Jahrbuch für Geschichte: Band 36 [Reprint 2022 ed.]
 9783112622209

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JAHRBUCH FÜR G E S C H I C H T E

A K A D E M I E DER WISSENSCHAFTEN DER DDR ZENTRALINSTITUT FÜR GESCHICHTE Direktor: Akademiemitglied Prof. Dr. Walter Schmidt INSTITUT FÜR A L L G E M E I N E

GESCHICHTE

Direktor: Prof. Dr. Karl Drechsler

Redaktionskollegium: Rolf Badstübner, Lothar Berthold, Helmut Bleiber, Karl Drechsler, Ernst Engelberg, Hein2 Heitzer, Fritz Klein, Dieter Lange, Adolf Laube, Walter Nimtz, Martin Robbe, Wolfgang Rüge, Heinrich Scheel, Hans Schleier, Walter Schmidt, Wolfgang Schröder, Gustav Seeber Redaktion: Wolfgang Schröder (Verantwortlicher Redakteur), Gunther Hildebrandt (Stellv.), Dietrich Eichholtz, Jutta Eichholtz, Petra Heidrich, Gerhard Keiderling, Klaus Mammach, Michael Lemke, Hans Schleier

JAHRBUCH 3 6 FÜR GESCHICHTE

AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1988

Redaktionsschluß: i j . März 1987

ISBN 3-05-000287-5 ISSN 0448-1526 Erschienen im Akademie-Verlag, D D R - 1 0 8 6 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1988 Lizenznummer: 202 • 100/38/87 Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: V E B Druckhaus „Maxim Gorki", 7400 Altenburg L S V : 026j Bestellnummer: 754 7 1 1 8 (2130/36) 02500

Inhalt

Abkürzungen Die Karlsbader Beschlüsse und Clausewitz Aus der Biographie von Johann Philipp Becker. Die politischen Lehrjahre in der Pfalz Lauenroth, Hartmut Zur Errichtung der Sowjetmacht in Belorußland 1917 . . Bramke, Werner Handwerk und Handwerker in der Weimarer Republik Haferstroh, Peter Zur Imperialismustheorie und -analyse der KPD in den ersten Jahre der Weimarer Republik Friedrich Adler und die Liquidation der Sozialistischen Dankelmann, Otfried Arbeiter-Internationale (mit Dokumenten) Die wirtschaftliche Ausplünderung Griechenlands durch Eckert, Rainer seine deutschen Okkupanten vom Beginn der Besetzung im April 1941 bis zur Kriegswende im Winter 1942/43 Die Palästinafrage nach dem zweiten Weltkrieg. Akteure, Robbe, Martin Interessen, Regelungsansätze und Versäumnisse . . . . Stappenbeck, Christian Zwischen Militärseelsorgevertrag und „Respektierung des Sozialismus". Die Krise der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1955 bis zum Grundsatz-Komminique 1958 Imperialistischer Aggressionskrieg und bürgerliche Röhr, Werner Aggressionstheorie. Kritik an der verhaltensbiologischen Begründung imperialistischer Aggressivität von Konrad Lorenz Müller, Harald Dlubek, Rolf

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Dokumentation Callesen, Gerd

eine f ü r unsere Sache fruchtbringende Debatte". Die Stellung der dänischen Sozialdemokratie zur Abrüstung und die Denkschriften Peter Knudsens vom August und 14. Dezember 1908 355 Autorenverzeichnis 405

Abkürzungen

BzG DZfPh FRUS GdA GStA HZ 1ISG IML, CPA

Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung Deutsche Zeitschrift für Philosophie Foreign Relations of the United States. Diplomatie Papers, Washington Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 1966 Ceheimes Staatsarchiv, Preußischer Kulturbesitz Berlin (West) Historische Zeitschrift, München Internationales Institut für Sozialgeschichte, Amsterdam Institut f ü r Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU, Zentrales Parteiarchiv, Moskau IML, ZPA Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Zentrales Parteiarchiv IPW Institut für internationale Politik und Wirtschaft JbG Jahrbuch für Geschichte MEW Marx/Engels, Werke, 1956 ff. PRO, CAB Public Record Office, Kabinettsakten, London PRO, FO Public Record Office, Akten des Foreign Office, London Sta Stadtarchiv StA Staatsarchiv StAD Staatsarchiv Dresden ZfG Zeitschrift f ü r Geschichtswissenschaft ZStAM Zentrales Staatsarchiv, Merseburg ZSTAP Zentrales Staatsarchiv, Potsdam Der Ort ist, sofern nicht anders angegeben, Berlin. Die Werke Lenins werden nach der 40bändigen Ausgabe des Dietz Verlages, 1956—1965, zitiert.

Harald Müller

Die Karlsbader Beschlüsse und Clausewitz

Im Vorfeld des Aachener Kongresses von 1818, des ersten Kongresses der Mächte der Heiligen Allianz, wurde eine für die preußische Außenpolitik und Diplomatie höchst bedeutsame Personalentscheidung getroffen. Die vielen Zeitgenossen überraschend kommende Berufung des bisherigen dänischen Gesandten in Berlin, Christian Günther Graf von Bernstorff, zum Außenminister war das Werk des preußischen Polizeiministers Wilhelm Ludwig Wittgenstein.1 Er beabsichtigte mit dieser Wahl, in der Umgebung des Staatskanzlers die auf die Prinzipien der Heiligen Allianz eingeschworenen Elemente gegen die Vertreter der Reformpartei zu stärken.2 Schon lange bemängelte Wittgenstein mit Ingrimm eine „Begünstigung gewisser exaltierter Ideen und Ansichten" durch Karl August von Hardenberg.3 Die Berufung Bernstorffs kam außerdem den Vorstellungen des österreichischen Außenministers Metternich entgegen, der es begrüßte, in Berlin eine Persönlichkeit in seinem Amtsbereich agieren zu sehen, die sich auf seine Führungsrolle orientierte. In der Bemerkung von Gentz, daß Hardenberg Preußen und Deutschland einen unvergeßlichen Dienst mit der Berufung Bernstorffs geleistet habe, die er „als eine der wichtigsten Begebenheiten unserer Tage" qualifizierte, klang die Genugtuung Wiens über diesen Schritt deutlich an.4 Auch die übrige europäische aristokratisch-monarchistische Reaktion stand bei der Berufung Bernstorffs gewissermaßen Pate. Denn außer von Metternich und Gentz wurde sie auch von den Leitern der russischen Außenpolitik, Nesselrode und Kapodistria, als „höchst glücklicher Gedanke" ungeteilt positiv bewertet.5 Hierfür ist vor allem das politische Glaubensbekenntnis Bernstorffs 1

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Vgl. Branig, Hans, Fürst Wittgenstein. Ein preußischer Staatsmann der Restaurationszeit, Köln/Wien 1981, S. 110. So Gesandter Rose in seinem Bericht vom 19. 9.1818 an Castlereagh, PRO, FO 64, Nr. 114, Bl. 122. Zit. nach einem Brief an Metternich vom 6. 2.1818, Branig, S. 113. So Gentz am 17. 9.1818 an Pilat, Briefe von Friedrich von Gentz an Pilat. Ein Beitrag zur Geschichte Deutschlands im XIX. Jahrhundert, hrsg. von Karl Mendelssohn-Bartholdy, Bd. 1, Leipzig 1868, S. 323. Vgl. den Brief von Gentz an Metternich vom 21. 9.1818 nach einem Gespräch mit ihnen, Briefe von und an Friedrich von Gentz, hrsg. von Friedrich Carl von Wittichen und Ernst Salter, Bd. 3: Schriftwechsel mit Metternich, 1. Teil: 1803—1819, München/Berlin 1913, S. 349.

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bestimmend gewesen, daß zur Überwindung der politischen Instabilität des herrschenden Regimes scharfe Maßnahmen gegen die oppositionellen Kräfte eingeleitet werden müßten.6 Außerhalb der reaktionären Hofpartei indes wurde seine Berufung als Affront gegen den auf diesen Posten längst hoffenden Wilhelm von Humboldt gesehen, der bis dahin als. aussichtsreichster Bewerber auf das Ministeramt gegolten hatte.7 Sie wurde auch als Indiz dafür gewertet, daß alle wirklich talentierten Persönlichkeiten übergangen würden.8 In Aachen nahm Bernstorff in vollem Umfange an den Konferenzen mit Österreich und Rußland über Offensivmaßnahmen gegen die antifeudale Bewegung teil, die durch die Denkschrift des russischen Diplomaten A. S. Stourdza „Uber den gegenwärtigen Zustand Deutschlands" ausgelöst wurden.9 Hardenberg sagte in Aachen zu, gegen die „Demagogen" in Preußen energisch vorzugehen.10 Damit ergibt sich, daß die Ünterdrückungswelle der deutschen Regierungen gegen die Fortschrittskräfte bereits im Herbst 1818 eingeleitet wurde. Zwar verfolgte Hardenberg seinen Verfassungsplan nach wie vor weiter, der eine „angemessene ständische Verfassung" in Aussicht stellte.11 Doch agierten einflußreiche Berliner Verfassungsgegner wie Ancillon und Wittgenstein unterdessen intensiv gegen die Realisierung der Verfassungspläne des Staatskanzlers. Hardenbergs Widersacher erfuhren durch Metternich und durch den Zaren Unterstützung, der offen seine Genugtuung über die Absichten Wittgensteins „de la repression de l'esprit revolutionaire en Prusse" zu erkennen gab12, nachdem er von diesem über den russischen Gesandten in Berlin zu einer derartigen Erklärung ersucht worden war.13 " Vgl. die entsprechende Einschätzung Bernstorüs durch Baach, Lawrence J., Christian Bernstorff and Prussia. Diplomacy and Reform Conservatism 1818—1832, New Brunswick, New Jersey, 1980, S. 37. ' Vgl. die Meldung Roses an Castlereagh vom 23. 7.1818, PRO, FO 64, Nr. 113, Bl. 206. " So urteilte Niebuhr in einem Brief vom 17.9.1818 an Frau D. Hensler: „Ich kann mich über diese Veränderung nicht freuen . . . wir brauchen andere Männer; und an Talent, Geschick und Beruf für das Auswärtige Departement ist Humboldt dem anderen ohne Vergleich überlegen." Und am 23.9.1818 an Brandis: „Der rechte Mann ist Bernstorff nicht, und für das Auswärtige Departement wäre Humboldt besser, ja ewig besser gewesen." Niebuhr, Barthold Georg, Briefe aus Rom (1816 bis 1823), Bd. 1, 1. Halbbd., hrsg. von Eduard Vischer, Bern 1981, S. 383, 387. Zu Steins Reaktion auf die Berufung vgl. Baach, S. 38. M „Sie hat in Aachen . . . starke Sensation gemacht; die Preußen, wenigstens eine starke Partei unter ihnen, waren bestürzt und erbittert darüber. Uns anderen kann sie nur gefallen." Gentz an Pilat, 3.12.1818, Briefe von Gentz an Pilat, S. 375. 1U Vgl. Treitschhe, Heinrich v., Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, 2. Teil, Leipzig 18832, S. 486. Kabinettsorder vom 11.1.1819, vgl. Meineche, Friedrich, Das Leben des Generalfeldmarschalls Hermann von Boyen, Bd. 2, Stuttgart 1899, S. 362 f. 12 Aus einem Schreiben des russischen Außenministers Nesselrode an den russischen Gesandten in Berlin Alopeus vom 20.5.1819. V nein jaja politiha Rossii XIX i naöala XX veka. Serija vtoraja (1815-1830), Tom 3 (1819-1821), Moskva 1979, S. 19. " Vgl. Büssem, Eberhard, Die Karlsbader Beschlüsse von 1819. Die endgültige Stabilisierung der restaurativen Politik im Deutschen Bund nach dem Wiener Kongreß von 1814/15, Hildesheim 1974, S. 234. 11

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Unter solchen Einwirkungen und angesichts der mit dem Aachener Kongreß eingeleiteten Offensive der adlig-monarchistischen Reaktion begann Friedrich Wilhelm III., sich offen auf die Seite der Reformgegner zu stellen, denen er im Grunde immer angehört hatte. Diese Wende hatte nicht zuletzt die Disziplinierung der Angehörigen des Staatsapparates und seine Reinigung von als unzuverlässig geltenden Personen sowie das Uberhandnehmen der reaktionären Linie im Militärwesen zur Folge, wo noch im Verlauf des Jahres 1819 das reformerische Element endgültig zurückgedrängt wurde.14 Schließlich leitete sie eine allgemeine Verfolgungswelle gegen Repräsentanten der antifeudalen Bewegung innerhalb Preußens ein, die im Juli 1819 einsetzte. Es folgten Verhöre, Verhaftungen und die Beschlagnahme von Schriften und Briefen, nachdem am 3. Juli durch Kabinettsorder eine Untersuchungskommission eingesetzt worden war. Der Umfang der Aktion geht aus der großen Zahl der in die Untersuchung einbezogenen Personen hervor; bis zum 15. Dezember 1819 waren es immerhin 345.15 Sie wurden beschuldigt, für die Durchsetzung liberaler, demokratischer und nationaler Überzeugungen in Staat und Gesellschaft eingetreten zu sein oder beabsichtigt zu haben, den Gang der Regierungspolitik zu ändern. Unabhängig davon, ob Wittgenstein und sein Gehilfe Karl von Kamptz wirklich davon überzeugt waren, einer Verschwörung gegen den Staat gegenüberzustehen, in der sich angeblich die Fortsetzung der Aktivitäten des „Tugendbundes" verkörperte,16 zielte die Juliaktion darauf, die Fortschrittskräfte im ganzen entscheidend zu treffen. Wittgenstein hat später hervorgehoben, daß es ihm und seinen Gesinnungsfreunden 1819 um ein grundsätzliches Problem ging, nämlich darum, den Bestrebungen, die bürgerliche Umwälzung auf dem Reformwege weiterzuführen, ein Ende zu setzen. Auch der; Wittgenstein auf der Grundlage eines gleichen politischen Weltbildes eng verbundene Schwager des Königs und Präsident des Staatsrates, Herzog Karl von Mecklenburg-Strelitz, sah den ganzen Vorgang unter grundsätzlichen Aspekten, wenn er nach der ersten Verhaftungswelle den König zu weiterem Vorgehen drängte, auch den Einfluß der zwar nicht Überführten, aber dennoch Verdächtigen auszuschalten: „Sofern aber ein schwerer Verdacht sie trifft, glaube ich, fordert es die Vorsicht wie die Gerechtigkeit, sie völlig von allen Plätzen, Ämtern und Lehrstellen zu entfernen, wo sie durch Lehre, Beispiel oder Einfluß irgendeiner Art nachteilig wirken können."17 Auch das Ergebnis der Teplitzer Besprechungen zwischen Metternich und Friedrich Wilhelm III. und die durch sie mittels der Teplitzer Punktation vom 1. August vorbereiteten Karlsbader Beschlüsse ermöglichten es, die Position Hardenbergs und der Reformgruppierung im ganzen zu schwächen. Der russische Gesandte Alopeus hatte in Teplitz die konterrevolutionäre Ein14

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Vgl. Schmidt, Dorothea, Die preußische Landwehr. Ein Beitrag zur Geschichte der allgemeinen Wehrpflicht in Preußen zwischen 1813 und 1830, Berlin 1981, S. 124. Vgl. zu den Einzelheiten • die Ergebnisse der aufschlußreichen Untersuchung von Kettig, Konrad, Demagogenverfolgung in Berlin im Jahre 1819, in: Der Bär von Berlin 1982. Jahrbuch des Vereins für die Geschichte Berlins, Berlin (West) 1982, S. 7 ff. Vgl. ebenda, S. 11. Karl an Friedrich Wilhelm III., 22.7.1819, ZStAM, Rep. 49 J Nr. 169, Bl. 26.

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tracht zwischen Metternich und den preußischen Ministern befriedigt zur Kenntnis genommen: „Les ministres de Prusse étaient parfaitement d'accord sur les principes avancés par le Prince de Metternich."18 Gentz jubelte, daß jetzt alle Höfe über das für Deutschland Notwendige einig seien und daß es zur Bestätigung dieses glücklichen Einverständnisses keines Kongresses mehr bedürfe.1'1 Auch Metternich zeigte ich befriedigt über das positive Echo, das seine in diese Richtung zielenden Kommunikationen in Berlin offensichtlich zu finden schienen.20 Die daraus hervorgehenden Folgewirkungen auf die preußische Innenpolitik waren bedeutend. Nicht nur, daß sich Bernstorff auf die konsequente Ausführung der Karlsbader Beschlüsse festgelegt hatte, sondern ein von ihm verfaßtes Zirkular an die preußischen diplomatischen Vertretungen enthielt auch eine schroffe Wendung gegen eine Auslegung des Artikels 13 der Bundesakte, der die Grundsätze des Absolutismus in Frage stellte: „Aber es lag nie in dem Willen der deutschen Fürsten . . . , ihren Völkern eine Repräsentation in dem modernen Sinne des Wortes nach den Grundsätzen und nach dem Muster anderer, Deutschland bisher fremder Konstitutionen zu geben."21 Unter diesen Voraussetzungen gab es keinen Raum mehr für ein Wirksamwerden Humboldts, der am 11. Januar 1819 zum Minister für Ständische Angelegenheiten berufen worden war. Auch der „Wunsch der großen Majorität der gebildeten Klasse der Nation", eine Verfassung zu erhalten22, konnte Humboldts Stellung nicht festigen, im Gegenteil. Noch am 9. August hatte Stein voller Optimismus an Kapodistria geschrieben, daß seine Berufung „a inspiré beaucoup de confiance, on connait ses principes, il a beaucoup médité la matieére constitutionelle".23 Doch jetzt, da sich der Wind zu drehen begann, mußte Humboldt zur Kenntnis nehmen, daß weiterführende Diskussionen über eine preußische Verfassung illusorisch geworden waren; und es bedurfte nicht erst einer entsprechenden Eingabe der Ritterschaft dreier Kreise der Kurmark an den König, um ihn von derartigen Plänen Abstand gewinnen zu lassen.24 Humboldts Verhältnis zu Hardenberg wurde bald persönlich und dienstlich in untragbarer Weise belastet. Seinen Versuch, im Preußischen Staatsministerium am 3. November eine Erklärung gegen die „schändlichen" Karlsbader Beschlüsse durchzusetzen,25 beantwortete der Staatskanzler mit einer Anklage gegen ihn und die mit ihm gegen die „Demagogenschnüffler" mutig protestierenden Minister Boyen und Beyme. Man beschuldigte sie sogar, die Sache der „Revolutionäre'' zu führen und die Fundamente der äußeren Politik und der inneren Verwal18

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Alopeus an Nesselrode, Teplitz, 31.7.1819, Vnesnjaja politika Rossii XIX i naóala XX veka, S. 78. Gentz an Pilat, 9. 8.1819, Briefe von Friedrich von Gentz an Pilat, Bd. 1, S. 397. Vgl. den Bericht Krusemarcks an Friedrich Wilhelm III. vom 20.10.1819, ZStAM, 2.4.1. Abt. I Nr. 5991, Bl. 133. österreichischer Beobachter, 17.11.1819. Zit. nach Vetter, Klaus, Kurmärkischer Adel und preußische Reformen, Weimar 1979, S. 67. Stein, Karl Frhr. vom, Briefe und Amtliche Schriften, Bd. 6, neubearb. von Alfred Hartlieb von Wallthor, Stuttgart 1965, S. 125. Vgl. Varnhagen von Ense, Karl August, Blätter aus der preußischen Geschichte, Bd. 1, Leipzig 1868, S. 25. Notiz vom 19.12.1819. Vgl. Büssem, S. 460.

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tung des Staates erschüttern zu wollen.26 Das Ende kam bald: Am 31. Dezember 1819 wurden Humboldt und Beyme entlassen; auch Boyen war inzwischen aus seinem Amt als Kriegsminister gedrängt worden. Mit der Ausschaltung der maßgeblichen Repräsentanten der reformerischen Gruppierung aus der Leitung der Ministerien hatte die Restaurationspolitik in Preußen ihren Höhepunkt erreicht. Diese Lage besiegelte auch das Schicksal des von Gneisenau und Humboldt ausgehenden Plans, Generalmajor Carl von Clausewitz als Nachfolger Humboldts auf den seit Oktober 1818 vakanten Posten des preußischen Gesandten in London zu entsenden. Dabei hatte es anfänglich durchaus so ausgesehen, daß er verwirklicht werden könnte. Im Mai 1819 hatte Gneisenau Hardenberg f ü r einen derartigen Vorschlag einzunehmen gesucht. Daraufhin war er beauftragt worden, bei Clausewitz anzufragen, ob er zur Übernahme dieses Amtes bereit sei. Das konnte jedenfalls auf Zustimmung schließen lassen.27 Auch Humboldt versuchte, sich bei Hardenberg f ü r eine entsprechende Verwendung Clausewitz' einzusetzen mit dem Argument, daß dieser als Offizier mit seiner „maßvollen, klugen Natur" dem englischen Prinzregenten besonders genehm sein müsse. In gleicher Absicht empfahl er ihn auch Bernstorff für den Gesandtenposten. 28 Mit diesen Vorschlägen nahm eine Auseinandersetzung um Clausewitz ihren Anfang, die meist hinter den Kulissen geführt wurde. Ihr Ausgang entschied sein Schicksal, kaltgestellt worden zu sein, endgültig und ließ ihm nur noch eine Lebenszeit, „gewissermaßen außer Dienst verbracht". 29 Über die Ziele, die Gneisenau und Humboldt mit ihrem Vorschlag verfolgten, können nur hypothetische Bemerkungen gemacht werden. Humboldt war, wie übrigens auch Stein30, von den bedeutenden charakterlichen und intellektuellen Potenzen Clausewitz' überzeugt, was ihn in seinen Augen für die Übernahme eines diplomatischen Amtes hinlänglich qualifizierte. Auch wollte er, wie im Falle Niebuhrs31, mit Clausewitz ein weiteres hervorragendes Mitglied der Reformbewegung in den diplomatischen Dienst ziehen, eine Persönlichkeit, von der eine vorurteilslose Wahrnehmung der Interessen Preußens in England er26

So Hardenberg an Ancillon am 11.11.1819, Meineckè, Bd. 2, S. 378 f. Vgl. hierzu den Brief Gneisenaus an Clausewitz vom 12. 5.1819 und dessen .Antwort vom 14. 5., Delbrück, Hans, Das Leben des Feldmarschalls Grafen Neithardt von Gneisenau, Bd. 5, Berlin 1880, S. 370 ff. 'M Vgl. die Briefe Humboldts an Hardenberg vom 8. 9. und an Gneisenau vom 17. 9. 1819, Wilhelm von Humboldts politische Briefe, hrsg. von Wilhelm Richter, Bd. 2 (1815—1S35), 3. Teil, Berlin/Leipzig 1936, S. 329; vgl. ferner ZStAM, Rep. 92 Hardenberg K 46, Bl. 192. 29 Aron, Reymond, Clausewitz - Stratege und Patriot, in: HZ, 1982, 2, Bd. 234, S. 296. 30 So kommentierte Stein am 3.10.1819 die Berufung des Karl von Meuron zum preußischen Gesandten in Bern mit den folgenden Worten: „Mr. de Meuron derra probablement se nomination à sa qualité de Suisse, comme d'ailleurs c'est une personage peu connu, je suis fâché qu'on n'aie point choisi le général Clausewitz, un homme de très grand mérite." Stein, S. 314. 31 Humboldt hatte sich 1815 für die Berufung Niebuhrs nach Rom eingesetzt und hierbei bemerkt: „Mein dringender Wunsch, in die Zahl der auswärtigen Gesandten Männer wie Sie zu bringen, hat mich dazu veranlaßt." Humboldt an Niebuhr, 4.10.1815, Wilhelm von Humboldts Politische Briefe, Bd. 2, 2. Teil, Berlin/Leipzig 1936, S. 82. 27

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wartet werden konnte. Auch bei Gneisenau sind zweifellos zunächst persönliche Gründe maßgeblich gewesen, wie die große persönliche Wertschätzung Clausewitz', der er im November 1817 so beredt Ausdruck verlieh, als er dessen „ungemeine Talente", „tiefen Kenntnisse" und die Vorzüge seines Charakters rühmte, um ihn als Schlußfolgerung daraus f ü r eine Position „im Mittelpunkt" der Monarchie vorzuschlagen.32 Clausewitz war in den wenigen Monaten, die er 1815/16 als Chef des Generalstabs unter Gneisenau im General-Kommando am Rhein in Koblenz verbracht hatte, 33 dem Feldherrn auch menschlich nahegetreten und wurde in dieser Zeit zu seinem engsten Geistesgefährten. 34 Um Clausewitz „eine Brücke bauen [zu] helfe[n], worüber Sie auf ein vorteilhafteres Ufer übergehen können", d. h. ihn vorerst wenigstens nach Berlin zu ziehen und in einer Art Zwischenstellung unterzubringen, hatte sich Gneisenau im Herbst 1817 nach dem Ableben des Generals von Boguslawski beim Kriegsminister dafür eingesetzt, Clausewitz die Stelle als Direktor der Allgemeinen Kriegsschule zu übertragen. 35 Gneisenau deutete Clausewitz gegenüber an, daß er auch in diesem relativ bedeutungslosen Amt in Berlin für die Reformideen wirken könne, indem er manche „Hauptgrundsätze unseres Kriegsgebäudes wieder in Erinnerung" bringe.36 Tatsächlich wurde Clausewitz durch Kabinettsorder vom 9. Mai 1818 in diese Position berufen, blieb aber noch in Koblenz und begab sich, am 18. September zum Generalmajor ernannt, vorerst nach Aachen, wo ihm f ü r die Dauer des Kongresses der Allianzmächte der Posten eines Kommandanten übertragen worden war. Der seit seiner Übersiedlung nach Berlin im Dezember 1818 fortgesetzte intensive Gedankenaustausch mit Gneisenau ergab eine völlige Übereinstimmung in den Ansichten beider Männer. Diese Sachlage veranlaßte Gneisenau, von einer nur aus Clausewitz und ihm bestehenden „vierten Partei" in Berlin zu sprechen. Sie grenze sich deutlich von den „heftigeren Liberalen" und „strengen Monarchisten" ab, aber auch von einer dritten Partei aus „treue[nl Anhänger [n] des Königtums, die sich zur konstitutionellen Gestaltung des Staates neigen", obwohl sie ihr am nächsten gekommen sein dürfte. 37 Das Bekenntnis der beiden Männer zur Fortführung der bürgerlichen Umgestaltung „von oben herunter" 38 , d. h. vorgenommen durch den Staat, schloß notwendig die Erkenntnis ein, daß das absolutistisch-bürokratische Herrschaftssystem durch ein konstitutionell-monarchisch geprägtes ersetzt werden müsse. Bei aller Abgrenzung von demokratischen Bestrebungen sprach sich Clausewitz in seiner wohl 1819 verfaßten Denkschrift „Umtriebe" unverkennbar für eine 32 33 34

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Gneisenau an Hardenberg, 25.11.1817, ZStAM, Rep. 92 Hardenberg K 38, Bl. 47 f. Vgl. hierzu Delbrück, Bd. 5, S. 4 it. Vgl. Gneisenau. Ein Leben in Briefen, hrsg. von Karl Griewank, Leipzig 1939'2, S. 337. Vgl. Delbrück, Bd. 5, S. 277. Gneisenau an Clausewitz, 29. 9.1817, ebenda, S. 243. Gneisenau an Louise Fürstin Radziwill, 22.10.1819, ebenda, S. 380; Unger, W. v„ Gneisenau, Berlin 1914, S. 378. So schrieb Gneisenau am 23. 3.1816 an General von Müffling: „Ich habe so sehr stets meine Ansicht ausgesprochen, daß alle Verbesserungen unseres Zustandes von oben herunter und nicht von unten hinauf geschehen müßten." Delbrück, S. 87.

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Beschränkung der absoluten Monarchie aus: „Ob man gleich den deutschen Regierungen große Mißbräuche nicht vorwerfen kann, so war doch allerdings 'in einer Zeit, die so viel Anstrengungen der Untertanen forderte, der Wunsch natürlich, daß eine Anzahl vernünftiger Männer aus den verschiedenen Ständen der Regierung beistehen, Fehlgriffe und Ungerechtigkeiten verhüten und allen das Gefühl einer größeren Sicherheit geben möchten."39 Gneisenau präzisierte diese Verfassungsvorstellungen mit der Forderung nach der Errichtung von „Grundpfeilern" wie der Bildung von zwei Kammern und Ministerverantwortlichkeit, öffentlichem Gerichtsverfahren und Preßfreiheit, Abschaffung der geheimen Polizei und der Verhaftung ohne Verhör.40 Freilich wurden die von Gneisenau und Clausewitz vertretenen Verfassungsansprüche auch von außenpolitischen wie militärischen Sicherheitserwägungen getragen. Wie bei Wilhelm von Humboldt, der in seiner Verfassungsdenkschrift vom Oktober 1819 den Gedanken vertrat, daß eine verfassungslose Monarchie durch die Usurpation des Regierungsmonopols die Nation gleichgültig gegen das öffentliche Wohl werden lasse „und sich dadurch der Kraft eines regen Anteiles" beraube,41 so wurde die "Gleichsetzung von verfassungslosen Staatszuständen mit Schwäche und Machtlosigkeit nach außen auch von Gneisenau direkt angesprochen. Wäre Preußen schon 1814 ein Verfassungsstaat gewesen, so stellte er fest, hätte es seine Unabhängigkeit für lange Zeit sichern können, denn eine mit einer Verfassung ausgerüstete Nation könne das Doppelte an lebendigen und toten Streitkräften aufbringen wie eine gleich große ohne Verfassung.42 Dieser Aspekt trat auch in Clausewitz' Äußerungen in der Auseinandersetzung um die Landwehr hervor, gegen deren volkstümlichen Charakter mit ihren milizartigen Zügen die feudalrestaurativen Kräfte in Preußen seit längerem wütende Angriffe richteten,43 so daß am 6. Dezember 1819 die Landwehrbataillone reduziert, die Landwehrinspektionen aufgehoben und die Landwehr in die Linienformationen eingegliedert wurden.44 Wie Clausewitz schrieb, habe Preußen „das Bedürfnis, sein ganzes Volk zu bewaffnen, damit es den beiden Kolossen widerstehen könne, die es von Osten und Westen her stets bedrohen werden. Sollte es sein eigenes Volk mehr fürchten als diese beiden Kolosse?"45 Diesem Bedrohungstrauma hat Clausewitz auch im sechsten Buch seines Werkes „Vom Kriege" Ausdruck verliehen, als er bei der Aufzählung der Vertei39

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Zit. nach Schwartz, Karl, Leben des Generals Carl von Clausewitz, Bd. 2, Berlin 1878, S. 219. Vgl. Unger, S. 377. Vgl. Humboldt, Wilhelm v., Politische Denkschrift, Bd. 3: 1815-1834, 2. Hälfte, hrsg. von Bruno Gebhardt, Berlin 1904, S. 389. Aus einem Brief Gneisenaus an Benzenberg vom 17. 2.1817, Gneisenau. Ein Leben in Briefen, S. 348. Vgl. Kurzer Abriß der Militärgeschichte von den Anfängen der Geschichte des deutschen Volkes bis 1945, von einem Autorenkoll. unter Leitung von Gerhard Förster, Berlin 19772, S. 116. Vgl. hierzu den Brief Boyens an Gneisenau vom 16.12.1819, Schramm, Wilhelm v., Clausewitz — Leben und Werk, Esslingen 1977, S. 517 f.; Schmidt, S. 124. Zit. aus der 1819 verfaßten Studie „Unsere Kriegsverfassung", Rothfels, Hans, Carl von Clausewitz. Politische Schriften und Briefe, München 1922, S. 153.

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digungsmittel des Staates gegen äußere Feinde auf die Bedeutung der Bundesgenossen zu sprechen kam und die Überzeugung aussprach, daß sich in Europa, „wo mehrere kultivierte Staaten in vielseitige Berührung treten", der Gedanke des politischen Gleichgewichts behaupten müsse.46 In seiner Sicht konnte dieser Zustand für Preußen nach Lage der Dinge nur die Anlehnung an England bedeuten; eine enge Bindung an Österreich erschien ihm perspektivlos. Seine und Gneisenaus entschiedene Zurückweisung der von Wien inspirierten und von der preußischen Regierung eifrig mitgetragenen Unterdrückungspolitik 47 schloß f ü r beide eine außenpolitische Orientierung Preußens auf Österreich aus. Sie hatten erkannt, daß mit einer Anlehnung an Metternich die Kräfte gestärkt wurden, die sich der von ihnen als unumgänglich angesehenen gesellschaftlichen Veränderung in den Weg stellten. Hieraus und aus Gneisenaus Überzeugung, daß die enge Bindung Preußens an die übrigen Kernmächte der Heiligen Allianz seine Abhängigkeit von Rußland bewirken müßte, 48 kann geschlossen werden, daß die beabsichtigte Entsendung des Freundes nach London darauf zielte, ihn hier für eine Annäherung an das mächtige Inselreich wirken zu lassen. Allerdings stellte Gneisenaus Maxime, daß die „besten Köpfe der Nation", wenn sie schon im Innern des Staates nicht wirken könnten, „im Ausland das Interesse der Nation wahrnehmen" müßten, 49 Ansprüche an die Diplomatie, die unter.den Bedingungen der Herrschaft von Fürsten und Adel nicht zu verwirklichen waren. Clausewitz' Freunde verkannten wohl auch die Bedingungen, unter denen er in London zu wirken haben würde. Eine Bereitschaft zur Kooperation mit der auf die Erfüllung des Verfassungsversprechens vom 22. Mai 1815 drängenden preußischen Reformbewegung war 1819 von der Regierung Liverpool nicht zu erwarten, die im Innern auf heftige Gegnerschaft stieß. Die siegreiche Beendigung des Krieges gegen den französischen Konkurrenten hatte 1815 den Grund für neue Entwicklungsperspektiven der internationalen Machtstellung der britischen Bourgeoisie gelegt. Aber gleichzeitig gab es schwerwiegende Probleme in der inneren Entwicklung Großbritanniens: „Yet the first result of the peace was a severe political and economic crisis."50 Die Revolutionsfurcht der herrschenden Klasse, wie sie sich in der Erklärung des Prinzregenten bei der Parlamentseröffnung vom 23. November 1819 in London ausdrückte, wonach in den „industriellen Gesellschaftsklassen" ein Geist 46

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Clausewitz, Carl v., Vom Kriege, Berlin o. J., S. 345. Diese Bemerkung veranlaßte Raymond Aron, Clausewitz als „Theoretiker des europäischen Gleichgewichts" zu charakterisieren. Vgl. Aron, Raymond, Clausewitz: Den Krieg denken, Frankfurt a. M./Berlin (West) 1980, S. 158. Vgl. die aufschlußreichen Briefe an Karl von der Gröben vom 4. bis 8.1.1818 bzw. vom Dezember 1819, Kessel, Eberhard, Zu Boyens Entlassung, in: HZ, 1953, Bd. 175, S. 48; Hohlweg, Werner, Carl von Clausewitz: Soldat, Politiker, Denker, Göttingen 1957, S. 45. So schrieb er am 2. 2.1818 an den Staatskanzler: „Wenn man die Politik der verschiedenen Höfe erwägt, so liegt darin ebensoviel Ungünstiges für Preußen als im Jahre 1806, und wir werden zu einer Abhängigkeit von Rußland gebracht, die ebenso unerfreulich als unabwendbar ist." ZStAM, Rep. 92 Hardenberg K 38, Bl. 50. Aus einem Brief Gneisenaus an Clausewitz vom 9. 9.1820, Delbrück, Bd. 5, S. 441. Morton, A. L., A People's History of England, Berlin 1974, S. 361.

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lebendig sei, der auf den Umsturz des Rechts auf Eigentum und der gesamten Ordnung in der Gesellschaft ziele51, führte unter dem scharfmacherischen Einfluß des Innenministers Lord Sidmouth 52 zur Annahme der berüchtigten „Knebelungsgesetze" durch das Parlament, wodurch die politischen Rechte der Volksmassen eine weitere Einschränkung erfuhren. Unter diesen Voraussetzungen einer krisenhaften Zuspitzung der innenpolitischen Situation, der Bedrohung der überlieferten toryistischen Herrschaftsstrukturen durch eine machtvolle Massenbewegung, gewöhnte sich die englische Aristokratie daran, diese als Glied einer die Ordnung in Europa bedrohenden allgemeinen Gefahr anzusehen. Im übrigen bemühte sich der preußische Außenminister, dieses Gefühl wachsen zu lassen, indem er die Karlsbader Beschlüsse als der „Ruhe Europas" dienlich in London zu empfehlen suchte.53 Jetzt wuchs in den Reihen der englischen herrschenden. Klasse die Sympathie f ü r die Methoden, mit denen die Heilige Allianz auf dem Kontinent f ü r die Sicherung der bestehenden Ordnung kämpfte. 54 So äußerten sich nicht nur Außenminister Castlereagh und der englische Prinzregent zustimmend zu den Karlsbader Beschlüssen, sondern auch die „Times" sprach sich jetzt in scharfen Wendungen gegen die Tätigkeit der deutschen antifeudalen Opposition aus.55 Neben Castlereagh, der schon bei den Verhandlungen um den Abschluß des zweiten Pariser Friedens seine Antipathie gegenüber den militärischen Repräsentanten der deutschen Unabhängigkeitsbewegung zu erkennen gab56, und dem Herzog von Cumberland, dem späteren König von Hannover, der sich 1814 mit der Prinzessin Fnedrike von Mecklenburg vermählt hatte, seit 1818 in Berlin lebte und enge Beziehungen zum Hofe unterhielt, gehörte auch der englische Gesandte in Berlin, Georg Henry Rose, zu denjenigen Briten, die die Unterdrückung der deutschen antifeudalen Opposition uneingeschränkt befürworteten. Wie Metternich sah Rose in Preußen den Hauptsitz der Verschwörer: „The greatest danger to the peace of Germany, and therefore th that of Europa, exists in the revolutionary spirit prevailing in Prussia." 57 Für Rose als High Tory, der sich der kritischen Situation, der herrschenden Klasse in England stets bewußt blieb und dem schon die Ernennung Humboldts zum preußischen Gesandten in London als politisch äußerst gefährlich erschien58, war Clausewitz eine Persönlichkeit, die er von diesem „revolutio51

Vgl. StAD, Loc. 300 21, Gesandtschaft London 1818-1819, Bl. 31. Vgl. hierzu Gruner, Wolf D., Europäischer Friede als nationales Interesse. Die Rolle des deutschen Bundes in der britischen Politik 1814—1832, in: Bohemia. Jahrbuch des Collegiums Carolinum, Bd. 18, Wien 1977, S. 108 f. 53 Vgl. den Bericht Roses an Castlereagh vom 30. 9.1819, PRO, FO 64, Nr. 120, Bl. 103. 54 Vgl. hierzu die Feststellungen von Webster, Charles, The Foreign Policy of Castlereagh 1815—1822. Britain and the European Alliance, London 1934, S. 177. 55 Vgl. The Times, 29. 7.1819. 56 Vgl. Gruner, Wolf D., Der Deutsche Bund als „Centralstaat von Europa" und die Sicherung des Friedens. Aspekte britisch-deutscher Beziehungen in der internationalen Krise von 1819/20, in: Studien zur Geschichte Englands und der deutschbritischen Beziehungen, hrsg. von Lothar Kettenacker u.a., München 1981, S. 97. 57 Zit. nach ebenda, S. 95. 58 Vgl. Paret, Peter, Bemerkungen zu dem Versuch von Clausewitz, zum Gesandten in London ernannt zu werden, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Bd. 26, Berlin (West), 1977, S. 162. Paret gebührt das Verdienst, die 52

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nären Geist" erfüllt glaubte. Damit machte er sich die am Berliner Hof seit 1812 tief verwurzelten Abneigungen gegen Clausewitz voll und ganz zu eigen. Seit Clausewitz' Rebellion gegen den Abschluß des Februarvertrages von 1812 mit Napoleon, seiner kompromißlosen Wendung gegen dieses Unterwerfungsbündnis59, seinem Übertritt in russische Dienste und seiner Bekenntnisdenkschrift, deren Inhalt in der Umgebung des Königs bekannt wurde,60 war das Mißtrauen in seine politische Gesinnung in der Umgebung Friedrich Wilhelms III. niemals geschwunden. Tatsächlich war Clausewitz von den Rebellen des Jahres 1812 derjenige, der den nachtragenden Groll des Königs am nachhaltigsten zu spüren bekam. Erst nach längerer Zurückweisung wurde er 1814 mit der Russisch-Deutschen Legion als Oberst wieder in preußische Dienste übernommen, um danach erkennen zu müssen, daß er über keinerlei Einwirkungsmöglichkeiten auf militärpolitische Entscheidungen mehr verfügte.61 Als Angehöriger des Generalkommandos in Koblenz wie Gneisenau und dessen Kreis mit Görres, Schenckendorff und Benzenberg62 des „Jakobinismus" denunziert und verdächtigt, unter der Leitung Gneisenaus in einer illegalen staatsfeindlichen Organisation, dem angeblich im geheimen weiterwirkenden „Tugendbunde", tätig geworden zu sein63, sah sich Clausewitz 1818 als Direktor der Allgemeinen Kriegsschule in eine einflußlose Verwaltungsfünktion abgedrängt. Und obwohl die wissenschaftliche Leitung dieser militärischen Lehranstalt einem Studiendirektorium unter Oberst August Rühle von Lilienstern übertragen blieb64 und Clausewitz lediglich für ^die Disziplinarverhältnisse der kommandierten Offiziere zuständig sein sollte, schien es längere Zeit fraglich, ob seine

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im Londoner Public Record Offlee aufbewahrten Berliner Berichte Roses an das Foreign Offlee für die Darstellung der Affäre Clausewitz als erster ausführlich herangezogen, nach politischem Gehalt analysiert — wenngleich nicht allen in diesem Zusammenhang auftretenden Fragen nachgegangen wurde — und damit die durch Schwartz (S. 255) begründete Auffassung widerlegt zu haben, die die politischen Hintergründe dieser Affäre um die Besetzung des Londoner Gesandtenposten 1819/20 aussparte und die Animosität Roses gegen Clausewitz darauf zurückführte, daß dieser ihm nicht „geschmeidig" genug gewesen sei. Der dadurch ermöglichte tiefere Einblick in eine für das weitere Schicksal von Clausewitz bedeutungsvolle Episode gab W. Hahlweg als führendem bürgerlichem Vertreter der ClausewitzForschung Veranlassung, erneut auf das Desiderat der Abfassung einer umfassenden Clausewitz-Biographie aufmerksam zu machen, „in welcher alle bisher zugänglichen Quellen und wissenschaftlichen Untersuchungen herangezogen werden sollten", Hahlweg, Werner, Aktuelle Probleme der Clausewitz-Forschung, in: Wehrwissenschaftliche Rundschau, 1980, 3, S. 91. Vgl. hierzu Streisand, Joachim, Deutschland von 1789 bis 1815, Berlin 1959, S. 194 ff. Zu dieser naheliegenden Vermutung vgl. Marwedel, Ulrich, Carl von Clausewitz und das Jahr 1812, in: Militärgeschichte, Militärwissenschaft und Konfliktforschung, hrsg. von Dermot Bradley und Ulrich Marwedel, Osnabrück 1977, S. 286. Vgl. hierzu die Bemerkungen der Herausgeber der Quellenedition Carl von Clausewitz, Ausgewählte militärische Schriften, hrsg. von Gerhard Förster und Dorothea Schmidt, Berlin 1980, S. 37. Vgl. hierzu Otto, Hans, Gneisenau. Preußens unbequemer Patriot, Bonn 197.9, S. 366. Vgl. hierzu Unger, S. 372. Vgl. Paret, Peter, Clausewitz and the State, Oxford 1976, S. 272.

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Berufung selbst in dieses Amt durchzusetzen sein würde. Denn wie Gneisenau Clausewitz unterrichtete, hatte der König wissen wollen, ob man ihm denn die Jugend anvertrauen könne, „und zwar wegen Ihrer (Clausewitz' — H. M.) politischen Gesinnungen, und ob Sie nicht etwa unter die republikanischen Neuerer gehören, die den Thronen jetzt so gefährlich werden".65 In diesen Worten schwang unverkennbar Ironie mit, doch die Exponenten der Restaurationspolitik in Berlin nahmen ihre Zwangsvorstellungen für die Wirklichkeit. Das Bekenntnis zur Volksbewegung von 1813 und zur vorsichtig-reformerischen Weiterführung des Ubergangs zur monarchisch-konstitutionellen Ordnung innerhalb des preußischen Offizierskorps wurde beispielsweise von Herzog Karl von Mecklenburg als Untergrabung von Gehorsam, Subordination und Disziplin aufgefaßt. Die preußischen Armee-Einrichtungen seien es, behauptete er, die den jakobinischen Umtrieben die Hand böten: „Es ist in all diesen Dingen mehr Zusammenhang, als man glaubt und glauben sollte, und nirgends ist ein Damm gegen diese ansteckende Pest."66 Wittgenstein nutzte eine Kabinettsorder vom 11. Januar 1819, die die Beamten u. a. ermahnte, tadelnde Bemerkungen zu Regierungsmaßregeln zu unterlassen, um die Überwachung der als verdächtig geltenden Mitglieder des Offizierskorps zu intensivieren; er stellte dem Kriegsminister anheim, „welche ähnliche Verfügung an das Militär und an die Chefs militärischer Lehr- und Erziehungsanstalten besonders auch wegen sorgfältiger Wahl der bei solchen anzustellenden Lehrer und Vorgesetzten [zu] erlassen seien". Weiterhin sei hier die „genaue Beobachtung der Lehrer und Lernenden wohl auch sehr zu empfehlen".67 Wittgenstein konnte sich darauf stützen, daß sich unter den staatsfeindlicher Aktivitäten Beschuldigten auch zwei Lehrkräfte an militärischen Ausbildungseinrichtungen Berlins befanden. Es handelte sich um den Lehrer für Chemie an der Kriegss'chule, Karl Jung, und um den Oberleutnant Friedrich Förster, Lehrer für das Fach Kriegsgeschichte an der 1816 begründeten Artillerie- und Ingenieurschule.68 Er hatte 1818 in der in Jena von Heinrich Luden herausgegebenen Zeitschrift „Nemesis" einen Aufsatz „Uber die Verfassung im preußischen Staat" veröffentlicht, der die Einlösung des königlichen Verfassungsversprechens verlangte und gegen die sich seit 1815 mehrenden Zeichen einer reaktionären Politik protestierte.69 Das hatte die Aufmerksamkeit auch des preußischen Staatskanzlers erregt, der darüber mit Wittgenstein korrespondierte.70 Als Förster es nun wagte, sich in der „Bremer Zeitung" vom 1. August 1819 65 66

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Gneisenau an Clausewitz, 23.2.1818, Delbrück, Bd. 5, S. 292. Zit. nach Meinecke, Bd. 2, 1899, S. 360. Aus einer Denkschrift vom 17. 3.1818 für Friedrich Wilhelm III. Aus einem undatierten Schreiben Wittgensteins aus dem Frühjahr 1819, GStA, Rep. 192 Wittgenstein VII/B 11, Bl. 13 ff. Vgl. Rang- und Quartierliste der Königlich Preußischen Armee für das Jahr 1819, S. 287. Vgl. hierzu Breinig, S. 121. Vgl. die Briefe Hardenbergs an Wittgenstein vom 14. 6. und 4. 9.1818, Briefwechsel des Fürsten Karl August von Hardenberg mit dem Fürsten Wilhelm Ludwig von Sayn-Wittgenstein 1806-1822, hrsg. von Hans Branig, Köln/Berlin (West) 1972, S. 232, 237.

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zugunsten Friedrich Ludwig Jahns zu erklären, verfiel er der Maßregelung, verlor sein Lehramt an der Artillerie- und Ingenieurschule und mußte noch im selben Jahr seine Tätigkeit als Privatdozent an der Berliner Universität aufgeben.71 Karl Jung hingegen wurde von Wittgenstein am 22. Juni 1819 als Mitglied eines „zwischen Studenten, Beamten, Offizieren und anderen Personen" bestehenden und um den Hauptmann Rudolph von Plehwe gescharten „engeren Vereins" angesprochen, „dessen Zweck ist, die gegenwärtige öffentliche Verfassung, teils durch Verbreitung demagogischer Grundsätze und religiösen Fanatismus unter der Jugend und das Volk [sie!], teils durch Gewalt zu verändern und auf Einheit, Volkstümlichkeit und Freiheit eine neue Verfassung einzuführen". 72 Daraufhin wurde Jung am 7. Juli verhaftet und in den Festungsarrest überführt. Aber die Affäre weitete sich noch aus; denn zu den etwa 50 Unterzeichnern der sich mutig für Jahn aussprechenden öffentlichen Erklärung in der „Bremer Zeitung" gehörten neben Clausewitz73 auch vier Kursanten der Kriegsschule, und es lag nahe, hierfür den Einfluß des Direktors verantwortlich zu machen. Die vier mußten die Folgen tragen, denn sie, „welche die desfallsige Schrift mit unterzeichnet hatten, sind von der Kriegsschule, bei welcher solche sämtlich mit der Aussicht, künftig im Generalstab placiert zu werden, kommandiert gestanden hatten, zu ihren Regimentern zurückgeschickt worden".7'1 Daraufhin wurde der als unbedingt zuverlässig geltende, schon in den Ruhestand versetzte General von Pirch II reaktiviert und ihm die Oberaufsicht und Leitung der Berliner Militärerziehungsinstitute übertragen. 75 Diese Vorgänge hatten in der Öffentlichkeit beträchtliches Aufsehen erregt. So notierte Hardenberg im Dezember: „Die Beamten, viele Offiziere, Lehranstalten angesteckt . . . Die Jugend wird verdorben." 76 Wittgenstein unterstrich noch Jahre später die Beteiligung von Offizieren „und auch sogar von Lehrern bei unserem Kadettenkorps und der Kriegsschule" an den „Umtrieben".77 Clausewitz hatte seinen Gegnern Veranlassung gegeben, seine Loyalität gegenüber dem Staat erneut in Frage zu stellen. Paradoxerweise schien sein Bekenntnisschritt seiner Kandidatur für den Londoner Gesandtenposten zunächst eher förderlich gewesen zu sein; denn um ihn als Direktor der Kriegsschule loszuwerden und seinen „schlechten" Einfluß auf die zukünftigen Generalstabsoffiziere zu unterbinden, wollte ihn Friedrich Wilhelm III. in das weit ent71 72

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Vgl. Briefwechsel Hardenberg-Wittgenstein, S. 255. Aus einem Bericht Wittgensteins vom 22. 6.1819, GStA, Rep. 192 Wittgenstein VII/ B 5, Bl. 3. Vgl. Kettig, S. 39. Aus dem Bericht des sächsischen Gesandten in Berlin vom 4.10.1819, StAD, Außenministerium, Nr. 3450, Vol. IV, Bl. 291 f. Nach dem Bericht des sächsischen Gesandten in Berlin vom 30.12.1819, ebenda, Bl. 356. Zit. nach Thielen, S. 357. Vgl. hierzu den Brief Wittgensteins an den in Petersburg weilenden Prinzen Wilhelm vom 12.2.1826, GStA, Rep. 192 Wittgenstein III/3, 2 - 3 , Bl. 10.

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fernte London schicken.78 Doch bald konnte der englische Gesandte erleichtert berichten, daß der Vorfall an der Kriegsschule um die vier jungen Offiziere offenbar doch die Unterzeichnung der Berufungsurkunde für Clausewitz durch den König Verhindert habe.79 Als Gneisenau im Mai 18JJ9 Hardenberg darum ersuchte, Clausewitz den vakanten Londoner Gesandtenposten anzuvertrauen, konnte er nach seinen Unterredungen mit dem Staatskanzler in dieser Angelegenheit zunächst den Eindruck haben, daß sein Vorschlag nicht ungünstig aufgenommen worden sei.80 Auch sonst schienen die Umstände seiner Verwirklichung vorerst noch günstig zu sein. Noch besetzten Angehörige des Reformflügels wichtige Staatsämter, und die Berufung Humboldts zum Minister für landständische Angelegenheiten konnte als Indiz für die Einführung einer Staatsverfassung gedeutet werden. Doch die Ergebnisse des Teplitzer Treffens und namentlich die Verpflichtung Preußens, keine Repräsentatiwerfassung einzuführen, änderten die Lage vollständig. Die reformerischen Kräfte hatten hiermit eine entscheidende Niederlage erlitten. 81 Metternich konnte zu diesem Zeitpunkt mit Befriedigung auf seine Mitwirkung an der Amtsenthebung schon eines anderen, wenn auch zweitrangigen preußischen Diplomaten zurückblicken. Diese Aktion setzte ein Zeichen dafür, daß der verschärfte restaurative Kurs inzwischen auch auf die preußische Diplomatie ausstrahlte. Die Entlassung Karl August Varnhagens von Ense, der Preußen seit 1816 als Ministerresident in Baden vertrat, deutete schon auf den Ausgang der Auseinandersetzungen um die Berufung von Clausewitz auf den Londoner Gesandtenposten hin. Sie war von Metternich initiiert worden, indem er Varnhagen verdächtigte, als Schaltstelle zwischen deutschen, französischen und Schweizer „Revolutionärs" tätig zu sein, was seine Abberufung aus Karlsruhe notwendig mache.82 Unabhängig davon hatte Varnhagen längst durch sein Eintreten f ü r den konstitutionellen Gedanken in Süddeutschland, für die politischen Rechte des Bürgertums und gegen die Adelsvorrechte das Mißfallen des Karlsruher Hofes erregt.83 Namentlich seine freundschaftlichen Beziehungen zu Ludwig Winter wurden ihm nachgetragen, der als Abgeordneter der zweiten badischen Kammer im Frühjahr 1818 ein Edikt eingebracht hatte, das die Rechte der Standesherren Badens wesentlich zu beschränken suchte.84 Das geht jedenfalls aus der hämischen Feststellung von Gentz hervor, daß man Varnhagen nach seiner ' 78 Vgl. hierzu den Bericht Roses an Castlereagh vom 30.11. bzw. 11.11.1819, PRO, FO 64, Nr. 120, Bl. 244 f., 258. 79 Vgl. den Bericht Roses an Castlereagh vom 1.1.1820, ebenda, Nr. 123, Bl. 7 ff. 80 Vgl. Paret, Bemerkungen, S. 163. • 81 Zum Treffen von Teplitz vgl. den Bericht Metternichs in: Aus Metternichs nachgelassenen Papieren, Bd. 3, S. 258 ff.; Büssem, S. 263 ff. 82 Vgl. Büssem, S. 238. 83 Vgl. hierzu Bähtz, Dieter, Karl August Varnhagen von Ense (1785-1858). Beiträge zu einer „politischen" Biographie, phil. Diss., Halle 1981, S. 18 f. 84 Zur Stellung Ludwig Georg Winters in den politischen Auseinandersetzungen Badens 1819/20 vgl. Faber, Karl-Georg, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Restauration und Revolution. Von 1815-1851, Wiesbaden 1979, S. 110. /

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öffentlichen Umarmung Winters alles gönnen könne.85 Audi der preußische Gesandte in Karlsruhe, von Küster, warf Varnhagen vor, durch die „unglaubliche" Art, wie er „es seither nur mit der Partei der Demagogen unter den Badischen Ständen öffentlich gehalten", in Karlsruhe den falschen Eindruck erweckt zu haben, als repräsentiere er offizielle preußische Ansichten.86 Bezeichnenderweise vermutete Niebuhr, der als Angehöriger der Reformgruppierung für die Freiheit der Presse und für eine preußische Verfassung eingetreten war und seitdem das Amt eines Gesandten in Rom ausübte,87 daß nun auch an seine Entfernung aus dem diplomatischen Dienst gedacht sei, da Metternich in ihm einen „Jakobiner" rieche.88 Im Sommer 1819 war allerdings über die Besetzung des Londoner Postens noch nicht endgültig verfügt worden. Doch äußerten jetzt mehrere Beobachter der Szene bereits die Vermutung, daß dabei in erster Linie an Heinrich Wilhelm von Werther, einen seit 1810 dienenden Berufsdiplomaten, gedacht würde, obwohl gleichzeitig bekannt wurde, daß sich der Staatskanzler dieser Berufung widersetze.89 Varnhagen war überzeugt, daß sich Werther, den er als „argen Ultra" charakterisierte, der Unterstützung Bernstorffs versichert hatte, der durch die Nominierung von Clausewitz offenbar überrascht worden sei.90 Diese Vermutung scheint indes unbegründet, da Clausewitz bereits seit einiger Zeit enge persönliche Beziehungen zur Familie des Außenministers unterhielt, mit dem er in Aachen bekannt geworden war. Doch Bernstorff wußte natürlich um den Ruf des Generals bei Hofe und mußte fürchten, daß er seine eigenen guten Beziehungen zur Hofpartei aufs Spiel setzte, wenn er sich der Kandidatur des Mißliebigen zu eifrig annahm. Dennoch unterstützte er Clausewitz so lange, wie das bei den Widerständen gegen seine Berufung anging.91 Als die Frage der Personalentscheidung im September 1819 an Friedrich Wilhelm III. herangetragen wurde, war der Einfluß derjenigen, die Clausewitz' Berufung unterstützten, längst im Schwinden begriffen. Hingegen erfuhr die Position der restaurativen Kräfte zusätzlich dadurch eine Kräftigung, daß auch in den leitenden Regierungskreisen von Paris92 und London93 der mit den Karls85 86 87

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Gentz an Pilat, 30. 7.1819, Briefwechsel Gentz — Pilat, Bd. 1, S. 389. Küster an Wittgenstein, 21. 7.1819, GStA, Rep. 192 Wittgenstein VII/B 5, Bl. 18. Vgl. hierzu die Charakterisierung Niebuhrs durch Rose, der in ihm einen Vertreter des „rationalen Liberalismus" sah, der seine Ideale in der englischen Staatsverfassung verwirklicht fände. Rose an Castlereagh, 20. 7.1816, PRO, FO 64, Nr. 103, Bl. 159 f. Vgl. den Brief Niebuhrs vom 15.12.1819 an Frau D. Hensler, Niebuhr, S. 499. Vgl. die Berichte des sächsischen Gesandten in Berlin vom 23. 8. bzw. 9. 9. 1819, StAD, Außenministerium, Nr. 3450, Vol. IV, Bl. 267. Vgl. die Tagebuchnotiz Varnhagens vom 29.11.1819, Aus dem Nachlasse Varnhagens von Ense. Blätter aus der preußischen Geschichte von K. A. Varnhagen von Ense, Bd. 1, Leipzig 1868, S. 8. Auch der sächsische Gesandte äußerte am 8.11. erneut die Überzeugung, daß Werther von Bernstorff schon feste Zusagen für den Londoner Posten gemacht worden seien. Vgl. StAD, Außenministerium 3450, Vol. IV, Bl. 317. Vgl. Paret, Clausewitz and the State, S. 322. Vgl. Wenger, Klaus Rudolf, Preußen in der öffentlichen Meinung Frankreichs 1815-1840, Göttingen 1979, S. 71.

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bader Beschlüssen eingeleitete scharfe repressive Kurs in der deutschen Innenpolitik uneingeschränkt gebilligt wurde. Unter diesen Umständen leitete der englische Gesandte in Berlin Anfang November eine Gegenoffensive gegen den Berufungsplan Humboldts und Gneisenaus ein. Zum Ausgangspunkt hierfür wählte er eine Unterredung mit dem preußischen Außenminister. Dieser bestätigte ihm auf eine entsprechende förmliche Frage, daß wirklich daran gedacht werde, Clausewitz nach London zu entsenden. Daraufhin suchte Rose Bernstorff mit dem Hinweis darauf, daß die große Mehrheit der Personen, mit denen er über Clausewitz gesprochen habe, ihn nicht für völlig frei von revolutionären Ansichten hielte, von dessen Berufung nach London abzuschrecken. Denn gerade das sei die unabdingbare Voraussetzung für eine Berufung auf einen solchen Posten in einem Augenblicke, da es um die Bekämpfung der Anarchie ginge. Die Großmächte, fuhr er fort, müßten die Garantie haben, darin mit dem äußersten Vertrauen zusammenarbeiten zu können. Deshalb würde die Entsendung eines Mannes, dem man wegen seiner Ansichten nicht völlig vertrauen könne, in London Unbehagen hervorrufen. 94 Bernstorff hatte sich dieser Argumentation gegenüber als unzugänglich erwiesen; offensichtlich war durch das anmaßende Verlangen eines fremden Gesandten, der preußischen Regierung die Wahl ihrer diplomatischen Vertreter vorschreiben zu wollen, sein Selbstgefühl verletzt worden. Deshalb sorgte Rose zunächst dafür, daß Hardenberg, der gerade den österreichischen Gesandten darüber verständigt hatte, daß die Entsendung von Clausewitz nach London eine beschlossene Sache sei, über seine Vorbehalte nicht im unklaren blieb.95 Außerdem aber „internationalisierte" er sein Intrigenspiel, indem er Verbindungen mit den diplomatischen Vertretern Rußlands und Österreichs in Berlin, Alopeus und Stephan Graf Zichy96, aufnahm. Mit ihnen führte er bald ein Einvernehmen in dem Sinne herbei, daß gegen die Entsendung des politisch unzuverlässigen Generals nach London Bedenken erhoben werden müßten, da durch sie die „Eintracht" zwischen den Mächten gefährdet werde. Zichy sagte Rose darüber hinaus zu, Metternich über den Stand der Angelegenheit unverzüglich zu unterrichten. 97 Bereits am 10. November konnte sich Rose kurz vor dem Ziel wähnen, denn Clausewitz wurde jetzt auch von Bernstorff fallengelassen. Dieser erklärte, daß der König die Nominierung des Generals lediglich als einen Vorschlag aufgefaßt habe, ein förmlicher Beschluß aber noch nicht erfolgt sei und es bei den Bedenken, die Rose nun einmal in Clausewitz' politische Gesinnungen setze,

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Vgl. hierzu den aufschlußreichen Bericht Roses an Castlereagh vom 22.10.1819 über Bernstoffs Reaktion auf die Zustimmung des englischen Außenministers zu den Beschlüssen, PRO, FO 64, Nr. 120, Bl. 150. Vgl. den Bericht Roses an Castlereagh vom 9.11.1819, ebenda, Bl. 195 f. Vgl. Paret, Bemerkungen, S. 165. Zu Zichys Berliner Mission vgl. Matsch, Erwin, Geschichte des auswärtigen Dienstes von Österreich (-Ungarn) 1720-1920, Wien/Köln/Graz 1980, S. 120. Vgl. den Bericht Roses an Castlereagh vom 11.11.1819, PRO, FO 64, Nr. 120, Bl. 204 f.

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auch nicht ratsam sei, auf seiner Entsendung nach London weiter zu bestehen. Damit kapitulierte er vor dem englischen Gesandten.98 Dieser erste Erfolg veranlaßte Rose sogleich zu weiteren Aktivitäten. In der richtigen Uberzeugung, daß der sicherste Weg, die Entsendung von Clausewitz nach London endgültig zu vereiteln, in der Einschaltung des einflußreichen Fürsten Wittgenstein zu suchen sei, überredete er den österreichischen Gesandten, diesem seine Bedenken vorzutragen. Bei dieser Gelegenheit ließ er zusätzlich durchblicken, daß der König die Nominierung von Clausewitz lediglich als einen Vorschlag aufgefaßt habe. Daraufhin nahm Zichy mit Wittgenstein Verbindung auf und erklärte ihm, daß die Front der diplomatischen Vertreter Englands, Österreichs und Rußlands die Angelegenheit völlig einmütig beurteile. Bei Wittgenstein brauchten keine Vorbehalte überwunden zu werden. Denn er ließ Zidiy seinerseits nicht im unklaren darüber, daß auch er den König längst vor der Berufung von Clausewitz nach London gewarnt habe. Im übrigen erklärte er selbstverständlich seine Bereitschaft, Friedrich Wilhelm III. auch die Bedenken der erwähnten Gesandten vorzustellen." Bei dem großen Einfluß, den Wittgenstein auf die Entschlüsse des Königs ausübte, und bei der führenden Rolle, die ihm im Kampf gegen die antifeudale Opposition allgemein zugesprochen wurde — Bernstorff nannte ihn den „Urheber unseres ganzen jetzigen Wirkens und Strebens"100 —, war mit seiner Einschaltung in die Affäre die Entscheidung praktisch schon vorweggenommen. Die Front der Gegner Clausewitz' reichte jetzt von den diplomatischen Vertretern dreier Größmächte über zwei Angehörige der königlichen Familie, den einflußreichen Hof- und ehemaligen Polizeiminister bis hin zu Ancillon, der in der Zeit der Wiener Konferenzen Bernstorff vertrat.101 Ancillon hatte sich längst in Besprechungen mit Rose als dessen Verbündeter gegen Clausewitz zu erkennen gegeben. In diesem Sinne war er bereits tätig geworden. Denn indem er Hardenberg darüber informierte, daß der englische Prinzregent nicht auf der Entsendung eines preußischen Offiziers auf den Londoner Gesandtenposten bestehe, wie bisher auf Grund von Meldungen Humboldts in Berlin angenommen, suchte er die Entsendung von Clausewitz in Frage zu stellen.102 Inzwischen war der Personengruppe, die Clausewitz allein hätte Rückhalt geben können, mit der Entlassung Humboldts, Boyens, Beymes und Grolmans der entscheidende Schlag versetzt worden. Gneisenaus Position war längst auf die bloße Wahrnehmung äußerer Repräsentationspflichten beschränkt, und mit dem Fall Humboldts waren auch Hardenbergs Verfassungspläne endgültig vereitelt worden, auch wenn der preußische König erst am 11. Juli 1821 einen ablehnenden Beschluß verkünden ließ.103 Dennoch hielt sich in der Öffentlichkeit noch einige Zeit der Eindruck, als sei Vgl. den Bericht Roses an Castlereagh vom 13.11.1819, ebenda, Bl. 208 f£. Vgl. Paret, Bemerkungen, S. 166. 100 Bernstorff an Wittgenstein, 30.11.1819. Zit. nach Branig, S. 127. 101 Vgl. hierzu den Bericht von Krusemarcks an Friedrich Wilhelm III. aus Wien vom 20.11.1819, ZStAM, 2.4.1. Abt. I Nr. 5991, Bl. 146. 102 vgl. Paret, Bemerkungen, S. 167. 103 Vgl. Baach, S. 72. 98

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Clausewitz' Eerufung gewiß.104 Clausewitz selbst unternahm, offenbar nichtsahriend, noch um den 20. November den Versuch, Rose für sich einzunehmen. In einem Gespräch mit ihm hob er die Wertschätzung hervor, die er seit längerer Zeit für die britische Nation empfinde, und stellte fest, daß er niemals auf der Seite der Feinde Englands Waffen getragen habe. Dieser Versuch schlug fehl — wobei Rose Clausewitz täuschte; nicht nur, daß er seine Anstrengungen verschwieg, Clausewitz' Entsendung nach London unter allen Umständen zu vereiteln, sondern er gab sich den Anschein, die Entscheidung des preußischen Königs abwarten zu wollen. Außerdem versicherte er Clausewitz, ihn Castlereagh als Ehrenmann empfohlen zu haben.105 Ähnlich verfuhr Rose in einer Unterredung mit Gneisenau. Der dänische Diplomat Eugen von Reventlow wußte es freilich besser. Bereits am 3. Dezember meldete er nach Kopenhagen, daß die Nominierung von Clausewitz mit großer Wahrscheinlichkeit erledigt sei, weil man ihn der Zugehörigkeit zur demokratischen Partei und der Mitgliedschaft im Tugendbund bezichtige.106 Rose hatte sich allerdings noch einige Tage zu gedulden, bis er seiner Sache ganz sicher sein konnte. Erst am 18. Dezember konnte er nach London melden, daß sich Friedrich Wilhelm III. jetzt bestimmt ausgesprochen habe: „Ich weiß nicht, warum ich einen Mann als meinen Vertreter berufen soll, der immer Widerstand geleistet hat."107 Roses Gewißheit, am Ziel zu sein, wurde weiter dadurch genährt, daß er — wahrscheinlich von Ancillon — erfuhr, daß der König nur noch auf ein entsprechendes Wort aus London warte, um die Unterschrift für die Berufung von Clausewitz nach London endgültig abzulehnen.108 Aber das Londoner Foreign Office wahrte Zurückhaltung. Mehr noch: Am 20. Dezember erhielt Rose ein Schreiben Joseph Plantas, eines Gehilfen Castlereaghs. Planta legte ihm nahe, in der Berufungsangelegenheit nicht weiter aktiv zu werden und der preußischen Regierung ihre Regelung allein zu überlassen. Rose solle sich dazu erst äußern, wenn er aus London entsprechende Weisungen erhalten habe.109 Clausewitz, wenn auch tief betroffen durch das Ausscheiden Boyens und Grolmans aus ihren Ämtern und wegen des ,,allgemeine[n] Mißtrauen[s] über die politischen Grundsätze aller Leute, die nicht mit Angst und Schrecken vor den Studenten und Professoren erfüllt sind"110, hoffte immer noch, daß Hardenberg auf seiner Nominierung beharren werde. Doch er begann jetzt, allmählich Klarheit über die Front seiner Gegner zu gewinnen. Er vertraute einem Bekannten an, daß sich nicht nur der englische Gesandte, der Herzog von Cum104 vgl. hierzu den Bericht des sächsischen Gesandten in Berlin vom 15.11.1819. Hier wurde ausgeführt, daß man seiner Ernennung täglich entgegensehe, StAD, Außenministerium, Nr. 3450, Vol. IV, Bl. 325. Varnhagen gab sich davon nach dem 2.12. überzeugt, Varnhagen, Bd. 1, S. 11. 105 Vgl. den Bericht Roses an Castlereagh vom 20.11.1819, PRO, FO 64, Nr. 120, Bl. 227. 106 vgl. Paret, Clausewitz and the State, S. 321. 107 Vgl. den Bericht Roses an Castlereagh vom 18.12.1819, PRO, FO 64, Nr. 120, Bl. 265. 108 Vgl. ebenda, Bl. 274. 109 vgl. Paret, Bemerkungen, S. 169. 110 Aus einem Brief an Oberst Karl von der Gröben vom 26.12.1819, Kessel, Zu Boyens Entlassung, S. 53.

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Harald Müller

berland und Ancillon für Werthers Entsendung nach London erklärt, sondern auch das „ganze diplomatische Korps mit Ausnahme von einigen wenigen" seine Nominierung mit Mißfallen aufgenommen hätte.111 Dabei sah er in Ancillon seinen Hauptwidersacher.112 Er stellte resigniert fest, daß ihm angesichts des in Berlin vorherrschenden denunziatorischen Klimas nur übrigbleibe, „sich mit Indignation in sein Innerstes zurückzuziehen und gegen alle Welt zu verschließen".113 Es sollten allerdings noch nahezu zwei Jahre vergehen, bis der Londoner Gesandtenposten im Oktober 1821 besetzt wurde, nicht mit Clausewitz, sondern mit Werther, seit 1819 nominell preußischer Gesandter in Madrid, aber fortgesetzt in Berlin lebend und hier seine Versetzung nach London erwartend und betreibend.114 Die Entscheidung war im Juni 1821 gefallen, nachdem sich Wittgenstein und Bernstorff gegen die von Hardenberg gegen ihren Kandidaten erhobenen Einwände hatten endgültig durchsetzen können.115 Der durch seine Taubheit und andere körperliche Gebrechen behinderte Kanzler entschied sich mit Bernstorff nun für Werther. Allerdings erzwang die Abwesenheit des Königs eine Verzögerung116, bis Maitzahn das Foreign Office am 31. August davon unterrichten konnte, daß Werther mit der Londoner Mission betraut worden war.117 Am 10. September wurde das englische Einverständnis ausgesprochen.118 Vorher erschien das Personalproblem lange als ungelöst; denn Clausewitz' Name wurde formell nie zurückgezogen, obwohl der Herzog von Cumberland dessen Berufung in einem Brief an seinen Bruder, König Georg VI., im März 1820 als ein lange schon nicht mehr zur Debatte stehendes Faktum behandelte.119 Im Sommer desselben Jahres erschien sogar vorübergehend ein weiterer Kandidat in der Person des Generals Graf Tauentzien, der als preußischer Vertreter bei den Feierlichkeiten anläßlich der Inthronisation Georgs VI. in London weilte. Diese von Rose und Cumberland130 favorisierte Wahl scheiterte indes an Tauentziens Ablehnung. Danach hatte Rose zeitweise befürchtet, daß Hardenberg wieder auf Clausewitz zurückkommen könnte. Seine Unruhe war noch gewachsen, als er im Oktober 1820 von Bernstorff erfuhr, daß daran gedacht würde, Clausewitz Genugtuung zu verschaffen.121 Tatsächlich kämpfte Clausewitz, obwohl er im Grunde wohl nicht mehr auf

Vgl. ebenda, S. 51. Vgl. seinen Brief an Gneisenau vom 18.12.1819, Delbrück, Bd. 5, S. 400. 113 Vgl. Kessel, S. 54. 114 Vgl. hierzu Allgemeine Deutsche. Biographie, Bd. 42, Leipzig 1897, S. 111. 115 Vgl. dazu die Tagebuchnotiz Varnhagens vom 4.7.1821: „Der Kanzler soll jetzt dem Herrn Grafen Bernstorff beigetreten sein, daß Herr von Werther als Gesandter nach London geht, Herr General von Clausewitz aber beseitigt werden soll." Varnhagen, S. 334. 116 Vgl. den Bericht Roses an Castlereagh vom 29. 6.1821, PRO, FÖ 64, Nr. 121, Bl. 247. 117 Maitzahn an den Marquis Londonderry am 31. 8.1821, ebenda, Nr. 130, Bl. 96. 118 Vgl. ebenda, Bl. 102. 119 vgl, Paret, Bemerkungen, S. 170. 120 Auch Varnhagen war im Mai 1820 nun überzeugt, daß Tauentzien als Gesandter in London bleiben werde. Vgl. seine Notiz vom 7.5.1820, Varnhagen, S. 132. 121 Vgl. den Bericht Roses an Castlereagh vom 11.10.1820, PRO, FO 64, Nr. 124. 111

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den Londoner Posten rechnete, weiter für seine Interessen.122 Am 30. September forderte er Bernstorff ein letztes Mal auf, im Interesse seiner Berufung abermals bei Hardenberg vorstellig zu werden.123 Erst im Spätherbst zog er schließlich seine Kandidatur in aller Form zurück, indem er den Außenminister ersuchte, sie als nicht vorhanden anzusehen.124 Allerdings hegte er weiter die Hoffnung, mit einem anderen diplomatischen Amt betraut zu werden.125 Die endgültige Entscheidung zugunsten Werthers war mehr als eine routinemäßig getroffene Personalentscheidung. Sie war vielmehr Ausdruck eines politisch determinierten Auswahlprinzips, für das die mit den Karlsbader Beschlüssen eingeleitete Repressivpolitik Pate stand. Einer der Urheber des in Karlsbad eingeleiteten Kurses, Fürst Wittgenstein, legte dieses Prinzip dem preußischen Staatskanzler im Dezember 1821 ipit folgenden Worten dar: „Man spricht von Parteien und Parteigeist, aber in unserem Staat existiert nur eine Partei, und diese ist die reine Ausführung der wohlwollenden Absichten und Befehle Seiner Majestät. Alles, was diesem entgegen ist, muß mit Ernst und Nachdruck zurückgewiesen und diejenigen Personen, von denen es notorisch ist, daß sie diese wohlwollenden Absichten zu umgehen bemüht sind und in diesem Sinne bis jetzt gehandelt haben, müssen zum wenigsten nicht in einer Stellung oder einem Wirkungskreis bleiben, wo sie gefährlich werden können."126 Clausewitz war diesem Prinzip geopfert worden, das darauf zielte, alle Staatsämter von einiger Bedeutung Personen vorzubehalten, die als reine Willensvollstrecker der spätfeudalen Restaurationspolitik eingestuft wurden. 122 123 124 125

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Vgl. seinen Brief an Gneisenau vom 16. 9.1820, Delbrück, Bd. 5, S. 442. Vgl. Schwartz, S. 255 f. Vgl. ebenda, S. 256 ff. Undatiertes Schreiben an Bernstorff. Im Mai 1821 bat Gneisenau den Staatskanzler, von einer Berufung Clausewitz' in den Staatsrat abzusehen, da er auf die Einlösung der ihm zuteil gewordenen Zusicherung, entsprechend beschäftigt zu werden, rechne. Gneisenau an Hardenberg, 29. 5.1821, ZStAM, Rep. 92 Hardenberg K 38, Bl. 80. Wittgenstein an Hardenberg, 4.12.1821, Briefwechsel Hardenberg-Wittgenstein. S. 284.

Rolf Dlubek

Aus der Biographie von Johann Philipp Becker. Die politischen Lehrjahre in der Pfalz

Als Karl Marx und Friedrich Engels die historische Mission des Proletariats begründeten und die revolutionäre Arbeiterbewegung formierten, scharten sich um sie hervorragende Revolutionäre. Männer unterschiedlicher sozialer Herkunft und Nationalität, verschiedenen Werdegangs und Talents machten , zur Richtschnur ihres politischen Handelns die Erkenntnis, daß die Arbeiterklasse dazu berufen ist, im Bündnis mit den anderen Werktätigen die kapitalistische Ausbeuterordnung zu stürzen, die sozialistische und kommunistische Gesellschaft zu errichten und damit Ausbeutung und Unterdrückung, Krisen und Kriege für immer aus dem Leben der Menschheit zu verbannen. Eine der markantesten Gestalten unter diesen Wegbereitern des Sozialismus war Johann Philipp Becker.1 Der gebürtige Pfälzer trat bereits mit 23 Jahren auf dem Hambacher Fest 1832 als Redner hervor. 1838 in die Schweiz emigriert, beteiligte er sich an den demokratischen Aktionen der deutschen Flüchtlinge und Arbeitervereine sowie der Schweizer Radikalen, und im Sonderbundskrieg kämpfte er als Offizier in der eidgenössischen Armee. Weithin bekannt wurde Becker in der Revolution 1848/49. Während der Reichsverfassungskampagne zum Oberbefehlshaber der badischen Volkswehr ernannt, erwies er sich als „ein geborner Volksheerführer, von merkwürdiger Geistesgegenwart und mit einem seltenen Geschick, junge Truppen zu behandeln".2 Engels charakterisierte Becker als „den einzigen deutschen Revolutionsgeneral, den wir hatten",3 und Jeniy Marx nannte ihn „unseren deutschen Garibaldi"4. Durch und durch eine Kämpfernatur, sympathisierte Becker früh mit dem 1

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Engels, Friedrich, Johann Philipp Becker, in: MEW, Bd. 21, S. 319-324; Mehring, Franz, Johann Philipp Becker, in: Die Neue Zeit, Stuttgart, 1908/09, Bd. 1, S. 937ff.; Dlubek, Rolf, Johann Philipp Becker. Vom radikalen Demokraten zum Mitstreiter von Marx und Engels in der I. Internationale (1848—1864/65), phil. Diss., Berlin 1963; Osobova, Inna Petrovna, J. F. Bekker. Na pute k marksizmu, dis. kand. ist. n., Moskau 1972. Friedrich Engels an August Bebel, 8.10.1886, in: MEW, Bd. 36, S. 542. Engels, Johann Philipp Becker, S. 324. Jenny Marx an Johann Philipp Becker, 7.11.1872, IML, ZPA, Ms. 1000;- vgl. Dlubek, Rolf, Ein deutscher Revolutionsgeneral. Johann Philipp Becker in der Reichsverfassungskampagne, in: JbG, Bd. 7, 1972, S. 557-611; ders., Johann Philipp Becker — Revolutionsgeneral und Vorkämpfer des proletarischen Internationalismus, in: Militärgeschichte, Berlin 1974, 1, S. 68—90.

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Proletariat, und nach den Erfahrungen der Revolution von 1848/49 suchte er seinen Platz in der Arbeiterbewegung. 1860 schloß er sich der kommunistischen Parteirichtung an. In der Internationalen Arbeiterassoziation gehörte Becker von Anfang an zu den engsten und aktivsten Mitstreitern von Karl Marx und Friedrich Engels.5 „Er ist die Seele der internationalen Arbeiterbewegung in der Schweiz und hat in der Tat auch alle deutschen Elemente geworben, die sich bisher in Deutschland selbst der Assoziation angeschlossen haben",6 urteilte im Sommer 1868 ein sachkundiger Autor auf Grund Marxscher Informationen. Ein Jahr später nahm Becker als Präsident der Sektionsgruppe deutscher Sprache auch am Gründungskongreß der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Eisenach teil. Nach der Auflösung der I. Internationale wirkte der „alte Becker" von Genf aus noch fast anderthalb Jahrzehnte für die deutsche, die schweizerische und die internationale revolutionäre Arbeiterbewegung. Friedrich Engels zufolge verstand er es, „im achtundsiebzigsten Jahre noch ebenso frisch in den ersten Reihen zu stehen wie im achtzehnten".7 Beckers Entwicklungsweg widerspiegelt in markanter Weise, daß die Arbeiterklasse zu jener gesellschaftlichen Kraft aufstieg, welche die von der Bourgeoisie mit Füßen getretenen und vom Kleinbürgertum nur noch mattherzig vertretenen demokratischen Ideale hochhielt und im Kampf für ihre sozialistischen Ziele weiterentwickelte. Vor allem infolge dieser Erfahrung ging Becker gleich Wilhelm Liebknecht, Friedrich Adolph Sorge, Victor Schily und anderen, dte 1848/49 unter seinem Kommando gekämpft hatten, den Weg vom kleinbürgerlichen Demokratismus zum proletarischen Sozialismus. Dabei war er früher ins politische Leben getreten als die meisten seiner Kampfgefährten in der I. Internationale. Als sich Becker in den Kreis der Mitstreiter von Marx einreihte, nannte dieser den neun Jahre älteren den „Veteranen unserer Revolution und Emigration".8 Marx achtete Becker als „einen der nobelsten deutschen Revolutionäre seit 1830".9 Nach Bismarcks Reichsgründung mußte die deutsche Sozialdemokratie dem junkerlich-großbourgeoisen militaristischen deutschen Kaiserreich die Alternative der Arbeiterklasse auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens entgegensetzen und dazu ihre Verbundenheit mit den fortschrittlichen Traditionen der deutschen Geschichte verdeutlichen. Dieser Aufgabe widmete sich mit großem Eifer auch Johann Philipp Becker, der älteste noch aktive Teilnehmer der revolutionären Bewegung. Angeregt vor allem durch Wilhelm Liebknecht, veröffentlichte er ab 1876 eine Reihe von Skizzen über sein Wirken in den 30er und 40er Jahren. Anläßlich des 50. Jahrestages des Hambacher Fests wandte er sich in einem offenen Brief an seine deutschen Parteigenossen und rief die große Volksdemonstration für ein republikanisches Deutschland in Er5

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Vers., Johann Philipp Becker als Pionier der Internationalen Arbeiterassoziation, in: Evolution und Revolution in der Weltgeschichte. Ernst Engelberg zum 65. Geburtstag, Bd. 2, Berlin 1976, S. 457-486; Engelberg, Ernst, Johann Philipp Becker in der I. Internationale. Fragen der Demokratie und des Sozialismus, Berlin 1964. Eichhoff, Wilhelm, Die Internationale Arbeiterassociation. Ihre Gründung, Organisation, politisch-sociale Thätigkeit und Ausbreitung, Berlin 1868, S. 35. Engels, Johann Philipp Becker, S. 323. Karl Marx an Johann Philipp Becker, 9.4.1860, in: MEW, Bd. 30, S. 526. Karl Marx an Ferdinand Lassalle, 28. 4.1862, ebenda, S. 621.

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innerung.10 Beckers Zuschrift wurde in der Schweiz als Flugblatt gedruckt, mit der „Roten Feldpost" nach Deutschland geschmuggelt und von Pfälzer Sozialdemokraten verbreitet, nachdem Gedenkfeiern für das Hambacher Fest verboten worden waren.11 Vom Standpunkt der revolutionären Arbeiterbewegung auch die fortschrittlichen Traditionen der 30er Jahre des 19. Jh. zu erschließen, hielten die Begründer des Marxismus für unumgänglich, hatte sich doch nach der Julirevolution von 1830 in Deutschland erstmals eine demokratische Bewegung von nationaler Bedeutung entfaltet und aus ihr sich die erste politisch selbständige deutsche Arbeiterorganisation herausgelöst. Das verdeutlichte Engels, der sich Mitte der 80er Jahre in mehreren historischen Arbeiten den Anfängen der Arbeiterbewegung zuwandte. Er schrieb 1885 an Becker: „Es wäre von der höchsten Wichtigkeit, daß Du Deine Memoiren fertig machtest, . . . obendrein gehn Deine Erinnerungen volle 10—15 Jahre weiter zurück als die meinigen und umfassen [auch] die Zeit von 1830-1840."12 Als Becker im Herbst 1886 Engels nochmals in London besuchte, berieten beide dieses Vorhaben. Der Mitbegründer des wissenschaftlichen Sozialismus setzte sich danach persönlich dafür ein, daß die deutsche Sozialdemokratie den Veteranen finanziell unterstützte, damit er „seine für die Geschichte der revolutionären Bewegung in Deutschland, also für die Vorgeschichte unsrer Partei, und teilweise seit 1860 auch für die Parteigeschichte selbst, höchst wichtigen Denkwürdigkeiten aufschreiben"13 könne. Engels betonte: „Die Darstellung dieser Verhältnisse von einem Mithandelnden, und zwar dem einzigen aus den dreißiger Jahren, der auf unserrn Standpunkt steht, ist absolut notwendig . . . Oder aber, sie wird von Leuten unternommen, die uns feindlich sind . . . Es ist eine Gelegenheit, die sich nie wieder bietet, und die fahrenzulassen ich für ein Verbrechen hielte."14 Becker starb, ehe er seine Memoiren verfaßt hatte, und seine Erinnerungen kann keine biographische Darstellung eines Historikers ersetzen. Beckers frühe Entwicklung und Wirksamkeit nachzuzeichnen, ist jedoch in unseren Tagen für die Historiker der Deutschen Demokratischen Republik nicht weniger wichtig, als sie es vor hundert Jahren für die theoretischen Wortführer der revolutionären Sozialdemokratie war. Alle fortschrittlichen Traditionen der deutschen Geschichte immer umfassender aufzuarbeiten, ist eine aktuelle Aufgabe bei der Ausprägung der geistigen Grundlagen der entwickelten sozialistischen Gesellschaft und des sozialistischen Nationalbewußtseins. Dabei gilt es, Versuchen der bürgerlichen Geschichtsschreibung entgegenzuwirken, auch demokratische Bewegungen wie die von Hambach in die Ahnenreihe des staatsmonopolistischen Herrschaftssystems der BRD hineinzupressen und sie dazu ihres wirklichen Inhalts zu entleeren. 10

Becker, Johann Philipp, Offener Brief an die deutschen Parteigenossen bei Gelegenheit der fünfzigjährigen Gedenk-Feier des Hambacher Festes, Hottingen/Zürich

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Schneider, Erich, Die Anfänge der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in der Rheinpfalz 1864—1899. Ein Beitrag zur süddeutschen Parteigeschichte, phil. Diss., Mainz 1956, S. 71-75. Friedrich Engels an Johann Philipp Becker, 5.12.1885, in: MEW, Bd. 36, S. 400. Friedrich Engels an August Bebel, 8.10.1886, ebenda, S. 542. Friedrich Engels an Eduard Bernstein, 9.10.1886, ebenda, S. 545.

1882.

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Becker hatte mehrfach kurze Abrisse seines Lebensweges niedergeschrieben, ehe er an die Abfassung seiner Memoiren dachte. Eine bis heute unveröffentlichte autobiographische Skizze, die 1852 entstand, ist die wichtigste Quelle für die Darstellung seiner Entwicklung in den Kinder- und Jugendjahren.15 In einem informativen „Curriculum vitae", das Becker 1860 für Marx verfaßte, notierte er stichwortartig die wichtigsten Daten seines Lebens seit 1830.16 1862 gab er einem Mitstreiter aus der Reichsverfassungskampagne, dem Demokraten Carl Schneider, biographische Informationen, die dieser in einigen von der Forschung bisher nicht beachteten Artikeln publizistisch verwertete.17 Friedrich Engels konnte für seinen großen Nachruf im „Sozialdemokrat" 1886 noch Angaben nutzen, die ihm Becker während seines letzten Besuchs gemacht hatte, darunter solche über die Jugendentwicklung. Für eine eingehendere Darstellung von Beckers Werdegang muß die Quellenbasis aber in mühsamer Mosaikarbeit zusammengetragen werden, und dabei bleibt manche Lücke offen.18 In der historischen Literatur wurden angesichts der schwierigen Quellenlage Beckers Jugendentwicklung und sein Wirken in den 30er Jahren bisher mehr oder weniger kursorisch behandelt. Pionierarbeit für die Erhellung seiner frühen Biographie leisteten im Anschluß an Engels der Schweizer Sozialdemokrat Reinhold Rüegg, der in Becker einen väterlichen Freund gefunden hatte, und später besonders David Rjasanow.19 Manche Ergänzungen der Fakten erbrachten sozialdemokratische Vertreter der Pfälzer Landesgeschichtsschreibung.30 In einer Jenaer Habilitationsschrift erschloß dann Georg Trübner 1957 einige wichtige archivalische Quellen.21 Die Materialgrundlage dieses ersten Beitrages aus der DDR zur Becker-Forschung blieb jedoch lückenhaft, und auch die Darstellung 15

Becker, Johann Philipp, [Autobiographie], IML, CPA, Sign. f. 185, op. 1, d. 1. Rjasanow, D., Zur Biographie von Johann Philipp Becker. Sein Curriculum vitae bis 1856, in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, Leipzig 1914, S. 313—329 (im folg.: Becker, Curriculum vitae). " Schneider, Carl, Wie und Wann?, in: St. Galler Zeitung, 9. 8.1862, S. 826 f., 10. 8.1862, S. 830 f., 13. 8.1862, S. 838 f. 18 Seinen Nachlaß übermachte Johann Philipp Becker dem Parteiarchiv der deutschen Soziademokratie, dessen Aufbau er aktiv unterstützte. Der Nachlaß befindet sich heute im Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam. Fotokopien von vielen Dokumenten besitzen das Zentrale Parteiarchiv im Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU und das Zentrale Parteiarchiv im Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. 19 Rüegg, Reinhold, Aus Briefen an Johann Philipp Becker, in: Die Neue Zeit, Stuttgart, 1888, S. 449—463, 505—518, 558—569; Rjasanow, D., Johann Philipp Becker, in: Vorwärts, Berlin, 6. 6. und 7.6.1914. Wie Rüegg benutzte Rjasanow die autobiographische Skizze Beckers. 20 Baumann, Kurt, Vom Hambacher Fest zur Sozialistischen Internationale. Die Lebensgeschichte Johann Philip Beckers aus Frankenthal, in: Der arme Konrad aus Rheinland-Pfalz (Kalender), Ludwigshafen a. Rh., 1950, S. 53—58; Schneider, Erich, Johann Philipp Becker, in: Das Hambacher Fest 27. Mai 1832. Männer und Ideen, hrsg. von Kurt Baumann, Speyer 1957, S. 205—237. 21 Trübner, Georg, Johann Philipp Becker. Ein Leben für die Freiheit (1809—1886). Unter Berücksichtigung aller von Becker verfaßten Schriften und Zeitungen, seines Nachlasses in Amsterdam und anderen unveröffentlichten Quellenmaterials, besonders aus Schweizer Archiven, Habil.schr., Jena 1957. 16

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konnte nicht befriedigen. Die danach von Ernst Engelberg publizierten und angeregten biographischen Studien, so die Dissertation von Rolf Dlubek, wandten sich zunächst dem Wirken Beckers in der Revolution von 1848/49 und in der I. Internationale zu, und sowjetische Beiträge, insbesondere die Dissertation von I. P. Osobova, konzentrierten sich auf Beckers Weg zum Marxismus. Im folgenden sollen unter Heranziehung aller gegenwärtig erreichbaren Quellen die Kinder- und Jugendjahre sowie die erste politische Wirkungsperiode Beckers in der Pfälzer demokratischen Bewegung der 30er Jahre dargestellt und damit die ersten Kapitel der Biographie des großen Revolutionärs vorgelegt werden, deren Erarbeitung noch immer eine Ehrenschuld der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft der DDR ist. 1. Kindheit und Jugend. Unter dem Einfluß der französischen Revolution (1809-1830) Johann Philipp Becker gehörte zu jenen Führern der revolutionären Bewegung des 19. Jh., die erste Impulse für ihr politisches Engagement, vermittelt durch Familientradition und Umwelteinflüsse, von der Französischen Revolution von 1789 erhielten. Er wurde am 20. März 1809 in Frankenthal in der linksrheinischen Pfalz geboren. Seine Geburtsurkunde ist in französischer Sprache verfaßt und gibt als Vornamen „Jean Philippe"22 an. Sie wurde angefertigt im Namen der „Commune de Frankenthal" im „Departement Mont-Tonnere", einem der vier Departements des französischen Kaiserreichs, die aus den linksrheinischen deutschen Gebieten gebildet worden waren. Während die übrigen drei Departements Rheinpreußen umfaßten, gehörten zum Departement Donnersberg, mit Mainz als Zentrum, Rheinhessen und die linksrheinische, später bayrische Pfalz, Johann Philipp Beckers Heimat. Als er das Licht der Welt erblickte, waren die Versuche der feudal-absolutistischen Mächte, die bürgerliche Revolution in Frankreich niederzuschlagen, bereits völlig gescheitert. Unter den Schlägen Napoleons hatte sich das Heilige Römische Reich Deutscher Nation aufgelöst. Die deutschen Staaten standen direkt oder indirekt unter napoleonischer Herrschaft, die linksrheinischen Gebiete hatte sich Frankreich einverleibt. Auch in Beckers Heimat hatte damit nicht nur eine Periode der Fremdherrschaft, sondern zugleich die Befreiung von den Fesseln des Feudalismus begonnen. Die Pfalz hatte einst zu den Vorposten antiker Kultur und römischer Macht, dann zu den Wiegen feudaler Gesellschaftsverhältnisse gehört, und im Hochmittelalter war dieses fruchtbare und verkehrsgünstig gelegene Gebiet zu den reichsten Landstrichen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gezählt worden. Ende des 18. Jh. bot sie ein Musterbild feudalen Verfalls, der Auswüchse der Kleinstaaterei und des Zwergdespotismus. Nicht weniger als 44 weltliche und geistliche Obrigkeiten preßten allein in der linksrheinischen Pfalz erbarmungslos Bauern und Bürger aus, um den prunkvollen Glanz des französischen Hofes nachahmen zu können. Besonders übel trieb es der Kur22

Geburtsurkunde Johann Philipp Beckers, Sta Frankenthal, Nr. 26, 1809. Fotokopie einer beglaubigten Abschrift bei Trübner, nach S. 6.

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fürst. Seine dritte Residenzstadt war — neben den im rechtsrheinischen Zipfel der Kurpfalz gelegenen Residenzen Mannheim und Heidelberg — Beckers Vaterstadt Frankenthal gewesen. Dank einer merkantilistischen Politik, welche die Stadt zum Muster einer Industriestadt zu machen suchte, hatte Frankenthal seit Mitte des 18. Jh. eine kurze wirtschaftliche Blütezeit erlebt. In Beckers Geburtsjahr zählte seine Vaterstadt aber erst wenig mehr als 3 000 Einwohner.23 Die Pfalz hatte schon während des deutschen Bauernkrieges zu den Zentren von Klassenkämpfen gezählt, wovon Ruinen von Burgen und Schlössern zeugten. Die Französische Revolution fand hier bereits 1789 einen starken Widerhall, und zu einer neuen Welle von Volksbewegungen kam es, als im Gegenstoß zur konterrevolutionären Intervention 1792 französische Truppen Mainz besetzten.24 Große Teile der linksrheinischen Pfalz gehörten 1792/93 der Mainzer Republik an, dem ersten bürgerlich-demokratischen Staatswesen auf deutschem Boden. Die Ideen der Mainzer Jakobiner strahlten auch auf die Kurpfalz aus, obwohl der Kurfürst durch seine Neutralitätspolitik gegenüber Frankreich eine Beschickung des Rheinisch-deutschen Nationalkonvents aus seinen linksrheinischen Ländereien verhindern konnte..25 In den wechselvollen Kämpfen mit der konterrevolutionären Allianz behaupteten die Truppen des bürgerlichen Frankreichs 1795 schließlich die Pfalz. Hatten die Pfälzer der feudalen Ordnung nicht aus eigener Kraft ein Ende zu bereiten vermocht, so taten das nun die französischen Besatzungsbehörden. Als sie Ende 1797 die Beseitigung des Feudalismus ankündigten, feierten die republikanisch gesinnten Kreise der Bevölkerung den Beginn einer neuen Zeit, indem sie Freiheitsbäume setzten. In der früheren Residenzstadt Frankenthal war das nur eine Minderheit. Zu den Republikanern, die auch hier am 25. Januar 1798 auf dem Marktplatz einen Freiheitsbaum pflanzten, gehörte der Schreinermeister Jakob Becker, Johann Philippä Großvater.26 Um die linksrheinischen Gebiete mit Frankreich zu verschmelzen, führten die Franzosen in ihnen ihre bürgerlichen Verhältnisse ein.27 Schon 1798 wurden 23

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Vgl. Hildebrandt, Friedrich Johann, Geschichte der Stadt Frankenthal in der Pfalz. Kurzer Uberblick, Frankenthal 1893; Franz, Georg, Aus der Geschichte der Stadt Frankenthal, Frankenthal 1912; Schneider, Karl, Frankenthal, die Industriestadt Karl Theodors (1742—1799), ein Beitrag zur Industriepolitik des Merkantilismus, wirtschafts- und sozialwiss. Diss., Frankfurt a. M. 1931. Vgl. Scheel, Heinrich, Süddeutsche Jakobiner. Klassenkämpfe und republikanische Bestrebungen im deutschen Süden Ende des 18."Jahrhunderts, Berlin 19803; Springer, Max, Die Franzosenherrschaft in der Pfalz 1792—1814 (Departement Donnersberg), Stuttgart/Berlin/Leipzig 1926, S. 15 ff. Vgl. Die Mainzer Republik II. Protokolle des Rheinisch-deutschen Nationalkonvents mit Quellen zu seiner Vorgeschichte, hrsg. von Heinrich Scheel, Berlin 1981. Vgl. Kraus, Joh., Vor hundert Jahren in Frankenthal, in: Monatsschrift des Frankenthaler Altertumsvereins, 1898, S. 24. Der Verfasser belegt, daß der Schreinermeister Jakob Becker sich beim Pflanzen des Freiheitsbaums an der Herstellung der Illumination beteiligte. Johann Philipp Becker sprach von dem „von meinem Großvater . . . gepflanzten Freiheitsbaum" (Rüegg, S. 451), verlegte aber den Vorgang irrtümlich auf das Jahr 1793. Springer, S. 145 ff.; Renner, Helmut, Die pfälzische Bewegung 1848/49 und ihre Voraussetzungen, phil. Diss., Marburg 1955, S. 13 ff.

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alle Privilegien des Adels beseitigt sowie die feudalen Dienste und die meisten Abgaben aufgehoben, was größtenteils entschädigungslos geschah. In der Folgezeit wurden auch die Binnenzölle und die Zünfte abgeschafft sowie Handelsund Gewerbefreiheit eingeführt. Die neuen Verhältnisse festigte schließlich die französische bürgerliche Gesetzgebung. Ab 1804 galt hier der „Code Napoléon". Während in anderen Gebieten Deutschlands in den nächsten Jahren Reformen die bürgerliche Umgestaltung nur einleiteten, wurden in der Pfalz wie überhaupt im linksrheinischen Deutschland die feudalen Verhältnisse fast völlig beseitigt.28 Eine demokratische Mitwirkung der Pfälzer ließen dabei die französischen Behörden schon unter dem Direktorium immer weniger zu, und im Kaiserreich Napoleons I. wurde sie ganz unterbunden. Dennoch hinterließ die grundlegende gesellschaftliche Umwälzung tiefe Spuren in der Psyche der Bevölkerung. Es prägten sich jene charakteristischen Züge des Pfälzer Menschenschlags voll aus, die auch Johann Philipp Becker auszeichnen sollten: Arbeitsamkeit, Bürgerstolz und Frohsinn. Die linksrheinischen Pfälzer nahmen keinen Anteil an den Befreiungskriegen. Noch als die Rheinbundstaaten von Frankreich abfielen, kämpften Onkel und Vettern Johann Philipp Beckers in den Heeren des französischen Kaisers. Die meisten seiner Landsleute begrüßten es zwar, daß sie nach dem Sieg über Napoleon zu Deutschland zurückkehren konnten. Eine 1816 in Frankenthal veröffentlichte Flugschrift brachte jedoch Befürchtungen zum Ausdruck, die wohl auch die Familie Becker hegte. Die linksrheinische Pfalz wurde in dem Länderschacher der Fürsten nach dem Wiener Kongreß dem Königreich Bayern zugeschlagen. Als die Fürsten überall im Deutschen Bund die alten Zustände zu restaurieren suchten, spûrtén auch die Pfälzer das „Streben nach Wiederherstellung der uralten Ordnung der Dinge". Sie wollten, „daß man uns nicht wieder den Zehnten aufhalse und die ganze lange Kette der Feudalrechte wieder umwerfe, daß man nicht wieder zwischen Menschen und Menschen die alten gehässigen Scheidelinien der Geburt und des Glaubens ziehe, kurz uns nicht wieder zu Sklaven der Adligen und Mönche machen werde".29 Die Errungenschaften aus der Zeit der Zugehörigkeit zu Frankreich konnten nirgendwo im linksrheinischen Deutschland einfach beseitigt werden. Die Münchner Regierung behandelte jedoch die bayrische Pfalz bzw. den bayrischen Rheinkreis, wie die linksrheinische Pfalz zunächst offiziell hieß, wie eine eroberte Provinz. Vor allem wurde der arbeitsamen Bevölkerung eine riesige Steuerlast auferlegt. Kein Wunder, daß hier die Altbayern ebenso verhaßt waren wie die Altpreußen im Rheinland, dagegen die Franzosenzeit in guter Erinnerung blieb.30 In dieser Atmosphäre latenter politischer und gesellschaftlicher Spannungen, in die das Herannahen einer bürgerlich-demokratischen Revolution früher als in anderen Gebieten Deutschlands spürbar wurde, durchlebte Johann Philipp Becker seine Kinder- und Jugendjahre. 28

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Vgl. Deutsche Geschichte, Bd. 4. Die bürgerliche Umwälzung von 1789 bis 1871, Berlin 1984, S. 47 ff. , Lembert, Karl, Zustand und Bedürfnisse der Königlich Bayrischen Lande am Rhein als unmaßgebliche Ansicht dem künftigen Landrate gewidmet für seine erste Sitzung, Frankenthal 1816, S. 31. Baumann, Kurt, Probleme der pfälzischen Geschichte im 19. Jh., in: Mitteilungen des historischen Vereins der Pfalz, Bd. 51, Speyer, 1953, S. 231 ff.

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Er war weder „reicher Eltern Kind"31 noch „von Haus aus selbst Arbeiter",32 wie in einigen zeitgenössischen Darstellungen und ihnen folgend in historischen Arbeiten angegeben wird.' Gleich den meisten Demokraten des Vormärz entstammte Johann Philipp Becker dem Kleinbürgertum. Wie sein Großvater Jakob war auch sein Vater Georg Becker Schreinermeister. Unter den übrigen Verwandten finden sich Metzger, Gastwirte, Silberschmiede, und ein Vetter leitete in St. Petersburg eine Pianofabrik.33 Einige Verwandte gehörten der Intelligenz an, darunter ein Arzt und ein Pfarrer. „Mein Vater", so berichtete Johann Philipp, „war erfinderisch im Maschinenbau, woran er mit unwiderstehlicher Neigung hing, sodaß er sein eigentliches Geschäft vernachlässigte und die Familie oft in die kümmerlichste Lage brachte".34 Die Beckers waren demnach agile und geistig regsame Leute. In politischer Hinsicht gehörten nicht wenige von ihnen zu jenen Kreisen der Bevölkerung, unter denen die Traditionen und Ideen der „Franzosenzeit" lebendig blieben. Johann Philipps Großvater scheint oft von den Aktionen der Republikaner in den 90er Jahren erzählt zu haben. Mehrere seiner Onkel und Vettern nahmen in den 30er Jahren aktiv an der demokratischen Bewegung in der Pfalz teil. Ein Vetter Johann Philipps, der einem nach Hessen übersiedelten Zweig der Familie entstammte, wurde als Mitstreiter Georg Büchners und dann als Gesinnungsgenosse Wilhelm Weitlings bekannt — August Becker.35 Johann Philipp Beckers Erinnerungen an eine schwärmerisch-enthusiastische Anteilnahme an fortschrittlichen Regungen der Zeit reichen bis in die Kinderjahre zurück. Sie geben Aufschlüsse darüber, wie im linksrheinischen Deutschland, in der bayrischen Pfalz, während düsterer Reaktionsjähre unbemerkt Voraussetzungen für eine demokratische Bewegung heranreiften. Am 20. Mai 1820 wurde in Mannheim der Student Karl Sand hingerichtet. Als Mitglied des radikalen Flügels der Burschenschaften, die auf dem Wartburgfest 1817 die bedeutendste Bekundung patriotischer Sehnsüchte nach dem Wiener Kongreß organisierten, hatte er den im Zarendienst als Spion tätigen Dichter Kotzebue erstochen. Fortschrittlich gesinnte Kreise der Bevölkerung in den südwestdeutschen Staaten nahmen am Märtyrerschicksal des jungen Studenten regen Anteil. Auch in der Pfalz wurden Reliquien und Andenken an Karl Sand sorgfältig aufbewahrt; eine in Frankenthal erschienen Schrift schilderte seine letzten Stunden.36 Auf den damals zehnjährigen Johann Philipp Becker muß dies einen tiefen Eindruck gemacht haben. Noch bei seinem letzten Besuch in London erzählte er Engels, daß er „Sand, den Erdolcher Kotzebues, hatte hin31 32 33

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Schneider, Wie und Wann?, in: St. Galler Zeitung, 9.8.1862, S. 826. Eichhoff, S. 35. Jakob Becker an Johann Philipp Becker. St. Petersburg, 17.-29.12.1860, IISG, Becker-Nachlaß. Becker, [Autobiographie], Bl. 1. Die Verwandtschaft Johann Philipp Beckers mit August Becker, die bisher in der Literatur nicht erwähnt wurde, geht aus seinem Briefwechsel mit Friedrich Adolph Sorge in den 60er Jahren hervor. Vgl. Friedrich Adolph Sorge an Johann Philipp Becker, 3. 7.1867, IISG, Becker-Nachlaß; Johann Philipp Becker an Friedrich Adolph Sorge, 3. 8.1867, Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich. Courtin, Carl, Carl Ludwig Sand's letzte Lebenstage und Hinrichtung. Geschichtlich dargestellt, Frankenthal 1821.

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richten sehen."37 In seiner autobiographischen Skizze bemerkte er: „Seit . . . seiner Hinrichtung war ich ein fanatischer Fürstenhasser."38 Wie Becker berichtete, fand eine solche Einstellung Nahrung aus den Traditionen früherer Klassenkämpfe. „Lebten doch auch bei unseren Landsleuten noch die Erinnerungen an den Bauernkrieg fort, erzählten sie mit Wohlgefallen von der Zerstörung der Ritterburgen und ganz Fabelhaftes von Thomas Müntzer und Franz von Sickingen."39 Die geistige Entwicklung des aufgeweckten Jungen wurde dadurch gefördert, daß ihn der Vater nach dem anfänglichen Besuch der reformierten Elementarschule vom elften Lebensjahr an auf das Frankenthaler Progymnasium, eine humanistisch orientierte Lehranstalt,40 schickte. „Ich machte hier große Fortschritte in alten Sprachen", berichtete Becker, „hing aber mit außerordentlicher Vorliebe an der Geschichte, namentlich der vaterländischen . . ,"41 Hatte Becker auf dem Progymnasium zunächst nur mit Mühe Schritt halten können, so bekam er im dritten Jahr mehrere Preise. Der Vater mußte ihn jedoch von der Schule nehmen, da die Not in seiner großen Familie, die fünf Kinder zu ernähren hatte, eingekehrt war. Er gab ihn zu einem Bürstenbinder in die Lehre; damit das Lehrgeld erspart wurde, auf fünf Jahre. Der Meister entließ Johann Philipp vorzeitig, als dieser das Handwerk beherrschte. Mit 18 Jahren machte sich der junge Mann selbständig. Damit war eine wichtige Weichenstellung für den gesamten weiteren Lebensweg Beckers erfolgt. Er begann seine Berufstätigkeit als kleiner Handwerksmeister und fühlte sich dem arbeitenden Volk zugehörig. Seine kargen Mußestunden benutzte Becker, um sich fortzubilden. Er las historische Literatur und antike Klassiker, die seinen fortschrittlichen und patriotischen Gefühlen entgegenkamen. Ebenso schrieb er kleine Gedichte, von denen einige im „Frankenthaler Wochenblatt" veröffentlicht wurden. Wie sein Vater befaßte er sich besonders eifrig mit Chemie, Physik und Mechanik und stellte allerlei Experimente an. So versuchte er, „Maschinen auf elektromagnetischem Wege in Bewegung zu setzen und in luftleeren Röhren mittels Kapseln Briefe und dergleichen zu befördern."42 Bei alledem wurde er aber keineswegs ein schwächlicher Stubenhocker. Zu einem Riesen heranwachsend, stärkte er durch Leibesübungen seine Körperkraft, auf die er ebenso stolz war wie auf seine geistigen Fähigkeiten. Die Zeit der napoleonischen Feldzüge und der Befreiungskriege war auf ihn nicht ohne Einfluß geblieben. Noch der alte Becker erzählte Engels, daß er als Kind mit durchziehenden Kosaken gespielt hatte. „Die häufigen Truppenmärsche und Erzählungen mehrerer Oheime und Vettern, welche unter Napoleon gedient, weckten in mir frühzeitig kriegerischen Sinn",43 berichtete der spätere Revolutions37 38 39

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Engels, Johann Philipp Becker, S. 323. Becker, [Autobiographie], Bl. 1. Ders., Aus meinen Erinnerungen. Befreiung Jakob Venedeys aus dem KantonsGefängnis in Frankenthal 1832, in: Der arme Conrad. Illustrierter Kalender für das arbeitende Volk für 1879, Leipzig, 1879, S. 34. Wilhelm, J., Progymnasium in Frankenthal, in: Monatsschrift des Frankenthaler Altertumsvereins, 1926, S. 1. Becker, [Autobiographie], Bl. 1. 43 Ebenda. Ebenda.

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general. Die Erinnerung an die Feldzüge Napoleons wurde in Frankenthal unter anderem durch einen Verein der Kriegsveteranen gepflegt.44 Der Fürstenhaß und der Freiheitsdrang Beckers waren zunächst unausgegoren, aber durchaus beständig. Davon zeugt seine Anteilnahme an den Solidaritätsbekundungen für den Freiheitskampf der Griechen, die sich 1821 gegen die türkische Fremdherrschaft erhoben hatten. Das Philhellenentum konnte sich in Bayern relativ stark ausbreiten, da hier auch Angehörige des Königshauses mit ihm liebäugelten. Bei der Mehrheit des liberalen Bürgertums äußerte es sich nur in platonischen Sympathieerklärungen und karitativen Geldsammlungen. Mitglieder der geheim weiterwirkenden Burschenschaften und andere radikale Kreise jedoch kamen den Griechen mit Freiwilligen zu Hilfe und kämpften in dem Philhellenenkorps, das sich in der Schlacht bei Peta am 16. Juli 1826 auszeichnete.45 Auch Becker suchte damals der Bürstenbinderlehre zu entlaufen, um bewaffnet am griechischen Freiheitskampf teilnehmen zu können. Rekrut des Königs von Bayern wollte der Fürstenhasser dagegen nicht werden. Dem Militärdienst entzog er sich 1827 durch den Ankauf eines Stellvertreters.46 Noch als Lehrling verliebte sich Becker in die gleichaltrige Tochter eines Schuhmachermeisters. Sie waren 18 Jahre alt, da erblickte ihr erster Sohn das Licht der Welt. Als beide vier Jahre später heirateten,47 war das zweite Kind unterwegs.48 Insgesamt entsprossen ihrer glücklichen Verbindung 22 Kinder, von denen allerdings nur sieben Geburt und Säuglingsalter überlebten 49 Wer dazu neigt, Kleinbürgertum pauschal mit Spießbürgertum zu identifizieren, müßte durch die Biographie Johann Philipp Beckers eines Besseren belehrt werden. Schon während der Jugendjahre zeichneten sich in seiner Persönlichkeit die Konturen jener kraftvollen Natur ab, die Engels in seinem Lebensbild eindrucksvoll nachzeichnete: „Ein einziges Wort bezeichnete ihn ganz, das Wort kerngesund; an Körper und an Geist war er kerngesund bis zuletzt. Ein Hüne von Gestalt, von riesiger Körperkraft, dabei ein schöner Mann, hatte er seinen ungelehrten aber keineswegs ungebildeten Geist, dank glücklicher Anlagen und gesunder Tätigkeit, ebenso harmonisch entwickelt, wie seinen Körper . . . Dabei war er kein finstrer Gesinnungslümmel . . . , sondern 44

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Sander, Heinrich, Gedenkbuch für die Veteranen aus der französischen Kaiserzeit, Mainz 1844, S. 25. Vgl. Obermann, Karl, Deutschland von 1815 bis 1849. Von der Gründung des Deutschen Bundes bis zur bürgerlich-demokratischen Revolution, Berlin 1983'', S. 48 f. Becker, [Autobiographie], Bl. 1. Heiratsurkunde Johann Philipp Beckers vom 16. Mai 1831, Sta Frankenthal, Nr. 13, 1831. Fotokopie einer beglaubigten Abschrift bei Trübner, nach S. 12. Beckers ältester Sohn, Gottfried, wurde am 13.10.1827, seine älteste Tochter, Katharina, am 19.9.1831 geboren. In Frankenthal kam am 24.7.1834 der zweite Sohn, Georg, zur Welt. Gottfried Becker nahm als Adjutant des Vaters am badischpfälzischen Feldzug teil, emigrierte 1850 in die USA, wo er sich als demokratischer Journalist betätigte, und fiel 1865 als Oberst im amerikanischen Bürgerkrieg. Georg Becker wurde ein anerkannter Schweizer Musikwissenschaftler und zum Dr. h. c. der Genfer Universität promoviert. Er starb 1'928. Siehe Trübner, S. 62 f. Becker, Curriculum vitae, S. 329.

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ein echter Sohn der heiteren Pfalz." Engels sah in Becker eine seiner literarischen Lieblingsgestalten verkörpert: „Erwachsen auf dem Boden des .Nibelungenlieds', um Worms, sah er . . . aus wie eine der Gestalten aus unserm alten Heldengedicht: heiter und spottvoll, den Gegner anrufend zwischen den Schwerteshieben, Volkslieder dichtend, wenn es nichts zu schlagen gab — so und nicht anders muß er ausgesehen haben, Volker der Fiedeler!"50 Seine politische Haltung bekundete Becker erstmals öffentlich, als im Juni 1829 der bayrische König Ludwig I. die Pfalz besuchte. Ludwig hatte sich als Kronprinz liberal gegeben und zu Beginn seiner Regierung einige Reformen eingeführt. So glaubten viele Pfälzer in ihm einen Bürgerkönig begrüßen zu können. Auch in Frankenthal feierte man die „Jubelwoche des Rheinkreises". Lehrer und Schüler, sogar die Frankenthaler Jungfrauen verfaßten Gedichte zum Empfang des Königs.61 Der Enkel Jakob Beckers aber war anders gesonnen und demonstrierte das, als die Stadtbehörde die jungen Bürger aufforderte, sich in eine Bürgergarde zur Begrüßung Seiner Majestät einzureihen. „Ich schlug dies ab", berichtete Johann Philipp Becker, „stellte mich während des Einzugs unter den Freiheitsbaum, der in den neunziger Jahren in Frankenthal auf dem Marktplatz gepflanzt worden war." Er äußerte laut seinen Unmut und schrieb auch „ .Betrachtungen eines Freiheitsbaumes beim Einzüge eines Königs' in sarkastisch-ironischer Form, die jedoch nicht gedruckt werden konnten".52 An anderer Stelle gab Becker an, er habe damals seine erste Arreststrafe erhalten, weil er mit einem Gesangverein junger Leute Umsturzlieder gesungen habe.53 Wie die Episode unter dem Freiheitsbaum zeigt, wurde das politische Denken der fortschrittlichen Pfälzer weiterhin vor allem durch die Traditionen aus der Zeit der Französischen Revolution und der Zugehörigkeit zu Frankreich geprägt. Die intellektuelle Jugend der Pfalz fand aber auf den deutschen Universitäten auch Zugang zu den Burschenschaften, in denen das patriotische Feuer der Beifreiungskriege weiterbrannte. Burschenschafter wurden in der Pfalz die aktivsten Vertreter nationaler Wünsche und Hoffnungen. Waren die älteren Pfälzer Liberalen meist weltbürgerlich-frankophil und provinziell-pfälzisch eingestellt, so gewannen bei den jüngeren patriotische Bestrebungen Gewicht.54 Rechtskandidaten und Forstgehilfen, die während ihres Studiums den Burschenschaften angehört hatten, zählten zum Freundeskreis von Johann Philipp Bekker.55 Unter ihrem Einfluß verband sich bei dem jungen Handwerker der Drang nach Freiheit mit einem Streben nach nationaler Einheit, das zunächst mit einem starken Schuß romantischer Deutschtümelei durchsetzt war. „Freiheit 50 51

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Engels, Johann Philipp Becker, S. 323 f. Vgl. Seffrin, Roland, Frankenthals Anteil an „des Rheinkreises Jubelwoche vom 7.—14. Juni 1829", in: Monatsschrift des Frankenthaler Altertumsvereins, 1928, S. 15ff.; Geib, Karl, Gedichte vom Empfang des Königs LudwigI. und der Königin in Frankenthal am 7. Juni 1829, Frankenthal 1829. Becker, [Autobiographie], Bl. 1. Rüegg, S. 451. Vgl. Süß, Edgar, Die Pfälzer im „Schwarzen Buch". Ein personengeschichtlicher Beitrag zur Geschichte des Hambacher Festes, des frühen pfälzischen und deutschen Liberalismus, Heidelberg 1956. Becker, Johann Philipp, Abgerissene Bilder aus meinem Leben I, in: Die Neue Welt. Illustriertes Unterhaltungsblatt für das Volk, Leipzig, 1876, S. 150.

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und deutsche Einheit tümelnder Raufbold",56 so charakterisierte sich Becker für 1830 ironisch in seinem „Curriculum vitae". Seine Opposition war noch geprägt durch jugendlichen Sturm und Drang, mehr instinktiv als bewußt. Einen „unbestimmten 'Oppositionsmann"57 nannte ihn daher Engels für diese Zeit. In den Jahren, in denen die Reaktion fast jede öffentliche Bewegung in Deutschland unterband, ging Becker auch noch weitgehend in seiner Berufstätigkeit, seinem Familienleben und seinen Experimenten auf, und nur gelegentlich hatte er Anlaß zur Bekundung seiner politischen Einstellung. Es genügte aber ein neuer revolutionärer Ausbruch in Frankreich, um ihn ein für allemal auf die Bahn des politischen Kampfes zu lenken, und seinen Platz suchte er sofort auf dem entschiedenen Flügel der fortschrittlichen Bewegung. 2. In der Schule des Pfälzer Radikalismus (1830-1838) 2.1. Wirkungen der Pariser

Julirevolution

In den Kämpfen des 27. bis 29. Juli 1830 stürzten die Pariser Arbeiter, Kleinbürger und Studenten in Frankreich die Herrschaft der Bourbonendynastie und der adligen Großgrundbesitzer, die geglaubt hatten, die Uhr der Geschichte zurückdrehen zu können. Das war zugleich ein schwerer Schlag gegen die Heilige Allianz, die seit dem Wiener Kongreß in den verschiedensten europäischen Ländern Freiheitsbewegungen unterdrückt hatte. Die Julirevolution wurde nach den Worten von Friedrich Engels das „Signal für einen allgemeinen Ausbruch der Unzufriedenheit des Bürgertums, der Aristokratie und des Volkes in ganz Europa". Auch in den deutschen Staaten „verkündeten zahlreiche Insurrektionen und Bewegungen eine neue Ära der Volksagitation und der bürgerlichen Agitation".68 Mit dieser Ära begann das bewußte politische Wirken Johann Philipp Beckers. Die Julirevolution „hatte mich völlig elektrisiert und ganz fieberhaft aufgeregt", schrieb er in seiner autobiographischen Skizze. „Nun warf ich meine Experimentalphysik in die Rumpelkammer."59 Auf die Julirevolution in Frankreich folgte im August die Revolution in Belgien, und im November 1830 erhob sich Polen gegen die zaristische Fremdherrschaft.60 In Deutschland kam es erstmals seit der Französischen Revolution von 1789 wieder zu Aufständen. 61 Soziale Bewegungen in einer Reihe von Industrieorten, in denen erstmals frühproletarische Kräfte deutlich hervortraten, kündigten eine neue Qualität in den Aktionen der Volksmassen an. Während in Frankreich die Finanzaristokratie die politische Macht ergriffen hatte und in England 56 57 58 59 60 61

Ders., Curriculum vitae, S. 329. Engels, Johann Philipp Becker, S. 323. Bers., Deutsche Zustände, in: MEW, Bd. 2, S. 582. Becker, [Autobiographie], Bl. 1. Vgl. Die Französische Julirevolution von 1830 und Europa, hrsg. von Manfred Kossok und Werner Loch, Berlin 1985. Vgl. Bock, Helmut, Die Illusion der Freiheit. Deutsche Klassenkämpfe zur Zeit der französischen Julirevolution 1830 bis 1831, Berlin 1980; Deutsche Geschichte, Bd. 4, S. 182 ff.

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schon die Industriebourgeoisie zur Herrschaft drängte, war in Deutschland noch keine ökonomisch und sozial entwickelte Bourgeoisie herangewachsen, welche die politische Führung der antifeudalen Bewegung hätte übernehmen können. Auch erfaßten die Aktivitäten der Liberalen und des Volkes an wenigsten Österreich und Preußen, sodaß von diesen Bastionen der Reaktion im Deutschen Bund aus die feudal-bürokratischen Kräfte ihre Gegenaktionen einleiten konnten. Dennoch wurde das Jahr 1830 zum wichtigsten Einschnitt in der deutschen Geschichte Seit 1789.62 Nach der Julirevolution entwickelte sich in Deutschland erstmals eine demokratisch orientierte Nationalbewegung, die sich auf breite Schichten des Volkes zu stützen suchte. Ihr Zentrum fand sie in der Pfalz. Das wurde auch für Johann Philipp Beckers politischen Werdegang entscheidend. Beckers Heimat wurde sogleich von der neuen Oppositionsbewegung erfaßt. In dem im März 1831 zusammentretenden bayrischen Landtag gehörten fast alle Pfälzer Abgeordneten zum liberalen Flügel, und die radikale Fraktion, die sich von den Liberalen lostrennte, bestand nur aus Pfälzern. Sie forderten für Rheinbayern vor allem Steuersenkungen und die Abschaffung der Zölle sowie freiheitliche Pressegesetze.63 Becker dürfte allerdings auf den „Sturmlandtag" keine große Hoffnungen gesetzt haben. Der junge Bürstenbinder gründete 1831 mit seinen Freunden in Frankenthal einen „Revolutionsklub junger Leute"64, dessen Mitgliedern man nachsagte, sie wollten „alle Fürsten zum Teufel jagen und alle Menschen gleichmachen"65. Da Frankenthal nicht zu den Zentren der politischen Bewegung gehörte, war hier die republikanisch gesinnte Jugend anfangs isoliert. Das änderte sich jedoch um die Jahreswende 1831/32. In den meisten deutschen Staaten bekannte sich die Mehrheit des Bürgertums zunächst zum gemäßigten Liberalismus, dessen Hauptwortführer die badischen Liberalen waren. Die Forderungen derselben blieben aber ohne durchgreifende Ergebnisse, und die Reaktion ging bald zu neuen Repressalien über. Infolgedessen entwickelte sich in der liberalen Bewegung ein entschiedener Flügel, der eine demokratische Strömung hervorbrachte. In Beckers Heimat fand diese Entwicklung den günstigsten Boden.66 Zu den traditionellen Faktoren, die hier demokratischen Ideen einen starken Einfluß verschafften, war eine tiefe ökonomische Krise hinzugekommen. Nach der Bildung des bayrisch-württembergischen Zollvereins war im Dezember 1820 die bayrische Pfalz mit einer Zollmauer umgeben worden, die Handel, Gewerbe und Landwirtschaft stocken ließ. Die dadurch verursachte Not steigerte 62

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Bock, Helmut, Die deutschen Klassenkämpfe 1830/31 unter dem Eindruck der französischen Julirevolution. Entwurf einer generalisierenden Neubewertung, in: Die französische Julirevolution von 1830 und Europa, S. 183 ff. Göz, Wilhelmine, Der bayrische Landtag 1831. Ein Wendepunkt in der Regierung Ludwigs I., phil. Diss., München 1926. Becker, Curriculum vitae, S. 315. Ders., Abgerissene Bilder aus meinem Leben I, S. 239; vgl. auch Schneider, Wie und Wann?, in: St. Galler Zeitung, 9. 8.1862, S. 826. Asmus, Helmut, Das Hambacher Fest, Berlin 1985, S. 5 ff. (illustrierte historische hefte 37); Baumann, Probleme der Pfälzer Geschichte, S. 255 ff.; Herzberg, Wilhelm, Das Hambacher Fest. Geschichte der revolutionären Bestrebungen in Rheinbayern um das Jahr 1832, Ludwigshafen 1908, neu hrsg. von Heinrich Werner, Köln 1982, S. 20 ff.

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sich weiter durch mehrere schlechte Weinernten ,und namentlich durch eine allgemeine Mißernte 1831. Becker hat in seinen Artikeln aus den 70er Jahren als erster darauf hingewiesen, daß diese Faktoren in der Pfalz breite Volksmassen in eine „grimmig revolutionäre Stimmung" versetzten: „Zu Stadt und Land waren die Zwangsversteigerungen an der Tagesordnung; den Gerichtsvollziehern und ihren Trabanten blühte der Weizen . . . Der bislang in der Pfalz wohl stärker als irgendwo vertreten gewesene Mittelstand blickte mit Besorgnis der Zukunft entgegen und sah man auch schon ein vörher kaum gekanntes Proletariat heranwachsen." 67 Als der bayrische „Stürmlandtag" Ende 1831 ohne Ergebnisse auseinanderging, nahm die Bewegung in der Pfalz immer mehr republikanischen Charakter an. Dazu trug auch die Entwicklung im benachbarten Frankreich bei. Hier schwanden die Illusionen über das Julikönigtum, das nur die Interessen der Finanzaristokratie vertrat, und es erstarkten die Republikaner, vor allem nach dem Lyoner Weberaufstand vom November 1831. In der Pfalz traten zusammen mit republikanischen Ideen nationale Anliegen mehr in den Vordergrund, wie sie besonders die junge Generation, die Generation Johann Philipp Beckers, bewegten. Angesichts des Zusammenwirkens der reaktionären Mächte im Deutschen Bund wurde immer klarer, daß in einem Einzelstäat allein keine wesentlichen und dauerhaften Erfolge zü erringen waren. Als die unumstrittenen Führer der Liberalen in Beckers Heimat galten zunächst Joseph Savoye und Friedrich Schüler, zwei Advokaten am Appellationsgericht des bayrischen Rheinkreises in Zweibrücken, die Vertreter des traditionellen frankophilen Pfälzer Liberalismus waren. 68 Bald traten neben ihnen aber immer mehr zwei Journalisten in den Vordergrund, deren Publizistik den Vorstellungen Beckers und seiner Freunde nahestand: Johann Georg August Wirth, der mit seiner „Deutschen Tribüne" von München in die Pfalz übersiedelte, und Philipp Jakob Siebenpfeiffer, der in seiner Zeitung „Bote aus dem Westen" (später „Westbote") immer radikalere Töne anschlug.69 Sie erklärten, konstitutionelle Zugeständnisse der Reaktion in einzelnen deutschen Staaten seien ohne Dauer und Wert. Es gelte, eine demokratische Umgestaltung ganz Deutschlands zu erkämpfen. Sie machten die Pfalz zum Stützpunkt f ü r die Entfaltung einer demokratisch orientierten antifeudalen Nationalbewegung. Am 29. Januar beschlossen Vertreter der verschiedenen Gruppierungen der Pfälzer Bewegung auf einer Zusammenkunft in Bubenhausen bei Zweibrücken die Bildung des Deutschen Vaterlandsvereins zur Unterstützung der freien Presse.70 Der von Wirth verfaßte Gründungsaufruf erschien am 3. Februar in 50 000 Exemplaren. Obwohl die Behörden sofort Verfolgungsmaßnahmen ergriffen, dehnte sich der Preß- oder Vaterlandsverein, wie er meist kurz genannt wurde, schnell aus. Bis Mai 1832 entstanden Filialen in zehn Orten der Pfalz, 67

Becker, Aus meinen Erinnerungen, S. 33 f. Baumann, Kurt, Friedrich Schüler/Joseph Savoye/Daniel Pistor, in: Das Hambacher Fest (Anm. 20), S. 95 ff. 69 Doli, Anton, Philipp Jakob Siebenpfeiffer 1789-1845/Johann Georg Wirth 1798-1848, ebenda, S. 9 ff. 70 Sahrmann, Adam, Beiträge zur Geschichte des Hambacher Festes 1832, Landau 1930, S. 152ff.; Schneider, G. H., Der Preß- oder Vaterlandsverein 1832-1833. Ein Beitrag zur Geschichte des Frankfurter Attentats, Berlin 1897, S. 21 ff.

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aber auch in Nassau, Kurhessen, Hessen-Darmstadt, Baden und Frankfurt am Main wurden Komitees gebildet, und selbst in entlegeneren Städten fand der Verein Anhänger. Der Deutsche Vaterlandsvereiri zur Unterstützung der freien Presse wurde die erste nationale Organisation der deutschen Geschichte, die sich die Aufgabe stellte, alle antifeudalen Kräfte gegen den Deutschen Bund und die Heilige Allianz zu mobilisieren.71 Die entschiedensten Anhänger fand der Verein unter den Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Paris, die sich vorwiegend aus deutschen Handwerksgesellen rekrutierten und deren namhaftester Repräsentant Ludwig Börne war. Auf dem radikalen Flügel des Vaterländischen Preßvereins fand auch der republikanisch und patriotisch gesinnte Johann Philipp Becker ein fruchtbares politisches Wirkungsfeld. 2.2. Journalistisches Preßvereins

Debüt als Mitbegründer

des

Vaterländischen

Friedrich Engels äußerte völlig zutreffend, nachdem die politische Bewegung in der Pfalz „einen republikanischen Charakter annahm", sei Becker „einer der tätigsten und entschiedensten Teilnehmer" derselben geworden.72 Becker beteiligte sich Anfang 1832 an der Schaffung des Preßvereins, und sein Revolutionsklub junger Leute ging in dessen Frankenthaler Filiale ein. Die Leitung des Preßvereins sicherten sich Schüler und Savoye, die dann auch an die Spitze des Provisorischen Zentralkomitees in Zweibrücken traten. Die vorwärtsdrängenden Kräfte in dem Verein waren jedoch Wirth und Siebenpfeiffer. Becker fand zu dem Redakteur des „Westboten" noch vor Gründung des Vereins Verbindung, und fortan orientierte sich der junge Handwerker an dem 20 Jahre älteren Journalisten. Anfang 1832 ließ Siebenpfeiffer sein Blatt zeitweise in Frankenthal drucken. Am 22. Januar gaben ihm Bürger der Stadt ein Festmahl.73 Wahrscheinlich kamen Becker und sein Kreis bei dieser Gelegenheit in Kontrakt mit ihm; denn neun Tage später erschien die erste Korrespondenz Beckers im „Westboten". In der Publizistik Siebenpfeiffers und Wirths fand Becker deutlich formuliert und begründet, was ihm selbst instinktiv vorschwebte. Gestützt auf Naturrechtslehren der Aufklärung forderten die beiden Journalisten die Aufhebung aller Privilegien des Adels, die Abschaffung der feudalen Abgaben und Abhängigkeitsverhältnisse, die Freiheit von Handel und Gewerbe, weitgehende staatsbürgerliche Rechte und die Schaffung einer deutschen Nationalrepräsentation. Die Einheit Deutschlands wollten sie durch eine Konföderation der deutschen Einzelstaaten erreichen, bei der jede Provinz das Recht haben sollte, sich als Einzelstaat zu konstituieren, sodaß Österreich und Preußen in Deutschland aufgehen mußten. Wirth und Siebenpfeiffer strebten auf diese Weise eine demokratische, möglichst republikanische Verfassung des bürgerlichen 71

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Bock, Helmut, Deutscher Preßverein 1832 (auch Preß- oder. Vaterlandsverein), in: Die bürgerlichen Parteien in Deutschland. Handbuch der Geschichte der bürgerlichen Parteien und anderer bürgerlicher Interessenorganisationen vom Vormärz bis zum Jahre 1945, Leipzig 1968, S. 513. Engels, Johann Philipp Becker, S. 319. Kreuter, K., Dr. Siebenpfeiffer und sein Kampf um Pressefreiheit vor 100 Jahren, in: Monatsschrift des Frankenthaler Altertumsvereins, Frankenthal 1932, S. 10 f.

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deutschen Nationalstaates an. Leidenschaftlich traten sie auch f ü r ein Bündnis mit allen für die Freiheit kämpfenden. Völkern ein, dessen Achse eine Allianz des deutschen mit dem französischen und dem polnischen Volk bilden sollte. Becker und seine Freunde wurden vor allem davon angesprochen, daß die beiden Journalisten freiwillige Hoffnungen auf Zugeständnisse der Fürsten immer unverhohlener für illusionär erklärten und auf das Volk setzten. Sie waren noch keine revolutionären Demokraten, wollten jedoch eine Bewegung entfachen, die stark genug war, der Reaktion ihren Willen aufzuzwingen. Dazu propagierten sie Kampfmittel wie Volksversammlungen und Demonstrationen, Steuerverweigerung, Boykott der Aristokraten und Reaktionäre, Volksbewaffnung zur Ausübung von Druck auf Regierungen und zur Verteidigung errungener Rechte.74 Revolutionären Positionen näherte sich namentlich Siebenpfeiffer 75 , der auf Becker den stärksten Einfluß gewann. Er erfreut sich bei bürgerlichen Historikern meist geringerer Sympathien als Wirth und verdient eine eingehendere Würdigung durch die marxistisch-leninistische Geschichtsschreibung, als er sie bisher erfahren hat. Sohn eines armen Schneiders, hatte sich Siebenpfeiffer das Geld für sein Jurastudium abgehungert. Später hatte er den Dienst als Staatsbeamter quittiert und alle Brücken hinter sich abgebrochen, um sich seiner demokratischen journalistischen Tätigkeit zu widmen. Er wollte mit dem „Westboten" möglichst breite Schichten des Volkes ansprechen. Daher nahm er in seine Zeitung Beschwerden von Bürgern und Bauern über Ungerechtigkeiten von Behörden und Beamten auf und suchte auch im arbeitenden Volk Korrespondenten für sein Blatt zu finden. Es kam ihm offenbar sehr gelegen, daß er den jungen Bürstenbinder Becker als Mitarbeiter gewann. Becker war der einzige Handwerker, der für das Blatt regelmäßig schrieb, und Siebenpfeiffer hob bei jeder Gelegenheit hervor, daß seine Korrespondenzen von einem Handwerker stammten. In den Artikeln f ü r den „Westboten"76, den ersten zeitgenössischen Quellen f ü r das Studium seines politischen Werdegangs, bekannte sich Johann Philipp Becker zur Entfaltung einer breiten Volksbewegung f ü r die Erkämpfung eines demokratischen Nationalstaates. Der erste Artikel erschien am 31. Januar 1832 unter dem Titel „Deutschlands politische Wiedergeburt". Darin trat Becker für die Bildung des Vaterländischen Preßvereins ein, dessen Vorbereitung ihm offenbar durch Siebenpfeiffer bekannt war, obwohl der öffentliche Gründungsaufruf erst drei Tage später erschien. Leidenschaftlich befürwortete der junge 74

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Vgl. vor allem Siebenpfeiffer, Philipp Jakob, An's deutsche Volk, in: Westbote, ein allgemein politisches und deutsches Volksblatt, 28.2. und 1.3.1832; Wirth, Johann Georg August, Aufruf an die Volksfreunde in Deutschland, Homburg 1832. Vgl. Braun, Heinrich, Philipp Jakob Siebenpfeiffer, ein liberaler Publizist des Vormärz 1789—1845, phil. Diss., München 1956. Becker erwähnt in seiner Autobiographie (Bl. 1), daß er für den „Westboten" „politische Aufsätze und Gedichte" schrieb. In seinem „Curriculum vitae" (S. 315) notiert er unter dem Jahre 1831 „Korrespondent des .Westboten' von Dr. Siebenpfeiffer". Im Jahrgang 1831 des „Westboten" finden sich jedoch keine Artikel oder Gedichte, die man Becker zuweisen kann. Die im folgenden angeführten Beiträge vom Frühjahr 1832 wurden von mir auf Grund inhaltlicher und stilistischer Kriterien als von Becker stammend identifiziert.

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Handwerker, einen „Bund aller Freunde des Volkes" zu schaffen, dessen Aufgabe es sein müsse, „durch Wort, Schrift und Tat . . . , trotz allen Hindernissen, womit Despotenmacht und Junkertum die Bahn verrennen möchten, Deutschland diejenige politische Vollendung zu geben, für die es gemäß seiner Bildungsstufe empfänglich ist, und so ein Reich zu gründen, das von den Banden des Absolutismus entfesselt, auf eine naturgemäße Verfassung gepfeilert, den ersten Rang unter allen Reichen der Erde einnehmen wird".77 Zur Begründung des großen Vorhabens schrieb Becker, der seit früher Jugend republikanischen und patriotischen Ideen zuneigte: „Eine Reform, die Einigung Deutschlands bezweckend, hätte gleich nach den denkwürdigen Julitagen des Jahres 1830, wo die Throne Europas mürbe gemacht, die Regierungen demütig waren, Erfolg haben müssen. Da aber legten sich die erschreckten Regierungen auf Versprechungen . . . , das Volk blieb ruhig und sah mit gespannter Erwartung den Erfolgen der Landtage, der Verbesserung seines Zustandes entgegen . . . Für die große Angelegenheit des Volkes ist aber überall gar nichts geschehen, und es läßt sich auch auf dem Weg ständischer Verhandlungen hierfür gar nichts erwarten . . . Darum wird nun die eigene Kraft und die Selbständigkeit des Volkes zur Erreichung des großen Zweckes, der Einigung Deutschlands, in Anspruch genommen."78 Schüler und Savoye wollten die Tätigkeit des Vaterlandvereins im wesentlichen darauf beschränken, Geldmittel für die Presse zu simmeln, und ihn nicht auf ein bestimmtes Programm festlegen. Wirth und Siebenpfeiffer hingegen suchten den Vaterlandsverein zu einem kämpferischen Bund mit umfassenderen Aufgaben und klar umrissenen Zielen zu machen. Becker befürwortete von Anfang an diese Linie. Wenn er von einem „Bund der Freunde des Volkes" sprach, schwebte ihm als Vorbild wohl die Gesellschaft der Volksfreunde vor, die in Frankreich die republikanische Opposition sammelte. In seinem „Curriculum vitae" bezeichnete sich Becker als den „Gründer des Vereins zur Unterstützung der freien Presse in Frankenthal und Umgegend"79. An die Spitze der örtlichen Filialen des Preßvereins traten in der Regel angesehene Kaufleute, Holzhändler, Advokaten, Ärzte usw., die in ihrer Mehrheit die Linie von Schüler und Savoye unterstützten. Als Initiator des Vereins in Frankenthal konnte Becker aber berichten: „Ich . . . wurde durch Wahl Vorstandsmitglied, obgleich meine Kollegen 15—20 Jahre älter waren."30 Der radikale Handwerker vertrat den Frankenthaler Verein auch auf größeren Zusammenkünften in anderen Orten der Pfalz und in Rheinhessen. Als Bürstenbinder konnte er solche Reisen mit dem Vertrieb seiner Hand Werkserzeugnisse verbinden. In seinen Zuschriften für den „Westboten", die einzigen, die das Blatt aus Frankenthal erhielt, faßte Becker sicher seine Agitation im Vatcrlandsverein zusammen. Sie zeigen, daß er auf dessen linkem Flügel stand und stürmisch vorwärtsdrängte. Die Ausbreitung einer revolutionären Stimmung wurde ganz erheblich dadurch gefördert, daß in der zweiten Januarhälfte 1832 etwa 2 000 Teilnehmer am 77

78 79 80

[Becker, Johann Philipp], Deutschlands politische Wiedergeburt, in: Westbote, 31.1.1832, Sp. 241. Ebenda, Sp. 242. Ders., Curriculum vitae, S. 315. Ders., [Autobiographie], Bl. 1.

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Warschauer Aufstand auf dem Wege in die französische Emigration durch die Pfalz zogen.81 Fast ein Jahr lang hatte das aufständische Polen einen beachtlichen Teil der Armeen Rußlands, Preußens und Österreichs gebunden und einen Schutzwall gegen reaktionäre Interventionen in den revolutionär aufgewühlten Staaten Mittel- und Westeuropas gebildet. Seit der Niederschlagung des polnischen Aufstands im September 1831 drohte ein Eingreifen der Heiligen Allianz auch in den deutschen Staaten, die durch Volksbewegungen erfaßt worden waren. Um so mehr begeisterten sich die Patrioten für die mutigen Polen. Je mehr die Gegenoffensive der Adelsreaktion in Gang kam, um so deutlicher wurde den fortgeschrittenen Vertretern der antifeudalen Nationalbewegung bewußt, daß die Reaktion nur durch ein solidarisches Handeln der Völker bezwungen werden konnte. Die Völkerverbrüderung wurde neben Volkssouveränität und nationaler Einheit das Hauptanliegen der fortschrittlichen Kräfte. Zum Kernpunkt des Strebens nach Völkerverbrüderung gegen die Reaktion aber wurde die Polenfreundschaft.82 Als solche gewann sie in dem demokratischen Internationalismus, den sich auch Johann Philipp Becker in der ersten Periode seines politischen Wirkens zu eigen machte, eine erstrangige Stellung, und diese behielt die Polenfrage in seinem Denken und Handeln, als er proletarischer Internationalist wurde. Schon in seiner ersten Korrespondenz im „Westboten" hatte Becker als Beispiel herausgestellt, daß sich die Polen mit der Waffe in der Hand schlugen. Am 2. Februar 1832 brachte der „Westbote" einen Bericht von ihm über den Empfang eines Zugs von Polen in Frankenthal. Enthusiastisch zitierte Becker das „von einem Bürger und Handwerksmann" — nämlich von ihm selbst — gedichtete Lied, mit dem man sie empfangen hatte. Sein Reimeschmieden stellte Becker von nun an in den Dienst der politischen Agitation, eine Gewohnheit, die er später auch als sozialistischer Agitator beibehielt. Das früheste überlieferte Zeugnis von Beckers Versuchen politischer Lyrik nahm unter den zahlreichen Polenliedern, die damals entstanden, einen achtbaren Platz ein.® Es heißt darin: „Wie Frankreichs Tag mit Adlerschwingen Auf Warschaus Turm drei Farben trug, Wird euer Licht durch Deutschland dringen, Durch euern Freiheits-Fackelzug . . . Im Westen soll das Schwert nicht rosten, Doch laßt es ruhn, erholt euch jetzt, Denn bald ziehn, Brüder, wir nach Osten, Ist Deutschlands Schwert und Sens' gewetzt."84 81

82

83

Zink, Albert, Polenbegeisterung und Polenfurcht. Polnische Freiheitskämpfer auf der Flucht durch die Pfalz (1832-33), in: Pfälzische Heimatblätter, Speyer, 1932, S. 32. Vgl. Die deutsche Polenfreundschaft in den dreißiger Jahren des 19. Jh.. in: KarlMarx-Universität Leipzig. Wissenschaftliche Beiträge, Leipzig 1981. Vgl. Grab, Walter/Triesel, Uwe, Noch ist Deutschland nicht verloren. Eine historisch-politische Analyse unterdrückter Lyrik von der Französischen Revolution bis zur Reichsgründung, München 1970, S. 125 f.

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Der Aufruf zum baldigen entschiedenen Handeln für ein freiheitliches und einheitliches Deutschland durchzieht alle Korrespondenzen Beckers im „Westboten". Charakteristisch dafür ist ein Brief aus seiner Feder, den das Blatt am 27. Februar 1832 als Leitartikel veröffentlichte. Becker appellierte darin an die „Deutschen Brüder im Norden und Süden, im Osten und Westen": „Keine Zollstöcke und Grenzpfähle, kein Gebirge, kein Strom, keine Mundart, keine Religionsformel sollen euch trennen . . . Wir selbst machen die Könige kühn. Es hat bis daher mit Sklavengeduld alles schweigend sein Haupt geneigt . . . Ist. noch nicht voll das Maß Eurer Geduld, so ist doch voll das Maß Eurer Schande. Oh deckt sie bald mit Taten!" Beckers Aufruf mündete schließlich in ein Gedicht: „Wir, mit vereinter Kraft, Stürzen Despoten-Macht, Jeder ein Held. Wie Stahl sei unser Mut, Frei wird durch unser Blut Die deutsche Welt."85 Als nach der Einsetzung eines neuen Generalkommissars für den Rheinkreis im Februar 1832 die Behörden die Zensur gegen die freiheitliche Presse immer rigoroser handhabten, wandte sich Becker leidenschaftlich gegen die Illusion, es sei eine friedliche Einigung mit den Fürsten möglich. Anfang März 1832 trat er den Abwieglern unter deutlicher Anspielung auf die badischen Liberalen und ihr Organ, den „Freisinnigen", durch „Ein Wort über Freisinnigkeit" entgegen. Becker warnte darin besonders vor einem Eingreifen des russischen Zaren und schrieb, daß „dessen Knute die amen Leute schon jetzt so einschüchtert, daß sie lieber sagen: ,Wir haben Freiheit genug'. Hättet Ihr sie wirklich, so dürftet Ihr nicht glauben, sie zu behalten . . . Ihr werdet Euch nur zu spät die Augen reiben."86 Zum Kennzeichen liberaler Halbheit wurde für den radikalen Handwerker jener Begriff, mit dem der Pariser Bankier Casimir Perier, ab März 1831 Regierungschef Frankreichs, die Politik des Julikönigtums — des Regimes der Finanzaristokratie — benannt hatte: die „richtige Mitte", das „Juste-Milieu". Becker rief aus: „Ihr Justemilieu-Politiker, laßt Euch von einem' schlichten Bürger sagen: Ihr verlangt Großmut von dem Feinde, der den Weg, den Ihr sicher zu wandeln glaubt, untergräbt, durch den Ihr einmal unvorbereitet samt Gesetz und Recht in den Rachen der Laune und Willkür stürzen werdet."87 Die Artikel zeigen, wie Becker die Fähigkeiten eines Agitators zu erwerben begann, der das Denken und Fühlen des einfachen Volkes, dem er entstammte, auszusprechen verstand. Wenn Engels hervorhob, daß 1830 nicht nur eine neue 84

85 86 87

[Becker, Johann Philipp], Korrespondenz, Frankenthal, 2.2.1832, in: Westbote, 8. 2.1832, Sp. 311 f. [Ders., Leitartikel], ebenda, 27.2.1832, Sp. 457 ff. Ders., Ein Wort über Freisinnigkeit, ebenda, 14. 3.1832, Sp. 564. Ebenda.

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Ära der bürgerlichen, sondern auch der „Volksagitation" begann, 88 erweist sich Becker als ein hervorragender Vertreter dieser Volksagitation. Bereits in seinem ersten Artikel hatte er sich als „gewerbetreibender Bürger" bezeichnet. Bald wurde deutlich, daß darin Stolz auf die Zugehörigkeit zum arbeitenden Volk lag: „Arbeit ist mein täglich Brot, Nachts mein Vaterland meine Sorge",89 schrieb Becker etwa. Schließlich unterzeichnete er mit „Der Handwerksmann aus Frankenthal" oder einfach mit „Der Handwerksmann". Wenn auch in Beckers Artikeln im „Westboten" noch viel jugendliches Ungestüm mitklang, so lag ihrer Entschiedenheit doch schon die Erkenntnis zugrunde, daß die Interessen des arbeitenden Volkes mit denen der fürstlichadligen Reaktion unvereinbar waren. Und Becker war entschlossen, für seine Überzeugung auch mit ganzer Konsequenz einzutreten. „Einer für alle, alle f ü r einen" wurde seine Maxime. Siebenpfeiffer suchte die Demokraten oft mit diesem Schlachtruf der Trojaner aus Vergils Epos „Aeneis" anzufeuern, und Becker verwandte ihn später auch in der sozialistischen Agitation. Als Siebenpfeiffer und Wirth angesichts der zunehmenden Reglementierung ihrer Blätter erklärten, sie würden sich der Zensur nicht mehr unterwerfen und bei einem gewaltsamen Vorgehen der Behörden gegen ihre Zeitungen das Volk anrufen, beschafften sich Becker und seine Freunde Waffen. Als Anfang März 1832 Siebenpfeiffers Druckpresse in Oggersheim versiegelt wurde, waren Becker und seine jungen Freunde aus Frankenthal unter denjenigen, die bewaffnet herbeieilten und die Siegel entfernten. 90 Durch ihr entschiedenes Auftreten gewannen die Radikalen in Rheinbayern die Sympathien der freiheitsliebenden Patrioten in den anderen deutschen Staaten, sie zogen aber auch den Haß der gesamten Reaktion auf sich. Auf Betreiben Österreichs und Preußens verbot der Deutsche Bundestag die „Deutsche Tribüne" und den „Westboten" und untersagte Wirth und Siebenpfeiffer für fünf Jahre jede politische Tätigkeit. Daraufhin ließ Ludwig I. unter dem Einsatz von Militär und Gendarmerie am 17. März den „Westboten" und am 21. März 1832 die „Deutsche Tribüne" unterdrücken. Die Radikalen kapitulierten jedoch nicht. Viele schrieben in kleineren Blättern weiter, darunter Becker.91 Vor allem suchten sie nun nach neuen Mitteln, der Gegenoffensive der Adelsreaktion zu widerstehen und dem Volkswillen Geltung zu verschaffen. Dabei organisierten sie die «bis dahin bedeutendste nationale Manifestation des deutschen Volkes. 88 89 90 91

Engels, Deutsche Zustände, S. 582. [Becker, Leitartikel], in: Westbote, 27. 2.1832, Sp. 457. Ders., Abgerissene Bilder aus m e i n e m Leben I, S. 150. Becker berichtet in seiner Autobiographie. (Bl. 1), daß er nach der Unterdrückung des „Westboten" an zwei Blättern mitarbeitete, a m „Rheinbayrischen Volksfreund", Kaiserslautern, redigiert von J. H. Hochdörfer, und an der „Zweibrücker Zeitung", Organ des Komitees des Preßvereins, redigiert von Daniel Pistor und anderen. Diese Zeitungen standen mir nicht zur Verfügung.

Johann Philipp Becker

2.3. Mitorganisator bewaffnung

des Hambacher

Festes.

Der.Aufruf

zur

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Volks-

Im Frühjahr 1832 kam unter Pfälzer Radikalen die Idee auf, eine große nationale Demonstration zu veranstalten. Beckers politischer Lehrer Siebenpfeiffer propagierte sie als erster und erkannte auch die Gelegenheit, das Vorhaben zu verwirklichen, als gemäßigte Liberale den Jahrestag der bayrischen Verfassung von 1818 durch ein Fest auf Schloß Hambach bei Neustadt an der Haardt feiern wollten. Der Redakteur des verbotenen „Westboten" bewog Neustädter Bürger, statt dessen für den 27. Mai 1832 ein Nationalfest anzuberaumen und zu ihm Männer und Frauen aus allen deutschen Staaten und allen Schichten des Volkes einzuladen.92 Der von Siebenpfeiffer verfaßte Neustädter Aufruf betonte, die Zusammenkunft gelte „nicht . . . dem Errungenen, sondern dem zu Erringenden . . . , dem Kampfe für die Abschüttelung innerer und äußerer Gewalt".93 Daraufhin verbot der bayrische Regierungskommissär für die Pfalz jedwedes Fest in Hambach. Siebenpfeiffer, Wirth und ihre Anhänger entfalteten aber eine um soveifrigere Propaganda für eine große Volksdemonstration. In diesen Wochen, in denen es die Bewegung mit aller Kraft weiterzutreiben galt, widmete sich Johann Philipp Becker ganz der politischen Tätigkeit. Seine Berufsinteressen hintenanstellend, unternahm er eine Agitationsreise durch die Pfalz und durch einen Teil Rheinpreußens, um zur Teilnahme an dem Treffen zu werben.94 Beim Vorbereitungskomitee drängte er darauf, bewaffnet zusammenzukommen.95 Da die Untersagung des Hambacher Festes die traditionellen Rechte der Pfälzer verletzte, wandten sich gegen dieses Verbot auch gemäßigte Liberale. Vor allem kam aber den Gesinnungsgenossen Beckers zustatten, daß die untersten Volksschichten außerordentlich aktiv wurden.96 Im Frühjahr 1832 gingen die Lebensmittelpreise, die wegen der Mißernte des Vorjahres rapide gestiegen waren, dem Höchststand entgegen. Hungernde Kleinbauern, Handwerker, Gesellen und Arbeiter gerieten in Bewegung. Die ärmere Bevölkerung besorgte sich Brennholz aus den Wäldern. In vielen Orten wurden mißliebige Beamte, Bürgermeister und Stadtverordnete angegriffen. Wie während der Volksbewegung zur Zeit der Französischen Revolution von 1789 setzte man Freiheitsbäume, die auf Bändern oder Tafeln Beschwerden trugen. Die örtlichen Gendarmerieposten konnten gegen diese Bewegung bald nichts mehr ausrichten, und sogar Militäreinheiten, die aus der Festung Landau und aus anderen Garnisonen ausrückten, wurden verschiedentlich zurückgetrieben. So mußte der bayrische Regierungskommissär für die Pfalz schließlich sein Verbot aufheben. Am Hambacher Fest sollten zwar nur „bayrische Deutsche" teilnehmen dürfen, 92

93

94 95

Vgl. zum folgenden Asmus, S. 17 ff.; Bühler, Johannes, Das Hambacher Fest. Deutsche Sehnsucht vor hundert Jahren, Ludwigshafen 1932, S. 64 ff.; Herzberg, S. 64 ff. Das Nationalfest der Deutschen zu Hambach. Unter Mitwirkung eines Redaktions-Ausschusses beschrieben von J. G. A. Wirth, Neustadt a. H. 1832, 1, S. 5. Becker, Curriculum vitae, S. 315; ders., [Autobiographie], Bl. 1. Schneider, Wie und Wann?, in: St. Galler Zeitung, 9. 8.1862.

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aber darum kümmerte sich nun niemand mehr. Der Weg für eine große nationale Manifestation war freigekämpft. Die relative Stärke und Selbständigkeit, die in den Volksbewegungen nach der Julirevolution die spontanen Aktionen frühproletarischer Kräfte erlangten, wurden in den letzten Jahren von der marxistischen Geschichtsschreibung zunehmend aufgedeckt.97 Frühproletarische Aktionen lassen sich auch in der Pfälzer Bewegung zur Zeit des Hambacher Festes feststellen, und zu ihren Schauplätzen gehörte Beckers Vaterstadt Frankenthal, die inzwischen fast 5 000 Einwohner zählte. In der ersten Maihälfte 1832 scharten sich hier mehrfach Arbeitslose zusammen — nach den sehr spärlich fließenden Quellen wohl vor allem Tagelöhner auf Gütern von Bürgern der Stadt. In einer Petition an die Stadtverwaltung forderten sie die Herabsetzung der Brotpreise sowie die Beschaffung von Arbeit.98 Solche Bewegungen mußten bei den Pfälzer Radikalen auch deshalb Beachtung finden, weil im benachbarten Frankreich ein halbes Jahr zuvor die Lyoner Seidenweber unter der Losung „Arbeitend leben oder kämpfend sterben" zur ersten proletarischen Massenerhebung der Geschichte aufgestanden waren.99 Engels verwies auf die „starken Sympathien für das Proletariat, die Becker von Jugend an hegte".100 Der „Handwerksmann" fühlte sich vor allem den arbeitenden Menschen verbunden. Wie er selbst berichtet, waren die Gesellen und Lehrlinge seiner kleinen Werkstatt gewohnt, „gleich nach dem Morgengruß etwas Neues von mir zu erfahren und in den Prinzipien der Freiheit und Gleichheit sowie in den praktischen revolutionären Bestrebungen möglichst unterrichtet zu werden".101 Auch darin wurde er wohl von Siebenpfeiffer bestärkt, der zu dieser Zeit in Neustadt an der Haardt Handwerksgesellen in die politische Bewegung einzubeziehen suchte. Eine Kämpfernatur wie Becker muß beeindruckt haben, daß die Aktionen der plebejischen und frühproletarischen Kräfte wesentlich dazu beitrugen, das Hambacher Fest zu ermöglichen. Die Frankenthaler Mitglieder und Anhänger des Vaterlandsvereins brachen am Sonntag, dem 22. Mai 1832, noch vor Morgengrauen nach Hambach auf.102 Zu ihrem Wagen gesellten sich unterwegs Gefährte aus anderen Orten der Pfalz und aus Baden, und allmählich bildete sich eine immer größer werdende Wagenkolonne. Am Festort aber, der Ruine der im Bauernkrieg zerstörten Kästenburg bei Hambach, bot sich Becker und seinen Freunden ein überwältigendes Bild. Zum Hambacher Fest versammelte sich eine Menschenmenge, die die Älteren an die Größe Napoleonischer Heere erinnerte. Etwa 30 000 Menschen hatten sich eingefunden.103 Die meisten kamen aus der Pfalz, aber auch aus Baden, 96 97 98 99

100 101 102 103

Vgl. vor allem Herzberg, S. 142 f£. Vgl. Bock, Die deutschen Klassenkämpfe 1830/31, S. 192 ff. Vgl. Herzberg, S. 142. Vgl. Louis Blanc/Louis Auguste Blanqui /Ludwig Börne/Jewgeni Tarle, Die Lyoner Arbeiteraufstände 1831 und 1834, hrsg. und eingel. von Kurt Holzapfel, Berlin 1984. Engels, Johann Philipp Becker, S. 322. Becker, Abgerissene Bilder aus meinem Leben I, S. 164. Bühler, S. 100. Valentin, Veit, Das Hambacher Nationalfest, Berlin 1932, S. 31.

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Württemberg und Altbayern, aus Rheinpreußen, beiden Hessen, Nassau, Lichtenberg und Frankfurt, ja sogar aus Altpreußen, Hannover und Sachsen waren Teilnehmer erschienen. Aus Paris wurde begeistert Ludwig Börne begrüßt. 15 Jahre zuvor hatten sich auf dem Wartburgfest etliche hundert Studenten und einige Professoren getroffen. Auf dem Hambacher Fest demonstrierte eine unübersehbare Masse von Bürgern, Kleinbürgern, Bauern, Studenten, Gesellen und Tagelöhnern. Beim Aufzug zum Schloß beeindruckten 300 Handwerksgesellen durch den Gesang des von Siebenpfeiffer dem Reiterlied aus Schillers „Wallenstein" nachgedichteten „Hinauf, Patrioten, zum Schloß, zum Schloß!". Das Hambacher Fest war die bis dahin größte Massenkundgebung und dank der Teilnahme französischer Demokraten und polnischer Revolutionäre zugleich die erste internationale Manifestation der deutschen Geschichte, der organisatorische und propagandistische Höhepunkt der Bewegungen, die in Deutschland durch die Julirevolution von 1830 ausgelöst worden waren.104 Das Nationalfest wurde durch Kräfte getragen, die von bürgerlichen Liberalen bis zu frühproletarischen Elementen reichten. In den Ansprachen, die auf dem Hambacher Schloßberg gehalten wurden, war vieles widersprüchlich und unklar. Unter den Rednern dominierten aber die Vertreter der radikalen Richtung der antifeudalen Nationalbewegung, zu denen auch Becker gehörte. „Ein freies deutsches Vaterland", so erklärte Siebenpfeiffer, „dies ist der Sinn des heutigen Festes, dies sind die Worte, deren Donnerschlag durch alle deutschen Gemarke klang, den Verrätern der deutschen Nationalsache die Knochen erschütternd, die Patrioten aber anfeuernd und stählend zur Ausdauer im heiligen Kampfe, ,im Kampfe für die Abschüttelung innerer und äußerer Gewalt' . . . " m Wirth forderte die „vereinigten Freistaaten Deutschlands" und „das konföderierte republikanische Europa".106 Auch die meisten anderen Redner verfochten vor allem jene drei großen Ideen, die Johann Philipp Becker in den vorangegangenen Monaten immer stärker erfaßt hatten: Volkssouveränität, nationale Einheit und Völkerverbrüderung. Das Hambacher Nationalfest war eine Demonstration für ein freiheitliches und mit seinen Nachbarvölkern freundschaftlich verbundenes Deutschland. Soweit sich die deutsche Bourgeoisie in der Folgezeit auf die Traditionen von Hambach berief, entleerte sie diese ihres demokratischen Grundgehalts. Die Vertreter der Arbeiterklasse hoben hingegen stets die bestimmenden demokratischen Züge des Hambacher Festes hervor. Wie Johann Philipp Becker als einer der ersten unterstrichen hat, war die Zusammenkunft von Hambach von ihren Initiatoren nicht nur als eine volkstümliche nationale Manifestation gedacht. Die radikalen Führer wollten hier zugleich die Organisation der antifeudalen Nationalbewegung auf eine höhere Stufe heben. Siebenpfeiffer und Wirth kritisierten in ihren Reden die Leitung des Deutschen m

105 106

Vgl. Grundriß der deutschen Geschichte. Von den Anfängen der Geschichte des deutschen Volks bis zur Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik. Klassenkampf — Tradition — Sozialismus, Berlin 1979, S. 221. Das Nationalfest der Deutschen zu Hambach, 1, S. 37 f. Ebenda, S. 48.

4 Jahrbuch 36

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Vaterlandsvereins zur Unterstützung der freien Presse um Schüler und Savoye dafür, daß sie dem Verein „einen vagen und unbestimmten Zweck unterschoben".107 Wirth forderte die in Hambach Erschienenen auf, die tüchtigsten Patrioten zu wählen, die ein Programm für die „zweckmäßigste Reform Deutschlands" ausarbeiten und für diese Reform „durch eigene Presseorgane die öffentliche Meinung in ganz Deutschland gewinnen" sollten.108 Siebenpfeiffer ging noch weiter. Er teilte nicht Wirths übersteigerten Glauben an die Allmacht der öffentlichen Meinung. Am Vorabend des Hambacher Festes hatte er geschrieben, da „das volksfeindliche Prinzip nicht mit den Waffen der Vernunft, sondern mit Kanonen und Bajonetten kämpft", gelte es, „auch im Volke die ganze geistige und materielle Kraft zu erwecken".109 In seiner Hambacher Rede erklärte er, „bald muß es geschehen, soll die deutsche, soll die europäische Freiheit nicht erdrosselt werden von den Mörderhänden der Aristokraten".110 Wie Becker 1882 in seinem „Offenen Brief" an seine deutschen Parteigenossen schrieb, war er nach Hambach in der Zuversicht gekommen, „daß die ungeheure Versammlung nicht abläuft wie das Hornberger Schießen".111 Viele Festteilnehmer hofften wie er, hier werde das Zeichen zum Losschlagen gegeben weiden. Dazu gehörten radikale Burschenschafter aus Heidelberg, Würzburg, Jena und Tübingen, in, noch größerer Zahl aber arme Bauern, Handwerker und Lohnarbeiter aus den umliegenden Orten der Pfalz, die eine Tat zur Rettung aus ihrer Not erwarteten. Noch am Abend des 27. Mai war Becker voller Zuversicht. Am folgenden Morgen war eine Versammlung in Neustadt angesetzt. Von ihr erwartete er einen entscheidenden Schritt. Er begab sich abends nach Landau, um dort in der Kaserne des 6. Regiments zu übernachten. Er hatte mit verwandten und bekannten Unteroffizieren Verbindung und gedachte, „die Leute auf den großen Schlag des nächsten Tages gehörig vorzubereiten".112 Vielleicht war der radikale Handwerker am Zustandekommen einer vielbeachteten Adresse beteiligt, in der Angehörige der Landauer Garnison den Festteilnehmern ihre Bereitschaft versicherten, „am Tage der Entscheidung . . . unser Leben völlig und mit Wonne auf den Altar des gemeinsamen deutschen Vaterlandes zu legen".113 Zu der Beratung am Montagvormittag versammelten sich im Neustädter Schießhaus 500—600 Menschen, vor allem Festteilnehmer aus den anderen deutschen Staaten. Auch Becker war erschienen.114 Siebenpfeiffer riß zunächst die Initiative an sich und legte offen seine Absichten dar: Die Anwesenden sollten nach Gauen zusammentreten und Männer wählen, die die Bewegung fortan zu leiten sowie als provisorische Regierung oder Nationalkonvent dem Bundestag gegenüberzutreten hätten. In der großen Menschenmenge und dem Durchein107 108 109 110 111

112 113 114

Ebenda, S. 46. Ebenda, S. 47. Dr. Siebenpfeiffer an den Freisinnigen, in: Der Wächter am Rhein, 26.5.1832. Das Nationalfest der Deutschen zu Hambach, 1, S. 40. Becker, Etwas über das Hambacher Fest 1832, in: Der arme Konrad, Illustrierter Kalender für das arbeitende Volk für 1876, Leipzig 1875, S. 34. Ders., Offener Brief. Der Wächter am Rhein, Kaiserslautern, 31. 5.1832. Vgl. Becker, Offener Brief, sowie Asmus, S. 32ff.; Bühler, S. 117ff.; Schneider, G. H., S. 52 ff.; Valentin, S. 48 ff.

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ander der verschiedenen Meinungen gelang es jedoch nicht, eine anerkannte Leitung für die Fortführung der Bewegung zu wählen. Becker war enttäuscht, daß sogar darüber gestritten wurde, ob man im Namen des deutschen Volkes handeln dürfe. An den Verhandlungen von etwa 20 Führern, die anschließend im Quartier des Zentralkomitees des Vaterlandsvereins stattfanden, nahm er nicht teil. Hier bekamen die Führer des Vereins, Schüler und Savoye, das Heft in die Hand. Wenn sie auch radikale Burschenschaften auf ihre Seite zu ziehen vermochten, so verdankten sie das wohl dem Argument, daß in Frankreich ein. Aufstand der Republikaner unmittelbar bevorstehe und man in der kleinen Pfalz nicht ohne diesen Rückhalt vorpreschen dürfe. Ein Vertreter der Strasbourger Gesellschaft der Volksfreunde hatte in seiner Rede einen baldigen Aufstand gegen das Julikönigtum offen angekündigt. Der Antrag, sich sofort als deutscher Nationalkonvent zu konstituieren, scheiterte daher. Das bisherige Zentralkomitee des Preßvereins blieb im Amt, wurde allerdings möglicherweise — die Quellen geben keine klare Auskunft — durch Wirth und Siebenpfeiffer verstärkt. Die Bewegung sollte zunächst durch neue Volksfeste fortgeführt und auf andere deutsche Staaten ausgedehnt werden und Wirth zu diesem Zwecke eine Beschreibung des Hambacher Fests herausgeben. Eine gewaltsame Unterdrückung der verfassungsmäßigen Rechte wollte man mit bewaffnetem Widerstand beantworten, konkrete Vorbereitungsmaßnahmen hierfür wurden aber nicht beschlossen. Am Montagnachmittag zogen nochmals Tausende von Menschen den Hambacher Schloßberg hinauf.115 Auch Johann Philipp Becker war dabei. Als Vertreter des Zentralkomitees des Vaterlandsvereins sprach nun Schüler, unterstützt von dem als radikal bekannten Burschenschafter Brüggemann, im Sinne der am Vormittag zustande gekommenen Festlegungen. Die Bauern empörten sich, wenn sie nun nach Hause führen, bliebe doch alles beim alten. In dieser Situation ergriff Becker das Wort, um das Anliegen Siebenpfeiffers und seiner Freunde geltend zu machen. Er brachte „einen mit seinen Gesetzlichkeitstiraden nicht enden wollenden Sprecher" zum Schweigen und rief „unter stürmischem Beifall" zur allgemeinen Bewaffnung auf.116 Es gehört zu den Leistungen des entschiedenen Flügels der antifeudalen Nationalbewegung in den deutschen Staaten nach der Julirevolution, daß er das revolutionäre Prinzip proklamierte, gewaltsamer Unterdrückung mit bewaffnetem Widerstand zu begegnen, und die Notwendigkeit der Volksbewaffnung begründete.117 Auf dem Hambacher Fest hat diese Idee Johann Philipp Becker, der bereits in seinen Artikeln im „Westboten" immer wieder eine bewaffnete Auseinandersetzung mit der Reaktion als unausweichlich bezeichnet hatte, am entschiedensten vertreten und am eingehendsten begründet. Die Rede des jungen Handwerkers wurde in Wirths Beschreibung des Hambacher Festes aufgenommen,118 die als Programmschrift für die Weiterführung der Bewe115 116

117 118

4*

Vgl. Sahrmann, S. 137; Valentin, S. 48 ff. Becker, Etwas über das Hambacher Fest, S. 35.; ders., Offener Brief. — Bei Asmus, S. 27, wird Beckers Rede irrtümlich auf den 27.5.1832 vorverlegt. Vgl. Grundriß der deutschen Geschichte, S. 221. Die Fassung von Beckers, Rede, die in der offiziellen Hambacher Festbeschreibung veröffentlicht ist (Das Nationalfest der Deutschen zu Hambach, 1832, 2, S. 85—88),

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gung gedacht war. Dadurch wurde sie Freund und Feind weithin bekannt. Becker betonte, daß gegen die keine Gewalt scheuende Reaktion nur ein bewaffnetes Volk seine Interessen durchsetzen könne. Dringend mahnte er, die Bewaffnung müsse unverzüglich erfolgen. Der „Westbote" und die „Tribüne" seien bereits verboten und damit die Pressefreiheit vernichtet. Nun würden mit der Volkssache verbundene Richter entlassen und durch willfährige Fürstendiener ersetzt. Die Regierungen würden nicht davor zurückschrecken, schließlich die Vorkämpfer für Recht und Freiheit hinter Schloß und Riegel zu bringen und die Volksbewegung zu ersticken. Becker f r a g t e : „Könnten w i r es unvorbereitet verhindern?" 119 Das Kernstück seiner Rede bildete die Begründung der Volksbewaffnung, die Becker aus der Unversöhnlichkeit der Interessen von V o l k und fürstlichen Machthabern ableitete. Diese Passage hatte er wohl vorher vorbereitet und dabei Argumente zusammengefaßt, die er häufig in der Agitation gebrauchte. Aus den Erfahrungen der Volksbewegung zog er wichtige Erkenntnisse über die Rolle der Gewalt im Kampf zwischen Fortschritt und Reaktion, Erkenntnisse, die den späteren Revolutionsgeneral veranlaßten, sich immer wieder dem bewaffneten Kampf zuzuwenden. „ W i r wissen, daß die Umtriebe der Regierungen auf die Unterdrückung der Völker hinzielen", argumentiert Becker, „ w i r wissen, daß die Regierungen um so tätiger sind, j e dringlicher die Völker zeitgemäße, ihrer Würde entsprechende Reformen verlangen; w i r wissen, daß sie in der Unterdrückung und Entwürdigung der Menschheit gehen, so weit sie können. Fragen w i r : Wie weit können sie (die Regierungen) gehen? so müssen w i r alle einstimmig antworten, so lange die Regierungen die Gesetze ungestraft verhöhnen, sie ungehindert mit Füßen treten können, so lange unsere Forderungen unbeachtet bleiben dürfen: so lange können die Regierungen gehen, so weit sie wollen, und aus uns machen, was sie wollen." Anders als Wirth erklärte Becker: „Die Regierungen hören ebensowenig auf Protestationen als auf die mächtige Opposition der öffentlichen Meinung." Eindrucksvoll begründete er die Notwendigkeit der Volksbewaffnung: „Protestationen waffen- oder wehrloser Bürger sind in den Augen der Regierungen nur lächerliche Vorstellungen; wenn w i r daher protestieren, so muß es uns auch ernst sein, unsere Forderungen durchzusetzen . . . Zum Schutze unserer Rechte und zur Erringung der wahren Würde der Menschheit bedürfen w i r wurde von Wirth redigiert. Wie Becker berichtet, hat dieser dabei „vorsichtigerweise die gravierendsten Stellen weggelassen" (Becker, Abgerissene Bilder aus meinem Leben I, S. 163). Die Rede wird aber im folgenden nach der Festbeschreibung zitiert, da Becker die richtige Wiedergabe des Kerns seiner Ausführungen bestätigt hat. Er schrieb: „Meine kurze Rede drehte sich um den von mir aufgestellten Satz herum .Hinter den Verfügungen der Regierungen stehen Bajonette und Kanonen, hinter unseren Protestationen aber steht nichts; darum werden die Verfügungen der Regierungen vollzogen und bleiben die Protestationen des Volkes lächerliche Vorstellungen. Wollen wir mit Erfolg protestieren, so müssen hinter unseren Protestationen ebenfalls Bajonette und Kanonen stehen'" (Becker, Etwas über das Hambacher Fest, S. 35). In gleicher Weise gab er den Inhalt seiner Rede auch anderswo wieder (vgl. Offener Brief). 119 Das Nationalfest der Deutschen zu Hambach, 2, S. 85.

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nicht bloß einer freien Verfassung. Die beste Garantie wäre eine allgemeine Bürgerbewaffnung! . . . Sind wir bewaffnet, so werden die Regierungen nicht mehr so keck sein, gesetzwidrige Verfügungen zu erlassen. Dann können die Regierungen nicht mehr gehen, so weit sie wollen, und nicht mehr aus uns machen, was sie wollen "m Becker war der einzige Handwerker unter den Hambacher Rednern. Zusammen mit einigen Burschenschaftern artikulierte er die Bestrebungen jener Kräfte, die angesichts der Zuspitzung des Kampfes mit den Regierungsgewalten revolutionäre Positionen einnahmen. Deren stärkster Rückhalt waren die sozialen Bewegungen. Insofern erklärte Becker 1882 in seinem „Offenen Brief" an seine deutschen Parteigenossen zu Recht, er habe mit seiner Rede „der Stimmung der notleidenden Volksklasse Ausdruck verliehen",121 obgleich er keine sozialen Forderungen erhob. An anderer Stelle betonte er, daß in Hambach „der Jugend und dem Instinkt der Massen eine deutsche Republik vorschwebte", diese aber „Ungesetzlichkeit — Revolution zur Voraussetzung" hatte.122 Vor allem rückte Becker mit der Volksbewaffnung gegen Schluß des Hambacher Festes eine Frage in den Vordergrund, die angesichts der zum Zuschlagen ausholenden Reaktion zu einer Existenzfrage der demokratischen Bewegung geworden war. Becker berichtete, daß ihm ein Untersuchungsrichter später gesagt habe: „Sie allein haben in Hambach eine praktische Rede gehalten."123

2.4. Hinwendung zur Konspiration und erste Haft Becker fuhr nicht mit den übrigen Frankenthaler Festteilnehmern am 28. Mai nach Hause, sondern kehrte erst am l.Juni 1832 in seine Vaterstadt zurück. Wahrscheinlich blieb er bis dahin in Neustadt an der Haardt; denn erst an diesem Tage endeten mit dem Einholen der Festfahnen die Nachfeiern zum Hambacher Fest, und während der bis dahin anhaltenden Versammlungen und Zusammenkünfte wurden noch wichtige Absprachen getroffen. Siebenpfeiffer verfaßte in diesen Tagen den Entwurf von Grundzügen für einen Deutschen Reformverein, der offenbar einen Versuch darstellte, den entschiedenen, kleinbürgerlich-demokratischen Flügel der antifeudalen Nationalbewegung doch noch fester zu organisieren. Programmatische Grundgedanken des Entwurfs waren Volkssouveränität, deutsche bundesstaatliche Republik und internationale Solidarität mit allen um ihre Freiheit ringenden Völkern. Das Projekt zielte auf die Loslösung der demokratischen Kräfte vom bürgerlichen Liberalismus, ein objektiv notwendiger Vorgang, der sich aber erst in einem längeren Prozeß und in immer neuen Anläufen durchsetzen konntei Zu den Aufgaben des geplanten Vereins zählten Siebenpfeiffer und seine Freunde neben der „Aufklärung und sittlichen Erhebung aller Volksklassen" auch die „Hinwirkung auf die Bewaffnung aller deutschen Bürger, aber ja nicht bloß des aristokratischen oder besitzenden Teils, sondern aller Bürger".124 120 121 122 123 124

Ebenda, S. 85 f. Becker, Offener Brief. Ders., Etwas über das Hambacher Fest, S. 35. Ders., Offener Brief. Zit. nach Sahrmann, S. 191.

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Mit ihrer weiteren Linksentwicklung reagierten Siebenpfeiffer und sein Kreis auf die Kulmination der politischen Krise in der Pfalz, zu der es nach dem Hambacher Fest kam. In vielen Gemeinden entlud sich die spontane soziale Bewegung der notleidenden untersten Schichten der Bevölkerung in Demonstrationen und Tumulten. Nach Beckers Angaben wurden „in einigen Orten die von Hambach zurückgekehrten Deputationen, weil sie das Zeichen zum Losschlagen nicht mitbrachten und das Festgebaren verteidigten, durchgeprügelt".125 Anderswo betrachtete man das Fest als Auftakt für eine Erhebung. Es häuften sich Steuerverweigerungen, Angriffe auf Beamte und Polizisten sowie Zusammenstöße mit dem Militär. In Neustadt konnte Becker erleben, daß Handwerker, andere arme Einwohner und Gymnasiasten durch die Straßen zogen und unter schwarzen Fahnen mit den Losungen „Freiheit und Gleichheit" sowie „Gleiche Güterverteilung" demonstrierten. Die Behörden waren nicht mehr Herr der Dinge. Die örtlichen Organisationen des Preßvereins bildeten daraufhin Bürgergarden. Sie hielten die frühproletarischen Schichten in Schach und benutzten zugleich die Unruhen, um mißliebige Gemeindeverwaltungen und Bürgermeister durch Leute aus ihrer Mitte zu ersetzen und in Städten und Dörfern das Heft in die Hand zu nehmen.126 Eine ähnliche Situation entstand in Frankenthal, und nun kehrte Becker hierher zurück. Neue Demonstrationen notleidender Tagelöhner für Arbeitsbeschaffung und die Herabsetzung der Lebensmittelpreise hatten auch in seiner Vaterstadt am 29. Mai 1832 eine kleine Revolution ausgelöst.127 Becker berichtete in seinem „Curriculum vitae": „Die Stadtbehörde verläßt das Rathaus, das Komitee des Preßvereins nimmt ihre Stelle ein."128 Bei anderer Gelegenheit sprach er von einer „zehntägigen Republik Frankenthal".129 Becker schaltete sich nach seiner Rückkehr am 1. Juni in die Bewegung ein, und dabei drängte es ihn natürlich zur Sicherheitswehr. Später gab er an, er sei „Kommandant der Sicherheitsgarde"130, „Kriegsminister der zehntägigen Republik Frankenthal"131 gewesen. Demnach hätte er in diesen Tagen erstmals ein militärisches Kommando geführt. Allerdings kann man Zweifel hegen, ob die „festen Bürger"132, welche nach späteren Prozeßaussagen von Beteiligten die mehr als 40 Mann starke Sicherheitsgarde gebildet hatten, sich wirklich dem Befehl des jungen Handwerkers unterstellten, der in dem Frankenthaler Verein ein radikaler Außenseiter war. Vielleicht überließen sie ihm aber die Leitung, nachdem sie der 125 126 127

128 129 130 131 132

Becker, Offener Brief. Vgl. Bühler, S. 75 ff.; Sahrmann, S. 109; Valentin, S. 62 ff. Vollständige Verhandlungen vor dem Königlich-Bayrischen Appellationsgericht des Rheinkreises und in den öffentlichen Sitzungen des außerordentlichen Assisengerichts zu Landau vom 29. Juli 1833 und der folgenden Tage gegen Dr. Wirth, Dr. Siebenpfeiffer, Hochdörfer, Scharpff, Becker, Dr. Grosse, Dr. Pistor, Rost und Baumann, hrsg. von Ludwig Hoffmann, Zweibrücken 1833 (im folg.: Landauer Prozeßbericht), S. 146 ff.; siehe auch Herzberg, S. 75 ff. Becker, Curriculum vitae, S. 315. Ders., Abgerissene Bilder aus meinem Leben I, S. 150. Ders., Curriculum vitae, S. 315. Ders., Abgerissene Bilder aus meinem Leben I, S. 150. Landauer Prozeßbericht, S. 182.

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Tagelöhnerunruhen Herr geworden waren und ihnen angesichts zunehmender Verfolgungen ein Hervortreten in der Sicherheitsgarde immer riskanter erschien. Wenn ein pfälzischer Landeshistoriker schreibt, daß Becker „bei den sogenannten Lebensmittelunruhen in Frankenthal in der vordersten Reihe der Rebellen stand",133 so übersieht er, daß Becker erst nach den eigentlichen Lebensmittelunruhen nach Frankenthal zurückkehrte. Vor allem verkennt er den Unterschied zwischen diesen Tagelöhnerunruhen einerseits und den Aktionen der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Mitglieder des Preßvereins andererseits. Der Verein sorgte nicht nur für die Abgabe verbilligten Brots an die Notleidenden. Die aus Vereinsmitgliedern gebildete Sicherheitsgarde hatte am 29. Mai auch 17 rebellierende Tagelöhner nach dem Aufbrechen eines Lebensmittellagers verhaftet, die später in Zweibrücken vor Gericht gestellt, aber freigesprochen wurden. Becker wirkte nach seiner Rückkehr nach Frankenthal weiter unter den Mitgliedern des Preßvereins. Als Gesinnungsgenosse Siebenpfeiffers wollte er allerdings die „Erhebung aller Volksklassen" und eine Bewaffnung aller Bürger gegen die fürstlich-adlige Reaktion, nicht eine Bewaffnung der Besitzenden gegen die Besitzlosen. Für die notdarbenden Lohnarbeiter hatte er mehr Verständnis als die meisten Mitglieder des Preßvereins. In Prozeßaussagen erklärte der junge Handwerker später, die Tagelöhner hätten verständlicherweise einen ihrer am 29. Mai 1832 festgenommenen Genossen zu befreien versucht, weil durch die Bürgergarde nach dem Erbrechen des Lebensmittellagers „Leute arretiert worden waren, von denen einer mit sieben Zeugen nachgewiesen hatte, daß er zur Zeit der Türerbrechung in einem Wirtshaus sich befand".134 Hier äußerte sich Kritik an der Mehrheit der Vereinsmitglieder und regten sich offenbar die von Engels hervorgehobenen „starken Sympathien für das Proletariat, die Becker von Jugend an hegte". Dabei erhoffte dieser auch die Besserstellung der untersten Volksschichten noch allein von einer Republik und ließ in den turbulenten Tagen nach dem Hambacher Fest „auf offenem Markt die Republik leben"135. Vermochten die Unruhen in der Pfalz für einige Zeit den bayrischen Verwaltungsapparat fast völlig zu lähmen, so verpufften sie doch schnell. Es fehlte eine einheitliche und offensive Führung. Die revolutionäre Gärung griff zudem nicht auf andere deutsche Staaten über, und am 5. und 6. Juni 1832 scheiterte auch der Aufstand der Pariser Republikaner, auf den Schüler, Savoye und andere Führer des Preßvereins gesetzt hatten. Nicht zuletzt begannen angesichts der sozialen Bewegungen im bayrischen Rheinkreis, wie die Regierung Ludwigs I. befriedigt an Metternich berichtete, „die' wohlhabenden Kreisbewohner . . . , ihre Furcht vor Umwälzungen auszusprechen".136 Preußen und Österreich aber betrachteten das Hambacher Fest als eine unerhörte Herausforderung. Unter ihrem Druck beeilte sich die bayrische Regierung, die rebellischen Pfälzer zur Räson zu bringen.137 Mitte Juni 1832 wurde 133

Schneider, Johann Philipp Becker, S. 222. Landauer Prozeßbericht, S. 149. 135 Becker, Abgerissene Bilder aus meinem Leben I, S. 150. 136 Zit. nach Sahrmann, S. 108. 137 V g l Bühler, S. 145 ff.; Valentin, S. 146 ff. 134

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ein Drittel der bayrischen Armee in der Stärke von 8 500 Mann im Rheinkreis konzentriert. Die Unruhen konnten nun unterdrückt werden. Sofort erging Anklage wegen Hochverrats gegen führende Mitglieder des Preßvereins und die Hauptredner des Hambacher Festes, darunter Becker, dessen Aufruf zur Volksbewaffnung als eine der gefährlichsten Hambacher Reden galt. Schüler, Savoye und weitere Führer der Pfälzer Bewegung emigrierten nach Frankreich. Dagegen suchten Wirth, Siebenpfeiffer und andere den Kampf in der Pfalz fortzuführen und dazu als letzte legale Möglichkeit die Tribüne der Schwurgerichtsverhandlungen zu nutzen. Becker schloß sich ihrer Haltung an. Die Untersuchungsbehörden beschuldigten Becker wegen seiner Hambacher Rede schwerster Vergehen, „des Verbrechens der direkten Aufreizung zum Aufruhr, zur Bewaffnung und zum gewaltsamen Aufstand gegen die Staatsregierung sowie zum Umsturz der Verfassung".138 Er wurde am 23. Juli 1832 zunächst im Bezirksgericht Frankenthal verhört. Am 9. und 10. September vernahm ihn dann persönlich der zum königlich-bayrischen Untersuchungskommissär gegen die Hambacher Redner ernannte Appellationsgerichtsrat Molitor, der dafür eigens aus Zweibrücken nach Frankenthal kam. Wie die Untersuchungsakten zeigen, wollte der junge Republikaner einem so erbitterten Feind nichts zugeben, was dieser ihm nicht nachweisen konnte. Becker bestritt, Wirth für die Hambacher Festbeschreibung eine Rede zugesandt und überhaupt in Hambach nach einem Manuskript gesprochen zu haben. Er ließ sich aber von Molitor nicht dazu verleiten, sein Auftreten auf dem Fest zu verleugnen, sondern erklärte mit Bestimmtheit, daß er „die fragliche Rede . . . selbst verfertigt habe".139 Molitor wurde aus Becker nicht klug, und zudem demonstrierte die Frankenthaler Bevölkerung Unmut über die Verhaftung ihres Bürgers.140 Vielleicht gab das den Ausschlag dafür, daß Becker nochmals freigelassen wurde. Der bayrische König Ludwig I., der sich persönlich mit dem Vorgang befaßte, argwöhnte jedenfalls: „Mir scheint, auch hier wollte man der Gunst des . . . gereizten und zusammengelaufenen Volkes dienen."141 Obwohl nun Becker ständig die Verhaftung drohte, beteiligte er sich energisch an dem Kampf gegen die vordringende Reaktion. Die Bewegung flaute allerdings zunehmend ab. Die Verfolgungen taten ihre Wirkung, und die arme Bevölkerung kam zur Ruhe, als durch die gute Ernte von 1832 die seit Jahren gestiegenen Lebensmittelpreise erstmals wieder zu sinken begannen.142 So wurde die Zahl der Aktiven kleiner, aber zugleich wurden diese radikaler. 138

139 140 141

142

StA Speyer, OLG I, 27: Untersuchungsakten gegen Johann Philipp Becker, Bürstenmacher zu Frankenthal 1832-1833 (im folg.: Untersuchungsakten 1832—33), Nr. 1, Erscheinungsbefehl v. 20. 7.1832. Ebenda Nr. 4, Verhörprotokoll v. 10. 9.1832. Becker, Abgerissene Bilder aus meinem Leben I, S. 163. Zit. nach Heigel, Karl Theodor, Das Hambacher Fest vom 27. Mai 1832, in: HZ, Bd. 111, 1913, S. 84. — Am. 7.10.1832 verlangte der Generalstaatsanwalt in Zweibrücken unter Berufung auf eine Weisung Ludwigs I. von Molitor Auskunft über die Gründe für die Freilassung Beckers, worauf dieser noch am selben Tage eine erneute Festnahme ankündigte (Untersuchungsakten 1832—33, Nr. 4). Silbernagel, Herbert, Die Pfalz unter dem Regierungspräsidenten Freiherrn von Stengel 1832—1837. Zugleich ein Beitrag zum Verhältnis Bayern-Pfalz in dieser Zeit, phil. Diss., Würzburg 1936.

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Nach der Emigration der Zweibrücker Führer war in Frankfurt am Main ein neues Zentralkomitee des Vaterlandsvereins gebildet worden. Es begann die Fäden einer geheimen Verbindung zu knüpfen, die einen Aufstand in den süddeutschen Staaten vorzubereiten suchte.143 An dieser Verbindung beteiligte sich auch der von unbändigem Haß gegen die Reaktion erfüllte Becker. Damit beschritt er erstmals den Weg der konspirativen Tätigkeit. Die von den Frankfurtern hergestellten Kontakte gingen nach Württemberg, Baden, beiden Hessen und anderen Staaten sowie zu polnischen Emigranten. In der Pfalz war nach der Verhaftung der Hambacher Redner der Dürkheimer Gymnasialprofessor Friedrich Wilhelm Knöbel der aktivste Führer der Radikalen.144 Zu ihm hatte Becker eine enge Verbindung. Zusammen mit Freunden von Frankenthal und Worms nahm er an einer Beratung mit entschiedenen badischen Liberalen um Johann Adam von Itzstein teil. Auch traf er mit Vertretern der Burschenschaften geheime Abmachungen.145 In der zweiten Septemberhälfte 1832 beteiligte er sich führend an einer aufsehenerregenden Befreiungsaktion in Frankenthal. Der Publizist und frühere Burschenschafter Jakob Venedey hatte nach dem Hambacher Fest als einer der Emissäre des Zentralkomitees des Vaterlandsvereins gewirkt und war in Mannheim verhaftet worden. Der gebürtige Kölner sollte nach Preußen ausgeliefert werden, wo ihm eine hohe Gefängnisstrafe drohte. Als er beim Abtransport für eine Nacht im Frankenthaler Gefängnis untergebracht wurde, zauderten freiheitlich gesinnte Bürger der Stadt nicht lange. Der Gefängnisarzt, ein Vetter Beckers, meldete den Gefangenen als nicht transportfähig. Inzwischen verschafften ihm Becker und andere Ausbruchwerkzeuge. Becker schaltete auch den Gefängniswärter aus, indem er ihn unter den Tisch trank. Venedey gelang nach stundenlangen Anstrengungen der Durchbruch der dicken Bohlen in der Decke seiner Gefängniszelle, und er entkam nach Frankreich.146 Das war die erste von mehreren aufsehenerregenden Gefangenenbefreiungen der 30er Jahre, an denen sich Becker beteiligte. Am 14. November 1832 erschien der „Demagogenjäger" Molitor in Frankenthal und ließ Becker erneut verhaften. Als dieser von den Gendarmen abgeführt wurde, kam es wiederum zu Tumulten der Bevölkerung. Da Becker aber nicht fliehen wollte, beruhigte er die Rebellierenden.147 Während man andere Verhaftete nach den Verhören freiließ, wurde Becker diesmal ins Gefängnis geworfen. „Von vielen angesehenen Bürgern der hiesigen Stadt aufgefordert", stellte das Bürgermeisteramt von Frankenthal dem jungen Bürstenbinder das Zeugnis aus, „daß er immer ein braver, rechtschaf143

144 145

146

147

Schneider, G. H., S. 122 ff.; Hroch, Mieroslav, Der soziale Charakter des Frankfurter Wachensturms 1833, in: Aus 500 Jahren deutsch-tschechoslowakischer Geschichte, Berlin 1958, S. 149 ff. Süß, Edgar, Friedrich Wilhelm Knöbel, in: Das Hambacher Fest (Anm. 20), S. 181 ff. Becker, Curriculum vitae, S. 315; ders., Abgerissene Bilder aus meinem Leben I, S. 151; ders., [Autobiographie], Bl. 2. Ders., Aus meinen Erinnerungen, S. 33 ff. Vgl. Venedey, Jakob, Gefängnis- und Fluchtgeschichten. Meine Flucht aus dem Gefängnis, in: Freya. Illustrierte Blätter für die gebildete Welt, Stuttgart, 1866, S. 16 ff. — Venedey erwähnte Becker nicht, gab aber sonst eine mit der seinigen übereinstimmende Darstellung. Becker, Abgerissene Bilder aus meinem Leben I, S. 171.

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fener Mann gewesen [sei], stets den Pflichten eines guten Bürgers und Familienvaters obgelegen" habe.148 Molitor wollte aber wegen Becker keinen zweiten Rüffel von König Ludwig I. riskieren. Viele Monate mußte Becker im Frankenthaler Gefängnis zubringen. Die von Ungeziefer wimmelnde Zelle teilte er mit Dieben, Schmugglern und Bettlern. Er erkrankte bald an Typhus, der mehrere seiner Mitgefangenen dahinraffte. Jedoch ließ er sich nicht beugen. Die Haftzeit nutzte er, um seine Sprachkenntnisse zu erweitern. Er gab auch seinen Mithäftlingen Unterricht. In den Gesprächen erfuhr er selbst vieles von ihnen über die Lage der untersten Volksschichten, denen seine Sympathien galten. Er erinnerte sich noch nach Jahrzehnten an diese Schule.149 Die geheimen Aufstandspläne, auf die Becker seine Hoffnungen setzte, nahmen Anfang 1833 festere Gestalt an. In Frankfurt a. M., dem Sitz des Bundestages, sollte der Hauptschlag geführt werden. Pfälzer Radikale wollten den Aufständischen über Mannheim zu Hilfe eilen. Wie der gleichfalls in Frankenthal inhaftierte Burschenschafter Brüggemann erhielt Becker geheime Kenntnis von diesen Plänen. Er sollte befreit werden und — nun schon als zum bewaffneten Kampf entschlossener Mann bekannt — die Pfälzer Kolonne über Mannheim nach Frankfurt führen.150 Ende Januar 1833 wurde jedoch ein Teil der Verschwörer in Württemberg festgenommen. In Hessen zog sich Pfarrer Weidig von dem Unternehmen zurück, da er dessen geringe Erfolgschancen erkannte. Die Frankfurter, vor die Wahl gestellt, alles auf eine Karte zu setzen oder zu fliehen, entschieden sich für das erstere. Das Ergebnis war der Frankfurter Wachensturm vom 3. April 1833, ein Putsch, der scheitern mußte. Nun konnten für Becker und seine Freunde keine Zweifel mehr bestehen, daß ihnen der Prozeß gemacht werden würde.

2.5. Das weltanschauliche gericht

Bekenntnis

vor dem Landauer

Schwur-;

Die Verhandlungen gegen die Hambacher Redner vor dem Schwurgericht in Landau vom 29. Juli bis 16. August 1833 bildeten einen der ersten großen politischen Tendenzprozesse, die in Deutschland von der Reaktion gegen fortschrittliche Kräfte durchgeführt wurden. Der Landauer Prozeß erregte in der Öffentlichkeit eine außerordentliche Aufmerksamkeit; er wurde in der Geschichte der demokratischen Bewegung ein Ruhmesblatt und verdient, der Vergessenheit entrissen zu werden^151 Johann Philipp Becker war einer der acht Angeklagten, die in Landau vor den Geschworenen tapfer ihren Mann standen (fünf Angeklagte waren emigriert und nicht erschienen). Von Frankenthal nach Landau gebracht, traf Becker hier im Gefängnis erst148

149

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Untersuchungsakten 1832—33, Nr. 5. Schreiben des Bürgermeisteramts der Stadt Frankenthal an Molitor v. 19.11.1832. Becker, [Autobiographie], Bl. 2; ders., Abgerissene Bilder aus meinem Leben I, S. 262. Ders., [Autobiographie], Bl. 2; Schneider, Wie und Wann?, in: St. Galler Zeitung, 9. 8.1862, S. 826. Vgl. Landauer Prozeßbericht; Herzberg, S. 193 ff.; Bühler, S. 151 ff.; Doli, S. 67ff.

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mals wieder mit seinen Gesinnungsgenossen zusammen. Ein Teil von ihnen wollte zunächst eine Ableugnungstaktik befolgen, die auch die meisten Verteidiger empfahlen. Wirth überzeugte sie jedoch davon, daß es die Tribüne des Gerichts zu benutzen galt, um die Ziele der Hambacher Bewegung offensiv zu vertreten. Das war in der Tat sehr wichtig. Die bayrische Regierung hatte die Verhandlungen zwar von Zweibrücken, der Metropole der Pfälzer Liberalen, in die Festung Landau verlegt. Sie konnte es aber nicht wagen, die Angeklagten vor ein Militärgericht zu stellen, sondern mußte ihnen öffentliche Schwurgerichtsverhandlungen zugestehen. Als Gerichtsraum war der größte Saal in Landau, im Gasthaus zum Schwanen, hergerichtet worden. Mehr als 700 Zuhörer fanden hier Platz, aber manchmal wurden Becker und seine Freunde an den Straßenrändern von Tausenden begrüßt, wenn sie aus dem Gefängnis herbeigeführt wurden. Die Verhandlungen wurden von dem bekannten Stenographen Franz Xaver Gabelsberger mitgeschrieben. So konnten sie später veröffentlicht und einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden. Nach Verlesen der Anklageschrift sagten nahezu Ader Tage lang fast 100 Zeugen aus, aber keiner erbrachte Beweise für den Kernpunkt der Hochverratsanklage, daß die Beschuldigten direkt zum Umsturz der bestehenden Regierung aufgereizt hätten. Dann wurden drei Tage lang die wichtigsten Artikel und Reden Wirths, Siebenpfeiffers und ihrer Freunde verlesen, die als Beweisstücke gegen die Hambacher Redner dienen sollten, aber eine einzige Anklage gegen die feudalabsolutistische Reaktion darstellten. Den Höhepunkt bildeten die Verteildigungsreden. Wirth eröffnete den Reigen mit einer achtstündigen Rede, Siebenpfeiffer schloß ihn ab. „Wer noch nicht liberal ist, hat hier die beste Schule, es zu werden"11"'2, klagte ein im Saal diensthabender Gendarmerieleutnant. Auch Becker trat mutig in die Schranken. Wie schon in den Verhören, leugnete er zwar auch vor den Geschworenen, mit dem Abdruck seiner Hambacher Rede etwas zu tun zu haben, er identifizierte sich aber erneut mit deren Inhalt und bekräftigte, „die Volksbewaffnung sei das einzige Mittel, die Ansprüche des Volkes durchzusetzen"153. In seiner Verteidigungsrede griff er die Reaktion sogar schärfer an als bei seinem Auftritt in Hambach, was ihm auch der Staatsanwalt ankreidete.154 Der 24jährige Bürstenbinder war unter den Landauer Angeklagten der jüngste und auch der einzige Handwerker. Er konnte sich weder an Belesenheit noch an Beredsamkeit mit Wirth oder Siebenpfeiffer messen. Aber seine Rede ist nicht nur ein Zeugnis seiner politischen Konsequenz, sondern in seiner Biographie auch bedeutsam als die erste zusammenhängende Darstellung seiner weltanschaulichen Positionen. Becker beeindruckten zunehmend die Leistungen, welche die Aufklärer des 18. Jh. für die Vorbereitung der Französischen Revolution vollbracht hatten. Er wollte als Volksaufklärer wirken, als ein Mann aus dem Volk die Vernunftgründe finden und verbreiten helfen, die die freiheitlichen Bestrebungen rechtfertigten. Zu der dazu notwendigen intensiveren weltanschaulichen Selbstverständigung boten dem jungen Revolutionär, der auch später immer nur 152 153 154

Zit. bei Bühler, S. 153. Landauer Prozeßbericht, Ebenda, S. 144.

S. 444, vgl. S. 197.

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im Kampf lernte, die Haft und der Prozeß erstmals eine Gelegenheit. Bei dem tagelangen Verlesen der wichtigsten Reden, Artikel und Aufrufe der Angeklagten wurde nochmals das gesamte geistige Arsenal der Radikalen vorgeführt, und in seiner Verteidigungsrede hatte Becker das eigene politische Kredo zu formulieren. Sie ist ein bemerkenswertes Zeugnis für den „ungelehrten, aber keineswegs ung'ebildeteten Geist", den Engels an Becker hervorhob. Becker machte zum eigentlichen Gegenstand seiner Verteidigungsrede die Berechtigung und Siegeszuversicht der demokratischen Bewegung.155 Wie Siebenpfeiffer, Wirth und andere angeklagte Hambacher stützte er sich dabei auf Naturrechtsideen, die besonders von Rousseau als dem Ideologen der kleinbürgerlichen Schichten des dritten Standes in klassischer Form entwickelt und von entschiedenen Liberalen und kleinbürgerlichen Demokraten in Deutschland aufgenommen worden waren.156 Becker ging von der Schilderung eines „naturgemäßen Staates" aus, wie er in der Anfangsperiode der Menschheit bestanden habe: „Jeder volljährige Mensch in diesem Staate, der nach Verhältnis seiner Kräfte zu dessen Leitung und Regierung sein Möglichstes beiträgt, ist ein Bürger; alle Bürger haben gleiche Rechte und Pflichten. Ein jeder nimmt durch sein aktives und passives Wahlrecht Anteil an den Regierungsgeschäften. Der Boden, den dieses Volk bewohnt und seine Erzeugnisse sind Gemeingut, und jeder Mensch errang oder erringt nach Fleiß und Verdienst seinen Anteil als besonderes Eigentum."157 Es ist unschwer zu erkennen, daß dieser „naturgemäße Staat" eine Republik mit politischer Freiheit und Gleichheit aller Bürger war. Der Einfluß Rousseaus zeigte sich darin, daß Becker wie dieser von einem ursprünglichen Gemeineigentum am Boden und an siinen Erzeugnissen ausging. Der kleinbürgerliche Egalitarismus, den Rousseau vertrat, kommt allerdings in Beckers Forderung, daß das Sondereigentum des einzelnen durch „Fleiß und Verdienst" bestimmt sein müsse, nur relativ schwach zum Ausdruck. Nach Beckers damaligem Geschichtsbild ließ das ursprünglich freie Volk infolge Unerfahrenheit zu, daß es durch herrsch- und genußsüchtige Menschen versklavt wurde. Diese stützten sich dabei auf „die Priesterkaste ..., die nun ihr Interesse von dem des Volkes trennt, auf dessen Kosten sie sich mästet", und auf die Adelskaste, deren Verrat mit Privilegien belohnt wird. „Das Volk geht nun aus seinem natürlichen Zustande heraus . . . An die Stelle der freien Bürger treten Untertanen, Ein Teil wird ganz leibeigen, und im Genuß von Recht und 155 D i e Verteidigungsrede Beckers vor dem Landauer Prozeß wurde im Prozeßbericht von der Zensur völlig gestrichen. Dies erklärt wohl, daß Asmus (S. 43) Becker nicht unter jenen Angeklagten nennt, die „sich aufrecht zu ihren politischen Uberzeugungen bekannten". Beckers Rede wird im folgenden erstmals detailliert wiedergegeben. Das geschieht nach einem Exemplar des Prozeßberichts, in dem die Zensurlücken in einem (nichtpaginierten) handschriftlichen Anhang ergänzt sind. Das Exemplar stammt aus dem Besitz des Frankenthaler Rechtsanwalts Karl Merkle und befindet sich jetzt im Staatsarchiv Speyer (Sign. Hambach 13), das mir dankenswerterweise einen Mikrofilm von Beckers Rede überließ, (im folg.: Landauer Prozeßbericht, Anhang). 156 vgl. Fickert, Artur, Montesquieus und Rousseaus Einfluß auf den vormärzlichen Liberalismus Badens, Leipzig 1914. 157 Landauer Prozeßbericht, S. 153.

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Freiheit sind nur die herrschenden Kasten. Das Eigentum oder die Würde des Staates werden nicht mehr durch Fleiß und Verdienst, sondern nach Gunst und Wohlwollen verteilt."158 Gegen diese Usurpation ist der Kampf des Volkes um seine Freiheit vollauf gerechtfertigt, denn es will nur wiedererlangen, was ihm unrechtmäßig entrissen wurde und ihm die menschliche Natur, gottgegebene Anlagen gebieten. Zum gewaltsamen Umsturz zwingen die Regierungen, und daher tragen sie auch die Verantwortung für dessen Begleiterscheinungen. So begründete Bekker das Recht auf gewaltsame Revolution: „Das Volk, dadurch zum blutigen Kampf gezwungen, streitet nach dem Willen der Natur für den Fortschritt, für seine Rechte. Es erfüllte seine heiligste Pflicht. Und diese Kämpfe werden sich solange wiederholen, bis das Volk mit der vollen Freiheit beglückt!"'59 Die ganze Geschichte sah der junge Handwerker vom Kampf des Volkes um seine Freiheit erfüllt. Die durch die Priester- und Adelskaste beschrängte Monarchie sei zunächst durch die absolute Monarchie abgelöst worden und an deren Stelle dann die konstitutionelle getreten, das Volk aber jedesmal um die Früchte seines Sieges gebracht worden. Jetzt erst gelte das Ringen einem naturgemäßen Staat, d. h. einer demokratischen Republik. Beckers Rede gipfelte in einem leidenschaftlichen Bekenntnis zur Republik und in einer scharfen Kritik an der konstitutionellen Monarchie, dem staatspolitischen Ideal der gemäßigten bürgerlichen Liberalen. Die konstitutionelle Monarchie charakterisierte er als einen Versuch zur Irreführung des Volkes: „Zwei entgegengesetzte Prinzipien sollen sich hier vereinigen . . . Die Machthaber wollen ihre Macht vergrößern ..., das Volk will seine Freiheit erweitern . . . Der konstitutionelle Zustand ist daher kein Frieden, sondern ein Waffenstillstand, worin beide Prinzipien neue Kräfte zu sammeln gedenken, um einen neuen, entscheidenden Kampf zu beginnen."160 Becker hing noch einem recht allgemeinen Freiheitsbegriff an. Das Volk erschien ihm als eine Einheit und ohne innere Gegensätze. Gewiß verurteilte Becker nach den Lohnarbeiterbewegungen in den Pfälzer Städten sowie nach dem Lyoner Weberaufstand wie sein politischer Lehrer Siebenpfeiffer den „unerträglichen Zustand der unbemittelten Klassen, die nicht mehr bloß als Knechte für andre dasein und überdies die notwendigen Lebensbedürfnisse entbehren, nicht geringer und elender dran sein wollen als das Lasttier, dem man wenigstens so viel Futter gibt, daß es bei Kräften bleibt"161. Die kleinbürgerlichen Verhältnisse in der Pfalz, wo die sozialen Probleme vor allem durch die Bedrückung seitens der bayrischen Monarchie verursacht zu sein schienen, verstellten ihm aber weitgehend den Blick für die Ursachen der sozialen Fragen, die im aufkommenden Kapitalismus lagen. Becker war noch weit entfernt von Sozialrevolutionären Ideen, wie sie Georg Büchner, Heinrich Heine und andere entwickelten, und kleinbürgerlich-soziale Reformvorstellungen, wie sie Wirth und Siebenpfeiffer bereits in ihren Verteidigungsreden in Landau vortrugen, machte er sich explizit erst nach dem Prozeß zu eigen. 158 159 160 161

Ebenda, Anhang. Ebenda. Ebenda. Siebenpfeiffer, Philipp

Jakob, An's deutsche Volk, in: Westbote, 11.3.1832.

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Beckers Entschiedenheit äußerte sich jedoch in einer geradezu plebejischen Schärfe der Kritik an der Fürsten- und Adelsherrschaft, welche die ganze Not der Massen verursacht zu haben schien, sowie in einem unbegrenzten Vertrauen in die Kraft des Volkes, sie zu zerschlagen und die volle Freiheit, die Möglichkeit zur ungehinderten Entwicklung für alle zu erkämpfen. Zum Kampf gegen Fürsten und Adel erklärte er: „Sind die Machthaber Sieger, so liegt gewiß der Kern der Nation unter der Erde. Sind sie aber im Nachteil, d. h. wenn ihnen das Schwert an der Gurgel steht, so rufen sie, doch erst wenn der Boden schon mit Bürgerblut getränkt ist, wenn tausende Familien zugrundegerichtet, wenn die Fluren und Saaten zerstört, wenn Städte und Dörfer verwüstet, ja, dann rufen sie: ,Volk, ich will Dir geben, was Du verlangst' . . . Aber dies alles ist nur Erfindung, Heuchelei zu ihrer Rettung." In einer Festung der Reaktion des Hochverrats angeklagt, rief der 24jährige Handwerker furchtlos aus: „Mag die Gewalt auch Tausende erwürgen . . . , die Sache gewinnt . . . Ja, sie ist dahin, Eure Macht, Könige! Sie fällt vor dem Geist, der treu sich beim Volk erhielt."162 In dieser Rede sprach nicht mehr der „unbestimmte Fortschrittsmann" des Jahres 1830, sondern ein bewußter Republikaner, der als unbezwingbaren Hort republikanischer Bestrebungen das einfache Volk betrachtete. Die zunächst noch starken Tendenzen romantischer Deutschtümelei, die bei manchem Hambacher später zu einer Rechtsentwicklung führten, hatte Becker weitgehend abgestreift. Seine republikanische Überzeugung war nun weltanschaulich so fest fundiert, daß sie durch die ernste Niederlage der antifeudalen Nationalbewegung nicht erschüttert werden konnte. Die Entschiedenheit des Mannes aus dem Volk verlieh seiner Rede eine eigene Note und starke Kraft. Die Zensur nahm für den Abdruck im Prozeßbericht Streichungen in den Ausführungen, aller Angeklagten vor, von der Rede Beckers aber ließ sie nur eine kurze Einleitungspassage stehen. Durch-das mutige Auftreten vor dem Schwurgericht in Landau errangen die angeklagten Hambacher einen bedeutenden Erfolg. Am 16. August 1833 sprachen die Geschworenen ein „Nichtschuldig". Noch einmal war ein moralischpolitischer Sieg über die Reaktion errungen, die mit Gewalt die Volksbewegung wiederum für Jahre unterdrückte. Wie die meisten Landauer Angeklagten wurde allerdings auch Becker nach dem Freispruch von der Anklage des Hochverrats zunächst nicht auf freien Fuß gesetzt. Unter der weiteren Anklage, in seiner Hambacher Rede „öffentliche Stellen wegen Ausübung ihrer Amtsverpflichtungen beschimpft . . . zu haben"163, wurde er vor das Zuchtpolizeigericht in Frankenthal gestellt. In den am 30. August 1833 geführten Verhandlungen bestritt Becker, die diesmal herangezogenen Passagen seiner Rede so gehalten zu haben, wie sie in Worten der Festschrift wiedergegeben waren, nahm aber ansonsten wiederum kein Blatt vor den Mund. Der Staatsanwalt warf ihm in seinem Antrag auf sechs Monate Gefängnis erneut vor, „die Behörden in der öffentlichen Sitzung beschimpft zu haben"164, und als das Gericht auch hier auf Freispruch erkannte, 102 1(53 164

Landauer Prozeßbericht, Anhang. Untersuchungsakten 1832—33, Nr. 13, Anklageschrift vom 30. 8.1833. Ebenda,. Nr. 14, Verhörprotokoll vom 30. 8.1833.

Johann Philipp Becker

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legte der Staatsanwalt Berufung ein. Am 2. September 1833 wurde Becker nachts heimlich in einer Kutsche nach Zweibrücken überführt. Hier wurde er jedoch vom Appellationsgericht am 5. September gegen Kaution entlassen 165 und schließlich am 29. Oktober 1833 aus Mangel an Beweisen endgültig freigesprochen. 160

2.6. Unter dem Einfluß der demokratisch-republikanischen gesellschaften

Geheim-

Becker hatte fast zehn Monate Gefängnishaft hinter sich und stand mit Frau und zwei Kindern mittellos da, jedoch hielt er unbeirrt an seinen politischen Zielen fest. Unmittelbar nach seinem Freispruch nahm er neue Wagnisse auf sich. Sein erstes Anliegen war die Befreiung von Siebenpfeiffer und Wirth, die zu zwei J a h r e n Gefängnis, der Höchsstrafe f ü r Beamtenbeleidigung, verurteilt worden waren. Wirth glaubte, durch ein Märtyrerschicksal aufrüttelnd auf die Öffentlichkeit wirken zu können. Siebenpfeiffer ergriff die gebotene Möglichkeit und entfloh in der Nacht vom 14. zum 15. November 1833 aus dem Frankenthaler Kantonsgefängnis. Mit Hilfe Beckers und seiner Freunde entkam er auf ähnlichem Wege wie zuvor Venedey, später begab er sich in die Schweiz.167 Dieser Erfolg konnte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich die politische Situation grundlegend verändert hatte. Die Verfolgungen engten politische Betätigungsmöglichkeiten immer mehr ein. Becker wurde scharf überwacht. Sein Eifer erlahmte jedoch nicht. 1834 wurde er zu Versammlungen nach Dürkheim und Frankenstein in der Pfalz sowie nach Osthafen in Hessen entsandt. Er war nun bereits als Vorkämpfer der Volksbewaffnung bekannt. Nachdem Dr. Hepp aus Zweibrücken verhaftet und von Militär nach München gebracht worden war, wurde er daher 1834 in einer Versammlung beauftragt, die Pfalz zu bereisen und den bewaffneten Widerstand f ü r den Fall zu organisieren, daß nochmals Demokraten gesetzwidrig nach Bayern verschleppt werden sollten. 1835 veranstaltete Becker in Frankenthal noch ein Freischießen zu solchen Zwecken. Eine legale politische Betätigung wurde jedoch mehr und mehr unmöglich. Ein Korrespondent aus der Pfalz berichtete im Oktoßer 1834 in der in Paris von Jakob Venedey herausgegebenen Zeitschrift „Der Geächtete": „Man hat kaum Mut, sich in Freundeszirkeln über Ansichten und Meinungen zu besprechen. Es herrscht ein solcher stummer Schrecken hier, daß Du Dir davon sicher kaum einen Begriff machen kannst." 168 Friedrich Engels stellte später fest: „Von 1834 bis 1840 starb in Deutschland jede öffentliche Bewegung aus."169 öffentliche Wirkungsmöglichkeit fand Becker nun selbst bei Landtagswahlen kaum noch. Der Frankenthaler Advokat Willich, der im bayrischen „Sturmlandtag" von 165

Ebenda, Nr. 24, Befehl des Generalstaatsanwalts vom 5. 9.1833. Ebenda, Nr. 32, Urteil des Appellationsgerichts des Rheinkreises vom 29.10.1833. 167 Vgl. Becker, Curriculum vitae, S. 315; ders., [Autobiographie], Bl. 2. 168 Rheinbayern, 18. Oktober [1834], in: Der Geächtete. Zeitschrift in Verbindung mit mehreren deutschen Volksfreunden hrsg. von Jakob Venedey, Paris, 1834, 5, S. 240 f. 169 Engels, Deutsche Zustände, S. 583. 166

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1831 zu den gemäßigten Liberalen gezählt hatte, galt in den Landtagen von 1834 und 1837 als energischer Oppositioneller. Im September 1837 wollten ihm einige Pfälzer ein Dankfest geben. Dagegen schritt aber die Regierung sofort mit einer Untersuchung ein.170 Diese scheint auch Becker eine Strafe eingebracht zu haben.171 Je mehr das legale politische Wirken eingeschränkt wurde, um so stärker suchte Becker, konspirativ zu arbeiten. Dabei erweiterten sich seine vor dem Frankfurter Wachensturm entstandenen Verbindungen mit verschiedenen republikanischen Geheimgesellschaften, mit dem Männerbund in Frankfurt a. M., aber nun auch mit dem Jungen Deutschland in der Schweiz und dem Bund der Geächteten in Paris. Auf eine Verbindung mit dem Männerbund, auch als Union oder die Sektionen bezeichnet172, deutet Beckers Beteiligung an dem Versuch zur gewaltsamen Befreiung der Teilnehmer am Frankfurter Wachensturm hin, die in der Konstablerwache zu Frankfurt eingekerkert waren. Am 2. Mai 1834 beschäftigte ein Auflauf in den Straßen der Stadt die Wachen. Inzwischen ließen sich fünf Gefangene, die die Fenstergitter durchgefeilt hatten, an Bettlaken und Handtüchern auf die Straße gleiten. Einer von ihnen konnte entkommen. Die polizeilichen Untersuchungen ergaben, daß die Aktion von der Frankfurter geheimen Gesellschaft seit langem vorbereitet worden war.173 Becker notierte in seinem „Curriculum vitae" unter dem Jahre 1834: „Zur Befreiung der Gefangenen in Frankfurt . . . mitgewirkt."174 Welcher Art diese Mitwirkung war, ist nicht bekannt.175 Nach der Schweiz hielt Becker Verbindungen zu Siebenpfeiffer, der in Bern Asyl gefunden hatte. Der frühere Redakteur des „Westboten" förderte hier die Gründung des Jungen Deutschlands im Mai 1834 und korrespondierte mit Jakob Venedey und anderen Flüchtlingen in Paris, die im Bund der Geächteten führend tätig waren.176 Von den verschiedenen Geheimbünden erlangte in der Pfalz der im Frühjahr 1834 in Paris gegründete Bund der Geächteten den relativ größten Einfluß. Sein Organ „Der Geächtete", dessen Wirkung auf demokratische Kreise in Deutschland noch ungenügend untersucht ist, wurde in Rheinbayern vertrieben 170

Silbernagel, S. 52 ff. Becker, Curriculum vitae, S. 316. 172 y g j Wallbrach, Karl, Der Männerbund in Frankfurt am Main, eine Fortsetzung des Preß- und Vaterlandsvereins, in: Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaft und deutschen Einheitsbewegung, Bd. 8, Heidelberg 1925, S. 233 ff. 173 Schwemmer, Richard, Geschichte der Stadt Frankfurt am Main (1814—1866), Bd. 2, Frankfurt a. M. 1912, S. 633 ff. 174 Becker, Curriculum vitae, S. 315; vgl. ders., [Autobiographie], Bl. 2. 175 Ein allerdings zur Übertreibung neigender Freund Beckers weiß zu berichten: „Becker machte sich sofort wieder ans Werk, den zerissenen Geheimbund aufs neue herzustellen, bereiste die Pfalz, Hessen, Rheinpreußen, während andere Nassau, Franken, Baden und Württemberg durchzogen; die nächste Folge war die gewaltsame Befreiung der Frankfurter Gefangenen." (Schneider, Wie und Wann?, in: St. Galler Zeitung, 9. 8.1862.) 176 Doli, S. 75; Silbernagel, S. 31. 171

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und hatte hier auch Korrespondenten, so in Frankenthal.177 Der Bund erhielt von nirgendwoher so regelmäßig Geldsendungen wie aus der bayrischen Pfalz.178 Die Polizei nahm hier Handwerksgesellen fest, die Propagandamaterial des Bundes der Geächteten aus Frankreich mitbrachten, darunter ebenfalls in Frankenthal.171' Becker stand in Verbindung mit Venedey und mit Savoye, der mit dem Bund der Geächteten zusammenarbeitete.180 Beide sollen maßgeblich an der letzten Befreiungsaktion für die Teilnehmer des Frankfurter Wachensturms beteiligt gewesen sein. Die Aktion in Frankfurt wurde am 10. Januar 1837 unternommen und brachte sechs Inhaftierten die Freiheit.131 An diesem Unternehmen war Becker wiederum beteiligt; er hatte sich offenkundig zu einem Spezialisten für solche Befreiungsaktionen entwickelt. Durch sie konnten noch Beweise für das geheime Fortwirken der Revolutionäre und ihr Eintreten für ihre verfolgten Kampfgefährten gegeben werden, die Aufsehen in weiten Kreisen der Bevölkerung erregten und somit eine nicht unerhebliche politische Wirkung hatten. Becker führte später unter dem Sozialistengesetz den deutschen Arbeitern diese Beispiele revolutionärer Solidarität vor Augen.. Er schrieb dabei, er habe „nie und nirgend den Grundsatz ,Einer für alle und alle für einen' ernstlicher aufgefaßt und in die Tat übersetzt gesehen, als in den dreißiger Jahren in der Pfalz".182 Für die Gefangenenbefreiung vom Januar 1837, die vierte Aktion dieser Art, an der er sich beteiligte, unternahm Becker mehrere Reisen nach Frankfurt.183 In seiner autobiographischen Skizze erzählte er: „Die Befreiten kehrten fast alle bei mir ein, wie ich in jener Zeit, wo der Flüchtlingsstrom durch die Pfalz ging, immer ein Depot hatte."184 Er konnte nun Flüchtlinge auch deshalb aufnehmen, weil er 1836 sein Bürstenbinderhandwerk aufgegeben und eine Gastwirtschaft eröffnet hatte.185 Da von Beckers konspirativem Wirken vieles im dunkeln bleibt, ist nicht im einzelnen feststellbar, inwieweit durch diese Tätigkeit seine politisch-ideologische Entwicklung beeinflußt wurde. Offenbar festigte sich dabei aber nicht nur seine Neigung, öffentliche Agitation und geheime Organisation zu verbinden. Die kleinbürgerlich-demokratischen Verbindungen deutscher Flüchtlinge und Handwerksgesellen in der Schweiz und in Frankreich, mit denen er in Kontakt kam, repräsentierten die Weiterentwicklung des demokratischen Flügels der antifeudalen Oppositionsbewegung während einer Zeit, in der innerhalb des Deutschen Bundes jede öffentliche politische Betätigung unterdrückt wurde. „Die von ihnen vertretenen Programmpunkte über die politische und soziale Gestaltung eines geeinten bürgerlich-republikanischen Deutschlands gehörten zu den

177

V g l . Der Geächtete,

178

Glossy,

Karl,

1835/36, 1, S. 29 ff.

Literarische

Geheimberichte

aus

dem

Vormärz,

Grillparzer-Gesellschaft, W i e n , 1912, S. 19. 179

Silbernagel,

180

Rjasanow,

181

Schwemmer,

182

Becker,

183

Ders., C u r r i c u l u m vitae, S. 315.

184

Ders., [Autobiographie], B l . 2.

185

Ebenda.

S. 22. Johann P h i l i p Becker, i n : V o r w ä r t s , 6. 6.1914. S. 641.

A u s meinen Erinnerungen, S. 35.

5 Jahrbuch 36

in:

Jahrbuch

der

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Dlubek

entschiedensten von der bürgerlichen demokratischen Oppositionsbewegung in den dreißiger und vierziger Jahren erhobenen Forderungen."186 Hatte sich Johann Philipp Becker wie Siebenpfeiffer wohl zunächst als Girondisten betrachtet, so machte er nun den Rückgriff der kleinbürgerlich-demokratischen Führer der Geheimgesellschaften auf die Ideen der Jakobiner mit. Wie die Geheimgesellschaften die Jakobinerlosung der einen, unteilbaren Republik übernahmen, so wurde auch für Becker zum ersten Programmpunkt die „Eine deutsche Republik". Dadurch unterschied er sich dann 1848 positiv von den süddeutschen Föderativrepublikanern.187 Vor allem begann Becker, sozialrepublikanische Ideen aufzunehmen. Das Scheitern der Putschtaktik im Frankfurter Wachensturm hatte den bewußtesten Demokraten gezeigt, daß sie sich eine breitere Basis in den unteren Volksschichten schaffen und dazu soziale Forderungen in deren Interesse erheben mußten. Zudem lenkte der machtvolle zweite Lyoner Aufstand vom April 1834, dessen Bewußtheit erheblich größer war als die des ersten Lyoner Aufstandes, ihre Aufmerksamkeit auf die sozialen Fragen. Die demokratischen deutschen Emigranten in der Schweiz und in Frankreich fanden überdies für ihre Geheimbünde Mitglieder vorwiegend unter Handwerksgesellen, und diese wurden sich allmählich ihrer eigenen, proletarischen Interessen bewußt. Vor allem geschah das in Frankreich, wo seit Mitte der 30er Jahre immer mehr der Arbeiterkommunismus neobabouvistischer Prägung aufkam. Diese und andere Faktoren führten zur Ausprägung einer kleinbürgerlich-sozialrepublikanischen Programmatik im Jungen Deutschland und im Bund der Geächteten.188 Auch diese bedeutsame Entwicklung ging an Becker nicht spurlos vorbei. Erwartete er die Lösung der gesellschaftlichen Probleme bis zum Landauer Prozeß noch vorwiegend von der Beseitigung der Fürsten- und Adelsherrschaft und der Errichtung einer Republik, so forderte er um 1840 darüber hinaus eine soziale Reform. Dieser Fortschritt in der zweiten Hälfte der 30er Jahre dürfte unter dem Einfluß der Schriften der Geheimgesellschaften zustande gekommen sein, nicht zuletzt der Zeitschrift „Der Geächtete". Möglicherweise wandte sich Becker zeitweise auch Ideen des Arbeiterkommunismus zu,189 wie sie von dem 1836 bis 1838 in Paris durch proletarische Mitglieder des Bundes der Geächteten gegründeten Bund der Gerechten verfochten wurden. Bei alledem wurde Becker das Leben in seiner pfälzischen Heimat mehr und mehr unerträglich. Jede öffentliche freiheitliche Regung wurde nun bestraft. 186

Deutsche Geschichte, Bd. 4, S. 209. 187 vgl. Dlubek, Johann Philipp Becker. Vom radikalen Demokraten, S. 18 ff. 188 Kowalski, Werner, Vorgeschichte und Entstehung des Bundes der Gerechten. Mit einem Quellenanhang, Berlin 1962. 189 Becker seihrieb an einen engen Mitstreiter Weitlings bei Erörterungen über dessen kommunistische Lehre von der Gütergemeinschaft: „Indessen möchte ich Dir sagen, daß ich mich zum Gütergemeinschaftlertum nicht erheben kann, obgleich ich von ganzer Seele einer Sozial-Reform zugetan bin . . . Vor Jahren war ich Euren Theorien ganz zugetan, aber das Leben, die Erfahrungen haben mich eines andern belehrt. Euer Eifer für die Sache freut mich innig, ich weiß, daß Ihr die Wahrheit in diesem Kampfe doch finden werdet: Eure Sache bleibt immer eine edle!" Johann Philipp Becker an Simon Schmidt, 29.1.1842, StA Zürich, Weitling Papiere, Sign. P. 239, 1, Fasz. f, Nr. 5 (Hervorhebung von mir — R. D.).

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„Uberhaupt war ich mehrere Jahre der Gegenstand vieler Gerichts- und Polizeiplackereien", berichtet er in seiner autobiographischen Skizze. „Wer eine Staatsanstellung suchte, bemühte sich, sich durch öffentliche Angriffe auf mich zu empfehlen." 190 In seinem „Curriculum vitae" ist zu lesen: 1836 — „Verschiedene Prozesse vor dem Zuchtpolizeigericht. Freisprechungen", 1837 — „Neue Prozesse. Verurteilungen", 1838 — „Neue Prozesse".191 Siebenpfeiffer und andere Freunde veranlaßten Becker im Herbst 1837 zu einem Besuch in Bern. Im folgenden Jahr — am 18. März 1838 — siedelte er mit seiner Frau und seinen drei Kindern in die Schweiz über.192 Johann Philipp Becker desertierte damit nicht von der politischen Tätigkeit, er suchte vielmehr für diese eine aussichtsreichere Wirkungsbasis. Zum siebenten Jahrestag des Hambacher Festes schrieb er in einem Gedicht: „Ja, alles Leuchten und Getös' Und alles Donnergrollen, Selbst Murren in des Volkes Schoß Ist ohne Zeit verschollen." Eine Hauptursache dafür sah er in der mangelnden Entschiedenheit der meisten Führer von Anfang der 30er Jahre: „Sie sprachen von Gesetzlichkeit Und gegen's Rebellieren, Sie wollten ohne blutgen Streit Das Volk zur Freiheit führen." 193 Becker hatte sein Leben für immer dem Ringen um die Interessen des Volkes gewidmet und hielt diese für nur im revolutionären Kampf durchsetzbar. Engels hob später hervor, daß die „neue Ära der Volksagitation", die durch die Julirevolution eingeleitet wurde, in Deutschland erstmals hervorragende Berufsrevolutionäre hervorbrachte. Was er über Karl Schapper als einen dieser Männer schrieb, traf auch auf Johann Philipp Becker zu: „Ein Hüne von Gestalt, resolut und energisch, stets bereit, bürgerliche Existenz und Leben in die Schanze zu schlagen, war er das Musterbild des Revolutionärs von Profession, wie er in den dreißiger Jahfen eine Rolle spielte."194 In seiner pfälzischen Heimat in den Brennpunkt der ersten Kraftentfaltung der antifeudalen Nationalbewegung gestellt, hatte Becker einen Weg beschritten, auf dem es für einen Charakter wie ihn nur noch ein Vorwärtsschreiten gab. Als er sich später der Arbeiterbewegung anschloß, schrieb Marx dem „Veteranen unserer Revolution und Emigration": „Ich habe bisher immer gefunden, daß alle wirklich tüchtigen Naturen — ich erwähne nur den alten Levasseur, Cobbet, Robert Owen, Lelewel, General Mellinet —, die einmal die revolutionäre Bahn eingeschlagen, stets aus den Niederlagen selbst neue Kraft saugten und stets entschiedner wurden, je länger sie im Strom der Geschichte geschwommen."195 190 Becker, [Autobiographie], Bl. 2. 191

Ders., Curriculum vitae, S. 315. Ebenda. 193 £ ) e r S j Etwas über das Hambacher Fest, S. 36. 194 Engels, Friedrich, Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten, in: MEW, Bd. 21, S. 207. 195 Karl Marx an Johann Philipp Becker, 9.4.1860, ebenda, Bd. 30, S. 526. 192

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Zur Errichtung der Sowjetmacht in Belorußland 1917

Der Kampf um die Sowjetmacht 1917 in Rußland war ein einheitlicher Prozeß, der das gesamte Land erfaßte und alle revolutionären Bewegungen zu einem einheitlichen Strom unter Führung der proletarischen Avantgarde, der SDAPR (B), vereinte. Die unterschiedlichen sozialökonomischen und kulturellen Ausgangspositionen in den einzelnen Bezirken und nationalen Gebieten des riesigen Reiches bedingten, daß im Kampf um die Errichtung der Sowjetmacht sowohl Grundzüge der Oktoberrevolution ihre Anwendung fanden als auch Besonderheiten, die dabei auftraten. In der vorliegenden Studie soll gezeigt werden, wie sich die Oktoberrevolution in Belorußland durchsetzte, und welche örtlichen Spezifika zu Besonderheiten der Revolution in diesem Gebiet führten. 1 Der begrenzte Rahmen erlaubt es nicht, einen, lückenlosen historischen Abriß des Kampfes um die Errichtung der Sowjetmacht in Belorußland zu geben. Daher soll die Lösung der Machtfrage mit Hilfe von folgenden Fragestellungen (Kriterien) 2 aufgearbeitet und dargestellt werden: — die Entwicklung der bolschewistischen Partei zum Hegemon des revolutionären Prozesses; — die Errichtung der Doppelherrschaft und das in ihr herrschende Klassenkräfteverhältnis; — die Beendigung der Doppelherrschaft und der erneute Aufschwung der Revolution im Herbst 1917; — der Einfluß der revolutionären Ereignisse im Zentrum auf die Entwicklung der Revolution in Belorußland; — die Rolle der Bauernbewegung für den Kampf um die Sowjetmacht; die Bedeutung der revolutionären Soldatenbewegung im Kampf um die Sowjetmacht; die Stärke

1

2

Auf diese Forschungsaufgabe verweist Chromov, S. S., Aktual'nye problemy izucenija otefiestvennoj istorii v svete reäenij XXVI. s-ezda KPSS, in: Istorija SSSR, 1981, 3, S. 8. Zu Kriterien und zur Methodologie der historischen Analyse des sozialistischen Revolutionszyklus vgl. Kalbe, Ernstgert, Aspekte einer vergleichenden Untersuchung des sozialistischen Revolutionszyklus, in: Leipziger Beiträge zur Revolutionsforschung (im folg.: LBR), Nr. 1, Leipzig 1982; ders., Thesen zur Lösung der Machtfrage im sozialistischen Revolutionszyklus, Berlin 1985 (MS); Kalbe, Ernstgert/ Kühles, Joachim, Methodologische Fragen der historischen Analyse des sozialistischen Revolutionszyklus (im Druck); Anders, Maria/Fuchs, Gerhard, Die Errichtung der politischen Macht der Arbeiterklasse in der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution und in den volksdemokratischen Revolutionen Europas. Ein revolutionsgeschichtlicher Vergleich, in: ZfG, 1978, 12.

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und der Charakter der nationalen Befreiungsbewegung; der Einfluß und die Stärke der konterrevolutionären Kräfte; Wege und Formen der Errichtung der Sowjetmacht. 3

1. Der Kampf der Bolschewiki Belorußlands u m die Massen in der Zeit der Doppelherrschaft (März-Juli 1917) In Belorußland, einem rückständigen Agrargebiet mit schwach entwickelter Industrie 4 , führte der Sieg der Februarrevolution in Petrograd und anderen Zentren Rußlands zur Herausbildung der Doppelherrschaft von März bis Anfang Juli 1917. Am 4. März 1917, als die Wahlen zum Sowjet noch im Gange waren, wurde ein Provisorisches Exekutivkomitee des Minsker Sowjet mit B. N. Pozern 5 an der Spitze gebildet. Von den neun Mitgliedern dieses Komitees waren drei Bolschewiki, darunter I. E. Ljubimov und M. W. Frunze. 6 Der Minsker Sowjet der Arbeiterdeputierten trat zu seiner konstituierenden Sitzung am 5. März zusammen. 68 gewählte Vertreter von 23 Großbetrieben vertraten die Interessen von ca. 9 180 Arbeitern. Die Wahlen zum Minsker Soldaten-Sowjet fanden am 6. März statt. Beide Sowjets vereinigten sich am 8. März.7 Das gebildete Exekutivkomitee (EK) des Minsker Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten bestand aus 22 Mitgliedern, wovon zehn Plätze auf die Soldaten der Garnison entfielen. Die Bolschewiki hatten im Sowjet 13 und im EK fünf Mitglieder. Dennoch bestimmte die bolschewistische Gruppe um Frunze, Ljubinov, K; I. Lander, S. G. Mogilevski, I. G. Dmitriev, V. V. Fomin u. a. die poli3

Vgl. Lauenroth, Hartmut, Zur Errichtung der Sowjetmacht in der Ukraine, in Belorußland, in Moldawien und in Lettland 1917/18. Ein historischer Vergleich, Diss. B, Leipzig 1986 (Ms.), S. XVI f. '' Zum sozialökonomischen Entwicklungsniveau Belorußlands vgl. Pobeda Sovetskoj vlasti v Belorussii, Minsk 1967, S. 14ff.; Mine, 1. 1., Istorija Velikogo Oktjabrja, 3 Bde., Bd. 3, Moskau 19792, S. 548ff.; StaSkeviö, N., Na puti k istine, Minsk 1983, S. 7 ff.; Lauenroth, Hartmut, Zur Errichtung der Sowjetmacht in Belorußland (März 1917 bis Januar 1918), in: Zur Geschichte der BSSR und der deutsch-belorussischen Beziehungen. Wissenschaftliche Beiträge der Friedrich-Schiller-Universität, Jena 1981, S. 63f.; ders., Zur Errichtung der Sowjetmacht in der Ukraine, in Belorußland, in Moldawien und in Transkaukasien 1917/18. Ein historischer Vergleich, in: LBR, Leipzig 1982, 2, S. 21. 5 Pozern gehörte zum Zeitpunkt der Februarrevolution 1917 den Menschewiki-Internationalisten an. Später wurde er Mitglied der SDAPR (B). 6 Vgl. Cervjakov, A., Belorussija k X-oj godoväcine Oktjabrja, Minsk 1927, S. 17; Rudzickij, L., Bol'sevistskaja partija — organizator pobedy Oktjabr'skoj Socialisticeskoj revoljucii v Belorussii, in: K dvadcatiletiju Belorusskoj Soveskoj Socialisticeskoj Respubliki, Minsk 1938, S. 11. 7 Vgl. Pobeda Soveskoj vlasti v Belorussii, S. :73ff .; Ignatenko, I. M., Bednejsee) krest'janstvo — sojuznik proletariata v bor'be za pobedu Oktjabr'skoj revoljucii v Belorussii (1917-1918gg.), Minsk 1962, S. 11 ff.; Gnevko, V. G., Rabocij klass Belorussii v bor'be za pobedu Oktjabr'ja (mart 1917-mart 1918 gg.), Minsk 1973, S. 53; Oöerki istorii Kommunistiöeskoj partii Belorussii, Bd. 1, Minsk 1961, S. 217 f.

Errichtung der Sowjetmacht in Belorußland

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tische Richtung und die Arbeit des Minsker Sowjets.8 Sozialrevolutionäre waren zunächst im Sowjet nicht vertreten.9 Die Bildung des Minsker Sowjets der Arbeiter und Soldatendeputierten erfolgte unter maßgeblichem Einfluß der Bolschewiki und war ein wichtiges Ergebnis des revolutionären Kampfes der Werktätigen in Belorußland. Dies war möglich, da sich unter den Soldaten der Westfront und der Minsker Garnison eine große Anzahl Arbeiter aus den industriellen Gouvernements Rußlands befand, die revolutionär gestimmt waren. Der Sowjet wurde zum Zentrum des revolutionären Kampfes sowohl im Gebiet als auch an der Westfront. Obwohl die Bolschewiki zunächst keine eigene Fraktion bildeten, entwickelte sich der Minsker Sowjet von Anfang an zu einem revolutionären Organ der Volksmacht. Durch das Ubergewicht der kleinbürgerlichen Kräfte war die Haltung des Sowjets jedoch schwankend.10 Im März 1917 wurden in Belorußland 13 Sowjets gebildet11 — darunter in Gomel' (4. März — Sowjet der Arbeiterdeputierten; 6. März — Sowjet der Arbeiterund Soldatendeputierten), in Vitebsk (6./7. März — Sowjet der Soldatendeputierten; 8. März — Sowjet der Arbeiterdeputierten; 15. März — Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten); in Orsa (6. März — Sowjet der Soldatenddputierten; 8. März — Sowjet der Arbeiterdeputierten; 10. April — Sowjet der Arbeiterund Soldatendeputierten), in Bobrujsk (5. März), in Polock (15. März — Sowjet der Arbeiterdeputierten; Mitte März — Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten), in Mogilev u. a. Städten.12 In der friedlichen Etappe der Entwicklung der Revolution entstanden in Belorußland 56 Sowjets, von denen bereits 37 im März/April 1917 gebildet wurden. Darunter waren elf Sowjets der Arbeiterdeputierten, elf Sowjets der Soldatendeputierten, ein Bauernsowjet und 14 vereinigte Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten.13 Alle gebildeten Sowjets — außer dem Minsker Sowjet — befanden sich unter dem Einfluß der Menschewiki, der Sozialrevolutionäre und des „Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes in Litauen, Polen und Rußland" (Bund). Die Ursachen hierfür lagen vor allem im kleinbürgerlichen Charakter der wirtschaftlichen Verhältnisse Belorußlands und der daraus resultierenden Klassenstruktur. Die Masse der Bauern war noch dem Glauben verhaftet, daß die Sozialrevolutionäre für die Verwirklichung ihrer Interessen einträten. Dies trifft auch für einen großen Teil des Proletariats zu, der noch starke Bindungen zum Dorf hatte.14 8

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12

13

Vgl. Knorin, V., Revoljucija i kontr-revolujucija v Belorussii, Teil 1, Smolensk 1920, S. 11. Vgl. Pobeda Sovetskoj vlasti v Belorussii, S. 76; Ignatenko, BednejSee, S. 11 ff. Vgl. Gnevko, V. G., Pod znamenem revoljucii, Minsk 1977, S. 16 ff.; Pobeda Sovetskoj vlasti v Belorussii, S. 76 f.; Ignatenko, Bednejäee, S. 20. Zur Anzahl der im März 1917 in Belorußland gebildeten Sowjets gibt es unterschiedliche Auffassungen. Während Ignatenko 13 nennt (S. 20 f.), führt Gnevko 10 an (vgl. Gnevko, Rabocij klass, S. 57). Vgl. Pobeda Sovetskoj vlasti v Belorussii, S. 79 ff.; Ignatenko, Bedneisee, S. 20 f.; Gnevko, Pod znamenem, S. 18ff.; Cervjakov, Belorussija, S. 17. Vgl. Pobeda Sovetskoj vlasti v Belorussii, S. 85; Kamenskaja N. V./Selivanov, P. A., Velikij Oktjabr' v Belorussii, Minsk 1977, S. 12; Pil'scikov, M. G., Velikij Oktjabr' i obrazovanie BSSR — korennoj povorot v istoriceskich sud'bach belorusskogo naroda, Minsk 1978, S. 5. Vgl. Ignatenko, Bednejsee, S. 29; Istorija Belorusskoj SSR, Minsk 1977, S. 210 f.

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Lenin charakterisierte diese Sowjets dem Klassenwesen nach als kleinbürgerliche Organisationen, denn in ihnen überwogen die Bauernschaft, die Soldaten und kleinbürgerliche Elemente der Stadt.15 Neben den Sowjets — in der Regel früher — wurden Machtorgane der Bourgeoisie formiert. Von Vertretern der städtischen Bourgeoisie, der Gutsbesitzer, der Geistlichkeit und von den bürgerlichen Verwaltungsorganen wurde bereits am 4. März 1917 in Minsk „ein provisorisches gesellschaftliches Komitee" für die Erhaltung der „neuen Ordnung" gebildet.10 Das gesellschaftliche Komitee für Ordnung und Sicherheit stellte enge Verbindungen zur Provisorischen Regierung her und sagte ihr allseitige Unterstützung zu. Am 6. März billigte der Innenminister der Provisorischen Regierung alle Maßnahmen des „Gesellschaftlichen Komitees" und ernannte den Präsidenten der Gouvernementsverwaltung, B. Samojlenko, zum Kommissar. Das „Gesellschaftliche Komitee" der Stadt Minsk bestand am 7. März 1917 aus 100 Personen — darunter zwölf Arbeitern. Als Operationsorgan wurde ein „Ratskomitee" aus 15 Mitgliedern formiert, in das drei Vertreter des Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten aufgenommen wurden. Dies verdeutlicht das enge Bündnis zwischen Bourgeoisie und Kleinbürgertum in Belorußland, das vor allem durch den kleinbürgerlichen Charakter der wirtschaftlichen Verhältnisse bedingt wurde. Somit war das Machtorgan der Provisorischen Regierung in Minsk entstanden.17 In Gomel' ging die Bourgeoisie am 2. März an die Formierung eines „Komitees der öffentlichen Sicherheit und des Wohlstandes". Am 4. März entstand in Vitebsk das „Bürgerkomitee" und in Orsa das „Komitee der öffentlichen Sicherheit". Die Petrograder Regierung sah, wie vorher der Zar, Belorußland als untrennbaren Bestandteil Rußlands an und setzte ihre Vertreter an die Spitze der Gouvernements, der Amtsbezirke und der Städte. Bis zum 20. März 1917 arbeiteten in allen Städten und Kreisen Belorußlands Organe der Provisorischen Regierung.18 Somit bildete sich auch in Belorußland die Doppelherrschaft heraus, denn neben den Kommissaren der Provisorischen Regierung entstand mit den Sowjets „eine inoffizielle, noch unentwickelte und verhältnismäßig schwache Arbeiterregierung, die die Interessen des Proletariats und des ganzen ärmeren Teils der Stadt- und Landbevölkerung zum Ausdruck bringt".19 Im Unterschied zu den zentralen russischen Gebieten entfaltete sich in Belorußland nach der Februarrevolution eine breite nationale Bewegung, die jedoch in den einzelnen Gebieten unterschiedlich stark ausgeprägt war und zwei Klassenlinien in sich barg. Die Klassengrundlage der einen Richtung war die der nationalen Bourgeoisie und Kulaken. Die belorussische Bourgeoisie hatte allerdings keine solch starken Klassenorganisationen wie die Bourgeoisie in anderen nationalen Gebieten (z. B. in der Ukraine).20 Am Vorabend der Februarrevolution orientierten sich die belorussischen Nationalisten auf ein Bündnis 15 16

17 18

49 20

Vgl. Lenin, W. I., Briefe über die Taktik, in: Werke, Bd. 24, S. 31. Vgl. Velikaja Oktjabr'skaja socialistiöeskaja revoljucija v Belorussin Dokumenty i materialy, Bd. 1, Minsk 1957, S. 88. Vgl. Pobeda Sovetskoj vlasti v Belorussii, S. 77 ff.; Ignatenko, Bednej§ee, S. 22 f. Vgl. Ignatenko, Bednejäee, S. 23 f.; Pobeda Sovetskoj vlasti v Belorussii, S. 78 ff.; Gnevko, Pod znamenem, S. 30. Lenin, W. 1., Briefe aus der Ferne, in: Werke, Bd. 23, S. 318. Vgl. Lauenroth, Zur Errichtung der Sowjetmacht in der Ukraine, S. 511.

Errichtung der Sowjetmacht in Belorußland

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mit der russischen Bourgeoisie. Nach der Februarrevolution entstanden neue Organisationen der Belorussischen Christlichen Demokratie (Belorusskaja christjanskaja demokratija — BChD), die vor allem Einfluß auf den katholischen Teil der belorussischen Bevölkerung hatte. Ihr Programm lief auf die Errichtung der bürgerlichen Ordnung, den Erhalt des Großgrundbesitzes und die Autonomie Belorußlands im Rahmen einer bürgerlichen Russischen Republik hinaus.21 In vielen Programmpunkten stimmte die Anfang 1917 gebildete Belorussische Partei der Volkssozialisten (Partija belorusskich narodnych socialistov — BPNS) mit der BChD überein. In ihrem Programm von Mai 1917 forderten sie „die Autonomie mit einem gesetzgebenden Organ — der Belorussischen Gebietsrada — in einer föderativen und demokratischen Russischen Republik". Der BPNS gehörte eine Gruppe Großgrundbesitzer mit R. Skirmunt an.22 Die eindeutig nationalistisch ausgerichtete „Belorusskaja socialisticeskaja gromada" (Belorussische sozialistische Gemeinschaft — BsG), deren Mitglieder vor allem Vertreter der kleinbürgerlich-nationalistischen Intelligenz, der Kulaken und ein Teil der Gutsbesitzer waren, aktivierte sich nach der Februarrevolution. Auf einer Konferenz der BsG am 25. März 1917 sprachen sich ihre Führer für die Unterstützung der Provisorischen Regierung und die Fortführung des Krieges aus. Sie versuchten mit allen Mitteln, die Bauern unter ihren Einfluß zu bringen. Hierbei bedienten sie sich der Theorie einer angeblich klassenlosen belorussischen Nation. Sie sprachen sich gegen die Enteignung des Großgrundbesitzes aus, da diese Frage nur der „Landessejm des» autonomen Belorußland" lösen könne.23 In der auf der Konferenz angenommenen Resolution heißt es: „Im gegebenen Augenblick verurteilt die Konferenz der Organisationen der BsG die unorganisierten und anarchistischen Ubergriffe auf die Grundlage der Agrarverhältnisse."24 Bis zum Sommer 1917 wuchsen die Reihen der BsG beträchtlich an. Ihre Massenbasis war die kleinbürgerliche Intelligenz, wohlhabende Schichten der Bauernschaft, Kaufleute und Soldaten belorussischer Nationalität. In Petrograd existierte eine Gruppe der BsG in der Stärke von ca. 1 000 Mitgliedern. Die BsG hatte in der 12. Armee der Nordfront ca. 1 000 und in der Baltischen Flotte' ca. 800 Mitglieder. Insgesamt verfügte der BsG im Herbst 1917 über ca. 10.000 Mitglieder.25 Auch die Partei der Sozialrevolutionäre hatte in Belorußland beträchtliche Positionen inne. Vor allem unter der werktätigen Bauernschaft und den Bauern im Soldatenrock war ihr Agrarprogramm über die „Sozialisierung" des Bodens nach dem Prinzip der „ausgleichenden Bodennutzung" stark verwurzelt. Im 21

22 23

24 23

Vgl. Staskevic, S. 44; Remer, Claus, Beloi'ußland in den Plänen des deutschen Imperialismus, in: Zur Geschichte der BSSR, S. 36 f. Vgl. Staskevii, S. 44. Vgl. Pocanin, S. Z., Istoriej obreCennye, Minsk 1977, S. 148; Spinn, L. M., Krusenie pomescic'ich i burzuaznych partii v Hossii (naialo XX. v. — 1920 g.), Moskau 1977, S. 316; StaSkevic, S. 45 f. Zit. nach StaSkevic, S. 46. Vgl. ebenda, S. 51. Spinn setzt die Gesamtstärke der BsG mit 5 000 Mitgliedern an (vgl. S. 316). Unter der evakuierten belorussischen Bevölkerung hatte die BsG auch in Moskau, Petrograd, Saratov u. a. Städten außerhalb Belorußlands ihre Organisationen (vgl. Gnevko, Rabofiij klass, S. 43).

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Sommer 1917 waren in den 22 Organisationen, den drei Armee-, sieben Korpsund zwölf Divisionskomitees ca. 32 000—33 000 Sozialrevolutionäre vereinigt. Allein im Gouvernement Vitebsk zählten die rechten Sozialrevolutionäre im Dezember 1917 mindestens 2 600 Mitglieder.26 Im November 1917 waren in den Sozialrevolutionären Organisationen der Westfront 23 000—26 000 Mitglieder.27 Eines der Zentren des Menschewismus bildete zweifellos Belorußland, wo in fast allen großen Städten Orgariisationskomitees der Menschewiki nach der Februarrevolution existierten. Mit Hilfe ihrer opportunistischen Politik und mit revolutionären Phrasen gelang es den Menschewiki, beträchtliche Schichten des Kleinbürgertums und bestimmte Kreise der Werktätigen Belorußlands hinter sich zu bringen. So predigten sie den „sozialen" Frieden zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie, da ihrer Meinung nach „keine Bedingungen" für die Durchführung einer sozialistischen Revolution in Rußland existierten. Folglich müsse Rußland nach der Beseitigung der Selbstherrschaft einen langen Weg der kapitalistischen Entwicklung im Rahmen einer bürgerlichen Demokratie gehen und könne nur auf die „Hilfe des Westens" warten.28 In der Agrarfrage knüpften die Menschewiki an ihr Munizipalisier,ungsprogramm an, das sie bereits auf dem IV. Vereinigungsparteitag der SDAPR im Jahre 1906 vorgeschlagen hatten29, obwohl sie wußten, daß die Masse der werktätigen Bauern gegen dieses Programm war. Die Menschewiki forderten die Ubergabe des enteigneten Gutsbesitzerlandes an die örtlichen Verwaltungsorgane, die den Boden an die Bauern in Pacht geben sollten, wobei die Frage der Kompetenzen der örtlichen Machtorgane offenblieb. Gleichzeitig sprachen sie sich für die Erhaltung des Privateigentums über die Parzellen des bäuerlichen Landes aus. Kategorisch wandten sie sich gegen selbständige Aktionen der Bauern.30 In der nationalen Frage hatten die Menschewiki nach der Februarrevolution 26

27

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29

30

Vgl. Selivanov, P. A., K voprosu o bor'be bol'äevikov Belorussii protiv mel'kobui-äuaznyeh nacionalistifieskich partij v 1917-1922 gg. (istoriografiCeskij obzor), in: Neproletarskie partii i organizacii nacional'nych rajonov Rossii v Oktjabr'skoj revoljucii i graidanskoj vojne, Moskau 1980, S. 76. Vgl. Miller, V. I., K istorii bor'by neproletarskich partij za armiju v 1917 g., in: Neproletarskie partii Rossii v gody burzuazno-demokratiäeskich revoljucii i v period nazrevanija socialistifieskoj revoljucii, Moskau 1982, S. 251. Vgl. Morochovec, E. A., Agrarnye programmy Rossijskich politiöeskich partij v 1917 g., Leningrad 1929, S. 71; Ruban, N. V., Oktjabr'skaja revoljucija i krach men'gevizma (mart 1917-1918 g.), Moskau 1980, S. 27 f.; Popova, E. D., Leninskaja agrarnja programma i bor'ba Bol'äevikov za krest'janstvö v 1917 goda, Leningrad 1980, S. 27. Vgl. Lenin, W. I., Bericht über den Vereinigungsparteitag der SDAPR, in: Werke, Bd. 10, S. 328 ff. Vgl. Ruban, S. 180 f.; Trapeznikov, S. P., Leninizm i agrarno-krest'janskij vopros, Bd. 1, Moskau 19833, S. 305 ff. Zum Agrarprogramm bemerkte Morochovec: „Aus der falschen Bewertung des Charakters der Revolution und ihrer Triebkräfte ergab sich für die Menschewiki das Unverständnis für die notwendige Nationalisierung des gesamten Bodens (darunter auch des Bauernlandes) — nicht nur als Maßnahme, die ein .Schritt zum Sozialismus' ist, sondern auch als .letztes Wort' der bürgerlichen Revolution, die ohne Ausnahme die Uberreste der Leibeigenschaft auf dem Gebiet des Großgrundbesitzes liquidiert" (S. 71).

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zunächst keine klaren Vorstellungen und versteckten ihren reaktionären Charakter hinter pseudorevolutionären Phrasen. Auf dem I. Gesamtrussischen Sowjetkongreß im Juni 1917 sprachen sich die menschewistischen Führer für die Gleichheit und die Selbstbestimmung der in Rußland lebenden Nationalitäten aus, stellten jedoch nicht die Frage nach der Liquidierung der Vorherrschaft der russischen Bourgeoisie im Lande.31 Für die menschewistischen Organisationen Belorußlands lassen sich nur fragmentarisch Mitgliederzahlen für Mitte 1917 anführen: Vitebsk ca. 4 000, Gomel' ca. 1 200 und Minsk mindestens 1 000 Mitglieder.32 Eine aktive kleinbürgerliche Partei, die eng mit den Menschewiki zusammenarbeitete, war der Bund, der vor allem in Belorußland seine Hochburg hatte. Betrug seine Mitgliederzahl für ganz Rußland im April ca. 8 000, so stieg sie bis August auf 18 000 an und erreichte Anfang Dezember 1917 mehr als 30 000 Mitglieder.33 Hiervon war ein großer Teil in Belorußland konzentriert. An der Konferenz des Nordwestgebietes des Bundes im Juni 1917 waren 38 Delegierte von 26 Organisationen (Minsk, Mogilev, Vitebsk und Smolensk) anwesend, die 7 656 Mitglieder vertraten.34 Der 1. Gebietskongreß des Bundes im Juli 1917 in Minsk registrierte für das Gouvernement 3 500 Mitglieder.35 In Bobrujsk zählte man im Mai 60036 und in Mogilev im August 430 Mitglieder37. Hieraus wird ersichtlich, daß die kleinbürgerlichen Parteien mit gesamtrussischem Charakter (Sozialrevolutionäre, Menschewiki, Bund) größeren MasseneinfluB als die der belorussischen Nationalisten hatten, was die Schwäche der hiesigen Bourgeoisie verdeutlicht. Nach der Liquidierung der Selbstherrschaft aktivierten die belorussischen Nationalisten ihre Tätigkeit und versuchten, die revolutionäre Bewegung unter ihren Einfluß zu bringen. In verschiedenen belorussischen Kreisen, unter den Flüchtlingen und in der Armee bildeten sie kultur-erzieherische und politische Organisationen — z. B. in Vitebsk den „Belorussischen Volksbund" und in Gomel' den „Bund der belorussischen Demokratie".38 Der Traum der Bourgeoisie war die „Autonomie" Belorußlands, und es entstand die Idee, zur Verwirklichung dieses Zieles ein Organ zu bilden, das als „gesamtbelorussischer Interessenvertreter" anzusehen sei. Auf Initiative der BPNS und der BsG beriefen die belorussischen bürgerlichen Nationalisten am 25. März 1917 einen „Kongreß der belorussischen Öffentlichkeit" ein und bildeten hier ihr politisches Örganisationszentrum — das konterrevolutionäre „Belorussische Komitee" mit dem 31

32 33

3,1 35

36 37 38

Vgl. Burmistrova, T. Ju./Gusakova, V. S., Nacialnal'nyj vopros v programmach i taktike politiceskich partij v Rossii 1905-1917 gg., Moskau 1976, S. 217 ff. Vgl. Selivanov, S. 76; Gnevko, Rabocij klass, S. 105 f. Vgl. Sestak, Ju. L., Bor'ba bol'sevistskich partii protiv nacionalizma i opportunizma Bunda, Moskau 1980, S. 82; Gamreckij, Ju. M., O öislennom sostave mel'koburzuaznych partij na Ukraine v 1917 g., in: Bankrotstvo mel'koburzuaznych partij Rossii 1917-1922 g., Teil 1, Moskau 1977, S. 124; Spirin, S. 310 f. Vgl. Gamreckij, S. 124. Vgl. Gnevko, Rabocij klass, S. 132. In der Stadt Minsk hatte der Bund Mitte 1917 ca. 1 000 Mitglieder (vgl. Ignatenko, Bednejsee, S. 57). Vgl. ebenda, S. 31. Vgl. Sestak, S. 103. Vgl. Pocanin, S. 149; Pobeda Sovetskoj vlasti v Belorussii, S. 95.

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.Gutsbesitzer R. Skirmunt, dem katholischen Geistlichen Godlevskij und dem Gutsbesitzer Kostrovickij an der Spitze.39 Die führende Rolle hatte die BsG inne, die 10 von 18 Vertretern des „Komitees" stellte/'0 In der angenommenen Deklaration wurde die völlige Bereitschaft erklärt, die Provisorische Regierung in ihrem Kampf gegen die äußeren Feinde zu unterstützen. Die Bodenfrage sollte durch die Konstituierende Versammlung geklärt werden, und es wurde lediglich die Frage nach der „Realisierung einer autonomen Ordnung Belorußlands" gestellt.41 Die Bildung von nationalistischen Organisationen erreichte in Belorußland nicht die Breite wie in anderen nationalen Gebieten, und ihr Masseneinfluß blieb relativ gering. Dies kam z. B. in einem Beschluß der Minsker Komitees des Bauernbundes vom April zum Ausdruck. Dem „Belorussischen Nationalkomitee" wurde das Recht abgesprochen, „als „Interessenvertreter des gesamten belorussischen Volkes" aufzutreten. Ferner wurde das „Belorussische Nationalkomitee" als „Organisation der besitzenden Schichten der Großgrudbesitzer" charakterisiert, die eine nationalistische Politik betreibt und die „Interessen der Bauern und Arbeiter" bedroht.42 •Im Gegensatz zur bürgerlich-nationalistischen vertrat die zweite Richtung in der nationalen Befreiungsbewegung, die zunächst vor allem demokratischen Charakter trug, die Interessen der national und sozial unterdrückten Arbeiter und Bauern Belorußlands und trat für das Selbstbestimmungsrecht der Völker ein. Den belorussischen Nationalisten gelang es nicht, unter den Arbeitern und werktätigen Bauern des Gebietes bedeutenden Einfluß zu gewinnen.43 Generell muß jedoch bemerkt werden, daß erst im Zusammenhang mit der Stärkung der bolschewistischen Partei und der Propagierung ihres Programms, ihres zunehmenden Einflusses in den Sowjets sowie durch die Diskreditierung der Politik der bürgerlich-nationalistischen Organisationen bei den Massen die Bolschewiki in der nationalen Befreiungsbewegung an Einfluß gewannen. Dieser Prozeß zog sich in Belorußfand bis Mitte/Ende 1917 hin. Unter diesen komplizierten Bedingungen standen die örtlichen Bolschewiki vor einer schweren Aufgabe bei der Weiterführung der Revolution, denn sie mußten nicht nur gegen die Machtorgane der Provisorischen Regierung und den überwältigenden Einfluß der kleinbürgerlichen Parteien in den Sowjets, sondern auch gegen die bürgerlichen Nationalisten in ihren Gebieten kämpfen. Die belorussischen Parteiorganisationen der Bolschewiki traten sehr geschwächt nach der Februarrevolution aus der Illegalität hervor. Entgegen der Leninschen Orientierung bildeten die Bolschewiki mit den Menschewiki und den Bundisten gemeinsame Parteiorganisationen in Gomel', Vitebsk, Orsa, Polock, Mogilev, RogaceV, Bobrujsk, Sluck u.a. Städten.44 Auch im politischen Zentrum BeloVgl. Kanter, E. St., Belorusskij vopros. Sbornik statej, Petrograd 1919, S. 47; Cervjakov, Belorussija, S. 18. 40 Vgl. Gnevko, RaboCij klass, S. 43. 41 Vgl. Pobeda Sovetskoj vlasti v Belorussii, S. 95 f.; Gnevko, Rabocij klass, S. 43; Istorija Belorusskoj, S. 211. 42 Sarangoviö, V. F., 15 let KP(b)B i BSSR, Minsk 1934, S. 22f.; StaSkevic, S. 50. ö vgl Pocanin, S. 149; Gnevko, Rabocij klass, S. 44. 44 Vgl. Pobeda Sovetskoj vlasti v Belorussii, S. 99; Ocerki istorii Kommunisticeskoj partii Belorussii, Bd. 1, S. 227 f. 39

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rußlands, in Minsk, gab es zunächst eine vereinigte Organisation der SDAPR. Ausdruck der Schwäche der Bolschewiki zu diesem Zeitpunkt war die Tatsache, daß in Minsk bei der Bildung der vereinigten Sozialdemokratischen Organisationen im März 1917 nur 13 Bolschewiki eintreten konnten, während es immerhin 118 Menschewiki und Bundisten waren. In Mogilev wurde nur ein Bolschewik und in Gomel' 30 Bolschewiki gezählt.45 Der zunächst geringe Einfluß der bolschewistischen Partei ergab sich aus der sozialökonomischen Entwicklung des Gebiets und der daraus resultierenden Klassenstruktur. Andererseits konnten die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien bereits vor der Februarrevolution 1917 legal wirken. Ferner war Belorußland ein Hauptschauplatz des ersten Weltkrieges. Deshalb waren hier starke reaktionäre Kräfte konzentriert — das Hauptquartier der zaristischen Armee in Mogilev, der Stab der Westfront in Minsk, die Stadt- und Semstwo-Bünde, die Armeestäbe u. a. Schließlich existierte noch kein einheitliches bolschewistisches Parteizentrum für das Gebiet und die Front.46 Nach der Aprilkonferenz traten die bolschewistischen Mitglieder aus den vereinigten Organisationen aus, was wesentlich zur Stärkung des subjektiven Faktors beitrug. Die erste selbständige bolschewistische Organisation entstand am 6. April 1917 in Gomel'. Zunächst zählte sie 30 Mitglieder in ihren Reihen, wuchs aber bereits Ende April auf ca. 200 Bolschewiki an.47 In Minsk vollzogen die Bolschewiki die Trennung von den Sozialversöhnlern im Laufe der Monate Mai und Juni. „Jetzt sind wir eine selbständige Organisation der konsequenten Sozialdemokratie" — hieß es im Aufruf des Minsker Komitees der SDAPR (B) vom 17. Juli 1917.48 Bis zum Sommer wurden in allen belorussischen Städten selbständige bolschewistische Organisationen geschaffen.49 Für den weiteren Verlauf der Revolution hatten folgende, zumeist von den Bolschewiki initiierte Aktionen Bedeutung. Am 29. März 1917 nahm der Minsker Sowjet den Beschluß an, Frontkomitees wählen zu lassen. Bis zum 1. September wurden auf dieser Grundlage 7 289 Soldatenkomitees an der Westfront geschaffen. Davon wurden 2 235 Komitees in der X. Armee gebildet. Die Komitees waren wie folgt zusammengesetzt: 4 825 Offiziere, 1 598 Militärbeamte und 54 467 Soldaten.50 Der I. Kongreß der Militär- und Arbeiterdeputierten der Armeen und des Hinterlandes der Westfront fand vom 7. bis 17. April 1917 in Minsk statt, an dem ca. 1 200 Delegierte teilnahmen. Hier wurde das politische 45

/,B 47 48 49 50

Vgl. Iz istorii ustanovlenija Sovetskoj vlasti v Belorussii i obrazovanija BSSR. Dokumenty i materialy po istorii Belorussii, Bd. 4, Minsk 1954, S. 29; Ignatenko, I. M., Belorussija v period podgotovki i provedenija Velikoj Oktjabr'skoj socialistiöeskoj revoljucii, in: Istoriöeskij opyt Velikogo Oktjabr'ja, Moskau 1975, S. 261: Bugaev, E., Vozniknovenie Bol'sevistskich organizacij i obrazovanie kompartii Belorussii, Moskau 1959, S. 101 ff. Vgl. Ignatenko, Bednejsee, S. 56 f. Vgl. Gnevko, Raboiij klass, S. 102 ff.; Bugaev, S. 103 ff. Vgl. Velikaja Oktjabr'skaja socialistiöeskaja revoljucija v Belorussii, Bd. 1, S. 479. Vgl. Oöerki istorii Kommunisticeskoj partii Belorussii, Bd. 1, S. 241 ff. Vgl. Pobeda Sovetskoj vlasti v Belorussii, S. 108; Ignatenko, Bednejäee, S. 62 f. Die 7 289 Soldatenkomitees schlüsseln sich wie folgt auf: 6 665 Kompanie-, 484 Regiments-, 60 Divisions-, 15 Korps- und 3 Armeekomitees. Ferner gab es noch 57 Komitees von wirtschaftlich-technischen Einrichtungen der Armee.

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Zentrum der drei Armeen der Westfront geschaffen.51 Auf dem Kongreß überwogen die Delegierten der Sozialrevolutionäre, was sich in den angenommenen Resolutionen widerspiegelte. Die Mehrzahl der Delegierten sprach sich für die Fortführung des Krieges, für die Unterstützung der Provisorischen Regierung und für die Lösung der Bodenfrage durch die Konstituierende Versammlung aus.52 Die Delegierten des Frontkongresses wählten ein Frontkomitee in der Stärke von 75 Personen, die größtenteils Mitglieder der Partei der Sozialrevolutionäre oder der Menschewiki waren. Von der bolschewistischen Partei wurden M. V. Frunze, A. F. Mjasnikov, V. V. Fomiri, N. N. Krivoäein, V. S. Seleznov und S. G. Mogilevski gewählt. Das Präsidium bestand aus neun Mitgliedern — darunter zwei Bolschewiki.53 Abgesehen von den Halbheiten der angenommenen Beschlüsse, hatte der Frontkongreß große Bedeutung für die' politische Profilierung der Soldatenmassen, denn ihnen wurden erstmals die unterschiedlichen politischen Ziele des menschewistisch-sozialrevolutionären Blocks und der der Bolschewiki aufgezeigt. In das Frontkomitee wurde kein Mitglied der Kadetten gewählt.54 Vom 20. bis 23. April wurde in Minsk der I. Bauernkongreß der Gouvernements Minsk und Vilna durchgeführt, an dem ca. 800 Delegierte teilnahmen. M. V. Frunze wurde zum Vorsitzenden gewählt. Die Delegierten des Kongresses forderten die Herstellung des Friedens, ohne jedoch Wege zu seiner Realisierung aufzeigen zu können. Infolge des dominierenden Einflusses der kleinbürgerlichen Parteien wurde die Provisorische Regierung als Interessenvertreter des Volkes charakterisiert.55 In der Resolution zur Bodenfrage spürte man jedoch den gewachsenen bolschewistischen Einfluß und den Druck der werktätigen Massen. Darin hieß es: „Der Kongreß beschloß einmütig . . . , daß der gesamte Boden der Kirche, der Klöster, des Staates, die Anteile der Gutsbesitzer und der private Bodenbesitz zu Gemeineigentum des Volkes werden — ohne jegliche Bezahlung."56 Die Sozialrevolutionäre forderten in einem Zusatzantrag die ausgleichende Bodennutzung und verlangten, daß bis zur Konstituierenden Versammlung die Bauern keinen Boden selbständig in Besitz nehmen dürfen.57 Auf Vorschlag der Bolschewiki sprachen sich die Delegierten des Kongresses für die Einführung des 8-Stunden-Arbeitstages der Landarbeiter aus.58 Zum Abschluß des Kongresses wählten die Delegierten ein Exekutivkomitee, dem 20 Mitglieder unter dem Vorsitz von Frunze angehörten.69 Vgl. Velikaja Okjabr'skaja socialisticeskaja revoljucija v Belorussii, Bd. 1, S. 170 ff.; Cervjakov, Belorussija, S. 17. 52 Vgl. Velikaja Oktjabr'skaja socialisticeskaja revoljucija v Belorussii, Bd. 1, S. 194 f£. 53 Vgl. ebenda, S. 229; Pobeda Sovetskoj vlasti v Belorussii, S. 123; Ignatenko, Bednejsee, S. 85; Bugaev, S. 117. 54 vgl pobeda Sovetskoj vlasti v Belorussii, S. 123. 55 Vgl. Rudzickij, S. 11; Iz istorii ustanovlenija Sovetskoj vlasti v Belorussii, Bd. 4, S. 53 ff., 468; Velikaja Oktjabr'skaja socialisticeskaja revoljucija v Belorussii, Bd. 1, 244 ff.; Smirnov, A. S., Bol'seviki i krest'janstvo v Oktjabr'skoj revoljucii, Moskau 1976, S. 147. 56 Velikaja Oktjabr'skaja socialisticeskaja revoljucija v Belorussii, Bd. 1, S. 245. 57 Vgl. ebenda, S. 245 f. 58 Vgl. Smirnov, S. 147. 59 Vgl. Velikaja Oktjabr'skaja socialisticeskaja revoljucija v Belorussii, Bd. 1, S. 282 f.; Cervjakov, Belorussija, S. 17. 51

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Auch auf dem I. Gouvernementskongreß der Bauern des Gouvernements Mogilev, der vom 3. bis 4. Mai 1917 stattfand, zeigte sich der gewachsene Einfluß der Bolschewiki auf die Massen, denn es wurden ihre Vertreter in das EK gewählt.60 Obwohl die kleinbürgerlichen Parteien die Beschlüsse der Bauernkongresse in ihrem Sinne modifizierten, gelang es ihnen nicht, die revolutionäre Bauernbewegung Belorußlands einzudämmen, was folgende Tabelle belegt. Tabelle l61 Die Bauernerhebungen Gouvernement

März

Vilna Vitebsk Grodno Minsk" Mogilev



in Belorußland von März bis Juli 1917 April

Mai

4 6 v 0 n März bis Juli



1 6



3 4

Juni 5





7 13

25 16

Juli 13 152 -

35 74

Allein im Mai 1917 wurden in Belorußland 35 Fälle von selbständigen Bauernaktionen gegen die Gutsbesitzer registriert. Die Bauernbewegung erfaßte 13 Kreise, und es wurden mehr als 20 Gutsbesitzer enteignet.62 Die Bauern kämpften zu diesem Zeitpunkt nicht nur gegen die Großgrundbesitzer, sondern bereits gegen die Dorfbourgeoisie. Von den Bauernaufständen in Belorußland waren im April 4,7 Prozent, im Mai 6,8 Prozent, im Juni 10,9 Prozent und im Juli 10,3 Prozent gegen die Kulaken gerichtet.63 Ein sichtbarer Ausdruck des Ubergangs der Massen auf die Seite der Bolschewiki in diesem Revolutionsabschnitt waren die Wahlen zum Minsker Sowjet am 15. Mai 1917. Obwohl es keine exakten Zahlen über die Verteilung der Plätze unter den einzelnen Parteien im Sowjet gibt, läßt sich das Kräfteverhältnis an Hand der Abstimmungsergebnisse zu den Resolutionen einschätzen. Von den 265 gewählten Deputierten stimmten durchschnittlich 160 bis 195 für die eingebrachten bolschewistischen Resolutionen. Obwohl die Bolschewiki noch mit einer gemeinsamen Liste mit den Menschewiki in die Wahlen zum Sowjet gegangen waren, konnten sie wichtige Positionen im Minsker Sowjet erringen. Im EK erhielten die vereinigten Sozialdemokraten 23 und die Sozialrevolutionäre 13 Sitze. Das Präsidium des Sowjets wurde von vier Mitgliedern der bolschewistischen Partei und einem Sozialrevolutionär gebildet. Somit wurde der Minsker Sowjet bereits in der friedlichen Periode der Entwicklung der Revolution zu einem führenden Zentrum des Kampfes um die Schaffung der politischen Armee der sozialistischen Revolution/"' V. G. Knorin schätzte rückblickend ein, daß der „Minsker Sowjet der 60

Vgl. Smirnov, S. 148. Vgl. Maljavskij, A. D., Krest'janskoe dvizenie v Rossii v 1917 g. (mart —oktjabr'), Moskau 1981, S. 374 ff. 62 Vgl. Ignatenko, Bednejsee, S. 150. 63 Vgl. Kostrykin, V. I., Zemel'nye komitety v 1917 godu, Moskau 1975, S. 314. «4 vgl. Pobeda Sovetskoj vlasti v Belorussii, S. 137; Gnevko, Rabocij klass, S. 112; Bugaev, S. 106 f.

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Arbeiter- und Soldatendeputierten . . . sich schon Ende Mai ganz in den Händen der Bolschewiki" befand „und seine Politik . . . mit jedem Tage entschlossener"' wurde.65 Diese Situation im Minsker Sowjet war vor allem auf die revolutionär gestimmten Soldaten der Westfront und der Garnison sowie die Anwesenheit von erfahrenen und kampferprobten Führern der bolschewistischen Partei zurückzuführen. Im Vergleich hierzu überwogen auf dem I. Gebietssowjetkongreß der Gouvernements Minsk, Mogilev und einiger Kreise des Gouvernements Vilna, der vom 22. bis 25. Mai 1917 in Minsk seine Beratungen abhielt, noch die kleinbürgerlichen Parteien. Dennoch erreichten die Bolschewiki die Annahme einer Resolution, in der die imperialistische Politik der Provisorischen Regierung verurteilt, der Verzicht auf Annexionen und Kontributionen erklärt und das Recht der Völker auf Selbstbestimmung gefordert wurde.66 Der Prozeß der weiteren Bolschewisierung der Massen wurde zunächst durch die Ereignisse in Petrograd vom 3. bis 5. Juli 1917 unterbrochen.

2. Der Kampf der Bolschewiki Belorußlands um die Massen in der Zeit von den Juliereignissen bis zum Oktober 1917 Die Juliereignisse 1917 führten zu einer grundlegenden Veränderung der Klassenverhältnisse im Lande. Lenin stellte fest: „Nach dem 4. Juli hat sich die konterrevolutionäre Bourgeoisie Hand in Hand mit den Monarchisten und Schwarzhundertern die kleinbürgerlichen Sozialrevolutionäre und Menschewiki einverleibt . . . , und sie hat die wirkliche Staatsmacht in die Hände . . . einer Militärclique [gelegt], die die Gehorsamsverweigerer an der Front erschießt und die Bolschewiki in Petrograd niederschlägt."67 Ähnlich war die Lage in Belorußland. Die Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten von Gomel', Mogilev, Vitebsk, Rogacev, Bobrujsk u. a. standen im Juli 1917 noch hinter der Politik der Sozialrevolutionäre, der Menschewiki und des Bundes und gingen unter dem Einfluß der Ereignisse am 3./4. Juli in Petrograd voll auf die Seite der Provisorischen Regierung über. Die Sowjets verurteilten die Ereignisse in Petrograd und sprachen der Provisorischen Regierung die Unterstützung im „Kampf gegen die Anarchie" aus. Nur vom Minsker Sowjet wurden die Demonstrationen des 3. und 4. Juli in Petrograd positiv beurteilt. Es gelang der Reaktion nicht, die Bolschewiki aus dem Minsker Sowjet zu verdrängen. Auch in Gomel', Vitebsk, Polozk, Orsa, Sluck u. a. Städten konnten die Bolschewiki trotz Repressalien ihre Positionen halten.68 Die Juliereignisse waren an der Westfront mit verschärften Repressalien gegen die revolutionären Soldaten verbunden. Die Masse der Soldaten der Westfront war im Unterschied zur SW-Front nicht bereit, die Offensive zu beginnen. Ins65 66 67 68

Knorin, V., Pjat' let (kratkij konspekt k istorii KPB), Minsk 1922, S. 6. Vgl. Ignatenko, Bednejsee, S. 188 f. Lenin, W. I., Brief an die Genossen, in: Werke, Bd. 26, S. 183. Vgl. Ignatenko, Bednejsee, S. 188f.; Pobeda Sovetskoj vlasti v Belorussii, S. 168ff.; V bor'be za Sovetskuju vlast', Minsk 1967, S. 9; Gnevko, Rabocij klass, S. 130 f.; dies., Pod znamenem, S. 84 ff.

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gesamt waren ca. zehn Divisionen gegen die Offensive. Nur ein Teil der X. Armee wagte am 8. Juli nach einer ungenügenden Artillerievorbereitung den Angriff. Die Verluste waren mit 20 000 Toten dementsprechend hoch. Die Soldaten der II. und III. Armee waren nicht zum Angriff zu bewegen.69 Deshalb ging die Konterrevolution mit; verschärftem Terror gegen die revolutionär gesinnten Soldaten vor. Lenin bemerkte, daß „der Generalstab und die Kommandospitzen der Armee . . . dazu übergegangen [sind], gegen revolutionäre Truppen an der Front mit Waffengewalt vorzugehen".70 An der Westfront wurden im Verlaufe des Juli und August 1917 insgesamt sieben Regimenter reorganisiert und ca. 6 000 Soldaten inhaftiert. Vor allem gegen Mitglieder der bolschewistischen Partei richtete sich der Hauptstoß der Reaktion. So befanden sich unter den 2 000 Arrestierten in Minsk, überwiegend Soldaten der Westfront, ca. 800 Bolschewiki. Die Lage in anderen Städten Belorußlands war ähnlich.71 Die Bedeutung der Juiiereignisse und der Zeit danach ist vor allem darin zu sehen, daß die Masse der Werktätigen, darunter ein großer Teil der Arbeiterklasse selbst, „die konterrevolutionäre Politik der Generale in der Armee, der Gutsbesitzer auf dem Lande und der Kapitalisten in der Stadt . . . am eigenen Leib zu spüren" bekam und zugleich die Politik des Paktierens der Sozialrevolutionäre und Menschewiki vor den Massen enthüllt wurde.72 Verängstigt durch die Juliereignisse schufen sich die belorussischen nationalistischen Organisationen auf ihrem II. Kongreß, der vom 8. bis 10. Juli 1917 in Minsk stattfand, die „Zentrairada der belorussischen Organisationen". Diese Rada, die vor allem aus Gutsbesitzern, Kapitalisten, Kulaken und Vertretern der bürgerlichen Intelligenz bestand, hielt sich selbst für das künftige Machtorgan Belorußlands. In der herausgegebenen Proklamation sprachen sich die Nationalisten gegen die Bolschewiki, gegen die Sowjets der Arbeiter- und. Soldatendeputierten sowie gegen die revolutionäre Bauernbewegung aus. Im Vergleich zu anderen nationalen Gebieten (z. B. der Ukraine) gelang es den belorussischen Nationalisten jedoch nicht, große Teile des Kleinbürgertums, vor allem der Bauernschaft, hinter sich zu bringen. Vertreter der Menschewiki, der Sozialrevolutionäre und des Bundes waren kaum in der belorussischen Zentrairada anzutreffen.73 Die Mehrheit der Delegierten stellte die BsG, die in zwei Flügel zerfiel. Den linken Flügel bildeten Vertreter der Minsker und Petrograder Organisation um Zilunovic und A. Burbis. Die politische Linie des Kongresses bestimmte der rechte Flügel, der die „national-territoriale Autonomie" für Belorußland forderte und die Erörterung sozialer Fragen ablehnte. Im Exekutivkomitee der Zentrairada waren die Mitglieder des rechten Flügel dominierend. Vorsitzender wurde Ja. Lesik.74 69

70 71

72

73 74

Vgl. Golub, P. A., Partija, armija i revoljucija. Otvoevanie partiej bol'sevikov armii na storonu revoljucii. Mart 1917-fevr. 1918, Moskau 1967, S. 113 ff.; Pobeda Sovetskoj vlasti v Belorussii, S. 162ff.; Kamenskaja/Selivanov, S. 21. Lenin, W. I., Die politische Lage, in: Werke, Bd. 25, S. 174. Vgl. Golub, Partija, armija i revoljucija, S. 125 ff.; Jgnatenko, Belorussija v period, S. 265; V bor'be za Sovetskuju vlast', S. 9. Lenin, W . I., Entwurf einer Resolution zur gegenwärtigen politischen Lage, in: Werke, Bd. 25, S. 321. Vgl. Kancer, S. 48; Pocanin, S. 150; Pobeda Sovetskoj vlasti v Belorussii, S. 169. Vgl. Staskevic, S. 86 f.

6 Jahrbuch 36

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Die Zentrairada der belorussischen Organisationen unterstützte offen die konterrevolutionäre Tätigkeit der Menschewiki, der Sozialrevolutionäre und der Bundisten und verriet die nationalen Interessen.75 Somit zeigte sich auch in Belorußland, daß nicht die nationale Frage, sondern die Klassenfrage entscheidend war. Unter den Bedingungen des verschärften Klassenkampfes zwischen den zwei Hauptlagern in Rußland, dem Proletariat und der Bourgeoisie, konnte es keinen „dritten Weg" geben. Der belorussischen Bourgeoisie gelang es jedoch nicht, großen Einfluß unter der werktätigen Bauernschaft zu gewinnen. Dennoch hatten die Juliereignisse in Belorußland schärfere Auswirkungen als in den anderen nationalen Gebieten (z. B. der Ukraine). Dies wurde auch auf dem II. Bauernkongreß der Gouvernements Minsk und Vilna deutlich, der vom 30. bis 31. Juli 1917 in Minsk durchgeführt wurde; denn es gelang den reaktionären Kräften, den Einfluß der Bolschewiki zeitweilig zurückzudrängen. Es wurde nicht ein Bolschewik in das Exekutivkomitee gewählt.76 Dies verdeutlicht, daß bis zum August 1917 die Masse der -demokratischen Organiationen Belorußlands, darunter die Sowjets, noch nicht von dem fEinfluß der Versöhnler befreit war. Ein Großteil der Werktätigen und ihre Organisationen vertrauten noch der Provisorischen Regierung und setzten auf das menschewistisch-sozialrevolutionär durchsetzte ZEK der Sowjets der Arbeiterund Soldatendeputierten.77 Eine spürbare Bolschewisierung der Massen trat im. Zusammenhang mit dem Kampf um die Niederschlagung des Kornilovputsches im August 1917 ein. Belorußland mit dem Hauptquartier der russischen Armee in Mogilev und dem konterrevolutionären Stab der Westfront in Minsk war das Zentrum der Kornilov-Meuterei. Ferner existierten im Gebiet Eisenbahnlinien, mit denen der Stab sowohl mit der West- und der Südwestfront als auch mit Petrograd und Moskau verbunden war und dadurch für die revolutionären Zentren des Landes eine echte Gefahr bildete. Zum Kampf gegen Kornilov bildeten am 30. August 1917 das EK des Minsker Sowjets und das Komitee der Westfront ein „Provisorisches revolutionäres Komitee der Westfront", das sich zum einzigen Machtorgan im Gebiet und an der Westfront erklärte. Das revolutionäre Komitee errichtete eine scharfe Kontrolle über alle Truppenbewegungen — insbesondere in Richtung Petrograd lind Moskau.78 In Minsk, Vitebsk, Orsa, Gomel', Bobrujsk u. a. Städten entstanden „Bjiros der Sicherheit" und Abteilungen der Roten Garde. Durch den Druck der werktätigen Massen und angesichts der Gefahr der Etablierung einer Militärdiktatur errichteten die Sowjets, obwohl sie noch unter der Vorherrschaft der kleinbürgerlichen Parteien standen, die Kontrolle über die Post, den Telegrafen und die Bahnhöfe, so daß keine konterrevolutionären Truppen von der Südwest- und der Westfront zur Unterstützung der 75

76 77 78

Vgl. Mine, Bd. 2, Moskau 1968, S. 877 f.; Gnevko, Pod znamenem, S. 89 f.; Krutalevic, V. A., Rozdenie Belorusskoj Sovetskoj Respubliki, Minsk 1975, S. 98 f. Vgl. Pobeda Sovetskoj vlasti v Belorussii, S. 167 f. Vgl. ebenda, S. 182. Vgl. Velikaja Oktjabr'skaja socialistiöeskaja revoljucija v Belorussii, Bd. 1, S. 608; Ivaün, V. G., Bor'ba bol'sevikov Belorussii protiv kornilovsciny, Minsk 1962, S. 39.

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Meuterer abgezogen werden konnten. 79 Entscheidend war, daß die Soldaten der Westfront gegen den Kornilovputsch auftraten. 80 Wie Lenin einschätzte, hat der „Aufstand Kornilows . . . restlos die Tatsache enthüllt, daß die Armee, die ganze Armee das Hauptquartier haßt". 81 Am 31. August 1917 telegraphierte das Armeekomitee der II. Armee an das „Provisorische revolutionäre Komitee der Westfront" die Bereitschaft, zu jeder Zeit Divisionen abzukommandieren, die den Schutz der Revolution und der Freiheit übernehmen würden. 82 Eine charakteristische Erscheinung dieses Zeitpunktes sind die Neuwahlen zu den Soldatenkomitees, die zunehmend bolschewisiert wurden. In den angenommenen Resolutionen sprachen sich die Soldaten gegen die volksfeindliche Innen- und Außenpolitik der Provisorischen Regierung aus.® Es kann somit festgestellt werden, daß die Bolschewiki im Bündnis mit den revolutionären Soldaten der Westfront und den menschewistisch-sozialrevolutionär geführten Sowjets einen raschen Sieg über die Meuterer erzielten.84 „Die historische Bedeutung des Kornilovaufstandes besteht gerade darin", analysierte Lenin, „daß er den Volksmassen sehr eindringlich die Wahrheit" über den Verrat der Bourgeoisie Rußlands am eigenen Volk und die paktierende Politik der Sozialrevolutionäre und Menschewiki vor Augen führte. 85 Der Kampf um die Liquidierung des Kornilovputsches zeigt, daß die bolschewistische Partei einen Schritt bei der Schaffung der politischen Armee der sozialistischen Revolution vorangekommen war und daß sie die entscheidende Kraft bei der Zerschlagung des Putsches war. Unmittelbar danach kam es zu einem stürmischen Aufschwung in der russischen Revolution86, so aüch in Belorußland. Die bolschewistische Partei konnte ihre Organisationen in Belorußland und an der Westfront wesentlich durch die Aufnahme neuer Mitglieder stärken. In Vitebsk erreichte die bolschewistische Stadtorganisation im September 1917 eine Stärke von 353 Mitgliedern, in Gomel' wurden bereits im August 427 Bolschewiki gezählt.87 Um die Schlagkraft der bolschewistischen Organisationen Belorußlands und der Westfront zu erhöhen, war es notwendig, alle Parteiorganisationen um ein Zentrum zu vereinen. Ein erster Schritt in diesem Prozeß war die Beratung der bolschewistischen Organisationen Belorußlands und der Westfront vom 1. bis 3. September 1917 in Minsk. Dieser Termin war jedoch ungünstig gewählt, da die Massen noch gegen den Kornilovputsch kämpften, 79

80 81 82 83 84

85 86 87



Vgl. Velikaja Oktjabr'skaja socialistiöeskaja revoljucija v Belorussii, Bd. 1, S. 608 f.; Chochlov, A., Krasnaja gvardija Belorussii v bor'be za vlast' Sovetov (mart 1917 — mart 1918), Minsk 1965, S. 39 f.; IvaSin, S. 40 ff.; Golub, Partija, armija i revoljucija, S. 151 ff.; Ivanov, N. Ja., Kontrrevoljucija v Rossii v 1917 godu i ee razgrom, Moskau 1977, S. 200 f. Vgl. Pobeda Sovetskoj vlasti v Belorussii, S. 211. Lenin, Entwurf einer Resolution, S. 323. Vgl. Pobeda Sovetskoj vlasti v Belorussii, S. 211. Vgl. ebenda, S. 213. Vgl. Lenin, W. I., Die russische Revolution und der Bürgerkrieg, in: Werke, Bd. 26, S. 14. Ders., Entwurf einer Resolution, S. 322. Vgl. ebenda, S. 320. Vgl. Gnevko, Raboiij klass, S. 162 ff.

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so daß nicht alle bolschewistischen Organisationen des Gebietes Delegierte schicken konnten. An der Beratung nahmen 15 Delegierte des Gebietes und 31 Delegierte der Front teil, die insgesamt 6 061 Parteimitglieder repräsentierten. Es wurde beschlossen, eine Gebietsparteikonferenz einzuberufen. 88 In der Phase des erneuten Anwachsens der revolutionären Bewegung wurde vom 15. bis 17. September 1917 die I. Konferenz der SDAPR (B) der NordWest-Gebiete in Minsk durchgeführt. An dieser Konferenz nahmen 88 Delegierte teil, die 7 132 Parteimitglieder und 2 058 Sympathisanten vertraten. 8 9 Die einzelnen Organisationen hatten folgende Stärke erreicht: in der II. Armee wurden 2 388 Bolschewiki gezählt, in Minsk 1 200, in der X . Armee 1 156, in Gomel' 820, in der III. Armee 632, in Sluck 200, in Bohrujsk 187 und in Zamir'evskaja 135.30 Auf der Konferenz wurde das Komitee der SDAPR (B) der NordWest-Gebiete mit Mjasnikow an der Spitze gebildet. Die II. Außerordentliche Konferenz der SDAPR (B) der Nord-West-Gebiete, die vom 5. bis 7. Oktober 1917 in Minsk tagte, nahm Kurs auf den bewaffneten Aufstand in Belorußland und an der Westfront. Innerhalb von 4 Wochen hatte sich die Mitgliederzahl der Partei versechsfacht und war auf 28 591 Parteimitglieder und 27 856 Sympathisanten angewachsen. 91 Von Knorin wird die Zeit zwischen den beiden Konferenzen als Periode charakterisiert, in der die bolschewistische Partei „unter den Massen eine große Popularität erreichte". 92 In den Beschlüssen der Konferenz wurde Kurs auf Neuwahlen zu den Sowjets genommen und sprach man sich für die baldige Einberufung des II. Gesamtrussischen Sowjetkongresses aus. Gleichzeitig beschlossen die Delegierten die Durchführung von Neuwahlen der Armeekomitees an der Westfront und forderten sie die baldige Machtübernahme durch die Sowjets. 93 Somit verfügten die Werktätigen Belorußlands über einen starken Vortrupp, der, ausgerüstet mit der Leninschen Strategie und Taktik, Kurs auf die Machtübernahme nahm. 94 Für den späteren Sieg der sozialistischen Revolution in Belorußland war es entscheidend, daß von Ende September bis Anfang Oktober 1917 Neuwahlen zum Minsker Sowjet durchgeführt wurden. Die Wahlen endeten mit einem gewaltigen Sieg der Bolschewiki. Von den 337 Deputierten des Sowjets stellten die Bolschewiki 184 Mitglieder, d. h. 54,6 Prozent. Die kleinbürgerlichen P a r teien errangen nur 105 Mandate, was 31,1 Prozent entsprach. Ferner wurden 48 Parteilose in den Sowjet gewählt, die zu bolschewistischen Positionen tendierten. Am 8. Oktober 1917 fand die erste Vollversammlung des neugewählten Minsker Sowjets statt, in der das E K gewählt wurde. Darin waren die bolschewistische Partei mit 23 Mitgliedern (63,9 Prozent), die Sozialrevolutionäre mit 88

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92 93 94

Vgl. Bugaev, S. 129 f.; Pobeda Sovetskoj vlasti v Belorussii, S. 232 f.; Pocanin, S. 14; siehe auch Knorin, Revoljucija i kontr-revoljucija, S. 21 f. Vgl. Knorin, Revoljucija i kontr-revoljucija, S. 22; Cervjakov, Belorussija, S. 17; Velikaja Oktjabr'skaja socialisticeskaja revoljucija v Belorussii, Bd. 1, S. 686 f. Vgl. Velikaja Oktjabr'skaja socialisticeskaja revoljucija v Belorussii, Bd. 1, S. 686 f. Vgl. Knorin, Revoljucija i kontr-revoljucija, S. 22; Oüerki istorii Kommunisticeskoj partii Belorussii, S. 285. Knorin, Revoljucija i kontr-revoljucija, S. 22. Vgl. Pobeda Sovetskoj vlasti v Belorussii, S. 237; Pocanin, S. 14; Bugaev, S. 195. Vgl. Iz istorii ustanovlenija Sovetskoj vlasti v Belorussii, Bd. 4, S. 473.

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7 (19,4, Prozent), der Bund mit 4 (11,1 Prozent) und die Menschewiki mit 2 Mitgliedern (5,6 Prozent) vertreten. Zum Vorsitzenden des Sowjets wurde der Bolschewik K.. I. Lander gewählt. 95 In den anderen Sowjets Belorußlands verhinderten die kleinbürgerlichen Parteien Neuwahlen, so daß die bolschewistische Partei vor der Oktoberrevolution ihre> Positionen kaum verbessern konnte. Deshalb überwog hier noch der sozialrevolutionär-menschewistische Block."6 In Vitebsk gelang es den Bolschewiki, am 24. September 1917 eine selbständige Fraktion im Sowjet zu bilden.97 Eine große Rolle im Kampf um die Sowjetmacht in Belorußland spielte die revolutionäre Bewegung der Soldaten an der Westfront. Ohne die Eroberung der Armee durch die bolschewistische Partei wäre die Durchführung der sozialistischen Revolution unmöglich gewesen. Vor allem unter den Soldaten der Westfront, wo etwa 1,1 Millionen Mann konzentriert waren, verfügten die Bolschewiki über einen beträchtlichen Einfluß. Am Vorabend der Oktoberrevolution gab es an der Westfront 21 463 Parteimitglieder und 27 231 Sympatisanten. Dies verstärkte wesentlich die revolutionären Kräfte Belorußlands. Durch die Neuwahl der Kompanie- und Regimentskomitees im Oktober 1917 kam es zu einer zunehmenden Bolschewisierung der Westfront. In der ersten Oktoberhälfte wurden 20 neue bolschewistische Organisationen gebildet. 98 Die leitenden Organe der Armeen und das Frontkomitee selbst befanden sich vor der Oktoberrevolution noch in den Händen der Sozialrevolutionäre und Menschewiki, da keine Neuwahlen stattgefunden hatten. Drei Tage vor Ausbruch des Oktoberaufstandes mußte der Kommissar der Westfront, der Menschewik Zdanov, einschätzen, daß das Vertrauen zum menschewistisch-sozialrevolutionären Frontkomitee sinke und die Soldaten dazu übergehen würden, die „eingeschüchterten Komitees" (gemeint sind die Soldatenkomitees) ihres Postens zu entheben und „nicht auf Neuwahlen" zu warten. 9 9 In der Bauernschaft, dem Hauptbündnispartner der Arbeiterklasse, die nach der Februarrevolution fast völlig hinter den Sozialrevolutionären und anderen kleinbürgerlichen Parteien Belorußlands gestanden hatte, vollzog sich bis zum Herbst 1917 ebenfalls ein gewaltiger revolutionärer Umschwung. Wurden im August 38 Gutshöfe von den Bauern besetzt, so waren es im September 1917 bereits 67. 100 Die Dynamik der Bauernbewegung zeigt Tabelle 2. Vor allem der Versuch der Sozialrevolutionäre, die revolutionäre Bauernbewegung in eine „legale Form" der Besitzergreifung von Gutsbesitzerland hinüberzuleiten, scheiterte. Die unter ihrer Leitung abgeschlossenen halblegalen Verträge mit den Gutsbesitzern über den Verkauf ihres Landes konnten auf die Dauer den Landhunger der belorussischen Bauern nicht befriedigen. Deshalb wuchs die Bauernbewegung in die direkte Besitzergreifung des Gutsbesitzerlandes hinüber. Im September 1917 waren 90 Prozent dieser Aktionen Vgl. Knorin, Revoljucija i kontr-revoljucija, S. 24 f.; Velikaja Oktjabr'skaja socialisticeskaja revoljucija v Belorussii, Bd. 1, S. 778 f., 802 f. 96 Vgl. Bugaev, S. 144. 97 Vgl. Velikaja Oktjabr'skaja socialisticeskaja revoljucija v Belorussii, Bd. 1, S. 738. 98 Vgl. Pobeda Sovetskoj vlasti v Belorussii, S. 229, 297; Ignatenko, Bednejsee, S. 226 f£.; Golub, Parti ja, armija i revoljucija, S. 179 ff.; Mine, Bd. 2, S. 866. 99 Velikaja Oktjabr'skaja socialisticeskaja revoljucija v Belorussii, Bd. 1, S. 854. ¡oo vgl. Pobeda Sovetskoj vlasti v Belorussii, S. 224. 95

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Tabelle 2m Die Bauernbewegung

in Belorußland von August bis Oktober 1917

Gouvernement

August

September

Vilna Vitebsk Grodno Minsk Mogilev

4 17

5 12





37 25

16 16

Oktober 8 6 41 19

„nicht organisiert".102 Mit Besorgnis stellte am 27. September der Gouvernementskommissar ein Anwachsen der Bauernbewegung im Gouvernement Minsk fest.103 Die revolutionäre Bauernbewegung erfaßte in Belorußland 40 Kreise — nicht nur in den Gouvernements Minsk und Mogilev, sondern auch in Vitebsk und Vilna. Ihr Kampf nahm an Schärfe zu und wuchs dem Wesen nach in einen Bauernaufstand hinüber.104 Ein sichtbarer Ausdruck des Abschwenkens von den Sozialrevolutionären war der Kongreß der Bauerndeputierten der Westfront Mitte Oktober 1917 in Minsk. Entgegen dem Willen der Führer der kleinbürgerlichen Parteien wurde ein Beschluß angenommen, der die sofortige Ubergabe des Bodens an die Bauern forderte.105 Das Präsidium des Vitebsker Gouvernementssowjets der Bauerndeputierten sprach sich Anfang September 1917 auf einer gemeinsamen Sitzung mit dem EK der Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten gegen eine Koalition mit der Bourgeoisie aus. Analoge Beschlüsse faßten die EK der Bauernsowjets von Minsk und Mogilev.106 Lenin konnte daher urteilen, „daß die Mehrzahl der Bauernsowjets . . . sich gegen die Koalition ausgesprochen hat".107 Dies belegt, daß ein Großteil der Bauern Belorußlands bereits Mitte Oktober 1917 hinter dem sozialen Programm der Bolschewiki stand. Der Bolschewik V. F. Sarangovic schätzte rückblickend ein: „Während der Oktoberrevolution und bereits an ihrem Vorabend folgte die Hauptmasse der Bauern den Bolschewiki, stand hinter den Losungen unserer Partei."108 Lenin charakterisierte die Situation wie folgt: „Die wichtigste Tatsache des gegenwärtigen Lebens in Rußland schließlich ist der Bauernaufstand. Da haben wir den objektiven, nicht in Worten, sondern durch Taten offenbarten Übergang des Volkes auf die Seite der Bolschewiki."109 Das Anwachsen der revolutionären Bewegung im Herbst 1917 führte auch zu Vgl. Maljavskij, S. 374 ff. Vgl. Ignatenko, BednejSee, S. 270 f. 103 Vgl. Kostrikin, V. I., Zemel'nye komitety v 1917 godu, Moskau 1975, S. 301. 104 Vgl. Lenin, W. I., Brief an die Genossen Bolschewiki, die am Kongreß der Nordgebiete teilnehmen, in: Werke, Bd. 26,"S. 171 f. ioä vgl Gnevko, Pod znamenem, S. 131 f.; Ignatenko, Bednejäee, S. 284; Smirnov, S. 220 f. 106 Vgl. Smirnov, S. 179. 107 Lenin, Brief an die Genossen, S. 183. 108 Sarangoviö, S. 20. 109 Lenin, Brief an die Genossen, S. 184. 101

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Errichtung der Sowjetmacht in Belorußland

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einer stärkeren Polarisierung der Klassenkräfte innerhalb der belorussischen nationalen Befreiungsbewegung. Auf dem 1. Belorussischen Kongreß, der am 24. September in Moskau durchgeführt wurde, bildete sich endgültig eine linke Strömung in der BsG heraus, so daß der Kongreß keine einheitliche Plattform ausarbeiten konnte.110 Es kann konstatiert werden, daß im Oktober 1917 in Belorußland der Bolschewisierungsprozeß der Massen weit vorangeschritten und somit der Zeitpunkt für die endgültige Lösung der Machtfrage zugunsten der Arbeiterklasse herangereift war.

3. Der Kampf der Bolschewiki um die Errichtung und Festigung der Sowjetmacht in Belorußland von der Oktoberrevolution bis Ende 1917 „Seit dem Oktober", stellte Lenin fest, „marschierte unsere Revolution, die die Macht in die Hände des revolutionären Proletariats legte, dessen Diktatur errichtete und ihm die Unterstützung der gewaltigen Mehrheit des Proletariats und der armen Bauernschaft sicherte, seit dem Oktober bewegte sich unsere Revolution in einem triumphalen Siegeszug vorwärts."111 Das Proletariat Rußlands schaute auf Petrograd, wo vor allem das Schicksal der Revolution entschieden wurde. „Der Kampf um die Sowjetmacht war ein einheitlicher dialektischer Prozeß, in dem der Erfolg des Vortrupps des Proletariats im Zentrum den Sieg in der Provinz erleichterte und beschleunigte, während die Erfolge der Werktätigen in der Provinz die eroberten Positionen im Zentrum festigten."112 Der Sieg des bewaffneten Aufstands in Petrograd und in Moskau schuf die historischen Rahmenbedingungen für den Kampf um die Errichtung der Sowjetmacht in den anderen Landesteilen. Die Bourgeoisie war . an den entscheidenden Stellen' geschlagen worden, und die Errichtung der Sowjetmacht in Petrograd und Moskau veränderte maßgeblich das Kräfteverhältnis im Lande zugunsten der revolutionären Kräfte. Unter diesen Bedingungen konnten die Bolschewiki in Belorußland beide Hauptmethoden zur Lösung der Grundfrage der sozialistischen Revolution anwenden — die friedliche und die nichtfriedliche Art und Weise der Eroberung der Macht.113 Als der Minsker Sowjet am 25. Oktober 1917 die Nachricht vom siegreichen bewaffneten Aufstand in Petrograd erfuhr114, berief er eine außerordentliche Sitzung des EK ein. Die Teilnehmer nahmen einstimmig den historischen Befehl Nr. 1 an, der um 14 Uhr den Werktätigen der Stadt verkündet wurde. In 110

Vgl. StaSkevic, S. 107 f. Lenin, W. I., Außerordentlicher' IV. Gesamtrussischer Sowjetkongreß, in: Werke, Bd. 27, S. 162. 112 Geschichte der KPdSU, Bd. 3/1, Moskau 1971, S. 407. 113 Zur Frage der „friedlichen" und „nichtfriedlichen" Eroberung der Macht vgl. Lauenroth, Hartmut, Das Ringen um die Errichtung der Sowjetmacht in der Ukraine (Oktober 1917 bis Anfang 1918), in: LBR, 1985, 12, S. 33 f. 114 vgl. Velikaja Oktjabr'skaja socialisticeskaja revoljucija v Belorussii, Bd. 2, Minsk 1957, S. 29 f. 111

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Hartmut Lauenroth

diesem Dokument heißt es: „Die Macht ging in Petrograd in die Hände des Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten über. Die gesamte Petrograder Garnison, die Baltische Flotte und andere Truppenteile erkannten die neue Macht an . . . " Ferner wurde erklärt: „In Minsk ging die Macht in die Hände des Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten über, der sich an alle revolutionären Organisationen und politischen Parteien mit dem Vorschlag wendet, in die Organisation der provisorischen revolutionären Macht im Ort einzutreten." 115 So verwandelte der Wille der revolutionären Arbeiter und Soldaten den Minsker Sowjet aus einem proletarischen Organ des Kampfes um die Macht in ein Organ der proletarischen Staatsmacht im Zentrum Belorußlands. 116 Zum Schutz der revolutionären Ordnung in der Stadt wurde aus Arbeitern, Soldaten und den aus den Gefängnissen befreiten politischen Gefangenen das 1. Revolutionäre Regiment mit dem Namen „Minsker Sowjet" gebildet. Das 37. und das 289. Reserveregiment gingen auf die Seite der Revolution über, so daß sich die Sowjetmacht in Minsk auf ca. 5 000 Kämpfer stützen konnte. Am 26. Oktober befand sich die Macht in Minsk faktisch in den Händen der Arbeiter und Soldaten. 117 Das Exekutivkomitee des Minsker Sowjets, das ja in seiner Mehrheit aus Bolschewiki bestand, ging in der Machtfrage davon aus, die kleinbürgerlichen Parteien bei der Formierung eines revolutionären Machtorgans einzubeziehen. Der Befehl Nr. 1 war also auf die Schaffung eines breiten Bündnisses bei der Organisierung der Sowjetmacht gerichtet. Hierbei berücksichtigten die Bolschewiki jedoch nicht, daß die Gouvernementskomitees der kleinbürgerlichen P a r teien und das unter ihrem Einfluß stehende Frontkomitee aktiv gegen die Errichtung der Sowjetmacht kämpften. Auf der Vollversammlung des Bundes in Minsk sprachen sich dessen Mitglieder am 26. Oktober gegen die Machtübernahme durch den Sowjet aus. Die anderen kleinbürgerlichen Parteien protestierten ebenfalls gegen den Befehl Nr. 1 des Minsker Sowjets. Am 27. Oktober fand eine Sitzung der Mitglieder der Stadt-Duma statt, die den Petrograder Aufstand als „Verbrechen" einstuften. Es wurde die Notwendigkeit betont, eine „Provisorische Regierung der Demokratie" zu formieren. Auch die belorussischen Nationalisten sprachen sich gegen die Sowjetmacht aus.118 Um die revolutionären Kräfte zu organisieren und der Konterrevolution entgegentreten zu können, faßte das Minsker Komitee der SDAPR (B) am 26. Oktober 1917 den Beschluß, ein Revolutionäres Militärkomitee (RMK) zu formieren. Dem schloß sich am folgenden Tag das Büro des Gebietsexekutivkomitees der Sowjets des Westgebietes an. Am selben Tag, dem 27. Oktober, wurde beim Minsker Sowjet das RMK der Westfront und des Gebietes gebildet, dem M. I. Kalmanovic, V. G. Knorin, K. I. Lander, A. F. Mjasnikov u. a. Bolschewiki angehörten. Das RMK wurde als „Organ zur Erhaltung der Ordnung und Sicherheit der Bevölkerung des Gebiets geschaffen". 119 Es wurde beauftragt, keine

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Ebenda, S. 30 f. Vgl. Ocerki istorii Kommunisticeskoj partii Belorussii, Bd. 1, S. 294f.; Istorija Belorusskoj SSR, S. 235; Pobeda Sovetskoj vlasti v Belorussii, S. 260. Vgl. Ignatenko, Belorussija v period, S. 269. Vgl. Pobeda Sovetskoj vlasti v Belorussii, S. 264; Pocanin, S. 52. Vgl. Velikaja Oktjabr'skaja socialisticeskaja revoljucija v Belorussii, Bd. 2, S. 39.

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Militärzüge von der Front passieren zu lassen und Provokationen gegenüber den Sowjets zu verhindern. Bis zur endgültigen Formierung einer Zentralmacht sollte „die gesamte Macht" in seine Hände übergehen. 120 Um eine Stabilisierung der Sowjetmacht in Minsk zu verhindern, gingen die konterrevolutionären Kräfte zur Offensive über. Neben den kleinbürgerlichen Parteien versuchte vor allem der konterrevolutionäre Stab der Westfront, der in Minsk stationiert war, die Sowjetmacht zu liquidieren. Der Oberkommandierende, General P. S. Baluev, und der Frontkommissar der Provisorischen Regierung, V. A. 2danov, erkannten zwar formal die Sowjetmacht an, taten dies aber nur, um die Soldatenmassen zu täuschen. Der Stab initiierte, gefördert durch die Nachricht, daß Kerenski Truppen gegen Petrograd führe, die Bildung eines sogenannten „Komitees zur Rettung der Revolution". Am Abend des 27. Oktober schufen das menschewistisch-sozialrevolutionäre Frontkomitee, die Führer der kleinbürgerlichen Parteien, Vertreter der Stadtduma und Vertreter der bürgerlichen Militär- und Bürgerorganisationen das „Komitee zur Rettung der Revolution" mit dem Sozialrevolutionär T. M. Kolotuchin an der Spitze.121 Somit ging in Minsk die Initiative zur Bildung eines konterrevolutionären Machtorgans vor allem von den alten Machtorganen der Provisorischen Regierung aus, was die relative Schwäche der belorussischen Bourgeoisie verdeutlicht. Der Stab der Westfront hoffte, daß er mit Hilfe des „Komitees zur Rettung der Revolution" Truppen gewinnen könnte, um die Revolution in Petrograd niederzuwerfen. Am 27. Oktober entstand eine gefährliche Lage in Minsk. Die Konterrevolution stützte sich auf eine Kavallerie-Division Kosaken, Teile der polnischen Legion unter General Dowbör-Musnicki u. a. Truppenteile, die General Baluev Anfang Oktober 1917 von der Front abgezogen hatte. Die militärischen Kräfte der Konterrevolution beliefen sich auf ca. 20 000 Mann. Mit Billigung des Stabes der Westfront forderte das „Komitee zur Rettung der Revolution" in ultimativer Form vom Minsker Sowjet, die Macht an das „Komitee" zu übergeben. Im Falle einer negativen Antwort drohte das „Komitee" mit der Auflösung des Minsker Sowjets, des RMK und der Stadtorganisation der SDAPR (B). Gleichzeitig wollte der Stab der Westfront den Befehl zur Abkommandierung von konterrevolutionären Truppen erteilen, um die Revolution in Petrograd und Moskau niederzuschlagen. 122 Um Zeit zu gewinnen, Pogrome gegen die revolutionären Kräfte sowie den Abtransport von konterrevolutionären Truppen der Westfront zu verhindern, beschloß das RMK, Verhandlungen mit dem „Komitee" aufzunehmen. Am 28. Oktober wurde ein Abkommen zwischen dem Minsker Sowjet und dem „Komitee zur Rettung der Revolution" unterzeichnet. Zur Machtfrage wurde folgendes vereinbart: „In den Händen des Komitees wird zeitweilig die gesamte Macht im Gebiet der Westfront bis zur endgültigen Formierung der Macht im Zentrum und der Provinz konzentriert. Die neue Regierung in 120 Vgl. ebenda. 121 vgl Pocanin, S. 51 ff.; Velikaja Oktjabr'skaja söcialisticeskaja revoljucija v Belorussin Bd. 2, S. 1005. 122 Ygi pobeda Sovetskoj vlasti v Belorussii, S. 268 f.; Pocanin, S. 53. 123 Iz istorii ustanovlenija Sovetskoj vlasti v Belorussii, Bd. 4, S. 248.

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Petrograd wurde nicht anerkannt, wobei jedoch das Komitee erklärte, daß die Machtfrage nicht in Minsk und an der Westfront, sondern in den Hauptstädten entschieden würde.124 Das Komitee verpflichtete sich zu der Gegenleistung, „keine Truppen der Westfront zur Niederwerfung der Volksbewegung" abzuziehen.125 Zwei Vertreter des Minsker Sowjets traten in das „Komitee" ein, um die Realisierung der übernommenen Verpflichtungen des „Komitees" zu überwachen.120 Die Bolschewiki sahen diesen Schritt als taktisches Manöver an, um Zeit zu gewinnen. Somit, hatte die Konterrevolution zeitweilig in Minsk gesiegt. Die konterrevolutionären Kräfte versuchten mit Hilfe dieses Abkommens, ihre Positionen weiter auszubauen, wußten sie doch, daß in der Stadt und an der Westfront starke revolutionäre Kräfte waren. Sie strebten die völlige Zerschlagung der revolutionären Kräfte und die Errichtung ihrer Alleinherrschaft im gesamten Gebiet und an der Westfront an. Jedoch waren sich die verschiedenen Kräftegruppierungen im „Komitee" über das weitere Vorgehen nicht einig.Der Menschewik 2danov sah im „Komitee" die einzig existierende Macht in der Stadt, was eine falsche Beurteilung des realen Klassenkräfteverhältnisses war.127 Die Bolschewiki wußten, daß sich die konterrevolutionären Kräfte im „Komitee" nicht an die übernommenen Verpflichtungen halten würden. Deshalb unternahm das Nord-West-Komitee der SDAPR (B) energische Maßnahmen zur Mobilisierung der revolutionären Kräfte. Die Bolschewiki S. E. Scugin, P. N. Polukarov, G. V. Solov'ev u. a. fuhren an die Westfront, um die Soldaten für die Sache der Révolution zu aktivieren. In der Nacht vom 28. zum 29. Oktober sprach sich die bolschewistische Fraktion des Soldatenkomitees der II. Armee für den Minsker Sowjet aus und entsandte revolutionäre Truppen zur Unterstützung des RMK nach Minsk.128 Zur selben Zeit gelang es den Bolschewiki der Stadt, die Kavallerieabteilungen der Minsker Garnison zu neutralisieren.129 Hinzu kam, daß die Kerenskij-Krasnov-Meuterei am 30. Oktober bei Carskoe Selo eine Niederlage erlitt und der Moskauer bewaffnete Aufstand am 2. November siegte. Wichtig für den Verlauf der sozialistischen Revolution in Belorußland war die weitere Bolschewisierung der Soldaten der Westfront.130 Hierbei galt es vor allem, den Einfluß der menschewistisch-sozialrevolutionären Armeekomitees und des Frontkomitees zurückzudrängen. Ein erster Erfolg stellte der 2. Kongreß des Grenadier-Korps der II. Armee dar, der in Minsk tagte. Die Delegierten des Kongresses nahmen am 30. Oktober 1917 einen Beschluß über die Unterstützung der Sowjetmacht an. Am 1. November erschienen Vertreter dieses Kongresses vor dem „Komitee zur Rettung der Revolution" und bezeichneten das Auftreten des Armee- und Frontkomitees als Verrat an der Revolution. Sie Vgl. Velikaja Oktjabr'skaja socialisticeskaja revoljucija v Belorussii, Bd. 2, S. 46 ff. lz istorii ustanovlenija Sovetskoj vlasti v Belorussii, Bd. 4, S. 248. 126 Vgl. ebenda, S. 248 f. 127 vgl Poëanin, S. 55 f. 128 Vgl. Mine, Bd. 3, Moskau 1979, S. 614; Krutaleviö, Rozdenie, S. 36 f. 129 Vgl. Mine, Bd. 3, S. 335. 130 Zur allgemeinen Stimmung der Soldaten der Westfront vgl. Revoljucionnoe dvizenie v Russkoj armii, Sbornik dokumentov, Moskau 1968, S. 527 ff. 124 125

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forderten die Einberufung eines Armee- und Frontkongresses. Vom „Komitee" wurde verlangt, die „stattfindende Revolution" anzuerkennen. 131 Der Ubergang der Soldaten der II. Armee auf die Seite der Revolution wurde auf dem II. Außerordentlichen Kongreß vollzogen, der vom 1. bis 2. November 1917 in Nezviz, dem Schloß des Fürsten Radzivill, tagte. Die 211 Delegierten vertraten alle Teilkräfte der II. Armee. Di e Bolschewiki hatten die absolute Mehrheit unter den Teilnehmern.132 Die Delegierten des Kongresses erkannten den Rat der Volkskommissare an und übergaben dem neu gewählten EK der II. Armee die gesamte Macht. Am 2. November wurde hier ein RMK gebildet, zu dessen Vorsitzendem der Bolschewik N. V. Rogozinskij gewählt wurde. Am selben Tag gab das RMK den Befehl Nr. 1 heraus, in dem den Soldaten der Übergang der Macht an das RMK und die Herstellung einer revolutionären Ordnung innerhalb der II. Armee mitgeteilt wurde. 133 Das klare Bekenntnis der II. Armee zur Sowjetmacht war entscheidend f ü r den Kampf um die Macht in Minsk. In der Nacht zum 2. November trafen revolutionäre Abteilungen der II. Armee in der Stadt ein: ein Panzerzug, ein Bataillon des 60. Sibirischen Regiments und eine Flakbatterie. Dies führte zu einer wesentlichen Veränderung des Kräfteverhältnisses zugunsten der Bolschewiki.134 Dadurch war es ihnen möglich, konsequent an die Unterbindung der konterrevolutionären Tätigkeit des „Komitees" zu gehen. Am 2. November 1917 veröffentlichte die „Zwezda" den Aufruf „An die Arbeiter, Bauern, Soldaten und die gesamte Bevölkerung der Westfront", in dem das konterrevolutionäre Wesen des „Komitees zur Rettung der Revolution" aufgedeckt und der Austritt der Vertreter des Minsker Sowjets aus diesem Organ mitgeteilt wurde.133 Am selben Tag traten die Bolschewiki aus dem alten Frontkomitee aus und forderten die Bildung eines „revolutionären Frontkomitees". Das alte Frontkomitee verlor damit den letzten Einfluß unter den Soldaten. Im Minsker Stadtheater fand am Abend des 2. November eine erweiterte Sitzung des Minsker Sowjets sowie von Vertretern der Soldaten- und Werkkomitees statt. Die Mehrzahl der Teilnehmer unterstützte die von Mjasnikov vorgetragene Forderung der Bolschewiki nach d^r Zerschlagung des „Komitees" und der Machtübernahme durch den Sowjet. Diese Forderungen waren real, da sich das militärische Kräfteverhältnis durch die Anwesenheit gut bewaffneter Fronttruppen und die Minsker Rote Garde eindeutig zugunsten der revolutionären Kräfte verschoben hatte. Hinzu kam, daß die militärischen Kräfte des „Komitees" stark zusammengeschrumpft waren, da die Masse der Soldaten auf die Seite der Revolution übergegangen war und nur noch Offiziere hinter dem „Komitee" standen.136 131

Vgl. norin, V. G., 1917 god v Belorussii i na zapadnom fronte, Minsk 1917, S. 49. 132 vgl Velikaja Oktjabr'skaja socialisti6eskaja revoljucija v Belorussii, Bd. 2, S. 75, S. 136. 133 Vgl. ebenda, S. 86 f.; Gavrilov, L. M., Soldatskie komitety v Oktjabar'skoj revoljucii, Moskau 1983, S. 146 f. 134 Vgl. Iz istorii ustanovlenija Sovetskoj vlasti v Belorussii, Bd. 4, S. 255; Rudzickij, S. 18. 135 y g i jz istorii ustanovlenija Sovetskoj vlasti v Belorussii, Bd. 4, S. 259 f. 136 vgl. Pobeda. Sovetskoj vlasti v Belorussii, S. 274f.; Poöanin, S. 65; Ignatenko, Bednejäee, S. 325 f.

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Daher konnte in Minsk am 2. November 1917 erneut die Macht in die Hände des Sowjets ohne bewaffneten Aufstand übergehen. Auf der erweiterten Sitzung des Minsker Sowjets wurde das RMK der Westfront durch Vertreter der Soldaten erweitert.137 Es wurde das einzige Machtorgan in Belorußland und an der Westfront. Am 4. November wurde durch Befehl Nr. 5 der Kommissar der Provisorischen Regierung der Westfront, Zdanov, verhaftet und das „Komitee zur Rettung der Revolution" aufgelöst.138 Der Sieg der Sowjetmacht im Zentrum Belorußlands und der Westfront hatte große Bedeutung im Kampf um die Macht in den anderen Städten und in den Armeen der Westfront, wo bis Mitte November 1917 die Sowjetmacht errichtet wurde, wie Tabelle 3 zeigt. In Bobrujsk fanden Mitte November 1917 Neuwahlen zum Sowjet statt, in deren Ergebnis die Sowjetmacht errichtet wurde.139 Die kleinbürgerlichen Parteien hatten bereits vor qler Oktoberrevolution in Vitebsk ein „Militärbüro" zum Schutz der Bevölkerung vor Pogromen gebildet, in das auch die Bolschewiki ihre Vertreter entsandten. Am 27. Oktober bildeten die Bolschewiki ein RMK, und der neue Stadtkommandant, der Bolschewik N. S. Krylov, ließ die Post, den Telegrafen, den Bahnhof und die Brücken besetzen. Das „Militärbüro" und der unter kleinbürgerlichem Einfluß stehende Sowjet von Vitebsk protestierten gegen diese Maßnahmen. Deshalb nahm das RMK am 29. Oktober den Beschluß über die Liquidierung des konterrevolutionären „Militärbüros" und zur Durchführung von Neuwahlen an. Die Bolschewiki gingen aus den Anfang November 1917 durchgeführten Wahlen zum Sowjet als Sieger hervor. Der Sowjet von Vitebsk verwandelte sich in ein revolutionäres Machtorgan, zu dessen Vorsitzendem der Bolschewik Korelev gewählt wurde.140 Auf dem vom 11. bis 16. Dezember 1917 durchgeführten Gouvernements-Sowjetkongreß der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten des Gouvernements Vitebsk waren ca. 70 Prozent der 500 Delegierten Mitglieder der SDAPR (B). Das EK des Gouvernementssowjets setzte sich aus 55 Bolschewiki, sechs linken Sozialrevolutionären, zwei Anarchisten, einem Maximalisten und einem Parteilosen zusammen. Dieser Kongreß besiegelte die Errichtung der Sowjetmacht im Gouvernement Vitebsk.141 In Gomel' fand am 28. Oktober 1917 eine erweiterte Sitzung des Sowjets statt, wo sich die Mehrheit der Anwesenden für das revolutionäre Petrograd aussprach.142 Daher konnte L. M. Kaganovic am 24. Oktober dem ZK der SDAPR (B) berichten: „Uns gelang es, die Kontrolle über die Beförderung der Militärzüge zu errichten. Kein Transport wird von uns nach Petrograd oder Moskau durchgelassen. Die Stimmung der Garnison ist klar auf eine aktive Unterstützung des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten gerichtet."1'13 Den Beschluß vom 28. Oktober bestätigte der Stadt- und Kreisso'wjet zwei Tage später. In den Anfang bis Mitte November durchgeführten Neuwah

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