwelt-Beziehung ist, dass mediale Inhalte nichtbewusste Verarbeitungsmechanismen ansprechen, die Einfluss auf die Steuerung von Aufmerksamkeit und Verhalten haben. „Das Gehirn tut gern und in allen möglichen Bereichen etwas ‚hinter unserem Rücken‘“90. Emotionen sind derartige Mechanismen: scheinbar subjektive Phänomene, die für die Psychologie lange nur „bedingt von Interesse“91 waren. Sie verfügen über eine stammesgeschichtlich weitaus längere Vergangenheit als die reflexiven Fähigkeiten des bewussten Denkens.92 Die eminente Bedeutung dieser Mechanismen für das Verständnis von Medien wird deutlich angesichts der Tatsache, dass große Teile der weltweiten Mediennutzung nicht dem produktiven Umgang mit der Umwelt dienen, sondern durch Rezeption ausgewählter Inhalte bevorzugte emotional-mentale Zustände herstellen sollen – Menschen nutzen Medien zum Mood Management, wie Dolf Zillmann es nennt93. Die Auseinandersetzung mit der kognitiven Beschaffenheit von Medienrezipienten enthüllt aber auch, dass ein traditionell instrumentelles Medienverständnis im Sinne eines Nutzenkalküls nur unter der Voraussetzung intakter emotionaler Steuerungsmechanismen adäquate Aussagen über Handlungsmuster erlaubt. Pathologische Fälle belegen, dass die
87 Vgl. Schwab: Evolution und Emotion. 88 Treml: Evolutionäre Pädagogik, S. 106. 89 Gladwell: Blink!, S. 66. 90 Blakmre/Frith: Wie wir lernen, S. 22. 91 Tröhler/Hediger: „Ohne Gefühl ist das Auge der Vernunft blind“, S. 14. 92 Vgl. LeDoux: Das Netz der Gefühle. 93 Vgl. Zillmann: „Mood Management“.
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Fähigkeit, rational über mögliche Handlungsalternativen zu entscheiden, ohne die Einspeisung subkortikal generierten emotionalen Inputs zusammen bricht (Damasio 2004). Clemens Schwender hat die bereits mehrfach angeführte Formulierung geprägt: „Medien sind Attrappen“94. Ich möchte dahingehend präzisieren: Medien sind Umweltattrappen, weil sie in Form von repräsentationalen Stimuli sensorische Inputs bieten, die darauf ausgelegt sind, als rational oder emotional relevant prozessiert zu werden. Weil sie in bedeutendem Umfang Interaktionen repräsentieren, erreichen sie dabei eine stimulatorische Komplexität, wie sie bloße Objektattrappen wie Vogelscheuchen oder Angelköder nicht bieten. Rational sind sich Medienrezipienten sehr wohl bewusst, dass sie mit Nachrichten aus fernen Erdteilen oder Berichten von längst vergangenen Ereignissen umgehen. Die emotionale Aufarbeitung eingehender Stimuli erfolgt jedoch zum großen Teil durch Mechanismen, die evolutionär nicht für eine Unterscheidung zwischen real gegebenen und repräsentationalen Reizquellen ausgelegt sind.95 Diese nicht ausgebildete Unterscheidungsfähigkeit geht auf eine biologisch höchst sinnvolle und stammesgeschichtlich für die längste Zeit unumschränkt zutreffende Prämisse zurück – wahrnehmbare Ereignisse sind wichtig, weil sie in der direkten Nähe des Wahrnehmenden stattfinden. Das unabhängig vom Bewusstsein arbeitende limbische System erzeugt emotionale Bewertungen ganz gleich, ob man einen Streit an der Supermarktkasse miterlebt oder ob man diesen Streit auf der Kinoleinwand erlebt.96 Auf dieser Ebene der nichtbewussten Stimulusverarbeitung existiert weder ein Umschalter noch die Fähigkeit, zwischen Real- und Medieninput zu unterscheiden. Eingehende Stimuli werden hier auf ihre potentielle Handlungsrelevanz hin bewertet.97 Zwar wissen Menschen in der Regel, wann sie Medienstimuli rezipieren, dieses bewusste Klassifizieren hebt jedoch die Effekte der nichtbewussten Mechanismen nicht auf sondern modifiziert sie lediglich.98 Nur wenige Menschen möchten ernsthaft mit King Kong in einem Raum sein, dem Schicksal eines King Kong auf der Leinwand zu folgen, hat dagegen für viele seinen Reiz, wenngleich es auch Individuen gibt, die nicht in der Lage sind, die damit verbundene Spannung und Dramatik zu ertragen und derartige Stimuli grundsätzlich meiden oder sich diesen nach Kurzem entziehen.
94 Schwender: Medien und Emotionen, S. 4. 95 Vgl. Reeves/Nass: The Media Equation. 96 Vgl. Frey: Die Macht des Bildes. 97 Vgl. LeDoux: Das Netz der Gefühle. 98 Vgl. Roth: Fühlen, Denken, Handeln.
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Wer die komplexe Beziehung zwischen Menschen und Medien verstehen will, muss nachvollziehen wie repräsentationale Stimuli auf die stammesgeschichtlich alten emotionalen Verarbeitungsmechanismen wirken. In den Medienwissenschaften existieren zahlreiche Ansätze, die sich mit Techniken der Emotionalisierung in unterschiedlichen Medienformen auseinandersetzen.99 Was bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt weitgehend fehlt, ist ein Bewusstsein davon, dass nicht primär diese oder jene Präsentations- oder Narrationstechnik Emotionen erzeugt, sondern reagierende Verarbeitungsmechanismen im menschlichen Gehirn, die evolutionär universell in der Spezies Mensch angelegte Bewertungsvorgänge mit deren kulturell bedingten Ausprägungen verbinden.100 Diese Einsicht macht die Auseinandersetzungen mit Präsentationsund Narrationstechniken der Mediengestaltung weder überflüssig noch mindert sie deren Wert, sie erlaubt jedoch einen besseren Nachvollzug des Zusammenhangs von stimulatorischen Ursachen und rezeptiven Wirkungen beim Medienkonsum. Zukünftig werden in der Auseinandersetzung mit Medien auch Wissenschaftsdisziplinen von Bedeutung sein, die ursprünglich keinen gewachsenen Bezug zu diesem Forschungsfeld haben. Der beständig wachsende Zugriff auf die im Gehirn in Form neuronaler Mechanismen angelegten kausalen Verknüpfungen von Stimuli und rezeptiven Reaktionen eröffnen eine neue Analyseebene. Kooperationen mit Neuro-, Kognitions- und Evolutionswissenschaftlern werden in der Zukunft zu den spannendsten Optionen gehören, die Medienwissenschaftler zur Fortentwicklung ihrer Disziplin ergreifen können. Der Versuch, die Medien ohne den Hintergrund der evolutionären Entstehung der menschlichen Psyche zu begreifen, ist so, als wollte man ein Flugzeug verstehen, ohne zu wissen was Schwerkraft ist. Zwar ergibt sich aus dem Wissen um die Erdanziehungskraft nicht automatisch wie ein Flugzeug gebaut ist, aber ohne dieses grundsätzliche Wissen bleibt jede Erklärung regellos, beliebig und unvollständig. In gleichem Verhältnis stehen Mensch-Medien-Interaktionen und stammesgeschichtlich entstandene Wahrnehmungs- und Verarbeitungsmechanismen. Das Phänomen Medien erschließt sich zwar nicht automatisch aus dem Wissen um diese Mechanismen, ohne Berücksichtung dieser Fähigkeiten und Beschränkungen ist ein konsistentes und kausal erschöpfendes Verständnis der Medien und ihrer Nutzung jedoch nicht möglich. Grund für die in der Vergangenheit in beiden Feldern auffallend unterschiedliche Berücksichtigung der naturgesetzlichen Grundlagen ist, dass z. B.
99 Vgl. Brütsch u.a.: Kinogefühle. 100 Vgl. Ekman: Gefühle lesen.
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Ingenieure, die diese vernachlässigen, von ihren Konstruktionen für jedermann ersichtlich abgestraft werden. Der Einsturz einer Brücke ist – positiv gesehen – ein konstruktives Feedback, das für kultur- und medienwissenschaftliche Ansätze so nicht existiert. Theoretische Entwürfe zur Wahrnehmung und Wirkung von Medien, die der biologischen Beschaffenheit der Spezies Mensch nicht ausreichend Rechnung tragen, können als geschriebene oder gesprochene Texte ihre Empfänger erreichen, ohne dass diese Mängel einen Personenoder Sachschaden verursachen. Um es salopp zu sagen: Das Ausblenden der Beschaffenheit des Menschen hat keine offensichtlichen Folgen und wird nicht bestraft. Ein wirkliches Understanding Media, wie Marshall McLuhan101 es einst im Titel führte, erwächst vor diesem evolutionär medienanthropologischen Hintergrund nicht nur aus dem geistes- und kulturwissenschaftlichen Blick auf Medien, sondern gleichfalls aus einer bis vor Kurzem nicht möglichen transdisziplinär-empirischen Verfolgung der medienwissenschaftlich alten Frage, was machen Menschen mit Medien? So vielfältig Rezeptions- und Handlungsweisen sind, so universell sind die Verarbeitungsstrukturen die diesen zugrund liegen und so unausweichlich ist deren Einfluss auf die Dynamik der Mensch-Medien-Beziehung. Die Integration neuro-, kognitions- und evolutionswissenschaftlicher Ansätze in die Auseinandersetzung mit den zentralen Kommunikationsmechanismen moderner Gesellschaften führt Geistes- und Naturwissenschaften an einem Brennpunkt von fachlichem wie öffentlichem Interesses konstruktiv zusammen. Wer Medien- und Informationsgesellschaften und damit die Wahrnehmung, Nutzung und Wirkung von Medien verstehen will, kommt nicht umhin, dem biologisch-evolutionär entstandenen Akteur dieser Phänomene und dessen kognitiver Ausstattung zumindest einen Teil seiner Aufmerksamkeit zu widmen.
101 Vgl: McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media.
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Brothers, Leslie 284 Brown, Donald E. 324 Brown, Peter 97 Brüne, Martin 280 Bruner, Jerome 42 Brütsch, Matthias 328 Bryant, Jennings 24, 240, 300, 302, 305 Buddemeier, Heinz 94 Bülthoff, Heinrich 167 Burton, Richard 278 Busch, Wilhelm 72 Buss, David 16, 206, 217, 280, 314, 318, 321, 325 Byrne, Richard W. 99, 101 Cahill, L. 129, 286 Calvin, William H. 99 Campbell, Anne 90, 304, 321 Campbell, Joseph 208, 228, 266 Campbell, Lorne 128, 265 Camus, Albert 315 Cantril, Hadley 36 Carroll, Joseph 202, 219, 315, 316, 319 Carroll, Noël 220 Castelli, Fulvia 276 Castells, Manuel 319, 320 Castronova, Edward 307, 319, 320 Centerwall, Brandon S. 65, 69 Chabris, Christopher F. 139 Changizi, Mark 169 Charles II. 178 Charters, Werrett Wallace 59 Chomsky, Noam 17 Chouchourelou, Arieta 232 Cooper-Chen, Anne 46 Cosmides, Leda 16, 90, 92, 108, 111, 112, 115, 143, 206, 217, 227, 266, 275, 321 Crawford, Charles 86 Crawley, Susan 211 Crews, Frederick 312 Cummins, Denise 321 Cuvier, George 103
361
Medien – Gehirn – Evolution
Daguerre, Louis Jacques Mandé 122 Dale, Edgar 59 Damasio, Antonio 13, 14, 93, 123, 124, 126, 130, 131, 136, 151, 206, 207, 209, 230, 295, 298, 299, 319, 324, 327 Dante 47 Darwin, Charles 23, 72, 82, 83, 90, 91, 94, 104, 204, 249, 324 Davis, Barbara L. 321 Dawkins, Richard 159 Deaner, Robert O. 218 Dennett, Daniel C. 80, 81, 110, 119 Descartes, Rene 78, 80, 324 Desmond, Adrian 91 Deuber-Mankowsky, Astrid 275 Devlin, Keith 270 Diamond, Jared 94, 95, 96, 104, 317 Disney, Walt 275 Dissanayake, Ellen 203, 208 Dixit, Avinash K. 101 Dombrowsky, Wolf R. 36 Driver, Jon 214 Dunbar, Robin 100, 107, 206, 218, 279, 281, 282 Durkheim, Emil 20 Dyson, Esther 319 Eder, Jens 252 Edey, Maitland 105 Edingshaus, Anna-Lydia 210 Eibl, Karl 202, 312 Eibl-Eibesfeld, Irenäus 128 Ekman, Paul 136, 208, 227, 229, 230, 239, 287, 328 Engel, Andreas K. 153 Engelien, Almut 188 Ennemoser, Marco 54 Erk, Susanne 126, 132, 153 Fahle, Manfred 143, 144, 210, 312 Faulstich, Werner 27 Felser, Georg 223 Festinger, Leon 39 Fiebach, Christian 207, 250 Fitzek, Herbert 213
362
Fodor, Jerry 112, 157 Fowles, Jib 45, 70, 71 France, Anatol 103 Frank, Georg 136 Freud, Sigmund 45, 70, 77, 134, 212 Frey, Bruno S. 46 Frey, Siegfried 213, 299, 327 Friederici, Angela D. 189 Friedman, David 322 Frith, Uta 109, 118, 151, 320, 326 Früh, Werner 199, 241, 242, 243, 244, 312 Funk, Jeanne B. 65 Gangestad, Steven W. 99, 212 Gaudet, Hazel 37 Gauthier, I. 170 Gazzaniga, Michael S. 206, 272 Gegenfurtner, Karl R. 137, 156, 167, 168, 169, 179, 185, 210, 224, 226 Gehlen, Arnold 73 Gehring, Walter 104 Gerbner, George 43, 288, 290, 291, 293 Gethmann, Carl Friedrich 312 Geyer, Christian 85 Gigerenzer, Gerd 106, 115, 130, 223, 233 Gitlin, Todd 34 Gladwell, Malcolm 277, 326 Glaser, Peter 320 Glasersfeld, Ernst von 51 Glassner, Barry 64 Goethe, Johann Wolfgang von 28 Goldenberg, Georg 170, 171, 224 Gopnik, Alison 111, 224, 317, 318 Gordon, Larry 285 Gottschall, Jonathan 316 Gould, Stephen Jay 103 Grammer, Karl 323 Grandin, Temple 113, 277 Greenfield, Susan A. 79, 107, 145, 324 Gregory, Richard L. 141, 162, 163, 164, 213, 271, 312, 325
Anhang: Personenregister
Grodal, Torben 202, 208 Groebel, Jo 300 Groeben, Norbert 34, 85 Grondin, Jean 50 Gutenberg, Johannes 122 Haarmeier, Thomas 155, 162, 179, 210 Häfner, H. 29 Hagen, Edward H. 98, 106, 293 Hancox, Robert J. 53 Hasebrink, Uwe 249, 288 Haselton, Martie G. 321 Hasson, Uri 310 Hauser, Marc D. 90, 198, 276 Hediger, Vinzenz 187, 252, 253, 326 Hegerl, U. 29 Heider, Fritz 276 Heinrich IV. 180 Hejl, Peter M. 51, 87, 155, 166, 317 Hellwig, Albert 30 Hermelin Beate 277 Herrmann, Christoph 207, 250 Hertwig, Ralph 138 Herzog, Herta 39 Hesse, Friedrich W. 41, 42, 43, 121, 190, 191, 192 Hickethier, Knut 60 Hirschfeld, Lawrence 112 Hoffman, Donald D. 108, 154, 156, 157, 160, 162, 163, 167, 168, 170, 176, 181, 188, 199, 210, 213, 250, 312 Hoffmann, Stefan 33 Homer 28 Horton, Donald 40, 215, 290, 294 Hubl, Daniela 279 Huesmann, Rowell L. 60, 62 Hug, Klaus 115 Huizinga, Johan 323 Hume, David 270 Ilg, Uwe 163 Jäckel, Michael 34, 49, 288, 291 Janssen, Herbert 64 Jegen, Reto 46 Johanson, Donald 105
Johansson, G. 232 Johnson, Steven 56 Jourdain, Robert 98, 185, 186, 325 Joy, Leslie Anne 62 Kafka, Franz 105 Kämper, Günter 133 Kanazawa, Satoshi 191, 294, 319 Kandel, Eric 269 Kant, Immanuel 72, 270 Kaplan, Hillard S. 99, 212 Kappeler, Peter 91 Karnath, Hans-Otto 152, 206 Kast, Bas 146, 158, 159 Katz, Elihu 46, 301 Keil, Frank 110 Keller, Matthias 189 Kempermann, Gerd 145 Kerkhoff, Georg 174 Kessler, Henrik 124, 126, 132, 156 Kilgallon, Sarah J. 283 Klauser, Raimund 52 Klin, Ami 197, 277, 310 Knight, Chris 193 Knobloch, Silvia 71, 266 Koch, Manfred 60 Krebs, Dennis 321 Kuhn, Thomas S. 316 Kulešov, Lev 35, 271 Kumar, Keval 218, 288 Kummer, Hans 99 Kunczik, Michael 30, 48, 70 Kurzban, Robert 321 Kurzweil, Ray 308, 319 Lamarck 90 Lasswell, Harold 35 Lazarsfeld, Paul F. 37 Lazarus, Richard 233 LeDoux, Joseph 79, 121, 125, 126, 127, 134, 207, 213, 216, 225, 233, 326, 327 Lefèvre, Wolfgang 90 Leffelsend, Stefanie 34, 44, 61, 62 Leschke, Rainer 52 Lessing, Gotthold Ephraim 285 Lettvin, J. Y. 106
363
Medien – Gehirn – Evolution
Lewin-Koh, Nicholas 50 Locke, John 17, 33, 324 Logothetis, Nikos K. 172 Lorenz, Konrad 45 Ludwig, Hans-Werner 64 Luhmann, Niklas 317 Lukesch, Helmut 47, 48, 56, 58, 67, 69, 70 Lumiere, Auguste Marie Louis Nicolas und Louis Jean 122 MacDonald, John 250 MacNeilage, Peter F. 321 Malthus, Thomas 91 Mangold, Roland 308 Markowitsch, Hans J. 18, 286 Matisse, Henri 161 McCombs, Maxwell 52 McGurk, Harry 250 McLuhan, Marshall 47, 307, 323, 329 McQuail, Denis 60 Merten, Klaus 28, 30, 33, 35, 36, 59, 65, 66, 69 Metzger, W. 213 Metzinger, Thomas 124, 277 Meyen, Michael 241 Michelangelo 87 Michotte, Albert 271 Mikos, Lothar 199 Mikunda, Christian 41 Milinski, Manfred 249 Miller, Laurie S. 62 Miron, Dorina 240 Monaco, James 271 Moore, George Edward 85 Moore, James 91 Motluk, Alison 273 Mozžuhin, Ivan 271 Müller, Hermann 139, 212, 213 Münsterberg, Hugo 75 Myrtek, Michael 55 Nalebuff, Barry J. 101 Nass, Clifford 125, 190, 194, 195, 196, 216, 228, 268, 310, 315, 327 Nathans, Jeremy 12 Negroponte, Nicholas 308
364
Neuberg, Steven 321 Neuweiler, Gerhard 99 Newton, Isaac 168 Nichols, Mike 278 Nieding, Gerhild 42 Nietzsche, Friedrich Wilhelm 77, 101, 102 Noelle-Neumann, Elisabeth 52 O’Connor, Barbara 303 Oakley, Kenneth P. 99 Ohler, Peter 42 Öhman, Arne 128, 227 Parsons, Thomas S. 325 Pascal, Blaise 136 Paul, Andreas 136 Pavlov, Ivan Petrovitch 35, 269 Penzlin, Heinz 224 Perron, Bernard 320 Pfeiffer, Ludwig 75, 76, 308 Phillips, David P. 29 Phillips, Hellen 212 Pinel, John P. J. 140, 226 Pinker, Steven 17, 73, 77, 86, 109, 118, 189, 194, 207, 208, 226, 240, 314, 315, 317, 319, 324 Platon 28 Pleßner, Helmuth 73 Pöppel, Ernst 210 Popper, Karl 32 Postmann, Neil 43 Preuss, Todd M. 96, 100 Pritzel, Monika 137 Pruys, Guido 64 Pudovkin, Vsevolod Illarionovich 35, 271 Ramachandran, Vilayanur 15, 79, 144, 146, 152, 178, 209, 211, 273, 296, 297, 313, 314, 320 Reeves, Byron 125, 190, 194, 195, 196, 216, 228, 268, 310, 315, 327 Reston, James 47 Richerson, Peter J. 324 Rieger, Stefan 77, 81, 82, 312 Roberts, Donald F. 35 Rojas, Raúl 148 Romer, Alfred Sherwood 325
Anhang: Personenregister
Röser, Jutta 29 Rössler, Patrick 52, 64 Roth, Gerhard 76, 77, 79, 96, 104, 111, 117, 145, 146, 148, 151, 154, 155, 159, 161, 165, 179, 199, 206, 210, 214, 217, 224, 234, 250, 255, 266, 267, 268, 295, 314, 319, 324, 327 Rötzer, Florian 56 Rubin, Alan M. 46, 300 Rühle, Angela 303 Ruppertsberg, Alexa 167 Rusch, Gebhard 18, 35 Sacks, Oliver 113, 152, 169, 188, 213, 277, 324 Salber, Wilhelm 213 Salmon, Catherine 174 Sandbothe, Mike 33 Sartre, Jean-Paul 315 Savage-Rumbaugh, Sue 118 Schanze, Helmut 94 Schenk, Michael 34, 48, 49 Schiller, Friedrich 323 Schmidt, Robert F. 163, 207 Schmidt, Siegfried J. 38, 193, 229 Schmidtke, A. 29 Schnider, Armin 146 Schramm, Holger 34, 35, 249, 288, 294 Schramm, Wilbur 35, 37 Schrenk, Friedemann 102 Schwab, Frank 83, 84, 117, 125, 202, 230, 253, 315, 319, 322, 326 Schwan, Stephan 41, 42, 43, 121, 190, 191, 192 Schwender, Clemens 87, 202, 219, 223, 232, 315, 319, 321, 327 Seurat, George 163 Shakespeare, William 113, 277 Shaw, Donald 52 Shoemaker, Pamela 202, 208, 219, 323 Silk, Joan B. 95, 97, 103, 281, 315 Simmel, Marianne 276 Simmons, Leigh W. 283 Simons, Daniel J. 139
Simpson, Jeffry A. 128, 265 Singer, Wolf 79, 80, 107, 148, 154 Skinner, Burrhus F. 36 Smith, Murray 249, 253, 319 Snow, C. P. 18, 75, 309, 310 Sokal, Alan 51 Spangenberg, Peter M. 33 Spencer, Herbert 91 Sperber, Dan 112 Spitzer, Manfred 22, 43, 54, 59, 62, 63, 65, 69, 84, 107, 110, 129, 137, 138, 145, 146, 149, 150, 153, 154, 168, 170, 171, 173, 174, 175, 176, 180, 181, 184, 187, 189, 190, 219, 229, 285, 318 Stephan, Achim 18, 308 Steven, Peter 285 Stiehler, Hans-Jörg 242 Stoerig, Petra 210 Stollwerk, Hans J. 322 Suckfüll, Monika 58, 213, 223 Tan, Ed 245, 252, 256, 270, 286, 325 Taylor, Elizabeth 278 Taylor, Larimie D. 60 Thier, Peter 163, 206 Todd, Peter M. 106, 130, 223, 233 Tomasello, Michael 14, 15, 82, 83, 84, 95, 96, 102, 109, 119, 120, 121, 184, 206, 224, 273, 312, 318, 324 Tooby, John 16, 90, 92, 108, 111, 112, 115, 143, 206, 217, 227, 266, 275, 321 Traue, Harald C. 124, 126, 132, 156 Treml, Alfred K. 326 Trepte, Sabine 71 Tröhler, Margrit 326 Turkle, Sherry 308, 319 Uhl, Matthias 218, 281, 288, 325 Vincent, Jean-Didier 143 Vogler, Christopher 266, 285, 320 Voland, Eckart 84, 281, 315, 323 Vollbrecht, Ralf 54 Vollmer, Gerhard 67, 155
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Medien – Gehirn – Evolution
Vorderer, Peter 34, 35, 40, 71, 215, 242, 259, 266, 294, 320, 322 Vowinckel, Gerhard 87 Vygotskij, Lev Semënovic 84, 310 Waal, Frans de 234, 275, 319, 321 Wagemans, Johan 271 Walter, Henrik 18, 126, 132, 153, 283, 308 Wason, P. C. 113 Watson, John B. 35 Wehner, Rüdiger 104 Weimer, Jonathan 92 Weinberg, Steven 208 Weinert, Friedel 50 Wells, Orson 36 Welzer, Harald 18, 77, 78, 315 Weniger, Dorothea 152 Wernicke, Carl 151 Whiten, Andrew 101 Whiten, Pascal 99
366
Williams, Tannis MacBeth 222 Wilson, David Sloan 316 Wilson, Edward O. 16, 102, 117, 265, 310, 314, 315, 321 Wingert, Lutz 78 Winterhoff-Spurk, Peter 41, 43, 45, 61, 70, 122, 161, 178, 197, 244 Wittgenstein, Ludwig 84, 205, 310 Wohl, Richard R. 40, 215, 290, 294 Wolf, Mark J. P. 320 Wulff, Hans J. 244, 245 Wuss, Peter 228, 242, 256 Zeki, Semir 161, 207 Ziegler, W. 29 Zihl, Josef 165, 174, 175, 177, 210 Zillmann, Dolf 24, 27, 46, 126, 242, 259, 300, 302, 305, 320, 326
Sachregister 101 Dalmatiner 221 Abstumpfung 62 Ackerbau 102, 104 Adaptation 91, 102, 321 Adrenalin 128, 134, 213, 216 Affekt 125, 242 Affen 12, 93, 95, 100, 128, 133, 154, 166, 172, 184, 193, 198, 218, 316, 321 Afrika 95, 97, 103 Aggression 44, 48, 62, 70 Aggressivität 63, 222 Akteure 28, 40, 75, 105, 120, 222, 251, 275, 276, 277, 278, 279, 280, 285, 287, 295, 296, 303, 322 Aktivität 55 Alarmzentrum 127 Alexie 175 Alkohol 113, 125 Allokation 46 Alltag 21, 38, 39, 41, 60, 73, 116, 123, 132, 139, 173, 184, 225, 237, 238, 257, 259, 277, 288, 301, 310 Alltagspsychologie 322 Altertum 241 Altweltaffen 95 Ambivalenzthese 44 Amnesie 169 Amoklauf 31 Amusie 190 Amygdala 127, 130, 133, 135, 165, 216, 286, 297 An Essay Concerning Human Understanding 17 Analyse 81, 173, 188, 201, 221, 308, 322, 328 Anatomie 104, 105, 120 Angst 41, 127, 128, 132, 135, 197, 207, 216, 225, 227, 237, 249, 255, 276, 278, 292 Angstlust 42 Annenberg School of Communication 291
Anpassung 11, 16, 20, 23, 73, 83, 91, 93, 102, 105, 107, 108, 117, 119, 121, 124, 135, 154, 169, 173, 179, 185, 190, 196, 199, 206, 217, 224, 225, 226, 237, 245, 246, 249, 269, 284, 292, 319 Anthropologie 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 31, 32, 72, 73, 74, 75, 76, 78, 80, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 100, 110, 192, 196, 199, 201, 225, 237, 307, 314, 321, 323, 324, 325 Antizipation 301 Arbeitgeber 115 Arbeitnehmer 115 Art 90, 92, 94, 101, 105 Artefakt 110, 256 Arttypisch 106 assoziativer Kortex 145, 161, 210, 211, 215, 254, 295 Ästhetik 18, 207, 208, 253 Atemfrequenz 55, 62 Atemzentrum 145 Äthiopien 97 Attraktivität 205, 217, 220, 236, 238 Attrappen 202, 223, 232, 233, 234, 235, 238, 239, 327 Aufklärung 55, 123, 318 Aufmerksamkeit 21, 22, 23, 40, 48, 56, 64, 65, 89, 128, 136, 137, 138, 140, 141, 173, 192, 204, 212, 213, 214, 215, 217, 218, 219, 220, 229, 231, 235, 239, 240, 244, 245, 246, 254, 260, 265, 267, 269, 274, 276, 279, 280, 282, 284, 285, 288, 289, 293, 295, 303, 319, 326, 329 Aufmerksamkeitssteuerung 22, 217, 238, 245, 247, 253 aufrechter Gang 97 Auge 93, 155, 157, 161, 162, 165, 224, 234
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Medien – Gehirn – Evolution
Augenbewegung 163, 178, 179, 183, 197, 278, 342 Ausfallerscheinungen 213, 226 Ausgrabungen 97 Auslöser 43 Aussagen 50, 58, 86 Außenohr 181 außersinnliche Wahrnehmung 211 Aussterben 94 Australopithecus 95 Autismus 113, 194, 197 Autisten 113, 139, 197, 277, 278, 279 Automatismen 21, 212, 229 autonomes Nervensystem 299 Axon 148 Baby 111, 173, 231, 318 Bakterien 94, 223 Bálint-Holmes-Syndrom 214 Balken 272 Barney 275 Basalganglien 145 Basketball 119 BBC 15 Bedeutung 150, 159, 160, 212, 219, 230, 232, 318 Bedrohung 140, 259 Bedrohungspotential 291 Behaviorismus 16, 21, 35, 36, 82, 123, 321, 324 Belohnungssystem 135, 189 Benutzeroberfläche 157, 160, 176 Bereitschaftstheorie 128 Bericht für eine Akademie 105 Besitz 40 Besucherzahlen 315 Betablocker 129 Betriebssystem 198 Beutefangverhalten 106 Bewegtbildmedien 22, 59 Bewegung 17, 52, 138, 145, 146, 155, 162, 170, 179, 181, 182, 194, 196, 229, 250 Bewegungsapparat 116 Bewertung 189, 195, 201, 202, 219, 229, 245
368
Bewertungsmechanismen 124, 130, 203, 226, 229, 233, 235, 236, 237, 238, 239, 240, 253, 256, 289, 293, 296 bewusst 17, 21, 127, 134, 141, 177, 189, 216, 226, 247, 254, 255, 288, 289, 292, 293, 300, 301, 308, 326 Bewusstsein 11, 46, 78, 82, 110, 125, 126, 127, 130, 134, 135, 136, 137, 143, 158, 159, 176, 179, 185, 186, 195, 206, 209, 210, 211, 214, 215, 216, 220, 235, 255, 272, 292, 295, 326, 327, 328 Bibel 75 Bild 161, 162, 166, 173, 180, 211, 218, 274, 286, 298 Bildersturm 315 bildgebende Verfahren 11, 15, 160, 167, 175 Bildschirm 44, 139, 196, 198, 211, 215, 249, 250, 267, 276, 290, 296, 297 Bildschirmmedien 43, 48, 55, 56, 66, 69 Bildung 66 Biologie 75, 76, 83, 87, 101, 104, 119, 120, 123, 207, 225, 287, 312, 316 Biologismus 11 Blauwal 94 Bleisatz 122 Blende 162 Blindenschrift 153, 176 blinder Fleck 162, 178, 180 Blindsicht 176, 210 Blockbuster 252 Blumen 117, 128, 227 Blutdruck 55, 62, 213 Bollywood 24, 218, 264, 281 Bonobo 96 Bottom-Up-Approach 308 Breitband 249 Brocazentrum 11, 175 Buch 29, 33, 158, 185, 191, 203, 216, 227, 270, 286
Anhang: Sachregister
Buchdruck 122 Buchstaben 175 bullet theory 35 Bürger 31, 317 Capgras-Syndrom 296, 297, 298 Cerebellum 145 CERN 122 Chemie 81 Chemorezeptoren 156 Chinesisch 175 CNN 76 Cochleariskern 182 Cocktailpartyeffekt 140 Cola 113 Colliculi inferiores 182 Colliculi superiores 183 Comic 122, 283 Computer 16, 33, 88, 96, 108, 122, 195, 210, 227, 237, 253, 324 Computerspiele 31, 33, 48, 56, 70, 249, 275, 320 Corpus callosum 272 culture by nature 84 Das Dschungelbuch 239 Datenverkehr 122 Dehnungsrezeptor 116 Delphine 238 Demokratie 31 Demoskopie 104 Dendrit 148, 149 Denken 16, 31, 47, 49, 74, 79, 82, 90, 101, 110, 127, 151, 288, 308, 318, 324 Denktradition 11 Deskription 86 Determinismus 13, 50, 57, 60, 203, 225 Deutscher Presserat 29 Dias 298 Dichotomie 14, 24, 81, 82, 83, 191, 222, 243, 244, 254, 255, 303, 315 Die Leiden des jungen Werther 28 Dienzephalon 145 Ding an sich 117
Diskurs 75, 310, 315 Display 249 Dispositionen 18, 44, 123, 135, 141, 166, 226, 227, 264, 271, 296, 317, 324 Distanzsinne 249 Disziplingrenzen 11 Dokumentation 63, 235, 243, 282 domain general 112, 115 Dominanz 109 Donald Duck 275 Dopamin 135 downward comparison 40 Drachen 265 Drama 71, 228, 270 Dramatik 18, 327 Dramaturgie 285 dreidimensional 89, 159, 160, 238 Dreieck 166 Dualismus 78, 79, 80, 81 Dummheit 112 Durchblutung 13 DVD 29, 48, 249 E.T. 221 EEA 294, Siehe Environment of Evolutionary Adaptedness Ego-Shooter 320 Eigenschaft 12, 51, 105, 147, 172, 184, 286 Ejakulat 283 Ekel 255, 292 Elefant 107 elektromagnetische Wellen 156 Elektronenhirn 108 Emotionalisierung 328 Emotionen 16, 21, 23, 46, 55, 62, 88, 89, 123, 124, 125, 126, 127, 129, 130, 132, 133, 134, 135, 136, 188, 189, 197, 202, 203, 208, 219, 227, 229, 230, 231, 238, 239, 247, 251, 252, 256, 257, 259, 271, 285, 286, 287, 292, 295, 303, 325, 326, 327, 328 Empathie 125 Empirie 12, 15, 17, 22, 37, 51, 72, 73, 74, 77, 78, 80, 82, 85, 86,
369
Medien – Gehirn – Evolution
87, 113, 143, 195, 197, 198, 202, 206, 221, 228, 274, 297, 323, 329 Endhirn 100, 145 Enkulturation 221 Ente 275 Enterorezeptoren 155 Entropie 94 Entscheiden 132, 133, 136, 229 Entspannung 45 Environment of Evolutionary Adaptedness 106, 108, 173, 227, 265, 293 Epen 228, 265 Epilepsie 272 Epoche 68 Erbgut 12, 92, 119, 314, 325 Erde 94, 96 Erdgeschichte 95, 105, 120, 121 Erie County 37 Erkenntnistheorie 66 Erklärung 12, 21, 24, 27, 31, 38, 60, 82, 83, 90, 104, 187, 196, 208, 211, 247, 313, 315, 328 Erleben 148, 206, 209, 215 Erlebniskontinuum 24, 215, 220, 246 Erwachsene 84, 109, 318 Erziehung 14, 323, 351 Eskapismus 38, 45 Eskimo 287 Ethik 14, 69, 85, 86 Ethnographie 75 Ethnologie 74 Evolution 11, 12, 13, 14, 16, 17, 20, 23, 33, 74, 82, 83, 87, 88, 89, 90, 92, 93, 94, 95, 96, 100, 101, 104, 105, 106, 108, 116, 119, 121, 126, 143, 144, 153, 155, 156, 160, 163, 166, 169, 187, 190, 196, 199, 201, 204, 206, 208, 220, 224, 227, 239, 245, 247, 249, 273, 300, 309, 318, 328, 347 evolutionäre Anthropologie 14, 76
370
evolutionäre Erkenntnistheorie 155 evolutionäre Medienanthropologie 11, 22, 23, 24, 25, 33, 198, 201, 208, 220, 221, 251, 252, 253, 300, 301, 305, 306, 329 evolutionäre Psychologie 16, 112, 166, 266, 304 Existenzialismus 315 Experiment 60, 82, 113, 120, 129, 130, 133, 139, 149, 188, 195, 196, 236, 252, 263 Exterorezeptoren 155 Extinktion 213 Eyetracker 265, 278 Fähigkeiten 85, 206, 207, 217, 218 Falsifikation 12, 32, 73, 233 Farbe 12, 27, 110, 138, 139, 146, 150, 153, 168, 169, 173, 177, 180, 199, 210, 224 Farbenblindheit 152 Farbwahrnehmung 12, 13, 17, 93, 162, 167, 168, 169 Fauna 91 Feedback 135, 201, 329 Fehlschluss 85, 225 Fernbedienung 46 Fernsehen 24, 27, 29, 33, 39, 40, 43, 44, 45, 46, 48, 53, 54, 55, 56, 58, 60, 62, 63, 64, 65, 66, 70, 71, 122, 192, 193, 203, 216, 222, 227, 237, 242, 249, 251, 275, 288, 289, 290, 291, 293, 295, 300, 301, 305, 321, 322 Fett 12, 156 Fiktion 13, 21, 22, 42, 43, 219, 235, 237, 240, 246, 256, 257, 280, 282 Film 24, 33, 41, 58, 60, 61, 62, 128, 139, 140, 158, 162, 189, 192, 197, 199, 202, 203, 216, 218, 231, 234, 244, 249, 251, 252, 253, 254, 255, 256, 257, 258, 259, 260, 261, 262, 263, 270, 271, 278, 281, 286, 288, 315, 325 Filmgeschichte 259
Anhang: Sachregister
Filmklassiker 258 Filterprozesse 223, 227 Fische 83, 84 Fitness 91 Fledermäuse 238 Flora 91 Flores 97 Flucht 38, 42 Fluchtreaktion 128 Flugzeug 328 Fokussierung 19, 56, 137, 138, 140, 204, 205, 212, 214, 220, 227, 240, 246 Formate 56, 63, 301 Fortpflanzung 90, 92, 94 Fossilien 90, 97, 103 Foto 216, 218 Fotografie 60, 122 Fotosatz 122 Fovea 162, 163, 165, 197, 278 Frauen 103 Freizeit 55 Frequenz 182, 185, 187 Frequenzbereich 156 Frontalhirn 138 Frosch 106 Früchte 12, 93 Fuchs 92 Fühlen 249, 287 Fußball 143, 239, 241, 296, 316, 322 Gähnen 198, 289 Geburtstag 68 Gedächtnis 93, 129, 139, 212, 219, 228, 285, 286, 318 Gedankenexperiment 189, 238 Gefahr 14, 22, 85, 121, 127, 217, 218, 260, 262, 264, 265, 290, 292, 315 Gefühle 28, 123, 126, 131, 132, 230, 256, 257, 289, 294, 297 Gegenwart 83 Gehirn 11, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 23, 55, 71, 78, 80, 81, 84, 85, 86, 88, 93, 95, 98, 99, 100, 102, 103, 105, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 115, 116, 118, 119,
121, 123, 126, 129, 133, 135, 138, 143, 144, 145, 146, 148, 150, 151, 152, 153, 154, 155, 157, 158, 159, 161, 162, 163, 165, 167, 168, 172, 173, 177, 179, 181, 183, 184, 187, 189, 191, 196, 199, 204, 206, 207, 209, 211, 212, 214, 215, 216, 217, 224, 225, 226, 232, 236, 239, 245, 246, 251, 253, 255, 264, 266, 269, 272, 277, 281, 286, 292, 293, 314, 323, 324, 326, 328 Gehirnanatomie 93, 100, 125 Gehirnareale 153, 255, 287 Gehirnforschung 17, 74, 84, 85, 206 Gehirngröße 16, 98, 103 Gehirnhälfte 11, 120, 153, 165, 175, 183, 188, 190, 272, 286 Gehirnschädel 98, 101 Gehirnstamm 137, 181, 182, 210 Gehirnvolumen 99 Gehirnwachstum 122, 123 Gehörgang 181 Gehörlose 151 Geist 84, 115, 325 Geisteswissenschaften 15, 17, 19, 25, 67, 68, 74, 75, 76, 77, 80, 81, 82, 86, 88, 201, 307, 308, 309, 310, 312, 316, 329 Geld 120 Gene 13, 14, 82, 86, 95, 96, 120, 207, 209, 281, 314, 317, 325 Genetik 15, 104 Genom 83 Genre 64, 266, 280, 304 Geräusch 140, 182, 189 Geruch 158 Geschichte 15, 82, 83, 88, 95, 121, 123, 219 Geschichtsschreibung 123 Geschlecht 303 Geschlechtspartner 94 Geschlechtsunterschiede 231 Geschmackssinn 158, 219
371
Medien – Gehirn – Evolution
Gesellschaft 52, 58, 69, 83, 85, 221, 240, 242, 309, 317, 321 Gesetze 50 Gesicht 161, 171, 231, 278 Gesichtsausdruck 132 Gesichtserkennung 116, 170, 171, 172, 173, 224, 231 Gesichtsfeld 165, 174, 199 Gesichtsfeldausfall 176, 210 Gesichtsschädel 98 Gestalt 137, 140, 175, 213, 250 Gestaltpsychologie 213, 233, 271 Gestik 194, 227, 278, 279, 287 Gewalt 11, 41, 43, 44, 45, 48, 57, 58, 59, 60, 62, 63, 64, 65, 69, 70, 71, 228, 241, 261, 291, 292 Gewebe 84, 98, 99, 108, 154 Gewohnheit 45 Globalisierung 201 Gorilla 96, 140 Götter 28, 265 Grammatik 11, 17 Großhirn 145 Großhirnrinde 93, 100, 120, 125, 127, 138, 145, 151, 153, 161, 165, 167, 183 Gruppe 218, 235, 281 Gruppengröße 100, 218, 281 Gyrus angularis 175 Gyrus circumflexus 175 Habituation 254, 258 Handeln 13, 14, 16, 29, 31, 40, 47, 65, 88, 125, 130, 134, 139, 195, 197, 201, 211, 212, 217, 222, 224, 229, 235, 250, 256, 307, 318, 322, 324, 329 Handlung 61, 85, 89, 110, 199, 203, 207, 219, 237, 245, 251, 260, 265, 275, 278, 279, 283, 284 Handlungsfähigkeit 21, 289 Handlungsoptionen 106, 115, 225, 230, 245 Handlungsorientierung 253 Handlungsplanung 22, 23, 24, 140, 160, 280, 282
372
Handlungsrelevanz 38, 140, 203, 205, 212, 217, 218, 220, 226, 230, 233, 234, 246, 255, 257, 269, 274, 276, 304, 327 Handlungssteuerung 16, 124, 135, 145, 219, 253, 266, 292 Handlungsstruktur 228 Handy 153, 249 Hardware 108, 154 Haut 12, 169, 298 Hautleitfähigkeit 62, 131, 298 Hautwiderstand 55, 299 Held 228, 259, 265, 266, 275 Hemmung 183 Hermeneutik 49, 50, 51, 81 Herzfrequenz 55, 62, 213 Heuristik 89, 123, 230, 231, 271, 308, 310 High-Concept-Film 252 Hintergrundmedien 29, 288 Hinterhirn 145 Hochstapler 297 Höhe 225 Höhlenbär 107 Höhlenmalerei 123 Hollywood 24, 76, 203, 221, 253, 264, 281 Hominiden 95, 103, 281 Hominisation 120 Homo floresiensis 97 Homo habilis 99 Homo ludens 323 Homo oeconomicus 304 Homo sapiens 18, 23, 80, 88, 93, 96, 97, 102, 105, 118, 126, 143, 154, 160, 214, 221, 235, 265, 284, 315, 325 Hören 23, 98, 117, 144, 151, 154, 155, 180, 184, 186, 187, 188, 189, 190, 193, 210, 224, 249, 268 Hörnerv 181 Hornhaut 162 Horrorfilm 41 HTML 122 Humanismus 55 Hund 269
Anhang: Sachregister
Hunger 271 hypodermic needle 35, 60 Hypothalamus 145 Hypothese 17, 32, 50, 51, 72, 73, 75, 86, 99, 108, 113, 115, 195, 240, 246, 274 Hypothesenprüfung 50 Idealismus 77 Ideologie 315, 318 Illusion 43, 144, 147, 160, 185, 188, 271 Immunsystem 135 Imperativ 89 inattentional blindness 140 Indien 264, 288 indischer Film 264 Individualentwicklung 207 Individualisierung 171 Individuum 85, 87, 88, 119, 121, 124, 126, 127, 141, 203, 207, 218, 221, 225, 227, 309 Industrie 58 Information 18, 24, 45, 132, 138, 205, 212, 223, 224, 225, 226, 235, 240, 241, 244, 245, 246, 269, 288 information overload 138 Informationsbegriff 192 Informationsdefizit 22 Informationsdichte 191 Informationsgesellschaft 19, 25, 27, 138, 199, 307, 315, 316 Informationsmanagement 229, 239, 246 Informationsquelle 169, 173, 278 Informationsselektion 213 Informationsverarbeitung 13, 16, 106, 108, 115, 121, 134, 136, 138, 140, 141, 143, 146, 148, 154, 164, 165, 166, 171, 176, 183, 194, 204, 205, 209, 212, 213, 219, 223, 224, 225, 226, 227, 228, 229, 230, 231, 245, 268, 273, 292, 317, 323, 327 Infotainment 243 Infrarot 117
Inhalt 19, 21, 24, 36, 38, 39, 42, 43, 44, 46, 56, 59, 61, 64, 68, 85, 149, 159, 191, 192, 194, 201, 202, 205, 215, 216, 217, 219, 220, 227, 228, 229, 234, 235, 238, 239, 242, 245, 247, 251, 252, 267, 270, 279, 280, 282, 284, 288, 289, 295, 313, 326 Inhaltsanalyse 218, 263, 266 Inkompatibilität 75 Innenohr 181 Innovation 307 Input 11, 13, 23, 38, 43, 72, 108, 115, 116, 127, 132, 140, 145, 148, 165, 175, 176, 199, 211, 212, 215, 216, 217, 227, 232, 233, 235, 255, 256, 258, 268, 288, 296, 317 Insekten 106 Inszenierung 234, 258, 280 Integration 82 Intelligenz 16, 89, 90, 99, 103, 104, 105, 107, 111, 112, 115, 116, 117, 121, 123, 132, 213, 277, 279, 316, 318 Intensität 29, 39, 55, 185, 203, 219, 234, 235, 238, 258, 260, 264, 285, 289 Intentionalität 120, 196, 197, 275, 276 Interaktion 17, 19, 21, 22, 40, 65, 72, 74, 99, 118, 119, 157, 171, 195, 201, 203, 215, 218, 219, 221, 235, 238, 251, 257, 258, 266, 278, 279, 280, 283, 284, 286, 289, 290, 294, 296, 297, 300, 305, 308, 309, 320, 322, 328 Interaktionspartner 172 Interdisziplinarität 32, 75, 87 Interesse 23, 28, 45, 59, 138, 140, 174, 203, 204, 213, 214, 215, 217, 218, 219, 229, 230, 233, 235, 236, 245, 246, 258, 260, 270, 278, 282, 292, 304, 308, 326
373
Medien – Gehirn – Evolution
Interessensstruktur 24, 304 Interkulturalität 76, 310 Internet 27, 29, 33, 122, 319, 320 Interpretation 162, 168, 186, 187, 233 Introspektion 61, 79, 81, 88, 176, 196, 209, 220, 302 Inuit 287 Invasion from Mars 36 Involvierung 23, 116, 153, 289 Iris 162 Jäger und Sammler 99, 100, 102, 104, 122, 218 Jahrzehnt des Gehirns 15 Jugendliche 58, 63, 71, 222, 275 just-so-stories 202 Kamera 41, 162, 198 Kanada 62, 65, 222 Kanten 166, 210 Kanzi 118 Karte 183 Karten 113 Katharsis 28, 44, 48, 70 Katze 47 Kausalität 14, 54, 67, 71, 74, 81, 83, 126, 143, 201, 205, 206, 208, 220, 251, 264, 270, 272, 273, 287, 303, 309, 313, 326 Kausalstruktur 13, 17, 18 Keilschriften 174 Kenia 97 Kinder 58, 61, 62, 63, 65, 66, 67, 71, 109, 118, 119, 222, 231, 318 Kindergarten 54, 67 King Kong 327 Kino 30, 39, 59, 60, 122, 125, 189, 199, 203, 216, 234, 237, 249, 253, 254, 256, 259, 265, 327 Klang 182 Klassifizierung 160, 219, 243, 276, 295 Klatsch 217, 282 Kleingruppe 203, 204, 217, 219, 260 Kleinhirn 145, 210 Klima 75, 97 knappes Gut 91
374
Kniesehnenreflex 116 Kognition 12, 14, 18, 20, 21, 22, 72, 79, 82, 88, 89, 93, 96, 98, 100, 102, 105, 108, 109, 110, 112, 115, 119, 120, 121, 124, 131, 132, 136, 138, 143, 159, 184, 187, 204, 208, 214, 217, 218, 220, 221, 223, 227, 230, 246, 247, 251, 256, 267, 273, 274, 276, 286, 295, 307, 312, 314, 317, 319, 321, 324, 325 Kognitionswissenschaften 11, 22, 82, 87, 206, 253, 308, 318, 328 kognitive Filmtheorie 252 kognitive Mechanismen 17, 33, 109, 112, 212, 239, 257, 287, 290, 309 kognitive Ressourcen 29 Kognitivismus 202 Kollision 250 Kommunikation 17, 18, 19, 23, 27, 28, 32, 33, 34, 36, 51, 52, 58, 75, 89, 102, 104, 105, 118, 120, 121, 123, 124, 136, 141, 148, 156, 169, 192, 193, 201, 217, 227, 236, 272, 294, 297, 310, 312, 317, 323, 329 Kommunikationszentrum 120 Kompensation 178, 188 Komplexität 11, 19, 20, 56, 58, 100, 107, 109, 176, 183, 207, 210, 211, 221, 252, 279, 281 Komprimierung 274 Konditionierung 35, 36, 269 Konflikt 61, 167, 257, 258, 260, 281, 285, 289, 327 Konformität 52 Konkurrenz 12, 92, 94, 106, 110, 120, 127, 141, 217, 235, 258, 281, 284, 288, 304 Konsens 49 Konservatismus 109 Konsistenz 208 Konstruktion 146, 148, 154, 157, 163, 168, 186, 187, 250, 253, 289
Anhang: Sachregister
Konstruktivismus 51, 79, 117, 146, 155, 159, 169, 177, 180, 184, 189, 193, 233, 234, 250, 266 Konsum 201 Kontinuität 198, 205, 215, 228 Kontinuum 83, 313, 316 Kontrast 164 Kontrastverstärkung 164, 166, 167 Konzentration 137, 139, 234, 235, 258 Kooperation 17, 18, 23, 217, 218, 235, 257, 258, 307, 308, 310, 312, 328 Körper 105 Körperbau 91, 94, 107, 325 Körpergewicht 53 Körperhälfte 213, 272 Körperoberfläche 92 Körpertemperatur 145 Körpervolumen 92 Korrelation 60, 66 Kortex 127, 130, 174, 175, 176, 177, 182, 183, 184, 189, 210, 231, 254, 255, 278, 283, 287, 295, 318 Kreativität 101, 109, 320 Kriminalität 59 Kriminologie 59 Kultfilme 258 Kultivierung 123 Kultivierungseffekt 291 Kultivierungshypothese 43 Kultur 11, 13, 14, 15, 16, 17, 19, 20, 24, 28, 48, 60, 68, 71, 76, 77, 82, 83, 84, 85, 88, 101, 102, 105, 111, 119, 120, 122, 123, 136, 141, 161, 174, 190, 202, 204, 206, 208, 209, 217, 218, 220, 221, 227, 239, 249, 251, 257, 259, 264, 266, 281, 288, 303, 304, 305, 307, 309, 310, 312, 313, 314, 315, 316, 318, 319, 321, 324, 325 Kultur via Natur 14, 84 Kulturfähigkeit 83, 88, 118
kulturübergreifend 208, 218, 228 Kulturübergreifend 266 Kulturvergleich 287 Kunst 15, 68, 87, 169, 241, 249, 256, 309 Kunstgeschichte 15 Lancelot 47 Langeweile 39, 138, 244, 280, 307 Langzeitstudien 53, 62 Lara Croft 275 Läsion 152, 184 Lautstärke 182, 187 Leben 93, 94, 96, 106, 116 Lebensbedingungen 12, 19, 173, 205, 219, 260, 282 Lebensqualität 54 Lebensraum 12, 91, 92, 94, 141, 281 Lebenswelt 11, 13, 14, 18, 25, 41, 82, 83, 117, 155, 159, 191, 207, 213, 220, 234, 283, 293, 303, 310, 316 Lebewesen 11, 15, 23, 90, 91, 94, 148, 172, 175, 214, 223, 235, 255, 280, 323, 326 Leinwand 42, 199, 234, 254, 256, 259, 278, 327 Lernen 14, 16, 17, 19, 43, 44, 54, 60, 61, 83, 85, 86, 102, 105, 109, 110, 111, 115, 118, 123, 135, 149, 153, 206, 220, 221, 231, 269, 291, 305, 307, 320, 325, 326 Lernfenster 109 Lernforschung 115 Lerntheorie 44, 61 Lesen 11, 54, 66, 67, 168, 174, 175, 212 Liebe 59, 228, 256, 259 Liebesfilm 234 Liedschlag 62 limbisches System 126, 127, 145, 189, 217, 286, 297, 327 Linguistik 17, 18, 109, 208 Linse 162 Literatur 29, 47, 68, 83, 202, 312 Literaturwissenschaften 202, 241
375
Medien – Gehirn – Evolution
Locus-coeruleus-System 214 Logik 236 Löwe 107 Lucy 105 Lügendetektor 61 Lust 124 Machiavellian Intelligence 99 Mainstreaming 24, 44, 290, 291, 292, 293 Makrokosmos 51 Malaria 104 Mandelkern 127, 216 Mängelwesens Mensch 74 Manichäismus 316 Männer 103 Märchen 228, 242 Mary Poppins 221 Massenmedien 33, 58, 68, 194, 289, 291 Maus 47, 119, 223, 275 McGurk-Effekt 250 Mechanismen 303, 308, 319 mediale Repräsentationen 21, 217, 289, 295 Medien 11, 13, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 27, 28, 30, 31, 33, 34, 35, 37, 38, 40, 41, 43, 44, 45, 47, 48, 49, 51, 52, 54, 55, 59, 61, 65, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 76, 86, 88, 89, 117, 122, 123, 125, 126, 136, 141, 143, 144, 158, 180, 190, 191, 192, 193, 194, 196, 197, 198, 199, 201, 202, 203, 204, 205, 206, 207, 208, 210, 212, 215, 216, 217, 218, 220, 221, 223, 227, 230, 232, 234, 235, 236, 237, 238, 239, 240, 241, 249, 250, 251, 260, 265, 267, 270, 277, 279, 282, 284, 288, 289, 292, 295, 303, 305, 307, 308, 309, 310, 311, 312, 313, 314, 315, 316, 317, 319, 320, 321, 322, 323, 324, 325, 326, 327, 328, 329, 347
376
Medienanthropologie 73, 74, 201, Siehe evolutionäre Medienanthropologie Medienbegriff 33, 191 Mediengesellschaft 17, 19, 22, 24, 27, 29, 30, 138, 196, 199, 249, 307, 308, 315, 316, 321, 322 Medieninhalte 18, 22, 30, 34, 38, 42, 44, 46, 47, 48, 60, 68, 140, 198, 202, 217, 218, 234, 239, 240, 254, 257, 261, 267, 273, 274, 279, 280, 283, 285 Medienkompetenz 85 Medienkontrolle 30 Mediennutzung 29, 30, 31, 37, 87, 161, 204, 209, 243, 244, 249, 252, 288, 303, 314, 328 Medienpädagogik 43 Medienprodukte 18, 22, 31, 247, 252, 257, 270, 286, 302 Medienpsychologie 121 Medienrealität 190, 191, 193, 216, 263, 293 Medienwahrnehmung 21, 23, 40, 204, 223, 237, 239, 274 Medienwirkung 18, 21, 27, 28, 30, 31, 36, 37, 49, 52, 56, 65, 69, 71, 72, 126, 216, 220, 222, 291 Medienwirkungsforschung 22, 36, 58, 69, 74 Medienwissenschaft 17, 18, 19, 22, 23, 31, 36, 59, 68, 71, 87, 89, 202, 206, 308, 309, 312, 324, 328 Medienzeitalter 294 Medizin 68, 76 Medulla oblongata 145 Mehrfachsehen 257 Meme 81 Mensch 11, 16, 21, 72, 80, 85, 87, 94, 95, 96, 100, 102, 107, 112, 118, 119, 143, 154, 184, 198, 201, 207, 307, 316, 320, 323 Menschenaffen 95, 96, 105, 118, 119, 316 Menschenbild 17, 80, 87
Anhang: Sachregister
Mensch-Medien-Interaktion 13, 19, 199, 205, 207 Metaphysik 318 Methode 49, 51, 66, 69, 79 Methodologisch 233 Mickey Maus 275 Milch 150 Mimik 227, 287 Mindblind 277 Mittelalter 121, 241 Mittelhirn 137, 145, 177 Mittelohr 181 Modell 61, 87, 206, 220, 303, 312, 313 Modellierung 33, 106, 228, 273, 281, 301, 324 Moderator 295 Modularität 17, 84, 112, 113, 152, 167, 169, 170, 174, 176, 185, 188, 278 Module 151, 157, 190 Molekularbiologie 15, 104 monosynaptischer Reflex 116 Monotonie 39 Monster 42, 254 Mood Management 46, 290, 300, 302, 303, 305, 326 Moral 14, 61, 85, 92 Mord 31, 42, 203, 221, 254, 260, 261, 262, 263, 264, 286 Morphologie 12, 325 Motiv 46, 47, 260 Motivation 33, 39, 46, 72, 124, 240, 301 Motoneuron 116 Motorik 88, 99 MTV 76 multifaktorielle Beschaffenheit 222 Muppets 275 Musik 83, 183, 186, 189, 190 Muskulatur 116 Mutation 11, 91, 204 Mutter 129, 180, 296, 297 Mythen 228, 266 Nachkommen 90
Nachrichten 63, 192, 234, 243, 270, 322, 327 Nachrichtensprecher 41, 294 Nahrung 219, 282 Narration 19, 39, 42, 208, 228, 266, 287, 328 narrative Trends 315 Natur 11, 14, 19, 20, 52, 67, 77, 78, 82, 83, 85, 87, 89, 90, 91, 96, 101, 113, 132, 133, 136, 169, 174, 187, 209, 211, 215, 220, 228, 255, 264, 285, 302, 303, 314, 315, 316, 349 Naturalismus 85 Naturwissenschaften 15, 17, 25, 49, 50, 51, 73, 75, 76, 77, 78, 80, 81, 82, 86, 201, 225, 307, 309, 310, 313, 315, 316, 329 Neandertaler 103 Neckerwürfel 88, 159 Neglect 213 Neokortex 100, 281 Nervennetze 149 Nervensignale 23, 116, 167, 177, 181, 183 Nervensystem 93, 106, 107, 144, 148 Nervenzelle 16, 78, 81, 98, 107, 116, 145, 146, 148, 149, 151, 154, 164, 166, 182, 266, 268, 314 Netzhaut 147, 161, 162, 163, 169, 179, 193, 210, 278 Netzwerke 78, 274 Neugier 257, 282 Neuguinea 287 Neurobiologie 74, 77, 79, 85, 309 Neuron 13, 78, 146, 148, 149, 151, 167, 183, 268 neuronale Verarbeitung 11, 93, 165, 223, 230 Neurotransmitter 135, 143 Neurowissenschaften 11, 22, 87, 121, 125, 206, 266, 308, 316, 318, 328 Neuweltaffen 95 Neuzeit 54, 80, 239
377
Medien – Gehirn – Evolution
New Economy 122 New Scientist 160 New York Times 47 nichtmenschliche Lebensformen 276 Normen 85 Nucleus cochlearis 182 nurture through nature 14 Nurture through Nature 315 Nutzen 11, 33, 38, 99, 108, 124, 144, 160, 162, 205, 219, 239, 245, 246, 261, 282, 301, 322 Nutzenansatz 46 Nutzenkalkül 322 Obertöne 187 Objekterkennung 167, 175 Objektintegration 167 Objektiv 162 Objektklasse 171, 173 Ödipuskomplex 135 Ohr 155, 181, 189 ökologische Nische 12, 94, 95, 98, 99, 104 Ökonomie 30, 46, 47, 91, 108, 120, 301, 320, 322 Ökosystem 94, 104 Oktavengleichheit 184 Olivenkomplex 182 Ontogenese 15, 44, 82, 118, 120, 121, 134, 184, 203, 306, 317 Ontologie 15, 78, 79, 196, 197, 208, 255, 295, 324 ontologische Kategorien 110, 196, 197 Orientierung 41, 128, 129, 133, 140, 150, 160, 167, 176, 182, 201, 213, 223, 245, 279 Ortung 182 Output 108, 116, 127, 145, 177, 183, 233 Ozonloch 224 Pädagogik 55, 59, 86 Paläoanthropologie 96, 97, 103, 105 Paläontologie 75, 94, 103 Pan paniscus 96 Pan troglodytes 96
378
Paradigmenwechsel 316, 319 Paradox der Fiktion 244, 245 parasoziale Beziehungen 24, 215, 237, 290, 294, 296, 297, 299 Parasoziale Beziehungen 294 Parasozialität 40, 41, 290, 294, 295 Parietalhirn 137 Partnerwahl 22, 217, 218, 281 Payne Fund Studies 59, 60 Peergroups 54 Penisneid 135 Person 40, 58, 103, 110, 113, 134, 146, 179, 232, 244, 277, 279, 283, 297 Personalisierung 280 Perspektive 115 Pferd 119 Phänomenologie 132 Phänotyp 92, 314 phasisches Antwortverhalten 268 Philosophie 20, 59, 78, 117, 158, 199, 241, 270, 323, 337 philosophische Anthropologie 75 Phi-Phänomen 271 Phobiker 128, 134, 216, 227, 237, 255 Phylogenese 120, 128, 160, 162, 203, 212, 230, 306 Physik 35, 81, 116, 197, 309 Physiologie 12, 13, 54, 55, 62, 80, 92, 98, 117, 134, 147, 156, 268, 284, 309 Physis 61, 83, 85, 112, 134, 209 Pilze 227 Placebo 134 Plastizität 44, 109, 135, 149, 150, 153, 154, 172, 293, 319 Plausibilität 51, 81, 115, 247 Pluralismus 291 Politik 47 Politiker 299, 321 Politikwissenschaften 59 Pons 145 Porno 283 Potential 88, 89, 105, 112, 115, 119, 204, 225, 283
Anhang: Sachregister
Prädisposition 17, 88, 110, 111, 227 Präferenzen 22, 23, 65, 71, 87, 120, 202, 203, 204, 205, 217, 219, 220, 222, 226, 228, 229, 231, 232, 234, 251, 252, 254, 257, 261, 264, 265, 267, 273, 279, 280, 282, 284, 302, 303, 304, 305, 307, 313, 318, 319, 320 Prähistorie 24, 97, 121, 235, 281, 305 Prämisse 208, 327 Präsenz 227, 264, 296 Präsidentenwahl 37 primäre Sehrinde 161, 165, 166, 167 Primaten 13, 98, 99, 100, 102, 104, 109, 118, 121, 169, 218, 281 Primatenphylogenese 93 Print 27 Probabilistisch 58 Probleme 109, 111, 115, 124, 153, 223 Problemspezifität 112, 113 Programm 108, 296 Propriorezeptoren 155 Prosopagnosie 170 Protagonist 28, 260, 264, 280, 285 proximat 33, 226 Prüfbarkeit 50 Psyche 13, 16, 28, 44, 61, 67, 80, 83, 85, 112, 134, 203, 204, 209, 265, 318, 328 Psychoanalyse 42, 134 Psychologie 35, 59, 74, 76, 124, 202, 241 Psychotherapeut 227 Pubertät 109 Puppe 61 Qualia 158 Qualität 201 Quantenphysik 143, 316 Quantität 66, 201, 222 quantitativer Ansatz 53 Quiz 39, 296
Radio 27, 29, 33, 37, 39, 60, 122, 227, 249, 288 Raphe-System 214 Rationalismus 77 Rationalität 132, 194, 216, 217, 235, 247 Ratte 119, 223 Raubtiere 107 Rauchen 54, 58, 67 Reaktion 116 Realismus 50 Realität 37, 39, 62, 156, 190, 191, 193, 198, 199, 205, 215, 216, 234, 236, 239, 256, 261, 263, 293, 319, 327 Reality-Show 321 Redewendung 314 Reduktionismus 14, 83, 313, 315 Reflex 124, 141, 226 Regelextraktionsmaschinen 145, 150 Regisseur 252 Reith Lectures 15 Reiz 23, 126, 133, 137, 179, 185, 194, 205, 210, 268, 309 Reizauswahl 117 Reizverarbeitung 144, 201, 206 Rekonstruktion 12, 13, 33, 50, 81, 87, 89, 97, 116, 159, 186, 190, 205, 209, 212, 272, 285, 289, 302, 324 Relativismus 51 Repräsentation 22, 24, 33, 71, 141, 146, 153, 157, 158, 160, 162, 165, 176, 177, 180, 182, 186, 192, 193, 197, 210, 215, 216, 227, 232, 234, 237, 239, 266, 274, 289, 314, 326, 327 Repräsentationalität 194 Reproduktion 11, 12, 22, 90, 92, 94, 105, 107, 218, 284 Reproduktionsvorteil 261 Ressourcen 91, 92, 94, 121, 137, 140, 212, 223, 245, 246, 276, 281, 282, 286 Ressourcenknappheit 224 Ressourcenverteilung 217, 218
379
Medien – Gehirn – Evolution
Retina 163, 165, 166, 179, 180 Rezeption 19, 201, 205, 253, 259 Rezeptionsforschung 74 Rezeptionsmodell 31, 32, 34, 43, 72, 74 Rezeptionstheorie 22, 74 Rezeptor 149, 157, 163, 177, 181, 210, 224, 225, 268 Rezipient 17, 23, 27, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 40, 42, 43, 44, 46, 47, 66, 87, 202, 203, 209, 215, 216, 217, 219, 235, 236, 238, 240, 244, 246, 254, 255, 256, 257, 259, 263, 265, 266, 267, 270, 279, 282, 283, 289, 290, 291, 294, 302, 303, 309, 319, 326 Rezipientenbefragung 302 Rhesusaffen 128 Riechen 98, 151, 249 Riechhirn 126 Robinsonade 13 Roboter 109, 275 Romeo und Julia 113, 277 Rotkehlchen 236, 237 Royal Society 178 Rückenmark 100, 116, 145 Rückenprobleme 104 Säbelzahntiger 107 Sanktionen 44 Säugetierbauplan 325 Säugetiere 12, 93, 95, 107, 119, 121, 224, 245 Saurier 95 Schach 108, 119, 210, 318 Schädel 98, 107 Schall 181, 186 Schauspieler 231, 252, 294, 295 Scheinwerfer 137 Schimpanse 95, 96, 119, 198, 281, 289 Schlaganfall 213 Schlange 117, 127, 128, 227, 233 Schlüsselkompetenz 54 Schlüssel-Schloss-Prinzip 237 Schmecken 98, 151, 156, 249 Schmerz 124, 226, 237, 287
380
Schnecke 107 Schokolade 282 Schrift 94, 122, 174, 175, 227 Schriftkultur 320 Schule 54, 55, 63, 65, 67 Schundfilm 30 Schweigespirale 52 Schwerkraft 116, 328 Sehen 23, 89, 93, 98, 117, 144, 151, 152, 155, 159, 160, 161, 162, 164, 168, 174, 176, 179, 207, 224, 249, 268, 271 Sehnerv 127, 162, 163, 164, 165 Selbsterkenntnis 19, 201 Selbstfindung 45 Selbstimmunisierung 12 Selbstmord 28, 262, 263 Selektion 11, 20, 21, 23, 83, 91, 100, 105, 107, 108, 140, 164, 177, 204, 217, 246, 266, 273, 294 Selektionsdruck 12, 93, 99, 107, 156, 169, 212, 226, 256, 324 Semantik 11, 18, 76, 79, 81, 233, 309 sensible Phase 109 Sesamstraße 275 Sesshaftwerdung 102 Sex 45, 59 Showmaster 294 Sichelzellenanämie 104 Sinnesorgane 23, 116, 117, 144, 145, 154, 155, 157, 158, 161, 179, 189, 212, 217, 224, 225, 226, 230, 234 Sinnesorganen 209 Sinnestäuschung 166, 185, 294, 300 Skeptiker 85 SMS 153 Soap-Opera 39, 304, 321 social brain 280 Software 108, 154 Sound 189 Sozialbeziehungen 172, 237, 280 soziale Interaktion 280 Sozialgruppe 100
Anhang: Sachregister
Sozialisation 34, 43, 60, 105, 197, 207, 219, 221, 267, 290, 305, 324 Sozialpartner 94, 120, 127, 235, 236, 281, 295 Sozialstruktur 101 Sozialwissenschaften 73 Soziobiologie 166 Soziologie 49, 59, 74, 241 Spannung 45, 71, 203, 286, 292, 327 Speichertechnologie 249 Spekulation 201 Spermien 283 Spezies 16, 19, 24, 72, 83, 88, 89, 92, 94, 100, 104, 107, 115, 118, 119, 120, 136, 160, 171, 193, 198, 204, 207, 214, 219, 224, 225, 228, 237, 244, 245, 246, 249, 253, 260, 281, 284, 318, 325, 328, 329 Spiegelneurone 287 Spiel 61, 241, 316, 323 Spinne 128, 216, 227, 237 Sport 241, 243, 304, 322 Sprache 17, 98, 108, 109, 110, 111, 116, 119, 120, 123, 151, 184, 185, 188, 189, 193, 207, 210, 272, 273, 309, 316, 318 Sprachinstinkt 17, 109 Sprachzentrum 120, 153, 175 S-R-Modell 35 S-R-R-Modell 38 S-R-S-R-Modell 38 Stäbchen 161, 163 Stammbaum 13, 95, 97 Stammesgeschichte 12, 22, 23, 83, 89, 92, 93, 95, 97, 99, 104, 105, 107, 109, 117, 118, 121, 122, 126, 133, 137, 140, 144, 145, 168, 169, 174, 179, 197, 201, 203, 208, 217, 218, 224, 225, 226, 227, 234, 245, 256, 266, 274, 305, 319, 324, 326 Stammhirn 183 Stars 321
Statistik 50, 57, 58, 62, 63, 65, 66, 67, 203, 221, 222 Status 40, 218, 304 Sterben 259 Stimmung 125 Stimulation 39 Stimulus 21, 25, 27, 29, 34, 35, 36, 37, 38, 42, 44, 49, 52, 59, 62, 64, 89, 106, 118, 127, 134, 135, 139, 141, 146, 153, 155, 156, 158, 160, 162, 164, 168, 169, 173, 176, 182, 183, 184, 185, 186, 188, 190, 191, 197, 198, 205, 211, 212, 214, 215, 216, 217, 219, 220, 224, 226, 227, 230, 234, 235, 237, 238, 240, 243, 244, 245, 246, 247, 249, 250, 252, 253, 254, 256, 257, 258, 267, 268, 271, 272, 282, 289, 293, 296, 298, 300, 305, 308, 315, 317, 319, 320, 321, 325, 326, 327, 328 Stimuluskonzentration 234 Stimuluspräferenzen 219, 220 Stimulus-Response 34, 35, 36, 52, 59 Stimulusspezifität 118 Stirb langsam 285 Stirnhirnschädigung 298, 299 Stoffwechsel 94, 98, 108, 117, 124, 282 Stoffwechselkosten 93 Strategie 94 strategisch 12, 22, 115, 140, 165, 171, 197, 217, 219, 224, 235, 245, 257, 258, 266, 276, 280, 288, 320 Strategisch 213, 219, 223, 233 strategische Nachteile 22 Stress 55, 62, 112, 134, 302 Stummfilm 58 Sturm und Drang 28 subkortikal 21, 134, 159, 165, 177, 216, 219, 246, 247, 254, 255, 292, 295, 296, 297, 327 subkortikale Mechanismen 216, 255, 256, 258
381
Medien – Gehirn – Evolution
subkortikale Zentren 165, 215 Sucht 135 Südafrika 65 Superstimuli 234, 235, 236, 253, 258 swiss army knife 112 Symbole 118, 119, 120 Synchronisation 149, 154 Synergie 15, 19, 86, 249, 308 System 94, 109 Tageslicht 224 Tansania 97 Tastsinn 151, 176 Tautologie 27, 323 Technologie 18, 21, 33, 35, 271, 314, 319, 320, 323 Telefon 122 Telencephalon 145 Temperatur 92 Temporallappen 183 Thalamus 137, 145, 161 The Movie Times 261 Theater 254 Theorie 16, 22, 24, 31, 35, 50, 64, 74, 81, 83, 90, 91, 169, 243, 277, 300, 301, 302, 307 Theory of everything 208 Theory of Everything 143 Theory of Mind 277, 279 Tiefsee 94 Tiere 93, 96, 101, 105, 106, 110, 126, 133, 135, 154, 162, 218, 275 Tiger 119, 181 Titanic 238 Todestrieb 135 Tonträger 29 Top-Down-Ansatz 308 Topos 265 Tränen 237 Transdisziplinarität 15, 17, 19, 22, 23, 59, 86, 87, 307, 308, 309, 312, 328, 329 transkraniale Magnetfeldstimulation 16, 170 Trauer 237, 238, 239, 271 Trickfilm 63, 281
382
Trommelfell 181 Überleben 90, 92, 94, 105, 107, 124, 135, 155, 233, 261 ultimat 33, 226 Ultraschallwahrnehmung 238 Umwelt 11, 16, 17, 18, 20, 21, 23, 33, 45, 61, 72, 73, 74, 82, 83, 86, 88, 89, 90, 92, 93, 98, 100, 102, 106, 107, 108, 109, 112, 115, 116, 117, 118, 120, 121, 124, 127, 130, 134, 135, 137, 138, 139, 140, 141, 145, 146, 147, 149, 150, 154, 155, 157, 159, 160, 162, 164, 166, 167, 168, 171, 177, 179, 181, 182, 186, 187, 188, 190, 192, 193, 196, 204, 212, 213, 214, 215, 216, 217, 218, 219, 223, 224, 225, 226, 229, 230, 232, 234, 235, 236, 237, 239, 245, 246, 247, 249, 251, 255, 256, 257, 259, 264, 266, 267, 268, 269, 272, 273, 275, 276, 278, 280, 281, 282, 289, 290, 291, 292, 293, 294, 295, 298, 300, 305, 309, 314, 317, 320, 321, 324, 326 Umweltattrappe 327 Umweltbedingungen 91, 98, 101, 106, 115, 207, 227, 236, 237, 253, 260, 274, 281 Umwelt-Organismus-Schnittstelle 126, 156, 160 Umweltwahrnehmung 22, 244, 254, 298 unbeschriebenes Blatt 17, 231, 324 unbewusst 17, 21, 130, 134, 141, 147, 157, 159, 160, 168, 176, 194, 209, 211, 216, 220, 225, 230, 254, 255, 257, 261, 289, 297, 326, 327 Universalgrammatik 18 Universalien 15, 310, 319, 328 Unterbewusstsein 45 Unterhaltung 18, 24, 34, 38, 39, 42, 45, 98, 124, 205, 228, 239,
Anhang: Sachregister
240, 241, 242, 243, 244, 245, 246, 247, 253, 259, 282, 288, 338 Unterhaltungsindustrie 199, 279 upward comparison 40 Urbach-Wiethe-Krankheit 286 Ursache-Wirkung 27, 86, 273 Ursprungsmythen 13 USA 43, 65, 69, 288 Uses and Gratifications 46, 290, 300 UV-Strahlung 117, 224 Varianz 67, 208, 239 Variationen 91 Veränderung 140, 245, 258, 267, 287, 303 Verarbeitung 85, 143, 150, 153, 155, 159, 163, 173, 176, 180, 188, 193, 199, 205, 207, 209, 210, 214, 215, 220, 224, 233, 253 Verarbeitungskapazität 108, 214, 268, 278 Verarbeitungsmechanismen 11, 20, 21, 24, 38, 85, 88, 113, 118, 125, 145, 151, 158, 159, 160, 178, 179, 186, 187, 191, 196, 199, 201, 202, 206, 211, 233, 247, 255, 259, 267, 283, 289, 296, 300, 314, 317, 325, 326, 328 Verbrechen 62 Verdauung 11, 146 Verhalten 19, 33, 59, 61, 62, 71, 74, 84, 87, 91, 94, 98, 107, 117, 118, 127, 140, 145, 156, 165, 224, 225, 226, 231, 236, 237, 273, 275, 282, 301, 306, 315, 316, 317, 324 Verhaltensdispositionen 20, 31, 44, 300 Verhaltensforschung 100, 166, 214, 236 Verhaltensmuster 40, 135, 173, 264, 321, 322, 323 Verhaltensoptionen 223, 245 Verhaltenspräferenzen 321
Verhaltenssteuerung 106, 107, 112, 116, 130, 137, 140, 141, 160, 179, 180, 201, 205, 213, 230, 237, 239, 273, 325 Verkehrstod 262, 263 verlängertes Mark 145 Vernunft 14, 136 Vertrauen 296 Verwandtschaft 109 Video 29, 48, 249 Vielseher 44, 54, 55, 67, 291, 293 Vigilanz 137 Virtualität 31, 56 Vogel 119, 120 Vokabular 118 Völkerkunde 75, 76 Vom Winde verweht 262 Vorfahren 12, 224, 225, 251, 320 vormedialen Umwelt 22 Wahrheit 199, 250 Wahrnehmung 17, 19, 23, 41, 56, 74, 79, 84, 85, 88, 89, 104, 105, 116, 117, 118, 123, 124, 128, 130, 137, 138, 139, 146, 155, 156, 158, 160, 162, 163, 164, 171, 174, 176, 180, 192, 193, 194, 199, 201, 202, 206, 207, 214, 215, 216, 220, 223, 224, 226, 230, 233, 240, 244, 250, 267, 268, 278, 289, 297, 307, 312, 317 Wahrscheinlichkeit 58, 67, 293 Wal 98, 120 Wärmeverlust 93 Wason Selection Test 113 Webcam 268, 274 Wellenlänge 168, 180 Weltbild 43, 44, 79, 117, 167, 180 Wenigseher 54, 55, 67, 291 Wer hat Angst vor Virginia Woolf 197, 278 Werbung 315 Werk 56, 68 Werkzeuggebrauch 95, 96, 99 Wernickezentrum 11, 151 Werther-Effekt 29 W-Fragen 270
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Medien – Gehirn – Evolution
wichtig-unwichtig 214 Wichtig-Unwichtig 212 Wille 14, 225, 255 Wirbellose 93 Wirbelsäule 145 Wirbeltiere 93, 120, 126 Wirklichkeit 23, 157, 250 Wissen 19, 85 Wissenschaft 16, 17, 43, 58, 65, 79, 84, 86, 93, 123, 143, 223, 308, 309, 310, 325 Wissenschaftstheorie 49, 51, 66, 206 Wissensgesellschaft 25 Wolf 92 Wörter 175, 189, 212, 274 Würfel 57, 66, 89 Wut 287
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Zapfen 161, 163 Zebra 119 Zeichen 168, 192 Zeichensystem 33, 42, 192 Zeichenträger 33 Zeitraffung 258 Zeitschrift 29 Zeitung 29, 37, 191 Zenerkarten 211 Zensur 47 Zivilisation 13 Zucker 12, 156 Zuneigung 271 Zusammenleben 315 zwei Kulturen 18, 309 zweidimensional 89 Zwillinge 314 Zwischenhirn 145, 161, 165
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis Abbildung 1: Der kausale Kontext der Mensch-Medien-Beziehung.................20 Abbildung 2: Die interdisziplinäre Dynamik von Wirkungsforschung, Theorie und Anthropologie..............................................................................32 Abbildung 3: Der Neckerwürfel .............................................................................88 Abbildung 4: Der Wason Selection Test als soziale Aufgabe...........................114 Abbildung 5: Der Wason Selektion Test als logische Aufgabe ........................114 Abbildung 6: Testbild zur Demonstration der konstruktivistischen Beschaffenheit menschlicher Wahrnehmung – Anleitung im Text (nach Kast: Revolution im Kopf, S. 22)........................................................147 Abbildung 7: Schnell lesen und beantworten – eine Demonstration von Bahnungsphänomenen im menschlichen Gehirn (nach Spitzer: Vorsicht Bildschirm!, S. 233) .................................................150 Abbildung 8: Kontrastverstärkung – beide senkrechten Grautöne sind gleich (nach einer Vorlage von Manfred Fahle)...........................................164 Abbildung 9: Gestaltsehen – die menschliche Wahrnehmung generiert Kanten, wo keine sind (nach einer Vorlage von Manfred Fahle) ..............166 Abbildung 10: In der modularen Verarbeitung des Gehirns kommt es zu Konflikten, wenn man versucht die Farben der Worte zügig zu benennen ...........................................................................................................168 Abbildung 11: Der Thatcher-Effekt. In dieser Orientierung erkennt man die Bearbeitungsspuren am Bild. Erst wenn man die Seite auf den Kopf stellt wird die dadurch erzeugte Entstellung deutlich .........172 Abbildung 12: Den blinden Fleck wahrnehmen (Anleitung im Text).............178 Abbildung 13: Die Tonleitertäuschung (nach Jourdain 1998, 307) .................186 Tabelle 1: Die Häufigkeit von Todesarten im echten Leben und im Film...............................................................................................................263 Tabelle 2: Die Bedeutung des Handlungselements Gefahr in Hollywoodfilmen und indischen Filmen.......................................................264 Abbildung 14: Der kausale Kontext der Mensch-Medien-Beziehung – mit Beispielen primärer Zuordnung unterschiedlicher Phänomene. .....311 Tabelle 3: Aussagetypen für medienrelevante Aussagen ...................................313
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Medienumbrüche Sigrid Baringhorst, Veronika Kneip, Annegret März, Johanna Niesyto (Hg.) Politik mit dem Einkaufswagen Unternehmen und Konsumenten als Bürger in der globalen Mediengesellschaft 2007, 394 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-648-9
Albert Kümmel-Schnur, Jens Schröter (Hg.) Äther Ein Medium der Moderne 2008, 404 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-89942-610-6
Rainer Leschke, Jochen Venus (Hg.) Spielformen im Spielfilm Zur Medienmorphologie des Kinos nach der Postmoderne 2007, 422 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-89942-667-0
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Medienumbrüche Annemone Ligensa, Daniel Müller (Hg.) Rezeption Die andere Seite der Medienumbrüche Oktober 2009, 300 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1026-0
Daniel Müller, Annemone Ligensa, Peter Gendolla (Hg.) Leitmedien Konzepte – Relevanz – Geschichte, Band 1 September 2009, 350 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1028-4
Daniel Müller, Annemone Ligensa, Peter Gendolla (Hg.) Leitmedien Konzepte – Relevanz – Geschichte, Band 2 September 2009, 350 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1029-1
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Medienumbrüche Manfred Bogen, Roland Kuck, Jens Schröter (Hg.) Virtuelle Welten als Basistechnologie für Kunst und Kultur? Eine Bestandsaufnahme Februar 2009, 158 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 16,80 €, ISBN 978-3-8376-1061-1
Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hg.) Mediengeographie Theorie – Analyse – Diskussion Februar 2009, 654 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1022-2
Rainer Geissler, Horst Pöttker (Hg.) Massenmedien und die Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland Band 2: Forschungsbefunde Februar 2009, 356 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1027-7
Rainer Geissler, Horst Pöttker (Hg.) Medien und Integration in Nordamerika Erfahrungen aus den Einwanderungsländern Kanada und USA
Ingo Köster, Kai Schubert (Hg.) Medien in Raum und Zeit Maßverhältnisse des Medialen Februar 2009, 320 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1033-8
Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Volker Roloff (Hg.) Surrealismus und Film Von Fellini bis Lynch 2008, 326 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-863-6
Michael Lommel, Volker Roloff (Hg.) Sartre und die Medien 2008, 228 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-89942-816-2
Isabel Maurer Queipo, Nanette Rissler-Pipka (Hg.) Dalís Medienspiele Falsche Fährten und paranoische Selbstinszenierungen in den Künsten 2007, 416 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-89942-629-8
K. Ludwig Pfeiffer, Ralf Schnell (Hg.) Schwellen der Medialisierung Medienanthropologische Perspektiven – Deutschland und Japan
September 2009, 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1034-5
2008, 226 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1024-6
Marcus Hahn, Erhard Schüttpelz (Hg.) Trancemedien und Neue Medien um 1900 Ein anderer Blick auf die Moderne
Nanette Rissler-Pipka, Isabel Maurer Queipo, Michael Lommel, Justyna Cempel (Hg.) Der Surrealismus in der Mediengesellschaft – zwischen Kunst und Kommerz
Februar 2009, 410 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1098-7
September 2009, ca. 270 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1238-7
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