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German Pages 392 [393] Year 2022
J A H R B U C H FÜR GESCHICHTE
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN DER DDR ZENTRALINSTITUT FÜR
GESCHICHTE
JAHRBUCH FÜR GESCHICHTE
Redaktionskollegium: Horst Bartel, Rolf Badstübner, Lothar Berthold, Ernst Engelberg, Heinz Heitzer, Fritz Klein, Dieter Lange, Adolf Laube, Walter Nimtz, Wolfgang Rüge, Heinrich Scheel, Hans Schleier, Wolfgang Schröder Redaktion: Wolfgang Schröder (Verantwortlicher Redakteur), Gunther Hildebrandt (Stellv.), Jutta Grimann, Dietrich Eichholtz, Gerhard Keiderling, Klaus Mammach, Hans Schleier
ISSN 0448-1526
JAHRBUCH 2 4 FÜR GESCHICHTE
AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1981
Redaktionsschluß: 15. April 1980
Erschienen im Akademie-Verlag, DDR-x086 Berlin, Leipziger Straße 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1981 Lizenznummer: 202 • 100/220/81 Gesamtherstellung: Fachbuchdruck Naumburg (Saale) IV/27/14 Bestellnummer: 753 832 6 (2130/24) • LSV 0265 Printed in G D R DDR 2 5 , - M
Inhalt
Dieter Schulte
Die Monopolpolitik des Reichskolonialamts in der „Ära Dernburg" 1906—1910. Zu frühen Formen des Funktionsmechanismus zwischen Monopolkapital und Staat . . . .
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Heinz Lemke
Die Erdölinteressen der Deutschen Bank in Mesopotamien in den Jahren 1903-1911 41
Wallace Morgan
Die Ölpolitik der USA in Mesopotamien nach dem ersten Weltkrieg 73
Wolf gang Rüge
An den Quellen von Erfüllungs- und Katastrophenpolitik. Antikommunismus und Antisowjetismus auf dem Wege nach Versailles 99
Jürgen John
Verbandspolitik und Rechtsentwicklung 1922—1926. Zur politischen Rolle der Spitzenverbände des deutschen Monopolkapitals in der Weimarer Republik 127
Gerhard Fuchs
Die Locarno-Verträge von 1925 und die deutsch-tschechoslowakischen Beziehungen 175
Maria Rothbarth
Grenzrevision und Minderheitenpolitik des deutschen Imperialismus. Der Europäische Minderheitenkongreß als Instrument imperialistischer deutscher „Revisionsstrategie" 1925-1930 . . 215
Adolf Rüger
Die kolonialen Bestrebungen der imperialistischen deutschen Bourgeoisie und ihre Reaktion auf Forderungen nach Freiheit für Afrika 1917-1933 241
Johannes Glasneck
Die Strategie der internationalen Sozialdemokratie und der Februarkampf der österreichischen Arbeiter 1934 . . . .
Hans-Jürgen Arendt
Grundzüge der Frauenpolitik des faschistischen deutschen Imperialismus 1933-1939 283
Manfred Menger
Die Einbeziehung (Finnlands in den antisowjetischen Kriegskurs 1940/41 315
Autorenverzeichnis
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Abkürzungen
BzG GdA IML/ZPA JbfW JfG JGSLE MEW StAD WZ ZfG ZStAM ZStAP
Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 1966 Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin, Zentrales Parteiarchiv Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte Jahrbuch für Geschichte Jahrbuch f ü r Geschichte der sozialistischen Länder Europas Marx/Engels, Werke, 1956 f£. Staatsarchiv Dresden Wissenschaftliche Zeitschrift Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zentrales Staatsarchiv, Merseburg Zentrales Staatsarchiv, Potsdam
Verlagsort ist, sofern nicht anders angegeben, Berlin. Die Werke Lenins werden nach der 40bändigen Ausgabe des Dietz Verlages, 1956-1965, zitiert.
Dieter Schulte
Die Monopolpolitik des Reichskolonialamts in der „Ära Dernburg" 1906—1910. Zu frühen Formen des Funktionsmechanismus zwischen Monopolkapital und Staat
In der rund 30jährigen deutschen Kolonialgeschichte beansprucht die Etappe von 1906 bis 1910, die sogenannte Ära Dernburg, einen besonderen Platz, kennzeichnet sie doch eine wichtige politisch-ökonomische Zäsur in der Entwicklung der direkten Einflußnahme des Monopolkapitals auf den Staatsapparat. Im Mittelpunkt unserer Betrachtung steht die Untersuchung wesentlicher Formen der politischen und ökonomischen Herrschaft des Finanzkapitals in den deutschen Kolonien während der Amtszeit des ersten Kolonialstaatssekretärs des Kaiserreiches und früheren Direktors der Darmstädter Bank Bernhard Dernburg. 1 Vor allem soll versucht werden, durch die Darstellung und Analyse repräsentativer Querverbindungen des Staatsapparates zu einzelnen kolonialen Interessengruppen des deutschen Monopolkapitals — so des Bankkapitals — typische frühe Formen des staatsmonopolistischen Kapitalismus, insbesondere des Funktionsmechanismus zwischen Monopolkapital und Staatsapparat, zu umreißen. 2 1
Bernhard Jacob Ludwig Dernburg (1865—1937) entstammte einer alteingesessenen bürgerlichen Gelehrtenfamilie und erlernte das Geschäft eines Bankiers „von der Pike auf" (Eleve und Korrespondent bei der Berliner Handelsgesellschaft und in dem mit Bleichröder kommanditierten Bankhaus Ladenburg, Thalmann & Co. in New York). Nach der Rückkehr nach Deutschland avancierte der anstellige junge Mann durch die Protektion des „väterlichen Freundes" Georg v. Siemens sehr schnell zum Sekretär in der Direktion der Deutschen Bank, 1889 zum Direktor der „Deutschen Treuhandgesellschaft". Als enger Mitarbeiter von Siemens und Gwinner erwarb er sich durch finanztechnisch geschickte Manipulierungen verkrachter Bank- und Industrieunternehmen bald den Namen eines „Sanitätsrates" in der deutschen Bankund Börsenwelt. Von 1901 bis 1906 war er neben Kaempf und Dr. Rießer einer der Direktoren der Darmstädter Bank. Unter ihm erfolgte ein weiterer Ausbau der Bank, die mit der B. H. G. durch eine Reihe gemeinsamer geschäftlicher Interessen verbunden war. Bereits zu Dernburgs Zeiten machten sich Zeichen einer mangelnden Liquidität bemerkbar, obwohl er noch 1904 eine Kapitalerhöhung um 22 Mill. Mark auf 154 Mill. Mark (damit vierte Stelle der deutschen Großbanken) durchsetzte. Vgl. Schulte, Dieter, Die „Ära Dernburg" (1906—1910). Zum Charakter der Herrschaft des Finanzkapitals in den deutschen Kolonien, phil. Diss. Berlin 1976.
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Vgl. Gutsche, Willibald, Probleme des Verhältnisses zwischen Monopolkapital und Staat in Deutschland vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Vorabend des ersten Weltkrieges, in: Studien zum deutschen Imperialismus vor 1914, Berlin 1976, S. 33 ff. (Schriftenreihe des Zentralinstituts für Geschichte der AdW der DDR, Bd. 47.)
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Dieter Schulte
Seit dem Verlust der Kolonien arbeiten Apologeten des deutschen Kapitals bekanntlich am Versuch der Rechtfertigung und Verteidigung des von den imperialistischen Konkurrenten angegriffenen barbarischen Kolonialsystems. Zu einer „klassischen" Verteidigungsvariante gehört die Hypothese, mit dem Amtsantritt Dernburgs habe eine neue Periode der deutschen Kolonialherrschaft, die „wissenschaftliche" oder „rationelle Ära" begonnen, deren Kernstück eine gesetzlich fixierte staatliche „Eingeborenenschutzpolitik" gewesen sei. In der Kolonialgeschichtsschreibung der BRD ist nach Jahren der Zurückhaltung eine steigende Aktivität spürbar. Für die von bestimmten Kreisen des Imperialismus in der BRD betriebene Politik des Neokolonialismus gegenüber den jungen afrikanischen und asiatischen Nationalstaaten gewinnen politisch-ideologische Fragen zunehmend an Bedeutung. Dies wird deutlich durch eine Reihe von „sachlichen" Arbeiten vorwiegend jüngerer Autoren belegt.3 Einen nicht unbedeutenden Platz in diesen Publikationen zur Geschichte der Herrschaft des deutschen Imperialismus in seinen Kolonien erhielt die „Ära Dernburg" zugesprochen, liegen doch in der Kolonialadministration des Bankdirektors wichtige politisch-ideologische Anknüpfungspunkte der heutigen „Partnerschaftsideologie", wie sie von den Apologeten des Imperialismus gegenüber den jungen Nationalstaaten, übrigens ganz im Sinne des von Willy Brandt geforderten „Ubergangs von der Entwicklungshilfe zur Entwicklungskooperation"4, strapaziert wird.5 Zu einigen Grundzügen der imperialistischen deutschen Kolonialpolitik von der Jahrhundertwende bis 1906/07 Mit dem Eintritt des deutschen Kapitalismus in das imperialistische Stadium änderte sich auch der politisch-ökonomische Stellenwert der deutschen Kolonien für das Finanzkapital. In der Periode der Herrschaft des Monopolkapitals, in der der Kapitalexport hervorragende Bedeutung gewann, die territoriale Aufteilung der Welt beendet war und die Monopolisierung der Weltmärkte durch internationale Trusts begann, erlangte der Besitz an potentiellen Rohstoffquellen und Absatzmärkten eine enorme Bedeutung. Lenin unterstrich dies, indem er feststellte, daß die „Verwandlung der Konkurrenz in das Monopol" eine „der wichtigsten Era
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Zu unserem Zeitraum vgl. vor allem Schiefel, Werner, Bernhard Dernburg 1865—1937. Kolonialpolitiker und Bankier im wilhelminischen Deutschland, Zürich/Freiburg i. Br. 1974. Diese Studie, deren Herausgabe durch die Deutsche Bank gefördert wurde und die Frau Fides Krause-Brewer, Enkelin Dernburgs und Wirtschaftsmoderatorin im BRD-Fernsehen (ZDF), durch persönliches Material bereicherte, unternimmt den krampfhaften Versuch, die deutsche Kolonialpolitik seit dem Jahre 1906 aufzuwerten und den Amtsantritt Dernburgs zu einem „Wendepunkt" (S. 108) zu erheben. Willy Brandt am 1.12.1977 im BRD-Fernsehen (ARD). Vgl. Preiser, Erich, Die Imperialismusdebatte, in: Wirtschaft, Geschichte und Wirtschaftsgeschichte, Stuttgart 1966, S. 355-370. Schiefel behauptet beispielsweise, daß Dernburg nicht einen „ausbeuterischen Imperialismus" vertreten habe, sondern einen „Wirtschaftsimperialismus, der die ökonomischen und menschlichen Interessen und Ansprüche der Eingeborenen in gewissem Maße zu berücksichtigen suchte". Es sei aber keinesfalls richtig, in ihm den Vorläufer einer „post-imperialistischen Entwicklungshilfe-Politik" zu sehen. Schiefel, S. 141.
Monopolpolitik des Reichskolonialamts
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scheinungen — wenn nicht die wichtigste — in der Ökonomik des modernen Kapitalismus" ist. 6 Zwar war man nach wie vor nicht bereit, wesentliche Kapitalien in ein „offensichtlich hoffnungsloses Unternehmen zu stecken" 7 , dazu waren die Profitmöglichkeiten, gemessen an den Balkan- und Asiengeschäften, zu gering, jedoch gedachte man, zumindest einen „Fuß in der Tür zu behalten", um jede Entwicklung in den sogenannten Schutzgebieten von Anfang an zu kontrollieren. Nach der Jahrhundertwende trat zugleich immer deutlicher ein latenter Widerspruch zwischen dem Drang des deutschen Monopolkapitals nach kolonialen Profiten und den Formen und Methoden der imperialistischen Herrschaft in den Kolonien hervor. Dieser Widerspruch, eingebettet in die Auswirkungen der ersten zyklischen Krise des Imperialismus von 1900 bis 1903, führte in den folgenden Jahren zwangsläufig zu einer ernsten, sich ständig komplizierenden politischstrukturellen krisenhaften Situation in der deutschen Kolonialverwaltung. Ihrem Inhalt und ihren Zügen nach war sie gekennzeichnet durch die wachsende Unzufriedenheit vor allem des Bankkapitals gegenüber der schleppenden und, wie man meinte, ungenügenden „wirtschaftlichen Erschließung" der deutschen Kolonien. Als besonders profithemmend erschien diesen Kreisen neben der allgemeinen „Kolonialmüdigkeit" die „einseitige" Konzessionspolitik der Regierung zugunsten des Handelskapitals und bürgerlicher Mittelschichten, als nicht mehr „zeitgemäß" die brutale Politik der physischen Ausrottung und Vernichtung der Kolonialvölker, die zum Versiegen der Hauptquelle künftiger Profite zu führen drohte. Nur mühsam hatte der deutsche Imperialismus durch die blutige Niederschlagung der großen Befreiungsbewegungen in Afrika seine kolonialen Herrschaftsgebiete behaupten und teilweise unterwerfen können. Ein Ausdruck der erbitterten Interessengegensätze war der rasche Wechsel der Kolonialdirektoren im Auswärtigen Amt. Die Kolonialreform hatte denn auch Wilhelm II. am 28. November 1905 in seiner Thronrede zur Eröffnung des deutschen Reichstages im Weißen Saal des Berliner Schlosses als eine der Aufgaben der neuen Sitzungsperiode bezeichnet, wobei er durchblicken ließ, daß er dabei neben dem Bau neuer kolonialer Verkehrswege vor allem an ein selbständiges Reichsamt mit einem Kolonialstaatssekretär an der Spitze dachte. Bülow legte mit dem Etat f ü r 1906 als wesentlichen Teil der geplanten Neuordnung der Kolonialverwaltung in membris et in capite das Projekt eines Reichskolonialamts vor. Trotz der Niederlage im Reichstag gewann sein Plan, einen im kapitalistischen Geschäft erfahrenen und mit allen Wassern gewaschenen Industrie- oder Bankmanager f ü r die Aufgabe zu gewinnen, die steckengebliebene ü
Lenin, W. 1., Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, in: Werke, Bd. 22, S. 201 f. ' Nußbaum, Manfred, Vom „Kolonialenthusiasmus" zur Kolonialpolitik der Monopole, Berlin 1962, S. 134. In der marxistisch-leninistischen Literatur weisen H. Stoecker, H. Drechsler, A. Rüger, J. Ballhaus, H. Loth u. a. überzeugend nach, daß bestimmte Kreise des Bankkapitals von Anfang an oder nach wenigen Jahren Träger der großen Kolonialgesellschaften waren bzw. wurden; vgl. auch Drang nach Afrika. Die koloniale Expansionspolitik und Herrschaft des deutschen Imperialismus in Afrika von den Anfängen bis zum Ende des zweiten Weltkrieges, hrsg. v. Helmuth Stoecker, Berlin 1977, vor allem zu unserem Abschnitt S. 162—165.
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Dieter Schulte
Kolonialpolitik wieder flottzumachen, immer deutlicher an Konturen. Allein bereits seine ersten Versuche stießen auf Schwierigkeiten. Die von ihm in Aussicht genommenen „Männer der Praxis", im Gespräch war u. a. neben Wiegand (Generaldirektor des Norddeutschen Lloyd) auch der einflußreiche Hamburger Senator Justus Strandes, waren keineswegs begeistert und bereit, ihre zumeist florierenden Unternehmen gegen einen wackelnden Direktorensessel in der Kolonialabteilung zu vertauschen. Die überraschende Ernennung des bisherigen Direktors der Darmstädter Bank, Bernhard Dernburg, am 5. September 1906 zum neuen Leiter des Kolonialressorts im Auswärtigen Amt war ein Versuch Reichskanzler v. Bülows, die labile Situation in der deutschen Kolonialverwaltung zu festigen. Mit dem sensationellen Amtsantritt Dernburgs dokumentierte das deutsche Finanzkapital zum ersten Mal in der imperialistischen Ära seine direkte Herrschaft über die Kolonien. Dernburg war der erste prominente Vertreter des deutschen Bankkapitals, der als Minister in eine deutsche Reichsregierung berufen wurde. Mit ihm kam eine profilierte Persönlichkeit der deutschen Börsenwelt an das politische Ruder, die nach Herkunft, Beruf und wirtschaftlichen Interessen auf das engste mit der Berliner Handelsgesellschaft Carl Fürstenbergs verbunden war. 8 Daß es dem Reichskanzler unter Mitwirkung Loebells so schnell gelungen war, einen prominenten Vertreter des deutschen Bankkapitals in das übel beleumdete koloniale Geschäft zu lancieren, hing sicher nicht zuletzt damit zusammen, daß dem dem rechten Flügel des Freisinns nahestehenden Dernburg, Mitglied in fast 40 Aufsichtsräten, der Boden unter den Füßen „zu heiß" geworden war. 9 Die bürgerliche Presse feierte ihn indes als „Sanitätsrat" und Mann der Tat, der den „kolonialen Augiasstall" ausräumen werde. Aber auch unter anderen Aspekten erregte das Avancement des erst 41jährigen Bankiers — „keines Aristokraten, nicht einmal eines Beamten, noch dazu eines Mannes, der den Antisemiten eine Angriffsfläche bot, obwohl er ein Muster an christlichem Bekenntnis war" 10 — beträchtliches Aufsehen. Einen unmittelbaren Schwerpunkt der Tätigkeit des homo novus in den ersten Wochen bildete die völlige Neukonzipierung der amtlichen kolonialen Propaganda. Mit geschickten kapitalistischen Managermethoden initiierte der ehemalige Bankdirektor auf breiter parlamentarischer Front eine großaufgezogene Propagandakampagne, die die Bedeutung der deutschen Kolonien als Rohstoffquellen, AbsatzB
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J. Kuczynski folgt u. E. zu kritiklos der Bülowschen Schilderung der Ernennung: „Dernburg war der erste monopolistische Minister der deutschen Bourgeoisie, und seine Ernennung . . . wurde von ihr als ein großer Erfolg gefeiert. Aber man kann nicht sagen, daß die Beherrschung des Staatsapparates durch die Monopole dadurch verstärkt wurde — es war vor allem ein rein äußerlicher, ornamentaler Erfolg ..." Kuczynski, Jürgen, Zur Soziologie des imperialistischen Deutschland, in: JbfW, 1962, T. II, S. 86. Der Börsenjournalist der „Zukunft", Ladon, amüsierte sich am 15.9.1906 ironisch über den hastigen Abgang Dernburgs und gratulierte ihm, daß er dem Schicksal entronnen sei, die „nächste Bilanz der Darmstädter Bank vor den Aktionären vertreten zu müssen". ZStAP, Pressearchiv der Reichsbank, Nr. 71, Bl. 119—121. Achterberg, Erich, Berliner Hochfinanz, Frankfurt a. M. 1965, S. 214.
Monopolpolitik des Reichskolonialamts
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märkte und Kapitalanlagesphären hochzuspielen versuchte und vor allem die bürgerlichen Mittelschichten als potentielle Zielgruppen zu erreichen trachtete. In seiner Antrittsrede vor dem deutschen Reichstag erklärte er bereits am 28. November 1906 unmißverständlich, daß eine wirtschaftliche Prosperität der Kolonien nur entstehen könne durch „die Begünstigung privater wirtschaftlicher Tätigkeit, sei es von Personen, sei es von Gesellschaften, welche den Boden und die Naturschätze der Kolonien in sachgemäße Bewirtschaftung nehmen". Als Gesichtspunkt sei im Auge zu behalten, „daß die Grundlage, auf der sich wirtschaftliche Gebilde aufbauen, Geschenke, Konzessionen von Seiten des Reiches sind und daß das Privatkapital nur die Befruchtung dieser Geschenke übernimmt. Auf dieser Basis und einer gesunden Erkenntnis, was das Privatkapital an Renten, an Einkunft notwendig hat, werden sich die privatwirtschaftlichen und die fiskalischen Interessen die Hand reichen." In der mit Engagement vorgetragenen programmatischen Rede nahm das Verhältnis zu den kolonial unterdrückten Völkern einen wichtigen Platz ein. Mit Nachdruck wies Dernburg auf den „gewissen Kontakt" der afrikanischen Völker hin, der eine Kontrolle erschwere, und appellierte an die gemeinsamen und „solidarischen" Klasseninteressen der internationalen europäischen Monopolbourgeoisie.11 Die Kolonialpolitik wurde für die Regierung zu dem Instrument, das in dieser Situation am besten geeignet erschien, ihre schwache parlamentarische Position mit einem Schlag zu verbessern, d. h. die einflußreiche Stellung des Zentrums zu beseitigen und eine breite reaktionäre Front gegen die deutsche Sozialdemokratie, den bewußten Vortrupp der deutschen Arbeiterklasse, zu schaffen. Die von Bülow unter maßgeblicher Schützenhilfe Dernburgs provozierte Auflösung des deutschen Reichstages am 13. Dezember 1906 sollte denn auch eine veränderte parlamentarische Kräftekonstellation einleiten. Der Kolonialdirektor wurde im Wahlgeschehen zur „Wahllokomotive" der Regierung, zum „nationalen Trommler" für eine imperialistische Kolonialpolitik und zu einer Schlüsselfigur in der Sammlung der Rechtskräfte. Die Bedeutung und das Gewicht der außerordentlich geschickten, auf alle potentiellen Wählerschichten vor allem auf kleinbürgerliche und Mittelschichten ausgerichteten kolonialpolitischen Demagogie des Exbankiers ist in der Tat nur schwer zu überschätzen. Seine Wahlreden und Vorträge in Berlin, Hamburg, München, Stuttgart, Frankfurt a. M. und Darmstadt im Januar und Februar vor zahlreichem Publikum erwiesen sich als ein wirksames Instrument der Bourgeoisie im Wahlkampfwinter 1906/07. Das Ergebnis der Reichstagswahlen gab der Reichsregierung einen „kolonialpolitischen Blankowechsel, den sie nach Belieben ausfüllen" 12 konnte. Der „Bülow-Block" bildete eine sichere parlamentarische Basis, um die durch " Dernburgs Rede vom 28.11.1906, in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, 11. Leg.Per., 2. Sess., 1905/06, Bd. 5, S. 3960-3969. Später erklärte er sehr deutlich: „Es ist deshalb ein Hauptsatz, daß eine Solidarität der weißen Gemeinschaft der schwarzen gegenübergestellt werden muß ..." Dernburg, Bernhard, Von beiden Ufern, Berlin (1916), S. 57. yl Parvua (d. i. Alexander Helphand), Die Kolonialpolitik und der Zusammenbruch, Leipzig 1907, S. 60.
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Bernhard Dernburg inaugurierte Kolonialpolitik zu sanktionieren. Bis zu seinem Auseinanderfallen 1909 war er ein zuverlässiges Instrument zur parlamentarischen Durchpeitschung aller Kolonialvorlagen, die den deutschen Reichstag in eintöniger, farbloser Regelmäßigkeit passierten. In dieser heterogenen, von Kolonialinteressenten aller politischen Schattierungen und sozialer Schichtung getragenen parlamentarischen kapitalistischen Kolonialpolitik, die von rechts außen bis zum liberalen Freisinn reichte, fehlte nur die deutsche Sozialdemokratie, ein Mangel, der von Dernburg besonders schmerzlich empfunden wurde. Dernburgs demagogische Kolonialpropaganda mit der „Öffnung nach links" war nach britischem Vorbild darauf abgestellt, durch die Phrase von einer vom „ganzen deutschen Volk" getragenen „nationalen" Kolonialpolitik die Arbeiterklasse zu desorientieren und zu korrumpieren. Sie sollte als fügsamer Sozialpartner" ihrer revolutionären Potenzen beraubt und in die bürgerliche Gesellschaftsordnung integriert werden. Mit wohlwollender Unterstützung des Reichskanzlers förderte der ehemalige Bankier besonders eifrig revisionistische und reformistische Strömungen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie, erfolglos, wie es sich zeigen sollte. Die Losung der Vorhut der deutschen Arbeiterklasse „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!" bezog sich auch auf die Kolonialadministration der Jahre 1906 bis 1910. Die parlamentarischen Anklagen eines August Bebel und Georg Ledebour, die prinzipielle und kategorische Ablehnung aller Kolonialvorlagen der Regierung sind historische Dokumente des revolutionären Klassenkampfes der deutschen Arbeiterklasse, die, ebenso wie die leidenschaftliche Verteidigung der Lebensinteressen der kolonial unterdrückten Völker, die im wesentlichen richtige internationalistische Politik, das marxistische Herangehen an den Klasseninhalt der kolonialen Frage bezeugen.13 Dernburgs koloniales Programm. Die Gründung des Reichskolonialamtes 1907 Sechs Wochen nach seiner Amtsübernahme hatte Dernburg in seinem wichtigen Runderlaß vom 17. November 1906 von den Kolonialgouverneuren gefordert: „Zur vorausschauenden Verwaltung des Schutzgebietes ist es erforderlich, ein Programm für längere Zeit — etwa 10 Jahre — aufzustellen, welches den Rahmen bieten soll, innerhalb dessen sich voraussichtlich die wirtschaftlichen und kulturellen Anforderungen bewegen werden..." Wesentlichste Gesichtspunkte seien dabei vor allem: 1. 2. 3. 4.
die Entwicklung des Verkehrs, vor allem der Eisenbahnen; die Hebung und Intensivierung der kolonialen Rohstoffproduktion; die Erkundung und Ausbeutung der mineralogischen Vorkommen; die „Lösung" der sogenannten Arbeiterfrage. 14
Damit hatte Dernburg wesentliche Akzente seiner Politik deutlich gesetzt. la
Vgl. Weinberger, Gerda, Zum antikolonialen Kampf der revolutionären Kräfte der deutschen Sozialdemokratie (1884-1914), phil. Diss. Berlin 1964, S. 121-182. '« ZStAP, Reichskolonialamt (im folg.: RKA) Nr. 767, Bl. 113 f.
Monopolpolitik des Reichskolonialamts
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Während die deutschen Südsee-Kolonien stets am Rande des Blickwinkels des Staatssekretärs lagen, wurden seine politisch-ökonomischen Vorstellungen zweifellos durch die Ergebnisse seiner beiden Afrika-Reisen von 1907 und 1908 präzisiert und die konzeptionelle Erarbeitung seines kolonialen Programms nicht unwichtig beeinflußt. Für den erfahrenen ehemaligen Bankier gehörte die genaue Sondierung des Arbeitsterrains, die Auslotung der vorhandenen Profitmöglichkeiten zu den elementaren und notwendigen Voraussetzungen einer „Bestandsaufnahme". 15 Dies um so mehr, als er auf persönlichen Wunsch Bülows als „privaten Berater" einen Begleiter zur Seite hatte, der diesen Reisen a priori einen gewichtigen ökonomischen Akzent verlieh, nämlich Walter Rathenau, Vorstandsmitglied der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft (A. E. G.), 1902-1907 Geschäftsinhaber der Berliner Handelsgesellschaft (B. H. G.) und Mitglied des Verwaltungsrates der Bank. Am 15. Juli 1907 hatte die „Leipziger Volks-Zeitung" einen wichtigen Aspekt der Reisen hervorgehoben, indem sie unterstrich, daß Dernburg „als ein kapitalistischer Wünschelrutenmann, der im Wüstensande nach Anlageplätzen für das Kapital sucht", nach Afrika ginge.16 Während seines Aufenthaltes in Deutsch-Ostafrika (D. O. A.), vom pompösen Empfang in Daressalam mit Flottenparade, Ehrensalut und Ehrenkompanie bis zu seiner Abreise im Oktober 1907, sammelte der Staatssekretär Eindrücke und Erfahrungen, die seine künftige Haltung gegenüber D. O. A., das er zuvor oft als die wertvollste Kolonie des deutschen Imperialismus bezeichnet hatte, weitgehend bestimmten. Dernburg wie auch Rathenau äußerten sich fortan sehr zurückhaltend über Möglichkeiten neuer Kapitalinvestitionen. Der Staatssekretär sprach sogar von einem „schlechten Land für europäische Experimente". 17 Der viermonatige Besuch Süd- und Südwestafrikas (S. W. A.) 1908, eine Tour über 36 000 Kilometer, übertraf an Bedeutung und Umfang die Ostafrika-Reise bei weitem. In London hatte Dernburg auf der Basis deutsch-britischer Annäherungsversuche zunächst vorsichtig die britische Meinung zu einzelnen kolonialpolitischen Zielen seiner Reise sondiert. Die englische Presse hatte nicht unfreundlich reagiert. Der „Daily Chronicle" brachte am 15. Mai ein längeres Exclusiv-Interview mit Dernburg, der den kolonialen Eisenbahnbau als Hauptmoment seiner Politik bezeichnete. Auf das Verhältnis Deutschlands zu England angesprochen, beteuerte er: „But we are working together in the same t a s k . . . Cooperation, not rivalry, that is my ideal.. ,"18 Die Südafrikareise wurde zu einem Zeitpunkt durchgeführt, als die rezessiven Auswirkungen der Wirtschaftskrise von 1907 bis 1909 Fraktionen des britischen l:
> Rathenau, Walter, Tagebuch 1907—1922, hrsg. u. komm. v. Hartmut Pogge v. mann, Düsseldorf 1967, S. 56. m Leipziger Volks-Zeitung, Nr. 161, 15.7.1907, in: Pressearchiv des ehemaligen landbundes (im folg.: PARL), Nr. 175 F 1, Bd. 1, Bl. 8. " Dernburgs 39seitiger Bericht über die Dienstreise befindet sich im ZStAP, kanzlei Nr. 924, Bl. 99; vgl. auch Rathenaus Denkschrift „Erwägungen über schließung des deutsch-ostafrikanischen Schutzgebietes", in Rathenau, Reflexionen, Leipzig 1908, S. 143-198. IS ZStAP, RKA Nr. 1461, Bl. 59.
StrandReichsReichsdie ErWalter,
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Finanzkapitals kompromißfreudig stimmten. Gerade auf den größten Goldproduzenten, Südafrika, hatte sich die Krise verheerend ausgewirkt. Der Buren-Boom hatte sich schnell verflüchtigt, und seit 1904 waren die Johannesburger Goldminen in eine ernste Depression geraten. Die südafrikanische Gold- und Minenindustrie war auf der anderen Seite traditionell ein Schwerpunkt des deutschen Kapitalexports im subsaharischen Afrika. Im Witwatersrand waren über 500 Millionen Mark deutsches Kapital angelegt. Vor allem die „Hausbank" der A. E. G., die B. H. G., war direkt oder über die A. Goerz & Co., Ltd., den „Swiss Bankverein", führend an den Börsengeschäften mit den Aktien der südafrikanischen Gold- und Diamantengesellschaften beteiligt. Einflußreiche wirtschaftliche Kreise in der Kapkolonie und in Transvaal, die geschäftlich mit dem deutschen Bankkapital verflochten waren, traten seit Jahren f ü r eine engere verkehrsmäßige Verbindung mit dem benachbarten S. W. A. ein. Die erregten Diskussionen um den bevorstehenden politischen Zusammenschluß der ehemaligen Burenrepubliken und der Kapkolonie schufen zusätzlichen politischen Gärstoff. Trotz des eifrigen Bemühens beider Seiten, die Informationsreise als einen „bloßen Erfahrungsaustausch in Verwaltungsangelegenheiten" zu deklarieren, konnte es daher über das tatsächliche politische Gewicht der Reise eines hervorragenden Repräsentanten des deutschen Bankkapitals und Reichsministers in ein politischökonomisches Zentrum des britischen Weltreiches keinen Zweifel geben. Rathenau und Dernburg schlug eine Woge nervöser Spannung und Erwartungen entgegen. Schon am 28. April 1908 hatte der offiziöse Kapstadter „Natal Mercury" unter der Schlagzeile „A German Route to the Rand" die Absichten der stärkeren „Erschließung" des Rand durch das deutsche Finanzkapital ablehnend kommentiert und unterstellt: „We cannot imagine it possible that Lord Seiborne will readily succumb to Herr Dernburg's blandishments in this matter." 1 9 Bezeichnend f ü r die unterschiedlichen Positionen und Interessengegensätze zwischen dem deutschen, britischen und niederländischen Finanzkapital ist die Warnung des deutschen Konsuls Reimer, Pretoria, an den Reichskanzler, einflußreiche Kreise der Kapkolonie sähen mit „Unruhe" der Reise Dernburgs entgegen. Vor allem die Kapkolonie und die Natal-Regierung ständen dem Plan einer Transversalbahn (von Transvaal nach Südwestafrika) ablehnend gegenüber, während sich der Transvaal und die Oranje-River Colony, f ü r die es vorteilhaft wäre, einen Eisenbahnanschluß an S. W. A. zu besitzen, „positiv" verhielten. Der Konsul wies darauf hin, daß die „Anbahnung von Unterhandlungen mit den Transvaal-Geldleuten" wohl möglich sei, „wenn ihnen entsprechende Äquivalente geboten würden und ihnen als Gegengabe f ü r die Bewilligung der Bahn vielleicht ein Entgegenkommen durch Zulassung ihrer Goldaktien an den deutschen Börsen zugebilligt würde". 20 Der Aufenthalt in Johannesburg wurde zum Höhepunkt der Reise, die den Staatssekretär per Eisenbahn, Automobil, Schiff und Wagen vom 2. Juni bis zum Grenzübertritt bei Upington durch alle Südafrika-Kolonien geführt hatte. Die selbst1M
Ebenda, Auswärtiges Amt Nr. 15321, Bl. 20. ® Bericht v. 4. 5.1908, ebenda, Bl. 17-20.
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bewußte Rede Dernburgs auf dem am 22. J u n i 1908 zu Ehren des deutschen Ministers von der Chamber of Commerce im Johannesburger „Carlton-Hotel" veranstalteten Festessen, die den Geist einer stärkeren Zusammenarbeit des deutschen und britischen Finanzkapitals beschwor, f a n d den demonstrativen Beifall der anwesenden diplomatischen Vertreter ebenso wie den der Repräsentanten der Banken und Konzerne. 2 1 Noch deutlicher w a r b der Johannesburger „Star", der die Notwendigkeit einer k ü n f t i g engeren deutsch-britischen Zusammenarbeit bei der „wirtschaftlichen Erschließung" Afrikas u n d bei der Intensivierung des Kapitalexports unterstrich. Mehr als jede andere Zentrale sei Johannesburg, das Zentrum des Goldabbaus, den Plänen des deutschen Staatsmannes v e r b u n d e n : „If t h e leaders of throught and the people of South Africa rise to emergency, we m a y bef ore long find British and German marching . . . together side by side in brotherhood and friendship . . ," 22 Gemessen an dem außerordentlich politisch-ökonomischen Gewicht der S ü d a f r i k a Recherchen fällt der abschließende Teil der Informationsreise durch DeutschSüdwestafrika sichtlich ab. Die Grundzüge der großkapitalistischen Kolonialpolitik gerieten deutlich mit den vielfältigen Profitinteressen der heterogenen kleinbürgerlich-agrarischen Mittelschichten in Konflikt. Auf der Basis seines generellen Mißtrauens vermochte daher Bernhard Dernburg seine Skepsis u n d Ablehnung gegenüber den Plänen der alldeutschen u n d kolonialchauvinistischen Siedlungspolitiker vom Schlage eines Rohrbach, Samassa u n d Liebert k a u m zu verbergen. Der Ex-Bankier war von den in seinen Augen maßlos übersteigerten Forderungen der F a r m e r und Siedler — dazu zählte er vor allem ihre gegenüber den A f r i k a n e r n verlangten Zwangs- u n d Kontrollmaßnahmen — deutlich verstimmt. Er, der noch vor Antritt seiner Ostafrika-Reise 1907 gerade die europäischen Kolonialisten in A f r i k a durch brillante Reden in Euphorie versetzt hatte, erwies sich nach dem Abschluß seiner afrikanischen Recherchen als ein nüchterner monopolkapitalistischer Buchhalter, der keineswegs die wichtigste P r o d u k t i v k r a f t in den Kolonien f ü r die persönlichen Interessen einer Handvoll Europäer, die noch dazu eine völlig untergeordnete wirtschaftliche Bedeutung hatten, zu „vergeuden" gedachte. Auch diese Erkenntnis h a t t e er in Südafrika, so in Rhodesien, deutlich bestätigt gefunden. Unter den strukturellen Maßnahmen des deutschen Imperialismus zur Reorganisation seines kolonialen Unterdrückungsapparates in den J a h r e n 1906 bis 1910 bildete die Konstituierung des Reichskolonialamtes (R. K. A.) zweifellos den wichtigsten Einschnitt. Am 17. Mai 1907 wurde durch kaiserliche Verordnung die bisher dem Auswärtigen Amt unterstellte Kolonialabteilung zu einem selbständigen Reichsamt erhoben und Kolonialdirektor Dernburg zum ersten Staatssekretär dieses Amtes ernannt. 2 3 Das imperialistische Deutschland demonstrierte n u n m e h r offen auch durch die Rangerhöhung seiner Kolonialverwaltung den Gel21
Konsul Frank (Johannesburg) hob in seinem Bericht an Bülow vom 29. 6.1908 die „positive Ausstrahlung" Dernburgs hervor, die als Versprechen auf „bessere Zeiten" enthusiastisch gefeiert worden sei. Ebenda, RICA Nr. 1462, Bl. 77 f. ' a The Star, 23. 6.1908, ebenda Nr. 1461, Bl. 106. 33 Reichsgesetzblatt 1907, S. 2, 239.
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tungsanspruch seiner in die Bülowsche „Weltpolitik" einmündenden Kolonialpolitik. Damit begann eine neue Etappe der „kolonialen Erschließung", die sich in ihren Hauptlinien wesentlich von den vorangegangenen Perioden unterschied. Hauptmerkmale w a r e n die Reorganisation des zentralen und lokalen Zwangs- u n d Verwaltungsapparates, die Neukonzipierung und Intensivierung der gesamten kolonialen Propaganda, die ungeheuer verstärkte Penetration und Ausplünderung der Kolonien u n d der kolonial unterdrückten Völker sowie eine bis dahin in dieser Größenordnung nicht gekannte Konzessionspolitik. Diese „neue" Kolonialpolitik war eindeutig gerichtet auf die völlige Monopolisierung der kolonialen Rohstoffquellen, Absatzmärkte u n d Kapitalanlagesphären vor allem zugunsten der deutschen Großbanken. Der koloniale Verwaltungsapparat des deutschen Imperialismus, der bis zum J a h r e 1914 zu den finanziell aufwendigsten aller kapitalistischen Staaten gehörte, war nicht n u r ein relativ gut funktionierender Unterdrückungsmechanismus gegen alle aufflackernden antikolonialen Befreiungsbewegungen in A f r i k a und der Südsee. Er trug auch mit äußerst geschickten Methoden zur finanziellen Ausplünderung der werktätigen Klassen u n d Schichten des deutschen Volkes bei. Bernhard Dernburg inszenierte als zentrale Maßnahme zur angeblichen Sanierung des Kolonialetats, der stets eine Farce war, einen Börsencoup, der sich als großangelegter Schwindel und Betrug breiter Volksmassen, insbesondere der kolonialenthusiastischen Mittelschichten, demaskierte. Von bürgerlichen Apologeten als „bedeutsamstes" Werk des Kolonialstaatssekretärs gefeiert, war die Kolonialanleihe ein Millionengeschäft f ü r das deutsche Finanzkapital und stand in ursächlicher Beziehung zum Eisenbahnbauprogramm des R. K. A. nach britischfranzösischem Vorbild. Die Emission fiel in eine eigentlich ungünstige Situation an der Börse. Aber Dernburgs Aktivität überrollte geradezu die zaghafte bürgerliche Opposition sowie die zögernde Haltung des Reichsschatzamtes und der Reichsschuldenverwaltung. Ähnlich den Anteilen der „Deutschen Reichs- und Preussischen consolidierten „Staatsanleihe" (Preussische Consols) w u r d e die Kolonialanleihe, deren Placierung auf dem Börsenmarkt ein am 24. November 1908 gebildetes Konsortium von 11 Banken unter der F ü h r u n g der Deutschen Bank übernahm, mit 3V2 Prozent verzinst. Von dem Anleihesoll der J a h r e 1908 bis 1914 in Höhe von insgesamt 283 000 000 Mark w u r d e n fast 245 000 00Ö Mark realisiert, von denen bis zum Jahresende 1919 lediglich 4 300 000 Mark getilgt worden waren. Die Anleiheschuld des Reiches u m f a ß t e am Ende des Rechnungsjahres 1919 etwa 246 Millionen Mark. 2 ' 1 Hunderte Millionen Mark an Volksvermögen waren bis 1910 durch die geschickt inszenierte und skrupellos durchgesetzte koloniale Finanzpolitik Dernburgs, durch verschleierte Umverteilungen in die Taschen der großen Kolonialprofiteure geflossen. Bernhard v. König, ehemaliger hoher Beamter der Kolonialabteilung, dem m a n k a u m anlasten kann, die A u f w e n d u n g e n zu hoch angesetzt zu haben, bezifferte
Vgl. die jährlichen Berichte des Reichsschatzamtes in ZStAP, Reichstag Nr. 1161.
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beispielsweise die Summe, die ä f onds perdu vor allem dem kolonialen Eisenbahnbau von 1908 bis 1910 zufloß, auf r u n d 780 Millionen Mark. 2 5
Der Ausbau der Kolonien zu Rohstoffquellen und Absatzgebieten Für Dernburg w a r die Steigerung der Rohstoffproduktion in den deutschen Kolonien ein komplexes Problem, das den Kapitalexport — besonders den kolonialen Eisenbahnbau — mit einschloß. In seinem programmatischen Vortrag auf dem Deutschen Handelstag am 11. J a n u a r 1907 hob er als Zielpunkte hervor: — Sicherung von Exportaufträgen f ü r die deutsche Industrie; — Erzeugung eines großen Teils von dringend benötigten Rohstoffen, u m die Möglichkeit des Durchbrechens von ausländischen monopolistischen Preiskartellen zu schaffen; — „kräftiges strategisches und taktisches Mittel" bei internationalen Verhandlungen über k ü n f t i g e Absatzmärkte und Handelsbeziehungen. 2 6 Ein erklärtes konzeptionelles Ziel des Kolonialdirektors war der Ausbau der deutschen Kolonien zu Rohstoffquellen, Absatzmärkten und Kapitalanlagensphären. Damit entsprach seine Politik einer dem Wesen des Monopolkapitalismus immanenten Gesetzmäßigkeit, nämlich die Kolonien als strukturell einseitig, ausschließlich auf die Bedürfnisse der imperialistischen Kolonialmacht ausgerichtete bloße Rohstoff- und Agraranhängsel zu behandeln. 1908 modifizierte der Staatssekretär auf Vorwürfe des Zentrums hin seine Zeitvorstellung u n d erklärte, daß es natürlich nicht möglich sei, „zwei oder drei Milliarden Rohprodukte in kurzer Zeit aus den Kolonien zu ziehen", und verwies auf die langjährigen „Kolonialerfahrungen" Englands und Frankreichs. Durch die komplizierte klimatische Situation könne der Reichtum der Tropen zudem n u r durch die A f r i k a n e r selbst gehoben werden. Dernburg forderte deshalb die Entwicklung „geeigneter Machtmittel" und stellte fest: „Kommt das alles untereinander zusammen, so steckt in diesen Eingeborenen die K r a f t , unter weißer F ü h r u n g sich zu solchen Konsumenten u n d Produzenten zu entwickeln, daß . . . die heimische Wirtschaft u n d . . . Industrie daraus dauernd einen großen Nutzen ziehen." 27 Mit dieser Feststellung ist die tatsächliche imperialistische Zielsetzung und das Wesen der „scientific colonisation" oder „colonisation rationelle" deutlich u m rissen. Bernhard Dernburg konnte sich in seiner Handels- und Rohstoffpolitik auf die fast geschlossene Unterstützung durch das deutsche Handelskapital, insbesondere den alteingesessenen hanseatischen Groß- und Überseehandel, berufen. 70
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König, Bernhard v., Die finanzielle Entwicklung der deutschen Kolonien bis zum Abschluß der Ära Dernburg, in: Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialrecht und Kolonialwirtschaft, 1910, 8, S. 600-608. Die Deutsche Bank kassierte bis 1919 135 Mill. Mark für den Bau der ostafrikanischen Zentralbahn und den Verkauf der Ostafrikanischen Eisenbahn-Gesellschaft, die Fürstenberg-Lenz-Gruppe über 133 Mill. Mark für die Eisenbahnprojekte in Kamerun, S. W. A., D. O. A. und Togo. Dernburg, Bernhard, Zielpunkte des deutschen Kolonialwesens, Berlin 1907, S. 37. ZStAF, RKA Nr. 701, Bl. 106.
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Diese Unterstützung reichte bis in die Kreise der exportorientierten Industrie. So erklärte beispielsweise am 24. Januar 1910 der nationalliberale Reichstagsabgeordnete Dr. Stresemann, Syndikus des Verbandes Sächsischer Industrieller und Mitglied des Präsidiums des „Bundes der Industriellen": „Man mag über Dernburg in seiner Stellung zu den Pflanzern denken, wie man will, aber man muß doch zugeben, daß in das Amt ein ganz anderer Geist gekommen ist." 28 Unabhängig vom Kolonialamt hatte bereits seit 1896 das „Kolonialwirtschaftliche Komitee" (K. W. K.) vereinzelte Versuche in den deutschen Afrikakolonien unternommen, die Perspektive einer möglichen Rohstoffgewinnung, vor allem Baumwolle und Kautschuk, zu überprüfen. Hatte das K. W. K. vor der Konstituierung des R. K. A. wesentliche wirtschaftliche Interessen des deutschen Imperialismus direkt verfolgt, so verlagerten sich seit 1907 Verantwortung und Autorität immer mehr. Nicht unerhebliche Mittel wurden vom Staatsapparat bis 1914 f ü r die „Versuchsarbeiten" bereitgestellt. Nach Supfs eigenen Angaben erhielt das K. W. K. rund 4 Mill. Mark, davon allein 1 670 000 Mark f ü r die Baumwollversuche. 29 Es kann hier natürlich nicht auf die Spezifik und den Umfang dieser Arbeiten des Komitees eingegangen werden, die trotz spärlicher wissenschaftlicher Ansätze sehr stark improvisierten Charakter trugen. 1910, als das finanzielle und wissenschaftliche Dilemma der K. W. K.-Versuche immer offenbarer wurde, entschloß sich das Kolonialamt auf Drängen der Industrie zu einer Neuorientierung. Gegenüber dem Reichsamt des Innern motivierte Dernburg am 4. Februar 1910 seine Absicht, das wissenschaftliche Versuchswesen, vor allem in den Afrikakolonien, und den Einsatz der finanziellen Mittel durch eine umfassendere Beteiligung des Staates zu verstärken: „Besonders gibt mir hierzu der Umstand Veranlassung, daß die landwirtschaftlichen Versuchsunternehmungen des Kolonial-Wirtschaftlichen Komitees nicht mit genügender Sachkenntnis geführt werden und die Erfolge daher nicht im richtigen Verhältnis zu den aufgewandten Mitteln stehen." 30 Die Vereinbarung zwischen dem R. K. A. und dem K. W. K. vom 1. März 1910 betonte stärker die neuen Aufgaben des Staates. Das Komitee nahm nunmehr ausschließlich den Charakter einer politisch-propagandistischen Interessenvertretung der deutschen Industrie an. Die bescheidene Förderung der Produktivkräfte und die Entwicklung der Produktionsverhältnisse stehen in keinem Verhältnis zu den tatsächlichen Schwerpunkten Dernburgscher Monopolpolitik. Es gelang dem R. K. A. trotz aller Propaganda nicht, den Ausbau der Kolonien als Rohstoffquellen wesentlich voranzutreiben und damit die Rohstoff frage f ü r den deutschen Imperialismus im oben skizzierten Sinne zu lösen. Nach vorsichtigen Einschätzungen der Quellen kann zusammenfassend festgestellt werden, daß im Jahre 1914 z. B. die koloniale Erzeugung von Kaffee rund 1/240, von Baumwolle 1/60, von Kakao 1/7 und von Kautschuk etwa 1/3 des jährlichen deutschen Bedarfs deckte. 31 21
Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, Bd. 51 (1910), München 1911, S. 66. Supf, Wilhelm, Das Ende deutscher Kolonialwirtschaft?, Berlin 1921, S. 12. •*> ZStAP, RKA Nr. 8156, Bl. 13. Nußbaums Angaben über die Erzeugung bestimmter kolonialer Rohstoffe und Produkte (z. B. Baumwolle 14 Prozent) gehen an der Realität vorbei. Vgl. Nussbaum, S. 156. a
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Ohne auf das völlig unerhebliche Handelsvolumen zwischen Deutschland und seinen Kolonien hier eingehen zu wollen, sei vermerkt, daß das R. K. A. lockere Kontakte zur „Ständigen Ausstellungskommission f ü r die Deutsche Industrie" unterhielt, einer Art Dachorganisation der deutschen Industrie. Dabei ging es in den J a h r e n von 1906 bis 1910 vor allem u m die Organisierung von Ausstellungen in den deutschen Kolonien und in Berlin und Hamburg, u m die Vorbereitung und Placierung von Handelsgeschäften, u m Marktanalysen u. ä. Am 26. Mai 1908 teilte die Ausstellungskommission dem R. K. A. mit, es habe, den dortigen Anregungen folgend, beschlossen, ein besonderes Kolonialkomitee zu bilden, das n u n m e h r die kolonialen Ausstellungsinteressen der Industrie w a h r n e h m e n solle u n d im „Bedarfsfalle" in Aktion treten werde. 3 2 Doch der koloniale Markt fand offensichtlich bis 1910 nicht das Interesse der Industrie, der die vorhandenen Absatzmöglichkeiten f ü r Maschinen, Geräte u n d chemische Produkte als viel zu gering erschienen, obwohl Dernburg sich erneut f ü r eine breitere staatliche Unterstützung einsetzte.
D e r koloniale E i s e n b a h n b a u Staatssekretär Bernhard Dernburg hatte die Propaganda f ü r den Ausbau des Eisenbahnnetzes in den deutschen Kolonien schon recht f r ü h in sein koloniales P r o g r a m m aufgenommen. Am 29. November 1906 erklärte er im Reichstag, daß es u m die stärkere Unterstützung des Kapitals auch im Eisenbahnbau ginge, u n d hier d ü r f e m a n nicht so sehr „knausern", sondern müsse „etwas larger" sein. 33 Der koloniale Eisenbahnbau w u r d e in der „Ära Dernburg" zum H a u p t f a k t o r des deutschen Kapitalexports. Der private Gütertransport in den deutschen Kolonien band nicht n u r Tausende vom deutschen Kapital dringend benötigter afrikanischer Arbeitskräfte, er verteuerte auch die erzeugten Produkte in hohem Maße u n d machte die von Dernburg angestrebte Orientierung am Weltmarkt u n d die „wirtschaftliche Erschließung" illusorisch. Die Entwicklung der Transportfrage w a r daher entscheidend f ü r die Erhöhung des Handelsvolumens, die Lösung der Rohstofffrage u n d den weiteren Ausbau der Kolonien als kapitalistische Absatzmärkte. Kolonialeisenbahnen besaßen aber auch einen eminenten politisch-militärischen Stellenwert f ü r den deutschen Imperialismus, sie w a r e n „mächtiger als die Kanone". 3 4 Der Eisenbahnreferent des Reichskolonialamtes, Baltzer, f a ß t e diesen Aspekt sehr deutlich zusammen : „Der Zweck der Kolonialbahnen ist die wirtschaftliche Aufschließung . . . dazu gehört auch die Niederschlagung unbotmäßiger Volksstämme, die militärische Eroberung u n d U n t e r w e r f u n g des zu erschließenden Gebietes . . . Gerade der Bau zahlreicher Kolonialbahnen der neuesten Zeit h a t erwiesen, daß dieser eins der besten Mittel ist, u m ein Neuland tatsächlich zu unterwerfen, seine BesitzergreiM
ZStAP, RKA Nr. 6346, Bl. 117 f. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, 11. Leg.Per., 2. Sess. 1905/06, Bd 5, S. 4002. a '* König, Berhard v., Koloniale Eisenbahnpolitik, in: Das neue Deutschland, Nr. 23, 8. 3.1913 (ZStAP, Nachlaß Koenig Nr. 117).
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fung zu vollenden . . ,"35 Angesichts der relativ labilen politischen Situation in den deutschen Kolonien bis 1910 war der militärische Aspekt im Eisenbahnbauprogramm Dernburgs nicht zu übersehen. Um den Boden vorzubereiten, legte Innenminister Graf v. Posadowsky am 9. April 1907 die von der Kolonialabteilung ausgearbeitete Denkschrift „Die Eisenbahnen Afrikas, Grundlagen und Gesichtspunkte für eine koloniale Eisenbahnpolitik in Afrika" dem neugewählten Reichstag vor. Die umfangreiche und demagogische Propagandaschrift sollte nach Dernburgs eigenen Worten dem Zweck dienen, „einer zielbewußten Verkehrspolitik in den deutschen Schutzgebieten Afrikas Tatsachenmaterial und Gesichtspunkte zu liefern". 36 Nach den afrikanischen „Ortsbesichtigungen" des Staatssekretärs waren seine Pläne über mögliche Entwicklungslinien des kolonialen Eisenbahnbaus soweit gereift, daß er bereits fünf Monate später ein bis dato an Zielstellung und Umfang noch nicht dagewesenes Programm der Öffentlichkeit vorstellen konnte. Am 13. März 1908 brachte Reichskanzler v. Bülow mit der Ergänzung zum Haushaltsetat f ü r die Kolonien 1908 ein Gesetzpaket ein, das die Kolonialbahn-Vorlagen der Regierung umfaßte. 37 Sie forderte darin vom Reichstag die Bewilligung von rund 175 Mill. Mark, die, verteilt auf sechs Jahre, f ü r den Bau von fünf Eisenbahnen in einer Länge von insgesamt 1450 Kilometern eingesetzt werden sollten. Das Programm sah die vorrangige Förderung und den Ausbau der Zentralbahntrasse in D. O. A. sowie die Erschließung des innerafrikanischen Seengebietes und damit den Anschluß an die Einzugsgebiete der britischen Ugandabahn vor. Das war eine Forderung, die neben den von der Deutschen Bank angeführten, direkt am Bahnbau interessierten Kreisen des deutschen Bank- und Industriekapitals vor allem vom Handelskapital vertreten wurde, das nach der Öffnung der Konzessionsgebiete des „Comité spécial du Katanga" im Kongo strebte. Rathenaus Vorschläge, stärker als bisher den Staat zur Sicherung der Profite des deutschen Monopolkapitals heranzuziehen, waren ohne Zweifel auch der theoretische Ansatzpunkt f ü r Dernburgs Politik der Verstaatlichung von privaten Kolonialeisenbahnen. Als typische Methode zur Sicherung der Kapitalanlagen und als Quelle zusätzlicher Profite der Banken forcierte Dernburg die Übernahme privater Eisenbahnstrecken durch den Staat und deren Rückverpachtung an die ehemaligen Besitzer. Den Kernpunkt der Vorlage von 1908 bildete daher der fiskalische Erwerb der Aktien der „Ostafrikanischen Eisenbahngesellschaft". 38 Aber hier stieß Dernburg mit seinem Plan auf die skeptische Zurückhaltung Sydows. Erst mit der Unterstützung der Reichskanzlei gelang es, das Reichsschatzamt „umzustimmen". Einen Tag vor der entscheidenden Abstimmung in der Budgetkommission, am 1. April 1908, hatte der Staatssekretär des Reichskolonialamts noch in einem persönlichen Schreiben an Unterstaatssekretär v. Loebell die 3
-' Baltzer, Franz, Die Kolonialbahnen mit besonderer Berücksichtigung Afrikas, Berlin/ Leipzig 1916, S. 18 f. ^ ZStAP, Reichstag Nr. 1065, Bl. 2 (Vorwort, S. 3). Ebenda, Nr. 1079, Bl. 2-11. m bie Gesellschaft (Grundkapital 21 Mill. Mark) war 1904 durch die maßgebliche Initiative der Deutschen Bank gegründet worden.
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Intervention der Reichskanzlei gefordert, da sonst ein „bedauernswerter Zwiespalt in den Reichsressorts" entstünde und er und sein Amt derart desavouiert würden. Dies hätte zur Folge, daß der Erfolg seiner „ganzen Winterkampagne" in Frage gestellt werden könnte und er f ü r seinen Einfluß bei den Parteien und im Bundesrat fürchten müsse. 39 Nachdem die Vorlagen durch das „Schweigegelöbnis" 40 der bürgerlichen Mehrheitsparteien die ersten Beratungen passiert hatten, wurden sie in der dritten Beratung des Reichstages am 7. Mai 1908 ohne Diskussion mit der Zustimmung der bürgerlichen Parteien en bloc angenommen. 41 Die Euphorie der Kolonialenthusiasten war, bis auf wenige Ausnahmen in Pflanzerkreisen, allgemein. Selbst Rohrbach jubelte: „Daß Dernburg beim Reichstag ohne Schwierigkeit die Bewilligung von 150 Mill. Mark f ü r Kolonialbahnen durchsetzte .. . war der größte praktische Schritt voran, der in unserem Kolonialwesen von seiner Begründung an je geschehen ist." 42 1909 unterbreiteten Dernburg und sein Kollege Wermuth dem Reichskanzler die „Denkschrift über die Gestaltung des Verkehrswesens in Deutsch-Südwestafrika". Dem deutschen Steuerzahler, vor allem der Arbeiterklasse, wurde die Rechnung f ü r diese zweite Bahn-Vorlage in einer Höhe von rund 76 Mill. Mark aufgemacht. Schwerpunkte der Regierungsvorlage von 1910 waren die Verstaatlichung der Otavi-Bahn und die Monopolverträge mit der „Deutschen KolonialEisenbahn-Bau und Betriebs-Gesellschaft" (D. K. E. B. B. G.). Mit dem 25-Millionen-Kaufvertrag zwischen der Otavi-Gesellschaft und dem R. K. A. wurde gleichzeitig ein Vertrag abgeschlossen, wonach die Bahn auf 10 Jahre per 1. April 1910 an die Gesellschaft zurückverpachtet wurde. Der Fiskus verpflichtete sich darüber hinaus, den Betrieb auf der parallel verlaufenden Staatsbahnstrecke Swakopmund — Karibib einzustellen, um jede Profitminderung der Aktionäre auszuschließen. 43 Es gibt in der Geschichte der deutschen imperialistischen Kolonialpolitik kaum ein treffenderes Beispiel f ü r die Ausrichtung staatlicher Politik zugunsten der Profitinteressen einer Monopolgruppe als die Verankerung der Berliner Handelsgesellschaft im kolonialen Diamanten- und Eisenbahnbaugeschäft. Fürstenberg selbst vermerkt in seinen Memoiren leicht überheblich das „alte Vertrauens- und Freundschaftsverhältnis" zu Bernhard Dernburg. 44 Es waren vor allem objektive Bedingungen, die die B. H. G. zwangen, sich dem Kolonialgeschäft zuzuwenden. In einer Studie vermerkt der BRD-Wirtschaftshistoriker Böhme, daß die relativ dünne Kapitaldecke der Berliner Großbanken f ü r die weitgespannten expansiven M w
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ZStAP, Reichskanzlei Nr. 919, Bl. 61 f. Georg Ledebour am 5.5.1908 im Reichstag, in: Stenographische Berichte der Verhandlungen des Reichstages, 12. Leg.Per., 1. Sess. 1908, Bd. 232, S. 5126. Ebenda, S. 5221. Rohrbach, Paul, 30 Jahre deutsche Kolonialpolitik mit weltpolitischen Vergleichen und Ausblicken, Berlin (19222), S. 334. Vertrag v. 23.11.1909/30. 3.1910, in: ZStAP, Reichskanzlei Nr. 927, Bl. 171-182. Fürstenberg, Carl, Die Lebensgeschichte eines deutschen Bankiers, 1870—1914, Berlin 1931, S. 508.
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Ziele nicht immer ausgereicht habe.45 Dieser Fakt lenkte die Banken in der Periode des Imperialismus immer stärker auf die eigenen, vor dem Zugriff ausländischer Konkurrenten besser geschützten Gebiete. Auch die Wirtschaftskrise 1907-1909 hatte sich merklich auf dem Geld- und Kapitalmarkt ausgewirkt und ein Emissionshaus wie die B. H. G. empfindlich getroffen. Der Hauschronist der Bank, Lüke, wies auf die Geldverknappung und die 1908 voll einsetzende Rezession in der Industrie hin: „Die Berliner Handels-Gesellschaft mußte diese interne Situation mit einer verstärkten Aktivität im Kolonialgeschäft kompensieren." 46 Carl Fürstenberg beurteilte die entstandene Situation so: „Da sich der deutsche Expansionsdrang in Marokko nicht genügend betätigen konnte, hatte er sich mit verstärkter Tatenlust dem bereits vorhandenen deutschen Kolonialbesitz zugewandt. Von diesen Entwicklungen sollten meine Person, meine Bank und unter anderem auch die uns nahestehende Lenz-Gruppe beeinflußt werden." 47 Das Aktienkapital der B. H. G. wurde 1908 um 10 Mill. Mark auf 110 Mill. Mark gesteigert — eine Rekordhöhe in der Geschichte der Bank; die Dividenden kletterten bis 1911 auf den offiziellen Vorkriegshöchststand. Die dominierende Stellung der Berliner Handelsgesellschaft im kolonialen Eisenbahnbaugeschäft wird durch die Entwicklung des Lenz-Konzerns, einer von Fürstenberg „ganz persönlich bearbeiteten Angelegenheit", deutlich.48 Vielfältig verquickt mit anderen Konzernen wie den Firmen Borsig, Schwartzkopff, Orenstein, dem Knorr-Bremsenwerk und der Julius Pintsch-A. G. wurde er in der „Ära Dernburg" zur größten deutschen kolonialen Eisenbahnbaugesellschaft. 1901 hatte Fürstenberg als Finanzierungsgesellschaft für die Stettiner Hoch- und Tiefbaufirma Lenz & Co die Aktiengesellschaft für Verkehrswesen gegründet, die sämtliche Anteile von Lenz übernahm. Die von der Tochtergesellschaft 1904 geschaffene D. K. E. B. B. G.49 engagierte sich schnell im kolonialen Geschäft. In zwei der vier deutschen Afrikakolonien (Toga, Kamerun) besaß der Lenz-Konzern, und damit auch die B. H. G., das Eisenbahnmonopol. In S. W. A. teilte man sich mit der Firma Arthur Koppel das große Geschäft. Während Koppel den Bahnbau bei Karibib durchführte, arbeitete Lenz im Süden der Kolonie. In D. O. A. baute und pachtete der Konzern die Usambara-Bahn. Die Dernburg-Eisenbahnbau-Programme von 1908 und 1910 legten die entscheiv
' Böhme, Helmut, Prolegomena zu einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Deutschlands i m 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 19682, S. 102; auch Fischer weist auf die Kapitalknappheit in Deutschland nach 1905 hin und vermutet, die forcierte Expansion des Kapitalexports hätte immer mehr die Finanzkraft der deutschen Kreditinstitute überstiegen. Fischer, Fritz, Krieg der Illusionen, Düsseldorf 1969, S. 33 f. 46 Lüke, Rolf E., Die Berliner Handelsgesellschaft in einem Jahrhundert deutscher Wirtschaft. 1856-1956, Berlin 1956, S. 136; Gutsche merkt berechtigt die bisherige Unterschätzung des Krisenzyklus für die Politik und Ökonomie an. Gutsche, Willibald, Probleme der Erforschung der Geschichte des deutschen Imperialismus 1898 bis 1917, in: JfG, Bd. 15, 1977, S. 13. Fürstenberg, S. 465. 4S Ebenda, S. 307. Den Vorstandsposten übernahm der Geheime Kommerzienrat Friedrich Lenz, den des Vorsitzenden des Aufsichtsrates Carl Fürstenberg.
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denden Grundlagen des Eisenbahnnetzes in den deutschen Kolonien, das bis 1914 nur noch quantitativ erweitert wurde. Der Staatssekretär förderte den Monopolisierungsprozeß im kolonialen Eisenbahnbau in entscheidendem Maße. Nur wenigen Firmen und den dahinter stehenden Bankkonsortien, vor allem der B. H. G. und der Deutschen Bank, flössen die lukrativen Staatsaufträge zu. An die „Stelle der Konkurrenz auf offenem Markt" trat die Ausnutzung der .Verbindungen' zum Zweck eines profitablen Geschäfts.50 Folgt man Schätzungen bürgerlicher Autoren, die das gesamte im Eisenbahnwesen der deutschen Kolonien angelegte Kapital (ohne Hafenanlagen) auf über 430 Mill. Mark beziffern, so gehen wir nicht fehl, wenn wir den Löwenanteil an diesem Kapitalexportgeschäft der B. H. G.-Gruppe zuordnen. Die staatsmonopolistische Konzessionspolitik des Reichskolonialamtes Lautstark hatte Dernburg 1906 die Beseitigung der ärgsten Liefer- und Konzessionsskandale angekündigt. Die bürgerliche Finanzpresse hatte das wohlwollend vermerkt. Noch 1930 lobte Lewinsohn, daß der „damalige Bankdirektor Bernhard Dernburg — der erste Wirtschaftler in der wilhelminischen Bürokratie — die ungünstigen Monopolverträge löste und eine Generalreinigung in den Kolonien vornahm". 51 Uns interessiert hier weniger das Schicksal der Firmen Tippeiskirch & Co. oder Dr. Kade's Oranien-Apotheke, Berlin, sondern vor allem das Verhältnis des Kolonialamtes zu den „Großen", den Monopolgesellschaften. Argwohn mußte eigentlich schon die vorsichtige Behandlung der Firma Woermann bei der angekündigten Ablösung der Konzessionsverträge auslösen. Diese führende Monopolgesellschaft im Afrika-Transportgeschäft hatte, durch die heftige Reaktion der aufgescheuchten Öffentlichkeit gewarnt, bereits im September 1906 auf ein neues Ubereinkommen mit der Kolonialabteilung gedrängt; Dernburg, durch die parlamentarische Opposition gegen den bestehenden Vertrag mit dem Konzern von 1903 zur unbedingten Vorsicht gemahnt, hatte zunächst jedoch abwartend reagiert. Nachdem schließlich Adolph Woermann im Dezember 1906 mit der Kolonialabteilung eine Vereinbarung über die Verlängerung des Monopols bis zum März 1907 erreicht hatte, fusionierte die Woermann-Linie mit der mächtigen Hapag. In dem bekannten Telegramm Generaldirektor Ballins an Dernburg vom 27. März 1907 heißt es u.a.: „Eurer Exzellenz beehren wir uns mitzuteilen, daß wir, von dem Wunsche geleitet, die von Ihnen so kraftvoll und mit so glänzendem Erfolge eingeleitete Kolonialpolitik auch unsererseits, soweit wir es vermögen, zu unterstützen, beschlossen haben, das Netz unserer Linien auf Westafrika auszudehnen." 52 In Antwort darauf verband sich die konkurrierende „Hamburg-Bremer-AfrikaLinie A. G." (Menzell & Co.) mit dem Norddeutschen Lloyd. Am 21. Juni 1907 teilte Generaldirektor Dr. Wiegand seinem Geschäftsfreund mit, Hamburg gebe *> Lenin, S. 248. Lewinsohn, Richard, Das Geld in der Politik, Berlin 1930, S. 39. M ZStAP, RKA Nr. 1857, Bl. 140 f. 51
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o f f e n b a r noch i m m e r nicht den Versuch a u f , die in d e n H ä n d e n des Lloyd befindliche Linie „an die W a n d " zu pressen. „ D a ß der N o r d d e u t s c h e Lloyd sich das nicht g e f a l l e n läßt, ist selbstverständlich, u n d w i r w e r d e n d a h e r d e n K a m p f m i t aller Entschiedenheit f ü h r e n . " 5 3 D u r c h die geschickte V e r m i t t l e r t ä t i g k e i t des S t a a t s s e k r e t ä r s , d e r in dieser S i t u a t i o n e r n s t h a f t in der G e f a h r schwebte, sich zwischen zwei S t ü h l e zu setzen, w u r d e schließlich der e r b i t t e r t e K o n k u r r e n z k a m p f geschlichtet. D e r V e r t r a g v o m 2./5. S e p t e m b e r 1907 sicherte b e i d e n P a r t e i e n das w e s t a f r i k a n i s c h e T r a n s p o r t m o n o p o l . N e b e n dieser Politik des A u s gleichs bildete die V e r g a b e n e u e r Konzessionen, v o r allem a n n a h e s t e h e n d e deutsche B a n k g r u p p e n , e i n e n m a r k a n t e n u n d spezifischen Z u g der D e r n b u r g s c h e n Monopolpolitik. Als Beispiel seien h i e r die P h o s p h a t - V e r t r ä g e v o n 1908 genannt. I n d e n J a h r e n seit d e r J a h r h u n d e r t w e n d e w u r d e der P h o s p h a t - W e l t m a r k t von d e n U S A b e h e r r s c h t . G e r a d e das Inselgebiet v o n D e u t s c h - N e u g u i n e a e r w i e s sich als v e r h ä l t n i s m ä ß i g reich a n diesem b e g e h r t e n Rohstoff, d e r ohne k o m p l i z i e r t e E r s c h l i e ß u n g s a r b e i t e n d i r e k t a b g e b a u t w e r d e n k o n n t e . Bereits 1901 h a t t e die J a l u i t - G e s e l l s c h a f t gegen H a n d e l s - u n d F i n a n z v o r t e i l e d e r britischen „PacificIslands Co." (später „Pacific P h o s p h a t e Co., Ltd.") i h r P h o s p h a t - M o n o p o l auf N a u r u (Marshallinseln) überlassen. Diese Konzession b i l d e t e die G r u n d l a g e f ü r die T ä t i g k e i t d e r P. P . C. auf d e r r u n d 22 k m 2 g r o ß e n Insel. E n d e 1905 m e l d e t e der B e z i r k s a m t m a n n der W e s t k a r o l i n e n , er h a b e auf d e r zur P a l a u - G r u p p e g e h ö r e n d e n Insel A n g a u r p h o s p h a t h a l t i g e E r d e g e f u n d e n . Eine A n a l y s e der P r o b e n in M e l b o u r n e d u r c h einen P r o d u z e n t e n k ü n s t l i c h e r D ü n g e m i t t e l b e s t ä t i g t e die V e r m u t u n g . D a der I n d u s t r i e l l e m i t s e i n e m V o r h a b e n , eine Kapitalgesellschaft zur A u s b e u t u n g des V o r k o m m e n s zu g r ü n d e n , scheiterte, t r u g G o u v e r n e u r Dr. H a h l i m S e p t e m b e r 1906 K o l o n i a l d i r e k t o r D e r n b u r g diese A n gelegenheit vor. D e r n b u r g schaltete schnell u n d v e r w i e s den G o u v e r n e u r a n den G e n e r a l d i r e k t o r des N o r d d e u t s c h e n Lloyd. D e r Lloyd, der in N o r d e n h a m ( U n t e r weser) eine n e u e S u p e r p h o s p h a t f a b r i k e r r i c h t e t e u n d d e n w e r t v o l l e n Rohstoff aus F l o r i d a bezog, griff sofort zu. In d e n A k t e n des R. K. A. befindet sich ein reichhaltiges M a t e r i a l ü b e r die G r ü n d u n g u n d das Z u s t a n d e k o m m e n des deutschen P h o s p h a t - K o n z e r n s . 5 4 Es w i r d deutlich, d a ß der K o l o n i a l s t a a t s s e k r e t ä r k o n s e q u e n t b e s t r e b t w a r , die LloydG r u p p e i n das v e r h e i ß u n g s v o l l e G e s c h ä f t zu b r i n g e n . A m 8. S e p t e m b e r 1906, k u r z n a c h d e m D u r c h s i c k e r n d e r v e r t r a u l i c h e n I n f o r m a t i o n , h a t t e die „Deutsche N a t i o n a l b a n k " (Lloyd-Gruppe), vielfältig m i t der B. H. G. u n d d e r D a r m s t ä d t e r B a n k v e r b u n d e n , in einer E i n g a b e a n die K o l o n i a l a b t e i l u n g i h r „großes I n t e r e s s e " a m P h o s p h a t - P r o j e k t b e k u n d e t u n d eilfertig eine „ S o n d e r b e r e c h t i g u n g " a n geregt, d a d u r c h die noch angeblich b e s t e h e n d e S c h ü r f f r e i h e i t die G e f a h r b e s t ü n d e , d a ß diese „ f ü r u n s e r e v a t e r l ä n d i s c h e I n d u s t r i e u n d L a n d w i r t s c h a f t höchst w e r t v o l l e n Stoffe a n das A u s l a n d " v e r l o r e n g e h e n w ü r d e n . 5 5 N a c h d e m W i e g a n d a u s d e m N o r d d e u t s c h e n Lloyd, d e r D e u t s c h e n N a t i o n a l b a n k , der F i r m a Beer, M
Ebenda, Nr. 1858, Bl. 40 f. " Ebenda, Nr. 2459-2463. M Ebenda, Nr. 2459, Bl. 6 - 9 .
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Sondheimer & Co. in Franfurt a.M. und der Firma Wm. Müller & Co., RotterdamBremen, ein Syndikat gebildet hatte, wurde die „Deutsche Südseephosphat A. G., Bremen" am 20. Mai 1908 mit einem Grundkapital von 4,5 Mill. Mark gegründet. Der Nationalbank als Führerin des Konsortiums wurde durch Verfügung des R. K. A. vom 2. Juli 1908 auf die Dauer von 35 Jahren das Monopol für die Aufsuchung und den Abbau der Phosphatlager auf Angaur und Pililju zugesprochen (1909 begann man mit dem Abbau und der Verschiffung). Die Erteilung der Konzession zur Ausbeutung der wertvollen Rohstoffvorkommen demonstriert deutlich, daß die staatlichen Sperrverfügungen nur dazu dienten, bestimmte Gebiete von lästigen kapitalistischen Konkurrenten frei zu halten, um sie dann Dernburg nahestehenden und einflußreichen Banken und Konzernen in die Hände zu spielen. In den Jahren bis 1910 wurde diese besondere Methode der Sicherung der Interessen des Großkapitals durch Bernhard Dernburg perfekt demonstriert. Es gibt in der wissenschaftlichen Literatur kaum widersprechende Darstellungen über das Vorgehen Dernburgs in Sachen Landkonzessionen, wohl aber über seine Motive und das Ausmaß des tatsächlich Erreichten. Im Mittelpunkt der Angriffe der deutschen Öffentlichkeit standen seit 1905 die großen Konzessionsgesellschaften in Südwestafrika und Kamerun. Die Opposition von Repräsentanten des Handelskapitals traf sich in diesem Punkt mit dem Protest der kleinbürgerlichen Mittelschichten, der Alldeutschen und Agrarier sowie mit Teilen der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie, die, wie Ballhaus richtig einschätzt, die Kolonien „einseitig von Spekulationsgesellschaften blockiert" sahen.56 Am 20. März 1906 hatte sich die „Kommission zur Prüfung der Südwestafrikanischen und Kameruner Gesellschaften" als erste parlamentarische Kommission des Kaiserreiches konstituiert. Aber nur wenige Arbeitssitzungen fanden statt; aus der angekündigten „Generaluntersuchung" wurde nichts. Lediglich fünf Konzessionsgesellschaften wurden oberflächlich überprüft. Jäckel hebt hervor, daß man bereits im Februar 1908 der Ansicht war, die Aufgabe der Kommission sei gelöst, nachdem Dernburg mit einigen der wichtigsten Landgesellschaften Separatverträge über die Abtretung von Land geschlossen habe. „Mit derselben Sicherheit können wir aber im voraus sagen, daß die Gegner der Landgesellschaften nach einiger Zeit ihre Stimme wieder erheben werden, denn mit den Dernburgschen Verträgen ist, mit Ausnahme der Hanseatischen Land-, Minenund Handelsgesellschaft, keine einzige aus der Gruppe der Landgesellschaften verschwunden." 57 Aus dem Kommissions-Schlußbericht Erzbergers vom 13. Dezember 1909 wird die ganze Verärgerung der Opposition über die Verhandlungstaktik Dernburgs deutlich.58 Gegen die heftigen Vorwürfe des Zentrumsführers verteidigte der Kolonialstaatssekretär die Konzessionsgesellschaften: Sicher wäre nicht alles gelungen, aber immerhin sei doch hier ein „sehr kaputter Stiefel geflickt worden". ^ Vgl. Ballhaus, Jolanda, Die Gesellschaft Nordwest-Kamerun, phil. Diss. Berlin 1966. Jäckel, Herbert, Die Landgesellschaften in den deutschen Schutzgebieten, Jena 1909, S. 5 f. « ZStAP, RKA Nr. 1596, Bl. 58 (S. 81-91).
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Ohne Kapital könnten nun einmal die Kolonien nicht „aufgeschlossen" werden. 59 Der enttäuschte Matthias Erzberger griff wenige Monate später in einer in hoher Auflage herausgebrachten „Kampfschrift" die „großkapitalistische Gesellschaftspolitik" Dernburgs an und beschuldigte ihn, die Reichstagskommission „vom richtigen Wege" abgebracht und durch die hinter ihrem Rücken abgeschlossenen Verträge regelrecht sabotiert zu haben. 60 Wie sind nun die taktische und strategische Grundkonzeption des R. K. A. in den Verhandlungen mit den Konzessionsgesellschaften und das Resultat dieser Politik näher zu kennzeichnen? Natürlich war der Kolonialchef von Anfang an entschieden darauf bedacht, sich seine Bewegungs- und Ellenbogenfreiheit keinesfalls von einer parlamentarischen Kommission einengen zu lassen. Auf der anderen Seite erschien es dem erfahrenen Repräsentanten der „haute finance" auch geraten, beabsichtigte eventuelle Veränderungen bzw. Neuformierungen der Konzessionsgesellschaften mit den im Hintergrund agierenden Banken abzustimmen. Diese taktische Linie wird deutlich in der bedeutsamen Aktennotiz Dernburgs vom 5. Juli 1907 zur Verfahrensweise in den geplanten Auseinandersetzungen. 61 Dabei bevorzugte der ehemalige Bankier mit dem Großkapital eine elastische und geschmeidige Verhandlungsmethode, die auch hier auf eine stärkere Beteiligung der A. E. G./B. H. G.-Gruppe zielte. Dernburgs „Vereinbarungen" 6 2 halfen den großen Kolonialgesellschaften, sich von ohnehin wertlosen und f ü r sie uninteressanten Gebieten mit Profit zu trennen. Die entscheidenden Finanzgruppen verblieben unangetastet in ihren kolonialen Machtpositionen. Die D i a m a n t e n - M o n o p o l v e r t r ä g e Staatssekretär Dernburg war stets an einer umfassenden und lückenlosen Information über alle mineralogischen Funde oder Bodenschätze in den Kolonien interessiert. Bodenproben und Erzfunde wurden umgehend einer wissenschaftlichen Untersuchung der Geologischen Landesanstalt Berlin zugeleitet und die Resultate — dazu gehörte auch die Auswertung der Arbeiten der GouvernementsGeologen — den industriellen Interessen meistens direkt durch das R. K. A. zugänglich gemacht. Bereits am 3. April 1907 war die „Zentrale f ü r Bergwesen", F r a n k f u r t a. M., einer der wichtigsten Interessenverbände der deutschen Montan-, Schwer-, Elektro- und Chemieindustrie, an "Dernburg herangetreten, „vorkommendenfalls" von ihren „Diensten" Gebrauch machen zu wollen. 63 Die Diamantenpolitik gehörte schon während der Amtszeit des Staatssekretärs zu den umstrittensten Sektoren seiner Administration. Uns geht es bei ihrer Untersuchung vor allem darum, die staatsmonopolistischen Akzente sowie die engen Wechselbeziehungen zwischen Politik und Ökonomie deutlicher, als dies WJ B1 ,sä
Ebenda, S. 108-110.
Erzberger, Matthias, Millionengeschenke, Berlin 1910, S. 29 f. ZStAP, RKA Nr. 1594, Bl. 94-97. Vgl. Deutsches Kolonialblatt, 1907, S. 999; 1909, S. 362-364, 883 £.; 1910, S. 78. ZStAP, RKA Nr. 1279, Bl. 46.
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bisher in der vorliegenden wissenschaftlichen Literatur geschehen ist, herauszuarbeiten. Im Mittelpunkt steht daher neben der Untersuchung der Vorgänge um die Monopolverträge mit der Deutschen Kolonialgesellschaft f ü r Südwestafrika (D. K. G. f ü r S. W. A.) die politisch-ökonomische Einordnung der Diamanten-Regie, einer „völlig neuartigen Erscheinung eines gesetzlich konstituierten Verkaufssyndikats" ,64 Die Akten des R. K. A. belegen fast lückenlos die amtliche Politik gegenüber der größten Konzessionsgesellschaft in S. W. A.65 und das zähe Ringen der Gesellschaft um die riesigen Einnahmen aus Schürffeldgebühren, Steuern und Förderungsabgaben aus dem 35 Mill. ha großen Konzessionsgebiet. Die D. K. G. f ü r S. W. A., eine Schöpfung der Disconto-Gesellschaft, der Deutschen Bank, der Dresdner Bank, des Bankhauses S. Bleichröder u. a. potenter Finanzgruppen, funktionierte schließlich den Fiskus zum spesenfreien „Kassenschalter" des Bankkapitals um. Die strategische Konzeption Dernburgs in der Frage der Monopolr e c h t e " der Gesellschaft ist nicht von der Grundlinie seiner gesamten Diamantenpolitik zu trennen; sie zielte ab auf die umfassende Kontrolle des kolonialen Bergbau- und Diamantengeschäftes durch die B. H. G.-Bankgruppe. Es konnte in den Geheimverhandlungen, die das Gouvernement mit Protesten und Einsprüchen, das Reichsschatzamt mit Mißtrauen und die kleinen Kolonialprofiteure in Südwestafrika mit lautstarkem Geschrei und Resolutionen quittierten, nur darum gehen, die Gewinnanteile entsprechend dem gegenwärtigen Einfluß und den Machtpositionen der einzelnen Kapitalgruppierungen neu zu verteilen und zu ordnen. Mit dem Vertrag über den Bergbau im Gebiet der D. K. G. f ü r S. W. A. vom 17. Februar/2. April 190866 sicherte sich die Gesellschaft ihre Privilegien und alle künftigen Einnahmen. Die „ersprießliche Zusammenarbeit" hatte die Fundamente f ü r die späteren Millionenprofite gelegt. Der Diamanten-Sperrvertrag vom 28. Januar 1909 verlängerte dieses Monopol bis zum 1. April 1914.67 Am 13. März 1909 konstituierte sich als Tochtergesellschaft die „Deutsche Diamanten-Gesellschaft" mit einem Grundkapital von 2,5 Mill. Mark, von denen 2 Mill. Mark die Muttergesellschaft und 500 000 Mark die mit der A. E. G./B. H. G.-Gruppe liierte „Metallurgische Gesellschaft" übernahmen. 6 8 Der neuen Gesellschaft wurden mit Wirkung vom 1. April 1909 sämtliche Schürf- und Abbauarbeiten übertragen. Der daraúfhin vom konservativen Gouverneur von S. W. A., v. Schuckmann, einem der Sprecher der Opposition, persönlich angegriffene Staatssekretär, der sich über den Vorwurf des „Millionengeschenks" des Staates an die Gesellschaft
Vgl. die Artikelfolge von Dr. Regentanz in der „Kolonialen Rundschau" 1910 (S. 223-238, 297-316). ^ Vor allem die Faszikel Nr. 1321—1327 des RKA sind von Wichtigkeit für die Erschließung der Beziehungen Dernburgs zur Gesellschaft. 06 ZStAP. RKA Nr. 1323, Bl. 98-102. Deutsches Kolonialblatt, 1909, S. 569-571. Vgl. ZStAP, RKA Nr. 1323, Bl. 196. Tatsächlich zahlte die Deutsche Kolonialgesellschaft für Südwestafrika keinen roten Heller. Dafür standen ihr im fünfköpfigen Aufsichtsrat drei Plätze zu.
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ärgerte, warnte in einem Erlaß vom 27. November 1909 vor einer Stimmungsmache gegen das Großkapital. Er verteidigte noch einmal in der großangelegten 75seitigen „Diamanten-Denkschrift" des Reichskolonialamtes vom 6. Januar 191069 energisch die Prinzipien seiner Diamantenpolitik. Für die Denkschrift zeichnete auf ausdrücklichen Wunsch des Reichskanzlers Dernburg selbst verantwortlich, ein etwas ungewöhnlicher Umstand, der nur durch die allmähliche Distanzierung Bethmann Hollwegs von der Politik seines Staatssekretärs erklärbar erscheint. Dernburgs Vorstellungen gingen ursprünglich dahin, die noch abzuschließenden Monopolverträge mit den beiden Gesellschaften ohne viel öffentliches Aufsehen unter Dach und Fach zu bringen. Ihm war nunmehr von vornherein klar, daß seine Politik auf eine breite Front von Gegnern auch im bürgerlichen Lager treffen mußte. Doch schon der am 26. Januar 1910 vorgelegte erste Vertragsentwurf mit der D. K. G. f ü r S. W. A. und der Deutschen Diamantengesellschaft sollte auf die entschiedene Ablehnung der Mehrzahl der Mitglieder der Budgetkommission und des Reichstages stoßen. Der Protest der sozialdemokratischen Fraktion, des Zentrums und anderer bürgerlicher Parteien, der von Dernburg nur ungenügend pariert werden konnte, belastete die offizielle Kolonialpolitik in den Augen der Konservativen schwer. Dies wurde mit ausschlaggebend f ü r die Schwächung der parlamentarischen Position der Regierung. Als der Staatssekretär sich schließlich bereit erklärte, die Entwürfe zurückzuziehen und mit der D. K. G. in neue Verhandlungen einzutreten, um „günstigere Zugeständnisse" zu erlangen, erbat der irritierte Reichskanzler am 29. Januar vom Reichskolonialamt eine „kurze Sachdarstellung" über die Geheimverhandlungen. 70 Politisch geschwächt durch den schwindenden Kredit bei Bethmann Hollweg und das zunehmende Mißtrauen der bürgerlichen oppositionellen Parteien drängte Bernhard Dernburg in einem Rennen gegen die Zeit auf die größtmögliche Beschleunigung der Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und verschmähte auch nicht die Zuhilfenahme der ihm nahestehenden Presse. So jammerte der „Berliner Lokal-Anzeiger" über eine angeblich eingetretene Verstimmung der Börse und den Rückgang der Kolonialwerte. Dazu habe in erster Linie die „hyperextreme feindselige Stellungnahme" gewisser Parteien gegenüber der D. K. G. f ü r S. W. A. beigetragen. 71 Nach dem Passieren der Vorlagen in der Budgetkommission präsentierte Staatssekretär Dernburg kaltschnäuzig der Öffentlichkeit am 7. Mai 1910 die neuen Monopolverträge des Reichskolonialamtes mit der D. K. G. f ü r S. W. A. und der Deutschen Diamantengesellschaft. 72 Mit den „Mai-Verträgen", die ergänzt wurden durch die Reichskanzler-Verordnung über den Bergbau in S. W. A. vom 12. Mai 1910, war das Monopol der Banken im Diamantenbergbau gesichert. Deutlich reagierte die Börse, wo der Abschluß der „Mai-Verträge" die Werte der
Ba
Ebenda, Nr. 6550, Bl. 222-259. "> Ebenda, Nr. 1324, Bl. 124. 71 Berliner Lokal-Anzeiger, Nr. 118, 6. 3.1910 (ebenda, Nr. 1393, Bl. 76). Deutsches Kolonialblatt, 1910, S. 410-414.
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Gesellschaften emporschnellen ließ. Erfreut vermerkte der bürgerliche Börsenexperte Otto Jöhlinger: „Ein Beweis dafür, daß man in Kreisen der Kapitalisten hierüber nicht unzufrieden urteilt, ist die Kursbewegung an der Berliner Börse, wo am Tage der Unterzeichnung des Vertrages die Anteile auf ungefähr 1 825 Prozent stiegen.. ."73 Auf die Dialektik von staatsmonopolistischen Maßnahmen und Börsengewinnen werden wir weiter unten zurückkommen. Wenden wir uns zunächst den Aktionen zu, die der völligen Absicherung des Diamantenmonopols der Banken insgesamt dienten und mit der Konstituierung der „Diamanten-Regie" zusammenhingen. Bernhard Dernburg, der im Juni 1908 in Südafrika von den überraschenden Diamantenfunden in S. W. A. informiert worden war, hatte, offensichtlich beeindruckt von dem Beispiel der DeBeers, auf der Rückreise nach Europa im September Station in Antwerpen gemacht und die Situation der dortigen Diamantenschleifereien überprüft. Er entschied sich auf der Grundlage seiner kolonialpolitischen Zielvorstellungen sehr schnell und erzielte bereits im Oktober mit dem Reichsschatzamt und dem Reichsjustizamt eine weitreichende Vorabstimmung über die weiteren Rahmenmaßnahmen. Offensichtlich erleichtert über dieses Agreement mit den beiden Reichsämtern, die in der Regel seinen Leitlinien recht skeptisch gegenüberstanden, erklärte Dernburg später: „Es war von vornherein klar, daß sich die Regierung nicht selbst mit der Verwertung der Diamanten befassen konnte, daß sie vielmehr darauf bedacht sein mußte, die maßgeblichen finanziellen Kreise in der Heimat mit Diamanteninteressenten aus dem Schutzgebiet zu einem Verbände zusammenzuschweißen, dem dieses schwierige kaufmännische Geschäft übertragen werden konnte."74 Nach vorbereitenden ersten Gesprächen fanden dann seit Anfang Dezember 1908 die entscheidenden Verhandlungen über die Schaffung einer Diamantenregie zwischen dem R. K. A. und der B. H. G. statt. In der bedeutsamen Geheimkonferenz zwischen Dernburg und Carl Fürstenberg am 15. Dezember 1908 in der Berliner Zentrale der B. H. G. wurde über die „Vereinigung für die Verwertung der Diamanten" und die Pachtung der fiskalischen Edelsteinfelder Einverständnis erzielt. Dazu heißt es im vertraulichen Protokoll Fürstenbergs: „Es wurde zwischen uns in Aussicht genommen, für die Verwertungsvereinigung die Firma ,Diamanten-Regie des südwestafrikanischen Schutzgebietes' zu wählen und zur Teilnahme an diesem Geschäft die Direktion der Disconto-Gesellschaft, die Darmstädter Bank, die Deutsche Bank, die Dresdner Bank, die Nationalbank für Deutschland, den A. Schaaffhausenschen Bankverein, die Bankfirmen S. Bleichröder, Delbrück & Co., ferner M. M. Warburg & Co., in Hamburg, einzuladen. Es soll der Berliner Handelsgesellschaft überlassen bleiben, eventuell noch andere ihr geeignet erscheinende Firmen hinzuzuziehen."75 Nachdem Fürstenberg mit va
Koloniale Rundschau, 1910, S. 389 f. ZtSAP, RKA Nr. 6550, Bl. 237. Das aufschlußreiche Dokument befindet sich ebenda, Nr. 1358, Bl. 27 ff. Von Bedeutung : auf die Entschlußfindung des Staatssekretärs war zweifellos auch die „programmatische Aufstellung" W. Rathenaus, die dieser am 9.12.1908 seinem „lieben Freund" Dernburg übersandt hatte (ebenda, Bl. 25 f.) und die leider in den Akten fehlt.
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dem Spezialagenten der B. H. G. und späteren Direktor der Diamanten-Regie, Paul Gerlich, und dem im Diamantenhandel erfahrenen Bankier J a m e s Zutrauen die organisatorische S t r u k t u r der Regie Ende Dezember 1908 festgelegt hatte, informierte er am 4. J a n u a r 1909 das Kolonialamt, daß alle vorgesehenen Firmen ihre Zustimmung erklärt hatten u n d man die Gesellschaft n u n m e h r nach der Rückkehr der „zur Erkundung der Marktlage und sonstigen Verhältnisse entsandten Herren" — Gerlach und Zutrauen waren in London und Antwerpen — zu einer „formellen Gestaltung" bringen werde. Allerdings sei es jetzt nötig, „daß sich das Kolonialamt mit der Verordnung, welche f ü r den Verkaufszwang und f ü r die Produktionskontigentierung zu erlassen sein wird, beschäftigt". 7 6 Handel und A u s f u h r der Diamanten waren bereits durch zwei Gouvernementsverordnungen in den letzten Monaten des Jahres 1908 rigoros eingeschränkt worden. Die von Dernburg inaugurierte Verordnung vom 16. J a n u a r 190977 erhob n u n „wunschgemäß" auch die geschäftliche Verwertung der Steine zum Staatsmonopol. In dem Immediatsbericht an Wilhelm II. vom selben Tage zu dieser schwerwiegenden Verordnung, die die Regie unmittelbar vorbereitete, interpretierte der Staatssekretär diese Maßnahme als einen Schritt zu einer „einheitlichen Verwertung" der Diamanten. Vor allem beabsichtige m a n dadurch ein potentes Gegengewicht zu dem den Weltmarkt beherrschenden „englischen Syndikat" zu schaffen: „Es ist beabsichtigt, mit dem geschäftlichen Diamantenvertriebe ein, aus den Interessenkreisen des Schutzgebietes u n d der Heimat zu bildendes Konsortium zu betrauen." Dadurch, hob der Staatssekretär hervor, sei m a n viel besser in der Lage, Preise und Produktion entsprechend zu steuern, als durch die „ungeregelte" Konkurrenz der „geschäftsunerfahrenen" Diamantenförderer selbst. 78 Diese w u r d e n verpflichtet, ihre gesamte Diamantenausbeute der Regie „zwecks Vermittlung der Verwertung" zu überlassen. Natürlich w u r d e die enge Zusammenarbeit zwischen der Berliner Handelsgesellschaft u n d ihrem ehemaligen Korrespondenten von anderen Kapitalgruppen nicht ohne wachsendes Mißtrauen verfolgt. 7 9 Um vollendete Tatsachen zu schaffen, reichte Fürstenberg am 4. Februar 1909 den formellen Antrag auf Genehmigung der Satzung der „Kolonialgesellschaft in Firma Diamanten-Regie des südwestafrikanischen Schutzgebietes" ein. K n a p p eine Woche später, am
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Ebenda, Nr. 1341, Bl. 64 f. Gerlach und Zutrauen fertigten nach Besichtigung von Hanau, Amsterdam, Antwerpen und London eine Expertise über die Situation des Diamantenhandels und der Schleifereien, die Antwerpen für die Regie als günstigste Variante erschienen ließ (ebenda, Bl. 67—73). " Reichsgesetzblatt, 1909, S. 270 f. '» ZStAP, RKA Nr. 1354, Bl. 93. Unter der Schlagzeile „Du hast ja Diamanten" griff „Graf's Finanzchronik" (Nr. 50, 14.12.1908) die „alten" Beziehungen des ehemaligen Direktors der Darmstädter Bank und der in „Verlegenheitsfällen" aushelfenden B. H. G. scharf an und fragte schließlich gereizt, wo denn die übrigen Banken und sonstigen Interessenten bleiben würden und wie weit eigentlich schon die „Vorhand" Fürstenbergs reiche! Dazu Randnotiz Dernburgs: „Das wird man ja sehen". Ebenda, Nr. 1341, Bl. 128.
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10. Februar, wurde die Regie gegründet. 80 Durch die Reichskanzler-Verordnung vom 26. Februar 190981 wurde die Gesellschaft ermächtigt, in Ausführung der Verordnung vom 16. Januar das Diamantengeschäft zu betreiben. Dieses „Ermächtigungsgesetz" (später bis 1915 verlängert) garantierte damit den Großbanken das Monopol zur Ausnutzung des Diamantensegens. Die Verordnung vom 25. Mai 1909 über den Geschäftsbetrieb der Regie, die fast wörtlich auf dem von Mosler und Gerlich vorgelegten Entwurf basierte, sicherte als letztes Glied die lückenlose Kontrolle, Erfassung und geschäftliche Verwertung aller in S. W. A. geförderten Diamanten durch das B. H. G.-Konsortium, das die Förderung mit einem ausgedehnten Detektiv- und Spitzelsystem überwachte. Die Quellen weisen überzeugend nach, daß dieser Millionencoup in engster Tuchfühlung zwischen Dernburg und Carl Fürstenberg aufgebaut wurde. 82 Als wahre Goldgrube erwies sich für die Regie die Pachtung der fiskalischen Diamantenfelder. Bereits am 5. Januar 1909 war mit einem Stammkapital von nur 100 500 Mark durch die B. H. G. in Berlin die „Koloniale Bergbau-Gesellschaft m. b. H." gegründet worden, die die Ausbeutung der Diamantenfelder der LenzGruppe, Stauchs, Weidtmanns und Nissens übernahm. 83 Nach einer Idee FürstenEbenda, Bl. 88-112, 119, 122, 126. Als Vorsitzender des Aufsichtsrates wurde Fürstenberg gewählt. Im 18köpfigen Aufsichtsrat waren u. a. weiter vertreten: Dr. Mosler (B. H. G.); K. Helferich, v. d. Heydt, S. Alfred v. Oppenheim, P. v. Schwabach und M. M. Warburg. Nach dem Protokoll der ersten Aufsichtsratssitzung v. 10. 2. 1909 (ebenda, Nr. 1360, Bl. 110 ff.) übernahmen die Stammanteile des Grundkapitals: B. H. G. 240 000 Mark Bank für Handel und Industrie 120 000 Mark Berg- u. Metallbank AG 120 000 Mark Bankhaus S. Bleichröder 120 000 Mark Bankhaus Delbrück Leo & Co. 120 000 Mark Deutsche Bank 120 000 Mark 120 000 Mark D. K. G. für S. W. A. 120 000 Mark Disconto-Gesellschaft 120 000 Mark Dresdner Bank 120 000 Mark Gibeon Schürf- u. Handelsgesellschaft 120 000 Mark Bankhaus Mendelsolin & Co. 120 000 Mark Nationalbank f. Deutschland 120 000 Mark A. Schaaffhausenscher Bankverein 120 000 Mark Bankhaus M. M. Warburg u. Co. 60 000 Mark Bankhaus v. d. Heydt u. Co. 60 000 Mark Bankhaus Sal. Oppenheim jr. & Co. 60 000 Mark Bankhaus Jacob S. H. Stern 20 000 Mark. Bankhaus Lazard in Speyer-Elissen 81 Deutsches Kolonialblatt, 1910, S. 162 f. « Vgl. vor allem ZStAP, RKA Nr. 1341,1354-1362. w Ebenda, B. H. G.-Archiv, Nr. 577. Die Anteile übernahmen die Aktiengesellschaft für Verkehrswesen (31 %), Stauch, Nissen und Weidtmann (60 %), Lenz sowie sein Schwiegersohn Baurat Reh (9 %). Geschäftsführer war zunächst der Geschäftsinhaber der B. H. G., Dr. Mosler. Die Gesellschaft zahlte von allen Diamanten-Gesellschaften die höchsten Dividenden.
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bergs wurde am 12. Mai 1909 in den Räumen der B. H. G. in der Berliner Behrenstraße mit „mäßiger Kapitalaufwendung" die „Diamanten-Pacht-Gesellschaft" (D. P. G.) mit Sitz in Berlin errichtet, deren sämtliche Aktien (Grundkapital 2 Mill. Mark) die Regie erwarb. 84 Durch einen Pachtvertrag mit dem Gouvernement erhielt die D. P. G. das ausschließliche Recht zur Ausbeutung der fiskalischen Bergbaufelder, was der Regie nach dem Statut nicht möglich gewesen wäre. Der Betriebsvertrag vom 29. Juli 1909 zwischen der Pacht-Gesellschaft und der Kolonialen Bergbau-Gesellschaft übertrug diese Pachtrechte und die Betriebsführung def Fürstenberg-Schöpfung auf die nur wenige Monate ältere Schwestergesellschaft bis zum Jahre 1919. Das Londoner Diamantensyndikat war alles andere als entzückt über die südwestafrikanischen Kontingente, die drohten, das eingespielte internationale Preisgefüge empfindlich zu stören. Dernburg, der über vielfältige Kontakte zum Londoner Markt verfügte und ständig, wenn auch mit geringem Erfolg, bemüht war, die anrüchige Dumping-Verkaufspolitik der Regie gegen die britischen Vorwürfe in Schutz zu nehmen, baute mit Fürstenberg über ein Antwerpener Syndikat unter der Führung von Generalkonsul L. Coetermans-Henrich, J. M. Walk und Jac. Kryn eine eigene Absatzorganisation f ü r Rohdiamanten auf, der rund 17 weitere Edelsteinhändler angehörten. 85 Mit den deutschen Diamanten, in heftigem Konkurrenzkampf mit dem Londoner Diamantensyndikat auf den internationalen Markt gebracht, machten die achtzehn von der Berliner Handelsgesellschaft geführten deutschen Banken ein Millionengeschäft. Neben der Hausbank der A. E. G., die sich, wie schon im kolonialen Eisenbahnbau, auch hier den Löwenanteil durch ihre einmalige Stellung gegenüber dem R. K. A. und ihre geschickten finanziellen Manipulierungen sicherte 86 , waren weitere Nutznießer die in der „Metallgesellschaft", F r a n k f u r t a. M., und im „Südwestafrikanischen Minensyndikat" vereinigten Finanzgruppen und Konzerne.
Das Börsengeschäft in Kolonialwerten Der stellvertretende Direktor der Dresdner Bank, Dr. Hjalmar Schacht, tat auf dem Berliner Kolonialkongreß am 8. Oktober 1910 die bisherigen privatkapitalistischen Investitionen in den deutschen Kolonien als gering ab. Auch der freikonservativ-agrarische Publizist v. Dalwigk zu Lichtenfels fragte in seiner zeit84
Ebenda, Nr. 1360, Bl. 95—98. Zum Vorsitzenden des Aufsichtsrates wurde Mosler gewählt. Im Aufsichtsrat waren vertreten Fürstenberg, Zutrauen und Lenz. Vom Grundkapital übernahmen fiktiv 1 Mill. Mark die B. H. G. und je 500 000 Mark die Koloniale Bergbaugesellschaft und Lenz & Co. » Ebenda, Nr. 1352, Bl. 166 ff. 1910/11 wurden von der Regie von rund 799 000 Karat in Antwerpen 96,79 %, in Hanau 3,08 % und in Amsterdam 0,13 % abgesetzt (ebenda, Nr. 1389, Bl. 127 f.).
Bohrungen eingeschlossen — vorzunehmen und die Ergebnisse unter Angaben der entstandenen Kosten der Zivilliste mitzuteilen. Artikel 2 bestimmte, daß der Gesellschaft, sollte sie nach Abschluß der Erkundungsarbeiten mit der Ausbeutung beginnen, die Konzession auf 40 J a h r e verliehen würde. Artikel 5 legte fest, daß der Nettogewinn aus dem Unternehmen zwischen der Gesellschaft und der Zivilliste nach einem zu vereinbarenden Schlüssel zu teilen sei. Laut Absatz 1 des Artikels 6 konnte die Zivilliste, wenn die Gesellschaft auf die Ausbeutung der Erdölvorkommen verzichten sollte, über die Konzession frei verfügen. Im Absatz 2 desselben Artikels w u r d e der Anatolischen Eisenbahn-Gesellschaft, falls es aus anderen Gründen als dem Verzicht der Gesellschaft nicht zum Abschluß eines endgültigen Vertrages kam, das Recht auf die Rückerstattung der f ü r die Erkundungsarbeiten aufgewandten Mittel zuerkannt und — auf diese Bestimmung berief sich die Deutsche Bank in den späteren Auseinandersetzungen mit den T ü r k e n in erster Linie — das Vorrecht eingeräumt, zu den gleichen Bedingungen, zu welchen die Zivilliste mit einer anderen Gesellschaft oder Einzelpersonen zum Abschluß gelangen sollte, die Konzession auf die Ausbeutung der Erdölfelder zu erlangen. 2 0 Dem Auswärtigen Amt übersandte die Deutsche Bank den Vertrag erst am 13. Oktober 1904, was natürlich nicht ausschließt, daß die Wilhelmstraße über die wichtigsten Festlegungen durch ihre Konstantinopler Vertretung bereits f r ü h e r informiert worden war. Dies ist u m so wahrscheinlicher, als sich die „ F r a n k f u r t e r 17
Deutsche Bank an Anatolische Eisenbahn-Gesellschaft, 21. 9.1904: Es wird bestätigt, „que tout débours, risque et responsabilité, ainsi que les droits découlant de ladite concession, resteront pour notre compte", ZStAP, Deutsche Bank 10 271. 1fi Zander an Deutsche Bank, 26. 9.1904, ebenda. Kl Text ebenda, AA 13 310. 'M Abs. 2 d. Art. 6 lautete: „Dans le cas où la Convention relative à la concession de l'exploitation à la Société ne pourra être conclue, pour tout autre motiv [außer dem Verzicht der Gesellschaft], la Liste Civile sera tenue de lui rembourser avec les intérêts calculés à 5 % l'an, le montant dûment constaté des dépenses effectuées pour les études préliminaires et la Société conservera un droit de préférence, à condition égales, vis-à-vis de toute autre personne ou Société qui demanderait cette exploitation."
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Zeitung" über die Bestimmungen der Vorkonzession bereits in der ersten Septemberhälfte erstaunlich gut informiert zeigte. 21 Gwinner wies auch in dem Begleitbrief an das Auswärtige A m t darauf hin, daß sich englische u n d französische Interessenten — in der „ F r a n k f u r t e r Zeitung" w a r zusätzlich von holländischen die Rede — seit zwei J a h r e n u m die Erteilung der Konzession bemüht hätten. Bei einem derartigen „Wettbewerb" w u r d e n in Konstantinopel in der Regel die diplomatischen Vertretungen der beteiligten Länder eingeschaltet. Gwinner kündigte weiterhin an, daß die Deutsche Bank zur Untersuchung der Erdölvorkommen eine Studienkommission nach Mesopotamien aussenden werde. Seine A u s f ü h r u n g e n schloß er mit der Feststellung, daß die Erschließung der Erdölvorkommen einen Kapitalaufwand von vielen Millionen notwendig mache. Der Sprecher der Deutschen Bank erachtete es als opportun hervorzuheben, daß die beabsichtigten Kapitalinvestitionen nicht n u r der Entwicklung der Bagdadb a h n zugute kämen, sondern auch „im Interesse unserer allgemeinen, auf die Unabhängigmachung des deutschen Marktes von dem Petroleumring der S t a n d a r d Oil Company gerichteten Bestrebungen" vorgenommen würden. 2 2 Gwinner vollzog damit sozusagen eine vorgeschriebene Ritualhandlung; bei der bekannten Aversion der Reichsleitung gegen den amerikanischen Trust d u r f t e n in Eingaben an die Wilhelmstraße, insoweit sie sich auf das Erdölgeschäft bezogen, derartige Äußerungen nicht fehlen, mochte die a n g e f ü h r t e Argumentation auch noch so dürftig sein und 'lie eigennützigen Absichten der Banken n u r m ü h s a m verdecken. Daß mit dem in Mesopotamien zu gewinnenden Erdöl bei den damaligen Verkehrsverhältnissen u n d den sich daraus ergebenden hohen Transportkosten nicht den Amerikanern in Deutschland Konkurrenz gemacht werden konnte, w a r Gwinner natürlich ebenso bewußt wie jedem anderen Fachmann. Zur Erlangung der f ü r das ganze Unternehmen erbetenen Unterstützung der Reichsleitung 23 schienen aber derartige Floskeln unerläßlich. Zur Vorbereitung der geplanten Studienkommission begab sich Grosskopf nach Berlin, wo er mit Gwinner konferierte und auch die Ausbeutung von Erdölvorkommen in der europäischen Türkei besprach. 24 Gwinner erwog, nach der Rückkehr der Expedition aus Mesopotamien den einen oder anderen Teilnehmer nach Dedeagatsch zu senden, wo die ö l f u n d e besonders verheißungsvoll zu sein schienen. 25 Eines besonderen Vertrauens der Direktoren der Deutschen Bank erf r e u t e sich Grosskopf jedoch nicht. Der in Diensten der Bank stehende Dr. Quandt erhob nach seiner A n k u n f t in Konstantinopel gegen ihn den Vorwurf, daß er Erdölkonzessionen der Zivilliste nach allen Richtungen, auch an Holländer und Engländer, feilbiete. 26 •ii Frankfurter Zeitung, 12. 9.1904, „Eine Konzession der Anatolischen Bahnen auf Ausbeutung der Petroleumquellen in Mesopotamien". Gwinner an AA, 13.10.1904, ZStAP, AA 13 310. Ebenda. 24 Zander an Gwinner, 29.11.1904, ebenda, Deutsche Bank 10 155. ^ Gwinner an Zander, 23.12.1904, ebenda. x Quandt an Gwinner, 27.12.1904, ebenda.
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Die Türken unterstützten die Absendung der Studienkommission nach Mesopotamien. Sie stellten u. a. der Deutschen Bank einen annähernd 150 Seiten starken Bericht des Oberingenieurs der Zivilliste, Jacqueret, zur Verfügung, der im J a h r e 1895, also noch einige J a h r e vor Grosskopf, das Wilajet Mosul bereist u n d die dortigen Ölquellen untersucht hatte. Quandt hielt die A u s f ü h r u n g e n von Jacqueret f ü r wertvoller als den Bericht Grosskopfs. 27 Die Erdölexpedition, die unter der Leitung des italienischen Geologen Dr. Cesare Porro stand u n d der ursprünglich Dr. Quandt, Aghassin von der Anatolischen Eisenbahn-Gesellschaft und Grosskopf neben einem Assistenten Porros angehören sollten, plante A n f a n g J a n u a r 1905 von Konstantinopel aufzubrechen u n d ihren Weg über Alexandrette und Aleppo entlang dem Euphrat nach Bagdad zu nehmen. Von dort wollte sie sich nach Mosul wenden und über Mardin, Diarbekir, U r f a u n d Aleppo zurückkehren. 2 8 Gwinner hielt Porro f ü r besonders geeignet, die ihm übertragene A u f g a b e zu lösen, weil ihm Diskretion und Zuverlässigkeit nachgesagt w u r d e u n d er bereits ähnliche A u f t r ä g e auf S u m a t r a und Bornéo ausgeführt hatte. 2 9 Relativ spät entschloß m a n sich, der Expedition einen zweiten Geologen, Prof. Kissling aus Bern, beizugeben. Dieser t r a t später ganz in den Dienst der Erdölunternehmen der Deutschen Bank, w u r d e Chefgeologe der Steaua Romana u n d f ü h r t e im A u f t r a g e der Deutschen Bank viele Untersuchungen, u. a. in Rußland u n d in der europäischen Türkei, durch. Gwinner war bestrebt, bei der Vorbereitung und D u r c h f ü h r u n g der Expedition möglichst wenig Aufsehen hervorzurufen. 3 0 Offensichtlich k a m es ihm darauf an, nicht den Argwohn etwaiger K o n k u r r e n t e n zu erwecken. Die Studienkommission bereiste die Wilajets Mosul und Bagdad von F e b r u a r bis April 1905. Nach einer f ü r Gwinner ein J a h r später angefertigten Aufzeichnung betrugen die durch sie verursachten Kosten 272 000 Mark. 3 1 Nach der Rückkehr der Studienkommission beanspruchte die Anfertigung des abschließenden Berichts einige Monate ; er w u r d e der Deutschen Bank erst Ende August zugesandt. Während dieser Zeit übte der Straßburger Professor Hugo Bücking, der selbst an der Expedition nicht teilgenommen hatte, eine Art Oberaufsicht aus. Dies w a r insofern von Bedeutung, als die Ansichten von Porro und Kissling über die Ausbeutungswürdigkeit der mesopotamischen Erdölfelder weit auseinandergingen. Porro beurteilte die Aussichten recht pessimistisch, während Kissling die Inangriffnahme von Bohrungen empfahl. 3 2 Bücking neigte mehr der Auffassung Rapport de l'ingénieur en chef de la Liste Civile [Jacqueret] v. 9.8.1895; Notiz Quandts v. 6.12.1904, ebenda 23 071. Deutsche Bank an AA, 3.12.1904, ebenda, AA 13 310. m Gwinner an Zander, 22.11.1904, ebenda, Deutsche Bank 10 153. Gwinner an Zander, 6. 12. 1904: „Herr Dr. Quandt ist dahin instruiert, die Vorbereitungen für die Expedition und die ganze Angelegenheit auch in ihrem späteren Verlauf so diskret wie möglich zu behandeln", ebenda. Notiz für Gwinner, Juli 1906, ebenda, 10 271. " Bücking an Deutsche Bank, 30.8.1905 : „Gewisse Schwierigkeiten entstanden bei der Bearbeitung des Berichts auch dadurch, daß Herr Dr. Porro anfänglich fast sämtliche Oldistrikte recht pessimistisch betrachtete, während sie von Herrn Professor Kissling . . . im allgemeinen günstiger beurteilt wurden", ebenda, 23 071.
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von Kissling zu und erwirkte dann auch, daß Porro seine negative Ansicht im Bericht nur in abgeschwächter Form zum Ausdruck brachte. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung war ein Kompromiß. Sowohl der Vorbericht als auch der Ende August 1905 abgesandte mehr als hundert Seiten umfassende endgültige Bericht 33 waren als Ganzes weit davon entfernt, ein optimistisches Bild der Ausbeutungsmöglichkeiten zu entwerfen. In einzelnen Partien wurden zwar die Erfolgsaussichten der Bohrungen nicht ungünstig beurteilt, häufig jedoch schwächte der Nachsatz die Behauptung des Vordersatzes dermaßen ab, daß es Mühe bereitet, die wirkliche Ansicht der Verfasser zu erkennen. So hieß es beispielsweise im endgültigen Bericht abschließend über die unterhalb Mosuls am Tigris gelegenen Ölquellen El Gayara, El Fatha und Gywer, denen verhältnismäßig große Bedeutung beigelegt wurde: „Wir können deshalb Bohrungen, die jedenfalls in jenen entlegenen Gegenden sehr kostspielig sind, nicht gerade ermutigen, können andererseits aber, die große Ergiebigkeit einzelner Quellen berücksichtigend, von einem Bohrversuch speziell bei El Gayara nicht abraten. Die Geschichte gab Kissling und nicht Porro recht. Zumindest seit 1927, als die Iraq Petroleum Co. fündig wurde und auf reiche Erdöllagerstätten stieß, war daran nicht mehr zu zweifeln. Für unsere Untersuchungen bleibt jedoch die Beantwortung der Frage wichtig, wie Porros Sowohl-als-Auch-Bericht 1905 auf die Direktoren der Deutschen Bank gewirkt haben mag, die über die Bereitstellung der f ü r die Bohrung notwendigen Millionenbeträge die Entscheidung zu treffen hatten. Leider liegen uns darüber keine Äußerungen vor. Trotzdem wird man vermuten dürfen, daß die erheblichen Meinungsverschiedenheiten der Geologen, auf deren Urteil Gwinner ja weitgehend angewiesen war, seinen Entschluß, das Geld für die Bohrungen zur Verfügung zu stellen, nicht gerade begünstigt haben werden. Nicht zuletzt Porros Bericht war, neben anderen noch anzuführenden Gründen, dafür ausschlaggebend, daß die Deutsche Bank in der Frage der mesopotamischen Erdölfelder in der Folgezeit nur zögernd vorging und größere Kapitalinvestitionen zu vermeiden suchte. In den nächsten Monaten und Jahren traf die Deutsche Bank keine Vorbereitungen, die in der Vorkonzession vom 17. Juli 1904 vorgesehenen Probebohrungen in Mesopotamien durchzuführen. Gegenüber der türkischen Regierung vertrat sie den Standpunkt, mit der Inangriffnahme erst beginnen zu können, wenn ihr die endgültige Konzession erteilt worden sei. Das mußte zwangsläufig zu Konflikten mit der Zivilliste führen, die aus dieser Unterlassung zu Recht folgerte, daß der Konzessionsträger nicht gesonnen sei, die Ausbeutung der Erdölfelder in Angriff zu nehmen, zumindest nicht zu einem Zeitpunkt und zu Bedingungen, die den Türken akzeptabel erschienen. Auf die Unterlassung der Bohrungen reagierten sie sehr bald recht gereizt. Bereits im August 1905, also knapp einen Monat nach Ablauf der in der Vorkon:a
Porro/'Bücking, Vorläufiger Bericht v. 18. 7. 1905; Untersuchungen über die Petrolund Asphaltvorkommen am Euphrat und im Tigrisgebiete. Unter Mitwirkung der Professoren Dr. Kissling in Bern und Dr. Bücking in Straßburg ausgeführt und zusammengestellt von Ing. Dr. Cesare Porro [das Exemplar ist nicht vollständig], ebenda; weiteres Material über die Studienkommission (Beilagen, Lageskizzen usw.) ebenda, 23 979.
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Zession vorgesehenen Frist, warf der Minister der Zivilliste, Ohannès Efïendi Sakisian, dem Nachfolger Zanders, Julius Eduard Huguenin, vor, die Gesellschaft würde in Mesopotamien nichts unternehmen. Der Generaldirektor der Anatolischen Eisenbahn-Gesellschaft bat daraufhin, die Frist f ü r die D u r c h f ü h r u n g der Bohrungen u m sechs bis acht Monate zu verlängern. 3 4 Eines wird aus Huguenins Vorgehen gefolgert werden d ü r f e n : Im September 1905, ehe der Bericht der Studienkommission bekannt wurde, rechnete er damit oder schloß zumindest die Möglichkeit nicht aus, daß mit den Bohrungen in absehbarer Zeit begonnen würde. Dazu ist es jedoch nicht gekommen. Die Zivilliste fand an Konzessionsinhabern, die von den ihnen zustehenden Rechten keinen Gebrauch machten, wenig Gefallen. Der Privatschatulle des Sultans entgingen auf diese Weise, wie m a n meinte, nicht unerhebliche Einnahmen. Das bisherige System der Verpachtung der Nutzungsrechte an kleine, mit primitiven technischen Mitteln arbeitende Unternehmer brachte der Zivilliste zu Beginn des 20. Jh. nicht m e h r als 25 000-30 000 Francs im J a h r ein. 35 Ungeachtet der weit verbreiteten Korruption w a r e n unter Abdul Hamid die türkischen Ministerien und andere staatliche Behörden bei der Erteilung von Konzessionen u n d A u f t r ä g e n an ausländische Gesellschaften an bestimmte Spielregeln gebunden. Auch vor der jungtürkischen Revolution, die der politischen u n d ökonomischen Stellung Deutschlands am Goldenen Horn einen nachhaltigen Schlag versetzte, ergingen sich Vertreter des deutschen Finanzkapitals in Konstantinopel häufig in Klagen über türkische Würdenträger. „Das ganze Palais und alle Minister und dergleichen", schrieb Zander Ende 1904 an Gwinner, „sind in einer derartigen, vermutlich auf heftige K ä m p f e der verschiedenen Cliquen zurückzuführenden Verfassung, daß mit den Exzellenzen überhaupt kein vernünftiges Wort zu sprechen ist. Sie wissen, daß dies schon in normalen Zeiten ziemlich schwer ist." 36 Wie schwierig es war, von den Türken ein „vernünftiges" Wort zu vernehmen — und das hieß im Sprachgebrauch der Herren von der Deutschen Bank, sie zu bewegen, eine den Wünschen der Bank entsprechende Haltung an den Tag zu legen —, bewies auch der weitere Verlauf der Verhandlungen über die Erdölkonzession in Mesopotamien. Der Vorvertrag vom 17. Juli 1904 verpflichtete die Anatolische Eisenbahn-Gesellschaft, die Ergebnisse der Studienkommission der Zivilliste zu übermitteln. Diese m a h n t e den Bericht bereits A n f a n g August 1905 an, als er von Porro noch gar nicht an die Deutsche Bank geleitet worden war. Huguenin bat d a r a u f h i n u m einen Aufschub von 10 bis 12 Monaten. 3 7 In seiner Antwort ging Ohannès Sakisian bezeichnenderweise auf die beantragte Fristverlängerung gar nicht ein. Er wiederholte n u r seine Forderung, die von der Expedition erstatteten Berichte und 34
Huguenin an Gwinner, 10. 8.1905: Der Minister „apprit l'initiative de me rappeler que le délai d'un an fixé par la convention de Mesopotamie du 4/17. Juillet 1904 relative à l'affaire du pétrole de Mesopotamie est déjà échu depuis bien tôt un mois, et que malgré cela nous n'avons pas encore donné signe de vie", ebenda, 10 271. ® Bericht Grosskopfs über seine Reise, Anfang 1901, ebenda, 23 071. M Zander an Gwinner, 29.11.1904, ebenda, 10 155. a/ Ohannès Sakisian an Anatolische Eisenbahn-Gesellschaft, 8.8.1905; Huguenin an Ohannès Sakisian, 4. 9.1905, ebenda, 11 051.
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Angaben über die entstandenen Kosten zu übersenden.38 Die Deutsche Bank gab diesem Verlangen jedoch weiterhin nicht statt. Allerdings kann Ende 1905 noch nicht von einer Krise in den Beziehungen zwischen der Zivilliste und der Deutschen Bank gesprochen werden. „Wir wünschen", teilte Gwinner nach Konstantinopel mit, „uns ein dauerndes Vorrecht und möglichst eine leichte Konzession für die Ausbeutung des Petroleumvorkommens in Mesopotamien zu sichern." Er erachtete es auch für durchaus möglich, daß Huguenin mit der Zivilliste über die Erdölvorkommen bei Dedeagatsch einen ähnlichen Vorvertrag wie den vom 17. Juli 1904 schließe.39 Allzu optimistisch beurteilte man zu diesem Zeitpunkt in der Deutschen Bank die Aussichten der Erdölgewinnung in Mesopotamien jedoch nicht. Ende Dezember 1905 trafen die Direktoren Gwinner und Neeff mit Gaston Auboyneau, dem führenden Mann der Banque Imperiale Ottomane40, in Frankfurt am Main zusammen. Die Leiter der beiden einflußreichsten Banken in der Türkei erzielten dabei über die im Nahen Osten gemeinsam zu verfolgende Politik eine weitgehende Ubereinstimmung. So erklärte sich Auboyneau bereit, bei den von ihm beabsichtigten Finanzoperationen auf eine Heranziehung der Mehreinnahmen der Dette Publique Ottomane, der Türkischen Schuldenverwaltung, zu verzichten, so daß diese für den Weiterbau der Bagdadbahn reserviert blieben. Auch bei der Erörterung des zu begründenden Petroleummonopols, das die finanzielle Grundlage für eine der Türkei zu gewährende und die Ottomanbank vor allem interessierende Millionenanleihe abgeben sollte, kam der Franzose der Deutschen Bank weit entgegen. „Im Zusammenhang damit", teilte Gwinner nach Konstantinopel mit, „haben wir Auboyneau auf seinen mehrfach angedeuteten Wunsch zugesagt, die Ottomanbank mit 25 % an dem mesopotamischen Petroleumgeschäft, wenn etwas daraus werden sollte, zu interessieren."41 Das Interesse der Banque Imperiale an der Ausbeutung der Erdölfelder in Mesopotamien hielt nicht allzulange an. Es ist jedoch aufschlußreich, daß die Deutsche Bank bereits zu diesem Zeitpunkt einer Beteiligung anderer Finanzgruppen an dem mesopotamischen Erdölgeschäft nicht prinzipiell ablehnend gegenüberstand, wenn sie auch Anfang 1906, im Unterschied zu den Jahren 1911—1914, an ihrem Führungsanspruch durchaus festhielt. Die von Gwinner gebrauchte Wendung — „wenn etwas daraus werden sollte" — zeigt aber, wie ungewiß ihm die Zukunft des ganzen Unternehmens erschien. Auch Testa, der deutsche Vertreter in der türkischen Schuldenverwaltung, beurteilte die Aussichten des mesopotamischen Erdölunternehmens sehr skeptisch.42 Diese Zweifel hinderten Gwinner jedoch nicht, mit Auboyneau zu vereinbaren, daß die türkische Monopolverwaltung für das im Inland, also in erster Linie in Mesopotamien, zu gewinnende Petroleum einen höheren Preis als für das im -" Ohannès Sakisian an Anatolische Eisenbahn-Gesellschaft, 22.10.1905, ebenda, 10 271. w Gwinner an Anatolische Eisenbahn-Gesellschaft, 15.12.1905, ebenda, 10 153. w vgl. über deren Stellung in der Türkei im 19. Jh. Ducruet, Jean, Les capitaux européens au Proche-Orient, Paris 1964, S. 85 f£. " Gwinner an Huguenin, 17.1.1906, ZStAP, Deutsche Bank 10 153. Neeff an Gwinner, 25.1.1906, ebenda. 4*
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Ausland gekaufte zu bezahlen habe. 43 Da die Konzessionäre des Petroleummonopols und die inländischen Produzenten des Erdöls nach der Vorstellung der Bankgewaltigen identisch sein sollten, schienen derartige zu Lasten der Konsumenten gehende Absprachen durchaus Aussicht auf Erfolg zu haben. Huguenin richtete im Jahre 1906, die vorhin erwähnte Anregung Gwinners aufgreifend, ein Gesuch an Ohannès Sakisian, der Anatolischen Eisenbahn-Gesellschaft für bestimmte Gebiete der europäischen Türkei eine gleiche Konzession zu erteilen, wie sie ihr für Mesopotamien gewährt worden war. Der Minister wiederholte in einer Unterredung dem Generaldirektor jedoch nur, daß er die Berichte über die Erdölfelder in den Wilajets Mosul und Bagdad erwarte. Nach einigen Monaten kam der Minister in noch dringenderer Form auf diese Frage zurück.44 Als die Antwort einige Wochen ausblieb, verlor er die Geduld: Er forderte Huguenin auf, ihm umgehend mitzuteilen, ob die Anatolische Eisenbahn-Gesellschaft die Absicht habe, die Ausbeutung der Erdölfelder in Angriff zu nehmen, oder von diesem Vorhaben zurückzutreten gedenke. Hierbei deutete er zum ersten Male an, daß die Zivilliste über die Erdölkonzession auch anderweitig verfügen könnte. 45 Die Schärfe, mit der Ohannès Sakisian seit Mitte 1906 auf die Einhaltung der Bedingungen der Vorkonzession bestand, hatte auch noch einen anderen Grund: Die Zivilliste, dauernd in Geldnöten, ersuchte mehrfach die Vertreter der Deutschen Bank in Konstantinopel, ihr auf den zu erwartenden Gewinnanteil an der Erdölausbeutung einen Vorschuß zu gewähren. 46 Darauf wollte die Deutsche Bank jedoch nur eingehen, wenn ihr die endgültige Konzession erteilt würde. Auch die Entschiedenheit, mit der die Zivilliste den von der Deutschen Bank unterbreiteten Entwurf einer Konvention über die Bewässerung der Koniaebene seit Juni 1906 zurückwies 47 , deutet auf die zu dieser Zeit bestehenden Spannungen zwischen dem Ministerium und der Bank hin. In der Deutschen Bank war man sich der Schwierigkeiten, die sich nicht nur auf die Beziehungen zur Zivilliste beschränkten, durchaus bewußt. Zander bezeichnete im August die in Konstantinopel entstandene Lage als „delikat" und beurteilte die Aussichten der Deutschen Bank bei der Konzessionsjagd in der nächsten Zeit als alles andere denn optimistisch. Die reservierte Haltung der Türken gegenüber den Plänen der Deutschen Bank war unterschiedlich motiviert. M
Gwinner an Huguenin, 17. 1. 1906, ebenda. Huguenin an Ohannès Sakisian, 16.1.1906; Huguenin an Gwinner, 11. 2.1906, ebenda, 10155; Ohannès Sakisian an Anatolische Eisenbahn-Gesellschaft, 26.6.1906, ebenda, 10 271. ,lb 'Ôhannès Sakisian an Anatolische Eisenbahn-Gesellschaft, 9.8.1906: „... et comme lés dispositions de l'Art. VI de la Convention susmentionée prescrivent que mon Département a la faculté de concéder à un autre l'exploitation des gisements en question si votre Société n'en veut pas, je vous prie de m'envoyer les documents cidessus mentionnées et de me faire connaître le plus tôt possible et d'une manière formelle si votre Administration entreprendra ou non l'exploitation des gisements en question ...", ebenda, 11 051. 41i Am 21. 7.1930 angefertigte Notiz für Direktor Meissner, ebenda. Ohannès Sakisian an Anatolische Eisenbahn-Gesellschaft, 26.11.1906, ebenda.
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Hingewiesen sei auf einen Faktor: Die Auswirkungen des von Rußland verlorenen Krieges mit Japan und die Revolution von 1905 schwächten beträchtlich den auf der Türkei lastenden Druck des zaristischen Reiches. Damit erschien den türkischen Machthabern die Notwendigkeit der Anlehnung an Deutschland, dem in ihren Vorstellungen in erster Linie die Aufgabe zufiel, etwaige Aggressionsabsichten des Zarismus zu vereiteln, als nicht mehr so dringend wie noch vor einigen Jahren. Das Nachlassen der Pression Petersburgs trug daher dazu bei, daß die Pforte sich bis zu einem gewissen Grade von dem deutschen Einfluß emanzipierte. Das bekam auch die Deutsche Bank zu spüren. Die von ihr im Reich des Sultans verfolgten „vielen Projekte" erfüllten die Türken mit Mißtrauen/' 8 Die wiederholten Mahnungen der Zivilliste, die Bohrungen durchzuführen und die Berichte einzusenden, veranlaßten Gwinner, mit neuen Vorschlägen hervorzutreten. Die Deutsche Bank scheint die Absendung der Berichte und weiterer Angaben deshalb so lange hinausgezögert zu haben, weil sie die nach deren Übermittlung zweifellos einsetzenden Verhandlungen mit der Zivilliste mit der Diskussion über den von ihr angestrebten endgültigen Konzessionsvertrag zu koppeln beabsichtigte. Einen uns nicht vorliegenden Entwurf dieses Vertrages übersandte Gwinner der Anatolischen Eisenbahn-Gesellschaft am 24. März 1906. Einige Aufschlüsse über die erstrebten Konzessionsbedingungen vermittelt der Begleitbrief von Gwinner. 49 „Wenn es uns möglich sein sollte", schrieb er an Huguenin, „die ausschließliche Konzession nicht nur f ü r die beiden Wilajets Mosul und Bagdad, sondern f ü r das ganze türkische Reich zu erlangen, so wäre dies selbstverständlich wünschenswert." Es ist durchaus möglich, daß diese expansive Tendenz und die darin zum Ausdruck gelangende optimistische Beurteilung der Erfolgsaussichten im Erdölgeschäft insgesamt durch den unmittelbar bevorstehenden Abschluß der Vereinbarungen mit den Pariser Rothschilds und der Firma Gebrüder Nobel, den bedeutendsten russischen Petroleumpotentaten, hervorgerufen wurde, der zur Bildung der Europäischen Petroleum Union führte. 5 0 Im Begleitbrief nahm Gwinner auf das Abkommen Bezug und teilte Huguenin mit, daß der „Verkehr der russischen und rumänischen Petroleumproduktion im Ausland künftig unter dem Vorsitz der Deutschen Bank" erfolgen würde. Die Bedeutung des Zusammengehens mit den Russen, mit denen Gwinner auch bei der Belieferung des türkischen Marktes zusammenarbeiten wollte, für die Sanierung der überkapitalisierten Erdölunternehmen der Deutschen Bank wurde vor allem von deren damaligem ersten Erdölfachmann Georg Spies, der auf Gwinner einen beachtlichen Einfluß ausübte, maßlos überschätzt. 51 m
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Zander an Anatolische Eisenbahn-Gesellschaft, 16. 8.1906: „Wahrscheinlich wird aber wohl für die nächste Zeit kaum sich Gelegenheit bieten, irgend eines unserer vielen Projekte vorwärts zu treiben", ebenda, 10 153. Gwinner an Anatolische Eisenbahn-Gesellschaft, 24. 3.1906, ebenda. Vgl. Brack, S. 185 ff. Ebenda, S. 185; über Spies vgl. dessen „Erinnerungen eines Auslands-Deutschen", in: Spieß'sche Familien-Zeitung, Beilageband II—IV, Marburg 1926—1928. Die Erinnerungen brechen allerdings mit dem Jahre 1904, dem Eintritt Spieß' in die Deutsche Bank, ab.
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Für die Gewährung der endgültigen Konzession war Gwinner bereit, der Zivilliste einen Vorschuß von 30 000 P f u n d auf ihren Anteil am Gewinn des zu gründenden Erdölunternehmens zu gewähren. Der Betrag sollte, „wenn durchaus nötig", n u r mit fünf Prozent verzinst werden. Bei dem festzulegenden Gewinnanteil der Zivilliste wollte Gwinner über 33V3 Prozent nicht hinausgehen. Da die T ü r k e n erst beteiligt werden sollten, nachdem auf das Aktienkapital der Gesellschaft eine 6prozentige Dividende zur Austeilung gelangt war, w ä r e der Gewinnanteil der Zivilliste natürlich erheblich niedriger ausgefallen. Immerhin — in den Verhandlungen mit den T ü r k e n mußte das Angebot, sie mit einem Drittel am Gewinn zu beteiligen, nicht schlecht wirken. D'Arcy zahlte der persischen Regierung, worauf Gwinner ausdrücklich hinwies, n u r 16 Prozent. Allerdings fiel es der Deutschen Bank nicht allzu schwer, in dieser Frage großzügig zu erscheinen — hielt es doch beispielsweise Zander f ü r unwahrscheinlich, daß die T ü r k e n überh a u p t etwas erhalten würden. 5 2 Der von Gwinner im März übersandte Konzessionsentwurf w u r d e in Konstantinopel offensichtlich einer gründlichen Überarbeitung unterzogen, denn die Antwort der Anatolischen Eisenbahn-Gesellschaft erfolgte erst am 26. Juli, also nach vier Monaten. 5 3 Der von der Zivilliste seit langem angeforderte Bericht über die Ergebnisse der Studienkommission wurde Ohannes Sakisian am 22. Oktober 1906 übersandt 5 4 , also ein J a h r nachdem Porro ihn der Deutschen Bank übermittelt hatte. Der Bericht war in deutscher Sprache abgefaßt und wurde deshalb Huguenin mit der Bitte zurückgegeben, eine türkische und eine französische Übersetzung anfertigen zu lassen, was eine weitere mehrmonatige Verzögerung zur Folge hatte. Gwinner behauptete J a h r e später, in dem der türkischen Regierung übergebenen Bericht w ä r e n die interessantesten Angaben unterschlagen worden, da sie von den Teilnehmern der Expedition n u r mündlich gemacht worden seien. 55 Was diese Äußerung eigentlich aussagen soll, ist nicht eindeutig. Es traf zweifellos zu, daß die Deutsche Bank nicht daran interessiert war, der türkischen Regierung ein möglichst umfassendes Bild über die vermuteten Erdölvorräte zu vermitteln. Porro und Kissling hielten jedoch beim Abfassen des Berichts, wie sich aus der Korrespondenz zwischen Bücking und der Deutschen Bank eindeutig ergibt, mit ihrem Wissen nicht zurück. Vielleicht wurde — was eine akzeptable Erklärung zu sein scheint — von Huguenin der Zivilliste eine „bearbeitete", u m wesentliche Passagen gekürzte Fassung übergebeil. Gleichzeitig mit der Übermittlung von Porros Bericht erklärte sich Huguenin im Namen der Anatolischen Eisenbahn-Gesellschaft bereit, mit Probebohrungen in ö
- Zander an Neeff, 23. 9. 1906: Anatolische Eisenbahn-Gesellschaft ist ermächtigt, „sogar einen mäßigen Vorschuß der Liste Civile zu gewähren, basiert auf dem Gewinnanteil (also wahrscheinlich Geschenk)", ZStAP, Deutsche Bank 10 153. M Notiz o. D., ebenda, 10 271, Bl. 023. 0 '* Huguenin an Ohannes Sakisian, 22. 8.1906, ebenda, 11 051. 3I> Gwinner an Babington Smith, 31. 1. 1912: „A report was made and given to the Ottoman Government: it goes without saying that the more valuable part of our experts report has been verbal and naturally was not given to the Turkish Government", ebenda, 10 271.
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Mesopotamien zu beginnen, die allein Gewißheit verschaffen konnten, ob eine Erdölförderung im großen Maßstab Erfolg verspreche ; deren Durchführung machte er jedoch vom Abschluß einer neuen Vereinbarung zwischen der Gesellschaft und der Zivilliste abhängig.56 Diese Forderung lief auf eine wesentliche, einseitige Modifizierung der Vorkonzession zugunsten der Deutschen Bank hinaus. Im übrigen war man jedoch daran interessiert, all das aus der Vor- in die endgültige Konzession zu übernehmen, was der Deutschen Bank zum Vorteil gereichen konnte — vor allem die Ausschließung aller Mitbewerber. 57 Mit der Zusendung des Entwurfs der endgültigen Konzession ließ sich die Deutsche Bank jedoch Zeit. Es bedurfte wiederholter Mahnungen der Zivilliste58, bevor er ihr Ende 1906 übermittelt wurde. Da der Konzessionsentwurf uns leider nicht vorliegt, ist es auch nicht möglich festzustellen, ob und inwieweit die von Gwinner Ende März übersandte Fassung verändert wurde. Im Schreiben der Zivilliste an die Anatolische Eisenbahn-Gesellschaft wird zwar in der Folgezeit auf den Entwurf Bezug genommen, die Ausführungen sind jedoch so allgemein gehalten59, daß es nicht möglich ist, über die Absichten der Deutschen Bank eine klare Vorstellung zu gewinnen. Fest steht nur folgendes: Die Anatolische Eisenbahn-Gesellschaft erklärte sich erst dann bereit, mit den Bohrungen zu beginnen, wenn ihr die endgültige Konzession, und zwar nicht auf 40, wie es im Vorvertrag festgelegt worden war, sondern auf 60 Jahre zuerkannt werden würde. 60 Ferner sollte der Zivilliste ein Vorschuß von 30 000 Pfund zur Verfügung gestellt werden. 61 Die Rechnung wurde jedoch diesmal ohne den Wirt gemacht. Die Reaktion der Zivilliste auf den ihr übersandten Entwurf war eindeutig negativ. Am 5. Januar 1907 teilte sie der Anatolischen Eisenbahn-Gesellschaft mit, daß sie die Vorkonzession als verfallen betrachte 62 , und wiederholte diesen Entscheid, als die GeHuguenin an Ohannès Sakisian, 22. 8. 1906: „Mais il va de soi que notre Société ne pourrait se charger de cette lourde tâche [Bohrungen] qu'après établissement d'un accord équitable à intervenir entre la Liste Civile et notre Société}", ebenda, 11 051. Zander an Neeff, 23. 9.1906: „Hauptzweck muß aber bleiben: Ausschluß dritter. Daher sind auch die Antworten an den Minister [der Zivilliste] sehr vorsichtig zu fassen, damit die uns in der Vorkonzession gewonnenen Vorteile nicht verloren gehen", ebenda, 10 153. M Ohannès Sakisian an die Anatolische Eisenbahn-Gesellschaft, 24. 10. und 26. 11 1906, ebenda, 11 051. '-''> Ohannès Sakisian an Anatolische Eisenbahn-Gesellschaft, 4. 3. 1907: „Nonobstant ce qui précédé, le projet de la Convention définitive, qui avait été communiqué par votre Société, ayant été dressé d'une façon contraire et étrangère aux conditions susénoncées [des Vorvertrages vom 17. 7. 1904] et d'une manière anulant tous les droits et les avantages que la Liste Civile s'était assurées, nous avons constaté, de ce qui précédé, que votre Société avait mis à l'écart la Convention préliminaire, en la considérant comme nulle et non avenue", ebenda, 10 271. 1,1 Léon Ostorog an Babington Smith, 17.1.1913, ebenda, 11 051. ''' Am 21. 7.1930 angefertigte Notiz für Direktor Meissner, ebenda. ** Ohannès Sakisian an Anatolische Eisenbahn-Gesellschaft, 5. 1. 1907, ebenda, 10 271.
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sellschaft gegen die Annullierung des Vertrages Verwahrung einlegte 63 , am 4. März. Einen eigenen Entwurf der endgültigen Konzession unterbreitete die Zivilliste nicht. In der Auseinandersetzung mit der Anatolischen Eisenbahn-Gesellschaft begründete die Zivilliste die A u f h e b u n g der Vorkonzession in erster Linie damit, daß die Gesellschaft es unterlassen habe, die im P u n k t 1 des Vorvertrages vom 17. Juli 1904 vorgeschriebenen Bohrungen durchzuführen; damit sei der Vorvertrag ungültig geworden, und auch die Bestimmungen des Artikels 6 seien außer K r a f t gesetzt. Die Argumentation der Zivilliste ist begreiflich: Hätte sie den Entwurf des endgültigen Vertrages als Hauptgrund f ü r die Annullierung der Vorkonzession angegeben, so wären, da die Anatolische Eisenbahn-Gesellschaft von sich aus auf den Abschluß des endgültigen Vertrages nicht verzichtet hatte, die Bestimmungen des Artikels 6 in K r a f t getreten. Der Konflikt zwischen der Deutschen Bank und den Türken wurde daher seit A n f a n g 1907 vordergründig von der Frage beherrscht, ob die Zivilliste zur A u f hebung der Vorkonzession rechtlich befugt war. Der Vorvertrag schrieb zwar eindeutig die D u r c h f ü h r u n g von Bohrungen vor, es fehlte in ihm jedoch jeder Hinweis darauf, daß die Anatolische Eisenbahn-Gesellschaft ihrer Rechte verlustig gehe, wenn sie diese Bestimmung nicht einhalte. Gwinner n a h m dies noch nach J a h r e n zum Anlaß, u m die Forderung von Ohannes als schikanös zu bezeichnen. 64 Die Zivilliste vertrat die Ansicht, daß sie wegen der Unterlassung der Bohrungen über die Erdölkonzession erneut nach freiem Ermessen und ohne jede Einschränkung verfügen könnte. Die Deutsche Bank beharrte auf ihrer A u f fassung, daß beim Nichtzustandekommen eines endgültigen Vertrages die Bestimmungen des Artikels 6 in K r a f t treten müßten, da die Anatolische EisenbahnGesellschaft nicht von sich aus auf die Konzession verzichtet habe. Auf diesen S t a n d p u n k t e n verharrten beide Parteien einige Jahre. Auch der Machtantritt der J u n g t ü r k e n schuf hierin keinen Wandel. Der Streit u m die Interpretation einzelner Bestimmungen des Vorvertrages verbarg tiefgehende sachliche Meinungsverschiedenheiten. So schwierig es bei der Lückenhaftigkeit des dieser Studie zugrunde liegenden Materials auch ist, über die f ü r die Deutsche Bank bestimmenden Motive und ihre angestrebten Ziele Gewißheit zu gewinnen, einige Feststellungen lassen sich treffen, auch wenn manchen von ihnen n u r hypothetischer Charakter zukommt. Die Deutsche Bank war mit den Bedingungen der Vorkonzession vom 17. Juli 63 04
Huguenin an Ohannes Sakisian, 9. 2.1907, ebenda, 11 051. Verwaltungsrat der Anatolischen Eisenbahn-Gesellschaft an Anatolische EisenbahnGesellschaft, 8. 12. 1911: „Ohannes hatte sich seiner Zeit, um die für die Zivilliste eingegangenen Verpflichtungen zu umgehen, daran angeklammert, daß wir keine Sondages ausgeführt hätten. Dieses Wort hatten wir selbst seiner Zeit zur besseren Erklärung in Parenthese in den Vertrag gesetzt, ohne natürlich anzunehmen, daß eine so schikanöse Interpretation gegen uns angewendet werden könnte. Hätten wir etwa irgendwo in der Wüste ein Loch graben sollen, um sagen zu können, daß wir, wenn auch vergeblich, .Sondages' gemacht hätten? Es hatte sich eben keine Stelle gefunden, an der unsere vortrefflichen und ehrlichen Sachverständigen empfehlen konnten, die sehr bedeutenden Kosten von Tiefbohrungen anzuwenden", ebenda, 9674.
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1904 nicht in allen Punkten zufrieden gewesen. Offensichtlich war es der Zivilliste gelungen, zumindest einen Teil ihrer Forderungen durchzusetzen. Diese Sachlage versuchten die Vertreter des deutschen Finanzkapitals mit dem Ende 1906 übersandten Entwurf des endgültigen Vertrages zu ihren Gunsten zu verändern. Das rief den entschiedenen Widerstand der Zivilliste hervor, die den Vorvertrag als annulliert zu betrachten anfing oder sich zumindest den Anschein gab, es zu tun. Eine gewisse Skepsis scheint angebracht, weil die Zivilliste es, wie später auch einige Jahre lang die Jungtürken, bei Drohungen beließ und über die Konzession nicht anderweitig verfügte. An Bewerbern fehlte es nicht. Um diese Zeit begann D'Arcy erneut mit der Zivilliste zu verhandeln, wobei ihm wohl auch einige Zusagen gemacht wurden. 63 Der englische Außenminister Lord Curzon teilte nach dem ersten Weltkrieg dem Botschafter der USA in London, Davis, mit, daß 1906 und 1907 die mit der Zivilliste verhandelnde britische Gruppe, worunter offensichtlich D'Arcy zu verstehen ist, die volle Unterstützung des englischen Botschafters in Konstantinopel genossen hatte. 66 Es ist sogar nicht auszuschließen, daß erst diese Angebote den Widerstand der Zivilliste gegen die gesteigerten Ansprüche der Deutschen Bank hervorgerufen haben. Zu einer Vergabe der Konzession an andere Finanzgruppen kam es jedoch nicht. Mit einer derartigen Schärfe gegen das deutsche Finanzkapital vorzugehen, wird den Türken wenig opportun erschienen sein, konnte doch dadurch in f ü r die Pforte wichtigeren Frage die Haltung der Deutschen Bank, über deren türkischen Unternehmen die Reichsleitung ihre schützende Hand hielt, negativ beeinflußt werden. Die Türken versuchten allerdings 1908 — noch unter dem alten Regime — die. ohne Hinzuziehung ausländischen Kapitals von ihnen seit langem in bescheidenem Ausmaß und mit primitiven technischen Mitteln betriebene Erdölförderung in Mesopotamien zu steigern. Der Verwalter der Krondomänen im Wilajet Mosul, Ibrahim Pascha, wandte sich zu diesem Zweck an das dortige deutsche Vizekonsulat mit der Bitte, ihm Firmen zu benennen, die mit ihm in technischer Hinsicht zusammenarbeiten würden. Das deutsche Generalkonsulat in Konstantinopel empfahl sehr warm, dem Ersuchen Ibrahim Paschas zu entsprechen. 67 Offensichtlich übersah man dort gar nicht, so wunderlich das auch erscheinen mag, daß eine etwaige Unterstützung der Türken bei der Erdölgewinnung in Mesopotamien zweifellos die Kreise der Deutschen Bank stören mußte. Eine erhebliche Bedeutung kam den Bemühungen Ibrahim Paschas wegen der unzulänglichen technischen Ausrüstung und der bescheidenen Mittel, die ihm zur Verfügung standen, nicht zu. Es wäre jedoch denkbar, daß die Türken durch ihr Ersuchen, das sich auch als Demonstration ihrer Entschlossenheit gegenüber der Deutschen 65
üb
Shwadran, Benjamin, The Middle East. Oil and the great Powers, New York 1956, S. 193; Longrigg, Stephen Hemsley, Oil in the Middle East. Its discovery and development, London 19683, S. 28. Miscellaneous, 1921, Nr. 10; Correspondence between His Majesty's Government and the United States Ambassador respecting Economic rights in Mandated Territories (Cmd 1226), 1921. Bericht des Generalkonsulats Konstantinopel, 1. 6. 1908, ZStAP, AA 13 310.
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Bank deuten ließe, einen gewissen Druck auf die Vertreter des deutschen Finanzkapitals ausüben wollten. Zu erörtern blieben die Beweggründe der Deutschen Bank. Was veranlaßte sie, nachdem sie die Vorkonzession erworben und durch die Finanzierung der Studienkommission nach Mesopotamien nicht unerhebliche Mittel dafür aufgewandt hatte, die Bohrungen nicht durchzuführen und damit, zumindest bis zu einem gewissen Grade, ihr gesamtes mesopotamisches Erdölvorhaben zu gefährden? War es nur die durch Porros Bericht zweifellos verstärkte Befürchtung, die allerdings beträchtlichen Kosten der Bohrungen würden sich im Endeffekt nicht bezahlt machen? Ganz so einfach lagen die Dinge wohl nicht, wenn auch der zuletzt angedeutete Grund die Haltung der Bank zweifellos wesentlich mitbestimmte. Die Deutsche Bank beabsichtigte nicht, mit dem in Mesopotamien gewonnenen Erdöl den Amerikanern in Deutschland Konkurrenz zu machen; das dortige Petroleum sollte ihr vielmehr vor allem dazu dienen, ihren Anteil am türkischen Markt, wohin auch die von ihr kontrollierte Steaua Romana Erdölprodukte exportierte, zu erhöhen. „Wenn das Vorkommen in Mesopotamien wirklich ergiebig sein sollte", schrieb Gwinner Ende 1905 nach Konstantinopel, „so ist das erste und natürlichste Absatzgebiet für das zu gewinnende Erdöl die Türkei selbst." Auch die Bemühungen der Deutschen Bank, das Einfuhr- und Vertriebsmonopol für Erdölprodukte in der Türkei zu erhalten, oder zumindest zu verhindern, daß es in andere Hände fiele, verfolgten u. a. den Zweck, dem zukünftigen mesopotamischen Erdöl diesen Absatzmarkt zu sichern.68 Um die mesopotamischen Erdölprodukte in Anatolien, in den europäischen Provinzen der Türkei oder in Syrien auf den Markt zu bringen, war es unumgänglich, sie dorthin zu transportieren. Anders ausgedrückt: Selbst wenn sich die Ölquellen in den Wilajets Mosul und Bagdad als so ergiebig erweisen sollten, daß eine industrielle Förderung Gewinnchancen bot, was ja bis 1908, als D'Arcys Erfolg in Südpersien keinem Zweifel mehr unterlag, als durchaus umstritten galt, konnten die geförderten Mengen nur dann abgesetzt werden, wenn der Bau der Bagdadbahn beträchtlich weiter vorangetrieben war. Erst durch den Abschluß des Abkommens zwischen der Bagdadbahngesellschaft und der türkischen Regierung am 2. Juni 1908, wodurch die Finanzierung des Eisenbahnbaus bis Helif, das südlich von Mardin und 225 km von Mosul entfernt lag, gesichert wurde, eröffneten sich Aussichten, des Transportproblems Herr zu werden. Auf Grund dieser Schwierigkeiten konnte die Deutsche Bank an einer zeitlichen Forcierung der Bohrungen nicht interessiert sein. Alle vor der Lösung der Transportfrage vorgenommenen Investitionen bedeuteten, auch wenn die Bohrungen erfolgreich verlaufen wären, eine Festlegung von beträchtlichen Kapitalien auf unbestimmte Zeit. Dies zu vermeiden und die Bohrungen erst dann zu beginnen, wenn das Erdöl auch transportiert werden konnte, lag daher im wohlverstandenen Interesse der Deutschen Bank. Eine andere Lösung der Transportfrage als durch den Weiterbau der Bagdadbahn 00
Gwinner an Anatolische Eisenbahn-Gesellschaft, 10. 12. 1905, ebenda, Deutsche Bank 10 153.
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wurde von der Deutschen Bank, solange sie die Ausbeutung der Ölquellen ohne Hinzuziehung englischen Kapitals vorzunehmen gedachte, nicht erwogen. In ihrer Korrespondenz mit der Anatolischen Eisenbahn-Gesellschaft weist bis 1913 nichts darauf hin, daß die Benutzung des Tigris bzw. der Bau von Erdölleitungen in Richtung Persischer Golf oder Mittelmeer in Betracht gezogen worden wären. Und es war ja wohl auch ein hoffnungsloses Unterfangen, von den Engländern zu erwarten, daß sie dem Bau eines deutschen Erdölhafens am Persischen Golf und damit der Etablierung bedeutender wirtschaftlicher Interessen der Deutschen Bank in dieser Region zustimmten. Der einfachere, seit 1911 von der AngloPersian Oil Co. eingeschlagene Weg, auf Flüssen und durch den Bau von Erdölleitungen das Petroleum zum Golf zu befördern, blieb der Deutschen Bank verschlossen. Der Transport des Erdöls nach dem Süden setzte nicht nur eine deutsch-englische Vereinbarung über die Golfstrecke der Bagdadbahn voraus, sondern auch eine beträchtliche Beteiligung englischer Gesellschaften an der Ausbeutung der ölfelder. Der Entschluß der Deutschen Bank, die Bohrungen hinauszuzögern, entsprang daher einer gewissen Zwangslage. Daß die Türken mit einer derartigen Verfahrensweise nicht einverstanden waren, die ihnen f ü r einen längeren Zeitraum jede Aussicht nahm, aus der erteilten Konzession Vorteile zu ziehen, wird Gwinner achselzuckend zur Kenntnis genommen haben. Solange Abdul Hamid der entscheidende Machtfaktor war, hegten die Herren von der Deutschen Bank bei der anglophoben Grundhaltung des Sultans wohl auch keine Befürchtungen, daß die Erdölkonzession den Engländern zufallen könnte, deren wirtschaftliche Interessen in Mesopotamien und davon nicht zu trennende politische Ambitionen dadurch nur gefördert worden wären. In Berlin wußte man nur zu gut, daß der Sultan dies um jeden Preis zu vermeiden suchte. Nicht nur das Vorgehen der Deutschen Bank gegenüber der türkischen Regierung war zweifellos rücksichtslos, da sie sich über ihre im Vorvertrag fixierten Zusagen einfach hinwegsetzte; ebenso verfuhren in der Türkei andere Vertreter des Finanz- und Monopolkapitals — Engländer, Franzosen und Deutsche —, wenn sie bei ihren Regierungen genügend Rückendeckung fanden, was meistens der Fall war. Die herrschenden Kreise der imperialistischen Großmächte verzichteten vor 1914 bei der Ausbeutung ökonomisch rückständiger und machtpolitisch schwacher Länder noch weitgehend auf jede ideologische Verbrämung. Schlagwörter und darauf abgestimmte Ausbeutungsformen, wie sie heute zur Kaschierung verwendet werden, waren erst im Ansatz erkennbar. Wenn sich das ausländische Kapital vor 1914 in der Türkei unterschiedlicher Methoden zur Erlangung möglichst hoher Profite bediente, so gehörten die Vertreter der Deutschen Bank zweifellos nicht zu denjenigen, deren Haltung gegenüber türkischen Wünschen sich durch Elastizität auszeichnete. Andere Gruppen des deutschen Finanz- und Monopolkapitals bezogen zuweilen eine weniger starre Position. Um ein Beispiel anzuführen: 1911 verhandelten die Berliner HandelsGesellschaft, die AEG und die Baumfirma Lenz & Co. mit der türkischen Regierung über den Bau einer elektrischen Eisenbahn von Konstantinopel nach dem Schwarzen Meer, der sogenannten Bosporusbahn. Sie wirkten dabei einem anderen Eisenbahnprojekt der Deutschen Bank und mit ihr zusammengehender
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belgischer F i n a n z g r u p p e n entgegen. K a r l Helfferich, d e r B a g d a d b a h n s p e z i a l i s t d e r D e u t s c h e n B a n k , n a h m dies z u m Anlaß, u m d e m G e s c h ä f t s i n h a b e r d e r B e r liner Handels-Gesellschaft, C a r l F ü r s t e n b e r g , v o r z u w e r f e n , die von diesem gef ü h r t e G r u p p e k ä m e den T ü r k e n in einer Weise entgegen, wie es die Deutsche B a n k nie g e t a n habe. 6 9 G w i n n e r suchte n a c h J a h r e n , als die V e r h a n d l u n g e n m i t Sir E r n e s t Cassels N a tional B a n k of T u r k e y ü b e r eine g e m e i n s a m e A u s b e u t u n g der m e s o p o t a m i s c h e n ö l f e l d e r b e r e i t s eingesetzt h a t t e n , d e n E n g l ä n d e r n die f r ü h e r e n Schwierigkeiten m i t d e r Zivilliste d a m i t zu e r k l ä r e n , d a ß die Deutsche B a n k sich g e w e i g e r t h ä t t e , die g e f o r d e r t e n B e s t e c h u n g s s u m m e n zu zahlen. 7 0 M a n w i r d g u t t u n , d e r a r t i g e Ä u ß e r u n g e n r e c h t skeptisch zur K e n n t n i s z u n e h m e n . Die Zivilliste b e s a ß a u s r e i c h e n d e sachliche G r ü n d e , u m m i t d e m Konzessionsträger höchst u n z u f r i e d e n zu sein. W e n n G w i n n e r s A n g a b e n z u t r e f f e n sollten, w a s bei den in d e r T ü r k e i h e r r s c h e n d e n V e r h ä l t n i s s e n j a nicht v o n v o r n h e r e i n auszuschließen ist, bliebe zu f r a g e n , w a r u m die Deutsche B a n k die g e f o r d e r t e n S c h m i e r g e l d e r nicht a u f b r a c h t e ; sie w a r j a sonst, e t w a b e i m Abschluß des A b k o m m e n s ü b e r die F i n a n z i e r u n g des B a g d a d b a h n b a u s i m J u n i 1908, m i t ü b e r m ä ß i g e n S k r u p e l n in dieser Hinsicht nicht belastet, w a s i m A u s w ä r t i g e n A m t w o h l b e k a n n t w a r 7 1 u n d ü b r i g e n s auch f ü r a n d e r e sich in d e r T ü r k e i b e t ä t i g e n d e ausländische F i n a n z gruppen zutraf. Die A n f a n g 1907 e r f o l g t e A n n u l l i e r u n g der Vorkonzession von 1904 d u r c h die Zivilliste b e d e u t e t e nicht d e n e n d g ü l t i g e n Bruch m i t der D e u t s c h e n B a n k . Die K o n t a k t e b r a c h e n auch in d e n n ä c h s t e n M o n a t e n nicht a b u n d f a n d e n w o h l erst d u r c h den M a c h t a n t r i t t d e r J u n g t ü r k e n ein Ende. D i e V e r t r e t e r der D e u t s c h e n B a n k bezeichneten sie im N a c h h i n e i n als d u r c h a u s erfolgverheißend 7 2 , w a s n a t ü r lich b e s o n d e r s m i t d e r n o t w e n d i g e n Vorsicht z u r K e n n t n i s g e n o m m e n w e r d e n muß. H i e r b e i v e r d i e n t noch ein a n d e r e r U m s t a n d B e a c h t u n g : Die Deutsche B a n k k a m 1908 der Zivilliste in finanzieller Hinsicht d u r c h a u s entgegen. Die Anatolische CJ
' Aktenvermerk Fürstenbergs über eine Unterredung mit Helfferich, 14. 11. 1911. Helfferich erklärte: „Die Deutsche Bank und mit ihr das belgische Syndikat haben sich wiederholt bemüht, die Firma Lenz & Co. von dem Gedanken [der Bosporusbahn] abzubringen, besonders habe sie auf die Berliner Handels-Gesellschaft einzuwirken versucht, nicht daß sie hierbei von reiner Nächstenliebe geleitet worden wäre, sondern das Geschäft störe aus mannigfachen Anlässen ihre Kreise, wozu nicht zuletzt gehöre, daß in der Konzession Bedingungen Aufnahme gefunden hätten, welche die Deutsche Bank und die anderen bisher immer erfolgreich bekämpft haben", ebenda, Berliner Handels-Gesellschaft 14 125. Gwinner an Babington Smith, 31. 1. 1912: „At this stage some of the well-known 'sharks' of the old regime (I could give you names, but no matter) heard of our intentions and manoeuvred to extort from us a formidable bakshish. Under futile pretexts they engineered a letter from the Liste civile saying the Anatolian Railway Company has not fulfilled its contract", ebenda, Deutsche Bank 10 271. 71 Große Politik der europäischen Kabinette (im folg.: GP), Bd. 27/2, Nr. 9958. ri Protest der Anatolischen Bisenbahn-Gesellschaft, 4. 8. 1909, ZStAP, Deutsche Bank 11 051.
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Eisenbahn-Gesellschaft gewährte ihr zwei Vorschüsse auf Zolleinnahmen in Höhe von 20 000 und 12 000 türkischen P f u n d . Im September, also bereits nach dem Umsturz, beteiligte sich die Deutsche Bank zur Hälfte mit der Banque Ottomane an einem weiteren Vorschuß in Höhe von 50 000 türkischen Pfund. 7 3 Ob u n d inwieweit Petroleuminteressen der Deutschen Bank h i e r f ü r den Ausschlag gaben, k a n n im einzelnen nicht nachgewiesen werden. Die Machtergreifung der J u n g t ü r k e n veränderte nicht die Stellungnahme der Konstantinopler Regierung zu den Konzessionsansprüchen der Deutschen Bank. Die Haltung der T ü r k e n versteifte sich sogar noch. Dazu trug auch bei, daß über die Erteilung von Erdölkonzessionen in Mesopotamien nicht mehr die Zivilliste, sondern das Finanzministerium entschied. Dessen Leiter neigten aus dem Bestreben heraus, sich den Pariser Geldmarkt zu erschließen und mit der in Finanzf r a g e n häufig ausschlaggebenden türkischen Schuldenverwaltung, der Dette Publique Ottomane, in der Franzosen und Engländer tonangebend waren, reibungslos zusammenzuarbeiten, in der Regel eher zu den Westmächten als zu Deutschland hin. Die Deutsche Bank ließ nach dem Machtantritt der J u n g t ü r k e n über einen längeren Zeitraum hinweg die Frage der Erdölkonzessionen ruhen. Die in den ersten Monaten des neuen Regimes deutlich hervortretende Hinwendung zu den Westmächten, die in der Übernahme des Großwesirats durch den anglophilen Kiamil Pascha und dem stark gewachsenen Einfluß der britischen Botschaft in Konstantinopel am augenfälligsten zum Ausdruck kam, erklärte diese Zurückhaltung genügend. Die Position w u r d e durch die Rückwirkungen der Bosnischen Krise auf das deutsch-türkische Verhältnis zusätzlich erschwert. Die unter Abdul Hamid häufig ausschlaggebenden Empfehlungen der deutschen Botschaft galten plötzlich recht wenig. Die Vertreter der Deutschen Bank n a h m e n die Verschlechterung ihrer Stellung in Konstantinopel illusionslos zur Kenntnis. Die häufig a n g e f ü h r t e Äußerung Helfferichs: „Der T r a u m der ,deutschen Bagdadbahn' bis zum Golf ist ausgeträumt" 7 4 , beweist dies zur Genüge. Ebenso w u r d e die Situation in der Wilhelmstraße beurteilt: „Die Stimmung in der Türkei", hieß es in einer Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amts, Wilhelm v. Schoen, von A n f a n g Dezember 1908, „ist zur Zeit den Unternehmungen der Deutschen Bank zweifellos ungünstig." 7 5 Erst unter dem neuen Großwesir Hilmi Pascha begann sich im Sommer 1909 die Situation in Konstantinopel wieder allmählich zu wandeln. Dazu trugen die alles andere als uneigennützige Politik Englands und der Argwohn der J u n g t ü r k e n gegenüber Rußland kräftig bei. Damit gewannen die in Deutschland oder von deutschen Militärberatern ausgebildeten höheren türkischen Offiziere einen stärkeren Einfluß auf die Gesamtausrichtung der Politik. Einen positiven Entscheid der P f o r t e hinsichtlich der mesopotamischen Erdöl-* konzession der Deutschen Bank bewirkte dieser Umschwung jedoch nicht. Im v:l
Am 21. 7.1930 angefertigte Notiz für Direktor Meissner, ebenda. GP, Bd. 27/2, Nr. 9958. r ° Ebenda.
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Juni 1909 erfuhren deren Sachverwalter in Konstantinopel, daß H. E. Nichols von der D'Arcy-Gruppe über die Verleihung der Konzession mit den Türken verhandle und ein entsprechender Vertragsentwurf' bereits der Pforte vorliege. Huguenin wies daraufhin das türkische Finanzministerium auf die aus der Vorkonzession von 1904 abgeleiteten Rechte der Anatolischen Eisenbahn-Gesellschaft hin. 76 In Berlin mobilisierte die Deutsche Bank sofort das Auswärtige Amt, damit es die deutsche Botschaft in Konstantinopel anweise, in Abstimmung mit Huguenin gegen die Verleihung der Konzession an Nichols zu protestieren. Auch wurde Huguenin ermächtigt, der türkischen Regierung zu erklären, „daß wir jederzeit eine Konzession auf Grund der von Nichols angebotenen Bedingungen bereitwilligst akzeptieren". Der Generaldirektor der Anatolischen EisenbahnGesellschaft sollte ferner die Türken darauf aufmerksam machen, daß der Konzessionsentwurf „in wichtigen Punkten offenbar absichtlich undeutlich und für Türkei gefährlich" sei. 77 Geschäftsträger v. Miquel suchte Ende Juni den neuernannten Finanzminister Djawid Bey und den Minister für Bergwerks- und Forstverwaltung Aristidi Bey auf, um sich für das Anliegen der Anatolischen Eisenbahn-Gesellschaft warm einzusetzen. Der letztere erklärte jedoch Miquel sofort, daß nach der Auffassung der Zivilliste die Vorkonzession keine Gültigkeit mehr besitze, „weil die Gesellschaft ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen sei".78 Die schriftliche Antwort des Finanzministeriums war klar und eindeutig, sie wiederhplte die früheren Argumente der Zivilliste und bezeichnete die Vorkonzession als verfallen. 79 Gegen diesen Entscheid legte die Anatolische Eisenbahn-Gesellschaft notariellen Protest ein. Darin gab sie u. a. ihre Absicht kund, gegen die Regierung gerichtlich vorzugehen, falls diese ihre Rechte nicht innerhalb von 14 Tagen anerkenne. 80 Offensichtlich aus der Erwägung heraus, daß es in Konstantinopel nicht möglich sein werde, sich durchzusetzen, verlegte die Deutsche Bank die Verhandlungen nach Berlin, wo sie den türkischen Botschafter unter Druck zu setzen suchte. Dieser schien der Deutschen Bank einen geeigneteren Verhandlungspartner als türkische Minister abzugeben. Helfferich trat gegenüber dem Botschafter sehr selbstbewußt auf: Die Deutsche Bank habe durch die Aussendung der Studienkommission die Verpflichtungen des Vorvertrages eingehalten; sie beanspruche daher auf Grund der Festlegungen im Absatz 2 des Artikels 6 der Vorkonzession ein Vorzugsrecht, „zu gleichen Bedingungen in jede von der Regierung mit einer dritten Person oder Gesellschaft vereinbarte Konzession für die Ausbeutung der mesopotamischen Petroleumvorkommen einzutreten. Damit ist die Rechtslage dermaßen klar", fuhr Helfferich fort, „daß es nicht zu verstehen wäre, wenn es ,vu Huguenin an den türkischen Finanzminister Rifat Bey, 19. 6. 1909, ZStAP, Deutsche Bank 10 271. " Deutsche Bank an Anatolische Eisenbahn-Gesellschaft, 26. 6. 1909, ebenda, 9674. Bericht Miquels, 29. 6.1909, ebenda, AA 13 310. /a Türkisches Finanzministerium an Anatolische Eisenbahn-Gesellschaft, 8. 7. 1909, ebenda. m Protest der Anatolischen Eisenbahn-Gesellschaft, 4. 8. 1909, ebenda, Deutsche Bank 11 051.
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die türkische Regierung in dieser Angelegenheit auf einen Prozeß ankommen lassen sollte."81 Die Deutsche Bank ließ es bei der Drohung bewenden. Ob die Pforte, der ein Prozeß schon im Hinblick auf die Haltung der Reichsleitung wenig opportun erscheinen mußte, diese Zurückhaltung durch gewisse Zusagen honorierte, ist unklar. Den Standpunkt der Deutschen Bank akzeptierten die Türken nach wie vor nicht, immerhin hatten aber auch D'Arcy und Frederick Lane von der ShellGruppe mit ihren Bemühungen, die Erdölkonzession zu erwerben, keinen Erfolg.82 Mehr zu erreichen, hielt Huguenin zu diesem ,Zeitpunkt wohl auch nicht für möglich. In der Deutschen Bank war man mit dem Vorgehen des Generaldirektors nicht ganz einverstanden, ließ ihn aber gewähren. Einige Jahre später bedauerte man in Berlin, keine endgültige Entscheidung erzwungen zu haben. 83 Ob die Deutsche Bank in der Zeit von Mitte 1909 bis Ende 1910 über die Erdölkonzession in Mesopotamien mit der türkischen Regierung verhandelt hat, entzieht sich unserer Kenntnis. Für Gwinner schien im Herbst 1909 die ganze Frage wenig aktuell zu sein: „Bis Mesopotamien in der Lage sein würde, dem Inlande Petroleum zu liefern", schrieb er an Helfferich, „würden im allerbesten Falle 5 Jahre vergehen." 84 Allzu stark wird in dieser Zeit das Interesse der Deutschen Bank an der Erschließung des Erdölgebiets in den Wilajets Mosul und Bagdad wohl nicht gewesen sein. Waren es doch die Jahre, in denen Gwinner, unter dem Vorwand, die Deutsche Bank werde in ihrem Kampf gegen die Standard Oil Co. von der Reichsleitung nicht genügend unterstützt, sowohl mit Henri Wilhelm August Deterding, dem anerkannten Haupt der Royal Dutch/Shell-Gruppe, als auch mit der rumänischen Regierung sowie mit Vertretern und Beauftragten der Standard Oil Co. ernsthaft über den Verkauf der Erdölunternehmen der Deutschen Bank verhandelte bzw. verhandeln ließ.85 Das hinderte die Deutsche Bank allerdings nicht, auch in dieser Zeit anderen Finanzgruppen den Weg zu den mesopotamischen Erdölfeldern zu verbauen. Seit Mitte 1908 versuchte der nordamerikanische Konteradmiral Colby M. ehester mit Hilfe eines Syndikats, der späteren Ottoman-American Development Company, in wiederholten Anläufen von der türkischen Regierung die Konzession für den Bau eines ausgedehnten Eisenbahnnetzes in Zentral- und Südostanatolien
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Helfferich an den türkischen Botschafter in Berlin, 18. 8. 1909, ebenda 10 271. « Shwadran, S. 193; Hewins, S. 73. »•> Verwaltungsrat der Anatolischen Eisenbahn-Gesellschaft an Anatolische EisenbahnGesellschaft, 8. 12. 1911: „Wir können nur bedauern, daß unser formeller Protest seiner Zeit nicht in der genügenden Form, wie wir es gewünscht hatten, angebracht worden ist", ZStAP, Deutsche Bank 9674. 84 Gwinner an Helfferich, 23. 9.1909, ebenda, 10 153. 10 Kiderlen-Wächter an den preußischen Minister für öffentliche Arbeiten Breitenbach. 19.9.1910, ebenda, AA 3079; Hidy, RalphW., Muriel, E., Pioneering in Big Business 1882-1911. History of Standard Oil Company (New Yersey), New York 1955, S. 568 ff.; Seidenzahl, 100 Jahre Deutsche Bank, S. 219 ff.; Brack, S. 244 ft.
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zu erlangen, das bis zur persischen Grenze und bis Mosul reichen sollte. Die Regierung des Präsidenten Taft unterstützte im Zeichen der von ihr verfolgten „Dollar-Diplomatie" nach Kräften dieses Vorhaben. Das Chester-Projekt rief zumindest den Widerspruch von drei europäischen Großmächten hervor, deren „Interessensphären" in der Türkei dadurch betroffen wurden. Eine in Petersburg einberufene Sonderkonferenz wandte sich im Juli 1910 gegen den Bau von Eisenbahnen östlich der Linie Samsun-Sivas-Charput-DiarbekirMosul-Chanikin. 86 Da der Zarismus ein prinzipieller Gegner der Erschließung der östlichen Teile Anatoliens durch Eisenbahnen war, fand er an den Plänen der Amerikaner wenig Gefallen; Frankreich plante in annähernd derselben Region den Bau eines eigenen großen Eisenbahnnetzes; die Reichsleitung wandte sich gegen das Chester-Projekt, weil die Deutsche Bank eine Beeinträchtigung f ü r die Bagdadbahn befürchtete. 1910 war es jedoch vor allem der Druck der deutschen Botschaft, der Großwesir Hakki Pascha veranlaßte, den amerikanischen Plan dilatorisch zu behandeln. Zum endgültigen Scheitern des Chester-Projekts trugen dann weitgehend die Franzosen bei, die 1911 in langwierigen Verhandlungen mit Rußland und der Türkei ihre eigenen, mit dem Vorhaben der Amerikaner nicht zu vereinbarenden Eisenbahnpläne forcierten. In ihrer Agitation gegen das Projekt der Amerikaner bedienten sich die Deutschen in der Türkei des Arguments, daß ehester nur ein Strohmann der Standard Oil Co. und die Kontrolle der entlang der geplanten Schienenstränge liegenden Erdölfelder das eigentliche Ziel der Amerikaner sei.87 Diese Annahme muß in und außerhalb der Türkei weit verbreitet gewesen sein: Auch der russische und der französische Botschafter in Konstantinopel, N. V. Carykov und Bompard, waren dieser Ansicht. 88 Ob sie zutraf, sei dahingestellt: Das State Department leugnete jeden Zusammenhang zwischen der Standard Oil Co. und der OttomanAmerican Development Company. 89 Gwinner gab jedoch vor, durch dieses Dementi nicht überzeugt zu sein. Im Juni 1910 suchte er den Botschafter der USA in Berlin, David Hill, auf und erklärte ihm, der wahre Zweck des Chester-Projekts sei die Gewinnung der Kontrolle über die Erdölgebiete in der Türkei, um deren Erschließung zu verhindern. In einem am 21. Juni im Berliner LokalAnzeiger erschienenen und sicher von der Deutschen Bank lancierten Artikel wurden ähnliche Thesen verfochten. 90 Die Deutsche Bank handelte auf Verdacht. Zuverlässige Nachrichten über die hinter ehester stehenden Finanzgruppen besaß sie nicht. Sie schloß jedoch eine
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Die Internationalen Beziehungen im Zeitalter des Imperialismus, Reihe III, Bd. 1/1, Nr. 35. DeNovo, John A., American Interests and Policies in the Middle East 1900—1939, Minneapolis 1963, S. 68. Fursenko, A. A., Neftjanye tresty i mirovaja politika. 1880-e gody — 1918, Moskau 1965, S. 363; Documents Diplomatiques Français, Ser. 2, Bd. 13, Nr. 151; vgl. auch Schweer, Walther, Die türkisch-persischen Erdölvorkommen, Hamburg 1919, S. 77 f. DeNovo, S. 68. Ebenda, S. 71.
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Mitwirkung der Standard Oil Co. nicht aus, was ihren Argwohn gegen das Chesterprojekt nur noch verstärkte.91 Gwinners Vorgehen gegen die Amerikaner war noch durch andere Beweggründe veranlaßt. Die Standard Oil vermochte in den Jahren vor 1910, sich am Erdölgeschäft in der Türkei, nicht zuletzt auf Kosten der Steaua Romana, einen nicht unerheblichen Marktanteil zu sichern. Aus diesem Grunde bekämpfte der amerikanische Trust, von der Botschaft der USA in Konstantinopel unterstützt, das von der Deutschen Bank angestrebte Einfuhr- und Vertriebsmonopol für Petroleumprodukte. Gwinner sah in diesem Vorgehen der Amerikaner vor allem das Bestreben, der Deutschen Bank Hindernisse in den Weg zu legen.92 Seinerseits tat er alles, was in seinen Kräften stand, um der Standard Oil Co. den Vertrieb ihrer Produkte in der Türkei zu erschweren. Vor allem nutzte die Deutsche Bank ihren weitreichenden Einfluß auf einige Eisenbahngesellschaften in der Türkei, um den Amerikanern den Transport ihrer Produkte erheblich zu erschweren.93 Die von der Deutschen Bank gegenüber der Chester-Gruppe ergriffenen Maßnahmen trugen defensiven Charakter. Das Vorgehen der Amerikaner scheint aber Gwinner mitveranlaßt zu haben, Ende 1910 wieder einen Versuch zu unternehmen, um in der mesopotamischen Erdölfrage über den toten Punkt in den Verhandlungen mit der türkischen Regierung hinwegzukommen. Vielleicht kennzeichnet nichts besser die Unsicherheit der Deutschen Bank über den einzuschlagenden Weg als die Tatsache, daß Gwinner ernsthaft zu überlegen anfing, ob man nicht, gestützt auf den Artikel 22 der Bagdadbahnkonzession94, der ja der Eisenbahngesellschaft in einem 20 km breiten Streifen auf beiden Seiten des Schienenstranges die Ausbeutung der Mineralschätze gestattete, mit der Erdölförderung beginnen sollte. Dieser Gedanke, der 1912 von den Engländern während der Verhandlungen mit der Deutschen Bank wieder aufgegriffen wurde, tauchte hier zum ersten Male auf. Seine Erörterung beweist, daß Gwinner voller
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Verwaltungsrat der Anatolischen Eisenbahn-Gesellschaft an Anatolische-EisenbahnGesellschaft, 8. 12. 1911: „Wir hatten auch selbst Anzeichen einer Bestätigung, daß das große jüdische Bankhaus Kuhn, Loeb & Co. in New York zu den Förderern des Chesterprojekts gehört. Diese Leute stehen mit der Standard Oil Gruppe in vielfacher und intimer Geschäftsverbindung . . . Was wir schreiben sind jedoch mehr oder weniger Kombinationen, für deren Richtigkeit wir nicht bürgen können: Bestimmtes ist uns nicht bekannt. Soweit ist sicher, daß hinter der Chestergruppe erstens Leute gestanden haben, die hofften, Bestellungen von Eisenbahnmaterial zu bekommen und daß ehester und seine Leute selbst damit gerechnet hatten, auch einen Abnehmer für die Optionen auf die Mineralrechte und insbesondere das mesopotamische Petroleum zu finden", ZStAP, Deutsche Bank 9674. Gwinner an Helfferich, 24.12.1910: „Andererseits haben sich die Amerikaner wesentlich um unser Geschäft zu ruinieren, seit einiger Zeit in der Türkei angesiedelt . . . Lane meinte, gerade weil die Amerikaner in letzter Zeit ein Geschäft in der Türkei etabliert haben, müsse man mit ihrem diplomatischen Widerstand gegen das Monopol rechnen. Alles ebenso einleuchtend wie niederträchtig", ebenda, 10 153. Vgl. Briefwechsel zwischen Gwinner und dem Direktor der Betriebsgesellschaft der
orientalischen Eisenbahn Dr. U. Gross aus den Jahren 1910 bis 1912, ebenda. '•>'• Schweer, S. 221 f. 5 Jahrbuch 24
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Zweifel war, ob die türkische Regierung die von der Deutschen Bank auf Grund der Vorkonzession von 1904 beanspruchten Rechte je bewilligen würde. Gwinner dachte dabei fürs erste nicht an eine Produktionsaufnahme in ganz großem Maßstab. Was ihm vorschwebte, war die Erschließung der bereits in Porros Bericht hervorgehobenen Ölquellen bei El Gayara, deren Ausbeute in erster Linie für die Lokomotivheizung der Bagdadbahn verwandt werden sollte.95 Ende Dezember 1910 übermittelte Gwinner nach Konstantinopel neue Vorschläge. Uber dieses Angebot sprach ein Vertreter der Anatolischen Eisenbahn-Gesellschaft mit dem türkischen Finanzminister, der die ganze Angelegenheit zu überprüfen versprach. 96 Der Zeitpunkt für den Abschluß einer neuen Vereinbarung mit der Pforte schien nicht ungünstig gewählt, da die im März 1911 erfolgte Unterzeichnung der Konventionen über den Weiterbau der Bagdadbahn von Helif nach Bagdad die Position der Deutschen Bank im Osmanischen Reich zeitweise stärkte. Diesen Umstand galt es zu nutzen. Man wird annehmen dürfen, daß das im Juni 1911 von der Anatolischen Eisenbahn-Gesellschaft dem türkischen Ministerium für öffentliche Arbeiten unterbreitete Vierpunkteprogramm an die im Januar wieder aufgenommenen Verhandlungen anknüpfte. Im einzelnen wurde in Vorschlag gebracht: 1. Die Anatolische Eisenbahn-Gesellschaft entsendet nach dem mesopotamischen Erdölgebiet eine neue Studienkommission; 2. die Regierung verpflichtet sich, während eines bestimmten Zeitraums, beispielsweise innerhalb von sechs Jahren, in dem Territorium, auf das sich die Vorkonzession von 1904 bezog, also in den Wilajets Mosul und Bagdad, anderen Gesellschaften und Einzelpersonen keine Erlaubnis zur Erkundung der dortigen Erdölquellen zu erteilen; 3. nach Ablauf der zu vereinbarenden Frist, spätestens aber nachdem die Anatolische Eisenbahn-Gesellschaft zumindest 20 000 ha für die Erdölausbeutung in Besitz genommen haben würde, erklärt diese sich bereit, auf alle ihr aus der Vorkonzession von 1904 zustehenden Rechte zu verzichten. Es wurde ausdrücklich hervorgehoben, daß die türkische Regierung durch den Abschluß der neuen Vereinbarung nicht die Gültigkeit der Vorkonzession von 1904 anerkenne; 4. die Gesellschaft verzichtet auf die Rückzahlung der durch die Studienkommission 1905 verursachten Kosten. 97 Die Deutsche Bank beabsichtigte, wie diese Vorschläge zeigen, Zeit zu gewinnen. Mit dem Baubeginn der Strecke Helif — Bagdad konnte das Transportproblem als weitgehend gelöst gelten, was die Erlangung der Ausbeutungsrechte besonders dringend machte. Der Abschluß einer derartigen Vereinbarung durch die türkische Regierung hätte es den Mitbewerbern der Deutschen Bank unmöglich gemacht, im Laufe der nächsten Jahre Förderrechte in Mesopotamien zu erwerben. In dieser Zeit mußte aber aller Voraussicht nach die Entscheidung über die endgültige Konzession fallen. Dem verklausulierten Zugeständnis der Deutschen Bank, nach dem in der Vereinbarung festgelegten Termin auf die ihr durch die Vorkonzession eingeräumten Rechte zu verzichten, kam daher, wenn überhaupt, 50 Slti 97
Gwinner an Helfferich, 18.11.1910, ZStAP, Deutsche Bank 10 153. Anatolische Eisenbahn-Gesellschaft an Gwinner, 8. 1.1911, ebenda. Anatolische Eisenbahn-Gesellschaft an Ministerium der öffentlichen 26. 6.1911, ebenda, 11 051.
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nur untergeordnete Bedeutung zu. Die Türken ließen sich aber auch durch diesen neuen Vorstoß der Deutschen Bank zu Zugeständnissen nicht bewegen. Scheinbar losgelöst von diesen Bemühungen, die türkische Regierung in der einen oder anderen Weise zu einer Anerkennung der Vorkonzession von 1904 zu bewegen, aber in einem inneren Zusammenhang damit stehend, gab es seit 1910 Verhandlungen der Deutschen Bank mit der von dem bekannten, aus Deutschland gebürtigen englischen Finanzmann Sir Ernest Cassel 1909 gegründeten National Bank of Turkey über die gemeinsame Ausbeutung der mesopotamischen Erdölquellen. Für Gwinner gewann ein erfolgreicher Abschluß der Verhandlungen mit den Türken über die Vorkonzession von 1904 in diesem Zusammenhang sogar eine zusätzliche Bedeutung: „Wenn es gelingen sollte, wie wir noch immer hoffen, unsere guten Rechte aus dem alten Vertrag mit der Liste Civile durchzusetzen, würden wir wahrscheinlich diese Rechte, eventuell unter Abänderung des Quotenverhältnisses mit der von der National Bank of Turkey ins Leben zu rufenden Gesellschaft fusionieren." 98 Gwinner gelang es nicht, die Türken für seine Pläne zu interessieren und sich damit in den Verhandlungen mit der National Bank of Turkey eine bessere Ausgangsposition zu sichern. Dies war mit ein Grund dafür, daß sich die Deutsche Bank in den Verhandlungen mit den Engländern über die Gründung einer sich mit der Erdölgewinnung in Mesopotamien befassenden Gesellschaft nach langwierigen Verhandlungen schließlich mit der erstaunlich geringen Beteiligung von 25 Prozent begnügte." Lassen sich anhand des ausgewerteten Materials über das letzthin gescheiterte Vorhaben, in den Wilajets Mosul und Bagdad das Monopol für die Erdölgewinnung zu erlangen, weiterführende Feststellungen treffen über die allgemeine Tendenz der Petroleumpolitik der Deutschen Bank und über deren Versuche, das Osmanische Reich wirtschaftlich zu durchdringen? Der erste Teil der Frage muß verneint werden: Über das bisher Gesagte hinaus ist es nicht möglich, den Stellenwert näher zu bestimmen, der Mesopotamien in den Überlegungen über Ausbau und Festigung der Stellung der Deutschen Bank im Petroleumgeschäft von den Erdölsachverständigen eingeräumt wurde; es unterliegt jedoch keinem Zweifel, daß die Schaffung günstiger Absatzmöglichkeiten für die Produkte der Steaua Romana in Südosteuropa und in der asiatischen Türkei in diesen Jahren gegenüber den mesopotamischen Plänen den Vorrang behauptete. Das rumänische Erdölunternehmen, in das die Deutsche Bank Millionenbeträge investiert hatte, war eine Realität; die angestrebte Erschließung der Erdölvorräte im arabischen Raum galt zu diesem Zeitpunkt noch immer als ein nicht geringes finanzielles Wagnis. Aus der Sicht von heute handelte die Deutsche Bank wenig vorausschauend, 08
Zit. nach Denny Ludwell, America Conquers Britain, New York 1930. S. 234. '« O'Connor, S. 271. 11 Wilson an Polk, 4. 3.1920, in Baker, Ray Stannard, Woodrow Wilson and World Settlement, New York 1923, S. 256. 18 Zit. nach Davenport/Cooke, S. 81.
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des weiterverarbeiteten Rohöls wurden etwa 43,8 Prozent von Standard-Gesellschaften raffiniert. Von den Pipelines kontrollierten sie 69 Prozent. 19 Auf dem ökonomisch besonders riskanten Gebiet der Förderung hatte die Standard zugelassen, daß andere ölgesellschaften fast 80 Prozent des Geschäfts übernahmen. Im Raffineriewesen, das hinsichtlich der Höhe der Investitionen nach der Förderung kam, hatte die Standard 60 Prozent der Anteile anderen Gesellschaften überlassen. Doch bei den Pipelines, die, obwohl sie eine gewaltige Vertriebsorganisation benötigten, die geringsten Geldanlagen erforderten, kontrollierte die Standard nahezu 70 Prozent. Mit großem Scharfsinn erlaubte die Standard Oil den großen und kleinen ölgesellschaften, das Geld aufzubringen, während sie selbst sich die Kontrolle der Märkte vorbehielt und die großen Profite machte. Die Standard Oil besaß nicht nur die inländische Oberhoheit. Sie war zuvor auch international vorherrschend gewesen. Es gab eine Zeit, da amerikanisches Petroleum die Lampen der ganzen Welt mit ö l versorgte. Die Standard war der Händler, und Standard Oil-Depots wuchsen in jedem Verbraucherzentrum. Europa, der Nahe Osten, der Ferne Osten wie auch beide Amerika waren alle umschlungen von dieser Verkaufsorganisation. Noch in den 90er Jahren des vorigen Jh. war die Weltölversorgung das Geschäft der Standard Oil. Deshalb betrachtete die Standard die Entwicklung der Ölindustrie in Rußland, in Holländisch-Ostasien und in Mexiko als eine Attacke auf ihre Oberhoheit. Die Brüder Nobel und die Rothschilds vertrieben das amerikanische Benzin aus Rußland. 20 Die Royal Dutch Company verwehrte der Standard den Zugang zu Holländisch-Ostindien. Dann begann die Royal Dutch/ Shell-Gruppe sogar, in die Felder der Vereinigten Staaten einzudringen. Die Anglo-Persian Oil Company etablierte ein Monopol in Persien und Mesopotamien. Während die Standard bisher immer genötigt gewesen war, ausländische Märkte f ü r den Absatz der ständig steigenden amerikanischen ölproduktion zu erschließen, mußte sie nun auf ausländischen Feldern ölreserven suchen. 1919, als das Schicksal des besiegten Ottomanischen Reichs noch auf verschiedenen Konferenzen diskutiert wurde, ließ Walter Teagle, der dem Aufsichtsrat der Standard angehörte, vier weiteren Mitgliedern ein Memorandum zukommen. Dieses Schriftstück ließ erkennen, daß die Jersey Standard ernsthaftes Interesse am ö l des Mittleren Ostens gewonnen hatte. Indem er sich auf die Mitteilung eines ungenannten Informanten in London bezog, schrieb Teagle: „Die Zukunft der gegenwärtigen persischen Ölfelder ist besonders vielversprechend. Es gibt gewichtige Gründe, anzunehmen, daß diese persischen Felder eine große Ausdehnung haben und daß sie bis nach Mesopotamien hinüberreichen . . . Bei der Teilungsregelung der Türkei sollte man die Möglichkeiten, die das Öl bietet, in Betracht ziehen. In diesem Zusammenhang sollte man sich ins Gedächtnis rufen, daß John Worthington immer der Meinung war, daß das Tal des Euphrat un],J
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Sampson, Anthony, The Seven Sisters: The Great Oil Companies and the World they Shaped, New York 1975, S. 29. Die Standard Oil, die mit dem Zusammenbruch der Sowjetmacht rechnete, erwarb 1920 einen Kontrollanteil am Unternehmen der Nobels. Dieser Geschäftsabschluß der Standard Oil zählte nicht zu ihren scharfsinnigsten.
ölpolilik der USA in Mesopotamien
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zweifelhaft eine große Menge ö l hervorbringen würde. Ich bin gespannt, ob es irgendeinen Weg gibt, in Mesopotamien bei der Ölförderung ins Spiel zu kommen." 2 1 Worthington, der ehemalige Chefgeologe der Gesellschaft, hatte Persien und Mesopotamien 1910 besucht und günstige Berichte über die dortigen ölfeider verfaßt. Erst zehn Jahre später erfolgte die Aufforderung zum Handeln durch die Aufsichtsratsmitglieder der Jersey. Diese Langsamkeit der Standard erklärt sich durch die Tatsache, daß 1910 die Entwicklungsmöglichkeiten im Nahen und Mittleren Osten noch unklar waren. Außerdem schien es genügend Ölreserven in den Vereinigten Staaten zu geben, um alle Bedürfnisse zu befriedigen. 1919 war allerdings das Interesse der Standard am ö l des Mittleren Ostens wieder erwacht. Dabei spielte die Tatsache, daß britische Gesellschaften aktiv dort engagiert waren, keine geringe Rolle, besonders seit Gerüchte zu hören waren, die Briten seien bestrebt, Amerika von dort fernzuhalten. Schon 1918 hatten die Briten Gewalt und List angewandt, um Zugang zu den Konzessionsunterlagen der New York Standard in Jerusalem zu bekommen. 22 Das wurde dem State Department von H. C. Cole von der Standard Oil Company of New York übermittelt, zusammen mit seiner Überzeugung, daß die Briten es keiner amerikanischen Gesellschaft gestatten würden, auf britischem Mandatsterritorium zu operieren. 23 Es scheint, daß die Jersey Standard zu dieser Zeit von der genauen Art und dem Ausmaß der politischen Hindernisse, mit denen sie im Mittleren Osten konfrontiert war, noch keine Ahnung hatte. Es wurde beschlossen, die Entscheidung öffentlich zu erzwingen. E. J. Sadler, ein Geschäftsführer der Gesellschaft, wurde nach Paris gesandt, um mit amerikanischen Delegierten bei der Friedenskonferenz über die vagen Aussichten eines britischen Monopols in Mesopotamien zu sprechen. Sadler malte ein düsteres Bild von einer solchen Möglichkeit. In Kreisen der Gesellschaft wurde die Meinung geäußert, durch die britische Vorherrschaft entstünde noch eine größere Bedrohung f ü r die Geschäfte der Standard, als es durch einen deutschen Sieg der Fall gewesen wäre. 24 Zur selben Zeit bereitete die Standard die Entsendung einer geologischen Expedition nach Mesopotamien vor. Jerseyleute schauten sich'in Europa und in Amerika nach ehemaligen Angestellten der Anglo-Persian um, die Informationen über das Land liefern könnten. Die Standard erkannte, daß es angesichts der politischen Bedingungen im Mittleren Osten vorteilhaft wäre, einen Engländer auf diese Reise zu schicken. Es gab allerdings einige Schwierigkeiten, einen geeigneten Geologen zu finden, der gewillt war, den Auftrag zu übernehmen, und bevor noch -" Zit. nach Gibb/Knowlton, S. 285. -- Die New Yorker Standard war zwar formal unabhängig, blieb jedoch unter der Kontrolle der Standard of New Jersey. Cole an das State Department, 15. 3. 1919, in Papers Relating to Foreign Relations of the United States (im folg.: FRUS), 1919, Bd. 2, S. 250. International Petroleum Cartel. Staff Report to the Federal Trade Commission submitted to the Subcommittee an Monopoly of the Select Committee on Small Business, United States Senate, 82nd Congress, 2nd Session, 1952, S. 50 f. G Jahrbuch 24
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ein akzeptabler Kandidat ausgewählt worden war, rückten alle Pläne für eine Expedition in weite Ferne. Die britische Militärobrigkeit in Bagdad verweigerte die Erlaubnis für jegliche amerikanische Geologenteams, in Mesopotamien Untersuchungen anzustellen, gleich, ob sie von einem Engländer geführt würden oder nicht. Alle Zweifel in bezug auf die britischen Absichten waren nun beseitigt. Die Ölquellen Mesopotamiens sollten offenbar ausschließlich britisch kontrollierten Gesellschaften vorbehalten sein. Die Grenzen der Region waren für amerikanische ölgesellschaften unwiderruflich geschlossen.25 Die Standard Oil dachte jedoch nicht, dies einfach hinzunehmen. Sie lancierte prompt eine Beschwerde beim State Department, worauf Washington in London protestierte — die „offene Tür" war wieder einmal im Begriff, zur cause célèbre zu werden. 26 Die sofortige Reaktion auf den Protest der Standard war ein Schreiben, das Außenminister Lansing am 30. Oktober 1919 an den amerikanischen Botschafter in London sandte. Davis wurde aufgefordert, „der britischen Regierung zu verstehen zu geben, daß das Department erwarte, daß den Vertretern privater amerikanischer Konzerne die gleichen Privilegien eingeräumt würden wie denen britischer oder anderer Nationalität, sowohl in Mesopotamien als auch in Palästina". 27 Das britische Foreign Office antwortete, daß weder ölsuchexpeditionen beliebiger Nationalität eine Arbeitserlaubnis bekämen, solange über den politischen Status Mosopotamiens nicht entschieden sei, noch würden irgendwelche Konzessionen vergeben oder ölarbeiten gestattet, außer denen, die notwendig seien, um die militärische Garnison zu versorgen. 28 Selbst wenn diese Anordnung sich auch auf die britisch kontrollierten Gesellschaften erstreckte, war sie doch für die Standard Oil zum Schaden, zumal die Royal Dutch/Shell und die Anglo-Persian schon umfangreiche geologische Informationen besaßen, die der Standard fehlten und von deren Sammlung sie technisch abgeschnitten war. Aber noch schlimmer — die Standard erhielt den Hinweis, daß das Verbot auf die Royal Dutch/Shell und möglicherweise auch auf die Anglo-Persian in Wirklichkeit nicht angewendet würde, da Geologen dieser beiden Gesellschaften ihre Messungen fortsetzten. 29 Diese Information wurde dem State Department übermittelt. Die Standard Oil Company sah sich der Tatsache gegenüber, daß die britische Regierung ihre Politik des Ausschlusses amerikanischer Gesellschaften vom ölreichen Mittleren Osten weiter fortführen würde, wenn die Gesellschaft nicht gemeinsam mit dem State Department drastische Aktionen unternähme. Die amerikanische Gesellschaft mußte sich darauf einstellen, daß die Royal Dutch/Shell und die AngloPersian mit der aktiven Unterstützung der britischen Regierung in eine Position kommen konnten, die eine ernsthafte Herausforderung an das Weltprimat der Standard Oil-Gruppe dargestellt hätte. GibbjKnowlton, S. 286. Shwadron, Benjamin, The Middle East, Oil and the Great Powers, New York 1973, S. 403 f.; Manuel, Frank E., The Realities of American-Palestine Relations, Washington 1949, S. 267-272. =" Lansing an Davis, 30.10.1919, in: FRUS, Bd. 2, S. 259 f. Davis an Lansing, 22.11.1919, ebenda, S. 260 f. •*> Gibb/Knowlton, S. 287.
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Unter diesen Umständen gelangte die Standard, ansonsten ein Wortführer des rauhen Individualismus, zu der Auffassung, daß es nützlich sein könnte, sich mit anderen amerikanischen ölgesellschaften im Kampf gegen die britischen ö l konzerne zu vereinen. Infolgedessen organisierte sie im März 1919 das American Petroleum Institute, in dem alle größeren amerikanischen Ölgesellschaften vertreten sein sollten. Kollektives Handeln wurde zur Losung des Tages.30 Das Institut bekam ein Komitee für internationale Beziehungen unter dem Vorsitz von Walter C. Teagle, dem langjährigen Präsidenten der Standard Oil of New Jersey. Das Komitee rief die amerikanische Regierung unverzüglich auf, alle notwendigen Maßnahmen zu treffen, um den Ausschluß der Standard vom Mittleren Osten zu verhindern.31 Aber gleichzeitig machte es deutlich, es wünsche nicht die Einführung irgendwelcher Gesetze, die „die Gesellschaften bei ihren kommerziellen Operationen behindern" würden.32 Mit anderen Worten, die Regierung der Vereinigten Staaten sollte alles tun, um die Tür zum Mittleren Osten für die amerikanischen Gesellschaften zu öffnen, aber sie durfte sich nicht in die Geschäfte dieser Gesellschaften einmischen. Für den Augenblick sah sich das State Department einer gewissen diplomatischen Schwierigkeit gegenüber. Im Hinblick auf die vorangegangenen Versicherungen des Foreign Office, daß keinerlei Rekognoszierung gestattet würde, konnte das State Department die Information der Standard nicht zur Grundlage eines offiziellen diplomatischen Vorhalts machen, ohne das Foreign Office ganz einfach der Lüge zu bezichtigen. Nichtdestoweniger sandte Außenminister Lansing ein Telegramm an den US-Botschafter in London, in dem er ihn aufforderte, „die britische Regierung an den generell restriktiven und exklusiven Charakter ihrer ölpolitik und die in wachsendem Maße feindselige Kritik daran in den Vereinigten Staaten [zu] erinnern".33 Im Mai 1920 gelangten nun Kopien des noch geheimen ölabkommens von San Remo in die Hände der Standard Oil Company und des State Department. Gibb und Knowlton, die Zugang zu den Berichten der Standard Oil Company hatten, behaupteten, daß die Aufsichtsratsmitglieder der Standard, obwohl sie etwas ähnliches vermuteten, doch auf dieses Dokument völlig unvorbereitet waren. „Das gewöhnlich umfassende Informationssystem der Gesellschaft hatte nicht vermocht, lebenswichtige Informationen zu liefern."34 Die Standard begann jetzt mit aller Kraft eine Kampagne, um die „öffentliche Meinung" zu mobilisieren und die Regierung der Vereinigten Staaten zu veranlassen, gegen ihren Ausschluß von den größeren Ölvorkommen außerhalb der Staaten zu protestieren. Die Presse charakterisierte die Ubereinkunft von San Remo als eine unverschämte Verletzung des Mandatsprinzips, das allen Alliierten gleiche Rechte garantiere, eines Prinzips, das Großbritannien und Frankreich zu M al Si 33 34
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Oil and Gas Journal, New York, 18, 6. 6.1919, S. 62 ff. Ebenda, 11. 7.1919, S. 65. Ebenda, 5. 9.1919, S. 14. Lansing an Davis, 4. 2.1920, in: FRUS, Bd. 2,1920, S. 649 f. Gibb ¡Knowlton, S. 284.
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einer Zeit offen unterstützt hätten, da sie bereits heimlich ihr diskriminierendes Ölabkommen ausarbeiteten. Sollten die Vereinigten Staaten, die soviel getan hätten, den Krieg gewinnen zu helfen, jetzt von der Wahrnehmung kommerzieller Chancen in den besiegten Nationen ausgeschlossen werden? 35 Gleichzeitig beunruhigte die US-Presse die Öffentlichkeit mit Berichten von einer drohenden ölknappheit, welche eintrete, wenn den amerikanischen ölgesellschaften keine Gelegenheit gegeben würde, in allen Teilen der Welt nach ö l zu suchen. 36 Während die Presse somit eine Kampagne gegen Amerikas ehemalige Verbündete in Szene setzte, wurden verschiedene Politiker ebenfalls aktiv. Sie wetteiferten miteinander, Großbritannien im Senat und im Unterhaus anzuprangern. Es wurde eine Bewegung mit dem Ziel gestartet, London mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Die Regierung der Vereinigten Staaten sollte sich gegenüber den britischen Gesellschaften direkt f ü r die Erlangung ausländischer Konzessionen einsetzen. Der kalifornische Senator Phelan schlug im Mai 1920 in einer Resolution die Gründung einer Bundesgesellschaft — der United States Oil Corporation — vor, die die amerikanischen Bemühungen um überseeisches Öl koordinieren, leiten und selbst ausländische Ölkonzessionen erwerben sollte.37 Diese Resolution wurde natürlich nicht angenommen. Es war nicht im Interesse der Standard Oil, einen neuen Konkurrenten zu schaffen. Was sie wollte, war die volle Ausnutzung der Macht der amerikanischen Regierung zur Sicherung ihrer eigenen Maximalprofite. Van H. Manning, Direktor des Bergbaubüros und gleichzeitig inoffizieller Verbindungsagent zwischen der Regierung der Vereinigten Staaten und der amerikanischen Ölindustrie, vertrat das in seinem „Bericht über die internationale Politik betreffend die Welterdölindustrie", in dem er Regierungsunterstützung f ü r amerikanische Ölgesellschaften forderte. 38 Lane, Innenminister in Wilsons Regierung von 1913 bis 1920, verlangte Chancengleichheit überall in der Welt J:J
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Bei diesem Vergleich waren die Signatarmächte Großbritannien und Frankreich übereingekommen, gewisse Erdölvorkommen in verschiedenen Teilen der Welt untereinander aufzuteilen. Im Fall Mesopotamiens gestand Großbritannien Frankreich einen 25-Prozent-Anteil an der Turkish Petroleum Company zu. Großbritannien besaß dann die verbleibenden 75-Prozent-Anteile an dieser Gesellschaft, denn inzwischen war der Royal Dutch/Shell-Ring ein britischer Konzern geworden. Vgl. Shwadron, S. 204. Obwohl es stimmte, daß die Ölvorkommen der Vereinigten Staaten durch Vergeudung in den Methoden der Förderung und Verarbeitung schneller als nötig verbraucht wur-, den, war es doch keinesfalls wahr, daß das Land seine Ölvorkommen erschöpft hatte. Offensichtlich wurde das durch die Entdeckung der großen ölfelder in Oklahoma, Texas und Kalifornien in den 20er Jahren. Es war eine Periode rapider Expansion in der Förderung, und bald war die Ölindustrie nicht über die Knappheit, sondern über den Uberfluß besorgt. Vgl. Watkins, W., Oil: Stabilization or Conversion?, New York 1937, S. 30-39. Congressional Record. Proceedings of Debates, First Session of the 66th Congress, 58, part 4, July 29, 1920, S. 3304-3310. Ebenda.
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f ü r amerikanische ölgesellschaften. Wenn einige Länder nicht gewillt seien, den amerikanischen Gesellschaften diese einzuräumen, dann, sagte Lane, „müsse die amerikanische Regierung all ihre Macht gebrauchen", dies durchzusetzen. 3 9 Die amerikanische ölpolitik entfaltete jetzt eine nationale Offensive zugunsten gewisser Interessen. Die Regierung griff zu diplomatischen Waffen gegen Großbritannien — notwendigerweise zur Verteidigung der Standard Oil. Die Vertreter des State Department begannen zu denken, zu sprechen und zu schreiben wie Standard Oil-Beauftragte. Das ölproblem wurde f ü r eine Anzahl von J a h r e n eine höchst wichtige Angelegenheit f ü r die Außenpolitik der Vereinigten Staaten. In der Kampagne gegen Großbritannien w u r d e am 12. Mai 1920 von Botschafter Davis in einem Schreiben an Lord Curzon, den britischen Außenminister, gleichsam der erste Schuß abgefeuert. Darin erinnerte er Curzon, daß die Vereinigten Staaten immer d a f ü r eingetreten seien, daß in jedem von den Mittelmächten übernommenen Territorium dem Handel aller Nationen gleiche Möglichkeiten einzuräumen seien. Im übrigen seien die Alliierten mit der Anwendung dieses Prinzips auf die Mandate über die ehemaligen türkischen Gebiete einverstanden gewesen. Davis vermerkte weiter, daß die britische Administration in Palästina und Mesopotamien „den unglücklichen Eindruck im Bewußtsein der amerikanischen Öffentlichkeit hervorgerufen habe, daß die Regierung Seiner Majestät . . . den britischen ölinteressen einen Vorteil eingeräumt habe, der den amerikanischen Gesellschaften nicht zugestanden worden sei, und daß weiterhin Großbritannien in aller Stille auf eine ausschließliche Kontrolle der Ölvorkommen in diesem Gebiet hingearbeitet habe". Davis unterbreitete dann folgende Vorschläge: 1. den Angehörigen der anderen Nationen müsse in jeder Beziehung dieselbe Behandlung wie den Staatsbürgern der Mandatsmacht garantiert werden; 2. es sollten keinerlei exklusive ökonomische Konzessionen, die sich auf das ganze Mandatsgebiet erstreckten, vergeben werden. Abschließend erklärte Davis, daß, sofern britische Gesellschaften vor dem Krieg Konzessionen von der türkischen Regierung erworben hätten, die Regierung der Vereinigten Staaten „die Berechtigung habe, an allen Diskussionen teilzunehmen, die den Status solcher Konzessionen behandeln". 4 0 Gemessen an diplomatischen Normen war das eine scharfe Note. Nachdem das Abkommen von San Remo veröffentlicht worden war, richtete Außenminister Bainbridge Colby am 28. Juli ein weiteres in scharfem Ton gehaltenes Schreiben an Curzon. Darin warf er Großbritannien vor, seine Haltung gegenüber Mesopotamien stelle eine schwere Verletzung der Mandatsprinzipien dar, die vom Völkerbund festgelegt und von Großbritannien akzeptiert worden seien. „Es ist der Regierung der Vereinigten Staaten nicht klar", schrieb er, „wie ein solches Abkommen vereinbar sein k a n n mit dem Prinzip der gleichen 3ä ,u
Oil and Gas Journal, New York, 19,13. 6.1920, S. 85. Davis an Curzon, 12. 5.1920, in: FRUS, 1920, Bd. 2, S. 651-655.
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Behandlung, wie es während der Friedensverhandlungen in Paris verstanden und akzeptiert wurde." 4 1 In seiner Antwort vom 9. August wies Curzon die amerikanische Regierung darauf hin, daß die Vorherrschaft der Vereinigten Staaten in bezug auf die ö l förderung f ü r viele J a h r e gesichert sei, da 80 Prozent der Weltförderung u n t e r amerikanischer Kontrolle stünden. „Es gibt", erklärte er, „keine Berechtigung anzunehmen, daß Großbritannien, dessen gegenwärtige Ölvorkommen im Vergleich alles in allem unbedeutend sind, die amerikanische Überlegenheit e r n s t h a f t bedrohen kann, und irgendwelche Prophezeiungen in bezug auf Ölvorkommen in Ländern, die zur Zeit unerforscht und völlig unentwickelt sind, müssen mit Vorsicht aufgenommen werden." Im weiteren wies er die amerikanische Behauptung zurück, daß das Abkommen von San Remo die Interessen anderer an Mesopotamien ausschließe. Die britische Regierung sei zwar grundsätzlich bereit, die ganze Angelegenheit mit den Vereinigten Staaten zu diskutieren, die Frage der Mandate könne jedoch lediglich im Rat des Völkerbundes u n d von den Unterzeichnern der Konvention effektiv erörtert werden. 4 2 Dies w a r eine beißende diplomatische Erwiderung an ein Mitglied der Wilson-Administration, die erst kürzlich in der Frage der Mitgliedschaft im Völkerbund im Senat eine Niederlage erlitten hatte. In seiner Antwort vom 20. November 1920 wies Colby Curzons Behauptung zurück, daß Mandatsfragen n u r im Völkerbund diskutiert werden sollten. Die Vereinigten Staaten hätten am Krieg teilgenommen u n d könnten nicht „von der Diskussion aller seiner Folgen oder von der W a h r n e h m u n g der unter Mandaten gesicherten Rechte u n d Privilegien, die in den Friedensverhandlungen festgelegt wurden, ausgeschlossen" werden. Im weiteren erhob er genau diejenigen Forderungen, deren Erfüllung die Standard Oil Company zu erzwingen wünschte. Er widersprach Curzons Behauptung, daß das „sogenannte Abkommen von San Remo" den Amerikanern Aktionsfreiheit erlaube, und ging sogar so weit, der Turkish Petroleum Company jegliche Rechte am Öl in Mesopotamien abzusprechen. In Erwiderung auf Curzons These, die amerikanische Ölindustrie sei überlegen, stellte Colby, vor Rechtschaffenheit strotzend, fest: „Ich würde es bedauern, wenn die Regerung Seiner Majestät oder irgendeine andere uns f r e u n d lich gesinnte Macht annähme, daß die Ansichten dieser Regierung in bezug auf den w a h r e n Charakter eines Mandats in irgendeiner Weise von Erwägungen über den einheimischen Bedarf an oder die Produktion von ö l oder irgendeiner anderen Ware bestimmt seien." Und er versäumte nicht, Curzon darauf hinzuweisen, daß die Vereinigten Staaten n u r annähernd ein Zwölftel der Erdölvorkommen der Welt besäßen. Colby verwahrte sich weiterhin gegen Curzons Behauptung, daß es keine sicheren Nachrichten über Ölreserven in Mesopotamien gäbe. Er berief sich „auf die wissenschaftliche Kalkulation, derzufolge . . . die Erwartungen in bezug auf die Weltproduktion offenbar steigen". Dies war ein Hinweis darauf, daß die Regierung der Vereinigten Staaten über die britischen Untersuchungen der ö l 41
Colby an Curzon, 28. 7.1920, ebenda, S. 658 f. ' Curzon an Colby, 7. 8.1920, ebenda, S. 664 f.
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vorkommen in Mesopotamien orientiert war, während zu gleicher Zeit die S t a n d a r d Oil Company an solchen Arbeiten gehindert wurde. 4 3 Das w a r der letzte Akt der demokratischen Regierung unter Präsident Wilson und das Ende der ersten Runde in der Attacke der State Department/Standard Oil Company-Kombination auf das britische Foreign Offlee und die Turkish Petroleum Company. Die Amerikaner w a r e n aufgebracht, weil die Franzosen und die Briten die Beute heimlich unter sich aufgeteilt hatten, ohne den amerikanischen Gesellschaften, d. h. der Standard Oil Company, einen Anteil zukommen zu lassen. Wie so oft kleidete die amerikanische Regierung ihre Forderungen nach einem Anteil an der Beute in die Doktrin der „offenen Tür" u n d andere abstrakte Prinzipien internationalen Verhaltens. Der Amtsantritt der republikanischen Regierung W a r r e n Harding im März 1921 w u r d e von den Aufsichtsratsmitgliedern der S t a n d a r d Oil Company begrüßt. Man erwartete generell, daß die Harding-Administration das Big Business in Washington noch stärker unterstützen werde. Als Präsidentschaftskandidat hatte Harding versprochen, daß er die Vergabe „monopolistischer Konzessionen" durch jedwede Regierung b e k ä m p f e n werde — sei es in Mexiko, Südamerika, Sibirien oder in ehemals türkischen Gebieten. Dieses Versprechen stellte sogar die S t a n d a r d Oil zufrieden. Darüber hinaus h a t t e der Präsident nach seiner Wahl erklärt, daß die Z u k u n f t der Welt dem Verbrennungsmotor gehöre. Daher k ä m e dem Besitz von Öl, von dem U n t e r n e h m e r t u m und Regierung in wachsendem Maße abhingen, große Bedeutung zu. Die großen Gesellschaften wandten sich einerseits gegen jede Einmischung ins inländische ölgeschäft, nahmen aber f ü r sich das Recht der Einmischung im Ausland in Anspruch. 4 4 In Hardings Kabinett w a r e n etliche Politiker mit engen Verbindungen zu Ölgesellschaften vertreten. Als der berüchtigste von ihnen galt Albert B. Fall, der Innenminister. Fall war Teilhaber bei H a r r y F. Sinclair u n d bei Edward L. Doheny, den nach den Rockefellers derzeit größten ö l m a g n a t e n . Es ergab sich schnell eine Gelegenheit f ü r die neue Regierung, in der ö l f r a g e Farbe zu zeigen, nämlich in der Djambi-Affäre, die völlig im Interesse der Standard Oil lag. Um die Anzapfung der als reich eingeschätzten ö l f e i d e r von Djambi in Holländisch-Ostindien w u r d e ein h a r t e r Konkurrenzkampf zwischen der Standard Oil und dem Royal Dutch/Shell-Ring geführt. Sir Henry Deterding, der Präsident der Dutch/Shell, h a t t e mit der Regierung der Niederlande vereinbart, daß seine Gesellschaft eine Monopolkonzession f ü r die neuen Ölf eider von Djambi erhalten sollte, von denen m a n damals annahm, daß sie die einzigen Vorkommen in diesem Gebiet seien, die noch nicht von der Gesellschaft kontrolliert wurden. Als die Standard von Deterdings Abmachung erfuhr, alarmierte sie sofort das State Department, das am 25. April 1921 den amerikanischen Gesandten in den Niederlanden, Phillips, instruierte, dem holländischen Außenminister eine Note betreffend die Heiligkeit des Prinzips der „offenen Tür" zu übergeben.
« Colby an Curzon, 20.11.1920, ebenda, S. 669-673. 44 Davenport/Cooke, S. 106 f.
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Die Note protestierte im Namen dieses Grundsatzes gegen die Zusicherung irgendwelcher exklusiver ölrechte in dieser Region und begründete die Sorge der Washingtoner Regierung damit, „daß ein Monopol von so weitreichender Bedeutung für die Entwicklung des Öls im Begriff sei, an eine Gesellschaft vergeben zu werden, in der gegenüber einem geringen amerikanischen Anteil hauptsächlich ausländisches Kapital vertreten sei". Die Note drohte im weiteren Vergeltung durch den Ausschluß holländischer Gesellschaften auf amerikanischem privatem und öffentlichem Boden an, wenn die Regierung im Haag auf ihrer diskriminierenden Politik beharre. 45 Auf die ihrer Ansicht nach unbefriedigende Antwort der holländischen Seite gab die Regierung in Washington zu verstehen, daß ein Boykott der holländischen Industrien durch das amerikanische Kapital möglich sei. 46 Auch wenn ihr Präsident im Weißen Haus residiert hätte, wäre die Standard Oil keine stärkere politische Unterstützung widerfahren. Dennoch — trotz der Drohungen aus Washington — vergab der holländische Staatsbeauftragte die Genehmigung zur Ausbeute der ölfeider von Djambi an die Dutch/Shell-Gruppe mit der Begründung, sie habe die höchste Offerte gemacht. Die Sorge um ö l stand ebenfalls hinter der Ratifizierung des Abkommens zwischen Kolumbien und den USA, auf Grund dessen die Vereinigten Staaten 25 Millionen Dollar an Kolumbien zahlten, um die Panamaaffäre vom Tisch zu haben. 47 Innenminister Fall, der 1929 wegen Bestechung im Fall Teapot Dome verurteilt wurde, teilte den allgemeinen Glauben, daß Kolumbien zu einem der größten ölfelder der Welt werden würde, und äußerte offen die Hoffnung, daß die Zahlung an Kolumbien den Weg für einen Handels- und Freundschaftsvertrag bereiten würde, der den amerikanischen Interessen den Hauptanteil bei der Ausbeutung des Öls sichern sollte. Fall rechtfertigte seine Argumentation mit der Gefahr der britischen Herrschaft über die ölvorräte der Welt. Auch in Mexiko unterstützte die Harding-Administration die amerikanischen Ölgesellschaften mit voller Kraft. Der strittige Punkt war hier der Versuch der mexikanischen Regierung unter Präsident Obregon, den Ölexport mit einer Taxe von 25 Prozent zu belegen, wodurch die Produktionskosten der amerikanischen Gesellschaften, die in Mexiko operierten, sich enorm erhöht hätten. Diese Manifestation machtvoller Politik durch Washington trug auch in London Früchte. Am 2. August 1921 sandte Curzon eine versöhnliche Note an den amerikanischen Botschafter in London. Er erhoffte, so erklärte er, „eine Darstellung der Kritiken oder Einwände, die Ihre Regierung anscheinend in bezug auf die asiatischen Mandate zu erheben wünscht". 48 "•>' Phillips an Secretary of State, 25. 4.1921, in: FRUS, 1921, Bd. 2, S. 536-538. "ö Phillips to Netherland Minister for Foreign Affairs, Van Karnebeek, 25. 4.1921, ebenda, S. 540. 4V 1903 brachte die Regierung der Vereinigten Staaten insgeheim die Abtrennung Panamas von Kolumbien zustande, um einen zehn Meilen breiten Landstreifen finden Bau des Panamakanals zu bekommen. Heute ist das die Kanalzone. ,,B Harvey an Secretary of State, 2. 8.1921, in: FRUS, 1921, Bd. 2, S. 106.
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Außenminister Hughes begrüßte in seiner Antwort den „Vorschlag, daß eine Diskussion der Frage der Mandate stattfinden sollte". Er unterstrich die Auffassung der Vereinigten Staaten, daß „das Recht, über die überseeischen Besitzungen Deutschlands zu verfügen, sich lediglich vom Sieg der Alliierten u n d der verbündeten Mächte ableite 49 , und daß es ohne die Zustimmung der Vereinigten Staaten als einer der Teilnehmer a m Sieg keine rechtsgültige oder rechtswirksame Verfügung über diese Gebiete geben könne". Hinsichtlich der ehemaligen türkischen Territorien stellte Hughes fest, es sei zwar wahr, daß die Vereinigten Staaten der Türkei nicht den Krieg erklärt hatten. Nur durch den Sieg über Deutschland sei f ü r die Alliierten die Möglichkeit entstanden, f r ü h e r e türkische Territorien zu verwalten. Da aber die Vereinigten Staaten zum Sieg über Deutschland beigetragen hätten, könne die amerikanische Regierung keinerlei Diskriminierung in diesen Gebieten akzeptieren und bestehe auf Gleichheit der Geschäftschancen. Hughes w a n d t e sich auch der Turkish Petroleum Company zu. Er hielt fest an der bisherigen Ansicht der Standard Oil Company, die auch von Bainbridge Colby bekräftigt worden w a r : „Diese Regierung (die amerikanische — W. M.) k a n n nicht beschließen, daß irgendeine Konzession irgendwann von der türkischen Regierung an die Turkish Petroleum Company vergeben wurde." 5 0 In seiner Antwort vom 22. Dezember 1921 versicherte Curzon der amerikanischen Regierung, daß die britische Regierung „niemals gewünscht habe, die Vereinigten Staaten der Früchte eines Sieges, zu dem sie so großzügig beigetragen haben, zu berauben". 5 1 In einer weiteren Note vom 29. Dezember drückte der britische Unterstaatssekretär f ü r auswärtige Angelegenheiten Crowe seine Übereinstimmung mit dem amerikanischen Standpunkt aus: „Der Sieg über die Türkei w a r eng verbunden mit dem Sieg . . . über Deutschland, zu dem die Vereinigten Staaten so großzügig beitrugen." Er sicherte der amerikanischen Seite die gleiche Behandlung von Bürgern und Gesellschaften der Vereinigten Staaten auf allen britisch verwalteten Territorien zu. Er versprach, daß von den Festlegungen des Mandats nicht abgewichen würde, ohne vorher die amerikanische Regierung zu konsultieren. Crowe drückte die Hoffnung aus, daß Großbritannien sehr bald imstande sein werde, den Vereinigten Staaten befriedigende Zusicherungen in bezug auf die mesopotamische Kontroverse zu geben. 52 Die a b r u p t e Abwendung der Briten von ihrem ursprünglichen S t a n d p u n k t k a n n n u r dadurch erklärt werden, daß Großbritannien in Mesopotamien in ernsthafte Schwierigkeiten geraten war, u n d es scheint ganz so, daß London derzeit jeder längere ernsthafte Disput mit den Vereinigten Staaten höchst unerwünscht war. Tatsächlich hatte sich Großbritanniens Position der Stärke im Nahen Osten sehr schnell in eine Position der Schwäche verwandelt. Vor dem ersten Weltkrieg behandelte Großbritannien das Gebiet am Persischen Vi
Die Vereinigten Staaten gehörten nicht zu den Alliierten, sondern bezeichneten sich selbst als verbündete Macht. *> Hughes an Harvey, 4. 8.1921, in: FRUS, 1921, Bd. 2, S. 106-110. 01 Curzon an Harvey, 22.12.1921, ebenda, S. 111. M Crowe an Harvey, 29.12.1921, ebenda, S. 115-118.
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Golf fast wie ein privates Grundstück, und die ottomanische Provinz Mesopotamien stand völlig unter seinem politischen und wirtschaftlichen Einfluß. Die Briten hielten das strategisch wichtige Gebiet auf dem Weg nach Persien und Indien f ü r ziemlich sicher vor dem Zugriff ihrer Konkurrenten, besonders Rußlands und Deutschlands, solange die Türken freundschaftliche Beziehungen zu Großbritannien unterhielten und es bei der Aufrechterhaltung seiner dortigen herrschenden Position unterstützten. Als sich jedoch die Türken auf Gedeih und Verderb mit den Deutschen verbanden, waren die Briten entschlossen, ihre Kontrolle abzusichern. Der erste Schritt war die Besetzung des unteren Teils des Zweistromtals, um die anglo-persischen Ölfelder und die Pipeline zu schützen und den Türken und ihren Verbündeten den Zugang zum Persischen Golf zu versperren. Dann kam der Abschluß einer Übereinkunft mit Rußland und später, durch den Sykes-Picot-Vertrag, mit Frankreich, um die Anerkennung des britischen Anspruchs auf Unter- und Zentralmesopotamien abzusichern. Schließlich folgte die militärische Eroberung dieses Gebietes, welches zum direkten britischen Besitz wurde. Das Anwachsen der arabischen nationalistischen Bewegungen, die allgemeine Unruhe in Asien und der wachsende Widerstand gegen den Imperialismus, der sich durch die Oktoberrevolution verstärkt hatte — all das veranlaßte die Briten zu erwägen, ob es nicht ratsam sei, ihre Politik der direkten Herrschaft zu ändern, wenn sie die Kontrolle über das Zweistromtal behalten wollten. 53 Nach der — angeblich auf Grund des Waffenstillstands von Mudros — am 7. November 1918 erfolgten britischen Besetzung von Mosul blieb Mesopotamien, rechtlich gesehen, ehemaliges Feindgebiet, über das die Friedenskonferenz endgültig zu entscheiden hatte. Die Ratifizierung der Konvention des Völkerbundes am 28. April 1919 sicherte zu, daß Mesopotamien Mandatsgebiet werden sollte. Im Mai war der Oberste Kriegsrat der Alliierten zu Entscheidungen gelangt, die deutlich machten, daß Großbritannien wahrscheinlich das Mandat über Mesopotamien bekommen würde. Nachdem durch den Vertrag von Versailles im Juni die Grundlage geschaffen worden war, entschied der Oberste Kriegsrat der Alliierten im August 1919 definitiv über die Zuteilung der Territorien, die unter Mandat gestellt werden sollten. Da noch kein Vertrag mit der Türkei unterzeichnet worden war, blieb Mesopotamien zunächst allerdings nominell von den Briten im Namen der Alliierten besetztes ottomanisches Territorium. Bald nachdem in Mesopotamien bekannt wurde, daß die Franzosen und die Briten am 25. April 1920 in San Remo zu einer Übereinkunft über die Verteilung der Mandate der Klasse A in den arabischen Ländern Westasiens gekommen waren, begann im Zweistromtal der Widerstand gegen die Briten. Als der britische Hohe Kommissar Sir Arnold Wilson im Juni offiziell verkündete, daß das Mandat über Mesopotamien Großbritannien zugeschlagen worden war, griffen irakische Kräfte die britischen Militäreinheiten am oberen Euphrat an. Im Juli brach der irakische Aufstand am unteren und mittleren Euphrat aus. Die britischen Streitkräfte verloren etwa 1 600 Mann, die Araber über 8 000.54 *
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Ireland, Philip W., Iraq. A Study in Political Development, New York 1938, S. 76. Yale, William, The Near East: A Modern History, Ann Arbor 1958, S. 319.
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Die hohen finanziellen Kosten, die aus der Niederschlagung des Aufstandes erwuchsen, und die Bedrohung der britischen Kontrolle bestimmten die Regierung in London, zu einer neuen Politik überzugehen. Am 17. Oktober 1920 erklärte der neue britische Hohe Kommissar Sir Percy Cox in Bagdad, daß die britische Regierung gewillt sei, dem irakischen Volk bei der Errichtung einer nationalen Regierung behilflich zu sein. 55 Im November h a t t e er bereits einen Provisorischen Rat und ein Ministerium organisiert. Der nächste Zug in seinem politischen Spiel war, einen arabischen Prinzen zu gewinnen, der sowohl f ü r die Iraker akzeptabel als auch den britischen Wünschen geneigt sein würde. Mehrere mögliche Kandidaten w u r d e n in Betracht gezogen. Die Wahl fiel schließlich auf Emir Faisal, der im Juli 1920 nach der französischen Besetzung von Damaskus von den Franzosen aus Syrien vertrieben worden war. Sir Percy Cox h a t t e keine Schwierigkeiten, eine einstimmige Wahl Faisals durch den Provisorischen Rat zu erreichen, und ein manipulierter Volksentscheid ergab 96 Prozent der Stimmen f ü r den haschimitischen Emir, der a m 23. August 1921 zum König des Irak ausgerufen wurde. Die Bezeichnung Mesopotamien w a r durch Irak ersetzt worden. Mit Kilfe eines Satellitenherschers im Irak dachten die Briten ihr Operationsziel eher zu erreichen als durch die Errichtung eines Mandates, das Einschränkungen oder Vorschriften durch den Völkerbund u n t e r w o r f e n war. Die britische Regierung zog deshalb den Mandatsvorschlag zurück, den sie dem Rat des Völkerbundes im Dezember 1920 unterbreitet hatte, und schlug vor, „anstelle einer Übereinkunft zwischen Großbritannien u n d dem Völkerbund die Prinzipien des Mandats in einem Vertrag mit König Faisal von Irak einfließen zu lassen". 56 Trotz heftiger Opposition im eigenen Lande schloß die irakische Regierung im Oktober 1922 einen Vertrag mit Großbritannien, der dem britischen Hohen Kommissar und den britischen Beratern im Irak einen großen Machtbereich beließ. Britische Truppen blieben stationiert, und Luftflottenstützpunkte w u r d e n beibehalten. Der Irak w a r de facto ein britisches Protektorat. Zwei J a h r e später akzeptierte der Rat des Völkerbundes den Vertrag und die Zusatzabkommen, die inzwischen vom irakischen P a r l a m e n t ratifiziert worden waren. Während zwischen London und Washington diplomatische Noten gewechselt wurden und die Turkish Petroleum Company nach einer Entscheidung drängte, welche Haltung gegenüber der amerikanischen Herausforderung eingenommen werden sollte, bemühte sich v a n H. Manning, der ehemalige Direktor des Bergbaubüros und nunmehrige Forschungsdirektor des American Petroleum Institute, u m die Bildung eines Syndikats der wichtigsten amerikanischen Ölgesellschaften, u m im Nahen Osten tätig zu werden. Der Minister f ü r Handel, Herbert Hoover, unterstützte den Gedanken ebenfalls, aber es gab zunächst Widerstand von der Standard Oil, die verlangte, daß n u r solche Gesellschaften aufgenommen werden sollten, die bereits Anteile in diesem Gebiet besaßen. 57 Das bedeutete, daß die 0£> sli
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Ebenda. Evans, Lawrence, United States Policy and the Partition of Turkey, 1914-1924, Baltimore 1965, S. 235. Gibb/Knowlton, S. 292.
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S t a n d a r d Oil noch nicht bereit war, die Profite, die die Erforschung der Ölvork o m m e n des Mittleren Ostens erbringen würde, mit anderen Gesellschaften zu teilen. Schließlich w u r d e die S t a n d a r d doch überzeugt, der Bildung eines Syndikats zuzustimmen, nachdem ihr klargemacht w o r d e n war, daß das notwendig sei, u m nicht den Eindruck zu erwecken, das State D e p a r t m e n t mache F r o n t f ü r die S t a n d a r d Oil. A m 27. September 1921 u m r i ß Sadler, der f ü r die Strategie der S t a n d a r d in bezug auf den Mittleren Osten veranwortlich war, die Situation u n d seine eigenen Ansichten in einem Brief an Teagle, den l a n g j ä h r i g e n Präsidenten der S t a n d a r d : „In B e a n t w o r t u n g Ihres M e m o r a n d u m s v o m 23. September betreffend die Erforschung von Mesopotamien u n d Dr. Mannings Beziehungen dazu, stimme ich mit I h r e n Ansichten überein, daß die S t a n d a r d Oil Company nicht hoffen kann, v o m State D e p a r t m e n t e r n s t h a f t e Rückendeckung zu bekommen, w e n n sie versucht, das mesopotamische Feld allein zu betreten. Ich glaube, daß es nötig sein wird, einige a n d e r e Interessenten a u f z u n e h m e n , u n d zumindest ein Teil davon sollten keine Tochtergesellschaften sein. Ich glaube auch, daß wir u n s e r e Bundesgenossen sorgfältig auswählen u n d ihre Zahl so klein wie möglich halten sollten. Ich persönlich w ü r d e die S t a n d a r d Oil Company of N e w York, Sinclair, Doheny, Texas und, das erscheint m i r notwendig, die Gulf vorschlagen. Ich denke, der Effekt eines Erfolges in Mesopotamien w ü r d e d a r i n bestehen, all diese Leute i m M i t t e l m e e r r a u m in K o n k u r r e n z zu u n s zu bringen, u n d daß die V e r b i n d u n g abgesehen von der Notwendigkeit, U n t e r s t ü t z u n g des State D e p a r t m e n t zu erlangen, höchst u n e r w ü n s c h t i s t . . ." 58 Teagle w a r schon im Sinne dieser Überlegungen an der Arbeit u n d eröffnete Verh a n d l u n g e n mit den P r ä s i d e n t e n jener Gesellschaften, die Bereitschaft gezeigt h a t t e n teilzunehmen. In der Folge w u r d e die Near East Development Company gegründet. Sie bestand aus der S t a n d a r d Oil of N e w Jersey, der Texas Company, der P a n - A m e r i c a n Petroleum and T r a n s p o r t Company, der Sinclair Consolidated Company, der Atlantic Refining Company, der S t a n d a r d Oil Company of N e w York u n d der Gulf Oil Corporation. 5 9 Das S y n d i k a t s a n d t e einen gemeinsamen Brief an Außenminister Hughes, in d e m es seinen Wunsch anmeldete, Erdöluntersuchungen im I r a k d u r c h z u f ü h r e n . Eine G r u p p e von Geologen u n d Ingenieuren des Syndikats sei bereit, nach dem I r a k aufzubrechen, sobald m a n die Versicherung erhalten habe, daß die Genehmigung f ü r solche Untersuchungen garantiert sei. Des weiteren erbat das Syndikat alle notwendigen I n f o r m a t i o n e n u n d Instruktionen. 6 0 In seiner A n t w o r t f a n d es Hughes „hilfreich zu wissen, daß amerikanische ö l gesellschaften bereit sind, unverzüglich Vorteil aus den Möglichkeiten zu ziehen, die von dieser Region e r w a r t e t werden". 6 1 H e r b e r t Hoover u n d Manning s t i m m t e n ebenfalls dem H a u p t p l a n zu, der die
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Zit. nach ebenda. International Petroleum Cartel, S. 51. Evans, S. 268. Hughes an Teagle, 22.11.1921, in: FRUS, 1921, Bd. 2, S. 87 f.
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Entsendung einer gemeinsamen amerikanischen geologischen Expedition in den Irak forderte. Dieser Vorschlag läßt vermuten, daß zu dieser Zeit (Herbst 1921) die Politik der amerikanischen ölgesellschaften nicht auf ein Bündnis mit der Turkish Petroleum Company gerichtet war, sondern mehr auf unabhängige gemeinsame amerikanische Anstrengungen abzielte. Das paßte allerdings nicht in die Pläne der britischen Regierung. Es scheint, daß sie um jeden Preis eine Konfrontation mit den amerikanischen Gesellschaften und der amerikanischen Regierung, die den ölgesellschaften bis ins letzte Rückendeckung gab, vermeiden wollte. Demzufolge wies die britische Regierung ihre Partner in der Turkish Petroleum Company an, den amerikanischen Gesellschaften den Eintritt zu gewähren. 62 Im Herbst 1921 sandte die britische Regierung Sir John Cadman als Überbringer dieses Kompromißvorschlages in die Vereinigten Staaten. 63 Das Angebot wurde von den Amerikanern grundsätzlich akzeptiert. Im Juni 1922 waren die Formalitäten für die amerikanische Teilnahme diskutiert und vereinbart worden. Gibb und Knowlton bemerken zutreffend, daß „die Einrichtung einer solchen gemeinsamen Körperschaft, die noch vor wenigen Monaten wahrscheinlich . . . als eine Verletzung der Antitrust-Statuten kritisiert worden wäre, jetzt als Teil des gegenwärtigen offiziellen Interesses an der Förderung von Außenhandelsaktivitäten toleriert wurde". 6 4 A. C. Bedford, der Vorsitzende des Aufsichtsrates der Standard Oil, wandte sich deshalb an das State Department, um die Ansicht der Regierung in bezug auf die beabsichtigten privaten Verhandlungen mit den Briten zu erfahren. Die Position der Regierung der Vereinigten Staaten, wie sie der amtierende Außenminister Harrison darstellte, basierte auf zwei Prinzipien: 1. die Geschäftschancen sollten gleich sein; 2. es wurde die Gültigkeit' der Konzession der Turkish Petroleum Company in Mesopotamien bestritten. „Deshalb könnte eine Übereinkunft, die sich nicht mit diesem Prinzip in Übereinstimmung befindet... nicht die Zustimmung dieser Regierung erhalten." 65 Das hätte natürlich bedeutet, daß die amerikanische Regierung der Teilnahme der amerikanischen Ölgesellschaften an der Turkish Petroleum Company nicht zustimmen konnte. Allerdings machte der Außenminister im folgenden Absatz seines Schreibens völlig klar, daß die praktische amerikanische Politik keinesfalls auf starren Prinzipien basierte, besonders wenn diese den Plänen der Standard Oil Company zuwiderliefen. „Es ist", schrieb Harrison, „allerding nicht die Absicht des State Department, Schwierigkeiten zu machen oder unnützerweise einen diplomatischen Disput zu verlängern, indem man die praktischen Aspekte der Situation außer acht läßt und damit das amerikanische Unternehmertum hindert, genau die Chancen wahrzunehmen, die unsere diplomatischen Vertreter zu erzielen bemüht waren." Das State Department habe nichts gegen private Ver-
Davenport/Cooke, S. 144. «» Ebenda, S. 113. Vgl. StAD, Außenministerium, Nr. 6 208, Bl. 159-161. iun vgl. u. a. Vom Tarifvertrag zur Werksgemeinschaft. Freie Hand im Wirtschaftsleben, in: DAgZ, Nr. 1, 6. 1. 1924; Guggenheimer; Meissinger; Goerrig, Franz, Rückkehr zu betriebsfördernden Lohnabkommen, in: DAgZ, Nr. 5, 3. 2.1924, Beiblatt.
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wachsenden Einfluß revolutionärer Gewerkschaftler in den Betrieben zurückzudrängen und weitere Streiks möglichst zu verhindern. Die Abkehr vom Tarifwesen und von der Arbeitsgemeinschaftspolitik hätte den im Herbst 1923 erreichten Abbau der sozialen Zugeständnisse sowie die rücksichtslose Anwendung der neuen Verordnungen in Frage gestellt. Der Masseneinfluß der bürgerlichen Gewerkschaften allein war zu gering, um die weitere sozialpolitische Offensive abzusichern. Daher häuften sich die Stimmen bürgerlicher Politiker und Sozialreformer sowie staatlicher Behörden, die zur „Mäßigung" rieten. 101 Der Militärdiktator Hans von Seeckt forderte in seinem Erlaß vom 9. Januar 1924 die Militärbefehlshaber auf, sich auf die Schlichter zu stützen und intern auf die Unternehmer einzuwirken, damit diese den Bogen nicht überspannten. 102 Die Schlichtungsbehörden sollten sich auch bei Arbeitszeitverlängerungen mäßigen, um die Position der Gewerkschaftsbürokratie gegen die „Radikalen" zu stärken. 103 Den Arbeitern sollte kein „Kaudinisches Joch" auferlegt werden, denn die „Verständigung" mit ihnen sei f ü r den „wirtschaftlichen Aufbau" nötig. 104 Nicht zuletzt — und dabei weitgehend von den Spitzenverbänden unterstützt — wandte sich Seeckt mit diesen Anweisungen und Appellen gegen „scharfmacherische" Vorstöße, wie sie von Verbänden mittlerer und kleinerer Unternehmer, von „Winkelindustriellen" und rechtsradikalen Ideologen in völliger Verkennung der realen Situation ausgingen. 105 Ihren Höhepunkt fanden diese Vorstöße wohl in der berüchtigten Rede Adolf Klenters, des Vorsitzenden der bergischen Arbeitgeberverbände von Velbert und Umgebung und Mettmann, am 14. J a n u a r 1924 in Elberfeld, in der er u. a. zugunsten der „Werkgemeinschaft" die Auflösung der Gewerkschaften und „Arbeitgeberverbände" und statt dessen die Gründung eines einheitlichen „Wirtschaftsverbandes" forderte. Anspielend auf Catos bekannten Ausspruch über die notwendige Zerstörung Karthagos, prägte er den Satz „Ceterum censeo societates esse delendas (Die Gewerkschaften müssen zerstört werden)". 106 Hier stand offensichtlich die faschistische „Lösung der Gewerkschaftsfrage" Pate. 1U1
Vgl. u. a. Heyde, Ludwig, Zur Lage, in: Soziale Praxis, Nr. 1, 3. 1. 1924, Sp. 1 ff.; Reden Lammers' und Hamms auf der Reichsdelegiertenkonferenz des liberalen Gewerkschaftsringes am 10. 3.1924, ebenda, Nr. 17, 24. 4.1924, Sp. 354 f.; Aufruf badischer Hochschullehrer vom März 1924, ebenda, Nr. 11, 13. 3. 1924, Sp. 221; Rauecker, Bruno, Zum Problem „Soziales Dumping", ebenda, Nr, 13, 27. 3.1924, Sp. 249 ff. va Abgedr. ebenda, Nr. 15,10. 4. 1924, Sp. 303. l«;; vgl Rundschreiben des preußischen Handelsministers an die Schlichtungsbehörden vom 7.11.1923, in: Gewerkschafts-Zeitung, Nr. 7,16. 2.1924, S. 45. 104 Vgl. Rede des Bayerischen Handelsministers auf der Mitgliederversammlung des Bayerischen Industriellen-Verbandes Dezember 1923, kommentiert ebenda, Nr. 12, 22. 3.1924, S. 85 f. ms Ygl. u. a. Denkschrift des Arbeitergeberverbandes der sächsischen Papierindustrie „Wendepunkt der Wirtschaft" (4.12.1923), in: Sächsische Industrie, Nr. 62, 8.12. 1923, S. 716 ff.; Aufbauprogramm des Notbundes Bayrischer Wirtschaftsstände (21./22. 12. 1923), in: Soziale Praxis, Nr. 3, 17. 1. 1924, Sp. 45 f., sowie die ablehnende Zuschrift ebenda, Nr. 13, 27. 3. 1924, Sp. 254 ff. 1UÖ Vgl. ZStAP, Reichsarbeitsministerium (im folg.: RAM), Nr. 6 553, Bl. 55.
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Nicht nur die reformistische, auch die bürgerliche Presse empfand die KlenterRede als Belastung der Arbeitsgemeinschaftspolitik und lehnte sie scharf ab. Die Spitzenverbände nahmen die Rede offiziell nicht zur Kenntnis. Die Reaktion der „Deutschen Arbeitgeber-Zeitung" ließ aber deutlich erkennen, daß zwar die „gerechtfertigte Kritik" an den Gewerkschaften willkommen war, die Forderung nach deren Zerstörung ebenso wie die nach „Abrüstung der Arbeitgeberorganisationen" aber als irreal zurückgewiesen wurden. 107 Klenter gehörte im Mai 1924 zu den Drahtziehern der rechtsradikalen Deutschen Industriellenvereinigung. 108 Er spielte 1924/25 die herausragende Rolle in den Bestrebungen verschiedener kleinerer Unternehmerverbände, durch organisatorische Manipulationen und mit Arbeitsvertragsklagen das Tarif- und Schlichtungswesen zu unterlaufen. Sie scheiterten und veranlaßten das Reichsarbeitsministerium, das Tarifrecht als wesentlichen Bezugspunkt f ü r die „Arbeitgeberverbände" zu bekräftigen. 109 Am 15./16. Januar 1924 faßte der Bundesausschuß des ADGB angesichts der Abwehrstreiks gegen den Raubzug der Monopole den längst überfälligen Beschluß zum Austritt aus der ZAG. 110 Zugleich ließen die rechten ADGB-Führer keinen Zweifel, daß sie an der Arbeitsgemeinschaftspolitik festhielten. Am 17./18. Januar verhandelten sie im Sozialpolitischen Ausschuß des vorläufigen Reichswirtschaftsrates mit den „ Arbeitg e b e r - V e r t r e t e r n über die „Aufgaben der Sozialpolitik nach den Notverordnungen". 111 Deren Sprecher Habersbrunner ließ sich am ersten Verhandlungstag zur Entrüstung der Gewerkschaftsvertreter in scharfen Angiffen auf die Arbeitszeitverordnung und auf die Schlichtertätigkeit Rudolf Wissells in Berlin aus, während Vorstand und Tarifausschuß der VDA am 16./17. Januar eine bewegliche Taktik gegenüber den Schlichtungsbehörden und den Verbindlichkeitserklärungen einschlugen, um die neuen Möglichkeiten zur tariflichen Arbeitszeitverlängerung unter dem Mantel der Arbeitsgemeinschaftspolitik voll ausnutzen zu können. 112 Am 18. Januar distanzierte sich Hermann Bücher im Ausschuß des Reichswirtschaftsrates von den plumpen Angriffen Habersbrunners, erklärte den Gewerkschaftsvertretern, wie die VDA- und die RDI-Führungen die Situation beurteilten und um welchen Preis sie die Arbeitsgemeinschaftspolitik fortsetzen und gegenüber den angeschlossenen Verbänden durchsetzen würden. Über den Achtstundentag brauche nicht mehr gesprochen zu werden, da er ohnehin f ü r die nächste Zeit erledigt sei. Zweitens dürfe an den nunmehr fast uneingeschränkten Vgl. Sie werden ängstlich!, in: DAgZ, Nr. 11, 16. 3.1924; Kommentar des Schriftleiters zu Voigt, Andreas, Die Anklagen der badischen Hochschullehrer und der Wirtschaftsverband des Kreises Mettmann, ebenda, Nr. 25, 22. 6.1924. ™ Vgl. Die bürgerlichen Parteien in Deutschland, Bd. 1, S. 387 ff. Vgl. ZStAP, RAM, Nr. 6 552, Bl. 122, 128, 155, 161 ff., 245, 255 ff., 286; Nr. 6 553, Bl. 32 f., 65 f., 68, 81 ff., 93 ff., 122,131,165; Gewerkschafts-Zeitung, Nr. 50,13.12.1924, S. 504 f.; Nr. 52, 27. 12. 1924, S. 525; RAB1, Nichtamtlicher Teil, Nr. 26, 24. 11. 1924, S. 582 f.; ebenda, Amtlicher Teil, Nr. 13,1. 4.1925, S. 138. n " Abgedr. in: Gewerkschafts-Zeitung, Nr. 4, 26. 1. 1924, S. 20; der Austritt erfolgte am 31. 3. 1924. 111 Vgl. ZStAP, Vorl. Reichswirtschaftsrat, Nr. 525, Bl. 169 ff., 209 ff. 112 Vgl. Geschäftsbericht 1923 und 1924, S. 301 ff.
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Kündigungsmöglichkeiten der Unternehmer nicht wieder gerüttelt werden, denn der Massenarbeitslosigkeit „verdanken wir den ansetzenden Gesundungsprozeß in unserer ganzen Sozial- und Lohnpolitik". Drittens müßte die Verbindlichkeitserklärung als Einmischung des Reichsarbeitsministeriums in die „freie Verständigung" der Tarifpartner wegfallen; an den Tarifverträgen solle aber festgehalten werden. Schließlich verlangte er von den Gewerkschaftsführern, keine Rücksicht mehr auf den „Druck von unten" zu nehmen, nicht mehr wie „törichte Kinder" auf dem „prinzipiellen Standpunkt der Vergangenheit" zu beharren. Diese Konzeption rückte von den taktisch unklugen Vorstößen etwa Klenters ebenso ab wie von dem Arbeitszeitdiktat des Zechenverbandes, das sich wenig um die künftige Arbeitsgemeinschaftspolitik geschert hatte und deshalb gescheitert war. Nach den taktischen Schwankungen der letzten Wochen, nach dem vergeblichen Versuch, noch mehr aus der Situation herauszuholen, und nach dem offensichtlichen Scheitern des Sondervorgehens des Zechenverbandes stellten sich die Verbandsführungen nunmehr hinter dem Seeckt-Erlaß. Sie wollten die erbitterten Klassenkämpfe in der Metall-, Werft- und Chemieindustrie sowie im Braunkohlenbergbau rasch mit Hilfe der Führer des ADGB und der bürgerlichen Gewerkschaften abwürgen, diese auf einen Arbeitsgemeinschaftskurs festlegen, der geeignet war, den 1923/24 erreichten Abbau der Sozialgesetzgebung der Revolutionszeit festzuschreiben und das Terrain für die künftige Umverteilung der Reparationslasten abzustecken. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, daß die geforderte „freie Verständigung" das Tarifrecht als soziale Errungenschaft der Novemberrevolution weitgehend aushöhlen sollte und angesichts des veränderten Klassenkräfteverhältnisses eine kaum verbrämte Umschreibung des langfristig angestrebten unbeschränkten Unternehmerdiktats war. Im Sinne der Bücher-Konzeption tolerierten die rechten ADGB-Führer die imperialistischen Stabilisierungsmaßnahmen, die angeblich im Interesse des „deutschen Wiederaufbaus" lagen, zerstörten so die proletarische Abwehrfront und verhandelten mit der VDA-Führung über ein gemeinsames Programm der „Entstaatlichung des Schlichtungswesens", das im Februar vorgelegt wurde, aber von der ADGB-Führung nicht durchgesetzt werden konnte, da es den VDA-Forderungen zu offensichtlich entgegenkam.113 Auf der von Borsig und Bücher vertretenen Linie bewegten sich auch die weiteren Äußerungen bis zur März-Tagung. Die VDA veröffentlichte am 1. Februar 1924 ihren programmatischen Aufruf „Was die Arbeitgeber wollen!", der noch einmal die „Abkehr von der Novembersozialpolitik" und die „freie Wirtschaft" forderte. Zugleich wurden Artikel zur „Verständigung" mit den Gewerkschaften publiziert11"5, die von den „Scharfmachern" abrückten, sich aber sowohl für Arbeitsgemeinschaften, Gewerkschaften und Tarifverträge als auch für Betriebsverträge
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Vgl. ebenda, S. 305 ff. Was die Arbeitgeber wollen!, in: Der Arbeitgeber, Nr. 3, 1. 2. 1924, S. 33 ff.; Wiens, Erich, Kampf oder Verständigung?, ebenda, S. 35 f.; Roderich-Stoltheim, F., Wie bessern wir das Verhältnis zur Arbeiterschaft?, ebenda, S. 37 ff.
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aussprachen. Heinrich Herkner forderte die Gewerkschaften auf, sich nicht schützend vor die Novembererrungenschaften zu stellen. 115 Am 26. und 27. März 1924 führten RDI und VDA ihre erste gemeinsame Mitgliederversammlung durch, zu einem Zeitpunkt, als der militärische Ausnahmezustand bereits aufgehoben und das Ermächtigungsgesetz ausgelaufen war sowie die Reichstagswahlen und die Regelung der Reparationsfrage bevorstanden. Nachdem die revolutionäre Arbeiterbewegung im Herbst niedergeschlagen, die Inflation beendet, die imperialistische Wirtschaft, Klassenherrschaft und Staatsmacht mit den ökonomischen und politischen Notstandsmaßnahmen relativ stabilisiert worden waren und die extremreaktionären Putsch- und Diktaturpläne sich erneut als vorerst ungeeignet erwiesen hatten, traten die brutalen Herrschaftsmethoden nun wieder in den Hintergrund. Neue wirtschaftspolitische Fragen, angefangen mit dem Abbau der sogenannten wirtschaftlichen Notgesetze und der Reparationsregelung, standen auf der Tagesordnung. Der sozialpolitische Abbau der letzten Monate war festzuschreiben. An der Tagung nahmen Reichskanzler Wilhelm Marx, Reichswirtschaftsminister Eduard Hamm, Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns und der Chef der Heeresleitung Hans von Seeckt teil. Sie war auf Breitenwirkung angelegt und reflektierte die Veränderungen in der internationalen Situation und im Klassenkräfteverhältnis. Mit ihr trat der Reichsverband, der sich in den letzten Monaten — wie meist in zugespitzten Situationen — politisch zurückgehalten hatte, erstmals seit dem Mai 1923 wieder an die Öffentlichkeit. Die Tagung bilanzierte, billigte und bekräftigte die Stabilisierungspolitik der Regierungen Stresemann und Marx und die Verbändepolitik seit 1922. Sie erarbeitete auf der Basis der bisherigen Erfahrungen den Rechtskurs f ü r die folgenden Jahre. Die seit Mitte J a n u a r 1924 dominierende Tendenz der situationsgerechten Kombination der beiden Herrschaftsmethoden kennzeichnete auch die Tagung. Der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit hatte sich zugespitzt und war nur mit Gewalt und äußerster Ausnutzung des Rechtsopportunismus vorübergehend gelöst worden. Ziel war nun, die Konfrontation mit der Arbeiterklasse abzubauen, ohne die Ergebnisse der letzten Monate preiszugeben. Der Einfluß der rechten Gewerkschaftsführer auf das Tarif- und Schlichtungswesen sollte weiter zurückgedrängt werden. Das schlug sich in einem scheinbar gemäßigten, in der Sache aber scharfen Grundton nieder. „Die Rote Fahne" bezeichnete die Tagung als „Heerschau" und die Grundsatzreferate der RDI-Präsidialmitglieder Albert Vogler („Staat und Wirtschaft") 116 und Ernst von Borsig („Industrie und Sozialpolitik") 117 als „Kriegsplan der 515 uti
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Herkner, Heinrich,Sozialpolitik oder Staatssozialismus?,ebenda,Nr.5,1. 3.1924,S. 73 ff. Abgedr. in: Veröffentlichungen des Reichsverbandes der deutschen Industrie, H. 21, S. 33 ff., sowie - z. T. im Wortlaut abweichend - in: Der Arbeitgeber, Nr. 7,1. 4.1924, S. 119 ff., und Schriften der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Nr. 5, S. 128 ff. Abgedr. in: Veröffentlichungen des Reichsverbandes der deutschen Industrie, H. 21, S. 39 fi.; Der Arbeitgeber, Nr. 7, 1.4.1924, S. 122 ff.; Schriften der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Nr. 4.
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deutschen Unternehmer zur Durchführung der Erfüllungspolitik". 118 Sowohl der Berliner Metallindustrielle Borsig, der Sorge im VDA-Vorsitz abgelöst hatte, als auch der Manager der Stinnes-Unternehmen Vogler, der später die Vereinigten Stahlwerke mitbegründete und in den westdeutschen schwerindustriellen Regional- und Fachverbänden führend war, hatten 1923 zu den großindustriellen Faschismus-Förderern gehört. Zum Zeitpunkt der Tagung näherten sie sich einander auch parteipolitisch. Borsig gehörte wie sein Geschäftsführer Tänzler dem Vorstand des Reichsausschusses Deutschnationaler Industrieller an. Vogler, der auf dem rechten Flügel der DVP stand, war im März 1924 einer der Drahtzieher der Nationalliberalen Vereinigung f ü r den Zusammenschluß mit der DNVP. Er schied später aus der DVP aus. Die Referate befürworteten unter dem Motto der „Arbeitgeber"-Diskussion „Freiheit der Wirtschaft", auf die sich Vogler ausdrücklich berief, die verstärkte staatsmonopolistische Regulierung über den Staatshaushalt bei Abbau der letzten Demobilmachungsbestimmungen. Unter den Schlagworten einßr „realen Sozialpolitik" und der Verbindung von „Arbeitsgemeinschaft" und „Werkgemeinschaft" zielten sie auf die weiter eingegrenzte staatliche Sozialpolitik und eine kombinierte Herrschaftsmethodik. Die nun schon zum Standard der Verbandstagungen und -publizistik gehörende Parlamentarismus- und Parteienkritik war in beiden Referaten darauf angelegt, den Druck der Monopolbourgeoisie auf die bürgerlichen Parteien und Parlamente zu verstärken, sie sowohl in ihrer Regierungswie in ihrer Illusionierungsfunktion langfristig f ü r die Rechtsentwicklung tragfähiger zu machen, nicht aber darauf, ihre zunächst unentbehrlichen Funktionen zu untergraben. Erneut wurden dabei jungkonservative Ideologen zu Worte gebeten. 119 Ganz auf der Linie der Tagungen 1922 und der „Arbeitgeber"-Diskussion appellierte Borsig an die Industriellen, stärker in die Parteien hinein zu wirken, damit in ihnen „größeres Verständnis f ü r die wirtschaftlichen Belange geweckt und erhalten wird". Sie sollten sich nicht darauf verlassen, daß ihr Spitzenverband „diese Dinge bearbeitet. Arbeiten Sie vielmehr mit, jeder an seinem Teil und jeder in seinem Einflußgebiet." 120 Der von Vogler und Borsig betonte „überparteiliche" Standpunkt war angesichts der bevorstehenden Reichstagswahlen auf ein Bürgerblockkabinett unter Einbeziehung der DNVP angelegt. Die Referenten machten sich geschickt den Opportunismus der rechten Gewerkschaftsführer, ihr Dilemma zwischen „Klassenkampf" und „Staatspolitik" 121 zunutze, um sie auf den künftigen Rechtskurs festzulegen. So bezog sich Borsig in spektakulärer Weise auf den Vorbehalt-Brief, den er und der damalige Führer 118 1VJ
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Die Rote Fahne, 28. 3.1924; 10. 4.1924. Vgl. Spahn, Martin, Das staatsformende Prinzip der Großen Koalition, in: Der Arbeitgeber, Nr. 4, 15. 2. 1924, S. 53 ff., wo Spahn die „mittelparteiliche parlamentarische Konzentration", die nun auch die DNVP erfasse und zur „Diktatur der Parteiführer" statt zu „starken überparteilichen Regierungen" geführt habe, beklagte, obwohl er selbst 1924 DNVP-Reichstagsabgeordneter wurde und sich ziemlich einseitig an die DNVP und besonders an Hugenberg band — vgl. Petzold, S. 105,119,125. Vgl. Veröffentlichungen des Reichsverbandes der deutschen Industrie, H. 21, S. 49 f. Vgl. Horneffer, Ernst, Staat und Sozialismus, in: Der Arbeitgeber, Nr. 10, 15. 5. 1924, S. 187 f.
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der freien Gewerkschaften, Carl Legien, am 15. November 1918 an den Rat der Volksbeauftragten gerichtet hatten 1 2 2 , als er die gewerkschaftliche Forderung zurückwies, den „schematischen Achtstundentag" wiederherzustellen u n d das Washingtoner Arbeitszeitabkommen zu ratifizieren. Vom gesetzlichen Streikbrecherschutz über die „Gleichberechtigung" des Betriebsvertrages neben dem Tarifvertrag bis zum Verzicht auf den sogenannten Koalitionszwang und die staatliche Verbindlichkeitserklärung von Schiedssprüchen, dieses „Ausnahmegesetz gegen den Arbeitgeber", reichten die sozialpolitischen Forderungen. Vogler erklärte: „Die Regierung k a n n auf die Wirtschaft jederzeit rechnen. Aber wir haben Gegenforderungen. In den kommenden schweren Zeiten müssen unsere Arbeiter und Angestellten fest zu ihren Betrieben halten. Sie müssen und werden zu der Überzeugung kommen, daß in der Privatwirtschaft auch f ü r sie die ertragreichste Wirtschaftsform gebildet ist. Es m u ß unsere Aufgabe seirf, die Arbeiterschaft wieder mit nationalem Geist zu erfüllen. Die Auseinandersetzungen über Lohn- u n d T a r i f f r a g e n werden bleiben. Aber sind sie beendet, d a n n wollen wir uns finden im gemeinsamen nationalen Denken (Bravo! Sehr gut!). Wir werden dieses Ziel erreichen, wenn nicht immer wieder von neuem von außen her verbrecherische Hetze in unsere Werksgemeinschaft getragen wird (Sehr gut!). Sie fernzuhalten, dazu r u f e n wir die Hilfe des Staates an (Bravo! u n d Händeklatschen!). Und eine zweite Forderung haben w i r : Der Staat m u ß alles daran setzen, die private Wirtschaftsform zu schützen und zu fördern (Bravo!)." 123 Vogler rückte nicht von dem 1922 eingeschlagenen Kurs ab, vermied es aber, sich expressis verbis f ü r die Republik auszusprechen, würzte sein Referat mit monarchistischen Untertönen und kritisierte die derzeitige Wahrnehmung der „Polizeifunktionen des Staates" und das „ganz auf die Parteien gestellte Regierungssystem" so, daß als Alternative die Abkehr von der demokratischen Staatsform anklang. Dies veranlaßte H e r m a n n Fischer am 5. April 1924 auf dem Parteitag der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) zu der Kritik, durch eine solche Haltung w ü r d e der richtige Kurs der beiden Verbände, die „Staatsautorität" in den durch die Weimarer Verfassung vorgezeichneten Formen zu stärken, unklar dargestellt und letztlich wieder abgeschwächt. 124 In dieser Kontroverse zeigte sich, daß der parteipolitisch nach rechts tendierende Großindustrielle Vogler und der liberale Politiker und Hansa-Bund-Repräsentant Fischer unterschiedliche Auffassungen über den „Vernunft-Republikanismus" besaßen. Ähnliche Hintergründe h a t t e der Vorwurf des Führers der liberalen bürgerlichen Gewerkschaften, Anton Erkelenz, die Politik des RDI und der VDA sei ihm in der Vergangenheit „reichlich deutschnational" vorgekommen. 1 2 5 Die Kontroverse offenbarte auch einen partiellen Unterschied zwischen den politischen ra vgl. Veröffentlichungen des Reichsverbandes der deutschen Industrie, H. 21, S. 45. Vgl. ebenda, S. 38. m Vgl. Fischer, Hermann, Volk, Staat und Wirtschaft. Vortrag auf dem Parteitag der Deutschen Demokratischen Partei, 5. 4.1924, o. O., o. J., S. 7 ff. m Vgl. Erkelenz, Anton, Der Weg zum Wirtschaftsfrieden, in: Der Arbeitgeber, Nr. 17, 1. 9. 1924, S. 331 f.
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Konzeptionen der DDP als einer Partei des Monopolkapitals, die in der Periode der relativen Stabilisierung eindeutig auf die Republik festgelegt war, und der beiden Spitzenverbände des Monopolkapitals, die sich mit dem Vorbehalt ihrer Effektivität zwar in der Grundtendenz auf die demokratische Herrschaftsform eingestellt hatten, ohne jedoch die Alternative der offenen Diktatur aus den Augen zu verlieren. Die Rückkehr zu normalen bürgerlich-parlamentarischen Verhältnissen und die damit verbundenen Unsicherheiten veranlaßten die Regisseure der Tagung, die Frage, ob die verstärkte Rechtsentwicklung im Rahmen der Weimarer Verfassung oder über deren Beseitigung erfolgen solle, zunächst in der Schwebe zu halten. Die wirtschaftspolitischen Interessengegensätze zwischen den Monopolen der Rohstoff- und denen der verarbeitenden Industrien, die taktischen Auseinandersetzungen innerhalb der Monopolbourgeoisie um den Stabilisierungskurs, um die künftige Arbeitsgemeinschaftspolitik und um die Reparationsregelung sowie die Opposition der nichtmonopolistischen Bourgeoisie gegen den Stabilisierungs- und Reparationskurs der RDI-Führung hatten den Spitzenverband Anfang 1924 Belastungen ausgesetzt, die erstmals seit der Gründung hart an die Grenzen seiner Ausgleichsfunktion heranreichten. Die Klein- und Mittelunternehmen waren von der Inflation und von den Stabilisierungsmaßnahmen hart betroffen und hatten wenig Aussicht auf profitable Anteile an dem „Dollarsegen" der Reparationsanleihen. Wie ernst die Situation war und wie sehr die RDI-Führung eine Spaltung befürchtete, zeigte sich in den massiven Einigungsappellen vor, auf und nach der Märztagung. Clemens Lammers, der über die Verhandlungsergebnisse des 1922 beim RDI gebildeten „Ausschusses f ü r die programmatischen Fragen des Wirtschaftslebens" berichtete, forderte, trotz der „uralte [n] Erfahrung, daß Schweigen Gold sei", und obwohl die Wirtschaft sich nicht auf „den Boden neuparlamentarischer Wortbreite" drängen lassen dürfe, daß der Reichsverband stärker an die Öffentlichkeit treten und seine Ausgleichsfunktion voll wahrnehmen müsse. 126 Mit Recht beurteilte „Die Rote Fahne" die Tagung als einen Versuch, die scharfen Gegensätze zwischen den verschiedenen Flügeln der Großindustrie zu überbrücken und sie f ü r eine bürgerliche Mehrheit im Reichstag gleichzuschalten. 137 Um auch der nichtmonopolistischen Opposition ihre gefährliche Spitze zu nehmen, war die RDI-Führung bemüht, den Reichsverband auch wieder als „Interessenvertreter" der Klein- und Mittelindustrie attraktiv werden zu lassen. Schließlich wurde auch die Geschäftsführung des RDI umgebildet; anstelle des Bücher unterstellten, 1919 vom CDI übernommenen Bürochefs Ferdinand Schweighoffer trat Jacob Herle. 128 Die RDI-Führung konnte mit ihren Appellen und Maßnahmen nicht verhindern, daß die nichtmonopolistische Opposition und die wiederauflebende völkischmi
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Vgl. StAD, Außenministerium, Nr. 7 050, Bl. 226 (RDI-Rundschreiben vom 25. 2.1924); Vogel, W. Umgruppierung der industriellen Verbände, in: Welt am Montag, 3. 3.1924; Veröffentlichungen des Reichsverbandes der deutschen Industrie, H. 21, S. 36 ff., 59. Die Rote Fahne, 27. 3. 1924. Vgl. Schreiben Büchers an Reichsarbeitsminister Brauns vom 30. 4.1924, ZStAP, RAM, Nr. 6 502, Bl. 62.
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chauvinistische und revanchistische Propaganda gegen die Stresemannsche „nationale Realpolitik" einer Verständigung mit den Westmächten und einer allmählichen Wiederaufrüstung im Mai 1924 zu der schon erwähnten Abspaltung der Deutschen Industriellenvereinigung führten. Sie konnte aber diese Gruppe isolieren. 129 Die Deutsche Industriellenvereinigung blieb eine Splittergruppe von Klein- und Mittelunternehmern und war ein Sammelpunkt rechtsextremer Ideologen der herrschenden Klasse. In den Auseinandersetzungen Anfang 1924 überschnitten sich der Gegensatz Monopolbourgeoisie — nichtmonopolistische Bougeoisie und die Gegensätze innerhalb der Monopolbourgeoisie. Trotz des Anspruchs, „Interessenvertreter" der gesamten Industrie zu sein, zielten die Maßnahmen der RDI-Führung in erster Linie darauf, das Gesamtinteresse der Monopolbourgeoisie gegenüber den Sonderinteressen durchzusetzen, den Reichsverband besser in die Lage zu versetzen, nicht nur in der Staatsfrage, in der Arbeitsgemeinschafts- und Sozialpolitik, die vorrangig Klassenkampffragen und damit Fragen des Gesamtinteresses betrafen, sondern auch in der Wirtschaftspolitik Strategien f ü r die gesamte Monopolbourgeoisie zu entwickeln. Die immer wieder erneuerten Einigkeitsappelle 130 bezogen sich, nachdem die politisch kritischen Stabilisierungsmonate 1923/24 überstanden waren, zunehmend auf die wirtschaftspolitischen Gegensätze innerhalb des Monopolkapitals, die besonders durch die Rationalisierung wieder verschärft wurden. Es war offensichtlich, daß die Chemiekonzerne und die schwerindustriellen Mischkonzerne stärker von dieser Entwicklung profitierten als etwa der Bergbau. Anders als die sozialpolitisch spezialisierte VDA konnte der RDI erst nach der Märztagung 1924 und mit Hilfe der Prinzipien des Programmausschusses, dessen Tätigkeit 1925 ein Präsidial- und Vorstandsbeirat f ü r allgemeine Politik und Wirtschaftspolitik fortsetzte, mit programmatischen Denkschriften an die Öffentlichkeit gehen, so im Dezember 1925131, im November 1927132 und im Dezember 1929.133 Dieses wichtige Feld der Tätigkeit der Spitzenverbände des Monopolkapitals wurde durch den Ausschuß und durch die März-
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V. a. auf der Hauptausschuß-Tagung am 2. 7. 1924, vgl. Geschäftliche Mitteilungen für die Mitglieder des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, Nr. 16, 15. 7. 1924, S. 113 ff. WJ vgl. u . a , d i e Zeitungsartikel Carl Dulsbergs zur RDI-Mitgliederversammlung im Juni 1925, abgedr. in Carl Dulsberg. Ein deutscher Industrieller, Berlin (1931), S. 39 ff.; Silverberg und Duisberg auf der RDI-Mitgliederversammlung im September 1926, in: Veröffentlichungen des Reichsverbandes der deutschen Industrie, H. 32, S. 63, 76; Duisberg auf der RDI-Hauptausschußsitzung am 16.12.1927, StAD, Außenministerium, Nr. 7 050, Bl. 326 ff. Deutsche Wirtschafts- und Finanzpolitik, in : Veröffentlichungen des Reichsverbandes der deutschen Industrie, H. 29. ,iKi Aide-mémoire zum Finanzausgleich, abgedr. in Schulz, Gerhard, Zwischen Demokratie und Diktaktur. Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik, Bd. 1, Berlin 1963, S. 659 ff. 133 Aufstieg oder Niedergang, in: Veröffentlichungen des Reichsverbandes der deutschen Industrie, H. 49. 11 Jahrbuch 24
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tagung 1924 maßgeblich vorbereitet. Die Tagung bestätigte die ideologische Aufrüstung, wie sie vor allem das VDA-Organ „Der Arbeitgeber" seit 1921/22 betrieben hatte. Trotz Voglers abfälliger Äußerung über die „Professorenkreise", die antiindustrielle Ressentiments hegten, wurden in den folgenden Jahren verstärkt bürgerliche Ideologen unterschiedlichster Couleur zu den Tagungen geladen und mit der Abfassung von Artikeln für die Verbandsorgane beauftragt. Die Märztagung 1924 bekräftigte die „Politisierung" der Spitzenverbände, d. h. den Ausbau ihrer Funktionen im staatsmonopolistischen Ausbeutungs- und Herrschaftssystem. Hier vollzogen sich Prozesse, wie sie analog auch in der BRD zu beobachten sind.134 Die Spitzenverbände gingen von gefestigten Machtpositionen aus, mit z. T. veränderten Führungsmannschaften und Statuten sowie mit neuen Vorsitzenden (Ernst von Borsig bei der VDA; Carl Duisberg beim RDI) in die Stabilisierungsperiode. In dieser Periode wurde die Monopolmacht — gestützt auf den Staatsapparat, das gefestigte industrielle Verbandswesen und die reformistisch geführten Arbeiterorganisationen — ökonomisch und politisch ausgebaut, wobei die Kapitaldisproportionen der Inflationsjähre abgebaut wurden und sich die Kräfte^konstellation innerhalb der herrschenden Klasse änderte. Am deutlichsten wurde dies durch den Zusammenbruch des Stinnes-Konzerns, die Entstehung der IGFarben und der Vereinigten Stahlwerke 1925 und 1926. Die Ausbeutung wurde extensiv und intensiv gesteigert. Die Stabilisierung trug unter den Bedingungen der allgemeinen Krise des Kapitalismus relativen Charakter und war von wachsender politischer Labilität, von zunehmendem nationalistischem Druck der herrschenden Klasse auf die Arbeiterklasse und die Mittelschichten und einem Prozeß umfassender Rechtsentwicklung, der Evolution der Weimarer Republik zum „starken Staat" begleitet, der bis 1929 auf dem Boden der 1918/19 dem Klassenkräfteverhältnis angepaßten Staatsform und Herrschaftsmethodik blieb. Zwischen Bürgerblock und Großer Koalition wurden die Möglichkeiten bürgerlich-parlamentarischer Koalitionspolitik ausgeschritten. Der Faschismus formierte sich neu, setzte an die Stelle der 1923 gescheiterten Putsch- die „Legalitäts"taktik, baute die großindustriellen Vorbehalte gegen die Unsicherheiten einer Massenbewegung ab und prägte sich so als reale Alternative imperialistischer Herrschaft und Revisionspolitik aus. Die Spitzenverbände waren in der Grundtendenz auf die demokratische Herrschaftsform und daneben auf die Entwicklung erfolgversprechender Alternativen in der Staats- und Gewerkschaftsfrage eingestellt. Diese Doppelstrategie war bis zu der RDI-Mitgliederversammlung im September 1926 mit einer mitunter hektischen Ideen- und Konzeptionssuche und mit neuen taktischen Auseinandersetzungen verbunden. Wenig Erfolg hatte die unter den Begriffen „Arbeitsgemeinschaft" und „Werkgemeinschaft" Anfang 1924 kombinierte Herrschaftsmethode bei der Suche nach organisatorischen Alternativen zur Arbeitsgemeinschaftspolitik. Während des großen Bergarbeiterstreiks vom Mai 1924, der zwar den Achtstundentag nicht zurückerobern konnte, aber Lohnzugeständnisse erzwang, und im Zusammenhang m
Vgl. Meer, Horst van der, Aktivitäten der BRD-Unternehmerverbände zur Festigung der Monopolmacht, in: IPW-Berichte, 9,1980,1, S. 25 ff.
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mit den Reichstagswahlen und dem Streit um den Dawesplan richtete die VDAFührung von „Volksgemeinschafts"parolen begleitete scharfe Angriffe gegen die ADGB-Führer. 135 Hermann Meissinger, der Leiter der VDA-Tarifabteilung, warf ihnen ihre „internationalistische Einstellung", die „Verquickung mit Parteipolitik" und die „Entartung zur Massenbewegung" vor. Bestenfalls sei nun nur noch eine „Vernunftehe" mit dem Tarifwesen und mit den Gewerkschaften möglich. Das setze aber Gewerkschaftsführungen voraus, die von jeglichem Einfluß der Massen frei seien. „Friedensreallohn" und Achtstundentag schlössen sich gegenseitig aus, umschrieb Meissinger das sozialpolitische Programm der Dawesperiode, der Rationalisierung und ihrer Produktivitäts- und Exportsteigerung.136 Der VDA-Vorsitzende Ernst von Borsig forderte im Vorfeld der Londoner Reparationskonferenz von den Gewerkschaftsführern, im Interesse des „Arbeiterfriedens" und der „nationalen Wirtschaft" auf die sozialen Novembererrungenschaften weitgehend zu verzichten. Nur bei völliger, d. h. auch nomineller Abkehr vom Achtstundentag und von der „schematischen" Tarif- und Schlichtungspolitik sei die VDA bereit, weiter mit den bürgerlichen und freien Gewerkschaften zusammenzuarbeiten. 137 Diese Forderungen gingen offensichtlich über die Möglichkeiten der Situation hinaus. Die Führer des ADGB und der liberalen Gewerkschaften wiesen sie zumindest offiziell zurück. Adam Stegerwald und andere Führer der christlichen Gewerkschaften waren zwar bereit, für eine bevorrechtete Stellung in der künftigen Arbeitsgemeinschaftspolitik das Tarif- und Schlichtungswesen weiter zugunsten des Monopolkapitals zu modifizieren. Sie beharrten aber auf dem nominellen Achtstundentag und lehnten insbesondere Borsigs Forderung ab, mit den „gelben" Verbänden zusammen eine „Arbeitsgemeinschaft" mit der VDA zu bilden.138 Stegerwald nannte die Arbeitsgemeinschaftspolitik vom November 1918 und das Tarifwesen unabdingbare Bestandteile eines „starken" demokratischen Staates, war aber bereit, mit den „Gelben" künftig stärker zusammenzuarbeiten. Nach dem Scheitern der Borsig-Aktion und besonders nach der RDI-Denkschrift vom Dezember 1925 griffen die Spitzen verbände Stegerwaids Methode auf, die seit 1918 praktizierte Arbeitsgemeinschaftspolitik — unabhängig von der äußeren üb v g l insbes. Zeugen, Iians-Werner v., Nationale Volksgemeinschaft, in: Der Arbeitgeber, Nr. 9, 1. 5. 1924, S. 161 f.; Dunkmann, Karl, Zur nationalen Volksgemeinschaft, ebenda, S. 162 ff.; Rochlitz, Walter, Arbeitsgemeinschaft und Volksgemeinschaft, ebenda, S. 164 f.; Meissinger, Hermann, Gewerkschaftskrisis, ebenda, Nr. 10,15. 5.1924, S. 177 ff. wb y g i £>ie Lohnpolitik der deutschen Arbeitgeber. Eine Denkschrift, verfaßt von der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (Juli 1924) (Schriften, H. 7); Die Arbeitszeitfrage in Deutschland. Eine Denkschrift, ebenda, H. 8. Vgl. Borsig, Ernst v., Wirtschaftliche Einsicht. Ein offenes Wort an die deutschen Gewerkschaften, in: Der Arbeitgeber, Nr. 12,15. 6.1924, S. 221 ff. Vgl. ders., Nochmals: Wirtschaftliche Einsicht. Eine Antwort an die deutschen Gewerkschaften, ebenda, Nr. 14,15. 7.1924, S. 265 ff.; Stegerwald, Adam, Grundfragen zur Arbeits- und Volksgemeinschaft, ebenda, Nr. 16,15. 8.1924, S. 316 ff.
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Form — fortzusetzen, sie aber mit „vaterländischem Geist" zu erfüllen 139 und führten erstmals seit dem Ende der ZAG wieder offizielle Arbeitsgemeinschaftsverhandlungen mit allen Gewerkschaftsrichtungen. 140 Die Anfang 1924 entwikkelte Herrschaftsmehodik war geeignet, den ideologischen Druck auf die Arbeiter in den Betrieben zu verstärken. Einerseits sollte ein Gegengewicht gegen den steigenden kommunistischen Einfluß in den Gewerkschaften geschaffen, andererseits sollten die Arbeiter nach dem Prinzip „Divide et impera!" allmählich dem gewerkschaftlichen Einfluß entzogen und so langfristig eine Alternative zur Arbeitsgemeinschaftspolitik entwickelt werden. Auf dieser Linie lag die maßgeblich von Albert Vogler geförderte Gründung des Deutschen Instituts für technische Arbeitsschulung (DINTA) im Mai 1925.141 Darüber hinaus begann „Der Arbeitgeber", die faschistische „Lösung der Gewerkschaftsfrage" zu propagieren.142 In seinem Grundsatzreferat auf der RDI-Mitgliederversammlung am 4. September 1926 widmete Paul Silverberg einen ganzen Abschnitt dem Verhältnis des industriellen Unternehmertums zur Arbeiterschaft. Dabei band er die Arbeitsgemeinschaftspolitk an das sozialreaktionäre Programm der Denkschrift vom Dezember 1925 und an die Abkehr von der „Sozialpolitik in den alten Gleisen der behördlichen Fürsorge und Bevormundung der Arbeitszeit- und Lohnregelung". Gleichzeitig kritisierte er, daß das Unternehmertum — und damit indirekt auch die Borsig-Aktion — nicht genug geleistet hatte, um den gewerkschaftlichen „Führern den Rücken gegen die eigenen Freunde zu stärken". Die „Reinigungskrise" möge nicht vor den Gewerkschaften haltmachen, damit diese von den „November-Sozialisten" und vom „Druck der Straße" befreit würden. 143 in« v g l u . a. Die von der „Deutschen Allgemeinen Zeitung" am 24. 12. 1925 ausgelöste Diskussion zur Arbeitsgemeinschaftspolitik, zusammengefaßt in: Westdeutsche Wirtschaft, 1926, Nr. 1, 2; Tänzler, Fritz, Krisenzeiten, in: Der Arbeitgeber, Nr. 1, 1.1.1926, S. 1 f.; Röttgen, C., Erkenntnis-Gemeinschaft, ebenda, Nr. 2, 15. 1. 1926, S. 25 ff.; Debatin, Otto, Sozialer Waffenstillstand, ebenda, S. 31 f.; Stegerwald, Adam, Die Idee der Arbeitsgemeinschaft, in: Deutsche Wirtschafts-Zeitung, Nr. 21, 27. 5.1926, S. 476 f.; Leibrock, Otto, Der Anteil der Arbeitsgemeinschaft an der Überwindung der Revolutionskrise, ebenda, Nr. 45,11.11. 1926, S. 1047 ff. f.« vgl. zStAP, RAM, Nr. 6 498, Bl. 104 ff.; Geschäftliche Mitteilungen..., Nr. 11, 24. 4.1926, S. 79 f. 141
Vgl. u. a. Scherer, Karl, Die psychologischen Grundbedingungen für die Gesundung der deutschen Wirtschaft, in: Der Arbeitgeber, Nr. 13, 30. 6.1926, S. 261 ff.; Arnold, C. R., Das DINTA und die Gewerkschaften, in: Wirtschaftliche Nachrichten für Rhein und Ruhr, 10. 11.1927, S. 149 ff. im vgl. Mehlis, [Georg,] über das Soziale und Asoziale, in: Der Arbeitgeber, Nr. 1, 1. 1. 1926, S. 5 ff.; ders., Der Geist der faschistischen Arbeitsgesetzgebung, ebenda, N. 11,1. 6.1926, S. 222 ff.; Zur internationalen Regelung der Arbeitszeit. Der Faschismus, ebenda, Nr. 21, 1. 11. 1926, S. 445 ff.; Mehlis, Georg, Der soziale Frieden, ebenda, S. 454 ff. Vgl. Silverberg, Paul, Das deutsche industrielle Unternehmertum in der Nachkriegs• zeit, in: Veröffentlichungen des Reichsverbandes der deutschen Industrie, H. 32, S. 62 ff.
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Die taktischen Pendelschläge und die Konzeptionssuche wie auch Silverbergs Resümee zeigten, wie die Spitzenverbände die Arbeitsgemeinschaftspolitik auf die weitere sozialpolitsche Offensive auszurichten versuchten, ohne damit den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit im Interesse des Monopolkapitals lösen zu können. Zwei Monate später charakterisierte das Aktionsprogramm der von der KPD organisierten Reichskonferenz der Erwerbslosen die Dialektik imperialistischer Sozialpolitik: „Die Sozialreform im kapitalistischen Staat, die Schaffung von Einrichtungen des Arbeiterschutzes, der Sozialfürsorge für den Arbeiter ist ein Ergebnis des Klassenkampfes der Arbeiterschaft, zugleich aber ein Mittel zum Zwecke der Sicherung und Regelung der Ausbeutung der Arbeitskraft des Proletariats durch die Kapitalistenklasse. Der Kapitalismus kann durch die Krise, in der er sich heute befindet, seine Existenz nur durch den rücksichtslosen Raubbau an der Arbeiterklasse aufrechterhalten. Die soziale Reform gerät darum immer mehr in Widerspruch mit den kapitalistischen Interessen. Unter der Losung : Abbau der sozialen Lasten, führt heute die Kapitalistenklasse einen scharfen Kampf um den Abbau der sozialen Einrichtungen." 144 Nicht nur in der Sozialpolitik und im Verhältnis zu den Gewerkschaften, auch im Verhältnis zur bürgerlich-parlamentarischen Demokratie, zum bürgerlichen Parteiwesen und zur Sozialdemokratie ließen die Doppelstrategie und die taktischen Pendelschläge des RDI zwischen der Märztagung 1924 und der Septembertagung 1926 die letzendliche Unmöglichheit für die herrschende Klasse erkennen, die Grundwidersprüche des staatsmonopolistischen Ausbeutungs- und Herrschaftssystems zu lösen. Die Großindustriellen warfen den bürgerlichen Parteien vor allem ihr parlamentarisches und koalitionspolitisches Kompromißlertum sowie ihre demagogische oder wirkliche Rücksichtnahme auf die Massen vor, obwohl sie — zum größten Teil aus eigener Praxis — deren Wirkungsmechanismus genau kannten. Den Tenor der in Unternehmerkreisen verbreiteten Parteien- und Parlamentskritik traf der kurz zuvor aus der RDI-Geschäftsführung ausgeschiedene und zur IG-Farben überwechselnde Hermann Bücher auf der RDI-Hauptausschußsitzung vom 1. April 1925: „Ins Parlament gehören keine Parteien mit einem Schwanz von Unverantwortlichkeiten, ins Parlament gehören nur Persönlichkeiten, vor denen sich die anderen beugen, nicht um der Partei willen, sondern um der Persönlichkeit willen. Solange wir dieses nicht haben, haben wir kein Parlament, haben wir nicht die Möglichkeit, einen einheitlichen Willen, eine Demokratie, die gleichbedeutend ist mit Aristokratie, zu schaffen, eine Demokratie, die den Besten an die Spitze stellt, nicht denjenigen, der die besten Kompromisse machen kann." 145 Einen Monat zuvor, am 27. Februar hatte Bücher für die RDI- und VDA-Delegation, die den Bürgerblock-Reichskanzler Hans Luther zu energischen Maßnahmen gegen Lohnerhöhungen aufforderte, erklärt, der Reichsverband sei bereit, an einem größeren Programm u. a. zur Erhöhung w
' Vgl. Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 8, S. 388. 145 Vgl. Veröffentlichungen des Reichsverbandes der deutschen Industrie, H. 25, S. 21.
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der „staatlichen Autorität" mitzuarbeiten. 146 Am 29. Dezember 1925, als eine von Duisberg und dem neuen Geschäftsführer Ludwig Kastl geleitete RDI-Präsidiums-Delegation von Reichspräsidenten Hindenburg empfangen wurde, um die „Weihnachts"-Denkschrift zu erläutern, wurde von Duisberg und von dem westdeutschen Schwerindustriellen Paul Reusch bereits gefordert, den aus „politischen Parteirücksichten" handelnden Parlamenten ihre Befugnisse zur Ausgabenbewilligung dauernd zu beschränken 147 und dafür den Weg einer „stärkere [n] Anwendung des Artikels 48 auf der Grundlage eines Ermächtigungsgesetzes" 148 zu wählen. Dieses Programm der Verfassungsänderung und der allmählichen Beschränkung der parlamentarischen Rechte, Ende 1925 noch intern formuliert, wurde zwei Jahre später unter dem Motto der Finanz- und Reichsreform öffentlich verkündet. Aus der Einsicht heraus, daß die bürgerlich-parlamentarische Republik das vorerst am besten geeignete Herrschaftsinstrument war, tendierten die Vorstöße der Großindustriellen gegen den Parlamentarismus und das Parteienwesen im untersuchten Zeitraum dahin, den Parlamentarismus im reaktionären Sinne auszugestalten bzw. einzuschränken, die Parteien stärker unter Druck zu setzen, die Ansätze der Weimarer Verfassung zu wirklicher Demokratie weiter abzubauen, ohne zunächst den Weg zur unverhüllten Diktatur zu beschreiten. Die Bestrebungen erhielten durch die Reichstagswahlen vom Dezember 1924, durch das erste Bürgerblock-Kabinett, durch die Reichspräsidentenwahlen 1925 und in der Abwehr des Volksentscheids über die Fürstenenteignung 1926 Auftrieb. 149 Teils waren die Bestrebungen in dieser Situation darauf gerichtet, einzelne bürgerliche Parteien wie die DNVP 150 und das Zentrum auf den realpolitischen Rechtskurs festzulegen, teils darauf, die Interessengegensätze, die im Reichsverband vor allem im Hinblick auf die Zollgesetze aufbrachen, zu überbrücken. 151 Durchgängig bezogen die Verbandsspitzen einen betont „überparteil'tb ygi w ),;3
14a
IM
,ÖJ
Akten
der Reichskanzlei/Weimarer
Republik.
Die Kabinette Luther I und
Luther II, Boppard a. Rhein 1977, Bd. 1, Dokument Nr. 31, S. 128 ff. Vgl. ebenda, Dokument Nr. 258, S. 1021 ff. Kastl. am 30.12.1925 an Silverberg, zit. nach Stegmann, Dirk, Die Silverberg-Kontroverse 1926. Unternehmerpolitik zwischen Reform und Restauration, in: Sozialgeschichte heute. Festschrift für Hans Rosenberg zum 70. Geburtstag, Göttingen 1974, S. 599 f. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 11.) Vgl. u. a. VDA-Rundschreiben „Arbeitgeberschaft und Wahl" vom 6. 11. 1924, abgedr. in: Gewerkschafts-Zeitung, Nr. 48, 29.11.1924, S. 472 f.; Heinrichsbauer, A., Wirtschaft und Politik, in: DAgZ, Nr. 48, 30. 11. 1924; Tänzler, Fritz, Nach der Wahl, in: Der Arbeitgeber, Nr. 24, 25.12.1924, S. 513 f.; ZStAP, Deutsche Reichsbank, Nr. 2 176, Bl. 25 (Pressebericht über ein Borsig-Rundschreiben, das die Industriellen zur Finanzierung der Agitation gegen den Volksentscheid aufforderte). So forderte das dem RDI nahestehende Organ „Spectator" am 20. 11. und am 11. 12. 1925 die DNVP auf, die Locarno-Politik zu unterstützen, vgl. ZStAP, Nachlaß Dix, Nr. 99, Bl. 45, 48. Zu dem entsprechenden Briefwechsel zwischen Silverberg und Bücher im Vorfeld des Bürgerblockkabinetts vgl. Krohn, Claus-Dieter, Stabilisierung und ökonomische Interessen. Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches 1923—1927, Düsseldorf 1974, S. 145,176 (Studien zur modernen Geschichte, Bd. 13).
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liehen" Standpunkt und traten somit den Tendenzen entgegen, über persönliche, parteipolitische Bindungen hinaus die Verbände auf bestimmte Parteien festzulegen bzw. eine eigene „Arbeitgeber"partei zu gründen 152 und damit die Arbeitsteilung zwischen den politisch wirksamen Unternehmerverbänden und den bürgerlichen Parteien im imperialistischen Herrschaftssystem zu verwischen. Bei allen personellen und tagespolitischen Präferenzen f ü r diese oder jene Partei stellten sich die Verbandsspitzen weiter auf das bürgerliche Parteienwesen insgesamt ein, worunter sie die „Vertretung der Gesamtwirtschaft" und damit mehr verstanden als nur die Summe öder die mehr oder weniger zufällige Konstellation der Parteien. Der neue RDI-Präsident Carl Duisberg trat bei seiner Antrittsrede am 23. Juni 1925 und bei der Gründung der Staatspolitischen Vereinigung im Dezember 1926 engagiert f ü r die Einwirkung auf das bürgerliche Parteienwesen und auf die Parlamentsabgeordneten ein, was den linksbürgerlichen Publizisten Richard Lewinsohn (Morus) veranlaßte, diese gesamte Methodik auf den Begriff „System Duisberg" zu bringen. 153 Dieses Instrumentarium war Gegenstand einer RDIHauptausschußtagung am 12. Februar 1926, auf der der Syndikus der Niederrheinischen Industrie- und Handelskammer Duisburg-Wesel, Otto Most, zum Thema „Industrie und Parlament" referierte. 154 Die Tagung war zugleich von dem Appell des Präsidiums an die angeschlossenen Verbände, die innere Disziplin und Geschlossenheit des Reichsverbandes zu wahren und jede eigenmächtige Einwirkung auf die Regierung zu unterlassen 155 , sowie von der verstärkten Kampagne gegen die „kalte Sozialisierung" 156 gekennzeichnet. Otto Most war Reichstagsabgeordneter der DVP und später maßgeblich an den reaktionären „Reichsreformplänen" des Luther-Bundes 157 beteiligt. Am 15. Mai 1928 sprach er zum selben Thema vor dem Verband Rheinischer Industrieller. Im März 1928 führte
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Vgl. u. a. Schön, Martin, Wo bleibt der Arbeitgeber?, in: DAgZ, Nr. 35, 31. 8. 1924. Vgl. Veröffentlichungen des Reichsverbandes der deutschen Industrie, H. 28, S. 9; Lewinsohn (Morus), S. 82 ff. JM Vgl. Veröffentlichungen des Reichsverbandes der deutschen Industrie, H. 30, S. 33 ff. Jas Vgl. ebenda, S. 5 f. jau vgl Jutzi, W., Staatssozialismus und Privatwirtschaft, ebenda, S. 6 ff.; Bohret, Carl, Aktionen gegen die „kalte Sozialisierung". Ein Beitrag zum Wirken ökonomischer Einflußverbände in der Weimarer Republik, West-Berlin 1966 (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 3); Nussbaum, S. 202 ff. Nicht zufällig sind in der Arbeit von Bohret (S. 103 ff., 222 ff.) erstmals in größerem Umfang die „Einflußmöglichkeiten" der Industrieverbände auf die „politischen Instanzen" zusammengestellt worden. li>v Bund zur Erneuerung des Reiches, vgl. Die bürgerlichen Parteien in Deutschland, Bd. 1, S. 195 ff.; Müller, Werner, Die Monopolbourgeoisie und die Verfassung der Weimarer Republik. Eine Studie über die Strategie und Taktik zur Beseitigung des in: Der Arbeitgeber, Nr. 21, 1. 11. 1925, S. 509 f.; Gewerkschafts-Zeitung, Nr. 5, 30 1. (MS).
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auch der Verband Sächsischer Industrieller eine Tagung zum Thema „Industrie und Parlament" durch. 158 Zwischen September 1925 und September 1926 druckte das VDA-Organ „Der Arbeitgeber" eine neue Artikelserie zum Thema „Staat und Wirtschaft" ab 159 , in der u. a. die Jungkonservativen Edgar J. J u n g und Heinz Brauweiler, der ,,Werkgemeinschafts„theoretiker Ernst H o r n e f f e r und der Mussolini-Apologet Georg Mehlis zu Wort kamen. Die Frage nach der „besten Staatsform" stand nicht m e h r wie 1923/24 am Rande der Diskussion. Die Anklänge an die gleichzeitigen Angriffe etwa Hugenbergs auf den realpolitisch-wendigen Kurs Stresemanns, an die Diktatur- und Putschpläne deutschnational gebundener Schwerindustrieller, an die begeisterte A u f n a h m e der Hitler-Vorträge durch Großindustrielle in Hamburg, Essen u n d Königswinter sind nicht zu übersehen. Sie nahmen mit der erfolgreichen Einheitsfrontpolitik der K P D im Kampf u m die Fürstenenteignung und besonders nach dem Zusammenbruch des ersten Bürgerblocks und bei dem Ende der zweiten Luther-Regierung zu. Offensichtlich übertraf in dieser zugespitzten Situation die DNVP-Bindung der VDA-Repräsentanten Borsig und Tänzler ihre ansonsten betonte „Überparteilichkeit". Borsig gehörte zu denen, die im Dezember 1925 die Forderung des Geschäftsführers des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller, J a k o b Reichert, unterstützten, den Reichstag auszuschalten und auf G r u n d des Artikels 48 der Reichsverfassung zu regieren. 160 Überdies hatten Ruf u n d Funktionstüchtigkeit der VDA argen Schaden genommen, da ihre Geschäftsführung 1925/26 in Korruptionsskandale verwickelt und dabei die Finanzierung bzw. Bestechung von Rechtsextremisten, Renegaten der Arbeiterbewegung u n d Wissenschaftlern öffentlich bekannt wurden. 1 6 1 Tänzler, Zengen und einige Zeit später auch Meissinger mußten aus der Geschäftsführung ausscheiden. Die RDI-Führung zog mit der Silverberg-Rede von 4. September 1926 einen gewissen Schlußstrich unter die Auseinandersetzungen u n d Skandale der vergangenen Monate und bekräftigte die Grundtendenz des Demokratie- und Sozial1S8
Vgl. Most, Industrie und Parlament, in: Kölner Industriehefte, H. 9, S. 8 ff.; Industrie und Parlament, in: Bericht über die 24. ordentliche Hauptversammlung des Verbandes Sächsischer Industrieller am 16. März 1928 (Veröffentlichungen des Verbandes Sächsischer Industrieller, H. 55). Vgl. Der Arbeitgeber, Nr. 17, 1. 9.1925, S. 414 ff. (Göppert); Nr. 21, 1. 11.1925, S. 512 ff. (Puppe), 514 ff. (Potthoff); Nr. 24, 15. 12. 1925, S. 582 ff. (Brauweiler); Nr. 1, 1. 1. 1926, S. 2 ff. (Horneffer); Nr. 2, 15. 1. 1926, S. 33 f. (Jung); Nr. 3, 1. 2. 1926, S. 49 f. (Bredt); Nr. 10,15. 5. 1926, S. 205 f. (Bredt); Nr. 11, 1. 6. 1926, S. 221 f. (Tänzler), 222 ff. (Mehlis), 226 ff. (Ziegler); Nr. 15,1. 8.1926, S. 313 ff.; Nr. 16,15. 8.1926, S. 336 ff.; Nr. 17,1. 9.1926, S. 365 ff. (alle Brauweiler). IHU vgl stresemann, Gustav, Vermächtnis. Der Nachlaß in drei Bänden, Bd. 2, Berlin 1932, S. 380 f.; vgl. zu den Angriffen Hugenbergs auf Stresemann und zu den Putschplänen und der preußischen Polizeiaktion gegen Großindustrielle im Mai 1926 ebenda, S. 398 ff., 401 ff. 161 Vgl. Borsig, Ernst v., Die Politik der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, in: Der Arbeitgeber, Nr. 21, 1.11.1925, S. 509 f.; Gewerkschafts-Zeitung, Nr. 5, 30.1. 1926, S. 72.
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abbaus im Rahmen der Weimarer Verfassung und ihrer Revision: „Das deutsche Unternehmertum steht restlos auf staatsbejahendem Standpunkt." Trotz mancher „Ressentiments mehr persönlicher Art" habe es sich „auf den Boden des heutigen Staates und der Reichsverfassung gestellt: der Reichsverfassung, die in allen Bestimmungen, mögen sie uns gefallen oder nicht gefallen, Respekt erheischt, aber, das sei aber auch aller Öffentlichkeit gesagt, mit allen den Bestimmungen, die ihre Änderung in manchen gewollt oder ungewollt unklaren Punkten vorsehen. Ebenso wie das deutsche Unternehmertum alle die extremen Elemente rechts und links ablehnt, deren offenes oder geheimes Ziel die verfassungswidrige, gewaltsame Änderung der Reichsverfassung darstellt, so lehnt das deutsche Unternehmertum auch diejenigen Verteidiger der Republik ab, die in der Verfassung heute noch vornehmlich ein Instrument wirtschaftsrevolutionärer Ziele sehen." Silverberg wandte sich dann gegen den „parteitaktischen Rummel" der letzten Monate, erklärte sich zwar mit den Großindustriellen solidarisch, gegen die sich im Mai 1926 die preußische Polizeiaktion gerichtet hatte, fügte aber hinzu: „Wir lassen uns dadurch von unserer Einstellung zum Staat und auf den Staat nicht abdrängen und uns die nach schweren inneren Kämpfen gewonnene, aber darum um so festere Einstellung auf den Staat nicht rauben." 162 Silverberg bekannte sich aber nicht nur stärker als 1924 zur Arbeitsgemeinschaftspolitik und zur demokratischen Herrschaftsform. Er sprach sich in tagespolitischer Hinsicht auch f ü r eine Regierungskoalition mit der SPD aus: „Es hieße sich selbst etwas vormachen, wollte man verkennen, daß die überwiegende Mehrheit der deutschen Arbeiterschaft in der Sozialdemokratie, eine Minderheit in der Zentrumspartei, ihre politische Vertretung findet... Deshalb ist es eine auf die Dauer in höchstem Maße allgemeinpolitisch und wirtschaftspolitisch unerträgliche und schädigende Lage, wenn eine große Partei wie die Sozialdemokratie in einer im deutschen Parlamentarismus mehr oder weniger verantwortungsfreien Opposition steht. Man sagte einmal, es kann nicht gegen die Arbeiterschaft regiert werden. Das ist nicht richtig; es muß heißen: Es kann nicht ohne die Arbeiterschaft regiert werden . . . Die deutsche Sozialdemokratie muß zur verantwortlichen Mitarbeit heran." 103 Diese Teile des Silverberg-Referats stießen auf die unterschiedlich motivierte heftige Kritik westdeutscher Schwerindustrieller und Verbandssyndizi wie Vogler, Reichert, Reusch, Thyssen, Hugenberg, Brandi, Hasslacher, Springorum, mitteldeutscher Braunkohlenindustrieller, Exponenten der Werft-, Baustoff- und Textilindustrie, nichtmonopolistischer Industrieller und solcher Organisationen wie des Hansa-Bundes. 164 Silverberg habe die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften ungebührlich aufgewertet und den Reichsverband unnötig in die Politik hineingezogen, wurde ihm vorgeworfen. „Ich halte es nicht f ü r angebracht, in dem Umfange, wie es auf der Dresdner Tagung der deutschen Industrie erfolgt ist, aus solcher Einstellung des deutschen Unternehmertums Konsequenzen zu
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Vgl. Silverberg, S. 55 f. Vgl. ebenda, S. 64. Vgl. Stegmann, S. 594 ff.
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ziehen, die das parteipolitische Gebiet und die Frage parteipolitischer Koalitionen berühren", kritisierte der DDP-Politiker H e r m a n n Fischer am 25. September 1926 vor dem Wirtschaftspolitischen Gesamtausschuß des Hansa-Bundes. Die „politische Verantwortung" müsse den politischen Parteien als den „Trägern der Staatsleitung" überlassen bleiben, und die wirtschaftlichen Verbände d ü r f t e n nicht „zu Grundlagen unverantwortlicher Nebenregierungen" ausgestaltet w e r den. 1 ® Damit w u r d e n teilweise Silverbergs Aussagen zur. Arbeitsgemeinschaf tspolitik kritisiert, obwohl diese grundsätzlicheren Charakter als die koalitionspolitischen trugen. Gegenüber 1922 hatte die unterdes fortgeschrittene Rechtsentwicklung den Stellenwert der koalitionspolitisch-parlamentarischen Zusammenarbeit mit dem Opportunismus in der Herrschaftsmethodik hinter dem Stellenwert der Arbeitsgemeinschaftspolitik zurücktreten lassen. Rechtsextreme Gegner der Arbeitsgemeinschaftspolitik sammelten sich im Dezember 1926 in der Gesellschaft f ü r deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik 166 , in deren Vorstand u. a. der NordwolleGeneraldirektor F. Horst saß, der sich besonders gegen die Silverberg-Rede exponiert hatte. Wie zu erwarten, protestierte auch der Bund f ü r Nationalwirtschaft und Werksgemeinschaft ( f r ü h e r : Deutsche Industriellen Vereinigung) gegen die Rede, was die RDI-Führung veranlaßte, sich erneut von dieser Organisation zu distanzieren, die die „Einheitlichkeit des wirtschaftlichen und sozialpolitischen Vorgehens" störe. 167 Bereits auf der Tagung selbst war das eindeutige Bekenntnis der RDI-Führung u n d Silverbergs zu einem Rechtskurs auf den Boden der gegebenen Staatsform von H e r m a n n Bücher und J a k o b Reichert befürwortet, die koalitionspolitischen Schlußfolgerungen f ü r die konkrete Situation aber abgelehnt worden. 1 6 8 Bücher unterstrich die Notwendigkeit der „Reform des Parlamentarismus", wiederholte dabei seine Klage über die n u r durch die „Montessori-Methode" steuerbaren Demokratien u n d seine Kritik an den „Unverantwortlichkeiten" des Parlamentarismus u n d w a r n t e den Reichsverband, sich in „politische Dinge" einzumischen. Reichert forderte, da mit dem Parlament „als einem notwendigen Übel" weiter zu rechnen sei, es f ü r die „Interessen . . . der Industrie" zu gestalten u n d „eine denkbar enge Zusammenarbeit zwischen Parlament und Reichsverband der Deutschen Industrie wie mit anderen Wirtschaftsverbänden herbeizuführen". Es sei ein Fehler gewesen, die Stabilisierungsmaßnähmen 1923 nicht mit dem Parlament, sondern gegen es durchgesetzt zu haben. Er w a n d t e sich scharf gegen eine Regierungsbeteiligung der SPD. Auch in der DVP und in der DNVP seien Arbeiter organisiert, argumentierte dieser deutschnationale Reichstagsabgeordnete und schwerindustrielle Verbandsführer. Das P r o g r a m m des RDI sei bei einer „Dauerregierung mit Links" nicht durchzuführen. Den Höhepunkt der Kontroversen u m die Silverberg-Rede bildete die Jahres16a
Vgl. ZStAP, Deutsche Reichsbank, Nr. 1 856, Bl. 45 Vgl. Stegmann; Die bürgerlichen Parteien in Deutschland, Bd. 2, S. 166 f. 1By Vgl. RDI-Rundschreiben vom 2. 10. 1926, StAD, Außenminsterium, Nr. 7 041, Bl. 86 f. Iii« vgl Veröffentlichungen des Reichsverbandes der deutschen Industrie, H. 32; S. 70, 72 ff. 1(Äi
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hauptversammlung des von der Ruhr-Schwerindustrie geführten Langnam-Vereins am 1. Oktober 1926.169 Reusch erklärte, er stimme Silverberg in der Hauptsache voll und ganz zu, auch mit der Aussage, daß nicht ohne und nicht gegen die Arbeiterschaft regiert werden solle. Doch müsse die Parteipolitik von der Industrie im Interesse ihres geschlossenen Auftretens ferngehalten werden. Daher lehne er den Schluß der Rede ab. Im übrigen seien in allen Parteien Arbeiter organisiert, und die Industrie könne „mit keiner der politischen Parteien zufrieden (zu) sein". Notwendig sei ein neuer Kurs in den Parlamenten und Regierungen, damit diese nicht „gegen die Wirtschaft" regierten. Die „schaffenden Stände" müßten sich in Wirtschaftskammern enger zusammenschließen, um „eine gesunde Wirtschaftspolitik zu erkämpfen". Ähnlich wie Reusch lehnte Thyssen die Konsequenz der Silverberg-Rede ab, daß nur mit der Sozialdemokratie regiert werden könne. Die Industrie dürfe sich nicht auf diese stärkste Arbeiterpartei festlegen, sondern müsse „neutral bleiben", auch wenn sie mit der Arbeiterschaft verhandele. Silverberg entgegnete, die Industrie dürfe sich nicht „ihrer Arbeiterschaft entfremden". Er habe sich bewußt auf das Feld der Politik begeben, denn alles, was heute in Deutschland geschehe, werde politisch entschieden. Auch Reusch habe sich soeben mit Politik befaßt und nicht mehr oder weniger als eine Verfassungsänderung gefordert. Die Auffassung, die Sozialdemokratie in die Regierung aufzunehmen, sei nur die Konsequenz des auch von Reusch anerkannten Satzes. Er hob noch einmal die Bedingungen hervor, die er in Dresden f ü r eine Regierungsbeteiligung der Sozialdemokratie gestellt habe. Er habe seine Rede mit einem kleinen Kreis des RDI-Präsidiums abgestimmt, sie aber nicht offiziell mit Präsidium und Vorstand abgesprochen, denn er lasse sich seine Rede nicht vorschreiben. Das wurde von Duisberg bestätigt; er selbst habe die Rede gelesen und gebilligt und in bezug auf die Stellungnahme zur Arbeiterschaft „die Freude gehabt, zu sehen, wie es wirken würde, wenn in den Teich der Öffentlichkeit ein Stein hineingeworfen und daraufhin die Frösche zu quaken anfangen werden". Schließlich unterstützte auch Lammers die Silverberg-Rede: „Es muß also auf die politische Einstellung der Arbeiter im Interesse der Wirtschaft eingewirkt werden." Die Kontroversen veranlaßten die Führungsgremien des RDI am 14. Oktober 1926 zur offiziellen Stellungnahme zu der Silverberg-Rede, mit der sie sowohl das „Bekenntnis der Unternehmerschaft zum Staat als auch die Forderung zur Zusammenarbeit zwischen Unternehmer- und Arbeiterschaft" bekräftigten, dagegen eine Stellungnahme zu den „parteipolitischen und parteitaktischen Auslegungen und Auswertungen" unterließen, da es „nicht Aufgabe des Reichsverbandes der Deutschen Industrie ist, Parteipolitik zu treiben", und jeder Referent in seiner Meinungsäußerung frei sei.170 Die Leitungsgremien des Reichsverbandes distanzierten sich also von der tages1Ba
lvu
Vgl. ZStAP, Deutsche Reichsbank, Nr. 1 856, Bl. 50 ff.; vgl. zu den Gegensätzen zwischen Schwerindustrie und RDJ-Führung Weisbrod, Bernd, Schwerindustrie in der Weimarer Republik, Wuppertal 1978, zu den Auseinandersetzungen um die SilverbergRede insbesondere S. 246 f£. Abgedr. in: Geschäftliche Mitteilungen, Nr. 29, 27.10.1926, S. 215.
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politischen Stellungnahme Silverbergs im Streit um eine künftige Große Koalition oder einen neuen Bürgerblock, bekräftigten aber das „Bekenntnis" zur Republik und zur Arbeitsgemeinschaftspolitik. Es wäre also verkehrt, diese Positionen nur als tagespolitisch-taktischen Schachzug anzusehen, um der Sozialdemokratie die Koalitionsofferte schmackhaft zu machen. 171 Wie die Analyse der programmatischen Reden, Aufsätze und Dokumente zwischen 1922 und 1926 gezeigt hat, lagen die Silverberg-Rede und die Stellungnahme der RDI-Leitungsgremien auf der langfristig-taktischen Linie der Evolution der Weimarer Republik zum „starken Staat" und der Ausnutzung der Gewerkschaften zum Abbau der sozialen Errungenschaften der Novemberrevolution. Die tonangebenden Vertreter des deutschen Monopolkapitals, die die Spitzenverbände spätestens seit 1922 auf diese Rechtsentwicklung eingestellt hatten, waren damit nicht zu überzeugten Republikanern und Demokraten geworden. Sie waren Realpolitiker genug und hatten ihre Lehren aus dem Kapp-Putsch 1920 und den Diktaturbestrebungen 1923 gezogen, um zu begreifen, daß angesichts des Klassenkräfteverhältnisses im Innern und der außenpolitischen Lage der Versuch der Errichtung einer Diktatur die Monopolherrschaft gefährden und zurückdrängen konnte. 172 Solange die bürgerlich-parlamentarische Demokratie zur Negation einer Demokratie f ü r die Volksmassen geeignet war und als zwar indirekte, dafür aber um so sicherere Herrschaftsform 1 7 3 des Monopolkapitals funktionierte, sollte sie nicht untergraben, sondern genutzt und im reaktionären Sinne ausgestaltet werden. Die Industriellen sollten dieses Instrument nicht wegwerfen, ehe sie ein anderes haben, hatte Stresemann im März 1922 verlangt. Dieser Zeitpunkt war noch nicht gekommen. In der bürgerlichen Geschichtsschreibung hat es nicht an Versuchen gefehlt, die Silverberg-Rede von 1926 zu benutzen, um die Zusammenhänge zwischen Imperialismus und Demokratieabbau, Faschisierung und Faschismus zu leugnen bzw. auf einzelne Erscheinungen und Personen zu reduzieren. Die Rede sei Ausdruck der Umorientierung des deutschen Unternehmertums gewesen 174 ; sie beweise, daß der Monopolistenklub „Die Ruhrlade", dem ein Mann angehörte, der eine solche Rede hielt, Hitler nicht finanziert haben konnte. 175 Solche Versuche 171
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Vgl. Die bürgerlichen Parteien in Deutschland, Bd. 2, S. 600; ähnlich auch in linksbürgerlichen Arbeiten: Schneider, Michael, Unternehmer und Demokratie. Die freien Gewerkschaften in der unternehmerischen Ideologie der Jahre 1918 bis 1933, BonnBad Godesberg 1975 (Schriftenreihe des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bd. 116), S. 55; Hennig, Eike, Bürgerliche Gesellschaft und Faschismus in Deutschland. Ein Forschungsbericht, Frankfurt a. M. 1977, S. 238 f. Vgl. Rüge, Deutschland von 1917 bis 1933, S. 300; zu den entsprechenden Einschätzungen der KPD vgl. Jung, Peter, Die KPD zur Strategie und Taktik des deutschen Großkapitals und seiner entscheidenden Gruppierungen in der Periode der relativen Stabilisierung des Kapitalismus (Teil 1: 1924-1926), Diss. Potsdam 1976, S. 241 ff. (MS). Vgl. Lenin, W. I., Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen Ökonomismus", in: Werke, Bd. 23, S. 38 f. Vgl. Röseler, Klaus, Unternehmer in der Weimarer Republik, in: Tradition, 13, 1968, 5, S. 217 ff. Vgl. Silverberg, Paul, Reden und Schriften, hrsg. u. eingel. v. Franz Mariaux, Köln 1951, S. LXXVII.
Verbandspolitik und Rechtsentwicklung
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konnten selbst auf bürgerlicher Seite wenig überzeugen. Sie sind daher von den bürgerlichen Historikern, die die Durchdringung von Ökonomie und Politik im modernen Kapitalismus erforschen, die Schuld des Großkapitals am Untergang der Weimarer Republik und am deutschen Faschismus nicht durchweg leugnen und die reaktionäre Politik einzelner Monopolkapitalisten und Kapitalgruppen kritisieren, längst widerlegt worden. Soweit man die Silverberg-Rede dabei nicht als bloßen taktischen Schachzug ansieht, wird sie von diesen Historikern für einen „Reformflügel" des Großkapitals in Beschlag genommen, der sich dem Demokratieabbau und den sozialreaktionären Vorstößen bestimmter konservativer Gruppen, vor allem der Schwerindustrie, widersetzt habe.176 So bleibt allein die Schwerindustrie mit der reaktionären Politik in den Jahren der Weimarer Republik belastet und immer noch die Möglichkeit offen, daß der moderne Kapitalismus nicht unbedingt Reaktion bedeute und von sich heraus — auch ohne den Kampf der revolutionären Arbeiterbewegung — echte Demokratie entwickeln könne. Das untersuchte Material beweist aber, daß die reaktionäre Politik im Gesamtinteresse des deutschen Monopolkapitals lag und von dessen tonangebenden Vertretern langfristig verfochten wurde. Die Aufmerksamkeit des Historikers für Differenzen und taktische Kontroversen darf ihn nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Pragmatismus gegenüber Republik und Gewerkschaften die gleichen sozialen Träger und letztlich die gleichen Ziele hatte wie die Diktaturpläne und die Faschismusförderung. Die zeitweise Einstellung der Spitzenverbände des deutschen Monopolkapitals auf die demokratische Herrschaftsform, die Arbeitsgemeinschafts- und Sozialpolitik hob sich zwar von extremreaktionären Positionen und Vorstößen ab, stand aber im Einklang mit der Rechtsentwicklung und der reaktionären Politik in der Weimarer Republik und unterschied sich nur relativ von solchen Vorstößen. '"> Vgl. Stegmann, Die Silverberg-Kontroverse; ders., Antiquierte Personalisierung oder sozialökonomische Faschismus-Analyse? Eine Antwort auf H. A. Turners Kritik an meinen Thesen zum Verhältnis von Nationalsozialismus und Großindustrie vor 1933, in: Archiv f ü r Sozialgeschichte, Bd. 17,1977, S. 275 ff.
Gerhard Fuchs
Die Locarno-Verträge von 1925 und die deutsch-tschechoslowakischen Beziehungen
Als vor 56 Jahren, im Oktober 1925, die Vertreter Großbritanniens, Deutschlands, Frankreichs, Italiens, Belgiens, Polens und der Tschechoslowakei die Verträge von Locarno unterzeichneten, dominierten in den regierungsoffiziösen Presseorganen euphorische Einschätzungen über dieses angebliche Werk der „Verständigung", der „Aussöhnung", der „Sicherung eines dauerhaften Friedens". Auch der tschechoslowakische Außenminister Edvard Benes rechtfertigte das erzielte Ergebnis gegenüber der mißtrauischen Öffentlichkeit seines Landes mit dem Hinweis darauf, daß Locarno „direkte und indirekte Sicherung" für die CSR bedeute. Tatsächlich konnte mit diesen Verträgen vor allem der deutsche Imperialismus auch Erfolg verbuchen, gewann er für seine expansionistische Revisionspolitik doch günstigere Ausgangspositionen. Dagegen wurden die Sicherheits- und Lebensinteressen der Völker der Tschechoslowakei wie auch Polens den antisowjetischen Ambitionen der ökonomisch und politisch entscheidenden Kreise des Monopolkapitals aller an Locarno direkt oder indirekt beteiligten Großmächte, namentlich Großbritanniens, geopfert. Der Friede in Europa wurde nicht sicherer, sondern die friedensgefährdenden Faktoren, vor allem der Antisowjetismus, verstärkten sich. Locarno war ein Schritt der imperialistischen Großmächte auf ihrem Weg in den zweiten Weltkrieg. Die bürgerliche Tschechoslowakei sollte auf dieser Wegstrecke dem deutschen Imperialismus völlig zum Opfer fallen. Der deutsche Imperialismus, von Beginn an ein Feind des tschechischen und slowakischen Volkes in seinem Streben nach nationaler Unabhängigkeit und staatlicher Selbständigkeit, hatte bereits 1918/19 versucht, sich der Entstehung der Tschechoslowakischen Republik in den Weg zu stellen.1 Durch die militärische Niederlage des deutschen Monopolkapitals und den revolutionären Kampf der deutschen Arbeiterklasse wurden diese Umtriebe zunichte. Auch nach dem Friedensschluß hatte der deutsche Imperialismus seine expansiven und aggressiven Absichten nicht aufgegeben. Sie fanden ihr neues Erscheinungsbild in der Antiversailles-Doktrin, die von allen Gruppierungen des deutschen Monopolkapitals in dieser oder jener Variante verfochten wurde und 1
Vgl. Fuchs, Gerhard, Die Haltung des deutschen Imperialismus zur Gründung der Tschechoslowakischen Republik 1918/1919, in: JfG, Bd. 6,1972, S. 263 ff.
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Gerhard Fuchs
erneut auf die Vorbereitung eines Aggressionskrieges zur „Neuordnung Europas" hinauslief. 2 Die Tschechoslowakei war ihren Potenzen nach gewiß viel schwächer als Deutschland. Durch ihre Zugehörigkeit zur Siegerkoalition und eine sehr aktive Außenpolitik wurde ihr Gewicht in den internationalen Beziehungen wesentlich erhöht. In ihrer strategischen Lage sowie als leistungsfähigster und führender Staat der Kleinen Entente, den der französische Imperialismus zum Hauptstützpfeiler seines europäischen Hegemonialsystems ausersehen hatte, war die Tschechoslowakei eine Größe, mit der die Strategen der deutschen Außenpolitik rechnen mußten. In strategischer Hinsicht war die Politik des Imperialismus der Weimarer Republik gegenüber der Tschechoslowakei darauf orientiert, den Konsolidierungsprozeß des jungen Staates nach Möglichkeit zu behindern, seine Nationalitätenprobleme politisch auszunutzen und seine auf die westlichen Großmächte, vor allem auf Frankreich gerichtete Bündnispolitik zu durchkreuzen. So sollte die CSR möglichst schwach gehalten und isoliert werden, um sich zu gegebener Zeit dem massiven Druck des wiedererstarkten deutschen Imperialismus beugen zu müssen. Das nach dem Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution und den Friedensschlüssen veränderte internationale Kräfteverhältnis, die eigene wirtschaftliche und militärische Schwäche, nicht zuletzt der Kampf gegen die während der revolutionären Nachkriegskrise anschwellende revolutionäre Arbeiterbewegung zwangen den deutschen Imperialismus, seine Expansionsziele, zunächst aus einer Defensivposition heraus, langfristig und in verschiedenen taktischen Varianten anzustreben. Insgesamt wurden aber schon in der Zeit der revolutionären Nachkriegskrise seitens des deutschen Imperialismus die grundsätzliche Konzeption zur Zerschlagung der Tschechoslowakei im Verlauf einer „zweiten Runde" sowie die taktischen Grundelemente für die Übergangszeit bis dahin entwickelt. Die Zerstückelung der Tschechoslowakei durch die Losreißung der vorwiegend von Deutschen bewohnten Grenzgebiete und deren „Anschluß" an das Reichsgebiet waren — wie internes Aktenmaterial erweist — für die politischen Führungskräfte der Weimarer Republik, sei es das Auswärtige Amt oder die Reichswehrgeneralität, Axiome, die der Gestaltung der Gesamtpolitik gegenüber der Tschechoslowakei zugrunde lagen. Auch über die Abtrennung der Slowakei vom tschechoslowakischen Staatsverband wurden im Verein mit den ungarischen Revisionspolitikern bereits in den ersten Nachkriegsjahren Kombinationen angestellt. Alle bürgerlichen Parteien der Weimarer Republik sowie die entscheidende Gruppe der rechten sozialdemokratischen Führer vertraten als grundsätzliche außenpolitische Orientierung eine so oder so geartete großdeutsche Konzeption, die der Revanchepolitik der deutschen Monopolbourgeoisie entsprach oder zumindest entgegenkam. Der angemaßte aggressive „Rechtsanspruch" auf den „Anschluß" wurde f ü r die Zukunft aufrechterhalten. 2
Vgl. zum folgenden ders., Die politischen Beziehungen der Weimarer Republik zur Tschechoslowakei vom Versailler Frieden bis zum Ende der revolutionären Nachkriegskrise, ebenda, Bd. 9,1973, S. 281 ff.
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Um sich den Rücken zur Auseinandersetzung mit dem entscheidenden Gegner, dem französischen Imperialismus, frei zu halten, praktizierten die deutschen Regierungen die außenpolitische Taktik der „korrekten Beziehungen". Die prinzipiell feindliche Einstellung der entscheidenden Kreise des deutschen Monopolkapitals zu einem selbständigen Staat der Tschechen und Slowaken blieb durch diese zeitweilige taktische Variante unberührt. Der Begriff „korrekte Beziehungen" charakterisierte ein Verhältnis gegenüber der Tschechoslowakei, das es dem deutschen Imperialismus ermöglichte, die Politik der schrittweisen Konsolidierung seiner wirtschaftlichen und politischen Macht und zugleich der zunächst vorsichtig dosierten Unterminierung und Durchlöcherung der Versailler Vertragsbestimmungen zu verfolgen. Diese Konzeption des deutschen Imperialismus lief darauf hinaus, die Gegensätze zwischen den Siegermächten auszunutzen, sich, ausgehend von den engen ökonomischen Bindungen, gegenüber der Tschechoslowakei politische Vorteile zu verschaffen und eine Stärkung der internationalen Position der CSR nach Möglichkeit zu verhindern. Namentlich in der Auseinandersetzung mit dem französischen Imperialismus versuchte die Berliner Regierung die tschechoslowakische Außenpolitik in eine Richtung zu lenken, die der deutschen Revisionspolitik entgegenkam oder ihr zumindest nicht hindernd im Wege stand. Im Widerstreit der Meinungen zwischen „Katastrophen"- und „Erfüllungs"politikern gab es auch ein gewisses Auf und Ab in den deutsch-tschechoslowakischen Beziehungen. Kombinationen mit den ungarischen Monarchofaschisten hinter den Kulissen über eine militärische Kooperation gegen die CSR im Kriegsfall — z. B. in den Jahren 1920 und 1923 — und Versuche, ökonomischen Druck anzuwenden, gehörten ebenso zur offiziell erklärten Politik der „korrekten Beziehungen" wie ein gewisses Hofieren gegenüber Benes, etwa als man ihn 1921 und 1923 als vermittelnden Schrittmacher zur Durchsetzung der deutschen Konzeption in der Reparationsfrage einzusetzen suchte. In Benes gewann die Reichsregierung schließlich einen Förderer der sich in der zweiten Hälfte des Jahres 1923 unter der Kanzlerschaft von Stresemann schrittweise anbahnenden Konzeption eines zeitweiligen Kompromisses mit Frankreich. Zum Gesamtkomplex der „korrekten Beziehungen" gehörte auch die Einbeziehung und Entwicklung der sudetendeutschen Irredenta in die Revanche^ politik.3 Das taktische Konzept der „korrekten Beziehungen" ließ dem deutschen Imperialismus für die Zukunft alle Möglichkeiten offen und gestattete gleichzeitig, die ihm in der Gegenwart geeignet erscheinenden ersten Schritte auf das revanchistische Endziel hin zu tun. Die tschechoslowakische Außenpolitik befand sich gegenüber dem deutschen Imperialismus in einem klassenbedingten Dilemma. Zur Sicherung ihrer politischen Macht, ihres territorialen und ökonomischen Besitzstandes sowie des in Mittelund Südosteuropa gewonnenen Einflusses waren die herrschenden Klassen der Tschechoslowakei an der Niederhaltung des besiegten deutschen Imperialismus
•> Vgl. ders., Die sudetendeutsche Irredenta in der Revanchepolitik des deutschen Imperialismus (1929-1923), in: JGSLE, Bd. 17/1,1973, S. 33 ff. 12 J a h r b u c h 24
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interessiert. Im Grunde aus denselben Motiven betrieben sie zugleich gegenüber Deutschland eine Politik der „Konsolidierung und Rekonstruktion". Sie bestand einmal in umfangreicher wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit dem weitaus größten Handelspartner der CSR, zum anderen in dem Bestreben, in Deutschland jede Art von politischen Unruhen samt ihren Ursachen, z. B. harte Sanktionen wirtschaftlicher und politischer Art in der Reparationsfrage namentlich seitens des französischen Imperialismus, zu verhindern. Daraus ergab sich manche taktische Meinungsverschiedenheit zwischen der Prager Regierung und ihrem französischen Hauptverbündeten, vor allem im Zusammenhang mit dem Ruhrkonflikt 1923. Objektiv wurden durch diese Politik in Deutschland jene Kräfte gestärkt, die bereits die Streichung des tschechoslowakischen Staates von der Landkarte geplant hatten. Eine revolutionäre Erhebung des deutschen Proletariats und das Wiederaufleben der expansiven Hegemonialpolitik Deutschlands in gleicher Weise fürchtend, orientierte sich die führende Burg-Gruppe der tschechischen und slowakischen Bourgeoisie in ihrer Außenpolitik auf die parlamentarische Mitte in Deutschland, insbesondere auf die rechten Führer der deutschen Sozialdemokratie. Sie hegte die illusionäre Hoffnung, daß diese Kräfte eine „demokratisch-republikanische" Entwicklung garantieren und expansive Tendenzen ausschließen könnten. Der Ubergang zur Periode der relativen und zeitweiligen Stabilisierung des Kapitalismus brachte mit der Verschärfung der Revisionspolitik des deutschen Imperialismus neue Belastungen für das Verhältnis zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei mit sich. Das internationale Monopolkapital suchte nach Wegen, um das während der Interventionskriege nicht erreichte gemeinsame Ziel, die Vernichtung der ersten Arbeiter-und-Bauern-Macht, doch noch zu erreichen. Die Führungsrolle hierbei ging auf das amerikanische und britische Finanzkapital und dessen Regierungen über. Sie waren bestrebt, das Verhältnis zwischen Siegern und Besiegten des Weltkrieges mit Hilfe eines Kompromisses neu zu gestalten, um den deutschen Imperialismus mit seinem gewichtigen ökonomischen Potential in die erhoffte einheitliche Antisowjetfront einbeziehen zu können. Die mit dem Dawesplan verbundenen Reparationserleichterungen und der nachfolgende „Dollarsegen" waren die ersten entscheidenden Schritte in dieser Richtung.4 Die deutschen Regierungskreise nutzten diese Chance, um die wirtschaftlichen und politischen Positionen für die Durchsetzung der schon 1919 ins Auge gefaßten expansionistischen Revisionspolitik zu stärken. Gustav Stresemann 5 wurde zum virtuosesten Vertreter jenes Doppelspiels des deutschen Imperialismus, das unter 4
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Vgl. Klassenkampf, Tradition, Sozialismus. Von den Anfängen der Geschichte des deutschen Volkes bis zur Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik. Grundriß, Berlin 1974, S. 408 f.; Rüge, Wolfgang, Deutschland von 1917 bis 1923, Berlin 1978, S. 265 ff. Zur generellen Einschätzung Stresemanns als Außenminister der Weimarer Republik vgl. ders., Stresemann. Ein Lebensbild, Berlin 1965, S. 118 ff.; ders., Weimar - Republik auf Zeit, Berlin 1969, S. 141 ff.
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den Losungen „Frieden" und „Europa" auf die im Endeffekt gewaltsame Veränderung der Grenzen des damaligen Deutschen Reiches, auf erneute Expansion namentlich in die Tiefe des europäischen Ostens und Südostens sowie langfristig auf eine zweite militärische Runde im Kampf um die Vorherrschaft in Europa abzielte. Die herrschenden Kreise der Tschechoslowakei betrachteten das zu erwartende wirtschaftliche Erstarken Deutschlands mit gemischten Gefühlen. Sie befürchteten, daß angesichts des ungebrochenen, ja wachsenden Einflusses der reaktionären nationalistischen Kräfte über kurz oder lang der Zeitpunkt eintreten könnte, zu dem der preußisch-deutsche Militarismus erneut zur Attacke blase.6 Deshalb setzte Benes noch 1924 alles daran, mit Hilfe des Völkerbundes ein System allseitiger internationaler Garantien zu institutionalisieren, das in der Lage wäre, Deutschland im Zaume zu halten; es sollte die durch die Friedensverträge bestimmte europäische Staatenordnung und damit auch die staatliche Existenz der Tschechoslowakei sichern. Die Frage der sogenannten Sicherheitsgarantien nahm seit den Dawesplan-Verhandlungen einen immer breiteren Raum in der Politik der kapitalistischen Mächte ein. Besonders Frankreich war angesichts der ihm in London abgerungenen Zugeständnisse und des 1925 bevorstehenden Abzugs seiner Truppen aus dem Ruhrgebiet und der Kölner Zone darum besorgt, seine in Europa verbliebenen Machtpositionen unbedingt zu halten. Hinsichtlich der Erhaltung des territorialen Status quo deckten sich die Interessen der herrschenden Klassen Frankreichs und der Tschechoslowakei. Da die Sicherheitsvorkehrungen der Völkerbundssatzung als unzureichend angesehen wurden, sollte sie durch eine weitergehende internationale Vereinbarung ergänzt werden. So entstand nach französischen und britischen Vorschlägen das Genfer Protokoll, das von der Völkerbundsversammlung am 2. Oktober 1924 allen Staaten zur Annahme empfohlen wurde. Es war seinem Wesen nach ein allgemeiner Garantievertrag unter Einschluß der bestehenden Regionalverträge, der die bestehenden Grenzen durch ein lückenloses System von Schiedsgerichtsbarkeit und Sanktionen gegen jeden Angreifer sichern sollte. • Das besondere Interesse der tschechoslowakischen Außenpolitik an einem derartigen Garantievertrag zeigte sich äußerlich darin, daß Benes den ersten Entwurf des Genfer Protokolls persönlich aufsetzte, dann den Vorsitz in jeder Kommission innehatte, die den Entwurf stilisierte, und schließlich selbst als Berichterstatter vor der Völkerbundsversammlung fungierte. 7 Folgerichtig gehörte die CSR nicht nur zu den ersten Staaten, die das Protokoll unterzeichneten, es wurde von ihr — übrigens als einzigem Staat — noch im Oktober 1924 rati6
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Vgl. Bericht der CSR-Gesandtschaft in Berlin v. 22. 7. 1924. Archiv federälniho ministerstva zahranicnich veci Praha (im folg.: AFMZV Prag), Politicke zprävy Berlin 1924, Nr. 46. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (im folg.: PA) Bonn, Büro RM, Tschechoslowakei, Bd. 2, S. D 618 015; Strauß, Emil, Tschechoslowakische Außenpolitik, Prag 1936, S. 181 f.; Brägel, Johann Wolf gang, Tschechen und Deutsche, München 1967, S. 209.
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fiziert. Da das Genfer Protokoll die Revision jedweder Grenze — sei es mit friedlichen oder kriegerischen Mitteln — untersagte, stand es naturgemäß der Revisions- und Expansionspolitik des deutschen Imperialismus im Wege und wurde von der deutschen Regierung abgelehnt. 8 Der britische Imperialismus wollte die mit dem Dawesplan zunächst auf ökonomischem Gebiet eingeleitete Neugestaltung der Beziehungen zwischen Siegern und Besiegten auch im politischen Bereich fortsetzen. MacDonald wirkte deshalb darauf hin, den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund vorzubereiten. 9 Er verfolgte mehrere Absichten: 1. die Integration Deutschlands in die Antisowjetfront voranzubringen und der Rapallolinie in der deutschen Außenpolitik entgegenzuwirken ; 2. mit der Verpflichtung Deutschlands auf die Völkerbundssatzung den Rivalen wenigstens bis zu einem gewissen Grade unter Kontrolle zu halten; 3. im Völkerbund Frankreichs Gewicht relativ zu reduzieren. Der deutsche Imperialismus war bereit, auf dieses Angebot einzugehen, wenn sein Streben nach „Gleichberechtigung", nach Wiederherstellung seiner Großmachtposition dadurch gefördert, seine Revisionspolitik nicht behindert würde. Das deutsche Memorandum an die Ratsmächte vom 29. September 1924 erklärte denn auch die Bereitschaft zum Eintritt in den Völkerbund nur unter folgenden Bedingungen: Gewährung eines ständigen Sitzes im Völkerbundsrat und damit Gleichsetzung mit den anderen Großmächten; Befreiung von den sich aus Artikel 16 der Völkerbundssatzung ergebenden militärischen Sanktionsverpflichtungen — womit der Wunsch nach Wiederaufrüstung angedeutet wurde; Nichtanerkennung der Kriegsschuldartikel und Billigung des Wunsches, zum entsprechenden Zeitpunkt am System der Kolonialmandate des Völkerbundes beteiligt zu werden, 10 Angesichts der britischen Absichten, die auf eine internationale Aufwertung Deutschlands hinausliefen, stand die Regierung der Tschechoslowakei dem Problem der Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund zumindest skeptisch gegenüber. Sie sah keinen Grund, diesen Akt zu beschleunigen 11 , und verfocht 8
Vgl. Höltje, Christian, Die Weimarer Republik und das Ostlocarno-Problem 1918: bis 1934. Revision oder Garantie der deutschen Ostgrenze von 1919, Würzburg 1958, S. 49. '•' Spenz, Jürgen. Die diplomatische Vorgeschichte des Beitritts Deutschlands zum Völkerbund 1924-1926, Göttingen 1966, S. 23 ff. Selbst dieser bürgerliche Autor muß einräumen, daß bei der Frage des deutschen Eintritts in den Völkerbund „in Wirklichkeit um die Stellung Deutschlands zwischen der Sowjetunion und der westlichen Welt gerungen wird" (S. 10); vgl. auch ebenda, S. 38, 41. 10 Ebenda, S. 34; Rüge, Deutschland von 1917 bis 1933, S. 276 f. 11 Schon auf der Konferenz der Kleinen Entente vom Juli 1924 in Prag hatte man beschlossen: „Gegen die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund werden wir nicht initiativ vorgehen, aber wir werden darauf hinwirken, daß dies nicht in diesem Jahre geschieht", (zit. nach Gajanovä, Alena, CSR a stredoevropskä politika velmoci 1918 do 1938 [Die CSR und die Mitteleuropapolitik der Großmächte 1918-1938], Prag 1967, S. 176). Mitte September meldete der deutsche Gesandte in der Schweiz aus Genf, daß neben Frankreich auch Benes und die Kleine Entente gegen einen deutschen Beitritt noch erheblichen Widerstand zeigten (Spenz, S. 29).
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ihren Standpunkt auch in der Antwort auf das deutsche Memorandum, die am 13. November 1924 erfolgte. Unter Betonung der Gleichheit des A u f n a h m e v e r fahrens und seiner Bedingungen f ü r alle Staaten sah das tschechoslowakische Außenministerium bezüglich des ständigen Ratssitzes „keine grundsätzlichen Schwierigkeiten . . . , diesem seiner Ansicht nach gerechtfertigten Wunsch Folge zu geben". Dagegen „würde die Befreiung irgendeines Staates von den Verpflichtungen des Artikels 16 offenbar der VölkerbundsverSammlung als eine Ungleichheit oder Ausnahme erscheinen, die f ü r die große Mehrheit der Mitgliederstaaten n u r sehr schwer annehmbar wäre". Die übrigen P u n k t e würden „keine besonderen Schwierigkeiten bereiten". 1 2 Obwohl die tschechoslowakische Note in der Diktion sehr konziliant war, wies sie — wie übrigens alle Ratsmitglieder — die deutschen Forderungen bezüglich des Artikels 16 unmißverständlich zurück. Es schien im Spätherbst 1924 zunächst, daß die „Konsolidierung" Europas weitgehend nach den Vorstellungen Benes', verlief und sich gegen eventuelle Expansionsabsichten des deutschen Imperialismus Sicherungen einbauen lassen würden. Diese Konstruktionen brachen jedoch wie ein Kartenhaus zusammen, als sich u m die Jahresende herauszustellen begann, daß der britische und der USA-Imperialismus kein Interesse an der Inkraftsetzung des Genfer Protokolls zeigten. Die nach dem Wahlsieg der britischen Konservativen Anfang November stabilisierte Regierung Stanley Baldwin mit Austin Chamberlain als Außenminister verschärfte die Beziehungen zur Sowjetunion und zeigte sich andererseits geneigt, den Ansprüchen des deutschen Imperialismus noch weiter entgegenzukommen. Auf keinen Fall war London bereit, sich zum Garanten des Status quo in Osteuropa, in Besonderheit der polnischen Grenzen, zu machen. Während der Gedanke einer n u r regionalen Grenzgarantie, bezogen auf die französisch-deutsche und belgisch-deutsche Grenze, an Boden gewann, wurde das Genfer Protokoll A n f a n g März 1925 durch die britische Regierung endgültig abgelehnt. 1 3 Das war eine schwere, die erste entscheidende Niederlage f ü r die tschechoslowakische Außenpolitik, die unter „Konsolidierung und Sicherheit Europas" — abgesehen ZStAP, Reichstag des Deutschen Reiches, Bd. 1167, S. 300 f. Dieser Band enthält den vollständigen Text der tschechoslowakischen Antwortnote. Vgl. Zimmermann, Ludwig, Deutsche Außenpolitik in der Ära der Weimarer Republik, Göttingen/West-Berlin/Frankfurt a. M. 1958, S. 250 ff. Einen äußerst aufschlußreichen Bericht über diesbezügliche Überlegungen, die damals von militärischen und außenpolitischen Experten Englands angestellt wurden, sandte der CSR-Gesandte am 2. 1. 1925 aus London an das Prager Außenministerium. Man sei bezüglich der Frage, wo die strategische Grenze für Englands Sicherheit liege, zu dem Ergebnis gekommen, daß dies der Rhein sei. Frankreich und Belgien seien aber nur insoweit zu sichern, „als durch eine deutsche Aggression die eigenen individuellen Interessen Englands bedroht werden könnten. Daraus ergibt sich ein Desinteressement gegenüber den östlichen (bzw. südlichen) Grenzen Deutschlands und die Schlußfolgerung, daß eine Sicherung gegen die deutsche Gefahr in Richtung Osten nicht die Sache Englands sei" (zit. nach Brach, Radko, Locarno a ceskoslovenskä diplomacie [Locarno und die tschechoslowakische Diplomatie], in: Ceskoslovensky casopis historicky, 8, 1960, 5, S. 670).
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von der Niederhaltung der revolutionären Kräfte innerhalb der einzelnen Länder — in erster Linie die Garantierung des durch die Friedensverträge geschaffenen territorialen Status quo verstand. Andererseits gaben diese Umstände dem deutschen Imperialismus bedeutenden Auftrieb, auf der unter Stresemanns Leitung eingeschlagenen taktischen Linie die schrittweise Revision von Versailles nun auch hinsichtlich der territorialen Bestimmungen konkret ins Auge zu fassen. Der von Deutschland Anfang 1925 unterbreitete Vorschlag zum Abschluß eines Garantiepaktes über den politischen Status quo am Rhein sollte das durch den Dawesplan im ökonomischen Bereich eingeleitete Arrangement des deutschen Imperialismus mit seinen westeuropäischen Rivalen auf die politische Ebene heben und zugleich vertiefen. Das taktische Konzept der deutschen Seite bestand darin, angesichts der voraussichtlich noch für längere Zeit gegebenen militärischen und politischen Überlegenheit Frankreichs und Englands im Westen ein politisches Kompromiß einzugehen, um für die Durchsetzung der Revisionsund Expansionspläne zunächst im Osten bessere Bedingungen zu erlangen. Dementsprechend lehnte Deutschland jede Garantie, ja sogar auch nur die nochmalige Anerkennung der Ostgrenzen ab und war hier lediglich zum Abschluß von Schiedsverträgen bereit.14 Die deutschen Revisionswünsche bezüglich der Ostgrenzen hatten aber nur dann Aussicht erfüllt zu werden, wenn es zugleich gelang, die Schwächung, nach Möglichkeit die Auflösung des französischen Bündnissystems zu erreichen. Das deutschen Paktangebot zielte also auch darauf ab, bei den französischen regierenden Kreisen ein ähnliches relatives Desinteressement am Status quo gegenüber den deutschen Ostgrenzen zu erreichen, wie es die britischen Imperialisten bereits zum Ausdruck gebracht hatten. 15 Die französische Regierung sollte die deutschen Ostgrenzen als Grenzen zweiter Ordnung und Güte ansehen, deren Unantastbarkeit nicht zu garantieren war. In dem Bemühen, dieses Zugeständnis zu erlangen, baute die deutsche Diplomatie der französischen Regierung Brücken. Deutlich drückte dies Stresemann in seinem Schreiben an den deutschen Botschafter in Moskau, Brockdorff-Rantzau, vom 19. März 1925 aus. Nachdem er noch einmal betont hatte, daß es für das Zustandekommen des Westpaktes eine Conditio sine qua non war, in keiner Form die Anerkennung der deutschen Ostgrenzen einzubeziehen, schrieb er : „Lediglich um der französischen Regierung eine Façade zu bieten, hinter der sie das aus der Vorgeschichte der Sicherheitsfrage hinreichend bekannte Verlangen nach Einbeziehung Polens in den Sicherheitspakt fallen lassen könnte, haben wir mit unseren Anregungen die Erklärung verbunden, daß wir zum Abschluß von Schiedsverträgen mit allen unseren Nachbarstaaten bereit seien. In der Tat sind derartige Schiedsverträge, so sehr 14
Vgl. Locarno-Konferenz 1925. Eine Dokumentensammlung, Berlin 1962, Dok. Nr. 2, 4, 5, S. 52 f., 59, 62; Rüge, Deutschland von 1917 bis 1933, S. 279 ff. l; > vgl. D'Abernon, E. V., Ein Botschafter der Zeitwende. Memoiren, Bd. 3, Leipig 1930, 5. 168; Stresemann, Gustav, Vermächtnis. Der Nachlaß in drei Bänden, hrsg. v. Henry Bernhard unter Mitarb., v. Wolfgang Goetz u. Paul Wiegler, Bd. 2, Berlin 1932, S. 91.
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sie auch eine Bekundung des Friedenswillens bedeuten, kein reales Hindernis für die Aufrechterhaltung der politischen Ziele, die wir hinsichtlich unserer Ostgrenzen verfolgen müssen."16 Frankreich von seinen Verbündeten in Ost- und Mitteleuropa zu trennen, war aber einer der in diesem Raum wirkenden Grundgedanken der deutschen „Sicherheits"politik; ein zweiter lief darauf hinaus, Polen und die Tschechoslowakei, die das strategische Revisions- und Expansionskonzept des deutschen Imperialismus in der ersten Etappe in besonderem Maße bedrohte, auseinanderzumanövrieren. Nicht zufällig richteten sich die auch von offiziellen deutschen Stellen vorgebrachten Revisionsforderungen vordergründig gegen Polen, während man sich gegenüber der Tschechoslowakei bewußt zurückhielt. So verfocht beispielsweise Stresemann am 7. März 1925 persönlich vor der Presse die Ansprüche auf Revision der deutsch-polnischen Grenze.17 Dagegen wurden revanchistische Kräfte in Bayern, die einen „sudetendeutschen Bundesstaat" und damit die Zerstückelung der Tschechoslowakei forderten, vom Auswärtigen Amt zurückgepfiffen. Dies geschah jedoch keineswegs wegen einer grundsätzlichen Gegnerschaft gegenüber solchen Projekten, sondern aus taktischen Erwägungen. Gerhard Köpke, Abteilungsleiter im Auswärtigen Amt, schrieb dazu, „daß eine amtliche Unterstützung der in den Publikationen skizzierten Projekte aus außenpolitischen Gründen vorerst (von mir hervorgehoben — G. F.) keinesfalls in Frage kommen kann". Auf diese Intervention hin hat dann die bayrische Staatsregierung durch ihren „Vertrauensmann auf das dringendste die beteiligten Kreise ersucht, sich bei ihren Bestrebungen die denkbarste Zurückhaltung aufzuerlegen". 18 Die deutsche Seite tat auf diplomatischem Wege alles, um die verantwortlichen tschechoslowakischen Politiker in der Annahme zu bestärken, daß sich die deutsche Revisionspolitik nur gegen Polen richte. Die Tschechoslowakei sollte in Sicherheit gewiegt und politisch isoliert werden, um sie zum gegebenen Zeitpunkt zu um so größerer Nachgiebigkeit zwingen zu können. Der deutsche Gesandte in Prag, Walter Koch, drückte dieses Bestreben in seinem Bericht an das Auswärtige Amt vom 11. März 1925 so aus: „Sicher ist, daß die Taktik, einstweilen die Tschechoslowakei ganz beiseite zu lassen, richtig war, und daß das Reich, je stärker es die Tschechen zu Verhandlungen heranzieht, umsomehr Aussicht auf Entgegenkommen von ihrer Seite haben wird." 19 Im Ergebnis dieser Taktik kam die CSR-Gesandtschaft in Berlin in ihrem Bericht vom 14. März 1925 zu folgender, nur das äußere Bild der Stresemannschen Ostpolitik jener Etappe beschreibenden Einschätzung: „Allgemein genommen, spielt die 16
Locarno-Konferenz, Dok. Nr. 9, S. 72. " Stresemann, Vermächtnis, BdJ 2, S. 69; vgl. auch Klimovskij, D. S. Antipol'skaja politika germanskogo imperializma v preddveri Lokarno (V svete donesenij pol'skogo poslannika v Berline Kazimira Ol'sovskogo), in: Germanskaja vostocnaja politika v novoe i Novejsee vremja, Moskau 1974, S. 184 ff. ,s ZStAP, Vertretung der Reichsregierung in München, Bd. 140, S. 71—77: Briefwechsel des Auswärtigen Amtes mit Gesandten Haniel in München vom 7.-22. 1. 1925. rj PA Bonn, Büro RM, Verhandlungen mit den Alliierten über einen Sicherheitspakt, Bd. 2, S. D 642 656-642 659.
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Tschechoslowakei in den Gedankengängen hinsichtlich der Ostgrenzen im Vergleich zu Polen eine offensichtlich untergeordnete Rolle." 20 Aus dem internen Schriftverkehr des Auswärtigen Amtes geht jedoch eindeutig hervor, daß die regierenden Kreise Deutschlands — bei allen Unterschieden im taktischen, propagandistischen und diplomatischen Vorgehen — die Tschechoslowakei im Prinzip ebenso als Objekt der imperialistischen Revisionspolitik und Expansionspolitik betrachteten wie Polen. In den Geheimanweisungen an den deutschen Gesandten in Prag ließ das Auswärtige Amt von A n f a n g an keinen Zweifel daran, daß eine Garantie der deutsch-tschechoslowakischen Grenze oder auch n u r eine Wiederholung jener Anerkennung, die unter dem Druck der Umstände im Versailler Friedensvertrag erfolgt war, nicht in Frage käme. Der neue Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Karl v. Schubert, einer der eifrigsten Verfechter der der Rapallolinie zuwiderlaufenden Westorientierung, schrieb am 10. März 1925 an Koch nach einer prinzipiellen Erläuterung des deutschen Garantiepaktangebots: „Nach Ihrem Telegramm Nr. 10 verhält sich die tschechoslowakische Presse zwar ungleich ruhiger als die polnische Presse, gibt aber doch dem Mißtrauen auch der dortigen politischen Kreise Ausdruck. Es ist begreiflich, daß m a n in Prag unsere Anregungen, die vielleicht die Aussicht haben, an die Stelle des Genfer Protokolls, des Werkes des Hern Benesch, zu treten, nicht besonders begrüßt. Dem Gedanken, die Tschechoslowakei mit in den eigentlichen Garantiepakt einzubeziehen, k a n n aber vom deutschen Standpunkt aus schon deshalb nicht nähergetreten werden, weil dann unsere Stellungnahme gegenüber Polen völlig unhaltbar würde. Wir können also auch hinsichtlich der Tschechoslowakei keinesfalls über das Angebot eines weitgehenden Schiedsvertrages hinausgehen." Trotzdem sollte Koch bei gelegentlichen Unterhaltungen mit tschechoslowakischen Politikern „Verständnis f ü r unsere Schritte und die Überzeugung von ihrer Loyalität zu erwecken" suchen. 21 Diese Anweisungen beleuchten das heuchlerische Wesen der „finassierenden" Politik des imperialistischen Deutschlands gegenüber der Tschechoslowakei auf dem Wege nach Locarno. In dem internen Memorandum Stresemanns zur Minderheitenpolitik vom 13. J a n u a r 1925 wird dagegen u n v e r b r ä m t und schonungslos gesagt, daß die Revision der deutsch-polnischen Grenze das nächstliegende Ziel der deutschen Außenpolitik sei, die Schaffung eines Großdeutschlands unter Einbeziehung des geschlossenen deutschen Siedlungsgebietes in Mitteleuropa, d. h. auch der Randgebiete Böhmens und Mährens und somit der Zerschlagung der Tschechoslowakei, das Fernziel. 22 Das hier konzipierte Nacheinander im aggressiven Vorgehen gegenüber den slawischen Nachbarstaaten wurde 1925 durch das Nemecky
Imperialismus
proti CSR 1918-^1939 (Der deutsche Imperialismus gegen die
CSR), Prag 1962, Dok. Nr. 6, S. 51. -1 PA Bonn, Büro RM, Verhh. m. d. Alliierten über einen Sicherheitspakt, Bd. 2, S. D 642 574 f. •in D e n Ausdruck „finassieren" verwendet Stresemann in seinem Brief an den preußisch-deutschen Kronprinzen vom 7. 9. 1925 (vgl. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 2, S. 555). - In der geheimen Stresemann-Denkschrift vom Januar 1925 wurde die „schrittweise Revision der politisch und wirtschaftlich unhaltbarsten Grenzbestim-
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Bestreben, sie politisch auseinanderzumanövrieren, mit diplomatischen Mitteln vorbereitet. Die Linie des Genier Protokolls noch weiterverfolgend, verfocht die tschechoslowakische Regierung, die Mitte F e b r u a r vom Quai d'Orsay über den Inhalt des deutschen Memorandums informiert worden war, eine den Stresemannschen Absichten entgegengesetzte Konzeption. Für die günstigste Lösung hielt das tschechoslowakische Außenministerium einen allgemeinen Vertrag über gegenseitige Hilfe, der auch die Ostgrenzen Deutschlands einschloß. War das Genfer Protokoll nicht zu retten, dann sollte ein französisch-britischer Sicherheitsvertrag direkt oder indirekt auch Ost- u n d Mitteleuropa einbeziehen. Er mußte auf dem Versailler Vertrag basieren und d u r f t e nichts enthalten, was so ausgelegt werden konnte, daß Veränderungen der deutschen Ostgrenzen möglich seien, daß m a n „Deutschland im Osten u n d in Mitteleuropa f r e i e Hand ließe". 23 Diese Vorstellungen, die m i t den Interessen des französischen Imperialismus weitgehend k o n f o r m gingen, stießen jedoch auf die entschiedene Ablehnung Englands, das Deutschland in den Westvertrag einbeziehen und keinerlei Garantien f ü r die mittel- u n d osteuropäischen Grenzen übernehmen wollte. Am 20. März mußte Benes den tschechoslowakischen Auslandsvertretungen in einem Zirkular u. a. mitteilen: „An einen Siebenerpakt, d. h. unter Beteiligung der CSR und Polens, ist nicht zu denken. Die Engländer nehmen ihn nicht an." 24 Benes interpretierte n u n vor der Öffentlichkeit den von Deutschland vorgeschlagenen Westpakt als einen ersten Schritt zu weiteren Garantieverträgen, die unter der Ägide des Völkerbundes abgeschlossen werden und die Sicherheitsfrage letztendlich doch entsprechend den Prinzipien des Genfer Protokolls lösen sollten. Hierbei griff Benes die entsprechende Formulierung des an Frankreich gerichteten deutschen Memorandums auf. Den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund, und zwar ohne Vorbehalte, erachtete die CSR-Regierung daher als eine notwendige Ergänzung des Rheinpaktes. Einen Schiedsvertrag mit Deutschland sollte die CSR n u r auf der Grundlage der bestehenden Verträge abschließen. Er sollte außerdem nach Möglichkeit mit dem westlichen Garantiepakt verbunden sein, d. h., die Westmächte sollten die friedliche Beilegung von Streitfragen garantieren. 2 5 Die herrschenden Kreise der CSR wollten also das Versailler Nachkriegsmungen der Friedensdiktate (polnischer Korridor, Oberschlesien)", danach „die Schaffung eines Staates, dessen politische Grenze alle deutschen Volksteile umfaßt, die innerhalb des geschlossenen deutschen Siedlungsgebietes in Mitteleuropa leben", zu strategischen Zielen und Osteuropa, das Baltikum sowie das Donaubecken zu Gebieten erklärt, „in denen sich Lebensfragen deutscher Politik und Wirtschaft entscheiden müssen" (StAD, Gesandtschaft Berlin, Akte 276, Bd. 21 ff.). ' a Zit. aus dem Memorandum Benes' an Briand und Chamberlain vom 14./16. 3. 1925 nach Brach, S. 677; ähnlich im Zirkulartelegramm Benes' vom 15. 3. 1925 (AFMZV Prag, PZ Berlin 1925, Nr. 16). M AFMZV Prag, PZ Berlin 1925, Nr. 17. Vgl. Rede Benes' vor den außenpolitischen Ausschüssen des Senats des Abgeordnetenhauses der CSR am 1. 4.1925 (Benes, Edvard, Boj o mir a bezpecnost statu, Ceskoslovenskä zahranicni politika v projevech ministra dra Ed. Benese 1924—1933 [Der Kampf um den Frieden und die Sicherheit des Staates. Tschechoslowakische Außen-
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system und die Position der Tschechoslowakei darin unbedingt erhalten, die Bestimmungen der Friedensverträge und der bestehenden Bündnisabkommen in keiner Weise abschwächen lassen. Der Westpakt und die Schiedsverträge sollten vielmehr die bestehenden Grenzen weiter stabilisieren, und Frankreich sollte im Falle eines Konfliktes, der sich aus der deutschen Revisionspolitik an den polnischen oder tschechoslowakischen Grenzen ergeben könnte, die vertraglichen Möglichkeiten des Eingreifens haben. Von dieser Position aus ließ Benes die deutsche Seite Mitte März wissen, daß er auch mit Deutschland zum Abschluß eines Schiedsvertrages, so wie er zwischen der CSR und Österreich bereits bestehe, und wie er Polen und sogar Ungarn vorgeschlagen werden sollte, bereit sei. Nur d ü r f e die „Frage [der] Landgrenze in keiner Weise zum Gegenstand [des] Vertrages gemacht werden". 2 6 Das Auswärtige Amt möge seine Vorstellungen näher erläutern bzw. einen Vertragsentwurf vorlegen. Schubert begrüßte die prinzipielle Bereitschaft Benes' mit der Begründung, daß das Auswärtige Amt ein Interesse daran habe, „bald mit möglichst vielen Staaten Schiedsgerichtsverträge abzuschließen, u m dadurch indirekt beruhigend u n d im Sinnes eines Druckes auf Polen einzuwirken". 2 7 Wie berechtigt das Mißtrauen war, das namentlich in der polnischen, aber auch in der tschechoslowakischen Presse bezüglich der Hintergedanken des deutschen Garantiepaktangebots zum Ausdruck kam, u n d das Schubert zerstreuen wollte, zeigen die weiteren Schachzüge der deutschen Diplomatie. So gab Stresemann am 31. März seinem Gesandten in P r a g f ü r die F o r t f ü h r u n g der Gespräche mit Benes über einen Schiedsvertrag u. a. folgende Richtlinien: „Wenn Herr Benes gesagt hat, daß die Fragen der deutsch-tschechisch-slowakischen Grenzen in keiner Weise zum Gegenstand des Vertrages gemacht werden dürften, so brauchen wir dagegen nicht ohne weiteres Einwendungen zu erheben. Die A u f n a h m e einer negativen Territorialklausel in den Vertrag, d. h. einer Klausel, wonach alle territorialen Fragen von dem im Vertrag vorgesehenen internationalen Verfahren ausgeschlossen bleiben, w ü r d e die Folge haben, daß beide Teile in Ansehung der Grenzfragen wie bisher freie Hand behalten. Es ist allerdings klar, daß dadurch der Schiedsvertrag vom Standpunkt der Sicherheitsfrage aus wesentlich an Wert verlieren würde. Das braucht unsererseits aber nicht b e k ä m p f t zu werden. Nur müssen wir verhüten, daß die negative Territorialklausel etwa eine Form erhält, die einer nochmaligen Anerkennung der gegenwärtigen Grenzen gleichkommt. Es erscheint mir zweckmäßig, daß Sie diese Einzelheiten Herrn Benes gegenüber einstweilen nicht berühren." 2 8 Zur näheren Information über die deutschen Vorstellungen vom Inhalt des Vertrages erhielt Benes den Text des deutsch-finnischen
Politik in Äußerungen des Ministers Dr. Ed. BeneS], Prag 1934, S. 315 f.); PA Bonn, Büro RM, Tschechoslowakei, S. D 617 759: Bericht Kochs v. 23. 3. 1925 über Presseinterview Beneä'. "-» Ebenda, S. D 617 750, D 617 762: Berichte des deutschen Vertreters Hoffmann aus Bern v. 13. 3. u. Kochs aus Prag v. 24. 3. über Gespräche mit Benes. Ebenda, S. D 617 777. 28 Ebenda, Verhh. m. d. Alliierten über einen Sicherheitspakt, Bd. 3, S. D 642 930 f.
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Schiedsvertrages ausgehändigt, der verständlicherweise keinerlei Grenzprobleme berührte. So fing der raffiniert taktierende deutsche Außenminister Benes in dessen eigenen Formulierungen und brachte zu wiederholtem Male intern zum Ausdruck, daß im deutschen Revisionskonzept auch die Grenzen mit der Tschechoslowakei als nicht endgültig angesehen wurden. Zudem erwiesen Stresemanns Geheimanweisungen alle offiziellen deutschen Beteuerungen über die Sorge um Frieden und Sicherheit als demagogische, taktisch bedingte Phrasen. 29 Diese Doppelbödigkeit der deutschen Locarnopolitik, ihre im Endeffekt aggressiven Zielsetzungen werden auch an der Gestaltung des deutsch-ungarischen Verhältnisses auf dem Wege nach Locarno deutlich. In den herrschenden Klassen Ungarns zeigte sich eine Beunruhigung, die der tschechischen und polnischen Reaktion auf den deutschen Garantiepaktvorschlag entgegengesetzt war. Ausgehend von den Revisionswünschen seiner Regierung, bat der ungarische Gesandte Stresemann am 9. März 1925 um Auskunft darüber, „ob Deutschland eine Garantie der tschechoslowakischen Grenze zugesagt habe und ob darüber Verhandlungen mit den alliierten Mächten stattgefunden haben". Der Gesandte gab sich zunächst mit der Auskunft Stresemanns, daß weder das eine noch das andere der Fall sei und Deutschland im Osten lediglich Schiedsverträge angeboten habe, zufrieden, bat jedoch zugleich um vertrauliche Information über den Fortgang der Dinge.30 Stresemann hielt diese Problematik immerhin für so wichtig, daß er den zuständigen Abteilungsleiter, Ministerialdirektor Dr. Gerhard Köpke, beauftragte, eine „Aufzeichnung über die Einwirkung eines Schiedsgerichts- und Vergleichsvertrages zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei auf Deutschlands Verhältnis zu Ungarn" auszuarbeiten. In dem vom 4. April 1925 datierten Schriftstück31 hob Köpke hervor, daß sich in Ungarn bei der Verfolgung der gegen die Mächte der Kleinen Entente gerichteten Revisionspolitik die Tendenz entwickelt habe, „in Deutschland einen Bundesgenossen für den Fall zu werben, daß eine gegebene internationale Situation die Zerreißung der Friedensverträge gestattet". Eine vertragliche Einigung zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei „als dem spiritus rector der feindlichen Nachbarn" Ungarns müßte daher als „eine Minderung ungarischer Hoffnungen und als eine moralische Schwächung der internationalen ungarischen Position angesehen werden". Dabei sei allerdings folgendes zu beachten: „Wenn Ungarn eine Wieder-Erweiterung seiner Grenzen von einer militärischen Unternehmung erhofft und hierbei ein unmittelbares deutsches Eingreifen zu seinen Gunsten erwartet, so kann es diese Erwartung eben nur unter der Voraussetzung hegen, daß es die allgemeine Lage Deutschland 21
Vor dem Reichstag versicherte Stresemann am 18. 5. 1925 beispielsweise erneut, daß derartige „Schiedsverträge . . . ein hervorragendes Mittel für eine wirksame Sicherung des Friedens" seien (Stresemann, Vermächtnis, Bd. 2, S. 99). a > PA Bonn, Büro RM, Verhh. m. d. Alliierten über einen Sicherheitspakt, Bd. 2, S. D 642 557; vgl. Auszug in Stresemann, Vermächtnis, Bd. 2, S. 73. •1I Text in: PA Bonn, Büro Staatssekretär, Polit. Ang. d. Kleinen Entente, Ungarns u. d. Balkans, Bd. 1, S. E 175 452-175 459.
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gestattet, die bestehenden Verträge zu ignorieren u n d das Risiko eines Krieges mit halb Europa, zum mindesten aber m i t den Staaten der Kleinen Entente, auf sich zu nehmen. Unter dieser Voraussetzung w ü r d e allerdings auch der deutschtschechoslowakische Schiedsvertrag kein Hindernis f ü r eine deutsche Unterstützung Ungarns . . . bedeuten." Solange jedoch diese Voraussetzung nicht gegeben sei, könnte im Falle eines Konfliktes mit der Kleinen Entente ein deutsch-tschechoslowakischer Schiedsvertrag gewiß eine deutsche Hilfeleistung f ü r Ungarn, etwa durch Waffenlieferungen oder dergleichen, ernsthaft erschweren oder völlig unmöglich machen. „Dessenungeachtet würde Ungarn allerdings", so setzt Köpke seine aufschlußreichen Erwägungen fort, „wohl mit unkontrollierbarer inoffizieller deutscher Unterstützung sehr wirksamer Art an der über 1 500 km langen deutsch-tschechoslowakischen Grenze rechnen können, falls die dort sitzende, mehr als drei Millionen starke deutsche Minderheit gegen den tschechischen Staat aufträte, zumal wenn sich gleichzeitig auch die slowakische Bevölkerung ungarnfreundlich verhalten sollte." Gegenwärtig lägen die Dinge jedoch so, daß Deutschland im Hinblick auf einen Schiedsvertrag mit der CSR auch eine schwere Belastung des Verhältnisses zu Ungarn wagen dürfe. D a f ü r gibt Köpke folgende Begründung: „Deutschland sieht sich hinsichtlich der Balkan- und Orientpolitik für die nächste Zeit (von mir hervorgehoben — G. F.) darauf beschränkt, rein wirtschaftliche Ziele mit friedlichen Mitteln zu verfolgen. Damit hat Ungarn seine f r ü h e r e Bedeutung, die es als ein in die Balkan- und Orientsphäre hineinreichender Staat f ü r die deutsche Politik gehabt hat, zur Zeit zum größten Teile eingebüßt." Daher h a b e Deutschland gegenwärtig k a u m ein unmittelbares Interesse an der ungarischen Revisionspolitik. „Auch das Schicksal der Banater Schwaben und der Siebenbürger Sachsen, die jetzt statt unter magyarischer unter serbischer und rumänischer Herrschaft leben, k a n n ein solches politisches Interesse k a u m vindizieren." Es d ü r f e auch nicht verkannt werden, daß Ungarn seine Hoffnungen auf „nahe kriegerische Konflikte in Europa" setze, während „die deutsche Gesamtpolitik . . . aber im Interesse Deutschlands bestrebt bleiben" müsse, „solche Konflikte möglichst lange zu vermeiden". Aus all diesen Gründen d ü r f e sich Deutschland „durch Rücksichten auf Ungarn nicht abhalten lassen", alles Notwendige zu tun, u m die mit dem Garantiepaktvorschlag gestellten Ziele zu erreichen. Lediglich davon müsse auch der Abschluß eines deutsch-tschechoslowakischen Schiedsvertrages abhängig gemacht werden, sowie ferner von der Erwägung, „ob ein solcher Vertrag nicht vielleicht die Vorbedingung f ü r eine eventuelle Lockerung des Art. 80 des Versailler Vertrages werden könnte, wodurch der Anschluß Österreichs an Deutschland von der Zustimmung des Völkerbundsrats abhängig gemacht ist". Diese Aussicht könnte eventuell auch Ungarn aussöhnen, das durch den Anschluß Österreichs Deutschland zum unmittelbaren Nachbarn bekäme. Jedenfalls, so schließt Köpke, würden die Verhandlungen mit der CSR über einen Schiedsvertrag einer gewissen Vorbereitung in Budapest bedürfen. Noch im April unterrichtete d a n n auch der deutsche Gesandte in Budapest weisungsgemäß den G r a f e n Bethlen über die deutsche Verhandlungskonzeption
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in der sogenannten Sicherheitfrage. „Der Ministerpräsident", so berichtete Welczeck am 23. April nach Berlin, „war sichtlich darüber beruhigt, daß wir der Tschechoslowakei gegenüber keinesfalls über das Angebot eines weitgehenden Schiedsvertrages hinauszugehen beabsichtigen und daß dieser sich nicht auf die Sicherung der Grenzen beziehen würde." 32 Diese Vorgänge erwiesen erneut, daß die aggressive Revisionspolitik der herrschenden Klassen Deutschlands und Ungarns gegenüber der CSR im Jahre 1925 ebenso grundsätzlich übereinstimmte wie 1919, 1920 und 1923.33 Wenn auch vorübergehende taktische Meinungsverschiedenheiten existierten, so bereitete sich bereits als Möglichkeit vor, was Ende der 30er Jahre in so folgenschwerer Weise Wirklichkeit wurde. Die Ausarbeitung Köpkes, der zeitweise als stellvertretender Staatssekretär fungierte, zeigte aber noch mehr. Für die herrschenden Kreise Deutschlands war es eine Selbstverständlichkeit, daß zu gegebener Zeit skruppellos alle Verträge, die man vorher aus taktischen Gründen unter den Bedingungen einer ungünstigen Kräftekonstellation abgeschlossen hatte, als ein Fetzen Papier behandelt werden sollten. Lediglich „für die nächste Zeit" sollten wirtschaftliche und politische Ziele allein mit friedlichen Mitteln verfolgt werden. Man war bestrebt, kriegerische Konflikte möglichst so lange zu vermeiden, bis sich das Kräfteverhältnis zugunsten des deutschen Imperialismus verändert hatte. In bezug auf die Haltung gegenüber den deutschen Minderheiten waren allein machtpolitische Interessen ausschlaggebend. Sie wurden daher — je nach der Lage — entweder, wie die deutsche Minderheit in der Tschechoslowakei, als ein Faktor „inoffizieller deutscher Unterstützung sehr wirksamer Art" für die ungarische Revisionspolitik ins Kalkül gezogen oder, wie die Deutschen in Rumänien und Jugoslawien, skrupellos der nationalen Unterdrückungspolitik der dortigen Ausbeuterklassen überantwortet, wenn sie momentan nicht im Interesse des deutschen Imperialismus eingesetzt werden konnten. Dieser Mißbrauch der deutschen Minderheiten als Instrument einer aggressiven Politik war es, der sich tatsächlich hinter den tönenden Propagandaphrasen über das Eintreten Deutschlands für ihre Rechte und ihr Wohl verbarg. Das alles sind Charakterzüge deutscher imperialistischer Politik, wie sie während der terroristischen Diktatur des deutschen Monopolkapitals in der Regierungszeit eines Adolf Hitler offen und auch potenziert hervortraten und dann vom Nürnberger Tribunal als völkerrechtswidrig, antihumanistisch und amoralisch v e r urteilt wurden. Sie waren aber bereits in der Weimarer Republik, getarnt durch eine parlamentarisch-demokratische Fassade, konzeptionell vorhanden und auf lange Sicht wirksam. Noch sah sich damals der deutsche Imperialismus nicht in der Lage, militärische Macht für die Erreichung seiner Expansionsziele einzusetzen, doch auch ein Stresemann war letztlich dazu fest entschlossen. „Ich glaube", so sagte er Mitte 1925 in einer Auseinandersetzung mit einem Zweifler 62
u
Ebenda, Büro RM, Verhh. m. d. Alliierten über einen Sicherheitspakt, Bd. 3, S. D 643 112. Vgl. Fuchs, Die politischen Beziehungen der Weimarer Republik zur Tschechoslowakei, S. 295 f., 323.
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an der Wirksamkeit der Locarnopolitik, „daß letzten Endes immer diese großen Fragen durch das Schwert entschieden werden", doch müßte hierfür erst die Grundlage geschaffen werden. 34 Darin bestand das Ziel der deutschen Locarnopolitik, die ihrer Form nach durch geschicktes Taktieren und Lavieren im Rahmen der gegebenen politischen Möglichkeiten charakterisiert war. Kein Schritt wurde getan, ohne nicht zugleich auch die Weichen für eine weit in die Zukunft reichende Revisions- und Expansionspolitik zu stellen. Das galt auch voll für den deutsch-tschechoslowakischen Schiedsvertrag, was am Problem des „Anschlusses Österreichs" erneut deutlich wird. Die tschechische Presse hatte am deutschen Garantiepaktvorschlag nicht nur kritisiert, daß die Ostgrenzen nicht garantiert werden sollten, sondern daß auch die Frage des „Anschlusses Österreichs", einer der Hauptposten in der Revisionspropaganda, überhaupt nicht erwähnt wurde. Das geschah deutscherseits aber mit Absicht, um das Zustandekommen eines Kompromisses im Westen, des wichtigsten Nahzieles, nicht durch die Einbeziehung weiterer Streitfragen zu gefährden. In Kenntnis des Umstandes, daß der „Anschluß Österreichs" einer der neuralgischen Punkte auch in den Beziehungen zur Tschechoslowakei war, hatte Schubert schon am 10. März dem deutschen Gesandten in Prag die Richtlinie erteilt, daß die Frage des österreichischen Anschlusses mit dem Garantievorschlag nichts zu tun habe und aus den diesbezüglichen Gesprächen herauszuhalten sei.35 Doch weder die französische und tschechische Presse noch Benes taten dem Auswärtigen Amt den Gefallen, sich ihrerseits daran zu halten. Vielmehr formulierte Benes in seinem Exposé vom 1. April in bezug auf Österreich eindeutig: „Ich halte die Pläne mit dem Anschluß an Deutschland für unmöglich." Der in Vorbereitung befindliche Garantiepakt werde zeigen, daß alle Interessenten in dieser Frage an den Bestimmungen der unterschriebenen Verträge festhielten. 36 Mit dieser demonstrativen Haltung lenkte Benes das Feuer der deutschen Presse — von den Deutschnationalen bis zur SPD — auf sich. Nach der ersten Maidekade, als sich die Bukarester Konferenz der Kleinen Entente ebenfalls unverhüllt gegen den Anschluß ausgesprochen hatte, verstärkte sich die Kampagne sogar noch.37 Die deutsche Regierung äußerte sich bezeichnenderweise zu diesen Presseangriffen und der sich gleichzeitig verstärkenden Anschlußagitation öffentlich nicht, und
Zit. nach Zimmermann, Deutsche Außenpolitik, S. 267: Entgegnung Stresemanns an den mecklenburgischen Ministerpräsidenten von Brandenstein auf der Tagung der Ministerpräsidenten vom 3. 7.1925. as PA Bonn, Büro RM, Verhh. m. d. Alliierten über einen Sicherheitspakt, Bd. 2, S. D 642 574. 26 Benes, S. 321. Herriot erinnert sich an ein Gespräch vom März 1925, in dem BeneS gesagt haben soll: „Österreich annektieren zu lassen das bedeutet Krieg" (Herriot, Edouard, Jadis, d'une guerre ä l'autre. 1914—1936, Paris 1952, S. 189 f.); der österreichische Bundeskanzler Ramek sagte dem deutschen Vertreter in Bern, Adolf Müller, daß Benes bezüglich der Anschlußfrage ihm erklärt habe, mit allen Mitteln, wenn nötig „sogar mit Waffengewalt", dagegen vorzugehen (PA Bonn, Büro RM, Tschechoslowakei, Bd. 2, S. D 617 829: Bericht Müllers an AA vom 19. 9.1925). s < AFMZV Prag, PZ Berlin 1925: Nr. 27, S. 20; Nr. 33, S. 18 ff.; Nr. 37, S. 20 f.
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Stresemann überging in seiner Reichstagsrede vom 18. Mai das Österreichproblem völlig. Das Auswärtige Amt jedoch sah sich veranlaßt, im Gespräch mit den Vertretern der CSR eine neue taktische Variante ins Spiel zu bringen. Mitte Mai, als die Anschlußagitation hohe Wellen schlug, fand Köpke in einer Unterredung mit dem neuernannten tschechoslowakischen Gesandten, Kamil Krofta, scharfe Worte gegen diesen „Unsinn". Das Auswärtige Amt, so versicherte Köpke, halte gegenwärtig den „Anschluß" weder für möglich noch für wünschenswert. Dann folgte die aufschlußreiche Erklärung, daß es erst irgendwann in der Zukunft zu einer Verbindung Österreichs mit Deutschland kommen werde. Aber vorher müßte das Verhältnis zur Tschechoslowakei geregelt werden, damit der „Anschluß" seitens der CSR nicht als gefährliche Bedrohung aufgefaßt würde.38 Auf diese Weise war Köpke offensichtlich bestrebt, den in seiner Studie vom 4. April geäußerten Gedanken zu verwirklichen, einen deutsch-tschechoslowakischen Schiedsvertrag auf weite Sicht zur Lockerung des Anschlußverbots einzusetzen. Art. 80 des Versailles Vertrages und Art. 88 des Friedensvertrages von St. Germain-en-Laye bestimmten die Unabhängigkeit Österreichs als unabänderlich, es sei denn, der Völkerbund stimme einer Abänderung zu. Auf diese Klausel zielte das Taktieren mit dem Schiedsvertrag. Der Erfolg des Manövers blieb jedoch 1925 wie auch später aus. Benes war auch während seines ganzen weiteren Wirkens ein entschiedener Gegner des „Anschlusses Österreichs". Ein Schiedsvertrag sollte den regierenden Kreisen des deutschen Imperialismus nach Möglichkeit auch eine rechtliche Handhabe bieten, um sich in der Frage der deutschen Minderheit in die inneren Angelegenheiten der Tschechoslowakei einzumischen und auf diese Weise auf das großdeutsche Fernziel hinzuarbeiten. Diese raffinierte Taktik war für die nationalistischen Führungsgruppen der deutschen Parteien in der CSR nicht ohne weiteres faßbar, so daß sie die im Zusammenhang mit dem Vorschlag eines Garantiepaktes eröffnete Möglichkeit eines Schiedsvertragsabschlusses mit der Tschechoslowakei erschreckte. Die Parteiführer betrachteten einen Schiedsvertrag, der u. a. die Anerkennung des gegenseitigen Besitzstandes beinhaltete, als das Grab ihrer irredentistischen Hoffnungen.39 Das Auswärtige Amt vries seinen Gesandten in Prag, der mit den sudetendeutschen Parteiführern in ständiger Fühlung stand, an, diese zu beruhigen, und vermittelte hierfür folgende Argumentation: Da die Hauptbedingung für einen Schiedsvertrag darin bestehe, daß er nicht in irgendeiner Form auf der Anerkennung der gegenwärtigen Grenzen abgestellt sein dürfe, seien die Befürchtungen der sudetendeutschen Parteiführer unbegründet. Im Gegenteil: Ein derartiger Schiedsvertrag würde der Reichsregierung eine wirksame Handhabe bieten, „für den Schutz der Minoritäten einzutreten", was nicht möglich sei, solange Deutschland nicht dem Völkerbund angehöre.40 x
Ebenda, Nr. 28, S. 3 f.: Bericht Kroftas vom 13. 5. PA Bonn, Büro RM, Verhh. m. d. Alliierten über einen Sicherheitspakt, Bd. 2, S. D 642 658: Bericht Kochs v. 11. 3.1925. '"> Ebenda, Tschechoslowakei, Bd. 1, S. D 617755: Telegramm Schuberts an Koch v. 17. 3. 1925.
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D e n Weg z u m V e r t r a g s a b s c h l u ß suchte das A u s w ä r t i g e A m t d a d u r c h zu ebnen, d a ß es nach Möglichkeit alle R e i b u n g e n m i t d e r Tschechoslowakei v e r m i e d , wozu auch die F ü h r u n g s k r ä f t e der d e u t s c h e n M i n d e r h e i t d u r c h Z u r ü c k h a l t u n g b e i t r a g e n sollten. Gegenläufige W ü n s c h e der s u d e t e n d e u t s c h e n nationalistischen P a r t e i f ü h r e r wies S t r e s e m a n n d e s h a l b zurück. 4 1 I m B e w u ß t s e i n dessen, d a ß d i e außenpolitischen Möglichkeiten des D e u t s c h e n Reiches zu j e n e r Zeit noch recht b e g r e n z t w a r e n , wollte S t r e s e m a n n d u r c h die a n g e s t r e b t e n Ü b e r e i n k o m m e n u n d die h i e r v o n e r w a r t e t e n R ü c k w i r k u n g e n die i n t e r n a t i o n a l e n P o s i t i o n e n festigen, u m d a n n p r a k t i s c h e Schritte z u r V e r w i r k lichung des Revisions- u n d E x p a n s i o n s p r o g r a m m s zu t u n . D a s galt a u c h f ü r d a s P r o b l e m der d e u t s c h e n M i n d e r h e i t e n in d e r CSR, d a s erst n a c h Locarno, n a c h Abschluß des deutsch-tschechoslowakischen S c h i e d s v e r t r a g e s seitens d e r d e u t schen D i p l o m a t i e in s t ä r k e r e m M a ß e als politisches D r u c k m i t t e l in d e n B e z i e h u n g e n m i t der Tschechoslowakei eingesetzt w e r d e n sollte. A b e r o h n e w e i t e r e s ließ sich die tschechoslowakische A u ß e n p o l i t i k nicht auf die von S t r e s e m a n n g e w ü n s c h t e Linie b r i n g e n . Benes w a r z w a r k o m p r o m i ß b e r e i t , v e r s u c h t e a b e r dennoch sein Konzept, v o r allem die S i c h e r u n g d e r G r e n z e n d e r Tschechoslowakei, i m P r i n z i p durchzusetzen. D e s h a l b ging e r auf die polnische I n i t i a t i v e v o m D e z e m b e r 1924 ein, das sehr w i d e r s p r u c h s v o l l e tschechoslowakischpolnische V e r h ä l t n i s v e r t r a g l i c h zu bereinigen. W a r die polnische R e g i e r u n g a n gesichts der u n v e r h ü l l t e n d e u t s c h e n R e v i s i o n s f o r d e r u n g e n u n d d e r nachgiebigen britischen H a l t u n g b e s o n d e r s a n e i n e m einheitlichen V o r g e h e n m i t d e r Tschechoslowakei interessiert, so suchte a u c h Benes die sich h i e r b i e t e n d e Möglichkeit zur D u r c h s e t z u n g seines politischen K o n z e p t e s zu n u t z e n . F r a n k r e i c h u n t e r s t ü t z t e seinerseits e i n e polnisch-tschechoslowakische V e r s t ä n d i g u n g . B e n e s reiste n a c h W a r s c h a u u n d u n t e r z e i c h n e t e a m 23. A p r i l 1925 einen L i q u i d a t i o n s v e r t r a g , d e r v o r allem die G r e n z s t r e i t i g k e i t e n u m Teschen u n d i m J a v o r i n a gebiet bereinigte, sowie einen S c h i e d s v e r t r a g u n d e i n e n H a n d e l s v e r t r a g . L e t z t e r e r b e a n s p r u c h t e d a d u r c h b e s o n d e r e s Interesse, d a ß sich beide Seiten die f r e i e D u r c h f u h r v o n K r i e g s m a t e r i a l sicherten. Diese K l a u s e l richtete sich gegen die S o w j e t u n i o n u n d D e u t s c h l a n d zugleich. W e i t e r g e h e n d e n V e r e i n b a r u n g e n militärischer A r t , die v o n polnischer Seite, a b e r auch v o n d e n CSR-Militärs g e w ü n s c h t w u r d e n , entzog sich d e r tschechoslowakische A u ß e n m i n i s t e r . Er l e h n t e auch d i e E i n b e z i e h u n g Polens in die K l e i n e E n t e n t e ab. 4 2 Mit diesen V e r t r a g s a b s c h l ü s s e n
41
AFMZV Prag, ZP Berlin 1925: Nr. 28, S. 4; Nr. 34; PA Bonn, Büro RM, Tschechoslowakei, Bd. 1, S. D 617 802 f.; Bd. 2, S. 617 833 ff.; Alexander, Manfred, Der deutschtschechoslowakische Schiedsvertrag von 1925 im Rahmen der Locarno-Verträge, München/Wien 1970, S. 137 Anm. 50. ™ AFMZV Prag, PZ Berlin 1925, Nr. 21: Zirkular Benes' vom 18. 4. 1925; vgl. auch Vojensky historicky' archiv (im folg.: VHA) Prag, Vojenskä kanceläf presidenta republiky, 1925, Nr. 183: Bericht des CSR-Militärattaches aus Warschau v. 23. 4. 1925; Balcerak, Wieslaw, Stosunki polsko-cezchoslowackie w okresie ksztaltowania sie systemu lokarneriskiego 1923—1925 (Die polnisch-tschechischen Beziehungen während der Herausbildung des Locarno-Systems), in: Studia z dziejow ZSSR i Europy srodkowej, Bd 2, Wroclaw/Warszawa/Kraköw 1967, S. 259 ff.
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wollte Benes Deutschland zeigen, über welche politische Möglichkeiten er verfüge und daß den Wünschen des Auswärtigen Amtes bestimmte Grenzen gesetzt seien. Die deutsche Presse reagierte auf die Verträge von Warschau sehr scharf, sah darin eine Abkehr Benes', von seinen bisherigen Äußerungen zur Garantiepaktund Schiedsvertragsproblematik und erklärte ihn zu einem Feind Deutschlands. 43 Auch Stresemann meinte, daß Benes sich in Warschau Verbündete gegen jeden Versuch einer Grenzveränderung wie auch gegen den „Anschluß Österreichs" gesucht habe. 44 Obwohl Benes diesen Eindruck durch beschwichtigende Erklärungen seines Gesandten zu mildern suchte 45 , bedeuteten die tschechoslowakischpolnischen Verträge zunächst eine Verminderung der Aussichten auf ein Übereinkommen zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei nach dem Konzept des Stresemannschen Sicherheitspaktes. Neue Hindernisse auf dem Wege nach Locarno ergaben sich aus der Wahl des Erzmilitaristen Hindenburg zum Reichspräsidenten der Weimarer Republik am 26. April 1925.46 Die „Zahranicni politika", das offiziöse Organ des tschechoslowakischen Außenministeriums, bezeichnete in ihrem diesbezüglichen Kommentar Hindenburg als „Symbol des kaiserlichen und imperialistischen Vorkriegsdeutschlands". Die Wahl Hindenburg bedeute, „allen demokratischen und republikanischen Kräften in Deutschland den Fehdehandschuh hinzuwerfen und das Ausland zu provozieren". Hindenburg habe zwar den Eid auf die Verfassung abgelegt. Doch bleibe abzuwarten, welche Auswirkungen dieser Sieg der Rechtsparteien, die aus den Präsidentenwahlen moralisch gestärkt hervorgegangen seien, haben werde. 47 Schon die ersten Meldungen, die von den CSR-Vertretungen über die politische Situation in den ersten Wochen nach der Präsidentenwahl eingingen, ließen diese Befürchtungen als berechtigt erscheinen. Eine Welle des Nationalismus durchlief weite Teile des deutschen Volkes. Namentlich in Bayern, Thüringen und Sachsen verstärkte sich die antitschechoslowakische Agitation revanchistischer und nationalistischer Parteien und ihrer Presseorgane. Auf zahlreichen Veranstaltungen des „Sudetendeutschen Heimatbundes", des „Vereins f ü r das Deutschtum im Ausland" und anderer Organisationen, zu denen auch Vertreter der deutschen Parteien aus der CSR eingeladen waren, wurden in verstärktem Maße die bereits sattsam bekannten großdeutschen Hetztiraden kolportiert/' 8 Als bekannt wurde, daß die Prager Post- und Telegrafenverwaltung die Absendung von Gratulationstelegrammen an Hindenburg seitens tschechoslowakischer Staatsbürger unterbunden hatte, gab dies f ü r zahlreiche Blätter im gesamten Reichsgebiet Anlaß zu gehässigen Bemerkungen. 49 43
AFMZV Prag, PZ Berlin 1925, Nr. 27, S. 21: Monatsbericht für April vom 12. 5.1925. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 2, S. 97. 45 Vgl. Aufzeichnung Köpkes über das Gespräch mit Krofta am 13. 5. (PA Bonn, Büro RM, Tschechoslowakei, Bd. 1, D 617 792). 46 Vgl. Rüge, Wolfgang, Hindenburg. Porträt eines Militaristen, Berlin 1975, S. 251 f£. ' Zahranicni politika, Prag, 13 5.1925, S. 422, 659. Der Bericht des CSR-Konsulats in München vom 28. 5. gibt auf 43 Seiten eine sehr ins Detail gehende Übersicht dieser Umtriebe. (VHA Prag, MNO pres., 1925, 88 2/14, Nr. 5 681.) VJ AFMZV Prag, PZ Berlin 1925, Nr. 33, S. 7: Monatsbericht für Mai v. 5. 6.1925.
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So w a r es kein Wunder, d a ß Benes A n f a n g J u n i in einem Gespräch mit dem deutschen Generalkonsul in Genf sein Mißtrauen gegenüber der Politik der deutschen herrschenden Kreise zum Ausdruck brachte. „Wenn auch die heutige Regierung keine intransigente Rechtspolitik betreibe, so k ö n n t e n doch die K o n servativen ü b e r Nacht allen Einfluß erlangen, u n d dies müsse er als Realpolitiker, der die schlimmsten Eventualitäten in Rechnung zu stellen habe, f ü r seine Halt u n g bestimmend sein lassen." 5 0 — In der Tat zeigte die W a h l Hindenburgs, d a ß sich die politische Stabilisierung des monopolistischen Herrschaftssystems zun e h m e n d in r e a k t i o n ä r e n F o r m e n vollzog. Die revanchistischen K r ä f t e w u r d e n gestärkt, sie erhielten durch diese Vorgänge in der repräsentativen F ü h r u n g s spitze des Reiches s t ä r k e r e n A u f t r i e b denn je. Auch S t r e s e m a n n s „Sicherheitspolitik" sah sich einem z u n e h m e n d e n Widerstand der politischen Rechten, namentlich der Deutschnationalen gegenüber. Sie p r a n gerten S t r e s e m a n n s Konzept, zeitweilig im Westen die Grenzen anzuerkennen, m i t d e m Hinweis auf die revanchistische F o r d e r u n g nach Wiedergewinnung Elsaß-Lothringens als „Verzichtpolitik" an u n d bereiteten dem Außenminister auch innerhalb der Regierung Schwierigkeiten. In Paris e r k l ä r t e der n e u e Ministerpräsident Painleve dem deutschen Botschafter, d a ß „es den M ä n n e r n der Linken n u n m e h r viel schwerer sein werde, [die] bisherige u n d z u k ü n f t i g e Verständigungspolitik zu begründen", weil H i n d e n b u r g f ü r Frankreich ein „rotes Tuch" sei u n d „schlechthin Krieg" bedeute. 5 1 N u n w a r natürlich die Wahl Hindenburgs keineswegs der einzige G r u n d f ü r die Schwierigkeiten, die sich f ü r das Fortschreiten der V e r h a n d l u n g e n ü b e r einen Sicherheitspakt ergaben. A n diesem Vorgang u n d seinen politischen A u s w i r k u n gen w u r d e lediglich deutlich, wie groß die Widersprüche waren, die zu ü b e r w i n den namentlich der britische u n d der USA-Imperialismus ein Interesse h a t t e n . U m die Durchsetzung ihrer mit der Locarnopolitik v e r b u n d e n e n P l ä n e zu g e w ä h r leisten, b e g a n n e n die angloamerikanischen Monopolkreise u n d ihre Regierungen, den politischen u n d besonders finanziellen Druck auf Deutschland, aber auch auf Frankreich u n d die übrigen widerspenstigen K o n t r a h e n t e n im imperialistischen Tauziehen u m G a r a n t i e p a k t u n d Schiedsverträge zu erhöhen. I m Mai versiegte der S t r o m ausländischer, vor allem amerikanischer K r e d i t e nach Deutschland. Dieser Schlag w a r u m so wirksamer, als sich seit dem F r ü h sommer 1925 in der wirtschaftlichen Entwicklung eine Stagnation b e m e r k b a r machte u n d die deutschen Konzerne zur Erlangung des nötigen Betriebskapitals in besonderem Maße auf K r e d i t e angewiesen waren. Diese w u r d e n ihnen n u n aber seitens der angloamerikanischen G r o ß b a n k e n nicht wieder erneuert, z. T. sogar aufgekündigt. 5 2 M
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Zit. nach Alexander, S. 96: Bericht GK Aschmann an AA v. 6. 6.1925. PA Bonn, Büro RM, Verhh. m. d. Alliierten über einen Sicherheitspakt, Bd. 3, S. D 643 116: Bericht an AA v. 27. 4.1925. AFMZV Prag, PZ Berlin 1925, Nr. 37: Wirtschaftsbericht für Juni 1925, S. 1 f.; Madloch, Norbert, Der Kämpf der KPD 1925/26 gegen den Pakt von Locarno und für eine friedliche und demokratische Außenpolitik in Deutschland, Diss. am Inst. f. Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Berlin 1964, S. 244 f. Anm. 140 (MS).
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Ab 10. Juli verhandelten auf Geheimkonferenzen in Berlin Montague. Norman, der Gouverneur der Bank von England, und Benjamin Strong, der Präsident der American Federal Reserve Bank in New York — sie fungierte faktisch als USAStaatsbank —, mit Reichsbankpräsidenten Schacht wie auch mit Stresemann. Die angloamerikanischen Finanzgewalten erklärten unumwunden, daß Deutschland nur dann langfristige Kredite erhalten würde, wenn der Sicherheitspakt zustande komme.53 Stresemann, der stets bemüht war, sich die Unterstützung der entscheidenden Kreise des USA-Monopolkapitals zu sichern, verstand diese Aufforderung zu erhöhter Kompromißbereitschaft sehr wohl.54 Mit dem gleichen Ziel forderten die USA die übrigen von der Sicherheitspaktproblematik tangierten europäischen Staaten ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt auf, ihre Schulden zu bezahlen. Seit Ende Mai 1925 sahen sich daher Polen, Italien, Belgien, Frankreich und die Tschechoslowakei mit harten Forderungen konfrontiert. Großbritannien, das die Probleme seiner eigenen Schulden mit den USA bereits 1923 geregelt hatte, verlangte nun seinerseits ebenfalls von Frankreich, Polen und der CSR, ihre Verbindlichkeiten gegenüber dem Inselreich zu begleichen. Bitten der Tschechoslowakei um Aufschub wurde nicht stattgegeben. Der britische Gesandte in Warschau versprach der polnischen Regierung nur unter der Bedingung eine Anleihe, daß sie sich mit Deutschland einige, d. h., Polen sollte auf die Garantie seiner Grenzen mit Deutschland verzichten.55 Welches Ziel mit dem auf die Tschechoslowakei ausgeübten Druck verfolgt wurde, hatte der USA-Botschafter in London, A. B. Houghton, schon am 4. Mai 1925 den dortigen CSR-Gesandten Mastny wissen lassen. Der Vertreter Washingtons versicherte zunächst, daß es Deutschland gegenwärtig nicht um eine Expansion auf Kosten der Tschechoslowakei gehe; aber „was nicht ist", so fuhr er drohend fort, „kann werden, wenn sich die Nachbarn Deutschlands nicht dessen enthalten, ein großes Volk, neben dem sie leben, zu reizen".56 Es war die Aufforderung, den Vorstellungen des Berliner Auswärtigen Amtes nach Abschluß eines Schiedsvertrages ohne Grenzgarantie nachzugeben. Das war Dollardiplomatie in voller Aktion: heuchlerische Phrasen über amerikanische Hilfe an die Völker Europas und den Wunsch nach Frieden in ;der
Vgl. Dichtl, Klaus/Ruge, Wolfgang, Zu den Auseinandersetzungen innerhalb der Reichsregierung über den Locarnopakt 1925, in: ZfG, 22, 1974, 1, Dok. Nr. 2, S. 80; Zimmermann, S. 267 Anm. 25. Lord D'Abernon schrieb mit Bezug auf die wirtschaftliche Lage Deutschlands am 14. 7.1925 in sein Tagebuch: „Die Geldknappheit wird so lange nicht behoben sein, bis der Pakt zum Abschluß gelangt" (D'Abernon, Bd. 3, S. 207). M In einem Gespräch mit dem französischen Diplomaten Aubert am 29. 7.1925 über die Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich des Garantiepaktes erklärte Stresemann ungeschminkt, daß sich Frankreich und Deutschland ohnehin verständigen müßten, „denn Amerika, das die Möglichkeit hat, auf beide Länder bedeutenden finanziellen Druck auszuüben, drängt darauf". Aubert informierte davon Krofta, der darüber im Monatsbericht für Juli v. 1. 8. berichtete (AFMZV Prag, PZ Berlin 1925, Nr. 38). 55 Vgl. Gajanovä S. 195 f.; Brach, S. 680 f. ^ Zit. nach Brach, S. 675.'
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Öffentlichkeit, v e r b u n d e n mit unverhohlenen D r o h u n g e n u n d massiver ökonomischer Erpressung in den Geheimverhandlungen. Auf diese Weise f u n g i e r t e der USA-Imperialismus zwar hinter den Kulissen, zugleich jedoch als einer der Hauptinteressenten a m Z u s t a n d k o m m e n der Locarnopolitik, von der m a n sich nicht n u r h o h e Profite, sondern auch ein bedeutendes V o r a n k o m m e n bei der Verfolg u n g der konterrevolutionären antisowjetischen Pläne versprach. Die USA als stärkste Macht der kapitalistischen Welt w a r e n im Bündnis mit dem britischen Imperialismus bestrebt, die innerimperialistischen Widersprüche z u r ü c k z u d r ä n gen u n d eine w e l t u m s p a n n e n d e imperialistische F r o n t zur Klassenauseinandersetzung m i t der sozialistischen Sowjetunion zu errichten. Als die französische Regierung u n t e r solchen Bedingungen m e h r u n d m e h r zurückwich, sah sich auch Benes veranlaßt, weitere Zugeständnisse zu machen, u m die Tschechoslowakei nicht von i h r e n westlichen V e r b ü n d e t e n zu isolieren. Einige Prinzipien, die von der tschechoslowakischen Außenpolitik als u n a u f g e b b a r bezeichnet w u r d e n , versuchte Benes freilich f ü r das in Aussicht g e n o m m e n e Vertragswerk u n d insbesondere f ü r die östlichen Schiedsverträge zu erhalten. Vor allem sollten sich die Teilnehmer der Schiedsverträge verpflichten, „daß sie keinen Krieg gegeneinander f ü h r e n , ihre Differenzen auf friedliche Weise beilegen werden". Wer dagegen verstoße, sollte „nicht n u r alle Sanktionen des Völkerbundes, sondern auch w e i t e r e andere schwere Sanktionen auf sich ziehen". 5 7 Die deutsche Regierung sah dagegen zumindest im Osten den Krieg als Ultima ratio an, wollte d e n Verzicht auf Krieg in den Schiedsverträgen nicht ausdrücklich v e r a n k e r t wissen u n d keineswegs andere denn Völkerbundssanktionen zulassen. Hierbei rechnete m a n mit d e m Prinzip der Einstimmigkeit im Völkerbundsrat, in dem Deutschland bereits ein Sitz zugesagt war. Z u m anderen hielt es Benes f ü r erforderlich, der Absicht der deutschen Regierung entgegenzuwirken, die u n t e r Bezug auf Art. 19 der Völkerbundssatzung ausdrücklich verlangte, „daß nicht e t w a f ü r alle Z u k u n f t die Möglichkeit ausgeschlossen w e r d e n soll, bestehende V e r t r ä g e auf d e m Wege friedlichen Ü b e r einkommens zu gegebener Zeit v e r ä n d e r t e n Verhältnissen anzupassen". 5 8 Die d a u e r n d e Betonung des Artikels 19 u n d die damit v e r b u n d e n e Absicht, eine psychologische Situation zu schaffen, die die Friedensverträge abschwäche, so meinte Benes, d ü r f e nicht zugelassen werden. „Alle Reden u n d E r k l ä r u n g e n ü b e r die Veränderlichkeit der Friedensverträge lehnen wir ab." 59 D a r i n k a m ern e u t zum Ausdruck, daß sich die politischen Interessen des deutschen Imperialism u s u n d der herrschenden Kreise der Tschechoslowakei in f u n d a m e n t a l e n F r a g e n völlig widersprachen. Dem nach der Londoner Konferenz der Völkerrechtsexperten Belgiens, Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens u n d Italiens offensichtlich u n a b w e n d b a r gew o r d e n e n Rheinpakt mit seiner n u r auf die deutschen Westgrenzen bezogenen i>;
Benes am 23. 4. 1925 vor den Außenausschüssen des Abgeordnetenhauses und des Senats (Benes, S. 328). 58 Aus der deutschen Note an die französische Regierung vom 20. 7. 1925 (LocarnoKonferenz, Dok. Nr. 16, S. 110). K ' Zit. nach Brach, S. 679: Zirkular Benes' an die CSR-Gesandtschaften vom 25. 7.1925.
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Garantie versuchte Benes dadurch zu begegnen, daß er das Projekt eines Ostpaktes entwickelte. An ihm sollten sich außer Polen, der Tschechoslowakei und Deutschland auch Österreich und Italien beteiligen. Die Zustimmung Roms glaubte Benes mit dem Hinweis auf die von deutscher Seite erhobenen Revisionswünsche hinsichtlich der Südtirolfrage gewinnen zu können. Frankreich unterstützte den Plan, der auf dem Genfer Treffen der Außenminister der Kleinen Entente vom 7. Sepetmber 1925 gebilligt wurde. Doch Italien lehnte es ab, die deutschen Ostgrenzen zu garantieren, und folgte dem britischen Antrag, im Rahmen des Rheinpaktes als Garant zu wirken. 60 Das war ein weiterer Rückschlag f ü r die tschechoslowakische Außenpolitik auf dem Wege nach Locarno. Auf der Londoner Vorkonferenz der Juristen hatten sich die Standpunkte der künftigen Vertragspartner weitgehend angenähert. Die französische Regierung mußte hierbei der deutschen entschieden weiter entgegenkommen als umgekehrt. So hielt man die nötigen Voraussetzungen f ü r die Einberufung der Ministerkonferenz f ü r gegeben. Die entsprechende Einladung an Deutschland erging am 15. September 1925. Angesichts dieser weitgehenden Kompromißbereitschaft der herrschenden Kreise Frankreichs, die auf die politischen Wünsche ihrer östlichen Bündnispartner kaum noch Rücksicht nahmen, befürchtete Benes offensichtlich, von der Einflußnahme auf den weiteren Verhandlungsgang völlig ausgeschaltet zu werden. Er beeilte sich daher, Krofta zu beauftragen, am 20. September 1925 im Berliner Auswärtigen Amt die Erklärung abzugeben, daß die tschechoslowakische Regierung bereit sei, „die Verhandlungen über den im Memorandum [der] deutschen Reichsregierung am 9. Februar d. J. erwähnten Schiedsvertrag zu eröffnen". 61 Die CSR-Regierung tat diesen Schritt, ohne Polen davon vorher auch nur zu informieren, geschweige denn eine Abstimmung über ein gemeinsames Vorgehen, wie es die polnische Seite entsprechend dem Geist der kürzlich abgeschlossenen Verträge erwartet und dringend gewünscht hatte, herbeizuführen. Warschau war schockiert. Der polnische Gesandte in Berlin befürchtete hinter diesem Vorgehen sogar ein weitergehendes Geheimabkommen, was Krofta, wie er meinte, widerlegen konnte. Wenn der tschechoslowakische Gesandte jedoch bemüht war, die in Berliner Journalistenkreisen verbreitete Meinung zu zerstreuen, daß seine Regierung sich auf diese Weise von Polen distanzieren und ihr Verhältnis zu Deutschland ohne Rücksicht auf die Bündnispartner regeln wolle62, dann dürfte er der Wahrheit entgegengetreten sein. Waren die regierenden Kreise der CSR doch stets darauf bedacht, nicht mit Polen in eine Schußlinie zu geraten. Benes teilte die Meinung der Angloamerikaner über die Instabilität der polnischen Grenzen; er wußte auch, daß Deutschland Mitte Juni 1925 den Zollkrieg gegen Polen nur deshalb eröffnen konnte 63 , weil es durchaus im Interesse der Westm
Vgl. Gajanovd, S. 196. > PA Bonn, Büro EM, Tschechoslowakei, Bd. 2, S. D 617 830. ™ AFMZV Prag, PZ Berlin, 1925, Nr. 48, S. 2 f.: Ao Bericht Kroftas v. 22. 9.1925. m Puchert, Berthold, Der Wirtschaftskrieg des deutschen Imperialismus gegen Polen 1925-1934, Berlin 1963, S. 56 ff. B
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mächte lag, Polen zum Einlenken auf die Locarnopolitik zu bewegen. Vor allem wollte es Benes auf keinen Fall zu einem Bruch m i t Großbritannien kommen lassen, auf das er die Außenpolitik seines Landes in Erkenntnis der Tatsache, daß die Zeit der französischen Hegemonie in Europa vorbei war, mehr und mehr ausrichtete. 64 Benes war kein prinzipieller Gegner der Locarnopolitik. Sein Manövrieren im Frühsommer und Sommer war lediglich auf die Aufrechterhaltung des „europäischen Gleichgewichts" gerichtet, wie es durch die Friedensverträge geschaffen worden war. Die antisowjetische Grundtendenz der Locarnokonzeption w u r d e von Benes unterstützt. Als die tschechische bürgerliche Presse im F r ü h j a h r 1925 im Gleichklang mit den intensivierten, gegen die UdSSR gerichteten Umtrieben Großbritanniens und der USA eine antisowjetische Hetzkampagne entfaltete, w u r d e dies vom Prager Außenministerium keineswegs kritisiert. 6 5 Als die USA auf die europäischen Kontrahenten der „Sicherheitspolitik" rücksichtslosen Druck ausübten, meinte Benes gegenüber dem USA-Vertreter in Prag, daß nach der Erzielung eines Übereinkommens bezüglich des Sicherheitspaktes eine „neue Ära des Friedens und der Stabilität" anbrechen werde. „Deutschland wird dem Völkerbund beitreten u n d eine europäische Macht werden", so f u h r der Außenminister fort, „anstatt wegen einer Unterstützung nach Rußland zu blicken. Das Resultat wird sein, daß die Bolschewiken mehr und mehr aus Europa verdrängt werden . . ." 66 Als schließlich der sowjetische Volkskommissar f ü r Auswärtige Angelegenheiten auf dem Wege nach Berlin Ende September in Warschau mit der sich infolge des angloamerikanischen und deutschen Drucks in arger Bedrängnis befindlichen polnischen Regierung Gespräche über eine Verbesserung des Verhältnisses zur UdSSR führte, war in der „Prager Presse", dem offiziellen Organ des tschechoslowakischen Außenministeriums, folgender aufschlußreicher Kommentar zu lesen: „Wir sind überzeugt, daß die polnische Politik bei der Wende, die Cicerins Besuch in Warschau bedeutet, mit aller Umsicht vorgehen wird . . . und daß sie sich vor allem h ü t e n wird, zum Instrument einer Politik zu werden, die die Entwicklung der europäischen Konsolidierung und Befriedung stören könnte." 6 7 Im G r u n d e w a r es also der Antikommunismus u n d Antisowjetismus der herrschenden Kreise der Tschechoslowakei, der sie auf Gedeih und Verd e r b an die Politik der imperialistischen Westmächte band und ihre Positionen in der Auseinandersetzung mit der aggressiven Politik des deutschen Imperialismus schon in der Locarno-Ära untergrub.
« Brach, S. 682 f. Peters, J. A., Cechoslovacko-sovetskije otnosenija (1918-1934), Kiew 1965, S. 172, 174. 65 Gqsiorowski, Zygmunt J., Benes and Locarno. Some unpublished Documents, in: The Review of Politics, Bd. 20, Notre Dame, Indiana, April 1958, Nr. 2. 67 Zit. nach O ceskoslovenske zahranicni politice (Über die tschechoslowakische Außenpolitik), Prag 1956, S. 133: Prager Presse v. 1. 10. 1925 (Rückübers. aus dem TschechG. F.); vgl. auch Kalasnikovd, Svetlana, Ceskolovenskä politika a SSSR v prübehu jednäni o rynsky pakt (Die tschechoslowakische Politik und die UdSSR während der Verhandlungen um den Rhein-Pakt), in: Slovansky prehled, Prag, Jg. 1978, Nr. 4, S. 274 ££.
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Mit der Erklärung vom 20. September hatte sich die tschechoslowakische Regierung weitgehend auf die vom Auswärtigen Amt vorgeschlagene Verhandlungsgrundlage begeben: nämlich Trennung der östlichen Schiedsverträge vom Rheinpakt und von seinem Grenzgarantieverfahren. Um diese Abwertung der Ostgegenüber den Westverträgen auch äußerlich zu unterstreichen und eine gleichrangige Behandlung der östlichen Vertragspartner zu umgehen, suchte die deutsche Regierung die Vertreter Polens und der Tschechoslowakei von der vorgesehenen Ministerkonferenz auszuschließen. In einem Rundtelegramm vom 21. September tat Staatssekretär Schubert unter Hinweis auf den deutlichen Wunsch Benes', „an der in Aussicht genommenen Minister-Entrevue teilzunehmen", seine Meinung kund, „daß der Reichsregierung eine Beteiligung des polnischen und des tschechoslowakischen Außenministers an dieser Entrevue nicht genehm sein" werde.68 Als namentlich an der französischen Reaktion deutlich wurde, daß eine solche Gestaltung des Protokolls nicht durchzusetzen war, arbeitete Stresemann darauf hin, Benes und seinen polnischen Ministerkollegen wenigstens nicht von Beginn an, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt, wenn der Westpakt und somit die Hauptsache unter Dach und Fach gebracht war, an den Verhandlungen ausschließlich über die östlichen Schiedsverträge teilnehmen zu lassen.69 Das sollte den deutschen Verhandlungstaktikern auch gelingen. Einmal wird daran deutlich, daß die Tschechoslowakei seitens der deutschen Diplomatie im Vergleich zu den westeuropäischen Staaten nicht als gleichwertiger Verhandlungspartner betrachtet wurde. Zum anderen widerlegte das Auswärtige Amt damit selbst seine seit Anfang des Jahres Benes wiederholt vorgetragenen Beteuerungen, daß die Tschechoslowakei im strategischen Konzept des deutschen Imperialismus nicht in eine Reihe mit Polen gestellt würde. Diese Beschwichtigungsversuche waren ebenso Ausdruck der doppelbödigen Verhandlungstaktik der deutschen Seite wie der kurz vor Beginn der Locarnokonferenz gefaßte Entschluß, die Problematik der deutschen Minderheit in der Tschechoslowakei im Bedarfsfall als Druckmittel in die Verhandlungen mit Benes einzuführen. Seit dem Frühjahr hatten sich die deutschen Diplomaten von den „sudetendeutschen Brüdern" und ihren „störenden" Ansprüchen distanziert, sie gegenüber den tschechoslowakischen Vertretern direkt desavouiert. Nun aber, da der erstrebte Kompromiß im Westen weitgehend als gesichert erschien, ließ sich Stresemann von Köpke Material über die Gravamina der sudetendeutschen Nationalisten und der im Verlaufe der tschechoslowakischen Bodenreform enteigneten reichsdeutschen Großgrundbesitzer, die über zu niedrige Entschädigungen klagten, zusammenstellen. Damit soll in Locarno einem eventuellen „Rückfall" Benes' in die Gemeinsamkeit mit Polen und seiner eventuellen Forderung nach Anerkennung oder Garantie der tschechoslowakischen Grenzen entgegengetreten werden. Nach der Zusammenstellung einiger Beschwerdepunkte schlug Köpke für das Gespräch mit Benes folgende Argumentation vor: „Die deutsche Regierung sei "s PA Bonn, Büro RM, Tschechoslowakei, Bd. 2, S. D 617831: Rundtelegramm an die deutschen Vertretungen in Prag, Warschau, London, Paris, Rom und Brüssel. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 2, S. 183 f.: Aufz. über ein Gespräch mit Krofta am 25. 9. 1925.
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weit davon entfernt, auf die inneren Angelegenheiten der Tschechoslowakei Einfluß nehmen zu wollen; wohl aber müsse sie feststellen, daß die Minderheitenpolitik der tschechoslowakischen Regierung zu tiefgehender Erregung und Erbitterung der gesamten öffentlichen Meinung Deutschlands geführt hat und damit die Herstellung freundnachbarlicher Beziehungen zwischen den beiden Staaten unmöglich macht. Es liegt daher allein in der Hand der tschechoslowakischen Regierung, durch gerechte Behandlung der deutschen Minderheit zunächst die grundlegende Voraussetzung f ü r das beiderseits gewünschte gute Verhältnis zu schaffen." 70 Zunächst muß dazu festgestellt werden, daß die deutsche Seite mit dieser beabsichtigten Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Tschechoslowakei — denn darum handelte es sich trotz der einleitenden heuchlerischen Beteuerungen — gegen bereits damals geltende Völkerrechtsprinzipien verstieß. Zum zweiten resultierten die Widersprüche zwischen dem imperialistischen Deutschland und der Tschechoslowakei aus ihrer grundsätzlichen Lage im Versailler Nachkriegssystem, vor allem aber aus der Revisions- und Expansionspolitik des deutschen Imperialismus. Die deutsche Minderheit der CSR gedachte Stresemann lediglich als Trumpf in seinem diplomatischen Spiel einzusetzen. Schließlich sollte die These von der unterdrückten Minderheit und ihren „Hilferufen" ausgerechnet zu einem Zeitpunkt in die offizielle Debatte geworfen werden, als sich die Tschechoslowakei unter dem Druck ihrer westlichen Verbündeten bereits vor den deutschen Forderungen auf den Rückzug begeben hatte. Das Ziel des Auswärtigen Amtes bestand offensichtlich darin, die CSR zum völligen Verzicht auf die minimalsten Sicherheitsgarantien zu drängen. Diese kaum verhüllte politische Erpressung warf ein bezeichnendes Licht auf die diplomatischen Prinzipien der angeblich „demokratischen" Weimarer Republik. Am 5. Oktober 1925 begann die Locarnokonferenz. Für die regierenden Kreise der Tschechoslowakei war es kein gutes Omen, daß ihre Vertreter wie auch die des polnischen Nachbarn nicht von Anfang an zugezogen wurden. Trotz aller französischen Bemühungen konnten Benes und Skrzynski erst am 8. Oktober anreisen, durften aber auch dann noch nicht am Konferenztisch Platz nehmen. Dies war erst am vorletzten Sitzungstag, dem 15. Oktober, als alle entscheidenden Fragen, vor allem des Rheinpaktes und des Eintritts Deutschlands in den Völkerbund, gelöst waren und nur noch die Verabschiedung der Schiedsverträge ausstand, möglich. 71 „In der Zwischenzeit", so glaubte sich der Chefdolmetscher der deutschen Delegation zu erinnern, „hatten die beiden Vertreter der Tschechow
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PA Bonn, Büro StS, Polit. Ang. d. Kleinen Entente, Ungarns u. d. Balkans, Bd. 1, S. E 175 507 f.: „Material für das in Aussicht genommene Gespräch zwischen dem Herrn Reichsminister und dem tschechoslowakischen Außenminister Benesch", datiert v. 5.10.1925. Lokarnskaja konferencija 1925 g. Dokumenty, Moskau 1959, Nr. 28, S. 429; Nr. 29, S. 481; Locarno-Konferenz, S. 32; Nr. 25, S. 190 ff.; Brach, S. 686; Balcerak, Wieslaw, Polytika zagraniczna Polski w dobie Locarna (Polens Außenpolitik in der Locarno-Periode), Wroclaw/Warszawa/Kraköw 1967, S. 175 f£.
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Slowakei und Polens, Dr. Benesch und Graf Skrzynski, eine etwas unglückliche Rolle gespielt. Sie saßen gleichsam antichambrierend in ihren Hotels herum, denn sie wurden weder zu den Besprechungen der Großen noch zu den Sitzungen der Konferenz hinzugezogen." 72 Diese Darstellung ist zwar unvollständig, denn die Delegation Polens und der CSR hatten sowohl mit den Westmächten wie mit den deutschen Politikern Arbeitskontakte. Doch kommt darin wie in Bemerkungen Stresemanns und Luthers die, Geringschätzung zum Ausdruck, die in Locarno und danach die Haltung der Vertreter des Deutschen Reiches gegenüber den östlichen und südöstlichen Nachbarn bestimmte. Bis zu den Schlußsitzungen wurden die Delegationen der CSR und Polens von Vertretern der Westmächte lediglich über den Verlauf der Konferenz, die unter Ausschluß der Öffentlichkeit tagte, informiert. Die Briten hatten durchgesetzt, daß Benes und Skrzynski mit der deutschen Delegation über die Schiedsverträge außerhalb der eigentlichen Konferenz verhandeln mußten. 73 Stresemann äußerte Mitte Dezember 1925: „Die Herren Benes und Skrzynski haben dort im Nebenzimmer sitzen müssen, bis wir sie hereingelassen haben. Das war die Situation der Staaten, die bisher so sehr in die Höhe gepäppelt wurden, weil sie Diener der anderen waren, und die man in dem Augenblick fallen ließ, wo man glaubte, sich mit Deutschland verständigen zu können." 74 Selbst in der Sitzordnung an dem relativ kleinen Konferenztisch im Rathaussaal zu Locarno wurde besonders von der deutschen und der britischen Delegation die Zweitrangigkeit der tschechoslowakischen und polnischen Verhandlungspartner zum Ausdruck gebracht. „Am Verhandlungstisch fanden diese Neuankömmlinge dadurch Platz", schreibt Reichskanzler Luther in seinen Erinnerungen, „daß die Franzosen und Belgier stark zusammenrückten, während die Vertreter Deutschlands, Großbritanniens und Italiens auf ihren Plätzen verblieben." 75 So wurden die Tschechoslowakei und Polen auf der Locarnokonferenz schon durch das Protokoll in eine zweitrangige und zugleich defensive Position gedrängt. Im Ablauf der Verhandlungen und in ihren Ergebnissen und damit auf dem entscheidenden Gebiet fanden diese Äußerlichkeiten ihre volle Entsprechung. In bezug auf die östlichen Schiedsverträge prallten die Meinungen sowohl im Konferenzplenum wie in den bilateralen Verhandlungen vom ersten Sitzungstag an hart aufeinander und das, obwohl in den Vorverhandlungen bereits eine gewisse Annäherung der Standpunkte erfolgt war. Entsprechend den Richtlinien f ü r die deutsche Delegation 76 lehnte es Stresemann schon am ersten Verhand-
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Schmidt, Paul, Statist auf diplomatischer Bühne 1923—45. Erlebnisse des Chefdolmetschers im Auswärtigen Amt mit den Staatsmännern Europas, Frankurt a. M./Bonn 1968, S. 88. AFMZV Prag, eingegangene Telegramme, Nr. 997/25: Telegramm Benes' aus Paris v. 30. 9. 1925. Akten zur deutschen Auswärtigen Politik (im folg.: ADAP) 1918—1945, Serie B. 1925-1933, Bd. 1/1, Göttingen 1966, S. 752: Stresemann vor der „Arbeitsgemeinschaft deutscher Landsmannschaften in Groß-Berlin" am 14.12. 1925. Luther, Hans, Politiker ohne Partei. Erinnerungen, Stuttgart 1960, S. 374. Locarno-Konferenz, Nr 24, S. 143.
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lungstag entschieden ab, das Recht Frankreichs auf Garantierung der östlichen Schiedsverträge im Rheinpakt zu verankern. 7 7 Trotz h a r t e n Widerstand Briands, der damit zugleich im Interesse der polnischen und tschechoslowakischen Regier u n g auftrat, konnte sich der deutsche S t a n d p u n k t durchsetzen. Auch in den bilateralen Verhandlungen, die den Schiedsverträgen, galten, mußten die tschechoslowakischen und polnischen Unterhändler in allen entscheidenden P u n k t e n zurückweichen. Stresemann berichtete darüber nach seiner Rückkehr u. a.: „Herr Benesch hatte einen eigenen Entwurf mitgebracht, der enthielt ganz fröhlich einen Ostpakt u n d ü b e r n a h m die Bestimmungen des Westpaktes als P r ä a m b e l zu dem Ostpakt. Als ihm gesagt wurde, er h a b e sich wohl geirrt, er wisse doch, daß wir einen Ostpakt nicht schließen wollten, da erklärte er, er hätte ein falsches Exemplar aus der Tasche gezogen, u n d er holte ein anderes hervor, das etwas anders lautete, aber immer noch ein halber Ostpakt war." 7 8 Dann erst hätten die Verhandlungen begonnen. Diese Episode zeigt, daß Benes in der f ü r die Tschechoslowakei u n d Polen äußerst ungünstigen Verhandlungsposition einen verzweifelten Kampf austrug, der diesen international so e r f a h r e n e n Politiker sogar zu billigen Überrumpelungsversuchen greifen ließ, u m wenigstens ein Mindestmaß an Erfolg zu erzielen. Benes — und nicht weniger Skrzynski — ging es vor allem darum, in den Beziehungen m i t Deutschland den Angriffskrieg als Mittel zur Lösung von Streitfragen auszuschalten, also eine Nichtangriffsverpflichtung in den Schiedsvertrag aufzunehmen. „Diese Verpflichtung sind wir im Westen eingegangen", sagte dazu Stresemann, „wir haben sie f ü r den Osten abgelehnt." Und unter Bezugnahme auf Art. 15, Abs. 7 der Völkerbundssatzung betonte e r : „Auch der Eintritt in den Völkerbund schließt den Krieg nicht aus." 79 Der zweite Streitpunkt bestand darin, daß die tschechoslowakischen und polnischen Delegierten im Bewußtsein dessen, daß eine direkte Anerkennung der Grenzen nicht zu erlangen war, wenigstens auch die Grenzfragen in das Schiedsgerichtsobligatorium aufgenomm e n wissen wollten. Man verlangte, so erläuterte Stresemann seinen Zuhörern diese Forderung, von uns „restlos Schiedsverträge, und das bedeutete, wir sollten alle Fragen, auch die Grenzfragen, lediglich durch Schiedsgericht ein f ü r allemal entscheiden, von jedem anderen Mittel absehen". Auch diese Forderung wies die deutsche Seite, zuletzt sogar brüsk, zurück. Als die Vertreter Polens auf diesen beiden P u n k t e n zu beharren suchten, w u r d e n die Auseinandersetzungen so heftig, daß Friedrich Gaus, der Rechtsexperte der deutschen Delegation, schließlich unverblümt erklärte: „Deutschland lehnt eine Diskussion über die Anerkennung der Grenzen ab, Deutschland lehnt eine Diskussion über Verzicht auf Krieg ab und ist lediglich bereit, über andere Fragen zu diskutieren." 8 0 Wie m a n im Auswärtigen A m t befürchtet hatte, w a r also Benes in bezug auf " Ebenda, Nr. 25, S. 147 ff.; AD AP, Serie B, Bd. 1/1, S. 737. Turner, Henry Ashby, jr., Eine Rede Stresemanns über seine Locarnopolitik, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 15, 1967, S. 423: Rede Stresemanns vor dem DVP-Zentralvorstand am 22.11.1925; ADAP, Serie B, Bd. 1/1, S. 739. vs ' Ebenda, S. 740. w Ebenda; vgl. auch Turner, S. 423 f., 434.
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eine bestimmte Gemeinsamkeit mit Polen „rückfällig" geworden. Die u n t e r schiedslose Behandlung der tschechoslowakischen u n d polnischen Delegationen, die sich deutscherseits mit den gleichen h a r t e n Verzichtsforderungen konfrontiert sahen, ließ die hinsichtlich der entscheidenden Fragen objektiv gleiche Situation, in der sich die CSR u n d Polen gegenüber der Revisionspolitik des deutschen Imperialismus befanden, deutlich werden. Der hieraus resultierende Zwang w a r stärker als alle Versuche Benes', sich von seinem slawischen Nachbarn zu distanzieren. Unter solchen Umständen schien es Stresemann u n d dem Auswärtigen Amt offensichtlich geraten, die Probleme der deutschen Minderheit als Druckmittel in die Verhandlungen einzuführen. Man folgte damit auch den Empfehlungen sowohl des deutschen Gesandten in P r a g wie auch des deutschnationalen Reichstagsabgeordneten Otto Hoetzsch, der kurz zuvor von einer Reise mit A u f enthalt in P r a g zurückgekehrt war. 8 1 Schon im Verlauf des ersten Gesprächs, das zunächst den Problemen des Schiedsvertrages galt, k a m Stresemann auf die Gravamina der Sudetendeutschen zu sprechen. 82 Allerdings mit dem Erfolg, daß Benes diese Klagen als völlig unbegründet zurückwies. Das von Köpke zusammengestellte Material erwies sich als zu wenig konkret, so daß zu dessen „Substantierung" weitere Angaben aus Berlin angefordert wurden. Aber auch diese Aktion f ü h r t e nicht zu einem durchschlagenden Erfolg. K r o f t a machte Stresemann vielmehr den begründeten Vorwurf, daß sich Deutschland über den Schiedsvertrag in die Minderheitsprobleme der CSR einmischen wolle. Und Benes erklärte sich in einem weiteren Gespräch mit Stresemann lediglich dazu bereit, sich den S t a n d p u n k t des Auswärtigen Amtes zu den Problemen der Sudetendeutschen erläutern zu lassen, und zwar mit dem ausdrücklichen Vorbehalt, daß es u m eine innerpolitische Angelegenheit der Tschechoslowakei gehe. 83 Immerhin w a r dies ein halbes Zugeständnis an Stresemann, der den Anspruch erhob, in Fragen der Sudetendeutschen eine „Vermittlerrolle" zu spielen. Der Zug mit dem sudetendeutschen Bauern d ü r f t e es aber k a u m gewesen sein, der die Locarnopartie zwischen Stresemann u n d Benes zugunsten des deutschen Außenministers entschied. Entscheidend f ü r die politische Niederlage, die von der Tschechoslowakei wie von Polen in Locarno hingenommen w e r d e n mußte, w a r die feste Absicht der britischen Monopolbourgeoisie, Deutschland mit Hilfe des Rheinpakt-Kompromisses in die einheitliche antisowjetische Front der Imperialisten einzubeziehen. 84 Dieses Konzept wollte m a n sich durch Rücksichtnahme auf die Interessen der östlichen Nachbarn Deutschlands nicht verderben lassen. Vergleicht m a n die in Locarno paraphierten Verträge untereinander, so wird die Benachteiligung der östlichen Nachbarn Deutschlands evident. 81
PA Bonn, Büro RM, Tschechoslowakei, Bd. 2, S. D 617 842 f.: als „streng vertraulich" bezeichneter Bericht Hoetzschs an AA vom 8. 10. 1925. Hoetzsch hatte in Prag mit Benes, dem Leiter der Präsidentenkanzlei Sämal und mit sudetendeutschen Politikern konferiert. s - Stresemann, Vermächtnis, Bd. 2, S. 193. *> Vgl. Alexander, S. 155-157. Vgl. Rüge, Deutschland von 1917 bis 1933, S. 280.
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Im Westen garantierten sich Deutschland, Frankreich und Belgien die Aufrechterhaltung des territorialen Status quo, die Unverletzlichkeit der Versailler Grenzen, indem sie sich ausdrücklich verpflichteten, keinen Angriffskrieg gegeneinander zu führen. Großbritannien und Italien fungierten als zusätzliche Garanten. Die von Deutschland mit Frankreich und Belgien abgeschlossenen Schiedsverträge bezogen sich direkt auf den Rheinpakt und legten den Modus für die friedliche Beilegung von Streitfällen fest.85 Im Unterschied dazu fehlten in den Schiedsverträgen, die Deutschland mit der Tschechoslowakei und mit Polen schloß, sowohl die Verpflichtung, die Unverletzlichkeit der Grenzen, den territorialen Status quo zu achten, wie auch der ausdrückliche Verzicht auf Krieg. Außerdem gab es keinerlei inhaltlich-rechtliche Verbindung zum Rheinpakt, zu einer Garantie durch die Großmächte. In der Präambel wurde nach der allgemeinen Versicherung, den Frieden zwischen den Partnern aufrechtzuerhalten und Streitigkeiten friedlich zu regeln, zwar festgestellt, „daß die Rechte eines Staates nur mit seiner Zustimmung geändert werden können".86 Stresemann erläuterte diese Formulierung seinem Parteivorstand jedoch zynisch in folgender Weise: „Es gibt Möglichkeiten friedlicher Änderungen, es gibt Möglichkeiten freiwilliger Zustimmung, und es gibt Möglichkeiten kriegerischer Änderungen mit gezwungener Zustimmung, aber immer geschieht es mit Zustimmung. Das bedeutet dieser Satz."87 Außerdem enthielt die Präambel nur noch den Satz, „daß die aufrichtige Beobachtung des Verfahrens zur friedlichen Regelung der internationalen Streitigkeiten die Möglichkeit gibt, ohne Anwendung von Gewalt die Fragen zu lösen, die die Staaten entzweien könnten".88 Das ist eine absolute Selbstverständlichkeit und ebenfalls kein Verzicht auf Waffengewalt. Zu Recht konnte sich daher Stresemann hinter die Auslegung von Gaus stellen, daß „die ganze Präambel nichts sagt".89 In den Artikeln wird dann lediglich das Schiedsverfahren festgelegt. Mit dieser Anlage der östlichen Schiedsverträge behielt sich die deutsche Regierung den Krieg für den Fall vor, daß das Schiedsverfahren mit der Uneinigkeit des Völkerbundsrates endete und der Einsatz von Waffengewalt nach der Völkerbundssatzung somit legal würde. Durch den Rheingarantiepakt und die unterschiedlich angelegten Schiedsverträge erhielten die ursprünglich gleichwertigen Versailler Grenzen Deutschlands einen unterschiedlichen Charakter, stieg die Wertigkeit der deutschen Westgrenzen auf Kosten der Ostgrenzen. Das bedeutete objektiv eine Einbuße an Sicherheit für die Tschechoslowakei und für Polen. Die französische Regierung, die gegen den
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Locarno-Konferenz, Nr. 26, A n l a g e A , S. 198 ff.: Vertrag zwischen Deutschland, Belgien, Frankreich, Großbritanien und Italien; A n l a g e B, S. 202 ff.: gleichlautende Schiedsabkommen zwischen Deutschland und Belgien bzw. Frankreich. Ebenda, A n l a g e D, S. 209: gleichlautende Schiedsabkommen zwischen Deutschland und Polen bzw. der Tschechoslowakei.
a/
Turner, S. 425; vgl. eine wesensgleiche Äußerung von Reichskanzler Luther, zit. bei
sti
Rüge, Deutschland von 1917 bis 1933, S. 531 A n m . 28. Locarno-Konferenz, Nr. 26, A n l a g e D, S. 209.
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Turner, S. 424; vgl. auch A D A P , Serie B, Bd. 1/1, S. 741.
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britischen und deutschen Widerstand eine kollektive Garantie für die Ostgrenzen nicht hatte durchsetzen können, versuchte diese Niederlage durch eine einseitige Garantie der östlichen Schiedsverträge wenigstens zum Teil auszugleichen. In gleichlautenden Verträgen90 verpflichteten sich Frankreich und die Tschechoslowakei bzw. Polen unter Bezugnahme auf Art. 16 und 15, 7 der Völkerbundssatzung wechselseitig zu unverzüglicher Hilfe und Unterstützung, falls die mit Deutschland abgeschlossenen Verträge durch einen nichtprovozierten Angriff verletzt würden. Aus diesem Vertrag erwuchsen Frankreich für den Fall eines deutschen Angriffs auf die östlichen Verbündeten jedoch keine anderen Eingreifmöglichkeiten, als sie durch die Völkerbundssatzung ohnehin gegeben waren. Denn einmal hatte sich Frankreich durch den Rheinpakt zur Unverletzlichkeit der deutschen Westgrenze verpflichtet, zum anderen bedeutete die von den Teilnehmern der Locarnokonferenz abgegebene Kollektiverklärung zum Artikel 1691 faktisch den Verzicht auf das Recht des Durchmarsches durch Deutschland. Die Einschränkung auf den unprovozierten Angriff setzte die französischen Eingreifmöglichkeiten weiter herab. Da eine Definition des Aggressors nicht existierte, war Frankreich in jedem komplizierten Falle an die Entscheidung des Völkerbundsrates gebunden. So hatte Frankreich trotz dieser Zusatzverträge weniger Möglichkeiten, seinen östlichen Verbündeten zu helfen, als sie sich vor Locarno aus den mit Polen und der CSR bestehenden Bündnisverträgen ergeben hatten. Mit völliger Berechtigung konnte daher Stresemann vor der Dresdener Presse am 31. Oktober 1925 sagen: „Das Abkommen, das Frankreich jetzt mit Polen und der Tschechoslowakei geschlossen hat, kann jeden Tag ein Staat mit einem anderen abschließen. Ein Bündnis in der bisherigen Weise ist es nicht, mehr." 92 Die beiden Garantieverträge hatten also nicht mehr als moralische Bedeutung und sollten der Besorgnis entgegenwirken, die in der Tschechoslowakei wie in Polen über das Ergebnis von Locarno zu erwarten war. Sie zählten nicht zum Paket der Locarnoverträge, wurden im Schlußprotokoll lediglich als Mitteilung Briands über ihren Abschluß erwähnt und von der deutschen Delegation demonstrativ nicht zur Kenntnis genommen.93 In den vertraglichen Vereinbarungen von Locarno kam die Verschlechterung der außenpolitischen Situation der Tschechoslowakei — wie auch Polens — eindeutig zum Ausdruck. Dagegen konnte das imperialistische Deutschland auf der ganzen Linie Erfolge verbuchen. Es war nicht nur als gleichberechtigte Großmacht anerkannt, sondern hatte seitens der ehemaligen Siegermächte Zugeständnisse erreicht, die ein rasches ökonomisches, politisches und bald auch militärisches Wiedererstarken sicherten. In klarer Erkenntnis des Zusammenhangs, daß Deutschland durch die Locarnopolitik der Westmächte „für eine westliche GeLocarno-Konferenz, Nr. 27, S. 216 f. Ebenda, Nr. 26, Anlage F zum Locarno-Pakt vom 16.10. 1925, S. 214 f. !C Stresemann, Vermächtnis, Bd. 2, S. 213. 'Jö Locarno-Konferenz, Nr. 26, Schlußprotokoll, S. 197. Reichskanzler Luther schreibt in'seinen Erinnerungen in bezug auf die beiden Verträge: „Wir nahmen amtlich überhaupt keine Kenntnis von diesen Vereinbarungen" (Luther, S. 375). su
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meinschaft gewonnen werden sollte, u m dadurch eine geschlossene westeuropäische Front gegen den Bolschewismus zu bilden" — wie es in einer Aufzeichnung des Auswärtigen Amtes hieß 94 —, hatte sich die deutsche Delegation, namentlich indirekt, das „Recht" auf die Revision der deutsch-tschechoslowakischen u n d der deutsch-polnischen Grenze verbriefen lassen. Auf diese Weise „freie Hand im Osten" 9 5 erhalten zu haben, w a r deutscherseits die wichtigste Bedingung f ü r den Abschluß des Rheinvertrages u n d den Eintritt in den Völkerbund, mit dem die Locarnoverträge in K r a f t treten sollten. Stresemann war sich natürlich darüber im klaren, daß die Möglichkeit zur Revision der Ostgrenzen sich erst im Verlauf einer weiteren Veränderung des Kräfteverhältnisses zugunsten des deutschen Imperialismus bei gleichzeitiger Schaffung einer international günstigen politischen Atmosphäre durch die deutsche Diplomatie ergeben würde. Aber daß die regierenden Kreise Deutschlands mit einer derartigen Entwicklung rechneten, ergibt sich aus mehreren Zeugnissen. So äußerte z. B. Stresemann: „Und wenn in dieser Zeit der Westen saturiert ist durch die Sicherung der Grenze, dann hat er auch nicht mehr logisch die Berechtigung, sich gegen die Entschädigung Deutschlands auf der anderen Seite zu wenden." 9 6 Überdies wurde das Zugeständnis der ehemaligen Siegermächte, daß Grenzen verändert werden können, als Hebel zur Aushöhlung des gesamten Versailler Systems betrachtet. 9 7 Von dieser Position aus wandte sich Stresemann auch gegen den Vorwurf der Deutschnationalen, der Rheinpakt sei Ausdruck einer Verzichtspolitik. Einmal beinhalte der Garantiepakt, so erläuterte der Außenminister, n u r die Verpflichtung, die Grenze nicht durch Krieg zu verändern. Ein „moralischer Verzicht" auf Elsaß-Lothringen sowie Eupen Malmedy sei also nicht ausgesprochen worden. Zum anderen stehe schließlich „jeder Vertrag unter der ungeschriebenen Klausel: rebus sie stantibus, wenigstens ist das stets der Sinn der Weltgeschichte gewesen". 9 8 Das heißt nichts anderes, als daß sich der deutsche Imperialismus das „moralische Recht" zur Grenzveränderung auf dem Wege eines Aggressionskrieges auch im Westen vorbehielt. Was f ü r den Westen galt, traf auf den Osten u m so mehr zu. Am 2. November 1925 schrieb die offiziöse „Deutsche diplomatisch-politische Korrespondenz" in einer Polemik mit Benes unverblümt, daß m a n in Deutschland sehr wohl mit der Möglichkeit eines Krieges gegen die Tschechoslowakei bzw. gegen Polen rechne, zumal m a n sich durch den Rheinpakt gegenüber Frankreich Rückendeckung verschafft habe. 99 Somit hatte die deutsche Delegation in Locarno auch den ihr vom Kabinett gestellten A u f t r a g
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AD AP, Serie B, Bd. 1/2, Göttingen 1968, S. 264: Aufz. v. 26. 9. 1926 ohne Unterschrift. Aus einer an Hindenburg gerichteten Erläuterung des AA zum Sinn des Sicherheitspaktes. Zit. nach Rüge, Deuschland von 1917 bis 1933, S. 282. Turner, S. 430; vgl. auch die wesensgleiche Äußerung Stresemanns in AD AP, Serie B, Bd. 1/1, S. 743. Vgl. Rüge, Hindenburg, S. 277 f.; Anderle, Alfred, Die deutsche Rapallo-Politilc. Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922-1929, Berlin 1962, S. 184; Turner, S. 425. Turner, S. 425; vgl. auch AD AP, Serie B, Bd. 1/1, S. 738, und Stresemann, Vermächtnis, Bd. 2, S. 212. Locarno-Konferenz, S. 19 f.
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erfüllt, bei aller Betonung des deutschen „Friedenswillens" sich den Krieg als Ultima ratio vorzubehalten. Es war gelungen, die entsprechenden Fußangeln in die Verträge einzubauen. Aus den Sitzungsprotokollen des Reichskabinetts zur Locarnoproblematik vom Sommer und Herbst des Jahres 1925 geht hervor, daß dort kein einziger Gedanke dazu geäußert wurde, wie ein Krieg zu vermeiden und der Frieden zu sichern sei. Vielmehr gingen alle Minister — ob die Deutschnationalen Schiele und Kanitz, der zur DDP gehörende Reichswehrminister Geßler oder der DVP-Vorsitzende Stresemann — davon aus, daß die Ziele der deutschen Revesionspolitik letztlich nur durch Waffengewalt zu erreichen seien und man sich den Weg zum Krieg daher offenhalten müsse. 100 Stresemann rechnete im Unterschied zu den Militärs allerdings mit längeren Fristen f ü r das Wiedererstarken des deutschen Imperialismus und hielt daher den Einsatz der Waffen erst zu einem späteren Zeitpunkt f ü r möglich. 101 Sogar die prinzipielle Zusicherung, zu gegebener Zeit wieder aufrüsten zu können, vermochte Deutschland in Locarno zu erreichen. Die führenden Kreise des deutschen Imperialismus registrierten dies sowie weitere, wenn auch zunächst noch wenig konkrete Zusagen über die allmähliche Abschaffung der Rüstungsbeschränkungen, die Aufhebung der Militärkontrolle, die Wiedergewinnung der Lufthoheit, den vorzeitigen Abzug der Besatzungstruppen u. ä.102 positiv. Sie dachten aber nicht daran, lediglich die Rolle eines Juniorpartners in den antisowjetischen Umtrieben der Londoner City zu spielen. Vielmehr sollten diese Zugeständnisse genutzt werden, um Handlungsfreiheit zu gewinnen und die in der ersten Etappe gegen Polen und die Tschechoslowakei, dann aber auch gegen den Westen gerichteten eigenen Revisionspläne militärisch abzusichern. Das Verhältnis zur Sowjetunion gedachte der deutsche Imperialismus auch weiterhin in eigener Regie zu gestalten. Alle Fraktionen der deutschen Bourgeoisie waren sich — über taktische Differenzen hinweg — im Grunde darin einig, Locarno als einen Waffenstillstand anzusehen, der dazu genutzt werden sollte, die materiellen Voraussetzungen f ü r die geplante zweite Runde der militärischen Auseinandersetzung zur Neuordnung Europas zu schaffen. Benes erkannte sehr wohl, daß die Tschechoslowakei in Locarno eine schwere Niederlage erlitten hatte. Vor der internationalen und namentlich der politischen Öffentlichkeit seines Landes freilich gab er dies nicht zu, sondern suchte eine euphoristische Stimmung zu verbreiten. Schon die Analyse der aus Locarno täglich gegebenen Informationsberichte zeigt, daß Benes zwei Arten von Telegrammen absandte. Die an den Präsidenten und die Regierung gaben ein relativ exaktes, wenn auch optimistisch gefärbtes Bild des Verhandlungsverlaufes. Die f ü r die Presseinformation bestimmten Depeschen verschoben nicht nur vom iuu v g l Dichtl/Ruge, Zu den Auseinandersetzungen innerhalb der Reichsregierung über den Locarnopakt 1925, Dok. Nr. 1, S. 70; Rüge, Hindenburg, S. 279 f.; Locarno-Konferenz, S. 20, 33; AD AP, Serie B, Bd. II/2, Göttingen 1967, S. 7. 1U1 Vgl. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 2, S. 246. Locarno-Konferenz, S. 35.
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ersten Tag an die Proportionen stets zugunsten der Tschechoslowakei und Frankreichs, sondern stellten in zunehmendem Maße eine direkte Irreführung der tschechoslowakischen Öffentlichkeit über die Verhandlungsergebnisse dar. Benes gab z. B. am 10. Oktober 1925 seinem Ministerium vertraulich folgende sachlich zutreffende Nachricht: „Die Deutschen weigern sich, in unserem Schiedsvertrag eine direkte Erklärung anzunehmen, daß sie keinen Krieg führen werden . . . Mir scheint, daß wir die Deutschen nicht zu einer positiven und ausdrücklichen Erklärung über den Krieg f ü r die Zukunft bewegen werden." 103 In völligem Gegensatz hierzu gab er vier Tage später die Anweisung, in dieser Kernfrage die Presse so zu instruieren, daß „unser Vertrag mit Deutschland Konflikte mit unserem größten Nachbarn ausschließt . . . Die Deutschen und die ganze Konferenz haben einmütig konstatiert, daß es zwischen uns und Deutschland Schwierigkeiten irgendwelcher Art nicht gibt und nicht geben wird." 104 Nach Prag zurückgekehrt, setzte Benes die Taktik des doppelten Gesichts fort. So wie er in Locarno seine auf der ganzen Linie erlittenen Mißerfolge mit äußerlich heiterer Miene trug 105 , zeigte er sich auch vor dem Ständigen Ausschuß der Nationalversammlung am 30. Oktober 1925 mit dem Ergebnis von Locarno vollauf zufrieden und f ü r die Zukunft optimistisch. Benes interpretierte in völliger Übereinstimmung mit dem Regierungspazifismus der imperialistischen Großmächte wortreich und phrasenhaft Locarno als „bedeutende Erhöhung der europäischen Sicherheit". Mit einem logischen Salto mortale leitete der Prager Außenminister aus dem Rheinpakt die „direkte und indirekte Sicherung" f ü r die Tschechoslowakei ab, denn „der Friede am Rhein bedeute auch Frieden im Süden Deutschlands und in Mitteleuropa". Der sogar von deutschen Diplomaten als Autorität in Völkerbundsfragen anerkannte CSR-Außenminister gab zudem eine den rechtlichen Gegebenheiten und politischen Konsequenzen der französischen Garantieverträge entgegengesetzte Deutung. Er kam zu der Schlußfolgerung, daß seine über sieben Jahre verfolgte Politik ihr „Ziel erreicht und den bisherigen Garantien unserer Sicherheit neue, direkte und indirekte von großem politischen Wert hinzugefügt" habe. 100 In Wirklichkeit hatte Benes in Locarno nicht in einer einzigen Frage sein Ziel erreicht, hatte sich sowohl formalrechtlich wie besonders außenpolitisch die Lage der Tschechoslowakei wesentlich verschlechtert. va
Zit. nach Brach, S. 687. u)4 AFMZV Prag, eingeg. Telegramme, Nr. 1 059/25: Telegr. Benes' aus Locarno v. 14. 10. 1925. loa Darüber erzählte Stresemann am 14. 12. 1925 seinen Zuhörern: „Die Psychologie der Herren war eine verschiedene. Herr Benes, dieser geschickte Politiker, tat, nachdem er nichts durchgesetzt hatte, so. als wenn es der Fall wäre; er lachte über das ganze Gesicht, freute sich. Herr Skrzyriski konnte seine Erregung nicht verbergen" (ADAP, Serie B, Bd. 1/1, S. 740). 100 Benes, S. 354—357; vgl. auch Dokumenty a materiály k déjinám ceskoslovenskosovétskych vztahú (Dokumente und Materialien zur Geschichte der tschechoslowakisch-sowjetischen Beziehungen), Teil 2, Prag 1977, Dok. Nr. 148, S. 203 f.: telegrafischer Bericht Benes' an die CSR-Botschaft in London über eine Einschätzung Locarnos, die er dem britischen Journalisten und Verleger Henry Wickham Steed zum Zwecke der Verbreitung in Großbritanien gegeben hatte.
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Im besonderen beschwor Benes die mit Locarno angeblich eingeleitete „neue Periode" in den Beziehungen zu Deutschland, „unserem größten Nachbarn". Es entsprach dem eigensüchtigen, auf Bewahrung ihres Besitzstandes bedachten Interesse der tschechischen Großbourgeoisie, wenn ihr Außenminister seinen Wünschen folgenden Ausdruck gab: In Locarno sei es zu einer „freundschaftlichen Regelung unseres Verhältnisses ohne Schwierigkeiten, ohne Krisen, ohne Opfer der einen oder der anderen Seite gekommen". Er habe mit Stresemann und Luther Ubereinstimmung darin erzielt, daß „es zwischen beiden Staaten keine Widersprüche gibt, weder hinsichtlich der Grenzen noch anderer Art und daß zwischen ihnen der Weg zu einem gutnachbarlichen Verhältnis und zu einer freundschaftlichen Koexistenz weit geöffnet sei". Der Schiedsvertrag werde „unser gutes Verhältnis auf lange Zeit besiegeln". 107 Auch hierbei ging Benes über die ihm sehr gut bekannten Tatsachen hinweg. Tiefgehende Meinungsverschiedenheiten gab es in der Frage der deutschen Minderheit in der CSR, was die Gespräche mit Stresemann in Locamo erneut deutlich gemacht hatten. Stresemann hatte in diesen Verhandlungen nur jene Linie weitergeführt, die von den Regierenden des Deutschen Reiches schon im Jahre 1918 eingeschlagen worden war. Noch kurz vor Locarno hatte Stresemann im Hamburger Fremdenblatt betont, daß zwischen Deutschland als dem „Vorkämpfer f ü r das Selbstbestimmungsrecht der Völker" und der Tschechoslowakei die Probleme „Deutschböhmen und Verhinderung des Anschlusses" stünden. 108 Locarno hatte keine dieser Fragen eliminiert. So erklärt sich der abschließende Appel Benes', auch im Innern der Tschechoslowakei „bei allen Klassen und Nationalitäten, namentlich auch bei den Deutschen", aus der in Locarno angeblich erzielten allgemeinen internationalen Konsolidierung die richtigen Schlüsse zu ziehen und „die friedliche und loyale Zusammenarbeit" zu beschleunigen. 109 Im Gegensatz zu den kaschierenden Phrasen und beschwörenden Formeln des Außenministers schrieben die „Närodni Listy", das Organ der oppositionellen Nationaldemokraten, die Benes stürzen wollten: „Seit der Inaugurierung der Locarnopolitik, welche eine schwere Niederlage unserer Außenpolitik darstellt, wenn auch bei uns hiervon nicht gesprochen wird, betont Deutschland auch in halboffiziösen Kundgebungen, daß es entschlossen sei, eine Grenzänderimg im Osten und Süden zu erzwingen. Es ist wahr, daß Stresemann auf unsere Anfrage hin antwortete, daß Deutschland nur polnisches Gebiet und den Anschluß Österreichs, aber keine Änderung der tschechoslowakischen Grenze fordere. Nur ist die Frage, ob der deutsche Appetit nach Verdauung Österreichs, Schlesiens und Posens innehalten wird. Wird die Angriffslust an den tschechoslowakischen Grenzen haltmachen?" 110 Die Erfahrungen mit dem deutschen Imperialismus aus der Zeit des ersten Weltkrieges, mit dem Erstarken des Revanchismus namentlich seit dem Übergang zur "" Ebenda, S. 357. lus Stresemann, Vermächtnis, Bd. 2, S. 171 f.: anonymer Artikel v. 14. 9. 1925. 1UM Benes, S. 359. "" PA Bonn, Abt. II b, Polit. Bez. d. Tschechoslowakei zu Deutschland, Bd. 6, S. L120 728: Bericht Kochs v. 22.12.1925. 14 Jahrbuch 24
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relativen Stabilisierung ließen diese Fragestellung schon damals als durchaus berechtigt erscheinen. Abgesehen von den Vorgängen während des zweiten Weltkrieges u n d seiner Vorgeschichte, als diese Befürchtungen ihr volle Bestätigung fanden, k a n n die historische Forschung nachweisen, daß der deutsche Imperialismus bereits unmittelbar nach Locamo zielstrebig daran arbeitete, die außenpolitischen Bedingungen f ü r die geplante Aggression gegen die Tschechoslowakei zu schaffen. Im Hinblick auf Benes' Exposé vom 30. Oktober gab das Berliner Auswärtige A m t der Presse folgende Orientierung: „Der Bewertung des Vertragswerkes von Locamo darf m a n nicht die empfehlenden Worte zu G r u n d e legen, die der u m die Existenz k ä m p f e n d e Außenminister der Tschechoslowakei gewählt hat, sondern vielmehr die Reden, die von den F ü h r e r n der Opposition gegen diese Verträge gehalten wurden, wie z.B. diejenige Stronskis im Polnischen Sejm, in der betont wird, daß die Lebensnotwendigkeiten Polens nicht g e w a h r t worden sind." 111 In der Tat wird diese Einschätzung, die zugleich eine treffende Selbstentlarvung der gleichsam im diplomatisch-pazifistischen Schafspelz a u f tretenden Aggressionsstrategen des Auswärtigen Amtes darstellt, den objektiven historischen Zusammenhängen weitgehend gerecht. Der polnische wie auch der tschechoslowakische Staat w u r d e n seitens des deutschen Imperialismus lediglich als Provisorium betrachtet. Die Haltlosigkeit der Auslassungen Benes' über die Entwicklung eines „freundschaftlichen" Verhältnisses zum imperialistischen Deutschland wird daran erneut deutlich. Der deutsche Imperialismus w a r vielmehr bemüht, die in Locamo gegenüber Frankreich und dessen östlichen Verbündeten erzielten Erfolge auszubauen. Nach Locamo verstärkten sich die revanchistischen Aktivitäten des deutschen Imperialismus — auch gegenüber der Tschechoslowakei. 112 Die Verschlechterung der internationalen Lage der Tschechoslowakei lag auch darin begründet, daß Frankreich als ihr wichtigster Verbündeter nicht n u r seine europäischen Hegemonieansprüche begraben, sondern auch einen direkten Machtverlust hinnehmen mußte. Frankreich ging am Rhein notgedrungen von der Offensive zur Defensive gegen die sich intensivierende Revisionspolitik des deutschen Imperialismus über. Auch daß Großbritannien, dessen herrschende Kreise ihr Desinteressement a n Ost- u n d Südosteuropa erklärt hatten, mit Loc a m o die Rolle eines Schiedsrichters in Europa einnahm, w a r f ü r die tschechoslowakische Außenpolitik keineswegs ein Pluspunkt. Die verstärkten Bemühungen der USA-Dollardiplomatie, die namentlich dem n u n m e h r wieder als gleichberechtigte Großmacht anerkannten Deutschland zu weiterem Erstarken verhalf, rundeten das Bild der Verschiebungen im Kräfteverhältnis des kapitalistischen Europa, das in jeder Hinsicht n u r ungünstige Auswirkungen auf die internationale Position der Tschechoslowakei hatte. 111
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Ebenda, Büro RM, Tschechoslowakei, Bd. 2, S. D 617 846: Telegramm Schuberts an Koch v. 3.11.1925. Vgl. Fuchs, Gerhard, Von Locamo nach München, in: Jahrbuch für Geschichte der UdSSR und der volksdemokratischen Länder Europas, Bd. 12, Berlin 1968, S. 147 ff.; ders., Der Imperialismus der Weimarer Republik und die Lebensinteressen der tschechischen und slowakischen Volkes, in JGSLE, Bd. 18/2,1974, S. 21 ff.
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Die Sicherheitsinteressen der Tschechoslowakei und Polens, schließlich auch die Lebensinteressen ihrer Völker, wurden den antisowjetischen Ambitionen der ökonomisch und politisch entscheidenden Kreise des Monopolkapitals aller an Locarno direkt oder indirekt beteiligten Großmächte, besonders Großbritanniens, geopfert. Der Antisowjetismus war das verbindende Moment, das die rivalisierenden Mächte und Kontrahenten über alle imperialistischen Widersprüche hinweg zu einem Kompromiß kommen ließ. Diese Zusammenhänge hat die marxistische Geschichtsforschung, vor allem die der Sowjetunion, unwiderlegbar nachgewiesen. 113 Die Mehrzahl der bürgerlichen Historiker der BRD, die sich der Geschichte der deutsch-tschechoslowakischen Beziehungen widmen, ist seit dem Ende der 60er Jahren von der bis dahin dominierenden offen revanchistischen, antitschechoslowakischen Position zu einer elastischeren Taktik übergegangen. Dies hängt offensichtlich damit zusammen, daß der Imperialismus der BRD unter dem Druck des veränderten internationalen Kräfteverhältnisses den Kurs einer „neuen Ostpolitik" eingeschlagen hat. In dem Bestreben, das aggressive Wesen dieses Staates „demokratisch und friedlebend" zu drapieren, konstruieren diese Historiker Traditionslinien in die Vergangenheit. So wird versucht, die These glaubhaft zu machen, daß die „demokratische" Tschechoslowakei und die „demokratische" Weimarer Republik von Anfang an ein Beispiel f ü r „korrekte Beziehungen" gegeben haben. Erst unter dem Hitlerregime hätten sich deutsche Expansionspläne gegen die Tschechoslowakei gerichtet. 114 Die „Staatsleitungen in Berlin wie in Prag" seien „mit Erfolg darum bemüht gewesen . . . , ihre Beziehungen zueinander auf die Grundlage eines gutnachbarlichen Einvernehmens zu stellen" 115 , doch die Entwicklung seit 1933 habe diese Bemühungen der „demokratischen Politiker" scheitern lassen. Die Locarnoproblematik wird in diese Konstruktion eingepaßt. Manfred Alexander, der als erster bürgerlicher Historiker eine Monographie über die deutsch• tschechoslowakischen Beziehungen in der Locarno-Ära vorgelegt hat, unternimmt 113
Vgl. Turok, V. M., Lokarno, Moskau 1949, passim; Truchanovskij, V. G. Venesnajaja politika Anglii na pervom etape obscego kriziska kapitalizma (1918—1939 gg.), Moskau 1962, S. 137 ff.; Nikonova, S. V., Germanica i Anglija ot Lokarno do Lozanny, Moskau 1966, S. 22 ff.; Karoj, Laslo, Velikobritanija i Lokarno, Moskau 1961, passim; Jerussalimski, A. S., Der deutsche Imperialismus. Geschichte und Gegenwart, Berlin 1968, S. 374 ff. 11/1 Vgl. Fuchs, Der Imperialismus der Weimarer Republik, S. 26 ff. 1Lr ' Burian, Peter, Die ungarisch-tschechoslowakischen Beziehungen als europäisches Problem, in: Gleichgewicht — Revision — Restauration. Die Außenpolitik der Tschechoslowakischen Republik im Europasystem der Pariser Vorortverträge, München/Wien 1976, S. 318. Der Amerikaner F. G. Campbell kommt den tatsächlichen Zusammenhängen näher, wenn er schreibt: „Die Weimarer Republik zielte (hier wäre einzufügen „noch" — G. F.) nicht auf territoriale Annexionen hin, sondern vielmehr auf die Verwendung der Sudetendeutschen und Österreicher im Falle einer eventuellen Wiederbegründung eines von Deutschland geführten Mitteleuropas" (Campbell, F. Gregory, Der unabhängige tschechoslowakische Staat und Deutschlands Machtstellung in Zentraleuropa, ebenda, S. 213).
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unter Ignorierung der Ergebnisse der marxistischen Forschung den Versuch, Locarno im allgemeinen und der Politik Stresemanns gegenüber der Tschechoslowakei im besonderen eine positive Wertung zu geben. Alexander löst Locarno aus dem weltpolitischen Gegensatz zwischen den imperialistischen Ländern und der sozialistischen Sowjetunion heraus. Er ignoriert alle Zeugnisse der namentlich vom britischen und amerikanischen Monopolkapital und dessen politischen Interessenvertretern betriebenen antisowjetischen Blockbildung und hält an Locarno für „staunenswert, wie wenige J a h r e nach Ende des ersten Weltkrieges die verantwortlichen Politiker den Grundstein für eine friedliche Ordnung legten und in offiziellen Diskussionen eine dauerhafte Verständigung auf der Grundlage von Recht und Billigkeit suchten". 1 1 6 Alexander begibt sich damit auf die Ebene des haltlosen Propagandageschwätzes der zeitgenössischen Regierungspazifisten über den „Geist von Locarno". Daher erwähnt dieser Autor auch mit keinem Wort die Tatsache, daß der britische Imperialismus die deutschen Revisionsforderungen im Osten vor allem aus antisowjetischen Gründen unterstützte. Überdies betrachtet Alexander — im Einklang mit der deutschen imperialistischen Publizistik und Geschichtsschreibung seit 1919 — die Forderung auf Revision der Ostgrenzen als durchaus legitim, auch daß sich die deutsche Regierung in den Locarnoverträgen die „Möglichkeit offen"hielt, gegen die östlichen Nachbarn „zu den Waffen zu greifen". 1 1 7 Dies soll freilich durch die Beteuerung entschärft werden, daß es sich hierbei nur um die Anmerkung eines politisch-moralischen Rechts, keineswegs jedoch um konkrete Aggressionsabsichten gehandelt habe. Über alle Quellenerzeugnisse, die beweisen, daß auch das Kabinett Luther langfristig den Aggressionskrieg ansteuerte, geht Alexander mit Schweigen hinweg, Der deutsch-tschechoslowakische Schiedsvertrag, so behauptete Alexander, habe zu einer „Besserung der nachbarlichen Beziehungen zweier Staaten" geführt, mit ihm sei der „Schlüssel für eine gedeihliche friedliche Zukunft gegeben" 1 1 8 gewesen. Um diese Behauptung plausibel zu machen, konstruiert er einen grundlegenden Unterschied zwischen der deutschen. Politik gegenüber Polen und der gegenüber der Tschechoslowakei. Als „Beweis" dient ihm die unterschiedliche Taktik des Auswärtigen Amtes gegenüber Prag und Warschau auf dem Wege nach Locarno. Territoriale Forderungen an die Tschechoslowakei oder gar eine Abtretung der Sudetengebiete wie 1938 seien 1925 „in den Überlegungen des Auswärtigen Amtes" nicht vorgekommen. 1 1 9 Alexanders fragwürdigen Auswahlprinzipien ist neben anderen Quellenstücken offenbar auch jener Band aus dem Stresemann-Nachlaß zum Opfer gefallen, der die Denkschrift vom 13. Januar 1925 enthält. Außerdem möchte Alexander seine positive Wertung des Schiedsvertrages damit untermauern, daß er auf die taktisch motivierten, den Tatsachen widersprechenden euphorischen Ausführungen Benes' vor dem Ständigen Ausschuß der Na-
11!i 1111
Vgl. Alexander, S. 199. Ebenda, S. 157. Ebenda, S. 198. Ebenda, S. 33.
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tionalversammlung und eine angeblich „allgemeine und begeisterte Zustimmung" der tschechoslowakischen Presse zu Locarno hinweist.120 Hier läßt Alexander elementare Grundsätze der Quellenkritik unbeachtet. Die Locarnoverträge im allgemeinen und die hier getroffenen Regelungen des Verhältnisses zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei im besonderen als „einen gelungenen Kompromiß" 121 bezeichnen, bei dem niemand verloren habe, kann nur jemand, der sich auf die Positionen des deutschen Imperialismus stellt. Gewiß ist die für Deutschland in Locarno im Hinblick auf die Beziehungen zwischen den Mächten erzielte Gleichberechtigung an sich „kein Anzeichen für eine aggressive Politik".122 Das aggressive Wesen des deutschen Imperialismus auch in der Locarno-Ära kommt im Inhalt seiner langfristigen Revisions- und Expansionskonzeption zum Ausdruck, die in den Vertragstexten indirekt, vor allem aber an internem Material auch direkt faßbar wird. So waren also Locarno und der deutsch-tschechoslowakische Schiedsvertrag keineswegs ein — wie, Alexander meint — „Ausdruck dafür, daß sich die korrekten Beziehungen zu einer freundschaftlichen und relativ problemarmen Nachbarschaft gewandelt hatten". 123 Vielmehr blieben alle 'imperialistischen Gegensätze zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei bestehen, verschärften sich sogar, und schließlich fiel — über mehrere Peripetien hinweg — der selbständige tschechoslowakische Staat der von der Policy of appeasement der Westmächte geförderten Aggressionspolitik des deutschen Imperialismus zum Opfer. ™ Ebenda, Ebenda, Ebenda, tA! Ebenda,
S. S. S. S.
164. 160. 164 Anm. 63. 196.
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Grenzrevision und Minderheitenpolitik des deutschen Imperialismus. Der Europäische Minderheitenkongreß als Instrument imperialistischer deutscher „Revisionsstrategie" 1925-1930
Der erste Versuch des deutschen Imperialismus, Europa zu unterjochen und seine Weltherrschaft zu errichten, erlitt 1918 ein Fiasko. 1 Seinem Charakter nach stellte der erste Weltkrieg einen imperialistischen Krieg dar2, der nicht mit einem demokratischen Frieden endete, sondern mit einem System imperialistischer Friedensdiktate, die das neue Kräfteverhältnis innerhalb der kapitalistischen Welt widerspiegelten. Während die Siegerstaaten um die Behauptung und den Ausbau der im Kriege errungenen Positionen gegenüber den niedergeworfenen Staaten bemüht waren, wobei zwischen ihnen selbst ernste Widersprüche zutage traten, kämpften andererseits die besiegten Staaten um die Wiedergewinnung der verlorenen Machtpositionen und die Erringung neuer Einflußbereiche, i n der Gruppe der letzteren traten revanchistische Tendenzen mit unterschiedlicher Intensität und Zielsetzung hervor. Nach dem 1. Weltkrieg hatte besonders der aggressive deutsche Imperialismus eine beträchtliche Schwächung seiner Machtpositionen zu verzeichnen. Durch die Gebietsverluste, die der imperialistische Frieden von Versailles3 mit sich brachte, wurde die wirtschaftliche und politische Operationsbasis des deutschen Imperialismus eingeengt und ihm zunächst der Weg nach Osten und Südosten verlegt. Die J 21
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Vgl. Deutschland im ersten Weltkrieg, Berlin 1968, Bd. 3, S. 547 ff. Vgl. Deborin, ,G. A., O Charaktere vtoroj mirovoj voiny^ Moskva 1960, S. 8—23. (Lenin, W. I., Werke, Bd. 21, S. 1 ff. fassende Krieg trägt den klar ausgeprägten Charakter eines bürgerlichen, imperialistischen, dynastischen Krieges. Kampf um die Märkte und Raub fremder Länder, das Bestreben, die revolutionären Bewegungen des Proletariats und der Demokratie im Innern der Länder zu unterbinden, das Bestreben, die Proletarier aller Länder zu übertölpeln, zu entzweien und abzuschlachten, indem man i m Interesse der Bourgeoisie die Lohnsklaven der einen Nation gegen die Lohnsklaven der anderen Nation hetzt — das ist der einzige reale Inhalt, die einzige reale Bedeutung des Krieges" (Lenin, W. I., Werke, Bd. 21, S. 1 ff.). Vgl. Der Vertrag von Versailles, Berlin 1933; vgl. auch Gentzen, Felix-Heinrich, Zur Geschichte des deutschen Revanchismus in der Periode der Weimarer Republik, in: Jahrbuch für Geschichte der UdSSR und der volksdemokratischen Länder Europas, Berlin 1960, B. 4, S. 42 ff.; Lossowski, Piotr, Miejdzy wojn^ a pokojem (Zwischen Krieg und Frieden), Warszawa 1976.
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Bemühungen der imperialistischen Kreise Deutschlands gingen deshalb dahin, ihre verlorenen Machtpositionen zurückzugewinnen und den Versailler Vertrag zu revidieren. In der Außenpolitik des imperialistischen Deutschlands wurde den in den abgetretenen Gebieten verbliebenen Deutschen eine besondere Bedeutung beigemessen. Sie sollten unter allen Umständen am Abwandern nach Deutschland gehindert werden, damit dessen Regierungen vor der Weltöffentlichkeit den Anspruch auf die Rückeroberung dieser Gebiete begründen konnten. Im Zusammenhang mit den Friedensverträgen von Versailles wurden z. B. Polen, der Tschechoslowakei, Jugoslawien, Rumänien und Griechenland, nicht aber auch Deutschland Minderheitenschutzverträge aufgezwungen, um die Interessen der Einwohner zu schützen, welche anderer Rasse, Sprache oder Relegion als die Mehrheit der Bevölkerung waren. Auf diese Weise erhielten nach dem Willen der Ententemächte auch die deutschen Minderheiten weitgehende Sonderrechte zugesichert und wurden unter den Schutz des Völkerbundes gestellt/' Die Hauptkritik der hiervon betroffenen Staaten richtete sich dagegen, daß nur eine Reihe von Staaten den Verträgen unterworfen wurde, während die Großmächte jedoch, auch wo durch Grenzveränderungen in ihren Staaten Minderheiten verblieben, keinerlei vertragliche Verpflichtungen zum Schutz ihrer Minderheiten eingehen mußten. Sie sahen in dieser Regelung eine Beschneidung ihrer Souveränität, eine neue Form ausländischer Intervention, einen Versuch, sie als Staaten zweiter Klasse zu etablieren. So hatte Polen in einer Antwortnote auf den grundlegenden Brief des französischen Ministerpräsidenten und Vorsitzenden der Pariser Friedenskonferenz Clemenceau seinen Vorbehalt aktenkundig gemacht: Vom Augenblick der Vertragsunterschrift an bewertete es diese Verpflichtung als eine „Herabwürdigung der polnischen Geschichte, der nationalen Ehre und der des Staates".5 4
5
Ähnliche Bestimmungen wurden ferner in die Friedensverträge mit Österreich, Ungarn, Bulgarien und der Türkei aufgenommen. Später mußten Albanien und die baltischen Staaten entsprechende Verpflichtungen durch einseitige, vom Völkerbund zu billigende Erklärungen abgeben, um in den Völkerbund aufgenommen zu werden. Die Ausführung dieser Bestimmungen wurde der Kontrolle des Völkerbundes unterstellt, der dafür eine Gemischte Kommission ernannte. (Vgl. Kraus, Helmut, Das Recht der Minderheiten, Berlin 1927, S. 43 ff.) Vgl. Paprocki, Stanislaw, Polen und das Minderheitenproblem, Warschau 1935. Paprocki war Leiter des Instituts zur Erforschung der Nationalitätsfragen in Warschau, außerdem zeitweise Berater des polnischen Ministerpräsidenten für Nationalitätenfragen. Somit dürfte seine Darstellung auch für die amtliche polnische Politik kennzeichnend sein. Vgl. auch Krasuski, Jerzy, Geneza i tresc traktatu mi^dzy Polski} a pieciu Glöwnymi Mocarstwami Sprzymierzonymi i Stowarzyszonymi z punktu widzenia stosunköw polsko-niemieckich (Genesis und Inhalt des Vertrages zwischen Polen und den Alliierten und Assoziierten Hauptmächten unter dem Aspekt der deutsch-polnischen Beziehungen), in: Problem polsko-niemiecki w traktacie wersalskiem, hrsg. unter der Red. von Janusz Pajewski, Poznan 1962, S. 386 ff.; Kaiisch, Johannes, Die Pariser Konvention zwischen Polen und der Freien Stadt Danzig vom November 1920, in: WZ' Rostock, Gesellschafts- und Sprachwiss. R., 26, 1977, 2, S. 171 ff.
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Da die Novemberrevolution 0 ^ 8 in Deutschland infolge des Verrats der rechten SPD-Führer ihrem Charakter nach eine unvollendete bürgerlich-demokratische Revolution war, blieben die Machtgrundlagen des deutschen Imperialismus bestehen. Die revanchistischen Kräfte des deutschen Monopolkapitals erhielten die Möglichkeit, gestützt auf die Minderheitenschutzbestimmungen, die in den abgetretenen Gebieten verbliebenen Deutschen für die Rückeroberung dieser Gebiete auszunutzen. In völliger Entstellung des revolutionären und demokratischen Inhalts des von W. I. Lenin begründeten „Rechtes der Nationen auf Selbstbestimmung bis zur staatlichen Lostrennung" 6 diente den imperialistischen Kreisen Deutschlands dieser Begriff dazu, ein angebliches „Sorgerecht" der „Mutterländer" für die nationalen Minderheiten jenseits der Grenzen und somit ein „Recht" auf Einmischung in die inneren Angelegenheiten fremder Staaten zu begründen. Das aber hieß, künftige Grenzrevisionen politisch und ideologisch vorzubereiten. 7 Sehr bald begannen sich auf breiter Front diejenigen Kräfte zu regen, die aus der Existenz von Millionen im Ausland lebender Menschen deutscher Nationalität die Forderung nach einer umfassenden deutschen „Volksgemeinschaft" ableiteten. 8 So sprach in der Sitzung der Nationalversammlung am 3. März 1919 der deutschdemokratische Abgeordnete Schücking bei der Beratung über den Entwurf der Reichsverfassung vom „Naturrecht" des Minderheitenschutzes und kritisierte die frühere preußisch-deutsche Minderheitenpolitik, deren Ablösung Breits im Mai 1903, also noch vor dem II. Parteitag der SDAPR, der das Parteiprogramm mit der Forderung nach „Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes aller Nationen, die zum Staate gehören", annahm, hatte Lenin geschrieben, „daß wir die nationale Selbstbestimmung grundsätzlich anerkennen, aber in vernünftigen Grenzen, wie sie durch die Einheit des proletarischen Klassenkampfes bestimmt werden". Lenin an Alexandrowa (nach dem 22. 5. 1903), in: Werke, Bd. 34, S. 146; Lenin, W. Die nationale Frage in unserem Programm, ebenda, Bd. 6, S. 452. ° v Es ging den herrschenden Kreisen Deutschlands ausschließlich um die Selbstbestimmung für die Deutschen. Aber die nationale Selbstbestimmung steht allen Völkern zu. Es gibt keine erstrangigen oder zweitrangigen Völker. Die nationale Selbstbestimmung eines Volkes darf deshalb nicht die Freiheit anderer Völker beeinträchtigen oder deren Rechte schmälern! Sie kann daher nie auf Kosten oder zuungunsten anderer Völker durchgesetzt werden, sondern nur unter gleichzeitiger Respektierung, Achtung und Unterstützung der gleichen Rechte für alle Völker. 8 In der 2. Resolution der 1. Bundestagung des Deutschen Schutzbundes Pfingsten 1920 heißt es: „Die im Deutschen Schutzbund zusammengeschlossenen Verbände fordern die staatliche Zusammenfassung aller Teile des geschlossen Sprachgebietes . . . , ein ganzes Deutschland, im Gegensatz zu dem durch den Gewaltfrieden erzwungenen Rumpfdeutschland . . . : die materiellen Trennungen und Hemmungen durch staatliche Grenzen und wirtschaftlichen Zwang müssen überwunden werden durch den Gedanken der lebendigen, organisch gegliederten, nicht so sehr auf staatliche wie auf völkische Selbsthilfe gegründeten Volksgemeinschaft" (.Führer durch den Schutzbund, Berlin 1920, S. 47). Ausführlich hierzu Fensch, Dorothea, Zur Vorgeschichte, Organisation und Tätigkeit des Deutschen Schutzbundes in der Weimarer Republik, phil. Diss. Rostock 1966. ü
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durch einen wirksamen Rechtsschutz f ü r die nationalen Minderheiten in Deutschland er im Interesse des Auslandsdeutschtums forderte. 9 In ähnlicher Weise äußerte sich in der Nationalversammlung am 26. Juli 1919 der Sozialdemokrat Wels: „Die auswärtige Politik der deutschen Republik hat ein oberstes Gesetz, das heißt, den Schutz der nationalen Minderheiten sobald als möglich zur Weltsache zu machen." 10 Auch Stresemann, Mitbegründer der Deutschen Volkspartei und Vorsitzender des Friedensausschusses der Nationalversammlung und des Reichstages, hatte bei der Debatte in der Nationalversammlung über den Verfassungsentwurf die Aufnahme einer klaren Bestimmung zum Schutz der Deutschen im Ausland gefordert. 1 1 Die aus diesen Vorstellungen und Zielsetzungen resultierenden Maßnahmen des Deutschen Reiches bezweckten die finanzielle, wirtschaftliche, kulturelle und organisatorische Konsolidierung der deutschen Minderheit. Bereits am 20. Oktober 1919 fand eine Konferenz der Reichs- und preußischen Staatsbehörden über die „Erhaltung und Förderung des Deutschtums" in den abzutretenden Ostprovinzen statt. Auf dieser Sitzung wurden wichtige Maßnahmen über den Ausbau des deutschen Schulwesens, die Sicherung der deutschen Presse und karitativer und anderer Einrichtungen der deutschen Minderheit beschlossen und ein entsprechender Betrag hierfür festgesetzt. 12 Zu den eifrigen Befürwortern einer im Dienste der Revanchebestrebungen des deutschen Imperialismus stehenden Minderheitenpolitik gehörte schon f r ü h der „Rechtsberater" der deutschen Minderheiten Carl Georg Bruns, der in der Minoritätenpolitik des deutschen Imperialismus eine beträchtliche Rolle spielte. Bruns entstammte einer Kieler Gelehrtenfamilie. Die Stellung eines „Rechtsberaters" der deutschen Minoritäten in Europa machte ihn zu einem außerordentlich einflußreichen Vertreter der deutschen imperialistischen Minderheitenpolitik und ihrer Ideologie. Er hatte eine ganze Reihe von Publikationen verfaßt, in denen größtenteils die offizielle deutsche Auffassung dieser Probleme zum Ausdruck kommt. 13 Seine praktisch-politische Tätigkeit, die ihn mit fast allen Minoritäten Europas in Verbindung brachte, diente vor allem der Durchsetzung der minderheitspolitischen Forderungen der deutschen Minoritäten. v
Vgl. Pieper, Helmut, Die Minderheitenfrage und das Deutsche Reich, 1919-1933/34, Frankfurt a. M. 1974, S. 54. So wurde in die Weimarer Verfassung zwar ein Artikel aufgenommen, der die Rechte der Minderheiten in Deutschland regeln sollte. Dieser Artikel 113 konnte außenpolitisch propagandistisch genutzt werden, brachte tatsächlich aber keine Besserung der Lage der Minderheiten, da er ohne Ausführungsbestimmungen blieb. (Vgl. Die Verfassung des Deutschen Reiches, Berlin 1921, 2, S. 193.) 1,1 Pieper, S. 55. 11 Ebenda. r - Näheres hierzu bei Gentzen, Zur Geschichte des deutschen Revanchismus, S. 48 ff.; ders., Die Rolle der deutschen Regierung beim Aufbau deutscher Minderheitenorganisationen in den an Polen abgetretenen Gebieten (1919—1922), in: JGSLE, Bd. 10, 1967, S. 159 ff.; Krekeler, Norbert Friedrich, Zur Deutschtumspolitik des Auswärtigen Amtes in den durch den Versailler Vertrag abgetretenen Gebieten 1918—1933, Bonn 1972. 13 Vgl. Bruns, Carl Georg, Gesammelte Schriften zur Minderheitenfrage, Berlin 1933.
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Bruns versuchte, der Reichsregierung den Minderheitenschutz als politische Aufgabe sui generis nahezulegen, die nicht mit traditionellen Mitteln zu bewältigen sei, sondern eine Konzeption erfordere. Ende 1920 legte er dem Auswärtigen Amt eine Denkschrift zur Prüfung vor, in der er betonte, daß bloße materielle Zuwendungen nicht genügten, um zu vermeiden, daß das Deutschtum in Polen „gefühlsmäßig wurzellos" werde. Bruns forderte ein über bloße Stützungsmaßnahmen hinausgehendes politisches Programm, das für den einzelnen Deutschen zugleich die einleuchtendste Parole" wäre, „auf seinem Platz auszuharren". 14 Die von Bruns geforderte minderheitspolitische Konzeption wurde auch von deutschen Minoritätenführern schon früh als Element einer aktiven deutschen Außenpolitik überhaupt gewertet. In diesem Sinne ordnete eine dem Auswärtigen Amt im Jahre 1922 vorgelegte, aus deutschen Minoritätenkreisen stammende neue Denkschrift „Eintreten der deutschen Außenpolitik für den Schutz der nationalen Minderheiten" der Minoritätenfrage einen besonderen Rang in der deutschen Außenpolitik zu.15 Somit gewann die Minderheitenfrage strategischen und taktischen Stellenwert, weil sie neue Möglichkeiten zur Festigung der internationalen Stellung Deutschlands zu eröffnen schien. Das imperialistische Deutschland als der am stärksten interessierte Staat sollte „in der Frage des Minoritätenschutzes in der europäischen Politik die Führung übernehmen". Der Durchsetzung des deutschen Führungsanspruchs in Ost- und Südosteuropa mit Hilfe der deutschen Minderheiten kamen deren sich schon relativ früh abzeichnende Einigungsbestrebungen, die im Oktober 1922 in die Gründung des „Verbandes der deutschen Volksgruppen in Europa" einmündeten, außerordentlich entgegen. Initiiert wurde die Gründung dieses Verbandes vom Vorstand der deutsch-baltischen Partei, als dieser beschloß, Beziehungen zu den anderen deutschen Minderheiten aufzunehmen, vor allem nach Polen und Rumänien. 16 Rudolf Brandsch, Wortführer der deutschen Minderheit in Rumänien, hatte im Juli 1922 in einem Schreiben an die bürgerlichen Vertreter der deutschen Minderheitengruppen in den einzelnen europäischen Ländern diese zu einer vertraulichen Zusammenkunft nach Wien eingeladen.17 Der Baltendeutsche Ewald
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Zit. nach Pieper, S. 68. Ebenda, S. 75. Vgl. Plesse, Helmut, Organisation und Arbeit der Kongresse der organisierten nationalen Gruppen in den Staaten Europas, Leipzig 1930, S. 20. Rudolf Brandsch (Rumänien) und der Baltendeutsche Ewald Ammende hatten sich bereits vor und während des ersten Weltkrieges für eine Zusammenarbeit aller deutschen Minderheitengruppen in ihren Heimatstaaten eingesetzt. Während Brandsch ein solches Zusammengehen der deutschen- Minderheiten im alten Ungarn angestrebt hatte, versuchte Ammende eine Vereinigung der Deutschen des Baltikums und der Rußlanddeutschen herbeizuführen und beteiligte sich an den Vorarbeiten für einen Kongreß der Rußlanddeutschen, der aber infolge der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution nicht mehr zustande kam. (Vgl. hierzu Nation und Staat* Deutsche Zeitschrift für das Europäische Minderheitenproblem, 1935/36, S. 531.) ZStAP, Deutsche Stiftung, Nr. 991, BI. 30.
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Ammende 18 , der sich auf seinen ausgedehnten Reisen eine beträchtliche Kenntnis des europäischen Minoritätenproblems erworben und Beziehungen zu den Führern fast aller europäischen Minderheiten angeknüpft hatte, vor allem aber auf Grund der während der Völkerbundstagungen gewonnenen Eindrücke f ü r einen Zusammenschluß der deutschen Minderheiten eintrat, verfaßte aus diesem Anlaß im September 1922 eine Denkschrift mit dem Titel „Gründe, Aufgaben und Programm f ü r eine Zusammenkunft der Vertreter aller deutschen Minoritäten in Europa". 19 Die hier von ihm entwickelten programmatischen und konzeptionellen Leitlinien sind Ausdruck der revanchistischen Revisions- und Neuordnungsstrategie des deutschen Imperialismus. Das Auswärtige Amt hatte sich, ausgehend von dem Bestreben, die deutschen Minderheiten in den Nachbarstaaten Deutschlands zu erhalten sowie ihren Zusammenschluß und ihre Abgrenzung gegen die Mehrheitsbevölkerung zu fördern, schon f r ü h f ü r eine Pflege und Förderung der deutschen Kultur jenseits der Grenzen Deutschlands ausgesprochen 20 und entsprechende Maßnahmen initiiert. Die Konsequenz dieser Zielsetzungen war die Forderung nach Kulturautonomie. Ammende folgte dieser vom Auswärtigen Amt verfochtenen konzeptionellen Orientierung. Da keine der deutschen Minderheiten ihr Ziel — die kulturelle Autonomie — bisher erreicht habe, forderte er ein gemeinsames und geschlossenes Vorgehen der deutschen Minderheiten und ihrer Vertreter auf und gegenüber den großen internationalen Veranstaltungen — den Kongressen der Ligen f ü r den Völkerbund, den Tagungen der Interparlamentarischen Union (IPU) und vor allem gegenüber dem Völkerbund als dem Garanten der Minderheitenschutzverträge —, um den Einfluß dieser internationalen Faktoren in hohem Maße in den Dienst „der gerechten Sache" zu stellen. 21 Ganz in das Konzept des deutschen Imperialismus passend, wies Ammendes Denkschrift den deutschen Minderheiten eine politisch-revanchistische Aufgabe Ammende wurde am 22. 12. 1892 in Parnau geboren und besuchte dort das Gymnasium. Er studierte in Köln und Tübingen und promovierte in Kiel zum Dr. habil pol. Zeitweilig arbeitete Ammende im Handelshaus seines Vaters. Er war Mitarbeiter und Verlagsdirektor der „Rigaschen Rundschau". Ammendes antikommunistische Grundhaltung kennzeichnen solche Machwerke wie „Europa und Sowjetrußland" (Riga 1921) und „Muß Rußland hungern?" (Wien 1935). Vgl. Deutsch-baltisches biographisches Lexikon 1910—1960, Köln/Wien 1970, S. 42.) Ausführlicher hierzu bei Rothbarth, Maria, Ewald Ammende und die Gründung des Europäischen Minderheitenkongresses, in: Germanija i Pribaltika, Riga, 1978, 5, S. 88 ff. 1U Der vollständige Text dieser Denkschrift ist abgedruckt in: Nation und Staat, 1932/33, S. 62 ff. '•*> So wurde in einer diesbezüglichen Beratung des Auswärtigen Amtes unmißverständlich erklärt: „wir sind durch den Vertrag von Versailles dahin gekommen, daß noch weniger als vor dem Kriege die Landesgrenzen mit den Kulturgrenzen zusammenfallen. Es ist für uns eine Aufgabe auf Jahrzehnte hinaus, die deutsche Kultur jenseits der augenblicklichen Reichsgrenzen zu erhalten, zu pflegen und zu fördern" (Niederschrift über die Zusammenfassung der Deutschtumspflege vom 14. 2. 1922; zit. nach Krekeler, S. 21). Vgl. Ammende, Ewald, Aufgaben und Programm für eine Zusammenkunft der Vertreter aller deutschen Minoritäten in Europa, in: Nation und Staat, 1932/33, S. 62 f.
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zu. Der Verfasser unterstrich die sogenannte Eigenständigkeit der deutschen Minderheiten und postulierte ihre maßgebliche Beteiligung an der Regelung der Minderheitenfrage im europäischen Maßstab. Hiervon ausgehend, forderte Ammende für sie einen eigenen Raum, der zwar zunächst auf das Kulturelle beschränkt sein sollte, von dem aus die deutschen Minoritäten im Laufe der Zeit aber auch politisches Gewicht gewinnen sollten, indem „aus den fremden Volksstämmen im Rahmen der europäischen Staaten, bisher Ursachen des Gegensatzes und der Trennung, verbindende Glieder respektive Bindemittel zwischen den Völkern Europas" würden. 22 Es ist daher nur folgerichtig, wenn Ammende seine Denkschrift mit einer dringenden Mahnung zum Zusammenschluß ausklingen ließ, „um im Interesse der deutschen Gesamtkultur und seiner einzelnen Zweige als geschlossene Gruppe der deutschen Kulturgemeinschaft in allen Teilen Europas sich in diesem Kampf um Gleichberechtigung und Minderheitenautonomie gegenseitig zu helfen und zu unterstützen". 23 Um jeglichen Anschein einer Zusammenarbeit mit den Reichsbehörden zu vermeiden und ihrer Zusammenkunft den Charakter einer scheinbar unabhängigen Initiative zu geben, wählten die Führer der deutschen Minderheiten als Tagungsort Wien statt Berlin. Vom 21. bis 23. Oktober 1922 fand hier unter Vorsitz von Brandsch die erste Tagung statt, an der Vertreter aus fast allen europäischen Staaten teilnahmen, in denen eine deutsche Minderheit existierte. 24 Das wichtigste Ergebnis dieser Beratung war die einhellige Forderung der Teilnehmer nach Kulturautonomie. 25 Unter den gegebenen Bedingungen wurden sie von den deutschen Minderheitenführern als das einzig brauchbare Mittel zur Schaffung günstiger Vorbedingungen für eine Revision des Versailler Vertrages angesehen. Unter Kulturautonomie verstand man, daß die deutschen Minoritäten ihr gesamtes kulturelles Leben ohne Staatskontrolle ausübten, was der Etablierung eines Staates im Staate gleichkam. Auf diese Weise konnten die Institutionen der deutschen Minderheiten zu Instrumenten der Revanchepolitik des deutschen Imperialismus gemacht werden. Lenin hatte sich bereits vor dem Weltkrieg mit dieser Frage beschäftigt. Er war dagegen, daß man nationalen Minderheiten Kulturautonomie gewährte, weil die herrschende Klasse damit das Ziel verfolge, das „Proletariat und die Bourgeoisie einer Nation" zu vereinen und die „Proletarier der verschiedenen Nationen" voneinander zu trennen. 26 Diese Losung diente somit einerseits der nationalistischen Verhetzung der werktätigen Massen in Deutschland 27 und bezweckte andererseits die Schaffung einer Konfliktsituation zwischen den Nachbarstaaten -2 Ebenda, S. 63. Ebenda, S. 67. 24 Das betraf Länder wie Dänemark, Estland, Lettland, Litauen, Polen, CSR, Ungarn, Rumänien, Jugoslawien, Südtirol. (ZStAP, Deutsche Stiftung, Nr. 993, Bl. 402.) Vgl. Pieper, S. 77. Lenin, W. 1., Entwurf einer Plattform zum IV. Parteitag der Sozialdemokratie Lettlands, in: Werke, Bd. 19, S. 99. Vgl. Ruge, Wolfgang, Zur chauvinistischen Propaganda gegen den Versailler Vertrag 1919-1929, in: JfG, Bd. 1, S. 65 ff. 23
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Deutschlands und ihren nationalen Minderheiten, wobei innerhalb der Minoritäten jegliche soziale Differenzierung negiert wurde., Schließlich erfolgte auf dieser ersten gemeinsamen Beratung der deutschen Minderheiten eine Stellungnahme zum Völkerbund, auf dessen Funktion als Garant des Minderheitenschutzes sich die Teilnehmer nachdrücklich beriefen. Das alles führte mit logischer Konsequenz dazu, den sogenannten Schutz der Minderheiten nicht allein der souveränen Gesetzgebung in den betreffenden Staaten zu überlassen, sondern ihn als ein ausschließlich im internationalen Rahmen zu lösendes „Rechtsproblem" zu verstehen. In diesem Zusammenhang sprach die Tagung die Hoffnung aus, Deutschland möge Mitglied des Völkerbundes werden, damit man einen Wortführer f ü r die eigenen Forderungen habe. Dieser Wunsch wurde aber nicht in die Entschließung aufgenommen, „weil man von seiten der deutschen Minderheiten der Reichsregierung und dem Binnendeutschtum nicht vorgreifen wollte", entsprechend dem Bestreben dieser Zusammenkunft, die angebliche Unabhängigkeit vom Deutschen Reich zu dokumentieren. 28 Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich des Verhältnisses der deutschen Minderheiten zum Deutschen Reich bzw. zu den Staaten, in denen sie lebten, ergaben sich auf dieser Tagung zwischen den sogenannten echten Minderheiten und denjenigen deutschen Bevölkerungsteilen, die infolge der Grenzregelung des Versailler Vertrages in fast allen an Deutschland grenzenden Staaten, vor allem im Osten, als Minderheiten (nach bürgerlicher Terminologie „Grenzminderheiten") verblieben. Bei letzteren war eine politisch-revanchistische Haltung unverkennbar. 29 Daher erhoben gerade sie Bedenken gegen die Feststellung der Loyalität als Richtlinie f ü r die Minderheiten, so daß — auf Vorschlag von Bruns, der hier die Deutschen in Polen vertrat — der Begriff „loyal" in „legal" abgeändert wurde. Auf diese Weise wurde ihr Verhältnis zu den Staaten, in denen sie als Minderheit lebten, auf eine mehr oder weniger formale Basis gestellt, die nicht einem Bekenntnis zu diesem Staat gleichkam und die Frage späterer territorialer Veränderungen nicht präjudizierte. Die Beratungen enthüllten somit die Bemühungen der herrschenden Kreise Deutschlands, die Minderheitenfrage zur Verwirklichung ihrer revanchistischen und annexionistischen Politik zu mißbrauchen. Das bewies nicht zuletzt die von der Tagung angenommene Resolution, die sowohl Aussagen über das Verhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit der betreffenden Staaten als auch über den Zusammenhang der Minoritäten mit
Bericht über die Tagung der deutschen Minderheiten in Wien, dem Auswärtigen Amt vom Deutschen Schutzbund vorgelegt. (Vgl. Pieper, S. 77.) "2y Ausführlich hierzu bei Cyganski, Mirosfaw, Mniejszosc niemiecka w Polsce w latach 1918-1939 (Die deutsche Minderheit in Polen in den Jahren 1918-1939), Lodz 1962; ders., Z dziejöw Volksbundu (1921—1932) (Aus der Geschichte des Volksbundes), Opole 1966; Potock, Stanislaw, Polozenie mniejszosci niemieckiej w Polsce 1918—1938 (Die Lage der deutschen Minderheit in Polen 1918-1938), Gdansk 1969; Krasuski, Jerzy, Stosunki polsko-niemieckie 1919—1932 (Die polnisch-deutschen Beziehungen 1919 bis 1932), Poznan 1975, S. 146 ff.; Bierschenk, Theodor, Die deutsche Volksgruppe in Polen 1934-1939, Würzburg 1954; Heike, Otto, Das Deutschtum in Polen 1919-1939, Bonn 1955.
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den internationalen Organisationen traf: „Die deutschen Minderheiten stellen sich ihren Mehrheitsvölkern gegenüber auf den Boden einer legalen Minoritätenpolitik, das heißt einer Politik, die f ü r sie eine umfassende kulturelle Autonomie, vollrechtliche Gleichstellung und einen weitgehenden Schutz ihrer Minderheitenrechte fordert. Die deutschen Minderheiten werden den Kampf um ihre Minderheitsrechte wie innerhalb ihrer Staaten so auch im Rahmen von internationalen Organisationen mit allen ihnen rechtlich zustehenden Mitteln führen." 3 0 Der in Wien eingeschlagene Weg wurde in den folgenden Jahren zielgerichtet weiter beschritten. 31 1923 wurde die Einrichtung einer ständigen Verbindungsstelle in Berlin beschlossen, deren Leitung Bruns übernahm und die aus Haushaltsmitteln des Reiches durch Vermittlung der „Deutschen Stiftung" finanziert wurde. 32 Ein ständiger Ausschuß, bestehend aus je einem Vertreter jeder Minderheit, war f ü r die Tätigkeit dieser Verbindungsstelle verantwortlich. 33 Neben allgemeinen Jahrestagungen fanden vierteljährlich Sitzungen des genannten Ausschusses statt. An der Spitze des Verbandes stand ein Präsidium, das bis 1931 von Brandsch und danach von Kurt Graebe (Bydgoszcz) geleitet wurde. Ihm gehörten weiterhin (1932) die Parlamentsabgeordneten Bleyer (Budapest), Ledebour (Prag), Schiemann (Riga) sowie Hasselblatt (Reval) als Geschäftsführer an. 34 Seit 1927 gab der Verband die Zeitschrift „Nation und Staat" in Wien heraus; ihr Chefredakteur war der baltendeutsche Baron F. v. Uexküll-Güldenband. Die Herausgabe dieser Zeitschrift entsprach nach Meinung des Auswärtigen Amtes einem „dringenden außenpolitischen Bedürfnis". In einer finanziellen Förderung dieses Projekts sah es eine Aufgabe der deutschen Politik, legte aber Wert darauf, daß die Zeitschrift als ein scheinbar unabhängiges Organ der Minderheiten in Erscheinung trat und jeden äußerlich erkennbaren Kontakt mit amtlichen deutschen Stellen mied, also auch nicht in Berlin erschien. 35 Das beabsichtigte Ziel dieses Zusammenschlusses der deutschen Minderheiten charakterisierte Brandsch in einem Rückblick über die fünfjährige Tätigkeit des Verbandes unmißverständlich als „Mithilfe am Aufbau der großen deutschen Volksgemeinschaft im Sinne der Kulturgemeinschaft". 36 Es zeugte zudem von einer zynischen und maßlosen Überheblichkeit gegenüber den Völkern Ost- und Südosteuropas, wenn Brandsch weiterhin schreibt, daß „jede deutsche Volksgruppe ihre Stärkung nicht als Selbstzweck" betrachten dürfe, sondern „in ihrer Gesamtheit und Führung bewußte Trägerin einer deutschen geschichtlichen Mis-
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Nation und Staat, 1927/28, S. 94. Ebenda. ZStAP, Deutsche Stiftung, Nr. 1 117, Bl. 419; Nr. 1 120, Bl. 194; Nr. 991, Bl. 165. Ebenda, Nr. 991, Bl. 165. Vgl. Kaiisch, Johannes, Kontinuität und Wandlungen der Polenpolitik des deutschen Imperialismus zwischen den beiden Weltkriegen, in: Studien zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen, Wilhelm-Pieck-Universität Rostock, 1978, 2, S. 23 Anm. 31. Vgl. Pieper, S. 147. Vgl. Brandsch, Rudolf, Fünf Jahre deutscher Minderheitenarbeit, in: Nation und Staat, 1927/28, S. 95.
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sion" sein müsse.37 Noch unmißverständlicher äußerte sich auf der deutschen Minderheitentagung im Juli 1925 der siebenbürgische Delegierte Richard Csaki, Leiter des Deutschen Kulturamtes in Hermannstadt, der — zur Vorbereitung einer Aussprache über eine kulturelle Organisation der deutschen Minderheiten — die Aufgabe übernommen hatte, Material zu sammeln und Thesen zu formulieren, und zu diesem Zweck in engen Kontakt mit den anderen Minoritäten getreten war: „Allen deutschen Minderheitengruppen ist gemeinsam, daß sie sich dem staatsführenden Volk und den übrigen innewohnenden Völkern gegenüber kulturell mehr oder weniger überlegen fühlen und daß sie daher nicht nur das sichere Gefühl der Berechtigung ihrer Kultur der anderen gegenüber haben, sondern daß sie auch als Lehrmeister auftreten zu können glauben . . . Auf diesem Grunde beruhte die innere Sicherheit, die höhere Berufung des Auslandsdeutschtums im Osten. Osteuropa ist unbestritten eine Kulturdomäne Deutschlands und wird es nach aller menschlichen Voraussicht in Zukunft bleiben."38 In der Zeit der beginnenden relativen Stabilisierung des Kapitalismus waren es „Realpolitiker" wie Stresemann, die in Abhängigkeit von den objektiven Gegebenheiten den Weg einschlugen, auf dem der deutsche Imperialismus das ersehnte Ziel, wieder eine Großmacht zu werden, Schritt für Schritt anstrebte. Ausgehend von dem bestehenden politischen und militärischen Kräfteverhältnis, war Stresemann sich darüber im klaren, daß der Versailler Vertrag nur schrittweise und unter Zuhilfenahme demagogischer Beteuerungen über ausschließlich „friedliche" Revisionswege ausgehöhlt und schließlich außer Kraft gesetzt werden konnte. 39 Unter den sich verändernden Bedingungen fragten sich die verantwortlichen deutschen Außenpolitiker jeweils, welches die schwächsten Punkte des Versailler Vertrages wären, wo also die Revisionspolitik am aussichtsreichsten angesetzt werden könne. Während der revolutionären Nachkriegskrise (1919—1923), in der die deutsche Außenpolitik weitgehend in die Defensive gedrängt war, weil die Bewegungsfreiheit der herrschenden Kreise durch die Kampfaktionen der Arbeiterklasse eingeengt wurde, die annexionistischen Bestrebungen des französischen Imperialismus stark hervortraten und außerdem die übrigen Siegermächte große Unnachgiebigkeit zeigten, sah das imperialistische Deutschland diese Punkte in erster Linie in den Reparationsbestimmungen' 10 und in der Okkupation deutschen £
< Ebenda, S. 96. Jacobsen, Hans Adolf, Mißtrauische Nachbarn — Deutsche Ostpolitik, Frankurt a. M. 1970, S. 36. 351 Stresemann formulierte das Ziel seiner Politik folgendermaßen: „Niemals wird formell der Versailler Vertrag zurückgenommen werden . . . Ihn auszuhöhlen, ihn tatsächlich zu revidieren, das ist das Entscheidende." (Rede Stresemanns vor der Reichskonferenz der Reichszentrale für Heimatdienst am 28. 1. 1927, in: AD AP, Ser. B: 1925-1933, Bd. 4, Göttingen 1970, S. 581.) w Vgl. hierzu Rüge, Wolfgang, Deutschland von 1917 bis 1933. Von der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution bis zum Ende der Weimarer Republik, Berlin 19742, S. 176 ff. x
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Gebietes durch alliierte Truppen 41 , gegen die sich der Hauptstoß seiner außenpolitischen Anstrengungen richtete. In der Periode der relativen Stabilisierung des Kapitalismus (1924—1929) konnten die Vertreter der deutschen Außenpolitik hinsichtlich anderer Punkte des Versailler Vertrages schon zu einer offensiveren Revisionspolitik übergehen. Stresemann, der im Jahre 1923 das Amt des Reichskanzlers mit dem des Außenministers vertauschte, zählte in seinem Brief an den Kronprinzen vom September 1925 den Schutz der Auslandsdeutschen neben der Reparationsfrage und der Korrektur der Ostgrenze zu den drei großen Aufgaben, die die deutsche Außenpolitik f ü r die nächste absehbare Zeit zu lösen habe. 42 In einer geheimen Denkschrift vom 13. Januar 1925 hatte er offen und ohne Zurückhaltung seine expansionistischen Fernziele formuliert. Die Denkschrift wies nachdrücklich auf die „unschätzbare Bedeutung" hin, die die deutschen Minderheiten „für das Deutsche Reich politisch, kulturell und wirtschaftlich erlangen können". So heißt es in der Denkschrift: „Politisch werden sie berufen sein, als Mitträger der Politik eines fremden Staates die Politik dieses Staates in einem f ü r das Deutsche Reich günstigen Sinne zu beeinflussen; kulturell werden sie als der geborene Vermittler f ü r die Ausbreitung und das Verständnis deutscher Kultur und deutscher Weltanschauung bei ihrem Staatsvolke dienen; wirtschaftlich werden sie nicht nur selbst Absatzgebiete f ü r deutsche Industrieprodukte und Lieferungsgebiete f ü r in Deutschland benötigte Rohstoffe sein können, sondern zugleich auch wertvolle Stützpunkte f ü r die Propaganda der deutschen Wirtschaft im Auslande." 43 Besondere Bedeutung wurde den deutschen Minoritäten beigemessen, deren geographische Lage — an den Grenzen des Reiches, an der baltischen Küste, im Donaubecken — „zusammenfällt mit den Gebieten Europas, in denen sich Lebensfragen deutscher Politik und Wirtschaft entscheiden müssen". 44 Am Schluß seiner Denkschrift erklärte Stresemann unmißverständlich: „Die Schaffung eines Staates, dessen politische Grenze alle deutschen Volksteile umfaßt, die innerhalb des geschlossenen deutschen Siedlungsgebietes in Mitteleuropa leben und den Anschluß an das Reich wünschen, ist das ferne Ziel deutschen Hoffens, die schrittweise Revision der politisch und wirtschaftlich unhaltbarsten Grenzbestimmungen der Friedensdiktate (Polnischer Korridor, Oberschlesien) das nächstliegende Ziel der deutschen Außenpolitik." 45 Auf diese Dimension imperialistischer deutscher Minderheitenpolitik hatte auch Bruns verwiesen: „Allein das unmittelbare Interesse an der politischen Ordnung in Ostmitteleuropa, wo das Nationalitätenproblem das Kardinalproblem bilde, habe", so schrieb er in einer Denkschrift vom März 1926, „zu einer Aktivierung der Minderheitenpolitik gezwungen . . . Eine deutsche Politik, die nicht von vornherein darauf verzichten 42
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Vgl. ders., Zur chauvinistischen Propaganda, S. 65 ff. Vgl. G. Stresemann, Vermächtnis. Der Nachlaß in drei Bänden, Bd. 2, Berlin 1932, S. 170 ff. Zit. nach Pieper, S. 95 f. Zit. nach ebenda, S. 96. Zit. nach Fuchs, Gerhard, Von Locarno nach München, in: JGSLE, Bd. 12, 1968, S. 132 f.
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will, in Ostmitteleuropa, dem einzigen Gebiet, das uns dafür noch geblieben ist, aktive Außenpolitik zu treiben, muß an der Lösung dieses Problems führend mitarbeiten." 46 Die deutsche imperialistische Bourgeoisie hat kein Geheimnis daraus gemacht, daß sie ihre Beteiligung am Völkerbund auch dazu benutzen würde, um in der europäischen Politik als „Beschützerin" der deutschen Minderheiten aufzutreten. 47 Noch aber war Deutschland nicht Mitglied des Völkerbundes, noch standen die Forderungen, die die deutschen Minoritäten dort anmelden wollten, offen. Die Aufrollung der Minderheitenproblematik geschah von dem fundamentalen Grundsatz der imperialistischen deutschen Nachkriegspolitik aus: Revision des Versailler Vertrages. Die Minderheitenfrage erschien der deutschen Außenpolitik als der geeignete Hebel zur Einleitung der Revisionsdiskussion; hier konnte leicht die Zustimmung einzelner neutraler oder überseeischer Völkerbundsstaaten erreicht werden, zumal Deutschland in Ungarn auch einen europäischen Bundesgenossen für sein Revisionsprogramm fand. 48 40
Zit. nach Pieper, S. 86. Der deutschbaltische Abgeordnete und spätere Leiter des Verbandes der deutschen Volksgruppen in Europa, Hasselblatt, sah in einem Vortrag vor Vertretern deutscher Zeitungen den Versailler Vertrag als in gewisser Hinsicht sogar letzten Endes vorteilhaft an, denn der Osten sei „nach vielen Jahrhunderten wieder labil geworden, in gewissem Sinne offen", und die deutschen Minderheiten könnten als „die Ordnungselemente Osteuropas" den deutschen Einfluß in ihren Staaten stärken (ebenda, S. 97). 47 Hierzu sehreibt die Rote Fahne: „In der nächsten Zeit ist zweifellos mit einem weiteren Anschwellen dieser Bewegung (der Minderheitenbewegung — M. R.) zu rechnen. Sie werden zum Teil von der deutschen Bourgeoisie aus machtpolitischen Interessen geschürt, zum anderen bekommen diese Völkerschaften durch den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund eine ihre Bewegung vorwärts treibende Illusion, als könnte ihnen Deutschland helfen. Auch die imperialistischen Großmächte schüren direkt oder indirekt solche Bewegungen, um auf ihre Nationen einen Druck auszuüben, um die Minderheitenbewegungen als Schacherobjekte gegeneinander auszuspielen" (Rote Fahne, 3. 3. 1926). Ausführlicher hierüber bei Batowski, Henryk, Problem mniejszosci w Europie w przededniu II wojny swiatowej (Das Minderheitenproblem in Europa am Vorabend des zweiten Weltkrieges), in: Kwartalnik Historyczny, 1970, 3, S. 636 ff.; Irredenta niemiecka w Europie srodkowej i po ¿udniowo-wschodniej przed 11 wojny swiatowej (Die deutsche Irredenta in Mittel- und Nordosteuropa vor dem zweiten Weltkrieg), pod. red. H. Batowskiego, Katowice/Kraków 1971; Zielinski, Henryk, Mniejszosci narodowe w Europie srodkowej a problem bezpieczenstwa europejskiego (1918—1939) (Nationale Minderheiten in Mitteleuropa und das Problem der europäischen Sicherheit 1918—1939), in: Dzieje najnowsze, 6,1974, 4, S. 3—16. 48 Die „Tribune de Genève" vom 2. 2. 1926 warnte davor, daß Deutschland und Ungarn mittels der Minderheitenfrage eine Revision der Friedensverträge betreiben würden. Tatsächlich unternahm die ungarische Regierung Anfang 1926 diesbezügliche Sondierungen bei der deutschen Regierung in der Hoffnung auf ein gemeinsames Vorgehen und eine massive Unterstützung der ungarischen Forderungen auf dem Gebiet des Minderheitenschutzes durch Deutschland, wofür sie als Gegenleistung anbot, Deutschland ihre Erfahrungen in Genf zur Verfügung zu stellen und es gleichsam in den Völkerbund einzuführen. (Vgl. Pieper, S. 123.)
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In den Vordergrund des politischen Interesses des imperialistischen Deutschlands rückten die sogenannten Grenzminderheiten, was die enge Verknüpfung der Minoritäteninteressen der herrschenden Kreise Deutschlands mit der Frage der Grenzrevision unterstreicht. Es ist daher auch in keiner Weise verwunderlich, wenn Stresemann es weiterhin in seiner Politik ausdrücklich ablehnte, mit Polen, dessen deutsche Minorität das Rückgrat der deutschen Minderheitsadvokatur im Völkerbund bildete, einen Grenzanerkennungspakt — ein sogenanntes OstLocarno — abzuschließen. Im Sommer 1925 gab es für Deutschland einige wesentliche Gründe, die es veranlaßten, die Bemühungen um die Schaffung eines für die Propagierung seiner minderheitspolitischen Zielsetzungen geeigneten Forums zu verstärken. Immer deutlicher trat in der öffentlichen Meinung Europas die Erkenntnis hervor, daß eine entscheidende Voraussetzung für Erfolge in der Minderheitenpolitik ein konsequenter, tatsächlicher und überall praktizierter Demokratismus ist, der alle Minderheiten einbezieht. Hinzu kam, daß sich auf deutscher Seite der Eindruck verstärkte, die Änderung des Verfahrens im Völkerbund (Resolution des Völkerbundes vom Juni 1925, wonach Deutschland von allen Dreierkomitees ausgeschlossen sein sollte, die sich mit Klagen deutscher Minderheiten befaßten 49 ) sei speziell gegen Deutschland gerichtet. Dieser Beschluß wurde weithin als Affront gegen das Deutsche Reich empfunden und veranlaßte das Auswärtige Amt, das über vertrauliche Kanäle schon von der Vorbereitung der Verfahrensänderung erfahren hatte, den deutschen Konsul in Genf anzuweisen, beim Direktor der Minderheitenabteilung im Völkerbundssekretariat auf die „flagrante Ungerechtigkeit des beabsichtigten Vorgehens" hinzuweisen und ihn für die geplante Änderung persönlich verantwortlich zu machen. 50 Die Deutsche Gesandtschaft in Bern sprach in einem Memorandum vom 10. August 1925 an das Auswärtige Amt davon, daß sie bezüglich der Minderheitenfrage für Deutschland keine Möglichkeit sähe, im Völkerbund einen bestimmenden Einfluß auszuüben. 51 Auch bei den deutschen Minderheitenführern selbst kam es zu einer gewissen Ernüchterung in der Beurteilung der minderheitspolitischen Möglichkeiten Deutschlands im Völkerbund. 52 All das rief starke Unruhe unter jenen, insbesondere den deutschen Minoritäten Von der Mitarbeit an einem Dreierkomitee sollten ausgeschlossen werden 1. die Vertreter des Staates, dessen Angehörige, die petitionierenden Minderheiten seien; 2. Vertreter eines dem beklagten Minderheitenstaates benachbarten Staates; 3. Vertreter des Staates, dessen Mehrheitsbevölkerung derselben Nationaltät sei wie die betreffende Minderheit. Nach der zweiten Bedingung blieb Deutschland als Nachbarstaat Polens in jedem Falle draußen. Mit dieser zusätzlichen Sicherung war der polnischen Befürchtung Rechnung getragen, Deutschland würde sich im Völkerbunde aus seiner antipolnischen Einstellung heraus nicht nur der deutschen, sondern z. B. auch der ukrainischen Minderheit in Polen annehmen. Die entscheidende Einschränkung für Deutschland lag in der dritten Bedingung. (Vgl. ebenda, S. 42.) "" Zit. nach ebenda, S. 102. 51 ZStAM, Rep. 77 Tit. 4 032 Nr. 7, Bl. 69.
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Entsprechende Äußerungen enthalten die von Brandsch herausgegebenen „Deutschen politischen Hefte aus Großrumänien" (ebenda, Nr. 18, Bd. 1, Bl. 223).
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hervor, die unter allen Umständen die Internationalisierung dieses Problems anstrebten, um die unter der Garantie des Völkerbundes stehenden Minderheitenschutzverträge als Waffe politischer Auseinandersetzungen verwenden zu können. 53 Anläßlich einer Rede des tschechischen Nationalisten Kramär im Prager Parlament, in der dieser erklärt hatte, Deutschlands Mitgliedschaft im Völkerbund könne dazu führen, daß ein Besiegter Kontrolle über die Minderheitenpolitik eines Siegers ausüben werde, schlußfolgerte Stresemann, daß dies zu erreichen die fruchtbarste Aufgabe sei, die eine deutsche Delegation beim Völkerbund sich stellen könne. 54 Diese Äußerung läßt erkennen, daß Stresemanns Minoritätenpolitik vor allem dahin zielte, sich der Minderheitenfrage f ü r den Ausbau einer deutschen Großmachtstellung zu bedienen. Das war der politische Hintergrund, vor dem sich die Anstrengungen deutscher Minderheitenführer in enger Kooperation mit der Reichsregierung abspielten, eine Organisation der größten Minderheiten auf internationaler Basis, den Europäischen Minderheitenkongreß, ins Leben zu rufen. Ammende hatte bereits in der genannten Denkschrift aus dem J a h r e 1922 die Forderung nach Maßnahmen zur Gründung eines gesamteuropäischen Minderheitenverbandes erhoben und dabei den Zusammenschluß der deutschen Minderheiten als eine wesentliche Voraussetzung hierfür bezeichnet. Er schreibt hierzu: „Ein Zusammenwirken aller deutschen Minoritäten und ihre Zusammenfassung zu einer Interessengemeinschaft würde daher ein ganz außerordentlicher Schritt auf dem Wege zur Organisation der Minderheiten Europas . . . sein. Die Gemeinschaft der deutschen Minoritäten würde somit nicht nur f ü r die eigenen Interessen, sondern auch f ü r die der Minderheiten im allgemeinen kämpfen. Sie würde dadurch der Ausgangspunkt f ü r eine Gesamtorganisation aller Minderheiten unseres Erdteils sein." 55 Jetzt leitete Ammende entscheidende Schritte zur Gründung eines derartigen Kongresses ein. Die Vorbereitungen f ü r die Zusammenkunft begannen bereits im Herbst 1924, als Ammende den Schweizer Bundesrat Motta bei einer Unterredung in Bern f ü r seine Pläne gewann. Ein weiterer Anstoß war durch die Ereignisse in Estland gegeben. Nach der blutig niedergeschlagenen Erhebung der Werktätigen vom Jahre 1924 hielten es die herrschenden Kreise Estlands f ü r erforderlich, das innere Gefüge ihres Herrschaftssystems auch durch taktische Maßnahmen auf dem Gebiet der Minderheitenpolitik zu stabilisieren. So wurde in einer Atmosphäre antikommunistischer Willkür schließlich nach fast fünfjährigen Verhandlungen am 5. Februar 1925 ein Gesetz über die Kulturautonomie verabschiedet. Man ging davon aus, daß „auch eine feste Eingliederung der baltendeutschen Volksgruppe in den Staat wünschenswert" sei, um so den Zusammenschluß der „staatserhaltenden Elemente" gegen die „bolschewistische Gefahr" zu fördern. 56 ö:i
Siehe Anm. 4. Aufzeichnung Stresemanns vom 17. 7. 1925, in Stresemann, Vermächtnis, S. 150 ff. "" Ammende, Gründe, Aufgaben und Programm, S. 64. 5li Zur estländischen Kulturautonomie vgl. Gerber, Hartmut, Kulturautonomie als Eigenart minderheitenrechtlicher Ordnung und ihre Verwirklichung nach der estnischen Verfassung, in: Festschrift für Ludwig Träger, Berlin 1926, S. 231 ff.; Hasselblatt, M
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Ammende hatte sich am Zustandekommen dieses estländischen Minderheitenautonomiegesetzes aktiv beteiligt. Dieses Gesetz fand positiven Widerhall sowohl in der Minderheitenpresse Estlands als auch in Deutschland, sei doch damit Estland an die Spitze aller Völker Europas getreten, wie die „Tägliche Rundschau" schrieb. 57 Ammende war der Ansicht, daß nunmehr eine praktische Grundlage f ü r die Beurteilung der Durchführungsmöglichkeiten der bis dahin nur theoretischen Forderungen der deutschen Minderheiten — nach Kulturautonomie — gegeben sei. Kurze Zeit nach Verabschiedung dieses Gesetzes verfaßte Ammende daher eine Denkschrift „Gründe, Richtlinien und Programm f ü r eine Tagung der Vertreter aller nationalen Minderheiten in Europa" 58 , die die Minderheiten zu einem gemeinsamen Vorgehen aufrief. Als ein neues taktisches Element war in jenen Jahren des Aufschwungs des Revanchismus zu verzeichnen, daß die nationalistischen Expansionsinteressen unter europäischen Losungen verfochten wurden. In dieses Konzept fügten sich deutsche Minderheitenführer mit ihren Bemühungen um die Schaffung eines Europäischen Minderheitenkongresses ein. Dies unterstrich Ammende in seinem Schreiben an den Leiter der Deutschen Stiftung, Krahmer-Möllenberg. Prononcierter als in seiner Denkschrift legte er die Gründe f ü r die Organisation einer internationalen Minderheitentagung dar. Der Verfasser beklagte, daß den Grundsätzen und Forderungen der deutschen Minderheiten jegliche Autorität fehle, solange diese lediglich als Forderung der deutschen Seite gelten würden. Deshalb sei es jetzt notwendig, „ein Zusammengehen mit den übrigen großen Minderheitengruppen herbeizuführen, damit es möglich wird, die Festlegung und Fundierung der deutschen Grundforderungen als allgemein europäische Grundsätze vorzunehmen". 59 Auf der Tagung des „Verbandes der deutschen Volksgruppen in Europa" im Juni desselben Jahres in Wien war der Parlamentsabgeordnete Paul Schiemann (Riga) 60 ermächtigt worden, mit Stresemann hinsichtlich der Gründung eines Werner, Die Durchführung der Kulturautonomie in Estland, in: Staat und Volkstum. Bücher des Deutschtums, Bd. 2, hrsg. von K. C. v. Loesch, Berlin 1926, S. 155 f£.; ders., Hat sich die Kulturautonomie in Estland bewährt?, in: Nation und Staat, 1930/31, S. 441 ff.; Garleff, Martin, Deutschbaltische Politik zwischen den Weltkriegen (Die parlamentarische Tätigkeit der deutsch-baltischen Parteien in Lettland und Estland), Bonn 1976, S. 106 ff.; ZStAP, Deutsche Stiftung, Nr. 36, 38; Revaler Bote, 23. 2.1925, Autonomie-Nummer; vgl. darüber hinaus Czollek, Roswitha, Zur Geschichte der baltendeutschen Minderheit nach der Restauration des Kapitalismus im Baltikum (1920 bis zur Umsiedlung 1939), in: JGSLE, Bd. 20/2,1976, S. 155 ff. 5/ Die „Tägliche Rundschau" schrieb z. B. weiterhin, daß „erst durch dieses Gesetz Estland sich von Rußland geschieden" habe (Revaler Bote, 23. 2.1925, S. 9). ^ ZStAP, Deutsche Stiftung, Nr. 1120, Bl. 29 ff. SM
Ebenda, Bl. 22; Ammende stellte abschließend fest: „ . . . gelingt es, die große Mehrheit aller nationalen Minderheitsgruppen in Genf zusammenzubringen und sie dort auf die Grundlage unserer deutschen Forderungen und Grundsätze zu stellen, so muß diese Entwicklung ganz ohne Zweifel ein großer bedeutsamer Vorteil für die gesamte deutsche Sache . . . sein" (ebenda, Bl. 26). "" Schiemann stammte aus dem Baltikum, seit 1907 Schriftleiter, seit 1909 Hauptschriftleiter der „Rigaschen Rundschau", eingefleischter Reaktionär. 1918 war er
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solchen Kongresses Kontakt aufzunehmen. Alle weiteren Schritte erfolgten fortan in ständiger Fühlung mit dem Auswärtigen Amt. 61 Eine Aussprache, bezeichnenderweise zwischen Angehörigen der deutschen, ungarischen und ukrainischen Minderheitengruppen, im Juli 1925 in Warschau führte zu dem Beschluß, die Tagung noch im selben Jahre durchzuführen, und zwar in Genf als dem Sitz des Völkerbundes, wobei die Denkschrift Ammendes die Grundlage der Zusammenarbeit bilden sollte. Zu Programmpunkten der europäischen Minderheitentagung wurden erhoben: 1. Die Verallgemeinerung des Minderheitenschutzes, d. h. seine Übertragung auf alle Staaten, somit auch auf solche, die bisher an keinerlei Bestimmungen des Minderheitenschutzes gebunden waren. 2. Die Frage nach der Kulturautonomie, wobei das estländische Autonomiegesetz zugrunde gelegt werden sollte. 3. Die Stellungnahme zum Völkerbund und 4. die Behandlung der Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion und die Konsequenzen, die sich daraus für die Minderheiten Europas ergaben. 62 Der Warschauer Aussprache folgte im August eine Vorkonferenz in Dresden, auf welcher das Einladungsschreiben zu einer internationalen Tagung der europäischen Minderheiten in Genf für Mitte Oktober von Josip Wilfan, dem Vertreter der Slowenen und Kroaten im italienischen Parlament, Paul Schiemann, dem Repräsentanten der Deutschen im lettischen Parlament, und Geza von Szüllö, dem Vorsitzenden der ungarischen Völkerbundliga in der Tschechoslowakei, verfaßt wurde. 63 Zwischen der Reichsregierung und den führenden Vertretern der deutschen Minderheiten bestand zwar grundsätzliche Übereinstimmung hinsichtlich der Zweckmäßigkeit eines solchen Kongresses, doch gingen die Meinungen auseinander bei der Beurteilung des hierfür unter innen- wie außenpolitischen Aspekten günstigsten Zeitpunktes. 64 Diese Vorbehalte rein taktischer Art führten dazu, daß sich die ursprünglich für den September 1925 geplante Einberufung des Kongresses verzögerte. 65 aus dem revolutionären Riga geflohen und hatte in Berlin die „Antibolschewistische Liga" mitbegründet; leitete an der Spitze des „Ausschusses der deutsch-baltischen Parteien" die politische Tätigkeit der deutschen Minderheit in Lettland; einer der Ideologen und Verfechter der „Volksgruppenpolitik". Bis 1933 führte er die deutschbaltische Fraktion im lettischen Parlament; hatte wesentlichen Anteil an der Ausprägung des ideologischen Profils der deutschen Minderheit auf reaktionärer Traditionslinie. (Näheres bei Wachsmuth, Wolfgang, Von deutscher Arbeit in Lettland 1918-1934, Bd. 3, Köln 1953, S. 171 ff.; Garleff, S. 54 ff.; ders., Paul Schiemanns Minderheitentheorie als Beitrag zur Lösung der Nationalitätenfrage, in: Zeitschrift für Ostforschung, 1976, 4, S. 632 ff.; Rimscha, Hans v., Paul Schiemann als Minderheitenpolitiker, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 1956, 4, S. 58 ff.; Handwörterbuch des Grenz- und Auslandsdeutschtums, Bd. 2, Breslau 1936, S. 162.) M
ZStAP, Deutsche Stiftung, Nr. 1120, Bl. 14, 78, 81. ** Ebenda, Bl. 29 ff.; Nr. 1121, Bl. 601 ff. 01 Vgl. Keimes, Erwin, Der Europäische Nationalitätenkongreß 1925-1938, Köln 1958, S. 47. Der vollständige Text des Einladungsschreibens ist abgedruckt bei Plesse, S. 24 f. ZStAP, Deutsche Stiftung, Nr. 1120, Bl. 22 ff. 65 Bereits im September 1924 kam es auf der Berner Tagung der Interparlamentarischen Union zu einer Besprechung zwischen Vertretern der deutschen Minderheiten, an der auch Wilfan (Abgeordneter der Slowenen und Kroaten im italienischen Parlament)
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Auf Grund des erwähnten Einladungsschreibens fand am 14. Oktober 1925 in Genf zunächst die Vorkonferenz zur 1. Minderheitentagung statt, die von Wilfan geleitet wurde.66 Die Konferenz beschloß, ein engeres Komitee zu bilden, das noch verschiedene, den öffentlichen Kongreß betreffende Fragen, insbesondere die Zusammensetzung des Präsidiums, klären und die vorzulegenden Resolutionen vorbereiten sollte. Dem Komitee gehörten Wilfan, Schiemann und von Szüllö und je ein Delegierter der verschiedenen nationalen Minderheiten an. Am 15. und 16. Oktober 1925 fand der 1. Europäische Minderheitenkongreß (EMK) statt. Auf ihm waren 50 Delegierte von 28 Minderheiten, die aus 12 Staaten stammten, vertreten. Die zwölf repräsentierten nationalen Minderheiten waren: Ungarn aus der Tschechoslowakei, Jugoslawien, Rumänien; Ukrainer aus Polen; Slowenen und Kroaten aus Italien; Slowenen aus Österreich; Polen aus Deutschland, der Tschechoslowakei, Lettland, Litauen; Belorussen aus Polen; Lausitzer Sorben aus Deutschland; Russen aus der Tschechoslowakei; Juden aus Lettland, Litauen, Polen, der Tschechoslowakei; Deutsche aus der Tschechoslowakei, Polen, Rumänien, Ungarn, Jugoslawien, Italien, Dänemark, Lettland, Estland; Dänen aus Deutschland; Litauer aus Polen.67 Zum Präsidenten des EMK wurde Wilfan gewählt, und zu Vizepräsidenten wurden Isaack Grünbaum (als Vertreter der Juden), Paul Schiemann (Sprecher der Deutschen), Graf Sierakowski (als Repräsentant der Polen) und Geza von Szüllö (als Wortführer der Ungarn) berufen. Generalsekretär des Kongresses wurde Ammende.68 Den Vorsitz einem Nichtdeutschen zu übertragen, war ein wohlüberlegter Schachzug, um dem EMK nach außen hin den „deutschen Charakter" zu nehmen. Unumwunden bekannte Ammende in diesem Zusammenhang: „Gelingt dieses aber nicht (die Gewinnung Wilfans als Präsident des EMK — M. R.), so wäre das Zustandekommen der Veranstaltung auch aus diesem Grunde in hohem Maße erschwert; denn jeder verständige Beobachter unserer Verhältnisse wird zugeben müssen, daß die Tagung bezüglich ihrer Vorbereitung und Organisation unter keinen Umständen den Anschein eines Vorwiegens der Gruppen aus dem Lager der besiegten Völker aufweisen kann."69 Die Herstellung der Verbindung unter den Teilnehmern des Kongresses oblag dem „Ausschuß der europäischen Nationalitätenkongresse". Als Exekutivorgan stand dem Ausschuß das von Ammende geleitete Generalsekretariat zur Seite, das zunächst seinen Sitz in Genf, ab 1927 in Wien hatte. Zum Aufgabenbereich des Generalsekretariats gehörten neben der Erledigung der unmittelbaren internen Organisationsgeschäfte die Aufrechterhaltung der Verbindung zwischen
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und ein ungarischer Minderheitenvertreter teilnahmen und auf der eine internationale Minderheitenkonferenz für den September 1925 in Aussicht genommen wurde. (Ebenda, Nr. 1121, Bl. 597.) Vgl. Sitzungsbericht der ersten Konferenz der organisierten nationalen Gruppen in den Staaten Europas im Jahre 1925 zu Genf (im folg.: SB mit Angabe des betreffenden Jahres), Wien 1927, S. 12. Vgl. ebenda, S. 10 f. Vgl. Keimes, S. 47. ZStAP, Deutsche Stiftung, Nr. 1120, Bl. 27.
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den einzelnen Minoritäten, die Intensivierung ihrer Zusammenarbeit sowie die Information und Beeinflussung der Presse und der Öffentlichkeit im Sinne der Bestrebungen des Minderheitenkongresses. Besonderen Wert legten die Initiatoren des Kongresses darauf, mit den bestehenden internationalen Organisationen, die auch mit Minderheitenfragen befaßt waren, in engen Kontakt zu treten. Hierzu gehörten u. a. der „Weltverband der Völkerbundgesellschaften" und die „Interparlamentarische Union". Auf den Tagungen dieser Organisationen wurde ein Zusammengehen der Vertreter der am EMK beteiligten Minderheiten angestrebt. Die Verbindung zur erstgenannten Organisation k a m vor allem in Berlin durch die ständige Zusammenarbeit Ammendes und des Baltendeutschen Werner Hasselblatt mit Regierungspräsidenten a. D. O. J u n g h a n n zustande. 7 0 Da die F ü h r e r der deutschen Minoritäten entsprechend ihrer mit der G r ü n d u n g des EMK verfochtenen Zielsetzung eine maßgebliche Rolle im Kongreß spielten, was vor allem darin zum Ausdruck kam, daß der „Verband der deutschen Volksgruppen in Europa" jeweils vor den Genfer Tagungen des Minderheitenkongresses in engster Kooperation mit dem Auswärtigen A m t die Linie f ü r das gemeinsame A u f t r e t e n auf dem Kongreß festlegte 71 , was auch zahlreiche Akten der Deutschen Stiftung belegen 72 , konnte das imperialistische Deutschland dieses scheinbar unabhängige F o r u m dazu benutzen, mittels der internationalen Diskussion der Minderheitenfrage beständig auf die Untragbarkeit der durch das Versailler System geschaffenen Situation zu verweisen. Daß damit letztlich die Revision des Vertrages, insonderheit der deutschen Ostgrenze verfochten wurde, unterstrichen die „Münchner Neuesten Nachrichten". Es heißt hier: „Bei der heutigen Art der den bekannten paneuropäischen Gedankengängen nicht allzu fernstehenden internationalen Behandlung von Minderheitenfragen besteht ger a d e f ü r die deutschen Minderheiten im Auslande, soweit sie als geschlossene Siedlung unmittelbar an das deutsche Muttervolk angrenzen, die Gefahr, daß für sie nur Minderheitenrechte gefordert werden, während sie doch das weit größere Recht auf Anschluß an das Deutsche Reich haben." 7 3 Wir e r f a h r e n mit aller Deutlichkeit aus einem Bericht des Deutschen Konsulats
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Junghann war der ständige Vorsitzende des Minderheitenausschusses der „Deutschen Liga für den Völkerbund" und zugleich Mitglied einer von der Minderheitenkommission des Weltverbandes der Völkerbundgesellschaften" eingesetzten sogenannten Sachverständigengruppe, welche die Aufgabe einer grundsätzlichen Bearbeitung des Minderheitenproblems übernommen hatte. (Vgl. Keimes, S. 67 Anm. 1.) Auf der Jahrestagung des „Verbandes der deutschen Volksgruppen in Europa" im Jahre 1930 in Stuttgart hatte Brandsch über die Ziele des o. g. Verbandes gesprochen und dabei betont: „Unser Verband hat sich eifrig auf dem Gebiet der internationalen Fragen mitbetätigt. Die Nationalitätenkongresse in Genf verdanken unserem Verband mit ihre Entwicklung. Die programmatischen Erklärungen dieser Kongresse sind unter unserer eifrigen und hingebungsvollen Mitarbeit zustandegekommen" (Kulturwehr, Zeitschrift des Verbandes der nationalen Minderheiten in Deutschland, 6, 1930, 8, S. 418). ZStAP, Deutsche Stiftung, Nr. 1121, Bl. 359 ff. Münchener Neueste Nachrichten, 21. 8.1927. ZStAM, Rep. 77 Tit. 4 032 Nr. 20 Bd. 3, Bl. 44.
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in Genf an das Auswärtige Amt vom September 1926, daß der Europäische Minderheitenkongreß als Instrument des deutschen Imperialismus zur Revision des Versailler Vertrages fungieren sollte. Hier hieß es, daß die Internationalisierung der Minderheitenfrage vor allem jenen Nationen diene, die zahlreiche Minderheiten im Ausland hätten, das seien in erster Linie die Deutschen und die Ungarn. Weiter wurde betont, daß der Kongreß vom allgemein deutschen Standpunkt aus unbedingt wertvoll sei, denn alles, was zur Propaganda in der Minderheitenfrage geschähe, sei von deutschem Interesse. 74 Eine Reihe von Akten weist eindeutig nach, daß die Gründung und jährliche Durchführung der Europäischen Minderheitenkongresse vom Auswärtigen Amt gelenkt und finanziert wurde. Die mit dem 25. April 1929 datierte Aufzeichnung des Legationsrates Terdenge aus der Abteilung Auslandsdeutschtum, bestimmt f ü r Stresemann, t r i f f t die Feststellung: „Der .Europäische Nationalitätenkongreß' hat sich in der Minderheitsbewegung zu einem Faktor entwickelt, mit dem die öffentliche Meinung in den verschiedenen Ländern sowie der Völkerbund zu rechnen beginnen. Den deutschen Minderheiten bietet der Kongreß eine internationale Plattform f ü r die Vertretung ihrer Interessen in der breitesten Öffentlichkeit. Dies um so mehr, als die deutschen Volksgruppen im Nationalitätenköngreß nicht nur zahlenmäßig das Übergewicht haben, sondern auch zum weitaus größten Teil die Mittel f ü r die Unterhaltung des Büros und die Durchführung der jährlichen Hauptversammlungen und periodischen Ausschußsitzungen aufbringen." 7 5 Die Finanzierung durch das Auswärtige Amt war von entscheidender Bedeutung f ü r den Kongreß. Der Leiter der Deutschen Stiftung, Krahmer-Möllenberg, stellte in einem Bericht an die Abteilung Auslandsdeutschtum fest, daß es sich hierbei um eine durch „die Leitung der Reichspolitik wirtschaftlich erst ermöglichte Bewegung" handele. 76 Nach der Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund machte sich Stresemann mit großen Worten zum Anwalt aller deutschen Minderheiten Europas, wobei es ihm ausschließlich darum ging, die unter der Garantie des Völkerbundes stehenden Minderheitenschutzverträge im Interesse des deutschen Imperialismus zu nutzen. Ihm sekundierte auf außerstaatlicher Ebene der Europäische Minderheitenkongreß und hier insbesondere die deutschen Minderheitenführer. Fast alle seit 1925 veranstalteten Minoritätenkongresse befaßten sich mit der Tätigkeit des Völkerbundes auf dem Gebiet des Minderheitenproblems: Sie formulierten ein Programm, das 1927 in der Forderung nach einer ständigen Minderheitenkommission beim Völkerbund, der Heranziehung von Minoritätenvertretern zu den Minderheitenverhandlungen und in dem Verlangen nach größter Publizität gipfelte. Das von Stresemann auf der Märztagung des Völkerbundsrates 1929 vertretene Programm trug deutlich die Spuren dieser Grundsätze. 77 Stresemann hatte hier /0 m
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Zit. nach Fuchs, Von Locarno nach München, S. 155. Bericht Krahmer-Möllenbergs vom September 1930, ZStAP, Deutsche Stiftung, Nr. 992, Bl. 39. Vgl. Rede des Reichsministers Stresemann über das Minderheitenproblem auf der Tagung des Völkerbundes am 6. 3. 1929, in: Junkerstorff, Karl, Die Aufgabe der internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Minderheitenrechts, Königsberg 1933, S. 5.
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unmißverständlich betont, daß es weder eine unmögliche noch eine eines souveränen Staates unwürdige Aufgabe sei, die den durch die Minderheitenbestimmungen verpflichteten Ländern auferlegt worden sei. Bezeichnend ist, daß Stresemann die Existenz von Minoritäten auch in Deutschland verschwieg und nachzuweisen versuchte, daß das Interesse eines Landes für Minderheiten in einem anderen Lande, das sich in der Anrufung der Garantie des Völkerbundes bekunde, nicht als eine unzulässige politische Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines fremden Staates angesehen werden könne. 78 Unmittelbar nach der Märztagung des Völkerbundsrates erarbeitete der Ausschuß der Minderheitenkongresse eine Denkschrift, die dem japanischen Botschafter in Paris, Adatci, in seiner Eigenschaft als Berichterstatter des Völkerbundsrates über die Möglichkeiten der Verbesserung des Minderheitenverfahrens am 29. April 1929 übermittelt worden war. 7 9 Diese Denkschrift bezeichnete als ihre Aufgabe die Stellungnahme zu den von den Vertretern Deutschlands und Kanadas bei der letzten Tagung des Völkerbundsrates hinsichtlich des Schutzes der nationalen Minderheiten gestellten Anträge. Sie begann mit einer Verteidigung der Genfer Minderheitenkongresse und betonte auch hier wieder die „Internationalität" des Minderheitenproblems, womit sie sich ganz auf der von den imperialistischen Kreisen Deutschlands verfolgten Linie bewegte. Mit peinlicher Sorgfalt verzeichnete die Denkschrift die Nationalitätenverhältnisse im Osten und Südosten Europas, nur den einzigen mitteleuropäischen Staat, der mehrfach an dem Minderheitenproblem im Sinne des Denkschrifttextes beteiligt war — Deutschland —, ließ sie außer acht. Den einleitenden Punkten, deren ideologische Färbung die Zielsetzung imperialistischer deutscher Kreise offenbart, folgten Vorschläge zur Lösung der Minderheitenfrage unter gleichzeitiger Aufzeichnung einiger praktischer Wege. Als am besten geeignet bezeichnete der Kongreßausschuß wiederum die Kulturautonomie. Den größten Raum widmete die Denkschrift einer Änderung des Minderheitenverfahrens im Völkerbund, wobei sie auch entsprechende Vorschläge unterbreitete. Diese betrafen die Wiedereinführung der Öffentlichkeit des Verfahrens, die Ergänzung der den Dreierausschüssen, eventuell den Ratsmitgliedern hinsichtlich jeder an den Völkerbund gerichteten Beschwerde erteilten Aufklärungen, die Verbesserung der Praxis der Dreierausschüsse sowie die Einsetzung eines besonderen Sachverständigenausschusses beim Völkerbund. 80 Um diesen Postulaten zum Durchbruch zu verhelfen, widmeten sich der Ausschuß des Europäischen Minderheitenkongresses und das Generalsekretariat vornehmlich der Information und Beeinflussung der öffentlichen Meinung Europas im Sinne der revanchistischen Bestrebungen des Kongresses. In der letzten Januar/s
„Es ist vollkommen verfehlt", heißt es bei Stresemann weiter, „davon zu sprechen, daß ein Eintreten für kulturelles Recht und kulturelle Freiheit der Minderheiten der Ansatz des Hebels sei, um Staaten auseinandersprengen zu wollen" (ebenda). Der vollständige Text dieser Denkschrift ist abgedruckt in: Nation und Staat, 1929, 6, S. 771 ff. Vgl. Kulturwehr, 5, 1929, 3, S. 190.
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woche 1929 hielt der Präsident des EMK Wilfan nach einem Bericht im „Journal de Genève" in Genf vor einem geladenen Kreise, zu dem auch Angehörige des Völkerbundssekretariats und eine Reihe ausländischer Journalisten gehörten, einen Vortrag über schwebende Minderheitenfragen. Vier Wochen später begaben sich Wilfan und Ammende auf eine Reise durch Belgien, Holland und die skandinavischen Länder u n d setzten sich dort mit f ü h r e n d e n Politikern in Verbindung. In Holland verhandelten beide m i t Außenminister Beelaerts van Blockland, der im J a h r zuvor im Völkerbund die Minderheitenfrage angeschnitten hatte. 8 1 Über den Zweck der Skandinavienreise erklärte Wilfan, daß die Absicht bestünde, die Staatsmänner u n d die öffentliche Meinung in Skandinavien von der Notwendigkeit zu überzeugen, die europäischen Miriderheitenprobleme im Völkerbund zur Behandlung zu bringen. Dasselbe verfolgte eine vom Generalsekretär des Kongresses durchgeführte Vortrags- und Informationsreise nach Finnland, bei der dieser m i t Vertretern der finnischen Öffentlichkeit und v. a. mit Außenminister Procepé, der Finnland im Völkerbundsrat vertrat, Fühlung nahm. 8 2 Der Beeinflussung der öffentlichen Meinung in den verschiedenen europäischen Staaten diente auch die im Anschluß an den 5. Minderheitenkongreß im August 1929 erfolgte Konstituierung des „Europäischen Verbandes der Minoritätenjournalisten". An ihr beteiligten sich Journalisten aus 15 Staaten. Zum Präsidenten der Organisation w u r d e der ehemalige slowenische Abgeordnete im italienischen Parlament Besednjak aus Görz gewählt. Das Präsidium setzte sich ferner aus Vertretern der deutschen, ungarischen, jüdischen, katalanischen, bulgarischen, ukrainischen u n d tschechischen G r u p p e n zusammen. 8 3 In diesem Zusammenhang ist noch eine Veröffentlichung charakteristisch, die von Ammende als dem Sekretär des Minderheitenkongresses initiiert w u r d e und im J a h r e 1930 erschien. Es handelt sich u m sogenannte Lageberichte u n t e r dem Titel „Die Nationalitäten in den Staaten Europas". 8 4 Daß diese Publikation der politischen Agitation in Europa dienen sollte, geht mit aller Deutlichkeit aus dem Referat Ammendes auf dem 6. EMK hervor, wo er zu dem Thema „Grundsätzliche Schlußfolgerungen, die sich aus den Lageberichten ergeben" sprach und diese Arbeit als „geistige Offensive gegen die heutigen Zustände in vielen europäischen Staaten" bezeichnete. 85 All das diente dem Zweck, tatsächliche Benachteiligungen der Minderheiten, die sich aus der bürgerlich-nationalistischen Politik Polens, der Tschechoslowakei und anderer Staaten ergaben, maßlos auf-
Ebenda, S. 231 ff. *2 Ebenda. Vgl. Ausschuß der Europäischen Nationalitätenkongresse, Mitteilungen der Geschäftsführung, Wien, April 1930, S. 2. M Die Berichte beschäftigen sich mit 40 Minderheiten, die in 14 europäischen Staaten lebten. Sie enthalten neben Daten über Bevölkerungszahl und -bewegung Angaben über die wirtschaftliche Lage, Kirche und Schulwesen, Presse, kulturelle Verhältnisse, Organisation u. a. m. Vgl. hierzu auch Wasilewski, Leon, Aperçu critique sur „Die Nationalitäten in den Staaten Europs", Warszawa 1931, S. 3 ff. Reichenberger Zeitung, 7. 9.1931.
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zubauschen, diese Länder international zu diskreditieren und damit die imperialistischen deutschen Revisionsansprüche zu begründen. Da die Initiatoren des Minderheitenkongresses mit diesem Instrument die große Mehrheit der nationalen Minderheiten in Genf „auf die Grundlage der deutschen Forderungen und Grundsätze" 86 zu stellen beabsichtigten, ist es nur folgerichtig, daß sich das Postulat der deutschen Minderheitenführer nach Kulturautonomie wie ein Leitfaden durch die Kongresse zieht. 87 Dieses Motiv bewegte sich damit ganz auf der von Stresemann vertretenen Linie, die er anläßlich der Eröffnung des Hauses des Deutschtums in Stuttgart am 21. Mai 1925 öffentlich behandelt hatte, als er f ü r die deutschen Minderheiten im Ausland die Forderung nach Kulturautonomie erhob. 88 Bereits der 1. Minderheitenkongreß faßte eine entsprechende Entschließung, worin es u. a. heißt: „Die national-kulturelle Freiheit ist ebenso ein geistiges Gut der Kulturwelt, wie die religiöse Freiheit . . . Dementsprechend soll jeder Staat, in dessen Grenzen auch andere nationale Volksgruppen leben, gehalten sein, diesen als Gemeinschaften die freie kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung . . . zu gewährleisten. Die Anerkennung und praktische Durchführung dieser Prinzipien schaffen die Voraussetzung f ü r eine Verständigung der Völker und damit f ü r den Frieden Europas." 89 Die Kulturautonomie wurde somit von der Reichsregierung und den deutschen Minderheitenführern unter den gegebenen Bedingungen als geeignetes Mittel zur Schaffung günstiger Voraussetzungen f ü r eine spätere Revision des Versailler Vertrages betrachtet, wobei sie den Minderheitenkongreß als Forum zur Propagierung dieser gegen die östlichen Nachbarländer Deutschlands gerichteten Ziele nutzten. Auf den Charakter des Kongresses eingehend, äußerte z. B. Ammende: „Eine Verständigung über die in Mittel- und Osteuropa noch zu ändernden Grenzen ... wird viel leichter zu erzielen sein, wenn es diesseits und jenseits zur Regelung der Frage eines friedlichen Zusammenlebens der Völker durch Einführung der kulturellen Selbstverwaltung kommt." 90 Und weiter hieß es: „Die ZStAP, Deutsche Stiftung, Nr. 1120, Bl. 22; siehe hierzu auch Sworakowski, Witold, Mi^dzynarodowe zobowiqzania mniejszosciowe Polski (Die internationalen Minderheitenverpflichtungen Polens), Warszawa 1935, S. 183 ff.; Kierski, Kazimierz, Ochrona praw mniejszosci w Polsce 1919—1931 (Der Minderheitenschutz in Polen 1919 bis 1931), Poznan 1933, S. 44 ff.; Katelbach, Tadeusz, Niemcy wspölczesne wobec zagadnien narodowosciowych (Die Deutschen und die Minderheitenfrage), Warszawa 1932, S. 195 ff.; Wrzesinski, Wojciech, Polski ruch narodowy w Niemczech (Die polnische nationale Bewegung in Deutschland), Poznan 1970, S. 173 ff.; Archiwum Akt Nowych (AAN) Warszawa, Ambasada Berlin, Nr. 1 588, Die Europäischen Minderheitenkongresse in Genf. 87 Aus einem Interview, das Schiemann im September 1926 der Kattowitzer Zeitung gab, geht hervor, daß er der vom Kongreß gefaßten Entschließung über die kulturelle Selbstverwaltung die größte praktische Bedeutung beimaß (vgl. Kattowitzer Zeitung, 4.9.1926). Vgl. Kulturwehr, 1,1925, 2, S. 49. m ZStAP, Deutsche Stiftung, Nr. 1121, Bl. 284. *> Vgl. Kulturwehr, 2,1926, 2, S. 391.
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Genfer Nationalitätentagungen dürfen keineswegs mit pazifistischen Veranstaltungen verwechselt werden, denn die Grundlage, auf die sie sich aufbauen, ist nicht die Aufgabe, sondern die Betonung des Volkstums." 91 Mit der Forderung nach Kulturautonomie war nicht das „Endziel" der Bestrebungen der deutschen Minderheiten angesprochen worden, sondern es handelte sich hierbei lediglich um ein Mittel zur Erreichung weiter gesteckter Ziele, nämlich der Änderung der staatlichen Zugehörigkeit. Dies bekannte auch Schmidt-Wodder, Führer der deutschen Minderheit in Dänemark und Abgeordneter im dänischen Reichstag, in einem Bericht über den 1. Minderheitenkongreß: „Die Erkenntnis kam stark zum Ausdruck, daß die kulturelle Autonomie Entspannungen schafft und dieselbe entscheidenden Wert hat, weil sie die Revision der Staatsgrenzen und des Staatsgefüges, die unvermeidlich kommt, erleichtert und Wege zeigt und . . . zu einer Neuordnung führen kann." 92 In engstem Konnex mit der Frage der Kulturautonomie ist die Theorie der sogenannten Volksgemeinschaft zu sehen, die dazu beitragen sollte, dem deutschen Monopolkapital wiederum Hegemonialchancen zu sichern. Die deutschen Minderheitenführer nutzten den Apparat ihres Kongresses für die Propagierung der expansiven „Volkstumstheorie", die von solchen Ideologen des deutschen Imperialismus wie Boehm, Raschhofer, Trampler, von Loesch und anderen entwickelt worden war. 93 Schiemann hatte in diesem Zusammenhang erklärt: „In dem Augenblick, wo die Kulturpflege aus dem staatlichen Rahmen herausgehoben wird, wird sie zur Aufgabe einer überstaatlichen Gemeinschaft. Und diese überstaatliche Gemeinschaft, sie wird dann die eigentliche und alleinige Trägerin des nationalen Gedankens." 94 Die Idee der „Volksgemeinschaft" wurde auf den Minderheitenkongressen erstmals 1927 von dem Führer der deutschen Minderheiten in Polen, Naumann, ver-
Ebenda, S. 392. ZStAP, Deutsche Stiftung, Nr. 1 121, Bl. 292. In einer 1925 dem Auswärtigen Amt vorgelegten, von Generalkonsul von Hentig (Posen) angeregten Denkschrift „Die politische Aufgabe der deutschen Minderheit in Polen" kam dieser Zusammenhang ebenfalls sinnfällig zum Ausdruck. Ohne einer späteren Grenzänderung vorzugreifen, wurde die Parole eines vorläufigen Sichabfindens mit dem territorialen Status quo verkündet, „weil das Bewußtsein notwendiger Zusammenfassung in positiver Arbeit im Hinblick auf den erhofften Interimscharakter dieser Grenzführung nicht den festen Boden gewinnen kann, den wir als Grundlage brauchen". (Pieper, S. 81.) Vgl. Boehm, Max-Hildebert, Das eigenständige Volk, Göttingen 1932; ders., Europa irredenta, Berlin 1923; ders., Nation und Nationalität, Karlsruhe 1927; ders., Grenzdeutschland seit Versailles, Berlin 1930; ders., Die deutschen Grenzlande, Berlin 1925; Raschhofer, Hermann, Hauptprobleme des Nationalitätenrechts, Stuttgart 1931; Trampler, Kurt, Staaten und nationale Gemeinschaften. Das Nationalitätenproblem im neuen Europa, München 1932; Loesch, K. Ch. v., Die deutsche Bevölkerungsfrage im europäischen Osten, Berlin 1929; ders., Das Antlitz der Grenzlande, München 1933. y'' Schiemann, Paul, Die Staatsform der Zukunft, in: Die offene Wunde Europas, Hermannstadt 1930, S. 19.
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treten 95 , nachdem er sie bereits in der Zeitschrift der Minderheiten in Polen96 und auf der Tagung der Union der Völkerbund-Ligen in Berlin im Jahre 1927 ausgesprochen hatte. 97 Der 4. Minderheitenkongreß 1928 faßte eine diesbezügliche Entschließung, die die kulturelle Zusammenarbeit aller konnationalen Volksgruppen unter sich und mit dem „Staatsvolk" forderte. In der betreffenden Resolution heißt es: „Der Kongreß erinnert an die in den Jahren 1925 und 1926 gefaßten Resolutionen über die kulturelle Entwicklungsfreiheit der europäischen Nationalitäten. Er stellt fest, daß ohne wechselseitige kulturelle Beziehungen der gleichnationalen Gruppen untereinander bzw. mit dem Stammvolke eine gedeihliche kulturelle Entwicklung unmöglich ist. Sich allein überlassen und ohne geistige Befruchtung müssen die einzelnen Volksgruppen verkümmern, was auch nicht im Interesse der Staaten liegen kann . . . Der Staat darf die wechselseitigen kulturellen Beziehungen und ihre praktische Betätigung durch keine Maßnahmen irgendwelcher Art behindern." 98 Die eigentliche Proklamation der Volksgemeinschaftsidee erfolgte auf dem 6. Minderheitenkongreß im Jahre 1930. In einer Resolution wurde der Zusammenschluß der verschiedenen Minoritäten eines Volkes in einer Volksgemeinschaft gefordert. Diese Organisationen sollten sich „auf den Volksgemeinschaften als solchen, also auf den Völkern, jedem in seiner Totalität, ohne Rücksicht auf seine politische Lage, aufbauen". 99 Auf dem 7. Minderheitenkongreß 1931 wurden entsprechende Grundsätze für die Organisation der Volksgemeinschaft ausgearbeitet. 100 An erster Stelle wurde die Fixierung der kulturellen Ziele und Aufgaben der Volksgemeinschaften betont. Die hierin enthaltene Forderung nach Formierung einer nationalistischen „Kulturgemeinschaft" in den Nachbarstaaten Vgl. SB 1927, S. 82 f£. Auch Ammende führte hier u. a. aus, daß das Ergebnis „das Erstarken der keine staatlichen Grenzen kennenden Blut-, Sprach- und Kulturgemeinschaft [ist], die wir auch [als] Volksgemeinschaften bezeichnen. Das ist eine Tatsache, an der sich nicht mehr rütteln läßt, ein Umstand, der es auch mit sich bringt, daß eine Volksgemeinschaft sich an der Existenz und dem Schicksal eines jeden ihrer Teile draußen in det Welt nicht mehr desinteressieren kann ..." (ebenda, S. 59 ff.). >*> Vgl. Naumann, Eugen, Volk und Staat, in: Natio, Zeitschrift der nationalen Minderheiten Polens, Warschau, 1927, 7/8, S. 8 ff. Der Vorsitzende der deutschen Fraktion im polnischen Sejm, Abgeordneter Eugen Naumann, hatte in einer Rede im Juni 1927 vor internationalen Pressevertretern und Delegierten der verschiedensten Völkerbundligen erklärt: „Eine völkische Minderheit kann in insularer Abgegrenztheit nicht Trägerin lebendigen Volkstums bleiben . . . Uber die staatlichen Grenzen in aller Freiheit ohne die Beargwöhnung wegen staatsfeindlicher irredentistischer Tendenzen den Pulsschlag des staatlich geeinten Muttervolkes suchen und fühlen zu dürfen, mit allen Menschen gleichen Volkstums die große Volksgemeinschaft zu bilden ..., das ist das letzte Ziel aller deutschen und, wie ich glaube, schlechthin aller völkischen Minderheiten" (Grenzschau, Mitteilungs-Blatt der Reichszentrale für Heimatdienst, August/September 1928, S. 34). *> Nation und Staat, 1931/32, S. 464 f. w SB 1930, S. 147. Vgl auch die Referate von Wilfan und Naumann, ebenda, S. 100 ff., 122 ff. Vgl. ebenda, 1931, S. 154 ff.
Europäischer Minderheitenkongreß
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Deutschlands w a r darauf ausgerichtet, den Kompetenzbereich des jeweiligen Staates erheblich einzuschränken und eine Annäherung der deutschen Minderheiten an das Deutsche Reich zu suchen. Der Kongreß benutzte den Begriff der „überstaatlichen Konnationale" u n d entwickelte ein Programm, das dem deutschen Imperialismus die Zerreißung der Fesseln von Versailles und die Verwirklichung weit darüber hinausgehender Ziele ermöglichen sollte. Gemäß dieser Konzeption sollte der Blick auf eine über die Grenzen Deutschlands hinausreichende politisch-soziale Einheit gelenkt werden, u m damit dem „Volkstum" die Rolle einer Klammer zwischen dem derzeitigen Machtbereich des deutschen Monopolkapitals und dem erstrebten Einflußgebiet zuzuweisen. Daraus ergab sich die irredentistische Forderung nach Angliederung der außerhalb der festgelegten Staatsgrenzen Deutschlands befindlichen „deutschen Volksteile" u n d des von ihnen ganz oder teilweise bewohnten Territoriums. Das war identisch mit der Absicht, diejenigen Nachbarstaaten Deutschlands zu zerschlagen, welche in ihrer Bevölkerungsstruktur deutschsprachige Minderheiten aufwiesen — in erster Linie Polen u n d die Tschechoslowakei. So wurde zwischen dem territorialen Bestand Nachkriegsdeutschlands u n d der über die damaligen Reichsgrenzen hinausreichenden Existenz deutschen „Volkstums" ein Widerspruch konstruiert, den m a n n u r dadurch als lösbar hinstellte, daß „Volk" u n d „Staat" zur Deckung gebracht und damit das „Selbstbestimmungsrecht" der Deutschen verwirklicht wurde. Daraus leitete sich der Anspruch ab, die bestehenden Grenzen zu beseitigen und die Hegemonie des deutschen Imperialismus in Europa zu errichten. Auf einen einfachen Nenner gebracht, zielte dieses P r o g r a m m auf die Unterw e r f u n g der in den Nachbarstaaten lebenden deutschen Minderheiten unter den annexionistischen Einfluß des im Reich herrschenden Finanzkapitals und damit gleichzeitig auf die staatliche Auflösung der bereits frühzeitig ausersehenen Opfer künftiger deutscher Aggressionspolitik. Es enthielt praktisch die Richtlinie f ü r die Wirksamkeit der „Fünften Kolonne". Der Europäische Minderheitenkongreß, der zu einem Zeitpunkt entstand, als der deutsche Imperialismus zur außenpolitischen Offensive mit dem Ziel der Grenzrevision überging, und in dem Akteure wie Schiemann, N a u m a n n und Ammende die Politik entscheidend mitbestimmten, fungierte als Instrument des deutschen Imperialismus zur Durchsetzung seiner machtpolitischen Interessen. Gedacht als wirksames propagandistisches Gegengewicht gegenüber der marxistisch-leninistischen Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion 1 0 1 , w a r der Europäische Minder,U1
Seitens des Präsidiums des EMK drückte dies der klerikale Abgeordnete und Führer der ungarischen Minderheit in der Tschechoslowakei, Szüllö, unverhüllt in seiner Schlußrede auf dem 2. Minderheitenkongreß aus: „Die Lösung des nationalen Minderheitenproblems ist für ganz Europa von größtem Belang. Die Beschwerden der nationalen Minderheiten liefern noch das beste Propagandamittel für die Bolschewiki. Werden die Minderheitenprobleme nicht gelöst, so kann die Verzweiflung der nationalen Minderheiten liefern doch das beste Propagandamaterial für die Bolschewiki. Ähnlich äußerte sich auch Ammende auf dem 5. Minderheitenkongreß 1929, und zwar in der Richtung, daß eines der erfolgversprechendsten Propagandamittel der Kommu-
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heitenkongreß eines der Mittel des deutschen Monopolkapitals, sich der Minderheitenfrage f ü r den A u s b a u einer deutschen Großmachtstellung zu bedienen.
nistischen Internationale die Art darstelle, wie in der Sowjetunion eine Reihe von Nationalitätenproblemen angefaßt werde. Gerade weil der Kongreß den Gedanken vertrete, den „nationalen Ausgleich auch im Rahmen des nichtkommunistischen Staates" zu ermöglichen, erwachse ihm die Pflicht, von der Sachlage Kenntnis zu nehmen (Nation und Staat, 1929/30, S. 61).
Adolf Rüger
Die kolonialen Bestrebungen der imperialistischen deutschen Bourgeoisie und ihre Reaktion auf Forderungen nach Freiheit für Afrika 1917-1933
Die imperialistische deutsche Bourgeoisie faßte nach Ausbruch des ersten Weltkrieges in zahlreichen Projekten überseeische koloniale Expansionsziele ins Auge. Dabei wurde die Schaffung eines deutschen mittelafrikanischen Kolonialreiches, das auch als „deutsches Indien" bezeichnet worden ist, zu einer Kernforderung. 1 Die Vorstellungen über die Grenzen dieses überseeischen Imperiums der Weltmacht Deutschland blieben variabel, schwankten mit dem Kriegsglück. Sie gründeten sich, unabhängig von allen Abweichungen im Detail, im wesentlichen auf die Spekulation, die Ententemächte und deren Verbündete auf den europäischen Kriegsschauplätzen besiegen zu können. Noch bevor der Kriegsausgang entschieden war, trat mit der Sozialistischen Oktoberrevolution in Rußland eine von den deutschen Politikern unerwartete Veränderung i n der internationalen Konstellation ein. Sie berührte auch die kolonialen Kriegszielpläne. Der junge Sowjetstaat hatte die Forderung nach weltweiter Anerkennung des Rechts der Völker auf nationale Selbstbestimmung auf die Tagesordnung der internationalen Politik gesetzt. Am 8. November 1917 (26. Oktober alten Stils) wandte sich der II. Gesamtrussische Sowjetkongreß mit dem Dekret über den Frieden an die Regierungen und an die Völker der kriegführenden Staaten. Er schlug vor, sofort einen Waffenstillstand abzuschließen und offene Verhandlungen über einen gerechten demokratischen Frieden aufzunehmen, über einen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen. Die nationale Selbstbestimmung f ü r jede unterdrückte oder in Abhängigkeit gebrachte Völkerschaft sollte garantiert werden, „unabhängig davon, wann diese gewaltsame Angliederung erfolgt ist, sowie unabhängig davon, wie entwickelt oder rückständig eine solche mit Gewalt angegliederte oder mit Gewalt innerhalb der Grenzen eines gegebenen Staates festgehaltene Nation ist und schließlich unabhängig davon, ob diese Nation in Europa oder in fernen, überseeischen Ländern lebt". 2 W. I. Lenin, der den Entwurf unterbreitet und be1
Siehe Drang nach Afrika. Die koloniale Expansionspolitik und Herrschaft des deutschen Imperialismus in Afrika von den Anfängen bis zum Ende des zweiten Weltkrieges, hrsg. von Helmuth Stoecker unter Mitwirkung von J. Ballhaus u. a., Berlin 1978, S. 221-242. Weitere bibliographische Verweise ebenda, S. 242. * Lenin, W. L, Dekret über den Frieden, in: Werke, Bd. 26, S. 239-243. 16
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gründet hatte, bestand darauf, daß das Dekret eine Fassung erhielt, auf die die Regierungen der kriegführenden Mächte aller Voraussicht nach antworten mußten. 3 Wie Gaddis Smith vom Institute of Commonwealth Studies in Oxford in einer 1967 veröffentlichten Forschungsarbeit schrieb, empfanden die Westalliierten die Wirkung dieser Ereignisse vor allem deshalb als unheilvoll, weil „die bolschewistische Friedenspropaganda den Willen der alliierten Bevölkerungen zur Fortsetzung des Krieges zu unterminieren drohte. In einer Atmosphäre annähernder Verzweiflung entschieden die britische und die amerikanische Regierung, die Frage der Kriegsziele öffentlich und im Detail gegenüberzustellen." 4 Der Präsident der USA Thomas Woodrow Wilson sandte einen seiner engsten Berater, den Oberst House, nach Europa, um den britischen Verbündeten zu überzeugen, daß es angesichts der gekennzeichneten Situation angezeigt wäre, „liberale Kriegsziele" aufzustellen. Eine gemeinsame Deklaration kam nicht zustande. Für das Londoner Kriegskabinett bereitete Lord Robert Cecil eine vornehmlich an die Adresse der USA und der Labour Party gerichtete Erklärung vor, die Premierminister David Lloyd George, nachdem sie Herbert Henry Asquith und Lord Edward Grey gebilligt hatten, in einer Rede auf einer TradeUnions-Konferenz am 5. Januar 1918 darlegte. Er verschwieg die früher fixierten annexionistischen Ziele und erklärte in bezug auf die Kolonien Deutschlands, daß die Entscheidung über ihr Schicksal einer Konferenz vorbehalten bleibe, die dabei in erster Linie die Wünsche und Interessen der „eingeborenen Einwohner" zu berücksichtigen und zu gewährleisten habe, daß diese einer ihnen zumutbaren Verwaltung unterstellt werden, die ihrer Ausbeutung durch europäische Kapitalisten oder Regierungen vorbeuge. 5 Ebenso demagogisch und „liberal" drückte sich Präsident Wilson aus, als er am 8. Januar 1918 vor dem Kongreß seine bekannten Vierzehn Punkte vortrug. Unter Punkt V erklärte er, daß bei der Entscheidung aller derartigen Souveränitätsfragen die Interessen der betroffenen Bevölkerung ein ebensolches Gewicht haben müssen wie die berechtigten Forderungen der Regierung, deren Rechtsanspruch bestimmt werden soll.® Auch diese Erklärungen zwangen die deutschen Politiker zur Stellungnahme. Aus den Grundsätzen des Dekrets über den Frieden leitete die sowjetische Delegation während der russisch-deutschen Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk u. a. den Vorschlag ab, daß die kolonialen Fragen auf der Grundlage des frei und unbeeinflußt auszuübenden Selbstbestimmungsrechts derjenigen Völker gelöst 3
Vgl. ders., Schlußwort zur Rede über den Frieden vom 8. November (26. Oktober) 1917, ebenda, S. 244-247. 4 Smith, Gaddis, The British Government and the Disposition of the German Colonies in Africa 1914—18, in: Britain and Germany in Africa, New Häven/London 1967, S. 292. " Zit. ebenda, S. 293. 8 Handbuch der Verträge 1871—1964. Verträge und andere Dokumente aus der Geschichte der internationalen Beziehungen, hrsg. von Helmuth Stoecker unter Mitarbeit von Adolf Rüger, Berlin 1968 S. 169.
Koloniale Bestrebungen der imperialistischen deutschen Bourgeoisie
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werden müssen, die vor dem Kriege keine politische Selbständigkeit besaßen. Die deutsche Delegation erwiderte, daß Deutschland auf die Rückgabe seiner Kolonien bestehe und die Anwendung des Selbstbestimmungsrechts auf die deutschen Kolonien als „zur Zeit nicht durchführbar" betrachte. Wilhelm Solf, Staatssekretär im Reichskolonialamt, antwortete noch prinzipieller, „daß die Forderung der Russen bezüglich des Selbstbestimmungsrechts der Kolonien für uns gänzlich unannehmbar sei".7 Denselben Grundsatz bekräftigte Solf in polemischen Entgegnungen auf die Äußerungen von Lloyd George und Wilson.8 Dieser Standpunkt wandelte sich nicht, als mit den schweren militärischen Niederlagen an der Westfront im Spätsommer und Herbst 1918 für Deutschland eine qualitativ neue Situation entstand. Nachdem die Oberste Heeresleitung auf der Konferenz im Hauptquartier zu Spa am 14. August 1918 eingestanden hatte, die Fortführung des Krieges sei aussichtslos geworden, begann man um den Inhalt des Friedensvertrages zu kämpfen. In bezug auf die Kolonialpolitik war die Rede, die Solf am 20. August im Auftrag des Kriegskabinetts vor der Deutschen Gesellschaft in Anwesenheit höchster Repräsentanten von Politik und Wirtschaft hielt, als richtungweisend anzusehen. Die Rede war inhaltlich mit Kurt Hahn von der Propaganda-Zentralstelle für Auslandsdienste, Oberstleutnant von Haeften, dem Verbindungsmann des Auswärtigen Amts zu Erich Ludendorff, und dem Prinzen Max von Baden, der wenig später Reichskanzler des Ubergangskabinetts werden sollte, abgestimmt worden. Solf appellierte an die Kolonialstaaten, sich darauf zu besinnen, daß sie den Kolonialvölkern gegenüber gleiche Interessen hätten, und definierte demgemäß die Kolonialpolitik als „gemeinsame Aufgabe" aller sogenannten Kulturvölker, die eine Verständigung untereinander erfordere. „Wir wünschen", fuhr er fort, „eine Regelung der kolonialen Fragen nach dem Grundsatz, daß kolonialer Besitz den wirtschaftlichen Kräften der europäischen Nationen entsprechen soll." Er verlangte, daß die alliierten Mächte Deutschland eigenen Kolonialbesitz zubilligen sollten, und offerierte als Gegenleistung die Bereitschaft zu Zugeständnissen an Belgien und zu einer aktiven, im imperialistischen Gesamtinteresse liegenden antisowjetischen Politik.9 Die Novemberrevolution bewirkte nur eine kurze Unterbrechung der Bemühungen um eine den kolonialen Interessen der imperialistischen Bourgeoisie entsprechende Ausgestaltung des Friedensvertrages. Der Rat der Volksbeauftragten unter Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann ernannte Wilhelm Solf zum Außenminister und übertrug ihm die Fortführung der Kolonialgeschäfte. Allein schon diese Entscheidung zeugt von Kontinuität und zeigt, wohin es weitergehen sollte. Solf und sein Amtsnachfolger im Reichskolonialministerium, JoDeutsch-sowjetische Beziehungen von den Verhandlungen in Brest-Litowsk bis zum Abschluß des Ropallovertrages. Dokumentensammlung, Bd. 1:1917—1918, Berlin 1967, S. 168 f., 196 f., 204. 15 Siehe Solf, Wilhelm, Zukunft Afrikas, in: Koloniale Rundschau, 1918, 1 - 2 , S. 3 ff.; ders., Kolonialpolitik. Mein politisches Vermächtnis, Berlin 1919; ders., Afrika für Europa. Der koloniale Gedanke des 20. Jahrhunderts, Neumünster in Holstein 1920. » Ders., Gewaltpolitik oder Versöhnungspolitik?, Bern 1918.
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hannes Bell, setzten alles daran, um die Siegermächte, solange sie noch über die Deutschland aufzuerlegenden Friedensbedingungen verhandelten, zur Rückgabe der besetzten Afrikagebiete als Kolonien oder zumindest als Mandate zu bewegen. Dabei stellte Solf wiederholt ironisch die Frage: „Soll etwa mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker auch in Afrika Ernst gemacht werden?" Er beantwortete sie mit der Einschätzung, die Anglo-Amerikaner würden mit Deutschland de facto darin übereinstimmen, „daß die von den Kulturvölkern über weite Gebiete Afrikas und der Südsee errichtete Herrschaft nicht zurückgezogen werden kann und darf." 10 Das Direktorium der Deutschen Bank traf in einer umfangreichen Denkschrift über Voraussetzungen, Ziele und Möglichkeiten der Fortsetzung einer aktiven deutschen Kolonialpolitik eine gleichartige Feststellung: „Die Wilsonschen Ideen des Selbstbestimmungsrechts der Völker haben für die unkultivierten Rassen Afrikas eine Ausnahmebestimmung getroffen; ein Selbstbestimmungsrecht im gleichen Maße wie den übrigen Völkern ist jenen nicht gewährt worden. Gleichsam auf einer Kindheitsstufe in der Zivilisation begriffen, sollen jene der Vormundschaft der anderen Völker bedürfen." 11 Wie Solf und die Direktoren der Deutschen Bank hofften viele, diese grundsätzliche Übereinstimmung in der Haltung zu afrikanischen Völkern biete einen Anknüpfungspunkt, von dem aus ein interimperialistisches Arrangement über die weitere Beteiligung des deutschen Kapitals an der kolonialen Ausbeutung und eventuell sogar an der politischen Beherrschung afrikanischer Völker zu erreichen wäre. Alle Bemühungen scheiterten. Gemäß dem Friedensvertrag von Versailles hatte die Weimarer Republik auf alle Kolonien des Deutschen Reiches sowie auf alle seine Rechte, Ansprüche und Vorrechte in bezug auf die früheren überseeischen Besitzungen zu verzichten. Die Afrikakolonien wechselten den Besitzer. Wo Großbritannien, Frankreich und Belgien die Herrschaft übernahmen, gingen auch alle privaten Kapitalanlagen in das Eigentum der Sieger über. Außer in Südwestafrika hatte die deutsche Bourgeoisie im Ergebnis des Krieges alle kolonialen Positionen auf afrikanischem Boden verloren. Im Rahmen der Politik, die auf eine Restauration Deutschlands als Weltmacht zielte, galt die Wiedererlangung von Kolonien als unverzichtbar. Schon im Juli 1919 kündigte Reichskolonialminister Johannes Bell programmatisch an: „Unaufhörlich und immer lauter muß und wird . . . die Forderung nach Wiedereintritt Deutschlands in die Reihe der Kolonialmächte erhoben werden . . . Jetzt gilt es, . . . die Hände nicht in den Schoß zu legen, sondern rastlos darauf hinzuarbeiten, daß bei der unausbleiblichen Revision des Versailler Dokuments Deutschland auch auf kolonialem Gebiete sein Recht wieder erhält." 1 2
Ders., Afrika für Europa, S. 30. — Solf wiederholte diese Ansichten in seinem Artikel „Deutschlands koloniale Kriegsziele", in: Koloniale Rundschau, 1924, 2, S. 40 f. 11 ZStAP, Reichskolonialamt (im folg.: RKolA) 7 057, Bl. 251: Denkschrift'des stellvertretenden Direktors der Deutschen Bank Kurt Weigelt über die Kolonialpolitik nach Kriegsende vom 16. 4. 1919. ™ Ebenda, Deutsche Kolonialgesellschaft (im folg.: DKG) 89, Bl. 228: Bell an die DKG, 20. 7.1919. - Auch in: Deutsche Kolonialzeitung, 20. 8. 1919.
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Als erstes hoffte man auf die Wiedererlangung der verlorenen Afrikakolonien, mit denen sich die imperialistische Bourgeoisie auf längere Sicht freilich nicht begnügen wollte. An dieser kolonialrevisionistischen Zielsetzung ist mit starrer Konsequenz festgehalten worden. Dennoch war und blieb zumindest ein Teil der tonangebenden Kolonialrevisionisten von ähnlichen Befürchtungen wie der Generalgouverneur von Französisch-Westafrika, Gabriel Angoulvant, geplagt, welcher geäußert hatte, daß der imperialistische Krieg die Drohung „einer allgemeinen Umwälzung der bisherigen Formen des Eingeborenen-Status" unvorhergesehen vergrößert habe. 13 Der Zorn darüber machte sich Luft in antisowjetischen und antikommunistischen Haßtiraden, aber ebenso in heftigen Beschuldigungen Frankreichs und Großbritanniens, sie hätten durch den Einsatz von Afrikanern als Soldaten im „Kampf gegen Weiße" die „koloniale Sendung aller Kulturvölker" gefährdet. 1 ' 5 Diese Argumentation schlug in übelste Rassenhetze um, als 'Frankreich auch bei der Besetzung des Ruhrgebiets in den Reihen seiner Truppen sogenannte Senegalesen mit zum Einsatz brachte. Der Südafrikanischen Union wiederum rechnete man als einen kolonialpolitischen Fehler an, daß sie in Südwestafrika an der Machtfülle der kapitalistischen deutschen Unternehmen gegenüber den afrikanischen Arbeitern winzige Abstriche vornahm. Bereits im März 1919 wandte sich z. B. die Lüderitzbuchter Minenkammer, das Kollektivorgan der Diamanten- und Kupfererzbergbaubetriebe in Südwestafrika, an denen die f ü h renden deutschen Banken hauptbeteiligt waren, gegen von der Unionsregierung verfügte Änderungen der Arbeitsverhältnisse, vor allem gegen die Beseitigung des „disziplinarischen Züchtigungsrechts". Aus der im folgenden auszugsweise zitierten Begründung sind die ökonomischen und politischen Leitmotive der Kammermitglieder zu ersehen: „In der letzten Zeit vor dem Kriege war das disziplinarische Züchtigungsrecht auf den Diamantfeldern in der Weise zur Geltung gekommen, daß es auf Antrag der Gesellschaften bzw. ihres Betriebsführers von den auf den Feldern stationierten Polizeibeamten ausgeübt wurde . . . Seit dem Wegfall des Züchtigungsrechts hat die Unbotmäßigkeit der Eingeborenen erheblich zu- und ihre Arbeitswilligkeit erheblich abgenommen, und es scheint uns, daß sie der mit der Beseitigung jenes Rechts eingetretenen Erhöhung ihrer Freiheit noch nicht gewachsen sind . . . " 15 Während Regierung, Interessenten und Verbände noch mit der Umstellung auf den kolonialrevisionistischen Kurs und mit der Bewältigung der existentiellen Probleme der kapitalistischen Klassenherrschaft im eigenen Land beschäftigt waren, kündigten Ereignisse wie der Panafrikanische Kongreß 1919 in Paris, der Nationalkongreß von Britisch-Westafrika in Accra 1920, der Zusammenschluß zehntausender südafrikanischer Arbeiter in Gewerkschaften oder die Grün-
Zit. in: Koloniale Rundschau, 1918, 9-10, S. 317. " So z. B. Solf schon am 20. 8. 1918 in einer Rede vor der Deutschen Gesellschaft. Veröffentlicht unter dem Titel „Gewaltpolitik oder Versöhnungspolitik", Bern 1918. 1!l RKolA 1378, Bl. 137: Bericht der Lüderitzbuchter Minenkammer über die fünf Geschäftsjahre 1914—1918, erstattet vom Vorstand in der Jahresversammlung am 19. 3.1919.
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dung der Kommunistischen Partei in der Südafrikanischen Union an, daß auch in Afrika südlich der Sahara historische Prozesse anbrachen, denen vergleichbar, die in verschiedenen asiatischen und arabischen kolonialen oder halbkolonialen Ländern schon zu — historisch-progressiven — nationalen und sozialen Befreiungsbestrebungen und -bewegungen geführt hatten. Freilich, die Masse der Kolonialeiferer war und blieb blind und taub für die Signale, und für extreme Rassisten, in deren verengter Weltsicht die Naturbestimmung des Afrikaners ein für allemal darin bestand, „der Herrenrasse zu fronden"16, waren sie überhaupt irrelevant. Indes, ein Teil der Spitzenmannschaft hielt es für geraten, die Ereignisse zu verfolgen und auftretende Freiheitsbestrebungen als eventuelle potentielle Gefahrenquelle ins eigene kolonialrevisionistische Kalkül mit einzubeziehen. Die auf die Bedürfnisse der „Oberen Hundert" ausgerichtete „Koloniale Rundschau" brachte sowohl Informationen als auch abwägende Betrachtungen über Gründe und Tragweite des politischen Erwachens der Bewohner der Kolonien. „Sie fangen an zu ahnen", stellte ihr Redakteur, der Afrikanist Diedrich Westermann, fest, „daß auch sie einmal nicht mehr nur Objekt, sondern auch Subjekt einer politischen Betätigung sein könnten. Es mehren sich die Anzeichen daür, daß selbst die Neger nicht mehr gewillt sind, lediglich ein willenloses Instrument in der Hand des Weißen zu sein."17 Diese Entwicklung hielt er für überraschend und führte sie zunächst ausschließlich auf kolonialpolitische Fehler zurück. Mit fassungslosem Erstaunen kommentierte er den Westafrikanischen Nationalkongreß: „Wer hätte es vor zwanzig Jahren für möglich gehalten, daß Neger aus weitgetrennten Teilen Westafrikas zusammenkommen würden, um in durchaus ernster und würdiger Weise über das Problem ihrer politischen Zukunft nachzudenken . . . Man war der Meinung, irgend ein Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit sei unter den Negern entweder nie vorhanden gewesen oder aber durch den Einfluß der kolonisierenden Mächte längst zerstört worden. Und heute sehen wir, daß unter der schwarzen Rasse eine ganz neue Art des Gemeingefühls lebendig wird . . . " 18 Nach weiterer Beschäftigung mit dem Problem sprach er sich dafür aus, die Bewegungen der Kolonialvölker und ihr Freiheitsstreben mit „reih wissenschaftlichen Mitteln zu studieren" und ihnen in der „Kolonialen Rundschau" „besondere Aufmerksamkeit" zuzuwenden, „vornehmlich unter dem angedeuteten kolonialen Gesichtspunkt der Entwicklung der farbigen Rassen und der Bedingungen des Zusammenlebens abendländischer Kulturmenschen mit den Einwohnern kolonialer Länder".19 Den Beobachtungen und Überlegungen dieser Art wiesen die ehemaligen Gouverneure Theodor Seitz und Albert Hahl eine mehr ins Politisch-Praktische zielende Richtung. Seitz, inzwischen Präsident der Deutschen Kolonialgesellschaft (DKG) und Präsident der Kolonialen Reichsarbeitsgemeinschaft (Korag), er-
Zache, Hans, Deutsch-Ostafrika (Tanganyika Territory), Berlin 1926, S. 31 f. (Taschenbücher des Auswanderers, hrsg. von Paul Rohrbach und Hans Zache.) " Westermann, Diedrich, Koloniale Zukunft, in: Koloniale Rundschau, 1920, 3, S. 98. 1 Ebenda, Bl. 10, 30 : Berichte von Mansfeld vom 30. 9.1926 und 14.1.1927. ^ Archives Nationales de France, Section Outre-Mer, Service de Liaison avec les originaires des Territoires Français d'Outre-Mer, série III, carton 24; série V, carton 3. — Siehe auch Letnev, A. B., Lamin Sengor kak organisator antikolonial'noi bor'bi, Moskva 1979 (unveröfEentliches MS).
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Brüsseler Palais „Egmont". Den Einladungen waren gefolgt: Vertreter der bürgerlichen, proletarischen und bäuerlichen Bevölkerungsschichten der kolonialen und halbkolonialen Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, Mitglieder der afro-amerikanischen Bürgerrechtsbewegungen aus den USA sowie Gewerkschafter, Kommunisten, Sozialisten, Mitglieder fortschrittlicher demokratischer und Friedensorganisationen, Vertreter von Studenten- und Schülerorganisationen sowie namhafte demokratisch gesinnte Intellektuelle, Künstler und Wissenschaftler aus den imperialistischen Staaten; alles in allem mehr als 174 Delegierte und Gäste, darunter 14 aus Afrika, 15 aus Nord- und Südamerika, 55 aus Asien, 90 aus Europa. 97 Unter den Afrikanern befand sich der Senegalese Lamine Senghor. Als Willi Münzenberg, der als Generalsekretär der Internationalen Arbeiterhilfe deren Verbindungen und sein persönliches Organisationstalent für das Zustandekommen des Kongresses eingesetzt hatte, im Namen des 30köpfigen Präsidiums vorschlug, eine internationale Liga gegen Imperialismus, gegen Kolonialherrschaft und für nationale Unabhängigkeit zu gründen, stellte er in der Begründung fest: „Unser Kongreß ist in seiner Zusammensetzung einzigartig in der Geschichte der Arbeiterbewegung und der nationalen Freiheitsbewegung. Zum ersten Male treffen sich auf einem Kongreß Delegierte aus den verschiedensten Erdteilen, Vertreter verschiedener Rassen, verschiedener Religionsgemeinschaften, verschiedener politischer Überzeugung, verschiedener Weltanschauung. Nur ein großer, gemeinsamer Gedanke bindet die so verschiedenartigen Gruppen und Kreise, der Gedanke, daß sie als die große Masse der Unterdrückten zusammengehören und daß nur in einer gemeinsamen Arbeit, in einem gemeinsamen Kampf die gemeinsame Not beseitigt werden kann." 98 Im Ergebnis der Beratungen und Kontakte gab der Kongreß in seinem Manifest „An alle unterdrückten Völker und Klassen" u. a. die feierliche Erklärung ab, daß die in Brüssel „versammelten Vertreter der unterdrückten Völker und der Arbeiterklasse aller Erdteile . . . im Interesse der Sicherung ihrer elementaren Rechte und Entwicklung untereinander ein brüderliches Bündnis geschlossen" haben. 99 Einstimmig wurde die Gründung der vorgeschlagenen internationalistischen Einheitsfrontorganisation beschlossen. Die deutsche Delegation hatte in ihrer von Ernst Toller im Plenum vorgetragenen Erklärung 100 die grundsätzliche Ablehnung der Kolonialpolitik in den Mittelpunkt gerückt und auf die Kolonialbestrebungen des deutschen Imperialismus nur kurz hingewiesen, um vom Hauptthema des Kongresses nicht abzulenken; gleichzeitig war sie einmütig der Ansicht, daß „in Deutschland einmal gründlich mit der beharrlichen Agitation der deutschen Kolonialinteressenten abzurechnen" sei.101 Neben der Unterav
Das Flammenzeichen vom Palais Egmont. Offizielles Protokoll des Kongresses gegen koloniale Unterdrückung und Imperialismus. Brüssel. 10.—15. 2. 1927, hrsg. von der Liga gegen Imperialismus und für nationale Unabhängigkeit, Berlin 1927, S. 229 ff.: Bericht der Mandatsprüfungskommission. * Ebenda, S. 215 f. Ebenda, S. 243 ff. luu Ebenda, S. 165. 1U1 Siehe dazu Ledebour, Georg, in: Der koloniale Freiheitskampf, 1928, 4.
Koloniale Bestrebungen der imperialistischen deutschen Bourgeoisie
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Stützung des Hauptanliegens der Liga wurde dies zu einer besonderen Aufgabe der Deutschen Sektion. Die Antiimperialistische Liga — zu der sich die Liga gegen koloniale Unterdrückung nach dem Brüsseler Kongreß 102 umgebildet hatte — ist von der imperialistischen Bourgeoisie und deren Regierungen in keinem Lande willkommen geheißen worden. Die unsinnigsten Erfindungen, die zur Verleumdung der Liga oder vielleicht auch nur zur Herabsetzung des Ansehens der portugiesischen bzw. belgischen Mitglieder in ihren Heimatländern aufgebracht worden sind, fanden durch die Zeitungen „Diario de Noticias" bzw. „La Nation Beige" Verbreitung. Das erstgenannte Blatt sah in der Gründung der Liga „eine gemeinsame Sache der deutschen Regierung mit den Kommunisten", und das zweite stellte den Kongreß als ein „deutsch-sowjetisches Unternehmen" hin, das mit Unterstützung der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amts aufgezogen worden sei.103 In Wirklichkeit aber paßten Gründung und Tätigkeit der Liga ebensowenig in das Konzept des Auswärtigen Amts wie in die Zukunftspläne irgendeiner tatsächlichen Kolonialregierung. Was die deutsche Regierung angeht, so liefen seit der Locarnokonferenz ihre unmittelbaren Vorhaben — abgesehen von den weiterreichenden und nach Einsicht der Wilhelmstraße nur längerfristig durchsetzbaren Forderungen nach Hoheitsgebieten in Afrika — darauf hinaus, einen Sitz in der Mandatskommission des Völkerbundes zu gewinnen, alle einschränkenden Bestimmungen für die wirtschaftliche Betätigung und Niederlassung, den Handel und Verkehr von Deutschen und deutschen Unternehmen in allen fremden Mandaten und Kolonien zu beseitigen, auf handelsvertraglicher Basis mit Konkurrenzmächten das Meistbegünstigungsrecht zu erwirken und die Politik der wirtschaftlichen Durchdringung in Afrika, schwerpunktmäßig in den ehemaligen deutschen Kolonien und in portugiesischen Besitzungen sowie die Deutschtumspolitik in Südwestafrika und Tanganjika zu forcieren. Die dazu im einzelnen erforderlichen Aktionen wurden selbstverständlich unter Wahrung strikter Geheimhaltung in Angriff genommen, so daß in dieser Hinsicht kaum vorbeugende Kritik seitens der antikolonialen Opposition laut werden konnte. Während es die antikolonialen Kräfte in Deutschland noch nicht vermochten, alle Akte der Regierung zu überwachen und bloßzulegen, standen die Antiimperialistische Liga und ihre deutsche Sektion voll im Blickfeld der Polizei, der Kolonialabteilung sowie der Interessenverbände der herrschenden Klasse. In einem Gutachten, das die Kolonialabteilung über die von der Liga herausgebrachte Zeitschrift „Kolonial Revue" angefordert hatte, wurde die große Gefahr unterstrichen, daß die Kommunisten und die Antiimperialistische Liga auf die „Strömungen in Deutschland" Einfluß gewinnen könnten, „die eine neue koloniale Betätigung des deutschen Volkes aus irgendwelchen Gründen ablehnen und die über die Sozialdemokratie weit hineinreichen in die Kreise des Zentrums und der Demokratie . . . Die ganze Arbeit der Liga gegen koloniale ,U2
Zur weiteren Geschichte der Antiimperialistischen Liga und ihrer Sektionen siehe Sorkin.
103
RKolA 6 751, Bl. 63: La Nation Beige vom 13. 3.1927; Bl. 74: Diario de Noticias vom 22. 3.1927.
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Unterdrückung in Deutschland verdient also m. E. größte Aufmerksamkeit, nicht einmal so sehr von der kolonialen Seite, als allgemein politisch . . . " 104 Mit dem Gedankengang des Gutachtens stimmten die Berichte und Analysen des Reichskommissariats f ü r Überwachung der öffentlichen Ordnung substantiell überein. Neue Vorsorge- und Gegenmaßregeln folgten auf staatlicher und Verbandsebene, einzeln und gemeinsam, teilweise auch im Zusammenwirken mit neu hervortretenden Interessenten aus Wirtschaft und Politik. In einer vom Arbeitsausschuß Deutscher Verbände schon Ende Dezember 1926 der Kolonialabteilung abgegebenen Erklärung unterstrich dieser sein Bemühen, „einer Ausdehnung dieser Bewegung über die Kreise der Kommunisten . . . und Unabhängigen entgegenzuwirken". 1 0 5 Der Reichsfinanzminister stellte dem Auswärtigen Amt a m 7. Mai 1927 einen der parlamentarischen Kontrolle entzogenen kolonialen Sonderfonds in Höhe von drei Millionen RM zur Verfügung, von denen wenigstens 500 000 RM f ü r Propagandazwecke reserviert bleiben sollten 106 ; die Kolonialabteilung disponierte darüber und ließ die Zahlungen von der DKG vollstrecken: 1927: 181 259 RM, 1928: 239 805 RM, 1929: 171 444 RM, 1930: 18 399 RM 107 . Während Seitz noch im Mai räsonierte, die koloniale Bewegung sei „zur Zeit auf einem toten Strang angelangt", müsse aber auf den J a h reshauptversammlungen der DKG und Korag in Königsberg im J u n i „zu einer Stellungnahme kommen" 1 0 8 , w a r Edmund Brückner, der Leiter der Kolonialabteilung, längst dabei, speziell zur Propagierung des Kolonialrevisionismus in der Arbeiterklasse den seit 1922 agierenden Bund der Kolonialfreunde zu höherer Aktivität anzutreiben und zum gleichen Zweck einen weiteren zu bilden. Der Bund der Kolonialfreunde h a t t e seit 1924 mit Regelmäßigkeit hohe staatliche Zuwendungen erhalten und bislang etwa 15 000 Anhänger 1 0 9 geworben. Wert auf Beiträge h a t t e er nicht zu legen brauchen. Nach f r ü h e r e n I n s t r u k tionen von Brückner sollte er „nur Werbeversammlungen abhalten" u n d „versuchen, Mitglieder zu bekommen, damit die Zahl anschwillt". Jetzt modifizierte Brückner den A u f t r a g dahin gehend, „vor allem an die Linkskreise heranzugehen. Das ist uns nicht einmal, das ist uns h u n d e r t m a l gesagt worden", und dalu4
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RKolA, 6 751, Bl. 67 ff.: Dr. Eugen Zintgraff an die Kolonialabteilung, Heidelberg, 26. 3. 1927. Abschließend schrieb Zintgraff: „Ich möchte ja annehmen, daß den mit der Abwehr Moskauer Propaganda betrauten Stellen diese Zusammenhänge nicht entgangen sind, immerhin wäre es vielleicht gut, wenn auch von Seiten Ihrer Abteilung die fraglichen Stellen noch einmal darauf hingewiesen würden." Ebenda, Bl. 17: Information von Heinrich Schnee an die Kolonialabteilung, RKolA 4 577, Bl. 103: Aufzeichnung der Kolonialabteilung für Stresemann vom 13.2.1929. ZStAP, Rechnungshof des Deutschen Reiches 7 211, Bl. 39 ff.: Büro VIII des Rechnungshofes an Büro I A desselben, 6.1.1931. DKG 563, Bl. 100: Seitz an Regierungsrat Hans Zache, Vorsitzender der Kolonialen Arbeitsgemeinschaft Hamburg, 30. 5. 1927. RKolA 6 732, Bl. 240: Bericht der Abteilung I des Berliner Polizeipräsidiums vom 31.3.1926.
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f ü r habe der Bund vom Auswärtigen Amt das Geld (1927 etwa 30 000 RM110) erhalten, berichtete Bundesleiter Wilhelm Mickausch vor der Korag. 111 Der Bund verfolgte die gleichen Ideen wie die DKG, sein Vorgehen unterschied sich jedoch von dem ihrigen u. a. dadurch, daß er es darauf abgesehen hatte, f ü r seine propagandistischen Veranstaltungen und f ü r seine Zeitschrift „Der Kolonialfreund" unter Gewerkschaftern und Sozialdemokraten Autoren und Referenten zu gewinnen. Für einen Artikel bot ihnen der Bund 40 bis 50 RM Honorar, f ü r einen Vortrag das Vier- bis Fünffache. Die Gelegenheit, dadurch das Einkommen aufzubessern, so schätzte Vorstandsmitglied Paul Thorwirth rückblickend ein, habe manchen gereizt, „aus seiner Reserve herauszutreten und f r ü h e r vorhandene Bedenken zurückzustellen". Wer dies f ü r Geld einmal getan habe, „kann nicht mehr zurück und ist unseren Bestrebungen kein Feind mehr". 112 Zum anderen versandte die Bundesführung regelmäßig Freiexemplare des „Kolonialfreunds" (500 ins Ausland, 1 400 an Ortsgruppen) und ihre Pressekorrespondenz „Wirtschaft und Kolonien" an 600 Zeitungen sowie an 1 600 bis 1 800 Vereine, Gewerkschaftsorganisationen und Unternehmen; allerdings machte die Presse vom Korrespondenzstoff nur zu einem Prozent Gebrauch. 113 Ferner bewirkte Brückner im Ergebnis längerer Bemühungen, daß sich im Februar 1927 die Gesellschaft f ü r koloniale Erneuerung konstituierte. Er hatte sich im Auftrag von Staatssekretär von Schubert dieser Sache annehmen müssen114, die ursprünglich von Dr. Edgar Stern-Rubarth, Chefredakteur und stellvertretender Direktor der Continental-Telegraphen-Compagnie, Wolfis Telegraphisches Büro AG, einem engen Vertrauten Stresemanns, und Carl Cremer, Mitglied des Reichstags und der DKG, ventiliert und als „Volksgemeinschaft" konzipiert worden war, aber Quertreibereien der DKG ausgelöst hatte, die ein Konkurrenzunternehmen befürchtete. Brückner vermittelte Verhandlungen und eine Einigung, derzufolge die neue Organisation dann keine Volksgemeinschaft mehr werden, sondern arbeitsteilig mit der DKG in die reformistische Arbeiterbewegung hinein wirken sollte. Bei der Konstituierung der Gesellschaft traten in den Vorstand neben Stern-Rubarth und Cremer ein: Ludwig Kastl, Geschäftsführendes Präsidialmitglied des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, Ernst Lemmer, Generalsekretär des „gelben" Gewerkschaftsringes deutscher Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenverbände, Dr. Adam Stegerwald, Zentrumspolitiker und Führer der christlichen Gewerkschaften, sowie der schon mehrfach erwähnte Mansfeld. 115 11U 111 112
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RKolA 6 733, Bl. 171. DKG 584/1, Bl. 203 f., 207: Protokoll der Sitzung der Korag vom 4.11.1927. RKolA 6 759, Bl. 32 ff.: Paul Thorwirth an die Kolonialabteilung, 31. 12. 1930. Als herausragendes Beispiel führte Thorwirth den Rechtssozialdemokraten Max CohenReuß, Mitglied des Reichswirtschaftsrates, an und schlug gleichzeitig vor, für ihn einen „außerordentlichen Propagandaetat von etwa 200 RM bis 250 RM in den Sommermonaten und von 300 RM bis 500 RM in den Wintermonaten" einzurichten. RKolA 6 758, Bl. 99: Revisionsbericht vom 31.12.1929. National Archives Washington, D.C., F.C. AA, Büro des Staatssekretärs: Kolonialfragen, Bd. 1, Bl. E 186 905 ff.: Brückner an von Schubert, 23.11.1925. DKG 339, Bl. 8: Brückner an Seitz, 14.12.1927.
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Brückner versah die Gesellschaft mit einer Morgengabe in Höhe von 9 500 RM aus dem kolonialen Sonderfonds. Der „Hauptzweck" der Gesellschaft wurde darin gesehen, in die koloniale Bewegung „die Gewerkschaften hereinzubringen, vor allen Dingen die freien Gewerkschaften. Und da liegen", klagte Seitz, als er der Korag die Absichten erläuterte, „die Schwierigkeiten . . . " Ohne die politischen Organisationen und die Gewerkschaften könne aber keine Massenbewegung gemacht werden.116 Deshalb nahm man sich auf der Tagung vor, führende Politiker der SPD wie Paul Löbe und an der Berliner Hochschule für Politik tätige Sozialdemokraten zu beeinflussen, damit nach Möglichkeit auf dem nächsten SPD-Parteitag zur Kolonialfrage im günstigen Sinne Stellung bezogen würde. Seitz erklärte: „Ich halte es übrigens schon für einen Vorteil, daß die Sache auf den Parteitag kommt. Selbst wenn es abgelehnt wird, zum Schweigen kommt die Sache dann nicht mehr. Es ist schon ein bedenkliches Zeichen für die Leute, daß sie die Sache vor den Parteitag bringen . . . "117 Die Gesellschaft ihrerseits machte sich sofort an die Arbeit, das Propagandamaterial der Korag „nach rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten auszuwerten und der Psyche unserer Arbeiterschaft anzupassen".118 Der Reichsverband der Deutschen Industrie begrüßte ihre Aktivitäten und empfahl seinen Mitgliedern, die Gesellschaft tatkräftig zu fördern. 119 Eine andere Linie richtete sich frontal gegen die Antiimperialistische Liga und die von ihr vertretenen Ideen. Sie wurde auf den Jahreshauptversammlungen der DKG und Korag in Königsberg im Juni 1927 fixiert. Die Versammlung der DKG begann mit einer wortreichen Kanonade des Vorsitzenden der Kolonialen Arbeitsgemeinschaft Hamburg, Hanz Zache, gegen den Brüsseler Gründungskongreß der Liga im allgemeinen und die Stellungnahme der deutschen Delegation im besonderen. Zache beschimpfte die Teilnehmer des Brüsseler Kongresses: es seien „Sensationsliteraten, Fanatiker, Doktrinäre", die „von der Sache selbst nichts verstehen"; Henri Barbusse sei „politisch ein Narr". Man müsse „ihnen rechtzeitig so auf die Hände schlagen, daß die Brandfackel ihnen entfällt". Im übrigen hätten Imperialismus und Kolonialpolitik gar nichts miteinander gemein, die Zeit der letzteren sei mitnichten vorüber, und aus ihrer Fortsetzung könnten keine Kriege entstehen. Die Afrikaner „sollen und müssen zur Hebung dieser Reichtümer erzogen und der Weltwirtschaft angegliedert werden. Deshalb tut Kolonialpolitik not. Mehr wie je."120 Argumentation und Zielsetzung fanden ungeteilten Zuspruch und wurden in einer Entschließung bekräftigt. Mit der Verwirklichung der Ziele, hieß es darn
" DKG 584/1, Bl. 321 f.: Protokoll der außerordentlichen Tagung der Korag vom 10. 12. 1927. Ebenda, Bl. 324. 11B DKG 339, Bl. 9: Luitpold Hoser (von Brückner bestellter Geschäftsführer der Gesellschaft) an Seitz, 21. 2.1927. 1KI DKG 336, Bl. 4: Rundschreiben des Reichsverbandes der Deutschen Industrie betr. Gesellschaft für koloniale Erneuerung vom 5. 3.1928. ^ Zache, Hans, Imperialismus und Kolonialpolitik. Vortrag, gehalten auf der Hauptversammlung der DKG zu Königsberg am 12. Juni 1927, hrsg. von der DKG, Berlin 1927.
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in, „würde sowohl die schwere wirtschaftliche Lage der arbeitenden Bevölkerung Europas gemildert als auch die sogenannte koloniale Bevölkerung vor dem grauenhaften Zustand bewahrt werden, in den sie bei Aufgabe der europäischen Vormundschaft durch die bolschewistische Propaganda zu stürzen droht. Eine aufgeklärte Kolonialherrschaft, die es nach dem Muster der deutschen versucht, die Interessen der weißen Rasse mit denen der farbigen auszugleichen, ist auch für die Zukunft unerläßlich und erstrebenswert." 121 Ferner stimmte die Korag dem Antrag der DKG-Abteilung Westliche Vororte Berlin zu, daß an die örtlichen Verbände Richtlinien gegeben werden sollen „über den gemeinsam nach einheitlichen Gesichtspunkten zu führenden Abwehrkampf gegen alle antikolonialen Bestrebungen". 122 Acht Tage danach weilte Seitz wegen eines Kamerun-Unternehmens in London. Seinen Aufenthalt politisch nutzend, meldete er sich auch bei Kolonialminister Leopold Charles Amery an, um über die deutschen Kolonialwünsche zu sprechen. Er wurde am 21. Juni empfangen. Während des einstündigen Gesprächs in Amerys Zimmer im Parlamentsgebäude brachte er die üblichen Gesichtspunkte vor und unterstrich die Nachhaltigkeit des kolonialen Verlangens mit der Drohung, Deutschland müsse in seiner Bedrückung „mit den auf zu engem Raum zusammengepreßten, über 60 Millionen Menschen", wenn es nicht tropische und Siedlungskolonien bekäme, „mit der Zeit eine Gefahr für den Weltfrieden werden". Er beobachtete, wie ihn der Minister zunächst äußerst zurückhaltend und mit innerem Widerstreben anhörte, aber warm wurde und sich als „sehr genau informiert" erwies, als er auf den Kongreß in Brüssel und „die kommunistische antikoloniale Agitation zu sprechen" kam. Besonders lebhaft habe Amery eingehakt, als er, Seitz, zu ihm „über die weltfremde Ideologie eines so hoch gebildeten Mannes" wie des Professors Alfons Goldschmidt, eines Mitveranstalters des Kongresses, sprach, Goldschmidt einen „Edelkommunisten" nannte und verallgemeinernd darauf hinwies: „Diese Leute seien aber, wie Robespierre und andere bewiesen, im Ernstfall noch gefährlicher als die rohen Elemente, die lediglich nach Teilung schreien." Schließlich habe Amery „eine gewisse Befriedigung nicht verhehlen" können, als er ihm mitteilte, was in Königsberg beschlossen worden war, nämlich „diese Bewegung, die in Berlin von russischen und chinesischen Agitatoren getragen werde, mit allen Mitteln zu bekämpfen". 123 Zu den in einem solchen Sinne gehandhabten Mitteln gehört ebenfalls die von der Zeitschrift „Europäische Gespräche" in Abstimmung mit der Kolonialabteilung124 veranstaltete Umfrage „Soll das Deutsche Reich den Erwerb von Kolonien, soll es eine koloniale Betätigung unter der Form des Mandats anstreben, aus welchen Gründen ja, aus welchen nein? Soll es sich darauf beschränken, 121
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Wolff Telegraphisches Büro, Nr. 993, 12. 6. 1927. Auch in: Neue Preußische Zeitung, 13. 6. 1927; Frankfurter Zeitung, 13. 6. 1927; Berliner Lokal-Anzeiger, 14. 6. 1927. Der Kolonialdeutsche, Nr. 12, 17. 6.1927, S. 190. National Archives Washington, D.C., F.C. AA, Büro des Reichsministers: Kolonien, Bd. 1, Bl. 392 830 ff.: Aufzeichnung von Seitz über seine Unterredung mit Amery, London, 21. 6.1927. Das Faszikel RKolA 4 608 enthält einen wesentlichen Teil Unterlagen der Umfrage.
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für seine Angehörigen und für den Rohstoffbezug in Kolonien und Mandaten volle Gleichberechtigung zu fordern?" Ein Risiko war insofern ausgeschlossen, als die grundsätzliche politische Haltung der angesprochenen 200 Persönlichkeiten bekannt war. Ein gewisser Fehlschlag war, daß nur 50 der 200 Befragten Erklärungen für die Veröffentlichung abgaben. Von den 50 Antworten kamen 15 den Positionen der Antiimperialistischen Liga sehr nahe125 oder entsprachen126 ihnen. Der Redaktion muß der Anteil ablehnender Stimmen unerwünscht hoch erschienen sein. Jedenfalls versuchte sie in ihrer Vorbemerkung dem Eindruck vorzubeugen, daß diese dem Trend der Meinungsbildung entsprechen könnten.127 Zwei antworteten verständlich weder mit Ja noch mit Nein. Aber sie ließen keinen Zweifel, daß sie für eine koloniale Prestigepolitik Verwicklungen mit den Mächten oder mit Kolonialvölkern nicht in Kauf nehmen wollten.128 Fünf der fünfzig Antworten129 bejahten nur die zuletzt genannte Frage und meinten, auf diese Weise könne Deutschland sich auch über die voraussehbare unabwendbare Auflösung des imperialistischen Kolonialsystems hinaus Ausbeutungs- und Führungspositionen erhalten. Der Nationalökonom Professor Dr. Moritz Julius Bonn, der theoretische Kopf dieser Strömung, formulierte den Gedanken am ausgereiftesten: „Deutschlands Aufgabe ist nicht, mit unzureichenden Mitteln ein absterbendes System zu unterstützen; es muß vielmehr als Vertrauensmann der von der Kolonisation bedrohten Völker und als Führer der rja
Harry Graf Keßler, Erster Vizepräsident des Deutschen Künstlerbundes, Gesandter z. D., Verleger; Major a. D. Franz Carl Endres, Schriftsteller; Dr. Paul Hertz, MdR; Staatssekretär a. D. Prof. Dr. August Müller; Wichard von Möllendorff; Otto Flake; Rudolf Kircher; Emil Ludwig. 128 Albert Einstein; General a. D. B. von Deimling; Thomas Mann; Arthur Hollitscher; Dr. Alfons Paquet; Prof. D. Dr. Richard Wilhelm, Frankfurt; Generalmajor a. D. Dr. h. c. Paul Freiherr von Schoenaich, Vorsitzender der Deutschen Friedensgesellschaft. m In der Vorbemerkung heißt es, daß „eine Anzahl von Befragten, bei denen ihre Bedeutung für Volk und Staat uns ihre Ansicht besonders wichtig gemacht hätte, die Antwort ausdrücklich mit der Begründung abgelehnt haben, daß sie sich noch kein Urteil gebildet hätten. Interessant ist auch die Antwort einzelner Wirtschaftsführer, daß sie die Frage als eine rein politische ansehen und sich zu einer solchen nicht zu äußern wünschen." Beamtete Führer der Regierung seien von vornherein nicht befragt worden (Europäische Gespräche, Hamburger Monatshefte für auswärtige Politik, 1927,12, S. 609). 128 Anton Erkelenz, erster Vorsitzender des Vorstandes der DDP und Vorsitzender des Rings der Gewerkvereine, MdR; Geheimrat Prof. Dr. von Schulze-Gävernitz. ™ Der Kasseler Regierungspräsident Ferdinand Friedensburg, der Nationalökonom Prof. Dr. Moritz Julius Bonn, der Geheime Regierungsrat G. Cleinow, der Sozialdemokrat Hermann Müller, MdR, der ehemalige Staatssekretär im Auswärtigen Amt Artur Zimmermann. — Wilhelm Solf nahm in einem ausführlichen Brief aus Tokio vom 5. 7. 1927 vergleichbar Stellung (zit. in Drang nach Afrika, S. 266 f.). Gleichartige Erwägungen publizierten in unmittelbarer Reaktion auf das Königsberger Treffen der Kolonialrevisionisten Georg Bernhard in der Vossischen Zeitung vom 26. 2. 1927 und Otto Corbach im Berliner Börsen-Courier vom 1. 7. 1927; Schnee und Seitz veröffentlichten Erwiderungen in: Vossische Zeitung, 7. 7. 1927, bzw. Der Tag, 18. 8. 1927.
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Staaten ohne Kolonien sein Möglichstes tun, das Zeitalter der Kolonisation in das Zeitalter der Gegenkolonisation reibungslos überzuleiten." 130 28 Einsender bejahten eindeutig die gestellten Fragen und traten für den Erwerb von Kolonien oder Mandaten ein. Zu ihnen zählte Konrad Adenauer, damals Oberbürgermeister von Köln. Die in den Antworten dominierende kolonialrevisionistische Linie setzte sich in der deutschen Politik weiter durch. Auf einer außerordentlichen Mitgliederversammlung verabschiedete die Korag Ende Januar 1928 Richtlinien, wie sie in Königsberg gefordert worden waren, und entschied im Gegensatz zu Bedenken der Zweifler und Skeptiker und zu den Alternativvorschlägen neokolonialer Avantgardisten, wie Bonn und Ferdinand Friedensburg, daß nach der 1927 erfolgten Aufnahme des Deutschen Reiches in die Mandatskommission des Völkerbundes in Richtung auf den „Wiedereintritt Deutschlands in eine aktive Kolonialarbeit" weiterzumarschieren sei. Mit diesem Entschluß verband sie die Aufgabe, „in allen kolonial interessierten Kreisen eine Gemeinsamkeit der kolonialen Ziele herbeizuführen" und den eigenen Grundsätzen weiteste Anerkennung zu verschaffen. 131 Zu diesem Zweck verfaßte die DKG ein „Allgemeines deutsches Kolonialprogramm", gab die Korag die Flugschriften „Die koloniale Einheitsfront" und „Wesen und Ziele der deutschen Kolonialbewegung" heraus. Das Progamm wurde am 22. Juni 1928 auf einer Kundgebung in Köln aus Anlaß der Eröffnung der Kolonialen Sonderschau auf der Internationalen PresseAusstellung „Pressa" verkündet und als Flugblatt in einer Auflage von 100 000 Stück verbreitet. Bei der Argumentation stand von jetzt an das sozial-demagogische Volk-ohne-Raum-Thema ganz und gar im Vordergrund. Die Losung „Raum ohne Volk und Volk ohne Raum" wurde auf der Kolonialen Sonderschau als Blickfang oberhalb einer monumentalen kartographischen Wanddarstellung der Umrisse Afrikas und Deutschlands angebracht, darunter war der Name Konrad Adenauer gesetzt. Die Initiative zu dieser vom Auswärtigen Amt geförderten Schau war vom Kölner Kolonialklüngel ausgegangen. Das „Allgemeine deutsche Kolonialprogramm" kleidete die dargestellten Absichten in Worte und verlangte klipp und klar „einen angemessenen Anteil" am afrikanischen Kontinent „unter denselben politischen und wirtschaftlichen Bedingungen, unter denen die anderen europäischen Großmächte der Wirtschaft diesen Reserveraum verwalten und verwerten". 132 Das auf koloniale Herr-
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Europäische Gespräche, 1927, 12, S. 617. — M. J. Bonn hat seine Konzeption erstmals in der Schrift „Das Schicksal des deutschen Kapitalismus", 1926, begründet und dort (S. 41) dafür den Begriff „Gegenkolonisation" geprägt. 1932 übersetzte er ihn mit „de-colonization" ins Englische. Vgl. Albertini, Rudolf v., Dekolonisation. Die Diskussion über Verwaltung und Zukunft der Kolonien 1919—1960, Köln/Opladen 1966. Albertini belegt, wie Bonn mit den zitierten Gedankengängen 1943 antisowjetische und antikommunistische Ratschläge verband, die er den USA erteilte (ebenda, S. 29). Auf die Diskussion der genannten Fragen in Deutschland ist R. v. Albertini sonst nicht eingegangen. Siehe Drang nach Afrika, S. 265 f. Zit. ebenda, S. 268.
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schaft und Erhöhung des Anteils an der Ausbeutung afrikanischer Völker orientierende P r o g r a m m wurde, wie es in einem nicht f ü r die Öffentlichkeit bestimmten Bericht der Korag hieß, „von den Vertretern der Industrie und Wirtschaft und der Berufsstände, sowie auch von der gesamten Presse als ein bedeutsames Ereignis in der Entwicklung der Kolonialbewegung bewertet. Bemerkenswert ist, daß nirgendwo eine grundsätzliche Stimme der Ablehnung, abgesehen von den kommunistischen Blättern, laut w u r d e . . . " 133 In Anbetracht der ins Haus stehenden Verhandlungen zur Revision des Dawesplans w u r d e n die taktischen Richtlinien auf einer Z u s a m m e n k u n f t einiger Exponenten des Finanz-, Schiffahrts- und Überseehandelskapitals mit h a u p t a m t lichen Dirigenten der kolonialrevisionistischen Bewegung und Mitgliedern der Interfraktionellen Kolonialen Vereinigung des Reichstages a m 22. November 1928 aktualisiert. Sie wollten darauf hinwirken, daß in den Verhandlungen der „Anspruch auf Übertragung räumlich ausgedehnter und zur Erzeugung von Rohstoffen geeigneter Kolonialgebiete erneut" erhoben wird, und verständigten sich, wie fortan in der kolonialrevisionistischen Agitation und Propaganda einheitlich über Afrikaner, über ihre Rechte und politischen Freiheitsbestrebungen geurteilt, geredet, geschrieben und im Effekt von möglichst vielen Deutschen gedacht werden sollte: „Es steht fest, daß die in ihrer Entwicklung zurückgebliebenen Völker A f r i k a s und einiger anderer Gebiete noch nicht im Stande sind, sich selbst zu verwalten und noch auf lange Zeit hinaus der Anleitung und Fürsorge durch europäische Nationen bedürfen, w e n n sie nicht, wie auch die Sozialistische Internationale in Brüssel im August 1928 festgestellt hat, in einen Zustand primitiver Barbarei oder unter die Herrschaft einheimischer Despoten zurückfallen sollen. Diese Tatsache h a t ihren Niederschlag auch in der Bestimmung der Völkerbundsatzung gefunden, welche eine Vormundschaft über solche Völker durch europäische Nationen als notwendig erklärt." 1 3 4 Auf einer anschließenden Z u s a m m e n k u n f t schätzte die Korag ein, daß f ü r die Verbreitung der zitierten Vorstellungen „noch lange nicht genug geschehen" sei. Im Verlaufe seiner längeren A u s f ü h r u n g e n zu diesem Aspekt stellte Geo. A. Schmidt, Vorsitzender der Kolonialabteilung der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft, fest: „Wir bewegen uns bisher eigentlich immer in demselben Kreise und kommen viel zu wenig heraus. Das liegt im wesentlichen d a r a n . . . , daß n u r 1 Prozent des deutschen Volkes Interesse f ü r die koloniale Sache hat . . .
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DKG 570, Bl. 60: Tätigkeitsbericht des Arbeitsausschusses der Korag vom 28.1.1929. DKG 863 a, Bl. 453 f.: Kolonialpolitische Richtlinien, vereinbart auf der Besprechung am 22. 11. 1928. Beteiligt waren der Direktor der Deutschen Bank Brunswig, der Direktor der Dresdner Bank Wiethans, der Generaldirektor der Woermann- und Deutschen Ostafrika-Linie Amsinck, Direktor Riedel von der Hamburgischen Vereinigung für deutsche Überseeinteressen, der Direktor der Neuguinea-Kompanie und Präsident des Reichsverbandes der Kolonialdeutschen und Kolonialinteressenten Albert Hahl, die Gouverneure a. D. Friedrich von Lindequist, Albrecht Freiherr von Rechenberg, Heinrich Schnee und Erich Schultz-Ewerth, der Kolonialexperte des Zentrums Reichskolonialminister a. D. Johannes Bell, Staatssekretär z. D. Kempner, die Reichstagsabgeordneten Sachs (DNVP) und Max Cohen-Reuß (SPD).
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Aus dieser Gleichgültigkeit müssen wir die große Masse des Volkes aufzurütteln suchen." 135 Meinungsverschiedenheiten mit der Regierung einerseits und dem Deutschen Kolonialverein, den Alldeutschen und den Faschisten andererseits bestanden weiterhin über die Frage, wann und wie die Koloniälforderung außenpolitisch durchgesetzt werden könnte. Stresemann erklärte damals der Korag, daß die Regierung die Kolonialfrage anschneiden werde, „sobald über die Reparationsfrage mit der Gegenseite eine Einigung erzielt und das Rheinland befreit sei".136 Aber Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht, der Schwerindustrielle Albert Vogler, das geschäftsführende Präsidialmitglied des Reichsverbandes der Deutschen Industrie Ludwig Kastl und der Bankier Carl Melchior, die die Regierung als Sachverständige zu den Reparationsverhandlungen delegierte, waren gegenteiliger Ansicht und handelten auf eigene Faust. In ihrem — in diesem Punkt von Schacht und Kastl inspirierten — der Pariser Konferenz vorgelegten Memorandum erhoben sie die Forderung nach einer kolonialen Rohstoffbasis für Deutschland als Voraussetzung für die Erfüllbarkeit eines jeden Zahlungsprogramms. Wenngleich sie den Abschluß des vorteilhaften Abkommens über die Reparationen von dieser Forderung letztlich nicht abhängig machen konnten, wertete die DKG die Tatsache, daß sie keine entschiedene Abfuhr erlebt hatten, als die Anerkennung der „wirtschaftlichen Notwendigkeit kolonialer Betätigung" diirch die Partner des Youngplans.137 Die größere Bewegungsfreiheit, die der neue Plan der Industrie der deutschen Großbourgeoisie in Aussicht stellte, veranlaßte Kastl und das Vorstandsmitglied der Deutschen Bank Werner Kehl, in ihren Grundsatzreferaten auf der Mitgliederversammlung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie im September 1929 auf die wachsende Bedeutung der Kolonialgebiete als Rohstofflieferanten, Absatzmärkte und Kapitalanlagesphären zu orientieren.138 Auf der Gegenseite verstärkten die KPD, die Antiimperialistische Liga, die mit ihr politisch zusammenwirkenden Afrikaner ihre Bemühungen zur Konsolidierung und Erweiterung der Kampffront gegen den Kolonialismus, gegen die kolonialrevisionistische Politik des deutschen Imperialismus, für die politischen Grundrechte und die Verbesserung der sozialen Lage der kolonial unterdrückten Völker. In Vorträgen, Aussprachen, Kursen, Veröffentlichungen über Imperialismus und Kolonialpolitik wurde verdeutlicht, was sich hinter der imperialistischen Forderung nach einem angemessenen Anteil an der Verwaltung und Verwertung Afrikas zu gleichen Bedingungen verbarg. 139 DKG 589, Bl. 62: Protokoll der Mitgliederversammlung der Korag am 28. 1. 1929 in Berlin. 136 Siehe Drang nach Afrika, S. 270 Anm. 73. ZStAP, Berliner Handels-Gesellschaft, Archiv 10 081, Bl. 50 ff.: Jahresbericht der DKG für 1929, Berlin 1930, S. 3. lii,s Siehe Drang nach Afrika, S. 272. " " So hieß es in der „Resolution der Kölner Tagung (Januar 1929) der Antiimperialistischen Liga zur Unterstützung der Gewerkschaftsbewegung in den Kolonien" : „In den kolonialen Ländern ist der Imperialismus gekennzeichnet durch das Fehlen aller ökonomischen und politischen Rechte, durch die Aufhebung der Pressefreiheit, der Rede- und Versammlungsfreiheit, durch den Verlust des Bodens, durch schreckliche 18*
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Herausragende Ereignisse in der Entwicklung des antikolonialen Freiheitskampfes auf deutschem Boden bildeten der Zweite internationale Kongreß der Antiimperialistischen Liga in F r a n k f u r t a. M. im Juli 1929, die Gründung einer Deutschen Sektion der Liga zur Verteidigung der Negerrasse am 17. September desselben Jahres in Berlin 140 und die Wahl des Internationalen Gewerkschaftskomitees der Neger-Arbeiter in Hamburg im Juli 1930.141 Alle diese Aktivitäten waren imperialistischen Gegenmaßnahmen ausgesetzt ; der Weg zur Freiheit, Demokratie und zur Verwirklichung des Rechts der unterdrückten Völker auf nationale Selbstbestimmung war kompliziert. Ein Kommentar der „Frankfurter Zeitung", die immerhin im Rufe der Liberalität stand, ist bezeichnend f ü r die allgemeine Situation. Sie begrüßte den Kongreß nicht, sie griff ihn nicht an, aber sie warnte, „daß er einen Sammelpunkt f ü r die zwar noch ungeklärten, unausgeglichenen, aber doch vorhandenen Freiheitsbewegungen der Kolonialvölker darstellt". Eine über die ganze Welt ausgedehnte revolutionäre Organisation der Unterdrückten könne zwar den Kampf nicht mit einem Schlag aufnehmen, aber es wäre töricht, der Entwicklung mit Optimismus zuzuschauen oder sie mit untätigem Fatalismus hinzunehmen. Wie zur Beruhigung imperialistischer Gemüter fügte sie hinzu: „Auf der anderen Seite ist es ja auch die Taktik der Kolonialmächte, die Einheitsfront der Eingeborenen zu verhindern." 142 Die deutsche Regierung und ihre Organe praktizierten die Methoden der Überwachung, der Nachrichtensammlung und — von Fall zu Fall — des Informationsaustausches mit fremden Regierungen weiter; direktere Repressivmaßnahmen wurden 1929 gegenüber beiden Ligen erwogen. Anläßlich der Arbeiterkonferenz in Hamburg wies das Reichsministerium des Innern die dortige Polizeibehörde an, „den Verlauf und das Ergebnis der internationalen Veranstaltung, insbesondere hinsichtlich der Unterstützung der kommunistischen Negerbewegung durch die deutschen Kommunisten" zu ermitteln. 143
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Wohnverhältnisse, lange Arbeitszeit, Hungerlöhne, unerhörte Ausbeutung, erschrekkend hohe Sterbeziffern und durch das vollständige Fehlen jeder sozialen und Schutzgesetzgebung. All dies wird mit der brutalen nackten Gewalt durchgeführt, mittels der Kräfte der imperialistischen Unterdrückung, ihrer Armeen, Flotten, Polizei, die eingesetzt werden, u m die kolonialen Völker zu Nutz und Frommen der imperialistischen Ausbeuter in Unterdrückung zu halten" (Rotes Gewerkschafts-Bulletin, Deutsche Ausgabe 9,1929, 6/7, S. 40). Die internationale Organisation, mit Sitz in Paris, war 1927 aus dem Comité de Défense de la Race Nègre hervorgegangen. Sie arbeitete in Frankreich und im französischen Kolonialreich. Ihr Sekretär, Garan Kouyaté, wirkte in der Antiimperialistischen Liga und im Internationalen Gewerkschaftskomitee der Neger-Arbeiter mit und war auf diesem Wege mit Afrikanern in Deutschland in Berührung gekommen. Zur Leitung der Deutschen Sektion gehörten Victor Bell, Präsident; Thomas al Kuo, Kassierer ; Joseph Bilé, Sekretär. Siehe Rüger, Adolf, Die Erste Internationale Konferenz der Neger-Arbeiter (Hamburg 1930), in: BzG, 9,1957, 5, S. 782 ff. „Der Weltkongreß gegen Imperialismus", in: Frankfurter Zeitung, 29. 7.1929. IML/ZPA, Reichsministerium des Innern, IAN 1—275, Bl. 10: Anweisung vom 17. 7.1930 an die Polizeibehörde in Hamburg.
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Im Falle der Antiimperialistischen Liga w a n d t e sich der Berliner Polizeipräsident an den Innenminister mit der Anregung, „zu prüfen, ob der in F r a n k f u r t / Main geplante Weltkongreß der Liga nicht zu verhindern ist". Es stehe außer Zweifel, daß sich dort bolschewistische Redner „zu Verunglimpfungen kolonialer Einrichtungen hinreißen lassen werden", und das läge nicht „im außenpolitischen Interesse" der deutschen Reichsregierung. Seines Erachtens sei in diesem Fall „ein Verbot nicht an die Voraussetzungen gebunden, die die Verfassung u n d das Reichsvereinsgesetz bei Versammlungen von deutschen Reichsangehörigen fordert". 1 '* 4 Dieser Vorschlag w u r d e nicht aufgegriffen. Eine Ministerbesprechung der Reichsregierung h a t t e a m 11. F e b r u a r 1929 auf G r u n d einer Stellungnahme des Außenministers zu einem Ersuchen der italienischen Regierung, einen einberufenen antifaschistischen Kongreß zu verbieten, grundsätzlich entschieden, daß internationale Kongresse, die sich mit innerpolitischen Verhältnissen anderer Staaten auseinandersetzen, nicht verboten, sondern verstärkt überwacht werden sollen. 145 So w u r d e vorerst auch in diesem Fall verfahren. Auch in bezug auf die Deutsche Sektion der Liga zur Verteidigung der Negerrasse, die sich wie die Mutterorganisation in Frankreich als „eingetragener Verein" h a t t e legitimieren lassen, blieben Vorschläge, sich ü b e r die verfassungsmäßigen und gesetzlichen Garantien zur Gewährleistung demokratischer Rechte innerhalb des Reichsgebiets hinwegzusetzen, nicht aus. Der Verein f ü r das Deutschtum im Ausland f ü h l t e sich durch die Beteiligung von sechs A f r i k a n e r n an einer Kundgebung des Sozialistischen Schülerbundes a m 8. Dezember 1929 in Berlin bis ins Mark getroffen. Die Versammlung stand unter dem Thema „Das w a h r e Gesicht des VDA: Nationalistische Verhetzung / Hort der Schulreaktion / Neue Kolonien — Neue Kriege". 146 Von den A f r i k a n e r n hielt der K a m e r u n e r Joseph Bile, Sekretär der Deutschen Sektion der Liga, eine Rede. Zum Ärgernis des VDA f ü h r t e er aus, „daß die Zeiten vorbei seien, in denen die Negervölker ausgenützt würden. Insbesondere t r e f f e das auf Deutschland zu, das von jeher die Neger n u r als billige Arbeitstiere angesehen habe. Es sei in den Kolonien, also auch in Kamerun, viel geprügelt worden." Deshalb unterbreitete der VDA zusammen mit diesen Angaben den Vorschlag, „mit allen zulässigen Mitteln zu erreichen, daß diese Neger, die der Förderung der kolonialen Bestrebungen, die glücklicherweise wieder in weiten Volkskreisen F u ß gefaßt haben, hinderlich sind, ausgewiesen werden. G r ü n d e werden sich wohl finden lassen . . . " 147 Seitz griff die Anregung zum Abbau bzw. zum Hintergehen der Demokratie auf u n d stellte bei der Kolonialabteilung schriftlich u n d mündlich den Antrag, möglichst rasch und möglichst viele der Afrikaner in ihre Heimat abzuschieben. Dig f ü r West- und Ostafrika 144
ZStAP, Reichsministerium des Innern 25 668/3, Bl. 22 ff.: Der Polizeipräsident von Berlin an den Minister des Innern, 3. 7.1929. 140 Ebenda, Büro des Reichspräsidenten. Präsidialkanzlei 55, Bl. 195. — Ebenda, 07.01 FC Reichskanzlei 744, Bl. D 779 374. ,4 "' RKolA 4 457/7, Bl. 211: Flugblatt des Sozialistischen Schülerbundes „Das wahre Gesicht des VDA". Ebenda, Bl. 210: Verein für das Deutschtum im Ausland. Deutscher Schulverein e. V., Hauptgeschäftsstelle, gezeichnet P. Köhler, an die DKG, Berlin, 12.12.1929.
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ressortmäßig zuständigen Referenten in der Kolonialabteilung, Theodor Gunzert und Eltester, hielten das Abschieben für erstrebenswert, sahen nur keine rechtliche Möglichkeit dazu.148 Die Geheimdiplomatie nahm derartige Rücksichten nicht. Gestützt auf die intime Kenntnis der Vorgänge in der antiimperialistischen Freiheitsbewegung instruierte das Auswärtige Amt nach dem Frankfurter Kongreß der Liga gegen Imperialismus und Kolonialismus den Generalkonsul in Südafrika149 in einem Erlaß vom 31. August 1929, der nationalistischen Regierung von Premierminister James Hertzog die Gefahren der von den Kommunisten geförderten Bewegung eindringlich vor Augen zu führen. Generalkonsul Roh unterzog sich seiner Mission mit Eifer. Er meldete, daß die Regierung wie auch die öffentliche Meinung die kommunistische Bewegung „bisher nicht sehr ernst nehmen". Er habe die Gesamtlage auf Grund des Erlasses nochmals eingehend mit Justizminister Oswald Pirow besprochen. Dieser meinte, daß die weiße „Arbeiterschaft so gut wie ganz imperialistisch eingestellt ist", „daß höchstens ein paar hundert Weiße, wohl nicht mehr als 500, der kommunistischen Lehre zugetan seien" und daß sich die Regierung darum „nicht allzu sehr zu sorgen brauche". „Mit der schwarzen Bevölkerung sei die Sache ernster, denn unter ihnen bereite jede Bewegung der Regierung Schwierigkeiten", so. die Gewerkschaftsbewegung, die „tatsächlich kommunistisch sei" und zu der Regierung die Ansicht vertrete, daß die Afrikaner „auf mindestens 50 Jahre hinaus für eine Gewerkschaftsorganisation nicht reif seien". Pirow sagte dann, er bereite einen Gesetzentwurf vor, der die „gesetzliche Handhabe" geben werde, „um die ins Land gekommenen Agitatoren zu fassen".150 Die Entwicklung der nächsten Tage sprach für die Berechtigung der aus Berlin übermittelten Warnungen: Im September konstituierten der Afrikanische Nationalkongreß, die Kommunistische Partei und Gewerkschaften gemeinsam die Liga für die Rechte der afrikanischen Völker. Pirow veröffentlichte nun sofort den inzwischen fertiggestellten Gesetzentwurf (Riotous Assemblees and Criminal Law Amendment Act). Voller Genugtuung berichtete Generalkonsul Roh, welche Sondervollmachten sich die Regierung zur Bekämpfung der freiheitlich-demokratischen Bewegung erteilen lassen wollte: „Beschränkung der Versammlungsfreiheit, Vorgehen gegen Agitatoren, Verhinderung jeglicher aufreizenden Propaganda durch Wort oder Schrift und schließlich Landesverweisung ausländischer Agitatoren". Aber es rege sich Widerstand. Die afrikanische Bevölkerung „ist selbstverständlich höchst erregt. So hat am gestrigen Sonntag in Johannesburg bereits eine große Protestversammlung von einigen 1 500 Schwarzen statt-
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Ebenda, Bl. 228: Seitz an die Kolonialabteilung, 17. 12. 1929; Bl. 231: Aktennotiz von Eltester vom 8. 1.1930. Zu den im folgenden berührten Ereignissen in Südafrika siehe Lerumo, A., Fünfzig Jahre Kampf der Südafrikanischen Kommunistischen Partei 1921—1971, Berlin 1973, S. 119 f. National Archives Washington, D.C., F.C Auswärtiges Amt, Abteilung IV Rußland, Geheimakten betr. Afrika 1924-34, 338/1, Bl. 600 043 f.: Bericht von Generalkonsul Roh, Pretoria, 8. 10.1929.
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gefunden, in der all die aus meiner Berichterstattung bereits bekannten Agitatoren wie Roux, Ballinger, Bunting und Kadalie gesprochen haben." 1 5 1 Aber auch von seiten der weißen, nichtkommunistischen Bevölkerung w u r d e Kritik am Gesetzentwurf laut, namentlich an den Anweisungspassagen, die ihre eigenen Bürgerrechte bedrohten. Darauf inszenierte Pirow eine monströse Nacht- und Nebelaktion einer größeren, schwer b e w a f f n e t e n Polizeimacht. Die Wahl fiel auf drei Afrikanerviertel in Durban, berichtete der deutsche Generalkonsul, weil die Stadt „seit langem ein Hotbed schwarzer Unruhen" sei und dort „eine große Anzahl Eingeborener mit ihrer Kopfsteuer im Rückstand w a r " : „In der Dunkelheit w u r d e n von dem Polizeiaufgebot 3 große schwarze Settlements mit 6 bis 7 000 Eingeborenen vollkommen umstellt; selbst Maschinengewehre w u r d e n a u f g e f a h r e n und in zwei Fällen w u r d e auch von Bomben mit Tränengas Gebrauch gemacht. Als der Morgen graute, f a n d e n sich die Eingeborenen vollkommen umzingelt u n d w u r d e n zum Herauskommen aufgefordert. Im allgemeinen leisteten sie Folge und da, wo sich zunächst eine gewisse Zurückhaltung zeigte, hat es Überredung doch dahin gebracht, daß alles ohne Blutvergießen verlief. Von den rückständigen Steuerzahlern sind etwa 350 v e r h a f tet und dem Gericht zur Aburteilung v o r g e f ü h r t worden." Die Rechtfertigungen, die Pirow nachträglich vorbrachte, sah selbst Roh als fadenscheinig an. Seines Erachtens h a t t e Pirow „aus doppeltem Grunde" die Aktion u n t e r n o m m e n : „Einmal u m den Eingeborenen a n der Stelle, wo k o m m u nistische Verhetzung sich bisher am meisten b e m e r k b a r gemacht hat, klar vor Augen zu f ü h r e n , ü b e r welche Machtmittel sie nötigenfalls mit Schnelligkeit verfügen kann, und dann ist es wohl auch dem Justizminister Pirow gelegen gekommen, der Öffentlichkeit durch ein Beispiel klar zu machen, daß die u n t e r den Eingeborenen vorhandene Gärung straffere Maßnahmen, wie sie sein Gesetzentwurf vorsieht, gebieterisch verlange." Da auch nach den ersten Rechtfertigungen die Kritik in der Presse weiter anhielt, n a h m Pirow schließlich in einer vom Kabinett bestätigten Rede öffentlich Stellung und begründete seine Aktion mit Auslassungen über die Beziehungen der Kommunisten zu den A f r i kanern im allgemeinen, über die internationalen Beziehungen der K o m m u nisten und über die Verhältnisse in D u r b a n im besonderen. Eingedenk seines Auftrages qualifizierte Roh diese Rede in seinem ausführlichen Bericht als „wichtig", „weil sie die erste amtliche Äußerung über den Stand der k o m m u nistischen Agitation in Südafrika ist". 152 Und Pirow bekam, was er sich wünschte: Sondervollmachten f ü r präventive Maßnahmen gegen A f r i k a n e r und K o m m u nisten, Menschenrechts- und Bürgerrechtsbestrebungen. In einem Schreiben an das Auswärtige Amt d a n k t e der beauftragte Vertreter der Regierung der Südafrikanischen Union in Deutschland f ü r die auch ihm erteilten Ratschläge, begrüßte das „energische" Vorgehen des ihm befreundeten 151
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Ebenda, Bl. K 600 045 f.: Bericht desselben vom 11.11.1929. - Der Bericht ging abschriftlich — wie üblicherweise Meldungen dieses Inhalts — an die Deutsche Botschaft in Moskau, an das Reichsministerium des Innern und an das Preußische Ministerium des Innern zur Kenntnisnahme und Beachtung. Ebenda, Bl. K 600 051 ff.: Bericht desselben vom 20.11.1929.
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Pirow und fuhr fort: „ . . . ich würde es aber gerne sehen, wenn er sich auch gewissermaßen theoretisch und historisch etwas mehr mit dem Wesen des Kommunismus befaßte, als es ihm bisher wohl möglich war, zumal das Auftreten des Bolschewismus in Südafrika noch recht neu ist." Und unter Hinweis darauf, daß er selbst noch zu „unerfahren in diesen Ostfragen" sei, bat er um Literaturhinweise zur Weiterreichung an Pirow, damit sich der Minister in die wichtige Sache vertiefen könne. 153 Ministerialdirigent Hans-Adolf von Moltke war ihm auch dabei gern behilflich. 154 Nach der endgültigen Annahme der Abkommen über den Youngplan und über die Rheinlandräumung sprach sich der Ausschuß für Unterstützungs- und Förderungswesen des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, bei dem zwanzig Kolonialverbände — auf den ersten Positionen die Korag und die DKG — zu Buche standen, in gemeinsamer Beratung mit Geheimrat Eltester von der Kolonialabteilung dafür aus, „mit aller Macht dahin [zu] wirken, daß ein engerer Zusammenschluß der Verbände und damit eine rationellere Verwendung der den Verbänden zufließenden Mittel erreicht wird". 155 Eine größere Zusammenkunft am 26. Mai 1930 vereinte Repräsentanten fast aller kolonialistischen Strömungen, um sich darüber zu verständigen, wie „die deutsche koloniale Frage nunmehr unter Erzielung möglichster Einheitlichkeit des Vorgehens aller daran interessierten Kreise zu behandeln sein wird":156 Der Einladung folgten namhafte, politisch einflußreiche, zum Teil mächtige Leute aus der herrschenden Klasse und ihren Machtorganen. 157 Sie beschlossen eine aktualisierte Fassung von „Richtlinien 103
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Ebenda, Bl. K 600 062 ff.: Brehmer, Amtsvertreter des Bevollmächtigten in Europa der Regierung der Union von Südafrika, an Legationsrat von Moltke, Ministerialdirigent im Auswärtigen Amt, Hamburg, 5. 3.1930. Ebenda, Bl. K 600 065 f.: von Moltke an Brehmer, 20. 3. 1930. Von Moltke empfahl: „1. Geist und Gesicht des Bolschewismus von Filöp-Miller, 2. Experiment des Bolschewismus von Feiler, 3. Rußland von heute von Koch-Weser, 4. Die Volkswirtschaft der Sowjetunion von A. Jugow". RKolA 6 682, Bl. 22: Aktennotiz von Eltester vom 6. 2. 1930 über die Besprechung im genannten Ausschuß am selben Tage. DKG 553, Bl. 62: Schnee an Seitz, 7. 5. 1930. - Schnee übernahm Ende 1930 die Präsidentenfunktion des erkrankten Seitz in DKG und Korag. An der Beschlußfassung waren persönlich beteiligt bzw. ihr schlössen sich an: Von den Teilnehmern der Beratung, die 1928 Kolonialpolitische Richtlinien beschlossen hatte, Amsinck, Bell, Cohen-Reuß, Hahl, Kempner, von Lindequist, von Rechenberg, Riedel, Sachs, Schultz-Ewerth, Seitz und Schnee. Ferner der Geschäftsführer des Gesamtverbandes der christlichen Gewerkschaften Baltrusch, der Reichstagsabgeordnete der DVP W. Dauch, Bernhard Dernburg, der ehemalige Reichsjustizminister und Reichstagsabgeordnete der Bayrischen Volkspartei Dr. Erich Emminger, der Direktor der Dresdner Bank Dr. Frisch, das Präsidialmitglied des Reichsverbandes der Deutschen Industrie T. Goldschmidt, der ehemalige Reichswirtschaftsminister Eduard Hamm, das Geschäftsführende Präsidialmitglied des Reichsverbandes der Deutschen Industrie Dr. Ludwig Kastl, das Mitglied des Reichswirtschaftsrates Dr. H. Krämer, der ehemalige Reichsinnenminister Dr. Wilhelm Külz, der Präsident der Reichsbank Dr. Hans Luther, der rechtssozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Dr. Ludwig Quessel, der Ministerialdirektor im Auswärtigen Amt Dr. Julius Ruppel, der frühere
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zur Behandlung der deutschen Kolonialfrage". Darin erklärten sie es für geboten, die „deutsche Kolonialfrage mehr in den Vordergrund zu schieben", und wiederholten die schon in den Richtlinien von 1928 ausgesprochene politische Maxime, „daß die in ihrer Entwicklung zurückgebliebenen Völker Afrikas und einiger anderer Gebiete noch nicht im Stande sind, sich selbst zu verwalten und noch auf lange Zeit hinaus der Anleitung und Fürsorge durch europäische Nationen bedürfen . . . " 1 5 8 Die Korag übernahm im Juni die Richtlinien inhaltlich, unter Weglassung von Formulierungen, die als Zustimmung zur Außenpolitik der ersten Regierung unter Heinrich Brüning hätten aufgefaßt werden können. In Ausführung der kolonialpolitischen Richtlinien und im Zusammenhang mit dem allgemeinen Abbau der Demokratie und der wachsenden Rechtsorientierung von immer mehr Gruppierungen des Finanz- und Monopolkapitals begannen die Staatsorgane, von verfassungs- und gesetzeswidrigen Unterdrückungsmaßnahmen offenen Gebrauch zu machen. Im Dezember 1931 überfielen Polizeiaufgebote in aufeinanderfolgenden Einsätzen die Büros und Einrichtungen der Antiimperialistischen Liga und der Deutschen Sektion der Liga zur Verteidigung der Neger-Rasse in Berlin und des Internationalen Gewerkschaftskomitees der Neger-Arbeiter in Hamburg. Noch aber hatte die Reaktion in Deutschland nicht völlig freie Hand. Die kommunistische Presse wandte sich sofort gegen die Aktionen und stellte sie als Anschläge auf elementare demokratische Rechte bloß. Die deutsche Ausgabe der „Internationalen Presse-Korrespondenz" schätzte ganz zutreffend ein, daß nach dem Willen der Urheber der Polizeieinsätze die Gewerkschaftsbewegung der afrikanischen und der anderen betroffenen Arbeiter und die demokratische Bewegung gegen Imperialismus und Kolonialrevisionismus unterbunden werden sollten. Gleichzeitig berichtete das Informationsbulletin, daß Hamburger Arbeiter auf mehreren Versammlungen ihre Solidarität mit dem Internationalen Gewerkschaftskomitee durch Proteste gegen die Polizeiaktion bekundet hatten. 153 Und in bezug auf die Ereignisse in Berlin hieß es im Zentralorgan der K P D : „Die gesamte Berliner Arbeiterschaft erhebt den schärfsten Protest gegen dieses Vorgehen der Severingpolizei. Die Berliner Arbeiterschaft ist mit der Tätigkeit der Liga in internationaler proletarischer Solidarität aufs engste verbunden. Sie fordert die sofortige Freilassung der Verhafteten!" 1 6 0 Der von den Kommunisten organisierte Protest bot den beiden internationalen Organisationen Schutz. Sie setzten ihre Arbeit unter erschwerten Bedingungen fort; die Liga
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Reichsbankpräsident Dr. Hjalmar Schacht, Dr. Arthur Salomonsohn, leitender Geschäftsinhaber der Disconto-Gesellschaft bis zu ihrer Fusion mit der Deutschen Bank, Wilhelm Solf, der Direktor der Deutschen Bank Emil von Stauß, der Direktor der Vereinigten Stahlwerke Albert Vogler, der Hamburger Bankier Max M. Warburg und der Direktor der Deutschen Bank Dr. Kurt Weigelt. DKG 553, Bl. 55 f. - Vgl. Schmokel, Wolfe W., Dream of Empire: German Colonialism, 1919-1945, New Häven/London 1964, S. 9; Drang nach Afrika, S. 274. f. Internationale Presse-Korrespondenz, Deutsche Ausgabe, Nr. 120, 30. 12. 1931, S. 2 783. Die Rote Fahne, 22. und 23.12.1931.
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mußte ihren Sitz nach Frankfurt a. M. verlegen. Doch die Möglichkeiten zu demokratischer Betätigung wurden zunehmend eingeengt. Die Kolonialinteressenten und ihre Verbände orientierten sich mehr und mehr nach rechts. Die DKG nahm 1931 die engere Zusammenarbeit mit der NSDAP auf. Die Machtübertragung an die Faschisten in Deutschland am 30. Januar 1933 bedeutete auch für die Organisationen, die für die Freiheit der afrikanischen Völker eintraten, das Ende ihrer Legalität. Dem faschistischen Regime standen die in langjährigen Ermittlungen gesammelten Angaben über alle, die sich an dieser Bewegung beteiligt hatten, zur Verfügung. Von einzelnen Afrikanern ist bekannt, daß sie aus Deutschland nach Frankreich emigrierten, sich den dort bestehenden Organisationen anschlössen und warnend ihre Stimme gegen Illusionen über die Absichten des deutschen Imperialismus in bezug auf Afrika erhoben. Die weitere Kolonialpolitik mündete im Zusammenhang mit der Ausarbeitung der überseeischen Kriegsziele u. a. in Entwürfe für eine umfassende Kolonialgesetzgebung161, die in einem deutschen Mittelafrika in Kraft gesetzt werden und die dortigen Bewohner auf einen Sklavenstatus hinabzwingen sollte, der ihnen für ihre politische, soziale oder freie menschliche Entwicklung überhaupt keinerlei Spielraum belassen hätte, 101
Siehe Schmokel, S. 180, 184; Kum'a N'Dumbe, Alexander, La politique africaine de l'Allemagne Hitlerienne 1933—1943 (Afrique du Nord — Afrique Centrale — Afrique du Sud). Thèse de Doctorat de 3ème Cycle Histoire contemporaine, Lyon II 1974, t. 1 et 2; Drang nach Afrika, S. 337 ff.; The Nazis in Africa, hrsg. von L. S. Barron, Salisbury/N.C. 1979 (Lost documents on the Third Reich, 3).
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Die Strategie der internationalen Sozialdemokratie und der Februarkampf der österreichischen Arbeiter 1934
Der Zusammenbruch der Weimarer Republik und die Errichtung der faschistischen Diktatur des Monopolkapitals in Deutschland im Jahre 1933 offenbarten gleichzeitig den völligen Bankrott der von der rechten SPD-Führung verfolgten Politik der Klassenzusammenarbeit mit der Bourgeoisie, die angeblich mittels des bürgerlich-parlamentarischen Staates den Werktätigen den Sozialismus ohne revolutionäre Erschütterungen bringen sollte. Statt dessen vertiefte diese Politik die Spaltung der Arbeiterklasse, erwies sie sich als unfähig, die Interessen der Werktätigen durchzusetzen, und sogar außerstande, selbst die bürgerlichparlamentarische Demokratie zu verteidigen.1 Die tiefe Erschütterung, die die Niederlage der deutschen Arbeiterklasse und das Versagen der SPD, der stärksten Abteilung innerhalb der Sozialistischen Arbeiter-Internationale (SAI), unter den Sozialdemokraten in der ganzen Welt hervorriefen, veranlaßte die SAI, auf ihrer Pariser Konferenz im August 1933 einen Beschluß zur „Strategie und Taktik der internationalen Arbeiterbewegung in der Zeit der faschistischen Reaktion" zu fassen. Der vorherrschende Einfluß der rechten Kräfte auf dieser Konferenz verhinderte, daß sie eine prinzipielle Abrechnung mit der verfehlten Politik des Reformismus vornahm, und bewirkte, daß sie die von den Kommunisten vorgeschlagene proletarische Einheitsfront gegen den Faschismus ablehnte. Sie gelangte jedoch ,;auf Grund der „deutschen Ereignisse" zu der Erkenntnis, „daß dort, wo die Bourgeoisie den Boden der Demokratie verlassen, sich dem Faschismus in die Arme geworfen und der Arbeiterklasse die demokratischen Kampfmittel entrissen hat, kein anderer Weg zur Befreiung führt als der des revolutionären Kampfes". 2 Sollte dies kein Lippenbekenntnis bleiben, so urteilte einer der führenden Repräsentanten der SAI, Theodor Dan, so hätte dieser Weg „eine gewaltige Umwälzung in der gewohnten politischen Denkweise vieler, vielleicht der Mehrheit der der SAI angeschlossenen Parteien bedeutet". 3 1 Vgl. Klassenkampf, Tradition, Sozialismus, Berlin 1974, S. 442. - Protokoll. Internationale Konferenz der Sozialistischen Arbeiter-Internationale, Paris, Maison de la Mutualité, 21.-25. August 1933, Paris 1933, S. 314. Vgl. auch: Bulletin der Sozialistischen Arbeiter-Internationale 1933 (im folg.: Bulletin 1933), Serie 3, Nr. 5, S. 103. Dan, Theodor, Der österreichische Aufstand und die Umstellung der Internationale, in: Der Kampf, 1934, (N.F.), Nr. 1, S. 20.
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Die historische Situation verlangte tatsächlich gebieterisch eine solche „Umwälzung", wollten die sozialdemokratischen Parteien ihrer Verantwortung gegenüber der Arbeiterklasse im Kampf gegen den Faschismus, gegen seine weitere Ausbreitung und die von ihm ausgehende Kriegsgefahr gerecht werden. Das war besonders in den Ländern notwendig, wo die durch ihren Erfolg ermutigten faschistischen Kräfte zu neuen Schlägen gegen die Organisationen und die sozialen und politischen Rechte der Werktätigen sowie die parlamentarische Demokratie ausholten. Dieser Situation entsprach folgende Festlegung der Pariser Konferenz: „In den Ländern, in denen der Faschismus die Demokratie unmittelbar bedroht, muß die Arbeiterklasse zum Kampf mit allen Mitteln entschlossen sein, sie darf kein Opfer scheuen, um Angriffe des Faschismus abzuwehren."4 Will man der Frage nachgehen, wie die internationale Sozialdemokratie ihre eigenen strategisch-taktischen Beschlüsse zum Kampf gegen diese Bedrohung verwirklichte, so drängt sich das Beispiel Österreich geradezu auf. Schritt für Schritt baute die Regierung Dollfuß, die die Interessen der klerikalfaschistischen österreichischen Bourgeoisie vertrat und sich auf das faschistische Italien stützte, die parlamentarische Demokratie und die Rechte und Freiheiten der Werktätigen ab. Gleichzeitig nahm die Agitations- und Terrorwelle der österreichischen Nazis sprunghaft zu. Am 4. März 1933 schaltete die Regierung das Parlament aus. Sie verbot den Republikanischen Schutzbund, am 26. Mai 1933 die KPÖ, daneben andere Arbeiterorganisationen und beschränkte die Verbreitungsmöglichkeiten für die sozialdemokratische Presse. Einerseits war also tatsächlich die Demokratie schon mehr als „unmittelbar bedroht", andererseits war die mitgliederstarke und in Gestalt des Schutzbundes auch über eine militärische Organisation verfügende Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs (SDAPÖ) noch intakt und objektiv in der Lage, die „Angriffe des Faschismus abzuwehren". Es war möglich, einen Ausweg aus der Krise zu finden, wie ihn die KPÖ mit ihrer Einheitsfrontpolitik und mit ihren Erklärungen zur nationalen und sozialen Befreiung der Werktätigen wies. 5 Die Stunde war gekommen, in der die Führung der SDAPÖ, der fast das gesamte österreichische Proletariat folgte, zu beweisen hatte, wie ernst es ihr mit dem Linzer Programm von 1926 war, in dem sie sich zur Wehrhaftigkeit der Arbeiterklasse bekannt und ihre ständige Bereitschaft zur Verteidigung der Republik und — im Falle einer Gegenrevolution der Bourgeoisie — zur Eroberung der Staatsmacht durch einen Bürgerkrieg erklärt hatte. 6 Gerade mit dem Hinweis auf die Wehrhaftigkeit der österreichischen Arbeiterschaft hatten sozialdemokratische Publizisten nach dem 20. Juli 1932 und dem 30. Januar 1933 verschiedentlich durchblicken lassen, die SDAPÖ werde nicht so schmählich Protokoll. Internationale Konferenz der SAI Paris, S. 314. Vgl. auch: Bulletin 1933, Serie 3, Nr. 5, S. 103. " Vgl. Reisberg, Arnold, Der Kampf weg der Kommunistischen Partei Österreichs, in: Einheit, 34, 1979, 1, S. 93. u Vgl. Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs, beschlossen vom Parteitag zu Linz am 3. November 1926, in: Die österreichische Sozialdemokratie im Spiegel ihrer Programme, Wien 1964, S. 43.
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wie die reformistische SPD vor Reaktion und Faschismus kapitulieren. 7 Doch nichts von alledem geschah seitens der Parteiführung. Vor jedem Schlag der Dollfuß-Regierung wich sie zurück, forderte die Arbeiter auf abzuwarten, da der entscheidende Augenblick zum Losschlagen noch nicht gekommen sei, und suchte statt dessen mit Dollfuß Verhandlungen über einen Kompromiß anzuknüpfen. Man habe „elf Monate lang alles Menschenmögliche versucht, um zu einer friedlichen, verfassungsmäßigen Entwirrung der politischen Krise zu gelangen", schrieb die „Arbeiter-Zeitung" am 25. Februar 1934 in ihrer ersten Nummer im Brünner Exil. Das war die logische Fortsetzung der Politik der sozialdemokratischen Führer Otto Bauer und Friedrich Adler seit 1918, die Georgi Dimitroff in seinem „Brief an die österreichischen Arbeiter" als „Politik der Kapitulation vor der Reaktion" bezeichnete und die „die Arbeiterklasse von Rückzug zu Rückzug, von Niederlage zu Niederlage" führte. „Vor den Augen der Sozialdemokratischen Partei", f u h r Dimitroff fort, „vollzog sich 15 Jahre hindurch ungehindert und systematisch die Organisierung der Kräfte der Reaktion und des Faschismus." 8 Am 15. März 1933 war die österreichische Arbeiterklasse, war der Schutzbund bereit zum Generalstreik und zum bewaffneten Kampf als Antwort auf Dollfuß' Staatsstreich. Doch das erwartete Signal kam wiederum nicht. Enttäuschung und Resignation breiteten sich unter Teilen der Arbeiterklasse aus, andererseits drängte der stärker werdende linke, revolutionäre Flügel in der SDAPÖ zum Handeln. 9 Die faschistische Reaktion wurde indessen selbstbewußter und zerstörte systematisch die noch im Lande bestehenden demokratischen Institutionen. Die Chancen f ü r einen erfolgreichen Widerstandskampf der Arbeiterklasse verringerten sich. Sie bestanden aber auch noch am 12. Februar 1934, als die klerikalfaschistische Diktatur die Arbeiterbewegung vollends zerschlagen wollte und sich die österreichischen Arbeiter in Linz gegen den Willen der Parteiführung 1 0 zur Wehr setzten. In dieser Situation entwickelte sich aus der bereits zuvor sichtbar gewordenen Unentschlossenheit, der Rat- und Ziellosigkeit des Parteivorstandes die Kata' Vgl. Leichter, Otto, Ende des demokratischen Sozialismus?, Wien 1932, S. 21 ff.; Germanicus, Hitler an der Macht, in: Der Kampf, 1933, Nr. 5, S. 188; Olberg, Oda, Der Nazikrieg in Deutschland und seine Lehren, ebenda, S. 202 ff. 8 Dimitroff, Georgi, Brief an die österreichischen Arbeiter, in: Die Kommunistische Internationale (im folg.: KI), 1934, Nr. 10, S. 828. — Vgl. auch den Diskussionsbeitrag von Hornik, Leopold, in: Das Jahr 1934, 12. Februar. Protokoll des Symposiums in Wien am 5. Februar 1974, hrsg., von L. Jedlicka und R. Neck, München 1975, S. 110. ,J So z. B. die Forderung von Käthe Leichter nach einer „Offensivaktion" noch im Januar 1934 (Käthe Leichter. Leben und Werk, hrsg. von H. Steiner, Wien 1973, S. 91). "J Auf diesen Aspekt wird verschiedentlich in den neuesten Vedöffentlichungen hingewiesen, z. B. Wodak, Walter, in: Das Jahr 1934, S. 106, Schunck, Almut/Steinberg, HansJosef, Mit Wahlen und Waffen. Der Weg der österreichischen Sozialdemokratie in die Niederlage, in: Frieden, Gewalt, Sozialismus, hrsg. von W. Huber und J. Schwerdtfeger, Stuttgart 1976, S. 480.
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Strophe der sozialdemokratischen Führung in Österreich, ja das erneute Fiasko der gesamten Theorie und Politik der SAI. Zwar wurde nach langem Zögern die Generalstreikparole ausgegeben, doch zeigte sich die Führung, die von der Unvermeidbarkeit der Niederlage überzeugt war und sich lediglich einen „ehrenvollen Abgang" schaffen wolle, unfähig, diesen Streik zu organisieren bzw. ihn überhaupt überall bekanntzugeben. Eine zentrale Leitung bestand faktisch nicht, die militärischen Aktionen blieben unkoordiniert und trugen rein defensiven Charakter. Es gelang nicht, sie in einen bewaffneten Aufstand überzuleiten. In Wien und anderen Orten leisteten kampfentschlossene Arbeiter, allen voran die Kommunisten und Teile des Schutzbundes gegen die auf die Arbeiterviertel vorrückenden schwer bewaffneten Einheiten der Gendarmerie und des Bundesheeres heldenhaften Widerstand und brachten trotz aller Mängel die Regierung zeitweilig in eine gefährliche Lage. Demgegenüber suchten Mitglieder der sozialdemokratischen Parteiführung in Verhandlungen mit den ChristlichSozialen einzutreten, blieben große Teile des Schutzbundes, ja ganze Gewerkschaftsorganisationen dem bewaffneten Kampf bzw. dem Generalstreik fern, kam es sogar zum offenen Verrat mancher Funktionäre. Dimitroff zog folgendes Fazit: „Eine Partei, die ständig zurückweicht, die 15 Jahre hindurch die Arbeiter auffordert, den Kampf zu meiden, kann sich unmöglich binnen 24 Stunden politisch und organisatorisch auf den bewaffneten Kampf umstellen." 11 Letzten Endes war es die verderbliche Politik des dritten Weges zwischen Kapitalismus und Kommunismus, eine durch radikale Phrasen verhüllte Politik der Klassenzusammenarbeit, die zur Niederlage der Februarkämpfer und zur Zerschlagung auch der österreichischen Sozialdemokratie führte. Die radikale Sprache des Linzer Programms zeugte nicht von der wahren Einstellung der Parteiführung, sondern diente lediglich der Beruhigung ihrer revolutionären Anhänger. „Die Führer der SDAPÖ umgaben", so lautete eine zeitgenössische marxistische Einschätzung, „ihre Politik der Zusammenarbeit mit dem Bürgertum und ihre Verständigungsbereitschaft mit Dollfuß mit gewagten scheinradikalen, ja sogar scheinrevolutionären Redensarten und Losungen." 12 Der Schutzbund sollte nicht wirklich zum Einsatz gebracht werden, sondern lediglich als politisches Druck- und Drohmittel gegenüber den bürgerlichen Parteien dienen. Die Politik des Abwartens und der Kompromisse trug nicht zur Ausbildung, sondern zur systematischen Untergrabung des revolutionären Klassenbewußtseins bei. 13 11
Dimitroff, S. 829; vgl. auch Österreich. Brandherd Europas, Zürich 1934, S. 184. Österreich. Brandherd Europas, S. 62. " Zur marxistischen Einschätzung der Februarkämpfe vgl. ebenda, S. 11 ff.; Geschichte der Kommunistischen Partei Österreichs, 1918—1966. Kurzer Abriß, Wien 1977, S. 149 ff.; Reisberg, Arnold, Februar 1934, Wien 1974, S. 190 ff.; ders., Diskussionsbeitrag, in: Internationale Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung. („X. Linzer Konferenz" 1974). Linz, 10. bis 14. September 1974, Wien 1976, S. 417 ff. (ITH-Tagungsberichte, Bd. 9). — Diesen Einschätzungen kommen nahe Neck, Rudolf, Der Februar 1934 in Österreich, ebenda, S. 303 ff.; ders., Thesen zum Februar. Ursprünge, Verlauf und Folgen, in: Das Jahr 1934, S. 15 ff.; Hautmann, HansjKropf, Rudolf, Die österreichische Arbeiterbewegung vom Vormärz bis 1945, Wien 1974, S. 161 ff. — Die Ent12
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Ebenso wie die reformistische Führung der SPD hatte nun auch die in der zentristischen Tradition stehende, mit revolutionären Phrasen operierende Führung der SDAPÖ ihre Unfähigkeit gezeigt, die Arbeiterklasse in einen wirkungsvollen Abwehrkampf gegen den Faschismus zu führen. Otto Bauer und Friedrich Adler hatten die auf der Pariser Konferenz der SAI von ihnen selbst formulierten Aufgaben nicht zu erfüllen vermocht. Wiederum zeigte sich, wie 1933, auch nach dem Februar 1934 für die gesamte internationale Sozialdemokratie die Notwendigkeit, ihre bisherige Strategie und Taktik zu überdenken. Der Heldenmut der österreichischen Arbeiter und die machtvolle antifaschistische Manifestation des einheitlich handelnden französischen Proletariats, die gleichfalls am 12. Februar stattfand, waren für die gesamte internationale Arbeiterbewegung ermutigende Zeichen. Georgi Dimitroff schrieb an die österreichischen Arbeiter: „Das österreische Proletariat wollte nicht sich selbst als Klasse untreu werden. Und mit Recht. Es wollte sich nicht demütig, kampflos den Qualen ausliefern, die das Los der von der Sozialdemokratie verratenen Arbeiterklasse Deutschlands geworden sind. Der bewaffnete Kampf des österreichischen Proletariats bildete eine anschauliche Warnung nicht nur für die österreichische Bourgeoisie, sondern auch für die Bourgeoisie aller Länder. Er zeigte, daß das Proletariat sich mit der Herrschaft des Faschismus niemals abfinden wird." 14 Wenn die richtigen Lehren aus der Februarniederlage gezogen wurden, konnte sie dem weltweiten antifaschistischen Kampf neue Impulse geben. Die fortschrittlichen Kräfte in aller Welt reagierten mit Bewunderung und Sympathie auf den Heldenkampf der österreichischen Arbeiter. Ihr durch das Jahr 1933 erschüttertes Selbstvertrauen wuchs wieder. Klarer als zuvor traten die Gefahr des Faschismus als eine internationale Erscheinung auf der einen und die Möglichkeit zu ihrer Abwehr durch die Arbeiterklasse auf der anderen Seite hervor. Der Februar war eine wichtige Etappe im Abwehrkampf der internationalen Arbeiterklasse gegen die Offensive des Faschismus und stellte nach dem bulgarischen Septemberaufstand von 1923 die erste bewaffnete Abwehraktion dar. 15 Die Solidarität der internationalen Arbeiterklasse manifestierte sich in zahlreichen Kundgebungen, in Proteststreiks und Sammlungen für die Februarkämpfer und ihre Familien. An diesen Aktionen beteiligten sich alle sozialdemokratischen Parteien und die reformistischen Gewerkschaften. Es gab auch ein spontanes Drängen, in die bewaffneten Kämpfe einzugreifen, wie in der sozialdemokratischen „Republikanischen Wehr" in der CSR. 16 Andererseits unterdrückten die Behörden der von Sozialdemokraten mitregierten CSR kommuwicklung der Einschätzung durch die Komintern behandelt Lewerenz, Elfriede, Die Analyse des Faschismus durch die Kommunistische Internationale, Berlin 1975, S. 71 ff. v' Dimitroff, S. 824. " Vgl. Reisberg, Februar 1934, S. 201. 10 Vgl. Brügel, Johann Wolfgang, Das Echo der Februarereignisse 1934 im britischen Labour-Lager, in: Die Zukunft, 1975, Nr. 3, S. 1 ff.; Magaziner, Alfred, Die Reaktion der tschechoslowakischen Sozialisten auf den Februar 1934, ebenda, S. 6.
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nistische Flugblattaktionen und Solidaritätskundgebungen für das kämpfende Wien.17 Die rechten sozialdemokratischen Führungen lehnten alle Angebote der Kommunisten zu gemeinsamen Sympathiekundgebungen ab. Es war der erste sozialistische Staat der Arbeiter und Bauern, die Sowjetunion, der den nach der CSR geflüchteten Schutzbundkämpfern Asyl gewährte, ihnen Arbeit und eine neue Heimat gab. Die Ankunft der Schutzbündler in Moskau und ihre ersten Treffen mit Vertretern der sowjetischen Werktätigen und der Kommunistischen Internationale gestalteten sich zu Höhepunkten der internationalen Solidaritätsbewegung für die österreichischen Arbeiter. 18 Unter den österreichischen Sozialdemokraten selbst wie auch in verschiedenen anderen sozialdemokratischen Parteien suchte man Lehren aus der Februarniederlage zu ziehen, die den Erfordernissen des weiteren antifaschistischen Kampfes entsprachen. Die entschiedenste Abfuhr erteilten der Führung der SDAPÖ die Schutzbündler, Funktionäre und Arbeiter, die sich nach dem Februar 1934 der KPÖ anschlössen, wodurch diese zu einer Massenpartei wurde. Ihre Mitgliederzahl wuchs von 4 000 auf 16 000. Die der KPÖ beigetretenen Schutzbündler vertraten die Meinung, daß aus der Ablehnung des opportunistischen, kapitulantenhaften Kurses der ehemaligen Führung, die unter den österreichischen Sozialdemokraten nach dem Februar 1934 sehr verbreitet war, nicht nur politische, sondern auch ideologische und organisatorische Konsequenzen gezogen werden mußten. Nicht der Wiederaufbau der zerschlagenen SDAPÖ, sondern die Einigung des österreichischen Proletariats auf revolutionärer Basis in der KPÖ sei der Weg, um einen erfolgreichen Widerstandskampf gegen den Faschismus zu führen. „Die Niederlage der Deutschen Sozialdemokratie und der damit im Zusammenhang stehende Zusammenbruch der österreichischen Sozialdemokratie ist nur der Vorbote des Zusammenbruchs der Zweiten Internationale", schrieb Richard Bernaschek, ehemaliger Kommandeur des Schutzbundes in Oberösterreich. „Sie wird und muß in der Dritten Internationale aufgehen." 19 Der ehemalige Kommandant des Schutzbundes von Floridsdorf, Heinz Roscher, verurteilte die „verJ/
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Vgl. z. B. das Vorgehen der Polizei gegen die Verteilung von Flugblättern in Bratislava und die Anweisung: „Eventuelle Demonstrationen . . . sind durch energisches Einschreiten zu verhindern" (Statny üstredny archiv SSR. Folicajne riaditel'stvo v Bratislave 1919-1945. Nr. 276, Bl. 397 ff., bes. Bl. 491). Vgl. Geschichte der KPÖ, S. 171; Liebert, Josef, Drei Fragen an die Februar-Schutzbundkämpfer und eine Antwort, Straßburg 1934, S. 3 f.; Kana, Otakar, Diskussionsbeitrag, in: X. Linzer Konferenz, S. 421 (zu den Solidaritätsaktionen tschechoslowakischer Kommunisten für die durch die CSR nach der UdSSR reisenden Schutzbündler). Die Darstellung von Stadler, Karl R., Opfer verlorener Zeiten. Geschichte der Schutzbund-Emigration 1934, Wien 1974, trägt ausgesprochen apologetischen, antikommunistischen Charakter, vermag dabei jedoch nicht die Grundtatsache der selbstlosen Hilfe seitens der UdSSR und der KPdSU aus der Welt zu schaffen. Bernaschek, Richard, Die Tragödie der österreichischen Sozialdemokratie, in: Österreich. Brandherd Europas, S. 293. Vgl. auch Liebert, S. 4 ff.; Lager, Josef, Die Februarkämpfe in Floridsdorf, Straßburg 1934; Fischer E., Die „Revolutionären Sozialisten". Die II. Internationale und Otto Bauer, in: KI, 1934, Nr. 15, S. 1 598 ff.
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antwortungslose, klassenverräterische und reformistische Politik", die die Arbeiterklasse bereits vor dem Kampf zermürbt habe, und die Sabotage des Kampfes von Seiten der SDAPÖ-Führung selbst. 20 Auch er forderte die österreichischen Sozialdemokraten zum Anschluß an die Kommunistische Internationale auf. Doch die traditionelle und gefühlsmäßige Verbundenheit mit der alten Partei und das bald wieder zunehmende Wirken rechter Funktionäre verhinderte, daß die Mehrheit der Februarkämpfer diesen Weg ging. Es bildete sich statt dessen aus verschiedenen, zunächst isoliert wirkenden Gruppen bald wieder eine neue, illegale Parteiorganisation unter dem Namen „Revolutionäre Sozialisten" heraus. 21 Mit diesem Namen sollte zum Ausdruck gebracht werden, daß die Arbeiterklasse „in unversöhnlichem revolutionärem Kampf die faschistische Diktatur stürzen, die Staatsmacht erobern und die eroberte Staatsmacht mit den Mitteln einer revolutionären Diktatur festhalten" muß, wie es in der Prinzipienerklärung der „Wiener Sozialistischen Organisation" hieß. 22 Durch die Selbstbindung an die Spielregeln der bürgerlichen Demokratie habe die frühere Parteiführung den Faschismus derart stark werden lassen, daß er die Arbeiterbewegung niederzuschlagen vermochte. Daher sollte der neue Parteiname nicht mehr das Wort „Demokratie" enthalten und werde der reformistische Weg abgelehnt. Die „Revolutionären Sozialisten" erklärten zwar ihre Bereitschaft zur Kampfgemeinschaft mit der KPÖ, in Wirklichkeit legten sie ihr bald die größten Hindernisse in den Weg. Ihre Zwiespältigkeit äußerte sich auch darin, daß sie nicht gewillt waren, ihre Bindung zur SAI und zu dem von Otto Bauer und Julius Deutsch in Brünn gegründeten Auslandsbüro der Partei zu lösen. 23 In der SAI wollten sie wirken f ü r die „Überwindung aller reformistischen Illusionen, f ü r die unversöhnliche Gegnerschaft gegen jegliche Unterstützung eines imperialistischem Kriegs, f ü r die Anerkennung der weltgeschichtlichen revolutionären Leistung der Sowjetunion und f ü r ihre vorbehaltlose Verteidigung, f ü r die Vereinigung des Weltproletariats zu einer einzigen, weltumspannenden Internationale". 24 • Diese, zumindest partielle programmatische Neuorientierung war ein Zeichen f ü r die stimmungsbedingte Radikalisierung der sozialdemokratischen Mitglieder Roscher, Heinz, Die Februarkämpfe in Floridsdorf, o. 0.1934, S. 109. Vgl. Knorin, W., Vorhutgefechte des zweiten Turnus von Revolutionen, in: KI, 1934, Nr. 5, S. 1 448 ff. — Zur Geschichte der „Revolutionären Sozialisten" siehe u. a. Buttinger, Joseph, Am Beispiel Österreichs, Köln 1953; Wisshaupt, Walter, Wir kommen wieder. Eine Geschichte der Revolutionären Sozialisten Österreichs 1934—1938, Wien 1967; Hilke, G., Zur Politik der Revolutionären Sozialisten Österreichs in den Jahren 1934—1938, in: Hallesche Studien zur Geschichte der Sozialdemokratie, Bd. 1, Halle a. S. 1978, S. 108 ff. 22 Internationale Information (im folg. I.I.), Dokumente und Diskussionen (im folg. D.D.), 1934, Nr. 12, S. 489; Arbeiter-Zeitung, Nr. 31, 22. 9.1934. 23 Vgl. Hauptmann/Kropf, S. 173; Steiner, H., Diskussionsbeitrag, in: X. Linzer Konferenz, S. 432. '">• Arbeiter-Zeitung, Nr. 31, 22. 9. 1934. 21
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und widerspiegelte auch die Entschlossenheit, mit der die „Revolutionären Sozialisten" in den Jahren 1934—1938 in den illegalen Kampf gegen die klerikalfaschistische Diktatur gingen. Die Losung von der Diktatur des Proletariats als Tagesaufgabe entsprach jedoch nicht der objektiven Situation, „wo der Kampf nicht um die Diktatur des Proletariats [ging], sondern die Wiederherstellung der demokratischen Rechte und der Kampf um die Unabhängigkeit Österreichs zur zentralen Aufgabe geworden war und von den Kommunisten in den Mittelpunkt gestellt wurde". 25 Gerade zu dieser Zeit war es die Kommunistische Internationale, die in Auswertung der Ereignisse in Frankreich und Österreich ihre Strategie und Taktik weiter zu entwickeln begann und die Kommunistischen Parteien auf die Verteidigung und Erweiterung der demokratischen Rechte und Freiheiten gegen die Angriffe des Faschismus und der Großbourgeoisie als unmittelbares Kampfziel orientierte. 26 Die Radikalisierung in den Reihen der „Revolutionären Sozialisten" fand auch ihren Ausdruck in der Kritik an der opportunistischen Politik der Partei- und Schutzbundführung vor dem Februar 1934. Gegen Otto Bauers Rechtfertigungsthese, die österreichische Konterrevolution sei letztlich doch nicht zu verhüten und die Massen seien nicht kampfbereit gewesen, führten seine Kritiker den Nachweis, daß es gerade das Zurückweichen der Führung, ihre ständigen Verhandlungsangebote, ihre mangelnde Entschlußkraft zum Ausnutzen günstiger Situationen, wie im März 1933, gewesen seien, die große Teile der Arbeiterklasse mutlos gemacht hätten. 27 In Fortsetzung seiner Kritik vom Juni 1933 am „Nurparlamentarismus" der Parteiführung 2 8 kam sogar der austromarxistische Funktionär und Journalist Otto Leichter in seinem von der internationalen Sozialdemokratie vielbeachteten Buch „Österreich 1934. Die Geschichte einer Konterrevolution" zu dem Schluß, diese Niederlage der Arbeiterklasse wäre vermeidbar gewesen, „wenn die Widerstandskräfte nicht ein J a h r lang zermürbt worden wären. Es gibt überdies in den früheren Phasen der österreichischen Konterrevolution genug Augenblicke, in denen der Entscheidungskampf, offensiv von der Arbeiterklasse herbeigeführt, zur völligen Niederwerfung und Vernichtung der faschistischen Kräfte geführt hätte." 29 In der internationalen sozialdemokratischen Bewegung fanden sich die zum entschlossenen Kampf gegen den Faschismus bereiten Kräfte nicht nur durch das heroische Beispiel der Februarkämpfer, sondern auch durch die radikalen programmatischen Schlußfolgerungen der „Revolutionären Sozialisten" in ihren
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Hornik, L., Otto Bauer über die Ursachen und Lehren des Februar 1934, in: X. Linzer Konferenz, S. 351, ders., in: Das Jahr 1934, S. 109. Vgl. z. B. den gemeinsamen Aufruf von KPD und KPÖ vom Mai 1934: Die Kommunistische Internationale. Kurzer historischer Abriß, Berlin 1970, S. 432 f.; Rundschau, 24. 5.1934, S. 1206. Vgl. Werner, R., Österreichische Lehren, in: Der Kampf, 1934, (N. F.), Nr. 1, S. 29 ff. Leichter, Otto, Neue Erfahrungen — neue Aufgaben, ebenda, 1933, Nr. 6, S. 249 f. 211 Pertinax (d. i. Otto Leichter), Österreich 1934. Die Geschichte einer Konterrevolution, Zürich 1935, S. 305; vgl. auch Treu, K., Die Geschichte einer Konterrevolution, in: Rote Revue, Zürich, 1935, Nr. 6, S. 213 ff.
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Positionen bestätigt. Linkssozialistische Strömungen gewannen an Boden. Linke Sozialdemokraten und Sozialisten, die wie in Deutschland oder Italien im harten illegalen Widerstandskampf standen oder, wie z. B. in Frankreich, Belgien, Spanien, Rumänien und Polen, sich der erstarkenden Reaktion und den faschistischen Diktaturgelüsten zu erwehren hatten, zogen aus dem Februar 1934 vor allem die Lehre, daß es nicht genüge, die bürgerliche Demokratie auf der Basis des „Nurparlamentarismus" zu verteidigen, sondern daß man den Kampf gegen die faschistische Gefahr rechtzeitig aufnehmen und die Massen dafür mobilisieren und vor allem für die Aktionseinheit der Arbeiterklasse, insbesondere für die Zusammenarbeit mit den Kommunisten eintreten müsse. Das Proletariat brauche eine solche revolutionäre Kampfeinheit und nicht die „Einheit" unter opportunistischer Führung. Romain Rolland gab die Wirkung des Februarkampfes auf die Antifaschisten der ganzen Welt folgendermaßen wieder: „Die heroische Niederlage der Wiener Kämpfer des Sozialismus . . . zerstreute ihre (d. h. der europäischen Sozialdemokraten — J. G.) Illusionen, daß es möglich sei, die soziale Macht mühelos, schrittweise und mit geistigen Waffen zu erringen. Sie lehrte sie die männlichen Tugenden und notwendigen Gesetze der Aktion. Die Lehre von Wien wird nicht nur Wien allein frommen. Der ganzen Welt hat sie gefruchtet." 30 Die internationalen Auswirkungen des Februars 1934 sind von der historischen Forschung bisher nur punktuell erfaßt worden. Recht genau kann die die linke Richtung in der deutschen Sozialdemokratie stimulierende Wirkung nachgewiesen werden. 31 Das kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, daß sich in Anlehnung an das österreichische Beispiel ein Arbeitskreis „Revolutionäre Sozialisten Deutschlands" bildete.32 In der „Zeitschrift für Sozialismus" stellte Alexander Schifrin das „Heldentum der Österreicher" der „Kampfunfähigkeit und Zerfahrenheit des deutschen Reformismus" gegenüber. Voller Hoffnung sah er in der österreichischen Sozialdemokratie einen „festen Kristallisationspunkt" für den illegalen antifaschistischen Kampf. Schifrin vermochte bei seiner Ablehnung der verfehlten reformistischen Politik jedoch nicht ohne antikommunistische Seitenhiebe auszukommen. Ohne irgendwelche Beweise behauptete er, der Februar 1934 habe auch die „Legende" vom revolutionären Charakter des europäischen Kommunismus zu Grabe getragen. 33 In Jugoslawien nannten linksgerichtete Studenten der Universität Belgrad ihre Kampfgruppe zur Abwehr reaktionärer Schlägertrupps „Sücbund". 34 In der traditionell mit der österreichischen Sozialdemokratie eng verbundenen und von
Rolland, Romain, Kreuz und Rutenbündel, in: Österreich. Brandherd Europas, S. 10. Vgl. Vietzke, Siegfried, Diskussionsbeitrag, in: X . Linzer Konferenz, S. 422 f. ö~ Ebenda, S. 423; vgl. auch Freyberg, Jutta v., Sozialdemokraten und Kommunisten. Die Revolutionären Sozialisten Deutschlands vor dem Problem der Aktionseinheit 1934-1937, Köln 1973. ^ Schifrin, Alexander, österreichischer Aufstand und deutscher Sozialismus, in: Zeitschrift für Sozialismus, 1934, Nr. 8, S. 250. 31 Die Zukunft, 1975, Nr. 3, S. 1. 19*
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ihr beeinflußten Bewegung in Jugoslawien 35 , Ungarn 36 und Rumänien 37 fand die Diskussion zwischen Otto Bauer und Karl Kautsky über den Februar 1934 bzw. die Kritik der „Revolutionären Sozialisten" am ehemaligen Parteivorstand direkten Niederschlag in der Parteipresse. Linke Sozialdemokraten erweiterten ihren Einfluß, und es entwickelte sich an der Basis die antifaschistische Einheitsfront zwischen sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeitern. Die Auswirkungen der Ereignisse auf die Polnische Sozialistische Partei faßt Tomicki folgendermaßen zusammen: „Die Erfahrungen des Schutzbundaufstandes und die Lage der österreichischen Arbeiterbewegung während der faschistischen Diktatur wurde [n] von der polnischen Linken eingehend studiert. Diese Erfahrungen haben einen ernsten Einfluß auf die Gestaltung der Einheitsfront in den Reihen der polnischen Arbeiterklasse . . . ausgeübt." 38 Auch in West- und Südeuropa — besonders in Italien, Spanien und Belgien — wurden linke sozialdemokratische Kräfte nicht nur durch das Voranschreiten der Aktionseinheit in Frankreich ermuntert 39 , sondern auch durch die Lehren aus dem österreichischen Februar. 40 Auf der Sitzung der Exekutive der Sozialistischen Jugend-Internationale am 6. August 1934 brachte dies der belgische Delegierte W. Dauge zum Ausdruck. „Die belgischen Genossen", so vermerkt das Protokoll, „wollen nicht warten, bis es zu spät ist, sondern sie wollen sich auf die bewaffnete Auseinandersetzung vorbereiten. Die belgischen Jungen Garden
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Vgl. Karabegovic, J./Hadzirovic, A., Das Echo des Aufstandes der österreichischen Arbeiter in der sozialistischen und kommunistischen Presse in Jugoslawien, in: X. Linzer Konferenz, S. 378 ff. ät> Borsanyi, G., Der Widerhall des östereichischen Arbeiteraufstandes von 1934 in Ungarn, ebenda, S. 367 ff.; Jemnitz, Janos, Der Widerhall von 1934 bei den ungarischen Sozialdemokraten, ebenda, S. 371 ff. Jordaki, L., Das Echo und der Einfluß der Februarrevolte 1934 auf die sozialdemokratische Bewegung in Rumänien, ebenda, S. 398 ff. — Weitere Beiträge auf der X. Linzer Konferenz befaßten sich mit dem Echo in Bulgarien (Radenkova, P., Die Februarereignisse in Österreich 1934 und die bulgarische Arbeiterbewegung, ebenda, S. 385 ff., ein Beitrag, der sich aber ausschließlich auf die KP Bulgariens bezieht), Finnland (Julkunen, M., Die Ereignisse in Österreich in den Augen der Finnen im Jahre 1934, ebenda, S. 406 ff.) und Palästina (Merchav, P., Der 12. Februar 1934 und die Arbeiterschaft in Israel, ebenda, S. 409 ff.). ;J;< Tomicki, J., Diskussionsbeitrag, ebenda, S. 430. 3a Auf die Parallelität der Ereignisse in Österreich und Frankreich verweist Kreissler, F., Diskussionsbeitrag, ebenda, S. 440 f. ™ Otto Bauer verwies in einer seiner letzten Publikationen darauf, daß sich die spanischen Arbeiter die Lehre des Februar 1934 zu eigen gemacht hatten, nicht zu spät loszuschlagen, und daß die französische Arbeiterklasse erkannte, daß man den Faschismus unbedingt daran hindern muß, die Gewaltmittel des Staates in die Hand zu bekommen (Bauer, Otto, Zwischen zwei Weltkriegen?, Bratislava 1936, S. 304 f.). Vgl. auch die Erkenntnis Pietro Nennis aus der deutschen und österreichischen Entwicklung, daß zur Bekämpfung des Faschismus revolutionäre Kampfziele und eine einheitlich handelnde Arbeiterklasse notwendig sind (Nenni, Pietro, Die Neugruppierung des italienischen Antifaschismus, in: 1.1., 1934, Nr. 38, S. 438 f.).
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haben aus den deutschen und österreichischen Erfahrungen gelernt. Die Politik des Nachgebens und des kleineren Übels hat sich als falsch erwiesen. Das Bürgertum wird die bürgerliche Demokratie verraten in dem Augenblick; wo sie der Arbeiterschaft einflußreiche Positionen verschafft. . . . Die Demokratie kann nur verteidigt werden durch feste Kampfentschlossenheit. Wir bereiten uns darauf vor, im Augenblick, wo das Bürgertum den Boden der Demokratie verläßt und mit Gewalt gegen uns vorgeht, mit der Gewalt zu antworten." 41 Mit sichtlichem Mißfallen mußte der Vorsitzende der Jugendinternationale, Erich Ollenhauer, auf derselben Sitzung konstatieren, daß die belgischen, französischen und italienischen Jugendverbände, ohne die Internationale zu fragen, in Verhandlungen mit den Kommunisten eingetreten waren.42 Nach dem Zusammenbruch der SDAPÖ entfalteten ihre ehemaligen Führer, besonders Otto Bauer und Julius Deutsch, eine intensive Tätigkeit mit dem Ziel, die Linksentwicklung unter den österreichischen Sozialdemokraten aufzuhalten. Die Abwendung der Masse der sozialdemokratischen Anhänger in Österreich vom Glauben an die bürgerliche Demokratie und die Hinwendung vieler von ihnen zum Kommunismus bedeuteten eine Gefahr internationalen Ausmaßes für den Einfluß des Opportunismus in der Sozialdemokratie, die zu dieser Zeit schon von tiefen Gegensätzen zerrissen war. Vor allem das publizistische Wirken Otto Bauers in den Jahren 1934—1938 muß auch unter dem internationalen Aspekt gesehen werden, die Auswirkungen der Februarniederlage in Richtung auf eine stärkere Radikalisierung der sozialdemokratischen Bewegung abzufangen und deren Einheit im internationalen Rahmen zu erhalten. In seiner Broschüre „Der Aufstand der österreichischen Arbeiter", die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde, sowie in Artikeln in der „Arbeiter-Zeitung'', im „Kampf" und in der „Internationalen Information", dem Organ der SAI, suchte Bauer die Politik des Parteivorstands im Februar 1934 und davor zu rechtfertigen, wobei er auch Fehler zugab und zu einigen bemerkenswerten Einsichten gelangte. Besonders gegen Kritiker aus dem bürgerlichen und rechtssozialdemokratischen Lager verwies Bauer auf die unermüdlichen Anstrengungen der SDAPÖ seit 1918, mit friedlichen Mitteln an die Macht zu kommen und die Massen in ihrem Drang zur Revolution zu zügeln.43 Julius Deutsch beschwor direkt die „demokratische Zuverlässigkeit" des Schutzbundes und der SDAPÖ, die man beileibe nicht wegen des Linzer Programms als „Bolschewisten" bezeichnen könne.44 Von März 1933 bis Februar 1934 alles getan zu haben, um der gewaltsamen Entscheidung, entgegen dem Drängen breiter Mitgliedermassen, durch Verhandlungsversuche mit Dollfuß auszuweichen, rechnete Bauer, auch in Polemik gegen die harten Verurteilungen von linkssozialdemokratischer und Protokoll der Sitzung des Exekutivkomitees der Sozialistischen Jugend-Internationale, 6. August 1934 in Lüttich. Arbeijdervaegelsens Bibliotek og Arkiv, Kopenhagen. 33 54, Socialistic ungdoms internationales, Bl. 7. Ebenda, Bl. 3. Bauer, Otto, Der Aufstand der österreichischen Arbeiter, Prag 1934, S. 11; ders., Taktische Lehren der österreichischen Katastrophe, in: I. I. D. D., 1934, Nr. 11, S. 116. v- Deutsch, Julius, Der Bürgerkrieg in Österreich, Karlsbad 1934, S. 7.
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kommunistischer Seite, dem Parteivorstand als Verdienst an.® Er gelangte aber auch zu der Einsicht, man habe wohl doch die Möglichkeiten einer friedlichen Lösung überschätzt. Es sei der Fehler der Parteiführung gewesen, am 15. März 1933 nicht den Generalstreik ausgerufen zu haben. Während er das 1934 noch dadurch relativierte, daß er die Wirksamkeit des Generalstreiks auch zu diesem Zeitpunkt anzweifelte und aus dem späten Losschlagen große moralische Vorteile für den Wiederaufstieg der österreichischen Arbeiterbewegung ableitete46, hatte er sich 1936 zu der Erkenntnis durchgerungen: „Nicht zu spät kämpfen! Wenn gekämpft werden muß, dann den Kampf aufnehmen, ehe noch der Faschismus die Arbeiterschaft zermürben konnte." 47 Auf das ebenfalls von rechtssozialdemokratischer Seite in der internationalen Diskussion vorgebrachte Argument, eine Koalition der Sozialdemokratie mit bürgerlichen Parteien hätte den Sieg des Faschismus verhindern können, vermochte Bauer offensichtlich keine schlüssige Antwort zu finden. Er ließ die Frage offen, ob eine solche Lösung in Österreich vor 1932 möglich und sinnvoll gewesen wäre. Er hielt für die Zeit danach nur noch eine „Tolerierungspolitik", ähnlich wie sie die SPD gegenüber der Regierung Brüning betrieb, für möglich. In „Der Aufstand der österreichischen Arbeiter", fertiggestellt am 19. Februar 1934, hatte er noch die Ablehnung der Regierung Buresch im Jahre 1932 als Fehler und „linke Abweichung" bezeichnet.48 Am 8. März schrieb er jedoch in einem Artikel für die „Internationale Information", die Erfahrungen der SPD mit der Tolerierungspolitik und die Furcht, sich vor breiten Arbeitermassen zu kompromittieren, hätten die Führung der SDAPÖ veranlaßt, von einem solchen Schritt abzusehen. Die „Katastrophe" wäre dadurch ebensowenig verhindert worden wie in Deutschland.49 Bauer und Deutsch ging es jedoch vornehmlich darum, die austromarxistische Führung von dem berechtigten Vorwurf zu entlasten, ihre gesamte reformistische, auf die Anbetung der parlamentarischen Demokratie, der Legalität und die Anwendung einer Defensivtaktik gegenüber der Reaktion abgestellte Ideologie und Praxis seien ausschlaggebend für die Februarniederlage gewesen. „Die wirklichen Ursachen der Niederlage", so behauptet Bauer statt dessen, „lagen also nicht in unserer ,Defensivideologie', sie lagen vielmehr darin, daß ein sehr großer Teil des Proletariats abseits gestanden hat, als die Schutzbündler im Kampf waren." 50 Dieses Abseitsstehen sei die Folge objektiv wirkender Gesetzmäßigkeiten, die von der Weltwirtschaftskrise ausgingen. Durch sie hätten sich die Massen von der bürgerlichen Demokratie abgewandt und seien reif für den Faschismus geworden; die Widerstandskraft der Arbeiterklasse sei durch die Arbeitslosigkeit entscheidend geschwächt worden. Außerdem habe die deutsche Entwicklung — wie immer in der Geschichte — die österreichische bestimmt. Das Bauer, Otto, Die Strategie des Klassenkampfes, in: Der Kampf, 1934, (N. F.), Nr. 1, S. 7. Ders., Taktische Lehren, S. 117. 47 Ders., Zwischen zwei Weltkriegen?, S. 304. '•» Ders., Aufstand, S. 24. VJ Ders., Taktische Lehren, S. 115 f. 0,1 Ders., Politische Defensive und militärische Offensive, in: I. I., 1934, Nr. 14, S. 140.
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Bestreben Italiens, des faschistischen Konkurrenten Hitlerdeutschlands, Österreichs Anschluß an Deutschland zu verhindern und es in seine eigene Machtsphäre einzubeziehen, habe die Errichtung einer faschistischen Diktatur auch in Österreich sozusagen unausweichlich gemacht.51 Julius Deutsch gab dieser Argumentation noch einen deutlich antikommunistischen Akzent: Das angebliche Versagen der KPD 1933 in Deutschland habe die Reaktion in anderen Ländern förmlich ermuntert. 52 In den entscheidenden Monaten vor dem Februar 1934 hatte die Führung der SDAPÖ, wie es in den Memoiren von Julius Deutsch sehr klar zum Ausdruck kommt, weniger auf dit eigene Kraft der Arbeiterklasse vertraut, statt dessen aber die größten Hoffnungen auf den Einfluß bürgerlicher Regierungen gesetzt. Man erwartete besonders von Frankreich und der Tschechoslowakei, aber auch von Repräsentanten der internationalen Sozialdemokratie, sie könnten Dollfuß von Gewaltmaßnahmen gegen die österreichische Arbeiterbewegung zurückhalten. Mit Unterstützung französischer Sozialisten und sozialdemokratischer Regierungsmitglieder in Prag konnte insbesondere der französische Außenminister Joseph PaulBoncour zu entsprechenden Vorstellungen in Wien veranlaßt werden.53 Nach dem Februar blieb Otto Bauer nur die resignierende Feststellung, daß die Gegenwirkung Frankreichs trotz der Anstrengungen französischer Sozialisten „überaus schwächlich" gewesen sei und die „englische Diplomatie . . . unter dem Vorwand, sich in die inneren Angelegenheiten Österreichs nicht einzumengen, Dollfuß und damit die Entwicklung zum Faschismus tatsächlich unterstützt" hätte. Indem die österreichische Arbeiterbewegung ausgeschaltet und Österreich zum Spielball in den Händen der faschistischen Diktaturen geworden war, wurde, wie Bauer zutreffend schloß, eine „wichtige Schlüsselstellung des europäischen Friedens . . . zerschlagen".54 Die faktische Unterstützung der Politik der imperialistischen Westmächte durch die maßgebenden sozialdemokratischen Parteiführungen in den Jahren vor dem zweiten Weltkrieg stellte eine spezifische Form der Klassenkollaboration mit der Bourgeoisie dar. Anstatt bei der Organisierung der internationalen antifaschistischen und Antikriegsfront der werktätigen Massen mitzuwirken und auf kollektive Friedenssicherungen zu drängen, leisteten diese Führungen mit einer solchen Politik objektiv der „Befriedung" und damit der Ermunterung der faschistischen Aggressoren durch die reaktionären Kreise Großbritanniens und Frankreichs Vorschub. In ihren Rechtfertigungsbemühungen wurden Bauer und Deutsch auch von Vertretern anderer sozialdemokratischer Parteien unterstützt. Die ungünstigen außenpolitischen Bedingungen erschienen als ein besonders wirksames Mittel, um den Parteivorstand der SDAPÖ zu rechtfertigen. Der deutsche Sozialdemokrat Alexander Schifrin übernahm Bauers These von der historischen Zwangsläufigkeit der Februarniederlage und erklärte mit der klar ausgesprochenen Ab-
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Ders., Aufstand, S. 28 f.; ders., Österreich und Europa, in: I. I., 1934, Nr. 10, S. 97. Deutsch, Julius, Putsch oder Revolution?, Karlsbad 1934, S. 6. Vgl. ders., Ein weiter Weg. Lebenserinnerungen, Wien 1960, S. 193 ff.; Österreich. Brandherd Europas, S. 62 f. Bauer, Österreich und Europa, S. 98 f.
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sieht, die Schuld der SDAPÖ zu verkleinern: „Die österreichische Sozialdemokratie ist nicht dem österreichischen Faschismus, sondern dem Block der europäischen Gegenrevolution unterlegen." 55 Auch in der Auseinandersetzung über andere Fragen erhielten Bauer und Deutsch Entlastung. So schrieb Jaksch von der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei der Tschechoslowakei (DSAP), die österreichischen Arbeiter sollten sich nicht schämen, daß sie so spät losschlugen, darin verkörpere sich ein „besseres Menschentum". 56 Schifrin sprach den Parteivorstand der SDAPÖ von dem Vorwurf frei, angesichts des Heroismus der Massen versagt zu haben: Die Kampfmoral der Schutzbündler sei gerade das Ergebnis der Erziehungsarbeit von Viktor und Friedrich Adler, von Otto Bauer und Julius Deutsch gewesen. 57 Die direkten Rechtfertigungsversuche der Führer der österreichischen Sozialdemokratie und ihrer Verteidiger aus den Reihen der internationalen Sozialdemokratie waren verknüpft mit noch weiter reichenden politisch-ideologischen Aktivitäten des Brünner Auslandsbüros und besonders Otto Bauers, die dazu dienen sollten, die Linksentwicklung in der österreichischen und internationalen Sozialdemokratie abzufangen. 58 Diese Aktivitäten zielten in folgende Richtungen: 1. Otto Bauer ging von dem Gedanken aus, daß ein „revolutionärer Linkssozialismus" die Arbeitermassen eher in den Reihen der Sozialdemokratie festhalten könne als der Reformismus. 59 Deshalb kam er der Bitte der neu entstehenden illegalen Partei nach, eine „Prinzipienerklärung" f ü r sie zu entwerfen. 6 0 Darin verankerte er seine Auffassung von der Diktatur des Proletariats, die vornehmlich den politischen Zweck verfolgte, die radikalisierten Sozialdemokraten an einer vollständigen Solidarisierung mit dem ersten, real existierenden Staat der Arbeiter und Bauern zu hindern. 61 Im Gegensatz zum MarxismusLeninismus betrachtete Bauer die Diktatur des Proletariats nicht als allgemeingültiges Wesensmerkmal der proletarischen Machtausübung, die dialektisch die Funktion der Niederhaltung der gestürzten Ausbeuterklassen und die Entwicklung der sozialistischen Demokratie in sich vereinigt, sondern er blieb auch nach dem Februar 1934 seinem abstrakten Demokratie- bzw. Diktaturverständnis verhaftet. Eine lediglich erweiterte bürgerliche Demokratie, eine „echte, wirkliche, dauerhafte Demokratie" war nach wie vor das Ziel. Die Diktatur des Proletariats blieb nur f ü r den „Sonderfall" des notwendigen bewaffneten
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Schifrin, S. 247. Jaksch, Wenzel, Was wird aus Österreich?, Bodenbach a. d. E. 1934, S. 40. Vgl. Schifrin, S. 249. Bauer, Otto, Die illegale Partei, Paris 1939, S. 62 f. Ders., Kommunisten und Sozialisten in Österreich, in: Der Kampf, 1934, Nr. 3, S. 109. Vgl. Wisshaupt, S. 24 ff. Diese aus seiner austromarxistischen Auffassung erwachsene Zielrichtung war begleitet von der wachsenden Einsicht in die welthistorische Rolle der Sowjetunion in seinen letzten Lebensjahren. Vgl. Hornik, S. 353 f.
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Kampfes — und damit allerdings auch f ü r Österreich nach dem Februar 1934 — „als Ubergangsform" vorgesehen. 62 Im Brünner Auslandsbüro hatten sich Friedrich Adler und Julius Deutsch gegen ein offenes Bekenntnis zur Diktatur des Proletariats gewandt. Deutsch wies Bauer darauf hin, daß die Welt diesen Begriff mit dem Sowjetstaat identifiziere und nicht das darunter verstehe, was Bauer meine. Der Gebrauch solcher Begriffe würde die österreichische Sozialdemokratie zu nah an den Kommunismus heranrücken. 63 2. Dem Verlangen nach radikalem Bruch mit der Vergangenheit wurde der Gedanke der Kontinuität zwischen SDAPÖ und „Revolutionären Sozialisten" und damit das prinzipielle Festhalten am „Austromarxismus" entgegengesetzt. Emile Vandervelde, der Vorsitzende der SAI, schrieb in seinem Grußwort zum Wiedererscheinen des „Kampfs" in der CSR: „Dieses Wiedererscheinen ist keine Wiedergeburt. Es ist eine Fortsetzung." 64 Es lag auch und gerade im Interesse der großen reformistischen Parteien West- und Nordeuropas, daß die Kritik an der Führung der SDAPÖ nicht die reformistischen Grundsätze der austromarxistischen Politik und Ideologie in Frage stellte. In zahlreichen Artikeln der „Arbeiter-Zeitung" und des „Kampfs" verfocht Otto Bauer den Gedanken, die Partei brauche zwar ein neues Programm, neue Methoden und neue Führer, aber die Traditionen der SDAPÖ müßten erhalten bleiben. Deshalb wehrte er sich zunächst auch gegen die Forderung der illegalen Kämpfer in Österreich, den Namen der Partei zu ändern. „Wir sind Sozialdemokraten", betonte er noch am 18. März 1934 ausdrücklich. 65 Den Kritikern am reformistischen Kurs der Partei vor dem Februar 1934 und an dem zu gemäßigten Ton des Auslandsbüros und der „Arbeiter-Zeitung" hielt Otto Bauer entgegen: „Keinen unfruchtbaren Streit also über die Vergangenheit, sondern mutige Arbeit an dem Neuen, das werden soll."66 In dem Maße, wie der Gedanke der Kontinuität Resonanz unter den österreichischen „Revolutionären Sozialisten" fand, akzeptierte Bauer auch den neuen Parteinamen. 6 7 Es war ein Er02
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Bauers undialektische Auffassung von der Diktaktur des Proletariats fand auch in verschiedenen seiner Publikationen nach dem Februar ihren Niederschlag. Vgl. Bauer, Otto, Neue Wege zum alten Ziel, in: Arbeiter-Zeitung, 18. 3. 1934; ders., Strategie des Klassenkampfes, S. 10; ders., Voraussetzungen der Revolution, in: Der Kampf, 1934, Nr. 5, S. 163; ders., Zwischen zwei Weltkriegen?, S. 257; vgl. auch Austriacus, Sozialisten und Kommunisten, in: Der Kampf, 1934, Nr. 3, S. 119. — Zur Auseinandersetzung der Komintern mit den Folgerungen Otto Bauers aus dem Februar 1934 vgl. Dimitroff, S. 833; Knorin, W., Auf dem Weg zur kommunistischen Massenpartei in Österreich, in: KI, 1934, Nr. 13/14, S. 1445 ff.; Fischer, E., Die „Revolutionären Sozialisten", die II. Internationale und Otto Bauer, ebenda, Nr. 15, S. 1598 ff.; ders., Glück und Ende des Austromarxismus, ebenda, Nr. 16, S. 1709 ff.; Benedikt, O., Zur Frage der Voraussetzungen der österreichischen Revolution, ebenda, Nr. 19, S. 1912 ff. Vgl. Deutsch, Ein weiter Weg, S. 230 f. Vandervelde, Emile, Ein Gruß, in: Der Kampf, 1934, Nr. 1, (N. F.), S. 2. Bauer, Neue Wege zum alten Ziel, S. 1; vgl. auch ders., Strategie des Klassenkampfes, S. 10. Ders., Eine neue Partei?, in: Arbeiter-Zeitung, 8. 4.1934, S. 2. Vgl. ders., Illegale Partei, S. 64; Wisshaupt, S. 46; Hautmann/Kropf, S. 173 f.
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folg f ü r seine Bemühungen, daß die Wiener Sozialisten in ihre Prinzipienerklärung den Satz aufnahmen: „Unsere neue Partei ist die Nachfolgerin und Erbin der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs." 68 Der Vorschlag, die neue Partei „Vereinigte Sozialistische Partei Österreichs" zu nennen, diente nur noch der Wahrung des Gesichts. Der Name „Revolutionäre Sozialisten" setzte sich durch, ausdrücklich von Otto Bauer gebilligt. 3. Neben dem Kontinuitätsgedanken diente Otto Bauers Idee eines „integralen Sozialismus" der ideologischen Abschirmung gegen eine echte Linksentwicklung in der SAI und der Erhaltung der Einheit gegenüber den zentrifugalen Tendenzen in der reformistischen Internationale. Bereits wenige Wochen nach der Februarniederlage entwickelte Bauer erste Gedanken über die Sonderrolle, die angeblich der österreichischen Sozialdemokratie bei der „Integration" der Arbeiterbewegung zugefallen sei: „Der österreichische Sozialismus ist durch die ruhmreiche Tradition des Februaraufstandes und durch die revolutionären Notwendigkeiten, die die faschistische Diktatur ihm auferlegt, dem revolutionären Sozialismus des Ostens nähergerückt. Er ist andererseits mit dem demokratischen Sozialismus des Westens eng verbunden." 69 Sozialistische und kommunistische Ideologien und Parteien sollten sich nach seiner Meinung integrieren „in eine(r) Konzeption, die die demokratischen Methoden eines Landes und einer Geschichtsepoche und die revolutionären Methoden des anderen Landes und der anderen Geschichtsepoche als verschiedene Erscheinungsformen desselben Klassenkampfes zu einer Einheit verknüpft". 7 0 Diese Vorstellungen waren völlig illusionär und enthielten faktisch auch die Aufforderung an Kommunisten und linke Sozialdemokraten, die von den maßgebenden Parteien der SAI betriebene Politik der Klassenkollaboration zu akzeptieren und den politisch-ideologischen Kampf gegen die Bourgeoisie einzustellen. 4. War die Verschmelzung von sozialreformistischer und kommunistischer Ideologie eine gefährliche Illusion, so war die Aktionsgemeinschaft von Kommunisten und Sozialdemokraten im Kampf gegen den Faschismus die Forderung des Tages. Entgegen allen einheitsfreundlichen Erklärungen jedoch bremsten gerade auf diesem Gebiet das Auslandsbüro und einflußreiche Funktionäre unter den „Revolutionären Sozialisten" alle entsprechenden Aktivitäten ihrer örtlichen Organisationen. Otto Bauer bediente sich dabei der Methode, einerseits vor der Einheitsfrontpolitik der Kommunisten als einem „Manöver" zu warnen, andererseits jedoch die Kommunisten zum Eintritt in eine einheitliche österreichische Arbeiterpartei aufzufordern. 7 1 Angesichts der Abwanderung der Sozialdemokraten zur KPÖ wandte er sich scharf gegen die Komintern und setzte sich f ü r eine „einheitliche, revolutionäre, sozialistische Arbeiterpartei" ein, die
Arbeiter-Zeitung, Nr. 31, 22. 9. 1934, S. 2. - Vgl. auch H. W., Die Wiener Konferenz, in: Der Kampf, 1934, Nr. 6, S. 195 f.; Bauer, Illegale Partei, S. 64. w Arbeiter-Zeilung, Nr. 5, 25. 3.1934. "' Bauer, Otto, Rechtsblock und Linksblock in der Internationale, in: Der Kampf, 1934, Nr. 8, S. 279. Vgl. auch ders., Zwischen zwei Weltkriegen?, S. 259, 266, 312 ff. Vgl. ders., Zu einem neuen Hainfeld!, in: Arbeiter-Zeitung, Nr. 20, 8. 7. 1934, S. 3.
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fest mit der SAI verbunden sei. Nur auf dieser Basis erschien ihm ein Wirken f ü r die „Einheitsfront des Weltproletariats" möglich. 72 Die Diskussion über die Februarereignisse von 1934 in der internationalen Sozialdemokratie war aber nicht s nur durch linke Kritiken an der Politik der SDAPÖ und durch die Rechtfertigungskampagne der Führung um Otto Bauer gekennzeichnet, sondern auch durch Stellungnahmen von seiten des äußersten rechten Flügels in der SAI. Bauer und Deutsch konstatierten selbst, daß die britische Labour Party, die sozialdemokratischen Parteien Schwedens, Dänemarks, der Niederlande und der Tschechoslowakei unter dem Einfluß der Niederlagen der Arbeiterklasse immer weiter nach rechts rückten. Besonders die Niederlagen im bewaffneten Kampf in Österreich und Spanien bestärkten sie nach Meinung Bauers darin, „durch eine Politik weiser Selbstbeschränkung, staatsmännischer Mäßigung, unverbrüchlichen grundsätzlichen Festhaltens an den demokratischen Methoden, scharfer Abgrenzung gegen den Bolschewismus" die Hinwendung der breiten kleinbürgerlichen und bäuerlichen Massen zum Faschismus zu verhindern. 7 3 In meist indirekter Kritik am Vorgehen der Führung der SDAPÖ erklärten sie den Weg der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie als den f ü r alle Länder, alle Zeiten und alle Umstände einzig zulässigen. Sozialdemokratische Politiker der sogenannten demokratischen Länder, denen auch der alte Karl Kautsky assistierte 74 , zogen aus den Niederlagen der Arbeiterrung der SDAPÖ erklärten sie den Weg der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie" seit langem fest verwurzelt sei, die Chance bestehe, den Angriff des Faschismus abzuwehren. 75 Der führende dänische Sozialdemokrat und spätere Ministerpräsident Hans Hedtoft leitete daraus an der Jahreswende 1934/35 den Führungsanspruch dieser Parteien f ü r die zukünftige Entwicklung Europas ab: „Die politische Zukunft Europas wird geprägt werden unter dem entscheidenden Einfluß dieser Parteien, die einen Block von ungefähr 15 Millionen Wählerstimmen repräsentieren. In der Tschechoslowakei, Schweden und Dänemark stellen sie gegenwärtig entscheidende Faktoren in den Regierungen dar, und viel deutet darauf hin, daß es 1935 vielleicht Arbeiterregierungen in Großbritannien und Norwegen geben wird." 76 Von rechtsreformistischer Seite wurde der Februarkampf der österreichischen
" Ders., Kommunisten und Sozialisten in Österreich, in: Der Kampf, 1934, Nr. 3, S. 114 ff.; vgl. auch Der VII. Parteitag der KPÖ, in: KI, 1934, Nr. 22, S. 2212 f.; Reisberg, Februar 1934, S. 215 f. '•'• Bauer, Rechtsblock und Linksblock, S. 274. Vgl. auch ders., Zwischen zwei Weltkriegen?, S. 309; Deutsch, Putsch und Revolution?, S. 7 f.; Austriacus, Massenpartei und Kampforganisation, in: Der Kampf, 1934, Nr. 1, (N. F.), S. 18. [Kautsky, Karl], Grenzen der Gewalt. Aussichten und Wirkungen bewaffneter Erhebungen des Proletariats, Karlsbad 1934, S. 54. ra Vgl. Hannsson, Per Albin, Demokratische Zusammenarbeit, in: I. I., 1934, Nr. 19, S. 192. VB Iiedtoft-Hansen, Hans, The Labour Movement of Europe at the turn of the Year, in: Socialisten, Kopenhagen, 1935, S. 3 f.
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Arbeiter gewürdigt und in seiner Bedeutung sogar überhöht, u m den allgemeinen Prestigeverlust des Reformismus wettzumachen. Der heldenhafte und opferbereite Einsatz der österreichischen Sozialdemokratie f ü r Freiheit und Demokratie war ein beliebtes Thema rechtssozialdemokratischer Politiker und Publizisten außerhalb des Landes. Mit der faktischen Gleichsetzung von Führung und Mitgliedschaft verdeckten sie dabei geschickt das klägliche Versagen der Führer der SDAPÖ. Dieses Versagen wurde zur Tugend umgemünzt, wenn rechtssozialdemokratische Politiker wie der SAI-Vorsitzende Emile Vandervelde es der österreichischen sozialdemokratischen Führung hoch anrechneten, um jeden Preis an der Legalität festgehalten zu haben. 77 Völlig im bürgerlich-parlamentarischen Denken befangen, kritisierten rechtssozialdemokratische Politiker der SPD-Emigration, u. a. auch Kautsky, aus Schweden, der CSR und Rumänien die Tatsache, daß die SDAPÖ überhaupt mit dem Gedanken einer zeitweiligen Diktatur gespielt habe. Das Mitglied des Parteivorstandes der DSAP in der CSR, Wenzel Jaksch, der sich mit seiner Schrift „Was wird aus Österreich?" als Repräsentant eines nationalistischen Flügels dieser Partei zu profilieren begann, warnte die österreichischen Sozialisten vor „überspitzten Parolen" und mahnte sie, beim Aufbau der illegalen Parteiorganisation unbedingt „im alten Rahmen" zu bleiben und sich von der kommunistischen Auffassung der Diktatur des Proletariats deutlich abzugrenzen. 78 „Ein von Sozialisten diktatorisch oder halbdiktatorisch regiertes Österreich" würde nach seiner Meinung von den Volksmassen nicht akzeptiert werden. 79 Auch der Füher der Schweizer Sozialdemokratie, Robert Grimm, der die Gefahren des Faschismus f ü r die Schweiz gerade nach dem Februar 1934 sehr prononciert herausstellte, sah, im Unterschied zu Otto Bauer und den „Revolutionären Sozialisten", als Ziel des antifaschistischen Kampfes lediglich die Bewahrung der bestehenden bürgerlich-parlamentarischen Demokratie. 80 Die von der Schweizer Sozialdemokratie und den Gewerkschaften aufgestellten Wirtschaftsprogramme zur Überwindung der Krisenfolgen durch staatskapitalistische Maßnahmen bei gleichzeitiger Ablehnung der Aktionseinheit der Arbeiterklasse dokumentierten die verstärkte Integration der Sozialdemokratie in den bürgerlichen Staat und die kapitalistische Gesellschaft. Nach Preisgabe des proletarischen Klassenstandpunkts und der reformistischen „Revision" des Marxismus begannen in den 30er Jahren verschiedene west- und nordeuropäische Parteien auch ihre Programme zu ändern. 81 Aus diesem Geist heraus kritisierten rechte Sozialdemokraten, daß die SDAPÖ Vgl. Schwarzbuch der österreichischen Diktaktur, Vorwort von Emile Vandervelde, Bruxelles 1934, S. 93; Schmid, A., Österreich und die blutigen Februartage 1934, Aarau 1934, S. 10; 1.1., 1934, Nr. 12, S. 125 f. ' s Vgl. Jaksch, S. 25, 38. Ebenda, S. 12. ™ Vgl. Grimm, Robert, Nieder mit dem Faschismus!, Aarau 1934, S. 12, 25. Näheres dazu siehe Glasneck, Johannes, Die Sozialistische Arbeiter-Internationale zwischen antifaschistischem Kampf und antikommunistischer Reaktion in den Jahren 1935 bis 1937, in: Hallesche Studien zur Geschichte der Sozialdemokratie, Bd. 4, Halle a. S. 1979, S. 69 ff.
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keine Koalition mit bürgerlichen Parteien eingegangen sei bzw. diese 1920 aufgegeben habe. Letzteres sei die Hauptursache für die Niederlage im Februar 1934 gewesen.82 In direkter Polemik gegen Otto Bauer verfocht der schwedische sozialdemokratische Ministerpräsident Per Albin Hansson diese Argumentation. Er stellte demgegenüber die seit 1929 in der CSR bestehende „Koalitionsregierung von Bürgerlichen und Sozialdemokraten", die den Kraftquell der „Entschlossenheit und Zielbewußtsein ihrer Politik" bilde, als großes Vorbild hin.83 Andere rechtssozialdemokratische Kritiker gaben die Schuld am Nichtzustandekommen einer solchen Koalition den bürgerlichen Kräften. So lamentierte Jaksch, die Demokratie in Österreich sei gescheitert, „weil das demokratische Wollen der Arbeiterschaft keinen verläßlichen Partner fand". 84 Vandervelde zählte zu diesen möglichen „verläßlichen Partnern" sogar Dollfuß und seine Christlich-Soziale Partei. Ein „erträgliches Verhältnis" bzw. ein „modus vivendi" zwischen ihm und den Sozialdemokraten wäre seiner Meinung nach das einzige Mittel gewesen, um dem Faschismus den Weg zu versperren und die blutige Katastrophe zu verhindern. 85 Um den peinlichen Eindruck dieser Auslassungen seines Parteifreundes zu verwischen, schrieb Louis de Brouckere im Brüsseler „Peuple", Vandervelde habe ja nur sagen wollen, Dollfuß habe eben der Wille zur Verteidigung der Demokratie gefehlt.86 Bestehen bleibt jedoch die Tatsache, daß es letztlich die von Vandervelde jahrzehntelang betriebene opportunistische Politik der Klassenkollaboration war, die ihn zu derartigen absurden Schlußfolgerungen einer nach den Worten de Brouckeres „widernatürlichen Allianz" zwischen Dollfuß und der Sozialdemokratie kommen ließ. So richtig die Erkenntnis aus der österreichischen Februarniederlage war, daß es zur erfolgreichen Abwehr bzw. Überwindung des Faschismus notwendig sei, die breiten werktätigen Massen — städtische Mittelschichten und Bauern — für ein Bündnis mit der Arbeiterklasse zu gewinnen, so verderblich für den weiteren Weg der Sozialdemokratie war gleichzeitig die rechtsopportunistische Verfälschung der marxistischen Bündnispolitik. Rechte Sozialdemokraten sahen nicht — wie die Kommunisten — in der einheitlich handelnden Arbeiterklasse die Voraussetzung für eine erfolgreiche Bündnispolitik, sondern bekämpften zur selben Zeit, da sie das Bündnis mit den Mittelschichten suchten, den revolutionären Flügel der Arbeiterbewegung und vertieften die Spaltung der Arbeiterklasse. Nicht eine von der Arbeiterklasse geführte antifaschistische Volksfront war das Ziel bzw. das Ergebnis solcher Politik, die besonders von den Führungen
Vgl. Seitner, H., Faschistisches Österreich, in: Zeitschrift für Sozialismus, 1936, Nr. 28, S. 907; Grenzen der Gewalt, S. 23; Hannsson, S. 193 f.; Deutsch, Ein weiter Weg, S. 225; Hannak, J., Karl Renner und seine Zeit, Wien 1965, S. 607; Jordaki, S. 397. « Hannsson, S. 193 f. » Jaksch, S. 37. 85 Schwarzbuch der österreichischen Diktaktur, S. 92; Vandervelde, Emile, Die österreichische Regierung und das Schwarzbuch, in: I. I., 1934, Nr. 42, S. 476 f. — In derselben Weise äußerte sich der Stockholmer „Social-Demokraten", 16. 2.1934. Vgl. Brouckere, Louis de, Galgen und Weihwedel. Zum Schwarzbuch der österreichischen Diktatur, in: 1.1., 1934 Nr. 43, S. 478.
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der skandinavischen Parteien vertreten wurde, sondern die Kollaboration der Sozialdemokratie mit bäuerlichen, kleinbürgerlichen bzw. liberalbourgeoisen K r ä f t e n gegen die Kommunisten. Zu dieser Zeit bereiteten rechtssozialdemokratische K r ä f t e schon die Umwandlung sozialdemokratischer Parteien in „Volksparteien" vor, wie sie nach dem zweiten Weltkrieg allgemein wurde. 8 7 Äußerst demoralisierend f ü r die Anhänger der Sozialdemokratie w i r k t e das A u f treten rechter Führer, die nach dem Tenor „Man h ä t t e nicht zu den Waffen greifen sollen!" aus der Februarniederlage schlußfolgerten, daß Generalstreik und b e w a f f n e t e r Aufstand aussichtslos seien. 88 Robert G r i m m t r a t z. B. allen Stimmen in der Schweizer Sozialdemokratie entgegen, die aus dem Februar 1934 die entgegengesetzte Lehre zogen und forderten, daß sich die Arbeiterklasse auch auf die b e w a f f n e t e Auseinandersetzung mit der Reaktion vorbereiten müsse. G r i m m meinte, in der Schweiz w ä r e n die Verhältnisse anders als in Österreich, und die Schweizer Arbeiter im Soldatenrock w ü r d e n nicht an der Vernichtung der Volksfreiheiten mitwirken. Die Sozialdemokratie müsse mit den W a f f e n des Geistes wirken. 8 9 Ähnliche Positionen vertraten alle großen reformistischen Parteien West- und Nordeuropas. Die Mehrheit der Belgischen Arbeiterpartei lehnte ausdrücklich den Antrag der Linken ab, sich auf den b e w a f f n e t e n Aufstand vorzubereiten. A m ausführlichsten beschäftigte sich mit den Lehren aus dem F e b r u a r 1934 der alte Karl Kautsky, den die „Arbeiter-Zeitung" damals als „Theoretiker des rechten Flügels der Sozialistischen Internationale" bezeichnete. 90 Kautsky griff in seiner zwischen März und Mai 1934 entstandenen und anonym erschienenen Schrift „Grenzen der Gewalt" 9 1 sowohl die linken wie auch die zentristischen Positionen in der internationalen Diskussion ü b e r den F e b r u a r 1934 an. Zunächst schien es so, als entferne sich Kautsky nicht allzuweit von den Thesen Otto Bauers, so w e n n er z. B. die Politik des Abwartens und der Kompromisse vor dem F e b r u a r 1934 rechtfertigte sowie in der Defensive des Proletariats allgemein und in der Februarniederlage im besonderen eine fatalistische Zwangsläufigkeit sah, hervorgerufen „durch die Macht der Verhältnisse". 9 2 Auch er gab dem Abseitsstehen der Massen die Schuld an der Niederlage, doch ging er bereits in diesem P u n k t über die Rechtfertigungsversuche Bauers hinaus. F ü r Kautsky w a r e n die Massen nicht n u r infolge der Krise f ü r den Faschismus anfällig geworden, sondern er machte sie sozusagen f ü r das Erstarken der Reaktion mit verantwortlich. „Das Erstarken der politischen Reaktion wurde eingeleitet durch das Wachstum einer reaktionären, an der Demokratie und dem
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Vgl. Die sozialistische Internationale. Ihre Geschichte und Politik, Autorenkollektiv unter Ltg. von W. Kowalski und J. Glasneck, Berlin 1977, S. 87. w Vgl. Knorin, Die Vorhutgefechte, S. 399. — Auch in der sehr weit rechtsstehenden ungarischen Sozialdemokratie wurden derartige Ansichten geäußert (vgl. Jemnitz, S. 374). ÖJ ' Grimm, S. 27 f. Arbeiter-Zeitung, 13.10.1934, S. 7. al Vgl. Anm. 74. 50 Grenzen der Gewalt, S. 16.
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Sozialismus zweifelnden Stimmung breiter Massen."93 Folgerichtig gab er den Massen für das Blutbad in Wien 1927 die Schuld, das „Furcht und Erbitterung in bürgerlichen Kreisen säte, die uns bis dahin wohlwollend gegenüberstanden waren". Das Vorgehen der Polizei entschuldigte er als „ein Ergebnis der Überraschung und Erregung". 94 Aber als Verfechter der Totalitarismusdoktrin ging er in der Verächtlichmachung der Ärbeitermassen noch weiter. Er bezeichnete diejenigen Sozialdemokraten, die sich nach dem Februar 1934 zur Diktatur des Poletariats bekannten, als „sozialdemokratische Diktaturschwärmer" und setzte sie mit denjenigen gleich, die dem Einfluß der faschistischen Ideologie erlegen waren. 95 Proletarier in „Ländern der Diktatur—womit in seinem Sprachgebrauch sowohl die faschistischen Staaten als auch die UdSSR gemeint waren — dürften nicht zu Gefangenen der Ideologie des Gegners werden. Kautsky vertrat damit den von der Totalitarismusdoktrin geprägten Antikommunismus der rechten, reaktionären Kräfte in der internationalen Sozialdemokratie, wie z. B. der Führung der Labour Party, der niederländischen, dänischen, schwedischen und tschechoslowakischen Sozialdemokratie. Letztere bezog die Totalitarismusdoktrin auch direkt auf die österreichischen Ereignisse. Der tschechoslowakische sozialdemokratische Parteivorstand bescheinigte der SDAPÖ, antifaschistisch und gleichzeitig auch „immer scharf antibolschewistisch" gewesen zu sein.96 Jaksch machte vor den gröbsten Verunglimpfungen nicht halt, um die zur KPÖ abwandernden österreichischen Sozialisten zurückzuhalten: „In der KPÖ finden sie höchstens den Autoritätsdünkel und den Totalitätswahn des Herrn Dollfuß rot lackiert wieder." 97 Kautskys Hauptvorwurf gegen Otto Bauer war, daß die Führung der SDAPÖ nicht vollständig auf den Gebrauch der Gewalt verzichtet und nicht kampflos kapituliert habe. 98 Um diese These zu erhärten, diffamierte er die Erhebung zu einer „völlig spontanen Bewegung eines kleinen Häufleins". 99 Nur Schutzbünde ler und Arbeitslose hätten gekämpft. Mit dem Anwachsen der Reaktion wären ja automatisch „Kampfkraft und Kampflust der revolutionären Klassen und Schichten" gesunken.100 Aufgabe der Führung wäre es gewesen, anstatt dem Vormarsch des Faschismus mit Gewalt zu drohen, auf jeden gewaltsamen Widerstand zu verzichten, „trotz aller Unterdrückung den Zusammenhang der Arbeiter zu bewahren, sie über den jeweiligen Zustand der Welt zu informieren und ihre Bewegung in Fluß zu halten". 101 Kautsky entwarf damit das Bild einer zahmen, entmannten, sich der faschistischen Diktatur anpassenden Arbeiterbewegung, faktisch eines solchen Zustands, 50
Ebenda, S. 11 (Hervorhebung von mir). Ebenda, S. 14. afl Ebenda, S. 48. 1.1., 1934, Nr. 8, S. 70. Jaksch, S. 19. »» Grenzen der Gewalt, S. 17 f. Ebenda, S. 20. luu Ebenda. ,UI Ebenda, S. 17. 1,4
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den einige Vertreter des SPD-Parteivorstands durch ihren versuchten Legalitätserkauf im Frühsommer 1933 hatten erreichen wollen. Kautsky stellte sich auf die Position derer, die dem Kampf fernblieben. Allein sie hätten richtig gehandelt: „Sie w a r e n nicht der Meinung, daß die Reaktion und das neue 'autoritäre Regime', welche Formen sie immer annehmen mochten, imstande seien, der proletarischen Bewegung ein Ende zu bereiten." 1 0 2 Der ehemals einflußreichste Theoretiker der II. Internationale begründete eine solche Stillhaltepolitik mit folgender Plattheit: „Das Proletariat läßt sich nicht vernichten, denn auf seiner Arbeit beruht die ganze Gesellschaft." 103 Stillhalten, sich selbst „treu bleiben", nichts Entscheidendes u n t e r n e h m e n und abwarten, bis sich die faschistischen Diktaturen moralisch und ökonomisch „abgewirtschaftet" haben würden 1 0 4 — das w a r das Rezept, das der alte Kautsky der Arbeiterbewegung in dem Augenblick vorschlug, als z. B. das aktive und geschlossene Handeln der französischen Arbeiterklasse zeigte, wie m a n dem Faschismus den Weg verlegen konnte, und die Initiativen der UdSSR f ü r ein System der kollektiven Sicherheit der Welt vor Augen f ü h r t e n , daß es möglich war, die faschistischen Aggressoren zu bändigen. Aber gerade dies lag nicht im Sinne Kautskys, sondern ein Krieg, der die „Diktaturen" in Deutschland, Italien und Rußland stürzen würde. 1 0 5 Damit reihte er sich faktisch ein in die Front der antisowjetischen Appeasementpolitiker der imperialistischen Westmächte. In diametralem Gegensatz zu der Haltung, die Karl Marx und Friedrich Engels gegenüber der Pariser K o m m u n e von 1871 einnahmen, urteilte Kautsky über die Februarerhebung der österreichischen Arbeiter von 1934. Über die Bedingungen f ü r den Aufstand schrieb Marx im April 1871: „Die Weltgeschichte w ä r e allerdings sehr bequem zu machen, wenn der Kampf n u r unter der Bedingung unfehlbar günstiger Chancen aufgenommen würde." 1 0 6 Aber gerade das verlangte Kautsky in unüberbietbarer Philisterhaftigkeit: Nur dort d ü r f t e das Proletariat der Gewalt seinerseits Gewalt entgegensetzen, wo dies Erfolg verspreche. 107 Marx sprach von der „Alternative" f ü r die Pariser Arbeiter, „den Kampf aufzunehmen oder ohne Kampf zu erliegen. Die Demoralisation der Arbeiterklasse in dem letzteren Fall w ä r e ein viel größeres Unglück gewesen als der Untergang einer beliebigen Anzahl von ,Führern'." 1 0 8 Doch f ü r K a u t s k y h a t t e diese „Alternative" 1934 nicht bestanden. Er vertrat statt dessen die These, daß es besser gewesen wäre, die Schutzbündler h ä t t e n nicht zur Waffe gegriffen. Und die „Demoralisation" sah er eben nicht wie Marx als Folge einer kampflosen Kapitulation, sondern gerade der Niederlage im b e w a f f n e t e n Kampf. Eine solche würde n u r die Macht der bürgerlichen Klasse stärken und das Proletariat f ü r lange Zeit k a m p f u n f ä h i g machen. 109 Ebenda, S. 36. > Ebenda, S. 42. Ebenda, S. 48. lus Ebenda, S. 44. 1UB Marx an Kugelmann, 17. 4. 1871, in: MEW, Bd. 33, S. 209. Grenzen der Gewalt, S. 36. 1US Marx an Kugelmann, 17. 4.1871, S. 209. WJ Grenzen der Gewalt, S. 39 f. m
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Die langfristigen Wirkungen der Pariser Kommune, die Marx' Prognose bestätigten, leugnete Kautsky, indem er behauptete: „Den politischen Spuren der Kämpfer der Kommune folge niemand" 110 — als ob Lenin niemals „Staat und Revolution" geschrieben und die Bolschewiki bei der Errichtung der Diktatur des Proletariats in Rußland nicht auch ihre Pariser Vorläufer vor Augen gehabt hätten. Kautsky machte sich in seiner Schrift nicht nur allgemein zum Fürsprecher einer Abwartepolitik, sondern auch direkt zum Anwalt der SPD-Führung, der nach 1933 zahlreiche abschätzige Urteile aus den Federn österreichischer Sozialdemokraten gegolten hatten. Otto Bauers Feststellung, die österreichischen Arbeiter hätten die Ehre des internationalen Sozialismus gerettet, hielt Kautsky entgegen, daß sich ja auch die Masse der österreichischen Arbeiter vom Kampf ferngehalten hätte und f ü r das Versagen der deutschen Sozialdemokratie 1933 „ein Zusammentreffen lähmender Umstände, das ganz abnorm ist", verantwortlich zu machen wäre. 111 Indem Kautsky wiederum nur von der Passivität der Massen sprach, entlastete er gerade den SPD-Parteivorstand, der die von der KPD gegen die faschistische Diktatur vorgeschlagenen gemeinsamen Kampfmaßnahmen ablehnte und sabotierte. Kautsky vertrat in seiner Polemik gegen Otto Bauer und die „Revolutionären Sozialisten" Österreichs die Meinung maßgebender Teile der SPD-Emigration. Das zeigte sich deutlich darin, daß sowohl der „Neue Vorwärts" als auch die „Zeitschrift f ü r Sozialismus" Kautskys Aufsatz grundsätzlich billigten. Ebenso — wenn auch weniger grobschlächtig — lehnten sie die „Zuflucht zu den militärischen Waffen" als politischen Ausweg ab. 112 Sowohl die „Revolutionären Sozialisten" als auch Otto Bauer selbst entgegneten auf Kautskys Anwürfe. Die Diskussion zwischen Kautsky und Bauer spiegelte sich auch in der Parteipresse anderer Länder wider, wie Untersuchungen über Ungarn und Rumänien verdeutlichten. 113 Die „Revolutionären Sozialisten" taten das z. B. in einem Memorandum, das sie am 5. November 1934 an die Exekutive der SAI sandten. Der Kampf der österreichischen Arbeiter, auch wenn er mit einer Niederlage endete, habe die Lebensfähigkeit und den Mut der Sozialisten unter Beweis gestellt, schrieben sie.114 Otto Bauer antwortete seinem „alten Freund" mit dem Nachweis, daß auch im Februar 1934 noch Chancen f ü r einen Sieg bestanden hätten, wobei er wiederum selbstkritisch das zu lange Zögern der SDAPÖ-Führung als Fehler zugab. Er erklärte ferner, daß die von Kautsky empfohlene kampflose Kapitulation dem Sozialismus jeden Masseneinfluß genommen hätte. Eine Niederlage nach hartnäckigem Kampf, so fügte er im Sinne von Friedrich Engels hinzu, sei eine Tatsache von ebenso revolutionärer Bedeutung wie ein leicht gewonnener Sieg. Auch hielt Bauer an seiner Kritik gegen11U 111 ru 113 1M
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Ebenda, S. 41. Ebenda, S. 25. Seitner, S. 907; vgl', auch: Neuer Vorwärts, 16. 9.1934. Vgl. Jemnitz, S. 371 ff.; Jordaki, S. 394 ff. Zum Februaraufstand der österreichischen Arbeiter. Internationales Institut für Sozialgeschichte Amsterdam (im folg.: I. I. S. G.), SAI-Archiv, Nr. 444, Bl. 1 ff. J a h r b u c h 24
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über der Haltung der SPD 1933 fest.115 Zusammenfassend kam er zu dem Schluß: „Darum werden wir uns nicht als einen törichten Putsch eines Häufleins Verzweifelter herabsetzen lassen, was in Wirklichkeit trotz der Niederlage die Rettung der sozialistischen Idee, die Rettung des Glaubens der Arbeitermassen an den Sozialismus und damit trotz der Niederlage die Rettung der Zukunft des Sozialismus war."116 Zweifellos ist bei dieser Polemik Otto Bauers gegen Kautsky zu beachten, daß er seine eigene zögernde, unentschlossene und letztlich gegen jedes Abgehen vom Pfad des bürgerlichen Parlamentarismus gerichtete Haltung nach dem Februar 1934 mit der Glorifizierung des Heldenmuts der Wiener Arbeiter verschleiern wollte. Die Führer der SDAPÖ suchten den Kampf der österreichischen Arbeiter, der gegen ihren Willen zustande kam, nachträglich als ihr Werk, ihr Verdienst auszugeben. Dennoch zeigten sich im Herangehen an die Lehren des Februar 1934 sehr erhebliche Unterschiede, nicht nur zwischen linkssozialdemokratischen Kräften und denen der Führung der SDAPÖ, sondern auch zwischen diesen — die innerhalb der SAI noch über erheblichen Einfluß verfügten — und den rechten, offen reformistischen Kräften. Diese in der Polemik über den Februar 1934 in der internationalen Sozialdemokratie sichtbar gewordenen unterschiedlichen Positionen beeinflußten auch die Stellungnahmen der SAI als Dachorganisation der sozialdemokratischen Parteien selbst. Im Aufruf der Geschäftskommission vom 15. Februar 1934117 würdigte die SAI den Kampf der Wiener Arbeiter und deren Entschlossenheit, lieber für ihre Sache zu sterben als widerstandslos in der faschistischen Barbarei unterzugehen. In zwei, dem Völkerbund unterbreiteten Dokumentationen — „Schwarzbuch der österreichischen Diktatur" und „Ein Jahr Schuschnigg" — prangerte die SAI den Terror der klerikalfaschistischen Diktatur in Österreich an. Die österreichische Arbeiterklasse hätte — so erklärte die SAI — zum „letzten Mittel" greifen müssen, um die bürgerliche Demokratie zu verteidigen. Diese Entschlossenheit sei ein „Warnungszeichen für den internationalen Faschismus". Strategische Schlußfolgerungen, auch in der Art, wie sie die Pariser Konferenz von 1933 vorgezeichnet hatte, fehlten. Auf der Bürositzung der SAI am 24. und 25. März 1934 mußte sich der österreichische Vertreter gegen die von rechten Kräften in den westeuropäischen sozialdemokratischen Parteien vertretene Ablehnung der militärischen Aktion der österreichischen Arbeiter verteidigen. Der große Einfluß dieser rechten Kräfte im Büro der SAI zeigte sich darin, daß die Widerstandskraft der noch bestehenden bürgerlich-parlamentarischen Regime maßlos überschätzt wurde. So wies die Resolution des Büros darauf hin, daß doch in allen Ländern Westeuropas die Demokratie unerschüttert und die Sozialdemokratie durch den Wahlsieg der Labour Party bei den Grafschaftswahlen in London und durch die „Offensive" der Belgischen Arbeiterpartei für ihren „Plan der Arbeit" im 110
lie 111
Vgl. Bauer, Otto, Der Aufstand als - Fehler, in : Der Kampf, 1934, Nr. 6, S. 197 ff., bes. S. 200 ff. Ebenda, S. 203. Vgl. 1.1., 1934, Nr. 6, S. 61 f.; Nr. 15, S. 145 ff.
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Neuaufstieg begriffen sei.118 Wie wenig Widerstandskraft die „Demokratien" Westeuropas und ihre reformistischen Bewegungen der faschistischen Aggression entgegensetzen konnten, sollte erst das Jahr 1940 endgültig unter Beweis stellen. Politisch-organisatorischer Ausdruck des starken Einflusses der großen reformistischen Parteien in der SAI war der Beschluß der Tagung der Exekutive vom November 1934, der die Exekutivensitze und Kongreßstimmen f ü r die „Länder ohne Demokratie" drastisch kürzte. 119 Die Aufgaben des internationalen Klassenkampfes gegen den Faschismus forderten von der SAI mehr als diese relativ unverbindlichen Erklärungen. Als das ZK der „Revolutionären Sozialisten" Österreichs sich am 20. Mai 1934 mit einem Schreiben unter dem Titel „Was erwarten wir von der Internationale?" an die Exekutive der SAI wandte, mußte diese Farbe bekennen. Die „Revolutionären Sozialisten" forderten: 1. das Prinzip des revolutionären Volkskampfes gegen den Faschismus mit dem Ziel „der Eroberung der Staatsmacht, die Diktatur des Proletariats" müsse in der gesamten SAI durchgesetzt werden; 2. die Exekutive müsse alles f ü r die Einigung des Proletariats tun, mindestens f ü r einen „Nichtsangriffsvertrag" mit der Komintern wirken und darüber hinaus Hemmungen und Mißverständnisse zwischen Komintern und SAI, die diesem Ziel entgegenstünden, beseitigen. 120 Bei den linken Kräften in der SAI fand das Schreiben einen positiven Widerhall. Jean Zyromski (SFIO) sah darin Übereinstimmung mit anderen linken Kräften in der SAI, so mit den spanischen und polnischen Sozialisten sowie den Positionen des Prager Manifests des Emigrationsvorstandes der SPD vom Januar 1934. m Viktor Alter, der Führer des jüdischen „Bund" in Polen, stellte fest, der linke Flügel der SAI sei durch das Eingreifen der Österreicher wesentlich -gestärkt worden und könne nun sogar die Mehrheit erlangen. 122 Für Alexander Schifrin war „die österreichische Sozialdemokratie . . . nun zur Sprecherin des revolutionären Sozialismus Mitteleuropas vor dem internationalen Sozialismus" geworden. Er forderte von der SAI: „Sie muß die Ideologie und Praxis ihres revolutionären Sektors in die taktische Linie des gesamteuropäischen Sozialismus hineinverarbeiten." 123 Auf der Sitzung der Exekutive erläuterte Otto Bauer das erwähnte Schreiben. In der anschließenden Debatte konnte diese zu keinem einheitlichen Standpunkt gelangen. Der Resolutionsentwurf von Alter unterstützte die Position der öster-
1,8
Ebenda, Nr. 6, S. 61; Nr. 15, S. 145. - Faktisch den Standpunkt Otto Bauers unterstützend, nahm das Mitglied der Exekutive der SAI, Theodor Dan, kritisch zur unverbindlichen Haltung der SAI Stellung (Don, Der österreichische Aufstand und die Umstellung der Internationale, S. 20 f.). Ilä Vgl. 1.1., 1934, Nr. 52, S. 576; 1.1. D. D., 1939, Nr. 12, S. 279 ff. ™ Ebenda, 1934, Nr. 6, S. 300 f. 131 Vgl. Le Populaire, 16. 6.1934. ra Vgl. Arbeiter-Zeitung, Nr. 19,1. 7.1934. Vii Schifrin, S. 254. 28*
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reichischen „Revolutionären Sozialisten" und gab der Stimmung jener Kräfte in der SAI Ausdruck, die, wie die spanischen und italienischen sowie ein Teil der polnischen Sozialisten und die von Jean Zyromski geführte Linke in der SFIO, der Offensive des Faschismus mit einem revolutionären Massenkampf entgegentreten wollten. Alter verlangte, die Exekutive solle beschließen, mit dem Vorschlag an die Komintern heranzutreten, die Kräfte der beiden Internationalen im Kampf gegen den gemeinsamen Feind, Kapitalismus und Faschismus, zu vereinen. 124 Doch dieser Antrag traf auf den entschiedenen Widerstand der Rechtskräfte in der Exekutive der SAI. Sie bewirkten, daß der Brief ohne Antwort blieb. Die Exekutive gestattete lediglich ihrem Sekretär, Friedrich Adler, seinen persönlichen Standpunkt in einem Antwortschreiben darzulegen. Damit zeigte sich die Exekutive der SAI außerstande, die Beschlüsse der Pariser Konferenz der SAI vom August 1933 im Lichte der österreichischen Erfahrungen zu bestätigen und weiterzuentwickeln. Sie war ebensowenig in der Lage, eine positive Antwort auf das Drängen der Arbeitermassen nach Aktionseinheit gegen Faschismus und Krieg zu geben. 125 Friedrich Adler ließ in seinem Antwortschreiben durchblicken, daß es „auch innerhalb der Sozialistischen Arbeiter-Internationale . . . große und wichtige Differenzen über die Taktik in den demokratischen Ländern" gebe. 126 Hier liege das eigentliche Problem für die SAI und nicht so sehr im Kampf gegen die faschistischen Diktaturen, worüber man sich jedoch im allgemeinen einig sei. Damit lenkte Adler jedoch bewußt von der damaligen Hauptaufgabe ab und stellte die, von seinem Standpunkt als Repräsentant der reformistischen Internationale wichtigere Frage in den Vordergrund: alles zu tun, um die „Revolutionären Sozialisten" an die Prinzipien und die Organisation der SAI zu ketten und zu verhindern, daß die SAI weiter auseinandertreibe. Letzteres galt speziell für die Aktionseinheit mit den Kommunisten. Deshalb beschwor Adler die „Revolutionären Sozialisten", nicht „die Rolle der Demokratie in den nicht-faschistischen Ländern zu übersehen" und den Sozialdemokraten dieser Länder gegenüber internationale Solidarität zu bewahren. 127 Der Gedanke, daß von den westeuropäischen bürgerlich-parlamentarischen Staaten der entscheidende Impuls zur Überwindung der faschistischen Gefahr ausgehen würde, stieß jedoch in der Exekutive der SAI selbst auf Widerspruch. So hielt es z. B. Theodor Dan für „sehr wenig wahrscheinlich . . . daß der friedliche Druck der Demokratie der Länder, in denen es gelingen wird, sie zu erhalten und zu befestigen, die herrschenden Klassen Mittel-, Süd- und Osteuro-
rjä
Resolutionsentwurf Alter (Bund). Zur Sitzung der Exekutive, Brüssel, 27. und 28. Mai 1934, in: 1.1. S. G., SAI-Archiv, Nr. 429, Bl. 1 f. Die Unfähigkeit der SAI, auf dieser Exekutivsitzung im Mai 1934 den österreichischen Sozialisten eine Antwort zu geben, und ihre Einheitsfrontfeindlichkeit wurden in Artikeln der „Kommunistischen Internationale" besonders hervorgehoben (vgl. Knorin, Auf dem Wege zur kommunistischen Massenpartei in Österreich, S. 1448 f.; Fischer, S. 1602 ff.). 1.1. D. D., 1934, Nr. 6, S. 305. Ebenda, S. 304, 306.
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pas zwingen wird, freiwillig den Faschismus zu liquidieren". 1 2 8 Viel eher würde der Faschismus die bürgerliche Demokratie vernichten, sei es durch Krieg oder dadurch, daß seine Anziehungskraft auf die herrschenden Klassen auch in Westeuropa wachse. Innerhalb der SAI wie in der gesamten internationalen Arbeiterbewegung m ü ß ten nach Meinung Friedrich Adlers zwei Methoden nebeneinander a n e r k a n n t w e r d e n : „die der Revolution u n d die der Reform". 1 2 9 Unter der Anerkennung der Methode „der R e f o r m " verstand Adler eindeutig, die Politik der Klassenkollaboration mit der Bourgeoisie, wie sie zu dieser Zeit in Großbritannien, Skandinavien, den Niederlanden und anderen westeuropäischen Ländern sowie in der CSR praktiziert wurde, prinzipiell gutzuheißen. In diesem Geiste verteidigte Adler auch den Weg der österreichischen Sozialdemokratie seit 1918/19. Noch angesichts der Februarkatastrophe von 1934 behauptete er, daß es in Österreich damals richtig gewesen wäre, entgegen dem Rat der Kommunisten nicht den Weg einer Räterepublik, sondern der bürgerlichen Demokratie eingeschlagen zu haben! 1 3 0 Im Unterschied zu Otto Bauer zeigten sich bei Adler keinerlei Ansätze f ü r eine selbstkritische Haltung in dieser Frage. In seinem Schreiben setzte sich Adler mit der Politik der Komintern und der K P Ö auseinander und diffamierte sie. Das geschah vor allem deshalb, weil viele Mitglieder der f r ü h e r e n SDAPÖ sich nach dem F e b r u a r 1934 der K P Ö zugew a n d t u n d die „Revolutionären Sozialisten" sich ihren kommunistischen Klassengenossen so weit genähert hatten, daß sie nicht n u r „dasselbe Ziel" wie diese erstrebten, sondern „unter der faschistischen Diktatur auch keine Gegensätze m e h r in der Taktik des Kampfes" zu sehen vermochten. Das konnte auf die Bildung einer Einheitspartei des Proletariats hinzielen. 131 Beim Zusammenwirken von Kommunisten u n d Sozialdemokraten konnte es damals n u r u m gemeinsam beschlossene Aktionen zur A b w e h r faschistischer und reaktionärer Angriffe — wie bald darauf zwischen F K P und SFIO vereinbart — gehen. Adler stellte h i e r f ü r jedoch u n ü b e r w i n d b a r e Hindernisse auf, indem er von der Komintern das ideologische Zugeständnis forderte, das Prinzip der Klassenkollaboration mit der Bourgeoisie, das zahlreiche Parteien in der SAI praktizierten, anzuerkennen. Er griff dabei auch den Vorschlag des „Nichtangriffspaktes" zwischen SAI und Komintern auf, da er darin eine Möglichkeit sah, die Einheitsfront der Kommunisten als „Manöver" zu entlarven. 1 3 2 Adler ging es dabei aber nicht n u r darum, in Österreich eine sozialdemokratische, mit der SAI verbundene Partei zu stabilisieren, sondern auch in Vertretung der bereits mehrfach genannten großen reformistischen Parteien die Diskussion u m die Aktionseinheit der Arbeiterklasse hinauszuschieben, da diese zum Sprengkörper in der SAI zu werden drohte. Schließlich w a r e n nicht n u r ^ Dan, Theodor, Die Internationale im Kampf gegen den Faschismus, in: Der Kampf, 1934, Nr, 5, S. 171. ™ I. I. D. D„ 1934, Nr. 6, S. 307. 1M Ebenda, S. 306. li!1 Ebenda, S. 301. — Gerade diese Position wurde sowohl von Adler (ebenda, S. 305) als auch von Dan scharf attackiert (Die Internationale, S. 169). 3:a I. I. D. D., 1934, Nr. 6, S. 307 f.
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die französischen, italienischen und österreichischen Sozialisten zu Einheitsfrontabkommen mit den Kommunisten bereit, sondern der Gedanke der antifaschistischen Einheitsfront gewann gerade an der Basis an Boden. Andererseits stand bereits die Drohung mit der Spaltung der SAI seitens der rechten Kräfte im Raum, falls sich dieser Gedanke durchsetzte. Wie die Sitzung der Sozialistischen Jugend-Internationale, die im Anschluß an eine Sitzung der SAI-Exekutive am 6. August 1934 stattfand, deutlich machte, übten bestimmte Parteiführungen massiven Druck auf die SAI aus, um dieses Streben zur Errichtung einer Einheitsfront abzustoppen. So erklärte das schwedische Büromitglied der Jugend-Internationale, Adolf Wallentheim: „Wir verlangen, daß die Sozialistische Arbeiter-Internationale eine Entscheidung fällt. Die jetzige Situation der Unklarheit ist unerträglich. Wir verurteilen die Einzelaktionen der Verbände, sie untergraben die Aktionsfähigkeit und den Bestand der Internationale. Wir erwarten, daß die sozialistischen Jugendverbände alle Verhandlungen mit den Kommunisten einstellen, bis eine Entscheidung der Internationale vorliegt."133 Eine ebenfalls ablehnende Haltung zur Einheitsfront mit den Kommunisten nahmen die Delegierten der britischen Labour Party, der deutschen, tschechoslowakischen, ungarischen, niederländischen und dänischen Sozialdemokratie ein. Der ebenfalls anwesende Friedrich Adler, der eine Entscheidung der SAI zu diesem Problem für die Herbstsitzung 1934 ankündigte, arbeitete einem entstehenden Vertrauensverhältnis zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten entgegen. Er äußerte die Vermutung, es würde sich bei der Einheitsfrontpolitik der Komintern „um einen großangelegten Versuch handeln, in dieser schwierigen Situation unsere Internationale zu sprengen".134 War den die Politik der SAI bestimmenden rechten Kräften daran gelegen zu verhindern, daß sich innerhalb der SAI revolutionäre politisch-ideologische Schlußfolgerungen aus den Februarereignissen verbreiteten, so wirkten sie gleichzeitig auf die enge politisch-organisatorische Verbindung der SAI mit der österreichischen Sozialdemokratie hin. Sofort nach Ausbruch der Kämpfe schickte Friedrich Adler aus dem Sekretariat der SAI in Zürich John Price nach Wien.135 SAI und IGB setzten umfangreiche materielle Hilfsaktionen für die Opfer des Dollfußterrors in Gang. Die Kassenbestände der SDAPÖ wurden ins Ausland geschmuggelt, und die SAI finanzierte damit im Einvernehmen mit dem Auslandsbüro in Brünn die Arbeit der „Revolutionären Sozialisten" in Österreich.136 Die „Revolutionären Sozialisten" galten als österreichische Sektion der SAI. Die Verbindungen zur SAI festigten sich, besonders nachdem Joseph Buttinger im Februar 1935 an die Spitze des ZK der „Revolutionären Sozialisten" getreten war und die Partei wiederum einen stärker antikommunistischen Kurs einschlug. iaa Protokoll der Sitzung des Exekutivkomitees nale, 6. 8. 1934, Bl. 5. Ebenda, Bl. 9. 135 Vgl. Buttinger, S. 28. >•>» Vgl. Arbeiter-Zeitung, Nr. 6,1. 4.1934, S. 1 f.
der Sozialistischen
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Buttinger vertrat die „Revolutionären Sozialisten" in der Exekutive der SAI. Andererseits war Friedrich Adler, als Sekretär der SAI, auf allen Konferenzen der „Revolutionären Sozialisten" anwesend.137 In der Schweiz waren es besonders Otto Leichter und Oskar Pollak, die die SAI über die Entwicklung in Österreich informierten. Pollak begab sich mehrmals illegal nach Österreich und wirkte für die Zusammenarbeit zwischen SAI und „Revolutionären Sozialisten", jedoch gab es gegen ihn, als Vertreter der alten Parteiführung, Widerstand von Mitgliedern der Führung der neuen illegalen Partei. 138 Es gelang jedoch mittels dieser Initiativen, alle in den ersten Monaten nach dem Februar 1934 unter den „Revolutionären Sozialisten" vorhandenen Tendenzen einer Distanzierung von der SAI zu überwinden. 139 Die österreichischen Sozialisten traten zwar in der SAI für die internationale Einheitsfront des Proletariats auf, legten aber dem Zustandekommen der Einheitsfront in Österreich selbst, besonders nach dem Februar 1935, immer wieder neue Hindernisse in den Weg. Sie anerkannten in der SAI schließlich auch grundsätzlich — ganz im Sinne von Friedrich Adler und Otto Bauer und im Gegensatz zu ihren ursprünglichen Erklärungen aus dem Jahre 1934 — den von den sozialdemokratischen Parteien West- und Nordeuropas verfolgten reformistischen Kurs. Allerdings kritisierten sie deren neutralistische bzw. kapitulantenhafte Haltung gegenüber der aggressiven Politik Hitlerdeutschlands sowie nationalistischen Tendenzen der Distanzierung von der SAI, wie sie sich besonders bei der Labour Party zeigten.140 Gemeinsam mit der machtvollen Aktion der einheitlich handelnden französischen Werktätigen gegen den Faschismus bildete der Februarkampf der österreichischen Arbeiter 1934 ein wichtiges Moment, das den bereits 1933 sichtbar gewordenen Differenzierungsprozeß in der internationalen Sozialdemokratie entscheidend vorantrieb. Die sich für das Ziel einer revolutionären Klassenherrschaft des Proletariats einsetzenden Kräfte in der SAI erhielten Auftrieb und nahmen an Umfang zu. Die Bewegung gewann eine breitere Grundlage und erfaßte ganze Parteien. Diese Entwicklung rief wiederum die proimperialistischen und extrem antikommunistischen Kräfte in der SAI auf den Plan. Ihr Einfluß bewirkte, daß die von Friedrich Adler angekündigte Entscheidung der SAI zum Problem der internationalen Einheitsfront der Arbeiterklasse letztlich negativ ausfiel. Die Angebote der Komintern zur Schaffung einer Einheitsfront wurden von den Exekutivtagungen der SAI sowohl im November 1934 wie auch im Oktober 1935 abgelehnt. Da sich die französischen, italienischen und österreichischen Sozialisten mit ihren Einheitsfrontabkommen bereits über den Beschluß der SAI vom März 1933 gegen solche Abkommen hinweggesetzt hatten, Vgl. Adler an Renner, 2. 8.1937, in Hannak, S. 624. Vgl. Buttinger, S. 146, 167, 186, 213, 239, 290, 348 f. ™ Vgl. XII. Parteitag der KPÖ, S. 2214. Vgl. z. B. „Die österreichischen Sozialisten und die S. A. I.". Erklärung vom 14. 6.1939: „Die S. A. I. geht zugrunde an dem Gegensatz zwischen einer ausschließlich nach Landes- oder nationalen Interessen orientierten Politik der großen reformistischen Parteien und den Grundsätzen jeder internationalen Aktion" (I. I. S. G., SAI-Archiv, Nr. 575, Bl. 4).
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wurde dieser aufgehoben. Es blieb jeder Partei freigestellt, wie sie ihr Verhältnis zu den Kommunisten gestaltete. Mit der Spaltung der SAI drohend, verhinderten jedoch die rechten, militant antikommunistischen Führer der Labour Party, der dänischen, schwedischen, niederländischen und tschechoslowakischen Sozialdemokratie jeden konstruktiven Schritt in Richtung auf eine Zusammenarbeit von SAI und Komintern. Sie verhinderten gleichzeitig, daß sich die SAI eine aus den Erfahrungen der Kämpfe der französischen, österreichischen und spanischen Arbeiter im Jahre 1934 entwickelte, den neuen Verhältnissen des Kampfes gegen Faschismus und Kriegsgefahr angepaßte Taktik erarbeitete. Die Hauptlehre des österreichischen Februar bestand darin, rechtzeitig den revolutionären Massenkampf gegen die faschistische Gefahr zu organisieren und „nicht die passive Einheit in der Organisation mit Unterwerfung unter die opportunistische Führung, sondern die aktive Einheit im Kampf" zu schaffen. 141 Diese Schlußfolgerung sahen die genannten rechten Führungen jedoch als ein Sakrileg gegen ihre reformistischen und antikommunistischen Dogmen an. Viele von ihnen betrachteten ein einheitlich handelndes und mit der Sowjetunion verbündetes Weltproletariat als eine ebensolche Gefahr wie den Faschismus. Von Illusionen erfüllt, sahen sie im Völkerbund und in der Politik der imperialistischen Westmächte die Garantie für Frieden und Demokratie in Europa. Es war hingegen die Komintern, die nicht zuletzt durch die klassenmäßige Analyse der sozialdemokratischen Politik in Österreich, wie sie in den Referaten von Wilhelm Pieck und Georgi Dimitroff auf dem VII. Kongreß der Komintern 1935 vorgenommen wurde142, zu der Schlußfolgerung gelangte, daß die faschistische Diktatur durchaus keine unvermeidbare Entwickungsetappe ist. Der VII. Weltkongreß der Komintern verwies „auf die historische Verantwortung der Sozialdemokratie f ü r die Niederlage der Arbeiterklasse" und vermerkte die „eigenen Fehler im Kampf gegen den Faschismus".143 Im Gegensatz zur Furcht der rechtssozialdemokratischen Führer vor den zum antifaschistischen Kampf mobilisierten Massen sah die Komintern gerade in diesem Elemena den Kraftquell zur Verhinderung bzw. Überwindung des Faschismus und der Kriegsgefahr: „Die Verhinderung des Sieges des Faschismus", sagte Georgi Dimitroff, „hängt vor allem von der Kampfaktivität der Arbeiterklasse selbst ab, vom Zusammenschluß ihrer Kräfte zu einer einheitlichen, gegen die Offensive des Kapitals und des Faschismus kämpfenden Armee."144 1,11
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Reisberg, S. 203. — Vor dem VII. Weltkongreß war die Komintern in Auswertung der österreichischen Februarereignisse bereits zu der klaren Erkenntnis gelangt, „daß die Einheit einer ,großen und mächtigen sozialdemokratischen Partei' noch nicht die Einheit der Arbeiterbewegung bedeutet" (Die Kommunistische Internationale vor dem VII. Weltkongreß. Materialien, Moskau/Leningrad 1935, S. 54). Vgl. VII. Kongreß der Kommunistischen Internationale. Referate und Resolutionen, Berlin 1975, S. 47 ff., 100 f. Ebenda, S. 105. Ebenda.
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Grundzüge der Frauenpolitik des faschistischen deutschen Imperialismus 1 9 3 3 - 1 9 3 9
Die Frauenpolitik des faschistischen deutschen Imperialismus, die eine spezifische Seite seiner extrem reaktionären und besonders aggressiven Politik darstellt, ist bisher von der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft der DDR nicht systematisch und umfassend untersucht worden. Nur vereinzelt enthält unsere Literatur dazu Aussagen, wobei vorwiegend im Rahmen anderer Forschungskomplexe (Faschismus-Forschung, Wirtschaftsgeschichte, Geschichte der antifaschistischen Widerstandsbewegung, Geschichte des Schul- und Hochschulwesens u. a.) Fragen der faschistischen Politik gegenüber den Frauen und Mädchen tangiert worden sind.1 Nur wenige Arbeiten befassen sich speziell mit dem Gegenstand. 2 Dabei steht außer Zweifel, daß die Untersuchungen zu diesem Problemkreis geeignet sind, zahlreiche, bisher wenig oder gar nicht bekannte Aspekte der Politik des faschistischen deutschen Imperialismus zu er1
Das gilt besonders für die Darstellungen von Kuczynski, Jürgen, Studien zur Geschichte der Lage der Arbeiterin in Deutschland von 1700 bis zur Gegenwart, Berlin 1965, S. 253 ff. (Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, T. 1, Bd. 18), und Eichholtz, Dietrich, Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1939—1945, Bd. 1:1939 bis 1941, Berlin 1969, S. 79 ff. Auf die Situation der Landarbeiterinnen und Bäuerinnen sowie entsprechende Aspekte der faschistischen Politik geht ein Melzer, Rolf, Studien zur Agrarpolitik der faschistischen deutschen Imperialisten in Deutschland im System der Kriegsplanung und Kriegführung 1933—1941, phil. Diss. Rostock 1966, Bl. 139 ff. (MS). Mitzenheim, Paul, Lehrerin gestern und heute, Berlin 1973, S. 173 ff., behandelt verschiedene Aspekte der faschistischen Politik gegenüber den Lehrerinnen, und Schnelle, Gertraude, Probleme der Entwicklung des Frauenstudiums in Deutschland (unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung in den beiden deutschen Staaten nach 1945), Diss. Leipzig 1964, S. 102 ff., untersucht die Diskriminierung der Studentinnen in Hitlerdeutschland. Die faschistische Frauenpolitik als Ganzes ist Gegenstand des einführenden Kapitels der Dissertation von Klinger, Christian, Zum Anteil deutscher Frauen am antifaschistischen Widerstandskampf unter Führung der KPD (1933 bis 1939), Leipzig 1975, Bl. 11 ff. (MS). Vgl. Arendt, Hans-Jürgen, Die „Gleichschaltung" der bürgerlichen Frauenorganisation in Deutschland 1933/34, in: ZfG, 27, 1979, 7, S. 615 ff.; ders., Zur Frauenpolitik des faschistischen deutschen Imperialismus 1933—1945, in: Mitteilungsblatt der Forschungsgemeinschaft „Geschichte des Kampfes der Arbeiterklasse für die Befreiung der Frau", Leipzig, 1979, 3, S. 16 ff.; Edeling, Sabine, Zur Rolle der NS-Frauenschaft
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schließen und deren volksfeindliches Wesen noch deutlicher zu kennzeichnen. Vor allem für die Auseinandersetzung mit den in jüngster Zeit in der BRD und anderen imperialistischen Ländern immer dreister auftretenden Kräften des Neofaschismus besitzt dieser Nachweis große aktuelle Bedeutung. In der nichtmarxistischen Geschichtsschreibung haben Fragen der „NS-Frauenpolitik" in den letzten Jahren größere Aufmerksamkeit gefunden, hauptsächlich in Großbritannien und den USA. Das Interesse an der Behandlung dieser Probleme rührt hier vor allem von den Aktivitäten der Ende der 60er Jahre entstandenen neofeministischen Bewegung her, die die Aufmerksamkeit mehrerer Historiker auf die Rolle der Frauen in der Geschichte, die Geschichte der Frauenbewegung und die Geschichte der Frauendiskriminierung lenkte. Vorwiegend unter diesem Aspekt sowie im Rahmen sozialgeschichtlicher Gesamtdarstellungen erfolgten auch Untersuchungen der Frauenpolitik des deutschen Faschismus.3 Die vorliegenden Resultate zeichnen sich durchweg durch Materialfülle aus und machen auf zahlreiche Aspekte des Gegenstandes aufmerksam. Die kritische Auseinandersetzung einiger Arbeiten mit der faschistischen Diskriminierungspolitik gegenüber den Frauen wird jedoch durch eine Reihe von Mängeln eingeschränkt. Dazu gehören vor allem eine klassenindifferente Betrachtungsweise, das Nichterkennen des Wesens der faschistischen Diktatur und deren Interpretation im Sinne der Totalitarismusdoktrin sowie das unverkennbare Bestreben, angebliche grundsätzliche Widersprüche zwischen der Frauenpolitik Hitlers und anderer Naziführer und den Interessen der herrschenden Monopolkreise aufzudecken. Insbesondere Dörte Winkler verfolgte in ihren Arbeiten eine derartige Tendenz.4 Daneben treten in einzelnen Publikationen auch offenkundige neo-
3
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bei der faschistischen Einflußnahme auf die Frauen in Deutschland 1931—1934. Staatsexamensarbeit, PH Potsdam 1967 (MS); Henke, Martina, Die Frauenpolitik des faschistischen deutschen Imperialismus 1933 bis 1939 im Spiegel der Reichsgesetzgebung. Diplomarbeit, PH „Clara Zetkin" Leipzig 1978 (MS). Vgl. Evans, Richard, German Women and the Triumph of Hitler, in: Journal of Modern History, Vol. 48, 1976; Fest, Joachim C., Deutsche Frau und Mutter —.Die Rolle der Frau im Dritten Reich, in: Ders., Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft, Frankfurt a. M./Berlin 1969, S. 310 ff.; Mason, Tim W., Zur Lage der Frauen in Deutschland 1930—1940. Wohlfahrt, Arbeit und Familie, in: Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie, Bd. 6, Frankfurt a. M. 1976, S. 118 ff.; Mclntire, Jill, Women and the Professions in Germany 1930—1940, in: German Demokracy and the Triumph of Hitler, London 1971, S. 175 ff. (St. Anthony's College Publications, No. 3); Milett, Kate, Sexus und Herrschaft. Die Tyrannei des Mannes in unserer Gesellschaft, München/Wien/Basel 1971, S. 185 ff.; Pauwels, Jaques R., Women and the University Studies in the Third Reich, phil. Diss. Toronto 1976; Stephenson, Jill R., Woman in Nazi Society, London 1975; ders., The Nazi Organisation of Woman 1933-1939, in: The Shaping of the Nazi State, hrsg. von Peter D. Stachura, London 1978, S. 186 ff. Vgl. Winkler, Dörte, Frauenarbeit im „Dritten Reich", Hamburg 1977 (Historische Perspektiven, Bd. 9); dies., Frauenarbeit versus Frauenideologie. Probleme der weiblichen Erwerbstätigkeit in Deutschland 1940—1945, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 17, Bonn/Bad Godesberg 1977, S. 99 ff.
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faschistische Tendenzen hervor, indem die Frauendiskriminierung während der Jahre der faschistischen Diktatur in Deutschland bagatellisiert oder ganz geleugnet wird. Charakteristisch d a f ü r ist David Schoenbaums These, daß den Frauen in Hitlerdeutschland unter dem Druck des totalitären Staates und dem Einfluß der forcierten Industrialisierung ein neuer Status von relativer Gleichberechtigung, wenn auch nicht im herkömmlichen Sinne, erwachsen sei.5 Daß die einstige „Reichsfrauenführerin" Gertrud Scholtz-Klink 1974 in der BRD in einem von der Zeitschrift „Das Dritte Reich" publizierten öffentlichen Rundtischgespräch auftreten und die faschistische Frauenpolitik verteidigen sowie 1978 ein entsprechendes Buch veröffentlichen konnte 6 , ist gleichermaßen symptomatisch. Positiv heben sich demgegenüber die konsequent antifaschistische Positionen verfolgenden Veröffentlichungen von Hanna Elling und Stefan Bajohr ab. 7 Die Frauenpolitik des Hitlerregimes von 1933 bis 1939 war durch eine Reihe von Grundzügen gekennzeichnet, in denen sich das extrem reaktionäre, antihumane und emanzipationsfeindliche Wesen der faschistischen Diktatur manifestierte. Zu den Initiatoren dieser Frauenpolitik zählten die Reichsregierung und andere Staatsorgane, insbesondere Organe und Institutionen der staatsmonopolistischen Regulierung des Wirtschaftslebens, die Reichsleitung der NSDAP und die mit ihr verbundene „Reichsfrauenführung" (ab 1934), die NS-Frauenschaft, das Frauenamt der DAF (Deutsche Arbeitsfront) der BDM (Bund Deutscher Mädel) und andere Organisationen. Diese Politik verfolgte eine Reihe von Zielen: 1. Die bereits unter den Präsidialregierungen der Jahre 1930 bis 1933 wirksam gewordenen Bestrebungen zur Entrechtung der werktätigen Frauen, zum Abbau sozialer Errungenschaften und demokratischer Rechte sollten vervollkommnet werden, u m dem weiteren Voranschreiten der Frauenemanzipation den Weg zu verlegen. 2. Dem Kapital sollten durch entsprechende gesetzgeberische Maßnahmen und die Manipulierung der öffentlichen Meinung im Hinblick auf das Frauenleitbild günstige Verwertungsbedingungen gesichert werden. Dabei wurde bis etwa 1935 die Tendenz zur Verdrängung weiblicher Berufstätiger aus dem Wirtschaftsleben im Zusammenhang mit der offiziellen „Arbeitsbeschaffungs"politik bis zu einem gewissen Grade forciert, während 1936 bis 1939 a
Vgl. Schoenbaum, David, Die braune Revolution. Eine Sozialgeschichte des Dritten Reiches, Köln/Berlin 1968, S. 241. Ähnlich Crunberger, Richard, Das zwölfjährige Reich. Der deutsche Alltag unter Hitler, Wien/Zürich/München 1972, S. 244. Der Verf. versteigt sich sogar zu der Behauptung, das Naziregime habe die Gleichberechtigung der Frauen gefördert. o Vgl. Das Dritte Reich, Hamburg, 1974, 6, S. 262 ff.; 7, S. 218 ff.; Scholtz-Klink, Gertrud, Die Frau im Dritten Reich. Eine Dokumentation Tübingen 1978'. ' Vgl. Elling, Hanna, Frauen im deutschen Widerstand 1933-1945, Frankfurt a. M. 1978 (Bibliothek des Widerstandes). Das Buch enthält u. a. eine Skizze der „Theorie und Praxis der NS-Frauenpolitik" auf S. 11 ff. Bajohr, Stefan, Die Hälfte der Fabrik. Geschichte der Frauenarbeit in Deutschland 1914-1945, Marburg 1979, S. 219 ff. (Schriftenreihe für Sodalgeschichte und Arbeiterbewegung, Bd. 17).
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im Rahmen der zielstrebigen Vorbereitung des Krieges die verstärkte Einbeziehung der weiblichen Bevölkerung in die Wirtschaft im Vordergrund stand. 3. Breiteste Kreise von F r a u e n u n d Mädchen aus allen Klassen und Schichten sollten im faschistischen Sinne ideologisch manipuliert und politisch-organisatorisch an das Naziregime gebunden werden, damit sie die faschistische Politik aktiv unterstützten und damit zugleich bereit waren, auf alle Forderungen im Sinne des Prinzips der Gleichberechtigung der F r a u zu verzichten. 4. Mittels terroristischer Maßnahmen gegenüber den Arbeiterparteien sowie allen revolutionären u n d demokratischen Organisationen einerseits, der „Gleichschaltung" der übrigen, dem Faschismus partiell verbundenen bürgerlichen Frauenorganisationen u n d deren Unterordnung u n t e r die NS-Frauenschaft andererseits sollte der Einfluß der antifaschistischen K r ä f t e auf die F r a u e n ausgeschaltet und damit die Bildung einer breiten antifaschistischen Opposition unter der weiblichen Bevölkerung verhindert werden. 5. Durch eine intensive bevölkerungspolitische Propaganda und sozialpolitische Maßnahmen sollte die Bevölkerungsentwicklung im Interesse k ü n f t i g e r imperialistischer Expansionspolitik forciert u n d vor allem den F r a u e n und Mädchen der werktätigen Klassen und Schichten die Auffassung suggeriert werden, daß Kinderreichtum f ü r sie eine „nationale Verpflichtung" und die eigentliche Wesensbestimmung der F r a u sei. Im folgenden soll versucht werden, diese Grundzüge der faschistischen Frauenpolitik 1933 bis 1939 nachzuweisen. Der primäre Aspekt der faschistischen Frauenpolitik ist in ihrem Verhältnis zur Frauenberufsarbeit zu sehen. Dieses Verhältnis war nicht frei von Widersprüchen, und es w a r vom krisenzyklisch bedingten Arbeitskräftebedarf der kapitalistischen Wirtschaft ebenso wie von bevölkerungspolitischen Überlegungen, Einflüssen der öffentlichen Meinung und schließlich den akuten Bedürfnissen der Rüstungs- und Kriegswirtschaft abhängig. Vor 1933 w u r d e in der Nazibewegung Frauenarbeit, besonders die Berufstätigkeit verheirateter Frauen, im allgemeinen scharf abgelehnt, was sich in den J a h r e n der Weltwirtschaftskrise in der Hetzpropaganda gegen die sogenannten Doppelverdiener niederschlug. Die im Oktober 1931 gegründete NS-Frauenschaft t r a t mit der Parole „Nicht Emanzipation vom Manne, sondern vom Erwerbsleben" auf, und faschistische Propagandaredner kündigten f ü r den Fall der „Machtergreifung" Notverordnungen an, die verheiratete berufstätige Frauen massenhaft entlassen sollten. 8 Diese Politik lag prinzipiell auf der gleichen Linie, wie sie auch die Deutschnationale Volkspartei, das Z e n t r u m und andere reaktionäre bürgerliche Parteien, nicht zu8
So erklärte im Februar 1932 der nationalsozialistische Reichstagsabgeordnete Hermann Esser (später Staatssekretär im Propagandaministerium) in einer Rede in Stuttgart, daß die erste, Notverordnung Hitlers gegen die „Doppelverdiener" vorgehen und eine weitere bestimmen werde, daß alle Frauen und Mädchen aus den staatlichen Bürostuben entfernt werden sollten. Vgl. Zwei Jahre Brüning-Diktatur. Handbuch der kommunistischen Reichstagsfraktion, Berlin 1932, S. 119.
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letzt die Präsidialregierungen in ihren „Arbeitsbeschaffungs"konzepten entwickelten. Sie war vielfach in demagogische Formen gekleidet, etwa in die Phrase, es gehe darum, die werktätige Frau „vom Zwange der Berufsarbeit zu befreien". Der mit einer bisher nicht dagewesenen Massenarbeitslosigkeit verbundenen Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft entsprachen bürgerliche Zielvorstellungen, Arbeit f ü r männliche Erwerbslose auf Kosten berufstätiger Frauen zu beschaffen, vor allem Verheiratete aus dem Wirtschaftsleben zu verdrängen und sie ihrer „eigentlichen Bestimmung als Hausfrau und Mutter" zuzuführen. Faschistische Stellungnahmen anderer Art, wonach die berufstätige Frau im nationalsozialistischen Staat „das gleiche Recht auf Schutz ihrer Existenz wie die eheliche Frau und Mutter" haben sollte9, bezweckten lediglich, den nur geringen Einfluß der NSDAP unter den Arbeiterinnen und anderen berufstätigen Frauen zu erweitern. Sie bestimmten nicht den Charakter der praktischen Politik, deren eigentliches Wesen sich in Gesetzentwürfen gegen berufstätige Frauen 1 0 enthüllte, gewährleisteten aber eine gewisse Flexibilität, die namentlich Hitler in der Frauenfrage f ü r erforderlich hielt. 11 Von den während der Weltwirtschaftskrise entwickelten Vorstellungen, durch Zurückdrängung der Frauenarbeit Beschäftigungsmöglichkeiten f ü r männliche Erwerbslose zu erhalten und damit zugleich die Geburtenentwicklung „anzukurbeln", war bis zu einem gewissen Grade auch die Frauenpolitik der Hitlerregierung unmittelbar nach Errichtung der faschistischen Diktatur geprägt. Bereits im März 1933 ließ Reichsarbeitsminister Franz Seldte, der schon dem Papen-Kabinett angehört hatte, aus Berichten der Landesarbeitsämter einen Gesamtbericht über die sogenannten Doppelverdiener erarbeiten. In seinem der Regierung am 27. April 1933 vorgelegten „Arbeitsbeschaffungsprogramm" erachtete er die Einschränkung der Frauenarbeit als notwendig, erwähnte aber auch, daß die Unternehmer diese der Männerarbeit infolge der niedrigeren Lohnkosten vorziehen würden. In der Kabinettssitzung vom Juni 1933, in der die „Doppelverdiener"frage als Aspekt der „Arbeitsbeschaffungs"politik beraten wurde, bestand unter den Mitgliedern der Regierung Übereinstimmung darüber, daß entsprechende Vorschriften sehr allgemein gehalten werden sollten, lJ
So Gregor Strasser, zit. nach Diehl, Guida, Die deutsche Frau und der Nationalsozialismus 1932, S. 30. 1U So brachte die NSDAP-Fraktion am 24. 6. 1932 im Preußischen Landtag einen Antrag ein, nach dem alle verheirateten weiblichen Angestellten aus dem Staatsdienst entlassen werden sollten, nach entsprechender Prüfung ihres Dienstverhältnisses „erforderlichenfalls" auch alle ledigen weiblichen Angestellten der Behörden und Staatsbetriebe sowie männliche Angestellte, „falls sie es nicht vorziehen, ihre Frauen zur Aufgabe der Stellung . . . zu veranlassen". Vgl. Die Kämpferin, Nr. 16,1932. 11 Hitler hielt nach seiner Niederlage bei den Reichspräsidentenwahlen im Frühjahr 1932 eine „moderne Auffassung" von der Frau in der Propaganda der NSDAP für notwendig, „denn gerade auf diesem Gebiet sind wir bei der ersten Wahl hart angegriffen worden". Vgl. Goebbels, Joseph, Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei. Eine historische Darstellung in Tagebuchblättern (vom 1. Januar 1932 bis zum 1. Mai 1933), München 1934, S. 72.
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u m ihren Auslegungsspielraum zu sichern. Im übrigen solle unter der Bevölkerung eine Propagandakampagne über die „Erhaltung und S t ä r k u n g der Familie" gestartet werden, u m möglichst viele Frauen und vor allem Mütter zu veranlassen, ihre Berufstätigkeit aufzugeben. 1 2 Eine rigorose gesetzliche Regelung, wie sie noch 1932 in der Nazipropaganda im Kampf gegen das „Doppelverdienertum" im „Dritten Reich" angekündigt worden war, unterblieb. Die Hitlerregierung versprach sich die entsprechenden Wirkungen von ihrem „Gesetz zur Verminderung der Arbeitslosigkeit" vom 1. J u n i 1933. Es v e r f ü g t e u. a. die Ermäßigung der Einkommensteuer f ü r Haushalte, die Hausgehilfinnen beschäftigten, und verschlechterte außerdem den arbeitsrechtlichen Status der Haushaltsgehilfinnen durch ihre Herausnahme aus der A r beitslosenversicherung, d. h.: der von der „Herrschaft" zu zahlende Sozialbeitrag verringerte sich u m fünfzig Prozent. Zugleich stellte es heiratenden Paaren, deren „rückhaltloses Eintreten" f ü r den faschistischen Staat ebenso außer Zweifel stand wie ihre „erbbiologischen" Qualitäten, die Gewährung von Ehestandsdarlehen bis zu einer Höhe von 1 000 RM in Aussicht, wenn durch die Eheschließung ein Arbeitsplatz frei würde. Die E h e f r a u d u r f t e — so w u r d e bestimmt — erst dann wieder berufstätig sein, wenn das Darlehen restlos getilgt oder das Monatseinkommen des Ehegatten unter 125 RM gesunken sei. 13 Im Sinne dieses Gesetzes begann eine Propagandakampagne u n t e r dem Schlagwort „Überführung weiblicher Arbeitskräfte in die Hauswirtschaft" (wie auch Abschnitt IV des Gesetzes betitelt war). Plakate w u r d e n verbreitet, die den F r a u e n zu suggerieren suchten: „Nicht im Beruf kannst du glücklich sein, dein richtiger Wirkungskreis ist das Heim!" 1 4 Das bürgerliche Frauenleitbild von der nichtberufstätigen, ganz in Familienpflichten aufgehenden F r a u rückte in den Mittelpunkt faschistischer Frauenpropaganda u n d Mädchenerziehung. Wohl wissend, daß die Verdrängung aus dem Beruf den Lebensinteressen der werktätigen F r a u e n widersprach, appellierten die Faschisten an die Opferbereitschaft. „Gedenkt Brünhildes!", m a h n t e demagogisch Eva Hoffmann-Linke die u m ihren Arbeitsplatz gebrachten Frauen, „was ihr bestimmt [war]: in Schlaf versenkt zu werden, abgeschieden von den göttlich freien Taten ihres Walkürentums, sie m u ß es erdulden." 1 5 Einen spezifischen Aspekt der Propagandakampagne bildete die Orientierung weiblicher Erwerbsloser und vor allem der ins Berufsleben eintretenden jungen Generation auf „natur- und artgemäße Frauenarbeit". Hitler selbst hatte — in Anlehnung an traditionelle Vorstellungen der bürgerlichen Frauenrechtsbewegung — wiederholt zum Ausdruck gebracht, neben dem „Naturberuf" der Frau, der Mutterschaft, seien F r a u e n b e r u f e vor allem die des Helfens, Heilens und 12 13
1,1 15
Vgl. Winkler, Frauenarbeit im „Dritten Reich", S. 42 f. Vgl. Reichsgesetzblatt (im folg: RGBl. T. I., 1933. Die finanziellen Mittel für die Ehestandsdarlehen wurden durch eine Sondersteuer gewonnen, die Ledige, kinderlose Witwen und Witwer bei einem Einkommen von mindestens 75,— RM aufzubringen hatten. 1934 vergab der faschistische Staat 224 619 Ehestandsdarlehen, 1935 156 788 und 1936 171 391. Vgl. Bajohr, S. 220. Berliner Börsen-Zeitung, Morgenausgabe, 24. 5.1934. Die Frau, 40,1933, 11, S. 645.
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Erziehens. 16 Magda Goebbels interpretierte dieses Leitbild in dem Sinne, daß der Frau vor allem die Berufe der Wohlfahrt und der pädagogischen Tätigkeit offenstehen sollten. 17 Für die Arbeit als Hausgehilfin oder Landarbeiterin betrieben die Arbeitsämter sogar zielgerichtete Werbung, ging es doch hierbei primär u m die Behebung der „Gesinde"knappheit von Bourgeoisie und Großgrundbesitzern. Qualifizierte Berufe in Industrie, Verwaltung und Wissenschaft hingegen galten als dem „weiblichen Empfinden wesensfremd". Von der Praxis längst widerlegte, wissenschaftlich unhaltbare Thesen der bürgerlichen Diskriminierungsideologie gelangten zu neuer Wirkung und stießen selbst bei Anhängerinnen des Faschismus auf Widerspruch, wobei vor allem vor den Konsequenzen solcher „Theorien" — etwa im Kriegsfalle — gewarnt wurde. 18 Doch behielten diese Auffassungen in Anbetracht der Bestrebungen der Hitlerregierung, die Arbeitslosigkeit möglichst rasch zu vermindern, um so die faschistische Diktatur zu stabilisieren, die Oberhand. Mit dem Schlagwort von „natur- und artgemäßen Frauenberufen" ging es den Faschisten einerseits darum, die Frau als Konkurrentin des Mannes auf dem Arbeitsmarkt weitgehend auszuschalten, andererseits dem Mangel an Arbeitskräften in den durchweg schlecht bezahlten, kaum qualifizierten Tätigkeiten in der Land- und Hauswirtschaft abzuhelfen. Die Frau sollte vor allem dort berufstätig sein, wo es keine männlichen Bewerber gab. Propaganda und der Einsatz stimulierender Mittel aus dem Staatshaushalt wie Ehestandsdarlehen waren nicht die einzigen Aktivitäten, die unternommen wurden, um möglichst viele Frauen zur Aufgabe ihrer Berufstätigkeit zu veranlassen oder wenigstens ihren Arbeitsplatz in Industrie und Büro mit der Stellung als Dienstmädchen oder Landarbeiterin zu vertauschen. Es wurde auch nicht darauf verzichtet, handfesten Druck auszuüben. Die staatlichen Behörden und Dienststellen entließen in großem Umfange verheiratete Beamtinnen und Angestellte. Sie stützten sich dabei auf das noch im Mai 1932 vom Reichstag beschlossene 16
Vgl. Bürkner, Trude, Der Bund Deutscher Mädel in der Hitlerjugend, Berlin 1937, S. 23 (Schriften der Deutschen Hochschule für Politik, T. II: Der organisatorische Aufbau des Dritten Reiches, H. 16). " Vgl. Die Frau, 40, 1933, 9, S. 504. 10 Namentlich der Kreis um Sophie Rogge-Börner, der unter Berufung auf Überlieferungen zum altnordischen Matriarchat eine Synthese zwischen faschistischer Frauenideologie und Frauenrechtlertum erstrebte und seine Auffassungen in dem Organ „Die deutsche Kämpferin" artikulierte, kritisierte die staatsoffizielle Frauenpolitik und das ihr zugrunde liegende Leitbild. Bereits am 18. 2. 1933 hatte Sophie RoggeBörner an Hitler und Vizekanzler von Papen eine Denkschrift gerichtet, die die Warnung enthielt, das Dritte Reich als „Männerstaat" aufzubauen. Gefordert wurde u. a. militärische Ausbildung der Frauen und Mädchen. Vgl. Deutsche Frauen an Adolf Hitler, hrsg. von Irmgard Reichenau, Leipzig 1933, S. 11. Sekundiert wurden die frauenrechtlerisch orientierten Faschistinnen von Funktionärinnen des sich im Mai 1933 selbst auflösenden Bundes Deutscher Frauenvereine, die, allen voran Gertrud Bäumer, in der Auseinandersetzung mit der Kampagne zur Verdrängung berufstätiger Frauen aus Wirtschaft, Verwaltung und Wissenschaft vor allem mit den Erfahrungen des ersten Weltkrieges argumentierten.
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Gesetz, wonach das unkündbare Dienstverhältnis verheirateter Reichsbeamtinnen in ein kündbares umgewandelt worden war19, sowie auf zahlreiche Rundschreiben und Verwaltungsanordnungen von Ministerien und anderen Dienststellen, die gesetzlicher Grundlagen entbehrten. 20 Vielerorts übten Dienststellen der NSDAP, der SA und anderer Naziorganisationen Druck auf Behörden, kleine Unternehmer und Geschäftsleute aus, verheiratete Arbeiterinnen und Angestellte zu entlassen und statt ihrer erwerbslose männliche Nazianhänger zu beschäftigen, insbesondere — im Zusammenhang mit einer im Oktober 1933 eingeleiteten „Sonderaktion" — Angehörige sogenannter nationaler Wehrverbände (SS, SA, Stahlhelm). Alle diese Aktivitäten entbehrten nicht des Effekts. Der Anteil der Frauen und Mädchen an der Gesamtzahl der Berufstätigen sank von 36,1 Prozent im März 1933 auf 34,9 Prozent im Juli 1933.21 Bis zum Herbst 1933 entwickelte sich ein deratiges Klima der Diffamierung und Diskriminierung besonders der verheirateten berufstätigen Frauen, daß sich eine gewisse Korrektur des offiziellen Kurses erforderlich machte. Vor allem Beschwerden der Unternehmer, aber auch Proteste aus der Bevölkerung veranlaßten bereits Ende September Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß, in einem Rundschreiben alle Gauleiter der NSDAP „dringend" zu ermahnen, jegliches eigenmächtige Vorgehen von Parteidienststellen gegen die „Doppelverdiener" zu unterbinden. 22 Wenige Tage später wandte sich Reichsinnenminister Wilhelm Frick mit einer ähnlichen Verfügung an die Reichsbehörden, Landesregierungen und Reichsstatthalter gegen die Tendenz, Arbeitsplätze für Beamtinnen, Lehrerinnen und Angestellte rigoros unter Verletzung geltender gesetzlicher Bestimmungen abzubauen. 23 Es folgten eine veröffentlichte Denkschrift des Reichsministers für Arbeit und Wirtschaft, die sogar den Begriff „Doppelverdiener" in Frage stellte, da er außerhalb spezifischer Einkommenskategorien gar nicht exakt definierbar sei24, und im No1:1
21
23
Vgl. RGBl., T. I, 1932, S. 245 f. In Ergänzung dieses Gesetzes verfügte die Hitlerregierung am 30. 6.1933, daß Frauen als planmäßige Reichsbeamtinnen erst mit dem vollendeten 35. Lebensjahr berufen werden sollten. Ebenda, 1933, S. 435. So forderte z. B. der Berliner Oberbürgermeister die städtischen Dienststellen und Betriebe auf, ihm die verheirateten Beamtinnen, Angestellten und Arbeiterinnen zu melden, ferner diejenigen, deren Versorgung durch das elterliche Einkommen gesichert sei, damit ihre Kündigung veranlaßt werden könne. Vgl. Komba-Dienst. Mitteilungsblatt des Verbandes der Kommunalbeamten und -angestellten Preußens e. V., Bezirksgruppe Berlin, 1933, 12, S. 105. Vgl. Reichs-Arbeitsmarktanzeiger, Nr. 18, 22. 9.1933, S. 4. Vgl. Winkler, Frauenarbeit im „Dritten Reich", S. 46. Die Reichsleitung der NSFrauenschaft forderte bereits im Juli 1933 die Gau-Frauenschaftsleiterinnen auf, „Entlassungen von Kreispflegerinnen und Gemeindeschwestern, soweit sie aus Sparsamkeitsgründen vorgenommen werden, nach Möglichkeit zu verhindern bzw. der Reichsleitung mitzuteilen" (Informationsdienst der NS-Frauenschaft, 1933, F. 17, S. 96). Text des Schreibens bei Gersdorff, Ursula V., Frauen im Kriegsdienst 1914—1945, Stuttgart 1969, S. 279 f. (Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd. 11). Reichsarbeitsblatt (im folg.: RAB1.), T. 1,1933, S. 295 f.
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vember 1933 eine grundsätzliche Stellungnahme des Reichskabinetts, worin betont wurde, daß Entscheidungen ausschließlich den Betriebsinhabern bzw. bei Behörden deren Leitern zustünden. Eine gesetzliche Regelung bzw. behördliche Eingriffe in bestehende Arbeitsverhältnisse seien abzulehnen.25 Der faschistische Staat trug mit seiner Kurskorrektur vom Oktober/November 1933 hinsichtlich der Frauenberufsarbeit vor allem den Interessen der Monopole Rechnung, die auf ihre aus billiger Frauenarbeit erwachsenden Extraprofite nicht verzichten wollten, noch viel weniger aber Eingriffe in ihre Personalpolitik zu dulden bereit waren. Namentlich in den Berichten der Gewerbeaufsichtsbeamten — z. B. im preußischen Jahresbericht für 1933 — wurde zum Ausdruck gebracht, daß nur durch den in großem Umfange erfolgenden Fraueneinsatz, d. h. niedrige Lohnkosten, die deutsche Industrie konkurrenzfähig bleiben und ihre Gewinne steigern könne. Außerdem würden Frauen im Akkord bei bestimmten Arbeitsgängen eine höhere Produktivität als Männer erreichen.26 Mitbestimmend für den Kurswechsel war "außerdem die bevölkerungspolitische Überlegung, daß — wie die Denkschrift des Reichsarbeits- und Wirtschaftsministers vom November 1933 betonte — viele Familien nur durch Mitverdienst der Ehefrau begründet bzw. erhalten werden könnten. Warnend hatten zudem „Expertinnen" für Frauenfragen in der faschistischen Bewegung, so die Frauenreferentin des Reichsministeriums und stellvertretende Leiterin des Deutschen Frauenwerks, Paula Sieber von Grote, darauf aufmerksam gemacht, daß ein Frauengeschlecht heranwachsen könne, „das in jungen Jahren durch Entzug der Arbeit enttüchtigt worden ist".27 Nicht zuletzt artikulierte sich in Warnungen dieser Art die Unzufriedenheit vieler berufstätiger Frauen mit der Diskriminierungspolitik. In der Folgezeit gestaltete sich die faschistische Politik in der Frage der Frauenberufsarbeit außerordentlich widerspruchsvoll. Der propagandistische Kampf gegen Frauenberufsarbeit und „Doppelverdienertum" hörte keineswegs auf, und führende Funktionäre des Regimes fuhren fort, das reaktionäre Leitbild von der Frau am häuslichen Herd zu verkünden, in der Praxis aber wurde mehr und mehr auch die Berufsarbeit von Ehefrauen toleriert. Das Interesse des Kapitals wurde dafür um so mehr bestimmend, als die ökonomische Konjunktur und mit ihr verbunden die forcierte Kriegsvorbereitung einsetzte. Zwar sank der prozentuale Anteil der Frauen unter den Industriearbeitern von 29,3 Prozent im Jahre 1933 auf 24,7 Prozent 193628, aber absolut stieg sowohl die Zahl der Arbeiterinnen in der Industrie als auch die der berufstätigen Frauen im allgemeinen. Die Krankenkassen zählten am 28. Februar 1934 9 389 000 männliche und 4 579 000 weibliche beschäftigte Arbeiter und Angestellte; bereits am, 30. April 1934 betrug die Relation 10 434 000 : 4 898 000.29 Erst 1938 > Die Frau, 40, 1933, S. 182. -u Vgl. Winkler, Frauenarbeit im „Dritten Reich", S. 46. Sieber, Paula, Die Frauenfrage und ihre Lösung durch den Nationalsozialismus, Berlin 1933, S. 12. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, hrsg. vom Statistischen Reichsamt, 56, Berlin 1937, S. 344. ™ Die Frau, 41, 1934, 10, S. 755.
2:
21 J a h r b u c h 24
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wurde der Grad der Frauenbeschäftigung aus dem Jahre 1929 wieder erreicht. 30 Das langsame, doch relativ stetige Anwachsen der Frauenberufsarbeit im Prozeß von ökonomischer Konjunktur und forcierter Aufrüstung in den Jahren bis zum Kriegsausbruch war mit einer politisch-ideologisch gesteuerten Umstrukturierung der weiblichen Beschäftigten verbunden. Generell wurde vom Staat, der NSDAP und anderen faschistischen Organisationen die Tendenz verfolgt, Frauen aus qualifizierten beruflichen Tätigkeiten und Dienststellen zu verdrängen und mit den so gewonnenen Arbeitskräften gleichzeitig Beschäftigtenmangel in der Landwirtschaft zu beheben, was mit dem Schlagwort von der „natur- und artgemäßen Frauenarbeit" gerechtfertigt wurde. Die Schulen und Arbeitsämter waren vor allem 1934/35 bestrebt, Mädchen bei der Schulentlassung in haus- und landwirtschaftliche Berufe zu vermitteln, nachdem die 1933/34 unternommenen Versuche, erwerbslose Industriearbeiterinnen und Angestellte dafür zu gewinnen, im wesentlichen gescheitert waren. In diesem Zusammenhang wurde Anfang 1934 der Deutsche Frauenarbeitsdienst — als Teil des allgemeinen Arbeitsdienstes — geschaffen. Geleitet von der späteren „Reichsfrauenführerin" Gertrud Scholtz-Klink, dann unmittelbar dem „Reichsarbeitsführer" Konstantin Hierl unterstellt, stand im Mittelpunkt seiner Aufgaben: Erziehung der Mädchen zur Hausfrau, Ausbildung sogenannter Siedlerfrauen, Gewinnung von Mädchen aus der Stadt für die Arbeit in der Landwirtschaft — all dies verbunden mit massiver ideologischer Beeinflussung im Sinne der „nationalsozialistischen Weltanschauung". Pläne für einen Frauenarbeitsdienst hatte bereits die bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland vor dem ersten Weltkrieg entwickelt. Im Jahre 1934 gingen etwa 18 000 Mädchen durch die Lager des Frauenarbeitsdienstes 31 , eine vergleichsweise geringe Zahl, die sich jedoch im Zuge des weiteren Ausbaus der Institutionen in den folgenden Jahren rasch erhöhte. Im Juni 1935 verfügte die Hitlerregierung in dem von ihr erlassenen Reichsarbeitsdienstgesetz auch für die weibliche Jugend 32 die förmliche Arbeitsdienstpflicht, wobei gleichzeitig die Vorschriften dafür bestimmten gesetzlichen Regelungen vorbehalten wurden. Auf der gleichen Linie lagen die Pläne und Praktiken des sogenannten Pflichtjahres für Mädchen. Mit seiner Einführung durch eine Anordnung Görings, des Reichsbeauftragten für den Vierjahresplan, vom 15. Februar 1938 sollte ebenfalls primär zur Behebung des Arbeitskräftemangels in der Landwirtschaft — vor allem unter rüstungswirtschaftlichen Gesichtspunkten — beigetragen werden. Die Anordnung verfügte, daß ledige Frauen unter 25 Jahren, die Arbeit in der Textil-, Konfektions- und Tabakindustrie oder in Angestelltenberufen au vgl. Wussow, Rosemarie, Die Gestaltung des Arbeitseinsatzes in der deutschen Kriegswirtschaft, handelspolit. Diss. Königsberg 1941, Bl. 114 (MS). 31 6i
Vgl. Die Frau, 42, 1935, 5, S. 315. Vgl. RGBl., T. I, 1935, S. 769. 1939 erreichte der weibliche Arbeitsdienst die Zahl[ von Gertrud, Reichs40 000 sogenannten Arbeitsmaiden. Vgl. Schwerdtfeger-Zypries, arbeitsdienst für die weibliche Jugend, Berlin 1941, S. 16 (Schriften der deutschen Hochschule für Politik, T. II, H. 17).
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suchten, zuvor ein Jahr in der Landwirtschaft oder als Hausangestellte (bzw. zwei Jahre als Hilfsschwestern oder Sozialbeamtinnen) tätig sein sollten.33 Vor allem die in die Landwirtschaft vermittelten „Pflichtjahrmädel" — in der Zeit von März 1939 bis Ende Januar 1940 insgesamt 116 672 34 — wurden auf den Gütern der Großgrundbesitzer und in großbäuerlichen Höfen einer schrankenlosen Ausbeutung unterworfen. Viele Eltern versuchten deshalb, ihre Töchter während des „Pflichtjahres" in Haushalten von Bekannten unterzubringen. Die Aufnahme einer beruflichen Ausbildung war aber in jedem Falle verzögert. Damit erwies sich das Pflichtjahr als Diskriminierungsmaßnahme gegenüber berufswilligen Mädchen. Diskriminierend war auch die faschistische Politik im Mädchenschulwesen sowie gegenüber den Studentinnen und der weiblichen Intelligenz. Das höhere Mädchenschulwesen wurde 1933/34 durch Personalabbau unter den Lehrkräften, durch Reduzierung der Zulassung von Mädchen, durch den Abbau der Oberstufe an einer Reihe von höheren Mädchenschulen (Ersetzung des Abiturs durch eine Reifeprüfung, die nicht zum Studium berechtigte) sowie durch eine u. a. mittels Lehrplanänderungen herbeigeführte allgemeine Niveausenkung des Unterrichts systematisch dem Verfall preisgegeben.35 Die Lehrerinnen der Mädchenschulen wurden, ungeachtet der Propagandathese, daß der Lehrerinnenberuf ein „artgemäßer" Frauenberuf war, im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die „Doppelverdiener" in großem Umfange entlassen. Für 26 000 Referendarinnen und Studienassessorinnen sowie 3 000 noch studierende Lehramtskandidatinnen, die im Mai 1935 in Preußen auf eine Studienratsstelle warteten, bestand keine Aussicht auf eine Anstellung. Deshalb wurde ihnen der Rat erteilt, sich bei der NS-Frauenschaft oder der Arbeitsfront zu bewerben.36 Bis Anfang 1935 waren von 355 öffentlichen höheren Mädchenschulen in Preußen 15 beseitigt.37 Insgesamt sank die Zahl der Schülerinnen an den deutschen Gymnasien von 255 234 im Jahre 1931 auf 187 809 im Jahre 1940.38 Im Hochschulwesen sorgte bis 1939 ein Numerus clausus für den Rückgang des Frauenstudiums. Durch das Gesetz gegen die Überfüllung der deutschen Hochschulen vom 25. April 1933 wurde der Anteil der Studentinnen auf zehn Prozent der Gesamtzahl der Studierenden beschränkt.39 Dieses Vorgehen wurde von der Nazipropaganda sogar mit der „Fortpflanzungstauglichkeit der intel-, lektuellen Frau" begründet sowie mit der Losung „Die Hochschule gehört den Männern!" gerechtfertigt. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Immatrikulationen der deutschen Universitäten 1933 bis 1939 generell eine rückläufige Vgl. RAB1., T. I, S. 46. Ab 1. 1. 1939 wurden alle Frauen, die bis 1. 3. 1938 nicht in einem Lehr- oder Arbeitsrechtsverhältnis gestanden hatten, der Ableistung des „Pflichtjahres" unterworfen. Vgl. Soziale Praxis, 48,1939, Sp. 81. Vgl. Melzer, S. 155. ö:' Vgl. Mitzenheim, S. 173 ff. 38 Vgl. Winkler, Frauenarbeit im „Dritten Reich", S. 51. 3V Deutsche Mädchenbildung, 11, 1935, 2, S. 92 ff. Vgl. Eilers, Rolf, Die nationalsozialistische Schulpolitik. Eine Studie zur Funktion der Erziehung im totalitären Staat, Köln/Opladen 1963, S. 19 (Staat und Politik, Bd. 4). RGBl., T. I, 1933, S. 225. 33
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Tendenz aufwiesen. Bei den Frauen sank die Ziffer zwischen den Sommersemestern 1933 und 1939. von 16 220 auf 5 777.40 Auf die vielfältigen Diskriminierungsmaßnahmen gegenüber den Angehörigen der weiblichen Intelligenz — Hochschullehrerinnen, Ärztinnen, Juristinnen — sei hier nicht weiter eingegangen. Für sie erhöhte sich nach der Errichtung der faschistischen Diktaktur in starkem Maße die soziale Unsicherheit. Mehr noch als die Frauen in weniger qualifizierten Berufen waren sie von Entlassungen bedroht, wobei die seit etwa 1931 drastisch zutage getretene AkademikerArbeitslosigkeit wesentliche Voraussetzungen für frauenfeindliche Stimmungen unter ihren männlichen Kollegen geschaffen hatte, die auf Entscheidungen und Empfehlungen von Behörden, faschistisch geführten Berufsorganisationen oder Dienstvorgesetzten nicht ohne Einfluß waren. Die Zulassung zu beruflicher Tätigkeit und weiterer Qualifizierung sowie der Zugang zu höheren Dienststellungen wurden diesen Frauen auf mannigfaltige Weise erschwert, wenn nicht sogar unmöglich gemacht. 41 In dem Maße, wie sich die Arbeitslosigkeit verringerte, wurde die faschistische Politik der Verdrängung weiblicher Arbeitskräfte aus dem Wirtschaftsleben gegenstandslos. Mehr noch: der Aufrüstungskurs, der 1935/36 mit der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht und der Verkündung des Vierjahrplanes in ein neues Stadium trat, veranlaßte das Regime, seine Frauenpolitik verstärkt darauf zu orientieren, die Arbeitskraft von Millionen Frauen und Mädchen in den Dienst der Kriegsvorbereitungen zu stellen. Mit dem Wehrgesetz vom 21. Mai 1935 wurde die juristische Grundlage für eine allgemeine Dienstverpflichtung der Frauen im Kriege geschaffen.42 Unter strengster Geheimhaltung wertete bis Herbst 1937 der Wirtschaftsstab des Reichskriegsministeriums Akten und Berichte über den Fraueneinsatz im ersten Weltkrieg aus und erarbeitete Vorschläge für den kommenden Krieg. Sie sahen vor: 1. die 'lU Vgl. Schnelle, Gertrude, Zur Geschichte des Frauenstudiums in Deutschland bis 1945, Berlin 1971, S. 32 (Informationen und Studien zur Hochschulentwicklung, Nr. 22). Siehe hierzu auch Soden, Kristine von, Zur Geschichte des Frauenstudiums, in: 70 Jahre Frauenstudium. Frauen in der Wissenschaft, hrsg. von Kristine von Soden und Gaby Zipfel, Köln 1979, S. 26 ff. (Kleine Bibliothek, Bd. 148). 41 Charakteristisch für die frauenfeindliche Haltung der faschistisch geführten Standesorganisationen war z. B., daß der Reichsverband angestellter Ärzte und Apotheker im Mai 1934 die weiblichen Mitglieder aus seinen Reihen ausschloß. Die 1933 erlassene Kassenzulassungsordnung enthielt eine Berufsverbotsklausel für verheiratete Ärztinnen in der Kassenpraxis, so daß sich die Zahl der praktizierenden Kassenärztinnen in Deutschland bis 1934 um etwa 600—700 verminderte (vgl. Die Frau, 41, 1934, 10, S. 756). Frauendiskriminierende Festlegungen enthielt auch die 1934 erlassene Justizausbildungsordnung. Ab Ende 1935 konnten Juristinnen nicht mehr als Rechtsanwältinnen praktizieren, ab 1936 auch nicht mehr als Richter oder Staatsanwälte, nachdem sie bereits 1934 zur Spruchpraxis nicht mehr zugelassen worden waren. Für weibliche Beamte galt nach dem Deutschen Beamtengesetz vom 26.1.1937 wieder das durch die Weimarer Verfassung aufgehobene Zölibatsprinzip. Es wurde erst 1940 wieder beseitigt (vgl. RGBl., T. 1,1940, S. 732). « Vgl. ebenda, 1935, S. 609.
Faschistische Frauenpolitik
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Erfassung aller arbeitsfähigen Frauen in einem „Nationalregister"; 2. die Prüfung von Möglichkeiten verstärkten Fraueneinsatzes in den Betrieben und die Eintragung des Bedarfs in den „Mobilmachungsbetriebskalender"; 3. den Ausbau des Frauen-Arbeitsschutzes und die Durchführung betrieblicher Rationalisierungsmaßnahmen, um verstärkt Frauenarbeit zum Einsatz bringen zu können; 4. die Schaffung eines „industriellen Reservekorps" aus sozialpflegerisch tätigen Frauen, die im Kriegsfalle in Betrieben Ausbildungsfunktionen wahrnehmen sollten.43 Bereits Ende 1935 erschien — bezeichnenderweise mit einem Geleitwort des Reichskriegsministers Werner von Blomberg — ein umfangreicher Bericht von Marie-Elisabeth Lüders, einer führenden Funktionärin des Bundes Deutscher Frauenvereine, über den Fraueneinsatz während des ersten Weltkrieges, der die Erfahrungen des „Nationalen Frauendienstes" und des Frauenreferates in General Groeners Kriegsamt verarbeitete/*4 Im Frühjahr 1936 beschäftigte sich die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung mit „Kriegsbeorderungen von Frauen im Mobilmachungsfalle". Auch die NS-Frauenschaft verfügte bereits über allgemeine Richtlinien für dieses Aufgabengebiet, und der Chef des Wehrmacht-Wirtschaftsstabes, Oberst Georg Thomas, erklärte in einer Rede vor der Reichsarbeitskammer im November 1936 u. a. die Ausbildung von Facharbeiterinnen für notwendig 45 Dieser konzeptionellen Grundlage entsprechend, die auf der Theorie vom „totalen Krieg" fußte, erfolgte ab 1936, zum Teil in erheblichem Widerspruch zu bisherigen Thesen der Nazipropaganda, auch eine sichtliche ideologische Aufwertung der Frauenberufsarbeit. Zahlreiche Publikationen verwiesen Bedenken gegen den totalen Einsatz der Frau in der Rüstungswirtschaft in die „Großväterzeit". 46 Frauen galten nun für vielseitig beruflich einsetzbar. Bevölkerungsstatistiker betonten, daß auch bei zunehmender Frauenberufstätigkeit die Geburtenziffer nicht notwendigerweise rückläufig sein müsse. Unternehmer wurden aufgefordert, in ihren Betrieben die technischen Vorbereitungen für erweiterten Einsatz von Frauenarbeit zu treffen. Namentlich bei der Modernisierung von Werksanlagen, der Anschaffung neuer Maschinen usw. sollte dieser Gesichtspunkt berücksichtigt werden. 47 Auch das faschistische Leitbild der Mädchenerziehung erfuhr in diesem Zusammenhang eine Modifikation. „Wer heute seiner Tochter keine geschlossene Vgl. Winkler, Frauenarbeit im „Dritten Reich", S. 83 f. Vgl. Lüders, Marie-Elisabeth, Das unbekannte Heer. Frauen kämpfen für Deutschland 1914—1918. Mit einem Geleitwort des Reichskriegsministers und Oberbefehlshabers der Wehrmacht, Generalfeldmarschall von Blomberg, Berlin 1935 (19372). M. E. Lüders war 1957 bis 1961 als Vertreterin der FDP Alterspräsidentin des Bundestages der BRD. is Vgl. Winkler Frauenarbeit im „Dritten Reich", S. 83. 'Jö Vgl. Sonnemann, Theodor, Die Frau in der Landesverteidigung. Ihr Einsatz in der Industrie, Oldenburg i. O./Berlin 1939, S. 137. Vgl. Bramesfeld, E., Frauenarbeit in der Industrie, in: Werkstattechnik und Werkleiter, Zeitschrift für Werkanlage, Fertigung und Betriebsführung, 31, 1937, 15, S. 335. v