Jahrbuch für Geschichte: Band 21 [Reprint 2021 ed.]
 9783112530368, 9783112530351

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JAHRBUCH FÜR GESCHICHTE

A K A D E M I E DER W I S S E N S C H A F T E N DER DDR Z E N T R A L I N S T I T U T FÜR G E S C H I C H T E

J A H R B U C H FÜR GESCHICHTE

Redaktionskollegium: Horst Bartel, Rolf Badstübner, Lothar Berthold, Ernst Engelberg, Heinz Heitzer, Fritz Klein, Dieter Lange, Adolf Laube, Walter Nimtz, Wolfgang Rüge, Heinrich Scheel, Hans Schleier, Wolfgang Schröder Redaktion: Wolfgang Schröder (Verantwortlicher Redakteur), Gunther Hildebrandt (Stellv.), Dietrich Eichholtz, Jutta Grimann, Gerhard Keiderling, Klaus Mammach, Hans Schleier

JAHRBUCH FÜR GESCHICHTE

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AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1980

Redaktionsschluß: 30. März 1979

Erschienen im Akademie-Verlag, D D R - 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1980 Lizenznurrlmer: 202 • 100/92/80 Gesamtherstellung: V E B Druckhaus „Maxim Gorki", 74 Altenburg Bestellnummer: 753 7 1 2 0 (2130/21) • L S V 0265 Printed in G D R ' DDR 2 5 , - M

Inhalt

Harald Müller

Günter Mühlpfordt Helmut Bleiber

Roland Zeise Wolfgang Schröder

Joachim Petzold

Klaus Sohl

Peter Kircheisen

Roswitha Nagel

Jozef Hroziencik

Autorenverzeichnis

Der Weg nach Münchengrätz. Voraussetzungen, Bedingungen und Grenzen der Reaktivierung des reaktionären Bündnisses der Habsburger und Hohenzollern mit den Romanows im Herbst 1833 Karl Hagen. Ein progressiver Historiker im Vormärz über die radikale Reformation

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Die Haltung von Gutsherren, Behörden und Bürgertum zur revolutionären Bewegung der schlesischen Bauern und Landarbeiter im Frühjahr 1848 - Reaktionen und Reflexionen 103 Der Kongreß deutscher Volkswirte und seine Rolle beim Abschluß der bürgerlichen Umwälzung (1858-1871) . . 147 Der „Berliner Entwurf" des Vereinigungsprogramms von 1875 und seine Stellung im Vereinigungsprozeß von SDAP und ADAV. Die erste Fixierung der Programm- und Organisationsvorstellungen für eine vereinigte Arbeiterpartei vom Januar 1875 (mit einem Dokumentenanhang) 169 Claß und Hitler. Uber die Förderung der frühen Nazibewegung durch den Alldeutschen Verband und dessen Einfluß auf die nazistische Ideologie (mit einem Dokumentenanhang) Entstehung und Verbreitung des Braunbuchs über Reichstagsbrand und Hitlerterror 1933/1934 (mit drei bibliographischen Übersichten) Zur militär- und außenpolitischen Programmatik der Sozialistischen Arbeiter-Internationale. Kontroversen und Wandlungen zwischen 1933 und 1939 Der Bestand Preußisches Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten im Zentralen Staatsarchiv, Dienststelle Merseburg. Eine Bestandsanalyse Entwicklung und Tätigkeit des Instituts für Geschichte der europäischen sozialistischen Länder bei der Slowakischen Akademie der Wissenschaften

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399 420

Abkürzungen

BzG GdA IML/CPA

Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Berlin Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Berlin 1966 Institut f ü r Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU, Moskau, Zentrales Parteiarchiv IML/ZPA Institut f ü r Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin, Zentrales Parteiarchiv JbfW Jahrbuch f ü r Wirtschaftsgeschichte, Berlin JbGUdSSR Jahrbuch f ü r Geschichte der UdSSR und der volksdemokratischen Länder Europas, Berlin JfG Jahrbuch f ü r Geschichte, Berlin MEW Marx/Engels, Werke, Berlin 1956 ff. WZ Wissenschaftliche Zeitschrift ZfG Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Berlin ZStAM Zentrales Staatsarchiv der DDR, Merseburg ZStAP Zentrales Staatsarchiv der DDR, Potsdam Die Werke Lenins werden nach der 40bändigen Ausgabe des Dietz Verlages, Berlin 1956-1969, zitiert.

Harald

Müller

Der Weg nach Münchengrätz. Voraussetzungen, Bedingungen und Grenzen der Reaktivierung des reaktionären Bündnisses der Habsburger und Hohenzollern mit den Romanows im Herbst 1833

Am 31. Juli 1831 sandte der österreichische Staatskanzler dem preußischen König die Denkschrift „Über die dringende Notwendigkeit eines Einverständnisses der Höfe von Preußen, Rußland und Österreich". Sie bezweckte, die drei Mächte wieder zu einem einheitlich handelnden konterrevolutionären Block zusammenzuführen. 1 Anlaß waren die von der französischen Julirevolution ausgelösten revolutionären Bewegungen in weiten Teilen Europas, die das 1815 errichtete System der Heiligen Allianz erschütterten sowie bürgerliche und nationalrevolutionäre Kräfte stärkten und ermutigten. Metternich ging es um die Versäumnisse des letzten Jahres. Dazu rechnete er die Ablehnung seines im August 1830 eingebrachten Vorschlages, durch ein gemeinsames Aktionszentrum eine schnelle Verständigung der drei Höfe in internationalen Fragen zu erreichen 2 und - damit kam der Staatskanzler auf eine Kernfrage 3 - dem von der französischen Revolutionsregierung proklamierten Prinzip der Nicht-Intervention 4 eine Gegenerklärung entgegenzustellen. Das sollte jetzt endlich nachgeholt und den drei Kabinetten Gelegenheit gegeben werden, ihre Ansichten zu vereinigen und den Gang ihrer Politik zu koordinieren. Der Zeitpunkt f ü r diese Initiative war genau berechnet, österreichische Truppen hatten gerade revolutionäre Erhebungen in Italien niedergeschlagen, während der polnische Novemberaufstand nach der Schlacht von Ostrolenka am Zusammenbrechen war. 5 Damit konnte von Rußland und dem Habsburgerreich 1

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Vgl. Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien (im folgenden: HHSTA Wien), Staatskanzlei, Preußen, Corresp., Fasz. 142, Bl. 5 ff. Vgl. hierzu Srbik, Heinrich von, Metternich. Der Staatsmann'und der Mensch, Bd. 1, München 1925, S. 656. Vgl. dazu Müller, Harald, Die Krise des Interventionsprinzips der Heiligen Allianz. Zur Außenpolitik Österreichs und Preußens nach der Julirevolution von 1830, in: JfG, Bd. 14, 1976, S. 9 ff. Vgl. zur Entstehung des Prinzips der Nicht-Intervention Mémoires du Prince de Talleyrand, T. 3, Paris 1891, S. 338 f.; Stern, Alfred, Geschichte Europas seit den Verträgen von 1815 bis zum Frankfurter Frieden von 1871, Bd. 4, Stuttgart/Berlin 1905, S. 120. Vgl. Arnold, StanislawjZychowski, Marian, Abriß der Geschichte Polens, Warschau 1967, S 103.

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Harald

Müller

die unmittelbare Bedrohung ihres Macht- und Herrschaftssystems abgewendet und ihre vorübergehend ins Wanken geratene Herrschaft über Polen und Italien wieder gefestigt werden.6 Jetzt war Metternich entschlossen, durch eine Reaktivierung des konterrevolutionären Bündnisses mit Preußen und Rußland, das sich seit der krisenhaften Zuspitzung in der Orientfrage 7 und infolge des gespannten Verhältnisses der drei Mächte in Zoll- und Handelsfragen bedenklich gelockert hatte, wieder zur Offensive überzugehen. Indem die Kabinette das in Troppau verkündete Interventionsprinzip8 anwandten, sollten weitere Einbrüche in die 1815 über Europa aufgerichtete politische Ordnung verhindert werden. Durch eine enge Koordinierung der Außenpolitik Österreichs und Preußens mit dem zaristischen Rußland als dem stärksten Rückhalt der aristokratisch-monarchistischen Reaktion in Europa suchte der österreichische Staatskanzler den politischen Erschütterungen in Europa entgegenzuwirken. Aber die enge Verbindung zu Rußland sollte ihm auch dazu verhelfen, das Staatsgebiet Österreichs und dessen weiteren Einflußbereich in Italien und Süddeutschland vor weiteren sozialen und politischen Gefährdungen abzuschirmen. Ein Bericht des sächsischen Gesandten in Wien aus dem Frühjahr 1831 deutete in diesem Zusammenhang auch die Absicht Wiens an, einen Teil der russischen Armee bei der Unterdrückung von Unruhen in den Staaten des Deutschen Bundes zur Hilfe heranzuziehen.9 Daß die Initiative zu einer Reaktivierung des Bündnisses zwischen Österreich, Preußen und Rußland gerade von Metternich ausging, lag vor allem in der inneren Schwäche der Habsburgermonarchie begründet, die auf die Hilfe äußerer Kräfte angewiesen war. 10 Das wurde auch an ihrer ungünstigen Finanzsituation deutlich, die allein 1831 die Aufnahme zweier Anleihen bei den großen Wiener Bankhäusern im Umfange von 88 Millionen Gulden erforderlich gemacht hatte. Die zu einer ständigen Potenzierung der österreichischen Staatsverschuldung führende Anleihewirtschaft war eine direkte Folge der Politik der Wiener Hofburg, die sich völlig der Unterdrückung und Zurückdrängung der bürgerlichen und nationalrevolutionären Bewegungen verschrieben hatte.11 Die ersten Anfänge dieser Metternichschen Initiative gehen nach dem Scheitern des Karlsbader Versuchs bereits auf den Dezember 1830 zurück. Erschreckt durch die möglichen Auswirkungen des von der französischen Regierung arti6

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Auf diesen Zusammenhang hat bereits Johann Georg August Wirth in der in München erscheinenden Zeitung „Das liberale Deutschland" vom 23. 8. 1831 hingewiesen. Vgl. dazu Srbik, S. 636, sowie Müller, S. 17. Vgl. hierzu Unter den Hohenzollern. Denkwürdigkeiten aus dem Leben des Generals Oldwig von Natzmer, hrsg. von Gneomar Ernst von Natzmer. Aus der Zeit Friedrich Wilhelm III., T. 1, Gotha 1887, S. 24. Vgl. Staatsarchiv Dresden, Außenministerium Nr. 3149, Bl. 221. Vgl. dazu die Bemerkungen von Andics, Erzsebet, Die Habsburger und die Frage der Zarenhilfe gegen die Revolution. (Vom Münchengrätzer Abkommen bis zum Mai 1849), Budapest 1960, S. 5. Vgl. hierzu Müller, S. 54 f.

Der W e g nach Münchengrätz

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kulierten und von der demokratischen Öffentlichkeit in Paris unterstützten Prinzips der Nicht-Intervention, wurde der österreichische Staatskanzler zum Handeln angetrieben. Metternich charakterisierte dieses Prinzip als „befremdliche Prätention" der französischen Regierung, „ein neues Völkerrecht einzuführen, von dem man nie zuvor reden gehört und das einfach der Umsturz aller bestehenden Regeln der europäischen Politik" sei.12 Als Gegenaktion schlug er einen Kongreß der drei Kontinentalmächte vor, um ein „System [zu] konzertieren, welches zugleich die Erhaltung des politischen Friedens in Europa auf eine Reihe von Jahren hinaus garantieren und der weiteren Verbreitung der revolutionären Pest Schranken setzen könne". Damit sollte vor allem das Prinzip der Nicht-Intervention bekämpft und unwirksam gemacht werden.13 Im Februar 1831 hatte Metternich versucht, den Petersburger Hof für seinen Plan zu gewinnen.14 Dabei stand er deutlich unter dem Eindruck der Rückschläge, die die durch ihn personifizierte Ordnung seit der Julirevolution hatte erdulden müssen. Deutlich offenbart dies auch sein Verhalten anläßlich der österreichischen Interventionen in Modena, Parma und in den Legationen. Aus der Erklärung des österreichischen Hofes über diese Intervention15 wurde die Stelle gestrichen, in der Gentz in vorsichtiger Form das Interventionsprinzip dieser Aktion zugrunde gelegt hatte.16 Und Gentz' Forderung vom März 1831, daß jeder Souverän „auch ohne Traktate, Familien-Verhältnisse und ohne Reklamation des beteiligten Regenten" das Interventionsprinzip anwenden dürfe17, war lediglich eine theoretische Erwägung. Solange seine Armee in Polen noch beschäftigt blieb, war der Zar nicht bereit, auf Metternichs Konferenzvorschlag und auf eine Prinzipienerklärung über das Interventionsrecht einzugehen.18 Um so nötiger erschien Metternich eine schnelle Verständigung mit Preußen. Er benutzte dazu seine engen Verbindungen mit dem in Berlin über einen bedeutenden Einfluß gebietenden Fürsten Wittgenstein. Schon vor der Übersendung seines Memorandums vom 31. Juli hatte er Wittgenstein die Lage in düsteren Farben gemalt, um seinen Vorschlägen den nötigen Nachdruck zu verleihen.19 Und auch bei der im September eingeleiteten Entsendung des Generals Clam-Martinitz als Militärbevollmächtigten nach Berlin20, die der Vor12

Zitiert nach Hillebrand,

Karl, Geschichte Frankreichs 1830-1871, T. 1, Gotha 1877,

S. 149. 13

Zitiert aus dem Tagebuch von Friedrich Gentz. Vgl. Aus dem Nachlasse

Friedrichs

von Gentz, Bd. 1, W i e n 1867, S. 119. 14

Mitgeteilt von Obermann,

Karl, Unveröffentlichte Materialien zur Diplomatie M e t -

ternichs 1821-1848, in: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs, Bd. 19, 1966, S. 231. 15

Vgl. österreichischer

16

Vgl. Schriften

Beobachter, 13. 3. 1831.

von Friedrich

von Gentz, T. 5, Mannheim 1840, hrsg. von G. Schle-

sien S. 183. 17

Vgl. ebenda, S. 181.

18

Vgl. dazu Istorija diplomatii, Tom I, Moskau 1959, S. 557.

19

Geheimes Staatsarchiv

(West-)Berlin, Preußischer Kulturbesitz

(im folg.:

GStA),

Rep. 192 Wittgenstein, VI/3.1, 2, 3, Bl. 26, Metternich an Wittgenstein, 20. 7. 1831. 20

Z u dieser Sendung vgl. Schiemann,

Theodor,

Nikolaus I., Bd. 3: 1830-1840, Berlin 1913, S. 169.

Geschichte Rußlands unter

Kaiser

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Harald

Müller

bereitung der dann 1832 beschlossenen Maßnahmen zur Unterdrückung der deutschen Oppositionsbewegung21 diente22, wiederholte der österreichische Staatskanzler seine dringenden Vorstellungen, endlich in den großen politischen Prinzipienfragen zu einer Verständigung zu kommen.23 Damit sollte auch jene Gruppierung am Berliner Hof unterstützt werden, die sich auf ein unbedingtes Zusammengehen mit ihm festgelegt hatte, um jener Tendenz entgegenzuwirken, die das Pariser Kabinett am 28. Mai mit den Worten umschrieb, daß es Preußen in der letzten Zeit verstanden habe, sich aus allen Problemen herauszuhalten, die es nicht direkt beträfen.24 Diese „moderatistische" Richtung wurde in erster Linie von dem damaligen preußischen Außenminister Christian Günther Grafen von Bernstorff getragen25, den der Generaladjutant Friedrich Wilhelms III., General Job von Witzleben, unterstützte. Bernstorff wurde von Metternichs diplomatischem Vertreter in Berlin als eine Persönlichkeit charakterisiert, die „Einflüsterungen einer . . . Partei" Gehör gab, „welche die Größe Preußens in seiner gänzlichen Trennung von Österreichs konservativen Ansichten und in der Annahme einer Politik erblickt, wodurch Preußen an die Spitze Deutschlands unter der Bedingung gestellt würde, daß es die Einführung eines neuen Bundesverhältnisses mit einem durchaus liberalen Lebensprinzip zu übernehmen hätte".26 An dieser Charakteristik, in der sich deutlich das Wiener Unbehagen am Fortgang der preußischen Zollvereinspolitik widerspiegelt, für die man vor allem Bernstorff verantwortlich machte, ist gewiß soviel richtig, daß Bernstorff den Sonderinteressen Preußens in der deutschen und europäischen Politik bei aller grundsätzlichen Billigung der konterrevolutionären Repressionspolitik in gewissem Maße stärker Ausdruck zu geben versuchte, als das Metternich und den auf ihn eingeschworenen führenden Repräsentanten der Adelsklasse in Preußen lieb sein konnte. So falsch es wäre, diese graduellen Unterschiede zwischen der von Bernstorff angestrebten Linie in der preußischen Außenpolitik nach der Julirevolution - soweit sie nicht das Verhältnis zu Polen als Dreh- und Angel21

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Vgl. Klassenkampf, Tradition, Sozialismus. Von den Anfängen der Geschichte des deutschen Volkes bis zur Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik. Grundriß, Berlin 1974, S. 226. Metternichs Memorandum vom 9.10.1831 besagte, daß die Bewegungsfreiheit vieler deutscher Fürsten wiederhergestellt werden müsse. Alle Verfügungen einzelner deutscher Staaten, die mit den Bundesbegriffen und Bundesgesetzen in Widerspruch stünden, müßten als ungültig betrachtet werden. Österreich und Preußen sollten bereit sein, den durch die Oppositionsbewegung in Süddeutschland bedrängten Fürsten zu „helfen". HHSTA Wien, Staatskanzlei, Preußen Karton 206. GStA (West-)Berlin, Rep. 192 Wittgenstein, VI/3. 1, 2, 3, Bl. 54, Metternich an Wittgenstein, 5. 9. 1831. Roghe, Dieter, Die französische Deutschland-Politik während der ersten zehn Jahre der Julimonarchie (1830-1840), Würzburg 1971, S. 56. Zu Bernstorff, der seit 1818 in preußischen Diensten stand, vgl. Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 2, Leipzig 1875, S. 494 ff. HHSTA Wien, Staatskanzlei, Preußen, Corresp., Fasz. 143 a, Bl. 379 f., Trauttmansdorff an Metternich, 15. 5.1832.

Der Weg nach Münchengrätz

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punkt der Politik der Kernmächte der Heiligen Allianz27 betraf - und der von Österreich, das eine besonders brutale Unterdrückungspolitik betrieb, zu überschätzen, ebenso unzutreffend erscheint es andererseits, sie unbeachtet zu lassen. In dem aus Dänemark stammenden Bernstorff verkörperte sich jene Tendenz der preußischen Politik, die sich bei aller Fortschrittsfeindlichkeit unter dem Druck einer entwickelteren Bourgeoisie28 gezwungen sah, den Erfordernissen der kapitalistischen Entwicklung einen größeren Spielraum zu geben, als das für Österreich und Rußland zutraf.29 Und das war der Grund, weshalb sie von einer einflößreichen Gruppe des preußischen Adels erbittert bekämpft wurde. Bernstorff war nicht bereit, mit militärischen Mitteln gegen Frankreich vorzugehen, weil er es für gefährlich hielt, Streitkräfte, die zu einer Unterdrückung innerer Aufstände dienen konnten, an anderer Stelle einzusetzen. Im übrigen bezweifelte Bernstorff, ob die öffentliche Meinung in Deutschland für ein präventives Vorgehen gegen Frankreich zu gewinnen sei.30 Und auch in einer anderen Denkschrift hatte man Anfang 1831 konstatiert, daß die Ursachen für die bisher zurückhaltend agierende preußische Außenpolitik darin zu sehen wären, daß „in der Mehrzahl der Mittelklasse . . . der erste Ausbruch des revolutionären Prinzips (durch die Julirevolution - H. M.) . . . einen lebhaften Beifall" gefunden hätte. Diese Stimmung aber hätte Preußens Handlungsfreiheit eingeschränkt: „Denn die Stimmung, mit welcher die Waffe geschwungen wird, gibt ihr die Kraft." 31 Das verdeutlicht, daß sich realistisch denkende preußische Politiker wie Bernstorff gezwungen sahen, eine von der Bourgeoisie getragene öffentliche Meinung zu berücksichtigen, die ihre Sympathien für die durch die Julirevolution in Frankreich begründete großbürgerlich-liberale Ordnung nicht verhehlte. Nur in einer engen Anlehnung an Metternich sah dagegen der 1831 nach einer schweren Erkrankung des preußischen Außenministers zum Staatssekretär der auswärtigen Angelegenheiten berufene Johann Peter Friedrich Ancillon32, der 27

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Vgl. Marx, Karl/Engels, Friedrich, Die Polendebatte in Frankfurt, in: MEW, Bd. 5, S. 332. Vgl. dazu die bekannte Denkschrift Hansemanns „Über Preußens Lage und Politik am Ende des Jahres 1830", die den utopischen Versuch unternahm, Friedrich Wilhelm III. für ein konstitutionelles System zu gewinnen. Vgl. Obermann, Karl, Deutschland von 1815 bis 1849, Berlin 1961, S. 76. Zugleich begann die bürgerliche preußische Presse nach der Julirevolution auch auf dem Gebiet der Außenpolitik deutlich eigene Zielvorstellungen zu artikulieren. Allgemeine Zeitung, Nr. 108, 26. 3. 1831. Vgl. Klassenkampf, Tradition, Sozialismus, S. 227. Zur allmählichen Umwandlung des Charakters des preußischen Staates in der Periode des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus vgl. Bleiber, Helmut, Staat und bürgerliche Umwälzung in Deutschland. Zum Charakter besonders des preußischen Staates in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, 10 G 1976, S. 201 ff. Vgl. ZStAM, 2.2.1. Nr. 13068, Bl. 19-33, sowie Müller, S. 33. Vgl. ZStAM, Rep. 92 Friedrich Wilhelm III., B VI 32, Bl. 4 ff. Zu Ancillon vgl. Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 1, Leipzig 1875, S. 420 ff.

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Müller

nun, um BernstorfT zu entlasten 33 , die fortlaufende europäische Korrespondenz zu führen hatte, das Heil Preußens. Der sächsische Gesandte v. Carlowitz hat Ancillon nicht unzutreffend als einen Anhänger des Absolutismus charakterisiert, der „allen konstitutionellen Prinzipien vom Grund der Seele abhold ist" und deshalb „auf ein gemeinschaftliches Wirken mit Österreich in den gegenwärtigen Zeiten den höchsten Wert" legt, „weil er dadurch dem Überhandnehmen liberaler Reformen am besten begegnen zu können glaubt". 34 Ancillon äußerte gegenüber dem österreichischen Gesandten im April 1831 auf das bestimmteste, daß Preußen nur durch eine Anlehnung an Österreich den drohenden Gefahren Trotz bieten könne. 35 Und auch der am Berliner Hof äußerst einflußreiche Herzog Carl von Mecklenburg, der als starrer Absolutist engste Fühlung zu Wittgenstein und Minister Lottum hielt, verfocht nach der Lektüre des Metternichschen Memorandums vom 31. Juli voll das Ziel, einen Kongreß der drei Kontinentalmächte einzuberufen und sich über die Grundsätze, die ihrer zukünftigen gemeinsamen Politik zugrunde liegen müßten, zu verständigen. 36 Doch Metternich strebte im Sommer 1831 dieses Ziel auch noch auf anderen Wegen an. Die Berufung des Finanzaristokraten und Kohlengrubenbesitzers Casimir Perier zum französischen Ministerpräsidenten am 13. März 1831, der als strikter Gegner aller fortschrittlichen Staatsreformen anzusehen war und der in der Julirevolution nur einen „einfachen Wechsel in der Person des Staatsoberhauptes" sehen wollte 37 , ließ in ihm die Hoffnung aufkeimen, Frankreich durch das Juste-milieu wieder auf seine Seite zu ziehen und f ü r die Anerkennung seines Interventionsprinzips zu gewinnen. Perier war am 18. März in einer Rede vor der Deputiertenkammer deutlich vom Prinzip der Nicht-Intervention abgerückt und hatte versichert, daß seine Regierung nicht daran denke, außerhalb Frankreichs zum Volksaufstand aufzurufen, und sich auch nicht f ü r verpflichtet halte, die französischen Waffen an die Stellen in Europa zu tragen, wo der Grundsatz der Nicht-Intervention verletzt worden war. 38 Diese Erklärung und die vorerst festzustellende Zurückhaltung des französischen Kabinetts nach der österreichischen Intervention in Italien 39 veranlaßten den österreichischen Staatskanzler zunächst, einen Abrüstungsvorschlag der französischen Regierung aufzugreifen. Mit Hilfe eines europäischen Kongresses 33

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Vgl. Treitschke, Heinrich von, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, T. 4, Leipzig 1889, S. 193. Staatsarchiv Dresden, Außenministerium Nr. 3254, Bl. 338. Aus dem Bericht Trauttmansdorffs an Metternich vom 13. 4.1831, HHSTA Wien, Staatskanzlei, Preußen, Corresp., Nr. 139 a, Bl. 258. GStA (West-)Berlin, Rep. 192 Wittgenstein, VI/3. 1, 2, 3, Bl. 36. Nach einem Brief an Wittgenstein vom 24. 2. 1831. Vgl. Potemkin, F. W., Die bürgerliche Monarchie in Frankreich von 1830 bis 1848, in: Geschichte der Neuzeit, Bd. 2,1. Halbbd.: 1789-1848, Berlin 1962, S. 224. Vgl. Stern, Geschichte Europas, Bd. 4, S. 214. Vgl. Näf, Werner, Abrüstungsverhandlungen im Jahre 1831, Bern/Leipzig 1931, S. 20.

Der Weg nach Münchengrätz

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wollte er sodann die beiden Westmächte wieder enger an den Block RußlandÖsterreich-Preußen h e r a n f ü h r e n und eine gemeinsame Frontstellung gegen die Revolution in Europa erreichen. 40 Für diese Absicht e r f a n d er den Begriff der „moralischen Abrüstung" 4 1 , die der materiellen Abrüstung als der gegenseitigen Verminderung der Heeresstärken vorausgehen sollte. D a r u n t e r verstand er, wie er Apponyi auseinandersetzte, nicht m e h r und nicht weniger als eine Prinzipienerklärung d e r Mächte zugunsten des Interventionsprinzips. Doch der Versuch, auf diesen Wegen die Risse in der Heiligen Allianz zu kitten, scheiterte. Selbst Ancillon hatte Bedenken geäußert, daß von Frankreich und England eine Proklamation in dem von Metternich angestrebten Sinne zu erlangen wäre. 42 So endeten die Pariser Abrüstungsverhandlungen Preußens, Englands, Österreichs und Frankreichs ohne ein faßbares Ergebnis. Selbst Perier w a r nicht bereit gewesen, sich öffentlich zum Interventionsprinzip zu bekennen. 4 3 Mit den Pariser Verhandlungen scheiterte der Versuch Metternichs, eine Reaktivierung der Heiligen Allianz im R a h m e n der fünf Mächte zu erreichen. Doch auch bei Preußen und Rußland w a r ihm bis zum Herbst 1831 immer noch nicht der entscheidende Durchbruch gelungen. Die Lage begann sich erst nach dem Fall Warschaus am 8. September 1831 zu wenden. Obwohl sich dieses Ereignis unmittelbar auf die diplomatische Aktivität des österreichischen Staatskanzlers auswirkte 4 4 , w a r damit erst eine von m e h r e r e n Voraussetzungen erfüllt worden, den Weg nach Münchengrätz gangbar zu machen. 45 Einen Ansatzpunkt, in der Verständigung der drei Mächte über den k ü n f t i g e n gemeinsamen Gang ihrer Politik Fortschritte zu erreichen, boten zunächst die Militärverhandlungen in Berlin, bei denen angesichts der ständigen S p a n n u n gen, die sich aus der Regelung der belgischen Frage ergaben, g e p r ü f t werden sollte, wie die Kriegsbereitschaft des Deutschen Bundes f ü r einen Kriegsfall

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Vgl. dazu die Ausführungen Srbiks, der davon ausgeht, daß Metternichs Initiative bezweckte, wieder das Interventionsprinzip gegen das der Nicht-Intervention in Europa durchzusetzen. Srbik, Metternich, Bd. 3, München 1954, S. 143. Vgl. die Instruktion Metternichs an Apponyi in Paris vom 3. 7.1831 ; Näf, S. 30. Vgl. ebenda, S. 34. Ebenda, S. 54. Wie der sächsische Gesandte am 26.10. 1831 aus Wien berichtete, war die Korrespondenz zwischen Wien und Berlin in letzter Zeit von dem Bestreben erfüllt, Widerstandsmittel gegen die „théories dangereuses" zu finden. Staatsarchiv Dresden, Außenministerium Nr. 3149, Bl. 422. GStA (West-)Berlin, Rep. 192 Wittgenstein, VII/B 1, 2, Ancillon an Wittgenstein, undatiert. Allerdings waren damit die Vorbehalte ausgeräumt, die Ancillon noch im August geäußert hatte, als ihm Metternichs Memorandum vom 31. 7. von Wittgenstein kenntlich gemacht worden war. Die von Metternich vorgeschlagenen Maßnahmen zur „Rettung der Gesellschaft" schienen ihm zu frühzeitig zu kommen, denn „solange Rußland die polnische Geschichte nicht bis auf den Grund geendigt hat, kann Rußland sich nicht über Europa mit Preußen und Österreich besprechen. Denn alles, was es sagen würde, würde zwar von seinem guten Willen, aber nicht von seiner Kraft zeugen."

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Harald, Müller

gegen Frankreich hergestellt werden konnte.46 Dabei waren von vornherein beträchtliche Verständigungsschwierigkeiten zu überwinden. Sie werden durch einen Bericht des österreichischen Gesandten in Berlin illustriert, der Metternich kurz vor dem Erscheinen Clams in Berlin darauf hinwies, daß es in den Reihen des preußischen Offizierskorps beträchtliche Vorbehalte gegen Österreich und auch gegen Rußland gebe, das im polnischen Feldzuge eine „erstaunende Hinfälligkeit" offenbart habe.47 Um seine großen Gesichtspunkte bei den Berliner Verhandlungen zur Geltung zu bringen, erinnerte Metternich Clam in einem Memoire daran, daß Österreich und Preußen die vorliegenden militärischen Fragen als europäische Mächte ansehen müßten, die durch Verpflichtungen der Allianz gebunden seien.48 Und auch seine folgenden Weisungen an Clam waren von der Überlegung inspiriert, daß der Deutsche Bund nicht isoliert gegen Frankreich Krieg führen könne, denn ein solcher Krieg sei nur als ein europäischer denkbar.49 Während Clam ermahnt wurde, nicht zu übersehen, daß die Gruppe um den General Rühle die bisherigen Militärverhandlungen mit Süddeutschland vorrangig als Mittel aufgefaßt habe, vor allem die preußische Stellung im Deutschen Bund zu stärken50, und sich der so Ermahnte dagegen der Unterstützung des Herzogs Carl von Mecklenburg zu versichern suchte51, nutzte Metternich die Militärverhandlungen, um wieder die enge Allianz zwischen den drei Mächten herzustellen. Nichts geht ohne Rußland, war Metternichs Leitgedanke. Daher wurden in seinen Planungen für einen Krieg nach Westen die russischen Streitkräfte als Reserve in Ansatz gebracht, um den Teil des österreichischen Heeres zu ersetzen, der in Italien gebunden blieb. Aus diesem Grunde sollten lediglich 150 000 Österreicher auf dem Territorium des Deutschen Bundes bereitgestellt werden, während 120 000 Mann für Italien vorgesehen waren.52 Ende Januar 1832 gelang Metternich ein bemerkenswerter Teilerfolg: Ancillon erklärte Clam, daß Friedrich Wilhelm III. mit der Hinzuziehung Rußlands zu den Berliner Verhandlungen einverstanden sei. Allerdings wurde dabei der Vorbehalt ausgesprochen, daß der strikte Defensivcharakter der vorgesehenen militärischen Maßregeln zu betonen sei, um den Zaren von vornherein auf diese Linie festzulegen und allen offensiven Vorstellungen die Spitze zu nehmen.53 «i vgl. zu diesen Vorgängen Stern, S. 295 ff. Zur Bedeutung und Entstehung der Bundeskriegsverfassung vgl. Kurzer Abriß der Militärgeschichte von den Anfängen der Geschichte des deutschen Volkes bis 1945, 2. Aufl., Berlin 1977, S. 115. 47 HHSTA Wien, Staatskanzlei, Preußen, Corresp., Fasz. 139 b, Bl. 46 f., Trauttmansdorff an Metternich, 16. 7.1831. 48 Hier ging Metternich weiterhin von dem Gedanken aus, sich gegen Frankreich auf eine defensive Kriegsplanung zu beschränken. Ebenda, Fasz. 140 b, Bl. 183 ff., Metternich an Clam, 9.10.1831. 49 Ebenda, Fasz. 142, Weisungen an Clam-Martinitz, Bl. 43, Metternich an Clam, 21.11. 1831. 50 Vgl. ebenda, Bl. 59 ff. 51 Ebenda, Bl. 44 ff., Clam an Metternich, 26. 9. 1831. 32 Vgl. ebenda, Fasz. 146 a, Bl. 69. 53 Ebenda, Bl. 95, Bericht Clams an Metternich vom 4. 2. 1832.

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Um diese Zustimmung zu erreichen, war zunächst nötig gewesen, den bei Friedrich Wilhelm III. nach der Lektüre des Metternichschen Memorandums vom 31. Juli eingetretenen Irrtum auszuräumen, daß sich die vorgeschlagene enge Zusammenarbeit Österreichs und Preußens mit Rußland nur und ausschließlich auf Polen bezöge.54 Es war vor allem Ancillon, der daran gearbeitet hatte, daß sich der Berliner Hof Metternich und dessen Plänen zielbewußt zu nähern begann. Ancillon, der in seinen schriftlichen Äußerungen aus jener Zeit als unbedingter Anhänger des Interventionsprinzips hervortritt 55 , sich durch die Abschaffung der Erblichkeit der Pairs in Frankreich 56 und durch den Arbeiteraufstand in Lyon außerordentlich beeindruckt zeigte57, wollte bei allen Verhandlungen mit Österreich und Rußland die „volle Freiheit in der Frage der Intervention" gewahrt sehen und schlug daher als Prinzip für alle Besprechungen folgendes vor: Es komme darauf an, „zu bestimmen, wann, wo, unter welchen Bedingungen, in welchen Fällen und auf welche Weise sich diese Solidarität (der drei Mächte - H. M.) durch eine gemeinsame Aktion manifestiere und welcher Art diese Aktion sein wird".58 Die Folge dieser Übereinstimmung in Grundfragen war die Hinzuziehung eines bevollmächtigten russischen Vertreters zu der Ende April 1832 beginnenden zweiten Runde der Berliner Militärverhandlungen. Doch zu diesem Zeitpunkt war die belgische Frage und im weiteren Sinne auch die nach der Anwendung des Interventionsprinzips in Westeuropa in einer Art und Weise entschieden worden, die eine entscheidende Niederlage der aristokratisch-monarchistischen Reaktion in Europa bedeutete.59 Bereits die Erklärung der Londoner Gesandtenkonferenz vom 20. Dezember 1830, sie beabsichtige, einen unabhängigen belgischen Staat zu errichten, hatte die Veränderung des Kräfteverhältnisses in Europa angezeigt. Die Initiative hierzu war ausschließlich von Talleyrand und dem neuen Leiter der englischen Außenpolitik, Palmerston, ausgegangen.60 Die Vertreter Preußens, Österreichs und Rußlands waren gezwungen worden, sich diesem Beschluß anzuschließen, wenn sie es nicht zu einem offenen Bruch mit den Westmächten und möglicherweise 54

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Dabei betonte Metternich allerdings, daß die drei Teilungsmächte alles aufbieten müßten, „eine wohlüberlegte Übereinkunft über legislative und administrative Maßregeln [zu] treffen, denen die entschiedenste Trennung der ehemaligen polnischen . . . Provinzen ebenso als Hauptgesichtspunkt wird vorschweben müssen". Ebenda, Fasz. 142, Bl. 42, Metternich an Werner in Teplitz, 5. 8.1831. Im Dezember 1831 beklagte er sich bei Wittgenstein über die Zurückhaltung der Bundesfürsten, Österreich und Preußen zur Intervention aufzufordern: GStA (West-)Berlin, Rep. 192 Wittgenstein, V/I, Nr. 15, 16, Ancillon an Wittgenstein, 16.12. 1831. Vgl. Hoffmann, Kurt, Preußen und die Julimonarchie 1830-1834, Berlin 1936, S. 102. Vgl. ebenda, S. 103. Zitiert nach ebenda, S. 105. Vgl. Srbik, Metternich, Bd. 3, S. 139. Vgl. Webster, Charles, The Foreign Policy of Palmerston 1830-1841, vol. I, London 1951, S. 121.

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zu einem europäischen Kriege kommen lassen wollten. Bereits hier wurde offenbar, daß den Vertretern Preußens und Österreichs, Bülow und Wessenberg, nichts übrigblieb, als der von Paris und London vorgezeichneten Linie zu folgen. Wessenberg hatte sich f r ü h überzeugen müssen, daß die Trennung zwischen Belgien und Holland unwiderruflich war. Aus diesem Grund richteten sich seine und Bülows Bemühungen darauf, wenigstens die Bewahrung des monarchischen Prinzips f ü r den neuen belgischen Staat durchzusetzen und die Inbesitznahme Belgiens durch Frankreich, mit der immer noch gerechnet wurde, zu verhindern. 6 1 Metternich, der die Entsendung Bülows nach London durch Intrigen zu verhindern gesucht hatte 62 , reagierte ebenso wie Ancillon mit zunehmender Verärgerung auf die Nachgiebigkeit seines Abgesandten Wessenberg. Obwohl der österreichische Staatskanzler einräumte, daß man sich der „force des choses, plus puissante que notre volonté" beugen müsse63, erregte ihn besonders das zunehmend selbständige Handeln der Bevollmächtigten Preußens, Österreichs und Rußlands in London, die nicht in jedem Falle die Weisungen ihrer Regierungen eingeholt hatten. 64 Noch wichtiger war, daß der Beschluß vom 20. Dezember die Absicht des Königs der Niederlande vereitelt hatte, mit Hilfe einer Konferenzentscheidung seine rebellierenden belgischen Untertanen wieder unter seine Botmäßigkeit zu bringen, was auch im Interesse der konterrevolutionären Strategie der Kernmächte der Heiligen Allianz gelegen haben würde. Wesentlich von den Interessen der englischen Bourgeoisie bestimmt, durch die Teilung Hollands einen lästigen Konkurrenten des englischen Handels entscheidend zu schwächen, der durch seine Zollgesetzgebung manche Schwierigkeit bereitet hatte 65 , war der schnell erreichte Konsensus über die Gewährung einer eigenen staatlichen Existenz f ü r Belgien ein Schlag gegen das monarchische Prinzip und in gewisser Weise eine Sanktionierung des Widerstandsrechtes gegen eine tyrannische Regierung. Damit war ein Weg beschritten worden, der schließlich dahin führte, daß selbst der Zar als selbsternannter Hüter des Legitimismus in Europa Zwangsmaßnahmen gegen den König von Holland zustimmen mußte I66

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Vgl. Charmatz, Richard, Geschichte der auswärtigen Politik Österreichs im 19. Jahrhundert, Bd. 1, Leipzig/Berlin 1918, S. 116; Arneth, Alfred Ritter von, Johann Freiherr von Wessenberg, Bd. 1, Wien 1898. GStA (West-)Berlin, Rep. 192 Wittgenstein, VI/3. 1, 2, 3, BL 18 f. Vgl. Srbik, Metternich, Bd. 1, S. 662. Webster, Palmerston, Bd. 1, S. 113. Vgl. hierzu Stern, Geschichte Europas, Bd. 4, S. 118, sowie Webster, S. 104, der die Bedeutung ökonomischer Faktoren für die Entscheidung Palmerstons, alle Kraft auf die Teilung Hollands zu verwenden, abzuschwächen sucht. Vgl. ferner Lademacher, Horst, Die belgische Neutralität als Problem der europäischen Politik 1830-1914, Bonn 1971, S. 47 f. Webster erklärt die anfängliche Nachgiebigkeit Rußlands, Österreichs und Preußens mit der dort gehegten Erwartung einer Wiederberufung Wellingtons zum englischen Außenminister und einer Wiederannäherung Englands an die eigenen Positionen. Webster, Palmerston, Bd. 1, S. 113.

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Die den Kernmächten der Heiligen Allianz in ihrer Politik gegenüber Belgien aufgezwungene defensive Grundhaltung setzte sich auch fort, nachdem in London am 20. J a n u a r 1831 die „bases de séparation" beschlossen wurden, die Holland die Grenzen von 1790 zusprachen, Belgien alle Landschaften südlich der alten holländischen Grenze mit Ausnahme des zum Deutschen Bunde gehörenden L u x e m b u r g einräumten, die fünf Großmächte verpflichteten, auf jede Gebietsvergrößerung zu verzichten, wenn diese zu Lasten Belgiens gehen sollte, und dem neugeschaffenen Staat ewige Neutralität und Unverletzlichkeit seines Territoriums verbürgten. 6 7 Jetzt beeilte sich Ancillon, die Festsetzung eines neutralen Status f ü r Belgien wenigstens insofern positiv zu werten, als dadurch Frankreich gehindert werde, „sich jenes Landes als eines Mittels zum Angriff" zu bedienen. 68 Und auch in der kurz darauf eintretenden Krisensituation, die französische Rüstungen, französische Truppenvermehrungen an den preußischen Westgrenzen69, Pariser Widerstände gegen die A u s f ü h r u n g der Londoner Konferenzbeschlüsse und die Wahl des Duc de Nemours zum König der Belgier durch den belgischen Nationalkongreß am 3. F e b r u a r ausgelöst hatten, w u r d e die Lage im wesentlichen einzig und allein durch Palmerston wiederhergestellt. Der erklärte kategorisch, daß er einen französischen Prinzen nicht als Kandidaten f ü r die belgische Krone akzeptieren werde 70 , und n ä h e r t e sich vorübergehend Rußland, Preußen und Österreich. Im März beruhigte sich die Lage wieder dadurch, daß der neue französische Ministerpräsident die vorübergehend gestörten guten Beziehungen zu England wieder herstellte und die Vorbehalte seiner Vorgänger gegen die Londoner Konferenzbeschlüsse, die eine französische Expansion auf Kosten Belgiens ausschlössen, aufgab. In dieser Periode hatte sich Preußen deutlich zurückgehalten, u n d zwar in dem Gefühl, weder von Österreich, das seine Aufmerksamkeit auf Italien konzentrierte, noch von dem durch den polnischen Novemberaufstand abgelenkten Rußland militärische Unterstützung erwarten zu können. Die am 7. Februar in Berlin w ä h r e n d einer Militärkonferenz festgestellte militärische Schwäche Preußens in seinen Westgebieten 7 1 und Rücksichten auf die Stimmung der Bevölkerung, die nach Witzleben n u r dann einem Kriege gegen Frankreich zustimmen würde, wenn Frankreich als Aggressor auftrete 7 2 , veranlaßten den 67

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Vgl. dazu Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jh., T. 4, S. 53 ; Stern, Geschichte Europas, Bd. 4, S. 235 ; Lademacher, Die belgische Neutralität, S. 51 ; Webster, Palmerston, Bd. 1, S. 125. Ancillon an Bülow, 3. 2.1831. Zitiert nach Hoffmann, Preußen und die Julimonarchie, S. 46. Vgl. dazu die Meldung des sächsischen Gesandten in Berlin vom 13. 2.1831, Staatsarchiv Dresden, Gesandtschaft Berlin Nr. 132, Bl. 13, sowie Treitschke, S. 71. Vgl. Webster, Palmerston, Bd. 1, S. 130. Hier wurde erklärt, daß Preußen einige Monate brauchen werde, bis es mit einem starken Heere am Rhein erscheinen könne, und daß man im Augenblick gerade soviele Soldaten in den Rheinprovinzen stehen habe, die Festungen zu besetzen. ZStAM, AA I, Rep. I, Nr. 29, Bl. 2 f. ZStAM, Rep. 92 Witzleben, Nr. 100, Bl. 2, Witzleben an den Prinzen Friedrich der Niederlande, 12.1.1831.

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Berliner Hof, alle aus Holland eingehenden Anfragen nach militärischer Unterstützung durch die preußische Armee glatt zurückzuweisen. Die Krisensituation im Januar/Februar 1831, die in Wien den Glauben an die Unvermeidlichkeit eines europäischen Krieges nährte73 und in Berlin die Kriegspartei um den Herzog Carl von Mecklenburg wieder aktiver werden ließ74, führte nur dazu, daß die beiden an den Rhein dislozierten preußischen Armeekorps durch die Einberufung der Landwehren zwar in Kriegsbereitschaft gestellt wurden, aber man dieser Maßnahme dadurch die Spitze nahm, daß Alexander von Humboldt in Paris Louis Philippe diese Einberufungen als reines Defensivum erläuterte.75 Die Wiederherstellung des Akkords zwischen England und Frankreich im März 1831 zeigte sofort Auswirkungen auf den Gang der Londoner Konferenz und auf die Position der belgischen Partei. Trotz eines Beschlusses des Deutschen Bundestages vom 18. März, dem König der Niederlande in seiner Eigenschaft als Großherzog von Luxemburg und damit als deutschem Bundesfürsten mit 24 000 Mann zu helfen, um bei der Verteidigung des durch belgische Ansprüche in Luxemburg bedrohten deutschen Bundesgebietes mitzuwirken76, beharrten die Belgier auf der Ablehnung der Konferenzbeschlüsse vom 20. Januar (bases de séparation), die Belgien Limburg und Luxemburg abgesprochen hatten. Mit dieser Haltung setzten sie schließlich unter Assistenz der Westmächte auf der Londoner Konferenz folgendes durch: Im Protokoll vom 21. Mai wurde ihnen zugesagt, daß weitere Verhandlungen der fünf Großmächte mit dem König von Holland Belgien den Besitz von Luxemburg sichern würden, wenn Luxemburgs Beziehungen zum Deutschen Bund gegen Kompensationen gewahrt blieben. Und auch die Londoner Artikel vom 26. Juni kamen den Belgiern deutlich entgegen. Um die Position des belgischen Thronprätendenten, des Prinzen Leopold von Koburg, zu stärken, den der Brüsseler Nationalkongreß in einem neuen Wahlgang am 4. Juni zum König der Belgier gewählt hatte, änderte man jetzt die Bestimmungen der „bases de séparation" nicht nur deutlich zugunsten Belgiens ab, sondern legte auch fest, daß bis zur Lösung der luxemburgischen Frage durch künftige Verhandlungen das Großherzogtum in den Händen der Belgier verbleiben sollte. Preußen und Österreich waren bei allem Unmut über den Gang der Londoner Konferenz, die man in Berlin der „Parteilichkeit und Härte" gegen den König der Niederlande bezichtigte77, nicht imstande gewesen, die deutliche Option für Belgien in Frage zu stellen. Diese Lage illustrierte auch eine Weisung des preußischen Kabinetts an Bülow in London vom 22. August, in der nur noch davon die Rede war, daß der König der Niederlande beim beabsichtigten 73

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Vgl. dazu den Bericht des sächsischen Gesandten in Wien vom 11. 2.1831, Staatsarchiv Dresden, Außenministerium Nr. 3149, Bl. 163. Vgl. Treitschke, S. 72. Vgl. den Bericht des sächsischen Gesandten in Berlin vom 20. 2.1831, Staatsarchiv Dresden, Gesandtschaft Berlin Nr. 132, Bl. 16. Vgl. Hillebrand, S. 230. Aus einem Bericht des sächsischen Gesandten von Watzdorf in Berlin vom 24. 6. 1831, Staatsarchiv Dresden, Gesandtschaft Berlin Nr. 132, Bl. 73.

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Tausch Luxemburgs nicht übergangen werden dürfte. Außerdem wurde Bülow angewiesen, vertraulich zu ermitteln, welches Äquivalent Belgien dem König der Niederlande geben wolle. Von Truppenhilfe f ü r Holland bei der Sicherung der holländischen Ansprüche auf Luxemburg fiel jetzt kein Wort mehr. 78 Ebenso mußten die Kernmächte der Heiligen Allianz tatenlos zusehen, wie im August eine französische Armee von 40 000 Mann in Belgien einrückte, nachdem die Holländer nach Aufkündigung des Waffenstillstandes tief auf belgisches Gebiet vorgedrungen waren. In der Hoffnung auf Unterstützung durch Preußen und Rußland 79 hatte der holländische König damit die Festlegung vom 26. Juni und die Aufrechterhaltung der Bestimmungen der „bases de séparation" erzwingen wollen. Während die Holländer durch die französische Intervention gezwungen wurden, Belgien bis auf die Zitadelle von Antwerpen wieder zu räumen, und Palmerston die Entspannungslage ersann, die französische Intervention als im Auftrag der Konferenz geschehen auszugeben 80 , hielt sich Preußen strikt zurück. Es warnte den König von Holland nicht nur vor den Konsequenzen seiner militärischen Aktion, sondern erklärte auch in aller Form, daß er hierbei nicht auf die Unterstützung Preußens rechnen dürfe 81 , worauf auch die Vertreter Österreichs und Rußlands im Haag zum Nachgeben rieten. 82 Später rechtfertigte das preußische Außenministerium seine Nachgiebigkeit damit, daß es den letzten Konferenzvorschlägen deshalb seine Zustimmung gegeben habe, weil f ü r Holland bei der „Macht der Umstände" nicht mehr zu erreichen gewesen sei, und daß es schon große Mühe gekostet habe, die Westmächte nach der holländischen Invasion Belgiens von einem Kriege gegen Holland abzuhalten. 83 Dieses Eingeständnis offenbart, daß die Höfe von Berlin, Wien und Petersburg nicht imstande gewesen waren, die Grundsätze der Legitimität im Falle der belgischen Revolutionen gegen äußere und innere Widerstände zur Geltung zu bringen. Obwohl der preußische Gesandte in Paris nach der französischen Intervention in Belgien sofort Einspruch erhoben und Preußens Recht betont hatte, ebenfalls in Belgien zu intervenieren 84 , waren dem keine Taten gefolgt. Auf einen Krieg wollte es das Berliner Kabinett angesichts der unsicheren Lage in den Staaten des Deutschen Bundes, der Wiederannäherung Frankreichs an England und der festen Haltung der Westmächte jedenfalls nicht ankommen lassen. 85 78 w 80 81

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Vgl. HHSTA Wien, Staatskanzlei, Preußen, Karton Nr. 205. Vgl. Hillebrand, S. 237. Vgl. Webstor, Palmerston, Bd. 1, S. 139. Nach einem Bericht des sächsischen Gesandten in Berlin vom 13. 8.1831, Staatsarchiv Dresden, Gesandtschaft Berlin Nr. 132, Bl. 86. Vgl. den sächsischen Gesandtschaftsbericht aus Wien vom 17.8.1831, ebenda, Außenministerium Nr. 3149, Bl. 350. ZStAM, 2. 4. 1. Abt. I Nr. 8470, Bl. 87 ff. Vgl. Hillebrand, S. 241. Als Reaktion auf die Beruhigung der internationalen Lage stiegen in Wien die Staatspapiere, als bekannt wurde, daß sich die fünf Mächte über die Grundlagen zur Lösung der belgischen Frage geeinigt hatten. Vgl. den Bericht des sächsischen Gesandten aus Wien vom 29.10.1831, Staatsarchiv Dresden, Gesandtschaft Wien Nr. 92.

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Wenngleich in komplizierten Verhandlungen im Oktober in London von den Beauftragten Rußlands, Österreichs und Preußens einige Verbesserungen der Teilungsbedingungen zugunsten Hollands durchgesetzt werden konnten - Belgien mußte danach auf den Besitz Maastrichts verzichten wurde die erste Phase der Londoner Konferenz am 15. November 1831 durch einen Vertrag abgeschlossen. Dieser rief jedoch in Wien, Berlin und Petersburg nicht allein deswegen Befremden hervor, weil ihn die Bevollmächtigten der drei Mächte ohne ausdrückliche Vollmachten unterzeichnet hatten. 86 Auch die Vertragsbestimmungen waren, ohne Holland zu beachten, getroffen worden. Der Vertrag bedeutete die Anerkennung Belgiens als souveräner Staat durch die europäischen Großmächte. Damit war die Existenz eines auf revolutionärem Wege entstandenen Staatswesens völkerrechtlich anerkannt, das sich - obwohl Monarchie - in seiner Verfassung ausdrücklich zum Prinzip der Volkssouveränität bekannte. Weiterhin war das Unvermögen der Verfechter des konterrevolutionären Interventionsprinzips bewiesen worden, eben dieses Prinzip in Westeuropa zur Anwendung zu bringen. Und schließlich: Das legitime Königshaus Oranien und ein aufständisches Volk waren von der Konferenz als gleichberechtigte Parteien behandelt und ihr Streitfall durch einen Schiedsspruch beendigt worden, f ü r den die Zustimmung des bisherigen Souveräns einfach übergangen wurde. 87 Es war daher das Eingeständnis der eigenen Schwäche, wenn sich das Berliner und das Wiener Kabinett entschließen mußten, den Novembervertrag auch ohne die Teilnahme Hollands zu ratifizieren. Allerdings waren bis zum 31. Januar 1832 nur die Ratifikationen zwischen Belgien, England und Frankreich ausgetauscht worden. Der holländische König weigerte sich immer noch, die am 15. November ohne seine Beteiligung festgelegten Trennungsbedingungen zu akzeptieren. Hierbei stärkte ihm zunächst der Zar durch die Erklärung den Rücken88, ohne holländische Anerkennung des Novembervertrages die Ratifikation nicht vornehmen zu können. 89 Die Gründe f ü r die Ratifikationsverzögerung in Berlin und Wien waren komplexer Art. Einmal hoffte man hier, König Wilhelm doch noch dazu bewegen zu können, den Vertragsfestlegungen in aller Form seine Zustimmung zu geben.90 Hinzu kam die Rücksichtnahme auf Rußland als die Macht, die nach der Niederschlagung des polnischen Aufstands unbestritten die beherrschende Stellung im Lager der Heiligen Allianz einnahm. In diesem Sinne hatte sich Bernstorff bereits am 6. Januar gegenüber Friedrich Wilhelm III. ausgesprochen. 91 86 87 88

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Vgl. Treitschke, S. 91. Vgl. Srbik, Metternich, Bd. 1, S. 664 f. Schließlich änderte auch der Zar seine Haltung in der belgischen Frage. So ließ Nikolaus I. die Regierung im Haag wissen, daß er Holland nicht direkt unterstützen könne, und dies um so weniger, „als der Königliche Preußische Hof, viel näher gelegen, sich dieser direkten Unterstützung entziehen zu müssen erklärt habe". Staatsarchiv Dresden, Außenministerium Nr. 3254, Bl. 54. Vgl. Stern, Geschichte Europas, Bd. 4, S. 253 f. Diesen Grund führt Hillebrand, S. 251, an. ZStAM, 2.4.1. Abt. I Nr. 8470, Bl. 190. Vgl. hierzu auch Webster, Palmerston, Bd. 1, S. 149.

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Und auch in Wien erklärte Metternich auf die Aufforderung des englischen Kabinetts, zu unterzeichnen, daß er die Unterschrift nicht vollziehen könne, solange Rußland die Ratifikation verweigere. 92 Erst als auch der Zar durch die Entsendung seines engsten Vertrauten, des Grafen A. F. Orlow 93 , nach dem Haag zu erkennen gegeben hatte, daß er zum Einlenken bereit war 94 , konnte man sich in Berlin und in Wien mit dem Gedanken der Ratifikation ohne Vorbehalte befreunden. Als jetzt Palmerston damit drohte, daß England bei weiterer Verzögerung der Unterschriftleistung in eine förmliche Allianz mit Frankreich getrieben werden könne, und der englische Gesandte in Wien, Lamb, Metternich geschickt die Meinung suggerierte, daß es f ü r ihn unwürdig sei, sich in dieser Frage nach dem Diktat des Zaren zu richten 95 , war die Entscheidung gefallen. In der Erkenntnis, daß auf eine Sinnesänderung König Wilhelms von Holland nicht zu rechnen sei und sich die Beziehungen zu den Westmächten bei weiterer Verzögerung der Ratifikation kritisch zuspitzen mußten 96 , ratifizierten Preußen und Österreich am 18. April den Novembervertrag. Der Zar folgte am 4. Mai. Als General Clam-Martinitz am 30. April 1832 zu neuen Verhandlungen in Berlin eintraf, waren gerade die zugespitzten österreichisch-französischen Beziehungen entlastet worden, die sich aus Interessengegensätzen zwischen den beiden Mächten in Italien herleiteten. Unter Inanspruchnahme des Interventions„rechtes" - der Herzog von Modena und der Papst hatten Kaiser Franz förmlich um die Intervention seines Heeres ersucht 97 - waren österreichische Truppen im März 1831 in Parma, Modena und den Kirchenstaat eingedrungen und hatten dort die bewaffneten Abteilungen der italienischen Patrioten zerschlagen, um die alten Herrschaftsverhältnisse wiederherzustellen. Obwohl die neue französische Regierung unter Perier zu Metternichs Genugtuung 98 die Intervention zunächst Gewehr bei Fuß geschehen ließ, konnte der österreichische Staatskanzler es dennoch nicht verhindern, daß sich auch andere Mächte in die italienischen Angelegenheiten einschalteten. Französische Forderungen an Österreich, sich aus dem Kirchenstaat wieder zurückzuziehen 99 , der in Paris nicht zum österreichischen Einflußbereich gerech92 Ygl. den sächsischen Gesandtschaftsbericht aus Wien vom 9.1.1832, Staatsarchiv Dresden, Außenministerium Nr. 3150, Bl. 5. 93

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Zu Orlow und dessen Stellung am Zarenhofe vgl. Sovetskaja istoriceskaja enciklopedija, Tom X, Moskau 1967, S. 615. Zu der Entsendung Orlows nach Westeuropa und den Motiven des Zaren vgl. Webster, Palmerston, Bd. 1, S. 150, sowie den sächsischen Gesandtschaftsbericht aus Wien vom 18. 2. 1832, Staatsarchiv Dresden, Außenministerium Nr. 3150, Bl. 44 f. Vgl. Webster, Palmerston, Bd. 1, S. 151. Vgl. dazu den Bericht des preußischen Außenministeriums vom 5. 5.1832, ZStAM, AA I, Rep. 1, Nr. 35, Bl. 19. Vgl. Stern, Geschichte Europas, Bd. 4, S. 206. Vgl. Näf, S. 78. Vgl. Charmatz, Bd. 1, S. 121.

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net wurde100, und die Erklärung Palmerstons, daß Österreich nach dem Betreten der Legationen durch seine Truppen von England keine Unterstützung erwarten könne, zwangen Metternich, sich zurückzuhalten. Jetzt erklärte er die Besetzung von Teilen des Kirchenstaates zu einer vorübergehenden Maßnahme und gab sein Einverständnis, die Frage der politischen Reformen im Kirchenstaat, auf die die Westmächte drängten, mit anderen Großmächten auf dem Verhandlungswege beraten zu lassen. Daraufhin trat in Rom eine Gesandtenkonferenz zusammen, der der preußische Vertreter Bunsen am 21. Mai ein Memorandum vorlegte, das eine Zulassung von Laien in öffentliche Ämter, die Selbstverwaltung der Gemeinden und die freie Wahl ihrer Behörden, die Besserung der Rechtspflege und die Bildung von Provinzialräten ins Auge faßte. 101 Doch die Weigerung des Papstes Gregor XVI., die Propositionen des Bunsenschen Memorandums anzunehmen, und der sich in Paris immer stärker aussprechende Unwille über die weitere Besetzung Bolognas durch Österreich schufen neue Schwierigkeiten. Metternich schlug daher vor, daß sich die Mächte in aller Form verpflichteten, die weltliche Herrschaft des Papstes zu garantieren und gegen jede revolutionäre Bedrohung aufrechtzuerhalten. Dies sollte künftig eine österreichische Intervention völkerrechtlich absichern.102 Doch die Konferenz endete am 10. Juli mit verschieden lautenden Erklärungen. Nur der Österreicher Lützow und der Gesandte Sardiniens waren bereit, die weltliche Herrschaft des Papstes in aller Form zu garantieren und ihm das Recht zuzugestehen, im Falle innerer Unruhen fremde Truppen zur Intervention aufzufordern. Dennoch verließen die letzten Österreicher wenige Tage darauf Bologna, nachdem der Papst um ihren Abzug ersucht hatte. Indes traten neue Spannungen auf, als Gregor XVI. nicht nur durchgreifende Reformen verweigerte, sondern mit dem Gelde Rothschilds103 eine Söldnertruppe aufstellte, die zur Unterdrückung von Volksaufständen in den Legationen eingesetzt wurde. Als deren Einsatz erfolglos blieb, richtete Kardinal Albani an Österreich ein erneutes Interventionsansuchen, und am 28. Januar 1832 rückten die Truppen Radetzkys wieder in Bologna ein. Obwohl sich Metternich durch den Abschluß eines geheimen Traktats mit dem König von Sardinien gegen französische Einmischungen den Rücken freizuhalten gesucht hatte 104 und das Verhalten des französischen Gesandten in Rom den Eindruck aufkommen lassen mußte, als billige die französische Regierung die Intervention Radetzkys 105 , be100 Vgl. Webster, Palmerston, Bd. 1, S. 205 f. Vgl. Stern, Geschichte Europas, Bd. 4, S. 216. Ebenda, S. 219. tos vgl Corti, Egon Caesar Conte, Die Rothschilds. Des Hauses Aufstieg, Blütezeit und Erbe, München 1971, S. 157. ,0'' Über diese Übereinkünfte wurde Wittgenstein im Oktober 1831 durch Metternich unterrichtet. Vgl. GStA (West-)Berlin, Rep. 192 Wittgenstein, VI/3. 1, 2, 3, Bl. 77 f. 105 Diese Billigung geht aus den Berichten der sächsischen Gesandten in Wien und in Berlin vom 4. bzw. 9.1.1832 hervor. Vgl. Staatsarchiv Dresden, Gesandtschaft Wien Nr. 92, Bericht vom 4.1.1832, sowie ebenda, Außenministerium Nr. 3254, Bl. 17 f. 101

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setzten französische Truppen im Gegenzug völlig überraschend Ancona und seine Zitadelle. Die Folge davon war eine starke Erregung in Wien, wo man jetzt das Interventions„recht" Österreichs auf italienischem Boden in Frage gestellt sah. Kaiser Franz sprach von „Zuschlagen", falls die französischen Besatzungstruppen italienische Volksbewegungen begünstigen sollten106, und Metternich107 und Gentz bestanden auf der alleinigen Legalität der österreichischen Intervention, weil nur ihr ein Hilfeersuchen des Papstes vorausgegangen war. Gentz berührte den Kernpunkt des Problems, als er bemerkte, daß Österreich das Prinzip der französischen Landung in Ancona nicht gutheißen könne „ohne zuzugeben, daß, sobald wir irgendwo in Folge eines . . . uns zustehenden Interventionsrechtes handeln zu dürfen glauben, Frankreich ebenfalls . . . auf dem Schauplatz unserer Wirksamkeit die seinige deployieren müsse".108 Es blieb indes in Wien bei starken Worten. Zwar hatte der Zar zugesagt, daß er sich gegebenenfalls einem Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Frankreich anschließen würde, aber von Preußen war nichts anderes als Neutralität zu erwarten, solange sich ein möglicher Konfliktsfall auf Italien beschränkte. 109 So erzielten nach langen Verhandlungen Paris und Wien am 18. April eine die Lage entspannende Übereinkunft, ohne daß die Besetzung Anconas oder Bolognas aufgehoben wurde. Die im Frühjahr 1832 wiederaufgenommenen und durch Hinzuziehen von Militärbevollmächtigten für die nord- und süddeutschen Bundeskorps erweiterten Militärberatungen dienten, vordergründig betrachtet, dem Ziel, die militärischen Kräfte des Deutschen Bundes für den Fall eines durch Frankreich ausgelösten Krieges zusammenzufassen. In Wahrheit ging es dabei um viel mehr. Einmal erreichte es Metternich, daß mit den Festlegungen des Schlußprotokolls der Berliner Konferenz vom Dezember 1832, die die Aufstellung von drei Armeen im Umfang von 518 000 Mann im Kriegsfalle gegen Frankreich vorsahen 110 , preußischen militärischen Sonderverhandlungen mit den süddeutschen Regierungen die Grundlage entzogen wurde. Zum zweiten konnte er dadurch 132 000 Österreicher ausschließlich für Kampfhandlungen in Italien freihalten. Zum dritten waren die Verhandlungen ein bedeutsamer Anknüpfungspunkt für eine koordinierte konterrevolutionäre Strategie der drei Kernmächte der Heiligen Allianz gegen antifeudale Oppositionsbewegungen in Mitteleuropa und damit ein weiterer Schritt in Richtung auf eine förmliche Reaktivierung des Bündnisses zwischen ihnen. Der Hauptteil der dem russischen General Neidhardt für die Militärberatungen

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Vgl. ebenda, Außenministerium Nr. 3150, Bl. 57. Vgl. Webster, Palmerston, Bd. 1, S. 212. Gentz an Prokesch, 5.3.1832, in: Anton Graf von Prokesch-Osten. Aus dem Nachlasse. Briefwechsel mit Friedrich von Gentz und Fürsten von Metternich, hrsg. von Anton Graf Prokesch-Osten, Bd. 2, Wien 1881, S. 74. Vgl. Stern, Geschichte Europas, Bd. 4, S. 231. ZStAM, Rep. 81 Wien, I, Nr. 145 a, Bl. 14.

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erteilten Instruktionen bezog sich auf die Lage in den Staaten des Deutschen Bundes. Nachdem der Zarismus mit der Verkündung des „Organischen Statuts" am 26. Februar 1832 die polnische Verfassung beseitigt, die Sonderstellung des polnischen Heeres aufgehoben und Kongreßpolen dem russischen Imperium einverleibt hatte 114 , wandte er sich wieder aktiv den Klassenauseinandersetzungen westlich seiner Grenzen zu. Das widerspiegelte sich in der Neidhardt gegebenen Weisung, nicht allein die militärischen Vorbereitungen den Berliner Beschlüssen anzupassen, sondern vor allem dahin zu wirken, dem weiteren Vordringen antifeudaler Kräfte in den Staaten des Deutschen Bundes, d. h. vor allem in Süddeutschland, entgegenzuwirken. 112 Hier waren jetzt „Kleinbürger, Gesellen, Arbeiter und Bauern die wichtigste Triebkraft" in den Klassenauseinandersetzungen.113 Und auch die sich auf deutschem Boden spontan offenbarende Welle der Sympathie f ü r das polnische Volk und die polnischen Flüchtlingen vielerorts gewährte Unterstützung entwickelten sich zu einem vorwärtstreibenden Faktor der deutschen antifeudalen Bewegung. 114 Die Neidhardt weiter erteilte Weisung, Österreich in seinem Versuch zu unterstützen, die süddeutschen Verfassungen zu beseitigen und ein Armeekorps zu formieren, das zur Aufrechterhaltung der „inneren Ruhe" in den deutschen Staaten bestimmt war, stärkte die Position Metternichs, dem es Ende April 1832 gelungen war, den vorsichtig operierenden preußischen Außenminister im Zusammenwirken mit Wittgenstein durch Intrigen zu stürzen. 115 So konnte Clam schon am 6. Juni berichten, daß er mit Ancillon als dem Nachfolger Bernstoriis den Plan erörtert hatte, preußische und österreichische Truppen in Süddeutschland auch dann intervenieren zu lassen, wenn die in Frage kommenden Regierungen gegen ein derartiges Vorgehen Widerstand leisten würden. Das sei, schrieb Clam, „das einzige Rettungsmittel, und vor dessen Anwendung darf uns auch nicht einmal mehr die Besorgnis abhalten, unsere inneren Sicherheitsmaßnahmen in Frankreich als offensive Schritte ausgelegt zu sehen". 116 Obwohl anhaltende Finanzschwierigkeiten 117 im November 1831 eine Verminderung der österreichischen Heeresstärke um etwa 100 000 Mann erzwungen hatten118, bereitete Wien dennoch praktische Schritte f ü r eine militärische Intervention in Südwestdeutschland vor. In Vorarlberg wurde Mitte Mai f ü r diesen

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1.6 !17

lis

Vgl. Arnold/Zychowski, Abriß der Geschichte Polens, S. 103. Zu Neidhardts Instruktionen vgl. Schiemänn, Geschichte Rußlands unter Kaiser Nikolaus I., Bd. 3, S. 170 f. Klassenkampf, Tradition, Sozialismus, S. 225. Zu diesem Zusammenhang vgl. Obermann, Deutschland von 1815 bis 1849, S. 78 f. Nach der Entlassung Bernstorffs schrieb Wittgenstein triumphierend, daß die Feder, aus der diese Piece geflossen, in Zukunft nicht mehr schaden würde. Die Denkschrift sei der „Schwanengesang dieser Clique". GStA (West-)Berlin, Rep. 192 Wittgenstein, VI/3. 1, 2, 3, Bl. 144. Wittgenstein an Metternich, 6. 5. 1832. HHSTA Wien, Staatskanzlei, Preußen, Corresp., Fasz. 146 a, Bl. 138 ff. Vgl. hierzu den sächsischen Gesandtschaftsbericht aus Wien vom 6.12.1831, Staatsarchiv Dresden, Außenministerium Nr. 3149, Bl. 453. Ebenda, Bl. 426.

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Zweck ein mobiles Korps aufgestellt.119 Zu dieser Zeit war Metternich auch Feuer und Flamme für den Vorschlag des Zaren, einen Teil der russischen Armee für Kampfhandlungen gegen Frankreich zur Verfügung zu stellen. „Je mehr der Kaiser (der russische Zar - H. M.) Mannschaft stellen kann, um so besrser es sein wird", erklärte er Clam.120 Zugleich näherte sich der österreichische Staatskanzler vorübergehend der Auffassung des ihm eng verbundenen bayerischen Staatsministers Wrede, der ihm im Mai des Vorjahres vorgeschlagen hatte, die Revolution durch einen mit russischer Truppenhilfe auf Frankreich zu führenden Angriff entscheidend zu treffen.121 Wie Kolowrat im Mai 1832 Kübeck mitteilte, dachte Metternich während dieser Zeit an einen Koalitionskrieg gegen Frankreich122, und im November charakterisierte ihn Kolowrat als Pendel, „der zwischen Tatistschew (dem russischen Gesandten in Wien - H. M.) oder dem Kriege und Saloman Rothschild oder dem Frieden sich hin- und her bewegt".123 Ohnehin von der - unzutreffenden - Vorstellung erfüllt, daß in Europa eine in ihren Gliedern zusammenhängende „Bewegungspartei" (parti du mouvement) am Werke sei, die ihre Zentrale in Paris besitze124, sah der Staatskanzler vor allem in den Vorgängen während des Hambacher Festes vom 27. Mai den „klaren Beweis, daß die deutschen Hochverräter mit dem comité directeur der französischen parti du mouvement in der engsten Verbindung" ständen, und erklärte, daß „die energischsten Maßregeln, schnelles und kräftiges militärisches Einschreiten" erforderlich seien.125 Auch Ancillon äußerte am 8. Juni den Verdacht, daß die deutschen Agitatoren ihre Richtlinien aus Paris bezögen.126 Daher schlug er vor, das französische Kabinett aufzufordern, gegen das in „Paris bestehende deutsche Komiteé der revolutionären Propaganda, an dessen Spitze der bekannte Börne sich befinde", ernstliche Schritte zu unternehmen.127 Metternich, dem die Vorgänge in Hambach insofern „nicht unlieb" waren, „weil die Regierungen hierdurch zum engeren Anschließen aneinander vermocht wurden"128, setzte einen Monat später die von ihm und Ancillon längst vorbereite-

119

Ebenda, Nr. 3150, Bl. 156.

120

H H S T A Wien, Staatskanzlei, Preußen, Corresp., Fasz. 146 a, Bl. 6, Metternich an

121

Bibl,

Clam, 25. 5.1832. Viktor,

Metternich in neuer Beleuchtung. Sein geheimer Briefwechsel mit

dem Bayrischen Staatsminister Wrede, W i e n 1928, S. 227. 122 Ygl. Tagebücher

des Carl Friedrich Freiherrn

Kübeck

von Kübau,

hrsg. von M a x

von Kübeck (im folgenden: Kübeck, Tagebücher), Bd. 1, W i e n 1909, S. 569. 123

Ebenda, S. 593.

124

A u s einem Briefe Metternichs an Wittgenstein vom 20. 3.1833, G S t A

(West-)Ber-

lin, Rep. 192 Wittgenstein, VII/'K 5, Bl. 102. 125

Aus

einer Äußerung

Metternichs

vor

dem sächsischen Gesandten in W i e n

am

10. 6.1832, Staatsarchiv Dresden, Gesandtschaft W i e n N r . 92. 126 y g l Hoffmann, 127

Preußen und die Julimonarchie, S. 123.

H H S T A Wien, Staatskanzlei, Preußen, Corresp., Fasz. 143 a, Bl. 411, Trauttmansdorff an Metternich, 31. 5.1832. G S t A (West-)Berlin, Rep. 192 Wittgenstein, VI/3, 1. 2. 3, Bl. 161 und 167, Metternich an Wittgenstein, 10. 6. sowie im Juli 1832.

26

Harald

Müller

ten*29 Bundestagsbeschlüsse vom 28. Juni und 5. Juli durch, die u. a. die deutschen Souveräne dazu verpflichteten, jeden Antrag ihrer Stände zu verwerfen, der gegen das sogenannte monarchische Prinzip verstieß. Wenn auch die vorgesehene militärische Intervention in Baden und Württemberg unterblieb, wurde das Interventionsprinzip mit diesen Beschlüssen dennoch zur Geltung gebracht. Versuche von Steuerverweigerungen durch Ständeversammlungen sollten von Bundes wegen mit Waffengewalt unterdrückt werden. 130 Die Bundesmitglieder sicherten sich weiter die „prompteste militärische Assistenz" zu, wenn um diese angesucht werden sollte.131 Gegen die hierdurch manifestierte Interventionsabsicht Preußens und Österreichs wurde nach Bekanntwerden der Bundestagsbeschlüsse durch den französischen Gesandten in Berlin, Bresson, Verwahrung eingelegt. Ancillon versuchte dem Einspruch mit der Erklärung zu begegnen, daß f ü r ein solches Unternehmen n u r „Bundestruppen" verwendet werden sollten.132 Dennoch besserte sich das Verhältnis Preußens und Österreichs zu Frankreich wieder. Die von Metternich ursprünglich vertretene Überzeugung, daß Frankreich die „offene Revolution" in Deutschland unterstützen werde, um sich „mittels ihres Gelingens . . . die Oberhand über Deutschland" zu sichern133, wurde aufgegeben, nachdem die Truppen Louis Philippes den republikanischen Aufstand in Paris vom 5. bis 6. Juni brutal unterdrückt hatten. 134 Jetzt sah man in Wien Louis Philippe mit anderen Augen: „So wie man ihn f r ü h e r als ein Hindernis zur Erlangung der europäischen Beruhigung ansah, so hofft man nunmehr im Gegenteil auf seine kräftigste Mitwirkung zur endlichen Beendigung des Umwälzungs- und Hochverratsschwindels." 135 Metternich erklärte jetzt voller Genugtuung, daß die sich seit dem 6. Juni ausdrückende neue Tendenz des f r a n zösischen Gouvernements soweit gehe, „daß wir in den radikalen französischen Organen bald die Klage über den Beitritt ihres Königs zur Heiligen Allianz lesen werden". 136 139

Die mitunter übliche Darstellung, die Beratungen zwischen Österreich und Preußen, die zu den Bundestagsbeschlüssen vom 28. 6. bzw. 5. 7.1832 führten, in den Zeitraum nach dem Hambacher Fest zu verlegen, entspricht nicht dem tatsächlichen Verlauf der Ereignisse. Vgl. Obermann, Deutschland von 1815 bis 1849, S. 89. 130 Vgl. Stern, Geschichte Europas, Bd. 4, S. 318. 131 Vgl. ZStAM, Rep. 77, Tit. 509, Nr. 1, vol. I, Bl. 119 f. 1:12 Vgl. den sächsischen Gesandtenbericht vom 24.8.1832, Staatsarchiv Dresden, Außenministerium Nr. 3254, Bl. 353. 133 HHSTA Wien, Staatskanzlei, Preußen, Corresp., Fasz. 145 b, Bl. 20, Metternich an Wittgenstein, 25. 4.1832. m Vgl. hierzu Höppner, Joachim/Seidel-Höppner, Waltraud, Von Babeuf bis Blanqui. Französischer Sozialismus und Kommunismus vor Marx, Bd. 1 Einführung, Leipzig 1975, S. 214. 135 Aus dem Bericht des sächsischen Gesandten in Wien vom 16. 6.1832, Staatsarchiv Dresden, Außenministerium Nr. 3150, Bl. 176. 136 Metternich am 20. 6.1832 im Gespräch mit dem sächsischen Gesandten in Wien, ebenda, Gesandtschaft Wien Nr. 92.

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Ursache dafür war allerdings nicht nur die Niederlage der Pariser Barrikadenkämpfer, sondern ebenso das als Billigung des Interventionsprinzips aufzufassende Verhalten der französischen Regierung in der Frage der Truppenzusammenziehungen wegen eines Eingreifens in Südwestdeutschland. Diese übergab Metternich am 10. Juli eine Note, die ihre bisher vertretene Auffassung in einer Weise korrigierte, daß der sächsische Gesandte, der von ihrem Inhalt Kenntnis erhielt, erfreut schreiben konnte, es seien „dermaßen befriedigende Zusicherungen übersandt [worden], daß, solange diese Verhältnisse bleiben, jede Gefahr eines Krieges mit Frankreich verschwunden ist. Das Kabinett der Tuilerien hat sich bestimmt dahin erklärt, daß jede, auch die kräftigste Unterdrückung des Radikalismus in Deutschland seinerseits nicht den mindesten Einspruch finden werde, daß es dieselbe ebensosehr als die Höfe von Wien und Berlin wünsche und jede Truppenbewegung, die dieses Ziel bezwecke, zum Voraus gutheiße."137 Dieses Verhalten der politischen Beauftragten der französischen Bourgeoisie, die die Republikaner im Lande selbst schlug und die „Liberalen anderer Länder, die sie selbst zum Aufstand gereizt", verriet1®, entschädigte Metternich für die Wiederberufung des von Grey geführten Kabinetts der Whigs. Dessen Rücktritt im Frühjahr 1832 hatte ihn zunächst hoffen lassen, „daß ein gemäßigtes ToryMinisterium in London, indem es dem französischen Liberalismus den Hauptstützpunkt entzieht, zu schnellerer Beseitigung der europäischen Wirren wesentlich beitragen dürfte".139 Aber die Wiederberufung Greys, die den Sieg der englischen Parlamentsreform anzeigte, welche sich gegen die politische Monopolstellung der englischen Grund- und Finanzaristokratie richtete und „schon den Sieg der industriellen Bourgeoisie, der Fabrikanten, über die nichtindustrielle, die Rentiers", sicherte140, zerschlug endgültig die in Wien und in Berlin lange genährte Hoffnung auf die Rückkehr eines englischen Kabinetts zu den von Castlereagh bis 1820 vertretenen Prinzipien.141 Die im Juli 1832 eintretende Entspannung in den Beziehungen Österreichs und Preußens zu Frankreich wirkte unmittelbar auf die Berliner Militärkonferenz zurück. Zunächst wurden allerdings nach dem Wiedereintreffen Neidhardts in Berlin am 12. August die Verhandlungen intensiv fortgesetzt. In dem Bestreben, bei einer gewissen Deckung Süddeutschlands das Gros ihrer Armee in erster Linie zur Sicherung ihrer Präponderanz in Italien bereitzuhalten, hatten die österreichischen Militärs das Vorrücken einer französischen Armee auf süddeutschen Boden vorausgesetzt und planten daher, die Kontingente Bayerns und Württembergs an der Donau aufzustellen. Der preußische Generalstab war hingegen von der Annahme eines französischen Vorstoßes durch Belgien nach Nord137

138 138 140 m

Aus dem Bericht des sächsischen Gesandten in Wien vom 20.6.1832, ebenda, Außenministerium Nr. 3150, Bl. 180 f. Engels, Friedrich, Die Bewegungen von 1847, in: MEW, Bd. 4, S. 494. Zitiert nach Staatsarchiv Dresden, Außenministerium Nr. 3150, Bl. 143. Engels. Zur Zusammenarbeit Metternichs und Castlereaghs bis 1820 vgl. Kissinger, Henry, Großmacht Diplomatie. Von der Staatskunst Castlereaghs und Metternichs, Düsseldorf/Wien 1962; Webster, Charles, The Foreign Policy of Castlereagh, vol. II: 1815-1822, London 1925; Srbik, Metternich, Bd. 1, S. 568 ff.

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Müller

deutschland ausgegangen und wollte daher die Kontingente der beiden Staaten zur Deckung Norddeutschlands verwendet wissen.' 42 Schließlich konnte Clam seine Ansichten weitgehend durchsetzen. Wie er berichtete, war man in Berlin vertrauensvoll geneigt, sich an Österreich anzuschließen. Die „deutsche Partei" sei eingeschüchtert, Wittgenstein, Lottum, Kamptz und Ancillon bildeten jetzt eine kompakte Kraft. 143 Gegen den Widerstand des preußischen Generalstabschefs erreichten es Wittgenstein und Ancillon, daß sich der preußische Unterhändler Knesebeck Clams Vorschlägen anschloß.144 Besonders Ancillon legte auf einen Akkord mit Österreich in dieser Frage den größten Wert, „weil er dadurch dem Überhandnehmen liberaler Reformen am besten begegnen zu können glaubt". 140 Clam brachte Knesebeck auch davon ab, den Vorschlag Neidhardts rundweg abzulehnen, 100 000 russische Soldaten im Kriegsfalle zunächst nur bis an die Oder vorrücken und hier weitere Verstärkungen abwarten zu lassen. Allerdings wollten Österreich und Preußen von Rußland feste Garantien, daß Polen auch während des Vorrückens einer russischen Armee nach Westen unter allen Umständen militärisch besetzt bleiben würde. 146 Auf die Notwendigkeit, die Besetzung Polens gerade f ü r den Fall zu sichern, daß Österreich, Rußland und Preußen einen Teil ihrer Streitkräfte Frankreich entgegenstellten, hatte Metternich Clam besonders hingewiesen. 147 Es muß daher auf den ersten Blick überraschen, daß bei dem schließlich am 19. August zwischen Clam, Knesebeck und Neidhardt erreichten Übereinkommen nur von etwa 50 000 bis 60 000 russischen Soldaten als Unterstützungsarmee die Rede war 148 , während noch im F r ü h j a h r in den Vorschlägen des Zaren von 200 000 Mann ausgegangen wurde. Die Gründe dafür liegen in dem nach der eingetretenen Entspannung mit Frankreich völlig veränderten Charakter der Berliner Militärkonferenz. Seit Mitte Juli war ihr unmittelbarer Anlaß nach der Wendung der französischen Außenpolitik in den Augen Metternichs weggefallen. Und auch der neue preußische Außenminister war jetzt peinlich bemüht, sich gegen die Westmächte zurückzuhalten. Rücksichten auf die öffentliche Meinung Preußens 149 , auf die durch die außerordentlichen Ausgaben für Bewaffnung und W2

Vgl. dazu Staatsarchiv Dresden, Außenministerium Nr. 3254, Bl. 295, ferner Hintze, Otto, Die Hohenzollern und ihr Werk. Aus fünfhundert Jahren vaterländischer Geschichte, 4. Aufl., Berlin 1915, S. 503. 143 HHSTA Wien, Staatskanzlei, Preußen, Corresp., Fasz. 146 b, Bl. 335, Clam an Metternich, 28. 8.1832. 144 Das geht aus dem Bericht des sächsischen Gesandten in Berlin vom 24. 7.1832 hervor. Staatsarchiv Dresden, Außenministerium Nr. 3254, Bl. 308. 155 Zitiert nach dem sächsischen Gesandtenbericht vom 11. 8.1832, ebenda, Bl. 338. 146 HHSTA Wien, Staatskanzlei, Preußen, Corresp., Fasz. 146 b; Bl. 288, Clam an Metternich, 24. 8.1832. Ebenda, Fasz. 146 a, Bl. 6, Metternich an Clam, 25. 5. 1832. 148 vgl Schiemann, Geschichte Rußlands unter Kaiser Nikolaus I., Bd. 3, S. 173. 140 In seinem Bericht an Außenminister Sebastiani vom 18. 7. hatte der französische Gesandte in Berlin, Bresson, besonders hervorgehoben, daß die preußische Regierung die öffentliche Meinung im Lande nicht ungestraft unberücksichtigt lassen könne. Vgl. Roghe, Die französische Deutschland-Politik, S. 105.

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Kriegsbereitschaft angegriffenen preußischen Staatsreserven 1 5 0 , Besorgnisse, d a ß die Animosität des Zaren gegen Frankreich ihn zu einer Politik fortreißen konnte, die seine Alliierten kompromittieren mußte, alle diese Umstände veranlaßten Ancillon, „alles zu vermeiden, was eine Kollision mit Frankreich herbeiführen könnte". 151 Bei den Konferenzen in Berlin ging es daher seit Mitte Juli nicht so sehr darum, praktische Vorbereitungen f ü r einen als unvermeidlich angesehenen Ernstfall zu treffen, sondern es k a m dem österreichischen Staatskanzler m e h r darauf an, die Verbindungen zu Rußland und Preußen mit Hilfe der Berliner Vereinbarungen weiter zu festigen und damit eine seit der Julirevolution anhaltende Tendenz zu fördern. 152 Doch die von Metternich vorübergehend in Erwägung gezogene Absicht, die Berliner Militärkonferenz in ein Treffen der drei Monarchen überzuleiten, w u r d e wieder fallengelassen. 153 Auch Ancillon w a r damals gegen ein Monarchentreffen, weil er davon einen „nachteiligen Einfluß auf die ohnehin n u r zu gleichförmige Politik der beiden Mächte England und Frankreich" befürchtete. 1 5 4 Erst die Folgen der im Herbst 1832 an der belgischen Frage erneut aufbrechenden Gegensätze zwischen den Westmächten und den Kernmächten der Heiligen Allianz f ü h r t e n den österreichischen Staatskanzler fast unmittelbar diesem Ziel entgegen. Ungeachtet der durch den Artikel 7 des Novembervertrages schon u n w i d e r r u f lich gefallenen Entscheidung zugunsten der staatlichen Unabhängigkeit Belgiens, die von Ancillon in Verkennung der w a h r e n Ursachen dem falschen Verhalten Bülows zugeschrieben wurde 155 , kam es im Spätsommer zu neuen Spannungen zwischen den Mächten. Sie entstanden aus der Weigerung Hollands, die Zitadelle von A n t w e r p e n und einige kleinere Festungswerke an der Scheide zu räumen, 150

Im April 1832 hatte der Präsident der Preußischen Seehandlung Rother in London eine Anleihe über vier Millionen Taler abzuschließen versucht, die als Hypothek auf die königlichen Domänen eingetragen werden sollten. Vgl. dazu den sächsischen Gesandtenbericht aus Berlin vom 29.4.1832, Staatsarchiv Dresden, Außenministerium Nr. 3254, Bl. 172. !3t Zitiert aus dem Bericht Clams an Metternich vom 24. 8.1832, in dem die außenpolitischen Leitlinien Ancillons eingeschätzt werden. HHSTA Wien, Staatskanzlei, Preußen, Corresp., Fasz. 146 b, Bl. 284. i">2 D e r Vertraute des belgischen Königs, der Baron von Stockmar, glaubte im Juni 1832 feststellen zu können, daß die drei Mächte „mit geringen Verschiedenheiten" auf einer Linie ständen, wozu die Zustände in Polen, Italien und in verschiedenen Teilen Deutschlands die Veranlassung gegeben hätten. Ihre Verbindungen seien jetzt fester als in den Vorjahren. Denkwürdigkeiten aus den Papieren des Freiherrn Christian Friedrich von Stockmar, zusammengest. von E. Frhrn. von Stockmar, Braunschweig 1872, S. 237. 1-13 HHSTA Wien, Staatskanzlei, Preußen, Corresp., Fasz. 146 b, Bl. 50 ff. m Zitiert aus dem Bericht Clams an Metternich vom 5. 8.1832, ebenda, Bl. 229 f. Nach dem Entwurf eines Immediat-Berichtes an Friedrich Wilhelm III. vom 15. 7. 1832, ZStAM, Rep. 92 Ancillon, Nr. 64, Bl. 3 ff.

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Harald Müller

nachdem Palmerstons diplomatische Versuche zur Beruhigung der Lage im Juli gescheitert waren. 166 Die Situation wurde weiter dadurch kompliziert, daß Belgien jetzt Einsprüche gegen die Erhebung von Zöllen auf der Scheide durch Holland erhob, die ebenfalls im Novembervertrag festgelegt worden waren. Dieser Sachverhalt berührte unmittelbar die ökonomischen Interessen Preußens. Antwerpen hatte sich bis 1830 zu einem wichtigen Seehafen und Warenumschlagplatz für den Uberseehandel entwickelt.157 Da die belgische Handelsbourgeoisie aus der Erhebung von Scheidezöllen Beeinträchtigungen ihres Handels befürchtete, organisierte sie jetzt unter der Losung „Freiheit für die ScheideSchiffahrt!" einen politischen Kampf, in dem sich König Leopold zum Sprecher machte. In einem Brief an Friedrich Wilhelm III. erklärte er am 18. August, daß ein Zurückweichen Belgiens in den strittigen Schiffahrtsfragen auch die Interessen Preußens verletzen würde, und entwarf ein verlockendes Zukunftsbild: „Antwerpen wird in Zukunft, wenn es nur gelingt, die freundschaftlichen und engen Verbindungen mit dem preußischen Staat zu knüpfen, die ein gegenseitiges Interesse erheischt, wahrhaft ein preußischer Hafen an der Nordsee und eröffnet als solcher die glänzendsten Aussichten für die Prosperität E. M. Staaten." 158 Die Argumente Leopolds waren geschickt gewählt. Die drückenden holländischen Durchfuhrzölle an der Rheinmündung beeinträchtigten den westdeutschen Handel, indem sie die Transportkosten auf der niederländischen Stromstrecke auf das 13fache gegenüber denen auf der preußischen Strecke von gleicher Länge erhöhten. Deshalb war in den Rheinlanden die Errichtung einer Bahnlinie zwischen Köln und Herbesthal an der belgischen Grenze im Gespräch, die mit einer entsprechend angelegten belgischen Bahn Köln und Antwerpen verbinden und holländische Häfen ausschalten sollte.159 Bereits im November 1831 hatte ein belgischer Geschäftspartner Hansemanns, Davignon, angedeutet, daß König Leopold Kontakte mit Preußen anknüpfen wolle, und Hansemann in Berlin um eine Sondierung in diesem Sinne ersucht. Tatsächlich plädierte Hansemann am 2. Dezember in einer Denkschrift an den preußischen Finanzminister Maaßen im preußischen Interesse für eine Annäherung an Belgien.160 In echter Bourgeoismanier sprach sich Hansemann dafür aus, das revolutionäre Belgien nicht aus legitimistischen Bedenken starrköpfig zu negieren, sondern die günstige Gelegenheit zu benutzen, Einfluß auf den schwachen belgischen Staat zu nehmen, die Grenzen des Zollvereins auszudehnen und da-

Webster, Palmerston, Bd. 1, S. 154. Zur Rolle Antwerpens als Warenumschlagplatz vgl. ebenda, S. 116. 158 ZStAM, 2. 4. 1. Abt. I Nr. 8471, Bl. 13 f. 150 Vgl. hierzu Motteck, Hans, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Ein Grundriß, Bd. 2: Von der Französischen Revolution bis zur Zeit der Bismarckschen Reichsgründung, Berlin 1964, S. 158, sowie den Bericht des sächsischen Gesandten in Berlin vom 24. 7.1832, Staatsarchiv Dresden, Außenministerium Nr. 3254, Bl. 307. 160 vgl. für das folgende Dunk, Hermann von der, Der deutsche Vormärz und Belgien 1830-1848, Wiesbaden 1966, S. 146 ff. 156 157

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mit Antwerpen und das Meer zu gewinnen. Auch andere einflußreiche Vertreter der rheinischen Bourgeoisie unterstützten Hansemanns Initiative und bemühten sich, „sowohl die Regierung als auch die öffentliche Meinung davon zu überzeugen, daß in Belgien ein potentieller Bundesgenosse auf politischem und kommerziellem Gebiet erschienen sei".161 Doch diese Bemühungen blieben ohne Ergebnis. Die preußische Regierung war nicht bereit, aus ökonomischen Erwägungen und zum Vorteil der rheinischen Bourgeoisie eine Annäherung an Belgien und damit einen grundlegenden außenpolitischen Frontwechsel zu vollziehen. Die von Hansemann apostrophierten „legi timistischen Bedenken" waren stärker als die Neigung, ohne traditionelle Bindungen ausschließlich dem eigenen materiellen Vorteil zu dienen. Die ablehnende Antwort Friedrich Wilhelms III. an Leopold und die hierbei an Belgien gerichtete Aufforderung, nachzugeben162, widerspiegeln die Grenzen der Bereitschaft der preußischen Adelsklasse und des Hofes, die Staatspolitik kapitalistischen Interessen nutzbar zu machen, und stehen im Gegensatz zur preußischen Zollvereinspolitik.163 Preußen blieb, wenn auch mit dem deutlich wahrnehmbaren Bestreben, jeden auffallenden Schritt gegen die Kombination Belgien-Frankreich-England zu unterlassen164, fest mit Österreich und Rußland verbunden, als die Westmächte die Initiative ergriffen, Holland durch Zwangsmaßnahmen zur Räumung Antwerpens zu zwingen. Um ein einseitiges gewaltsames Vorgehen der Westmächte gegen Holland auszuschließen, hatte Metternich vordem vorgeschlagen, daß die fünf Mächte dem König von Holland eine gemeinsame Erklärung zugehen lassen sollten. In dieser wurde die vollständige Erfüllung der in den 24 Artikeln des Novembervertrages enthaltenen Bedingungen verlangt, wenn er sich nicht Zwangsmaßnahmen ausgesetzt sehen wollte, wobei allerdings militärische Repressalien unterbleiben sollten.165 Ende September sah es so aus, als wenn alle fünf Mächte in London über die Anwendung dieser Zwangsmittel (so wollte man Belgien Abzüge von seinen Schulden gegenüber Holland gewähren) einig wären. Bülow, Wessenberg und Lieven waren bereit, einen entsprechenden Brief an den König von Holland zu unterzeichnen. Doch im letzten Augenblick wurde die Teilnahme des russischen Vertreters an dieser Aktion durch das Eingreifen des Zaren verhindert.166 Damit war eine einheitliche Aktion der fünf Mächte endgültig gescheitert. Dies wurde in Berlin in erster Linie dem Verhalten des Zaren angelastet, weil er durch überdeutliche Erklärungen gegen Zwangsmittel seine Verbündeten in 161

Vgl. ebenda, S. 153. ZStAM, 2.4.1. Abt. I Nr. 8471, Bl. 16, Friedrich Wilhelm III. an Leopold von Belgien, 23. 9.1832. 163 vgl. hierzu die Bemerkungen von Bleiber, Staat und bürgerliche Umwälzung in Deutschland, S. 218 f. 164 Das wurde auch in den Berichten Clams hervorgehoben. Vgl. hierzu HHSTA Wien, Staatskanzlei, Preußen, Corresp., Fasz. 146 b, Bl. 251. 165 Vgl. Srbik, Metternich, Bd. 1, S. 607. 166 Vgl. Webster, Palmerston, Bd. 1, S. 168. 162

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eine zweideutige Stellung gebracht und den König von Holland in seinem Widerstand bestärkt habe. 167 Jetzt konnten die Westmächte die Initiative an sich reißen und damit die Kernmächte der Heiligen Allianz von jeder weiteren Beteiligung an der Lösung der strittigen Fragen zwischen Belgien und Holland ausschließen. Es bedeutete daher eine Demütigung Österreichs und Preußens, wenn Palmerston, nachdem seine Ankündigung, durch eine französische Armee die Holländer aus Antwerpen vertreiben zu lassen, von Berlin mit der Drohung beantwortet worden war, eine französische Armee in Antwerpen nicht dulden zu wollen, einfach mitteilte: England und Frankreich würden diese Aktion in jedem Falle ausführen, was auch immer Preußen, Österreich und Rußland dazu zu sagen hätten. 168 Am 11. Oktober faßte das britische Kabinett den Beschluß, ein Embargo gegen alle holländischen Schiffe zu verhängen und den Angriff auf die Zitadelle von Antwerpen einzuleiten, und am 22. Oktober unterzeichneten Palmerston und Talleyrand eine Abmachung über diese Aktionen. 169 Die Kabinette von London und Paris ließen sich auch dann nicht beirren, als der Zar durch die Abberufung seiner Bevollmächtigten die Londoner Konferenz sprengte und Preußen als Drohgeste ein Observationskorps an die belgische Grenze vorschob170, was demagogisch als der „Sicherheit und Aufrechterhaltung der Ehre des Deutschen Bundes" dienend ausgegeben wurde.171 Und sie blieben auch fest, als Bülow in London von England und Frankreich eine Gegenleistung für das preußische Einverständnis, gegen Holland mit pekuniären Zwangsmaßnahmen vorzugehen, verlangte. So sollten sie sich verpflichten, von einem bestimmten Tage an keine feindseligen Maßnahmen gegen Holland zu ergreifen und auch später in jedem Falle sich vor allen Entscheidungen mit Rußland, Preußen und Österreich zu verständigen. 172 Metternich blieb zunächst nicht untätig. Preußen und Rußland drängte er im Oktober, in Berlin ein centre d'entente zu schaffen. Unter der Parole „Die drei müssen sich den zwei gegenüber zu einem machen" beabsichtigte er, gemeinsame Maßnahmen festzulegen und die Objekte neuer Verhandlungen der fünf Mächte an einem neu zu bestimmenden Tagungsort festzulegen, wobei die Bevollmächtigten strikt an die Weisungen ihrer Regierungen gebunden bleiben sollten, um eine Verselbständigung der Konferenz wie im Falle der Londoner zu verhindern.173 Aber dieser Versuch, die Initiative wieder zurückzugewinnen, blieb wirkungslos. Bei den offenbar von Clam im Auftrage Metternichs in Berlin vorgenommenen Sondierungen hatte der preußische Minister Graf Lottum eine Linie 167

ins 169 170

171 172 173

Vgl. dazu die Denkschrift des preußischen Außenministeriums von 27.10.1832 für Friedrich Wilhelm III., ZStAM, 2. 4. 1. Abt. I Nr. 8471, Bl. 47 ff. vgl. Webster, Palmerston, Bd. 1, S. 169. vgl Hillebrand, Geschichte Frankreichs, S. 510. Unter den Hohenzollern, T. 2, S. 44. vgl, den Bericht des sächsischen Gesandten in Berlin vom 31.10.1832, Staatsarchiv Dresden, Außenministerium Nr. 3254, Bl. 463. vgl. den Entwurf einer Kabinettsorder Friedrich Wilhelms III. an Ancillon vom 10. 10. 1832, ZStAM, Rep. 92 Witzleben, Nr. 110, Bl. 24. Vgl. zu diesen Bemühungen Metternichs Srbik, Metternich, Bd. 1, S. 668.

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der äußersten Zurückhaltung vertreten. Dabei sah er sich zu dem Eingeständnis gezwungen, daß Preußen hierbei den veränderten Verhältnissen folgen müsse: „Die heutige Lage der Welt mache leider manche Rücksichten notwendig, die man vor Zeiten gar nicht gekannt habe." Als Ursachen für den eingeschränkten außenpolitischen Handlungsspielraum Preußens führte Lottum die finanzielle Schwäche des Staates an, ferner, wie im Vorjahr Bernstorff, die notwendige Rücksichtnahme auf die Stimmung der Bevölkerung, denn „immer bleibt es wünschenswert, daß wir auf eine, für den gemeinsten Verstand deutliche, sozusagen handgreifliche Weise gezwungen den Krieg machen müssen". Das sei aber nur bei einem französischen Angriff der Fall, nicht aber, „wenn ein Krieg beginnt, den die Welt wegen der Scheide usw. geführt glaubt".174 Diese Zurückhaltung mußte die Bemühungen Metternichs um die Errichtung eines centre d'entente beeinträchtigen, und dies um so mehr, als Preußen auch in London eine eigene Linie verfolgte. Denn auch als der Zar seine Bevollmächtigten von der Konferenz zurückzog, war Ancillon entschlossen, deren Arbeit fortzusetzen, und beließ Bülow am Tagungsort. Und am 26. Oktober erklärte er in aller Form, daß Preußen nur dann zum bewaffneten Einschreiten zugunsten Hollands entschlossen sei, wenn „wahrhaft europäische Interessen" berührt, d. h., wenn holländisches Gebiet angegriffen würde.175 England und Frankreich aber handelten entschlossen, ließen am 14. November eine französische Armee in Belgien einrücken, während eine alliierte Blockadeflotte vor der holländischen Küste kreuzte. A m 19. November hatten die französischen Truppen Antwerpen erreicht und schlössen die Zitadelle von der Außenwelt ab. A m 22. Dezember stellte ihre Besatzung den Widerstand ein und übergab die Festung, worauf sich die französische Armee sofort wieder aus Belgien zurückzog. Diese Entwicklung wurde von Rußland, Österreich und Preußen ohne jede Gegenaktion hingenommen. Für die erzwungene Passivität fand man in Wien und in Berlin unter russischem Einfluß schnell die Formel der „Temporisierung". Der im November nach Wien entsandte Berater des Zaren in allen Frankreich betreffenden Fragen, Pozzo-di-Borgo176, hatte erklärt, daß, da die Festigung des Thrones der Orléans Europa vor der Gefahr des Republikanismus bewahre, die Mächte alles tun müßten, den schweren Stand Louis Philippes zwischen den Parteien zu erleichtern. Aus diesem Grunde wollte Pozzo dem am 12. Oktober gebildeten neuen konservativen französischen Kabinett unter Soult durch „Temporisierung" eine lange Lebensdauer verschaffen.177 Der sich diese Auffassung voll zu eigen machende Metternich versicherte daher dem französischen Botschafter in Wien, wenige Tage nach seinen Unterredungen m

Aus

d e m Bericht C l a m s an Metternich v o m

6. 10. 1832, H H S T A

Wien,

Staats-

kanzlei, Preußen, Corresp., Fasz. 146 c, Bl. 232 f. 173

V g l . Hoffmann,

176

Z u r Stellung Pozzos vgl. Istorija diplomata,

177

V g l . den Bericht des sächsischen Gesandten in W i e n v o m 3. 11. 1832, Staatsarchiv

P r e u ß e n u n d die Julimonarchie, S. 140. T o m I, S. 493.

Dresden, Außenministerium N r . 3150, Bl. 277 ff. 3 Jahrbuch 21

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mit dem Abgesandten des Zaren, d a ß der Entschluß der französischen Regierung, den gordischen K n o t e n des belgisch-holländischen Streitfalles gemeinsam mit England zu durchschlagen, .in i h r e r schwierigen innenpolitischen Stellung einen Entschuldigungsgrund finde. 178 In seinen Weisungen an Trauttmansdorff begnügte sich der österreichische Staatskanzler deshalb damit, die Formel von der „Temporisierung" mit den Worten abzuwandeln, „daß m a n sich begnügen möge, eine a t t i t u d e a n z u n e h m e n . Weitergehen finde ich in verzwickter Lage nie gut." 179 Ancillon beschränkte sich d a r a u f , das Vorrücken des VII. preußischen A r m e e k o r p s u n t e r General von Müffling ü b e r den Rhein an die Maas als eine Sicher u n g s m a ß n a h m e zum Schutze deutschen T e r r i t o r i u m s zu kommentieren 1 8 0 u n d den utopischen Plan zu e n t w e r f e n , durch B u n d e s t r u p p e n L u x e m b u r g besetzen u n d dadurch „gewissermaßen in V e r w a h r u n g n e h m e n " zu lassen. Im übrigen deutete er an, d a ß England u n d Frankreich mit i h r e n Koerzitivmaßregeln gegen Holland Belgien im G r u n d e n u r zu seinem vertraglich v e r b r i e f t e n Recht v e r helfen wollten. 181 Unterdessen h a t t e Wittgenstein, der dabei das internationale K r ä f t e v e r h ä l t n i s falsch einschätzte u n d Metternich einen nicht v o r h a n d e n e n Handlungswillen unterstellte, die Österreicher beschworen, einen R a t zu geben, wie P r e u ß e n auf die Aktion gegen A n t w e r p e n reagieren solle. „Wenn w i r England u n d Frankreich t u n lassen, w a s sie wollen, so geht alles zu G r u n d e , m a n h a t auch keinen Krieg deshalb bekommen, weil Österreich in die Legationen eingerückt ist", e r k l ä r t e er in beinahe grotesker V e r k e n n u n g der außenpolitischen Situation. Der Appell an die Wiener Adresse w u r d e von Wittgenstein a u ß e r d e m mit einer d e u t lichen Kritik an d e m nach seiner Meinung viel zu unentschlossenen V e r h a l t e n Ancillons verbunden. 1 8 2 Aus wiederholten Fragen, „was w i r u n d Sie (d. h. Österreich - H. M.) d a n n zuletzt t u n wollen, w e n n der König von Holland auf seinem Gebiet angegriffen wird" 183 , k o n n t e Metternich den Schluß ziehen, d a ß seine bish e r in Berlin auf wenig Z u s t i m m u n g gestoßene Idee, ein centre d'entente zu errichten, jetzt auf eine günstigere A u f n a h m e rechnen konnte. Geschickt h a t t e Clam auf die Klagen Wittgensteins, m a n brauche zwischen Wien, Berlin u n d P e t e r s b u r g 14 Tage, u m sich zu verständigen, erwidert, daß Metternich ja gerade aus diesem G r u n d e seinen Vorschlag ü b e r die Bildung eines centre eingebracht habe. Ä u ß e r u n g e n wie die Lottums, n u r ein derartiges G r e m i u m k ö n n e einen ganz gleichmäßigen G a n g in der Politik Preußens, Österreichs u n d Rußlands herstellen 134 , zeigten Metternich an, daß i h m der Durchbruch jetzt offen-

178

Vgl. ebenda vom 10. 11. 1832, Bl. 287 f. HHSTA, Wien, Staatskanzlei, Preußen, Corresp., Fasz. 146 c, Bl. 17, Metternich an Clam zur Weiterleitung an Trauttmansdorff, 20.11.1832. 180 Ebenda, Fasz. 146 b, Bl. 396, Ancillon am 10. 11. 1832 an den preußischen Bunddestagsgesandten v. Nagler. 1?1 Ebenda, Preußen, Karton Nr. 205, Ancillon an Nagler, 6. 11. 1832. 182 Zitiert aus dem Bericht Clams an Metternich vom 6. 11. 1832, ebenda, Corresp., Fasz. 146 c, Bl. 243. 183 Zitiert aus dem Bericht Clams an Metternich vom 21. 11. 1832, ebenda, Bl. 324 f. 184 V gi. ebenda, Bl. 339 ff. 179

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sichtlich gelungen war. Und er hatte die Genugtuung, daß auch der „Zauderer" Ancillon 185 genau wie Wittgenstein die großen Entfernungen zwischen den Hauptstädten als einen die Kommunikation behindernden Faktor beklagte 186 und sich dann zu der Erkenntnis durchrang, daß die Errichtung eines centre d'entente in Berlin dringend geboten sei.187 Diesen Weg beschritt Ancillon indes nur unlustig und zögernd. Clam, der schon im vergangenen November Metternichs Vorschlag über die Bildung eines centre in Berlin übermittelt hatte, klagte Mitte Januar 1833, daß man jetzt - nach zwei Monaten - erst soweit sei, daß Rußland einen Vorschlag über die Bedingungen seines Beitritts gemacht habe. Die „glückliche Idee", ein solches Zentrum zu errichten, hätte eine wärmere Aufnahme verdient. 188 Verständigungsschwierigkeiten waren bereits bei der Erörterung der Frage aufgetreten, welcher Personenkreis das centre bilden und in welcher Form es wirksam werden sollte. Nicht nur, daß sich Ancillon mit Entschiedenheit gegen das Projekt des Zaren aussprach, in Berlin durch die Vertreter der drei Mächte eine Konvention ausarbeiten zu lassen, als Gegenerklärung gegen das das Unternehmen gegen Antwerpen begründende Abkommen Englands und Frankreichs vom 22. Oktober 1832.189 Er war auch gegen den russischen Vorschlag, die Verhandlungen des centre nicht durch die Gesandten Trauttmansdorff und Ribeaupierre, sondern mit besonderen Bevollmächtigten zu führen. Ancillon argwöhnte, daß der Zar einen zum Kriege drängenden General nach Berlin schicken werde. 190 Außerdem fürchtete er, daß dessen Entsendung in London und Paris als Indiz gewertet werden könnte, daß man eine neue Koalition schmieden wolle: Die Berliner Verhandlungen dürften nicht als ein neues Pillnitz mißdeutet werden. Doch er und Clam, der den russischen Diplomaten klarmachen wollte, daß in Berlin nicht von allgemeinen europäischen Fragen, sondern n u r von Belgien die Rede sein sollte191, hatten die außenpolitische Strategie des Zaren nicht erkannt. Nikolaus I. wollte in Berlin durchaus nicht allgemeine europäische Fragen, sondern eben nur das belgische Problem beraten sehen als eine der zu klärenden Fragen vor der allgemeinen Problemen zugewandten „großen" Konferenz. 192 Um jeden aggressiven Eindruck der außenpolitischen Zielsetzungen Preußens zu vermeiden, wurde im Januar im deutlichen Gegensatz zu den Bestrebungen einer Gruppe höherer Offiziere, wie General Natzmer und Oberst Reyher, die nur auf die Möglichkeit warteten, gegen Frankreich loszuschlagen 193 , von der zurückhaltenden Gruppierung am Berliner Hof, zu der auch Ancillon gehörte, die Rück185 V g l ebenda, Bl. 329 f. 180 187 188 189

100 191 192

193



Nach dem Bericht Clams an Metternich vom 14. 11. 1832, ebenda, Bl. 291. Vgl. Hoffmann, Preußen und die Julimonarchie, S. 143. HHSTA Wien, Staatskanzlei, Preußen, Karton Nr. 153, Bl. 36. Vgl. den Bericht Clams an Metternich vom 7. 12. 1832, ebenda, Corresp., Fasz. 146 c, Bl. 463. Nach dem Bericht Clams an Metternich vom 17. 12. 1832, ebenda, Bl. 519 f£. Nach dem Bericht Clams an Metternich vom 27. 12. 1832, ebenda, Bl. 567 ff. Vgl. Kinjapina, N. St., Vnegnjaja politika Rossii pervoj polovin'y XIX veka. Moskau 1963, S. 198. Vgl. Unter den Hohenzollern, T. 2, S. 45 ff.

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f ü h r u n g des preußischen Observationskorps in seine f r ü h e r e n Stellungen v e r a n laßt, nachdem die Truppen Gerards sich aus Belgien zurückgezogen hatten. 194 Als am 28. J a n u a r in Berlin die Verhandlungen über die Koordinierung des weiteren Vorgehens der drei Mächte in der belgischen Frage begannen, hatte sich die preußische Diplomatie in einem P u n k t durchsetzen können, denn als Teilnehmer wirkten neben Ancillon die diplomatischen Vertreter Österreichs und Rußlands mit. Doch mußte Ancillon nachgeben, als beraten wurde, in welcher Form die Verhandlungen abgeschlossen werden sollten. Seine ständig wiederholten Bedenken, sie nach den Intentionen des Zaren mit einer Gegenkonvention zu beenden, w u r d e n von Clam energisch zurückgewiesen, der sich neben T r a u t t mansdorff als dem eigentlichen Vertreter Österreichs in die Verhandlungen eingeschaltet hatte. Durch die Mitteilung Metternichs angestachelt, daß Rußlands Teilnahme an den Berliner Beratungen durchaus nicht sicher sei195 - erst nach dem Anlaufen der Verhandlungen e r f u h r er aus Wien das Einverständnis Petersburgs 1 9 6 - , erpreßte Clam Ancillon und r a n g ihm das Zugeständnis ab, die Berliner V e r h a n d lungen doch mit einer in aller F o r m abgefaßten Erklärung zu beenden. Er h a t t e Ancillon vorgehalten, daß Rußlands Vorschläge unbedingt berücksichtigt w e r d e n müßten, wenn m a n es auf einer gemeinsamen Linie der Verhandlungsbereitschaft gegenüber den Westmächten festhalten wolle. 197 Doch auch nach dem 28. J a n u a r k ä m p f t e Ancillon darum, d a ß das die Beratungen abschließende Protokoll wenigstens nicht das Aussehen einer „Deklaration" annahm 198 , und setzte einige Modifikationen in dem von Metternich ausgearbeiteten Textentwurf durch. 199 Ungehalten meldete Clam nach Wien, d a ß die Ängstlichkeit Ancillons in einer ständigen Wechselwirkung zu der des preußischen Königs stehe. Sie hindere ihn daran, mit seinem Appell Eindruck zu machen, daß die drei Mächte sich unbedingt einig werden müßten. Daher e m p f a h l Clam, in Berlin nicht zu schroff a u f zutreten, u m Wittgenstein und Lottum nicht die Gelegenheit zu nehmen, tätig zu werden. 200 Die Beziehungen Preußens und Rußlands w a r e n zum Zeitpunkt der Berliner Beratungen durch die Erklärung des Zaren belastet worden, d a ß er in die Festigkeit der Stellung des preußischen Kabinetts Zweifel setzen müsse. Damit reagierte Nikolaus I. auf die Ablehnung seines durch General Neidhardt im Vor194

195 106

197 198 199 200

Vgl. dazu den Bericht des sächsischen Gesandten in Berlin vom 11. 1. 1833, Staatsarchiv Dresden, Außenministerium Nr. 3155, Bl. 18. Nach einem Brief Metternichs an Trauttmansdorff vom 18. 1. 1833, HHSTA Wien, Staatskanzlei, Preußen, Karton Nr. 152, Bl. 53 ff. Am 6. 3. teilte Metternich Trauttmansdorff die russische Zustimmung mit. Ebenda, Bl. 227. Nach dem Bericht Clams an Metternich vom 24. 1. 1833, ebenda, Karton Nr. 153, Bl. 37 ff. Nach den Notizen Clams vom 5. 2. 1833 über die Verhandlungen Ancillons mit Ribeaupierre und Trauttmansdorff, ebenda, Corresp., Fasz. 151, Bl. 82 ff. Nach einem Bericht Clams an Metternich vom 5. 2. 1833, ebenda, Preußen, Kartön Nr. 153, Bl. 81 ff. Ebenda, Bl. 69 ff.

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jähr in Berlin übermittelten Vorschlages, zwischen Preußen, Österreich und Rußland in aller Form einen Allianz-Traktat abzuschließen. 201 Friedrich Wilhelm III. suchte das mit dem Hinweis zu rechtfertigen, er habe den Verdacht zerstreuen wollen, als sei mit diesem Traktat ein Angriffskrieg der drei Mächte eingeleitet worden: „Aus diesen Gründen hat es immer dem Königlichen Kabinett geschienen, daß ein förmlicher Allianz-Traktat der drei Kontinentalmächte teils überflüssig, teils verderblich wäre und manchen Nachteil mit sich führen könnte, ohne die Ruhe und die Sicherheit des Staates stärker zu verbürgen." Die Truppenhilfe Rußlands wolle man nur in Anspruch nehmen, wenn Frankreich Deutschland angreife. 202 Trotz dieser Meinungsverschiedenheiten kamen die Vertreter der drei Mächte schließlich dennoch zu einer Übereinkunft. Am 9. März unterzeichneten Ancillon, Trauttmansdorff und Ribeaupierre die „Articles convenus entre l'Autriche, la Prusse et la Russie pour leur servir des directions dans la reprise de la question Hollando-Belge". 203 Trotz Berufung auf die „principes conservateurs" akzeptierten sie den Novembervertrag und damit die Selbständigkeit Belgiens als Grundlage aller weiterer Verhandlungen. Von da aus entschieden sich die Unterzeichner, jeder möglichen Ausdehnung der Zwangsmaßregeln der Westmächte auf das Territorium Hollands entgegentreten zu wollen. Dem König von Holland wurde ferner die Initiative zugesprochen, nach der Beendigung der Feindseligkeiten mit Belgien die Großmächte zur Fortsetzung der Londoner Konferenz aufzufordern. Nur unter diesen Voraussetzungen wollten sich Preußen, Rußland und Österreich an weiteren Verhandlungen beteiligen. Diese Übereinkunft war in den Augen Metternichs nicht so sehr dazu bestimmt, ein koordiniertes Verhalten der Mächte für einen Fall festzulegen, der jeden Augenblick eintreten konnte. Was darunter zu verstehen war, deutete der preußische König mit der Frage an, was geschehen solle, wenn nicht England und Frankreich, sondern der König von Holland durch seine Ansprüche auf Belgien einen Krieg auslösen würde. Auch Ancillon zeigte sich nach dem 9. März überzeugt, daß Preußen und seine Verbündeten nur ihre bisherige passive Haltung beizubehalten brauchten.20'1 Es ging Metternich vielmehr darum, daß Rußland, Österreich und Preußen einheitliche Handlungsbereitschaft demonstrierten und daß die in der belgischen Frage in Berlin und Petersburg deutlich auseinanderstrebenden Tendenzen auf einer mittleren Linie zusammengeführt wurden. An ein aktives Eingreifen in die immer noch andauernden Auseinandersetzungen zwischen Holland und Belgien, das das Risiko eines bewaffneten Konfliktes einschloß, dachte der österreichische Staatskanzler im Frühjahr 1833 längst nicht mehr. Die großen Wiener Bankhäuser, die im Februar 1833 der österreichischen 201 202 203 204

ZStAM, Rep. 92 Witzleben, Nr. 110, Bl. 57 f., Major v. Rauch an General v. Witzleben, Petersburg, 4. 1. 1833. Aus einem Memorandum an Nikolaus I., undatiert und ohne Nennung des Autors. Ebenda, Bl. 49 ff. HHSTA Wien, Staatskanzlei, Preußen, Corresp., Fasz. 148 a, Bl. 209 ff. Nach einem Bericht Clams an Metternich vom 24. 3. 1833, ebenda, Preußen, Karton Nr. 153, Bl. 276.

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Regierung eine Anleihe von 40 Millionen Gulden gewährten 205 , hatten aus Sorge um ihre Profite sich im übrigen das Recht vorbehalten, die Raten nicht weiterzuzahlen, wenn ein allgemeiner Krieg ausbrechen sollte, und Abrüstungsmaßnahmen verlangt. 206 Als im Sommer 1833 die Londoner Konferenz f ü r kurze Zeit wieder auf lebte, ohne die anstehenden Streitfragen lösen zu können, verhielten sich Österreich, Preußen und Rußland zurückhaltend. Sie machten auch keine ernsthaften Anstrengungen, Belgien aus Limburg und Luxemburg zu verdrängen. 207 Im Herbst desselben Jahres wurde Fürst Felix Schwarzenberg nach dem Haag entsandt, um im Namen und Auftrag des Zaren, des österreichischen Kaisers und des preußischen Königs die holländische Regierung' zur Annahme der 24 Artikel zu bewegen.208 Der im allgemeinen gut unterrichtete sächsische Gesandte in Berlin meldete über diese Mission nach Dresden, Schwarzenberg solle König Wilhelm verständlich machen, daß ihn die Kernmächte der Heiligen Allianz „dringend ersuchen müßten, den zur Aufrechterhaltung des allgemeinen Friedens so nötigen Abschluß des Definitiv-Traktats nicht länger aufzuhalten". 209 Der Fall Belgien war damit abgeschlossen. Zudem wurde die Aufmerksamkeit der Kabinette in Wien und in Berlin im F r ü h j a h r 1833 von der Entwicklung in Südwestdeutschland und in der Schweiz angezogen, so daß die „verpfuschte Affäre", wie Metternich die belgische Frage jetzt nannte, an den Rand ihres Interesses gerückt wurde. Als der unbewegliche Friedrich Wilhelm III. im März in einem Gespräch mit General Clam die Notwendigkeit militärischer Bereitschaft in den deutschen Staaten nur mit der belgischen Frage begründete, erhob Clam einen die neue Situation kennzeichnenden Einwand. Für diese Bereitschaft, erklärte er, gebe es noch andere Gründe, „nämlich der durchaus revolutionäre Zustand der Schweiz und einiger deutscher Staaten, welche letzteren von einem Tage zum anderen eine bundesmäßige Attitüde herbeiführen könnten". 210 Bereits im Dezember 1832 hatte Metternich seinen ergebensten Parteigänger in Berlin von seiner Absicht verständigt, gegen den „parti du mouvement", dessen Leitung und Zentrale er in Paris wähnte, eine wirksame Gegenoffensive der deutschen Fürsten durch ein „Zentrum" einzuleiten, „in welches die Entdeckungen, welche die radikalen Umtriebe betreffen, eingelegt und kontrolliert würden. Die Revolution hat ihr Zentrum in Paris, und die Abwehr kennt keins!" Von diesem Zentrum aus sollten die beobachteten Tätigkeiten des „parti du 205

Vgl. den Bericht des preußischen Gesandten in Wien vom 9. 2. 1833, ZStAM, AA III, Rep. 14, Nr. 365, Bd. I, Bl. 73. 208 Vgl. den Bericht des sächsischen Gesandten in Wien vom 9. 2. 1833, StaatsarchivDresden, Außenministerium Nr. 3151, Bl. 40. 207 Vgl. Stern, Geschichte Europas, Bd. 4, S. 260. 208 Vgl. Srbik, Metternich, Bd. 1, S. 669. 2oo vgl. den Bericht des sächsischen Gesandten in Berlin vom 24. 9. 1833, Staatsarchiv Dresden, Außenministerium Nr. 3255, Bl. 269. 210 HHSTA Wien, Staatskanzlei, Preußen, Karton Nr. 153, Bl. 269, Clam an Metternich, 24. 3.1833.

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mouvement" dann an die obersten Polizeibehörden in den einzelnen deutschen Staaten weitergeleitet werden. 2 1 1 Nach vertraulichen Besprechungen mit Wittgenstein w a r Friedrich Wilhelm III. spätestens im. März 1833 f ü r den Plan gewonnen, in Mainz ein Zentrum der gedachten Art zu bilden, dessen Einrichtung von Wien aus übrigens im tiefsten Geheimnis betrieben wurde. 212 Von vornherein w a r das mit der Beihilfe Preußens, Bayerns und Württembergs nach dem F r a n k f u r t e r Wachensturm gebildete Mainzer Zentral-Informationsbüro auf europäische Dimensionen angelegt. Da Metternich in den Ereignissen seit der Juli-Revolution einen Versuch der einheitlich handelnden internationalen revolutionären Bewegung sah, die bestehende europäische O r d n u n g in Frage zu stellen, sollte die neue Behörde - in die d e r erste österreichische Vertreter am 26. April entsandt wurde 213 - „umstürzlerische" Propaganda nicht n u r auf deutschem Boden, sondern auch in Frankreich, in der Schweiz und in Belgien überwachen. 214 Auch aus Ancillons Überzeugung, daß der F r a n k f u r t e r Wachensturm - den deutsche Revolutionäre mit Demokraten der polnischen Emigration in F r a n k reich ausgeführt hatten 215 - bewiesen habe, daß die Revolutionäre aller Länder in Gemeinschaft handelten 216 , zog Metternich folgenden Schluß: Die Herstellung einer engen Aktionsgemeinschaft der monarchistischen K r ä f t e sei das Gebot der Stunde, so daß „es f ü r alle Regierungen, in deren Ländern die Umwälzungsfraktion noch nicht die Oberhand gewonnen, n u r ein Interesse g e b e . . . sich dieser Fraktion aus allen K r ä f t e n zu widersetzen, dem Umstürze aller europäischen Throne zuvorzukommen". 2 1 ' Dieses „Zuvorkommen" sahen Kaiser Franz I. und Metternich am sichersten gewährleistet, wenn Preußen und Österreich im Falle weiterer revolutionärer Aktionen das selbstangemaßte Interventions„recht" in Anspruch n ä h m e n und auch ohne vorhergehende Aufforderung 2 1 8 ihre Truppen in den betroffenen deutschen Staat einmarschieren ließen. 219 Nachdem ein österreichisch-preußisches Korps unter General Piret in einer ersten Anwendung des Interventionsprinzips von Mainz her am 15. April in F r a n k f u r t eingerückt war, teilte Metternich Ende April Berlin m i t : Da mit dem Ausbruch von Unruhen in Süddeutschland gerechnet werden müsse, habe Österreich militärische Sicherungs- und Vorbereitungsmaßnahmen getroffen und die 3,1 212 213 214 m 216 217 218 218

Aus einem Brief Metternichs an Wittgenstein vom Dezember 1832, GStA (West-) Berlin, Rep. 192 Wittgenstein, VII/K 5, Bl. 19. Vgl. den Brief Metternichs an Wittgenstein vom 20. 3. 1333, ebenda, Bl. 102. Nach einer Mitteilung Metternichs an Wittgenstein vom 24. 4. 1833, ebenda, Bl. 137. Vgl. Srbik, Metternich, Bd. 1, S. 681. Vgl. Obermann, Deutschland von 1815 bis 1849, S. 93. Vgl. dazu Hoffmann, Preußen und die Julimonarchie, S. 155. Zitiert aus einem Bericht des sächsischen Gesandten in Wien vom 1. 4. 1833, Staatsarchiv Dresden, Außenministerium Nr. 3151, Bl. 86. Vgl. auch den Bericht des sächsischen Gesandten in Wien vom 20. 4. 1833, ebenda, Bl. 107. Zitiert aus einem Brief Clams an Wittgenstein vom 22. 4. 1833, GStA (West-)Berlin, Rep. 192 Wittgenstein, VII/K 5, Bl. 135.

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süddeutschen Fürsten davon verständigt, daß sie im Fall des Bedürfnisses auf die militärische Unterstützung der Habsburgermonarchie zählen könnten. 220 Das bezog sich auf die Sendung des Oberstleutnants Lichnowski, der an den süddeutschen Höfen bei seinem Vorhaben, militärische Schutzvorrichtungen zu vereinbaren, das weiteste Entgegenkommen fand. 221 Weiter wurden die österreichischen Truppen in Vorarlberg erneut verstärkt und in West- und Nordböhmen mobile Truppenkörper aufgestellt, nachdem Kaiser Franz I. am 26. April die Bildung einer mobilen Reserve von 17 000 Mann zur Unterstützung der süddeutschen Fürsten angeordnet hatte. 222 Im Sinne einer konterrevolutionären Arbeitsteilung schlug Metternich im Mai Preußen vor, daß Österreich im Falle von Unruhen in Baden, Bayern und Württemberg einschreiten sollte, während Preußen der nördliche Teil Deutschlands vorbehalten blieb. Sachsen sollte gegebenenfalls von österreichischen und preußischen Truppen gemeinsam besetzt werden. 223 Und am 29. Mai wurden von Kaiser Franz I. neue Anordnungen erlassen, die sich auf disponibel gehaltene Truppenabteilungen in dem Lande ob der Enns und an der Westgrenze Böhmens bezogen. Allein in Budweis und Pilsen wurden jetzt zwei mobile Divisionen f ü r den Interventionsfall bereitgehalten. 224 In den vertraulichen Verhandlungen erklärte Friedrich Wilhelm III. sein volles Einverständnis, Vorbereitungen f ü r die Intervention in den kleineren deutschen Staaten zu treffen. Das Interventions„recht" leitete Metternich aus den Bundestagsbeschlüssen vom 21. Oktober 1830 f ü r den Deutschen Bund her.225 Die geographisch angelegte „Arbeitsteilung" wollte der preußische König allerdings eingeschränkt wissen. Er war willensi, f ü r Preußen von Österreich den Rayon zwischen Thüringer Wald und Fichtelgebirge zu übernehmen 226 , während er im Westen Deutschlands nur dann zur Intervention bereit war, wenn auch Truppen eines anderen Staates mitwirkten, um nicht eigennütziger Machtpolitik verdächtigt werden zu können. 227 Beide Wünsche wurden von Metternich anerkannt, um eine generelle Einigung mit Preußen nicht zu behindern. 228 Eine weitere Voraussetzung f ü r die Überwindung der revolutionären Gefahren sahen die Höfe von Wien und Berlin in der Unterbindung der Zusammenarbeit 220

HHSTA Wien, Staatskanzlei, Preußen, Karton Nr. 152, Bl. 428 f., Metternich an Trauttmansdorff, 30. 4.1833. 221 Vgl. Stern, Geschichte Europas, Bd. 4, S. 327. 222 HHSTA Wien, Staatskanzlei, Preußen, Karton Nr. 153, Bl. 2. 22:! Ebenda, Karton Nr. 152, Bl. 491 ff., Metternich an Trauttmansdorff, 21. 5. 1833. 224 Aus einer Mitteilung der österreichischen Staatskanzlei an die preußische Regierung vom 3. 6.1833, ebenda, Corresp., Fasz. 150 b, Bl. 2 ff. 22j Ygi dazu Kurzer Abriß der Militärgeschichte von den Anfängen der Geschichte des deutschen Volkes bis 1945, S. 124. 22(; Die preußische Zustimmung wurde Trauttmansdorff von Ancillon mitgeteilt. Vgl. den Bericht Trauttmansdorffs an Metternich vom 4. 6. 1833, HHSTA Wien, Staatskanzlei, Preußen, Karton Nr. 151, Bl. 111 ff. 227 Ebenda, Karton Nr. 206, Bl. 26 f., Ancillon an den preußischen Geschäftsträger in Wien v. Brockhausen, 26. 6. 1833. 228 Ebenda, Karton Nr. 153, Bl. 97 f., Metternich an Trauttmansdorff, 16. 7. 1833.

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polnischer und deutscher Demokraten gegen die Prinzipien der Heiligen Allianz.229 Die Aktivitäten polnischer Emigranten von französischem Boden aus konfrontierten Metternich und Ancillon mit der Frage, wie durch Einwirken auf die französische Regierung die Bewegungsfreiheit der Polen - die Pariser Regierung hatte ihnen unter dem Druck der öffentlichen Meinung monatliche Beihilfen gewährt230 - eingeschränkt werden konnte. Noch energischer als zunächst Metternich, der sich in Paris über die nachsichtige Behandlung der Revolutionäre beschwerte231, war Ancillon entschlossen, die französische Regierung aufzufordern, „sämtliche für die Ruhe Deutschlands gefährlichen Individuen von der deutschen Grenze zu entfernen und ihnen jedes Eindringen nach Deutschland unmöglich zu machen".232 Falls sie dazu unfähig oder nicht bereit sein sollte, erwog Preußen, die Grenzen nach Frankreich bis auf wenige Ausnahmen hermetisch abzusperren.233 Hiermit war eine Thematik berührt, die direkt zu dem Treffen von Münchengrätz hinüberleitet: Einer der wichtigsten Verhandlungspunkte der Teplitzer Entrevue zwischen Franz I. und Friedrich Wilhelm III. und der Begegnung ihrer leitenden Minister im August 1833 bezog sich auf sie. Hier verständigten sich Metternich und Ancillon, daß Rußland, Österreich und Preußen dem französichen Kabinett gegenüber eine entschiedene Sprache wegen des Vorgehens gegen die „Propaganda" führen würden.234 Ein weiterer Ansatzpunkt für die Versuche Preußens und Österreichs, nunmehr die Lage wieder zugunsten der aristokratisch-monarchistischen Reaktion zu stabilisieren, bezog sich auf die Schweiz. In ihr, die Metternich im Frühjahr 1833 den Ländern zuzählte, „in denen die Propaganda regiert"235, waren nach der Julirevolution wichtige gesellschaftliche Prozesse vor sich gegangen, als deren Ergebnis die Schweizer Bourgeoisie in zwei Dritteln des Landes im politischen Kampf den Sieg davontragen konnte.236 In den zwölf ökonomisch am weitesten entwikkelten Kantonen war bis zum Sommer 1831 auf dem Wege revolutionärer Veränderungen die Macht aus den Händen des mittelalterlichen Patriziats in die Hände der Bourgeoisie übergegangen.237 In dieser „Regenerationszeit"238 wurden hier die alten aristokratischen Verfassungen gestürzt und neue kantonale Grundgesetze geschaffen, die der liberalen Bourgeoisie in den wichtigsten Gebieten des Landes die politische Herrschaft sicherten. 229

Vgl. Klassenkampf, Tradition, Sozialismus, S. 225. Vgl. Arnold/Zychowski, Abriß der Geschichte Polens, S. 105. m Vgl. Srbik, Metternich, Bd. 1, S. 681 f. 252 Nach einer Äußerung Ancillons gegenüber dem sächsischen Gesandten in Berlin vom 20. 4. 1833, Staatsarchiv Dresden, Außenministerium Nr. 3255, Bl. 108. ™ Vgl. ebenda, Nr. 3151, Bl. 119. 234 Vgl. Hoffmann, Preußen und die Julimonarchie, S. 159. 2:13 Zitiert nach einer von Metternich vorgenommenen Klassifizierung der europäischen Staaten vom 21. 5. 1833 in einem Brief an Wittgenstein. GStA (West-) Berlin, Rep. 192 Wittgenstein, VII/K 5, Bl. 181. 236 Vgl. Engels, Die Bewegungen von 1847, S. 494. 237 Vgl. Geschichte der Neuzeit, Bd. 2, 1. Halbbd., S. 337. 23s v g l dazu Wartburg, Wolfgang von, Geschichte der Schweiz, München 1951, S. 192. 530

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Am 19. Juni 1831 war den neuen Kantonverfassungen durch die Tagsatzung die eidgenössische Garantie erteilt worden. 239 Danach trat die Schweizer Bourgeoisie zu einer neuen Auseinandersetzung an. Sie beabsichtigte, anstelle des losen Kantonbundes von 1815 einen Bundesstaat zu setzen, der als zentralisierte Staatsmacht ihren Interessen dienen sollte. Nachdem die Tagsatzung am 17. Juli 1832 grundsätzlich die Reform der Bundesverfassung zum Beschluß erhoben hatte, wurde im Dezember desselben Jahres von liberalen Kräften ein Entwurf einer „Bundesurkunde der schweizerischen Eidgenossenschaft" vorgelegt, der die zentralisierte bürgerliche Staatsmacht begründen wollte.2''0 Diese Entwicklung wurde in Berlin und in Wien mit äußerstem Unwillen verfolgt. Er wurde noch dadurch potenziert, daß man hier eiine Rückwirkung der Schweizer Vorgänge auf die Staaten des Deutschen Bundes in Form einer Ermunterung der oppositionellen Kräfte erwartete, die durch die zentrale geographische Lage der Schweiz und durch das von den Schweizer Behörden praktizierte Asylrecht noch weiter begünstigt wurde. 241 Das erklärt die außerordentlich scharfe Reaktion des österreichischen Staatskanzlers. Doch ein militärisches Einschreiten kam wegen der Haltung der englischen und der französischen Regierung nicht in Frage. Auch der im Mai 1832 unternommene gemeinsame diplomatische Versuch Preußens, Österreichs, Rußlands und Sardiniens, die englische Regierung f ü r eine kollektive Einschüchterung der Schweiz zu gewinnen, scheiterte am Widerstand Palmerstons. 242 Dieser warf dem diplomatischen Vertreter Österreichs, Baron Neumann, vor, daß Österreich darauf aus sei, die Schweiz um ihre neutrale Stellung zu bringen („to strip the country of its neutrality").243 Das von Metternich ab 1831 angewandte Mittel der Einwirkung auf die Schweiz bestand aus erpresserischen Drohungen. Sie sollten die Schweizer Liberalen einschüchtern und die konservativen Kräfte in den Kantonen in ihrem Widerstand gegen die Liberalen unterstützen. Diese hatten sich im sogenannten Sarnerbund zusammengeschlossen, um alle gesellschaftlichen Veränderungen zu verhindern. Sie blieben auch im März 1833 den Beratungen der Tagsatzung über die Revision der Bundesverfassung demonstrativ fern.'-"''1 Bereits 1831 hatte Metternich durch den Gesandten Bombelles dem Tagsatzungspräsidenten gedroht, daß Österreich die Neutralität der Schweiz nur solange anzuerkennen bereit sei, wie deren Haltung den Verträgen von 1815 entspreche. 243 1832 wurde der Druck auf die Schweiz noch weiter verstärkt. Dabei konnte sich Metternich auf eine enge Zusammenarbeit mit Preußen stützen. Ancillon hatte Zu diesen Einzelheiten der Kämpfe in den Kantonen vgl. Dierauer, Johannes, Geschichte der Schweizerischen Eidgenossenschaften, Bd. 5, Gotha 1922, S. 526 ff. 2/ '° Vgl. ebenda, S. 578. 241 Vgl. Stern, Geschichte Europas, Bd. 4, S. 373. 242 Vgl. Webster, Palmerston, Bd. 1, S. 227 f. Ebenda, S. 235. Vgl. Dierauer, S. 585. 2 5 '' Vgl. dazu auch das Memorandum Metternichs vom 23. 11. 1831 in: Aus Metternichs nachgelassenen Papieren. Hrsg. von Richard Metternich-Winneburg, Bd. 5, Wien 1882, S. 221 ff.

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den preußischen Gesandten in Karlsruhe, von Otterstedt, am 4. J a n u a r 1832 angewiesen, mit den Vertretern Österreichs und Rußlands in der Schweizer Angelegenheit stets enge Fühlung zu halten. 346 Auch der preußische General von Pfuel, der im Dezember 1831 in Neuenburg, das der Oberhoheit des Königs von Preußen unterstand, einen Volksaufstand niedergeschlagen hatte 247 , drängte auf energische Maßnahmen gegen die bürgerliche Bewegung in der Schweiz, da deren Revolutionierung „mit der Revolutionierung von Süddeutschland in dem innigsten Zusammenhange steht". 248 In einer Denkschrift vom 5. Juni 1832 wiederholte Metternich seine Forderung, die Mächte sollten erklären, daß sie einer durch Verfassungsänderungen eingesetzten neuen schweizerischen Staatsgewalt die der Eidgenossenschaft 1815 bewilligte Neutralität nicht aufrechterhalten könnten. Diese Denkschrift fand in Berlin, Petersburg und Turin uneingeschränkte Zustimmung. 249 Obwohl in diesem Sinne abgefaßte diplomatische Noten dann doch nicht in Zürich übergeben wurden 250 , blieb Metternichs Denkschrift dem Vorort dennoch nicht unbekannt, ein Tatbestand, der bald seine Wirkungen zeigen sollte. Die Einmischung der Mächte der Heiligen Allianz in die inneren Angelegenheiten der Schweiz umfaßte auch die unverhohlene Unterstützung der aristokratischen Elemente im Sarnerbund. Tatsächlich erreichte es Metternich, daß der von ihm absprechend beurteilte 251 ursprüngliche Entwurf einer „Bundesurkunde der schweizerischen Eidgenossenschaft" nicht aufrechterhalten wurde. Zwar nahm die Tagsatzung im März 1832 die Beratung über die Revision der Bundesverfassung auf, doch der neue „Entwurf einer revidierten Bundesurkunde" vom 15. Mai sah im Unterschied zu seinem Vorläufer keine grundsätzlichen Neuerungen vor. Er f ü h r t e die Schweiz auf dem Wege zu einem zentralisierten bürgerlichen Staat keinen Schritt weiter, denn nach seinen Bestimmungen verblieb den Kantonen in weitern Umfange ihre souveräne Eigenmacht. 252 Metternich hatte diese Entwicklung gefördert, indem er in einer Note Österreich, Preußen und Rußland erklären ließ, daß sie alle Einrichtungen in der Schweiz als illegal ansehen würden, die nicht auf dem Bundesvertrage vom 7. August 1815 basierten. 253 Das Mißtrauen des österreichischen Staatskanzlers gegenüber der Schweiz war 2 6

'' Vgl. ZStAM, Rep. 81 Wien I, Nr. 144, Bd. I, Bl. 62 ff.

2 7

'' Zu den Einzelheiten vgl. Dierauer, S. 550 ff.; Staatsarchiv Dresden, Außenministerium Nr. 3253, Bl. 538. 'J's Vgl. den Bericht Trauttmansdorffs an Metternich vom 26. 4. 1832 über ein Gespräch mit Ernst von Pfuel, HHSTA Wien, Staatskanzlei, Preußen, Corresp., Fasz. 143 a, Bl. 323 f. "m Vgl. Dierauer, S. 587. 250 Aus dem Bericht des sächsischen Gesandten in Wien vom 25. 7. 1832, Staatsarchiv Dresden, Gesandtschaft Wien Nr. 92. 251 Vgl. ein undatiertes Memoire, das Metternich am 19. 1. 1833 Trauttmansdorff übersandte. HHSTA Wien, Staatskanzlei, Preußen, Karton Nr. 152, Bl. 125 ff. 2:2 Vgl. Dierauer, S. 590. ^ HHSTA Wien, Staatskanzlei, Preußen, Karton Nr. 153, Bl. 10 f., Metternich an Trauttmansdorff, 5. 4. 1833.

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noch angewachsen, als im April 1833, nur wenige Tage nach dem Frankfurter Wachensturm, eine Abteilung bewaffneter polnischer Emigranten unter Oberst Oborski von Frankreich aus in die Schweiz übertrat, wo ihr im Kanton Bern unter Belassung der Waffen Asylrecht eingeräumt wurde. Da der Bundestag mit der Möglichkeit rechnete, daß die Abteilung Oborskis einer in Süddeutschland erwarteten Volkserhebung beispringen könnte254, ließ er dem Vorort eine warnende Note zukommen, während Metternich sich mit dem Gedanken trug, die Grenzen Tirols hermetisch schließen zu lassen. Einwände, daß dadurch der gesamte Verkehr unterbrochen würde, wies er kategorisch zurück.255 Im ganzen konnte Metternich mit den Ergebnissen seiner Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Schweiz zufrieden sein. Der von ihm erreichte vollständige Akkord Rußlands, Österreichs und Preußens in der Schweizer Frage hatte die Entwicklung zu einem zentralisierten bürgerlichen Staat in diesem Lande nachhaltig behindert. Auch gegenüber Polen wurde die Zusammenarbeit zwischen Rußland, Österreich und Preußen vor dem Treffen von Münchengrätz ständig weiter intensiviert. Seit Ende Januar 1832 gab es in Wien Verhandlungen, die auf eine Neufestsetzung der Stellung der drei Mächte gegenüber der Republik Krakau abzielten.256 Wenige Monate später koordinierten sie ihr Vorgehen gegen die polnische Emigration. Auf den Wunsch des Zaren hin ließ die preußische Regierung durch Eichhorn in Wien erklären, daß sie in Zusammenarbeit mit Österreich und Rußland gegen die polnischen Flüchtlinge auf deutschem Boden vorzugehen bereit sei und auf die sächsische Regierung einwirken wolle, die polnischen Flüchtlinge aus Dresden zu entfernen.257 Zugleich leitete Preußen jetzt in der Provinz Posen eine verschärfte Germanisierungspolitik ein, womit es ebenfalls den Intentionen seiner Verbündeten entgegenkam. Diese Politik, die durch die Konfiskation der Güter derjenigen polnischen Adligen eingeleitet worden war, die sich an der Erhebung von 1830/31 beteiligt hatten, bezweckte, Posen „möglichst in das Ganze (d. h. den preußischen Staat - H. M.) zu inkorporieren, dasselbe zu germanisieren und die polnische Farbe durch die deutsche zu verwischen".258 Durch das gemeinsame Interesse beider Mächte an der Niederhaltung Polens wurden auch die damals sichtbar werdenden russisch-preußischen Interessengegensätze überlagert. Sie leiteten sich einerseits aus der protektionistischen Zollpolitik des russischen Finanzministers E. F. Kankrin her, die ausländische Waren entweder vollständig von der Einfuhr nach Rußland ausschloß oder mit hohen Eingangszöllen belegte.259 Andererseits waren sie eine Folge der 1832 vor-

254 v g l . Feller,

Richard, Polen und die Schweiz, Bern 1917, S. 8.

255

Siehe Kübeck, Tagebücher, Bd. 1, S. 621.

256

Vgl. Staatsarchiv Dresden, Außenministerium Nr. 3150, Bl. 45.

257

HHSTA

Wien, Staatskanzlei, Preußen,

Karton

Nr.

205, Eichhorn an

Maitzahn,

11. 4. 1832. Ebenda, Corresp., Fasz. 143 a, Bl. 22, Trauttmansdorff an Metternich, 9. 1. 1832. 259 vgl. LjaScenko, P. 1., Istorija narodnogo chozjajstva SSSR, T o m I, Moskau 1952, S. 488. 253

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genommenen Einbeziehung Polens in das einheitliche russische Zollgebiet, durch die den Interessen der preußischen Exporteure ein schwerer Schlag versetzt wurde. 260 Auch Metternich arbeitete mit dem Zaren eng bei der Unterdrückung Polens zusammen. Am 16. Juli 1832 setzten die österreichischen Behörden fest, daß alle noch im Bereich der Habsburgermonarchie lebenden polnischen Flüchtlinge innerhalb von zwei Monaten entweder ihre Rückkehr nach Polen oder die Ausreise ins Ausland angetreten haben müßten, wenn sie vermeiden wollten, über die Grenzen nach Rußland abgeschoben zu werden. 261 Als dennoch polnische Flüchtlinge durch die Unterstützung ihrer Landsleute in Galizien wieder Aufnahme und Unterkunft gefunden hatten, forderte die russische Regierung Österreich erneut auf, durchgreifende Maßnahmen zur Entfernung der Flüchtlinge zu treffen. 262 Kaiser Franz I. ordnete daraufhin im Mai 1833 an, eine Kommission mit der Aufspürung der Flüchtlinge zu beauftragen und die Ermittelten, wenn sie unter die fragwürdigen Amnestiebestimmungen des Zaren fielen, nach Rußland zurückzuschaffen, die übrigen nach Brünn zu bringen und sie über Triest in fremde Erdteile zu deportieren. 263 Der Schlußstein für das Fundament, das die Vereinbarungen von Münchengrätz und Berlin trug, wurde indes erst gelegt, als sich der Zar und Metternich 1832/33 in der Orientfrage verständigten. Gerade diese hatte seit der zweiten Hälfte der 20er Jahre wesentlich dazu beigetragen, die Heilige Allianz faktisch aufzulösen.284 Auch Interessendivergenzen zwischen Rußland und Österreich waren durch sie wesentlich vertieft worden. Namentlich die dem Sultan in Adrianopel am 14. September 1829 von Rußland abgepreßte Festlegung, wonach die Fürstentümer der Moldau und Walachei solange von russischen Truppen besetzt gehalten werden sollten, bis die Türkei die ihr auferlegten Kontributionen bezahlt hätte, sowie der bedeutende Einfluß, den Rußland auf die Donauschifffahrt nehmen konnte und der sich infolge der russischen Administration unter P. D. Kisselew ergab 265 , beunruhigten das Wiener Kabinett in besonders starkem Maße. Diese Maßnahme veranlaßte Oberst von Canitz in Berlin zu folgender Feststellung: „Seitdem die russischen Vorposten von Krakau bis Memel die preußischen Grenzen umschlingen, seitdem vollends das Zartum Polen russifiziert, und das Nachbarland durch eine Douanenlinie . . . feindselig abgesperrt wird, seitdem liegt der Gedanke nahe, daß die bisherige Freundschaft wohl nicht erhalten (werden) könnte." Dallinger, Gernot, Karl von Canitz und Dallwitz. Ein preußischer Minister des Vormärz, Köln/(West-)Berlin 1969, S. 25. 561 Vgl. Seide, Gernot, Regierungspolitik und öffentliche Meinung im Kaisertum Österreich anläßlich der polnischen Novemberrevolution (1830-1831), Wiesbaden 1971, S. 154. 252 Kübeck, Tagebücher, Bd. 1, S. 549. 263 HHSTA Wien, Staatskanzlei, Preußen, Karton Nr. 152, Bl. 462 f., Metternich an Trauttmansdorff, 15. 5.1833. 2f'* Vgl. Kinjapina, Vnesnjaja politika Rossii, S. 196. ' m Vgl. Marx, Karl, Die Moldau und die Walachei, in: MEW, Bd. 10, S. 314. 260

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Die Annäherung der Standpunkte des Zaren und des österreichischen Staatskanzlers in der Orientfrage, die im diplomatischen Sprachgebrauch die Situation innerhalb des Osmanischen Imperiums, den Einfluß auf die Politik des Sultans, die Meerengenfrage und die Befreiungsbewegungen der Völker in den Randgebieten des türkischen Reiches zusammenfaßte 266 , wirkte entscheidend auf die Reaktivierung der Heiligen Allianz im ganzen ein. Diese Annäherung wurde in erster Linie durch einen von außen wirkenden Faktor ausgelöst. Der Pascha von Ägypten, Mechmed Ali, der von der französischen Regierung und Bourgeoisie unterstützt wurde, die Ägypten in eine französische Kolonie verwandeln wollten 267 , verfolgte seit dem Herbst 1831 aktiv den Plan, die tatsächliche Unabhängigkeit seines Reiches unter Beibehaltung der nominellen Oberhoheit des Sultans zu erreichen. Vor allem strebte er nach Südsyrien und Palästina, die ihm die Handelsverbindungen mit den Ländern am Euphrat sichern sollten. 268 Zu diesem Zweck eröffnete Mechmed Ali im Herbst 1831 mit der Belagerung Akkons die Feindseligkeiten gegen den Sultan und entsandte ein Heer unter Führung seines Sohnes Ibrahim Pascha nach Osten. Im Verlauf des folgenden Jahres gelang es Ibrahim, seine Gegner zu schlagen, Damaskus und Aleppo zu besetzen, den Taurus zu überwinden und in Kleinasien einzudringen. Am 21. Dezember 1832 fügte er einem neuherangeführten türkischen Heer bei Konia eine vernichtende Niederlage zu. Danach war der Weg in die türkische Hauptstadt offen, der Einmarsch seiner Truppen in Konstantinopel konnte im F r ü h j a h r 1833 von einem Tag zum anderen erwartet werden. Der dadurch alarmierte Zar hatte unterdessen dem Sultan die bewaffnete Hilfe Rußlands im Kampf gegen Ibrahim Pascha angeboten. Für diese überraschende Wende in der Politik des Zarismus, sich hinsichtlich der Türkei auf die Beibehaltung des Status quo festzulegen, war maßgebend, daß es f ü r Rußland vorteilhafter sein mußte, die geschwächte Türkei seinem Einfluß zu unterwerfen und sie zu einem folgsamen Nachbarn zu machen. 269 Ihre Zerschlagung hätte andere Konsequenzen gehabt: Da der Zarismus nicht als einzige Macht die Nachfolge des Sultans anzutreten imstande war, würde er es dann mit starken Nachbarn zu tun gehabt haben, und das Schwarze Meer hätte f ü r die Kriegsflotten Englands und Frankreichs offengestanden. 270 Die Weigerung Palmerstons, ihn gegen Mechmed Ali zu unterstützen, hatte den Sultan, der das erste Hilfsangebot des Zaren noch zurückwies, schließlich am 2. Februar veranlaßt, Petersburg um Hilfe zu ersuchen. Wenig später wurden 2f>G

267

289 270

Vgl. Narotschnitzki, A. L., Die internationalen Beziehungen in der Zeit von 1815 bis 1847, in: Geschichte der Neuzeit, Bd. 1, 1. Halbbd., S. 368. Ebenda, S. 369. Vgl. Hillebrand, Geschichte Frankreichs, Bd. 1, S. 518; Prokesch-Osten, Anton von, Mechmed-Ali. Vizekönig von Ägypten. Aus meinem Tagebuche 1826-1841, Wien 1877. Vgl. Narotschnitzki, S. 368. Vgl. Woodward, E. L., The Age of Reform 1815-1870, Oxford 1949, S. 223.

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russische Truppen im Raum des Bosporus bei der Ortschaft Hunkiar-Eskelessi an Land gesetzt, um Konstantinopel zu decken. Danach erreichte die Vermittlung Englands und Frankreichs einen Friedensschluß zwischen dem Sultan und seinem rebellischen Vasallen. Obwohl damit eine unmittelbare Gefährdung der Herrschaft des Sultans abgewendet worden war, gelang es dem Ende Mai nach Konstantinopel entsandten Grafen Orlow, unter Ausnutzung der Anwesenheit russischer Truppen, der Türkei am 8. Juli in Hunkiar-Eskelessi einen Vertrag aufzunötigen, mit dem der Kulminationspunkt des russischen Einflusses über sie im 19. Jh. erreicht wurde.271 Dieser Vertrag, der „den Obersten Sitz des Ottomanischen Reiches von Konstantinopel nach St. Petersburg" verlegte272, verband die beiden Signatarmächte für acht Jahre in einem Defensiv- und Offensivbündnis, bestätigte den Vertrag von Adrianopel und schloß die Meerengen für ausländische Kriegsschiffe. Damit wurde ein „weithin sichtbarer Markstein in der Geschichte" aufgerichtet273, durch den die Machtstellung des Zarismus erheblich gestärkt und die Türkei für „eine Reihe von Jahren faktisch unter russische Herrschaft" gestellt wurde.274 Für Preußen warf die Wendung der russischen Orientpolitik keine bedeutenden Probleme auf. Ancillon begnügte sich im Juni 1833 mit der Feststellung, daß Preußen, „durch seine geographische Lage zu keiner direkten Teilnahme an den orientalischen Angelegenheiten berufen", die Linie verfolge, im Gleichklang mit Rußland zu handeln und die Pforte gegen Mechmed Ali zu unterstützen.275 Außerdem wurde eine Bindung zwischen Rußland und der Türkei auch aus allgemeinen strategischen Erwägungen heraus befürwortet.276 Komplizierter lagen die Dinge im Falle Österreichs, das auf dem Balkan bedeutende Interessen gegen den Zarismus zu verteidigen hatte. Es fehlte nicht an Stimmen in Wien, die wie Prokesch Metternich mit dem Hinweis auf die expansionistischen Ziele des Zaren vor einer engen Bindung an die Positionen Rußlands in der Orientfrage zu warnen suchten.277 Tatsächlich versuchte Metternich eine Zeitlang die Orientkrise unter Einbeziehung Englands zu lösen. Da die Interessen Österreichs und Englands, wenn auch von unterschiedlichen Voraussetzungen her, in bezug auf die Erhaltung des Osmanischen Reiches weitgehend identisch waren, suchte Metternich Anfang 1833 Palmerston dazu zu bewegen, dem Sultan feste Garantien zu geben. Als Palmerston dazu nicht bereit war, schlug der österreichische Staatskanzler eine Vgl. Narotschnitzki, S. 370. Marx, Karl, Lord Palmerston, in: MEW, Bd. 9, S. 383. 273 Ebenda, S. 382. 274 Engels, Friedrich, Die auswärtige Politik des russischen Zarentums, in: MEW, Bd. 22, S. 34. 275 Aus einer Stellungnahme Ancillons zur Orientfrage vom 20. 6.1833, ZStAM, AA I, Rep. I, Nr. 35, Bl. 36. 273 Ygj Staatsarchiv Dresden, Außenministerium Nr. 3151, Bl. 189. 277 vgl. Aus den Tagebüchern des Anton Grafen von Prokesch-Osten 1830-1834. Hrsg. von Anton Prokesch von Osten (im folgenden: Prokesch, Aus den Tagebüchern), Wien 1909, S. 177. 271

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konzertierte europäische Aktion vor, Konstantinopel vor den Truppen Ibrahims zu schützen. Englische und französische Kriegsschiffe sollten sich zu diesem Zweck mit denen des Zaren im Marmarameer vereinigen. 278 Doch der Versuch, die Orientfrage dazu auszunutzen, England auf die Seite Rußlands, Österreichs und Preußens zu ziehen, scheiterte. 279 Andererseits fehlte es in Konstantinopel nicht an Versuchen des englischen diplomatischen Vertreters Ponsonby, den österreichischen Gesandten Baron Stürmer davon zu überzeugen, daß es f ü r Österreich besser wäre, mit England und nicht mit Rußland zu gehen. 280 Auch die Versuche der Westmächte, die Position Rußlands in Konstantinopel wieder zu schwächen, wurden in Wien aufmerksam zur Kenntnis genommen und fanden ein gewisses Verständnis. Der ohne Information Metternichs abgeschlossene Vertrag von Hunkiar-Eskelessi 281 ließ den österreichischen Staatskanzler erneut der Idee nähertreten, anstelle des ausschließlich russischen Protektorats über die Pforte ein gemeinsames der Großmächte anzustreben, was ihn gegenüber dem Botschafter Sainte Aulaire zu der Bemerkung veranlaßte, daß er ein russisches Protektorat über die Pforte nicht zulassen werde. 282 Seine Haltung war jedoch längst in einer ganz anderen Richtung festgelegt. In Talleyrands bekannter Bemerkung an den Duc de Broglie vom April 1833, daß Metternich deshalb entschlossen sei, sich Rußland anzuschließen, weil er „in diesem Augenblick in dem russischen Gouvernement einen erklärten Feind des revolutionären Geistes sieht" und deshalb die Interessen des Habsburgerstaates auf dem Balkan und im Orient gegenüber der Sicherung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse eine Frage zweiter Ordnung darstellten 283 , steckt im Kern die Antwort auf die Frage, welche Gründe den österreichischen Staatskanzler bewogen, sich eng an den Zaren zu binden. Ebenso war der Zar auf Metternich angewiesen, da zahlreiche Gründe ihm die weitere Annäherung an Österreich zwingend vorschrieben. Sowjetische Historiker heben hervor, Nikolaus I. habe wegen der russisch-österreichischen Interessengegensätze auf dem Balkan zunächst lange Zeit gezögert, wieder einen Vertrag mit den Habsburgern abzuschließen. Aber da ihm die feindselige Haltung des englischen Kabinetts nach dem Vertrag von Hunkiar-Eskelessi keine andere Wahl ließ, seine Umgebung dem Gedanken eines Bündnisses mit der Habsburgermonarchie anhing und die polnische Erhebung und die Bewegungen im Innern Rußlands die Schwäche des Systems der Leibeigenschaft anzeigten, sollte durch eine enge Verbindung der Monarchien zu einem einheitlich handelnden 278

Vgl. Webster, Palmerston, Bd. 1, S. 291. - n Vgl. dazu Molden, Ernst, Die Orientpolitik des Fürsten Metternich 1829-1833, Wien/ Leipzig 1913, S. 92. 280 Vgl. Kinjapina, S. 199. 281 Vgl. Schiemann, Geschichte Rußlands unter Kaiser Nikolaus I., Bd. 3, S. 222. m Zitiert nach Srbik, Metternich, Bd. 1, S. 686. 283 Talleyrand an den Duc de Broglie, 11.4.1833, in: Mémoires du Prince de Talleyrand, Bd. 5, Paris 1892, S. 143. Zum Quellenwert dieser Memoiren vgl. Tarlé, E. W., Talleyrand, Leipzig 1950, S. 271.

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konterrevolutionären Verband das Gendarmensystem über Europa wiederhergestellt werden. 284 Dieses strategische Ziel verfolgte auch die deutsche Konterrevolution. Wie der Diplomat und Stabsoffizier der österreichischen Armee, Prokesch, berichtete, ordnete der Staatskanzler dem Kampf gegen die Revolution, als „unwandelbares Prinzip f ü r all sein Streben und Tun", seine unzweifelhaft vorhandenen Besorgnisse vor den Expansionsplänen des Zaren bewußt unter. 285 Seine wiederholten Versicherungen, daß er bereit sei, sein Wort f ü r die „ehrlichen Absichten" des Zaren zu verpfänden, waren ihm entweder von einem Impuls der Selbsttäuschung eingegeben oder ein Versuch, den Zaren in dieser Weise festzulegen.286 Nicht nur, daß Mechmed Ali mit seiner Erhebung gegen Machmud II. in Metternichs Augen ein Beispiel der Empörung gab, was neue Bewegungen unter den unterdrückten Balkanvölkern auslösen konnte, der österreichische Staatskanzler war außerdem überzeugt, daß sich in ihm und seiner Rebellion der Geist des revolutionären Frankreich verkörpere, als dessen Werkzeug er tätig sei: „La France regarde l'Egypte comme un conquête qui tôt ou tard ne peut lui échapper, et le mot connu de Napoléon, que 'la Méditerranée est destinée par la nature à être un lac français' n'a certes rien perdu de sa valeur aux yeux du Gouvernement actuel." 287 Metternich mußte dem Zaren entgegenkommen, wenn er ihn als zuverlässigen Bundesgenossen bei der Niederhaltung der bügerlichen und nationalrevolutionären Bewegungen innerhalb des Deutschen Bundes und im Umfeld des Habsburgerreiches in Anspruch nehmen wollte. Aus diesem Grunde gelang es den Botschaftern Englands und Frankreichs in Wien auch nicht, hier mit Warnungen vor gefährlichen Intentionen Rußlands Eindruck zu hinterlassen. 288 Der übergreifende Gesichtspunkt, zugunsten der Erhaltung der Klassenherrschaft des Adels machtstaatliche Erwägungen zurückzustellen, gewann bei Metternich die Dominanz. Das Wiener Kabinett ging hinsichtlich seines Verhältnisses zu Rußland nunmehr ausschließlich von der Überlegung aus, daß es nur ein Interesse gebe — sich der „Umsturzfraktion" mit „allen Kräften zu widersetzen, (um) dem Umstürze aller europäischen Throne zuvorzukommen" 289 , nachdem ein letzter Versuch in Wien, durch eine europäische Konferenz das künftige Geschick der Türkei festzulegen, am Widerspruch des Zaren gescheitert war. 284 285 3S6 287

288

389

Vgl. dazu Kinjapina, S. 200 f. Vgl. Prokesch, Aus den Tagebüchern, S. 177. Vgl. derselbe, Mechmed-Ali, S. 32; Srbik, S. 684. Zitiert nach Schiemann, S. 210. Diese Auffassung drückte sich auch in dem in Wien umgehenden Bonmot aus, das von Mechmed-Ali und Ibrahim Pascha als „unter Turbanen maskierten Franzosen" sprach. Vgl. Staatsarchiv Dresden, Außenministerium Nr. 3151, Bl. 88. Vgl. dazu den Bericht des sächsischen Gesandten in Wien vom 30.1.1833, ebenda, Bl. 32 f. Zitiert aus dem Bericht des sächsischen Gesandten in Wien vom 1. 4.1833, ebenda, Bl. 86.

4 Jahrtmch 21

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Diese Unterstützung der zaristischen Außenpolitik durch das Wiener und das Berliner Kabinett hatte unmittelbare Auswirkungen. Der Zar war jetzt bereit, seine bisherigen Bedenken bezüglich einer neuen vertraglichen Bindung an Österreich aufzugeben. Der Weg nach Münchengrätz war frei. Die Initiative zu der Monarchenzusammenkunft im Spätsommer 1833 ging - im Gegensatz zu den Behauptungen von H. J. Schoeps290 - von Metternich aus. Franz II. fragte durch Ficquelmont in Petersburg vertraulich an, ob er den Zaren in Münchengrätz erwarten könne291, während Schwarzenberg dem Berliner Hof eine entsprechende Einladung überbrachte. Die Wahl des Tagungsortes in einem abgelegenen Winkel der österreichischen Monarchie ist ein deutlicher Beleg für die gegenüber den 20er Jahren veränderte Situation. Damals wurden die Kongresse der Heiligen Allianz noch in aller Öffentlichkeit durchgeführt, jetzt tagte man nahezu im geheimen. Der Zar sagte sofort zu, doch der preußische König machte Schwierigkeiten. Am 25. Juli sah sich Schwarzenberg zu der Mitteilung gezwungen, daß Friedrich Wilhelm III. erhebliche Vorbehalte gegen ein derartiges Treffen entwickelt hätte: Man solle nichts tun, was in politischer Beziehung Aufsehen erregen könne.292 Das Zögern in Berlin veranlaßte den Zaren, über den Flügeladjutanten v. Rauch auf seinen Schwiegervater einzuwirken, dem Treffen nicht fernzubleiben, da seine Teilnahme „einen besseren Eindruck" auf England und Frankreich hervorbringen würde, die sonst leicht geneigt sein könnten, die vollkommene Einigkeit der drei Mächte in Zweifel zu ziehen.293 Tatsächlich ging Friedrich Wilhelm III. im September dem Treffen aus dem Wege. Die verspätete Ankunft des Zaren ausnutzend, entzog er sich ihm unter dem Vorwand, an Truppenbesichtigungen in Berlin und Magdeburg teilnehmen zu müssen.294 Die Botschafter Englands und Frankreichs am preußischen Hof, Minto und Bresson, hatten im Juni und Juli noch einmal versucht, die Lage für sich auszunutzen. Vor allem Minto, der die wahren Absichten des preußischen Kabinetts nicht zu erkennen schien, suchte Ancillon mit dem Argument zu beeindrucken, wieviel Preußen zu opfern hätte, wenn es Juniorpartner einer Politik würde, die Petersburg und Wien diktierten.295 Diese Zurückhaltung in Berlin, sich öffentlich zu einer Reaktivierung der Tätigkeit der Heiligen Allianz zu bekennen, die Schoeps als Apologet der Hohen290

Vgl. Schoeps, Hans

Joachim,

V o n Münchengrätz bis Wien (1833-1834), in: Jahr-

buch Preußischer Kulturbesitz 1967, Köln/(West-)Berlin 1968, S. 110. Hier w i r d die unmittelbare Initiative für das Monarchentreflen dem Zaren zugeschrieben. 291

Vgl. Treitschke,

Deutsche Geschichte, T. 5, S. 327; Charmatz,

Geschichte der aus-

wärtigen Politik Österreichs, Bd. 1, S. 125. 292

H H S T A Wien, Staatskanzlei, Preußen, Karton Nr. 151, Bl. 215 ff., Schwarzenberg

293

A u s einem Bericht des M a j o r s v. Rauch aus Petersburg vom 8.8.1833,

an Metternich, 25. 6.1833. ZStAM,

2. 2. 1. Nr. 32554, Bl. 7. 294 v g l . dazu das Schreiben Metternichs an Hügel in Paris vom 22.10.1833, in: Aus Metternichs 295

nachgelassenen Papieren, Bd. 5, S. 520.

Vgl. Webster, Palmerston, Bd. 1, S. 356 f.

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zollernpolitik mit Bedenken vor der angeblich allein vom Zaren verfochtenen Interventionspolitik zu erklären sich bemüht 296 , w a r geheuchelt. Zwar wollte man diese Politik durchsetzen, wagte aber aus mehreren G r ü n d e n nicht, sich offen zu ihr zu äußern. Zu diesen Gründen zählen in erster Linie Befürchtungen, die Stellung Preußens in Deutschland zu gefährden. 2 9 7 Das hielt die Berliner Diplomaten dazu an, Rücksichten auf die öffentliche Meinung zu nehmen. Ebenfalls scheuten sie vor der Rückwirkung eines demonstrativen Hervorkehrens des Interventionsprinzips auf England und Frankreich. Der erste Akt von Münchengrätz, dazu bestimmt, die Probleme in den Staaten des Deutschen Bundes im Sinne der aristokratisch-monarchistischen Reaktion zu regeln, vollzog sich in Nordböhmen. Friedrich Wilhelm III. traf Metternich a m 7. August in Teplitz und den österreichischen Kaiser in Begleitung seines Staatskanzlers vom 14. August ab in Theresienstadt. 298 Hier gelang es Metternich bei der Einleitung einer neuen Welle repressiver M a ß n a h m e n die Initiative zu ergreifen 299 und mit Preußen in den G r u n d f r a g e n eine vollständige Übereinstimmung herbeizuführen. 3 0 0 Es w u r d e beschlossen, 1834 eine Sitzung des Deutschen Bundestages einzuberufen, die sich mit der B e k ä m p f u n g der „Unordnung" in den deutschen Staaten beschäftigen sollte. Bereits am 5. Oktober richtete Metternich eine Zirkular-Depesche an die österreichischen Missionen an den deutschen Höfen. In ihr w u r d e im Namen Österreichs und Preußens zu Ministerialkonferenzen in Wien eingeladen, u m „die Mittel in Überlegung zu nehmen, durch welche den immer drohender w e r d e n den Übeln der Zeit . . . begegnet werden könne". 301 Die Beschlüsse dieser Wiener Konferenz vom 12. J u n i 1834 sollten als die „Krönung des in Deutschland h e r r schenden Systems der Reaktion" in die Geschichte eingehen. 302 Der zweite Akt der Monarchenbegegnungen t r u g sich in Schwedt zu, wo der Zar vom 5. bis zum 9. September mit Friedrich Wilhelm III. und den leitenden p r e u ßischen Ministern und Militärs zusammentraf. Ancillons Ankündigung in Schwedt, d a ß seine Regierung die Arbeit der Konferenz von Münchengrätz n u r dann unterstützen würde, wenn ihre Beschlüsse nicht an die Öffentlichkeit drängen, sowie die Weigerung Friedrich Wilhelms III., seinen Schwiegersohn nach Münchengrätz zu begleiten, der sich dann auch Ancillon anschloß 303 , f ü h r t e n zu ernsten Spannungen mit dem Zaren. Nikolaus I., der vor allem mit dem Verhalten des preußischen Außenministers 296

Vgl. Schoeps, S. 111. Vgl. Kinjapina, S. 202. 298 vgl die Notizen der Fürstin Melanie Metternich: Aus Metternichs nachgelassenen Papieren, Bd. 5, S. 427 ff. 299 Vgl. Kinjapina, S. 203. 300 „16. August. Clemens brachte den ganzen Morgen beim Kenige zu, mit dem er sich sehr gut einverstand. Er machte mir darüber sehr befriedigende Mitteilungen." Aus Metternichs nachgelassenen Papieren, Bd. 5, S. 429. 301 Vgl. ebenda, S. 530. 302 Obermann, Deutschland von 1815 bis 1849, S. 96. 303 ZStAM, HA Rep. 49 Friedrich Wilhelm III., J 1214, Bl. 63, General v. Witzleben an den Kronprinzen, 15. 9.1833. 297

4*

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w ä h r e n d der vorangegangenen Besprechungen u n z u f r i e d e n w a r , suchte vergebens die E n t s e n d u n g Wittgensteins nach Münchengrätz durchzusetzen 304 , von dem er sich ein weitgehendes E n t g e g e n k o m m e n versprechen konnte. Schließlich w u r d e eine K o m p r o m i ß f o r m e l g e f u n d e n : Der preußische Kronprinz sollte nach Münchengrätz f a h r e n , allerdings ohne Verhandlungsvollmachten. Damit stand schon vor A u f n a h m e der V e r h a n d l u n g e n fest, d a ß die hier g e f a ß t e n Beschlüsse noch einmal in Berlin bestätigt w e r d e n m u ß t e n . Eine E n t s p a n n u n g zwischen d e m Zaren u n d seinen preußischen V e r h a n d l u n g s p a r t n e r n t r a t erst ein, nachdem er sie h a t t e überzeugen können, d a ß er keinen Angriffskrieg f ü h r e n , sondern sich ausschließlich gegen von innen k o m m e n d e Bedrohungen d e r bestehenden Macht- u n d Eigentumsverhältnisse sichern wollte. 305 W e n n auch ein förmlicher V e r t r a g in Schwedt noch nicht abgeschlossen wurde, erhielt der Zar a m Tage seiner Abreise doch die Zusage der preußischen Regierung, einer Konvention zuzustimmen, die das Interventionsprinzip b e k r ä f tigte. Beide Seiten s t i m m t e n überein, sich gegen die Einflüsse der revolution ä r e n Pariser P r o p a g a n d a u n d den G r u n d s a t z der Nichtintervention zu w e n d e n , u m „diese beiden Quellen des Unheils zu verstopfen, von denen die eine die Revolution entstehen läßt, die a n d e r e [ihr] die Straflosigkeit sichert". 306 Die Schwedter Entschließung, die f ü r P r e u ß e n u n d R u ß l a n d d a s Recht d e r Intervention b e k r ä f t i g t e („Das Recht der Intervention ist das Recht der Hilfeerweisung im Fall einer politischen Krise" 307 ), ließ allerdings die F r a g e offen, f ü r welchen geographischen Bereich es Gültigkeit haben u n d ob es bespielsweise auch f ü r die Schweiz u n d Piemont in Anspruch g e n o m m e n w e r d e n sollte. Hier t a t sich eine n e u e Quelle der S p a n n u n g e n mit den Westmächten auf, weil F r i e d rich Wilhelm III. bei aller sonstigen Zurückhaltung entschlossen w a r , den f r a n zösischen Hof wissen zu lassen, d a ß er mit seinen V e r b ü n d e t e n a m Interventionsprinzip festhalten wolle. A m 10. S e p t e m b e r 1833 b e g a n n e n in Münchengrätz die entscheidenden V e r h a n d lungen zwischen Metternich u n d dem Zaren, die eine n e u e E t a p p e der zaristischen Außenpolitik einleiteten. Die hier vollzogene A n n ä h e r u n g an Österreich ging auf Kosten der bisherigen engen B i n d u n g e n des Zaren an P r e u ß e n , das in seinen Augen auf einem gefährlichen Wege begriffen war. 308 Metternich w a r auf seine Weise ebenso wie d e r Zar an einer besonders engen Z u s a m m e n a r b e i t zwischen den beiden Mächten interessiert. Das o f t hervorgehobene „Katzbuckeln" des österreichischen Staatskanzlers vor dem Zaren, das seit Münchengrätz be304

:i05

306 307 308

Vgl. ein Schreiben Carls v. Mecklenburg an Friedrich Wilhelm III. vom 8. 9.1833, ebenda, J 163, Bl. 38. Vgl. den Bericht des sächsischen Gesandten in Berlin vom 13. 9.1833 über die Verhandlungen in Schwedt, Staatsarchiv Dresden, Außenministerium Nr. 3255, Bl. 255. Treitschke, Deutsche Geschichte, Bd. 4, S. 329. Zitiert nach Kinjapina, S. 204. „Metternichs Österreich versprach eine sicherere Stütze und ein fügsamerer Bundesgenosse für die Zarenmacht zu bleiben als Preußen, das immer mehr den Weg zur kapitalistischen und liberalen Entwicklung einschlug." Andics, Erzsebet, Das Bündnis Habsburg-Romanow, Budapest 1963, S. 26.

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sonders fühlbar wurde300, war nicht nur eine Folge der engen Interessengemeinschaft, die ihn mit dem mächtigen Verbündeten im Osten verband, sondern auch der Versuch, sich die Unterstützung des Zaren bei der Aufrechterhaltung der Großmachtposition des Habsburgerstaates im Deutschen Bund gegen die Ansprüche des preußischen Rivalen zu sichern, dessen Zollvereinspolitik 1833 sichtbare Fortschritte gemacht hatte. Die Besprechungen über die Orientfrage, das Belgienproblem, die Verhältnisse in Polen und in den Staaten des Deutschen Bundes zwischen den Monarchen und leitenden Ministern Österreichs und Rußlands wurden von Nikolaus I. mit einem auf die Mentalität Metternichs geschickt eingehenden Hinweis auf die andauernden Bewegungen in Polen und Ungarn eingeleitet. Damit versuchte er vor allem, Metternich seinen Orientplänen unterzuordnen. Diese waren für ihn von einer besonderen Bedeutung. Münchengrätz sollte die erst letzthin am Bosporus gewonnene Position bewahren und festigen. Hier gab es keine Meinungsverschiedenheiten. Der Zar konnte darauf verzichten, auf die Aufteilung der Türkei hinzuarbeiten, weil die Verträge von 1829 und 1833 ihm ohnehin einen bedeutenden Einfluß sicherten. Mit diesem Verhalten erreichte er am 18. September die Unterzeichnung einer geheimen Konvention, die die Haltung der beiden Mächte gegenüber dem Sultan und seinem aufrührerischen Vasallen exakt festlegte. Ausgehend von der Voraussetzung, daß der Türkei und den an sie grenzenden europäischen Staaten aus dem Verhalten Mechmed Alis Gefahren drohten, verpflichteten sich Österreich und Rußland gegenseitig, „à persévérer dans la résolution qu'elles ont prise de maintenir l'existence de l'Empire ottoman sous la dynastie actuelle" und „à s'opposer à toute combinaison qui porterait atteinte à l'indépendence de l'autoiité souveraine en Turquie". 310 Das schloß auch die erklärte Bereitschaft ein, die Ausdehnung der Herrschaft Mechmed Alis auf die europäischen Provinzen des Osmanischen Reiches nicht dulden zu wollen. Das damit scheinbar Erreichte, die Bindung des Zaren an das „erhaltende Prinzip", versetzte Metternich in eine Stimmung der Euphorie: „Alles was wir wollen, wollen und wünschen auch die beiden anderen Kabinette." 311 Metternich glaubte es seinem Einfluß auf den Zaren zuschreiben zu können, daß der sich von allen früheren Plänen einer Aufteilung der Türkei zurückgezogen habe. Doch das war ein Trugschluß.312 Der Zar ließ nur zeitweise von diesem Gedanken ab, und das nicht unter dem Einfluß Metternichs, der seine Position gründlich überschätzte, sondern unter den Bedingungen der internationalen Lage. Das Abkommen von Münchengrätz - soweit es die Türkei betraf - war nur ein Wandel in der Taktik des Zaren, von der Absicht bestimmt, einer Isolierung Rußlands gegenüber allen anderen Mächten vorzubeugen, die die unvermeidliche Folge eines offen annexionistischen Vorgehens am Bosporus gewesen wäre. Vgl. ebenda, S. 17. Zitiert nach Aus Metternichs nachgelassenen Papieren, Bd. 5, S. 526 f. 311 Zitiert nach Valloton, Henry, Metternich. Napoleons großer Gegenspieler, München 1976, S. 242. 213 vgl hierzu die Einschätzungen von Kinjapina, S. 209 f. 309

310

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Für die ihm so wertvolle Verständigung mit Österreich mußte der Zar allerdings auch Beeinträchtigungen seiner Handlungsfreiheit in Kauf nehmen. Nach den Bestimmungen der Münchengrätzer Konvention war er gehalten, zukünftig in allen die Türkei betreffenden Fragen im Einverständnis mit dem Wiener Kabinett vorzugehen. Doch unabhängig davon war von der zaristischen Regierung längst ein selbständiges Vorgehen in der Orientfrage ins Auge gefaßt worden. Eine Petersburger Kommission hatte 1829 beschlossen, im Falle des Zerfalls der Türkei die energischsten Maßnahmen zu treffen, um die Interessen Rußlands zu sichern. Aber Nikolaus I. dachte nicht daran, in Münchengrätz über diese delikate Angelegenheit offen zu sprechen. Die Frage, was im Falle eines Auseinanderbrechens der Türkei geschehen sollte, blieb unberührt. Genauso gab die Unterschrift Metternichs unter die Konvention vom 18. September dem Zaren keine Garantien für das Verhalten des Wiener Kabinetts bei einer grundsätzlich neuen Lage in der Türkei.313 Jedenfalls aber hatte die Konvention nach menschlichem Ermessen eine gegen Rußland gerichtete Koalition England-Österreich im Orient paralysiert. Durch seine Unterschrift verhalf der österreichische Staatskanzler dem Zaren dazu, den Vertrag von Hunkiar-Eskelessi nicht weniger als acht Jahre aufrechtzuerhalten. Deshalb war es nicht Metternich, der die Stellung des Habsburgerstaates auf dem Balkan durch die Beschlüsse von Münchengrätz hatte festigen wollen, durch die er die Alleinherrschaft des Zaren über die Türkei verhindert glaubte, sondern der Zar, der aus ihnen fraglos den größeren Nutzen zog. Die Konvention vom 18. September, die ein längst untergangsreifes, die Entfaltung kapitalistischer Produktivkräfte behinderndes und ausschließlich mit gewaltsamen Mitteln erhaltenes Gebilde wie das Osmanische Imperium existieren ließ und sich damit dem Befreiungskampf der von ihm unterdrückten Völker entgegenstellte, trug einen durch und durch konterrevolutionären Charakter. Noch deutlicher wurde die Politik der Mächte der Heiligen Allianz durch die Beschlüsse charakterisiert, die in Münchengrätz in bezug auf Polen gefaßt und am 19. September in einer Konvention bekräftigt wurden.314 In ihr sicherten sich Petersburg und Wien gegenseitig ihren Besitzstand in Polen und im Falle von Aufständen unbedingte militärische Unterstützung mit der Erlaubnis zu, den Krieg auch auf das Territorium des Partners zu übertragen. Auch in bezug auf Krakau wurden weitreichende Beschlüsse gefaßt. Falls es Rußland und Österreich für die Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft in Polen für notwendig erachteten, wurde seine Besetzung durch die Truppen der Verbündeten verabredet.315 Ein weiterer Bestandteil dieser Abmachungen war der Beschluß über die gegenseitige Auslieferung polnischer Patrioten. Als wichtiger Gesprächspartner Metternichs galt hierbei in Münchengrätz der Chef der russischen Gen313 3,4

315

Ebenda, S. 209. Stern, Geschichte Europas, Bd. 4, S. 389. Die wichtigsten Bestimmungen der russisch-österreichischen Konvention über die gegenseitige Garantie der polnischen Besitzungen vom 19.9.1833 sind im Wortlaut wiedergegeben in Kiseleva, V. J., u. a., Chrestomatija po istorii mezdunarodnych otnosenij, Moskau 1963, S. 110 f. Vgl. hierzu Srbik, Metternich, Bd. 1, S. 688.

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darmerie und Polizeiminister des Zaren, A. Ch. Benckendorff 316 , mit dem die Modi der Verwirklichung des in den Artikeln VI (gegenseitige Auslieferung „politischer Verbrecher") und VIII (Zusammenarbeit der beiden Mächte auf dem Gebiet der Sicherheitspolizei) Vorgesehenen abgesprochen wurden. 317 Daraus erwuchs eine Korrespondenz zwischen Metternich und Benckendorff, die nach 1833 fortgesetzt wurde. Nach Besprechungen auf Botschafterebene, wie die fraglichen Artikel ausgeführt werden sollten, begann der Informationsaustausch im Februar 1834 in Gang zu kommen, der bis 1842 anhielt. 318 Metternich förderte ihn über den unmittelbaren Zweck hinaus auch in der Absicht, über den einflußreichen General und Minister auf den Zaren einwirken zu können. Der Abschluß der Konvention über Polen hat, wie N. S. Kinjapina zu Recht hervorhob, vor allem die Position des Zarismus gestärkt. 319 Da in erster Linie im Königreich Polen mit weiteren Aufstandsbewegungen zu rechnen war, hatte sich Nikolaus I. f ü r diesen Fall die Unterstützung seiner Bündnispartner sichern können. Preußen und Österreich waren nun verpflichtet, ihre Territorien im Bedarfsfall den zaristischen Truppen bei der Bekämpfung polnischen Widerstandes zur Verfügung zu stellen. Die Konvention vom 19. September, die von Preußen im wesentlichen nachvollzogen wurde, festigte das Band, das die drei Mächte miteinander verband 320 , stärkte die Macht des Zarismus als führende konterrevolutionäre K r a f t in Europa und vertiefte die Abhängigkeit der Habsburger und Hohenzollern von den Romanows. 321 Zurückhaltender gaben sich die Verhandlungspartner von Münchengrätz hinsichtlich Belgiens, das sie als neuen Staat respektieren wollten. Kriegshandlungen gegen dieses Land wollten sie nur beginnen, wenn seine Politik den Interessen des Deutschen Bundes direkt widersprechen sollte. In diesem Falle wollten die drei Mächte den Krieg gemeinsam führen und der Zar Preußen mit 120 000 Mann zu Hilfe kommen. 322 Nachdem noch die Bereitschaft der Signatarstaaten unterstrichen worden war, gegen die revolutionären Ideen auf deutschem Boden einen entschiedenen Kampf zu führen, faßte K. W. Nesselrode die Prinzipien des durch die Beschlüsse von Münchengrätz aufgerichteten Gendarmensystems prägnant zusammen. Österreich habe die „Wacht über die Ruhe" in Italien und gemeinsam mit Preußen die in Deutschland übernommen. Die „Wacht" über Holland und die Rhein316

317

3,8 319 320 321 322

HHSTA Wien, Staatskanzlei, Preußen, Karton Nr. 154, Bl. 68, Metternich an Wittgenstein, Prag 23.9. 1833. Zur Stellung und Bedeutung Benckendorffs vgl. Sovetskaja istoriceskaja enciklopedija, Tom II, Moskau 1962, Sp. 332, sowie Rüge, Wolfgang, Hindenburg. Porträt eines Militaristen, Berlin 1974, S. 11 f. Vgl. hierzu den materialreichen Aufsatz von Squire, P. A., Metternich and Benckendorff 1807-1834, in: The Slavonic and East European Review, vol. 45 (1967), London 1967, S. 135 ff. Ebenda, S. 159 ff. Vgl. Kinjapina, S. 211. Marx/Engels, Die Polendebatte in Frankfurt, S. 332. Ebenda, S. 333. Vgl. Kinjapina, S. 212.

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provinz falle Preußen zu, die über Polen und die Levante Rußland.323 Die Grundlage, die dieses System tragen sollte und ohne welche die Reaktivierung der Heiligen Allianz nicht denkbar war, bestand in der Neuformulierung des konterrevolutionären Interventionsprinzips als eine Wendung gegen die von der französischen Großbourgeoisie begründete Lehre von der Nichtintervention. 324 Hierzu waren der Zar und Metternich von Anbeginn ihrer Beratungen entschlossen. Durch eine demonstrative Neuformulierung und Bekräftigung des Interventionsprinzips sollte die durch die Lehre von der Nichtintervention in Frage gestellte Handlungsfreiheit der monarchistisch-aristokratischen Reaktion im Kampf gegen bürgerliche und nationalrevolutionäre Kräfte im vollen Umfange wiederhergestellt werden. Mit diesem in Münchengrätz ausgearbeiteten Entwurf wurden Nesselrode und Ficquelmont nach Berlin geschickt, wo man in zwei Tagen die Unterschrift des preußischen Kabinetts einholen wollte. Metternich suchte den beiden Unterhändlern in Berlin den Weg zu bahnen. Bemüht, den deutlich widerstrebenden Ancillon für eine demonstrative Verkündigung des Interventionsprinzips zu gewinnen, stellte er ihm vor, daß in Münchengrätz die Frage als unzweckmäßig verworfen worden sei, ob der Kampf gegen das Prinzip der Nichtintervention am günstigsten dadurch geführt werden könne, indem Frankreich aufgefordert wurde, es fallenzulassen.325 Noch deutlicher wurde er gegen Wittgenstein. Nicht eine solche Aufforderung, sondern die Unterrichtung des Pariser Kabinetts über die Interventionsbereitschaft Rußlands, Preußens und Österreichs liege in seiner Absicht. Wenn Paris auf dem Prinzip der Nichtintervention bestehen sollte, könnten die Mächte sagen: Denkt, was ihr wollt, aber handelt nicht! Es sei, schloß Metternich, daran zu denken, daß sich die drei Mächte über das „Lebensprinzip" der Intervention unbedingt einig sein müßten. 326 Diese Ermahnung war wohlüberlegt. Tatsächlich verhandelten Nesselrode und Ficquelmont in Berlin mehrere Wochen, um den preußischen Partner für das von ihnen gewählte Verfahren zu gewinnen. Die Tagebuchaufzeichnungen der Fürstin Metternich vom 10. Oktober widerspiegeln Beunruhigung über die Einwände, die in Berlin gegen die von Rußland und Österreich beabsichtigte demonstrative Verkündigung des Interventionsprinzips erhoben wurden. 327 Metternich war sich immer noch nicht sicher, ob Ancillon das in Münchengrätz Beschlossene unterschreiben würde. Einige Gründe, warum sich die Berliner Verhandlungen in die Länge zogen, wurden in den Berichten des österreichischen Botschafters in Berlin an den ungeduldig werdenden Wiener Staatskanzler genannt. Voll Erbitterung schrieb TrauttEbenda, S. 213. Deshalb wurde es für die Mächte als eine vordringliche Aufgabe bezeichnet, „de combattre et de pulvériser les fausses doctrines de la France sur l'intervention". GStA (West-)Berlin, Rep. 192 Wittgenstein, VII/K 5, Bl. 15. 323 ZStAM, Rep. 92 Ancillon, Nr. 81, Bl. 125 ff., Metternich an Ancillon, 23. 9.1833. ;26 HHSTA Wien, Staatskanzlei, Preußen, Karton Nr. 154, Bl. 67 f., Metternich an Wittgenstein, 23. 9.1833. 327 vgl. Aus Metternichs nachgelassenen Papieren, Bd. 5, S. 439. 323 324

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mansdorff : In Berlin werde zwar stets die Notwendigkeit einer Übereinstimmung der drei Höfe gepredigt, man mache hier aber immer dann Schwierigkeiten, wenn dem Bündnis Leben eingehaucht werden solle. Preußen schrecke deshalb vor einem offenen Bekenntnis zum Interventionsprinzip zurück, weil sein Wehrsystem auf einen „volkstümlichen Defensionskrieg" berechnet sei, sein Finanzsystem die Finanzierung eines längeren Krieges durch Anleihen ausschließe, die Rheinprovinz sich in einer exponierten Lage befinde und weil es in Berlin Bedenken gebe, mit Frankreich in einen Krieg verwickelt zu werden, ohne auf die Bundesgenossenschaft Englands rechnen zu können.328 Hinzu kamen aber sicher noch andere Gründe, wie die Besorgnis, sich dadurch vor der öffentlichen Meinung Deutschlands als Erfüllungsgehilfe des Zaren und Metternichs bloßzustellen329, denn am 1. Januar 1834, also nur wenige Monate nach den Berliner Verhandlungen, sollte der Deutsche Zollverein in Kraft treten. Die Einwände Ancillons richteten sich denn auch nicht gegen den Grundsatz der Interventionsbereitschaft an sich, sondern in erster Linie dagegen, daß man, wie es der Zar und Metternich wünschten330, den Beschluß darüber den anderen Mächten förmlich anzeigen wollte.331 In der Tat setzte die preußische Verhandlungsführung bis zum 15. Oktober einige Änderungen des in Münchengrätz Verabredeten durch. Nesselrode versicherte, daß Nikolaus I. nicht beabsichtigte - das hatte Friedrich Wilhelm III. für die Unterzeichnung eines Abkommens mit Rußland und Österreich zur Bedingung gemacht - , „pour réclamer l'assistance de la Prusse dans les complications que les affaires de l'Orient pourroient faire naitre".332 Damit war Preußen aus allen Bindungen an seine Bündnispartner • im Falle einer erneuten Zuspitzung der Orientfrage entlassen worden. Weiterhin erreichte es Preußen auch, daß die schließlich am 15. Oktober unterzeichnete Vertragsurkunde nicht den Namen „Konvention" tragen durfte333 und ein „Article séparé" unterzeichnet wurde, in dem sich die drei Mächte verpflichteten, das Abkommen geheimzuhalten und von ihm erst dann Gebrauch zu machen, wenn seine Anwendung unbedingt notwendig werden sollte.334 Tatsächlich wurden später über seinen Inhalt nur Vermutungen geäußert. In Berliner Diplomatenkreisen nahm man an, daß sich Österreich für eine in Piémont beabsichtigte Intervention gegen Frankreich die Rückendeckung durch Rußland und Preußen habe sichern wollen335, während in England in den Münchengrätzer und Berliner Vereinbarungen mehr vermutet wurde, als sie tatsächlich 328

H H S T A Wien, Staatskanzlei, Preußen, Corresp., Fasz. 148 c, Bl. 17 ff., Trauttmans-

329

Vgl. Kinjapina,

330

Vgl. Charmatz, S. 127.

dorff an Metternich, 15.10.1833.

331

S. 214.

Metternich an Baron Hügel, 22.10.1833, in: Aus

Metternichs

nachgelassenen

Pa-

pieren, Bd. 5, S. 521. 332

Z S t A M , Rep. 92 Ancillon, Nr. 81, Bl. 1, Nesselrode an Ancillon, 15.10.1833.

333

Vgl. Schiemann, S. 244.

334

Z S t A M , 2. 4. 1. Abt. I Nr. 8073, Bl. 4.

335

Vgl.

den Bericht des sächsischen Gesandten in Berlin vom 20.10.1833,

archiv Dresden, Außenministerium Nr. 3255, Bl. 286.

Staats-

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enthielten, wodurch es zu einer Belastung der diplomatischen Atmosphäre kam. 336 Tatsächlich sah der Artikel I des Vertrages vom 15. Oktober vor, „que tout souverain indépendent a le droit, d'appeler à son secours, dans les troubles intérieurs, comme dans les dangers extérieurs de son pays, tel autre souverain indépendent qui lui paroit le plus propre à l'assister, et que ce dernier a le droit d'accorder ou de refuser ce secours, selon ses intérêts et ses convenances". 337 Im Unterschied zu dem in Troppau am 19. November 1820 verfaßten Protokoll, dessen Artikel III den Fürsten das Recht einräumte, auch ohne fremde Aufforderung zu intervenieren338, wurde die Intervention hier nur dann als möglich erachtet, wenn sie von einem Staate angefordert wurde. Das war eine deutliche Einschränkung gegenüber den 13 Jahre vorher erhobenen Ansprüchen, worin sich ein neues Kräfteverhältnis zwischen Adel und Bourgeoisie in Europa ausdrückte. Um die Intervention gegen Gegeninterventionen von dritter Seite abzusichern, wurde weiter folgendes festgelegt : „Elles (d. h. Rußland, Österreich und Preußen - H. M.) reconnoissant de même que dans le cas ou cette assistance seroit accordée, aucune Puissance non invoquée ou appellée par l'état menacé, n'a le droit d'intervenir, soit pour empêcher l'assistance reclamée te accordée, soit pour agir dans un sens contraire." Doch diese Festlegung, daß keine dritte Macht der Intervention entgegentreten dürfe, blieb, da sie von denen, auf die sie gemünzt war, in erster Linie England und Frankreich, nicht unterschrieben oder anerkannt wurde, eine leere Floskel und wurde nicht zu einem Bestandteil des internationalen Rechts. Für den Fall, daß es dennoch zu einer Einmischung einer dritten Macht kommen sollte, d. h. daß die intervenierende Macht in einen Krieg verwickelt wurde, sagten sich die drei Signatarstaaten gegenseitige Hilfe zu, wobei Verwicklungen um die Türkei für Preußen nicht unter diese Verpflichtung zur Hilfeleistung fallen sollten. Nachdem die Verständigung über dieses Grundprinzip der reaktivierten Heiligen Allianz gelungen war, folgten am 16. Oktober koordinierende Maßnahmen zur Unterdrückung Polens. Ancillon unterzeichnete eine dem Münchengrätzer Abkommen zwischen Rußland und Österreich entsprechende Vereinbarung einmal mit Ficquelmont 339 , zum anderen mit Nesselrode und Ribeaupierre. 340 Um die polnischen Patrioten einzuschüchtern, wurde später der Teil der Übereinkunft, der „politischen Verbrechern" in den drei polnischen Teilungsgebieten die Auslieferung androhte, der Öffentlichkeit bekanntgegeben. 341 Damit war die Reaktivierung der Heiligen Allianz Tatsache geworden. Ihre erste Äußerung bestand in einer koordinierten diplomatischen Aktion in Paris. Durchdrungen von der Uberzeugung, daß das französische Asylrecht es den politischen Emigranten ermöglichte, ihre „umstürzlerische" Tätigkeit in den Staaten Vgl. Webster, Palmerston, Bd. 1, S. 363. ZStAM, Rep. 92 Ancillon, Nr. 81, Bl. 2. 338 vgl. Kiseleva, Chrestomatija po istorii mezdunarodnych otnosenij, S. 107. 339 Der Wortlaut in: ZStAM, 2.3.1. Abt. I Nr. 8684, Bl. 2 ff. 340 Ebenda, Nr. 8683, Bl. 23 ff. 341 vgl österreichischer Beobachter, Nr. 28, 28.1.1834. :n6

337

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des Deutschen Bundes, in der Schweiz, in Italien und Polen nahezu ungehindert auszuüben 342 , hatten die Monarchen und Minister in Münchengrätz und Berlin den Plan ausgearbeitet, die französische Regierung zu Maßnahmen gegen die Tätigkeit der Emigranten zu drängen. Schon am 18. Oktober unterrichtete Ancillon den preußischen Gesandten in Paris, v. Werther, daß die drei Mächte die französische Regierung auffordern würden, gegen die Revolutionäre entschieden vorzugehen. 343 Da ein förmlicher Beitritt des französischen Königs zu den Vereinbarungen von Münchengrätz und Berlin nicht erwartet werden konnte 344 , sollte durch eine gemeinsame Demarche dem in Münchengrätz und Berlin Beschlossenen in Paris auf andere Weise Geltung verschafft werden. Weil aber zu Metternichs Bedauern die demonstrative Verkündigung der Berliner Übereinkunft vom 15. Oktober durch die preußischen Einwände vereitelt worden war, konnte das nur noch in abgeschwächter Form erfolgen. Am 31. Oktober wurde Apponyi und am 1. November Werther und der russische Botschafter im französischen Außenministerium vorstellig, um Noten zu überreichen, die sich dem Inhalt nach im wesentlichen glichen, in der Form jedoch nicht unerheblich voneinander abwichen. Die Note Metternichs f ü h r t e die entschiedenste, die Ancillons die verbindlichste Sprache. 345 In ihnen wurde die f r a n zösische Regierung aufgefordert, energisch die als revolutionäre Propaganda bezeichneten Aktivitäten der politischen Emigranten zu unterdrücken, und die Entschlossenheit der drei Mächte bekräftigt, das „irrige Prinzip der Nicht-Intervention" nicht mehr anzuerkennen und die Revolution außerhalb ihrer eigenen Grenzen zu bekämpfen, wenn dazu aufgefordert würde. 346 Der französische Außenminister, der Duc de Broglie, erteilte Werther eine Abfuhr. Die drei Kabinette in Wien, Berlin und Petersburg dürften nicht vergessen, erklärte er, daß es die französischen Gesetze der Regierung nicht gestatteten, gegen die Störer der öffentlichen Ordnung mit der Energie vorzugehen, wie das die absolutistischen Regierungen könnten. 347 Zugleich brachte er Preußen und Österreich dadurch in Verlegenheit, daß er die ihm übergebenen Noten und die von ihm verfaßte Antwort den Kabinetten der deutschen Staaten zur Kenntnis brachte. Erst danach hielt es Metternich auch seinerseits für angebracht, die deutschen Regierungen über den Inhalt der Demarchen der drei Regierungen in Paris zu unterrichten. 348 342 343 344

345 346

347

348

ZStAM, Rep. 81, Wien Abt. I, Nr. 145, Bd. III, Bl. 241. Ebenda, Bl. 163. Daß durch die Konferenzen von Münchengrätz und Berlin die Trennungslinien zwischen den bürgerlichen Monarchien Westeuropas und dem Block ÖsterreichPreußen-Rußland stärker ausgeprägt worden waren, stand für politisch Unterrichtete außer Zweifel. Siehe den Bericht des sächsischen Gesandten in Wien vom 3.1.1834, Staatsarchiv Dresden, Außenministerium Nr. 3152, Bl. 4. Vgl. Roghe, Die französische Deutschland-Politik, S. 130. Vgl. Valloton, S. 241. Vgl. ferner das Rundschreiben des preußischen Außenministeriums vom 19.11.1833, ZStAM, AA I, Rep. I, Nr. 35, Bl. 48. Nach dem Bericht Werthers an Friedrich Wilhelm III. vom 2.11.1833, ZStAM, Rep. 81, Wien, Abt. I Nr. 145, Bd. III, Bl. 222 f. Vgl. HHSTA Wien, Staatskanzlei, Preußen, Karton Nr. 151, Bl. 224 ff.

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Während Metternich verärgert die preußische Regierung beschuldigte, durch den verbindlichen Ton ihrer Note dem „pfiffigen" Pariser Kabinett Gelegenheit gegeben zu haben, eine Gegenaktion zu unternehmen 349 , versuchten die leitenden preußischen Politiker den in Paris aufgekommenen Argwohn, „qu'il existe une alliance des trois cours dirigée contre la France", durch folgende Behauptung zu zerstreuen: Aus der übereinstimmenden Ansicht der drei Mächte, daß die französische Regierung die Tätigkeit der politischen Emigranten begünstige, dürfe nicht auf eine gegen Frankreich gerichtete feindliche Verbindung geschlossen werden.350 Nachdem auch Wittgenstein den französischen Gesandten Bresson mit der Bemerkung zu täuschen versucht hatte, daß man in Münchengrätz eine Depesche verfaßt habe, um keinen Vertrag schließen zu müssen, festigte sich bei dem französischen Diplomaten der sachlich nicht gerechtfertigte Eindruck, daß Preußen mit seinem Anschluß an die Notenüberreichung nur dem russischen Druck nachgegeben habe.351 Trotz des schwierigen Zustandekommens waren alle drei Unterzeichner der so sorgfältig geheimgehaltenen 352 Vereinbarungen vom 15. Oktober mit dem Ergebnis zufrieden. Friedrich Wilhelm III. begleitete die Abreise von Nesselrode und Ficquelmont nach Petersburg mit den Worten, daß ihr Geschäft in Berlin zur gegenseitigen Zufriedenheit ausgefallen sei.353 Metternich, der - seine Stellung überschätzend - sich als den Führenden und den Zaren als den Geführten ansah354, faßte die Abkommen von Münchengrätz und Berlin als einen bedeutenden diplomatischen Sieg und als seinen persönlichen Erfolg auf. Und auch der Zar würdigte auf seine Weise die Übereinkunft der Häupter der europäischen Konterrevolution. „Ich glaube, wir haben die Welt diesmal noch gerettet und den revolutionären Einfluß lahmgelegt", schrieb er als Kommentar zu den Münchengrätzer Beratungen. 355 Die Auswirkungen der in Schwedt, Münchengrätz und Berlin vollzogenen Reaktivierung des Bündnisses der Habsburger und Hohenzollern mit den Romanows waren äußerst weitreichend. Als Antwort auf die mit und seit der Julirevolution ä® Vgl. den Brief Metternichs an Wittgenstein vom 18.11.1833, GStA (West-)Berlin, Rep. 192 Wittgenstein, VII/K 4, Bl. 21. 350 Nach dem Bericht Trauttmansdorffs an Metternich vom 11.11.1833, HHSTA Wien, Staatskanzlei, Preußen, Karton Nr. 151, Bl. 130 ff. 351 Vgl. Roghé, S. 131 f. 352 Palmerston erklärte im englischen Unterhaus noch im Mai 1849 auf eine entsprechende Anfrage, daß seines Wissens keinerlei Vertrag bezüglich einer militärischen Hilfeleistung Rußlands für Österreich existiere. Andics, Das Bündnis Habsburg-Romanow, S. 16. 353 ZStAM, HA Rep. 49 Friedrich Wilhelm III., J 1214, Bl. 64, Friedrich Wilhelm III. an den Kronprinzen von Preußen, 16.10.1833. 354 Zu Prokesch sagte er Ende 1833: „Heute gehe ich mit ihm (Rußland - H. M.), weil es mit mir geht . . . Ich richte mich nach niemand, sondern gehe den Gang, den ich für den richtigen halte. Wen ich auf diesem Weg finde, den nehme ich mit mir". Prokesch, Mechmed-Ali, S. 55. 355 Schiemann, S. 435.

Der Weg nach Münchengrätz

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eingetretene Änderung des Kräfteverhältnisses zugunsten der Bourgeoisie, die in großen Teilen Westeuropas die politische Macht e r k ä m p f t hatte, vollzogen Preußen, Österreich und Rußland im Herbst 1833 eine Neuannäherung, u m bei der „schonungslosen Erstickung jeglicher revolutionären Bewegungen und nationalen Befreiungskämpfen zusammenzuwirken". 3 5 6 Die Interessengegensätze innerhalb des neugeschmiedeten Dreierverbands, wie die zwischen Rußland und Österreich auf dem Balken u n d im Nahen Osten, die zwischen Österreich und Preußen in bezug auf die Präponderanz über die Staaten des Deutschen Bundes und zwischen Rußland und P r e u ß e n auf ökonomischem Gebiet 357 , w a r e n damit nicht aufgehoben worden. Trotzdem stellte die herrschende Klasse in diesen drei Staaten zur Abwehr der G e f ä h r d u n g ihrer Machtpositionen in ihrer Außenpolitik das Bestreben, ihre eigenen Interessen gegen f r e m d e Konkurrenten durchzusetzen, zugunsten des gemeinsamen K a m p f e s gegen die K r ä f t e des bürgerlichen Fortschritts zeitweilig zurück. Triumphierend konstatierte im April 1834 Metternichs Sprachrohr, der „Österreichische Beobachter", diese Absicht erkennen lassend, daß jetzt „eine Schilderhebung, von welcher Seite sie auch kommen sollte", nicht mehr zu befürchten sei.358 Die Reaktivierung der Heiligen Allianz h a t t e nicht unbedeutenden Einfluß d a r auf, daß um 1840 die Reaktion, wie es Engels ausdrückte, „in voller Blüte" s t a n d : „Polen, Italien, Deutschland politisch t o t . . . Überall Sieg der reaktionären Partei, überall vollständige Auflösung und Zersprengung aller Fortschrittsparteien. Die Sperrung der geschichtlichen Bewegung, das schien das endliche Resultat der gewaltigen K ä m p f e von 1830 zu sein." 359 Sie w i r k t e damit jener Tendenz des gesellschaftlichen Fortschritts entgegen, die seit 1789 „mit der Durchsetzung des Kapitalismus der freien Konkurrenz zur Herausbildung nationaler M ä r k t e und zur Errichtung bürgerlicher Nationalstaaten" drängte. 360 Daneben aber stärkte sie vor allem die Macht des Zarismus und machte seine Diplomatie zum „Zentralp u n k t der permanenten Konterrevolution" 3 6 1 in Europa. Seit 1815 hatte sich der internationale Einfluß des zaristischen Rußlands als Resultat seiner militärischen Stärke und seiner entscheidenden Rolle bei der Zerschlagung des napoleonischen Imperiums beständig ausgedehnt. 362 Weniger als Preußen und selbst Österreich mit den aus der Entwicklung des Kapitalismus herrührenden inneren Widersprüchen belastet - die unzähligen isolierten Bauernaufstände konnten in der ersten Hälfte des 19. J h . die K r a f t der zaristischen Polizei, des Heeres und der Bürokratie noch nicht e r n s t h a f t schwächen 363 - , war das System des Absolutismus, der Selbstherrschaft, in Rußland relativ am 356 357 358 359 360 361 362 363

Andics, S. 21. HHSTA Wien, Staatskanzlei, Preußen, Corresp., Fasz. 149, Bl. 382, TrauttmansdorfE an Metternich, 29.12.1833. österreichischer Beobachter, Nr. 119, 29. 4.1834. Engels, Die Bewegungen von 1847, S. 494 f. Klassenkampf, Tradition, Sozialismus, S. 205. Marx, Karl/Engels, Friedrich, Die neue „Heilige Allianz", in: MEW, Bd. 6, S. 146. Istorija diplomatii, Bd. 1, S. 377. Vgl. ebenda, S. 378.

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festesten gegründet. So wurde das riesige Zarenreich mit seinen großen Ressourcen, seiner geschickten Diplomatie und seinem mächtigen Heer zum Gendarmen Europas. Von dieser Stellung aus sah es der Zar als seine Aufgabe an, die Außenpolitik seiner Verbündeten seinen Interessen und Zielen unterzuordnen. Der russische Diplomat F. I. Brunnow, in den 30er Jahren einer der engsten Mitarbeiter des russischen Außenministers 364 , hat das Ziel, Österreich und Preußen als Schutzwall gegen die antifeudalen revolutionären Bewegungen zu benutzen, deutlich ausgesprochen: „Rußlands Lebensinteressen erfordern, diese feindlichen Bewegungen mit Hilfe jener Länder fernzuhalten, die uns vom Brandherd der Revolution (Frankreich - H. M.) trennen." 365 Erst der Abschluß der Verträge von Münchengrätz und Berlin erlaubte es dem Zarismus, dieses Ziel im wesentlichen zu erreichen. Erst jetzt konnte er sich weitgehend auf Österreich und Preußen stützen, sie als seine vorgeschobenen Posten einsetzen. Nikolaus I. betrachtete seine zwei Bündnispartner fortan als den rechten und linken Flügel seines Heeres. Rußland wurde durch Münchengrätz „die zusammenhaltende Kraft und der tonangebende Führer der europäischen Reaktion" 366 , während Österreich und Preußen seit dem Herbst 1833 fest in den von Nikolaus I. geführten konterrevolutionären Mächteblock integriert waren. Das sollte nicht nur den Charakter ihrer Außenpolitik in den kommenden Jahren entscheidend bestimmen, sondern sich auch als hemmender Faktor f ü r den Prozeß der bürgerlichen Umwälzung auf deutschem Boden auswirken. Der Zarismus war der engste Bundesgenosse derjenigen Kräfte, die sich dem gesellschaftlichen Fortschritt in den Weg stellten; die in Münchengrätz und Berlin vollzogene Bindung an ihn erlaubte es ihnen, ihre Herrschaft wieder zu stabilisieren. 364 365 366

Zu Brunnows Stellung vgl. Sovetskaja istoriceskaja enciplopedija, Zitiert nach Andics, Das Bündnis Habsburg-Romanow, S. 23. Ebenda, S. 29.

Bd. 2, Sp. 764 f.

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Karl Hagen. Ein progressiver Historiker im Vormärz über die radikale Reformation

In den wechselvollen Zeitläufen vor, während und nach der Revolution von 1848/49 haben wenige deutsche bürgerliche Demokraten ihre politische Linie durchgehalten. Der Druck der Machthaber zwang die meisten in die Knie. Das war das Schicksal jener .verlorenen Generation', die sich im Vormärz radikalisiert hatte und 1848/49 scheiterte. Zu den Beharrlichen, die allen widrigen Gewalten zum Trotz standhaft blieben, gehörte der Historiker, Publizist und Politiker Karl Hagen (1810-1868). Anders als diejenigen, die ihre demokratische Gesinnung erst 1848 öffentlich zu bekunden wagten, trat Hagen schon im Vormärz mit an die Spitze der "radikalen Opposition. Und zum Unterschied von jenen, die nach 1849 resignierten, wahrte er bis zuletzt seine demokratischen Ideale. Stets stand er auf der Seite derer, die gegen politische Unfreiheit und soziale Ungerechtigkeit stritten.1 Der am 10. Oktober 1810 geborene Sproß einer fränkischen Gelehrtenfamilie wuchs in einem lutherischen Pfarrhaus auf. Nach Hausunterricht und Gymnasium studierte er 1827-1830 in Erlangen Theologie und Philosophie. Doch es zog ihn zur Geschichte. Seit 1830 erwarb Hagen sich an der Universität Jena bei Heinrich Luden das methodische Rüstzeug des Historikers. Der Kleinbauernsohn Luden war Mitinitiator des nationalen Aufbruchs von 1808-13 und Mitgründer der Burschenschaft gewesen. Der fortschrittliche Geschichtsschreiber, der die demokratische Volkssouveränitätslehre verfocht, wurde auch darin Hagens Vorbild, daß er sich über seine Fachwissenschaft hinaus als Publizist und

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Die Geschichtsschreibung hat an Hagen manches gutzumachen. In Historiographiegeschichten ist er seit Wegele vernachlässigt worden (vgl. dagegen Steinmetz, Max, Das Müntzerbild von Martin Luther bis Friedrich Engels, Berlin 1971, S. 403). Der Dahlmann-Waitz von 1931 billigte ihm ganze drei, noch dazu kleingedruckte Titel zu. Selbst Hagens „Reformationszeitalter" erscheint dort in abwertendem Kleindruck (Quellenkunde der deutschen Geschichte, begründet von F. C. Dahlmann/ G. Waitz, 9. Aufl., Leipzig 1931, Nr. 9488, 9562, 13727). Die „Allgemeine Deutsche Biographie" gestand ihm knappe zwei Seiten zu. In die biographischen Sammelwerke „Die Großen Deutschen" wurde Hagen nicht aufgenommen. Die „Neue Deutsche Biographie" kennt ihn nur als Vater eines klassischen Philologen. Allgemeinlexika schweigen sich über ihn aus.

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Politiker betätigte. Luden und die Burschenschaft begeisterten den Studenten für Freiheit und Einheit.2 Der wichtigste Lehrmeister Hagens aber wurde der Historiker Friedrich Christoph Schlosser, dessen progressive, antifeudale Haltung und dessen „Weltgeschichte für das deutsche Volk" Marx und Engels schätzten. Die Begegnung mit Schlosser 1834 in Heidelberg ist für Hagen wegweisend geworden. Wie das Denken Schlossers und seiner Schule wurzelte auch das Hagens letztlich in der radikalen Aufklärung. Seine philosophische Prägung erhielt Hagen durch Hegel und den Linkshegelianismus. Von Hegel lernte er mit der Dialektik geschichtliches Entwicklungsdenken. 3 Hegel sah in der Reformation den ersten Durchbruch zur Freiheit. Auch dadurch wurde der Freiheitsideologe Hagen auf die Reformation hingelenkt. Charakteristisch für Hagen war die enge Verknüpfung von Geschichte und Politik. „Die rechte Verbindung der Wissenschaft mit dem Leben" - so der Titel eines seiner Aufsätze - ist seine Maxime gewesen. 4 Gleichzeitig mit seiner Habilitation und dem Beginn seiner Lehrtätigkeit als Dozent der Geschichte 1836 in Erlangen und danach in Heidelberg erfolgte daher sein Debüt als Publizist und sein Eintritt in die politische Arena. Hagen hat im Rückblick auf die Geschichte seiner Generation selbst geschildert, wie während der 30er Jahre, besonders um die Mitte dieses Jahrzehnts, sich in Deutschland eine entschiedene Opposition herausbildete, die über die liberalen Forderungen hinausging. 5 Zu dieser radikalen Strömung stieß der junge Dozent und wurde bald einer ihrer Wortführer. In allen Perioden seines Wirkens hat Hagen sich fortan als ein für politische und soziale Freiheit wie für nationale Einheit engagierter Gelehrter ausgezeichnet. Er suchte aus der Vergangenheit zu lernen, um den Schäden seiner Zeit desto wirksamer entgegenzutreten. Die historische Kontemplation mündete so .bei ihm in die politisch-soziale Konzeption. Durch diese Hinwendung zur Geschichte unterschied sich Hagen vorteilhaft von 2

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Zur Biographie: Hüdebrandt, Gunther, Karl Hagen, in: Biographisches Lexikon zur deutschen Geschichte, 2. Aufl., Berlin 1970, S. 259 f.; derselbe, Parlamentsopposition auf Linkskurs. Die kleinbürgerlich-demokratische Fraktion Donnersberg in der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49, Berlin 1975, S. 276; Wende, Peter, Radikalismus im Vormärz. Untersuchungen zur politischen Theorie der frühen deutschen Demokratie, Wiesbaden 1975, S. 46; Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 10, Leipzig 1879, S. 341 f.; ausführlicher: Sammlung bernischer Biographien, Bd. 3, Bern 1898, S. 275 ff.; sehr knapp: Historisch-biographisches Lexikon der Schweiz, Bd. 4, Neuenburg 1927, S. 50. Zur Genealogie: Neue Deutsche Biographie, Bd. 7, Berlin 1966, S. 475 f. Über Luden: Obermann, Karl, Heinrich Luden, in: Biographisches Lexikon, S. 423 f. Zum Einfluß Hegels vgl. Steinmetz, Das Müntzerbild, S. 435. Über Schlosser: Schilfert, Gerhard, Friedrich Christoph Schlosser, in: Studien über die deutsche Geschichtswissenschaft, hrsg. v. Joachim Streisand, Bd. 1, Berlin 1963, S. 136ff.; 19692. In: Braga. Vaterländische Blätter für Kunst und Wissenschaft, Jg. 1, Heidelberg 1838, S. 367 ff. Hagen, Geschichte der neuesten Zeit, Bd. 2, Braunschweig 1851, S. 755.

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vielen abstrakt theoretisierenden Liberalen und Demokraten. Er begriff besser als sie, daß es darauf ankam, die oppositionelle Staats- und Gesellschaftslehre in Einklang mit den Gegebenheiten der Geschichte zu bringen. Hagen nannte das die „Vermittlung des rationalen und des historischen Prinzips", die Abstimmung demokratischer Theorie auf das geschichtlich Gewordene. Seine gesammelten publizistischen Aufsätze stellte er unter diesen Leitgedanken: „Fragen der Zeit, vom historischen Standpunkte betrachtet"6. In seinem Bemühen um einen geschichtlich fundierten Demokratismus begegnete Hagen sich mit Johann Georg August Wirth, dem Hauptakteur des Hambacher Nationalfestes von 1832. Beide gaben 1838/39 gemeinsam die Heidelberger Zeitschrift „Braga" heraus, die sie zur Tribüne einer auf der Geschichte fußenden demokratischen Meinungsbildung gestalteten. Damit schufen Wirth und Hagen eine Gegenplattform zur Restauration und zu der ihr nahestehenden Historischen Schule der politischen Romantik; denn diese warfen den Liberalen und Demokraten vor, abstrakte Theoreme aufzustellen, in denen die Geschichte ignoriert werde und die darum unausführbar seien. Wirth und Hagen schlugen die Ideologen der Fürsten- und Adelsherrschaft mit deren eigenen Waffen, indem sie demonstrierten, daß die Logik der Geschichte, der fortschreitende Entwicklungsprozeß der menschlichen Gesellschaft, auf Seiten der demokratischen und liberalen Opposition war. Programmatischen Charakter trug Hagens Aufsatz „Zur Vermittlung des Streites zwischen dem rationalen und historischen Prinzip in unserer Staatslehre".7 Dieser Aufsatz ist kennzeichnend für die geschichtsbezogene, undoktrinäre politische Einstellung seines Verfassers. Als den Hauptinhalt der Geschichte diagnostizierte Hagen darin, was die Restauration negierte: den gesellschaftlichen Fortschritt. So „entdeckten" Wirth und Hagen für den vormärzlichen deutschen Demokratismus die Geschichte. Durch ihre historische Argumentation hoben sie sich von mehr staatstheoretisch und gesellschaftsphilosophisch eingestellten Gesinnungsfreunden wie Julius Fröbel und den Linkshegelianern Rüge und Nauwerck ab. In umfassenden eigenen Geschichtswerken vertieften sie ihre historisch-demokratische Sicht. Die zweite Besonderheit der Richtung von Wirth und Hagen hing mit der ersten eng zusammen: Als Erforscher der vaterländischen Geschichte vertraten sie ein betontes Nationalbewußtsein. Darin stachen sie ebenfalls von Fröbel und Rüge ab. Vorbedingung für die Erringung der staatsbürgerlichen Freiheit war unter den deutschen Gegebenheiten, darin sahen Hagen und Wirth klarer als andere Demokraten, die Herstellung der nationalen Einheit. Auf Grund ihrer Zielstellung, über die Einheit zur Freiheit zu gelangen, sind sie als „nationalradikale"8 6

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Derselbe, Fragen der Zeit, vom historischen Standpunkte betrachtet, 2 Bände, Stuttgart 1843/45. Braga, Jg. 2, 1839, S. 266 ff.; verändert in: Fragen der Zeit, Bd. 1, S. 177 ff.; vgl. Wende, Radikalismus, S. 132 f., 138-141, 144, 147. Müller, Otto Heinrich, J. G. A. Wirth und der radikale Liberalismus, Diss. Frankfurt a. M. 1925, S. 251.

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oder, zusammen mit Struve, Hecker und Blum, „nationalstaatliche" 9 Abart des deutschen vormärzlichen Radikalismus klassifiziert worden. Wirth und Hagen knüpften dabei an Reformation, Aufklärung und Klassik, besonders aber an das Erbe von 1813 an. Die Losung „Keine Freiheit ohne Einheit" widerlegte die Anschuldigung, die Demokraten seien anational. Der bürgerliche Nationalstaat als erste Etappe auf dem Wege zur politischen und sozialen Freiheit sollte ohne Fürsten, zumindest ohne Einzelfürsten sein. Darin waren sich Wirth und Hagen mit anderen Radikalen einig. Konzeptionell hat Hagen die demokratisch-nationale Richtung 1839 festgelegt. 10 Es war eine Absage an einen irrealen Kosmopolitismus. Die Deutschen müßten, führte Hagen diesen Gedanken 1843 weiter, sich endlich von der bisherigen Verkrampfung ihrer Geschichte zwischen den Extremen eines mittelalterlichen Universalismus und eines der Ausländerei verfallenden neuzeitlichen Individualismus frei machen, um auf der mittleren Ebene des bürgerlichen Nationalstaats eine freiheitliche, sozial gerechte Ordnung zu errichten. 11 Ohne einen fest gegründeten Nationalstaat „schwebe die F r e i h e i t . . . in der Luft". In ihm allein könne sie zuverlässig gesichert werden. 12 Die Devise „Durch Einheit zur Freiheit" besagte, daß die Freiheit der Einheit übergeordnet war. Das entsprach auch den Vorstellungen Struves, in dessen „Mannheimer Journal" Hagen publizierte, und der „Rheinischen Zeitung", für die er ebenfalls schrieb. In diesem Punkt aber trennte sich Hagen von Wirth. Dieser hatte seine radikale Opposition 1830 als Kosmopolit begonnen. Seit 1840, angesichts der Bedrohung des Rheinlands durch die Expansionspolitik von Thiers, zeigten sich bei ihm jedoch nationalistische Anwandlungen. Hagen dagegen ließ sich nicht in seinem Bekenntnis zur Brüderlichkeit der Völker beirren. Er hielt am Primat der politisch-sozialen Freiheit gegenüber der nationalen Einheit fest. In der Meinungsverschiedenheit der beiden Freunde kündigten sich zwei auseinanderstrebende politische Wege an. Bei Wirth erweckte das Nationalbewußtsein den Gedanken an nationale Größe und Macht. Demgegenüber wünschte Hagen einen deutschen Nationalstaat als Glied der europäischen Völkerfamilie. So propagierte er im Völkerfrühling 1848 eine Republik Europa. Sein Bekenntnis zur Völkerfreund9

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Wende, Radikalismus, S. 181, 1841, 196. Zu Blum s.: Schmidt, Siegfried, Robert Blum. Vom Leipziger Liberalen zum Märtyrer der deutschen Demokratie, Weimar 1971, S. 48 ff. Hagen, Über die Tendenz des Braga, in: Braga, Jg. 2, 1839, S. 189 f£. Vgl. derselbe, Deutscher Volkscharakter, in: Fragen der Zeit, Bd. 1. Vgl. derselbe, Weltliteratur, in: Fragen der Zeit, Bd. 1. Im Unterschied zu Hagen plädierte Rotteck, einer der führenden Vertreter des süddeutschen Liberalismus, der gleichfalls die Freiheit über die Einheit stellte, für einen anderen Weg. Seiner Auffassung nach setzte die nationale Einheit die Verwirklichung wichtiger demokratischer Forderungen voraus, daher gaben er und seine Anhänger sich zunächst mit der Errichtung eines losen Staatenbundes zufrieden (Vgl. Hildebrandt, Programm und Bewegung des süddeutschen Liberalismus nach 1830; in: JbG, Bd. 9, 1973, S. 18 f.).

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schaft bewahrte er auch in der Frankfurter Posen-Debatte. Damit stand Hagen sowohl vor wie in der Revolution auf fortschrittlicherer Position als Wirth. Die tiefe Kluft, die sich in der Frage der künftigen Relevanz des nationalen Faktors zwischen den Kampfgefährten von 1838/39 auftat, spiegelte sich seit 1841 in ihrer Publizistik wie in ihren Geschichtswerken. Als Hagen sich 1843 erneut zum deutschen Nationalgedanken bekannte, distanzierte er sich zugleich von der Mittelalterschwärmerei und der „Deutschtümelei", die Wirth mit politischen Romantikern teilte.13 Während Wirth die vorgebliche „Volksfreiheit" im Mittelalter pries, enthüllte Hagen das Fragwürdige der damaligen „Freiheit". 14 Auch die radikale Reformation beurteilte Hagen wesentlich positiver als Wirth. Der reformationszeitliche Band von Wirths deutscher Geschichte fällt durch seine Fehlurteile gegenüber Hagens gleichzeitiger Reformationsgeschichte stark ab.15 Wirth orientierte sich darin auf die „mittlem Stände". 16 Er sympathisierte zwar ähnlich wie Hagen mit „freisinnigem" Denken, aber er stand „volksmäßigen" Bestrebungen, dem Trachten nach „sozialer Umgestaltung" in der Reformation, weithin abweisend gegenüber.17 Im Exil in materielle Not geraten18- hat Wirth sich bei seiner legal erschienenen deutschen Geschichte zu mehr Konzessionen bereit gefunden, als eines Demokraten würdig war.19 Aber auch Hagens Geschichtsauffassung und politische Haltung blieben nicht frei von undemokratischen Halbheiten und Inkonsequenzen. In manchem stand er zwischen Liberalismus und Demokratismus, deren Grenze damals fließend war. „Das Verhältnis" zwischen „Individuum . . . und Staat" war ihm Angelpunkt der Politik.20 Insofern er Freiheit als Freisein von Fesseln des Staates verstand und dessen Aufgaben einzuschränken wünschte, blieb er der liberalen Freiheitsidee verhaftet.21 So war dem Hagenschen Demokratismus vor der Märzrevolution linksliberales Gedankengut beigemischt. Tatsächlich stellt sich in manchem „der vormärzliche Radikalismus eines Wirth, Struve und Hagen durchaus als ,Linksliberalismus'" dar.22 13 14

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Hagen, Hauptrichtungen der Gegenwart, in: Fragen der Zeit, Bd. 1, S. 286. Derselbe, Die historische Entwicklung der Idee des Staats, in: Fragen der Zeit, Bd. 2, S. 37. Wirth, Johann Georg August, Geschichte der Deutschen, Bd. 3, [1493—1648], 2., verb. Aufl., Stuttgart 1846, S. 56, 82-87, 96 f., 112-117, 124 f., 136 f., 172 f., 207-209. (Die 1. Auflage erschien in Emmishofen 1844; eine 4. Aufl. Stuttgart 1865.) Ebenda, S. 57, 154, passim. Ebenda, S. 77 f., 119,154-156,172. Vgl. Bock, Helmut, J. G. A. Wirth, in: Biographisches Lexikon, S. 749. Vgl. Steinmetz, Über den Charakter der Reformation und des Bauernkrieges in Deutschland, in: WZ Leipzig, Jg. 14, 1965, S. 390. Fragen der Zeit, Bd. 1, S. 26. Z. B. Hagen, Deutschlands literarische und religiöse Verhältnisse im Reformationszeitalter, Bd. 2, Erlangen 1843, S. 1; vgl. Neumüller, Michael, Liberalismus und Revolution. Das Problem der Revolution in der deutschen liberalen Geschichtsschreibung des 19. Jh., Düsseldorf 1973, S. 24, 52, 56 f. Wende, Radikalismus im Vormärz, S. 76.

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Auch als Geschichtsschreiber zeigten Wirth, Hagen und selbst der Bauernkriegshistoriker Wilhelm Zimmermann neben demokratischen linksliberale Züge.23 Doch ist zwischen ihnen abzustufen, besonders in bezug auf Reformation und Bauernkrieg. Wirth hat die radikale Reformation herabgesetzt, Zimmermann sie verherrlicht. Bei Hagen war die linksliberale Komponente schwächer als bei Wirth, aber stärker als bei Zimmermann. Vom gemäßigten Liberalismus trennten Hagen seine Staatsidee und sein ausgeprägter Sinn für soziale Gerechtigkeit. Er begriff, daß einzig ein gefestigter, unabhängiger Staat - kein „Nachtwächterstaat" - die staatsbürgerliche Freiheit gewährleisten konnte. Über die bürgerliche Freiheit hinaus schwebte ihm „soziale Freiheit" vor, die Befreiung der Unterschichten von dem auf ihnen lastenden Druck.24 In seiner Polemik gegen Privilegien und Exemtionen, gegen Gerechtigkeiten ohne Gerechtigkeit und Freiheiten ohne Freiheit, trat er als Anwalt staatsbürgerlicher Gleichheit auf.25 Neben Rechtsgleichheit forderte Hagen Heranziehung der Privilegierten zu den öffentlichen Lasten und Chancengleichheit - gleiche Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten für alle. Das bedeutete Beseitigung aller Steuer-, Ämter- und Offiziersprivilegien. Auch die unter liberalen Verhältnissen fortbestehende oder neu entspringende soziale Ungerechtigkeit erregte seinen Protest. Doch schied er, gleich anderen bürgerlichen Radikalen, nicht klar zwischen gesetzlicher, politischer, wirtschaftlicher und sozialer Gleichheit. Widersprüchlich war die Haltung der kleinbürgerlichen Demokraten gegenüber den Volksmassen. Darin bekundete sich ihre zwiespältige Position zwischen Liberalismus und Arbeiterbewegung. Diese entsprach der Stellung ihrer sozialen Basis, des Kleinbürgertums, zwischen Bourgeoisie und Proletariat. So ergab sich ihre doppelseitige Abgrenzung innerhalb der Opposition: von den Liberalen zur Rechten und von sozialistisch-kommunistischen Bestrebungen zur Linken.36 Zwischen Ungebundenheit und Egalitarismus, zwischen Individualismus und Gemeinschaftlichkeit suchten sie einen Mittelweg. Sie wünschten die Freiheitlichkeit des Liberalismus1, wollten aber seine Nachteile verhüten.27 So hat Hagen gleichermaßen den Kapitalismus und vormarxistische kommunistische Bestrebungen kritisiert. Für ihn war es „der schauderhafteste Zustand", wenn Arbeiter erwerbslos oder ohnmächtig denen gegenüberstanden, die „Vermögen haben", so daß sie „trotz aller Anstrengungen dennoch nichts auszurichten vermögen", während „der Unternehmer . . . sein Geld" und „die Maschinen" für sich arbeiten läßt und daraus „die Renten seines Vermögens" zieht.28 Auf der anderen Seite warnte Hagen den vormarxistischen „Kommunismus, welcher... sich von allen Vorurteilen zu trennen im Begriff ist", vor einer „Zurückset-

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Vgl. Neumüller, S. 24 passim. Hagen, Deutschland . . . im Reformationszeitalter, Bd. 2, S. 229. Derselbe, Die historische Entwicklung der Idee des Staats, S. 37. Vgl. Kowalski, Werner, Vom kleinbürgerlichen Demokratismus zum Kommunismus, Berlin 1967, Einleitung. Vgl. Wende, Radikalismus im Vormärz, S. 116, 125, 127 f. Hagen, Proletariat und Kommunismus, in: Fragen der Zeit, Bd. 2, S. 192.

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z u n g . . . der Individualität." 29 Auf diese Weise trat er gegen „rechts" als Sachwalter der Ausgebeuteten auf und machte gegen „links" die Rechte des Individuums geltend. Hagen brachte f ü r die Volksmassen mehr Verständnis auf als mancher seiner Couleur, war aber ebenfalls nicht frei von Vorurteilen. Er betonte „die materielle Grundlage der Wirklichkeit". Die „Zustände des Volkes in sozialer Beziehung" bestimmen den Gang der Geschichte. Viele Staats- und Gesellschaftsdenker hätten „die materielle Grundlage der Wirklichkeit ü b e r s e h e n . . . die Zustände des Volkes in sozialer Beziehung außer acht gelassen . . . Unterdessen steigerte sich das Elend unserer niederen Klassen." 30 Daneben stehen aber Äußerungen, in denen Hagen von elitär-liberaler Warte das Volk als labile, unselbständige, stumpfe Masse wertete. Er w a r jedoch überzeugt, daß es möglich sei, die einfachen Menschen zu politisch aktiven Staatsbürgern zu bilden. Den Einfluß der Volksstimmung auf die Politik schätzten Hagen und seine Gesinnungsfreunde sehr hoch ein. Dem entsprach ihre außerordentliche Wertschätzung der öffentlichen Meinung und ihr Bemühen, publizistisch auf diese einzuwirken. Im Vertrauen auf die K r a f t der öffentlichen Meinung glaubten Wirth und Hagen, daß der Wille der Mehrheit sich durchsetzen werde. Darum wollten sie die öffentliche Meinung f ü r den Gedanken des demokratischen Nationalstaats mobilisieren. Auf diese Weise sollten die Kabinette unter Druck gesetzt und zur Hinnahme eines nationalen Verfassungsstaats gezwungen werden. 31 Hagen untermauerte die These von der K r a f t der öffentlichen Meinung durch seine Forschungen über ihre Entwicklung um 1813.32 Wenn er dabei die antinapoleonischen Unabhängigkeitskriege zu „Freiheitskriegen" sublimierte, so w a r das aus seiner Sicht - von der Zielsetzung, nicht vom Ergebnis her geurteilt - berechtigt, weil es den Freischaren und allen Demokraten 1813 bis 1815 nicht nur um nationale, sondern auch um innenpolitische und soziale Befreiung ging. Aber die Annahme, daß der Majoritätswille zwangsläufig siegen werde, erwies sich als Trugschluß. Die Überbewertung der öffentlichen Meinung war einer der Fehler von 1848. Die Demokraten unterschätzten die Macht und das Beharrungsvermögen des eingespielten monarchistischen Staatsapparats, vor allem dessen militärische Schlagkraft. So triumphierten die Bajonette über die Mehrheitsbeschlüsse. Hagen w a r jedoch einer von denen, die erkannten, daß die Revolution starke eigene bewaffnete Organe brauchte - eine gesamtstaatliche demokratische Nationalgarde oder Bürgerwehr - um sich zu behaupten. 33 Ihre grundsätzliche Einstellung zur Revolution haben die Demokraten des Vor29 30 31

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Ebenda, Bd. 2, S. 244. Ebenda, S. 181 f. Wirth, Geschichte der Deutschen, Bd. 2, Stuttgart 1843, S. 364; derselbe, Die Rechte des deutschen Volkes, Landau 1836, S. 6. Hagen, Über die öffentliche Meinung in Deutschland von den Freiheitskriegen bis zu den Karlsbader Beschlüssen, in: Historisches Taschenbuch, Leipzig 1846/47. Vgl. derselbe, Politischer Katechismus für das freie deutsche Volk. 3 Hefte, Braunschweig 1848, Heft 2.

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märz aus Zensur- und Sicherheitsgründen meist nicht offen ausgesprochen. Doch konstruierten sie ein revolutionäres Widerstandsrecht und schilderten frühere Revolutionen mit Sympathie und Pathos als rechtmäßig, so Hagen die Reformation und die Julirevolution von 1830. Wirth propagierte 1832 in seiner Verteidigungsrede vor Gericht mit großer Kühnheit die Revolution als die ultima ratio zur „Hinwegräumung aller deutschen Throne". 34 In ihrem Erschrecken vor den Realitäten der Französischen Revolution wichen Wirth und Hagen aber von der revolutionär-demokratischen Position ab. Wirths Ablehnung verriet nationales Ressentiment gegen das französische Übergreifen auf deutsches Gebiet. Hagen sah in der Französischen Revolution sein Ideal der „individuellen Freiheit" mißachtet. Außerdem rügte er an ihr mangelnden historischen Sinn. 35 Die Negierung dieser Revolution und die Verkennung ihrer weltgeschichtlichen Tragweite war der schwächste Punkt seines Geschichtsbildes.36 Aus einem Legalitätsdenken heraus und aus einer Vorliebe f ü r historisch gewachsene genossenschaftliche Institutionen stand Hagen überhaupt der Revolution mit Skepsis gegenüber. Er sah in ihr kein Allheilmittel f ü r die Gebrechen der Gesellschaft und fürchtete Anarchie. 37 Ein revolutionärer Demokrat aus Prinzip war Hagen somit nicht. In der Reaktionsperiode ab 1850 hat er auf Grund der Lehren von 1848/49 aber sowohl seine Bewertung der Französischen Revolution wie seine Einstellung zum revolutionären Volksaufstand positiv korrigiert. Nach alledem kann man Hagen im Vormärz al9 Demokraten an der Grenze zum Liberalismus einstufen. Damals wurde er 2x1 den „Radikalen" 38 gerechnet, ein Terminus, unter dem seinerzeit revolutionäre und gemäßigte Demokraten sowie des öfteren auch Linksliberale vereinigt wurden. Als ein Wortführer der demokratischen Opposition erregte Hagen den Argwohn der Machthaber. Man hielt ihn f ü r „gefährlich". Bereits 1842 stand Hagen auf der schwarzen Liste des Metternichschen Geheimdienstes. 39 Ein Jahr zuvor war der erste Band seiner Reformationsgeschichte erschienen. 1843 und 1844 folgten der zweite und dritte Band. 40 Das Werk ist das demoWirth, Die Rechte des deutschen Volkes, S. 190, passim (7 Auflagen). ' Hagen, Fragen der Zeit, Bd. 1, S. 174, und 2, S. 66 ff. 16 Hierin stimme ich mit Siegfried Schmidt überein, dem ich für ein anregendes Fachgespräch danke. 37 Hagen, Politischer Katechismus, S. 38 f. 38 Vgl. Volkstümliches Handbuch der Staatswissenschaften und Politik. Ein Staatslexikon für das Volk, begründet v. Robert Blum, Bd. 2, Leipzig 1851, S. 170 (Neudruck Leipzig 1973); Mühlpfordt, Günter, Die Kategorie „radikal", in: Reform. Reformation. Revolution, hrsg. v. Siegfried Hoyer, Leipzig 1980. M Glossy, Karl, Geheimberichte aus dem Vormärz, Bd. 1, Wien 1912, S. 307. ',0 Hagen, Deutschlands literarische und religiöse Verhältnisse im Reformationszeitalter, 3 Bände, Erlangen 1841-44 (Band 2 und 3 unter dem Sondertitel: Der Geist der Reformation und seine Gegensätze); 2., unveränderte Auflage Frankfurt a. M. 1868; Neudruck Aalen 1966. Zahlenangaben im Text beziehen sich auf Band und Seiten der Erstausgabe. 3r

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kratische Gegenstück zu Rankes „Deutscher Geschichte im Zeitalter der Reformation" (1839-47).41 In der Quellenarbeit hat es dem Rankeschen Opus die Heranziehung volkstümlicher Flugschriften voraus. 42 Daher konnte Hagen ein fundierteres Bild der radikalen Reformation zeichnen als Ranke. Rankes detaillierte Darstellung der Ereignisse hat er weder von der Themenstellung her noch dem Umfang nach angestrebt. 1845 fand sein „Reformationszeitalter" eine äußere Anerkennung durch seine Ernennung zum Extraordinarius der Geschichte an der Universität Heidelberg. Hagen erblickte in den Auseinandersetzungen seiner Zeit die Weiterführung dessen, was in der Reformation begonnen wurde. Sein „Reformationszeitalter" klingt in einem Vergleich zwischen der Lage Deutschlands im frühen 16. Jh. und der in den 40er Jahren des 19. Jh. aus. Da Hagen die Reformation als eine Revolution betrachtete, legte er damit dem Leser den Analogieschluß nahe, daß eine neue Revolution bevorstehe. Er sagte unumwunden den „nahenden Verfall" der „Reaktion" voraus und schloß mit dem Wunsch, daß die aus dem Verlauf der Reformation zu ziehenden Lehren mithelfen möchten, die Reaktion hinwegzufegen (Band 3, S. 462 f.). So gehört Hagen zu den Propheten der Revolution von 1848/49. Als Historiker strebte Hagen zur Synthese. Seine Reformationsgeschichte entsprang einem biographischen Vorhaben über den Nürnberger Humanisten Pirckheimer, das sich zu einem Gesamtgemälde des „Reformationszeitalters" in Deutschland bis 1530 erweiterte. Hagens Sympathie f ü r das „volksmäßige Element" in der Reformation f ü h r t e ihn zu den Flugschriften. Die glückliche Entdeckung einer Flugschriftensammlung brachte ihn an das Material heran. In den religiösen Fragen der Reformation stimmte Hagen mit dem konfessionell toleranten Standpunkt Lessings überein (Band 3, S. 271, 302). Gleich Lessing erkannte er die Werte des reformatorischen Radikalismus (Band 3, S. V). Bei einem Teil der „radikalen Partei" der Reformationsbewegung sah Hagen die verheißungsvollen Ansätze der Frühreformation fortgebildet zu einer Inauguration neuzeitlichen Denkens. Ziemlich modern mutet Hagens Auffassung der Reformation als - nicht nur religiöse, sondern auch - politisch-soziale Revolution an. Er stand mit dieser Ansicht nicht allein. Sie war vielmehr Gemeingut der demokratisch-liberalen Reformations- und Revolutionsgeschichtsschreibung im deutschen Vormärz. Die Zimmermann, Hagen, Wirth, Dahlmann sahen - trotz unterschiedlicher politischer und historischer Wertungen - in der Reformation die „Urrevolution, die Mutter aller neuzeitlichen Revolutionen". Diese „Vorstellung von einer Art europäischer Urrevolution . . . verbindet . . . den gemäßigten Liberalen Dahlmann mit . . . Hagen und Zimmermann". 4 3 Zimmermanns „Bauernkrieg" (1841-43) und Hagens „Reformationszeitalter" gingen Dahlmanns „Geschichte der 41

Vgl. Steinmetz, Die Entstehung der marxistischen Auffassung von Reformation und Bauernkrieg, Wittenberg 1967, S. 7 f., 21; derselbe, Rezension, in: ZfG, Jg. 25. 1977, H. 8, S. 977. /l2 Derselbe, Das Müntzerbild, S. 395. " Neumüller, S. 45, 48, 52, 58.

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englischen Revolution" (1844) und seiner „Geschichte der Französischen Revolution" (1845) voraus. So wurde die Revolutionskette Deutschland-EnglandFrankreich sichtbar gemacht. Mit Wirth hatte Hagen außerdem die Einsicht in den Zwei-Phasen- oder ZweiParteien-Charakter der Revolutionen gemeinsam. Sie beruhte auf der Beobachtung, daß regelmäßig im zweiten Stadium von Reformation und Revolution ein Teil der Opposition sich radikalisierte und es zur Spaltung in Gemäßigte und Radikale kam. Auch das betrachtete Hagen als eine Gemeinsamkeit der Reformation und seiner eigenen Zeit. Beidemal führte er das Entstehen einer „radikalen Partei" auf Unzufriedenheit mit den Ergebnissen gemäßigter Reform zurück. Die binäre Struktur der Reformation war f ü r Hagen eine Grundtatsache. Er suchte sie terminologisch auf mannigfache Weise zu erfassen: als Polarität „orthodoxer" und „heterodoxer", „offizieller" und „ketzerischer", „biblischer" und „mystischer", „dogmatischer" und „rationaler", „unfreier" und „freier" Gruppierungen oder Strömungen. Am prägnantesten gab er die innerreformatorische Antithese durch das Begriffspaar „gemäßigte Partei" und „radikale Partei" oder „Richtung" wieder. Schon in der vorreformatorischen Bewegung des 15. Jh. unterschied Hagen eine gemäßigte und eine radikale Richtung. Das „oppositionelle Element gegen die Hierarchie" steigerte sich bei der „volksmäßigen Opposition" zu „bitterster Stimmung" (1, 112 f.). Seit dem Aufkommen des Buchdrucks entlud sich die radikale Einstellung in scharfen und derb volkstümlichen Flugschriften. Über die gemäßigte „nationale Opposition" hinaus suchte die radikale „volksmäßige Opposition" auch soziales Unrecht zu beseitigen (1, 33). Als Bindeglied zwischen gemäßigter oder „nationaler" und radikaler oder „volksmäßiger Opposition" fungierte antikurialer „Humanismus", namentlich an Universitäten (1, 112 f. und 475). Die Bezeichnung der wissenschaftlich-literarischen Bewegung in Renaissance und Reformation als „Humanismus" geht auf Hagen zurück (schon in Band l).44 Der strukturellen Dualität der Reformationsbewegung trägt auch die Bandeinteilung Hagens Rechnung: Auf die Vorgeschichte (Grundlagen und Voraussetzungen) im ersten Band folgt im zweiten vornehmlich die Geschichte der gemäßigten und im dritten hauptsächlich die der radikalen Reformation. Dabei führte Hagen Gemäßigte und Radikale in ihrem Neben- und Gegeneinander vor. Dementsprechend vereinte er die Bände 2 und 3 unter dem Sondertitel: „Der Geist der Reformation und seine Gegensätze". Auf diese Weise brachte er sowohl die Zusammengehörigkeit der Gesamtreformation wie deren innere Widersprüche zum Ausdruck. 44

Vgl. Rupprich, Hans, Humanismus und Renaissance, München 1970, S. 429; zur Begriffsgeschichte von „Humanismus" meine Bemerkungen in: Deutsche Literaturzeitung für Kritik der internationalen Wissenschaft (DLZ), Jg. 92, 1971, H. 1, S. 23 f.. und Jg. 95, 1974, H. 7, S. 504f.; Humanismus, hrsg. v. Hans Oppermann, Darmstadt 1970 (Wege der Forschung, Bd. 17); dazu G. Vogler in: ZfG, Jg. 21, 1973, H. 5, S. 607 f.

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Den „Geist der Reformation" begriff Hagen als Zeitgeist. Für „Geist der Reformation" sagte er im Text „reformatorische Ideen". Den Begriff der öffentlichen Meinung übertrug er auch auf jene Epoche: Die Reformationsideen haben schon „vor der Reformation sich als öffentliche Meinung entwickelt" (3, 460 f.). Der gewaltige Widerhall von Luthers Auftreten resultierte daraus, daß er der „öffentlichen Meinung" Ausdruck gab (2, 164). Von 1521 an übernahmen dann die radikalen Reformatoren mehr und mehr diese Rolle. Sie traten nicht nur als Sprecher der „öffentlichen Meinung damaliger Zeit" auf, sondern gewannen auch ihrerseits großen „Einfluß auf die öffentliche Meinung" (3, VIII f.; 2, 321). So verfolgte Hagen die Entwicklung der Reformation im Widerstreit zwischen der „gemäßigten" und der „radikalen Richtung". Dabei verlor er aber die Einheit der „Reformation überhaupt" als historisches Ganzes nicht aus den Augen (3, 422). Den bürgerlichen Charakter der Gesamtreformation als „Revolution" hat Hagen schon von seinen vorreformatorischen Ursprüngen her erfaßt. Bereits vor und um so mehr dann in der und durch die Reformation „gewann das Bürgertum immer größere Bedeutung, Einfluß und Macht". Als Ideenhistoriker nahm Hagen den Prozeß der Verbürgerlichung hauptsächlich im Wandel der Denkart wahr - darin, daß vor und mit der Reformation eine „verständige, praktische Richtung" des Denkens aufkam, „die charakteristische des Bürgertums" (1, 33; 3, 247 usw.). Doch hat er den Anteil des rationalen Elements am Reformationsdenken überschätzt. Bei der Abgrenzung der „radikalen" Reformation von der „gemäßigten" zog Hagen die Trennungslinie so, daß er alle jene Reformatoren, die sich konstant auf gegebene politische Machthaber orientierten und sich fest an eine bestehende Herrschaftsordnung anlehnten, dem „gemäßigten" Lager zuwies. Die „radikale mystische Partei" war von der in legalen Bahnen verlaufenden Reformation der „gemäßigten Partei" unbefriedigt. Zur „gemäßigten Richtung" rechnete Hagen neben den lutherischen Reformatoren und ihren Anhängern auch „die Theologen in der Schweiz und in den benachbarten süddeutschen Reichsstädten, an ihrer Spitze Zwingli, Oecolampad und andere" (3, 126 f., 135, 139, 141). Diese nahmen aber einen „bei weitem freieren Standpunkt ein als Luther und seine Freunde" (3, 202). Die „freieren" (freisinnigeren) Zwinglianer und ,Oberdeutschen' standen der radikalen Reformation näher als die Lutheraner. Im religiösen Denken entsprach nach Hagen dem Gegensatz von „gemäßigt" und „radikal" der zwischen „biblischer" und „mystischer" Sinnesrichtung. Er diagnostizierte „zwei verschiedene Elemente, das mystische und das biblische" (3, 21). Verfehlt identifizierte Hagen jedoch die „gemäßigte Richtung" mit der „biblischen" und die „radikale" mit der „mystischen". Die Grenze zwischen „biblisch" und „mystisch" verlief vielmehr quer durch die radikale Reformation. Die meisten Täufer huldigten einem radikalen Biblizismus. Auch die Antitrinitarier waren größtenteils keine „Mystiker". Es war daher eine ungerechtfertigte Verallgemeinerung, daß Hagen und seine Zeitgenossen die radikal-reformatorischen Konfessionstypen als „mystische Richtung" zusammenfaßten.

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Weniger anfechtbar, aber mehrdeutig war die Gegenüberstellung von gemäßigter und radikaler Reformation als „orthodox" und „heterodox". Die „protestantische orthodoxe Partei" war ihm die „neue Orthodoxie", aus der „neue orthodoxe Kirchen" hervorgingen. Demgegenüber vertraten die radikalen, „heterodoxen Elemente", „Richtungen" oder „Parteien" „heterodoxe Meinungen" oder „Ansichten" (3, 397 fE.). Hagens besondere Neigung gehörte der „freieren Richtung" innerhalb der radikalen Reformation, d. h. den rational-freisinniger Denkenden (Sebastian Franck usw.). Ihr gegenüber erschien ihm die „biblische" als „minder freie" oder „unfreiere Richtung". Weder die gemäßigte Reformation noch die „unfreiere mystische Richtung" - der intolerant-dogmatische Teil der Radikalen - sei die Fortsetzung der „ursprünglichen freien reformatorischen Richtung", d. h. der Frühreformation mit ihrer „Idee der Gewissensfreiheit" (2, X ; 3, 105 f. und 398). Einzig die „freiere Richtung" habe auch später die frühreformatorischen Ideale hochgehalten (3, 401 und 460). Radikale waren es laut Hagen, die nach 1521 an den „ursprünglichen reformatorischen Prinzipien" festhielten. Sie bewahrten die „echt reformatorischen Ideen" (3, S. VIII). Die „freiere Richtung" der radikalen Reformation war für ihn somit die „echte", die Verkörperung der „ursprünglich reformatorischen Tendenzen", die Weiterführung der „wahren reformatorischen Richtung", die „eigentliche reformatorische Partei" (3, 106 und 398 u. a.). Den Sieg der gemäßigten über die radikale Reformation deutete Hagen als Triumph der „minder freien Richtung" über die „freieren Elemente" mit Hilfe der „herrschenden Gewalten" (3, 458 f.). Hagen hat die Übereinstimmungen zwischen der „freieren Richtung" der radikalen Reformation und der „ursprünglichen", „wahren" oder „echten reformatorischen Richtung" der Frühreformation über Gebühr akzentuiert (3, 246 f. usw.). Aber radikale Ansätze gab es im frühen Luthertum, darin hatte er tatsächlich recht.45 Luther hatte manches mit den dann von ihm bekämpften „Schwärmern" gemeinsam, ehe er sich den „Starken" und den „Schwachen" anpaßte - den Mächtigen im Staat und den Durchschnittsmenschen in der Kirche. Auch später hat er, trotz seines -Bruchs mit den Radikalen, sich einigen ihrer Forderungen nicht verschlossen. Demokratische Lutheraner standen in ihrem Eintreten für das gedrückte Volk wenig oder nicht hinter konfessionell Radikalen zurück (2, 329 und 331 u. a.). So barg die „ursprüngliche reformatorische Richtung" ein starkes „demokratisches Element". Es äußerte sich z. B. in der freien Pfarrerwahl der Gemeinde. Damit nicht genug hat die „eigentliche reformatorische Ansicht . . . Freiheit auch in politischer Beziehung angestrebt: sie wollte das traurige Schicksal der niederen Klassen verbessern" (3, 154 f.). Das Wort „Ansicht" hat Hagen hier, wie oft, kollektiv im Sinn von „Gruppierung", „Partei", „Richtung", „Strömung" verwendet. 45

Vgl. Grane, Lei.f, Müntzer und Luther, in: Bauernkriegsstudien, hrsg. v. Bernd Moeller, Gütersloh 1975, S. 84 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte. Bd. 189). Der dänische Reformationsforscher beruft sich auf meinen Aufsatz: Mühlpfordt, Der frühe Luther als Autorität der Radikalen. Zum Luther-Erbe des „linken Flügels", in: Weltwirkung der Reformation, hrsg. v. Max Steinmetz/Gerhard Brendler, Bd. 1, Berlin 1969, S. 213.

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Die freiheitliche Frühreformation wurde von Hagen auch über konfessionalistische Ausprägungen der radikalen Reformation gestellt. So dünkten ihm die strengen Askeseforderungen radikaler Gruppen mit dem frühreformatorischen Freiheitsgedanken unvereinbar (3, 220). Zur „unfreieren" oder „minder freien Richtung" der Reformation zählte er demgemäß auch radikale Dogmatiker (zuletzt 3, 459). Diese faßte er als die „unfreiere mystische Richtung" zusammen (Müntzer, die Täufer u. a.). Die „unfreieren" Radikalen „nahmen die exklusive Wahrheit für sich in Anspruch", d. h. sie prätendierten gleich den altkirchlichen und gemäßigt-reformatorischen Konfessionen, im alleinigen Besitz des rechten Glaubens zu sein (3, 212). So war die radikal-reformatorische Bewegung in „freiere" („freiere mystische") und „unfreiere" („unfreiere mystische") Strömungen geteilt. Diese Grenzziehung trennte dogmatische „unfreiere Ansichten" von mehr oder minder rationalen, meist toleranteren „freieren Ansichten" (3, 259). Doch räumte Hagen ein, daß es eine „Menge von Zwischenstufen" zwischen „freierem" und „unfreierem" Denken gab. Er berücksichtigte zudem auch bei der „unfreieren Richtung" das Vorhandensein „volksmäßiger" Bestrebungen (3, 212). Die Verfechter der „unfreieren mystischen Richtung" - Täufer und „Offenbarungsspiritualisten" - unterwarfen ihre Gläubigen dem Zwang einer neuen Doktrin. „Dadurch verloren sie den freien Standpunkt" der Frühreformation (3, 228 f.). Namentlich den Täufern warf Hagen „unfreie Ansichten" vor (3, 128 und 202). Er stieß sich an ihrer Askese und Absonderung (3, 219 f.). Mit der „unfreieren Richtung" der radikalen Reformation setzte Hagen die „materiell mystische" gleich. Er stellte einer „unfreieren, materiellen" Strömung innerhalb des Radikalismus eine „freiere, geistige" gegenüber (3, 212). Die biblizistischen Täufer und radikale Gesetzesprediger wurden von Hagen dem „materiellen mystischen" Typus zugewiesen, weil sie die Bibel wortwörtlich nahmen (3, 110 f.). Er begründete diese Benennung damit, daß die Täufer die Schrift „auf eine durchaus materielle Weise aufgefaßt" hätten, da sie „manche Vorschriften des neuen Testaments in lächerlich wörtlichem Sinn" zu befolgen suchten (3, 215). Hagens Ablehnung der „materiell mystischen Richtung" richtete sich somit gegen dogmatischen Buchstabenglauben. Doch verließ er sich bei seiner Kritik an den Täufern zu sehr auf Franck, der in diesem Punkt kein zuverlässiger Gewährsmann war. Zum „materiellen mystischen Element" oder „materiellen Mystizismus" zählte Hagen ebenfalls Müntzer, Storch und andere Vertreter der Lehre vom Geist (3, 110 f.). Dieser „materiellen mystischen Richtung" eigentümlich sei der Glaube an „materielle göttliche Offenbarung" (3, 226 f.). „Materiell mystisch" Eingestellte verstanden die „Offenbarung materiell, so als ob sich Gott selbst in Person einzelnen auserwählten Menschen . . . offenbare" (3, 22). In der „materiellen mystischen Partei" vereinte Hagen folglich radikale ,Spiritualisten' mit radikalen Biblizisten (3, 132). Als Gemeinsamkeit der „materiellen Richtung des Mystizismus" hob er ein „asketisches Element" hervor (3, 126 und 319). Befremdlich ist die Abwertung der „materiellen" Richtung des „Mystikers" Müntzer als „fanatisch mystische Partei" oder „fanatisch religiöse Partei", deren Sieg Deutschland „kein Glück" gebracht hätte (3, 135 und 151). Auch „extra-

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vagante Ideen" Karlstadts hat Hagen mit der „materiellen mystischen Richtung" auf eine Stufe gestellt (3, 138 und 226). Für „unfrei mystisch" oder „materiell mystisch" setzte Hagen in traditionell lutherischer Weise auch „schwärmerisch". Die Anhänger dieser Richtung machten „die schwärmerischen Sekten" aus (3, 229). Deren Kern bildeten die Täufer (3, 210-227). Die Radikalen von „freierer" (rationaler) Denkart schloß Hagen nicht in den Begriff ein. Die „schwärmerischen Sekten" waren identisch mit den „mystischen" (3, 259). Ihre „Schwärmerei" setzte angeblich die Mystik des Mittelalters fort (1, 76). Im Erwählungsglauben und Exklusivitätsanspruch der „Schwärmer", ihrer „Anmaßung, die Wahrheit f ü r sich allein besitzen zu wollen", sah Hagen eine Quelle neuer „Intoleranz und Verfolgungssucht" (3, 229, 246 f. und 455). Münster hat das bestätigt. Demgegenüber schätzte Hagen das Geltenlassen anderen Glaubens bei „freier" gesinnten Radikalen wie Bünderlin (3, 304). Auch die unterschiedliche politische Haltung w u r d e von Hagen gesehen. Er stellte die gewaltlosen den revolutionären Radikalen gegenüber, die „stillen" Täufer mit ihrer „christlichen Demut und Passivität" jenen, die ihre Ideen „mit Feuer und Schwert" ausbreiten wollten (3, 223). Ebenso vermerkte Hagen den Gegensatz zwischen Anhängern der Privatwirtschaft und denen der Gemeinwirtschaft (Produktions- und Konsumtionsgemeinschaft mit Gemeineigentum) unter den Radikalen. Für Gütergemeinschaft f ü h r t e er den damals gerade aufkommenden Terminus „Kommunismus" ein. Wer f ü r Gemeineigentum eintrat, verfocht „kommunistische Ansichten". Das christliche Gütergemeinschaftsideal vieler Täufer wird als „kommunistische [n] Ansichten mancher wiedertäuferischen Sekten" erwähnt. 46 Franck, Erasmus, Morus u. a. teilten die „kommunistischen Ansichten" eines Teils der Täufer, wollten jedoch keinen „krassen Kommunismus" (3, 389 f.). Drei Jahre nach der Neuprägung der Termini „kommunistisch" und „Kommunismus" in französischer Sprache durch Cabet (1840) hat Hagen damit beide bereits als deutsche Begriffe verwendet. 47 Den Terminus „Kommunisten" f ü r die radikal-reformatorischen Anhänger der Gütergemeinschaft verwendete Hagen dagegen in seiner Reformationsgeschichte nicht. Diese Bezeichnung fehlt darin ebenso wie das Substantiv ,Radikale'. 48 46

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Über die christlich-kommunitarische Ordnung der Hutterer (Hutterische Brüder) s. Mühlpfordt, Deutsche Täufer in östlichen Ländern, in: Frühbürgerliche Revolution, hrsg. v. Steinmetz/Brendler, Berlin 1961, S. 249 ff., 291, 294. Vgl. z. B. Hagen, Proletariat und Kommunismus, a. a. O. „Kommunist" ist älter als „kommunistisch" und „Kommunismus". Das Wort „Kommunist" wurde, wie ich nachgewiesen habe, schon im 16. Jh. von Radikalen der Reformation geprägt, als Übersetzung von deutsch „Gemeinschafter", Anhänger der Gütergemeinschaft. Antitrinitarier in Polen nannten die in Gütergemeinschaft lebenden täuferischen Hutterer Mährens und der Slowakei sowie deren Anhänger „Kommunisten" (vgl. Mühlpfordt, Deutsche und polnische Arianer in der radikalen Reformation, in: Deutsch-slawische Wechselseitigkeit. Festschrift für Eduard Winter, Berlin 1956, S. 92 f.; und derselbe, Deutsche Täufer in östlichen Ländern, S. 259 f., 269, 275-279).

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Der Kernbegriff von Hagens Typologie der radikalen Reformationsbewegung ist die „freiere Richtung der Opposition", die er, soweit sie sich konfessionell absonderte, „freiere mystische Richtung" nannte. In diese Kategorie reihte er entschiedene Gegner der bestehenden Kirchen wie Bünderlin und Franck, Campanus und Serveto ein, aber auch kryptoradikale Humanisten in der katholischen Kirche wie Erasmus und Agrippa aus Nettesheim sowie Freisinnige überhaupt. Der kontemplative Täufer und ,Spiritualist' Denck, der taufgesinntspirituelle Antitrinitarier Hätzer und der Wormser Täufer Kautz galten ihm gleichfalls als Vertreter der „freieren Richtung", ebenso die kirchen- und gesellschaftskritischen Nürnberger Patrizier Pirckheimer und Fürer - alles in allem recht ungleiche Gestalten. Die geschichtliche Leistung dieser „freier" Gesinnten bestand nach Hagen darin, daß sie die „echt reformatorische Richtung" von 1517-21 „bewahrten und weiterbildeten" zu frühneuzeitlichem Denken (3, 246). Bei Erasmus, Agrippa u. a. sei das „verständige, wissenschaftliche und volksmäßige Element" des Radikalismus hervorgetreten (3, 275). Die „freien Ansichten" von Erasmus brachen der „Freiheit der Forschung" Bahn (3; 250, 252, 258). Am Beginn der „freieren mystischen Richtung" stand Karlstadt (3, 110 und 128). Weitere Abarten des „freieren mystischen" Denkens verkörperten Denck, Bünderlin und Sebastian Franck (3, 295). Neben den Komparativen (freier, unfreier) finden sich die abgeschliffenen Formen „freie mystische Richtung", „freies mystisches Element" und „freie Richtung". Klärend wirkt, daß Hagen „freier mystisch" mit „rational" gleichsetzte, das „freie mystische oder rationale Element" als die „freie mystische oder rationale Richtung" erläuterte (3, 461). So verstand er die „freiere geistige" Strömung als „Fortentwicklung der freien mystischen oder rationalen Richtung" (3, 212). „Freier" oder „frei" denken hieß bei Hagen also soviel wie „rational" denken. Deutlicher wäre es daher, die „freieren Richtungen" als rationale zu kennzeichnen. Hagen teilte die Vorliebe vieler Liberaler und Demokraten des Vormärz f ü r das. Wort Freiheit. Ihn interessierte an der Reformation vornehmlich das Fortschreiten zur Freiheit. Zu weit geht es jedoch, bei Karlstadt, Franck u. a. Rationalismus zu sehen. Hagens vorsichtige Formulierung „freiere mystische oder wenn man will rationalistische Richtung" deutet das an (3, 110). Zutreffend ist an seiner Interpretation der „freieren Richtung" als „rationale" Mystik, als Mystik der „Vernunft" oder des „inneren Wortes Gottes", daß diese Richtung „die freieste Entfaltung des menschlichen Geistes" förderte (3, 34). Insbesondere wertete er es als Verdienst der „freieren" Denker, daß sie „die Schranke niederrissen, welche die neue Orthodoxie der menschlichen Forschung setzte" (3, 340). Für den Genius der „freieren" Reformation und „Vorläufer der neueren Philosophie" hielt Hagen Sebastian Franck, dem er als einzigem ein ganzes Kapitel widmete (3, 314)/'9 Das „innere Wort" Francks setzte er mit der Vernunft gleich in v g l . Wollgast, Siegfried, Der deutsche Pantheismus i m 16. Jh. Sebastian Franck und seine Wirkungen auf die Entwicklung der pantheistischen Philosophie in Deutschland, Berlin 1972, S. 10 ff.

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(3, 336). Francks Anklage gegen Fürsten, Herren und Ausbeutung sowie seine Forderung nach einem Leistungsadel an Stelle des Erbadels waren „volksmäßig" (3, 384). Mit seinem Freisinn hatte Franck Fesiseln des Denkens gelöst (3, 107, 340, 346). Die durch Franck repräsentierte „freie(re) Richtung der Opposition" wurde mit Gewalt unterdrückt (3, 399 und 417). „Frei(er)" bedeutet hier ,freier denkend, freisinnig'. Seltener hat Hagen dafür das Wort „freisinnig" selbst verwendet. Er suchte in Humanismus und Reformation „sehr freisinnige", „die freisinnigsten Ansichten" auf (1, 330 f.). „Freisinnig" war auch Erasmus, der gemäßigten Reformatoren sogar „zu freisinnig" schien. E r habe „so freisinnig über religiöse Dinge wie kein Theolog in der neuen orthodoxen Partei" geschrieben. Selbst als Erasmus sich „zur alten Partei zurückwandte", sei er „einer der freisinnigsten Männer seiner Zeit" geblieben (3, 247 f.). Die „Freisinnigkeit" des Erasmus war rationaler als die „große Freisinnigkeit", die Hagen dem chiliasitischen Täuferlehrer Melchior Hofmann nachrühmte (3, 232). Das kürzere Wort Freisinn, eine Prägung Goethes, gebrauchte Hagen übrigens nicht.50 Hofmann wurde von Hagen sonst zu den „Zwischenstufen" zwischen dem „freieren" und dem „unfreieren" Denken gerechnet (3, 212). Diese kennzeichnete er auch als „Übergang zur freieren Richtung" (3, 228 und 331). In solcher Übergangsposition sah er Hubmaier und Schwenckfeld. So arbeitete Hagen eine Entwicklungslinie heraus, die von der „ursprünglichen" Reformation über den „Übergang zur freieren Richtung" zu „freien Ansichten", zur „Freisinnigkeit" führte (3, 246). Häufiger operierte Wirth mit dem Terminus „freisinnige Richtung". Das war gegenüber dem mehrdeutigen Ausdruck „freie(re) Richtung" eine Verbesserung. Wirth schätzte die „freisinnigen Männer" ebensosehr wie Hagen, setzte aber unpräzise die „freisinnige" mit der „volksmäßigen Richtung" und beide mit der radikalen Reformation gleich.51 Es gab jedoch auch einen nicht „volksmäßigen" Freisinn. Wirth und Hagen neigten dazu, Begriffe ihrer Zeit auf die Reformationsepoche zu übertragen und dabei liberale und demokratische Ideale des Vormärz ins 16. Jh. zu projizieren. Dieses Modernisieren konnte anachronistische Vorstellungen erwecken, so wenn Hagen die ,,freie(re) Richtung" aktualisierend die „liberalere Richtung", im allgemeinen Sinn des Wortes, nannte (3, 230). Es entsprach dem Anliegen der fortschrittlichen Historiker, die Reformationsgeschichte mit liberaler und demokratischer Politik zu verknüpfen. So hat Hagen, um das Fortzeugen der radikalen Reformationsideen bis in seine Gegenwart deutlich zu machen, namentlich ihre Rückwirkung auf den gemäßigten Protestantismus unterstrichen. Gemäßigte Reformatoren in Straßburg und Bern wurden von der „freien Ansicht Dencks und Hätzers" beeinflußt (3, 400 f.). Zwingli kam „durch seine Annäherung an Karlstadt" - und Erasmus - in „Zusammenhang mit der freieren Richtung" (3, 128). Auch im Luthertum hinter50

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Grimm, Jacob und Wilhelm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 4, I, 1, Leipzig 1878, S. 121 (Neuausgabe: Leipzig 1978). Wirth, Geschichte der Deutschen, Bd. 3, S. 77 f., 119,155,172.

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ließ die „freiere Richtung" ihre Spuren. Die „Wirkung der freieren Richtung der Opposition" auf Luther w a r größer, als er selbst eingestand (3, 405). Als besonders folgenreich erkannte Hagen den „pantheistischen" Denkansatz der „freieren Richtung". Er gelangte zu der Einsicht, daß rationale Mystik, zu Ende gedacht, auf Pantheismus hinausläuft. In Ubereinstimmung mit Schlosser urteilte er, daß in der „freieren" Reformation „ein pantheistisches Element vorherrscht" (3, 22). Bei Sebastian Franck „geht das pantheistische Element durch sein ganzes System hindurch" (3, 341).52 Eine Einwirkung des Franckschen Gedankenguts auf Spinoza wird in der Tat sehr wahrscheinlich dadurch, daß Francks Ideen gerade in den Niederlanden auf fruchtbaren Boden gefallen waren. Es gab dort zahlreiche „Franckisten". Zu Lebzeiten Spinozas lagen mindestens 17 niederländische Übersetzungen Franckscher Schriften vor. Einige Traktate Francks sind überhaupt nur niederländisch erhalten. 53 Doch entdeckte Hagen auch bei den „schwärmerischen Sekten bessere Keime" f ü r ein freieres Denken als bei der gemäßigten Reformation (z. B. Verwerfung oder Abschwächung des Erbsündendogmas, Lehre vom freien Willen; 3, 229 f.). Darum suchte er den abschätzigen Schwärmerbegriff etwas aufzuwerten, indem er von „sogenannten Schwärmern" und „sogenannten Wiedertäufern" sprach (2, 297; 3, 110). Bei Erscheinungen, die Hagen f ü r überspannt und verstiegen hielt, ersetzte er „schwärmerisch" öfters durch „exzentrisch". Ubertrieben strenge Asketen und zügellose Libertiner unter den Täufern erschienen ihm gleichermaßen als „exzentrisch" (3, 128, 222, 230 f., 259). Abwegig w a r aber, daß Hagen auch den Täufern insgesamt „exzentrische unfreie Ansichten" unterstellte und revolutionären oder kryptorevolutionären „Spiritualisten" pauschal „exzentrische Ansichten" zuschrieb (3,128, 132, 230). So sind „schwärmerisch", „exzentrisch", „materiell mystisch" und „unfreier mystisch" bei ihm verschiedene Namen f ü r konfessionell-dogmatisch gebundenes, nichtrationales Denken innerhalb der radikalen Reformation. Der Differenz zwischen „unfreieren mystischen" und „freieren mystischen" Strömungen maß Hagen solches Gewicht bei, daß er darauf gelegentlich eine Dreigliederung der Reformation aufbaute: in gemäßigte „Reformatoren, Männer von freierer Richtung und Wiedertäufer"/Schwärmer (3, 394, 446). Durchgängig bediente Hagen sich einer anderen Dreiheit, der Einteilung in eine „religiöse", eine „humanistische" und eine „volksmäßige Richtung". Diese Unterscheidung dehnte er auf die gesamte vorreformatorische und reformationszeitliche „Opposition" aus. Überall sah er „volksmäßige, religiöse, humanistische Richtungen" rivalisieren und sich gegenseitig durchdringen (1, 18, 28, 38). Auch als „Tendenzen", „Elemente" oder „Standpunkte" hat Hagen diese drei Erscheinungsformen oppositionellen Denkens gekennzeichnet. So sprach er von „volksmäßig radikalen Tendenzen" (3, 212 und 246). Das Ringen jener drei „reformatorischen Elemente" um „das Ubergewicht" habe zur Spaltung der Re52 53

Vgl. Wollgast, Deutscher Pantheismus, über Hagen S. 35 f., 151,158. Vgl. über niederländische Franckiana Hegler, Alfred, Sebastian Franck, Tübingen 1892 ; Wollgast, Pantheismus, S. 259 ff.

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formation geführt. Stellt man drei gesellschaftliche Substrate antifeudaler Opposition nebeneinander: das bürgerlich gemäßigte, das (klein)bürgerlich radikale und das „volksmäßig radikale", dann läßt sich tatsächlich vom „Bestreben jedes jener drei Elemente . . . sich selbst das Übergewicht über die anderen zu verschaffen", sprechen - n u r anders, als Hagen es meinte (3, 458). Erst aus der „Vereinigung der volksmäßigen, humanistischen, religiösen Opposition" ging zunächst die undifferenzierte f r ü h e und danach sowohl die gemäßigte wie die radikale Reformation hervor (1, 377 ff.). Der Erfolg der Reformation kam im Zusammenwirken der drei konkurrierenden Komponenten zustande, durch ihre „Vereinigung" und „Verschmelzung" (1, 34; 2, 161; 3, 246). Sie „verbinden sich . . . und erringen dadurch den Sieg" (3, 457). Das besondere Augenmerk des Demokraten Hagen galt der „volksmäßigen Richtung". Diesen Terminus benutzte er sehr häufig. Die „volksmäßige Richtung" vertrat einen „volksmäßigen Standpunkt", mit „volksmäßigen Ideen", „volksmäßigen Grundsätzen" oder „Prinzipien", „volksmäßigen Meinungen" oder „Ansichten", „volksmäßigen Bestrebungen" oder „Tendenzen". Sie verfocht reformatorische Ziele „volksmäßigen Charakters", wie sie dem „volksmäßigen Element" eigentümlich waren. Die Gesamtheit der „volksmäßig" reformatorischen Anschauungen und ihrer Anhänger erfaßte Hagen mit dem Sammelbegriff „die volksmäßige Ansicht". Triebkraft und gesellschaftliche Träger der „volksmäßigen Richtung" waren die „niederen Klassen" („unteren Klassen"), die „niederen" oder „unteren Volksklassen" („niederen" oder „unteren Menschenklassen"). Demzufolge definierte Hagen die „volksmäßige Richtung" als jene, die „sich in den niederen Volksklassen aussprach" (1, 34). Präziser wäre zu sagen, daß sie die Wünsche der Unterklassen formulierte und vorbrachte; denn die publizistisch-literarischen Wortführer der „volksmäßigen Richtung" kamen überwiegend aus dem gebildeten Bürgertum. Das steigende Gewicht der „niederen Volksklassen" drückte sich in den Landsknechtsheeren und in der „Teilnahme der Handwerker an der Regierung" von Städten aus. Beides hob das „Selbstbewußtsein" der „niederen Volksklassen", die sich nun um so mehr „den übrigen gleichzustellen" trachteten (1, 34 und 77). Da Hagen das Zunftbürgertum zu den „niederen Volksklassen" zählte, waren also auch kleinbürgerliche und z. T. mittelbürgerliche „Tendenzen" f ü r ihn „volksmäßig". Das wichtigste Kriterium der „volksmäßigen Richtung" war ihre Frontstellung gegen alle „herrschenden Gewalten". Das „volksmäßige Element" stritt nicht n u r gegen die Prälaten, sondern „gegen weltliche und geistliche Fürsten und Herren" insgesamt (2, 164). Die „volksmäßigen Bestrebungen" richteten sich gegen die „Anmaßungen von Adel und Klerus", gegen das Joch jener „Gewalten, die durch ihre Ansprüche und Privilegien die niederen Volksklassen drückten" (1, 34 f.). So wollte die „volksmäßige Richtung" die Lage der „niederen Menschenklassen", die „in der drückendsten Armut schmachteten", durchgreifend verbessern (2, 177 und 330). Daher verband sich f ü r die „unteren Klassen" mit dieser Richtung der Reformation eine große Hoffnung. Infolgedessen fand sie die „steigende Teilnahme der niederen Klassen". Immer tiefer drangen

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ihre „neuen Ideen in die unteren Volksklassen" ein, bis sie sich „der ganzen Masse der unteren Klassen bemächtigten" und eine allgemeine G ä r u n g der „Masse des Volks" hervorriefen (2, 219 und 225). Diese aktive Rezeption durch die Volksmassen gab der radikalen Reformationsbewegung einen „demokratischen, durchaus volksmäßigen C h a r a k t e r " (2, 163). Hier sind „demokratisch" und „volksmäßig" Synonyme zur Kennzeichnung des reformatorischen Radikalismus. Hagen machte damit evident, d a ß „volksmäßig" m e h r bedeutet als „volkstümlich" - daß die „volksmäßige Richtung" der Reformation „demokratische" Ziele verfolgte. Zur „volksmäßigen Richtung" zählte Hagen demokratisch gesinnte Lutheraner wie J o h a n n Eberlin aus Günzburg, die weitreichende politisch-soziale Forderungen zugunsten der Volksmassen erhoben. Die sozialradikalen und sozialutopischen Ideen Eberlins vor dem Bauernkrieg weisen ihn in der Tat der radikalen Reformation zu. Als echter „Volksmann" verlangte er, „die Lasten des Volks" wesentlich zu vermindern (2, 163 f., 167, 169 f.). Auch Kettenbach protestierte gegen die Aussaugung der einfachen Menschen und erwies sich damit als „volksmäßiger" Reformator. Seine Flugschriften zeichneten sich durch „Kühnheit und Rücksichtslosigkeit im Angriff auf die bestehenden Ordnungen" aus (2, 207 f.). Ähnlich setzte Jakob S t r a u ß in Eisenach sich f ü r den „gemeinen M a n n " ein. Strauß wagte es am Vorabend des Bauernkriegs, „die hohen Herren anzugreifen" wegen ihrer „Schinderei" des Volks (2, 170). Diese drei und weitere ,Linkslutheraner' w a r e n in sozialer Hinsicht wirklich Radikale. 54 Es ist ein Verdienst Hagens, daß er das e r k a n n t e und die Grenzen der „volksmäßigen Richtung" nicht nach den konfessionellen Anschauungen absteckte, sondern nach den politisch-sozialen Zielsetzungen. Auch der kryptoradikale Agrippa w a r f ü r Hagens Begriffe „volksmäßig" eingestellt (3, 259). Durch die Einbeziehung von Katholiken und Lutheranern in die „volksmäßige Richtung" brachte Hagen ebenso wie durch ihre Subsumierung unter die „freiere Richtung" zum Ausdruck, daß der reformatorische Radikalismus nicht auf Freikirchen oder Sekten und außerkirchliche Einzelgänger beschränkt blieb. Das ist eine modern a n m u t e n d e Auffassung. Man konnte dem Namen nach Katholik, Anglikaner, Lutheraner, Reformierter, Orthodoxer, J u d e oder Muslim sein und doch in der Sache ein Radikaler. Daher hat Hagen, indem er die Grenzen zwischen gemäßigt und radikal nicht nach der formalen Kirchenzugehörigkeit zog, als einer der ersten den Typ des verdeckten Radikalen herausgearbeitet. Für „volksmäßige Richtung" sagte Hagen auch „volksmäßige Partei" oder kurz „Volkspartei". Das Bemühen der Radikalen u m die Hebung der breiten Schichten charakterisierte er als „die radikalen Bestrebungen der Volkspartei, welche eine bessere Stellung des gemeinen Mannes intendierten" (3, 222). Soweit „volksmäßige Tendenzen" einen Rückhalt bei Dissenters fanden, waren sie eine Angelegenheit der „ketzerischen Sekten", der „ketzerischen Partei(en)", der „heterodoxen Partei(en)". Die „heterodoxe Partei" - d. h. der konfessionell 54

Den Terminus „Linkslutheraner" habe ich 1967 in meinem Wittenberger Vortrag zur 450-Jahr-Feier der Reformation vorgeschlagen (Der frühe Luther, S. 215 f.).

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abgesonderte Radikalismus, mit dem T ä u f e r t u m als H a u p t k r a f t - h a t t e ihre Hauptstütze in den „niederen Klassen des Volks". Ihnen entstammten die meisten „Anhänger der heterodoxen Partei" (3, 211). So w a r die radikale Reformation hauptsächlich eine Angelegenheit der „niederen Klassen der Gesellschaft" unter Einschluß der Z u n f t b ü r g e r . „Die heterodoxen Parteien . . . hatten die niederen Klassen der Gesellschaft . . . großenteils auf ihrer Seite, welche in ihnen . . . ihre Wünsche und Bedürfnisse befriedigt sahen" (3, 398 f.). Die erbarmungslose Ausmerzung des Radikalismus durch die Mächte der „alten" wie der „neuen Orthodoxie" w u r d e von Hagen unter der Überschrift „Reaktion gegen die heterodoxen Parteien" gebrandmarkt. Im Kesseltreiben wider die „heterodoxen Parteien" t r a f e n Verketzerungssucht geistlicher und Verfolgungswut weltlicher Obrigkeiten, Unduldsamkeit und Revolutionsfurcht zusammen (3, 417 und 421). So erlag „die heterodoxe Partei" der Gewalt (3, 210). Doch scheiterten die Radikalen auch an ihrer eigenen Zerrissenheit: Zu ihrem Fehlschlag f ü h r t e „1. daß die heterodoxen Parteien unter sich selber uneins" und „2., daß die herrschenden Gewalten mit Entschiedenheit gegen sie waren, weil sie durchgängig politische Freiheit forderten". Diese Feindschaft der Regierungen w a r eine allgemeine. Trotzdem hielt Hagen einen Ausgleich zwischen weltlichen Regimen und einem Teil der „heterodoxen Parteien" f ü r möglich, weil „keineswegs alle heterodoxen Parteien in politischen Dingen so weit gingen, daß ihre Forderungen von den Obrigkeiten nicht hätten anerkannt werden können" (3, 417). Innere Uneinigkeit und äußerer Druck bewirkten somit nach Hagen den Mißerfolg der radikalen Reformationsbewegung. Zwei objektive Ursachen: die mangelnde gesellschaftliche Reife auf Seiten der Radikalen, die ihrer Zeit vorauseilten, und den noch nicht ausreichenden Grad der historischen Überlebtheit bei der gegnerischen Gesellschaftsordnung, hat er zuwenig gesehen. Eines aber erkannte Hagen k l a r : Die Regime unterdrückten den Radikalismus weniger aus religiösen als aus politischen Beweggründen. Der Schutz des Glaubens w a r oft bloß Vorwand oder Vordergrund. Man wollte eine mißliebige Opposition ersticken und einer Auflehnung vorbeugen. „Die Obrigkeiten . . . benutzten n u r die religiösen Differenzen dazu, die Partei, die ihnen in politischer Beziehung so gefährlich war, zu vernichten" (3, 417 f.). Die verfolgten Radikalen sind bei Hagen bald als „heterodox", bald als „ketzerisch" gekennzeichnet. Den feineren Unterschied zwischen innerkirchlicher Heterodoxie und außerkirchlicher Häresie hat er nicht beachtet. Als festen Terminus zog er am Ende „heterodox" vor. Seine letzten Gesamtbezeichnungen f ü r den konfessionell abgesonderten Radikalismus lauten „heterodoxe Parteien" und „heterodoxe Meinungen" (3, 397 ff. und 417 ff.). Indem Hagen damit schließlich „ketzerisch", „schwärmerisch", „fanatisch" und „exzentrisch" - wie auch „mystisch" - durch „heterodox" ersetzte, vermied er den feindseligen Klang jener Schelten. Kurz sagte er f ü r „heterodoxe Partei(en)" einfach „Heterodoxie" (3, 243). Nächst dem Plural „Sekten" und neben dem Kollektivum „Sektenwesen" ist dies seine bündigste Gesamtbezeichnung des konfessionellen Nonkonformismus in der Reformation. Außerdem schied Hagen die radikal-reformatorische Bewegung als „ernste(re)

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Opposition", als „konsequente" Reformation von der gemäßigten. So verkörpere Karlstadt „die freiere, wenn man will echte reformatorische Richtung, welche die Lehre von der Gesinnung und von der innerlichen Frömmigkeit nur konsequent weiterentwickelt und mit schonungsloser Schärfe" (3, 105). Dieser Satz enthält nicht weniger als sechs Synonyme f ü r ,radikal-reformatorisch': „freier" oder „echt reformatorisch", „konsequent", „weiterentwickelt", „schonungslos" und „Schärfe". Karlstadt w a r ein Wortführer jener Bestrebungen, die, „gestützt auf die ursprüngliche reformatorische Richtung, den Geist der Freiheit zu weiteren Konsequenzen führten" (3, 106). Die radikalen Reformatoren waren f ü r Hagen mithin Verfechter „weiterer Konsequenzen". Sie suchten die religiöse Freiheit zur allseitigen, gesellschaftlichen zu erweitern. Die Vertreter der „freieren Richtung" hatten den „ursprünglichen reformatorischen Geist noch zu einer weiteren Entwicklung getrieben". Sie waren „Weiterbilder jenes echt reformatorischen Geistes" der Frühreformation (3, 246 f.). Selbst von denen unter ihnen, die sich nicht offen zur Reformation bekannten, von latent Radikalen wie Erasmus, wurde „die reformatorische Richtung . . . fortgebildet" (3, 259). Eine „durchgreifende Reformation", wie radikale Reformatoren sie erstrebten, entsprach den Wünschen der „unteren Klassen". Das „Volk" ersehnte eine „durchgreifende Reformation" der Gesellschaft und drängte darauf (2, 162). Durchgreifende Veränderungen erforderten entschiedenes Handeln. Als besonders signifikantes Synonym f ü r „radikal" erscheint daher auch bei Hagen das Wort „entschieden". Die Radikalen standen in „entschiedener Opposition" gegen ein oktroyiertes Kirchen- und Staatswesen, gegen die gesamte überkommene Gesellschaftsordnung (1, 40; 3, 102, vgl. 106). So hat Hagen sich von mehreren Seiten, durch eine ganze Reihe von Synonymen, dem Begriff der reformatorischen Radikalität genähert. Im ersten Band spürt man ein Suchen und Tasten nach einem passenden Terminus. Im zweiten und vor allem im dritten Band fand Hagen dann den adäquaten Ausdruck. In Band 2 gebrauchte er zunächst mehrfach das Adjektiv „radikal". In Band 3 erhob er es zur festen Kategorie. Das geschah in den gleichen Jahren 1843/44, als Marx f ü r die Deutsch-Französischen Jahrbücher, die er gemeinsam mit Hagens Kampfgefährten Rüge herausgab, über die Kategorie „radikal" und die Aussichten einer deutschen „radikalen Revolution" schrieb. 55 Manche „radikalen Ideen" strahlten auch auf die gemäßigte Reformation aus (3, 222). Komplexe „radikaler Ideen" verdichteten sich zu „radikalen Ansichten" und diese zu einer geschlossenen „radikalen Ansicht" oder Anschauung. Der Singular „Ansicht" ist auch hier ein Sammelbegriff, der nicht nur abstrakte Bedeutung hat, sondern daneben die Träger, die gesamte Anhängerschaft bezeichnet. Oft kombinierte Hagen den Terminus „radikal" verstärkend mit „volksmäßig". Karlstadt verwirklichte im thüringischen Orlamünde, wo er eine radikal-reformatorische Mustergemeinde aufbaute, die „volksmäßige radikale Ansicht, daß es 55

6*

Marx, Karl, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, in: MEW, Bd. 1, S. 385; vgl. Mühlpfordt, Die Kategorie „radikal".

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keinen Unterschied zwischen Laien und Priestern gebe" (3, 91). Nach der darauf fußenden „volksmäßig radikalen Ansicht" der frühen Täufer sollte der Prediger von seiner Hände Arbeit leben wie die Apostel (3, 125). Aus „radikalen Ansichten" entwickelten sich „radikale Tendenzen" und „radikale Bestrebungen". Diese ergaben sich aus der folgerichtigen Anwendung der reformatorischen Prinzipien (3, 142). Hagen hat damit die Genesis der radikalen Reformation richtig gedeutet: Sie knüpfte zwar z. T. an mittelalterliche Ketzereien an, ihren entscheidenden Anstoß aber erhielt sie durch die Frühreformation. Luthers Tat von 1517 war die Initialzündung auch für die meisten Radikalen. Der Rückgriff auf das Urchristentum und eine Ideenkontinuität sowie literarische Einflüsse aus dem Mittelalter (Mystik, Chiliasmus, Prophetismus) werden damit so wenig bestritten wie der Umstand, daß es radikale Tendenzen bereits in der antifeudalen bäuerlichen und städtischen Bewegung vor 1517 gab. 56 Der mehrdeutige Ausdruck „radikale Tendenzen" hat bei Hagen den gleichen Sinn wie „radikale Bestrebungen". Die Einzahl „radikale Tendenz" verwendete unser Autor außerdem in der Bedeutung .radikale Einstellung'. Reformatorische Flugschriften von 1521-24 zeigten eine „ausgeprägte radikale Tendenz". Diese war „Ausdruck der Volksstimmung". „,Unsere Junker . . . schinden und braten die Armen'", rief ein Flugschriftenverfasser empört aus. Die Aussaugung und „Unterdrückung der Armen" durch „,Fürsten und Herren'" habe zu solchem „Elend der niederen Klassen" geführt, faßte Hagen das Urteil dieses Pamphletisten zusammen, daß es so nicht mehr weitergehe (3, 18 f.). Bei kollektivem Gebrauch bezog Hagen auch den Ausdruck „die radikale Tendenz" auf die Gesamtheit der Radikalen. Zu revolutionären Massenaktionen führten die „radikalen Tendenzen" zuerst 1521/22 in den mitteldeutschen Städten Zwickau, Erfurt, Wittenberg und Eilenburg. Als die Radikalen in Wittenberg und Umgebung mundtot gemacht wurden, verbreitete Karlstadt „die radikalen Tendenzen der reformatorischen Richtung" in Thüringen. Karlstadts Abendmahlslehre resultierte aus „seiner radikalen Tendenz, alle äußeren Zeremonien als unchristlich abzuschaffen". Hagen führte dies auf Karlstadts rationales Denken zurück (3, 98 f.). Zwingli lehnte sich an Karlstadts Abendmahlsanschauung an und kam gerade dadurch den „radikalen mystischen Tendenzen", wie Hagen sie auffaßte, näher als Luther (3, 128). Bis 1525 wurden „die radikalen Bestrebungen der Oppositionspartei immer heftiger" (3, 68). Im Bauernkrieg gipfelten insbesondere die erwähnten „radikalen Bestrebungen der Volkspartei", die auf eine „bessere Stellung des gemeinen Mannes" abzielten (3, 222). In den Programmen des Bauernkriegs fanden die „radikalen Tendenzen" einen Niederschlag (3, 137). Hagen versäumte jedoch, zwischen relativ gemäßigteren Programmen, wie den Zwölf Artikeln, und ausgesprochen radikalen, wie dem Artikelbrief, zu differenzieren. Ihre höchste Steigerung erfuhr die „radikale Tendenz" bei Müntzer (3, 110 f., 119). Nach Hagens Version fehlte zeitweilig nicht viel, daß selbst Luther sich „mit den radikalen Bestrebungen vereinigte" (3, 151). Sein Lavieren zu Beginn des von 56

Vgl. derselbe,

Der frühe Luther, S. 205 ff.

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i h m vorausgesagten Bauernkrieges, als mit einem Sieg der Aufständischen zu rechnen w a r , deutet tatsächlich darauf hin. Die von Hagen so g e n a n n t e n „radikalen mystischen Tendenzen" heißen bei ihm auch „radikale religiöse Tendenzen". Mit beiden T e r m i n i meinte er den gesamt e n konfessionell abgesonderten Radikalismus;. Im B a u e r n k r i e g k a m e n die „radikalen religiösen Tendenzen" zum vollen Durchbruch. Die „gemäßigte r e f o r m a torische Partei", mit L u t h e r an der Spitze, beurteilte die Lage richtig, w e n n sie von einem „Sieg der B a u e r n zugleich den Sieg d e r radikalen religiösen Tendenzen" b e f ü r c h t e t e (3, 139). Das Scheitern des Bauernkrieges w a r die entscheidende „Niederlage der radikalen Tendenzen". Der T r i u m p h der „herrschenden G e w a l t e n " b e d e u t e t e einen „vollständigen Sieg ü b e r die radikalen Tendenzen der n e u e n Richtung". D a r a u s zog auch die „gemäßigte reformatorische P a r t e i " einige Vorteile. Weit größeren Gewinn aber h a t t e n davon die alten Gewalten u n d die alte Kirche (3, 141-143). Nach der Niederlage der B a u e r n k r i e g s k ä m p f e r erhielt sich die „radikale Tendenz" besonders bei den T ä u f e r n am Leben. Aller Verfolgung zum Trotz „nahm auch ihre radikale Tendenz bald einen politischen C h a r a k t e r an". Den G r u n d f ü r die obrigkeitsfeindliche Haltung der T ä u f e r suchte Hagen darin, d a ß sie von den Obrigkeiten b e k ä m p f t u n d u n t e r d r ü c k t w u r d e n (3, 110 f.). Nach seiner Meinung h a b e n die Regierungen die T ä u f e r b e w e g u n g ungewollt selbst radikalisiert u n d in die politische Opposition gedrängt. Im T ä u f e r t u m f a n d e n sich a b e r auch Überlebende u n d E n t k o m m e n e des B a u e r n k r i e g s zusammen, u n d in ihm w i r k t e Müntzerisches Ideenerbe fort. Deshalb h a b e ich die T ä u f e r b e w e g u n g ein „Réduit" der Besiegten von 1525 genannt. 5 7 In einem k a n n m a n Hagen indes uneingeschränkt z u s t i m m e n : J e s t ä r k e r die T ä u f e r b e w e g u n g anwuchs, „desto m e h r t r a t die radikale Tendenz heraus" (3, 126). Als religiöse Gemeinschaft, die hauptsächlich von H a n d w e r k e r n u n d B a u e r n getragen w u r d e , huldigte das T ä u f e r t u m „volksmäßigen radikalen Tendenzen" (3, 212). Hier f u n g i e r t „volksmäßig", wie in dem Ausdruck „volksmäßig radikale Ansicht", als verstärkende, gesellschaftsbezogene Verdeutlichung des T e r m i n u s „radikal". Das A d j e k t i v „radikal" ist d a r i n der Grundbegriff, der durch das A d v e r b „volksmäßig" gesellschaftlich n ä h e r b e s t i m m t wird. Hagen überschätzte aber die „volksmäßig r a d i k a l e n " Züge bei bürgerlichen Radikalen w i e K a r l stadt. In den „Wittenberger U n r u h e n " von 1521/22 sah Hagen „das radikale volksmäßige u n d das mystische Element m i t e i n a n d e r vereinigt" (3, 48). G e n a u e r m ü ß t e das l a u t e n : „das bürgerlich radikale Element u n t e r F ü h r u n g K a r l s t a d t s u n d das volksmäßig radikale Element der Zwickauer P r o p h e t e n " , wobei gem e i n s a m e religiös radikale (nach Hagen „mystische") Einstellung als Bindemittel diente. Da „mystisch" bei Hagen eine pars pro toto f ü r .religiös radikal (in der R e f o r mation) schlechthin' ist, h a t er, wenn er eine Vereinigung des „radikalen volksmäßigen" mit dem „mystischen Element" feststellte, die Verflechtung von sozialem u n d religiösem Radikalismus in der radikalen Reformation im Prinzip richtig erfaßt, jedoch unscharf wiedergegeben. So gesehen, läßt sich seine These 57

Derselbe, Deutsche Täufer in östlichen Ländern, S. 241.

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von einer „volksmäßigen" und einer „religiösen Richtung" der Reformation akzeptieren - sofern man darunter nicht zwei getrennte Gruppierungen versteht, sondern den sozialen Radikalismus als materielle und den religiösen als ideelle K r a f t der radikalen Reformation. Als die gemäßigten Reformatoren der „radikalen Bestrebungen" nicht Herr wurden, riefen sie die Machthaber gegen sie zu Hilfe. Sowohl vor wie im und nach dem Bauernkrieg scheuten sich Zwinglianer und Lutheraner nicht, gegen die „radikalen . . . Tendenzen", so gegen die Täufer, „die Obrigkeiten . . . aufzubieten" (3, 128). Doch vermochte zunächst „die bloße Gewalt der Obrigkeit die neuen radikalen Bestrebungen keineswegs zu bändigen und . . . auszureuten". Im Gegenteil: Diese fanden um so mehr Sympathien, je enger sich die „gemäßigte Partei" an Fürsten und Herren anschloß. Erst durch den Einsatz von Machtmitteln gelang es der „gemäßigten Partei", die „radikalen Bestrebungen zurückzudrängen" (3, 130, 135, 459). Daher habe die gemäßigte Reformation „vorzüglich deshalb, weil sie die herrschenden Gewalten f ü r sich hatte", die Oberhand über die radikale erlangt (3, 398). Träger der „radikalen Bestrebungen" oder „Tendenzen" waren „verschiedene radikale Elemente" (3, 211). „Element" bedeutet auch in dieser Verbindung nicht nur Grundbestandteil, gesellschaftliche Triebkraft, sondern außerdem, besonders im Plural, „Ideen", „Ansichten", „Richtung", „Bewegung", Parteigänger). Religiös radikale „mystische Elemente" (Ideen) wurden von Karlstadt und den Zwickauer Propheten in die Wittenberger radikale Bewegung eingebracht (3, 49). Die bürgerlich radikalen Anhänger Karlstadts und die plebejisch radikalen Storchiten sah Hagen als „Vertreter der radikalen mystischen Partei" an. Aus ihrem Zusammenwirken in Wittenberg 1521/22 resultierte das „erste ungestüme Auftreten der radikalen Partei". Luthers Gegenmaßregeln und das Eingreifen der kurfürstlichen Regierung führten zur Niederlage der „radikalen Richtung" in und um Wittenberg (3, 54). Den Bauernkrieg erklärte Hagen aus dem Zusammenschluß heterogener „radikaler Elemente". „Im Bauernkrieg wirkten alle die verschiedenen radikalen Elemente, wie die fanatisch mystische Partei, die freiere religiöse Ansicht, die volksmäßig politische Richtung, welche bisher vereinzelt ihre Tendenzen durchzuführen suchten, großartig zusammen und erzeugten eben darum eine so ungeheure Bewegung" (3, 135). Die revolutionäre Kulmination erwuchs hiernach aus der Kooperation mehrerer „radikaler Elemente" oder Komponenten. Doch ist „fanatisch" ein Relikt antiradikaler Polemik. Ziel der „radikalen Elemente" war eine „radikale Veränderung" der Verhältnisse. Diese sollte eine dreifache Freiheit bringen: „nationale, soziale und individuelle". Die „soziale Freiheit" erheischte „Beseitigung der vielfachen Mißstände und des großen Drucks, unter dem namentlich die niederen Klassen schmachteten". Auf kirchlichem Gebiet erforderte sie „eine radikale Veränderung in der Stellung der Geistlichkeit", d. h. die Abschaffung des klerikalen „Despotismus" und „Raubsystems", überhaupt der „materiellen Macht" der Prälaten, die man unter die „Aufsicht der weltlichen Macht oder des Volks" stellen wollte. Die „individuelle Freiheit" beinhaltete „Erlösung vom Gewissenszwang", „Glaubensfreiheit" (2, 228). Hagen übersah jedoch die Wesensverschiedenheit

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zwischen radikaler und gemäßigter Reformation, wenn er die entscheidende Alternative, ob die Geistlichkeit der bisherigen „weltlichen Macht" oder dem „Volk" zu unterstellen sei, als bloße Varianten der „radikalen Veränderung" wertete; denn die Unterordnung der Kirche unter eine überkommene „weltliche Macht", z. B. unter das Territorialfürstentum, verhinderte eine „radikale Veränderung" auf gesellschaftlichem Gebiet. Eine „radikale Veränderung" mit dem Ziel „sozialer Freiheit" f ü r alle war „volksmäßig". In den „volksmäßigen Flugschriften", die dies anstrebten, bekundete sich „die derbe demokratische, wohl auch radikale Tendenz der Zeit" (2, 174). Hier sind die sinnverwandten Termini „volksmäßig", „demokratisch" und „radikal" koordiniert (vgl. 2, 165). Den Radikalisierungsprozeß von 1521 bis 1525 faßte Hagen als Steigerung von Volksmäßigem zur Radikalität auf. In diesen Werdejahren der radikalen Reformation hat „das volksmäßige Element . . . das Ubergewicht bekommen", und „die volksmäßige Richtung . . . begann nun radikal zu werden" (3, 13). Die Wörter radikalisieren, Radikalisierung und Radikalität selbst tauchen bei Hagen nicht auf. Bei der Zusammenrückung der Termini „volksmäßig" und „radikal" zog Hagen die Verbindung „volksmäßig radikal" der Verknüpfung „radikal volksmäßig" meist vor. So kennzeichnete er Täuferlehren als eine „volksmäßige radikale Ansicht" (3, 125). Öfters setzte Hagen die radikalisierte „volksmäßige Richtung" mit der „radikalen Richtung" als Ganzem gleich. Er begriff dann die radikale Reformationsbewegung als „die volksmäßige Richtung oder die radikale, welche darauf ausgeht, den ganzen bestehenden Zustand der Dinge umzustoßen, in religiöser wie politischer Beziehung, und eine neue Ordnung zu begründen". In dieser „neuen Ordnung" sollten nach dem Willen der „volksmäßigen oder radikalen Richtung" vor allem „die niederen Menschenklassen in eine bessere Lage versetzt" werden (3, 33). Das charakterisiert den reformatorischen Radikalismus als Streben nach Gesellschafts- oder Generalreformation. Hagens Begriff der volksmäßigen oder radikalen Richtung kommt somit unserer Auffassung von der radikalen Reformation nahe. Uber Erasmus heißt es, daß er „fast sämtliche Ansichten der volksmäßig radikalen Richtung" teilte (3, 250). Seine scharfe Anprangerung der Leibeigenschaft, seine Sympathie f ü r Gütergemeinschaft und seine Satiren über die Reichen wirken in der Tat volksmäßig radikal. Im ganzen aber war Erasmus mehr ein bürgerlich radikaler Denker. Hier fehlt erneut, wie in bezug auf Karlstadt, der Terminus „bürgerlich radikal". Ganz volksmäßig radikal eingestellt war dagegen Paracelsus, den Hagen außer acht ließ. Den „radikalen Richtungen" ist Erasmus unbedenklich zuzurechnen. Dieser Plural entspricht der Vielgestaltigkeit des reformatorischen Radikalismus. Gegen die „gemäßigten" Reformatoren erhoben sich „radikale Richtungen". Der Streit entbrannte von Wittenberg bis Straßburg und Bern. „In der Schweiz und in den benachbarten süddeutschen Reichsstädten" hatte man mit den „radikalen Richtungen ebenso zu kämpfen" wie im lutherischen Bereich (3, 202). Die Analogie des Ringens zwischen Gemäßigten und Radikalen in den verschiedenen Gebieten der Reformation ist Hagen also nicht entgangen.

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Vom Sozialverhalten als entscheidendem Kriterium der Radikalität ausgehend, bezog Hagen demokratische Lutheraner, Linkslutheraner, auch in seinen Begriff der „radikalen Richtung" ein: Jakob Strauß war vor dem Bauernkrieg „in der radikalen Richtung mit Karlstadt einverstanden". Er „stimmte" mit der „radikalen Partei" in der Ablehnung des Zinses „überein" (3, 104, 130). Hier ist an die Stelle von „radikale Richtung" in gleicher Bedeutung „radikale Partei" getreten. Eine vorreformatorische Parallele boten die Taboriten als „radikale Partei der Hussiten" (3, 20). Von der „radikalen Partei" der Reformation sprach Hagen meist in der Einzahl. Selten kommt bei ihm der Plural „radikale Parteien" vor. Während „radikale Partei" offen läßt, um welche Art Radikalismus es sich handelte, weist der erweiterte Terminus „radikale mystische Partei" auf kirchenkritischen Radikalismus. Eigentümlichkeiten der „radikalen mystischen Partei" waren Rückgriff auf das Urchristentum und sinnbildliche Auslegung der Sakramente. Leidenschaftlich wandte sich die „radikale mystische Partei" gegen die Kindertaufe (3, 126). Auch in der Abendmahlsauffassung geriet Luther in schärfsten „Widerspruch mit der radikalen mystischen Partei" (3, 132). „Mystisch" ist auch in diesen Fällen Gesamtbegriff für alle radikal-reformatorischen Konfessionen. Da aber, wie betont, eine eigentlich mystische Frömmigkeit nur bei einem Teil von deren Anhängern bestand, sind die Einwände gegen Hagens Begriff des Mystischen an dieser Stelle zu bekräftigen. Außerdem müßte es statt „radikale mystische Partei" grammatisch richtiger „mystisch(e) radikale Partei" heißen. Vorzuziehen ist daher „radikale Partei", „Richtung", „Bewegung" der Reformation oder einfach - das Naheliegendste, worauf Hagen nicht kam - ,radikale Reformation(sbewegung)'. Gelegentlich setzte er auch selbst für „radikale mystische Partei" den Terminus „radikale Partei" ein. Wenn Müntzer und Karlstadt Verbindung zur „radikalen Partei in der Schweiz" aufnahmen, so betraf das nicht die rebellierenden Bauern der Ost- und Innerschweiz, sondern den Grebel-Kreis, aus dem die Zürcher Täufergemeinde hervorging (3, 127).58 Vorbereitung und Durchführung des Bauernkrieges waren aus Hagens Sicht das Werk der radikal Gesinnten. Zunächst hat „die radikale Partei die Opposition gegen die Fürsten" entfacht (3, 130). 1525 unternahm dann „die radikale Partei einen großartigen Versuch zum Umsturz des Bestehenden, zur Einführung einer neuen Ordnung". Hagens Definition des reformatorischen Radikalismus als Streben nach einer „neuen Ordnung der Dinge, nicht nur im kirchlichen Leben, sondern auch in Staat und Gesellschaft", traf ins Schwarze (3,135). Nur vereinzelt gebrauchte Hagen das Wort „Bewegung", das man heute da einsetzen würde, wo er „Partei" sagte. Den Fehlschlag des Bauernkriegs erkannte er als verhängnisvolle Katastrophe der „radikalen Bewegungen" (3, 142). Für erhöhte Radikalität bediente sich Hagen des Superlativs „radikalst". Ihn wandte er im gleichen Jahr, als Marx den Bauernkrieg „die radikalste Tatsache der deutschen Geschichte" nannte, 59 auf Ludwig Hätzer an, der Anschauungen 58

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Vgl. über die Schweizer Radikalen Szekely, György, Reformation in der Schweiz, in: Weltwirkung der Reformation, S. 88 ff. Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, S. 386.

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aller drei radikalen Konfessionstypen - der Täufer, „Spiritualisten" und Antitrinitarier - vereinigte. 60 Hagen schilderte Hätzer als einen Reformator der „freiesten Ansichten und radikalsten Maßregeln" (3, 286). Man darf diesen nicht nach einer legalen Schrift beurteilen, in der er, der immer wieder Verfolgte, schrieb, man möge das Evangelium nicht „mit Büchsen und Spießen" verteidigen. 61 Jene „Arbeiten, in denen Hätzer seinen Standpunkt am radikalsten formulierte", sind großenteils verloren. Hätzer wurde 1529 unter fadenscheiniger Begründung, „in Wirklichkeit wegen seiner radikalen Gedanken", enthauptet. 62 Hagen zählte auch Hutten, der den Sturz aller Fürsten wollte und einen neuen Staat, aber wohl keine neue Gesellschaft anstrebte, zur „radikalen Partei" (3, 69). Nach dem Urteil von Engels war Huttens Reichsreformprogramm „sehr radikal gefaßt". 63 Vorübergehend trat 1521 auch der Nürnberger Patrizier Pirckheimer „radikal" auf, als er eine Erhebung gegen Karl V. zugunsten Luthers forderte (3, 44). Trotz der Niederlage der „radikalen Partei" wirkten, das unterstrich Hagen nachdrücklich, ihre „freieren" Ideen fort. Er sah diese Ideen, wie bereits vermerkt, zur Aufklärungszeit wieder hervorbrechen und in die deutsche Klassik, überhaupt in das neuzeitliche Denken einmünden. Nach seiner Meinung war in der frühen und der radikalen Reformation „der Keim fast zu jeder späteren geistigen Entwicklung enthalten: die Prinzipien, welche die ganze neuere Geschichte Europas bedingten, wurden damals schon ausgesprochen", namentlich „die Ideen der Freiheit und der Humanität" (3, 457 f.). Das trifft in der Grundlinie zu. Der große Umbruch nach vorn, den erst die bürgerliche Aufklärung brachte, tritt in diesem Urteil aber ungerechtfertigt zurück. Das Bleibende am reformatorischen Radikalismus bestand f ü r Hagen in der „freien mystischen oder rationalen Richtung", im „freien mystischen oder rationalen Element" des Denkens, d. h. in einer toleranten, undogmatischen Religiosität und besonders in der verstandesmäßigen Denkart. Das „freie mystische Element wurde teils von den einzelnen Sekten, teils von einem Jakob Böhme oder den sogenannten Pietisten weitergebildet, teils aber auch von den Mathematikern, Naturforschern und Philosophen". Die „radikalen Ideen" wirkten also auch auf dem Felde mundaner Geistigkeit fort. Eine neuerliche „Vereinigung der freieren mystischen oder rationalen Richtung, der humanistischen und der nationalen volksmäßigen" führte dann nach Hagens Auffassung im Zeitalter der Aufklärung und Klassik den großartigen Aufschwung der deutschen Kultur herbei: „Lessing, Herder, Schiller, Goethe sind von jenen drei Elementen durchdrungen" (3, 460 f.). Neben religiösen Sonder60 81

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Vgl. Goeters, Gerhard, Ludwig Hätzer, Gütersloh 1957. Hätzer, Ludwig, Von dem evangelischen Zechen (Augsburg 1525), S.II; vgl. Mennonitisches Lexikon, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1937, S. 227. Wollgast, Ludwig Hätzer, in: Biographisches Lexikon, S. 258. Engels, Friedrich, Der Deutsche Bauernkrieg, Kapitel 4, in: MEW, Bd. 7, S. 373. Zur Auseinandersetzung von Marx und Engels mit Lassalle über Sickingen und Hutten s. meine Ausführungen in: DLZ, Jg. 95, 1974, H. 8/9, S. 594 ff. und Jg. 97, 1976, H. 5, S. 457 ff.

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Strömungen waren somit Wissenschaft und Literatur in gewisser Weise Erben der radikalen Reformation, nicht nur der gemäßigten. Tatsächlich ist sowohl bei Lessing wie in der Weimarer Klassik radikal-reformatorisches Gedankengut nachweisbar. An dieser These einer Kontinuität von der freieren Richtung der radikalen Reformation zur deutschen Aufklärung und Klassik hat Hagen später festgehalten. Die klassische deutsche Literatur habe weitergeführt, was die „Reformation unvollendet zurückgelassen". Unverändert stellte Hagen aber auch in der Reaktionsperiode die Hebung der „niederen Stände" als ein politisches Ziel der Reformation heraus.64 Die Wirkung von Hagens Reformationsgeschichte wurde dadurch beeinträchtigt, daß sie im Schatten der Rankes stand. Nach 1848/49 waren die Zeitverhältnisse der Rezeption von Hagens Reformationsauffassung nicht günstig. Dennoch war die Nachfrage so groß, daß es zur Neuausgabe von 1868 kam. Die Täuferforschung übernahm u. a. Hagens Begriff des „radikalen volksmäßigen Elements." 6 ' Später wurde besonders auf Hagens Flugschriftenanalysen zurückgegriffen.®6 Von wiedererwachtem Interesse zeugt ein Neudruck.67 In letzter Zeit hat Hagens Reformationsigeschichte verstärkte Aufmerksamkeit gefunden (M. Steinmetz, S. Wollgast, M. Neumüller, P. Wende u. a.). Der begriffs- und problemgeschichtliche Ertrag von Hagens „Reformationszeitalter" besteht hauptsächlich aus der terminologischen Erfassung der Reformationsbewegung in ihrer zweiheitlichen Struktur. Den prägnantesten begrifflichen Ausdruck fand diese Dualität bei ihm in der Gegenüberstellung von „gemäßigter" und „radikaler Partei" oder „Richtung" der Reformation (1843/44). Noch in anderer Weise ist das Werk für die Begriffsbildung fruchtbar geworden: Von ihm ging der Begriff des „Humanismus" der Renaissance und Reformation aus. Während diese Bezeichnung aber sehr bald rezipiert und Gemeingut wurde, ist man hinsichtlich der reformatorischen Radikalität erst mit großer Verspätung, nach vielen Umwegen, wieder in Hagens Nähe gelangt: Mit seinen Termini „radikale Partei" und „radikale Richtung" kann er als Vorläufer des modernen Begriffs „radikale Reformation" gelten, den der Autor dieses Beitrags geprägt und der seit 1952 weite Verbreitung gefunden hat. Fast allen älteren Darstellungen und den weitaus meisten neueren hatte Hagens Reformationsgeschichte außerdem voraus, daß er eine „radikale Partei" der Reformation nicht nur auf religiösem Gebiet sah, sondern auch auf weltlich-literarischem, politischem und sozialem, ferner, daß er diese Partei nicht lediglich nach den Konfessionstypen abgrenzte. Neben freikirchlichen Gemeinden und eigenständigen religiös-sozialen Denkern zählte Hagen sozialradikale und freisinnige ,Linkslutheraner' und Katholiken zur „radikalen Partei". Hagen, Deutsche Geschichte, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1858, S. IV; Bd. 2, 1857, S. 77. «5 Hochmuth, H„ Die Wiedertäufer, in: Z. f. hist. Theol., J. 28, 1858, S. 551, 560. 06 Z. B. Nathusius, Martin v., Christlich-soziale Ideen der Reformationszeit, Gütersloh 1897, S. 104. 67 Aalen 1966.

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Wertvoll an seinem Begriffsverständnis ist auch der Nachdruck, mit dem er die „volksmäßige Richtung" als Kern der „radikalen Partei" herausarbeitete. Dem Begriff Volksreformation ist diese Benennung allerdings nicht gleichzusetzen, da Hagen zunftbürgerliche - klein- und z. T. mittelbürgerliche - Bestrebungen ebenfalls als volksmäßig wertete. Aktuell sind außerdem Hagens Auffassung der Reformation als nicht n u r religiöse, sondern auch politische und soziale Revolution von bürgerlichem Charakter, seine Herleitung des bürgerlich-„rationalen" neuzeitlichen Denkens aus den „freieren" Strömungen der radikalen Reformationsbewegung und seine Parteinahme f ü r die unterdrückten „niederen Volksklassen". So erweist sich der demokratische Historiker in diesem Werk als ein Meister der Abstraktion und als Verfechter eines bemerkenswert fortschrittlichen Standpunkts. Hagens historischer Auftritt kam, als im Völkerfrühling 1848 der Gelehrte als Parlamentarier und Publizist zum Akteur der Revolution wurde. Schon mit der ersten parlamentarischen Institution der Revolution fand er den Einstieg in die praktische Politik: Hagen war einer von denen, die als Häupter der bürgerlichen Opposition in das Frankfurter Vorparlament berufen wurden. Der demokratische Abgeordnete des Vorparlaments gehörte zu dessen Linksopposition, die eine deutsche Republik forderte. 68 Bei den Wahlen zur Nationalversammlung kandidierte Hagen in Heidelberg. Demokratischer Abgeordneter in dieser Hochburg des Liberalismus zu werden, war nicht leicht. Dennoch errang Hagen - gestützt auf die demokratische Breitenstimmung, dank seinem persönlichen Auftreten und Ansehen sowie mit Unterstützung auswärtiger politischer Freunde - einen knappen Sieg über den liberalen Gegenkandidaten. Hagen stach seinen Rivalen vor allem dadurch aus, daß er sich im Wahlkampf weit nach links orientierte. Er solidarisierte sich mit der radikalen Bürger- und Volksbewegung. Dabei gab er das Versprechen, seine K r a f t dafür einzusetzen, daß aus Europa ein Freistaat und kein Kosakenstaat werde. „Kosakenstaat" war nicht nur eine Metapher f ü r das zaristische System, sondern auch f ü r den monarchistischen Halbabsolutismus in Mitteleuropa. Mit der Losung von der Republik Europa und weitreichenden demokratischen Forderungen nahm Hagen dem liberalen Gegner den Wind aus den Segeln. Aus der Wählerschaft wurde ihm der Auftrag erteilt, als Abgeordneter der demokratischsten Fraktion der Nationalversammlung beizutreten. 69 Mit dieser Marschroute ging Hagen nach F r a n k f u r t am Main. Ihr gemäß nahm er in der Paulskirche seinen Platz auf der äußersten Linken, bei der Ende Mai 1848 gegründeten „Radikaldemokratischen Partei". 70 Vom 31. Mai stammt das

® Vgl. Hildebrandt, Parlamentsopposition, S. 36. ® Frankfurter Journal, 1. 6. 1848 (Nr. 161) ; Neue Rheinische Zeitung, 13. 6. 1848 (Nr. 12/ 13) ; vgl. Haag, Ferdinand, Die Universität Heidelberg 1848/49, Diss. Heidelberg 1934, S. 36; Hildebrandt, Parlamentsopposition, S. 44 f. 70 Vgl. Hildebrandt, Rezension in: ZfG, Jg. 22, 1974, H. 4, S. 468.

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erste Programm dieser Partei, das Arnold Rüge entwarf. 7 ' Ihre Abgeordneten erhielten nach ihrem Frankfurter Tagungslokal den Namen Fraktion Donnersberg. In dieser Fraktion stritt Hagen an der Seite von Arnold Rüge, Julius Fröbel, Lorenz Brentano, Georg Günther, Moritz Hartmann, Wilhelm Michael Schaffrath, Friedrich Wilhelm Schlöffel, Ludwig Simon, Wilhelm Adolf v. Trützschler, Hugo Wesendonck, Alfred Wiesner, Franz Heinrich Zitz u. a. und nicht zuletzt an der von Wilhelm Zimmermann.72 Hagen hat den Aufruf der Radikaldemokraten „An das deutsche Volk" vom 1. Juli 1848 redigiert. Ihr Manifest vom 3. Juni, in das der Rugesche Entwurf einging und das die Kritik von Marx und Engels hervorrief73, ist mit seinem etwas ungelenken Stil jedoch nicht aus der gewandten Feder Hagens geflossen. Auch den Publizisten rief der Ausbruch der Revolution wieder auf den Plan. Sein „Politischer Katechismus für das freie deutsche Volk" erschien. Die Schrift war kein flammender Appell zur revolutionären Tat. Aber in ihr ist das militärische Kernproblem der Revolution angeschnitten; Hagen begriff, daß es nicht genügte, demokratische Beschlüsse zu fassen und dabei die öffentliche Meinung hinter sich zu haben. Erst das Volk in Waffen vermochte die Revolution zu sichern. Deshalb Hagens bereits erwähnte Forderung nach einer demokratischen Nationalgarde. Hagens im „Politischen Katechismus" ausgesprochene Warnung vor Bürgerkrieg und Anarchie war nur sinnvoll, wenn er eine bewaffnete Macht der Revolution zum Schutz ihrer Errungenschaften voraussetzte. Da Hagen in den stehenden Heeren der Monarchien mit Recht die potentielle Streitmacht der Konterrevolution sah, trat er als Abgeordneter im Juli 1848 gegen ihre Verstärkung auf.74 Daß es galt, sie auf die Seite der Revolution zu ziehen, war ihm bewußt. Daher auch sein und seiner Fraktionsfreunde Beiseitestehen beim Frankfurter Volksaufstand im September 1848, das er später als Fehler erkannte. Auch seine Tätigkeit als demokratischer Journalist setzte Hagen 1848 fort. Er schrieb für die „Neue Deutsche Zeitung, Organ der Demokratie" (Darmstadt, dann Frankfurt/Main). Die „Neue Deutsche Zeitung" diente, gleich der „Deutschen Reichstagstzeitung", als Parteiblatt der parlamentarischen Linken. Redakteure waren Hagens Fraktionskollege Johann Georg Günther und der Kommunist Joseph Weydemeyer, ein Freund von Marx. Hagen gehörte der Redaktionskommission der Zeitung an.75

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Bundesarchiv Frankfurt a. M., Zsg 1/18: Bericht Reinstein 5.6. 1848, zit. nach Wende, S. 33; Manifest zit. nach Hildebrandt, Parlamentsopposition, S. 250 f., vgl. auch S. 66 f. Neue Deutsche Zeitung, 3. 10. 1848 (Nr. 81), zit. nach Hildebrandt, Parlamentsopposition, S. 20. Marx, Karl/Engels, Friedrich, Programme der radikal-demokratischen Partei und der Linken, Neue Rheinische Zeitung, Nr. 7, 7.6. 1848, in: MEW, Bd. 5, S. 39 ff., vgl. S. 513. Stenographischer Bericht [Anm. 80], Bd. 2, S. 936 ff. (15. 7. 1848). Vgl. Obermann, Karl, Joseph Weydemeyer, Berlin 1968, S. 135.

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Unter den Abgeordneten der äußersten Linken in der Frankfurter Nationalversammlung war Hagen einer der wenigen, die auch nach der Wahlkampagne engen Kontakt mit der Volksbewegung hielten. Als Mitte Juni 1848 der von 89 demokratischen und Arbeitervereinen mit 234 Delegierten beschickte 1. Demokratenkongreß im Deutschen Hof zu Frankfurt am Main tagte, um über Grundfragen der Revolution zu beraten und Beschlüsse zu fassen, waren nur fünf Abgeordnete der äußersten Linken anwesend, unter ihnen Hagen (neben Fröbel - als Präsident - , Zitz, Kapp und Mohr). Dabei ging es dort um so entscheidende Fragen wie ein revolutionäres Aktionsprogramm und den Zusammenschluß der bürgerlichen Demokraten mit den Arbeitervereinen. 76 Auch an der demokratischen Massenkundgebung auf dem Heidelberger Schloß Ende Juli 1848 nahm Hagen teil. Diese Volksversammlung mit einer Gruppe seiner Fraktionskollegen wurde von mehreren Tausend Menschen besucht. Neben Hagen fanden sich sechs weitere Donnersberger ein.77 Bei den Entscheidungen in der Paulskiche 1848 stimmte Hagen mit der parlamentarischen äußersten Linken für radikalere Lösungen, als den Liberalen und gemäßigten Demokraten vorschwebte. Bei der Wahl des Reichsverwesers Ende Juni 1848 zersplitterte sich die Linke, statt Geschlossenheit zu demonstrieren. Hagen verweigerte, wie sämtliche Abgeordneten der äußersten Linken mit Ausnahme eines habsburgischen Untertanen, dem großdeutschen Kandidaten Erzherzog Johann, der gewählt wurde, seine Stimme. Als Republikaner lehnte Hagen aber auch den Kandidaten der kleindeutschen Monarchisten Friedrich Wilhelm IV. und den konstitutionell-monarchistischen Rechtsliberalen Gagern ab. Statt dessen entschied er sich für den badischen Demokraten Itzstein, den Initiator des Vorparlaments. Mit einem Teil der äußersten Linken erklärte er sich bereit, für Gagern zu stimmen, wenn dadurch die Wahl des Erzherzogs verhindert werden konnte.78 Wie recht Hagen und seine politischen Freunde taten, als sie gegen den anfangs populären Habsburger auftraten, zeigte dessen Verhalten im weiteren Verlauf der Revolution. Es kam so weit, daß der kommunistische Abgeordnete Wilhelm Wölfl im Mai 1849 forderte, Johann als Volksverräter für vogelfrei zu erklären. Einen Monat später setzte das Stuttgarter Rumpfparlament den Reichsverweser ab. Jener von Hagen redigierte Aufruf der Radikaldemokraten „An das deutsche Volk" vom 1. Juli 1848, den Zitz und Rüge aufgesetzt hatten, begründete ihre Ablehnung des Erzherzogs. Die „Radikaldemokratische Partei" erklärte sich darin kategorisch gegen „ein unverantwortliches Oberhaupt für Deutschland". Die Demokraten forderten an Stelle eines der Nationalversammlung nicht verantwortlichen Fürsten einen revolutionären Vollzugsausschuß aus deren Mitte 76

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Zimmermann, Wilhelm, Die deutsche Revolution, Karlsruhe 1848, S. 665 ff.; Paschen, Joachim, Demokratische Vereine 1848/49, München 1977; Hildebrandt, Parlamentsopposition, S. 77 f. Ebenda. S. 110. Hagen, K. Jürgens: Zur Geschichte des deutschen Verfassungswerkes 1848-49, in: Deutsche Monatsschrift 1, (1850), S. 415 (403-428); vgl. Hildebrandt, Parlamentsopposition, S. 86, 90 f., 276.

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als Reichszentralgewalt. So zog das Manifest von Zitz, Rüge und Hagen einen scharfen Trennungsstrich zur liberalen Paulskirchenmehrheit. 79 Auch seinem Bekenntnis zur Freundschaft der Völker, das Hagen bei der Distanzierung von Wirths großdeutschen Träumen abgelegt hatte, blieb er während der Revolution treu. Seine Vorstellung von einer brüderlichen europäischen Völkerfamilie bestimmte seine Haltung in der Polendebatte der Nationalversammlung. Zusammen mit anderen Demokraten widersetzte sich Hagen der nationalistischen Position der Rechten und des liberalen Zentrums im Posener Nationalitätenstreit. 80 Gegen die dennoch durchgesetzte Mehrheitsresolution erließ Hagens Fraktion eine „öffentliche Verwahrung". Diese schloß mit den Worten: „Das Ende Polens wäre das Ende Deutschlands." 81 Bei der Verteidigung der Immunität des revolutionären Demokraten Friedrich Hecker, Abgeordneter der „Radikaldemokratischen Partei", der im April 1848 in Baden den Aufstand ausgelöst und die Republik ausgerufen hatte, traten Sprecher beider demokratischer Fraktionen, unter ihnen Hagen, für die Amnestierung der Aufständischen und für eine allgemeine politische Amnestie ein. Zugleich aber grenzte sich Hagen ab von dem seiner Meinung nach putschistischen Revoluzzertum. 82 An den Reformanträgen und -beschlüssen der Nationalversammlung war Hagen z. T. maßgeblich beteiligt. Die Abschaffung des Staatskirchentums, die dem Zug des modernen Staates zur Säkularisierung entsprach, fand in ihm einen entschiedenen Fürsprecher. Gemeinsam mit Zimmermann und dem katholischen Pfarrer Künzer beantragte Hagen namens der Radikaldemokraten Trennung von Kirche und Staat, Gleichstellung der Kirchen untereinander und deren Bindung an die Gesetze des Staates. Doch ging er nicht so weit wie die Gruppe Zimmermann, die für volle Unabhängigkeit der Kirchen eintrat. Die Nationalversammlung erhob den Antrag Hagen-Zimmermann-Künzer mit den Stimmen eines Teils der Liberalen zum Beschluß. Ein weitergehender Antrag der Linken, die Pfarrer von den Gemeinden wählen zu lassen - eine alte, dem Reformationshistoriker Hagen von der frühen und der radikalen Reformation her vertraute Forderung - , verfiel indes der Ablehnung. 83 Den Höhepunkt seiner parlamentarischen Wirksamkeit erreichte Hagen, als er die Absetzung der deutschen Fürsten betrieb. Er war Wortführer einer demokratischen Minderheit von Abgeordneten, die auf die Beseitigung der partiku-

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Ebenda, S. 95. Stenographischer Bericht der deutschen Nationalversammlung, Bd. 2, hrsg. v. Franz Wigard, Frankfurt a. M. 1848, S. 1129 (24. 7. 1848) ; vgl. Hildebrandt, Parlamentsopposition, S. 103. öffentliche Verwahrung der radikal-demokratischen Partei gegen den Beschluß in der Polenfrage, 27. 7. 1848, in: Der Republikaner, (Leipzig) v. 11. 8. 1848; bei Hildebrandt, Parlamentsopposition, S. 253, 255. Vgl. Eyck, Frank, Deutschlands große Hoffnung. Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49, München 1973, S. 293. Stenographischer Bericht, Bd. 3, S. 1697 ff. (24. 8. 1848), S. 1996 ff. (11. 9. 1848) ; Bd. 6, S. 4129 ff. (14. 12. 1848); bei Hildebrandt, Parlamentsopposition, S. 169.

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laristischen Einzelstaaten drängte. Wirth und Hagen hatten schon lange vor der Revolution die Souveränität der Einzelfürsten als das gekennzeichnet, was sie war: eine Usurpation. So hatte Wirth in seinem programmatischen Vergleich zwischen der Reformation und der Situation um 1840 die „deutsche Fürstenmacht" unumwunden für „usurpiert und daher . . . nichtig und rechtlich wirkungslos" erklärt.84 In seinem revolutionären Stufenplan von 1832, zur Zeit des Hambacher Festes, wurde der „fürstliche Partikularismus" für Deutschlands „Elend" verantwortlich gemacht und offen die „Hinwegräumung aller deutschen Throne" projektiert.85 Demgemäß hatte Wirth auch 1841 einen deutschen Nationalstaat ohne Fürsten, zumindest ohne Einzelfürsten und -Staaten, propagiert.86 So erwies sich Hagen als Wahrer des innenpolitischen Vermächtnisses seines im Juli 1848 verstorbenen Freundes, als er im Oktober die Entmachtung der Fürsten forderte. In seinem Revolutionskatechismus hatte er errechnet, daß der Prunk und sonstige Aufwand von Fürsten und Adligen das deutsche Volk jährlich 400 Millionen Taler kosteten. Von dieser Riesensumme hätten Millionen Menschen ihren Lebensunterhalt finden können.87 Analog zu der von Hagen aufgemachten Rechnung betonte auch die gemäßigte Linke der Richtung Blum, welche ungeheure finanzielle Belastung „die vielen Hofhaltungen, Regierungen und Ministerien, eine sehr kostspielige Sache", darstellten. Auch sie forderten daher, die Nation von dieser Bürde zu befreien.88 So war nun folgerichtig, daß Hagen im Plenum der Nationalversammlung einen Antrag auf Mediatisierung der Fürsten einbrachte, den er nachdrücklich verfocht. Die Mediatisierungsdebatte ist als der eigentliche historische Moment seines Lebens anzusehen, wo er einmal selbst die Hebel der Geschichte zu betätigen suchte. Den Fürsten die Regierungsgewalt nehmen hieß, sie als beherrschenden Machtfaktor eliminieren. Das war revolutionäre Politik und eine Hauptaufgabe der bürgerlichen Revolution. Die auf den Sturz der Einzelfürsten abzielenden Anträge Hagens und seiner Gesinnungsfreunde waren denn auch gemeinsames Programm der beiden demokratischen Fraktionen. Sie fanden den Beifall der Demokraten im Lande. Doch darüber, was an die Stelle der Einzelstaaten zu setzen sei, gingen die Meinungen auseinander. Ein Teil der Demokraten wünschte eine föderalistische Lösung. Andere nahmen einen unitarischen Standpunkt ein. Besonders konsequent taten dies die Kommunisten, voran Marx und Engels. Hagen suchte, gemäß seinem Grundsatz, das „rationale", in diesem Fall einheitsstaatliche Prinzip mit dem „historischen", hier bundesstaatlichen zu verbinden, nach einem Ausgleich zwischen den streitenden Richtungen. Er schlug einen Mittelweg vor: einen demo-

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Wirth, Die politisch-reformatorische Richtung der Deutschen im X V I . und X I X . Jh., Thurgau 1841, S. 220. Derselbe, Die Rechte des deutschen Volkes, S. 160 f. Vgl. derselbe, Politisch-reformatorische Richtung, Kap. 7 und 14; derselbe, G e schichte der Deutschen, Bd. 1, Stuttgart 1842, S. 19, 321 ff.; Bd. 2, S. 338 ff. Hagen, Politischer Katechismus, H. 1, S. 37. Vgl. Volkstümliches Handbuch der Staatswissenschaften, Bd. 2, Leipzig 1851, S. 66; Bd. 1, Leipzig 1848, S. 381 (Neudruck 1973).

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kratischen Nationalstaat, worin, unter einer straffen Reichsleitung, die regionalen Eigentümlichkeiten in „schöner Harmonie" fortbestehen könnten. 89 Bei der Frage, wie ein solcher Zwitter von Einheits- und Bundesstaat zu gliedern sei, tauchte das Projekt auf, die alten Stammesterritorien Wiederaufleben zu lassen. Gerade manche Franken, die es nicht verwanden, daß ihre Heimat durch Napoleon bayrische Provinz geworden war, sympathisierten mit diesem Gedanken. Er kam auch der historischen Orientierung der Franken Wirth und Hagen entgegen. Von der parlamentarischen äußersten Linken zeigten sich nach Wirths Tod Hagen, Moritz, Mohr und Reinstein aufgeschlossen dafür. Der Partikularismus der mittelalterlichen Stammesherzogtümer, der dadurch regeneriert werden konnte, weckt allerdings starke Zweifel an der Tauglichkeit dieses Mittels. In einem aus zehn Stammesstaaten zusammengesetzten deutschen Reich, wie Mölling es vorschlug - ein Projekt, dem Hagen nahestand - konnten die Zwischengewalten zu einer neuen Quelle der Zerrissenheit werden. Mit der Ablösung eines alten durch einen neuen Partikularismus war dem Fortschritt nicht gedient. Außerdem sprachen wirtschafts- und verkehrsgeographische Erfordernisse dagegen, Mundartgrenzen wieder zu Binnenschranken zu erheben. Aber es kam nicht dazu. Ein deutscher Grégoire wurde Hagen nicht. Henri Grégoire, ein Freund Schlossers, hatte 1792 im französischen Konvent durch seinen Antrag auf Abschaffung der Monarchie die Ausrufung der Republik herbeigeführt. Das wiederholte sich nicht. Die Gegenseite begriff, was für sie auf dem Spiel stand. Die meisten Abgeordneten befürchteten, eine Solidarität der Dynastien heraufzubeschwören. Sie wagten besonders mit Rücksicht auf Preußen, das die Kleinstaaten gegen die annexionslüsternen Mittelstaaten protegierte, nicht, die Regierungen anzutasten. Daher erhielten die Mediatisierungsanträge Hagens und anderer Demokraten nicht die erforderliche Mehrheit. Sie wurden an den Verfassungsausschuß überwiesen, der sie im November 1848 ad acta legte. Die Mediatisierungsdebatte enthüllte das Unvermögen der Frankfurter Nationalversammlung, die Feudalgewalten zu entmachten. So ist hier dem Urteil Veit Valentins zuzustimmen: Das Gros der Volksvertreter zeigte in der Mediatisierungsfrage eine „allzu zahme H a l t u n g . . . Das revolutionäre Feuer verpuffte . . . Im Februar 1849" wurden „erneute Anträge . . . der Linken auf . . . Mediatisierung" abgelehnt. „Die Mediatisierung war ein revolutionärer Gedanke; sobald das Frankfurter Parlament den Gedanken der folgerechten Durchführung der Revolution verließ", sprach es sein eigenes Todesurteil. 90 Hagen und seine politischen Freunde setzten somit am entscheidenden Punkt an. Ihre Initiative verdient als ein - mit unzulänglichen Mitteln unternommener Versuch gewürdigt zu werden, den dynastisch-territorialstaatlichen Partikularismus auf parlamentarischem Wege aus den Angeln zu heben. Sie war revolutio89

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Stenographischer Bericht, Bd. 4, S. 2754 f. (19.10. 1848) ; vgl. Hildebrandt, Parlamentsopposition, S. 180 f. Valentin, Veit, Geschichte der deutschen Revolution von 1848-49, Bd. 2, Berlin 1931, S. 301 f. (Neudruck Köln 1970); vgl. allgemein Hübner, Rudolf, Die Mediatisierungsfrage in der Frankfurter Nationalversammlung, Erlangen 1923.

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näre Politik. Die Beseitigung der Einzelstaaten gehörte zu den Grundaufgaben der bürgerlichen Revolution in Deutschland (wie in Italien und Rumänien). Hagens Fraktion kämpfte auch für Institutionen zur Ausschaltung der Teilfürsten : für eine starke Zentralgewalt, mit einer gesetzgebenden Volksrepräsentation (Reichstag), ohne den antidemokratischen Bremsklotz einer Notabeinkammer.5'1 Als Reichsoberhaupt wünschte die Linke der Nationalversammlung und mit ihr Hagen Anfang 1849 einen für vier Jahre zu wählenden, der Volksvertretung verantwortlichen Präsidenten. Einen Kaiser lehnte sie in den Abstimmungen vom 19.-25. Januar 1849 ab. Den Kaisertitel billigte im Januar nur eine knappe Mehrheit. Ein erblicher „Kaiser der Deutschen" aber wurde mit 263 gegen 211 Stimmen verworfen. Am 21. März blieben die Verfechter des Erbkaisertums mit 283 zu 252 Stimmen abermals geschlagen. Hagen votierte mit der äußersten Linken wiederum gegen sie. Nach dieser erneuten Niederlage gestanden die Kleindeutschen in Verhandlungen mit der Linken das gleiche und geheime Wahlrecht sowie ein nur aufschiebendes Veto des Erbkaisers zu. Hierüber einigten sich Heinrich von Gagern und Heinrich Simon, der Wortführer der zwischen Demokraten und Liberalen vermittelnden Fraktion Westendhall, am 25. März. Mit Hilfe dieser „Linken im Frack" erzielte der Gagern-Block daraufhin in der Abstimmung vom 27. März die hauchdünne Mehrheit von 267:263 Stimmen für die erbliche Kaiserwürde. Hagens Fraktion stimmte nach wie vor dagegen. Bei der Kaiserwahl am nächsten Tag gaben 290 Abgeordnete ihre Stimme Friedrich Wilhelm IV. 276 Abgeordnete, unter ihnen Hagen und die übrigen Abgeordneten der „Radikaldemokratischen Partei", versagten sie ihm.92 Eine neue Lage entstand, als der preußische König am 2. April die Kaiserkrone aus den Händen der Volksvertretung zurückwies. Nunmehr suchten Ludwig Simon, Hagen und weitere Donnersberger das Reichsministerium Gagern gegen die preußische Regierung zu stützen. Demzufolge bot auch Hagen die Hand zum Ausgleich mit dem Gagern-Block. Am 11. April nahm er offen Kurs auf ein Zusammengehen mit den Erbkaiserlichen gemäß dem Pakt Gagern - H. Simon.93 Am 17. April begründete Ludwig Simon, mit dem Hagen konform ging, die Neuorientierung der von ihm geführten Gruppe. Annähernd die Hälfte der Donnersberger folgte ihm. Damit schwenkte ein Teil der äußersten Linken um Ludwig Simon auf die politische Linie Heinrich Simons und seiner Gesinnungsfreunde ein. Hagen hatte schon im Winter, als sich absehen ließ, daß eine Republik mit parlamentarischen Mitteln nicht zu erreichen war, ein nationalesi Kaisertum demokratischer Prägung mit ins Auge gefaßt. Hagen und Zimmermann, die als Historiker der ersten deutschen Revolution des 16. Jh. deren Wunschtraum von einem „Volkskaiser" kannten, schlössen als Redner der parlamentarischen Linken in der zweiten deutschen Revolution 1848/49 eine monarchische Spitze nicht aus. Sie waren bereit, einen Kaiser hinzunehmen, sofern die Teilfürsten und 91 92 93

Stenographischer Bericht, Bd. 5, S. 3806 (4. 12. 1848). Ebenda, Bd. 7, S. 5651 f. u. 5873 ff. (27./28. 3. 1849). Ebenda, Bd. 8, S. 6131 (11. 4. 1849).

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-Staaten hinweggefegt wurden. Hagen erklärte von der Tribüne der Paulskirche, daß ein Herrscher, der „mit gewaltiger Faust tabula rasa mache", den Beifall des Volkes finden würde. 94 Das Einlenken Hagens entsprach seinem pragmatischen Verhältnis zur Politik. Er riet „in praktisch-politischen Fragen zur Mäßigung" 95 und ein kleineres Übel in Kauf zu nehmen, um ein größeres zu verhüten. Mit einer contradictio in adjecto könnte man ihn einen gemäßigten Radikalen nennen. Der prinzipienfestere Kern der Donnersberger hielt jedoch an der Republik fest. Darüber brach die radikal-demokratische Fraktion auseinander. Die Majorität, 25 Unbedingte, konstituierte sich als „äußerste Fraktion" und trennte sich von der Minorität um Ludwig Simon. 96 Hagen wurde nun in den Dreißigerausschuß zur Verwirklichung der Reichsverfassung gewählt, den Erbkaiserliche und Linke gemeinsam bildeten. Außerdem kamen von seiner Gruppe L. Simon, Fröbel und Fehrenbach in diesen Ausschuß, zusammen mit 10 weiteren Demokraten. Doch die 14 Demokraten wurden von den 16 Klein- und Großdeutschen majorisiert. 97 So zahlten sich die von Marx und Engels gerügten Halbheiten der „sogenannten radikal-demokratischen Partei" auch im Dreißigerausschuß nicht aus. 98 Die „Neue Rheinische Zeitung" verurteilte das Umfallen der Gruppe L. Simon. Sie schalt diese einen „Sonderbundsklub von Phantasten und Bierheulern". 99 Es war der Irrtum Hagens und anderer seiner Couleur, daß sie wähnten, durch Zugeständnisse an Monarchisten die Revolution retten zu können. Als die preußische Zweite Kammer und der sächsische Landtag aufgelöst wurden, fand die Gruppe L. Simon mit Hagen aber wieder zu demokratischer Haltung. Die Gruppe führte die Paulskirchenbeschlüsse vom 4. Mai 1849 mit herbei, die das deutsche Volk aufforderten, die Reichsverfassung gegen die Machthaber durchzusetzen. Der preußische Einmarsch in Sachsen rüttelte sie vollends auf. Am 10. Mai rief eine linke Mehrheit der Nationalversammlung, mit ihr Hagens Gruppe, das Volk zu den Waffen. Im Zentralmärzverein, dem Dachverband der Demokraten, entfalteten Fröbel, L. Simon, Wesendonck, Hagen u. a. eine revolutionäre außerparlamentarische Aktivität. Fröbel war dessen Präsident, L. Simon Schriftführer. Anfang Mai appellierte der Zentralmärzverein in Manifesten an das deutsche Volk und Heer, den bewaffneten Kampf aufzunehmen. Diese Manifeste trugen die Unterschrift Fröbels und Ludwig Simons, mit denen Hagen solidarisch war. Der „Aufruf an das deutsche Volk" forderte allgemeine Volksbewaffnung gegen die „rebellischen Regierungen", die sich der Reichsverfassung widersetzten. Die Proklamation an die Soldaten rief diese auf, „das alte Regiment der Junker" zu 94 95 96

97 38 99

Ebenda, Bd. 6, S. 4712 f. und 4794 (15. 1. 1849). Hildebrandt, Hagen, S. 259. öffentliche Erklärung der äußersten Fraktion, 16. 4. 1849; zit. nach Hildebrandt, Parlamentsopposition, S. 260. Stenographischer Bericht, Bd. 8, S. 6142 ff. Marx/Engels, Programm der radikal-demokratischen Partei, S. 41 f. Neue Rheinische Zeitung, 20. 4. 1849 (Nr. 277); zit. nach Hildebrandt, Parlamentsopposition, S. 193 f., 199.

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stürzen. 100 So mündete Hagens Tätigkeit in die Reichsverfassungskampagne ein. Das Strafgericht der Sieger verschonte auch ihn nicht. Die Niederlage der Revolution kostete ihn seine Professur. Hagen wurde seines Lehramtes enthoben und aus dem badischen Staatsdienst entlassen. Im Rückblick auf die verlorene Revolution hat Hagen 1850 demokratische Selbstkritik geübt. In der „Deutschen Monatsschrift", die das Vermächtnis von 1848/49 hütete, zog er Bilanz. In dieser Zeitschrift wurden Rüge und Fröbel von einem Anonymus getadelt, weil sie zuwenig Kontakt mit dem Volk besaßen. Auch Hagen erkannte nachträglich die unzureichende Verbindung zu den Volksmassen f ü r ein schweres Versäumnis. Im September 1848 hatte die parlamentarische Linke die Ausweitung des Volksaufstands in und um Frankfurt unterbunden. Hagen sah 1850 ein: „Wenn die Linke die [Frankfurter September-]Revolution hätte unterstützen, sich selbst an die Spitze stellen wollen, so hätte die Sache wenigstens f ü r die ersten Tage eine ganz andere Wendung genommen, da allerdings die ganze Umgebung revolutionär gestimmt w a r und nur eines A u f r u f s wartete, um loszubrechen." 101 Statt dessen „kamen", wie Zimmermann hervorhob, „die Zuzüge . . . nicht, weil die Linke sie davon abhielt". 102 Die Parlamentsmehrheit forderte sogar Truppen gegen den Volksaufstand an, die ihn niederwarfen. Allein gelassen, unterlagen die Frankfurter Arbeiter und Handwerker. Ihr Scheitern gab der Konterrevolution allgemein Auftrieb. 103 Als freier Historiker und Publizist setzte Hagen nach der Revolution seine schriftstellerische Tätigkeit mit ungebrochener Schaffenskraft fort. Neue oder erweiterte Geschichtswerke folgten: die „Geschichte der neuesten Zeit vom Sturze Napoleons bis auf unsere Tage" 104 und die erweiterte „Deutsche Geschichte von Rudolf von Habsburg bis auf die neueste Zeit".105 Der vormärzliche Künder des „nahenden Verfalls" der „Reaktion" (3, 462 f.) sagte auch unter deren erneutem Druck das nahe Ende der Fürsten- und Adelsherrschaft voraus. Aus seiner antimonarchistischen und antiaristokratischen Gesinnung hat Hagen selbst da keinen Hehl gemacht. Adel und Monarchie hatten f ü r ihn historisch verspielt. Sie bereiteten sich den Untergang „durch das gänzliche Verkennen der Zeitforderungen". 106 Ungeachtet des schweren Rückschlags hielt Hagen an seiner Grundidee der Synthese des Rationalen und des Geschichtlichen, des Menschheitlichen und des Nationalen im Zeichen des Fortschritts zur Freiheit fesit. Sein Wunschbild blieb 100 vgl Geßner, Hugo, Der Zentralmärzverein, München 1850; Simon, dem Exil, 2 Bände, Gießen 1855. 101

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Aus

Vgl. Deutsche Monatsschrift, Jg. 1, 1850, S. 170 (Anonymus); und Hagen, K. Jürgens, S. 419. 102 Zimmermann, Die deutsche Revolution, S. 936. 103 v g l Hildebrandt, Parlamentsopposition, S. 137; Wende, Der Revolutionsbegriff der radikalen Demokraten, in: Archiv für Frankfurts Geschichte, Bd. 54, 1974. 104 Hagen, Geschichte der neuesten Zeit vom Sturze Napoleons bis auf unsere Tage, 2 Bände, Braunschweig 1850/51. 105 Derselbe, Deutsche Geschichte von Rudolph von Habsburg bis auf die neueste Zeit, 3 Bände, Frankfurt a. M. 1855-58 (ältere Ausgabe nur bis 1786). 106 Derselbe, Geschichte der neuesten Zeit, Bd. 2, S. 766; vgl. Neumüller, S. 106. 7*

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nach wie vor eine harmonische „Vermittlung des historischen Rechts mit dem Rechte der Vernunft, mit den Forderungen der Freiheit". 107 Auch der Aufbruch von 1813-15 habe nicht nur nationale Unabhängigkeit, sondern ebenso „die Freiheit des Volkes" erstrebt. 108 Daher hatte Hagen, wie schon erwähnt, bereits im Vormärz die Bezeichnung „Freiheitskriege" gewählt. Den schwächsten Punkt seines vormärzlichen Geschichtsbildes, die Unterschätzung der Französischen Revolution, hat Hagen nach 1848/49 korrigiert. Er begriff nunmehr besser ihre weltgeschichtliche Bedeutung, auch die f ü r Deutschland.109 Aus dieser Sicht wertete Hagen jetzt außerdem die zwiespältige Rolle Napoleons positiver: Napoleon überwand die Revolution,verbreitete aber einige ihrer Errungenschaften über Europa. So sehr das bürokratisch nivellierende napoleonische System geschichtliche Besonderheiten ignorierte, so brachten seine Scheinkonstitutionen doch einige Bürgerrechte und z. T. eine bessere Verwaltung und Rechtsprechung. Sie waren kleine Schritte zur Freiheit, eine „Ubergangsstufe" zu freieren politischen Einrichtungen. 110 Revolutionen wie die von 1830 wurden nicht von langer Hand vorbereitet, sondern brachen als spontane Volkserhebungen aus.111 Insofern erkannte Hagen die Volksmassen als entscheidende Triebkraft der Revolutionsgeschichte. Sein Blick dafür war durch die miterlebte Revolution geschärft worden. Wie Hagen schon im Vormärz die kommende Bedeutung des Proletariats geahnt hatte, so sagte er ihm auch während der Reaktionsperiode eine große Zukunft voraus. Von der Warte bürgerlicher Humanität wußte er die ersten Organisationsformen der Arbeiterbewegung zu würdigen. 112 Auch auf die Reformation hat Hagen im Rahmen seiner „Deutschen Geschichte" erneut den Blick gerichtet. Er sah sie noch immer etwas durch die Brille des freiheitlichen Demokraten seiner Zeit. Hagen hat die Wünsche der eigenen Generation untergelegt, wenn er bei den Zielen der Reformation das Streben nach einem „Volkskaisertum" akzentuierte, unter dem die persönliche Freiheit der Staatsbürger gesichert sein sollte.113 Auch in der übertriebenen Parallelisierung der Reformationsepoche mit dem eigenen Zeitalter, die auf Wirth zurückging,11/1 107

108 109 110 111 112 113

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Hagen, Geschichte der neuesten Zeit, Bd. 2, S. 765. Neumüller wertet „die Haltung Hagens nach 1848" als „Abkehr von der rationalistischen und weltbürgerlichen Revolution" (Neumüller, S. 104). Ein Vergleich mit Hagens Vormärzaufsätzen zum Thema „rational" und „historisch" zeigt aber, daß er seine frühere Einstellung beibehielt. Hagen, Geschichte der neuesten Zeit, Bd. 1, S. 27; vgl. Neumüller, S. 104. Hagen, Deutsche Geschichte, Bd. 3, S. V; vgl. Neumüller, S. 77. Hagen, Geschichte der neuesten Zeit, Bd. 1, S. 4, 25f.; vgl. Neumüller, S. 103f. Hagen, Geschichte der neuesten Zeit, Bd. 2, S. 37; vgl. Neumüller, S. 265. Hagen, Geschichte der neuesten Zeit, Bd. 2, S. 76711., vgl. Neumüller, S. 113. Hagen, Deutsche Geschichte, Bd. 2, S. 77, 304; vgl. zur Idee eines „demokratischen" und „sozialen Kaisertums", die sich trotz abschreckender Erfahrungen mit Napoleon I. und Napoleon III. erhielt: Naumann, Friedrich, Demokratie und Kaisertum, 4. Aufl. Berlin 1905, S. 221 ff.; Neumüller, S. 55, 113, 117; Silberner, Edmund, Johann Jacoby, Bonn 1976; dazu Hildebrandt, Rezension, in: ZfG, Jg. 26, 1978, H. 4, 5. 356. Vgl. Wirth, Die politisch-reformatorische Richtung, S. 356.

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ist Hagen sich so im Grunde gleich geblieben. Schon in den 40er Jahren hatte er die Täuferbewegung mit ihrem Leitbild christlicher Gütergemeinschaft als „Kommunismus" der Reformationszeit aufgefaßt (3, 389 f.).115 Seinen größten Bucherfolg nach der Revolution erzielte Hagen, als er ein Problem anpackte, das im Brennpunkt des Geschehens stand: die orientalische Frage. Sein Buch „Die östliche Frage", die osmanische und Balkanfrage, erlebte 1854, im Krimkrieg, zwei Auflagen. Auch in diesem Fall verlieh Hagens Geschichtskenntnis seinen Worten zur Tagespolitik erhöhtes Gewicht. Nach der guten Aufnahme dieses Buches erhielt Hagen 1855 auf Empfehlung seines Freundes aus der Paulskirche Karl Vogt, des von Marx bekämpften Vulgärmaterialisten und Darwinisten, einen Ruf als Professor der Geschichte an die Universität Bern.110 So zählte er mit Vogt, Moleschott, Scherr und Gottfried Kinkel zu jenen, die ein neues Wirkungsfeld als Professoren in der Schweiz fanden. Zwei Jahre nach seiner Berufung wurde Hagen 1857 auch Rektor der Universität Bern. Nach vielseitiger Lehr-, Forschungs-, Publikations- und Vortragstätigkeit ist er am 24. Januar 1868, mit 57 Jahren, in Bern verstorben. Die Neuausgabe seiner Reformationsgeschichte im selben Jahr hat er nicht mehr erlebt. Mit Hagen starb einer der markantesten Repräsentanten jenes politisch engagierten Professorentums, das seit der Aufklärung als Sprecher der oppositionellen Meinung Deutschlands auftrat. Er hat damit eine lange Ahnenreihe im fortschrittlichen Bürgertum. Steht er doch in der Tradition der Schlözer, Campe, Trapp, Karl Friedrich Bahrdt, Karl Friedrich Cramer wie auch der Fichte, Arndt, Schleiermacher, Steffens, Luden, der Göttinger Sieben usw. Das F r a n k f u r t e r „Professorenparlament" von 1848/49, in dem Hagen auf der äußersten Linken hervortrat, war der Höhepunkt dieses politischen Professorentums, das dann in der linksliberalen Opposition eines Virchow, Mommsen u. a. gegen das Bismarcksche und wilhelminische Regime fortlebte. 117 Hagens Schicksal war das seiner Generation, der Besiegten von 1848/49, einer Generation von Demokraten, die, soweit sie sich nicht beugten oder von der Politik zurückzogen, in alle Winde zerstreut wurden. Er teilte mit vielen der Besten von ihnen das Los, zuerst diffamiert und verfolgt, dann - zumindest außerhalb der Arbeiterbewegung - weithin totgeschwiegen und schließlich vergessen zu werden. 115

iie 117

Hagen, Proletariat und Kommunismus, S. 239. Vogt, Karl, Aus meinem Leben, Stuttgart 1896; Vogt, W., La vie de C.Vogt, Paris 1896. Eine Sozialstatistik der Frankfurter „Honoratiorenversammlung" bei Valentin, Bd. 2, S. 11 f. (fast 100 Professoren); vgl. Real, Willy, Politisches Professorentum, in: Darstellungen und Quellen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung, 9, Heidelberg 1974, S. 7 ff.; Grab, Walter/Friesel, TJwe, Noch ist Deutschland nicht verloren. Eine historisch-politische Analyse unterdrückter Lyrik von der Französischen Revolution bis zur Reichsgründung, 2., Überarb. Aufl., München 1973, S. 245; Fesser, Gerd, Linksliberalismus und Arbeiterbewegung, Berlin 1976; Baumgart, Franzjörg, Die verdrängte Revolution. Darstellung und Bewertung der Revolution von 1848 in der deutschen Geschichtsschreibung vor dem Ersten Weltkrieg, Düsseldorf 1976, auch über Hagen; dazu H. Schleier, in: DLZ, Jg. 99, 1978, Sp. 743 ff.

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Die Haltung von Gutsherren, Behörden und Bürgertum zur revolutionären Bewegung der schlesischen Bauern und Landarbeiter im Frühjahr 1848 - Reaktionen und Reflexionen

Die Bewegung der bäuerlichen und proletarischen Dorfbevölkerung in der preußischen Provinz Schlesien in den ersten Wochen der Revolution 1 rief durch ihren Massencharakter und ihre überraschende Wucht eine große Resonanz in der Öffentlichkeit hervor. Alle Klassen und Schichten der Gesellschaft wurden in irgendeiner Form von dem eindeutigen Auftreten des Landvolkes berührt und zur Stellungnahme herausgefordert. Am unmittelbarsten wurden natürlich die Gutsherren betroffen. Gegen sie richtete sich die Bewegung direkt. Für sie ging es um Sein oder Nichtsein. Das Schicksal des französischen Adels in den Jahren 1789-94 sahen sie als Menetekel. Gutsherren hatten vor dem Bauernaufruhr flüchten müssen, berichtete am 25. März der Regierungspräsident in Liegnitz 2 , und auch in den Zeitungen aus jenen bewegten Tagen finden sich Meldungen, wonach Gutsbesitzer Zuflucht in den Städten suchten. 3 Freilich riskierten sie durch ihre Flucht, die Erbitterung der Dorfbewohner noch zusätzlich zu steigern und ihre Schlösser oder Herrenhöfe der Zerstörung preiszugeben. Die Hoffnung, durch persönliche An1

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Reis, Karl, Agrarfrage und Agrarbewegung in Schlesien im Jahre 1848, Breslau 1910; Ziekursch, Johannes, Hundert Jahre schlesischer Agrargeschichte. Vom Hubertusburger Frieden bis zum Abschluß der Bauernbefreiung, Beslau 1927, S. 372 ff.; Nenast'eva, E. A., Krest'janskoe dvizenie v silezii v period germanskoj revolucii 1848-1849 godov, in: Izvestija Krymskogo Pedagogideskogo Instituta, Bd. 23 (1956), S. 161 ff.; Pater, Mieczyslaw, Wypadki marcowe 1848 roku w powiecie jeleniogörskim, in: Sobötka, Jg. 13 (1958), S. 579ff.; Sydor, Jerzy, Ruch chlopski w powiatach görskich Dolnego Slqsku u progu wiosny ludöw, in: Studia i materialy z dziejow Slqska, Bd. 5 (1963), S. 234ff.; derselbe, Wiosna ludöw w powiatach görskich Dolnego Sl^ska, Wroclaw 1969; Historia Slqska, Bd. 2, Teil 2: 1807 bis 1850. Unter Redaktion von Stanislaw Michalkiewicz, Wroclaw/Warszawa/ Kraköw 1970, S. 495ff.; Bleiber, Helmut, Zum Anteil der Landarbeiter an den Bewegungen der Dorfbevölkerung in der deutschen Revolution 1848/49, in: JbfW 1975, T. 4, S. 65 ff. ZStAM, Rep. 77, Tit. 507, Nr. 3, vol. 2, Bl. 218, Nachschrift Witzlebens zu seinem Bericht an das Innenministerium vom 24. 3. 1848. Breslauer Zeitung, Nr. 81, 5. 4. 1848, Korr. aus Breslau, 4. 4.; Schlesische Zeitung, Nr. 74, 28. 3. 1848, Korr. aus Hirschberg, 26. 3.

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Wesenheit die Herrensitze vor der Vernichtung bewahren zu können, bewog darum häufig die Junker und ihre Gutsverwalter zum Ausharren, obwohl sie um Leib und Leben zitterten. Als einzig mögliche Haltung gegenüber den aufständischen Bewohnern ihrer Dörfer blieb ihnen nur noch Entgegenkommen und Nachgiebigkeit. In den uns bekannten Quellen gibt es nur ein Beispiel, das gegen die allgemeine Berücksichtigung dieser Verhaltensweise zu sprechen scheint. Der Besitzer der Herrschaft Grafenort im Kreise Glatz, der auch in der Steiermark und im Mährischen begüterte Graf Herberstein, wies von seinem Wohnsitz Brünn aus den Verwalter von Grafenort an, zwar Verweigerungen von Diensten und Abgaben hinzunehmen, da man „im gegenwärtigen Augenblick" sowieso „unleugbar dem guten Willen der Verpflichteten überlassen" sei, auf keinen Fall aber werde er sich Verzichtserklärungen abzwingen lassen. Eher wolle er in Kauf nehmen, daß ihm das Schloß angezündet werde. Dabei rechnete er jedoch damit, daß die Dorfbewohner davor zurückschrecken würden, an das inmitten des Dorfes gelegene Schloß Feuer zu legen, hätten sie dabei doch riskiert, ihre Gehöfte ebenfalls in Flammen aufgehen zu sehen/1 Die Mehrzahl der Gutsherren fand es - wie auch die Grafen Schaffgotsch5 ratsam, sich anders zu verhalten angesichts der Entschiedenheit, mit der Bauern und Landarbeiter auftraten, zumal vielerorts halsstarriges Herauskehren des Herrenstandpunktes mit körperlichen Mißhandlungen und Zerstörung gutsherrlichen Eigentums geahndet worden war. „Die gnädigen Herren und Frauen waren größtenteils auf einmal sehr gnädig geworden", schrieb ein Zeitungskorrespondent.6 Als die Existenz der Großgrundbesitzerklasse durch die Aktionen des Landvolkes in einem Maße bedroht wurde, wie das bis dahin noch niemals der Fall gewesen war, lud der Baron von Gilgenheimb zum 2. April, einem Sonntag, die Bauern, Gärtner und sämtliche Stellenbesitzer mit ihren Ehefrauen aus den Dörfern Endersdorf und Voigtsdorf zu „einem herrschaftlichen Gastmahle bei Tafelmusik" ein, woran auch der Hilfsgeistliche aus Grottkau, der Amtsinspektor und weitere lokale Amts^ und Würdenträger teilnahmen. Den berechnenden Charakter der herablassenden Leutseligkeit offenbarte die Ansprache des Barons. „Durch unsern umsichtigen Gutsherrn wurden wir", wie es in einem von den Scholzen der beiden Dörfer unterzeichneten Bericht heißt, „über die in mehreren Ortschaften vorgekommenen höchst traurigen Ereignisse belehrt und liebevoll ermahnt, in Gott, für König und Vaterland an Gesetz und Ordnung als treue Staatsbürger festzuhalten und uns nicht von der Bahn der Treue durch äußere Einflüsterungen ableiten zu lassen." Der Gutsherr ließ sich mit Handschlag die Treue seiner Bauern und Tagelöhner versichern.7 4

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Powiatowe Archiwum Panstwowe Klodzko (PAPK), Heimaturkundei des Vereins für Glatzer Heimatkunde, Grafenort Herrschaft, 7, C 6 d, Privatkorrespondenz des Oberverwalters Pfaff mit dem Grafen, 1848, Stück 16, Graf Herberstein an Pfaff, Brünn, 17. 4. 1848. Siehe Pater, Wypadki marcowe 1848, S. 579 ff. Schlesische Chronik, Nr. 32, 21. 4. 1848, „Von der mittleren Neiße", 16. 4. Schlesische Zeitung, Nr. 89, 14.4. 1848. - Vom Grafen Hochberg ist überliefert,

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Wie in diesem Falle, so verfehlte wohl öfter leutseliges Gebaren nicht den Zweck und trug dazu bei, daß der über das Land dahinbrausende Märzensturm an manchem Dorf vorüberzog, ohne die überall glimmenden Funken der Unzufriedenheit zu offener und entschiedener Empörung anzufachen. Eine weitere Variante junkerlichen Verhaltens während der Märzbewegung lag der Anweisung zugrunde, die der Besitzer der Herrschaft Fürstenstein, Graf Hochberg, bereits am 20. März seiner Wirtschaftsdirektion erteilte. Wie mancher andere verzichtete dieser Gutsherr, noch ehe die ihm verpflichteten Bauern an seine Tore klopften, vorbeugend für eine befristete Zeit auf eine Reihe feudaler Leistungen wie Erb- und Grundzinsen sowie Jagd-, Hühner- und Spinngelder. Nach seinem Willen sollten jedoch nur die gänzlich unbemittelten Grundbesitzer bis zum Ende des Jahres 1848 von diesen Abgaben entbunden werden, während alle diejenigen, die „nur irgend im Stande sind, ihre Zinsungen zu Händen der Dorfgerichte abzuführen haben". Diese wiederum sollten die feudalen Abgaben zugunsten der am stärksten von der Not betroffenen Dorfarmen verwenden. 8 Diesem Verhalten lagen mehrere Motive zugrunde. Der vorübergehende Verzicht auf einige feudale Einnahmen sollte besänftigend wirken und die Bewegung im Bereich der eigenen Herrschaft, noch ehe sie eigentlich losgebrochen war, ersticken. Daß der Verzicht an die Bedingung geknüpft wurde, die fraglichen Leistungen den proletarischen und plebejischen Elementen der Dorfbevölkerung zukommen zu lassen, schien vorzüglich geeignet, einen hochherzigen sozialen Sinn zu bezeugen, und konnte, falls die feudalpflichtigen Bauern sich darauf einließen, die Gefahr eigener Aktionen der ärmsten Dorfbewohner verringern. Dieser geschickt berechnete Schachzug zielte vor allem darauf ab, die Interessen der proletarischen und der bäuerlichen Schichten gegeneinander auszuspielen. Statt von den feudalen Leistungen befreit zu werden, sollten die Bauern die gleichen Abgaben nun für die Dorfarmen aufbringen, auf die damit der bäuerliche Unwillen über die Feudallasten abgelenkt werden sollte. Wenn die Bauern hingegen die Leistungen verweigerten, würden andererseits die Dorfproletarier sich in den Hoffnungen, die der gutsherrliche Schritt bei ihnen wecken mußte, getäuscht sehen und die Bauern als diejenigen betrachten, die die Linderung ihrer Not durch Eigennutz verhinderten. Indem der Gutsherr die feudalen Abgaben vorübergehend in Almosen für die Dorfarmen verwandelte, erschwerte er es der bäuerlichen Bevölkerung, die Leistungen einfach einzustellen. Die Chancen des Gutsherrn, sich diese Einnahmen für später zu erhalten, wurden größer. Gleichzeitig konnte er aber damit rechnen, daß eine gemeinsame antigutsherrliche Haltung der bäuerlichen und proletarischen

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daß er den etwa zweihundert Einwohnern des Städtchens Gottesberg, die VOF dem Schlosse zu Fürstenstein erschienen, um ihre Forderungen vorzutragen, einen Abendimbiß reichen ließ. Siehe Pflug, Chronik der Stadt Waldenburg in Schlesien, Waldenburg 1908, S. 123. Wojewödzkie Archiwum Panstwowe Wroclaw (WAPW), Herrschaftsarchiv Höchberg II, Nr. 83, Acta der Freien Standesherrschaft Fürstenstein betr. Zinssachen im allgemeinen, 1848-1852.

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Dorfbevölkerung hintertrieben oder doch gestört würde durch die künstliche Erzeugung von Gegensätzen und Reibungsflächen, welche auf eine Zuspitzung der ohnehin zwischen diesen Schichten vorhandenen Widersprüche abzielte. Diese Bemühungen mancher Gutsbesitzer 9 , im lokalen Rahmen bäuerliche und proletarische Dorfbevölkerung gegeneinander auszuspielen, sind um so beachtenswerter, als sie an Theorien maßgeblicher konservativer Ideologen anknüpften, die im größeren Maßstab der preußischen Monarchie die zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie bestehenden Gegensätze im Interesse der halbfeudalen Reaktion auszunutzen suchten. 10 Die Zahl der Gutsbesitzer, die derartig raffiniert operierten, war allerdings gering. Die Mehrheit, soweit sie nicht direkt zur Bewilligung der bäuerlichen Forderungen gezwungen oder zur Flucht veranlaßt worden war, versuchte vielmehr mit weit unkomplizierterem Gehabe die ersten Wochen der Revolution zu überstehen. Modellfall d a f ü r ist der Verwalter der Herrschaft Grafenort. Um die ihm anvertraute Herrschaft vor der anbrandenden Bewegung des Landvolks abzuschirmen, so berichtete er seinem Brotherrn Graf Herberstein 11 , habe er sich „mit den besser denkenden Personen ins freundlichste Einvernehmen gesetzt, damit diese durch Belehrung und Ermahnung auf die übrigen wirken sollen". Kleinere Vorkommnisse, die ihn sonst zu einem amtlichen Einschreiten veranlaßt hätten, habe er ignoriert und gerichtliche Klagen ausgesetzt. „So erhielt ich die Ruhe auf der Herrschaft bis zu dieser Stunde." Den „Geist des Aufruhrs" aber vermochte er nicht zu bannen; der Verwalter von Grafenort saß gleichsam - wie die Gutsbesitzer generell - auf einem Pulverfaß. „Indessen das verfluchte Zeug wirkt epidemisch. Schon verweigern sämtliche Neulomnitzer Bauern die Zugrobot, hier in Grafenort, Meiling werden die unsinnigsten Wünsche laut, so daß ich jetzt hier auch keinen Augenblick mehr vor tumultuarischen Auftritten sicher bin . . . Schreien und lärmen mögen die Kerle nun, 9

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Richthofen, K. v., Zur Verständigung über die bäuerlichen Abgaben in Schlesien, in: Schlesische Zeitung, Nr. 82, 6. 4. 1848, plädierte öffentlich dafür, die Feudallasten, deren Beseitigung er als dringend notwendig anerkannte, nicht einfach zu streichen. Er verlangte vielmehr hohe Entschädigungszahlungen der Bauern an die Rittergutsbesitzer mit der demagogischen Behauptung, daß „wir für unsere Armen große Unterstützungssummen bedürfen". Gerlach, Leopold von, Denkwürdigkeiten aus seinem Leben, Bd. 1, Berlin 1891, S. 153; Hassel, Paul, Joseph Maria von Radowitz, Bd. 1, Berlin 1905, S. 577, 586ff.; Goetting, Hildegard, Die sozialpolitische Idee in den konservativen Kreisen der vormärzlichen Zeit, Berlin (1922). Vgl. die Eingabe an die Berliner Regierung „Meine Ansicht über die Stimmung in Schlesien" vom 28. 3. 1848, in der es hieß, man müsse den radikalen Führern der Revolution „ihre Soldaten nehmen - dies sind die Arbeiter". Zu diesem Zwecke müßte außer der umgehenden Publikation des Wahlgesetzes noch eine Kommission für das Wohl der Arbeiter gebildet werden. Die Arbeiter aller Städte sollten dazu Vertreter wählen, die in Berlin über die Lösung der Fragen zu beraten hätten. „Damit ist ja Hoffnung gegeben, diese beruhigt..." Siehe ZStAM, Rep. 77, Tit. 507, Nr. 1, vol. 1, Bl. 39. PAPK, Heimaturkunde des Vereins für Glatzer Heimatkunde in Glatz, Grafenort Herrschaft, 7, C 6 d, Stück 15, Pfaff an Graf Herberstein, Grafenort, 6. 4. 1848.

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wie sie wollen, das kann ich nicht mehr hindern, aber rauben und plündern, das sollen mir die Hunde doch nicht so leichten Kaufs ausführen, da werde ich das Unmöglichste wagen, ohne mich gerade am Ende noch . . . totprügeln zu lassen. Noch aber gebe ich nicht alle Hoffnung auf, denn ich habe immer noch in jeder Gemeinde einzelne, die in unserem Interesse wirken, nur in Neulomnitz nicht, da sind alle eine Stimme." 12 Angesichts dieser „im höchsten Grade ängstigenden Verhältnisse" hoffte Graf Herberstein, daß es „gelingen möge, die Sachen noch so hinzuhalten, damit es von Seiten der Einsassen zu keinen Gewaltmaßregeln kommt". 13 Von diesem Gedanken ließ sich die halbfeudale Gutsbesitzerklasse in jenen Wochen angesichts der gegen sie gerichteten revolutionären Bewegung durchweg leiten. Die „Sachen hinzuhalten", Zeit zu gewinnen, möglichst heil über die Runden zu kommen, sei es durch leutselig-joviales Gebaren, durch entgegenkommende Teilzugeständnisse oder auch, wenn es nicht anders ging, durch schriftliche Bewilligung der weitestgehenden Forderungen - das war das nächste Ziel, nachdem durch die Vorgänge sowohl in Wien und Berlin als auch in einzelnen Herrschaften der näheren Umgebung sehr bald klargeworden war, daß starre Unnachgiebigkeit nicht vermochte, die Kraft der revolutionären Bewegung zu brechen, vielmehr f ü r ihre Verfechter die Gefahr heraufbeschwor, selbst zerbrochen zu werden. Der Schock, der angesichts solch ungewohnter Lage die Gutsherrenklasse durchfuhr, war gewaltig. Die „panische Furcht" 14 , die wie eine epidemische Krankheit die Bewohner der Herrensitze und Schlösser befiel, und naive Empörung darüber, daß die Welt sich so ungebührlich-revolutionär gestaltet hatte, spricht aus einem Schreiben schlesischer Gutsherren, das am 3. April den Minister von Auerswald erreichte. 15 Die Herren führten bittere Klage, daß die Landbewohner sich erdreistet hätten, „allem Gesetz, . . . aller göttlichen und menschlichen Ordnung zuwider, den Zeitpunkt der Bedrängnis des Augenblicks zu benutzen, um, den Namen deutscher Freiheit brandmarkend und mit Zügellosigkeit und Frechheit verwechselnd, sich einerseits Rechte aller Art, andererseits Freiheit von auf ihren Stellen haftenden Verbindlichkeiten gegen ihre Gutsherrschaften mit Gewalt und Drohungen zu erzwingen". „Gutsherrschaften und Beamte, kurz alle Personen, welche f ü r Ordnung ihrer Pflicht gemäß zu sorgen irgendwie be12

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Breslau, so urteilte der Verwalter, scheine „ein reines Narrenhaus zu sein"; dagegen könne man die Berufung Camphausens und Hansemanns „unter den jetzigen Verhältnissen... nur eine glückliche nennen". Das Motiv für diese unter den Gutsherren damals verbreitete Einschätzung sprach Bismarck auf dem zweiten Vereinigten Landtag deutlich aus: „Ich glaube, daß dies Ministerium das einzige ist, welches uns aus der gegenwärtigen Lage einem geordneten und gesetzmäßigen Zustand zuführen kann . . . " Kohl, Horst, Bismarckreden 1847-1895, Stuttgart/Berlin 1913, S. 8. PAPK, Heimaturkundei des Vereins für Glatzer Heimatkunde, Grafenort Herrschaft, 7, C 6 d, Stück 16, Graf Herberstein an Pfaff, Brünn, 17. 4. 1848. Allgemeine Oderzeitung, Nr. 72, 25. 3. 1848, Korrespondenz „Von der Neiße, 23. März". ZStAM, Rep. 77, Tit. 507, Nr. 1, vol. 1, Bl. 49 f.

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müht waren, sind der empörendsten Willkür preisgegeben, unter den verruchtesten lebensgefährlichen Drohungen verjagt oder zu Zugeständnissen aller Art widerrechtlich gezwungen. Mord, Brandstiftung und Plünderung sind vielfach teils angedroht, teils versucht und zum Teil sogar ausgeführt worden." Der größte Teil der Einwohner, so meinten die Verfasser, verabscheue zwar dieses Treiben, wage es aber nicht, sich dagegen auszusprechen, geschweige dagegen aufzutreten, da er von einzelnen Bösewichtern terrorisiert werde. Nachdem sie verschiedene einzelne Maßnahmen empfohlen hatten, die die Regierung ergreifen sollte, um die „göttliche Ordnung" wiederherzustellen, schlössen die gnädigen Herren mit dem jammervollen Passus: Es sei notwendig, schleunigst kräftigen Schutz zu gewähren, wenn nicht Gesetzlosigkeit und Anarchie alles verschlingen sollten. „Deshalb legen wir . . . Ew. Exzellenz diesen Angstruf vor, mit flehentlicher Bitte um Schutz für Leben und Eigentum vieler getreuer Staatsbürger, deren fehlende Unterschrift Ew. Exzellenz gnädig verzeihen wollen, weil hier die Besorgnis bereits vorherrschend geworden, daß das Briefgeheimnis verletzt und derjenige, welcher einem solchen Treiben entgegenwirke, der Verfolgung anheimgegeben wird. Ew. Exzellenz treu gehorsamste hart Bedrängte." Wenn auch nicht jeder Gutsherr in solchem Ausmaße vor Angst schlotterte, waren Einschüchterung und Schrecken doch auf jedem Herrensitz groß. „Damals lagen wir alle auf dem Bauche"16 - das in diesem Falle durchaus treffende Wort des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm IV., das dieser später seinem Hofhistoriographen Leopold von Ranke gegenüber prägte, um jene Zeit zu charakterisieren, gilt nicht nur für die höchsten Repräsentanten des preußischen Junkerstaates; es beschreibt plastisch und genau auch die Situation und Verfassung, in der sich mehr oder minder die Masse der Gutsherren befand. 17 Diese Lage empfanden, was nicht überraschen kann, die gnädigen Herren als „eine wahrhaft scheußliche"18, und natürlich waren sie bestrebt, den ihnen zugefügten Schlag nicht einfach hinzunehmen. Als aber die erste revolutionäre Welle mit aller Macht ihnen entgegenschlug, machten sie sich, um beim Bilde Friedrich Wilhelms zu bleiben, möglichst klein, gingen in Deckung und nahmen das sonst nach preußischer Herrenart so hoch getragene Kinn an die furchterfüllte Brust. Daß ihre nachgiebige Haltung nicht ernst gemeint, sondern auf Beruhigung und Täuschung der aufständischen Bauern und Landarbeiter berechnet war, bezeugen die zahlreichen dringenden Appelle, mit denen die bedrängten Gutsherren die unmittelbare Hilfe des Staatsapparates zu erwirken suchten. Hatten sie heute ihren Dorfbewohnern gegenüber alles, was diese forderten, mit Brief 16

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Ranke, Leopold von, Friedrich der Große. Friedrich Wilhelm der Vierte, Leipzig 1878, S. 157. Der bekannte pommersche Gutsbesitzer und konservativ-reaktionäre Politiker von Thadden äußerte, seine Standesgenossen seien „erstarrt von eisiger Furcht". Siehe Gerlach, Ernst Ludwig von, Aufzeichnungen aus seinem Leben und Wirken, Bd. 1, Schwerin 1903, S. 523. PAPK, Heimaturkundei des Vereins für Glatzer Heimatkunde, Grafenort Herrschaft, 7, C 6 d, Stück 15, Pfaf£ an Graf Herberstein, Grafenort, 6. 4. 1848.

Gutsherren, Behörden und Bürgertum

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und Siegel und oft noch mit justitiarischer Bestätigung bewilligt, wandten sie sich morgen an die Gerichte, um schriftlich Protest einzulegen und die rechtliche Ungültigkeit der ihnen abgerungenen Konzessionen zu verfechten. Es wirft ein bezeichnendes Licht auf das Kräfteverhältnis, wie es durchaus nicht nur in der Herrschaft Arnsdorf im Riesengebirge bestand, wenn der Besitzer dieser Herrschaft, Graf Matuschka, ausdrücklich wünschte, daß sein Protest vorläufig vertraulich behandelt werde, weil, „wenn meine heutige Verwahrung gegen die von mir erpreßten Zugeständnisse den betreffenden Gemeinden in ihrer gegenwärtig herrschenden Stimmung kundbar würde, alsdann diese Stimmung nur zu leicht wieder zu leidenschaftlichen Ausbrüchen gesteigert werden und die Gefahren nochmals herbeiführen könnte, welche ich durch Erfüllung des Begehrens der Gemeinden am 21. und 22. März abgewehrt habe".19 Aber längst bevor sie bei den Gerichten ihre den Gemeinden ausgehändigten Verzichtserklärungen widerriefen, hatten die Gutsherren in der Regel schon versucht, andere staatliche Machtmittel zur Verteidigung ihrer Interessen zum Einsatz zu bringen. Während sie sich nicht selten bemühten, die Verhandlungen mit den Dorfbewohnern in die Länge zu ziehen, waren Eilboten zum Landrat oder zu anderen Vertretern des Staates mit der Forderung unterwegs, ihnen Hilfe - möglichst in Gestalt von Militär - angedeihen zu lassen. Nachdem die Nachrichten von den ersten Bauernunruhen die Provinz durcheilt hatten, versuchten viele Gutsherren sogar vorsorglich, wenn nur irgendwelche Anzeichen für bedrohliche Stimmungen in ihren Dörfern vorhanden waren, die Abkommandierung von Militäreinheiten in das Gebiet ihrer Herrschaft zu erwirken. Der Ruf der Gutsbesitzer nach militärischer Gewalt zur Unterdrückung oder Vermeidung revolutionärer Aktionen der Dorfbewohner entsprach ihrer traditionellen Denk- und Handlungsweise, in der die brutale Anwendung unverhüllter Machtmittel zur Sicherung ihrer Ausbeuterinteressen stets einen zentralen Platz eingenommen hatte. Als eines von vielen Beispielen führen wir den Gutsherrn Eduard von Rosenberg an, der in seinem Schreiben an den Minister von Auerswald vom 26. März 1848 Klage erhob, daß der Landrat des Kreises Lauban nicht sofort Militär herbeigerufen habe. „Der Krater der Revolution, auf dem wir stehen, kann nicht schnell genug geschlossen werden, wenn nicht aus ihm eine allgemeine heillose Anarchie, welche uns, die wahren Freunde des Vaterlandes, mit unserer persönlichen Freiheit, unseren wohlerworbenen Rechten verzehren wird und muß, sich entwickeln soll. Diesem Unheile kann allein nur durch schnelle Ergreifung energischer Schutzmittel vorgebeugt werden! Noch ist die Zeit nicht verloren, und ich bin der festen Überzeugung, daß gegenwärtig noch einige mobile Militärkolonnen in Verbindung mit den Wohlgesinnten in dem Kreis Lauban wieder Ruhe und Ordnung herstellen können, während nach Verlauf 19

WAPW, O. T. Jelenia Göra, II. Arnd. (95) 179, Erklärung des Grafen Matuschka vom 31. 3. 1848. - Graf Magnis protestierte am 3. 4. 1848 beim Land- und Stadtgericht zu Glatz aus, wie er schrieb, „Rücksicht auf meine Kreditoren" gegen die mehreren Gemeinden eigenhändig ausgestellten schriftlichen Konzessionen. WAPW, Herrschaftsarchiv Magnis, Nr. 911, Bl. 30 f.

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von acht Tagen selbst eine verdoppelte Militärmacht solches nicht mehr wird bewerkstelligen können."20 Aufschlußreich für derartige Ansichten borniert-halsstarriger Junker ist ein bezeichnenderweise anonym erschienener Zeitungsartikel aus den ersten Apriltagen, in dem beklagt wurde, daß gegen die „Gewalttaten und Verheerungen, welche die Bauern gegen ihre Gutsherren oder zusammengerottetes Gesindel gegen Gutsherren und Gemeinden verüben", nicht mit Energie vorgegangen werde. Um die Staatsorgane zu rücksichtslosem Einschreiten gegen das Landvolk zu veranlassen, drohte der Verfasser mit der Verwirklichung eines Gedankens, der im weiteren Verlauf der Revolution als Kampfmittel der Demokratie gegen die Konterrevolution noch eine große Rolle spielen sollte: Viele Gutsbesitzer sähen sich außerstande, ihren Verbindlichkeiten gegenüber dem Staate nachzukommen, und hätten sich - wie angeblich auch viele Bauerngemeinden entschlossen, „die Zahlung der Steuern zu verweigern, bis ihnen der nötige Schutz und den Beschädigten ein Ersatz aus den Staatskassen gewährt" worden sei. Es sei lächerlich, wenn sich gewisse Leute einbildeten, mündliche und schriftliche Belehrungen könnten noch von Nutzen sein. „Wenn diese Herren Hypotheken auf Landgütern stehen hätten, würden sie vielleicht praktischem Ansichten Gehör geben." Unter diesen „praktischen Ansichten" verstand der Verfasser „ein von Ort zu Ort, wo Unfug vorfällt, abzuhaltendes energisches Standrecht"; da dies aber offenbar aus eigenen Kräften nicht mehr zu verwirklichen war, forderte er unverhohlen die Mobilisierung der auswärtigen Konterrevolution. Auf dem Lande sei bei allen, die etwas zu verlieren hätten, der „Wunsch nach Besetzung des Landes durch die Russen" vorhanden.21 Daß solche Gedanken in den um ihre Zukunft besorgten Kreisen nicht nur vereinzelt auftauchten, belegt eine Notiz der „Schlesischen Chronik": „Im Namslauer Kreise führen einige Herren unbesonnene, ja landesverräterische Gespräche in Beziehung auf die jetzigen Zustände. Sie drohen mit russischen Soldaten . . .'

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Vgl. z. B. ebenda, Nr. 18921, Verleihung der englischen Ritterwürde an den Forschungsreisenden Robert Schomburgk, 1845; ebenda, Nr. 18427, Einziehung von Kunstnachrichten und Beschaffung von Kunstgegenständen aus dem Ausland, Bd. 3, 1840-1844. Vgl. z. B. ebenda, Nr. 18924, Wissenschaftliche Reise des Professors der Zoologie und Direktors des zoologischen Museums der Universität Halle, Dr. Burmeister, nach Südamerika, 1850-1879. Vgl. z. B. ebenda, Nr. 18767 und 18906, Wissenschaftliche Reise von Dr. Ehrenberg und Dr. Hemprich nach Ägypten, 2 Bde., 1821-1824, 1826. Vgl. z. B. ebenda, Nr. 18927, Wissenschaftliche Reise von Dr. Brugsch durch Ägypten, 1852-1854. Vgl. z. B. ebenda, Nr. 18430, Einziehung von Kunstnachrichten, Beschaffung von Kunstgegenständen aus dem Ausland, Bd. 6, 1862-1868. Vgl. z. B. ebenda, Nr. 18916, Wissenschaftliche Reise des Naturforschers Dr. Segeth nach den Philippinen, 1838-1860; ebenda, Nr. 18884-18887, Forschungen des Botanikers Dr. Sellow in Brasilien, 4 Bde., 1818-1848. Vgl. bes. ebenda, Nr. 18425-18430, Einziehung von Kunstnachrichten, Beschaffung von Kunstgegenständen aus dem Ausland, 6 Bde., 1827-1868.

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gegnen viele bekannte Namen wie Bunsen, Haeckel, Helmholtz, Hufeland, Virchow, die Brüder Grimm u. a.95 Gleiches trifft auch auf hervorragende Künstler wie Thorwaldsen96, David und Gérard97 zu. Anderes Quellenmaterial gibt Auskunft über die Tätigkeit Schadows98, Rauchs u. a. Künstler in Italien oder über bedeutende Dichter wie Grillparzer und Chamisso." Weiter liegen Dokumente über Bau- und Kunstdenkmäler"10 vor, die aus internationalen Spenden errichtet wurden oder vor deren Einweihung eine Verständigung mit fremden Staaten herbeigeführt werden mußte. Hier sind zu nennen die Denkmäler für Kopernikus in Thorn, Walter Scott in Edinburgh, Luther in Eisleben, Eisenach und Worms, Jan Hus in Konstanz und Kepler in Weil. Zudem sind Akten über die Rückführung der während der napoleonischen Fremdherrschaft nach Frankreich entführten Kunstgegenstände vorhanden.101 Außerdem ist auf Unterlagen über Restaurierungsarbeiten an Schlössern, Burgen und Begräbnisstätten hinzuweisen. Als Beispiel seien angeführt das Schloß von Krakau, die Burg Hohenstaufen, die Burg in Nürnberg, das Kloster Heilsbronn, die Kirche in Spalt, die Stiftskirche in Ansbach und die wettinische Fürstengruft auf dem Petersberg bei Halle. Eine besondere Gruppe bilden Akten über das Erziehungswesen103, die hauptsächlich die Anerkennung von Zeugnissen, den Austausch von Schulprogrammen und das Erziehungswesen in außerpreußischen Staaten zum Inhalt haben. Die über die Universitäten überlieferten Akten sind vornehmlich auf Grund der internationalen Zusammenarbeit beim Überwachen und Eindämmen von progressiven Bestrebungen der Studenten entstanden.103 Sie enthalten auch Bestimmungen über die Immatrikulation preußischer Staatsbürger an ausländischen Universitäten, Vorlesungsverzeichnisse und andere Unterlagen über Universitätsan-

95

Vgl. z. B. ebenda, Nr. 180X0—18011, Unterstützung und Empfehlung von Gelehrten und Künstlern, 2 Bde., 1829-1871; ebenda, Nr. 18013-18014, Berufung ausländischer Gelehrter und Künstler an preußische Einrichtungen, Einziehung von Erkundigungen über diese Personen. Bewilligung von Orden und Auszeichnungen, 2 Bde., 1843-1865; ebenda, Nr. 18015, Übertritt preußischer Gelehrter und Künstler in ausländische Dienste, 1849-1866.

98

Vgl. z. B. ebenda, Nr. 18459, Ordensvorschlag für den Bildhauer "Thür waldsen in Rom, 1824-1825. Vgl. z. B. ebenda, Nr. 18529, 18535, Subskription auf Werke von David. Antrag an den Maler David auf Niederlassung in Berlin, 2 Bde., 1810-1816; ebenda, Nr. 18531, Bewilligung eines Vorschusses an den Maler Gérard, 1814-1818.

97

98

Vgl. z. B. ebenda, Nr. 18457-18458, Unterstützung, Tod und Nachlaß des Bildhauers Rudolf Schadow in Rom, 2 Bde., 1821-1826.

99

Vgl. z. B. ebenda, Nr. 18638, Gesuch Grillparzers um Schutz gegen Nachdruck, 1824 ; ebenda, Nr. 18640, "Verwendung für Dr. Adalbert von Chamisso, 1825-1826. Siehe ebenda, Nr. 18462-18527.

190 101

Vgl. z. B. ebenda, Nr. 18449-18453, Rückgabe der von den Franzosen beschlagnahmten Kunstgegenstände, 5 Bde., 1814-1845.

102

Ebenda, Nr. 17834-18008. Vgl. bes. 2.4.1. Abt. I Politische Polizei.

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Bestandsanalyse gelegenheiten. Nicht u n e r w ä h n t sollen bleiben. Sie beziehen sich vorrangig auf das Einschleppen von Krankheiten und und Transportverkehr und enthalten in Angaben über Quarantäneanstalten und in den 30er J a h r e n des 19. J h . 4.6. Zwischenstaatlicher

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die Akten über das Medizinalwesen 104 Maßnahmen und Bestimmungen gegen Viehseuchen im internationalen Reiseerster Linie Quarantänebestimmungeni, Maßnahmen gegen die Choleraepidemie

Rechtsverkehr

Abschließend soll noch ein umfangreicher Quellenkomplex vorgestellt werden, der zwar nicht die großen Konturen der politischen Geschichte oder der Wirtschafts- oder Kulturpolitik unmittelbar widerspiegelt, der aber u m so eingehender die Auswirkungen der Politik des Klassenstaates auf die breite Masse der Bevölkerung reflektiert. Es handelt sich um die u n t e r der Bezeichnung zwischenstaatlicher Rechtsverkehr 1 0 5 zusammengefaßten Aktengruppen über die W a h r n e h m u n g der Interessen einzelner Staatsbürger oder Institutionen durch den preußischen Staat gegenüber dem Ausland. Die Überlieferung betrifft vorwiegend das Auswanderungs-, Erbschafts», Paß-, Personenstands- und A r m e n wesen, Justizangelegenheiten, Forderungen und Schulden, Vermögenswerte und Liegenschaften, Dienstverhältnisse, wie Anstellungen im Staatsdienst, und allgemeine Auskünfte, z. B. Nachforschungen nach Verschollenen. Neben den Angaben über die in den verschiedenen Staaten geltenden Rechtsgrundsätze verdeutlichen die Akten vor allem die soziale Lage ganzer Bevölkerungsgruppen oder einzelner Personen, da sie sehr detaillierte und über längere Zeiträume reichende Informationen enthalten, die von der Forschung unter verschiedenen Gesichtspunkten, nicht zuletzt u n t e r soziologischen Fragestellungen, ausgewertet werden können. Die Quellen vermitteln z. B. ein plastisches Bild über die Auswanderungsbewegung im 19. Jh., über ihre G r ü n d e und vor allem über das weitere Schicksal und die ökonomische Lage der Ausgewanderten. Einen breiten Raum nehmen f e r n e r Angelegenheiten der Handelsbourgeoisie und vieler Wirtschafts- und Gewerbetreibender ein, deren Wirtschaftsverbindungen und soziale Stellung aus ihren Forderungen gegenüber Staatsangehörigen anderer Länder, ihren Schulden und Vermögensverhältnissen erhellt werden. Weiter lassen sich anhand des Materials detaillierte Schlußfolgerungen über die Auswirkungen der Kriege auf die soziale Lage der Bevölkerung und das Schicksal der Kriegsteilnehmer ziehen. Das Material ist von der Forschung bisher k a u m beachtet w o r d e n ; es verspricht jedoch f ü r sozialgeschichtliche Untersuchungen wesentliche Ergebnisse. 105

105

2.4.1. Abt. III Nr. 18997-19142. Vgl. weiter Bestand Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, Abt. VIII Medizinalverwaltung, ZStAM Rep. 76 Abt. VIII; Weiser, Johanna, Quellen zur Geschichte der Medizin und der Medizinalverwaltung in der Hist. Abt. II des Deutschen Zentralarchivs, in: NTM-Schriftenreihe, Naturwiss., Technik, Med., (1971) 1, S. 82-91. Er bildet die erste Hauptgruppe der rechts- und kulturpolitischen Abteilung: 2.4.1. Abt. III Zwischenstaatlicher Rechtsverkehr (14 839 AE).

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Mit der Vorstellung wesentlicher Dokumentationsbereiche des Bestandes Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten sollte der marxistisch-leninistischen Geschichtsforschung ein Einblick in das breitgefächerte Überlieferungsspektrum eines der wichtigsten Bestände des Staatlichen Archivfonds der DDR aus der Epoche des Kapitalismus vermittelt werden. Die Ausführungen sollten zugleich eine Anregung sein, bisher zu wenig genutztes Informationsmaterial in die historische Forschungsarbeit einzubeziehen.

Jozef

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Entwicklung und Tätigkeit des Instituts für Geschichte der europäischen sozialistischen Länder bei der Slowakischen Akademie der Wissenschaften

Im Jahre 1977 beging die Tschechoslowakische Akademie der Wissenschaften (CSAV) ihren 25. Gründungstag, und 1978 feierte auch die Slowakische Akademie der Wissenschaften (SAV) ihr 25jähriges Bestehen. Fünf Jahre nach dem historischen Sieg vom Februar 1948 schuf sich das slowakische Volk in der sozialistischen Tschechoslowakei seine höchste nationale wissenschaftliche Institution. Erst nach der Befreiung unseres Landes durch die Sowjetarmee sowie nach dem siegreichen Februar 1948 war es f ü r das slowakische Volk möglich, den Weg einer allseitigen ökonomischen, sozialen und kulturellen Entwicklung zu beschreiten. Diese beiden bedeutsamen historischen Ereignisse lagen auch der Entstehung und Entfaltung der sozialistischen Wissenschaft in der Slowakei, naturgemäß in enger Zusammenarbeit und in Einheit mit der tschechischen Wissenschaft und der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften, zugrunde. Dieses Jubiläum soll Anlaß sein, einen Überblick über die Entwicklung des Instituts f ü r die Geschichte der europäischen sozialistischen Länder zu geben. Eine der ersten wissenschaftlichen Arbeitsstätten, wissenschaftsorganisatorische Ausgangsbasis f ü r die Slowakische Akademie der Wissenschaften, w a r das heutige Institut f ü r die Geschichte der europäischen sozialistischen Länder bei der SAV (Qstav dejin euröpskych socialistickych krajin SAV - ÜDESK der SAV). Vorläufer dieses Instituts war das Tschechoslowakisch-sowjetische Institut bei der Slowakischen Akademie der Wissenschaften (Ceskoslovensko-sovietsky institüt SAV - CSI der SAV), bis Ende 1953 eine Institution mit vorwiegend propagandistischen und bibliographischen Aufgaben. Das Zentralinstitut in Prag und die Zweigstelle in Bratislava umfaßten nahezu alle wissenschaftlichen und technischen Fächer, und vor der Gründung der Akademien nahmen sie weitgehend deren Funktionen war. Im Mittelpunkt stand die Propagierung von Ergebnissen der sowjetischen Wissenschaft und Technik sowie der Kunst der Völker der UdSSR. Das CSI gab eine Serie von Zeitschriften unter dem Titel Sovietska veda (Sowjetwissenschaft) heraus, in denen Übersetzungen von grundlegenden Studien und Artikeln aus der sowjetischen Wissenschaft, Technik und Kunst veröffentlicht und regelmäßige Informationen - in Form von Überblicken - über das sowjetische wissenschaftliche Leben geboten wurden. Gleichzeitig trugen diese Zeitschriften zur Schaffung der Grundlagen f ü r eine tschechoslowakische marxistische Wissenschaft bei.

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Unter dem Gesichtspunkt der inneren Entwicklung der Arbeitsstätte, ihres theoretisch-methodologischen Reifens und der Effektivität ihrer Forschungsarbeit kann man in der Entwicklung des ÜDESK der SAV drei Etappen unterscheiden: In der 1. Etappe - von der Gründung 1953 bis zur Reorganisierung im Jahre 1963 - befaßte sich das Institut vor allem mit propagandistischen Aufgaben. In der 2. Etappe - 1963 bis 1970 - gewann die Arbeit des Instituts ein heuristischanalytisches, in der 3. Etappe (seit 1970) ein analytisch-synthetisches Profil. Die Mitarbeiter des ÜDESK der SAV sind mit umfangreichen Gemeinschaftsarbeiten über die Geschichte der bilateralen Beziehungen beschäftigt. Die gegenwärtige Etappe wird durch eine breitangelegte Koordination und internationale Arbeitsintegration gekennzeichnet. Es lag auf der Hand, daß die vom CSI zuvor ausgeübte Funktion der Propagierung der Sowjetwissenschaft nach der Gründung der CSAV und der SAV als integraler Bestandteil der einzelnen Wissenschaftsfächer an die jeweiligen Institute der beiden Akademien überging. Ebenso selbstverständlich war es, daß beide Akademien Forschungen zur komplexen Russistik (Studium der russischen Sprache, der Literatur und Geschichte der UdSSR) als eine selbständige wissenschaftliche Disziplin aufnahmen und Institute für russische Sprache, Literatur und Geschichte der UdSSR entstanden. Diese entwickelten nach der Gesamtrekonstruktion des ehemaligen CSI und seiner Zweigstelle in Bratislava ihre Forschungsarbeit auf der wissenschaftsorganisatorischen Grundlage des CSI der CSAV (Tschechoslowakisch-sowjetisches Institut bei der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften) und des CSI der SAV (Tschechoslowakisch-sowjetisches Institut bei der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften) als zwei selbständige wissenschaftliche Institute weiter. Seit ihrer Gründung arbeiten beide engstens zusammen und koordinieren ihre wissenschaftlichen Forschungsvorhaben. Man kann also zusammenfassend sagen, daß das CSI der CSAV und das CSI der SAV als wissenschaftliche Arbeitsstellen im Rahmen der Akademien zum Zwecke der Untersuchung der russischen Sprache sowie der Literatur und der Geschichte der Sowjetunion begründet wurden. Bei der Konstituierung dieser Institute war - infolge des ungleichmäßigen Entwicklungsstandes der Wissenschaft - die Situation in den tschechischen Kreisen und in der Slowakei unterschiedlich. Das Institut für russische Sprache, Literatur und Geschichte der UdSSR bei der Slowakischen Akademie der Wissenschaften (Qstav ruskeho jäzyka, literatüry a dejin ZSSR SAV) - ein J a h r später tätig als CSI der SAV - entstand durch den Zusammenschluß zweier kleinerer Arbeitsstellen, und zwar der Sektion für russische Sprache, Literatur und Geschichte der UdSSR bei der slowakischen Zweigstelle des CSI in Bratislava und der Abteilung „Russisches Wörterbuch" beim Institut für slowakische Sprache der Slowakischen Akademie der Wissenschaften. Die Kader des neuen Instituts setzten sich im wesentlichen aus Mitarbeitern dieser beiden kleineren Arbeitsstellen zusammen. Wie sich bereits aus dem Namen selbst ergibt, hatte das Institut drei Abteilungen: die Abteilung für russische Sprache, die Abteilung für russische und sowjetische Literatur und die

Entwicklung und Tätigkeit

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Abteilung Geschichte der UdSSR. Das Institut umfaßte demnach den Gesamtkomplex der Russistik und entsprach seiner organisatorischen Struktur nach dem Institut für Slawistik (Institut slavjanovedenija) der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Seit der Gründung unterhielten das CSI der SAV und das CSI der CSAV sehr enge Kontakte mit dem Moskauer Institut für Slawistik (später Institut für Slawenkunde und Balkanistik) und arbeiteten eng mit ihm zusammen. Bereits mit Schaffung des Instituts sah die Abteilung für russische Sprache als Hauptaufgaben vor, ein mehrbändiges großes russisch-slowakisches Wörterbuch 1 , sodann ein slowakisch-russisches Wörterbuch herauszugeben und den Wortschatz des Russischen im Vergleich zum Slowakischen zu bearbeiten. Die damit notwendig werdende Bearbeitung der russischen Grammatik im Vergleich mit dem Slowakischen - wichtig für die vergleichende Linguistik und speziell für eine optimale Aneignung der russischen Sprache in der Slowakei - wurde mit der Erarbeitung eines Handbuchs der russischen Grammatik begonnen. Die Hauptaufgabe der Abteilung Literatur war die Untersuchung der Geschichte der russisch-slowakischen und der tschechoslowakisch-sowjetischen literarischen Gemeinsamkeit und ihrer Wechselbeziehung. Diese Aufgabe war wissenschaftlich und politisch sowohl unter dem Aspekt der Erforschung der Traditionen als auch für die Herausbildung unserer jungen sozialistischen Literatur und Literaturwissenschaft äußerst bedeutsam. Im wesentlichen sollten die Kenntnisse über die russische und sowjetische Kultur vertieft und die Wirkung der sowjetischen und der russischen klassischen Literatur auf die Entwicklung unserer Literatur und unserer Kultur erforscht werden. Die Hauptaufgabe der Abteilung Geschichte war das systematische Studium der Geschichte der Völker der UdSSR und der Geschichte unserer Völker in den wechselseitigen Beziehungen, vor allem in der neueren und neuesten Zeit, aber auch im Feudalismus und in der Periode der ältesten Geschichte der Slawen. Es galt, vor allem die große Bedeutung Rußlands, der russischen revolutionären Bewegung, der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution und der Hilfe der Sowjetunion für den sozialen und nationalen Befreiungskampf unserer Völker und für den Aufbau des Sozialismus in unserem Lande verständlich zu machen. Als das Institut gegründet wurde, verfügten wir zur Thematik „Beziehungen zu Rußland" bis dahin nur über Arbeiten aus bürgerlicher Sicht. Günstiger war die Situation auf dem Gebiet unserer Beziehungen zur Sowjetunion, lagen doch bereits grundlegende Arbeiten von Klement Gottwald, Zdenek Nejedly, Jan Sverma, dokumentarisches Material über den Kampf unserer Partei vor. Von diesen Quellen sind wir ausgegangen. Die Mitarbeiter der Abteilung Geschichte setzten sich das Ziel, auch Fragen nachzugehen, denen man bis dahin ausgewichen war oder die idealisiert dargestellt worden waren, etwa Problemen des Slawophilentums, des Panslawismus und Slawismus. Hier standen wir vor der Aufgabe, den dialektischen Charakter dieser Erscheinungen im Leben unseres Volkes aufzudecken und die progres1

Vel'ky rusko-slovensky slovnik, Bratislava, I. Bd. 1960, 762 S.; II. Bd. 1963, 1009 S.; III. Bd. 1965, 1028 S.; IV. Bd. 1968, 792 S.; V. Bd. 1970, 789 S.

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siven Züge in u n s e r e n Beziehungen zum russischen Volk, zum R u ß l a n d der Dekabristen, der revolutionären Demokraten, zu d e m Land des Roten Oktober herauszuarbeiten. Der K a d e r b e s t a n d der Abteilung Geschichte erlaubte es damals jedoch lediglich, an einige P r o b l e m e dieses umfangreichen Katalogs heranzugehen, wie die Hilfe der UdSSR f ü r den Slowakischen Nationalaufstand, die Beziehungen zwischen d e m russischen u n d slowakischen Volk oder der Widerhall der antifeudalen Bewegung des ukrainischen Volkes in der Slowakei. Dazu k a m e n Untersuchungen über die A n f ä n g e der slawischen Industrie. Eine bedeutsame A u f g a b e des Instituts bestand darin, die Z u s a m m e n a r b e i t mit dem P r a g e r Institut bei der Redigierung u n d H e r a u s g a b e der Periodika Sovietska jazykoveda (Sowjetische Sprachwissenschaft), Sovietska literatüra (Sowjetliteratur) und Sovietska histöria (Sowjetische Geschichte) zu entwickeln, die die gemeinsamen Organe des tschechischen u n d des slowakischen Instituts u n d die organisatorische G r u n d l a g e f ü r eine enge Z u s a m m e n a r b e i t der tschechischen und slowakischen Russistik darstellten. Als im J u b i l ä u m s j a h r 1958 - zehn J a h r e nach d e m Sieg unseres Volkes im F e b r u a r 1948 und vierzig J a h r e nach der G r ü n d u n g der CSR - u n s e r e Gesellschaft Bilanz ü b e r den z e h n j ä h r i g e n Weg beim A u f b a u des Sozialismus zog, w a r dies uns Anlaß, die Arbeit u n d die Perspektiven des CSI der SAV zu überdenken. Die vergleichsweise k u r z e Zeit von fünf J a h r e n w a r eine Zeit der organisatorischen Festigung u n d inneren Konsolidierung der Arbeitsstelle, in der zunächst die Voraussetzungen f ü r die E r f ü l l u n g der d e m Institut gestellten A u f gaben geschaffen w u r d e n . Dieser Formierungsprozeß w a r jedoch so weit gediehen, d a ß die kritische Sichtung d e r bisherigen Arbeitsergebnisse des jungen Kollektivs die Entwicklungsperspektiven e r k e n n b a r e r machte. Die Arbeit des CSI d e r SAV w a r zu Beginn auf den russistischen u n d ukrainistischen P r o b l e m k o m p l e x ausgerichtet. Dabei erwies es sich als notwendig, auch die übrigen slawischen Länder, die die sozialistische Gesellschaft a u f b a u t e n , einzubeziehen. Das e r f o r d e r t e die enge Verflechtung u n d die Entwicklungsbedingtheit der slawistischen Thematik als einer Ganzheit, die n a t u r g e m ä ß in Beziehung zur historischen Entwicklung der Völker d e r CSR stand. Dashalb w u r d e n neben der russistischen T h e m a t i k auch die Polonistik u n d Bulgaristik in die Institutsarbeit einbezogen. Gleichzeitig b e g a n n sich der S c h w e r p u n k t d e r Forschungen auf historische P r o b l e m e zu verlagern, u n d zwar auf die neueste Geschichte der Beziehungen unserer Völker zu den Völkern der UdSSR u n d zu den übrigen volksdemokratischen Ländern. In keiner wissenschaftlichen Institution u n d in keinem Hochschulinstitut a u ß e r halb des CSI der SAV w u r d e d e r Problemkreis der innerslawischen Beziehungen systematisch bearbeitet. Eine A u s n a h m e bildeten hier lediglich einige A r beiten, die aus A n l a ß des 40. J a h r e s t a g e s der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution entstanden, sowie A b h a n d l u n g e n zur Geschichte der Arbeiterbewegung, in denen F r a g e n d e r Beziehung unseres Volkes resp. der Arbeiterklasse zum revolutionären russischen Volk vor der Oktoberrevolution behandelt w u r den. Wie die historische Literatur jener J a h r e ausweist, lagen ihr noch keine eigenständigen Forschungen zu den slowakisch-slawischen Beziehungen zu-

Entwicklung und Tätigkeit

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gründe; Schlußfolgerungen, die auf diesem Gebiet gezogen wurden, stützten sich größtenteils auf Material, das von der bürgerlichen Geschichtsschreibung gesammelt worden war. Die Mitarbeiter des CSI der SAV standen also auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaft vor der Aufgabe, die slowakisch-slawischen im Komplex der internationalen Beziehungen und insbesondere der slowakisch-russischen und tschechoslowakisch-sowjetischen Beziehungen gründlich zu untersuchen. Die Forschungen haben ergeben, daß diese Problematik entscheidend für die Lösung von grundlegenden Fragen der slowakischen Geschichte bereits des 19. Jh. ist, vor allem was den Prozeß der Herausbildung der slowakischen bürgerlichen Nation und die Entstehung und Entwicklung der slowakischen nationalen Ideologie anbelangt. Erst recht trifft dies für jene Zeit zu, in der sich die Arbeiterklasse unter Führung ihrer kommunistischen Partei an die Spitze des Kampfes um die nationale und soziale Befreiung stellte, und in der sich nach dem Sieg der Oktoberrevolution auf einem Sechstel der Erde der erste sozialistische Staat, die Sowjetunion, herausbildete. Damit erhielt dieser Fragenkomplex ein qualitativ neues Gewicht. In der historischen Abteilung des CSI der SAV enstanden mehrere Untersuchungen zu den tschechoslowakisch-sowjetischen Beziehungen während des zweiten Weltkrieges, so zur Unterstützung des Slowakischen Nationalaufstandes durch die UdSSR, zur Karpatenoffensive und zum Einmarsch der Roten Armee in die Ostslowakei, zur Waffenbrüderschaft der slowakischen und sowjetischen Partisanen in der Ukraine und in Belorußland. Arbeiten zur Geschichte der Ukrainer in der Ostslowakei sind in Vorbereitung. Die Historiker im CSI der SAV konzentrierten sich auf „Kapitel zur Geschichte der slowakisch-slawischen Beziehungen und Kontakte". Im Rahmen dieser Hauptaufgabe wurden die folgenden Probleme untersucht: Die slowakisch-russischen Beziehungen auf der Ebene des einfachen Volkes im 19. und 20. Jh. (die Salbenhändler [olejkäri] und Safranhausierer [sefranici] aus Turiec), der Kampf des slowakischen Volkes um die Anerkennung Sowjetrußlands, Durchzüge russischer Truppen durch das Gebiet der Slowakei am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jh., die Geschichte der Ukrainer in der Ostslowakei. Einige dieser Studien haben allmählich den Charakter von Monographien angenommen; sie wurden teils als Kandidaten-Dissertationen verteidigt, teils in den Slovanske stüdie oder in Buchform veröffentlicht. In den 60er Jahren erfolgte auf dem Gebiet der komplexen Slawistik - besonders innerhalb des CSI der CSAV und des CSI der SAV - ein Prozeß der Differenzierung der philologischen und historischen Forschungen, der 1963 zu einer Reorganisierung des CSI der CSAV und des' CSI der SAV führte. Auf der wissenschaftsorganisatorischen Grundlage des CSI der SAV wurden zu Beginn des Jahres 1964 zwei wissenschaftliche Arbeitsstellen konstituiert, und zwar das Institut für die Geschichte der europäischen sozialistischen Länder bei der Slowakischen Akademie der Wissenschaften (Üstav dejin euröpskych socialistickych krajin SAV) und das Institut für Weltliteratur und Sprachen (Üstav svetovej literatüry a jazykov). Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich auch in Prag. Auch in der Periode des erwähnten Differenzierungsprozesses Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre wurde die Arbeit des CSI der SAV auf allen drei For-

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Jozef

Hrozienöik

schungsgebieten fortgesetzt: auf dem Gebiet der Lexikographie, der Bearbeitung des Wortschatzes des Russischen, der Erforschung der slowakisch-russischen, der tschechoslowakisch-sowjetischen literarischen Beziehungen und - in verstärktem Umfang - auf dem Gebiet der Geschichte der Beziehungen zwischen den sozialistischen Ländern. Intensiv arbeitete man an dem Großen russisch-slowakischen Wörterbuch weiter; es entstanden Hand- und Fachwörterbücher sowie analytische Untersuchungen zur Lexikologie und Lexikographie. Auf literaturwissenschaftlichem Gebiet reiften allmählich die Arbeiten aus dem Bereich Komparativistik heran. Viele dieser Arbeiten wurden noch im CSI der SAV in Angriff genommen, die später entweder als selbständige Monographien in dem neuen Institut für Weltliteratur und Sprachen erschienen oder als Kandidaten-Dissertationen verteidigt wurden. Die historische Abteilung des CSI der SAV erweiterte ihr Forschungsgebiet: Neben der Geschichte der tschechoslowakisch-sowjetischen Beziehungen und der inneren Entwicklung des Sowjetlandes orientierten sich die Mitarbeiter auch auf die Beziehungen unserer Völker zu den sozialistischen Ländern Polen, Bulgarien, Jugoslawien und Ungarn und später auch zu Rumänien und zur DDR. Den Schwerpunkt der Forschungsarbeiten bildete allerdings weiterhin die slawische Thematik. Das neugeschaffene Institut für die Geschichte der europäischen sozialistischen Länder bei der Slowakischen Akademie der Wissenschaften vermochte so in vollem Umfang an die Arbeit der historischen Abteilung des ehemaligen CSI der SAV anzuknüpfen, sie zu vertiefen und um den aktuellen Problemkreis der Entstehung und Entwicklung des sozialistischen Weltsystems sowie der historischen Voraussetzungen für dessen Entstehung zu erweitern. Neben verschiedenen Monographien über innerslawische, vor allem aber über die tschechoslowakischen Beziehungen zum russischen Volk und zu den Völkern der Sowjetunion konnten grundlegende Materialien, analytische Aufsätze und Studien, z. T. im Zusammenwirken mit anderen Institutionen des In- und Auslandes, in den sechs Bänden der Slovanske stüdie, die bis zum Jahre 1964 erschienen, veröffentlicht werden. Den Schwerpunkt dieser Studien bildet der Problemkomplex der innerslawischen Beziehungen, und ihr Wert beruht in der Zusammenfassung und Analyse bisher unbekannten Quellenmaterials. Da außer tschechoslowakischen Wissenschaftlern auch ausländische Slawisten und Historiker in den Slovanske stüdie publizierten, konnte die Problematik der Beziehungen von beiden Seiten her beleuchtet werden, was günstige Bedingungen für eine relativ vollständige Bearbeitung des betreffenden Themas schuf. Außer diesen Aufgaben orientierte sich das Institut auch auf die Untersuchung der Beziehungen der sozialistischen Länder, ihrer nationalen Bewegungen und Kämpfe in der vorsozialistischen Periode, in der Zeit des Imperialismus und der proletarischen Revolutionen. Solche Forschungen sind natürlich ohne eingehende Untersuchungen der inneren Entwicklung der einzelnen sozialistischen Länder nicht möglich. Damit verfolgte es im wesentlichen zwei Ziele: Verwirklichung des Leninschen Postulats, die Geschichte der fortschrittlichen Kräfte in ihrem Kampf um nationale und soziale Freiheit zu untersuchen; Tendenzen der Annäherung der sozialistischen Länder und Nationen durch die Erforschung der

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Traditionen ihrer fortschrittlichsten Kräfte - von der Vergangenheit bis zur Gegenwart - zu fördern. Unter dieser Zielstellung entfaltete das zahlenmäßig nicht sehr große Kollektiv des ÜDESK der S A V in den vergangenen 25 Jahren eine weitverzweigte wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Arbeit. Die wenigen Kader des Instituts - eine Folge der komplizierten Entwicklung der slowakischen Wissenschaft vor der Befreiung des Landes - zwang die Leitung der Arbeitsstelle von Anfang an, die Kräfte des Instituts zu konzentrieren und durch Teams im gesamtstaatlichen Maßstab zu erweitern. Dabei konnte sich das ÜDESK der S A V vor allem auf das kadermäßig und organisatorisch stärkere Bruderinstitut in Prag stützen - das ehemalige Institut für die Geschichte der europäischen sozialistischen Länder (Üstav dejin evropskych sozialistickych zemi CSAV) und heutige Tschechoslowakisch-Sowjetische Institut der C S A V (Ceskoslovensko-sovetsky institut CSAV). Ergebnis der Zusammenarbeit sind Kollektivarbeiten und wissenschaftsorganisatorische Veranstaltungen (Konferenzen, Symposien). Innerhalb des Komplexes der Forschungen zur Geschichte der wechselseitigen Beziehungen zwischen den sozialistischen Ländern stand in den beiden ersten Etappen die Problematik der tschechoslowakisch-russischen und der tschechoslowakisch-sowjetischen Beziehungen im Vordergrund: Die schöpferische Auswertung der von der UdSSR beim Aufbau des Sozialismus gesammelten Erfahrungen ist ein wichtiger Kraftquell und stellt eines der grundlegenden Entwicklungsgesetze der sozialistischen Länder dar. Deshalb widmet das ÜDESK der S A V dem Studium der Geschichte der UdSSR und der tschechoslowakischsowjetischen Beziehungen vorrangige Aufmerksamkeit. Die brüderliche Freundschaft der fortschrittlichen Kräfte unserer Völker besitzt - wie die Geschichte dokumentiert - tiefe historische Wurzeln. Das russische Volk und seine hohe Kultur, sein revolutionäres Proletariat standen ständig im Blickpunkt der progressivsten Kulturschaffenden und Politiker des tschechischen und slowakischen Volkes. Entscheidende Situationen unserer Geschichte waren eng mit Ereignissen in Rußland verknüpft. Die Ideen der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution übten gewaltigen Einfluß auf die Entstehung des tschechoslowakischen Staates im Jahre 1918 aus. Während des zweiten Weltkrieges wurde die Freundschaft unserer Völker durch das gemeinsam vergossene Blut besiegelt; die Befreiung unseres Landes durch die Sowjetarmee und der Aufbau des Sozialismus verankerten sie fest. Von diesen historischen Prämissen ausgehend, erarbeiteten die Institutsangehörigen gemeinsam mit dem Prager Institut eine Reihe von Themen der Periode vom Ende des 18. Jh. bis zur Gegenwart. Einige dieser Forschungsergebnisse erschienen als Studien oder selbständige Monographien, andere in tschechoslowakisch-sowjetischen Sammelbänden, die entweder von unserem Institut oder als Gemeinschaftspublikation tschechoslowakischer und sowjetischer Historiker herausgegeben wurden.2 Sie bildeten den Ausgangspunkt für die Erarbeitung des 2

Vecnä

druzba.

Sbornik praci k tristemu vyroci opetneho sjednoceni U k r a j i n y s

Ruskem (Ewige Freundschaft. Sammlung von Arbeiten zum dreihundertsten Jahrestag

der

Slovanske 27 Jahr"buch 21

Wiedervereinigung

der

Ukraine

mit

Rußland),

Praha

1955, 572 S.;

stüdie. I. Z dejin ceskoslovensko-ukrajinskych vzt'ahov (Slawische Stu-

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Jozef Hroziencik

umfassend konzipierten Werkes; „Dejiny ceskoslovensko-sovietskych vzt'ahov" (Geschichte der tschechoslowakisch-sowjetischen Beziehungen). 3 Hatte das Mitarbeiterkollektiv des Instituts aus Anlaß des 40. Jahrestages der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution 1957 eine populärwissenschaftliche Publikation 4 und Archivmaterial für eine themengleiche Ausstellung in Bratislava erarbeitet, so nahm auch fernerhin diese Thematik der tschechoslowakischsowjetischen Beziehungen einen vorrangigen Platz ein. Besondere Aufmerksamkeit galt der Waffenbrüderschaft unserer Völker während des 2. Weltkrieges 5 , der internationalen Solidarität während des Slowakischen Nationalaufstands und besonders seiner Unterstützung durch die UdSSR 6 , dem Problemkreis des Kampfes um die außenpolitische Orientierung 7 , der Befreiung unseres Lande« durch die Sowjetarmee und der Hilfe der UdSSR bei der Rekonstruktion der dien. I. Zur Geschichte der tschechoslowakisch-ukrainischen Beziehungen), Bratislava 1957, 662 S.; Z istorii cechoslovac'ko-ukrajinskich svazkiv (Zur Geschichte der tschechoslowakisch-ukrainischen Beziehungen [Ukrainische Version]), Bratislava 1959, 687 S. CSSR a SSSR — Z bojü za svobodu a socializmus (CSSR und UdSSR — Aus den Kämpfen um Freiheit und Sozialismus), Praha 1961, 252 S.; Otäzky ndrodni a demokraticke revoluce v CSR (Fragen der nationalen und demokratischen Revolution in der CSR), Praha 1955, 344 S. 3 4 5

6

7

Erster Band, die Zeit zwischen 1917 und 1939, Manuskript im CSI der CSAV. 40 rokov ceskoslovensko-sovietskych vzt'ahov (40 Jahre tschechoslowakisch-sowjetische Beziehungen), Martin 1957, 50 S. Hroziencik, J., Ceskoslovensko-sovietske vzt'ahy v obdobi 2. svetovej vojny (Die tschechoslowakisch-sowjetischen Beziehungen in der Zeit des 2. Weltkrieges), Kandidaten-Dissertation, Bratislava 1960, 500 S.; Pivoluska, J., Ceskoslovensko-sovietske vzt'ahy po roku 1945 v historickej literatüre (Die tschechoslowakisch-sowjetischen Beziehungen nach dem Jahre 1945 in der historischen Literatur), in: Slovanske stüdie. VII. Histöria, Bratislava 1965, S. 155-165; derselbe, Ceskoslovenskosovietska spojeneckä zmluva z r. 1943 - jej ohlas a realizovanie v slovenskom hnuti odporu (Der tschechoslowakisch-sowjetische Bündnisvertrag vom Jahre 1943 - sein Widerhall und seine Verwirklichung in der slowakischen Widerstandsbewegung), in: V tradiciäch Vel'keho oktöbra (In den Traditionen des Großen Oktober), Bratislava 1967, S. 39-57; derselbe, Slovanskä myslienka na Slovensku po II. svetovej vojne (Der slawische Gedanke in der Slowakei nach dem 2. Weltkrieg), in: Slovanske stüdie. XII. Histöria, Bratislava 1971, S. 7-44. Medzinärodnä solidarita v Slovenskom närodnom povstani (Die internationale Solidarität im Slowakischen Nationalaufstand), Bratislava 1959, 278 S.; Hroziencik, J./Gondor, F., Neboli sme sami (Wir waren nicht allein), Bratislava 1964, 90 S.; Vel'ke dni boja za slobodu (Die großen Tage des Kampfes um die Freiheit), Bratislava 1964, 201S.; Slovenske närodne povstanie. Zbornik präc (Der Slowakische Nationalaufstand. Sammlung von Arbeiten), Bratislava 1965, 1218 S.; Pivoluska, J., Myslienka slovanskej solidarity v SNP (Der Gedanke der slawischen Solidarität im Slowakischen Nationalaufstand), in: Slovanskö stüdie. IX. Histöria, Bratislava 1967, S. 41-53. Pivoluska, J., K niektorym otäzkam zahranicnej orientäcie slovenskeho hnutia odporu do r. 1943 (Zu einigen Fragen der Auslandsorientierung der slowakischen Widerstandsbewegung bis zum Jahre 1943), in: Slovanske stüdie, IX. Histöria, Bratislava 1967, S. 54-81.

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kriegszerstörten Industrie und Volkswirtschaft unseres Landes. Vor allem anläßlich bedeutender Jubiläen konnten zu unterschiedlichen Aspekten der tschechoslowakisch-sowjetischen Beziehungen Beiträge vorgelegt werden - so zum 50. Jahrestag der Gründung der KPTsch, zum 100. Geburtstag V. I. Lenins, zum 55. und 60. Jahrestag der Oktoberrevolution und zum 50. Jahrestag der Gründung der UdSSR. Mitarbeiter des Instituts waren Teilnehmer oder sogar Organisatoren von Konferenzen, die der Geschichte der tschechoslowakisch-sowjetischen Beziehungen und ihren theoretisch-methodologischen Fragen gewidmet waren. So war das Institut im Oktober 1955 an der Prager Konferenz zum 50. Jahrestag der ersten russischen Revolution von 1905 bis 1907 beteiligt, die den außerordentlich starken Widerhall dieser Revolution in den böhmischen Ländern und in der Slowakei herausstellte. Im Mai 1956 veranstaltete das Institut gemeinsam mit Ukrainister aus der ganzen Republik in Presov eine Konferenz zur Geschichte der tschechoslowakisch-ukrainischen Beziehungen. Anläßlich des 40. Jahrestages der Oktoberrevolution untersuchte eine wissenschaftliche Konferenz 1957 den Einfluß dieses welthistorischen Ereignisses auf die tschechoslowakische Geschichte und Literatur. Die Smolenicer Konferenz über „Die Idee der slawischen Wechselseitigkeit und ihre Rolle im nationalen Befreiungskampf unserer Völker" vom Oktober 1959 zeigte den positiven Einfluß, den die demokratische Idee des Zusammenwirkens der fortschrittlichen Kräfte der slawischen Völker auf die historische Entwicklung unserer Völker hatte. 8 Von den wichtigeren wissenschaftsorganisatorischen Veranstaltungen in der dritten Entwicklungsetappe sind hervorzuheben: Die Symposien zum 100. Geburtstag V. I. Lenins 9 und zum 50. Jahrestag der Gründung der KPTsch 10 , die Kon8

9

10

27*

Materiäly z konferencie o myslienke slovanskej vzäjomnosti a jej ülohe v närodnooslobodzovacom boji nasich närodov (Materialien der Konferenz „Über den Gedanken der slawischen Wechselseitigkeit und ihre Rolle im nationalen Befreiungskampf unserer Völker"), Smolenice 12.-14. Oktober 1959, in: Historicky casopis, VII, 1960, Nr. 2-3. Vgl. u. a. die in Ss XI, Histöria, Bratislava 1971, S. 7-40 veröffentlichten Materialien dieses Symposiums: Borodovcäk, V., V. I. Lenin a närodnostnä otäzka v politickych koncepciäch pol'skych robotnickych strän (V. I. Lenin und die nationale Frage in den politischen Konzeptionen der polnischen Arbeiterparteien); Hroziencik, J., Vyznam dejin a historickeho poznania v diele V. I. Lenina (Die Bedeutung der Geschichte und der historischen Erkenntnis im Werk V. I. Lenins); Krajcovic, M., Lenin a balkänske vojny (Lenin und die Balkankriege); Pivoluska, J., Lenin a niektore otäzky partizänskeho hnutia (Lenin und einige Fragen der Partisanenbewegung). Vgl. u. a. Slovanske Studie, XI. Histöria, Bratislava 1971; 50 let KSC, 50 let präce a bojü za is.-sov. prätelstvi (50 Jahre KPTsch, 50 Jahre Arbeit und Kämpfe für die tschechoslowakisch-sowjetische Freundschaft), Praha 1971, ÜV ZCSP (Zentralvorstand der Gesellschaft f. tschechoslowakisch-sowjetische Freundschaft); KSC a nase priatel'stvo a spojenectvo so ZSSR (Die KPTsch und unsere Freundschaft und unser Bündnis mit der UdSSR), 2. Aufl., Bratislava 1975, 354 S. (Autorenkollektiv).

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ferenz zum 25. Jahrestag der Befreiung der Tschechoslowakei durch die Sowjetarmee, das Symposium zum 50. Jahrestag der UdSSR und die ebenfalls Ende 1972 durchgeführte wissenschaftliche Tagung zur sowjetischen Historiographie. Bei diesen Symposien und Konferenzen, die das ÜDESK der SAV veranstaltete, wurden stets die vielschichtigen Aspekte sowohl der Geschichte der Beziehungen der fortschrittlichen Kräfte als auch der wechselseitigen Beziehungen zwischen den sozialistischen Ländern herausgearbeitet. Aus den Forschungen über die Geschichte und die Beziehungen unserer Völker zu Polen, Bulgarien, Jugoslawien, Ungarn und in der letzten Zeit auch zu Rumänien erwuchsen zahlreiche monographische Arbeiten, gemeinsame Sammelbände sowie einige Versuche einer synthetischen Bearbeitung dieses Problembereichs. So entstanden Kollektivwerke zur Thematik der polnisch-slowakischen 11 , der tschechoslowakisch-jugoslawischen 12 , Studien zu den tschechoslowakisch-bulgarischen Beziehungen 13 , eine umfassend konzipierte Kollektivarbeit „Uberblick über die Geschichte Ungarns 1918 bis 1968"14 und erste Arbeiten über die Geschichte der slowakisch-rumänischen Beziehungen. 15 Die Untersuchungen haben gezeigt, daß wir die Wurzeln der tschechoslowakischsowjetischen Freundschaft in der Epoche des Sozialismus auch in der tschechoslowakischen nationalen Befreiungsi- und kommunistischen Bewegung in Sowjetrußland finden. Diese Thematik wurde bisher nur in partiellen Studien bearbei11

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13

14 15

Poliaci a my. Z tisicrofiia dejin slovensko-pol'skych vzt'ahov (Die Polen und wir. Zur tausendjährigen Geschichte der slowakisch-polnischen Beziehungen), Bratislava 1964, 211 S.; Hrozienöik, J., Slovensko-pol'ske vzt'ahy v obdobi druhej svetovej vojny. Medzinärodne sympözium 1968 (Die slowakisch-polnischen Beziehungen in der Zeit des zweiten Weltkrieges. Internationales Symposium 1968). II. sympözium, o dejinäch cs.-juhoslovanskych vzt'ahov. Belehrad 1971 (II. Symposium über die Geschichte der tschechoslowakisch-jugoslawischen Beziehungen. Beograd 1971). Vgl. u. a. Bystricky, V., Vznik Balkanskej dohody a ceskoslovenskä zahranicnä politika (Die Entstehung der Balkanentente und die tschechoslowakische Außenpolitik), in: Historicky casopis XV, 1967, H. 3, S. 365-387; Bystricky, V./Mancev, K., Bälgaro-jugoslavskoto sblizenie i Cechoslovakija (1935—1937) (Die bulgarischjugoslawische Annäherung und die Tschechoslowakei [1935-1937]), in: Istoriceski pregled, Softja 1968, S. 3-30; Ceskoslovensko-bulharske vzt'ahy v zrcadle stoleti (Die tschechoslowakisch-bulgarischen Beziehungen im Spiegel der Jahrhunderte), Praha 1963, 439 S.; Hroziencik, J., K otäzke solidarity l'udovych vrstiev balkänskych krajin s Ceskoslovenskom v obdobi mnichovskej krizy (Zur Frage der Solidarität der Volksschichten der Balkanländer mit der Tschechoslowakei in der Zeit der Münchener Krise), in: Slovanske Studie. XIII. Histöria, Bratislava 1972, S. 133-142. Prehl'ad dejin Mad'arska 1918-1968, Ms. im Archiv des ÜDESK, [940 Ms.-S.] Kovaäovicovd, H., Ceskoslovensko-rumunsky spolok v Bratislave (1929-1939) (Der Tschechoslowakisch-rumänische Verein in Bratislava [1929-1939]), in: Studia Balkanica-Bohemia-Slovaca. Brno 1970, S. 152-159; dieselbe, Rumunsko-slovenske kultürne vzt'ahy v rokoch 1918-1939 (Die rumänisch-slowakischen kulturellen Beziehungen in den Jahren 1918-1939), in: Slovanske stüdie. XII. Histöria, 1971, S. 140-157.

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tet und harrt einer Synthese. Der Problemkreis des slawischen Gedankens und seiner Bedeutung innerhalb der fortschrittlichen Bewegung unserer Völker, die Frage unserer Beziehungen zu den slawischen Völkern im allgemeinen und speziell zum russischen Volk und zur Sowjetunion mündeten in zwei Kollektivarbeiten, von denen die eine Konferenzergebnisse reproduziert 16 , die andere den ersten Versuch darstellt einer synthetischen Übersicht über Rolle und Entwicklung des Gedankens der slawischen Wechselseitigkeit in unserer Geschichte bis zu seinem Ausklingen und seiner Transformation in der Epoche der sozialistischen Revolution in der CSSR.17 Diese Gemeinschaftsarbeit der Institute in Prag und Bratislava untersucht den Gedanken der slawischen Wechselseitigkeit in der Konfrontation mit dem proletarischen Internationalismus. Die Institutsmitarbeiter waren auch an der Erarbeitung synthetischer Werke auf dem Gebiet der tschechoslowakisch-sowjetischen Beziehungen beteiligt. Diese sind ein Ergebnis der gemeinsamen Arbeit tschechoslowakischer Geschichtswissenschaftler (bei der Edition von Dokumenten auch der Zusammenarbeit mit sowjetischen Historikern) und stellen einen wichtigen Schritt zur vertieften Einsicht in die tschechoslowakisch-sowjetischen Beziehungen der Freundschaft und allseitigen Zusammenarbeit dar, als eines zentralen Faktors der außenpolitischen Orientierung unseres Landes. 18 Dabei wurden die offiziellen staatlichen Beziehungen und die fortschrittlichen Komponenten vor dem Hintergrund der gesamteuropäischen Entwicklung anhand neuer Materialien differenziert dargestellt. Der grundlegenden Bedeutung der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution f ü r die weitere geschichtliche Entwicklung ist eine Publikation gewidmet, die zu ihrem 60. Jahrestag vom Institut herausgegeben wurde und an der Wissenschaftler aus mehreren historischen Institutionen der CSSR mitwirkten. Sie untersucht den Einfluß der Oktoberrevolution auf das Weltgeschehen bis zur Gegenwart. 19 In einem Kollektivwerk 20 wird auf der Grundlage einer soliden Analyse des historischen Materials die komplizierte Geschichte der Beziehungen zwischen den Völkern der Tschechoslowakei und Jugoslawien von den ältesten Zeiten bis m

17

w

Z bojü za svobodu a socializmus. Üloha SSSR v osvobozeneckych bojich a budovatelskem üsili ceskeho a slovenskeho lidu (Aus den Kämpfen um Freiheit und Sozialismus. Die Rolle der UdSSR in den Befreiungskämpfen und beim Aufbaustreben des tschechischen und slowakischen Volkes), Praha 1961, 254 S. Slovanstvi v n&rodnim, zivote Cechü a slovakü (Das Slawentum im nationalen Leben der Tschechen und Slowaken), Praha 1968, 500 S. Pfehled dejin ceskoslovensko-sovütskych vztahü v üdobi 1917-1939 (Uberblick über die Geschichte der tschechoslowakisch-sowjetischen Beziehungen in der Zeit

von 1917 bis 1939), Praha 1975, 465 S.; Ceskoslovensko-sovetske 10

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vztahy jako faktor

mezinärodni politiky (1917-1970) (Die tschechoslowakisch-sowjetischen Beziehungen als Faktor der internationalen Politik [1917-1970]), Praha 1975, 310 S. Zivy odkaz Vel'keho oktöbra (Das lebendige Vermächtnis des Großen Oktober), Bratislava 1977, 262 S. Ceskoslovensko a Juhoslävia (Die Tschechoslowakei und Jugoslawien), Bratislava 1968, 440 S.

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1948 umrissen. Die tschechoslowakisch-bulgarischen Beziehungen wurden in einer Reihe von analytisch-synthetischen Studien behandelt - besonders intensiv im Zusammenhang mit dem 90. Geburtstag G. Dimitrovs 21 - und die bisherigen Forschungen in mehreren Arbeiten zusammengefaßt. 22 Einen bedeutenden Platz in der Forschungsarbeit nimmt die neueste Geschichte unseres südlichen Nachbarn Ungarn ein. Der erste Versuch eines Überblicks über die Zeit 1918 bis 1968 (im Druck) wurde von einem größeren Kollektiv tschechoslowakischer Hungarologen unter der Leitung des ÜDESK der SAV als Hauptkoordinator erarbeitet. Die Arbeiten zur Geschichte der Zwischenkriegszeit und der Entwicklung nach 1945 sowie der Beziehungen des tschechischen und des slowakischen Volkes zum ungarischen Volk werden fortgeführt. Es liegen bereits einige Studien vor. 23 Mit der Frage der Friedenspolitik der UdSSR, ihrer Kontinuität vom Dekret über den Frieden bis zur Gegenwart, und mit Problemen der kollektiven Sicherheit befaßt sich eine breit angelegte Gemeinschaftsarbeit 24 , die in einem historischen und sachlichen Abriß die Grundsätze der von der UdSSR und den anderen sozialistischen Ländern betriebenen Friedenspolitik erläutert. Autoren waren außer Wissenschaftlern der CSSR Historiker aus nahezu allen sozialistischen Ländern Europas. Aus der Untersuchung der Geschichte der einzelnen europäischen sozialistischen Länder ergab sich die Notwendigkeit, auch die internationalen Beziehungen und Probleme der revolutionären Bewegung in die Forschungsarbeiten einzubeziehen. 25 21

21

23

Bystricky, V., Revolucionär G. Dimitrov (Der Revolutionär G. Dimitrov), Bratislava 1972, 120 S.; G. Dimitrov. Vyber z prejavov a clänkov (G. Dimitrov. Auswahl aus Reden und Aufsätzen). Zusammengestellt v. V. Bystricky, Bratislava 1972, 390 S. Prehl'ad ceskoslovensko-bulharskych vzt'ahov do r. 1945 (Überblick über die tschechoslowakisch-bulgarischen Beziehungen bis 1945), Praha, im Druck. In Zusammenarbeit des CSI der SAV und des ÜDESK der SAV wurde vorbereitet: Edicia ceskoslovenskych dokumentov k dejinäm Bulharska (Edition tschechoslowakischer Dokumente zur Geschichte Bulgariens), 3 Bde., hrsg. von der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften Sofia (im Druck). Zähorskä, D., Mad'arsko 1963-1968 (Ungarn 1963-1968), in: Slovanske stüdie. XII. Histöria, Bratislava 1971, S. 45-62; dieselbe, Korene demokratickej obrody Mad'arska po druhej svetovej vojne (Die Wurzeln der demokratischen Erneuerung Ungarns nach dem zweiten Weltkrieg), in: Ebenda, XIII. Histöria, Bratislava 1972, S. 70-87; dieselbe, Pociatky vyvinu mad'arskej l'udovej demokracia (Die Anfänge der Entwicklung der ungarischen Volksdemokratie), in: Slovansky prehled, 1972, H. 6, S. 469-475.

'-"* Kolektivna bezpecnost' v minulosti a sücasnosti (Kollektive Sicherheit in Vergangenheit und Gegenwart), Bratislava 1977, 319 S. 25 Bystricky, VJDeäk, L., Europa na prelome (Europa im Umbruch), Bratislava 1974, 432 S.; Bistricki (= Bystricky) V., Mancev, K., Bälgarija i nejnite säsedi (Bulgarien und seine Nachbarn), Soft ja 1978, 307 S.; Vybrane kapitoly z dejin euröpskych socialistickych krajin (Ausgewählte Kapitel aus der Geschichte der europäischen sozialistischen Länder), Bratislava 1975, 336 S. (Sammelband zum 60. Geburtstag des Institutsdirektors Jozef Hroziencik).

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Die geschichtliche Entwicklung der sozialistischen Länder Mittel-, Ost- und Südosteuropas kann in ihrer tatsächlichen Bedeutung erst im gesamteuropäischen Kontext umfassend herausgearbeitet werden. Deshalb sind in der Perspektive die Forschungsarbeiten auch auf einige nichtsozialistische Länder auszudehnen. Das ÜDESK der SAV hat mit Forschungen zum Zerfall Österreich-Ungarns und zur Entstehung des österreichischen Staates begonnen. 20 Bei der Erforschung der vorsozialistischen Periode handelt es sich um Probleme der historischen Entwicklung der Völker in den heutigen sozialistischen Ländern, ihrer Beziehungen untereinander und zu den übrigen, auch nichtslawischen Völkern der vorsozialistischen Epoche, die als historische Faktoren zweifellos Einfluß auf die weitere Entwicklung besaßen. Dazu gehört die Rolle der Polenfrage bei der Herausbildung des Gedankens der slawischen Wechselseitigkeit als Bestandteil der slowakischen nationalen Verteidigungsideologie vor dem ersten Weltkrieg oder die Haltung der polnischen Politiker (von den Konservativen über die Demokraten bis zu den Sozialisten) zum Problem der slowakischen nationalen Befreiung und einer Umgestaltung der Habsburgermonarchie nach dem Nationalitätsprinzip. 27 Zu erwähnen wären weitere wichtige Themen wie das gemeinsame Vorgehen der fortschrittlichen Kräfte unter den Slowaken, Rumänen und Serben in den nationalen Befreiungskämpfen der zweiten Hälfte des 19. Jh. oder die Haltung der Repräsentanten der Balkanvölker, der Kroaten, Serben und Slowenen, zur nationalen Frage in der Habsburgermonarchie und ihr Verhältnis zur nationalen Befreiungsbewegung. 28 Die Aufmerksamkeit der 26

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Koväc, D., K otäzke nemecko-raküsko-uhorskeho spojenectva v poslednom obdobi svetovej vojny (Zur Frage des deutsch-österreichisch-ungarischen Bündnisses in der letzten Etappe des ersten Weltkrieges), in: Slovanske stüdie. XII. Historia, Bratislava 1971, S. 201-220; derselbe, Anslusove a protianslusove tendencie raküskych burzoäznych strän a socialnej demokracia v roku 1918 (Tendenzen für und gegen den Anschluß bei den österreichischen bürgerlichen Parteien und bei der Sozialdemokratie im Jahre 1918), in: Ebenda, XIII. Historia, Bratislava 1972, S. 173-205. Borodovcäk, V., Poliaci a slovensky närodny zäpas v rokoch dualizmu. Poliaci a myslienky slovanskej vzäjomnosti v slovenskej närodnej ideologii na prelome 19. a 20. stor. (Die Polen und der slowakische nationale Kampf in den Jahren des Dualismus. Die Polen und die Funktion des Gedankens der slawischen Wechselseitigkeit in der slowakischen nationalen Ideologie an der Wende des 19. und 20. Jh., Bratislava 1969, 462 S., derselbe, Ruskä politika na Balkäne a Sloväci v predvecer 1. svetovej vojny (Die russische Politik auf dem Balkan und die Slowaken am Vorabend des 1. Weltkrieges), in: Slovanske stüdie. XI. Historia, Bratislava 1971, S. 141-157; derselbe, Poliaci a prävo Sloväkov na sebaurcenie pred prvou svetovou vojnou (Die Polen und das Selbstbestimmungsrecht der Slowaken vor dem ersten Weltkrieg), in: Ebenda, XII. Historia, Bratislava 1971, S. 63-86; derselbe, J. Palärik a Slovanstvo (J. Palärik und das Slawentum), in: Slovansky prehled, 1972, H. 4, S. 266-272. Krajcovic, M., Slovenskä politika v strednej Euröpe 1890-1901. Spolupräca Rumunov, Sloväkov a Srbov (Slowakische Politik in Mitteleuropa 1890-1901. Die Zusammenarbeit der Rumänen, Slowaken und Serben), Bratislava 1971, 304 S.; Hroziencik, J., Safärik und der nationale und politische Befreiungskampf der slawischen Völker, in: JbGUdSSR, 1962, S. 173-188.

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Forscher verdienen auch die Migrationen der Balkanvölker nach Mitteleuropa im Gefolge der Türkenkriege29, die mittelalterlichen Handelsbeziehungen zwischen Rußland, unseren Ländern und Westeuropa, die Anfänge staatlichen Lebens bei den Slawen30, aber auch die ältere Problematik der slawisch-awarischen und der russisch-byzantinischen Beziehungen.31 In den vorliegenden Arbeiten ist reiches Material zu den innerslawischen und internationalen Beziehungen zusammengetragen und analysiert worden. In ihnen werden die Kämpfe der fortschrittlichen Kräfte dieser Länder für die nationalen Rechte und die nationale Emanzipation in der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolutionen verfolgt, ihre Beziehungen in der Zwischenkriegszeit, ihr gemeinsamer Kampf gegen die faschistische Aggression, Fragen der Entwicklung nationaler und demokratischer Revolutionen sowie ihr Hinüberwachsen in sozialistische Revolutionen untersucht. Zentraler Aspekt aller dieser Arbeiten sind die Beziehungen der betreffenden Staaten zur Sowjetunion sowie die Herausbildung und Entwicklung des sozialistischen Weltsystems. Gleichzeitig tragen sie auch zur besseren Kenntnis der nationalen Geschichte der Tschechen und Slowaken und ihres Platzes in der sozialistischen Staatengemeinschaft bei. So liefert die wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Produktion des ÚDESK der SAV neben der Erarbeitung gnoseologischer und theoretisch-methodologischer Fragen wertvolles Material, das für die Erziehung der jungen Generation zum sozialistischen Patriotismus und proletarischen Internationalismus 29

Kucerová, K., Chorváti a Srbi v strednej Európe. K etnickym, hospodárskym a sociálnym otázkam v 16. a 17. stor. (Kroaten u n d Serben in Mitteleuropa. Zu ethnischen, wirtschaftlichen u n d sozialen Fragen im 16. und 17. Jh.), Bratislava 1976, 327 S. 30 Halaga, O. R., Spojenia slovanskych miest s Pol'skom a Rusou do 16. stor. (Verbindungen slawischer/slowakischer Städte mit Polen und der Rus' bis zum 16. Jh.), in: Historické stúdie. XI, Bratislava 1965, S. 139-164; derselbe, Pol'skä sol'na Slovensku v stredoveku (Polnisches Salz in der Slowakei im Mittelalter), i n : Tisic let cesko-polské vzájemnosti (Tausend J a h r e tschechisch-polnische Gemeinsamkeit), Opava 1966, S. 232-271; derselbe, „Jus slavorum" a „platea sclavorum" stredovekych miest Uhorska. („Jus slavorum" und „platea sclavorum" der mittelalterlichen Städte Ungarns), i n : Historické Stúdie. XII, Bratislava 1967, S. 123-151; derselbe, Slovensko-ruské styky pred národnym obrodením (Slowakisch-russische Kontakte vor der nationalen Wiedergeburt), in: Histórica Carpatica. I, 1969, S. 67 bis 91; Avenarius, A., K otázke polohy a vzniku Samovej rise (Zur Frage der Lage und der Entstehung von Samos Rsich), i m Historické Stúdie. XIII, Bratislava 1968, S. 177-200. '•>' Avenarius, A., Avarské vpády a ochrana byzantskych provincií na Balkáne v 7. stor. (Die Awareneinfälle u n d der Schutz der byzantinischen Balkanprovinzen im 7. Jh.), gedr. in: Studia Balcanica bohemo-slovaca, Brno 1969; derselbe, K problematike avarsko-slovanského vzt'ahu na dolnom Dunaji v 6.-7. stor. (Zur Problematik der awarisch-slawischen Beziehung an der unteren Donau im 6.-7. Jh.), in: Slovanské stúdie. XI. Historia, Bratislava 1971, S. 223-245; derselbe, Avarsko-slovanské vzt'ahy na Dolnom Dunaji v VI. a VII. stor. (Die awarischslawischen Beziehungen an der unteren Donau im 6. und 7. Jh.), in: Histórica Slovaca.

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und f ü r eine tiefere Einsicht in die Prozesse der Annäherung der sozialistischen Länder und ihrer Völker auf dem Prinzip einer allseitigen freien Entwicklung nutzbar gemacht werden kann. Auch in den nächsten Jahren wird der angedeutete Trend in der Editionstätigkeit anhalten und das Institut die Herausgabe umfangreicher Dokumentensammlungen fortsetzen. Zu den bereits erwähnten Ausgaben werden Dokumenty k pokrokovym ceskoslovensko-pol'skym vzt'ahom po r. 1944 (Dokumente zu den fortschrittlichen tschechoslowakisch-polnischen Beziehungen nach dem Jahre 1944) kommen, die gegenwärtig vorbereitet werden. Mehrere Monographien sind bereits im Druck bzw. werden zur Veröffentlichung vorbereitet: V. By strick y / J. Hroziencik, Spolocne v boji (Gemeinsam im Kampf), D. Cierna, O nové Madarsko (Um ein neues Ungarn), D. Kovác, Od Dvojspolku k politike anslusu (Vom Zweibund zur Politik des Anschlusses), M. Krajcovic, Chorváti a Slováci v národnooslobodzovacom zápase do Vel'kej októbrovej socialistickej revolúcie (Kroaten und Slowaken im nationalen Befreiungskampf bis zur Großen Sozialistischen Oktoberrevolution). Im Stadium der Vorbereitung befinden sich weitere Monographien: J. Hroziencik, Boj pokrokovych sil európskych národov proti fasizmu (Der Kampf der fortschrittlichen Kräfte der europäischen Völker gegen den Faschismus), B. Ferencuhová, Vstup ZSSR do svetovej diplomacie (Der Eintritt der UdSSR in die Weltdiplomatie), E. Ivanicková, K základom vzt'ahov medzi CSR a NDR 1945-1949 (Über die Grundlagen der Beziehungen zwischen CSR und DDR 1945-1949), D. Cierna, Nová orientácia mad'arskej zahranicnej politiky (Die Neuorientierung der ungarischen Außenpolitik), V. Borodovcak, Poliaci a nase národy na dejinnej krizovatke (Die Polen und unsere Völker an einem historischen Kreuzweg), V. Bystrickíj, Balkánske státy pred II. svetovou vojnou (Die Balkanstaaten vor dem 2. Weltkrieg), L. Deák, Protirecenia burzoáznych státov v strednej Európe a boj ZSSR za mier a kolektívnu bezpecnost' (Die Widersprüche der bürgerlichen Staaten in Mitteleuropa und der Kampf der UdSSR um Frieden und kollektive Sicherheit), T. Ivantysynová, Rusko a národnoemancipacny zápas Cechov a Slovákov v pol. 19. stor. (Rußland und der nationale Emanzipationskampf der Tschechen und Slowaken in der Mitte des 19. Jh.). Der Überblick zeigt, daß das Institut seiner Konzeption treu geblieben ist, besonderen Nachdruck auf die Erforschung der neuesten Geschichte zu legen, aber dabei auch die historische Kontinuität nicht außer acht zu lassen. Diese Arbeit des ÜDESK der SAV w a r bis zum J a h r e 1970 in zwei Hauptaufgaben des Staatsplanes fixiert: 1. Herausbildung und Entwicklung des sozialistischen Weltsystems. 2. Die nationalen Bewegungen in Mittel-, Südost- und Osteuropa. Im 5. Fünfjahrplan 1971 bis 1975 nahm das Institut mit seiner gesamten Kapazität an zwei staatlichen Aufgaben teil: 1. Herausbildung und Entwicklung des sozialistischen Weltsystems (VIII-3-6). 2. Die Beziehungen der Völker der Tschechoslowakei zu den anderen slawischen Völkern (VIII-3-7). Im Rahmen des 6. Fünfjahrplanes (1976 bis 1980) konzentriert sich die wissen-

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schaftliche Forschungstätigkeit des Instituts auf die Untersuchung zweier Hauptaufgaben f ü r die Grundlagenforschung: 1. Die Herausbildung und Entwicklung des sozialistischen Weltsystems und der Platz der Tschechoslowakei in der sozialistischen Staatengemeinschaft) (VIII-4-6). 2. Traditionen der Befreiungs- und revolutionären Kämpfe in der Geschichte der sozialistischen Länder (VIII-4-7). Zielrichtung des ersten Themenkomplexes ist es, den Prozeß der Herausbildung und Entwicklung des Sozialismus in den einzelnen sozialistischen Ländern Europas zu erforschen, die inneren und äußeren Bedingungen dieses Prozesses, die historische Unausweichlichkeit und die Gesetzmäßigkeiten der Entstehung und Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft zu erläutern. Zugleich soll die Geschichte der Beziehungen der Länder der sozialistischen Staatengemeinschaft vom Standpunkt der internationalen Zusammenarbeit untersucht werden, wobei besonderer Nachdruck auf die Beziehungen zwischen der UdSSR und der CSSR gelegt wird. Im zweiten Themenkomplex geht es um die Erforschung der revolutionären Kämpfe in der Geschichte der sozialistischen Länder, ihrer proletarischen und bürgerlichen Konzeptionen zur Lösung der politischen, wirtschaftlichen und nationalen Probleme und der revolutionären Traditionen in den Beziehungen zwischen den Völkern der CSSR und den anderen Völkern der sozialistischen Staatengemeinschaft vor 1945, notwendige Voraussetzungen f ü r eine wissenschaftliche Darstellung der historischen Bedingungen f ü r die Herausbildung des sozialistischen Systems. Hauptkoordinator des ersten Problemkomplexes, der thematisch im wesentlichen unverändert blieb, ist Prof. Dr. Vaclav Kräl, Direktor des CSI der CSAV. Die zweite Aufgabe wurde inhaltlich genauer spezifiziert. Ihr Koordinator ist Prof. Dr. Jozef Hroziencik, der Direktor des ÜDESK der SAV. Die Kollektive beider Institute sind an beiden Staatsaufgaben beteiligt und zugleich Koordinationszentren jeweils einer der im Staatsplan fixierten Aufgaben. Derartige wechselseitige Koordination und Arbeitsteilung kommen unseren Forschungsbedingungen sehr entgegen. Das zur Zeit einzige Periodikum des ÜDESK der SAV sind - wenn man vom Anteil des Instituts an der vom CSI der CSAV in Prag herausgegebenen Zeitschrift Slovansky prehled (Slawische Rundschau) absieht - die Slovanske stüdie (Slawische Studien, im folgenden: SS). Bis zum Jahre 1964 waren sie, ebenso wie das ehemalige CSI der SAV, durch eine komplexe Thematik gekennzeichnet. Außer historischen Studien wurden in den SS auch literaturwissenschaftliche und linguistische Beiträge veröffentlicht. Die Gliederung des CSI der SAV in zwei Arbeitstellen, in das ÜDESK der SAV und in das Institut f ü r Weltliteratur und Sprachen, f ü h r t e naturgemäß auch zur Aufspaltung der SS, die nun zum J a h r buch des ÜDESK der SAV wurden. Die SS hatten jedoch bereits zuvor ein überwiegend historisches Profil. Nr. 7 (1966) entstand bereits im Rahmen des ÜDESK der SAV und behandelt ausschließlich historische Probleme. Der programmatische Leitartikel betonte, daß die Slovanske stüdie (Histöria) als Publikations-

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organ des ÜDESK der SAV wissenschaftlichen Forschungsarbeiten zur Herausbildung und Entwicklung des sozialistischen Weltsystems, zur Geschichte der Völker und Staaten Mittel- und Osteuropas und ihrer wechselseitigen Beziehungen von der Vergangenheit bis in die jüngste Zeit publizieren werden. Bereits diese Nummer 7 war thematisch dementsprechend durch Studien zu historischen Aspekten der Beziehungen unserer Völker zu anderen - vor allem slawischen - Völkern geprägt. Nr. 8 der SS (1966) behandelt Probleme der Geschichte Südosteuropas und der Beziehungen zwischen den Balkanvölkern. Nr. 9 (1967) war dem 50. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution gewidmet und enthält analytische Studien, die auf einige Aspekte des revolutionären Prozesses zwischen den beiden Weltkriegen hinweisen und den Platz und die Rolle der einzelnen Klassen und gesellschaftlichen Kräfte hinsichtlich der Stellung zur Sowjetunion kennzeichnen, sowohl unter dem Aspekt der innerstaatlichen Entwicklung als auch dem der Außenpolitik. Besondere Aufmerksamkeit galt in dieser Nummer den tschechoslowakisch-sowjetischen Beziehungen, und zwar in breiterem mitteleuropäischem Kontext. Im Materialteil wurden Studien über den Widerhall der Oktoberrevolution in der Ukraine, in Bulgarien, Rumänien, Polen und Ungarn veröffentlicht. Die zehnte Nummer der SS (1968) konzentrierte sich vor allem auf die geschichtlichen Beziehungen zwischen den heutigen sozialistischen Staaten; sie veröffentlichte Beiträge zu den deutsch-slowakischen Beziehungen, zur Außenpolitik der Balkanstaaten in den 30er Jahren und berichtete über die neuesten ungarischen Forschungen zur Periode der Volksdemokratie. Die elfte Nummer (1971) ist dem 100. Geburtstag V. I. Lenins gewidmet. Im ersten Teil finden sich die Referate des Symposiums zum 100. Geburtstag Lenins, im zweiten Teil Studien über das Wirken der fortschrittlichen Kräfte in der neueren Geschichte. Nr. 12 (1971) geht auf Aspekte des nationalen Befreiungskampfes der Slowaken während einer längeren geschichtlichen Entwicklung ein, und zwar im Konnex des Kampfes der fortschrittlichen Kräfte der mittel- und osteuropäischen Völker in der Zwischenkriegszeit bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges. Ferner wurde die neueste Geschichte Ungarns aufgegriffen. Der 50. Jahrestag der Gründung der UdSSR ist Inhalt der 13. Nummer der SS (1972); sie befaßt sich u. a. mit dem Aufbau des Sowjetstaates, unserem Bündnis und unserer Freundschaft mit der Sowjetunion, mit Problemen der internationalen Beziehungen und Kämpfen der fortschrittlichen Kräfte in der Vergangenheit. Die Nummer 14 (1973) der SS ist thematisch vielseitiger. Sie enthält Beiträge über den proletarischen Internationalismus im gegenwärtigen Kampf der fortschrittlichen Kräfte gegen den Imperialismus, zum Kampf um den politischen Charakter Ungarns in den ersten Nachkriegsjahren, zu internationalen, speziell tschechoslowakischen Beziehungen gegenüber den Balkanstaaten in der Zwischenkriegszeit. Der Materialteil gehört der älteren slowakischen Geschichte an. Die 15. Nummer des SS (1973) geht auf das 20jährige Jubiläum der Slowakischen Akademie der Wissenschaften ein. Neben einer Darstellung des polnischen Aufstandes von 1863 und dessen Widerhall in der tschechischen und slowakischen Öffentlichkeit bringt sie Forschungsergebnisse zu den tschechoslowakisch-rumänischen Beziehungen 1848 bis 1918, Untersuchungen zur Abrüstungsproblematik

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in Europa zwischen 1932 und 1933, zur Tätigkeit der Organisationen der tschechoslowakisch-sowjetischen Freundschaft in der Slowakei 1945 bis 1948 und zur Herausbildung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit der Tschechoslowakei mit den europäischen sozialistischen Ländern 1945 bis 1953, zum Kampf um die Schaffung einer kommunistischen Jugendorganisation in der Tschechoslowakei sowie zur sowjetischen Diskussion über das Slawophilentum. Der antifaschistische Kampf, die Bemühungen um internationale Zusammenarbeit der Linkskräfte nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie, die innerslawischen Beziehungen im 19. Jh., der Handel zwischen Ungarn, Polen und Preußen vom 13. bis zum 15. Jh., die deutsche Politik gegenüber Jugoslawien 1939 und Materialstudien zur sowjetischen, deutschen und rumänischen Geschichtsschreibung sind Themen des 16. Bandes der SS (1975). Nr. 17 (1976) konzentriert sich überwiegend auf den 30. Jahrestag der Befreiung der heutigen sozialistischen Länder durch die Sowjetarmee. Darüber hinaus werden revolutionäre Bewegungen fortschrittlicher Kräfte, Fragen des zweiten Balkankrieges aus dem Blickwinkel der slowakischen Presse, der Stand der Forschungen zum antiösterreichischen Aufstand in der Boka Kotorska (Bocche di Cattaro) 1869 und der Widerhall der nationalen Bewegungen der Slawen in englischen und französischen Arbeiten behandelt. Der 18. Band der SS (1977) bietet Studien zur internationalen Zusammenarbeit der sozialistischen Länder, über die internationalen Beziehungen und Verbindungen im 19. und 20. Jh., Informationen über den XI. gesamtstaatlichen Kongreß der polnischen Historiker (1974) und wertet den Bauernaufstand unter Mate Gubec als eine revolutionäre Tradition des kroatischen und slowenischen Volkes in der internationalen Historiographie. Auch die beiden nachfolgenden Nummern der SS, die sich im Druck befinden (Nr. 19 und 20), sind bedeutsamen Ereignissen der Weltgeschichte und der tschechoslowakischen Nationalgeschichte, aktuellen Jubiläen, den internationalen Beziehungen und der historischen Entwicklung in den einzelnen sozialistischen Ländern Europas in der neueren und neuesten Geschichte gewidmet. Der allmähliche Ausbau des Forschungsbereichs im Programm des ODESK der SAV sowie die Notwendigkeit, Neuerscheinungen und Entwicklungen der Geschichtswissenschaft in den sozialistischen Ländern, aber auch die Publikationen der bürgerlichen Historiographie systematisch zu verfolgen, erfordern dringend, die SS in eine Zeitschrift umzuwandeln. In die gleiche Richtung drängt die Tendenz zur planmäßigen Koordinierung und Integration der wissenschaftlichen Forschung. Die erwähnten Aufgaben und Funktionen können die SS infolge ihres langwierigen zweijährigen Produktionszyklus nur teilweise erfüllen. Allerdings haben sich die Slovanske stüdie in ihrer Redaktionspraxis zu einem internationalen integrierenden Organ entwickelt, denn sie veröffentlichen regelmäßig Studien und Artikel von Autoren aus den anderen sozialistischen Ländern und sind bemüht, in zusammenfassenden Darstellungen thematische Übersichten über die historischen Neuerscheinungen in den sozialistischen Ländern zu liefern. Parallel zur Arbeit des Instituts entwickelte sich auch die Institutsbibliothek, die bereits in den ersten Jahren einen Bestand von 17 000 Bänden hatte. Nach ihrem Sammelgebiet und ihrer Funktion war sie bald mehr als eine Handbibliothek des Instituts. Wenn sie in erster Linie Publikationen für die Arbeit der

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Institutsmitarbeiter erwarb, so hatte sie zunehmend Anforderungen externer Interessenten, besonders nach sowjetischer Literatur, zu befriedigen. In der letzten Zeit ist der Buchtausch des Instituts über die Zentralbibliothek der Slowakischen Akademie der Wissenschaften vor allem mit Bibliotheken und wissenschaftlichen Institutionen in der UdSSR intensiviert worden. Durch die Ausweitung des Arbeitsgebiets des CSI der SAV und später des ÜDESK der SAV auf die anderen sozialistischen Länder hat sich auch der Charakter der Bibliothek verändert. Neben den russischen und ukrainischen Beständen wurden auch Bücher über andere slawische Literaturen und zur Geschichte der sozialistischen Länder Europas erworben. Gegenwärtig umfaßt die Institutsbibliothek ca. 35 000 Bände. In der Archiv- und Dokumentenabteilung wird Material zu den slowakisch-slawischen Beziehungen gesammelt, eine retrospektive Bibliographie der Slavica in den slowakischen Periodica und in der Presse bearbeitet sowie Material f ü r die bereits erwähnten Dokumenten-Editionen zusammengetragen. Im Verlauf seiner 25 Jahre hat das ÜDESK der SAV (vorher CSI der SAV) vielfältige Kontakte zum Ausland aufnehmen können. Diese Auslandsbeziehungen wurden einerseits durch die selbstverständliche Notwendigkeit inspiriert, die Länder kennenzulernen, an deren historischer Problematik im Institut gearbeitet wird, und andererseits ergaben sie sich aus der Gesamtkonzeption des Instituts und den Aufgaben des Staatsplanes. In der ersten Etappe hatten die Besuche der Mitarbeiter des ÜDESK der SAV in der UdSSR und anderen sozialistischen Ländern informativen Charakter ; es galt, sich mit den Ergebnissen der Wissenschaft vertraut zu machen und persönliche Kontakte zu knüpfen. In der zweiten Etappe kam bereits eine schöpferische Zusammenarbeit auf Konferenzen, Symposien und Kongressen, bei der gemeinsamen Herausgabe von Sammelbänden und beim Austausch von Studien und Artikeln zustande. In der dritten Etappe schließlich arbeitete man gemeinsam an geplanten Editionen und Darstellungen. Dabei förderte das ÜDESK der SAV kürzere und langfristige Studienaufenthalte in den sozialistischen Ländern. In den letzten Jahren wurden die Beziehungen des ÜDESK der SAV mit den einzelnen sozialistischen Ländern vertraglich abgesichert, und zwar mit wissenschaftlichen Institutionen in der UdSSR, in Bulgarien, Jugoslawien, Polen und Ungarn. Einen vorrangigen Platz in den Auslandsbeziehungen des Instituts nimmt die UdSSR ein. Mit den historischen Institutionen dieses Landes - vor allem mit dem Institut slavjanovedenija i balkanistiki (Institut f ü r Slawenkunde und Balkanistik) der Akademie der Wissenschaften der UdSSR in Moskau und dem Institut f ü r Geschichte an der Akademie der Wissenschaften der Ukrainischen SSR in Kiev - arbeitet das ÜDESK der SAV bereits lange Zeit sehr erfolgreich auf dem Gebiet der Wissenschaftsorganisation und Forschung zusammen. Diese positive Zusammenarbeit gipfelte in der Erarbeitung einer mehrbändigen Ausgabe von Dokumenten zu den tschechoslowakisch-sowjetischen Beziehungen auf der Basis tschechoslowakischer und sowjetischer Archivbestände. 32 32

Dokumenty a materiäly k dejinäm ceskoslovensko-sovetskych vztahü. Dil I. listopad 1917—srpen 1922 (Dokumente und Materialien zur Geschichte der tschechoslo-

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Ebenso erfolgreich gestaltete sich die Zusammenarbeit mit dem Institut für Balkanistik der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften und mit anderen historischen Institutionen und Hochschuleinrichtungen der sozialistischen Länder. 1977 kam es auch zu einem Vertrag zwischen dem ÜDESK der SAV und dem Zentralinstitut für Geschichte bei der Akademie der Wissenschaften der DDR. Er fixiert die Zusammenarbeit an einem gemeinsamen Projekt „Beziehungen zwischen der deutschen und tschechoslowakischen revolutionären Arbeiterbewegung 1917 bis 1945. Dokumente und Materialien", Konsultationen und beiderseitige Informationen über grundlegende Themen und Forschungsergebnisse, wechselseitige Veröffentlichungen in den Publikationsorganen beider Institute, den Austausch von Literatur und die fachliche Unterstützung für Mitarbeiter des Partnerinstituts bei Studienaufenthalten. Aus den bisherigen Resultaten sowie aus der sich vertiefenden Integration der sozialistischen Länder auf dem Gebiet der Politik, Wirtschaft und Kultur ergibt sich die Notwendigkeit einer umfassenderen Integration im Bereich der historischen Wissenschaften, bei der Untersuchung von Schlüsselproblemen der Geschichte der sozialistischen Länder. Neben seiner Forschungs- 33 und wissenschaftsorganisatorischen Tätigkeit entfaltet das ÜDESK der SAV auch eine breit angelegte populärwissenschaftliche wakisch-sowjetischen Beziehungen. Teil I. November 1917-August 1922), Praha 1975, 604 S.; Dil II. srpen 1922-cerven 1934 (Teil II. August 1922-Juni 1934), Praha 1977, 717 S. Die Dokumentenedition erscheint parallel in Moskau in russischer und in Prag in tschechischer Sprache. J! ' Folgende Kandidaten-Dissertationen wurden von Mitarbeitern des ÜDESK der SAV in den Jahren 1966 bis 1978 verteidigt: Buncäkovä, H., Agrärna politika v Rumunsku 1918-1928 (Die Agrarpolitik in Rumänien 1918-1928), 248 S.; Bystricky, V., Bulharsko a balkänske stäty v r. 1934-1938 (Bulgarien und die Balkanstaaten in den Jahren 1934 bis 1938), 325 S.; Dedk, L., Juhoslävia a Mala dohoda (Jugoslawien und die Kleine Entente), 340 S.; Fano, S., Zakarpatskä Ukrajina v politike susedov a fasistickych mocnosti 1933-1939 (Die Karpatoukraine in der Politik der Nachbarn und der faschistischen Mächte 1933-1939), 298 S., 1971; Ivanickovä, E., K progresivnym zäkladom vzt'ahov medzi CSSR a NDR (Zu den progressiven Grundlagen der Beziehungen zwischen der CSSR und der DDR), 285 S., 1978; Ivantysynovä, T., Ruski slavianofili a närodnoemancipacny zäpas Cechov a Sloväkov / 40.-60. roky 19. storocia / (Die russischen Slawophilen und der nationale Emanzipationskampf der Tschechen und Slowaken / 40er bis 60er Jahre des 19. Jh. /), 314 S., 1978; Korde, D., Kl'üc k strednej Euröpe. Nemecky imperializmus a Raküsko 1871-1922 (Der Schlüssel zu Mitteleuropa. Der deutsche Imperialismus und Österreich 1871-1922), 455 S., 1977; Krajcovic, M., Spolupräca Slovakov, Rumunov a Srbov v 19. stor. (Die Zusammenarbeit der Slowaken, Rumänen und Serben im 19. Jh.), 505 S., 1967; Kucerovä, K., Migräcia balkänskeho obyvatel'stva do strednej Europy v dösledku tureckych vojen (Die Migration der Balkanbevölkerung nach Mitteleuropa im Gefolge der Türkenkriege), 468 S., 1972; Pivoluska, J., Problematika zahranienej orientäcie slovenskeho odboja 1939-1943 (Die Problematik der außenpolitischen Orientierung des slowakischen Widerstandes 1939-1943), 330 S., 1967; Zähorskä, D., Vyvin mad'arskej demokracie a politicke strany v rokoch 1944 bis 1946 (Die Entwicklung der ungarischen Demokratie und die politischen Par-

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und propagandistische Arbeit. Davon zeugen zahlreiche Artikel in der Tagespresse und in Zeitschriften sowie Hunderte von Vorträgen, Rundfunk- und Fernsehsendungen. Das ÜDESK der SAV pflegt eine intensive Zusammenarbeit mit der Sozialistischen Akademie (vergleichbar mit der URANIA in der DDR), mit Redaktionen und Verlagen, mit dem Slowakischen Zentralvorstand des Verbandes f ü r tschechoslowakisch-sowjetische Freundschaft. Es ist an verschiedenen Vortragszyklen und sehr stark an der Publikationstätigkeit auf ideologischem Gebiet beteiligt. Für die umfangreiche Propagierung der Errungenschaften der Wissenschaft wurde dem ÜDESK der SAV 1972 das Diplom des ZK der KPTsch, der Regierung der CSSR und des ÜRO (Zentralrat der Gewerkschaften) verliehen. Desgleichen erhielt das Institutskollektiv auf Beschluß der Regierung der CSSR und des Zentralrats des Gewerkschaftsverbandes den Ehrentitel „Hervorragendes Kollektiv des Jahres 1977" f ü r die außerordentlichen Ergebnisse der Arbeitsinitiative zum 60. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution. Wie die erfolgreiche Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft in jedem Land die Kenntnis der Theorie und Praxis des sozialistischen Aufbaus in den anderen Ländern einschließt, so kann sich die Gesellschaftswissenschaft insgesamt und speziell die historische Wissenschaft nicht allein aus der Kenntnis der eigenen Nationalgeschichte heraus entwickeln, auch wenn diese primären Charakter hat. Und hier, auf diesem Gebiet der Entwicklung von Wissenschaft und Ideologie nahm das CSI der SAV und nimmt heute das ÜDESK der SAV seinen - wenn auch bescheidenen - Platz ein. teien 1944-1946), 385 S., 1971. Folgende Doktor-Dissertationen wurden im ÜDESK der SAV verteidigt: Hroziencik, J., Problematika internacionälnej spolupräce pokrokovych sil euröpskych närodov v boji proti fasizmu (Die Problematik der internationalen Zusammenarbeit der fortschrittlichen Kräfte der europäischen Völker im Kampf gegen den Faschismus), 333 S., 1972; Borodovcäk, V., Poliaci a slovensky närodny zäpas v rokoch dualizmu (Die Polen und der slowakische nationale Kampf in den Jahren des Dualismus), 447 S., 1972.

Autorenverzeichnis

Dr. sc. phil. Harald Müller, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin Dr. phil. habil. Günter Mühlpfordt, Professor, Halle/Saale Dr. sc. phil. Helmut Bleiber, Professor, Abteilungsleiter am Zentralinstitut f ü r Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin Dr. sc. phil. Roland Zeise, Professor, Sektion Freundschaftspionierleiter/Geschichte der Pädagogischen Hochschule „Karl Friedrich Wilhelm Wander", Dresden Dr. sc. phil. Wolfgang Schröder, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut f ü r Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin, Verantwortlicher Redakteur des „Jahrbuchs f ü r Geschichte" Dr. sc. phil. Joachim Petzold, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut f ü r Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin Dr. phil. Klaus Sohl, Stellvertretender Direktor des Georgi-DimitrofT-Museums, Leipzig Dr. sc. phil. Peter Kircheisen, wissenschaftlicher Oberassistent an der Sektion Geschichte/Staatsbürgerkunde der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Roswitha Nagel, Diplomarchivarin, Zentrales Staatsarchiv, Dienststelle Merseburg Dr. Jozef Hroziencik, Professor, Direktor des Instituts f ü r Geschichte der europäischen sozialistischen Länder bei der Slowakischen Akademie der Wissenschaften, Bratislava