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German Pages 380 [381] Year 2022
JAHRBUCH FÜR GESCHICHTE
A K A D E M I E DER W I S S E N S C H A F T E N DER DDR ZENTRALINSTITUT FÜR GESCHICHTE
JAHRBUCH FÜR GESCHICHTE
Redaktionskollegium: Horst Bartel, Rolf Badstübner, Lothar Berthold, Ernst Engelberg, Heinz Heitzer, Fritz Klein, Dieter Lange, Adolf Laube, Walter Nimtz, Wolfgang Rüge, Heinrich Scheel, Hans Schleier, Wolfgang Schröder Redaktion: Wolfgang Schröder (Verantwortlicher Redakteur), Gunther Hildebrandt (Stellv.), Dietrich Eichholtz, Jutta Grimann, Gerhard Keiderling, Klaus Mammach, Hans Schleier
ISSN 0448-1526
JAHRBUCH FÜR GESCHICHTE
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AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1982
Hinweis für Bibliotheken und ständige Bezieher: Band 24 des Jahrbuchs für Geschichte wurde von Wolfgang Rüge unter dem Titel „Studien zur Politik des deutschen Imperialismus von der Jahrhundertwende bis zum zweiten Weltkrieg" herausgegeben.
Redaktionsschluß: 15. Januar 1981
Erschienen im Akademie-Verlag, D D R - 1 0 8 6 Berlin, Leipziger Straße 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1982 Lizenznummer: 202 • 100/84/82 Gesamtherstellung: V E B Druckhaus „Maxim Gorki", 7400 Altenburg Bestellnummer 753 833 4 (2130/25) • L S V 0285 Printed in G D R DDR 2 5 , - M
Inhalt
Johannes Irmscher
Friedrich August Wolf als Vertreter aufklärerischen Geschichtsdenkens
Günter Mühlpfordt
Völkergeschichte statt Fürstenhistorie. Schlözer als Begründer
7
der kritisch-ethnischen Geschichtsforschung
23
Hans-Peter Jaeck
Marx' „Kreuznacher Exzerpte"
73
Horst Schlechte
Derelementaren Assoziationsgedanke bei Karl Marx und in den Anfängen der Arbeiterbewegung
111
Manfred Weien
Bürgerlicher Parlamentarismus und Arbeiterbewegung. Zur Entwicklung der Parlaments- und Wahlkampftaktik der internationalen Arbeiterbewegung von der Herausbildung der II. Internationale bis zu ihrem Züricher Kongreß
139
Eckhard Müller
„Sozialismus und Landwirtschaft". Eduard David und der Agrarrevisionismus
181
Matthias John
Karl Liebknecht im „Roten Rathaus". Sein Wirken in ständigen und zeitweiligen Ausschüssen sowie in Deputationen der Berliner Stadtverordnetenversammlung 1901—1913
215
Guntolf Herzberg
Historismus: Wort, Begriff, Problem und die philosophische Begründung durch Wilhelm Dilthey
259
Hans Schleier
Karl Schmückles Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen deutschen Historismus
305
Konrad Irmschler
Zur Genesis der theoretisch-methodologischen Konzepte von Sozial-, Struktur- und Gesellschaftsgeschichte in der bürgerlichen Historiographie der BRD
341
Autorenverzeichnis
377
Abkürzungen
BzG DZfPh GdA GG GWU HZ IML/CPA IML/ZPA JbfW JbGUdSSR JbG JbGSLE MEW StAD StAP SW WZ Z£G ZStAM ZStAP
Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung Deutsche Zeitschrift für Philosophie Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 1966 Geschichte und Gesellschaft, Göttingen Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Stuttgart Historische Zeitschrift, München Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU, Moskau, Zentrales Parteiarchiv Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin, Zentrales Parteiarchiv Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte Jahrbuch für Geschichte der UdSSR und der volksdemokratischen Länder Europas Jahrbuch für Geschichte Jahrbuch für Geschichte der sozialistischen Länder Europas Marx/Engels, Werke, 1956 ff. Staatsarchiv Dresden Staatsarchiv Potsdam Sowj etwissenschaf t Wissenschaftliche Zeitschrift Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zentrales Staatsarchiv, Merseburg Zentrales Staatsarchiv, Potsdam
Die Werke Lenins werden nach der 40bändigen Ausgabe des Dietz Verlages, 1956—1965, zitiert. Soweit nicht anders angegeben, ist der Erscheinungsort Berlin.
Johannes
Irmscher
Friedrich August Wolf als Vertreter aufklärerischen Geschichtsdenkens
Wenn wir, Franz Mehring folgend, die europäische Aufklärung nach ihrem sozialen Gehalt als die „Selbstverständigung der bürgerlichen Klassen über ihre Lebensinteressen"1 bestimmen, so ergibt sich aus einer derartigen Selbstverständigung, daß der Geschichte im wissenschaftlichen Denken jener Epoche eine gewichtige Funktion zufiel. In der Tat hat die Aufklärung, wohin auch immer ihre Wirkungen reichten, eine Blüte der Geschichtsschreibung heraufgeführt, ja die moderne bürgerliche Geschichtsschreibung recht eigentlich begründet. Vordem stand die Historie entweder im Dienste des Staatsrechts, als dessen Nebenund Ergänzungsdisziplin sie angesehen wurde, 2 oder sie hatte als ausgesprochene oder unausgesprochene Ancilla der Theologie, die Quellen unkritisch-antiquarisch ausschreibend und ihre theoretischen Konzeptionen aus dem alttestamentlichen Danielbuch, der neutestamentlichen Apokalypse oder Augustinus' „Gottesstaat" schöpfend, das auf die biblische Uberlieferung gegründete Geschichtsbild zu verfestigen. „Die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik . . . Es ist also die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren."3 In solchem Sinne war die Geschichtsforschung der Aufklärung gekennzeichnet durch die kritische Frage nach den Ursprüngen der positiven Uberlieferungen in Staat, Recht und Religion und zugleich durch die Suche nach der Wahrheit des Diesseits. Die um ihre Emanzipation ringende Bourgeoisie reflektierte in ihrer Geschichtsschreibung ihr eigenes ökonomisches und politisches Prozedieren in einem Zeitalter, das durch immer neue Entdeckungen und Erfindungen den menschlichen Gesichtskreis ungeheuer erweitert hatte. Sie suchte nach Gesetzmäßigkeiten der geschichtlichen Entwicklung und fand Deutungen und Erklärungen des historischen Geschehens in der bewußten, planmäßigen und berechnenden Wechselwirkung individueller Kräfte. Die Forderung nach historisch begründeten Normen, die aus den Ideen des Naturrechts, der natürlichen Moral und der natürlichen Religion hergeleitet
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Mehring, Franz, Die Lessing-Legende. Zur Geschichte und Kritik des preußischen Despotismus und der klassischen Literatur, Berlin 1953, S. 415. Schilfert, Gerhard, Deutschland von 1648 bis 1789 (Vom Westfälischen Frieden bis zum Ausbruch der Französischen Revolution), Berlin 19622, S. 150 f. Marx, Karl, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, in: MEW, Bd. 1, S. 378 f.
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Johannes lrmscher
werden sollten, ergab sich aus den angedeuteten Kriterien mit Notwendigkeit. 4 Angesichts der unmittelbar gegenwartsbezogenen Orientierung der Geschichtsschreibung der Aufklärung spielte die Antike in ihr nicht die erste Rolle; sie gewann jedoch Bedeutung für das neue welthistorische Konzept, welches auf Überwindung des aus dem Mittelalter überkommenen und vom Althumanismus nur wenig korrigierten Geschichtsbildes und auf eine Säkularisierung 5 der gesamten Geschichte mit Einschluß der biblischen und antiken tendierte. Erheblich größeres Gewicht noch als für die Prägung des Geschichtsbildes hatte die Antike in der Aufklärung f ü r die Gestaltung des politischen Ideals und Menschenbildes sowie für die Entwicklung der entsprechenden pädagogischen Leitbilder. Dabei werden für die einzelnen Völker bemerkenswerte Differenzierungen sichtbar. 6 Im Frankreich des 17. Jh. bestritt man in Anbetracht des Wachstums der industriellen Produktivkräfte, für deren technologische Umsetzung die Schriften des Altertums keine Handhaben mehr zu geben vermochten, den kulturellen Primat der Antike. Entsprechend wurde in der über lange Zeit geführten „Querelle des anciens et des modernes" das ästhetische „Vorurteil des Altertums" profund kritisiert. Gleichzeitig aber avancierte, bei Montesquieu zum Beispiel, die Respublica Romana libera, die römische Republik, zum Inbegriff gesellschaftlicher Norm — als Gegènbild gegen den Traditionsbezug des feudalabsolutistischen Staates auf das kaiserzeitliche Imperium —, und durchaus folgerichtig drapierten sich die Akteure der Grande Révolution als „Brutusse, Gracchusse, Publicólas". 7 Im ökonomisch und sozial fortgeschrittenen England, das auf sein drängendes Problem der gesellschaftlichen Arbeitsteilung in der Staatsordnung der Alten vergeblich nach Anregungen und Hilfen suchte, konstatierte demgemäß ernüchtert der Aufklärungsphilosoph Adam Ferguson: „Mitten in unseren Lobpreisungen der Griechen und Römer werden wir . . . daran erinnert, daß keine menschliche Einrichtung vollkommen ist." 8 Das Antikeverhältnis 9 der deutschen Aufklärung war wesentlich bestimmt durch das als stammverwandt angesehene Griechentum. Winckelmann und Lessing und nach ihnen die Klassiker Herder, Schiller und Goethe rühmten die Hellenen des Altertums als geistig und körperlich voll entwickelte, freie und schöpferisch tätige Bürger eines demokratischen Staates und entnahmen diesem in eine ferne Vergangenheit versetzten Idealbild die Elemente, deren das progressive Bürgertum zu seiner Selbstbefreiung bedurfte: Opposition und Widerstand gegen Feudalis4
Die knappgefaßte Übersicht von Troeltsch in: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, hrsg. von Albert Hauck, Bd. 2, Leipzig 18973, S. 231 f., vermag noch immer Anregungen zu vermitteln. b Die — richtige — Formulierung bei Fueter, Eduard, Geschichte der neueren Historiographie, hrsg. von Dietrich Gerhard und Paul Sattler, München/Berlin 1963®, S. 336. « lrmscher, Johannes, Das Antikebild unserer Gegenwart. Tendenzen und Perspektiven, Berlin 1979, S. 5 f. 7 Marx, Karl, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW, Bd. 8. S. 116. 8 Ferguson, Adam, Abhandlung über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Jena 1904, S. 260. s Zum Terminus vgl. lrmscher, Johannes, Probleme der Aneigung des antiken Erbes, Berlin 1976, S. 8.
Friedrich August Wolf
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mus und Klerisei sowie Diesseitigkeit, Demokratismus und Volksverbundenheit. 10 Daß das allen solchen Vorstellungen zugrunde liegende Antikebild in starkem Maße idealisiert und stilisiert war, blieb seinen Repräsentanten nicht unbekannt, da diese ja zu allermeist mit dem historischen Erkenntnisstand wohlvertraut waren und dessen Mehrung mit Aufmerksamkeit verfolgten; das Antikebild einer bestimmten Klasse für eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Ort wird indes nicht nur durch den Progreß der Fachwissenschaft, sondern gleichermaßen durch Antikerezeption geprägt: die klassengebundene, reflektierte, auswählende Aufnahme antiken Kultur- und Ideengutes im Dienste an Aufgaben der eigenen Gegenwart. 11 Naturgemäß förderte ein so intensives, auf den gesellschaftlichen Fortschritt orientiertes Antikeverhältnis, wie es die Aufklärung zumal in Deutschland an den Tag legte, die gelehrte Beschäftigung mit dem griechisch-römischen Altertum, die ihrerseits ebenso aus den Erfahrungen der Lebenspraxis Anregungen empfing, wie sie selbst diese Praxis befruchtete. Dabei gehörte es zu den herausragenden Leistungen der Epoche, daß sie sich nicht damit begnügte, die einzelnen Phänomene zu durchforschen und in ihre speziellen Zusammenhänge zu rücken, sondern daß sie überdies nach dem Gegenstand, der Abgrenzung und der Zielvorstellung altertumswissenschaftlicher Arbeit fragte. In Friedrich August Wolf (1759—1824), der für seine Zeit zum Philologen par excellence geworden war 12 , gipfelten diese Bestrebungen. Ausgehend von den ideologischen Bedürfnissen der Aufklärung, formulierte Wolf seine Konzeption der klassischen Studien; durch sie wurde das Antikebild der deutschen Klassik fachwissenschaftlich fundiert und damit das klassische Bildungs- und Persönlichkeitsideal wesentlich mitgeprägt, gleichzeitig aber auch der Weg gewiesen auf die unter dem Signum des bürgerlichen Historismus im Verlaufe des 19. Jh. erblühende griechisch-römische Altertumskunde. 13 Friedrich August Wolf wurde am 15. Februar 1759 als Sohn eines wissenschaftlich interessierten Lehrers in Hainrode, einem südlich von Nordhausen an der Hainleite gelegenen Dorfe, geboren.14 Er absolvierte, sich weitgehend autodidaktisch bildend, das Gymnasium in Nordhausen und bezog 1776 die Universität Göttingen. Diese Wahl war zweifelsohne durch äußere Umstände bestimmt — für den unbemittelten Lehrerssohn kam eben nur die nächstgelegene Hochschule in Betracht 15 —, sie erwies sich indes zugleich für die geistige Entwicklung Wolfs als bedeutsam. Denn die 1737 nach den Plänen des Freiherrn Gerlach Adolf von lu
Dazu Hecht, Wolf gang, Das Persönlichkeitsideal von Aufklärung und Klassik, in: Irmscher, Johannes, Das Ideal der allseitig entwickelten Persönlichkeit — seine Entstehung und sozialistische Verwirklichung, Berlin 1976, S. 53 f. 11 Irmscher, Probleme, S. 7. 12 Vgl. den Titel der Biographie von Körte, Wilhelm, Leben und Studien Friedr. Aug. Wolf's, des Philologen, 2 Bde., Essen 1833. " Irmscher, Ideal, S. 57. 14 Ich nutze hier und im folg., ohne das im einzelnen anzugeben, Irmscher, Johannes, Friedrich Avgust Vol'f — osnovatel' nauki i klassiCeskoj drevnosti, in: Vestnik drevnej istorii, 1974, 3, S. 20 ff. 15 Körte, Bd. 1, S. 39.
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Johannes Irmscher
Münchhausen im Dienste aufklärerischer Bildungskonzeptionen ins Leben getretene Georgia Augusta 16 wurde zur vornehmlichen Pflanz- und Pflegstätte des sogenannten älteren Neuhumanismus, dessen Pädagogik den Altsprachenunterricht von der wesentlich formalen Eloquenz und bloßen Imitation des althumanistischen Schulbetriebes auf die durch die antiken Klassiker vermittelten Inhalte hinwandte. 17 Die Forderung nach einem auf Gleichheit beruhenden Zusammenleben in der bürgerlichen Gesellschaft sollte durch die Beschäftigung mit der griechischen Polis ihre historische Bestätigung finden, das Studium der Sprachen, oftmals in Verbindung mit dem der Mathematik genannt, das selbständige, logische Denken anregen, die Lektüre der klassischen Schriftsteller Urteil, Geschmack, Geist und Einsicht bilden. Die Altertumsstudien waren dazu bestimmt, allgemeine und, wie man im Jargon der Zeit formulierte, elegante Bildung zu vermitteln in der Gestalt, in der ihrer der zukünftige Gelehrte, Beamte, Geistliche oder Lehrer bedurfte. Als Repräsentant der neuen Bildungsbestrebungen hatte an der Göttinger Universität von deren Gründung an Johann Matthias Gesner (1691—1761) gewirkt, als klassischer Philologe18 nicht minder bedeutend denn als Pädagoge. Nach überaus erfolgreicher Tätigkeit als Lehrer und als Rektor, zuletzt an der Leipziger Thomasschule, die er zur Musteranstalt entwickelte, rief Gesner in Göttingen das Seminarium philologicum ins Leben, um die Verselbständigung der Philologie, aber auch die Emanzipation des Philologenberufes von dem des Theologen voranzubringen. Der seiner selbst bewußt gewordene Philologe sollte seine Schüler an die antiken Autoren heranführen als an „die größten und edelsten Seelen, die je gewesen"19, um durch solchen intellektuellen Verkehr mit den Alten eigene Leistungen in Philosophie und Wissenschaft, in den Künsten und in der Literatur vorzubereiten. Gesners 1763 ernannter Nachfolger auf dem Göttinger Lehrstuhl war Christian Gottlob Heyne (1729—1812).20 Der Leinewebersohn aus dem damaligen Chemnitz wurde nach entbehrungsreichen Lern- und Bildungsjähren zu einer der hervorragendsten Gelehrtenpersönlichkeiten seines Säkulums, zum Ersten unter den Philologen, zum Bahnbrecher des modernen Bibliothekswesens, zum Wissenschaftsorganisator von hohem Rang, aber auch, was nicht weniger gewichtig ist, zum väterlichen Freund, Vertrauten und Schwiegervater des deutschen Jako,B
Die Materialien bei Rössler, Emil F., Die Gründung der Universität Göttingen, Göttingen 1855; unzulänglich XJnger, Friedrich Wilhelm, Göttingen und die Georgia Augusta, Göttingen 1861, S. 69 ff. 17 Rausch, Erwin, Geschichte der Pädagogik und des gelehrten Unterrichts, Leipzig 19052, S. 118 f.; Geschichte der Erziehung, Berlin 19677, S. 175 f. •1B Bursian, Conrad, Geschichte der classischen Philologie in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart, München/Leipzig 1833, S. 387 ff. Über Gesner als Vorgänger Wolfs vgl. Wach, Joachim, Das Verstehen. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19. Jahrhundert, Bd. 1, Tübingen 1926, S. 65. la Zit. nach Rausch, S. 120. w Heeren, Arn. Herrn. Lud., Christian Gottlob Heyne, Göttingen 1813. Jubiläumsartikel von Döhl, Hartmutj Schindel, Ulrich, in: Göttinger Tageblatt, 26.9.1979.
Friedrich August Wolf
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biners Georg Forster, dem er auch dann noch die Treue hielt, als die meisten andern sich von ihm abkehrten.21 Heyne baute das Gesnersche Seminarium philologicum weiter aus; der ebenso für seine Aufgabe begeisterte wie in ihrer Verfolgung wirksame akademische Lehrer suchte es zur Pflanzstätte von Philologengenerationen, die seine Auffassungen in die Schulpraxis weitertrügen, zu entwickeln; in der Tat gehörten neben Wolf, wovon noch die Rede sein wird, der klassische Homerübersetzer und konsequente Verfechter der Aufklärung, Johann Heinrich Voß, die Wegbereiter der Romantik August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel sowie der Staatsmann und Sprachforscher Wilhelm von Humboldt zu den Schülern Heynes. Gegenüber seinem Vorgänger richtete Heyne zusätzlich die Aufmerksamkeit auf Archäologie und Kunst, äuf Mythologie und Kulturgeschichte. Er hat damit die griechisch-römischen Studien in ihrer Totalität erfaßt, sie dank dem ihm innewohnenden historischen Sinn vor antiquarischer Erstarrung bewahrt22 und zugleich den nächsten Schritt zu ihrer Umfangs- und Zweckbestimmung vorbereitet. Im Sinne jener eben gekennzeichneten Bestrebungen ließ sich Friedrich August Wolf, wohlwollenden Abmahnungen Widerstand leistend, 1777 in Göttingen als Studiosus philologiae immatrikulieren.23 Er war nicht, wie spätere Legende es wollte, der erste, der auf solche Klarheit drang24; und dennoch bedeutete es einen einsichtsvollen Entschluß des 18jährigen, wenn er so nachdrücklich die Selbständigkeit seines Faches demonstrierte25, das landläufig lediglich als Propädeutik für Theologie und Jurisprudenz angesehen wurde. Sein Studium betrieb Wolf freilich in sehr wesentlichem Ausmaß privatim, und auch im Heyneschen Seminar hat er nur ein paarmal hospitiert.26 Dessenungeachtet empfahl ihn der Meister für das Pädagogium zu Ilfeld.27 Die nächste Station der schulpraktischen Bewährung bildete die Stadtschule zu Osterode am Harz28, von der aus Wolf 1783 als Professor für Philologie und Pädagogik an die Universität Halle berufen wurde. Deren Physiognomie hatte zu Beginn des Jahrhunderts die Aufklärungsphilosophie von Christian Thomasius und Christian WolfE geprägt29, ferner der lrmscher, Johannes, Georg Forster und Gibbon, in: Bursian, Jan/Vidman, Ladislav, Antiquitas Graeco-Romana ac tempora nostra. Acta congressus internationalis habiti Brunae diebus 12-16 mensis Aprilis MCMLXVI, Praha 1968, S. 143. 2 2 Ähnlich Wilamowitz-Moellendorff, U. von, Geschichte der Philologie. Nachdruck der 3. Aufl., Leipzig 1959, S. 45. 20 Seine eigene Begründung bei Reiter, Siegfried, Friedrich August Wolf. Ein Leben in Briefen, Bd. 2, Stuttgart 1935, S. 339. 24 Kern, Otto, Friedrich August Wolf als hallischer Professor, in: Thüringisch-sächsische Zeitschrift für Geschichte und Kunst, 24,1936, S. 87 fi. 20 Amoldt, J. F. J., Fr. Aug. Wolf in seinem Verhältnisse zum Schulwesen und zur Paedagogik, Bd. 1, Braunschweig 1861, S. 26. '*> Ebenda, S. 29 f. 27 Ebenda, S. 30 f. Ebenda, S. 60 ff. Vgl. die Beiträge von Mende, Georg, Freydank, Hanns, Schubart-Fikentsdier, Gertrud, Mühlpfordt, Günter und Ahrbeck, Hans, in: 450 Jahre Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Bd. 2, Halle 1952, S. 1 ff. 21
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Irmscher
weitwirkende Pietismus August Hermann Franckes 30 und endlich der Philanthropismus Johann Bernhard Basedows31, in Halle seit 1779 vertreten durch Ernst Christian Trapp 32 , in dessen Professur Wolf zunächst eintrat. Wolf hat sein akademisches Amt bis zum Jahre 1806, bis zur Schließung der Universität durch Napoleon, innegehabt und in diesen Jahren eine fruchtbare, bleibende Ergebnisse zeitigende Wirksamkeit entfaltet. Friedrich August Wolf wollte in erster Linie Lehrer der studentischen Jugend sein. Rückschauend äußerte er sich 1816 gegenüber Wilhelm vom Humboldt, das Schreiben werde für den beschwerlich, „dem einmal der Mund fertiger oder doch kühner geworden ist als die Feder, weil er aus seinen Alten den Labor scribendi et laboris occultandi" (Die Mühe, zu schreiben und die Mühe zu verbergen) „kennen und an den Schriftsteller mehr Ansprüche machen gelernt, als er selbst erfüllen zu können hoffte", und er habe für seine Person „niemals Schriftsteller, sondern Lehrer sein" wollen33; damit bestätigte er, was er 1794 in einem Briefe an den Leidener Philologen David Ruhnken, den Princeps criticorum seiner Epoche34, ausgesprochen hatte: „Docendo aliquanto plus quam scribendo delector" 35 (Am Lehren habe ich erheblich mehr Freude als am Schreiben). Wolf las für gewöhnlich 14 Wochenstunden im Sommer und 17 Wochenstunden im Winter, wobei ihm der deutsche wie der lateinische Ausdruck mit gleicher Leichtigkeit zur Verfügung stand.36 An die Stelle aufgespeicherter Gelehrsamkeit, wie sie den traditionellen Lehrvortrag kennzeichnete, trat die eingängige, anmutige Darstellung, die trotzdem mit scharfer Kritik und beißendem Spott nicht sparte und immer neu eine stattliche Schar von Hörern anzuziehen vermochte. Wolfs hohe Schätzung als Orator, der „das Einzelne an die Jugend methodisch und eingänglich überliefere", weckte in Goethe, der zu Wolf seit dem Sommer 1795 in freundschaftlichem Verkehr stand37, den Wunsch, Ohrenzeuge jener Vorlesungen zu werden. Durch Wolfs Tochter vermittelt, hörte er daher mehrfach, hinter einer Tapetentüre versteckt, die Vorträge des Meisters an und fand dabei alles, was er von ihm erwartet hatte, „in Tätigkeit": „eine aus der Fülle der Kenntnis hervortretende freie Überlieferung, aus gründlichstem Wissen mit Freiheit, Geist und Geschmack sich über die Zuhörer verbreitende MitVgl. die Beiträge von Selbmann, Erhard und Ahrbeck, Hans, ebenda, S. 59 ff. Geschichte der Erziehung, S. 168 it. 32 Ahrbeck-Wothge, Rosemarie, in: Studien über den Philanthropismus und die Dessauer Aufklärung, Halle 1970, S. 85; Paulsen, Friedrich, Geschichte des gelehrten Unterrichts an den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart, Bd. 2, Leipzig 18972, S. 55 ff. 33 Wolf, Fr. Aug., Kleine Schriften in lateinischer und deutscher Sprache, hrsg. von G. Bernhardy, Bd. 2, Halle 1869, S. 1019. 34 Wilamowitz-Moellendorff, S. 39. 351 Zit. nach Arnoldt, S. 112, und Reiter, Siegfried, Friedrich August Wolf, in: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur, 7, 1904, S. 93. 38 Baumeister, A., Wolf, in: Allgemeine deutsche Biographie, Bd. 23, Leipzig 1838, S. 740 ff. 31 Bernays, Michael, Goethes Briefe an Friedrich August Wolf, Berlin 1868, S. 2. M
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Friedrich August Wolf
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teilung". 38 In solcher Weise behandelte Wolf nahezu alle Gegenstände der Altertumswissenschaft, die zentralen Dichter und Prosaiker, die Literaturgeschichte insgesamt, aber auch politische Geschichte, Chronologie und die sogenannte Antiquitates („Altertümer"), d. h. die Materialien der verschiedenen Zweige der Kulturgeschichte, ferner Mythologie und Numismatik, vor allem aber die in unserm Zusammenhang wichtige Enzyklopädie der Philologie39, von der noch weiter unten die Rede sein wird. Sein 1787 eröffnetes philologisches Seminar 40 , in dem als ein Novum die genaue, sinnfällige Übersetzung ins Deutsche gepflegt wurde, gestaltete sich unter solchen Bedingungen zur wahrhaften Pflanzstätte für zukünftige Gelehrte wie für zukünftige Gymnasiallehrer, deren Verselbständigung gegenüber der Theologie als eine Forderung der Aufklärung nunmehr vollkommen vollzogen war. 41 Als Mitglied des Senats der Hallenser Alma mater hatte Wolf häufig zu hochschulpolitischen Problemen gutachtlich Stellung zu nehmen; seine Äußerungen über Fragen der studentischen Erziehung und Ausbildung, über Eigenschaften und Aufgaben des akademischen Lehrers, über die Qualifizierung des wissenschaftlichen Nachwuchses, über die Körpererziehung der Studenten wiesen mitunter weit über ihre Zeit hinaus. 1802 wurde Wolf dazu noch das Amt des Oberbibliothekars, d. h. des Bibliotheksleiters, übertragen. Da er vom eigenen Bildungsgang her die Selbsttätigkeit als das entscheidende Fundament für die Entwicklung von Wissenschaftlerpersönlichkeiten erkannt hatte, schuf er, auch darin seiner Epoche vorauseilend, günstige Voraussetzungen f ü r die Bibliotheksbenutzung durch die Studenten, die er ermunterte, von ihren Rechten ausgiebig Gebrauch zu machen. Die schriftstellerische Tätigkeit Wolfs in Halle stand wesentlich unter delm Signum seiner pädagogischen Aktivitäten. Zu seinen Vorlesungen ließ er Inhaltsübersichten von zwei bis drei Bogen Umfang drucken 42 , um das aus der mittelalterlichen Universität überkommene mechanische Nachschreiben überflüssig zu machen und die Studierenden zu produktiver Mitarbeit anzuregen. Auch die lateinischen Vorreden zu den halbjährlich herausgegebenen Vorlesungsverzeichnissen43, die Wolf von 1784 bis 1806 als Professor der Beredsamkeit abzufassen hatte, wurden wesentlich durch hochsehulpädagogische Aspekte bestimmt. Ein Teil behandelte die Methode des Universitätsstudiums und der akademischen Lehre, aber auch die späteren Programme philologischen Inhaltes, die kritisch oder hermeneutisch erklärungsbedürftige Stellen antiker Autoren zum Ausgangspunkt nahmen, ließen das pädagogische Moment unverändert deutlich werden. 44 38
Grumach, Ernst, Goethe und die Antike. Eine Sammlung, Bd. 2, Potsdam 1949, S. 943 f. 3» Baumeister, S. 741. w Wolfs „Idee eines Seminarii philologici" nach den Hallenser Rektoratsakten hrsg. von Otto Kern: Friedrich August Wolf, Halle 1924, S. 33 fE. 41 Ahnlich auch Dilthey, Wilhelm, Studien zur Geschichte des deutschen Geistes, Leipzig 19423, S. 163. Vi Baumeister, S. 741. « Nachgedruckt in Wolf, Kleine Schriften, Bd. 1, S. 21-130. « Arnoldt, S. 76 f.
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Johannes Irmscher
Wolfs Initiativen kennzeichnete der Rationalismus der erzieherischen Bestrebungen der Aufklärung. 45 In deren Zeichen standen auch die Textausgaben, die er, mit Einleitungen 46 und teilweise mit Kommentaren versehen, zur Unterstützung seiner Vorlesungen erscheinen ließ.47 Auch die Homerische Ilias sollte in solchem Zusammenhang neu vorgelegt werden, und ebendieses Projekt gab die Veranlassung zu den 1795 herausgekommenen „Prolegomena ad Homerum" — aus der üblicherweise kurzgefaßten Präfation war angesichts der Problemfülle, die der behandelte Text an die Philologie richtete, ein ganzes Buch geworden. Das Werk zeugt von dem kritischen und zugleich von dem historischen Sinn aufklärerischen Denkens, den die Büste Lessings symbolisierte, das einzige Standbild, das Wolfs Hörsaal zierte.48 Gewiß war die sogenannte Homerische Frage, die Frage nach dem Dichter der unter dem Namen Homeros gehenden Epen und ihrer Entstehungsart 49 , schon in der Antike aufgeworfen und als ein Beiwerk im Verlaufe der französischen Quer elle des anciens et des modernes 1664 durch François Hédelin d'Aubignac maßgeblich formuliert worden 50 ; für Deutschland dagegen war sie neu und für die zumal durch Herder aufgeworfenen ästhetischen Problemstellungen der deutschen Klassik höchst aktuell. Obgleich er lediglich die Thematik, an der sich die Geister sogleich zu scheiden begannen, in allen ihren Konsequenzen scharfsinnig vor Augen führte und keineswegs bereits probable Wege zu ihrer Bewältigung wies, machte die Schrift Wolf zum unbestrittenen Princeps der Philologen in seiner Zeit und brachte ihm ehrenvolle Berufungen ein.51 Was aber war das Neue, das dem in höchst gelehrter Diktion abgefaßten, in seiner Thematik allein den Fachmann ansprechenden Buch eine so breite Ausstrahlung ermöglichte? Zum ersten setzte Wolf bei der Vorarbeit für die Gestaltung des Homertextes das historische Prinzip und damit ein wesentliches Postulat seiner Epoche durch; zum zweiten aber behandelte er die Geschichte dieses Textes in den Zusammenhängen mit der politischen sowie vor allem mit der Kulturgeschichte, deren Themenstellungen dem Zeitgeist entgegenkamen. Während vordem die Textkritik wesentlich nach dem mehr oder minder ingeniösen Sprachgefühl des Forschers gehandhabt worden war, fragte Wolf zumindest in bezug auf den Homer nach den späteren Schicksalen seiner Textüberlieferungen und konstatierte in solchem Zusammenhang, daß es nach der Qualität jener Uberlieferung unmöglich ist, Homers dichterisches Werk „wieder auf den wahren und unverfälschten Text, wie er ursprünglich aus seinem göttlichen Munde geflossen ist, zu bringen". 52 Was allein möglich sei, ist die „Herstellung eines nach den Vorschriften des ge4i
> Geschichte der Erziehung, S. 138. Zum größten Teil nachgedruckt in Wolf, Kleine Schriften, Bd. 1, S. 131-424. 47 Baumeister, S. 742. 48 Arnoldt, S. 89. 49 Becher, Homeros, in: Irmscher, Johannes, Lexikon der Antike, Leipzig 19794, S. 241 f. 60 Schmid, Wilhelm/Stählin, Otto, Geschichte der griechischen Literatur, Bd. 1/1, München 1929, S. 133 f. 81 Baumeister, S. 742 ff.; Kern, S. 106. 52 Wolf, Friedrich August, Prolegomena zu Homer, Leipzig 1908, S. 63. 40
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lehrten Altertums verbesserten Homertextes, und zwar nach Ausdruck, Interpunktion und Akzentuierung etwa in der Fassung, wie er, nach den bewährtesten Rezensionen umgestaltet", „einem Longinus 53 oder einem anderen alten Kritiker, welcher die Bücherschätze der Alexandriner mit Kenntnis und feinem Takt zu benutzen wußte, einigermaßen gefallen haben würde". 54 Diese Homerrezension der Alexandriner, die in der Tat die früheste Gestalt des Homertextes ist, welche die moderne Philologie zu erfassen vermag 55 , wurde von Wolf auf ihre Antezedenzien hin untersucht. Dabei kam er für die Frühzeit zu der — heute nicht mehr haltbaren — Auffassung, daß es vor dem Beginn der Olympiadenrechnung (776 v. u. Z.) in Griechenland keine Schrift gegeben habe 56 , und schlußfolgerte daraus, die Homerischen Gedichte seien nicht das Werk eines einzelnen Dichtergenies und auch nicht schriftlich aufgezeichnet gewesen, „sondern zuerst von den Dichtern im Gedächtnis ausgearbeitet und im Gesänge vorgetragen" und darauf „durch Rhapsoden, welche sich mit der Erlernung derselben mit Hilfe einer besonderen Kunst beschäftigten, durch den Vortrag unter das Volk gebracht" worden. 57 Die Homeranalyse des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jh. 58 hat die Thesen Wolfs, die fruchtbare Ansatzpunkte abgaben, vielfältig modifiziert ; Wolfs bleibendes Verdienst besteht darin, daß er von einer allein mit sprachlich-philologischen Mitteln betriebenen Konjekturalkritik den Weg zur modernen Textgeschichte wies, welche die Schicksale eines antiken Werkes in den jeweiligen historischen Bedingungen begreift und das Einzelphänomen stets in diesem tunfassenden Zusammenhang behandelt. Nicht weniger fruchtbar erwies sich Wolfs Hinweis auf die antike Volksepik als Vorstufe und Kontext Homerischer Dichtung, der die spätere vergleichende Epenforschung vorbereitete. Die preußische Niederlage bei Jena und Auerstedt und die gleich darauf folgende Schließung der Universität Halle durch den siegreichen Korsen brachten den entscheidenden Knotenpunkt in Friedrich August Wolfs Wirken; denn mit dem Fortfall der akademischen Lehrtätigkeit schien ihm das Lebenselement entzogen.59 In dieser fatalen Situation bewährte sich die bereits apostrophierte Freundschaft mit Goethe. Als Wolf in einem Briefe unverblümt seine Misere und die daraus resultierende Verzweifelung dargelegt hatte, antwortete Goethe unterm 28. November 1806 mit ermutigenden Worten: „Wie glücklich sind Sie in diesem Augenblick vor Tausenden, da Sie so viel Reichtum in und bei sich selbst finden, nicht nur des Geistes und des Gemüts, sondern auch der großen M
Der griechische Rhetor Longinos lebte im 3. Jh. in Palmyra; die im 1. Jh. entstandene literaturtheoretische Schrift eines Unbekannten „Über das Erhabene" wurde ihm fälschlich zugeschrieben (Kuhnert bei Irmscher, Lexikon, S. 327). 54 Wolf, Prolegomena, S. 77. » Schmid/Stählin, S. 172 f. m Wolf, Prolegomena, S. 99 ff. " Ebenda, S. 92. 58 Schmid/Stählin, S. 134 ff. ba Baumeister, S. 745. Aber auch für die Universität blieb die Tradition der klassischen Studien für längere Zeit unterbrochen; über ihre Wiederaufnahme vgl. Kern, Otto, Die klassische Altertumswissenschaft in Halle seit Friedrich August Wolf, Halle 1928.
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Johannes
Irmscher
Vorarbeiten zu so mancherlei Dingen, die Ihnen doch auch ganz eigen angehören." „Sie haben die Leichtigkeit, sich mitzuteilen, es sei mündlich oder schriftlich. Jene erste Art hatte bisher einen größeren Reiz f ü r Sie, und mit Recht. Denn bei der Gegenwirkung des Zuhörers gelangt man eher zu einer geistreichen Stimmung als in der Gegenwart des geduldigen Papiers. Auch ist die beste Vorlesung oft ein glückliches Inpromptu, eben weil der Mund kühner ist als die Feder. Aber es tritt eine andre Betrachtung ein. Die schriftliche Mitteilung hat das große Verdienst, daß sie weiter und länger wirkt als die mündliche und daß der Leser schon mehr Schwierigkeiten findet, das Geschriebene nach seinem Modul umzubilden, als der Zuhörer das Gesagte."60 Doch wollte sich Goethe nicht mit unverbindlichen Floskeln begnügen, vielmehr wußte er weiterführenden Rat: „Da Ihnen nun jetzt, mein Wertester, die eine Art der Mitteilung, vielleicht nur auf kurze Zeit, versagt ist, warum wollen Sie nicht sogleich die andere ergreifen, zu der Sie ein ebenso großes Talent und einen beinah reichern Stoff haben? Es ist wahr, und ich sehe es wohl ein, daß Sie in Ihrer Weise,-zu leben und zu wirken, eine Veränderung machen müßten; allein was hat sich nicht alles verändert, und glücklich der, der, indem die Welt sich umdreht, sich auch um seine Angel drehen kann! Neue Betrachtungen treten ein, wir leben unter neuen Bedingungen, und also ist es auch wohl natürlich, daß wir uns, wenigstens einigermaßen, neu bedingen lassen. Sie sind bisher nur gewohnt, Werke herauszugeben und die strengsten Forderungen an dasjenige zu machen, was Sie dem Druck überliefern. Fassen Sie nun den Entschluß, Schriften zu schreiben, und diese werden immer noch werthafter sein als manches andre! Warum wollen Sie nicht gleich Ihre Archäologie vornehmen und sie als einen kompendiarischen Entwurf herausgeben? Behandeln Sie ihn nachher immer wieder als Konzept, geben Sie ihn nach ein paar Jahren umgeschrieben heraus! Indessen hat er gewirkt, und diese Wirkung erleichtert die Nacharbeit. Nehmen Sie, damit es Ihnen an Reiz nicht fehle, mehrere Arbeiten auf einmal vor und lassen Sie anfangen zu drucken, ehe Sie sich noch recht entschlossen haben! Die Welt und Nachwelt kann sich alsdann Glück wünschen, daß aus dem Unheil ein solches Wohl entstanden ist. Denn es hat mich doch mehr als einmal verdrossen, wenn so köstliche Worte an den Wänden des Hörsaals verhallten." 61 Achtzehnmal hatte Wolf seine „Encyclopaedia philologica, in qua orbe universo earum rerum, quibus litterae antiquitatis continentur, peragrato singularum doctrinarum ambitus, argumenta, coniunctiones, utilitates, subsidia, denique recte et cum fructu tractandae cuiusque rationes illustratuntur" 62 (Enzyklopädie der Philologie, in welcher der gesamte Umkreis der in der antiken Literatur enthaltenen Gegenstände durchgegangen sowie Begriff, Inhalt, Zusammenhang Hauptzweck und Hilfsmittel der einzelnen Studiengebiete und schließlich die Art und Weise, ein jedes richtig und fruchtbringend zu behandeln, dargelegt werden) in Halle vorgetragen. Daß seine Thematik ein hohes Maß an Aktualität besaß, bewies einmal der Umstand, daß gegen den Willen ihres Autors Hörer der Bernays, S. 110. Ebenda, S. 110 f. "" Arnoldt, S. 80.
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Vorlesung gleichbenannte Grundrisse veröffentlichten 63 , und zeigte zum andern Goethes wohlbegründeter Vorschlag. Wolf griff diesen daher unverzüglich aul und brachte während des Winters 1806/07 — noch vor seiner im April 1807 erfolgten Abreise nach Berlin64 — seine „Darstellung der Altertumswissenschaft nach Begriff, Umfang, Zweck und Wert" 65 zu Papier. Für die Veröffentlichung schuf sich Wolf, frühere Pläne aufgreifend, in Gestalt des freilich nur kurzlebigen „Museums der Altertums-Wissenschaft" ein eigenes Periodikum, f ü r dessen Leitung er sich mit dem Berliner Gräzisten Philipp Buttmann verband. 66 Vorangestellt war dem ersten Bande, der 1807 in Berlin erschien, eine Widmung an Goethe, den „Kenner und Darsteller des griechischen Geistes", in der mit Emphase auf die Urverwandtschaft des Deutschen und des Hellenischen hingewiesen und von daher speziell dem deutschen Gelehrten die Aufgabe gestellt wurde, „überall der tiefere Forscher und Ausleger des aus dem Altertum fließenden Großen und Schönen" zu sein und zugleich solche Schätze zu gebrauchen, „um unter dem Wechsel wandelbarer öffentlicher Schicksale den Geist seiner Nation zu befruchten". 67 Es spricht aus dieser Introduktion sowohl das von Stolz und Zuversicht getragene Streben nach nationaler Wiedergeburt in der Epoche des staatlichen Niedergangs wie auch das Bedürfnis nach einer wissenschaftlich-theoretischen Begründung der ästhetischenPositionen der Weimar aner Klassik in ihrer Spätphase 68 , zu denen sich Wolf bereits durch seine Mitarbeit an Goethes Winckelmannschrift von 1805 — mit dem Beitrag „Winckelmann als Philologe" 69 — bekannt hatte. Und ebenso wie sich die Weimaraner Klassik bewußt war, daß für ihr Voranschreiten die Aufklärungsliteratur den Grund gelegt hatte 70 , war auch Wolfs Enzyklopädie der Altertumswissenschaft, welche das neue „Museum der Altertums-Wissenschaft" einleitete, Forschungsergebnissen und Denkanstößen der Aufklärung, die sich mit den neugefundenen klassizistischen Aspekten verbanden, in erheblichem Maße verpflichtet. Quae philologia videbatur, philosophia fiebat 71 (Was Philologie zu sein schien, wurde Philosophie). Ausgangspunkt des Verfassers war die dem vorangegangenen antiquarischen Polyhistorismus 72 durchaus fremde Frage nach rationaler Rechenschaft über Gegenstand, Aufgaben und Zweck der Altertumsstudien. Die einen wollten sie „der Geschichte und der sogenannten Sachkenntnisse halber" betrieben wissen, während andere 63
Wölf, Kleine Schriften, Bd. 2, S. 812; Bursian, S. 521. Erst nach Wolfs eigener Veröffentlichung erschien überflüssigerweise Gürtler, J. D., Fr. Aug. Wolf's Vorlesung über die Encyklopädie der Altertumswissenschaft, Leipzig 1831. Nestor, 5, Göttingen 1809, S. XXXII f.; Originalurkunden, 1, S. 422.
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Quellentext zu diesem Torso von 1 300 Seiten füllt in der Ausgabe von 1950 lediglich 47 Seiten.100 1809 nahm der Tod Schlözer die Feder aus der Hand. Er starb — um den Titel der Erinnerungen des sowjetischen Orientalisten I. J. Krackovskij zu variieren — ,über russische Handschriften gebeugt'. In seinem Nachlaß fanden sich an Rossica ein Manuskript über Peter I. und „Critica Russica". So hat Schlözer den starken Widerhall seiner Gedanken nach 1809 — im Zeichen des erstarkenden Nationalbewußtseins in Rußland und des nationalen Erwachens bei anderen Völkern — nicht mehr erlebt. In Rußland wurde sein „Nestor" sehr beifällig aufgenommen. Fiel dessen Erscheinen doch in eine Zeit der Hinwendung zur russischen Geschichte. Daher kam bald eine russische Übersetzung heraus. 101 Schlözers Werk wurde zum „Tagesgespräch der russischen gelehrten Welt . . . Jüngere und ältere Gelehrte wetteiferten seitdem, sich im Fache der vaterländischen Geschichte hervorzutun", besonders „als auf Schlözers Vorstellung . . . eine Gesellschaft der russischen Geschichte und Altertümer errichtet wurde". 102 S. M. Solov'ev, der Meister der russischen bürgerlichen Geschichtsschreibung im 19. Jh., dessen 29bändige „Geschichte Rußlands" in der Sowjetunion neu herausgegeben wird, rühmte an Schlözer „die strenge Kritik, die wissenschaftliche Erforschung der Einzelheiten . . . die Einsicht in die Unentbehrlichkeit... der historischen Hilfswissenschaften. Durch Schlözers Methode wurde die Geschichtswissenschaft auf festen Grundlagen gestellt." 103 Vor und nach Solov'ev hat sich ein umfangreiches russisches und sowjetisches Schrifttum mit Schlözer befaßt. So nutzte der führende sowjetische Auf klärungsforscher, Literatur- und Kulturhistoriker P. N. Berkov Schlözer als Quelle für sozialgeschichtliche Aussagen.104 Die sowjetische „Nestor"-Forschung ist wesentlich über Schlözer hinausgeschritten. Aber „viele seiner Ergebnisse sind bis heute gültig". 105 100
Schlözer, August Ludwig, Povest' vremennydi let, Bd. 1, hrsg. von D. Lichacev, Moskau 1950, S. 9-56; vgl. Bd. 2, Moskau 1950, S. 38, 143, 177,183 f.; Müller, Schlözer und die Nestor-Chronik, S. 139; Nestorchronik, hrsg. von Reinhold Trautmann, Leipzig 1931, S. 236 (Auswahl: Leipzig 1948, S. 7-11). 1U1 Russische Neuausgabe nach 100 Jahren: Slecer, A. L., Nestor, Petersburg 1909. m Originalurkunden, 1, S. 406-408. 103 Solov'ev, S. M„ Sobranie Soiinenij, Petersburg o. J., S. 1561: ders., Slecer, in: Russkij vestnik, 1856, 2, S. 511; 1857, 2, S. 433, 436 f.; vgl. Grothusen, Klaus Detlev, Zur Bedeutung Schlözers im Rahmen der slavisch-westeuropäischen Kulturbeziehungen; in: Rußland-Deutschland-Amerika. Festschrift Fritz Epstein, Wiesbaden 1978, S. 38, 41 (zu S. 37: Schlözers „Nestor" erschien ab 1802). — Auch der Sprachforschung kamen Schlözers Methode und Resultate zustatten (vgl. Buliö, S. K., Oöerk istorii jazykoznanija v. Rossii, Bd. 1, Petersburg 1904/Neudruck Leipzig 1980). — Vgl. Mühlpfordt, Günter, Deutsch-russische kulturelle Beziehungen im 18. Jh. (Rez.), in: JbGUdSSR, 4, 1960, S. 443. 104 Literatur in: Schlözer und Rußland, S. 5, 12, 17, 25, 33!, 39, und Zimin, S. 134, 136 f.; vgl. Winkler, Martin, Schlözers Studien zur russischen Geschichte, Diss. Leipzig 1920; Broker, Hans-Gerhard, Schlözers Rußland- und Slawenbild. Diss. Göttingen 1950/52; Lauer, Reinhard, Beziehungen der Göttinger Universität zu Rußland, in: Göttinger Jb., 21,1973, S. 219-241. ,ut> Zimin, S. 134 f.; Müller, Schlözer und die Nestor-Chronik, S. 139,149.
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Auch auf das deutsche Rußlandbild übte Schlözer eine nachhaltige positive Wirkung aus. Seine Autorität als Rußlandfachmann war im frühen 19. Jh. groß. Er galt als bester Kenner der „alten und neueren Russen".106 Dank diesem Ruf wurde er viel gelesen. So entlieh Goethe 1804—06 sowohl Schlözers „Nestor" wie die Rußlanderinnerungen. 1805 bat ihn Schiller um „Schlözers Nestor".107 Die folgenreichste Ausstrahlung Schlözers auf die Weimarer Klassik war die auf Herder. Dieser große Freund der slawischen Völker nannte Schlözers „Probe russischer Annalen" und dessen „Beilagen zum Neuveränderten Rußland" als seine Hilfsmittel, um auf Rußland einzuwirken. Herder wollte anhand der Schlözerschen Materialien die Zarenregierung bewegen, mehr für die Volksbildung zu tun („Rußland auf eine Kultur des Volkes hinzeigen, die sich so sehr belohne") und die „Kaiserin von Rußland . . . bei der Schwäche ihres Gesetzbuchs fassen".108 Schlözer hat bereits vor dem neun Jahre jüngeren Herder die slawische Geschichte gleichrangig neben die romanische und germanische gestellt. Herders berühmtes Slawenkapitel 109 erwuchs primär aus Schlözers Nordischer Geschichte mit ihrer Akzentuierung der ethnischen Einheit und historischen Bedeutung des Slawentums. Trotz Kontroversen zwischen beiden ging Herders Kenntnis der Völkergeschichte Ostmittel- und Osteuropas weitgehend auf Schlözer zurück. „Der Einfluß Schlözers auf Herder ist . . . noch längst nicht genügend untersucht und gewürdigt worden."110 Von Schlözer übernahm Herder auch eine vielerörterte Stelle seiner Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit: seine Prognose vom möglichen Untergang der ungarischen Sprache („nach Jahrhunderten wird man vielleicht ihre Sprache kaum finden"). Dieser Satz, der Herder den Ruf eines Ungarnfeindes eintrug, beruht in Wirklichkeit auf einem Schlözer-Zitat. Er steht fast wörtlich in dessen Nordischer Geschichte.111 Schlözer zitierte seinerseits einen ungarischen Autor des 16. Jh., Miklös Oläh.112 Oläh und ihm folgend Schlözer führte als Präzedenzfall das „Verschwinden der Sprache der Kumanen" (Polowzer) in Ungarn an. So waren Herders Anleihen bei Schlözer größer als bisher angenommen. Gerade weil Herder auf Schlözers Schultern stand, sah er noch weiter. Von Schlözers GeIUB Niebuhr an Dore Hensler, 16. 8. 1807, in Briefe Barthold Georg Niebuhrs, 1, Berlin 1926, S. 423; vgl. Ziegengeist, Gerhard, Niebuhrs russische Sprachstudien, in: Ost und West, S. 475. m Schiller an Goethe, 27. 2. 1805, in Schiller, Friedrich, Briefe, Bd. 3, Zeitz 1835, S. 350; vgl. Lehmann, Ulf, Slawische Studien Goethes, in: Ost und West, S. 468. 1U8 Herder, Johann Gottfried, Journal meiner Reise im Jahr 1769, in: Sturm und Drang, Bd. 1, Berlin 1978, S. 52 f.; vgl. Bd. 2,1978, S. 629. «« Grothusen, S. 39. I1U Lehmann, Ulf, Herder und die Slawen, in: Wissenschaftliche Mitteilungen der Historiker-Gesellschaft der DDR, Berlin 1977, 2, S. 41-61; Ziegengeist, Gerhard/Graßhoff, Helmut/Lehmann, Ulf, Herder und die slawischen Völker, in: Herder-Rezeption, S. 3 f., 7, 9, 27; Höpcke, Klaus, Zum Geleit, ebenda, S. VII. 1,1 Nord. Gesch., S. 248; Olahus, Nicolaus, Hungaria, Wien 1763, S. 91 ff. 112 Vgl. Rathmann, Janos, Herder und Ungarn, in: JbG, 19, 1979, S. 134-138 (statt „Cumanos" steht bei Schlözer korrekt Cumanorum). 4 Jahrbuch 25
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schichtsschreibung und Herders durch sie geprägter Geschichtsphilosophie ging eine positive deutsche und westeuropäische Einstellung zu den Völkern Ostmittelund Osteuropas aus, darunter ein realistischeres Rußlandbild. Zur Berichtigung des Rußlandbildes trugen auch vier deutsche Rußlandhistoriker aus Schlözers Schule bei: der Westfale Ewers, ein Gegner des ,Normannismus', nachmals Professor und Rektor der Universität Dorpat (Tartu), Lehrberg aus dieser Stadt, der Byzantinist Stritter und Krug aus Halle.113 Diese vier haben die quellenkritische Erforschung der altrussischen, südslawischen und byzantinischen Geschichte nach Schlözers Methode weitergeführt. Neben Deutschen befanden sich unter Schlözers Hörern, Lesern, Anhängern und Mitarbeitern Angehörige zahlreicher europäischer Völker. Besonders haben „die jungen Russen, die . . . in Göttingen studierten . . . Schlözer . . . viel Anhänglichkeit bewiesen". 1797 hielt Schlözer auf Wunsch „einer Gesellschaft junger Russen und Livländer . . . geschlossene Vorlesungen über Rußland, namentlich über ältere Geschichte von Rußland". Auch damit fand er großen Zuspruch, geriet aber in Verdacht, verbotene Dinge vorzutragen. Ein Verfahren wurde eingeleitet, eine der vielen amtlichen Untersuchungen gegen ihn. Als Zar Paul die Auslandsstudenten zurückbeorderte, mußte die Rußland-Sondervorlesung eingestellt werden. 114 Manche russischen Schüler Schlözers bekleideten später wichtige Stellungen. Inochodcev, Judin, Svetov wirkten an der Petersburger Akademie der Wissenschaften. A. K. Razumovskij wurde Kurator der Universität Moskau und Minister für Volksbildung.115 Während der reformfreundlichen Anfänge der Regierung Alexanders I. kamen seit 1802 erneut Studenten aus Rußland und dem Baltikum nach Göttingen und zu Schlözer.116 Zu dieser letzten Generation russischer Schlözer-Schüler gehörten der Gegner der Leibeigenschaft A. S. Kajsarov, nachmals Professor in Dorpat, der künftige Dekabrist N. I. Turgenev und wiederum Ukrainer. Von den Studenten aus Rußland „wurde Schlözer wie ein Vater geehrt". 117 Turgenev fand, daß Schlözer „Rußland liebe . . . wie ein begeisterter Russe".118 Schlözer bewunderte, daß die russische „Nation bei den fürchterlichsten Stürmen, die so viel andern Völkern Namen und Existenz gekostet haben . . . sich immer wieder . . . aufraffte, bis sie ihre jetzige Höhe ei> stieg".119 113
Krug, Philipp, Forschungen in der älteren Geschichte Rußlands, 2 Bde., Petersburg 1848, Neudruck Leipzig 1970, 1100 S.; Lehrberg, Aron Christian, Untersuchungen zur älteren Geschichte Rußlands, Petersburg 1816, Neudruck Leipzig 1969, 504 S. Über Gustav Ewers: östliches Europa. Festschrift Manfred Hellmann, Wiesbaden 1977. 114 Originalurkunden, 1, S. 403 f. ,lb Vgl. Feyl, Othmar, Materialien zu den deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen des 18. Jh., in: Lomonosov/Schlözer/Pallas, S. 334. "« Matrikel Göttingen, hrsg. von Götz v. Seile, Göttingen 1937; vgl. Mohrmann, Heinz, Russisch-deutsche Begegnungen, Berlin 1959, S. 38-76, 120-130 (216 Göttinger Studenten aus dem Russischen Reich 1800—25). 117 Vgl. Kirchner, Peter, Studenten aus der Ukraine an deutschen Universitäten, in: Ost und West, S. 374; Originalurkunden, 1, S. 408-410. 118 Bei Istrin V., Russkie studenty v Gettingene, in: Zurnal Ministerstva narodnogo prosveäüenija, 1910, 7, S. 122; Zimin, S. 137.
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Schlözers Sympathie für Rußland und das russische Volk, besonders für ein Rußland der Reform, verstärkte sich noch, als 1801 Alexander I. und dessen „Junge Freunde" einen Reformkurs mit fortschrittlichen Neuerungen einschlugen. Schlözer reagierte mit einer erneuten Hinwendung zu Rußland. Sofort 1801 begann er mit der zweiten langen Reihe seiner Rußlandrezensionen, die er bis an sein Lebensende fortsetzte. 1802 veröffentlichte er seine Erinnerungen an Rußland und die beiden ersten Bände seiner Nestor-Ausgabe. So standen auch seine letzten Jahre im Zeichen der Freundschaft zu Rußland. Schon vor 1812 erkannte Schlözer, daß Rußland auf die Dauer das einzige starke kontinentale Gegengewicht gegen die napoleonische Fremdherrschaft darstellte und daß von dort der Gegenstoß ausgehen müsse. Seit Jena und Auerstedt war ihm dies klar. Daher erhöhte Schlözers Haß gegen das napoleonische Unterdrückungssystem sein Wohlwollen für Rußland. Band 2 seiner letzten Weltgeschichte blieb unveröffentlicht, weil er einem „Aufruf zur Empörung" gleichkam. Nachdem Napoleon 1806 den Buchhändler Palm hatte hinrichten lassen, war dieses Werk eine Kühnheit. Auf Verlangen des Verlegers wurde der ausgedruckte Band samt dem Manuskript vernichtet. In der nationalen Not jener Jahre erhoffte Schlözer Hilfe von Rußland. Gleich vielen russischen und deutschen Patrioten schwebte ihm die Umwandlung des Unabhängigkeitskampfes in einen wirklichen Freiheitskrieg vor. Nach Österreichs Niederlage 1809 wünschte der 74jährige, die „Russen" möchten „zersprengen Deutschlands Ketten" und „Europa . . . retten". Doch überschätzte Schlözer den Reformwillen Alexanders I., dessen reaktionäre Wendung (Sturz Speranskijs, Heilige Allianz) er nicht mehr erlebte und nicht voraussah. Auch durch die lebhafte russische Resonanz seiner Schriften wurde Schlözer in seiner Neigung zu Rußland bestärkt. „Schlözers Selbstbiographie fand vorzüglich in Petersburg . . . eine Menge von Lesern. Ebenso wurde sie in Moskau . . . verschlungen." Die russische Universitätsreform „berücksichtigte manche von Schlözer... gewagte Äußerung". X>ie durch die „skeptische Schule" M. T. Kacenovskijs (1775—1842) repräsentierte neue, bürgerliche Richtung der russischen Geschichtswissenschaft im frühen 19. Jh. griff in ihrem Kampf gegen die herrschende Adelshistoriographie auf Schlözer zurück: auf seine strenge Quellenkritik, seine Wertung der Volksgeschichte als ein Ganzes und seine vergleichend-völkergeschichtliche Methode. Kacenovskij betrachtete gleich Schlözer die einzelne Volksgeschichte im Rahmen der Völkergeschichte, unter Beachtung von Berührungen, Wechselwirkungen und gesetzmäßigen Analogien mit anderen Völkern. Das Haupt dieser russischen kritischen Schule würdigte auch Schlözers und seiner Schüler (Krug, Lehrberg, Ewers) Verdienste um die Erhellung der Geschichte Rußlands. Seiner führenden Zeitschrift „Vestnik Evropy" gab Kacenovskij Schlözers Bild bei. Wie für ihn bei seiner Polemik gegen den Hofhistoriographen des Zaren, Karamzin, so waren Schlözers Methoden und Auffassungen auch für weitere Vertreter der kritischen bürgerlichen Forschung eine Hilfe bei ihrem Aufbegehren wider die offiziöse zaristische Doktrin und Gelehrsamkeit — gegen die unkritische Einstellung zu »» Nestor, 1, Göttingen 1802, S. XIV f. 4*
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den Quellen und die phantasievolle Ausschmückung der Vergangenheit in deren Historiographie und Philologie. Diese Bedeutung Schlözers sahen auch spätere vorrevolutionäre russische Historiker und Literaturhistoriker wie, neben Solov'ev, V. S. Ikonnikov und A. N. Pypin. Vertiefter analysiert wurde sie in der sowjetischen Geschichte der Geschichtsschreibung (V. I. Piceta, N. L. Rubinstein, I. L. Kudrjavcev, A. M. Sacharov, Viktor Sevcov). Eingehend taten dies Kudrjavcev, bei dem „Kacenovskijs Verhältnis zu dem großen deutschen Historiker A. L. Schlözer . . . breiten Raum einnimmt", und Sevcov. Beide Sowjethistoriker zeigen, daß der Höhepunkt von Schlözers Rußlandwirkung in den Jahrzehnten nach seinem Tod lag, als progressive bürgerliche Wissenschaftler sich auf ihn stützten.120 Beim nationalen Erwachen der slawischen Völker außerhalb Rußlands wurde der Name Schlözer ebenfalls oft genannt. So hat der tschechische Erwecker Dobrovsky von dem Slawenhistoriker Schlözer viel übernommen. Dobrovsky bekannte, daß er „von ihm die Art, die Historie kritisch zu behandeln, gelernt" hat. Dobrovskys Schriften spiegeln deutlich die Befruchtung seiner kritisch-philologischen Untersuchungen zur älteren Geschichte durch Schlözers völkergeschichtliche Methode.121 Daß der Begründer der neueren Slawistik sich oft auf Schlözer berief, fiel Karl Marx auf. Marx wies Friedrich Engels, der ihn für eine Artikelserie über den Panslawismus um Dobrovskys „Slavin" gebeten hatte, darauf hin. Er war er^ Vestnik Evropy ^Europäischer Herold7, 1819, H. 2—6, besonders 5, S. 45; 6, S. 125; Originalurkunden, 1, S. 411 f., 426, 405—407; Kudrjavcev, I. A„ „Vestnik Evropy" Kaöenovskogo, in: Trudy Moskovskogo istoriko-ardiivnogo instituta, 22,1965, S. 222 ff.; Sevcov, Viktor, Sowjetische Historiker über die kritische Richtung in der russischen Historiographie im ersten Drittel des 19. Jh., in: JbGSLE, 23/2, 1979, S. 75,69—81; vgl. Mühlpfordt Günter, Die Petersburger Aufklärung und Halle, in: Canadian-American Slavic Studies, 13,1979, 4, S. 509; ders., Petersburg und Halle. 121 Dobrovsky an Anton, 10. 10. 1789, in Briefwechsel Dobrovsky — Anton, hrsg. von M. Krbec/V. Michälkovä, Berlin 1959, S. 21; Dobrowsky, Josef, Über die altslawonische Sprache nach Schlözer, in: Slawin, 1806, 5, S. 362—388; ders., Alte slawische Handschriften, ebenda, 4, S. 265—287 (im Anschluß an Schlözers „Nestor"); ders., Nestors Chronik, in: Müller, Josef, Altrussische Geschichte, Berlin 1812, S. 1—46; ders., Kritische böhmische Geschichte, 3 Bde., Prag 1803—1820; vgl. Dolansky, Julius, Die tschechische Slawistik und Schlözer, in: Lomonosov/Schlözer/Pallas, S. 225—227; Schlözer und Rußland, S. 28, 30, 35; Winter, Ketzerschicksale, S. 292—305. — Neben Dobrovsky und Dobner empfingen auch die böhmischen Historiker Pelcl (Pelzel), Voigt — zwei Erwecker des tschechischen Volkes — und Pubiöka von Schlözer fruchtbare Anregungen. Pelcl übernahm Passagen aus Schlözers Nordischer Geschichte (Pelzel, Franz Martin, Geschichte der Böhmen, Prag 1774, Einleitung). Voigt hielt wie Schlözer die Slowaken für „die Stammväter der . . . Slawen" (Voigt, Nikolaus Adaukt, Geist der böhmisdien Gesetze, Dresden 1788, S. 13—15; vgl. zu Schlözers starkem Widerhall in Böhmen Vävra, Aufklärungsgeschichtsschreibung, S. 188—193). So waren Schlözers Arbeiten „für die tschechischen Historiker und Philologen . . . eine Schule der kritischen Geschichtsschreibung". Schlözer hatte dadurch „bedeutenden Anteil" an der „Enstehungsgeschichte der Slawistik" (Vävra, Tschechisch-russische Wissenschaftsbeziehungen, in: Lomonosov/Schlözer/Pallas, S. 302).
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staunt, daß Dobrovsky „die Deutschen direkt als die Väter der slawischen Geschichts- und Sprachforschung anerkennt. In bezug auf die Sprachforschung zitiert er u. a. ,Schlözer, Vorschlag zu einer allgemeinen vergleichenden Sprachlehre und Wörterbuch'. Ferner: ,Schlözer, Vorschlag, das Russische vollkommen richtig und genau mit lateinischer Schrift auszudrücken'. 122 Uberhaupt erscheint . . . Schlözer als der Patriarch, als dessen Schüler sich die andern bekennen. ,Schlözers Nestor: Ein unentbehrliches Werk f ü r jeden, der sich mit der kritischen Behandlungsart der slawischen Geschichte überhaupt und der russischen Annalen insbesondere bekannt machen will.' . . . Sonst noch zitiert: Schlözer: ,Alldem. Nord. Geschichte' . . . ,Dobner, ad Hajek: Annales Bohemorum'. Prag 1761 und 63. (Schlözer sagt d a v o n . . . ) " Noch an einer weiteren Stelle bemerkte Marx, daß Dobrovsky aus „Schlözers .Allgemeiner Nord. Geschichte' " schöpfte.123 Ähnlich wie Dobrovsky verdankte dessen slowenischer Schüler Kopitar Schlözer nach eigenem Zeugnis sein Gesamtbild „der Slawenwelt". Kopitar war seinerseits Lehrer des Begründers der modernen serbischen Schriftsprache Karadzic.124 Aus der Slowakei stammten von Schlözers Schülern z. B. die slowakischen Erwecker Adam F. Kollär, Ribay und Fejes (ungarisch Fejes), die Zipser Sachsen Martin Schwartner (Begründer der Landesforschung Ungarns), Christian Engel (Südosteuropahistoriker) und Karl Georg Rumy sowie die Preßburger Pray und Rath. 125 Wer „genaue Kenntnis der Bevölkerung" eines Ortes oder Landes sucht, schrieb 1785 Korabinsky in Preßburg (Bratislava), bekommt sie bei „Büsching, Schlözer".126 Als Empfehlung für Adam Kollär diente im österreichischen Gelehrtenlexikon, daß „von den Anmerkungen des Verfassers über die Völker, die Ungarn bewohnen . . . der berühmte Schlözer in seiner nordischen Geschichte Seite 241 (vielmehr: 248 — G. M.) eine rühmliche Erwähnung machte". 127 Schlözers nachdrückliche Betonung der Einheit des Slawentums war dem Zusammengehörigkeitsgefühl der slawischen Völker förderlich. Er lehrte die Slawen den Stolz darauf, einer großen Völkerfamilie anzugehören. 128 Auch den finnougrischen Völkern führte Schlözer vor Augen, daß sie eine Familie bilden. Damit befreite er die Madjaren aus der Ungewißheit über den Ursprung ihres Volkstums. Auf Grund von Eberhard Fischers Ugrierthese zeigte er ihnen, 122
Nord. Gesch., S. 330; vgl. Mühlpfordt, Transkriptionsprobleme, S. 172 f. Marx an Engels, 29. 2.1856, in MEW, Bd. 29, S. 19-21, vgl. S. 661-663. 124 Kopitar, Batholomäus [Jemej], Grammatik der slavischen Sprache in Krain, Laibach 1808; Schlözer und Rußland, S. 35 f.; Hahn, Franz, Deutsch-serbische Begegnung in der Person und im Schaffen von Karadzic, in: Ost und West, S. 489—496. Kopitar u. a. Slowenen fußten stärker auf Schlözer als auf Herder (Barbariö, Stefan, Herder in der slowenischen Literatur, in: Herder-Rezeption, S. 119,121). 125 Tibensk'Q, S. 228—244; ders., Die Slowakei in den Werken deutscher Geographen, in: Ost und West, S. 125; zu Fejeä: Kosäry, D., Bevezet6s a magyar törtönelem forräsaiba es irodalmäba /Einführung in Quellen und Literatur der ungarischen Geschichte/, Bd. 2, Budapest 1954, S. 194, 415, 489, 494, 576. 126 (Korabinsky, J. M.,) Beschreibung der Stadt Preßburg, Preßburg (1785), S. 115. 121 De Luca, Ignaz, Das gelehrte Österreich, 1, Wien 1776, S. 268 f. 128 Nord. Gesch., S. 221 f. passim. 123
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daß sie ebenfalls Glieder einer verbreiteten Sprachgemeinschaft sind. Gebildete Protestanten Ungarns in wichtigen Ämtern hatten seinerzeit meist bei Schlözer studiert.129 Keine ausländische Zeitschrift brachte 1782—93 so viel über Ungarn wie seine „Staatsanzeigen".130 Dem madjarischen Erwecker Rath (Rät, in Göttingen ab 1773) stellte Schlözer 1788 die Spalten der „Staatsanzeigen" für eine leidenschaftliche Verteidigung der ungarischen Sprache zur Verfügung.131 „Die ungarische Geschichtswissenschaft um 1800 ist undenkbar ohne Schlözer."132 Seit der „Schlözer-Epoche"133 datiert ein neues madjarisches Nationalbewußtsein. In der nationalen, oppositionellen und revolutionären Bewegung Ungarns traten Schlözer-Schüler gewichtig hervor. Die humanste, sozialste Seite von Schlözers Engagement für die Völker aber war sein Eintreten für die geknechteten Bauern und Landarbeiter. Jahrzehntelang führte er einen entschiedenen Kampf gegen die Erbuntertänigkeit (Leibeigenschaft), besonders gegen ihre strenge Form, die Gutsherrschaft (Zweite Leibeigenschaft).134 Er klagte die Gutsherren der Unmenschlichkeit an. Die Bedrückung und Ausbeutung der Bauern war die Hauptzielscheibe seiner Feudalismuskritik. Gleich anderen Aufklärern brandmarkte er die Zweite Leibeigenschaft als „Sklaverei" der Neuzeit. Die ganze Härte der Gutsherrschaft erkannte Schlözer zuerst bei seinem Aufenthalt in Rußland. Als er seinem jungen russischen Helfer Nikolaj Ratschläge fürs Leben gab, entgegnete Nikolaj resigniert: „Ich bin Leibeigener." „Durch Mark und Bein drangen mir diese Worte . . . Fluch der Leibeigenschaft . . . Nie hab ich seit der Zeit an diese Erfindung von Unmenschen . . . ohne Erbitterung denken können." So empört war Schlözer über die „Höllenerfindung der Leibeigenschaft"135. Unablässig geißelte Schlözer die Leibeigenschaft in seinen Zeitschriften. Hier trat er als „Anwalt der Unterdrückten" auf. 136 Seine beiden wichtigsten Journale — der „Historisch-Politische Briefwechsel" und die „Staatsanzeigen" — waren Sprachrohre der bürgerlich-radikalen Opposition gegen den feudalabsolutistischen Polizeistaat, der Guts- und Grundherrschaft bürokratisch und militärisch absicherte. 26 Beiträge seiner Periodika galten diesem Kardinalübel des Feudalismus. Darunter befinden sich erschütternde Bilder bäuerlichen Elends.137 Vgl. Hunyadi-Baläzs, E., Schlözer und seine ungarischen Anhänger, in: Formen der europäischen Aufklärung, hrsg. von Friedrich Engel-Janosi/Grete Klingenstein/Heinrich Lutz, München 1976; Hüfner, Lorenz, Schlözer und Ungarn, Diss. Humboldt-Univ. Berlin 1971; Mälyusz, Elemer, Sändor Lipöt, Budapest 1926, S. 4. w Kosäry, Bd. 2, S. 241, 267, 271 f., 298, 301. 131 Staatsanzeigen, 12, 1788, S. 339—353; Zimmermann, Ludwig, M. Rath, in: Südostforschung, 6,1941, S. 256-263; Borzs&k, S. 35,191; Kosäry, Bd. 2, S. 298. 132 Borzs&k, S. 34. 133 Angyal, Andreas Martin, Szentivänyi, in: Ost und West, S. 162. 134 Vgl. Schlözer und Rußland, S. 10, 20, 23, 25 f. 13i> Leben, S. 127 f., IV, 111 u. a. 136 Originalurkunden, 1, S. 238. 137 Vgl. Zeiger, Renate, Der Historisch-Politische Briefwechsel und die Staatsanzeigen Schlözers als Zeitschrift und Zeitbild, Diss. München 1953, S. 94 ff.; Lemke, S. 219; 121
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Überall zwischen Elbe und Wolga erregte die strenge Leibeigenschaft Schlözers Zorn. Auch Leibeigenschaftsreste westlich der Elbe entrüsteten ihn. Ihnen galten manche seiner Attacken gegen kleine Tyrannen. An die großen Despoten wagte er sich offen nach Ausbruch der Französischen Revolution heran. 138 1781 erhob Schlözer seine Stimme gegen „Sklavenjäger . . . in Deutschland", von denen „Leibeigene als Sklaven" behandelt würden. 139 Er forderte die Abschaffung „leibeigenschaftlicher Gerechtsame". Deshalb suchte der Fürstbischof von Speyer Schlözers .Landesherrn', Georg III. von Großbritannien und Hannover, gegen ihn aufzustacheln: Der „freche Schriftsteller" verlangte, altverbriefte „leibeigenschaftliche . . . Rechte . . . aufzuheben". Der erboste geistliche Fürst appellierte an den Reichstag, den „niederträchtigen Schriftsteller" zum Reichsfeind zu erklären, weil dieser als Sprecher „mißvergnügter, unruhiger . . . Untertanen" aufrührerische „Lästerungen . . . gegen höchste Häupter", gegen die deutschen Reichsfürsten, ausstoße, ja, sich „schändlicher Mißhandlungen verschiedener Kurund Fürsten" schuldig gemacht habe.140 So verwickelte Schlözers Anprangerung der Leibeigenschaft und anderer Übelstande ihn in zahlreiche „Fehden . . . mit deutschen Reichsständen", „mit deutschen Fürsten". Seine unaufhörliche Kritik an Feudalgewalten nötigte diese zu Zugeständnissen. Weil seine Zeitschriften als „Beschwerdebuch" der Unterdrückten und Benachteiligten „die Verteidigung . . . despotisch Verfolgter" übernahmen und zahlreiche Mißbräuche aufdeckten, „machte er sich die meisten von Deutschlands Großen zu Feinden". Darum „verfolgte ihn . . . von seiten vieler Großer der bitterste Haß". Auswärtige Regierungen wurden in Hannover gegen ihn vorstellig.141 Schon 1780 beschuldigte man Schlözer, „zu einem Volksaufstande" aufzureizen, ja „eine allgemeine blutige Revolution" anzuzetteln. 142 Von seinem Kampf für die Bauernbefreiung ließ sich Schlözer jedoch nicht abbringen. Die menschenunwürdige Gutsuntertänigkeit stellte er auf eine Stufe mit der Versklavung der Afroamerikaner. Wie „auf den Antillen" würden auch in Liv- und Estland „Sklaven wie Vieh traktiert". Ihn „schaudere" vor „der estländischen Sklaverei". Die „unselige livländische Leibeigenschaft" sei unbedingt zu beseitigen. „Bei Leibeigenschaft kann kein Volk" sich wirtschaftlich frei betätigen. 143 Damit erkannte Schlözer die Bindung an die Scholle als entscheidendes Hindernis für die Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise. Im Baltikum ist das Ringen gegen die Leibeigenschaft durch Schlözer stark angefacht worden. Die baltischen Aufklärer und Gegner der Leibeigenschaft Jannau, Snell, Karl Gotthard Elverfeld und Jochmann sind zu Schlözers Zeit Weißel, Bernhard, Auswirkungen Rousseaus auf Deutschland, Berlin 1963, S. 211 f. IM Originalurkunden, 1, S. 244, 246, 375. ™ Historisch-Politischer Briefwechsel, 10,1781, S. 114, 287. lw Fürstbischof von Speyer an Georg III., 31. 3. 1781 und Januar 1782, in: Originalurkunden, 1, S. 246—251. 141 Ebenda, S. 244, 326, 329, 373 f., 382 u. a. 142 Brandes an Schlözer, 12. 5.1780, ebenda, S. 265, 376. ,4S Staatsanzeigen, 2, 1782, S. 433, 437; 7,1785, S. 306; vgl. Donnert, Schlözer, S. 197; ders., Johann Georg Eisen, Berlin 1978, S. 179 f., 9, 65; Graßhoff (-Lauch), Annelies, Herder und Merck zur Leibeigenschaft, in: Herder-Rezeptionen, S. 168-195, 255-259.
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Göttinger Studenten gewesen. Sie wirkten ihrerseits z. T. auf Garlieb Merkel, in dessen von Schlözer beeinflußten Schriften die publizistische Bekämpfung der baltischen Gutsuntertänigkeit kulminierte. 144 Auch die Leibeigenschaft in der polnischen Adelsrepublik war Schlözer zutiefst verhaßt. Als schweres Gebrechen der in vielem fortschrittlichen polnischen Maiverfassung von 1791 rügte er, daß sie die brutale Leibeigenschaft beibehielt. Damit bleibe es bei dem Zustand, daß „der Gutsherr seine Bauern . . . als Tiere behandelt". Das sei im polnischen Staat so „wie anderswo" und werde durch die Klauseln über den Bauernschutz in Artikel 4 der Konstitution nicht besser. Der Artikel sicherte die Bauern zwar gegen Vertragsbrüche der Gutsherren, doch stehe jene Bestimmung nur auf dem Papier, weil in der Regel „der Gutsherr seinen Bauern nie schriftliche Gerechtigkeiten . . . verleihen wird". Die Verfassung gebe den Bauern „ihre verlorenen Menschenrechte" nicht wieder. Schlözer glossierte, daß der Bauernartikel zurückkehrenden flüchtigen Bauern persönliche Freiheit und Freizügigkeit sowie freie Berufswahl versprach: „Die Weggelaufenen erhalten also völlige Freiheit, und die . . . Gebliebenen sind noch der Willkür ihrer Gutsherrn preis [gegeben]." Folglich müßten die Bauern „erst weglaufen, wenn sie ihre verlorenen Menschenrechte wieder erhalten wollen".145 Der Ausdruck „verlorene Menschenrechte" geht auf das Naturrecht zurück. Die Menschenrechte wurden als alte, durch die Herrschenden entrissene Rechte aufgefaßt. Schlözer gebrauchte hlier, im August 1791, bereits das Kompositum „Menschenrechte". Bis dahin sagte man meist „Rechte der Menschheit", weniger häufig „menschliche" oder „natürliche Rechte", „Rechte des" oder „der Menschen" bzw. „Menschheitsrechte". So hatte Schlözer 1782 seine Forderung nach der Bauernemanzipation in die Worte gekleidet, daß „die armen Letten" gleich allen Menschen Anspruch auf die „Rechte der Menschheit" haben. 146 Karl Friedrich Bahrdt, der Schlözer an Radikalität übertraf, benutzte in seiner 1790 abgefaßten revolutionären Staatslehre die Prägung „Menschenrechte". 1791, als Schlözer für die Leibeigenen im polnischen Staat die „Menschenrechte" verlangte, verwandte Bahrdt diese Zusammensetzung als erster im Titel eines Buches.147 Bahrdt schloß die Vorrede seiner Staatslehre: „Ich bin weder Schlözer noch Mirabeau." Bahrdt war revolutionärer als Schlözer und demokratischer als Mirabeau. Schlözer hat alsbald nach dem Vorliegen der Bahrdtschen Staatslehre seine eigene, in manchem ähnliche verfaßt. 148 Von der Französischen Revolution war auch Schlözer fasziniert. Wie Bahrdt ge144 v g l . Apcerejumi par sabiedriskas un filozofiskas domas attistibu Latvija [Zur Entwicklung des gesellschaftlichen und philosophischen Denkens in Lettland/, hrsg. von P. Valeskalns u. a., Bd. 1, Riga 1976, S. 49-51, 62 f. (Dank an Heinrihs Strods); Jochmann, Carl Gustav, Die unzeitige Wahrheit, hrsg. von Eberhard Haufe, Leipzig 1980J, S. 270. ,4i>
Staatsanzeigen, 16, 1791, 63, S. 328-349; vgl. Lemke, S. 216-218; Vahle, Hans, Die polnische Verfassung von 1791 im deutschen Urteil, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 19,1971, S. 347-370. 146 Staatsanzeigen, 2,1782, S. 8, 432 Anm. 2; vgl. Donnert, Schlözer, S. 196. "
JSB 157 158
,5a
Bode an Campe, 30. 4.1790, zit. nach Leyser, Jakob, Campe, Bd. 2, Braunschweig 18962, S. 182; Originalurkunden, 1, S. 380 f. Staatsrecht, S. 92,117,174. ZStAM, Rep. 16, Nr. 112 a, Pasz. 114, Bl. 63-65; ebenda, Zensurakten, 1804, Wieland. Angeprangert bei Lauge, Kasimir (Bahrdt, Karl Friedrich), Kirchen- und Ketzeralmanach Bd. 2, Gibeon (Berlin) 1787, S. 214. Nord. Gesch., S. 222. Brandes an Schlözer, 12. 5.1780, in: Originalurkunden, S. 376. Aktenstücke, in: ebenda, 2, S. 48—56. Schlözers wichtigster Brief an die Union, vom 9.1.1788, fehlt dort (Briefe an Bahrdt, 5, Leipzig 1798, S. 59 f.; ebenda, S. 353, Schlözer, als Mitglied geführt). Valjavec, Fritz, Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770 bis 1815, Wien 1951, S. 232 (Neudruck, hrsg. von Jörn Gorter, Kronberg 1978).
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ten Beifall" für den Umsturz in Frankreich. Ihm wurde, wie anderen radikalen „Volksschriftstellern" (demokratischen Aufklärern), die Absicht unterstellt, „Deutschland zu revolutionieren". Darum war Schlözer für die Gegenseite ein „Demokrat... Anführer oder Jakobiner" 160 . Auf dem jakobinischen Höhepunkt der Französischen Revolution drohte ihm das Schlimmste. Schlözer wurde des „Hochverrats" angeklagt. Er sei ein „Aufwiegler", „Unruhestifter", „Aufhetzer, Verführer des Volks, Hochverräter".161 Auf Hochverrat stand die Todesstrafe. Das Pasquill „Sanscülottismus des Professors Schlözer" insultierte den „Schlözerschen Sanscülottismus" als Ausgeburt des Revolutionsgeistes. Dieser „Pressefrechheit" müsse man „das Maul stopfen". 102 Als Schlözer Ende 1793 schrieb, im Gegensatz zu Frankreich brauche Deutschland „Reformen, aber keine Revolution", mußte er bereits um seine Zeitschrift bangen.163 Diese Worte sind aus der persönlichen und der momentanen deutschen Situation zu erklären, wie Georg Forsters Äußerung von 1791, daß „eine gewaltsame Revolution uns [nicht] das geringste helfen und nützen könnte". 164 Das Abwiegeln half Schlözer nichts. Kurz darauf erfolgte „der Schlag vom 26. Februar 1794" — das faktische Verbot der „Staatsanzeigen". Die seit 1780 im Gang befindliche Kampagne von Regierung und Aufklärungsfeinden gegen Schlözer erfuhr ab Ende 1793 eine Verschärfung. Man denunzierte ihn nicht mehr nur, sondern suchte ihn überdies, so seine Worte, nach „Terroristen" Manier in „Angst und Schrecken" zu versetzen. Im November 1797 klagte Schlözer, daß man „seit bald 4 J a h r e n . . . Jagd auf mich macht". 165 Als das Kesseltreiben begann, hatte Schlözer soeben seine Staatslehre veröffentlicht. Er besaß die Kühnheit, darin — während der Jakobinerherrschaft in Frankreich und der Jakobinerschnüffelei in Deutschland, mitten im Krieg gegen die französische Republik — jakobinische Wendungen einzustreuen. Daher ist in Schlözers Staatslehre, wie überhaupt in seiner Anteilnahme an der Französischen Revolution, der wirkliche Grund für die nun folgenden Repressalien und Restriktionen, besonders für die Unterbindung des weiteren Erscheinens der „Staatsanzeigen" zu sehen. Auch seine Kritik an Großmachthöfen trug dazu bei. In seiner Staatslehre von 1793 hat Schlözer die Fürsten- und Adelsherrschaft — also auch die Ordnung des Staates, dessen Untertan er war — aufs schärfste gegeißelt. Er brandmarkte die beiden undemokratischen Staatsformen Monarchie und Aristokratie als gewalttätige, auf Unterdrückung beruhende Machtstrukturen. Die Monarchie hat er, der Bedienstete eines Fürstenstaates, auf höchst revoluOriginalurkunden, 1, S. 382 f., 386, 380, 447; vgl. S. 244-273, 326-400, besonders S. 373-376. JBI Neues Patriotisches Archiv, Bd. 1, 1792, S. 536-542; Staatsrecht, S. 164, 191, 193 f., 200; vgl. S. 7. 162 (Dietzel, F. C.J Sanscülottismus des Prof. Schlözer, o. O. 1794; vgl. Dietze, Joachim, Die Pallas- und Schlözer-Autobiographen, in: Lomonosov/Schlözer/Pallas, S. 340 f. 163 Staatsanzeigen, 18,1793, S. 560; Staatsrecht, S. 162-166. 104 Forster an Dohm, 5. 4. 1791, in Forster, Georg, Werke, Bd. 16, Berlin 1980, S. 265. 103 Schlözer an Heyne, 24.11.1797, in: Originalurkunden, 2, S. 83-85.
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tionäre Weise verurteilt: „Durch Zwang entstanden" und mit Gewalt aufrechterhalten, sei „diese Regierungsform die gefährlichste von allen", d. h. die dem Volk schädlichste, der Freiheit verderblichste. Das gelte namentlich f ü r den Absolutismus: „Die Einherrschaft i s t . . . die gefährlichste Regierungsform, wenn sie unumschränkt ist." Am schlimmsten sei der erbliche absolute Monarch: „Ein unumschränkter Einherrscher über Millionen Menschen, vollends ein ungebundner Erbmonarch, . . . wer schaudert nicht vor dem bloßen Gedanken zurück! . . . Daher kennt die ganze Weltgeschichte nicht ein einziges kultiviertes Volk, das sich mit Bedacht und freiem Willen in diese Regierungsform begeben hätte: überall ist sie durch Uberlistung oder plumpe Vergewaltigung entstanden . . . Die ganze Menschheit verunedelt sich oft bei dieser Regierungsform: alles kriecht, bekommt Titelsucht, lernt Hundesdemut . . . Unten am Thron . . . schleicht ein Otterngezücht herum, das in dieser unnatürlichen Regierungsform so natürlich" sei.166 Damit prangerte Schlözer die dominierende Staatsform seiner Zeit als menschenunwürdige und menschenverderbende Ungeheuerlichkeit an. Nicht besser kam die Oligarchie weg: „Viele Aristokratien sind fortgesetzte Unterdrückungen." „Unerträglich, allgemein verhaßt ist die Erbaristokratie." Die antiaristokratische Seite seines Demokratismus zielte auf die Abschaffung sämtlicher Adelsvorrechte. Der Privilegierte „raubt" dem Nichtprivilegierten das „Urrecht" der Gleichheit. Uberhaupt sei jede nicht freiwillig erkorene oder nicht ausdrücklich gebilligte Obrigkeit unrechtmäßig. Jede Herrschaft über den Menschen „ohne dessen Einwilligung", womit sich Regierende „anmaßen, . . . ihm seine Urrechte . . . zu beschränken", stelle ein Verbrechen gegen die Menschenrechte dar.1?7 Demgegenüber pries Schlözer die „Demokratie, Volksregierung" als „die natürlichste" Staatsform: „Sie ist die natürlichste, aber auch die künstlichste und daher die seltenste aller Regierungsformen." Dieses Urteil sticht scharf von der Perhorreszierung des „unnatürlichen" Absolutismus und der „unerträglichen" Adelsherrschaft ab. „Künstlich" hat hier den positiven Sinn .kunstvoll, hochstehend'. So begriff Schlözer „den Staat als eine künstliche . . . Maschine", d. h. als eine kunstvoll-sinnreiche, komplizierte. Unmittelbare Demokratie, mit beschließender Volksversammlung, und ständisch-repräsentative, wenn neben dem Bürgerstand auch die Bauern als Landstand gleiches Mitspracherecht, Entscheidung»- und Verfügungsgewalt besaßen, hatten für ihn etwas Anziehendes, ja Imponierendes. Wie Rousseau erklärte er die Direktdemokratie für die ideale („natürliche") Staatsform kleiner Gemeinwesen. Daher entsprach die altisländische Republik mit ihrem Thing seinem Staatsideal für kleine Gemeinwesen, und die Republik Graubünden, mit ihrer formellen Gleichberechtigung der Bauern neben dem Adel, kam dem nahe.168 Echte Demokratie erfüllte ihn mit solcher Hochachtung, daß ihm „der demokratische Isländer im 12. Jh. . . . ehrwürdiger als alle Griechen vor dem Xerxes", in der undemokratischen Königsund Tyrannenzeit, war. Diesen Respekt vor genuiner Demokratie bekundete lw
> Staatsrecht, S. 137,142-144. Ebenda, S. 132,136, 41,158. 568 Ebenda, S. 124,143,135, 4,128. m
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Schlözer in seiner Vorrede zu einer deutschen Ausgabe des utopischen Kommunisten und Wegbereiters der Französischen Revolution Mably.lti0 In seiner Staatslehre präsentierte Schlözer die jakobinische Gleichheitsidee. Für ihn war die „Gleichheit aller Menschen . . . unstreitig eines der allgemeinen Menschenrechte". Sie bedeutete ihm staatsbürgerliche Gleichstellung sämtlicher mündigen Bewohner des Staates, ohne Rücksicht auf ihre soziale Herkunft, namentlich ohne Vorrechte für den Geburtsadel: „Gleichheit ist ein menschliches Urrecht. Erbrecht schlägt ihr eine tödliche Wunde . . . Sorge künftig der Staat dafür, das Erbrecht . . . dem ersteren (einem Urrechte) gehörig zu subordinieren." Das war ein direkter Angriff auf die Fideikommisse und Privilegien des Adels und ein indirekter auf das Erbrecht der Fürsten, auf die Erbmonarchie — vorgetragen vom angesehensten Publizisten einer Erbmonarchie. Dieser Angriff besagte, daß entgegen der bisherigen gesetzlichen Erbfolge oder Designation des Herrschers das Oberhaupt in allgemeiner, gleicher Wahl von den volljährigen Staatsbürgern zu wählen sei. „Sind alle Menschen gleich,.. .so ist alle Gewalt vom Volke. "Auf diese Weise leitete Schlözer aus der staatsbürgerlichen Gleichberechtigung die brisante Idee der Volkssouveränität ab. Damit führte er seine Leser vom demokratischen Kerngedanken der Gleichheit zum demokratischen Hauptziel einer „Volksregierung" hin.170 Vom Standpunkt wirklicher Volksherrschaft übte Schlözer Kritik an „scheinbaren" und „eingeschränkten Demokratien". Diese „Scheindemokratien" seien von „reiner Demokratie" oder „wahrer Demokratie" weit entfernt. „Die meisten Demokratien sind verkappte Aristokratien oder gar Monarchien" (persönliche Diktaturen). „Von einer Million Menschen sind höchstens etwa 200 000 aktive Bürger: ein unerträglicher Aristokratismus! Hier sind offenbar privilégiés, wie Erbadel und Ordensritter" — ein neues Privilegiensystem unter abermaligem Ausschluß der Volksmassen. In solchen Pseudodemokratien würden, rügte Schlözer, vier Bevölkerungskategorien, die mindestens vier Fünftel der Bevölkerung ausmachten, zurückgesetzt und unterdrückt. Man verweigere ihnen die Gleichheit vor dem Gesetz, vor allem die aktiven Bürgerrechte. Jene unterdrückten 80 Prozent, denen die in den sogenannten Demokratien regierende Minderheit das Wahlrecht u. a. politische Rechte vorenthielt, waren 1. „das ganze weibliche Geschlecht", 2. das Gesinde, 3. die übrigen Armen und 4. die junge Generation zwischen 16 und 24. Diese große Mehrheit des Volkes habe man widerrechtlich ihrer Menschen- und Bürgerrechte beraubt. Im Gegensatz zu solcher Scheindemokratie nahm Schlözer als Sachwalter echter Demokratie für alle mündigen Staatsbürger das Recht des Mitregierens in Anspruch : „Ist das Recht zu regieren (oder nur mitzuregieren) ein unveräußerliches, unverjährbares Menschenrecht: warum raubt man es . . . ? Kann man einem Menschen ein Menschenrecht nehmen, weil er ein Weib, ein Bedienter, weil er blutarm ist?" Frauen, Dienstboten, sonstige Arme und die jungen Leute müßten mitwählen, mitberaten und mitregieren. lbM
Mably, Gabriel Bonnot de, Von der Art, die Geschichte zu schreiben, Straßburg 1784, 17932, Vorrede Schlözers (ders., De la manière d'écrire l'histoire, Paris 1783). Staatsrecht, S. 40-43, 51, 65,124.
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Somit verlangte Schlözer eine Machtbeteiligung der Frauen und der Unterschichten. Echte Demokratie erforderte, diesen Bevölkerungsgruppen die vollen Rechte aktiver Bürger einzuräumen, das Mitspracherecht („öffentliche Teilnahme") in sämtlichen politischen Fragen und eine Beteiligung an der Regierung. Demgemäß machte Schlözer für „alle volljährigen" Staatsbürger (ab 16 Jahren) den Anspruch auf gleichberechtigte Mitwirkung an den Angelegenheiten des Staates geltend. Das Postulat, auch die Frauen an die Politik heranzuführen und bei Beratungen und Entscheidungen hinzuzuziehen, war ein Teil seines Einsatzes für eine demokratische Frauenemanzipation. Ihn empörte es, daß der Mann der „Tyrann der Frau" war. Von Schlözers demokratischer Einstellung zeugt auch, daß er die Deformierung von Demokratien zu Oligarchien an den Pranger stellte. So rügte er, daß man die Bewohner der niederländischen Generalitätslande nicht „an der Regierung teilnehmen" ließ und die der Untertanenlande (gemeinen Herrschaften) der Schweizer Kantone ebenfalls vom „Anteil an der Regierung" ausschloß. Die Kantone „Bern, Zürich, Luzern, Friburg" (außerdem Basel, Schaffhausen und Solothurn) hatten sich aus „eingeschränkten Demokratien" in Zunftaristokratien, Patrizierherrschaften oder noch engere, von „Geheimen Familien" beherrschte Oligarchien verwandelt und wurden deshalb von Schlözer getadelt. Schlözers Demokratiekritik, an Scheindemokratien seiner und älterer Zeiten, war somit eine Kritik von links. Sie zielte nicht auf die Beseitigung, sondern auf die Verbesserung der Demokratie. Er zeigte Mängel in Staaten auf, die sich den Namen Demokratie mißbräuchlich zugelegt hatten und die er als faktische Oligarchien, als Unterdrückung vieler durch wenige enthüllte. Den undemokratischen Realitäten dieser Auchdemokratien gegenüber wies Schlözer Wege zu wirklicher Demokratie. Damit sah seine „Staatsverfassungslehre" eine weitere Demokratisierung der angeblichen Demokratien vor.171 Doch war dieses Demokratieverständnis, trotz des Eintretens für die politischen Rechte der Armen, weder plebejisch-demokratisch noch utopisch-sozialistisch, sondern bürgerlich-philanthropisch. So ließ Schlözers Aristokratiekritik Spielraum für die Ablösung des feudalen Erbadels durch einen bürgerlichen Leistungsadel der vom Volke erwählten Tüchtigen, für eine bürgerlich-elitäre Ordnung. Darin erwies er sich als bürgerlicher Demokrat. In Schlözer verband sich Liberales mit Demokratischem. Die krypto-demokratische Konzeption dieses radikalen Aufklärers schloß ein frühliberales Reformprogramm als Nahziel ein: Konstitutionell-reformerische Bestrebungen bildeten die erste Etappe seines Trachtens nach dem „vollkommenen" Staat — seinem erklärten Ziel — mit „Freiheit des Bürgers" und staatsbürgerlicher Gleichheit. So verknüpfte sein Ruf nach persönlicher, sozialer und nationaler „Freiheit und Gleichheit" das Anliegen des Liberalismus mit dem des Demokratismus. 172 Gemäßigte Reformwünsche waren in den Weifenstaaten Großbritannien, Hannover und Braunschweig erlaubt, radikale Forderungen hingegen tabu. Infolge171 x
Ebenda, S. 125 f., 128 f., 134,158-160, 58,130,132,148,146-155. " Ebenda, S. 7, 27, 42, 59, 65.
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dessen konnte Schlözer seine liberale Seite zeigen, die demokratische jedoch nicht. Demgemäß plädierte er zunächst für einen Verfassungsstaat nach Montesquieuscher Theorie und englischer Praxis. Seine „Staatsverfassungslehre" schloß mit einer Berufung auf das „Ideal England" und auf Ciceros Lob einer gemischt monarchisch-aristokratisch-demokratischen Staatsform. Damit trat der „eklektische Staatsgelehrte", als der Schlözer, scheinbar über den streitenden Parteien stehend, sich gab, für Gewaltenteilung ein. 173 Daher entstand schon bei Zeitgenossen, die nicht zwischen den Zeilen zu lesen verstanden und verbale Deklarationen und Deklamationen für bare Münze nahmen, der Eindruck, als sei er Anhänger der konstitutionellen Monarchie und verfechte lediglich einen gemäßigten Reformkurs. Noch häufiger wurde er von der Nachwelt, die nicht mehr den Menschen, sondern nur noch seine Schriften kannte, als bloßer Vertreter einer konstitutionell-monarchistischen oder gar aufgeklärt-absolutistischen Reformpolitik angesehen. Man unterließ es, seine Aussagen kritisch zu sichten, echte Gesinnungsäußerungen von Anpassungen zu scheiden — von Verhüllungen, Ablenkungs- und Täuschungsmanövern, Scheinpolemiken und anderen Kunstgriffen oder Absicherungen. Infolgedessen verdeckte im Schlözer-Bild der reformerisch-frühliberale Habitus die demokratische Und latent revolutionäre Gesinnung. Im Innern seiner Schriften, so an unauffälligen Stellen der Staatslehre, hat Schlözer demokratische und revolutionäre Konterbande eingeschmuggelt. Nur mußte er sich dabei mit Andeutungen, verklausulierten Formulierungen und paradox-widersprüchlichen Thesen begnügen (offen demokratische und prorevolutionäre neben fingiert antidemokratischen und arevolutionären Sätzen, Scheinlob für Monarchie und Aristokratie trotz schärfster Anprangerung). Die Paradoxa, die bei einem so scharfsinnigen Kopf nicht auf mangelnder Logik oder kompositorischer Schwäche beruhen konnten, hätten seine Interpreten hellhörig machen sollen, besonders angesichts der sonstigen Klarheit seiner Gedanken. Schlözer gab seinen Lesern Zeichen, indem er sie auf „die in unsern Tagen nötige Vorsicht" aufmerksam machte und betonte, daß „die Grenzen des Gehorsams" gegenüber der „Obrigkeit . . . eine äußerst delikate Materie", ein heißes Eisen seien.174 Das betraf das Widerstandsrecht gegen die Fürsten- und Adelsherrschaft, den Befreiungskampf. Aus allen diesen Gründen muß man an den Quellenkritiker Schlözer quellenkritisch herangehen. Es gilt, sich in seine Lage zu versetzen und die Zeitsituation, die Machtverhältnisse zu bedenken, in die er sich schicken mußte. Seine Worte in politicis konnten nicht in jedem Fall seiner Uberzeugung entsprechen. Wirkungsgeschichtlich steht Schlözer sowohl in der Ahnenreihe des Liberalismus als auch in der des Demokratismus der Folgezeit. Nach den Parteibegriffen des 19. und frühen 20. Jh. war er, wie der von ihm beeinflußte Reinhold Forster, ein Vorläufer der Fortschrittler oder Freisinnigen — ein Vorbote der Vereinigung von Demokratismus und Linksliberalismus.175 In Schlözers wichtigster staatstheoretischer Schrift, seinem „Staatsrecht" von 173 174
Ebenda, S. 112,155, 202. Ebenda, S. IV, 178.
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1793, überwiegen die kryptodemokratischen Züge. Demokratisch w a r seine citoyenhafte Betonung der staatsbürgerlichen Gleichheit. Wer w i e er „das Recht zu regieren (oder n u r mitzuregieren) ein unveräußerliches, u n v e r j ä h r b a r e s Menschenrecht" aller mündigen Staatsbürger n a n n t e u n d d e m g e m ä ß d a f ü r eintrat, d a ß die Unterschichten, die F r a u e n u n d die junge Generation a m politischen Leben u n d a n der Staatsmacht partizipierten, wer also f ü r die Volksmassen „Anteil a n der Regierung" forderte, w a r Demokrat. In seiner Staatslehre b e k ä m p f t e Schlözer auch e r n e u t die Schollenpflichtigkeit. Die „Leibeigenen" seien die tiefste Stufe, auf die im Zuge der gesellschaftlichen Differenzierung B a u e r n herabgedrückt w u r d e n . Erbliche „Leibeshaft . . . ist grober Bruch eines der heiligsten menschlichen Urrechte". M a n b e r u f e sich nicht auf das Herkommen, das „oft durch Betrug entstand"; d e n n „das H e r k o m m e n k a n n kein Menschenrecht a u f h e b e n . . . Die Millionen Russen, die noch i m S u d e b n i k (von 1497 — G. M.) als Freie erscheinen", w u r d e n erst später in die „Leibeshaft" gezwungen. 1 7 6 Auch in Verwaltung u n d Gesetzgebung t r u g e n das Eintreten Schlözers u n d seiner Schüler f ü r die B a u e r n sowie seine Staatslehre — mit ihrer F o r d e r u n g nach durchgreifenden R e f o r m e n — i h r e Früchte. Josef II., Leser der „Staatsanzeigen", schaffte 1781 die Leibeigenschaft gesetzlich ab. 1788 folgte die formelle B a u e r n b e f r e i u n g in Dänemark, i m Zuge der Bernstorffschen Reformen. Beide Bernstorff h a t t e n in Göttingen studiert. Manche Staaten u n d einzelne G u t s h e r r e n suchten v o n Schlözer gerügte Mißstände u n d Mängel zu beheben. Braunschweig leitete 1793, seit Schlözers Staatslehre im Druck vorlag, eine n e u e Reformpolitik ein. Die preußischen R e f o r m e r — v o r a n Stein u n d Hardenberg —, die alle Bauern f ü r „freie Leute" erklärten u n d die bürgerliche Umgestaltung auch auf anderen Gebieten energisch vorantrieben, w a r e n Schüler Schlözers. Zu K ä m p f e r n gegen die bäuerliche Erbuntertänigkeit erzog Schlözer seine S t u denten. Das bedeutsamste P r o d u k t seiner Schule auf diesem Gebiet ist die i h m gewidmete Göttinger Dissertation von A. S. Kajsarov „Uber die zu befreienden Leibeigenen Rußlands". 1 7 7 Bis zuletzt stritt Schlözer wider Guts- u n d G r u n d h e r r s c h a f t u n d machte Vorschläge zur Hebung des Bauernstandes. So n a h m er sich wenige J a h r e vor seinem Tode in einer Rezension der estnischen B a u e r n an. Das Ringen u m die Bauernb e f r e i u n g w a r sein wichtigstes Vermächtnis an die Völker. Seine m e h r als 40jährige Polemik gegen die „Leibeshaft" bildete das Kernstück seines Einsatzes f ü r die Menschenrechte. G e r a d e dieser fast ein halbes J a h r h u n d e r t durchgehaltene Kampf weist Schlözer als radikalen A u f k l ä r e r aus. So r a g t e er, „einer der bedeutendsten A u f k l ä r e r . . . Europas", auch in seiner gesellschaftlichen H a l t u n g weit ü b e r den Durchschnitt 113
,VB 1/7
Vgl. Mühlpfordt, Deutsche Präjakobiner, S. 970 ff.; ders., Bahrdt und die beiden Forster, in: Georg Forster, hrsg. von Hans Hübner, Halle 1981. (Beiträge der MartinLuther-Universität) . Staatsrecht, S. 41, 51, 61-63. Kayssarow [Kajsarov], A. S., De manumittendis per Russiam servis, Göttingen 1806; Analyse bei Mohrmann, S. 40—50.
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der Aufklärer hinaus. Er war ein „entschiedener Anhänger der Aufklärung", ein „bürgerlicher Demokrat". 178 Die Schärfe und Beharrlichkeit seiner politischen und sozialen Anklage, seine entschlossene, unversöhnliche Frontstellung gegen Leibeigenschaft, Aristokratie, Hierokratie, Absolutismus, Bürokratie und sonstige Arten unterdrückender Oligarchie, gegen Gewissenszwang und andere Erscheinungen von Intoleranz, gegen die verschiedensten Formen von Unfreiheit und Ungleichheit weisen ihn eindeutig dem Lager der radikalen Aufklärung zu. Der Mut, mit dem er als Sachwalter unterdrückter Personen, Stände und Völker politisch-gesellschaftlichen Übeln entgegentrat, zeigt einen „kühnen Verteidiger des Rechts", der Gerechtigkeit. Als „furchtloser Verteidiger der Unterdrückten", als radikal-aufklärerischer Publizist kryptodemokratischer Prägung mobilisierte er die öffentliche Meinung gegen die alten Gewalten und förderte so die Verbürgerung. 179 Er war radikal in der Gesinnung, weniger im Auftreten. Schlözer erfüllte die beiden Grundvoraussetzungen eines radikalen Aufklärers: Er war weltanschaulich, in philosophisch-religiöser Hinsicht, freisinnig eingestellt und gesellschaftlich, auf politisch-sozialem Gebiet, bürgerlich-demokratisch. 180 Der Vorwurf, er sei ein „Demokrat", ein „Aufwiegler" des Volkes, ein „Aufrührer oder Jakobiner", ja ein „Sanscülotte", richtete sich gegen die politischsoziale Seite seines radikalen Aufklärertums. In der Geschichte der Geschichtsforschung verkörpert Schlözer, als Begründer der quellenkritisch-völkergeschichtlichen Methode, jene fortschrittliche Aufklärungswissenschaft, die vom bürgerlichen Historismus und Nationalismus des 19. Jh. zu Unrecht als ahistorisch und anational hingestellt wurde. Er war der bedeutendste Geschichtsschreiber aus den Reihen der deutschen radikalen Aufklärer, während sein Ideenerbe Herder ihr genialster Geschichtsphilosoph wurde. Schlözer und Herder waren, wie Georg und Reinhold Forster und wie Bahrdt, die ebenfalls auf Schlözer schauten, für das deutsche Geistesleben Fenster zur Welt — durch ihren globalen Horizont, ihre Aufgeschlossenheit für andere Völker und ihre Verbundenheit mit diesen. Schlözer, Herder, die beiden Forster und Bahrdt verbreiteten im besonderen eine positive Einstellung zu den Völkern des östlichen Europa. Schlözer und Herder wurden dadurch zugleich Ansporn zur Selbstbesinnung und nationalen Erweckung für diese Völker. So erfüllten sie eine übernationale Mission, die allerdings bei Schülern und Anhängern in Nationalismus und realitätsferne Romantik umschlug. Schlözer hat, nach ungarischer Einschätzung, die „Geschichtswissenschaft um 1800" wesentlich vorangebracht. Von ihm wurde, laut kompetentem russischen Urteil (Solov'ev), „die Geschichtswissenschaft auf feste Grundlagen gestellt". Er trug, heißt es in der neuesten polnischen Wertung, wesentlich zur „Modernisierung der Forschungsmethoden und der Begriffskategorien der historischen Wissenschaft" bei. Ähnlich äußerten sich maßgebende Historiker im Polen des 19. Jh.: der Demokrat Joachim Lelewel („ich machte mich mit Schlözer vertraut") 178
Schlözer und Rußland, S. V, 20-25, 29, 39 f. iv» Originalurkunden, 1, S. 447; Staatsredit, S. 7. "" Vgl. Mühlpfordt Günter, Russisch-deutsche Begegnungen. Schlözer und Rußland, in: JbGUdSSR, Bd. 7,1963, S. 564-566, 573-575, besonders S. 574.
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und Feliks Bentkowski („Schlözer wies den Weg zum pragmatisch-philosophischen Studium des historischen Materials" und zu dessen „Kritik").181 Schlözer entwickelte die vergleichende philologisch-kritische Methode weiter zur ethnisch-kritischen. Er wandte diese besonders auf die Völker der slawischen, germanischen, baltischen und ostromanischen Sprachengruppe des indogermanischen (indoeuropäischen) Sprachenkomplexes sowie auf die der finnougrischen und nenzischen (samojedischen) Gruppe des uralischen Sprachenverbandes an. Dadurch hat er in der Rußland-, Slawen- und Ungarnforschung Epoche gemacht. In der deutschen Geschichtswissenschaft vertrat Schlözer jene progressive Richtung, die infolge der Niederlage der Revolution von 1848/49 für ein Jahrhundert in den Hintergrund gedrängt wurde. Vornehmlich bis 1849 haben zahlreiche deutsche Historiker seine Grundsätze der Textkritik und -edition, seine Forschungsergebnisse und seine völkergeschichtliche Betrachtungsweise rezipiert. Neben Vorkämpfern der Bauernbefreiung gingen aus Schlözers Schule Streiter gegen Sklaverei, Kolonialismus und andere politisch-gesellschaftliche Übel hervor. Georg Forsters Schwager Matthias Christian Sprengel (1746—1803), Historiker, Geograph und Ethnograph, Professor und Rektor der Universität Halle, hat in Göttingen zu Schlözers Füßen gesessen. Sprengel solidarisierte sich mit der nordamerikanischen Unabhängigkeitsrevolution. Er rief 1779 in seiner halleschen Antrittsvorlesung zur Abschaffung des Sklavenhandels auf.182 Schlözers Schüler Friedrich Reitemeier (1755—1839), Professor in Frankurta. d. O., erachtete es in seiner preisgekrönten Geschichte der griechischen Sklaverei für die erste Aufgabe des Historikers, das Verhältnis zwischen „herrschender und dienender Klasse" zu untersuchen. Er fand Zustimmung: Reitemeier halte „mit Recht für wichtig, daß zu mehrerer Aufklärung der Geschichte ganzer Völker zuerst deren Verhältnis in Rücksicht auf die herrschende und dienende Klasse ausgemittelt werde".183 Reitemeiers Buch und die zitierte Rezension erschienen noch vor der Französischen Revolution. So ging von der Schlözer-Schule auch eine systematische Erforschung der Klassenbeziehungen aus, die zu einer klassenmäßigen Geschichtsauffassung führte. Eng schloß sich an Schlözer der mit Dobrovsky befreundete Görlitzer Historiker, Germanist, Slawist und Rechtsgelehrte Karl Gottlieb Anton (1751—1818) an, der Initiator der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften. Antons Briefwechsel mit Dobrovsky bestand z. T. aus gegenseitiger Beratung in der „SchlözerMethode". Der Oberlausitzer Aufklärer, der Schlözer seinen „Lehrer und Freund" nannte, lernte von ihm, die Sprache als Mittel der Geschichtserkenntnis zu nutzen. Mit Schlözer und dem Göttingen-Absolventen Friedrich August Wolf in Halle 181 182
183
5*
Grabski, S. 817, 820 f. Zu Matthias Christian Sprengel vgl. Käthe, Heinz, Der amerikanische Unabhängigkeitskrieg und Halle, in: Georg Forster, Halle 1981, sowie Mühlpfordt, Bahrdt und die beiden Forster, ebenda. Reitemeier, Rez. in: Allgemeine Literaturzeitung, 1789, Bd. 2, Sp. 575. Reitemeiers Geschichtsauffassung behandle ich in einem gesonderten Aufsatz; vgl. Mühlpfordt, Günter, Die Oderuniversität Frankfurt, Frankfurt a. 0.1982.
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war sich Anton einig über die Bedeutung der „Wurzelwörter" für die Wortbildung. Anton teilte, anders als Wolf, auch Schlözers Uberzeugung, daß die Stammwörter Aussagen über Ursprung, Wanderungen und Entwicklung der Völker ermöglichen.184 Spätere Historikergenerationen haben Schlözers Quellenkritik weiterentwickelt. An seine demokratische Gesinnung, an sein Eintreten für die Unterdrückten und an seine völkerverbindende Haltung wurde leider weniger angeknüpft. 15 Jahre nach dem letzten Band von Schlözers „Nestor"-Kritik erschien Rankes an Schlözer geschulte „Kritik neuerer Geschichtsschreiber" (1824). Rankes Frühwerke standen stark unter Schlözers Einfluß. Der junge Ranke begann als Völkerhistoriker in Schlözerscher Manier. Er übernahm Schlözers ethnische Gliederung der Geschichte. In seinen „Geschichten der romanischen und germanischen Völker" (ebenfalls 1824) verwarf Ranke, wie Schlözer, die Einteilung der Menschheit nach Erdteilen, Religionen, Staaten oder Dynastien zugunsten der nach Sprachfamilien. Glefich Schlözer achtete er in seinen Frühschriften auf die wirtschaftlichen Grundlagen und auf den wissenschaftlich-kulturellen Fortschritt. Rankes späterer Weg entfernte ihn von Schlözer, in der Quellenkritik aber schritt die Ranke-Schule auf Schlözers Bahn weiter. Auch die Historische Rechtsschule, durch Karl Friedrich Eichhorn und Gustav Hugo auf Göttinger Boden erwachsen, eignete sich Schlözers Quellenkritik an, ohne seine Gesinnung zu teilen.185 Die Staats- und Rechtswissenschaft, die Schlözer zu den großen deutschen Staatswissenschaftlern zählt, übernahm von ihm überdies die klare Scheidung zwischen Verfassungs- und Verwaltungslehre.186 Mit seinem politischen Ethos wirkte Schlözer auf progressive Historiker im Vormärz. Heinrich Luden, Friedrich Christoph Schlosser, Karl Hagen u. a. trugen seine Ideen weiter. 187 Arnold Ruges Deutsche Jahrbücher, Vorgänger der DeutschFranzösischen Jahrbücher von Marx und Rüge, würdigten Schlözer 1841 als Anhänger der Französischen Revolution und Vorkämpfer der Menschenrechte.188 Hagen und Rüge saßen 1848 auf der äußersten Linken der deutschen Nationalversammlung, zusammen mit Hugo Wesendonck, dessen Neffe Hermann Wesendonck diesem 1876 eine Schlözer-Biographie widmete. Demokratische und libe** Anton, Karl Gottlob, Reisetagebuch, in: Neues Lausitzisches Magazin, 16,1838, S. 105 f.; ders., Uber Sprache in Rücksicht auf Geschichte der Menschheit, Leipzig 1799, S. 105, 113; vgl. Mühlpfordt, Günter, Oberlausitzer Aufklärer, in: Die Oberlausitz in der Epoche der bürgerlichen Emanzipation, hrsg. von Johannes Irmscher/Ernst-Heinz Lemper/Günter Mühlpfordt, Görlitz 1981; ders., Die Oberlausitz in der Welt der Aufklärung, in: 200 Jahre Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften, hrsg. von Lemper/Mühlpfordt, Görlitz 1982. 185 Eichhorn wurde Nachfolger Reitemeiers in Frankfurt a. O.; vgl. Mühlpfordt, Oderuniversität. Mohl, Robert, Geschichte der Staatswissenschaften, Bd. 2, Erlangen 1856; Landsberg, Ernst, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, Bd. 3/2, München 1910, S. 259, 262,409. ,a/ Vgl. Mühlpfordt, Günter, Karl Hagen, in: JbG, Bd. 21,1980, S. 63-101. 188 Deutsche Jahrbücher, hrsg. von Arnold Rüge, 1841, S. 272.
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rale Literatur- und Wissenschaftshistoriker — Gottfried Gervinus, Hermann Hettner, Karl Biedermann, Robert Mohl — hielten die Erinnerung an Schlözer als den „freisinnigsten Staatsschriftsteller" des 18. Jh. wach. In der Reaktionsperiode seit 1850 sank Schlözers Geltung jedoch. Hatte er 1844, an der Schwelle der Revolution, „fast einstimmige Anerkennung" gefunden, so war er 1876 „fast ganz der Vergessenheit anheimgefallen". 189 Der größere Zeitabstand erklärt das nicht hinreichend. Es war vielmehr symptomatisch f ü r den innenpolitischen Niedergang nach 1849, f ü r den Aufstiegs-Sturz ins Bismarckreich. Hermann Wesendoncks Schlözer-Buch von 1876 bedeutete einen Lichtblick. Es hat Schlözersches Erbe ins neue Reich hinübergerettet. Dem 1848er Emigranten Hugo Wesendonck „in New York" zugeeignet, war es der Schlözer-Biographie des Vormärz-Demokraten Adolf Bock verpflichtet. Ohne sie zu erreichen, wahrte es ihre demokratische Grundhaltung. Bei der kulturhistorischen Schule liberaler Färbung blieb Schlözer in höherem Ansehen als bei den dominierenden politischen Historikern konservativer Observanz. 190 Heute besinnt man sich außer in den beiden deutschen Staaten auch in der Sowjetunion, in Österreich, Ungarn, Rumänien, Polen, der Tschechoslowakei, den USA u. a. Ländern wieder auf ihn — nicht nur auf den scharfsinnigen Methodiker, auch auf den mutigen Obrigkeitskritiker. 191 Damit entsteht aber, wie bei jeder Renaissance, die Gefahr einer Überhöhung. Ihr gegenüber ist an Schlözers Einseitigkeiten und Unzulänglichkeiten zu erinnern, an seine Überheblichkeit und seinen Eigensinn. Ein Kind seiner Zeit, teilte er manche Illusion der Aufklärer. Als Aufklärer überschätzte er die intellektuellen Mittel und Wege zum gesellschaftlichen Fortschritt und dessen mögliches Tempo, obschon er die ökonomischen, sozialen und politischen Kräfte besser erkannte und die historische Perspektive weniger verkürzte als die meisten Aufklärer. Als Rationalist behandelte er umgekehrt die emotionalen Imponderabilien im Völkerleben zu geringschätzig. Seine völkergeschichtliche Methode hat den sprachlich-ethnischen Aspekt gegenüber dem sozialen manchmal überbewertet, diesen mitunter vernachlässigt. Seine Gesellschaftskritik und sein Demokratismus waren mit Rücksicht auf die Machthaber nicht konsequent. Daher krankte seine politisch-soziale Kritik an Ungleichmäßigkeit und war bisweilen ungerecht. Er mußte die großen Tyrannen schonen, um die kleinen attackieren zu können. Demzufolge bauschte er Unterdrückung und Mißstände in Kleinstaaten auf, deren Regierungen ihm nicht gefährlich schienen — in deutschen Zwergfürstentümern und Reichsstädten, in Kantonen der Schweiz, in den republikanischen Niederlanden. Er überging aber lsa lsu 181
Bock; Wesendonck, Hermann, Die Begründung der neueren deutschen Geschichtsschreibung durch Gatterer und Schlözer, Leipzig 1876, S. V f. Schaumkell, S. 61-75. Vgl. Iggers, Georg G., Neue Geschichtswissenschaft, München 1978, S. 23 ff.; Becher, A. J., Ursula, Politische Gesellschaft. Studien zur Genese bürgerlicher Öffentlichkeit in Deutschland, Göttingen 1978, S. 129 ff.
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vor 1789 analog oder noch größere Übel in mächtigen, für ihn gefährlichen Monarchien. An exotische Despoten und an die mit seinem König verfeindeten Bourbonenhöfe, namentlich an das angeschlagene Ancien régime, wagte er sich schon vor 1789 heran. Das Versailler Regierungssystem stellte er bereits 1779 auf eine Stufe mit orientalischer Despotie.192 Die Höfe von Potsdam, Wien und Petersburg durfte er jedoch nicht offen kritisieren. Diesen und noch mehr natürlich dem in London und Hannover gegenüber war ihm Zurückhaltung befohlen. So sah sich Schlözer gezwungen, seinem Weltverbesserungsdrang Zügel anzulegen. Mißstände in Preußen, Österreich und Rußland machte er bekannt, wenn ihm Friedrich II., Josef II. oder Katharina II. Rückhalt bot. Durch seinen Feldzug gegen die „kleinen Despoten" und Oligarchien, die er dafür um so energischer aufs Korn nahm, hielt er sich schadlos. Neben taktischen Erwägungen beruhte diese Haltung aber auch auf seiner Verachtung der Kleinstaaten und seiner übermäßigen Hochschätzung der geschichtlichen Rolle der Großmächte. Es war das ein im Kern richtiger Gedanke, den auch die seitherige Weltgeschichte, so die Revolutionsgeschichte, bestätigt hat, den Schlözer jedoch überspitzte und der ihn verleitete, die Regierungen kleinerer Republiken, z. B. der Niederlande und der Schweiz, schärfer anzupacken als die großer Monarchien. Das hat ihm Tadel aus jenen Republiken eingetragen.193 Außerdem übertrieb Schlözer die Gefahren der Ochlokratie, die er als „Pöbeldespotismus" hinstellte, und unterschätzte überhaupt die positive Rolle der Volksmassen im Staatsleben, zumal er keine „Demokratie bei einem großen Volke von mehreren Millionen Köpfen" kannte.194 Dessenungeachtet erwarb sich Schlözer durch seine Völker- und verfassungsgeschichtliche Betrachtungsweise außerordentliche Verdienste. Zeitgebundenheit und Zeitbefangenheit waren bei diesem weitblickenden Geschichtsdeuter mit seiner Einsicht in Entwicklungsgesetze der Gesellschaft geringer als beim Gros der Aufklärer. Sein neues Bild der Geschichte bot eine fortschrittliche Alternative — eine bürgerlich-volksnahe Antithese gegen die dynastische Hofhistoriographie und gegen eine unterwürfige territorialistische oder eng juristische Geschichtsschreibung. Schlözer kam nicht mehr dazu, seine universalgeschichtliche Konzeption in einer großen Völker- oder Weltgeschichte zu realisieren. Seine letzte allgemeine Geschichte wurde wegen ihres nationalrevolutionären Aufbegehrens gegen das napoleonische Joch eingestampft. So reicht seine Bedeutung als Geschichtsschreiber im ganzen nicht an die epochale als Geschichtsforscher heran. Doch verband Schlözer in seltener Weise minutiöse Einzelforschung mit einer lua Schlözer an Waser, 10.10.1779, in: Originalurkunden, 1, S. 262. «a Dagegen wußten ihm unzufriedene Schweizer — besonders die Waadtländer im Kanton Bern und die Zürcher Opposition — Dank für die publizistische Unterstützung gegen ihre Regierungen. 200 Jahre danach erklangen in Max Frischs kritischem „Wilhelm Teil für die Schule" (1970) ähnliche Töne. Die von Schlözer geforderte Demokratisierung der Kantonalverfassungen (Beseitigung der Untertanenlande, Frauenwahlrecht u. a.) ist schrittweise 1798, 1831, 1848 und zuletzt 1971—1981 erfolgt. 1981 wurde schließlich die Gleichberechtigung der Frau beschlossen. m Staatsrecht, S. 128.
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großartigen Weite der Geschichtsschau. Es gab unter den Aufklärern geniale Geschichtsdenker mit fachwissenschaftlich unzureichenden Methoden, wie Herder, und es gab unter ihnen Fachhistoriker mit soliden Forschungsverfahren, aber antiquierten Ansichten, wie Schlözers älterer Kollege Gatterer. Schlözer vereinte beide Vorzüge: den heuristischen und den konzeptionellen. Das Hauptverdienst Schlözers um Geschichtstheorie und Methodologie bestand darin, daß er die Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit der gesellschaftlichen Entwicklung erkannte, ihre Autonomie gegenüber der Natur. Namentlich überwand er die „Klimatheorie", den geographischen Determinismus vieler Aufklärer. „Mit August Ludwig Schlözer b e g i n n t . . . Geschichte als methodenbewußte Sozialwissenschaft . . . Schlözers Strukturgeschichte" kommt ohne „die .natürlichen Kräfte'" aus. „Schlözers Fortschrittsbewußtsein erwächst ausschließlich aus der Uberzeugung der im Geschichtsprozeß selbst vorzufindenden Gesetze und Zusammenhänge; er benötigt keinen . . . Rekurs auf Naturgegebenheiten." 195 Damit vollzog Schlözer die endgültige Verselbständigung der Gesellschaftswissenschaften, ihre Emanzipation von der „Naturgeschichte". Nach ihrer Emanzipation von der Barockscholastik durch die Frühaufklärung war dies eine zweite große aufklärerische Tat. Mit ihr erwies sich Schlözer als maßstabsetzender Repräsentant der Hochaufklärung, der ausgereiften Aufklärung. So stellte Schlözer die Geschichtsforschung auf feste Füße. Seine Forderung, weniger Fürsten-, Diplomatie- und Kriegsgeschichte zu treiben, dafür mehr Wirtschafts-, Sozial- und innenpolitische Geschichte, statt bloßer Hof- und Adelsgeschichte eine Volksgeschichte zu schreiben, hat sich nach langen Umwegen durchgesetzt. Sein Anliegen einer umfassenden Wissenschafts- und Kulturgeschichte,196 vorrangig als „Geschichte der Entdeckungen und Erfindungen" im
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Dietsch, Steffen, Kant und Schlözer als Kritiker Herders, in: Herder-Kolloquium, S. 148 f. laö Daß Schlözer seine demokratische Gesinnung oft nur durchschimmern ließ, war kein Einzelfall. Viele Aufklärer haben unter dem Druck der Verhältnisse ihre demokratische Einstellung nicht offen bekundet (vgl. Scheel, Heinrich, Deutscher Jakobinismus und deutsche Nation. Ein Beitrag zur nationalen Frage im Zeitalter der Großen Französischen Revolution, Berlin 1966, S. 7 f.). Die verhüllte Sprache, zu der die Zensur im absolutistischen Polizeistaat sie zwang, berechtigt die Nachwelt aber nicht, ihnen ihren Demokratismus abzusprechen. Uber Schlözer als Gesinnungsdemokraten handelt meine noch nicht gedruckte Arbeit „Anwalt der Unterdrückten — Schlözer und die .wahre Demokratie'. Geschichts- und Obrigkeitskritik unter dem Absolutismus", in: Jb. des Instituts für Deutsche Geschichte, 12, 1983. — Schlözers Bedeutung in den internationalen Kulturbeziehungen untersucht mein Beitrag „Schlözer", in: Wegbereiter der deutsch-slawischen Wechselseitigkeit, hrsg. von Eduard Winter, Bd. 1, Berlin 1982. — Weitere neuere Literatur zu Schlözer: Pohrt, Heinz, Schlözer über Rußland in den „Göttingischen Gelehrten Anzeigen" 1801/09, in: Rußland im frühen Mittelater, hrsg. von Erich Donnert, Halle 1981, S. 283—293; Warlich,Bernd, Schlözer zwischen Reform und Revolution, Diss. ErlangenNürnberg 1972; Lewin, Karl, SozialWissenschaften in Göttingen 1734-1812, Diss. Göttingen 1970; Neubauer, Helmut, Schlözer und die Geschichte Osteuropas, in: Jahr-
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weitesten Sinne, d. h. der v o r w ä r t s f ü h r e n d e n Erkenntnisse, v e r s t a n d e n , als Geschichte des Fortschritts, h a r r t noch d e r E r f ü l l u n g . bücher für Geschichte Osteuropas, 18, 1970, S. 205—320; Haase, Carl, Obrigkeit und öffentliche Meinung in Kurhannover 1789—1803, in: Niedersächsisches Jahrbuch f ü r Landesgeschichte, 1967, S. 234 f., 241. Für Hinweise danke ich Hans Schleier.
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Marx' „Kreuznacher Exzerpte"
Die Veröffentlichung der Gesamtheit der Marxschen „Kreuznacher" Exzerpthefte im BandIV/2 der neuen Marx-Engels-Gesamtausgabe gibt Anlaß, einige Fragen, die sich an dieses Dokument der frühen politischen, wissenschaftlichen und weltanschaulichen Entwicklung des Begründers der dialektisch-materialistischen Gesellschafts- und Geschichtstheorie knüpfen, neu zu durchdenken. Der nunmehr mögliche Überblick über alle fünf Exzerpthefte, die sorgfältige Lektüre dieser außerordentlich umfangreichen Zitatauswahl aus vier staatstheoretischen, neun historisch-politischen und elf geschichtswissenschaftlichen Werken läßt manche Einzelheit unseres bisherigen Wissens über Entstehung, Zweck und Bedeutung der Sammlung fraglich oder der Korrektur bedürftig erscheinen. Es ist an dieser Stelle nicht nötig, die „Kreuznacher" Hefte zu beschreiben. Der umfangreiche Apparat der wissenschaftlichen Edition gibt detailliert darüber Auskunft, welche Rückschlüsse die äußere Form auf Entstehungszeit, Entstehungsort und Entstehungszweck zuläßt. Auch die Geschichte der bisherigen Interpretation der Exzerpte soll hier nicht behandelt werden. Nicht angestrebt wird ferner eine Gesamtanalyse, die mittels eines detaillierten Studiums aller Exzerptaussagen alle die Elemente anzugeben weiß, um die unsere Kenntnis über Wollen und Wissen des jungen Marx zum Zeitpunkt des Entstehens der Exzerpte vermehrt werden kann. Erst in diesem Falle ließe sich über die Stellung der Exzerpte innerhalb der Entwicklung der Marxschen gesellschafts- und geschichtstheoretischen Auffassungen bis hin zur „Deutschen Ideologie" von 1845/46 begründet Auskunft geben. In der folgenden Studie werden vor allem methodische Fragen gestellt. Sie lassen sich in einer Frage zusammenfassen: Auf welche Weise ist es möglich, aus — wie es zunächst den Anschein hat — von Marx nicht kommentierten, nicht interpretierten bloßen Exzerpten (die in ihrer Masse bloße „historische Fakten" wiedergeben) sichere Rückschlüsse auf deren Zweck, deren Problemkontext und deren Beitrag zur Anreicherung des Marxschen Wissens oder zur Verschärfung des Marxschen Problembewußtseins zu ziehen? Daß und wie es möglich ist, soll an Beispielen dargelegt werden; in einigen Punkten soll etwas darüber gesagt werden, inwieweit eine Analyse der frühen Marxschen Exzerpte unser Wissen über die Marxsche Begriffs- und Ideenwelt im Jahre 1843 und die Bedeutung der „Kreuznacher" Studien für deren Weiterentwicklung bis 1845/46 ergänzt. Außer Frage steht Marx' Autorschaft; die Exzerpte liegen in seiner wohlbekannten, durchaus nicht leicht lesbaren Handschrift vor. Auch Ort und Zeit der Nieder-
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schriften scheinen festzustehen: Die — von den Herausgebern der ersten MarxEngels-Gesamtausgabe so numerierten — Hefte I und III tragen, in der Handschrift von Marx, den Vermerk „Kreuznach. Juli. 1843"; auf Heft II ist „Kreuznach. Juli. August. 1843" vermerkt, auf Heft IV ebenso. Aus verschiedenen Gründen jedoch scheint es angebracht, die von Marx selbst vorgenommene Datierung anders zu interpretieren, als es bisher geschah. Zunächst ist schwer vorstellbar, daß Marx in den Monaten Juli und August in Kreuznach vierundzwanzig zum Teil mehrbändige, meist sehr umfangreiche Werke studierte und exzerpierte, und zwar, wie an Art und Umfang vieler Exzerpte ablesbar, in Ruhe und mit außerordentlicher Konzentration. Setzt man voraus, daß Marx zur gleichen Zeit das ebenfalls umfangreiche und höchste geistige Aktivität widerspiegelnde Manuskript der „Kritik des Hegeischen Staatsrechts"1 begann oder weiterführte, so verstärkt sich der Zweifel, wenngleich Marx erstaunlicher Energieleistungen fähig war. Wir wissen, daß Marx den Inhalt eines Teils von Heft II in Stichworten erfaßte sowie von Heft II ein relativ geschlossenes, von Heft V ein partielles Inhaltsverzeichnis anfertigte. Denkbar wäre auch, daß Marx im Juli und August 1843 die (ganz oder teilweise) bereits vorliegenden Exzerpte für einen bestimmten Zweck (die Niederschrift der Hegel-Kritik?) ordnete, systematisierte und bei dieser Gelegenheit auch datierte. Was hier noch als ganz unbestimmte Vermutung erscheinen mag, gewinnt an Wahrscheinlichkeit, wenn wir uns — zunächst punktuell — dem Inhalt der Exzerpte und später den Marxschen Stichworten und Inhaltsverzeichnissen zuwenden. Wenn wir voraussetzen, daß die Marxsche Datierung nicht einfach die tatsächliche Entstehungszeit angibt, so müssen wir, um die Frage beantworten zu können, wann Marx die Exzerpte anfertigte, die weitere, in unserem Zusammenhang weitaus wichtigere Frage vorziehen und beantworten, warum, zu welchem Zweck er es tat. Daß Marx' ausgedehntes Studium so vieler staatstheoretischer, historischer und politisch-publizistischer Werke nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck war, scheint evident. Marx selbst hat sich über diesen Zweck nirgendwo geäußert; wir müssen seine Motivation folglich indirekt erschließen. Offensichtlich ist das nur dadurch möglich, daß wir das Resultat, für dessen Zustandekommen Literaturstudien und Exzerpte notwendig waren, das Ziel der Gesamthandlung, in der die Exzerpte gewissermaßen einen Teilschritt darstellten, bestimmen. Auch hier scheint kein Zweifel möglich. David Rjazanov2, V. G. Mosolov3 und N. Lapin4, die besten Kenner dieser Materie, waren übereinstimmend davon überzeugt, daß wir in den „Kreuznacher Exzerpten" eine Vorarbeit zur „Kritik des Hegeischen Staatsrechts" zu sehen haben. Lapin glaubte sogar sagen zu können, daß Marx an einem bestimmten Punkt die Niederschrift der 1 2
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MEW, Bd. 1, S. 201 ff. Vgl. Einleitung zu Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), Erste Abt., Bd. 1, 2. Hbbd., Berlin 1929. Vgl. Mosolov, V. G., IzuCenie K. Marksom vsemirnoj istorii v 1843—1844 gg. kak odin iz istoinikov formirovanija materialistiCeskogo ponimanija istorii, in: Marks istorik, Moskva 1968, S. 8 ff. Vgl. Lapin, N. 1., Der junge Marx, Berlin 1974, S. 223 ff.
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Hegel-Kritik unterbrach, um zur Lösung eines Kernproblems der Auseinandersetzung zunächst zusätzliches staatstheoretisches und historisches Wissen zu erwerben. 5 Die Interpretation der „Kreuznacher Exzerpte" als Vor- oder Komplementärarbeit zur Hegel-Kritik von 1843 wird, um es vorwegzunehmen, durch eine Analyse der Exzerpte in ihrer Gesamtheit bestätigt. Bestimmte Modifikationen aber sind vorzunehmen — als Konsequenz aus den weiteren hier angestellten Überlegungen. Das sicherste Indiz dafür, daß Literaturstudien für eine wissenschaftliche Arbeit betrieben (Exzerpte benutzt) worden sind, bildet das Auftreten von wörtlichen Zitaten. Weniger Sicherheit wird durch indirekte Zitate verbürgt; noch unsicherer ist es, aus inhaltlichen Ähnlichkeiten (Analogien) auf „gedankliche Verarbeitung" zu schließen, denn es gibt Gedanken, die gewissermaßen „in der Luft liegen" oder auf eine gemeinsame dritte Quelle verweisen. Direkte Wiedergaben aus den „Kreuznacher" Exzerptheften finden sich erstmalig in Marx' Artikel „Zur Judenfrage", Teil I und II (entstanden um die Jahreswende 1843/44). Dabei handelt es sich um jeweils ein Zitat aus Rousseaus „Gesellschaftsvertrag" 6 , Thomas Hamiltons „Die Menschen und die Sitten in den Vereinigten Staaten von Nordamerika" 7 und Rankes „Deutscher Geschichte im Zeitalter der Reformation'' 8 . Allerdings kann ein durchgehender Ziel-Mittel-Zusammenhang hier (anders im Falle der Hegel-Kritik!) nicht festgestellt werden. Zudem weichen Exzerpt und Zitat in „Zur Judenfrage" im Falle Rousseau voneinander ab. In beiden Versionen hat Marx bei Rousseau bestimmte Wörter (Begriffe) unterstrichen; hinsichtlich dieser Unterstreichungen aber, die das für Marx im gegebenen Kontext Wichtige hervorheben, gibt es Unterschiede zwischen Exzerpt und späterem Zitat. 9 Der (Problem-)Kontext hatte sich verändert. 10
» Ebenda. ö Marx, Karl, Zur Judenfrage, in: MEW, Bd. 1, S. 370; vgl. Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. IV/2, Berlin 19802 (im folg.: MEGA2), S. 96, Z. 25-31. ' Marx, Zur Judenfrage, S. 373; vgl. MEGA2, Bd. IV/2, S. 267, Z. 20-32. 8 Marx, Zur Judenfrage, S. 375; vgl. MEGA2, Bd. IV/2, S. 175, Z. 24-26. M Exzerpt: „Celui qui ose entreprendre d'instituer un peuple, doit se sentir en état de changer, pour ainsi dire, la nature humaine; de transformer chaque individu qui par lui-même est un tout parfait et solitaire, en partie d'un plus grand tout dont cet individu reçoive en quelque sorte sa vie et son être . . . de substituer une existence partielle et morale à l'existence physique et indépendante >... Il faut qu'il ôte à l'homme ses forces propres pour lui en donner qui lui soient étrangères et dont il ne puisse faire usage sans le secours d'autrui." Zitat: „Celui qui ose entreprendre d'instituer un peuple, doit se sentir en état de changer, pour ainsi dire, la nature humaine, de transformer chaque individu qui par lui-même est un tout parfait et solitaire, en partie d'un plus grand tout dont cet individu reçoive en quelque sorte sa vie et son être, de substituer une existence partielle et morale à l'existence physique et indépendante. Il faut qu'il ôte à l'homme ses forces propres pour lui en donner qui soient étrangères et dont il ne puisse faire usage sans le secours d'autrui." (Unterstreichungen in beiden Fällen von Marx.)
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Wir können folglich, wenn wir einen Mittel-Zweck-Zusammenhang zwischen Exzerpt und einem „Resultat" feststellen wollen, das dem Aufsatz „Zur Judenfrage" zeitlich vorangeht, nur auf indirekte Zitate oder „gedankliche Verarbeitungen" rechnen; eine scharfe Trennungslinie zwischen beiden Formen der Benutzung läßt sich kaum ziehen. Indirekte Zitate bzw. „gedankliche Verarbeitungen" finden wir — bei Stichproben — allerdings nicht erst in der „Kritik des Hegeischen Staatsrechts". Ohne Gewaltsamkeit läßt sich ein Zusammenhang dieser Art bereits zwischen den Marxschen Exzerpten aus Lord John Russells „Geschichte der englischen Regierung und Verfassung von Heinrichs VII. Regierung an bis auf die neueste Zeit" und Marx' Artikelfolge über die Verhandlungen des sechsten Rheinischen Landtages („Debatten über Preßfreiheit und Publikation der Landständischen Verhandlungen")11 konstatieren, und zwar in mindestens vier Punkten. Marx' Informationen über die oppositionelle Presse und die englische Pressezensur im 16. und 17. Jh.12 entstammen Russells Buch13; Marx' Polemik gegen die Argumente der Gegner der Pressefreiheit14 fand sich — weitaus weniger radikal — bei Russell vorgezeichnet, und zwar sowohl im Hinblick auf die Bewertung der Funktion (und tatsächlichen Macht) der Presse15 als auch im Hinblick auf den Vorwurf, die Presse hätte Revolutionen entfacht16 oder die Nationalschuld eines Landes in die Höhe getrieben. Für letzteres17 gibt es keine Entsprechung in den Exzerpten, wohl aber einen direkten Bezug zum Abschnitt 29 („Nationalschuld") bei Russell, in dem sowohl die Theorie der Nationalschuld entwickelt als auch auf die Beispiele Holland18 und Frankreich19 hingewiesen wird. Daß hier tatsächlich eine Bezugnahme vorliegt, wird durch eine weitere sehr deutliche Analogie erhärtet. „Ein Volk", schrieb Marx, „welches, wie alle Völker der besten Zeit, das Recht, die Wahrheit zu denken und auszusprechen, dem Hofnarren vindiziert, kann nur ein Volk der Abhängigkeit und der Selbstlosigkeit sein."20 Damit faßte er (zu beachten: „Völker der besten Zeit" und „Volk der Abhängigkeit und der Selbstlosigkeit") im Sinne der eignen Argumentation einen längeren Passus aus dem Abschnitt 13 („Persönliche Freiheit") bei Russell zusammen.21 Vgl. Jaeck, Hans-Peter, Die französische bürgerliche Revolution von 1789 im Frühwerk von Karl Marx (1843—1846). Geschichtsmethodologische Studien, Berlin 1979, S. 78 f. " MEW, Bd. 1, S. 28 ff. " Vgl. ebenda, S. 37. 13 Vgl. MEGA 2 , Bd. IV/2, S. 123, Z. 14-23; S. 124, Z. 3-7. " Vgl. Marx, Karl, Die Verhandlungen des 6. Rheinischen Landtages (im folg. Verhandlungen), 1. Artikel, in: MEW, Bd. 1, S. 60 f. 15 Vgl. MEGA 2 , Bd. IV/2, S. 133, Z. 16-18, 22-24. 10 Vgl. ebenda, S. 132, Z. 24-30. 17 Vgl. Marx, Verhandlungen, 1. Artikel, S. 38. 18 Russell, Lord John, Geschichte der englischen Regierung und Verfassung von Heinrichs VII. Regierung an bis auf die neueste Zeit. Aus dem Englischen nach der zweiten bedeutend vermehrten Ausgabe übersetzt von Dr. P. L. Kritz, Leipzig 1825, S. 216. ™ Ebenda, S. 214 f., 216. '•*> Marx, Verhandlungen, S. 33. 10
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Auf die Tatsache, daß Marx unmittelbar aus dem Gedächtnis auf Gelesenes Bezug nimmt, stoßen wir häufig; möglicherweise läßt sich aus der Häufung solcher Bezüge, wie im Falle Russell (,,Preßfreiheit"-Artikel), auf eine geringe zeitliche Distanz zwischen Lektüre (Exzerpt) und Niederschrift des Artikels schließen. Der Schluß, die geplante Artikelfolge über die Verhandlungen des Rheinischen Landtags22 sei allein Anlaß und Zweck der Russell-Lektüre gewesen, kann und soll hier nicht gezogen werden; die Artikelfolge stellt in gewisser Weise selbst nur einen Teilschritt in Marx' publizistischem und wissenschaftlichem Ringen um die demokratische Reform der Gesellschaft und deren Programm dar. Doch aus dem Dargelegten sind Konsequenzen anderer Art zu ziehen. Erstens: Wir können im weiteren Verlauf der Analyse nicht mehr ohne weiteres von der Voraussetzung ausgehen, daß die fünf Marxschen Exzerpthefte in ihrer Gesamtheit in den Monaten Juli und August 1843 in Kreuznach entstanden sind; mindestens die Russell-Exzerpte lagen sehr wahrscheinlich bereits im Mai und Oktober vor. Zweitens: Wir dürfen im weiteren Verlauf der Analyse nicht mehr nur direkte Zitate als Beweis dafür werten, daß ein Mittel-Ziel-Zusammenhang zwischen Lektüre (Exzerpt) und angestrebtem Resultat besteht, sondern müssen auch nach indirekten Zitaten oder gedanklichen Anklängen suchen. Nicht nur der Buchstabe, sondern der Sinn des Gelesenen und Exzerpierten ist zu beachten, was mitunter den Rückgriff auf das gelesene Werk und den bei Marx präsenten, für den heutigen Leser verlorenen Exzerpt-Kontext voraussetzt. Nehmen die Russell-Exzerpte, weil sie etwa besonders früh entstanden und eventuell auf einen anderen Zweck hin angefertigt wurden, eine Sonderstellung ein? Es gibt Anlaß, daran zu zweifeln. In der „Rheinischen Zeitung" vom 11. Dezember 1842 publizierte Marx eine Kritik der „Artikel in Nr. 335 und 336 der Augsburger ,Allgemeinen Zeitung'" über die Ständischen Ausschüsse in Preußen. Dieser Marxsche Beitrag, der ganz den Charakter einer theoretischen Abhandlung trägt, schlägt bereits die Grundthemen der Hegel-Kritik von 1843 an: die Ablehnung des ständischen Systems, des Majorats, des „versteinerten" Grundeigentums. Gegen den Verfasser des Artikels in der „Augsburger", der nachzuweisen versucht hatte, daß auch in Frankreich und England vor allem das Grundeigentum politisch repräsentiert sei, hob Marx hervor, „daß in Frankreich und 21
„In alten Zeiten wurde die Freiheit zu schreiben und zu sprechen nicht bloß in Freistaaten (antiken Republiken), sondern auch da verpönt, wo der Despotismus in die Hände eines milden Souveräns fiel. Ja, das Ohr wird der Eintönigkeit seiner Lobpreisungen so überdrüssig, daß in Persien, wo der Souverän für das wahre Ebenbild der Gottheit gehalten wird, ein Spaßmacher gehalten wurde, dem. Könige die Wahrheit . . . zu sagen . . . Ein ähnliches Bedürfnis führte die Hofnarren der neuen Zeit ein. Solcher Mittel bedienten sich die Fürsten, um einige freie Bemerkungen in Zeiten zu vernehmen, wo eine Nation in Hof und Land aufging. Der Hof hatte für die Taten eines Königs nur Lobpreisungen, und das Volk sagte überhaupt gar nichts dazu. So war noch der Zustand Europas, als Machiavelli seinen vielfach bestrittenen Principe schrieb . . . " (Russell, S. 97 f.). Für den Artikel „Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz" (Verhandlungen, 3. Artikel, S. 109 ff.) hat Marx wahrscheinlich ebenfalls das Buch von Russell (die Russell-Exzerpte) herangezogen. Vgl. ebenda, S. 120., mit MEGA2, Bd. IV/2, S. 124.
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England veranschlagt wird, was der Staat vom Grundeigentum genießt und welche Lasten (an Steuern — H.-P. J.) der Besitzer trägt, während umgekehrt in Preußen z. B. bei den meisten Rittergütern und den Mediatisierten in Anschlag kommt, wie frei sie von den Staatslasten sind und wie unabhängig ihr Privatgenuß ist. Nicht, was einer hat, sondern was er für den Staat hat, nicht der Besitz, sondern gleichsam die Staatstätigkeit des Besitzes verleiht in Frankreich und England, deren Systemen wir übrigens keineswegs beipflichten, das Recht der Repräsentation."23 Vergleichen wir damit ein umfängliches Exzerpt aus dem Buch des ehemaligen Konventsdeputierten Joseph-Charles Bailleul 24 , von Marx mit einem Zwischentitel „Über das Eigenthum als Bedingung der Repräsentationsfähigkeit"25 hervorgehoben: Bailleul konstatierte als Folge der Französischen Revolution eine Veränderung im Charakter des Grundeigentums. Nicht mehr das Grundeigentum beherrsche den Menschen, wie unter dem Feudalregime, sondern der Mensch das Grundeigentum. Nunmehr liege das Ordnungsprinzip der Gesellschaft „in der Einsicht (intelligence) und der Moral der Menschen . . . das Eigentum ist kein Element (Hervorhebungen von Marx — H.-P. J.) mehr, sondern nur Zufall (une circonstance) ; und es darf nur noch als ein Hinweis auf die Stufe der moralischen Leiter der Gesellschaft betrachtet werden, auf der man sich befindet. Insoweit besäße man Recht nicht, weil man besitzt, sondern vermittels dessen, was man besitzt. An dem, was man besitzt, wird gemessen, ob man die notwendige Intelligenz, Erziehung und Moral besitzt, um bestimmte politische Funktionen auszuüben; auf diese Weise ist das Eigentum der Anspruch (titre), der Nachweis derer, die keinen anderen haben."26 Dem Kenner der Marxschen „Kritik des Hegeischen Staatsrechts" wird die Affinität der Anfangssätze des Bailleul-Zitats zu den berühmten Marxschen Sätzen über die von Willkür, nicht von Organisationsprinzipien beherrschte Bildung der Stände der bürgerlichen Gesellschaft 27 stärker ins Auge fallen als die Beziehung des letzten Satzes des Zitats zum Artikel über die Ständischen Ausschüsse. Was Marx aber im weiteren Verlauf dieses Artikels vom Dezember 1842 entwickelte, war gerade das von Bailleul inspirierte Thema: Gegensatz von „politischer Intelligenz" und „besonderem Interesse". „Die politische Intelligenz", postulierte Marx, „wird z. B. das Grundeigentum nach den Staatsmaximen, aber sie wird nicht die Staatsmaximen nach dem Grundeigentum regeln; sie wird das Grundeigentum nicht nach seinem Privategoismus, sondern nach seiner Staatsnatur geltend machen . . . u28 Können wir aus dem eben Konstatierten den Schluß ziehen, daß auch die 23
MEGA2, Bd. 1/1, S. 282. Examen critique de l'ouvrage posthume de Mme la Baronne de Staël, ayant pour titre: Mémoires et Considération sur les principaux événements de la Révolution française, 2 Bde., Paris/Leipzig 1819. » MEGA2, Bd. IV/2, S. 103, Z. 1. Ebenda, Z. 22-30. '•" Vg\Marx, Karl, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, in: MEW, Bd. 1, S. 284. 28 MEGA2, Bd. 1/1, S. 284. 24
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Bailleul-Exzerpte (im Mittelteil von Heft II) bereits im Dezember 1842 existierten? Diesen Fall vorausgesetzt, konnte Marx bei seinen Ausführungen über das Verhältnis von „Staatsmaximen" und „Grundeigentum" bereits auf die Lektüre von Carl Friedrich Ernst Ludwigs „Geschichte der Französischen Revolution . . . " oder die entsprechenden Exzerpte zurückgreifen (am Anfang von Heft II); in einer Bemerkungen zum Text hatte er hier damit begonnen, über den bei der Nationalisierung der Kirchengüter zutage getretenen Widerspruch zwischen Privateigentum (erblichem, „versteinertem", feudalem Grundeigentum) und Vermögen (erworbenem, veräußerlichem, „menschlichen", bürgerlichem Eigentum) zu reflektieren.29 Eine Rezension über A. Alisons „Geschichte Europas", in der Edgar Bauer, im Anschluß an Rousseau und Mignet, die beginnende „Herrschaft des Menschen über das Eigentum" konstatiert hatte, erschien Mitte Dezember 1842 — von Marx mit Sicherheit zur Kenntnis genommen oder ihm vorher bekannt — in den „Deutschen Jahrbüchern".30 Es ist durchaus denkbar, daß die Marxsche Lektüre Ludwigs wie auch Bailleuls in etwa die gleiche Zeit gehört und Marx einige der in beiden Büchern angeführten historischen Fakten oder theoretischen Aussagen im Licht der damals im Kreise der „Reformer" diskutierten Probleme interpretiert bzw. zur Bestätigung und Erhärtung bereits akzeptierter theoretischer Thesen ausgewählt hat. Im eben erwähnten Heft II der Exzerpte nehmen die Auszüge aus Rousseaus „Gesellschaftsvertrag" und Montesquieus „Geist der Gesetze" breiten Raum ein. Die Grundideen beider Aufklärer waren in solchem Maße Bestandteil des (bildungsbürgerlichen) Allgemeinwissens, daß ihre beiläufige Erwähnung in Marxschen Artikeln des Jahres 1842 nicht mit den Exzerpten in Zusammenhang gebracht werden muß.31 Spätestens im Frühjahr 1843 aber waren sowohl die Rousseau- als auch die Montesquieu-Exzerpte vermutlich existent. In dem mit ,,M[arx]. an R[uge]." überschriebenen, mit „Köln im Mai 1843" datierten Brief charakterisierte Marx die deutsch-feudale „Philisterwelt" als „politische Tierwelt"32, Herren wie Untertanen als „Sklaven", denen die Qualität von „Menschen" als freier, „geistiger" Wesen abgehe.33 Sicherlich bewegte sich Marx hier im Rahmen der radikalen Terminologie, die Wirkungen der Philosophie Feuerbachs nicht zu vergessen. Als Inspiration oder autoritative Bestätigungen herangezogen werden aber können oder müssen auch eine Reihe von Marxschen Exzerpten aus dem „Gesellschaftsver trag". „Die menschliche Gattung", heißt es bei Rousseau, „ist in Viehherden aufgeteilt, jede hat ihr Oberhaupt, das sie hütet, um sie zu verschlingen. Wie ein Hirt von höherer Art ist als seine Herde, so sind die Hirten-Oberhäupter der Menschen ebenfalls von höherer Art als ihre Völker."34 Marx griff diesen Vgl. ebenda, Bd. I V/2, S. 85, Z. 37-39. Vgl. Deutsche Jahrbücher, Nr. 297,14.12.1842, bis Nr. 299,16.12.1842. M Das im Artikel „Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz" enthaltene MontesqieuZitat (vgl. Marx, Verhandlungen, 3. Artikel, S. 112) entstammt nicht den Exzerpten. Deutsch-Französische Jahrbücher, S. 339. » Ebenda, S. 338. 34 MEGA 2 , Bd. IV/2, S. 91, Z. 10-13. 28 M
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Vergleich auf; er bezog ihn nicht nur auf das Verhältnis Staatsoberhaupt — Volk, sondern auf das des feudalen Grundeigentümers überhaupt — dessen „eminente" „Herren"-Qualität er entschieden bestritt35 — zu seinen Untertanen. Im Inhaltsverzeichnis zu Heft II ordnete er das eben zitierte Exzerpt dem Begriff „4) Adel ..." zu und erfaßte es unter dem Stichwort „Gliederung des régime féodal".36 In eben diesem Feudalstaat, entnahm Marx Rousseau, „ist der Name Mensch (von Marx hervorgehoben — H.-P. J.) in Unehre".37 „Wenn es Sklaven von Natur gibt"38, heißt es weiter bei Rousseau, „so deshalb, weil es Sklaven gegen die Natur gegeben hat.39 . . . Auf die Freiheit zu verzichten bedeutet aber auf die Eigenschaft, Mensch zu sein, auf die Rechte, ja die Pflichten der Menschheit zu verzichten."40 Im selben Brief vom Mai 1843 bewies Marx eine nunmehr bessere, detaillierte Kenntnis des „Geistes der Gesetze". Er polemisierte gegen einige Auffassungen Montesquieus: „Das Prinzip der Monarchie überhaupt ist der verachtete, der verächtliche, der entmenschte Mensch, und Montesquieu hat sehr Unrecht, die Ehre dafür auszugeben. Er hilft sich mit der Unterscheidung von Monarchie, Despotie und Tyrannei. Aber das sind Namen eines Begriffs, höchstens eine Sittenverschiedenheit bei demselben Prinzip. Wo das monarchische Prinzip in der Majorität ist, da sind die Menschen in der Minorität, wo es nicht bezweifelt wird, da gibt es keine Menschen."41 Diese Marxsche Polemik richtete sich eindeutig gegen Aussagen, die in den Exzerpten aus dem „Geist der Gesetze" erscheinen: Satz (1) richtet sich gegen „Das Prinzip der Monarchie ist die Ehre."42 Satz (2) bezieht sich auf „Das Prinzip der despotischen Staaten ist nicht die Ehre; da dort die Menschen alle gleich sind, kann man dort vor anderen keinen Vorzug genießen; da dort die Menschen alle Sklaven sind, kann man vor nichts einen Vorzug genießen. Das Prinzip der Despotie ist die Furcht, la crainte .. ,"43 Satz (3) : Der eine Begriff ist die „Monarchie" (von Marx als Zwischentitel in den Exzerpten hervorgehoben), und mehr als zwei Heftseiten füllte Marx mit Montesquieus Charakteristik der dem monarchischen Prinzip entsprechenden „Sitten".44 Auch Satz (4) knüpft, wenngleich nicht ganz so deutlich erkennbar, an Aussagen Montesquieus an, wie: „Extremer Gehorsam setzt Unwissenheit bei dem voraus, der gehorcht, und sogar bei dem, der befiehlt: er braucht nicht zu überlegen, nicht zu zweifeln, nicht zu argumentieren, er braucht nur zu wollen."45 Der vorgenommene Vergleich zwischen Marxschen Textstellen von Mai, Oktober 10 M[arx] an R[uge], Köln im Mai 1843, in: MEW, Bd. 1, S. 338. » MEGA2, Bd. IV/2, S. 116, Z. 8 f. ÖV Ebenda, S. 101, Z. 5 f. 38 Marx' „Philister" !, vgl. M[arx] an R[uge], S. 338 ff. » MEGA2, Bd. IV/2, S. 91, Z. 19 f. •*> Ebenda, Z. 23 f. 41 M[arx] an R[uge], S. 340. 42 MEGA2, Bd. IV/2, S. 107, Z. 19. 43 Ebenda, Z. 26-29. 44 Ebenda, Z. 32; Z. 20 bis S. 108, Z. 30. 45 Ebenda, S. 108, Z. 33-35.
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irnd Dezember 1842 sowie Mai 1843 und bestimmten Exzerptteilen führte zu Ergebnissen, die zwei hypothetische Annahmen stützen: 1. Die „Kreuznacher" Exzerpte entstanden nicht nur (zum Teil) im Sommer des Jahres 1843, sondern in einem längeren Zeitraum, der die Monate seit spätestens Mai 1842 und den ersten Teil des Jahres 1843 bis August umfaßt. 2. Im Mai 1843 lag mit Wahrscheinlichkeit das Heft II (Exzerpte aus Heinrich, Ludwig, Daru, Lacretelle, Rousseau, Bailleul, Brougham, Montesquieu) fertig vor. Vorhanden war zu diesem Zeitpunkt folglich auch Heft I (erster Teil der Heinrich-Exzerpte). Das Heft III war — mit den Russell-Exzerpten — wenigstens begonnen. Wir können nicht mit Gewißheit sagen, wann Marx das überlieferte (fragmentarische) Manuskript der Hegel-Kritik begann und abschloß. Deshalb ist auch die zu Anfang geäußerte Vermutung, daß die nochmalige Durchsicht und/oder Systematisierung schon vorliegender Exzerpte mit der Datierung „Kreuznach. Juli. (August.) 1843" zusammenfällt, nicht schlüssig zu beweisen. Die Datierimg kann später vorgenommen sein als die Ordnung nach Stichworten im Text oder in den Registern. Nochmalige Durchsicht und systematische Ordnung der Hefte II und (teilweise) IV können auch, ebenso wie der Beginn der Arbeit an der HegelKritik, früher anzusetzen sein. Wesentlich belangvoller als alle Datierungsprobleme ist die Beantwortung der Fragen, 1. ob Marx' Lektüre der exzerpierten Werke ein Teilschritt auf dem Wege zur philosophisch-staatstheoretisch-historischlogischen Kritik des Hegeischen Staatsrechts war, und 2. auf welche Weise, in welcher Funktion das Exzerptmaterial von Marx in der Hegel-Kritik (und darüber hinaus) „verarbeitet" wurde. Wir setzen im Folgenden hypothetisch voraus, daß 1. die Exzerpte (möglicherweise in ihrer Gesamtheit) vor, nicht während und nicht nach der Arbeit am Manuskript der Hegel-Kritik entstanden; 2. daß der Plan der Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie als wesentliche Teilaufgabe der Kritik der bestehenden Gesellschaft und des bestehenden Staates die Lektüre und Exzerptauswahl weitgehend bestimmte; 3. daß die Systematisierung des Inhalts der Hefte II und (teilweise) I V die Intention und die Hauptthemen der Hegel-Kritik direkt oder indirekt wiedergibt. Ob diese Voraussetzungen voll akzeptiert werden können, sollen Verlauf und Ergebnis der systematischen Analyse erweisen. In den vorausgeschickten Erörterungen haben wir lediglich zur Beantwortung der Frage beigetragen, in welchen Zusammenhängen und in welchen Texten (von Mai 1842 bis Mai 1843) Marx auf welche Lektüre (Exzerpte) zurückgriff. Nicht beantwortet wurde die Frage, welchem Gesamtzweck (sofern vorhanden) und welchen Teilzwecken die Marxsche Lektüre und Exzerptanfertigung dienten. Detaillieren wir diese Frage: Warum, zu welchem Zweck exzerpierte Marx, und zwar a) aus staatstheoretischen, politisch-publizistischen, historischen Werken, 6 Jahrbuch 25
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b) aus diesen und keinen anderen Werken, c) warum diese und nicht jene Auszüge, warum so und nicht anders? Wie erwähnt, gibt es darüber keine direkten Marxschen Aussagen. Wir können die Antworten, die Motive nur dann finden, wenn wir das Resultat (die Resultate) untersuchen, für das die Exzerpte einen Teilschritt geistigen Handelns darstellten. Vorausgesetzt, das uns erhaltene Manuskript der „Hegel-Kritik", als Ganzes und in seinen Teilen, sei dieses Resultat, so müssen wir durch "Vergleich von Manuskripttext und Exzerpten wiederum Ziel-Mittel-Relationen nachweisen oder wahrscheinlich machen. Da direkte Zitate nicht vorliegen, besteht natürlich die Gefahr bloßer Mutmaßung von (in Wirklichkeit nicht existenten) Zusammenhängen. Um diese Gefahr auf ein Minimum zu reduzieren, erweist sich ein systematisches Vorgehen als nötig. Vorausgeschickt sei, daß Marx schon im Jahre 1842 die Absicht äußerte, eine Kritik des Hegeischen Staatsrechts zu schreiben. Am 5. März 1842 stellte er Arnold Rüge, dem Herausgeber der „Deutschen Jahrbücher", einen Aufsatz in Aussicht, der „eine Kritik des Hegeischen Naturrechts" beinhalte, „soweit es innere Verfassung betrifft". Der Kern der Kritik sollte die „Bekämpfung der constitutionellen Monarchie als eines durch und durch sich widersprechenden Zwitterdings" sein.46 Diese Kritik sollte nicht theorieimmanent bleiben; sie richtete sich gegen Hegels Idealisierung der, wie Marx Anfang 1843 definitiv erkannte, nicht mehr zu reformierenden, sondern nur noch zu revolutionierenden deutschen politischen und gesellschaftlichen Zustände. Die Unvereinbarkeit seines politisch-gesellschaftlichen Ideals mit den bestehenden Zuständen kennzeichnete er im Brief an Rüge mit dem Satz: „Res publica ist gar nicht deutsch zu übersetzen." 47 Damit ist — die Weiterentwicklung der sozialen und politischen Auffassungen von Marx, seine tiefergehende Bekanntschaft mit den Ideen und Problemen der Sozialreform und der sozialistisch-kommunistischen Bewegung zunächst außer acht gelassen — die Frage nach dem Motiv der Hegel-Kritik und seiner zeitlichen Fixierung, grob umrissen, beantwortet. Warum Marx seine Hegel-Kritik so und nicht anders schrieb, setzt detaillierte Untersuchungen voraus, die hier nicht anzustellen sind. Daß Marx in fortlaufender Folge die Hegeischen Paragraphen kommentierte, ging auf eine mehr formale Entscheidung zurück. Nicht formal aber war, daß Marx eine festumrissene politisch-moralische Position in Anschlag brachte, die sich etwa als radikaler Demokratismus bezeichnen läßt, ferner eine humanistisch-naturalistische Philosophie mit methodologischen Konsequenzen, einen bestimmten, logisch und dialektisch geschulten Denk- und Argumentationsstil sowie einen bestimmten Fundus theoretischen und empirischen Wissens über Staat, Gesellschaft und Geschichte. Das Marxsche Wissen über allgemeine Zusammenhänge und „Fakten" dieser Art erweiterte und vertiefte sich auch und gerade 1842/43 ständig, und in eben diesen Prozeß mit seiner Wechselwirkung von Problem und Problemlösung, Theorie und Empirie Einblick zu suchen, ist der eigentliche Zweck einer Analyse der „Kreuznacher Exzerpte" und ihres Zusammenhanges mit dem (vor-
® Ebenda, Bd. III/l, S. 22. Ebenda.
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läufigen) Resultat, der Hegel-Kritik. Wie aber ist ein solcher Einblick methodisch möglich? Es erweist sich als sinnvoll, den notwendigen Vergleich zwischen den Exzerpten und dem Text der Hegel-Kritik umfassender und systematischer vorzunehmen. Was vergleichen wir? Da wir es mit sprachlichen Gebilden zu tun haben, handelt es sich um Aussagesätze und Termini und deren Bedeutungen: Aussagen, Aufforderungen (Fragen) und Begriffe. Sofern der Vergleich — etwa zwischen einer Aussage in den Exzerpten und einer Aussage im Text der „Kritik des Hegeischen Staatsrechts" — (vollständige) Identität erbringt, handelt es sich um ein (wörtliches) Zitat. Damit können wir, wie gesagt, in unserem Fall nicht rechnen. Rechnen können und müssen wir dagegen mit — mehr oder weniger deutlichen — Ähnlichkeiten, am häufigsten mit dem, was wir gedankliche „Verarbeitung" nannten. Versuchen wir, diesen Begriff zu präzisieren. Wir wissen nicht nur, was wir vergleichen (Aussagen, Aufforderungen, Begriffe), sondern wir können auch feststellen, ob und in welcher Weise die miteinander verglichenen sprachlichen Ausdrücke zueinander in Beziehung stehen. Wir haben es mit sprachlichen Resultaten und Spuren von Gedankenarbeit, folglich von Erkenntnisprozessen, Prozessen des Erklärens, Beweisens, Beschreibens, kurz: von Problemlösungsprozessen zu tun. Bleiben wir — für den Vergleich zwischen Exzerpten und Text — zunächst bei Aussagen. Hier haben wir zwischen allgemeinen Aussagen (Generalisierungen unterschiedlicher Abstraktionsstufe) und singulären Aussagen zu unterscheiden. Von den Beziehungen, in denen allgemeine Aussagen zu singulären stehen können, interessieren uns hier die Beziehungen (gedanklichen Prozesse) des Generalisierens, des Beweisens (der Wahrheit oder Falschheit von Aussagen) und der Verifikation (Bestätigung oder Nichtbestätigung von Sachverhalten, von denen in Aussagesätzen die Rede ist). Wählen wir den wahrscheinlich häufigsten Fall aus: den der Beziehung zwischen einer allgemeinen Aussage über einen bestimmten Zusammenhang zwischen Objekten oder Eigenschaften von Objekten und einer singulären „Fakten"aussage, welche die Existenz (Wahrheit) dieses Zusammenhangs bestätigt. Um mit Sicherheit sagen zu können, daß zwischen einer allgemeinen und einer singulären Aussage ein Zusammenhang dieser Art besteht, ist es notwendig, daß die allgemeine Aussage unmittelbar verifizierbar ist, d. h. daß sie etwas über in Raum und Zeit lokalisierte Objekte (oder Eigenschaften von Objekten) aussagt. Haben wir festgestellt, daß Allaussage und singulare Aussage tatsächlich im Verhältnis der Verifikation (oder Generalisierung) stehen, so bleibt immer noch festzustellen, welcher der beiden Fälle vorliegt: Die Allaussage kann aus dieser und gleichartigen singulären Aussagen gewonnen sein, die singuläre Aussage jedoch auch zwecks Bestätigung (Widerlegung) der Allaussage herangezogen bzw. ausgewählt worden sein. Die Entscheidung darüber, was angestrebt war, ist, ohne daß weitere Hinweise auf die wissenschaftliche Motivation im Einzelfalle vorliegen, fast niemals mit Sicherheit zu treffen; bei der Reflexion über das Verhältnis von Exzerpten (Materialsammlungen) und wissenschaftlich/literarischem (Gesamt- oder Teil-) „Produkt" werden wir stets von neuem mit dieser Schwierigkeit konfrontiert. In der Marxschen „Kritik des Hegeischen Staatsrechts" finden wir überwiegend theoretische, weniger empirische, faktische Aussagen. Das Abstraktionsniveau 6»
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ist hoch, die Sprache der (Hegelschen und Feuerbachschen) Philosophie, der klassischen Logik und der allgemeinen Staats- und Rechtstheorie dominiert. Die Zahl der unmittelbar verifikationsfähigen Allaussagen ist begrenzt — ein für die Zwecke unserer Analyse eher vorteilhafter Umstand. Wir wählen — als besonders aussagekräftig — das folgende Beispiel aus: In seiner Polemik gegen die Hegeische theoretische Konservierung des preußischen Ständestaates konstatierte Marx, daß, was Hegel als allgemeines Prinzip formulierte („in dem ständischen Elemente der gesetzgebundenen Gewalt kommt der Privatstand zu einer politischen Bedeutung und Wirksamkeit" 48 ), nur im Mittelalter Realität war und Realität sein konnte. Über die deutschen Stände des Mittelalters schrieb Marx: „[1] Ihr ganzes Dasein war politisch; ihr Dasein war das Dasein des Staats. [2] Ihre gesetzgebende Tätigkeit, ihre Steuerbewilligung für das Reich war nur ein besonderer Ausfluß ihrer allgemeinen politischen Bedeutung und Wirksamkeit. [3] Ihr Stand war ihr Staat. [4] Das Verhältnis zum Reich war nur ein Transaktionsverhältnis dieser verschiedenen Staaten mit der Nationalität war der point d'honneur, der kat exochen politische Sinn dieser sellschaft war nichts anderes als die Repräsentation der Nationalität. [5] Die Nationalität war der point d'honneur, der kat exochen politische Sinn dieser verschiedenen Korporationen etc., und nur auf sie bezogen sich die Steuern etc. Das war das Verhältnis der gesetzgebenden Stände zum Reich. [6] Ähnlich verhielten sich die Stände innerhalb der besonderen Fürstentümer. [7] Das Fürstentum, die Souveränität war ein besonderer Stand, der gewisse Privilegien hatte, aber ebensosehr von den Privilegien der anderen Stände geniert wurde." 49 Wir wählen aus einer Reihe der in diesem Fall zum Vergleich heranzuziehenden Exzerpte aus Johann Christian Pfisters fünfbändiger „Geschichte der Teutschen" (in Heft V) die wichtigsten Aussagen aus, in der Reihenfolge ihres Auftauchens: (A) Uber das unter Rudolf von Habsburg verkündete Landfriedensgesetz exzerpierte Marx: „Zweck des Landfriedens: .„jeden Stand des Landes in seinem Wesen zu erhalten'." 50 (B) Während die oberdeutschen Städte im 14. Jh. wenigstens noch den Kaiser als obersten Gerichtsherrn anerkannten, notierte Marx, befand sich die Hanse auf dem Wege zu einer unabhängigen Handelsrepublik. „In dieser Eigenschaft treten sie (die Hansestädte — H.-P. J.) bereits in Nebenbündnisse mit auswärtigen und teutschen Fürsten, ohne Kaiser und Reich weiter danach zu fragen. Hanse so über und außer der Reichsverfassung. Handel überhaupt kein Gegenstand der Reichsverwaltung, sondern Sache der freien Tätigkeit der Stände und Gewerbe." 51 (C) „1416 folgende der Hussitenkrieg, 1424 deren Einfall in Deutschland, 1427 Kriegssteuer in Deutschland der .gemeine Pfennig' nicht nur für die Kriegspflichtigen, sondern für alle Personen. Erst Opposition der Städte, dann der '*» Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, S. 273. "" Ebenda, S. 276. ™ MEGA2, Bd. IV/2, S. 243, Z. 12 f. 01 Ebenda, S. 247, Z. 14-19.
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(D)
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(H)
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Ritter, besonders in den Rheinlanden (sie hatten mit ihren armen Leuten nie eine Steuer gegeben, dienten dem Reich und der Kirche mit ihrem Leib, nicht mit Geld).. ."52 „1471 Auf dem ,kaiserlich christlichen Tag der Türken halber zu Regensburg' vereiteln die Städte den ,gemeinen Pfennig', der nun der lOte Pfennig oder Vermögenssteuer von allen mittel- und unmittelbaren Reichsunterthanen sein sollte."53 „1495 Versammlung zu Mainz Fehderecht aufgehoben; ewiger Landfriede. Die frühern Landfrieden Stillstände. Solange die Stände das Waffenrecht gegeneinander, stehn sie sich als fremde Staaten gegenüber."54 Über die Stände in den deutschen Territorien im 15. Jh. notierte Marx unter anderem: „Stützpunkt der Landesherrn gegen den Kaiser an den Ständen, wenn ihm eine Verwilligung zu schwer däuchte."55 „In Rücksicht der Form die Beschlüsse zwischen Landesherrn und Ständen: Verabschiedungen, meistens Vergleiche über gegenseitige Leistungen, manchmal auch nur Reserve oder Schadlosbriefe für künftige Fälle, Freiheitsbriefe vom Landesherrn, gewisse ständische Rechte anerkennend etc. Gemeinsames: ,daß jeder Theil bei Stand und Wesen erhalten werde'."56 Bei der Behandlung des Reichstages von 1658 heißt es bei Pfister (von Marx exzerpiert) zusammenfassend: „240 Reichstagsstimmen, 8 Kurfürsten, 71 geistliche Fürsten, mit Einschluß der 2 Prälat-Curiatstimmen, 100 weltliche Fürstenlinien, mit Zurechnung der 4 gräflichen Curiatstimmen, 61 Reichsstädte. Auf die innere Verwaltung ist dem Kaiser nur ein Rest der vorigen Rechte geblieben, die Reservatrechte oder besondern Majestätsrechte. Die allgemeinen Majestätsrechte übt der Kaiser mit den Reichsständen. Diese sind nicht blos Repräsentanten ihrer Länder, sondern selbst Regenten. Das Reich ist also eine Gesamtherrschaft des Kaisers und der Stände ... Das Reich nun ein zusammengesetzter Staatskörper, deren einzelne Teile besondere Staaten, unter einem Wahloberhaupt und durch den Reichstag in sich selbst repräsentiert. Das eigentliche Leben geht in die einzelnen Staaten über."57 „Von keinem der im westphälischen Frieden bestätigten Rechte machen die Stände mehr Gebrauch als vom Recht der Bündnisse .. .',58
Setzen wir die verschiedenen Aussagen und -Verbindungen zueinander in Beziehung, so stellen wir fest: Der in (1) und (3) von Marx behauptete Sachverhalt wird in (B), (E) und (G) bereits konstatiert und in Aussagen aus (G) und (H) bestätigt. Die Aussage (2), die (1) und (3) analytisch voraussetzt, wird durch M M 84
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Ebenda, S. 250, Z. 19-24. Ebenda, S. 251, Z. 6-9. Ebenda, Z. 25-28. Ebenda, S. 252, Z. 16 f. Ebenda, Z. 24-29. Ebenda, S. 255, Z. 4-11,13-16. Ebenda, Z. 25-27.
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singulare Aussagen aus (C), (D) und (F) bestätigt. Die Aussage (4) wird durch (2) erläutert; der durch sie behauptete Sachverhalt wird in (G) konstatiert und durch weitere Singularaussagen, z. B. durch die Information, daß der Kaiser, bei sonstigem fast totalem Macht- und Rechtsverlust an die Territorialfürsten, Oberlehnsherr und in Reichskriegen oberster Befehlshaber blieb59, bestätigt. Daß sich die Steuern nur auf das Reich bezogen (5), wird durch in (C) und (D) enthaltene Singularaussagen bestätigt. Die durch (6) und (7) behaupteten Sachverhalte werden durch Aussagen aus (F) und (G) bestätigt. Mit großer Wahrscheinlichkeit können wir annehmen, daß Marx die genannten (und weitere) Stellen aus Pfisters „Geschichte der Teutschen" genau kannte (bereits exzerpiert hatte), als er den zitierten Abschnitt der „Kritik des Hegeischen Staatsrechts" niederschrieb. Dafür aber, daß Marx den zitierten Abschnitt aus der Hegel-Kritik so und nicht anders niederschrieb, kann das aus dem Werk Pfisters entnommene „Wissen" nicht ohne weiteres und unvermittelt als Begründung angegeben werden. Im Detail wie im Ganzen verfolgte Marx bestimmte Zwecke. Die Absicht der zitierten Sätze aus der Hegel-Kritik ist unschwer zu erkennen: Es geht um die Interpretation bestimmter historischer Erscheinungen im mittelalterlichen Deutschland. Das auf Interpretation zielende „war" ist in jedem Satz zu finden; interpretiert werden von Marx: „der Stand", das „Dasein der Stände", ihre „gesetzgebende Tätigkeit, ihre Steuerbewilligung für das Reich", ihr „Verhältnis zum Reich", der „politische Staat im Unterschied von der bürgerlichen Gesellschaft" (d.h. hier: das „Reich"), die „Nationalität", das „Fürstentum, die Souveränität". Alle diese Institutionen, Tätigkeiten, sozialen Verhältnisse fungierten in der Hegeischen Rechtsphilosophie als Abstraktionen, losgelöst von ihrer empirischen, historischen Erscheinung. Marx ging auf die historischen (und kontemporären) empirischen Erscheinungen von „Ständen", „gesetzgebender Tätigkeit" usw. zurück, um seine eigene, der Hegels entgegengesetzte, am radikal-demokratischen Gesellschafts- und Staatsideal orientierte Interpretation als mit der historischen (und kontemporären) Wirklichkeit übereinstimmend zu erweisen. Aus der Lektüre geeigneter Werke (hier: Pfister) entnahm (exzerpierte) er: a) bereits formulierte Interpretationen, z. B. (B), (E), (G) für (1) und (3), mit den von Pfister selbst angegebenen Bestätigungen, b) singulare Faktenaussagen über Institutionen usw., die seine (Marx') Interpretation dieser Institutionen usw. bestätigten, z. B. (C), (D), (F) für (2), und c) Wissen über die empirische, historische Existenz (Aktivität, Entwicklung) der theoretisch (in der Auseinandersetzung mit Hegel) relevanten Institutionen usw. Dieses Wissen konnte in unterschiedlichen Zusammenhängen, etwa für Vergleiche, [z. B. (F), (G) für (6), (7)] aktiviert werden. Im Pfister-Beispiel haben wir uns mit der Frage beschäftigt, ob und in welcher Weise Marx von bestimmten Exzerptteilen im Augenblick der Niederschrift bestimmter Passagen der „Kritik des Hegeischen Staatsrechts" Gebrauch gemacht hat. Das gleiche läßt sich an einer Reihe anderer Beispiele ebenso oder ähnlich demonstrieren. Was aber waren Marx' Motive und Pläne zum Zeitpunkt der Lektüre bzw. Anfertigung der Exzerpte? Um nicht zu weit in den Bereich der 59
Vgl. ebenda, S. 253, Z. 4-6.
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Spekulationen zu geraten, müssen wir uns an die wenigen verfügbaren Fakten halten. Produkt Marxscher Gedankenarbeit sind nicht nur Texte, in denen „Fakten" oder Gedanken aus den Exzerpten „verarbeitet" wurden (die genannten Artikel aus dem J a h r e 1842, der „Briefwechsel" vom Frühjahr 1843, die „Kritik des Hegeischen Staatsrechts"), sondern auch erstens die Auswahl der Exzerpte (das Weglassen des nicht in gleicher Weise als relevant Betrachteten), zweitens Hervorhebungen (Unterstreichungen), drittens den Inhalt inventarisierende Stichworte und Inhaltsverzeichnisse, viertens zwischen die Exzerpttexte geschriebene Bemerkungen oder Marginalien. Zeitlich primär ist erstens; hinzu kommen Veränderungen (Abweichungen vom Originaltext) und den Originaltext zusammenfassende, möglicherweise dessen Aussage modifizierende eigene Formulierungen. Der Zeitpunkt von zweitens und drittens muß als unbestimmt gelten. In jedem Falle haben wir es hier mit einem Zwischenglied zwischen Exzerpt und Text zu tun, das potentiell sowohl über die Marxschen Intentionen bei der Exzerptanfertigung als auch über den präzisierten Anwendungszweck im Manuskript der Hegel-Kritik Auskunft verspricht. Hier wird das nichtinterpretierte, jedenfalls von uns als interpretiert nicht erkannte Exzerpt zum ersten Male interpretiert, wenngleich in f ü r uns nicht immer eindeutiger Weise. Das oben skizzierte Schema des Vergleichs sprachlicher Ausdrücke bzw. der Deutung von Resultaten und Spuren gedanklicher Arbeit erfährt eine Erweiterung. Zwischen Aussage (Exzerpt) und Aussage (Text) tritt eine (in den Fällen erstens und zweitens zu rekonstruierende, in den Fällen drittens und viertens vorhandene) weitere Aussage (oder ein Begriff, der durch Definition in Aussagen aufgelöst werden kann), die zu den beiden anderen in Beziehung zu setzen wäre. Versuchen wir — chronologisch vorgehend — ein solches Programm der Analyse zu präzisieren und an Beispielen zu verdeutlichen. Es sei vorausgeschickt, daß der Versuch, zwischen den Exzerptheften I bis V eine dem tatsächlichen Marxschen Vorgehen entsprechende Ordnung zeitlicher Folge herzustellen, auf ernstliche Schwierigkeiten stößt. Ob das Heft III (die RussellExzerpte entstanden möglicherweise, wie wir sahen, schon im Frühjahr 1842) an den Anfang gesetzt werden muß, ist nicht sicher; denn auch das Heft I („Historischpolitische Notizen", „Kreuznach. Juli. 1843" überschrieben) nimmt gewissermaßen eine Sonderstellung ein. Es enthält den ersten Teil der Auszüge aus der „Geschichte von Frankreich" des Jenenser Historikers Christoph Gottlob Heinrich. Diese (in Heft II fortgesetzten) Exzerpte aus Heinrich unterscheiden sich von den anderen dadurch, daß sie in ungewöhnlicher Breite — bei Priorität der Chronologie vor sachbezogener Systematik — Ereignisse, Personen, Orte, Daten auch der politischen Geschichte verzeichnen. Die wenigen in Heft I am Ende größerer Abschnitte ausgeworfenen ordnenden Stichworte 60 bieten zunächst keinen Anhaltspunkt f ü r das Verständnis der Marxschen Intention. Deutlich erkennbar scheint jedoch sein Bestreben, sich mit der Geschichte Frankreichs genauer zu beschäftigen. Dafür spricht auch, daß Marx nur aus Darstellungen der französischen Geschichte (so bei Schmidt und Wachsmuth) in großem Umfang Literaturhin Vgl. ebenda, S. 25, Z. 26-28; S. 36, Z. 31-35.
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weise für ein weiteres, tiefgreifendes Studium notierte. 61 Daß Marx bereits hier in der französischen Geschichte (seit der gallo-römischen und fränkischen Zeit) die Vorgeschichte der Französischen Revolution und damit das Entstehen des modernen Staates studierte, wie 1843/44, dafür gibt es keine unmittelbaren Anhaltspunkte. Tatsache jedoch ist, daß Heinrich selbst seine Darstellung in dieser Perspektive sah 62 und — was Marx in den Exzerpten übernahm — mitunter, etwa bei der Behandlung der mittelalterlichen États généraux, das Situationsmuster von 1789 in die Vergangenheit projizierte 63 oder Analogien anderer Art konstatierte. 64 Die Fortsetzung der Exzerpte aus Heinrich (bis zur Ermordung Heinrichs IV.) findet sich in Heft II (von Marx mit „Notizen zur französischen Geschichte. Kreuznach. Juli. August. 1843" überschrieben). Den Exzerptkomplexen aus den Werken der verschiedenen Autoren (ausschließlich Heinrichs) sind hier, von Marx ausgeworfen, systematische Gesichtspunkte widerspiegelnde, den Inhalt ordnende Stidiworte vorangestellt. Am Ende des Heftes finden wir ein, unter Verwendung (und mitunter Modifikation) dieser Stichworte zusammengestelltes, relativ umfangreiches Inhaltsverzeichnis. 65 Dieses Marxsche Inhaltsverzeichnis widerspiegelt deutlich die Methode seiner Anlage. Marx hat offensichtlich während des (nochmaligen) Überlesens der Exzerpte in der Zeitfolge der Lektüre Haupt-(Primär-)Stichworte formuliert, diesen untergeordnete Inhalte der nächstfolgenden Seiten dann in sekundären Stichworten erfaßt, bis ihm ein weiteres Hauptstichwort (mit der nächstfolgenden arabischen Ziffer) am Platze schien, usf. In all diesen Fällen ließ er freien Raum, um aus dem weiteren Exzerpttext verwandte Inhalte unter neuen Sekundärstichworten den bereits formulierten Hauptstichworten zuordnen zu können. Wenn wir die Hauptstichworte und ihre Reihenfolge überblicken, fällt folgendes auf: 1. Wir haben es, mit wenigen Ausnahmen, mit Begriffen aus der Staats- und Rechtstheorie bzw. der Staats- und Rechtsgeschichte zu tun. Da wir voraussetzen können, daß es sich im wesentlichen um die Begriffswelt der Hegelschen, Rousseauschen und Montesquieuschen Staats- und Rechtstheorie handelt, müssen auch Begriffe der Gesellschaftstheorie bzw. Sozialgeschichte [wie „4) Adel", „7) Bürgerstand"] der ersteren zugerechnet werden. Die wenigen Ausnahmen betreffen Begriffe, die allgemeine [wie „2) Bauernkrieg"] oder besondere historische Sachverhalte [„8) Metternichs Politik", „10) das B1
Vgl. ebenda, S. 146,148-150,165 f., 167 f. Vgl. Heinrich., Christoph, Gottlob, Geschichte von Frankreich, Leipzig 1802-1804, Bd. 1, Vorrede, S. X : Es schien „mir, bei den großen politischen Bewegungen unseres Zeitalters, und bei den damit gangbar gewordenen Fragen und Untersuchungen über die Entstehung und das Emporkommen des dritten Standes in diesem oder jenem Staat, über die Bildung der Verhältnisse der Stände zum Regenten, über ständische Versammlungen, über die Einrichtung des Justiz-, Steuer- und Finanzwesens usw., das Bedürfnis eines Buches dieser A r t . . . dringend zu werden . . . " Vgl. MEGA 2 , Bd. 1V/2, S. 66, Z. 40; S. 67, Z. 24. «* Vgl. ebenda, S. 69, Z. 15 f., 26 f., 29 f. oi> Vgl. MEGA 2 , Bd. VI/2, S. 116, 119. Ba
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liberum veto", „12) Waffenempfang als germanische Adoptions- und Emancipationsform"] erfassen. Von besonderer Art ist das Stichwort „7) Das Eigentum und seine Consequenzen", in dem eine Kausalrelation erfaßt wird. 2. Die Ziffer 7 erscheint mit abweichenden Hauptstichworten („Das Eigentum und seine Consequenzen", „Bürgerstand", „Eigentum") dreimal im Inhaltsverzeichnis, die Ziffer 11 („Die Familie als erste Staatsform", „Constitutionelle Monarchie") zweimal, die Ziffer 12 („Die Rechte der Einzelnen und der Gesellschaft", „Waffenempfang als germanische Adoptions- und Emancipationsform") zweimal, die Ziffer 15 („Verhältnis der Corporationen zur volonté générale", „Innere Souverainetät") ebenfalls zweimal. Es bleibt zu überprüfen, ob hier ein Zufall, ein Nachtrag oder eine bewußte Zuordnung vorliegt. Ganz unterschiedlicher Art sind die zum Exzerpt in unmittelbarer Beziehung stehenden Sekundärstichworte. In ihrem Verhältnis zum Hauptstichwort erkennen wir zunächst zwei Grundformen: 1. Die Beziehung ergibt sich aus Inhalt und Anlage des von Marx exzerpierten Werkes (z. B. aus der inneren Systematik von Rousseaus „Contrat social" und Montesquieus „Esprit des lois")66; 2. die Beziehung wird von Marx bewußt entweder als Konsequenz von Extension oder Intension der übergeordneten Begriffe oder mit bestimmter — zu erschließender — Absicht hergestellt. Unser Vergleichsschema sprachlicher Ausdrücke zwecks Rekonstruktion des Marxschen Arbeitsprozesses kann ein weiteres Mal erweitert werden. Mit der Relation: Aussage (Exzerpt) — Aussage (Sekundärstichwort) — Aussage (Hauptstichwort) — (Text), deren einzelne Glieder durchaus in anderer Weise (auch unter Auslassung der Textaussage) 67 miteinander verknüpft werden können, zeichnet sich die Spur einer Assoziationskette ab, bei der sich die Menge der Leerstellen vermindert hat. Wir greifen als Beispiel einige der Hauptstichworte heraus, die — schon äußerlich — im Inhaltsverzeichnis von Heft II ins Auge fallen. Es handelt sich um die doppelt oder dreifach erscheinenden Ziffern 7, 11 und 12 sowie um das Hauptstichwort 4. An 4) fällt auf, daß das Hauptstichwort „Adel" doppelt erscheint. Ferner: die skizzierte Methode der Anlage des Inhaltsverzeichnisses wird damit durchbrochen, daß die Sekundärstichworte „Der Adel als Corps intermédiaire" und „Gliederung des régime féodal", die sich auf S. 44 von Heft II bzw. auf Exzerpte aus Bailleul beziehen, (als wichtiger) den sich auf Heinrich, Heft-Seite llff., beziehenden Stichworten vorgezogen (oder nachträglich vorgeordnet) wurden. Inwiefern war das Bailleul-Exzerpt wichtiger als die Exzerpte aus Heinrich 68 ? Das Bailleul66 B/
Vgl. MEGA2, Bd. IV/2, S. 119, Z. 11-24. Aussage (Exzerpt) — Aussage (Text) ; Aussage (Exzerpt) — Aussage (Hauptstichwort) Aussage (Text); Aussage (Exzerpt) — Aussage (Haupt- oder Sekundärstichwort).
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Exzerpt enthielt eine (historische Fakten der bei Heinrich genannten und anderer Art) verallgemeinernde theoretische These, die deshalb für Marx von Belang war, weil sie der von ihm abgelehnten Hegeischen These, vor allem der grundbesitzende, „substantielle" Stand bilde ein „vermittelndes" Glied zwischen Volk und Staat 69 , direkt widersprach: „Die Adligen bildeten keine Zwischenkörperschaft zwischen den Königen und den Völkern", hatte Bailleul, an die Adresse der Madame de Staël gerichtet, geschrieben. „Was sich zwischen etwas und nichts befindet, ist notwendigerweise ein Extrem: so hielten die Adligen die Könige in Schach, aber keine Körperschaft hielt die Adligen in Schach." „Wenn die Könige", heißt es weiter, „ihre politische Existenz bewahrten, so weniger als Könige, sondern weil sie selbst Seigneurs waren." 70 Wir finden die „gedankliche Verarbeitung" dieser These Bailleuls in Marx' Kommentar zum Artikel 302 der Hegeischen Rechtsphilosophie.71 Wichtiger (und eindeutiger) in unserem Zusammenhang ist, daß bereits die Aus*wahl und Hervorhebung des Bailleul-Exzerpts von dem Ziel der Auseinandersetzung mit Hegel bestimmt war. Warum die Frontlinie zwischen Königtum und Adel einerseits und, jeder Vermittlung unfähig, dem „Volk" andererseits verlief, erläuterte Bailleul im zweiten von Marx unter dem Stichwort „Gliederung des régime féodal" vorgezogenen und damit hervorgehobenen Exzerpt: „das Feudalregime ... alles war darin verknüpft. Beginnen wir mit den Ländereien, die nicht sterben; sie sind darin organisiert, koordiniert und sozusagen in Reih und Glied formiert (enrégimenté); die Menschen sind an die Scholle gebunden und den Gesetzen unterworfen, die diese beherrschen; dann die Seigneurs: sie erheben sich, als Vasallen betrachtet, von Stufe zu Stufe, in einer ununterbrochenen Kette bis hinauf zum Oberlehnsherrn, dem König . . . die Feudalität stellt einen tausendköpfigen Despotismus dar, und das erste seiner Elemente ist die Knechtschaft der Allgemeinheit der Menschen."72 Zwar hatte Marx bereits aus dem Werk von Heinrich Angaben über das System der Feudalität notiert; ganz zweifellos finden wir uns aber erst am Anfang von Marx' systematischen, den Bedürfnissen der Hegel-Kritik untergeordneten Studien über Entstehung und Funktion des Lehenssystems (vgl. insbesondere die Exzerpte aus Lappenberg, Schmidt, Lingard, Geijer und Pfister). Die Marxschen Ausführungen, die dazu in Beziehung stehen73, setzen diese weitergehenden Studien (einschließlich Heft V mit den Exzerpten aus Moser und Jouffroy zum Thema „Majorat") bereits voraus. 08
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Diese betrafen eine Empörung des in seinen materiellen Interessen geschädigten Hochadels gegen Karl VII. von Frankreich, die adlige Liga „du bien public" gegen Ludwig XI. mit dem Ziel der „Restauration der völligen Lehnsherrschaft" und die Behauptung weitgehender Sonderrechte der adligen Stände in der Bretagne. Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Grundlinien der Philosophie des Rechts, neu hrsg. v. Georg Lasson, Leipzig 19303 (Philosophische Bibliothek, Bd. 124a), s. 248
(§303).
w 71 Ti ri
MEGA2, Bd. IV/2, S. 102, Z. 7-12. Vgl. Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, S. 270 ff., besonders S. 271 f. MEGA2, Bd. IV/2, S. 102, Z. 16-22. Vgl. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, S. 303 ff.
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Ebenfalls unter den Sekundärstichworten zum Punkt 4) erscheint, vorgezogen, unter dem Stichwort „Gliederung des régime féodal", das uns schon bekannte Rousseau-Exzerpt 74 , dessen Inhalt wir in Marx' bissigen Bemerkungen über die mittelalterliche politische „Tierwelt" im „Briefwechsel" der „Deutsch-Französischen Jahrbücher" ausgedrückt fanden. Die Zu- und Vorordnung dieses Exzerpts zum Registerstichwort „Adel" läßt deutlich erkennen, daß Marx' humanistische und demokratische Position (u. a. gegen den staatstheoretischen Antagonisten Hegel) beim Lesen und Exzerpieren als Wertungs- und Auswahlprinzip fungierte. Wir könnten nun systematisch Hauptstichwort, hervorgehobene und sonstige Stichworte bzw. den durch sie repräsentierten Inhalt zueinander ins Verhältnis setzen (eine weitere Ausdehnung unseres Vergleichsschemas!); in dem hier besprochenen Fall allerdings ist kein über das schon Ausgeführte hinausgehendes (oder nur stark hypothetisches) Ergebnis zu erwarten. Hingewiesen sei jedoch auf das letzte Sekundärstichwort „Der Adel in der constitutionellen Monarchie" 75 , das die folgenden Exzerpte aus Montesquieus „Geist der Gesetze" erfaßt: „Die untergeordneten und abhängigen Zwischengewalten konstituieren das Wesen der monarchischen Regierung." „Die natürlichste untergeordnete Zwischengewalt ist die des Adels." 76 Um zu verstehen, warum Marx im Stichwort den Terminus „constitutionelle Monarchie" verwendet, muß man sich zunächst klarmachen, daß Montesquieu die „Monarchie" von der „Despotie" abhob und im Falle der „Monarchie" die Existenz von Ständen (Adel, Klerus) sowie eine Gerichtsbürokratie voraussetzte, die die Monarchie daran hinderten, zur „Despotie" zu entarten. Den (theoretischen) Trennungsstrich zwischen Despotie und Monarchie im Montesquieuschen Sinne zog Marx historisch: dort nämlich, wo, mit dem Jahre 1791, die modernen monarchischen Verfassungen zu existieren begannen. Es wird deutlich, daß sich Marx' Interesse primär auf die Gegenwart (der preußischen Monarchie) richtete. Wichtig ist festzuhalten, daß der vom Sekundärstichwort „Der Adel in der constitutionellen Monarchie" angezeigte Inhalt zu dem des hervorgehobenen Stichworts „Der Adel als Corps intermédiaire" im Verhältnis der Kontradiktion steht. Marx hat die These Bailleuls akzeptiert, die These Montesquieus verworfen. Er hat letztere, als ideengeschichtliche Quelle und möglichen Rechtfertigungsgrund der Hegeischen Auffassung, notiert. Während wir für die These Bailleuls in den historischen Exzerpten eine Fülle von bewußt ausgewählten Bestätigungen finden77, hat Marx historische Bestätigung für die Montesquieu/Hegelsche These offensichtlich nicht gesucht bzw. die Bestätigungen der Gegenthese als Falsifikationen gewertet. 78 Im Inhaltsverzeichnis zu Heft II erscheint, wie erwähnt, der Punkt 11 zweimal: ' 4 Vgl. MEGA2, Bd. IV/2, S. 91, Z. 10-13. "> Ebenda, S. 116, Z. 13 f. VB Ebenda, S. 107, Z. 1-3. " Vgl. ebenda, S. 119, Z. 3, 23. Die Pfistersche Wertung etwa des „Ritterstandes, des Adels im Kriesgsdienste, als einer neuen Mittelmacht zu Gunsten des Thrones (unter Friedrich I.)" hat Marx z. B. nicht exzerpiert (Pfister, Johann Christian, Geschichte der Teutschea, Bd. 2, Hamburg 1829, S. 366).
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einmal, in der fortlaufenden Zahlenfolge, mit dem Hauptstichwort „Die Familie als erste Staatsform", zum zweiten Male (anstelle der fälligen Ziffer 17) mit dem Hauptstichwort „Constitutionelle Monarchie". 7 9 D a ß wir es hier weder mit einem Zufall noch mit einem I r r t u m , sondern m i t einer b e w u ß t e n Zuordnung zu t u n haben, erscheint durch die folgenden Überlegungen hypothetisch b e g r ü n d e t : D e m Rousseau-Ausschnitt, der oben 8 0 wegen seines Zusammenhanges m i t Marx' Charakteristik der deutschen sozialen u n d politischen O r d n u n g als einer politischen „Tierwelt" 8 1 zitiert wurde, folgt in den Rousseau-Exzerpten unmittelbar darauf eine Passage, f ü r die sich ebenfalls, i m selben Brief, eine Entsprechung findet. Das — im Inhaltsverzeichnis u n t e r „Die Familie als erste S t a a t s f o r m " inventarisierte — Exzerpt l a u t e t : „Die älteste u n d einzig natürliche aller Gesellschaften ist die Familie . . . die Familie ist folglich das erste Muster der politischen Gesellschaften; das Oberhaupt ist das Abbild des Vaters, das Volk ist das Abbild der Kinder." 8 2 Im „Brief" vom Mai 1843 folgt auf die „politische Tierwelt"-Passage, auf die gleiche „Philisterwelt" bezogen, das Folgende: „ . . . der deutsche Aristoteles, der seine Politik aus unseren Zuständen a b n e h m e n wollte, w ü r d e an ihre Spitze schreiben: ,Der Mensch ist ein geselliges, jedoch völlig unpolitisches Tier', den Staat aber könnte er nicht richtiger erklären, als dies H e r r Zöpfl, der Verfasser des .Konstitutionellen Staatsrechts in Deutschland', bereits getan hat. Er ist nach ihm ein »Verein von Familien', welcher, f a h r e n wir fort, einer allerhöchsten Familie, die m a n Dynastie nennt, e r b - u n d eigentümlich zugehört. J e fruchtbarer die Familien sich zeigen, desto glücklicher die Leute, desto größer der Staat, desto mächtiger die Dynastie . . .' NRhZ, Nr. 273,15. 4.1849 (Korresp. Paris, 11. 4.). 00 MEW, Bd. 21, S. 219. B/ Die Verbrüderung, Nr. 65,15. 5.1849. 08 Ebenda, Nr. 122, 30.11.1849. 69 Ebenda, Nr. 8, 25.1.1850. ™ Ebenda, Nr. 79, 3. 7.1849. " Ebenda, Nr. 70,1. 6.1849. 7 2 Ebenda, Nr. 72, 8. 6.1849. 73 Wleller], Die Politik der Bourgeoisie, ebenda, Nr. 4,13.10.1848.
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Klubs" in Leipzig, hatte schon im Oktober 1848 festgestellt, die Bourgeoisie als Klasse könne nichts f ü r die ihr als Klasse feindlich entgegenstehenden Arbeiter tun, ohne aufzuhören, Bourgeoisie zu sein.73 Jetzt erklärte er in einem offenkundig an Karl Marx orientierten Artikel „Arbeit und Kapital" vom Mai 1849: „Wir bedauern diese Träumer, die an eine friedliche Lösung glauben", und fügte hinzu: „Die alten Regierungssysteme, welche das Volk . . . nur ausbeuten, um mit den Steuern die Höfe, die Junker, die überflüssigen Beamten, die Soldaten zu füttern, müssen erst vollkommen ausgerottet werden." 74 Nach dem Ende der Revolution versuchte Weller, die Lehren aus ihrem Verlauf zu ziehen. Nur wenige Einsichtsvolle in der „entschiedenen Arbeiterpartei" hätten begriffen, daß die Bourgeoisklasse, solange sie die Macht im Staate besitze, nie die Arbeiterassoziationen hinreichend unterstützen werde, da sie als Klasse ja von denselben Arbeitern gestürzt werden sollte. Die Masse der Arbeiter dagegen hätte „ihre Stellung noch nicht klar genug begriffen". Ein Teil von ihnen sei sogar töricht genug gewesen, die Entwicklung der Assoziationen auf friedlichem Wege f ü r möglich zu halten, und habe die Reaktion wenigstens durch seine Gleichgültigkeit gegen politische Fragen unterstützt. 75 Überblickt man die vorstehend zitierten Äußerungen zur Machtfrage, wie sie zwischen April und August 1849 in der „Verbrüderung" publiziert wurden, so ist der nachhaltige Einfluß der NRhZ nicht zu übersehen. Damit bestätigte sich das Urteil eines Korrespondenten der NRhZ — vermutlich war es MüllerTellering —, der am 14. Februar 1849 aus Leipzig berichtete: „Das Proletariat hat noch keinen Begriff von seiner Bedeutung . . . Unter den zahlreichen Blättchen, welche in unserer deutschen Bücherballen- und Loyalitätsadressen-Stadt erscheinen, habe ich drei gefunden, welche eine demokratische Färbung haben, nämlich ,Die oppositionellen Blätter. Organ der radikalen Partei' (sehr kahl und sehr matt), die ,Sächsische Zeitung' (bourgeoisliberal, zuweilen nicht übel) und ,Die Verbrüderung', eine Arbeiterzeitung. Die soziale Frage ist hier noch ein Nebelstreif, eine Milchstraße, ein Dunst, in welchem aufs Geradewohl planlos und deutsch-phantastisch herumgefochten wird. Die Verbreitung der .Neuen Rheinischen Zeitung' in Sachsen wird dazu beitragen, daß dieser Dunst sich verkrystallisiert. Leipzig dürfte dazu ein geeigneter Ort sein."76 Damit wird die in Leipzig ansässige „Arbeiterverbrüderung" offenbar als günstiger Boden für den Einfluß des Bundes der Kommunisten bezeichnet. Utopische Vorstellungen über die Arbeiterassoziationen wurden, abgesehen vom Proudhonismus, auch noch durch andere kleinbürgerliche Sozialisten und Philosophen in der elementaren Bewegung verbreitet. Zu nennen sind hier vor allem die von Charles Fourier (1772—1837) begründete Doktrin, ferner der „wahre" Sozialismus und endlich der Deutschkatholizismus. Wie Proudhon wollte auch Fourier die durch Ausbeutung und Konkurrenz erzeugten Mißstände auf friedlichem Wege durch eine bestimmte Art von Assoziava 76
Ebenda, Nr. 66,18. 5.1849. W[eller], Die jüngsten Parteikämpfe, ebenda, Nr. 87, 31. 7.1849; Nr. 88, 3. 8.1849. NRhZ, Nr. 225,18. 2.1849.
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tionen beseitigen. Er propagierte die kleinen Agrar-Assoziationen, die „Phalanstères". Bezeichnend für Fouriers Vorstellungen von einer angeblich möglichen Versöhnung der Klasseninteressen war u. a. das Buch seines Anhängers François Villegardelle (1810—1856), L'accord des intérêts dans l'association (Paris 1844). Marx und Engels, die die utopischen Projekte Fouriers ablehnten, schätzten dennoch seine scharfsinnige Enthüllung der antagonistischen Widersprüche in der bürgerlichen Gesellschaft. Eine im Frühjahr 1845 von Marx und Engels geplante Bibliothek sozialistischer und kommunistischer Schriftsteller sollte mit Fourier, Owen, Morelly u. a. eröffnet werden. 77 Dagegen kritisierten Marx und Engels wiederholt den „verwässerten Fourierismus" seiner Epigonen, der sich den Ideen bürgerlicher Philanthropen näherte. Zu diesen Nachfolgern gehörten Louis Blanc (1811—1882), der Verfasser des auch in Deutschland verbreiteten Buches „L'organisation du travail" (Paris 1839), und Victor Considérant (1808 bis 1892), der Herausgeber des Organs der Fourieristen „La Démocratie pacifique". Schon im Januar 1845 spottete Engels in einem Briefe an Marx, der Rest der Berliner „Freien", u. a. Eduard Meyen und Karl Nauwerck, also der Linkshegelianer, von denen sich Marx schon 1842 getrennt hatte, sei nun „doch schon bei der ,Organisation der Arbeit' angelangt und dabei wird's bleiben. Ich sagte Dir ja, die Leute werden all Démocrates pacifiques." 78 Diese relativ frühe Polemik gegen die „friedlich-demokratischen" Fourier-Epigonen in Berlin ist auch deshalb bemerkenswert, weil sich Meyen und Nauwerck zwischen 1845 und 1849 einer arbeiterfreundlichen radikalen Publizistik zuwandten und durch ihre politische Betätigung im Berliner Bund der Gerechten 79 sowie im Berliner Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen 80 1848 nachweisbar in engen Kontakt zur „Arbeiterverbrüderung" kamen. 81 Es war das nur ein Grund mehr für die vorsichtige Distanz, die Karl Marx und Friedrich Engels im Sommer 1848 gegenüber dem Berliner Zentralkomitee und dem Berliner Kongreß der Arbeiterverbrüderung wahrten. Vgl. Cornu, S. 157 f. Die Übersetzung von Morellys „Code de la nature" übernahm E. O. Weller und ließ sie 1846 an Marx gelangen; vgl. Mönke, Wolf gang, Bemerkungen über zwei bisher unbekannte Nachdrucke einer Arbeit von Friedrich Engels, in: BzG, 6, 1964, 4, S. 671 Anm. 9. Die Verbindung zwischen Marx und Weller — und damit auch zur „Arbeiterverbrüderung"—bestand noch im November 1849 kurz vor der Emigration Wellers aus Sachsen nach Belgien. Am 29. 11. 1849 schrieb Weller an Marx, der von ihm geleitete Sozialistische Klub in Leipzig werde sich speziell mit der Verbreitung der „NRhZ. Politisch-ökonomische Revue" beschäftigen. Vgl. Hundt, Martin, Zur Geschichte der „Neuen Rheinischen Zeitung. Polit.-ökon. Revue", in: Marx-Engels-Jahrbuch, Bd. 1, Berlin 1978, S. 262. /B MEW, Bd. 27, S. 17. ™ Vgl. Arbeiterverbrüderung, S. 106 Anm. 7; 116 Anm. 9. Nauwerck veröffentlichte ab 1846 seine radikale „Monatsschrift für Politik" ; vgl. Cornu, S. 29 f. Er wurde Anfang 1850 in Abwesenheit wegen „Hochverrats" zum Tode verurteilt. Vgl. Meyen, Eduard, Der Berliner Local-Verein für das Wohl der arbeitenden Classen, in: Rheinische Jahrbücher zur gesellschaftl. Reform, hrsg. von H. Püttmann, Bd. 1, Darmstadt 1845, S. 198-213. 81 Vgl. Arbeiterverbrüderung, S. 105 f., 116,118 f.
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Auch nach der Revolution hielten Marx und Engels an ihrer ablehnenden Haltung gegenüber Louis Blanc fest, die durch dessen Paktieren mit der Fraktion Willich-Schapper sogar noch verstärkt wurde. Im Februar 1851 schlug Engels Marx vor, gemeinsam eine Kritik an Blancs „Gesammelten Schriften" auszuarbeiten und zu veröffentlichen. Dabei sollte Marx Blancs „Organisation der Arbeit" und die „Geschichte der Französischen Revolution" vornehmen, Engels wollte die „Geschichte der zehn Jahre 1830—1840"82 behandeln. Zusammen sollten sie eine Kritik der „Arbeiterassoziation" liefern, „wie sie nach der Februarrevolution praktiziert worden ist".83 Das geplante Werk kam nicht zustande. Daß Engels aber eine so detaillierte Konzeption dafür vorlegte, beweist, wie ernst beide, auch noch nach der Revolution, den nach ihrer Überzeugung schädlichen Einfluß des doktrinären kleinbürgerlichen Fourierismus Louis Blancs und der Tageszeitung „La Démocratie pacifique" auf die elementare Arbeiterbewegung in Deutschland nahmen. Mit deutlicher Kritik hatte schon im Juli 1848 die NRhZ über die Argumente berichtet, mit denen Louis Blanc seine Unschuld an der Vorbereitung der Juniinsurrektion nachzuweisen gesucht hatte. Wie Blanc darlegte, sei der Inhalt der von ihm in der Luxembourg-Kommission verkündeten Doktrin gewesen : „Allen durch gemeinschaftliche unentgeltliche Erziehung die Mittel der intellektuellen Entwicklung; allen durch brüderliche Association der Interessen und der Hilfsmittel die Instrumente der Arbeit! Das sei nichts Revolutionäres."84 Ebenso wie Proudhon und Fourier lehnte also auch Louis Blanc revolutionäre Aktionen ab. Er erhoffte vielmehr alles von der „Organisation der Arbeit", von „Assoziation" und der „Erziehung der Menschen". Blancs Schriften waren durch zahlreiche Auflagen und Übersetzungen in Deutschland weit verbreitet.85 Auch im Gedankengut der „Arbeiterverbrüderung" finden sich Anklänge an Blanc und Fourier. So druckte das Verbandsorgan „Die Verbrüderung" Louis Blancs „Rede gegen Thiers über das Recht auf Arbeit" ausdrücklich deshalb ab, weil Blanc darin die Bedeutung der Arbeiterassoziation hervorhob.86 Born widersprach allerdings der in Blancs Rede enthaltenen utopischen Vorstellung von einem allgemeinen „Recht auf Arbeit" und bezeichnete dieses Versprechen der französischen Bourgeoisie vom Februar 1848 als „leere Phrase", denn „die jetzige Gesellschaft kann diese Forderung nicht bewilligen œ
Blanc, Louis, L'organisation du travail, Paris 1839, in: La Revue du Progrès, gesondert Paris 1840 und öfter (vgl. MEW, Bd. 4, S. 406) ; ders., Histoire de la révolution française, Bd. 1-12, Paris 1847-1862; ders., Histoire de dix ans. 1830-1840, Bd 1 - 5 , Paris 1841-1844 (186810). » Engels an Marx, 26. 2.1851, in: MEW, Bd. 27, S. 204. 84 NRhZ, Nr. 39, 9. 7.1848 (Korresp. Paris, 6. 7.). Z. B. Blanc, Louis, Organisation der Arbeit, Nordhausen 1847; ders., Das Recht auf Arbeit. Eine Erwiderung an Thiers, Breslau 1849; ders., Geschichte der 10 Jahre 1830—1840, erschien 1843—1848 in zwei verschiedenen deutschen Ubersetzungen von je 5 Bänden in Berlin, Leipzig und Zürich, jeweils in mehreren Auflagen; außerdem in zwei gekürzten deutschen Fassungen in Nürnberg und Offenbach. Entsprechendes gilt für ders., Geschichte der Französischen Revolution, Berlin 1847, und für ders., Zur Geschichte der Februar-Revolution 1848, Quedlinburg 1850. 88 Die Verbrüderung, Nr. 5,17.10.; Nr. 6, 20.10.1848.
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und darum wird sie nicht lange mehr bestehen". 87 Mit seiner Polemik näherte sich Born dem Urteil der NRhZ, daß hinter der Phrase vom Arbeitsrecht nichts anderes verborgen sei als die Freiheit für den Arbeiter, sich ausbeuten zu lassen, solange der Kapitalist Vorteil davon habe, und zu verhungern, sobald der Kapitalist aus seiner Arbeit keinen Vorteil mehr ziehen könne. 88 „Die Verbrüderung" druckte noch einen weiteren Artikel L. Blancs „Über Kreditanstalten" ab, der erneut für Arbeiterassoziationen sowie für Staatsbanken und Ausgabe von Papiergeld eintrat. 89 Vermutlich auf Formulierungen Fouriers gehen die „Grundstatuten der deutschen Arbeiterverbrüderung" vom Februar 1850 zurück, wenn sie es in § 1 als Zweck der Organisation bezeichnen, „unter den Arbeitern aller Berufsarten eine starke Vereinigung zu begründen, welche auf Gegenseitigkeit und Brüderlichkeit gestützt, die Rechte und den Willen der einzelnen zu einer Gesamtheit, die Arbeit mit dem Genuß vermitteln soll".90 Noch im Juni 1850 publizierte Andreas Reuß, das aus Sachsen ausgewiesene Mitglied des Leipziger Zentralkomitees, „Betrachtungen über Fouriers Sozialismus und seine Gegner", in denen er die „friedliche Revolution" im Sinne Fouriers als angebliches Ziel der „Arbeiterverbrüderung" hinstellte, offenbar in der durchsichtigen Absicht, diese vor dem kurz darauf erfolgten Verbot zu retten. 91 Der Proudhonismus und der Fourierismus standen der raschen Emanzipation des Proletariats in Deutschland u. a. dadurch hemmend im Wege, daß sie den Assoziationsgedanken verabsolutierten, indem sie ihn als den angeblich einzig gangbaren Weg zur friedlichen Überwindung sozialer Mißstände hinstellten und ihn aus typisch kleinbürgerlicher Sicht außerdem zum Endziel ihrer Utopie erhoben, während er doch nur ein Mittel zur Festigung der proletarischen Klassenorganisationen sein konnte. Dagegen wollte der von Moses Heß begründete „wahre" Sozialismus das kapitalistische Gesellschaftssystem als Ganzes einschließlich des durch Konkurrenz, Egoismus und Ausbeutung erzeugten Pauperismus abschaffen. Den Weg dazu sah diese stark vom ethischen Denken Feuerbachs geprägte Lehre allein in der Erziehung des als abstrakter Begriff gedachten Menschen zu einem Kommunismus, der als sentimental-idealistischer Humanismus verstanden wurde. 92 Auch der „wahre" Sozialismus und der mit ihm bis zu einem gewissen Grade verwandte Deutschkatholizismus 93 haben auf die elementare Arbeiterbewegung zumindest in ihren Anfängen eingewirkt. Das widerspiegeln z. B. die „Zehn Gebote der Arbeiter", die durch die Leipziger Assoziationsdruckerei auch als Flugblatt in hoher Auflage hergestellt wurden. 94 Die „Zehn Gebote der Ar87
88 89 w m 92
94
Ebenda, Nr. 4,13.10.1848; vgl. die redaktionelle Vorbemerkung zum Artikel L. Blancs, ebenda, Nr. 5. NRhZ, Nr. 95, 6. 9.1848 (Korresp. Paris, 31. 8.); vgl. dazu Schmidt, S. 281. Die Verbrüderung, Nr. 47,13. 3.1849. Baiser, S. 508. Die Verbrüderung, Nr. 35,1. 6., Nr. 36, 8. 6.1850. Vgl. Cornu, S. 34 ff., 40 ff. Vgl. Arbeiterverbrüderung, S. 401 Anm. 1. Die Verbrüderung, Nr. 46, 9. 3.1849; Arbeiterverbrüderung, S. 392 ff., Nr. 239-242.
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beiter" stammten von dem Wahrsozialisten Hermann Püttmann (1811—1894) und wurden Anfang 1849 durch den Deutschkatholiken Nees v. Esenbeck, der im August/September 1848 als Präsident des Gründungskongresses der „Arbeiterverbrüderung" fungiert hatte, an Stefan Born gesandt.95 Auch andere Artikel der „Verbrüderung", z. B. Louise Ottos Beitrag „Revolution und Organisation"90, weisen auf wahrsozialistische Einflüsse hin. Der 1847/48 in Hamm i. W. tätige und vom dortigen Arbeiterverein zum Berliner Gründungskongreß delegierte Franz Schwenniger (1822—1867) gehörte vermutlich vor 1848 zum Kreis der rheinisch-westfälischen „wahren" Sozialisten.97 Entsprechendes galt für Emil Ottokar Weiler98 und den in Bremen einflußreichen Gustav Adolf Köttgen.99 Die drei Letztgenannten lösten sich spätestens im Sommer 1848 vom „wahren" Sozialismus und gehörten in der Folgezeit entweder dem Bunde der Kommunisten an oder standen ihm doch nahe. Die Enttäuschungen der Arbeiter während der Revolution führten auch anderwärts zur Abwanderung vom Wahrsozialismus. Im Sommer 1850 beschwerte sich z. B. das Bundesmitglied Ludwig Stechan, Vorsitzender des Arbeitervereins Hannover, in London energisch gegen den „Roten Katechismus" von Moses Heß, der ihm von Köln aus zugesandt worden war.100 Zu den leitenden Funktionären der dem Verband der „Verbrüderung" angeschlossenen Arbeitervereine gehörten außer Nees v. Esenbeck, der die deutschkatholische Gemeinde und den Arbeiterverein in Breslau mitbegründet hatte, noch weitere Deutschkatholiken. In so bedeutenden lokalen Arbeiterorganisationen wie München und Nürnberg waren die Vereinsvorsitzenden101, in Leipzig führende Ausschußmitglieder Deutschkatholiken.102 In den Arbeitervereinen Glauchau und Lichtenstein hielt 1848/49 der zeitweilig als Arbeiter tätige und einem Arbeiterverein angehörige Deutschkatholik Carl Metzdorf Vorträge über Proudhon.103 Wie die angeführten Beispiele erkennen lassen, stand die elementare Arbeiterbewegung in ihren Anfängen unter dem Einfluß mehrerer Varianten des kleinEbenda, S. 130, Nr. 26 und Anm. 1. Die Verbrüderung, Nr. 16, 24.11.1848. Arbeiterverbrüderung, S. 33 Anm. 205. 118 Vgl. Weber, Rolf, Emil Ottokar Weller, in: Männer der Revolution von 1848, Berlin 1970, S. 149-189. Arbeiterverbrüderung, S. 137 Anm. 2. IUU vgl. Blumenberg, Werner, Die Aussagen des Peter Gerhardt Röser, in: International Review of Social History, 9, Amsterdam 1964,1, S. 103. TOI Franz Spengler, Schuhmachergeselle, Vorsitzender des Arbeitervereins München, und August Schulze, Schneidergeselle aus Leipzig, seit Anfang 1850 Vorsitzender des Arbeiterbildungsvereins Nürnberg, beide Bundesmitglieder, waren Deutschkatholiken. Vgl. Arbeiterverbrüderung, S. 396 Anm. 2; 400 f., Dok. Nr. 247 und Anm. 1; 429 Anm. 6. " " Oskar Skrobeck (geb. um 1815 in Schlesien), Schriftsetzer, und Albin Warth (geb. um 1821 in Baden), Schlossergeselle, beide Ausschußmitglieder des Arbeitervereins Leipzig und mit Robert Blum eng befreundet, waren Deutschkatholiken. Vgl. ebenda, S. 563, 566. «» vgl. ebenda, S. 239 Anm. 1. w
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bürgerlichen utopischen Sozialismus, die sich oft nur geringfügig voneinander unterschieden bzw. sich teilweise überschnitten. Nicht behandelt ist hier der Handwerkerkommunismus Wilhelm Weitlings, der besonders im Hamburger Arbeiterverein stärkeren Rückhalt hatte.104 Die Urheber der doktrinären Theorien zur vermeintlichen Lösung der sozialen Frage waren, von Weitling abgesehen, fast ausschließlich Vertreter des demokratischen Kleinbürgertums, die prinzipiell von der Möglichkeit einer friedlichen Uberwindung der Klassengegensätze zwischen Bourgeoisie und Proletariat ausgingen und jede revolutionäre Lösung ablehnten. Die Arbeiterassoziationen wurden von diesen Theoretikern als Weg zum Ausgleich der Interessengegensätze, nicht als Mittel des Klassenkampfes verstanden. Ein Einfluß solcher Vorstellungen auf die elementare proletarische Bewegung mußte deren Emanzipation von Kleinbürgertum und Bourgeoisie hemmen und dem Verselbständigungsprozeß zuwiderlaufen. Deshalb argumentierte die NRhZ schon seit den ersten Tagen ihres Erscheinens gegen die ökonomistische Einengung und Verabsolutierung des Assoziationsgedankens. Daß eine Klärung der verworrenen Begriffswelt in der elementaren Bewegung dringend notwendig war, bestätigen die Urteile zweier Marx nahestehender Bundesmitglieder über den politischen Bewußtseinsstand im Arbeiterbildungsverein Hamburg. Friedrich Leßner (1825—1910), der von November 1846 bis März 1847 diesem Verein angehörte, nannte ihn in seinen Erinnerungen „im besten Sinne des Wortes eine Kulturstätte der revolutionären Gedanken der 40er Jahre" und bezeichnete diese Zeit als den „wichtigsten Abschnitt" seines Lebens, in welchem er die Grundlagen seiner politischen Bildung gelegt habe. Nach Leßner liefen aber 1847 im Hamburger Verein „Bestrebungen für die deutsche Einheit und Freiheit, für Republik und Verbrüderung der Völker, für Freidenkerei, Urchristentum, Kommunismus" bunt durcheinander und vereinigten sich zu „höchst unklaren und unbestimmten Idealen".105 Ähnlich urteilte F. W. Haupt, Sekretär des Hamburger Bezirkskomitees der Arbeiterverbrüderung, im Dezember 1850 in einem Brief an Karl Marx: „Die große Industrie fehlt, die uns Arbeiter schafft. Überall Verbrüderung, Liebe, Gleichheit etc., lauter Phrasen des Demokratenpacks. Die meisten Arbeiter gehen in allen ihren revolutionären Bestrebungen doch meistens auf Zunftverhältnisse zurück: die einen wollen sie abschaffen, die anderen wünschen nichts sehnlicher herbei."106 Die Kommunisten der NRhZ hegten in dieser Hinsicht keinerlei Illusionen. Zugleich waren sie aber, wie Walter Schmidt mit Recht feststellt, „weit davon entfernt, die Arbeiter wegen der von ihnen zunächst praktizierten sozialen Experimente zu verurteilen", vielmehr „verfolgten sie mit wachem Auge den Gang der Dinge und schalteten sich in dem Moment in die Diskussion ein, wenn durch die Praxis des Klassenkampfes der Boden für das Verständnis für weitergehende politische Überlegungen gelockert war". 107 Ebenda, S. 28, 64, 274 f. Anm. 3. Ebenda, S. 47. Die Begriffe, „Urchristentum, Kommunismus" zielen auf Wilhelm Weitling. 1U8 Ebenda. w ' Vgl. Schmidt, S. 290 f. Wt
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Anfang 1849 sahen Marx und Engels einen solchen Zeitpunkt als gekommen an. Sie nahmen damals ihren im Mai 1848 zurückgestellten Plan wieder auf und faßten den Entschluß, die fortgeschrittenen Teile der proletarischen Bewegung zu einer breiten, politisch orientierten öffentlichen Arbeiterpartei zusammenzufassen.108 Zweifellos geht es auf die Initiative der deutschen Kommunisten zurück, daß Ende Januar 1849 auf dem Regionalkongreß südwestdeutscher Arbeitervereine in Heidelberg beschlossen wurde, auf einem für Juni 1849 in Leipzig vorgesehenen allgemeinen Arbeiterkongreß die bisherige „Arbeiterverbrüderung" in einen „Allgemeinen deutschen Arbeiterbund" umzuwandeln und diesem Bund ein neues Programm und neue Statuten zu geben. Zugleich erklärten die in Heidelberg vertretenen südwestdeutschen Arbeitervereine ihren sofortigen Anschluß an das Leipziger Zentralkomitee. An diesem Kongreß waren neben Josef Weydemeyer auch mehrere andere führende Kommunisten als Delegierte westdeutscher Arbeitervereine beteiligt, so die Brüder Gottfried und Paul Stumpf aus Mainz. Unter dem deutlichen Einfluß der Kommunisten erklärten es die Beschlüsse des Heidelberger Kongresses als wichtiges Ziel der proletarischen Organisationen, daß die Arbeiter „besonders in politischer und sozialer Beziehung sich über ihre Stellung, ihre Forderungen und ihre Zukunft klarwerden".109 Damit wurde der vorwiegend politische und erst in zweiter Linie soziale Charakter des zu gründenden „Allgemeinen Deutschen Arbeiterbundes" hervorgehoben, also eine grundsätzliche Abänderung des Programms der „Arbeiterverbrüderung" vom September 1848 ins Auge gefaßt. Wenige Tage später äußerte Josef Weydemeyer in der NRhZ über den Heidelberger Kongreß, daß sich dort „die prinzipielle Debatte . . . hauptsächlich um den Gegensatz zwischen der kleinbürgerlichen — oder konterrevolutionären — und der revolutionären Stellung des Arbeiters" gedreht habe.110 Das ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Auch über alle folgenden Regionalkongresse der „Arbeiterverbrüderung" berichtete die NRhZ.111 Mitte April 1849 faßte die Generalversammlung des Kölner Arbeitervereins auf Antrag von Marx, Schapper und Wilhelm Wolff den Beschluß, aus dem Verband der demokratischen Vereine Deutschlands auszutreten und sich dagegen dem „Zentralausschuß der deutschen Arbeitervereine" in Leipzig anzuschließen, ferner vor Stattfinden des Allgemeinen Arbeiterkongresses in Leipzig einen Provinzialkongreß aller Arbeitervereine des Rheinlands und Westfalens nach Köln zu berufen, dessen Hauptzweck es sein sollte, die den rheinisch-westfälischen Deputierten für den Leipziger Kongreß mitzugebenden Anträge zu erörtern und festzustellen.112 Gleichzeitig wandte sich Marx mit seiner Artikelfolge „Lohnarbeit und Kapital", die vom 5. bis 11. April 1849 in der NRhZ er-
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Vgl. ders., Wilhelm Wolff, Kampfgefährte und Freund von Marx und Engels 1846 bis 1864, Berlin 1979, S. 215 ff. GdA, Bd. 1, S. 529, Dok. Nr. 35. BdK 1, S. 902, Nr. 335. Vgl. Arbeiterverbrüderung, S. 6. BdK 1, S. 930, Nr. 359; 934, Nr. 362. Vgl. Becker, Gerhard, Der Kongreß der Arbeitervereine der Rheinprovinz und Westfalens am 6. Mai 1849, in: BzG, 10, 1968, 2, S. 373-383.
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schien113, an die Arbeiter Deutschlands, um ihnen die Unvereinbarkeit der Klassengegensätze zwischen Proletariat und Bourgeoisie nachzuweisen. Diese Artikelserie war u. a. zur Vorbereitung des geplanten Allgemeinen Arbeiterkongresses in Leipzig bestimmt. Sie knüpfte an das Manuskript „Arbeitslohn" vom Dezember 1847 an, in welchem Marx sich auch zur Problematik der „Arbeiterassoziationen" geäußert hatte. Schon der erste Artikel vom 5. April 1849 enthielt die Feststellung, daß „jede revolutionäre Erhebung scheitern muß, bis die revolutionäre Arbeiterklasse siegt, daß jede soziale Reform eine Utopie bleibt, bis die proletarische Revolution und die feudalistische Konterrevolution sich in einem Weltkrieg mit den Waffen messen". 114 Damit unterstrich Marx im Hinblick auf das in Leipzig zu verabschiedende Programm des Allgemeinen deutschen Arbeiterbundes den unabdingbaren Vorrang des revolutionären Klassenkampfes vor jeder Inangriffnahme irgendwelcher sozialer Reformen. Laut Komiteebeschluß des Kölner Arbeitervereins vom 11. April 1849 sollten alle Arbeitervereine Deutschlands aufgefordert werden, die Artikelserie von Marx zu diskutieren und dem Kölner Arbeiterverein ihre Ansichten dazu mitzuteilen. 115 Entsprechende Äußerungen gingen bald darauf von den Arbeiterorganisationen Bingen, Leipzig und Mannheim ein.116 Die Überzeugung, daß der Klassenantagonismus zwischen Proletariat und Bourgeoisie eine friedliche Lösung der „sozialen Frage" ausschloß und daß auch das demokratische Kleinbürgertum nur zeitweilig die Interessen des Proletariats vertrat, mußte sich den Arbeitern überall dort aufdrängen, wo ihre zunächst auf die vermeintlichen „Errungenschaften" der Märzrevolution gesetzten Hoffnungen bitter enttäuscht wurden. Das galt in hohem Maße f ü r die Arbeiter in Preußen und Sachsen. Die liberale Regierung Oberländer in Sachsen hatte z. B. im Sommer 1848 eine „Kommission zur Erörterung der Gewerbs- und Arbeitsverhältnisse" konstituiert, zu deren Mitgliedern auch einige wenige Arbeiter zählten. Die heuchlerische Beschwichtigungs- und Hinhaltetaktik dieser von Vertretern der Bourgeoisie und der Bürokratie beherrschten Regierungskommission war derart offenkundig, daß die proletarischen Weber von Auerbach i.V. im April 1849 in einer Petition an den Landtag forderten, die Kammern sollten eine neuerliche Bewilligung von 14 000 Talern f ü r die Kommission wieder rückgängig machen, da diese ihren Interessen nicht nütze, sondern schade.117 Dieser Erkenntnis der Arbeiter konnte sich auch das Leipziger Zentralkomitee nicht verschließen. So erklärte Franz Schwenniger schon Mitte Februar 1849 auf dem Hamburger Regionalkongreß, das Verhalten der Regierungen sei Demagogie, z. B. habe das Zentralkomitee auf die in Sachsen angeblich f ü r Arbeiterinteressen gebildete Regierungskommission überhaupt nicht einwirken können. 118 Auch hinsichtlich der 113
MEW, Bd. 6, S, 397-423. Ebenda, S. 397. 115 BdK 1, S. 928, Nr. 357. 1,6 Ebenda, S. 936, Nr. 364. 117 Adresse vom 17.4.1849 an die Erste Kammer des Sächsischen Landtags (StAD, Ständeversammlung 1833-1918, Nr. 3129, Unerledigte Petitionen, Fasz. 56). 118 Arbeiterverbrüderung, S. 55. 114
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vom Gründungskongreß der „Arbeiterverbrüderung" propagierten Arbeiterwerkstätten und Konsumassoziationen erwiesen sich die anfangs gehegten Erwartungen größtenteils ebenso als Illusionen, wie das in Frankreich der Fall war. Mit unendlicher Mühe konnten die Arbeiter in Berlin, Leipzig, Chemnitz und anderwärts im Kampf gegen das Mißtrauen der herrschenden Klassen, gegen die Mißgunst der kleinbürgerlichen Handwerksmeister zwar vereinzelt vorübergehende Teilerfolge erzielen, an die in den 60er Jahren angeknüpft werden konnte. Doch sprach F. Schwenniger wohl die Ansicht der politisch fortgeschrittenen Vereine aus, wenn er auf dem Hamburger Regionalkongreß vom Februar 1849 vor der Illusion warnte, die Arbeiter könnten mit der Gründung von Produktivassoziationen die „soziale Frage" lösen.119 Im gleichen Sinne hatte die Zeischrift „Verbrüderung" schon Anfang Dezember 1848 einen Bericht der NRhZ nachgedruckt, der die Gewährung von Staatskrediten an Arbeiterassoziationen durch die Bourgeoisregierung Frankreichs als einen Versuch zur Korrumpierung der Arbeiter brandmarkte. Trotzdem beschloß 4 Wochen später, vermutlich aus taktischen Gründen, der Regionalkongreß der sächsischen und thüringischen Arbeitervereine in Leipzig auf Initiative des Zentralkomitees die Abfassung einer Adresse an die Ständekammern der einzelnen Länder, in der von den Regierungen die Gewährung eines Staatskredits zugunsten von Arbeiterassoziationen gefordert wurde. Mit einer Bewilligung der absichtlich hoch bemessenen Summe von vier bzw. zehn Millionen Talern rechnete das Zentralkomitee offenbar nicht, dagegen bezweckte es eher eine propagandistische Wirkung, die sich bei vielen Vereinen in einem sprunghaften Ansteigen der Mitgliederzahlen zeigte.120 In Preußen, Sachsen, Hamburg und anderwärts veranstalteten die Arbeiter Unterschriftensammlungen für diese Petition. Zwischen Januar und Mitte April 1849 wurden allein in Sachsen für die in vielen Hunderten gedruckter Exemplare verbreitete Petition über 15 400 Unterschriften geleistet.121 Eine bisher unbekannte Adresse des Arbeitervereins Zschopau vom 8. April 1849, der sich 18 Fabrikarbeitervereine des mittleren und oberen Erzgebirges im Namen von rund 4 000 Mitgliedern anschlössen, forderte in diesem Zusammenhang vom Staat den Schutz der Organisation und Assoziation der Arbeiter, außerdem eine Verkürzung der Arbeitszeit von 14 bis 16 Stunden täglich auf 10 bis 12 Stunden, eine gleichzeitige Erhöhung des Arbeitslohnes, die Aufhebung der bestehenden Fabrikordnungen, die künftige Verwaltung der Fabrikkrankenkassen durch gewählte Arbeitervertreter, die Schaffung von Schiedsgerichten für Arbeitsstreitigkeiten in den Fabriken.122 Sämtliche hier genannten Forderungen der Arbeiter wurden vom Landtag weder der Regierung zur Kenntnis gebracht noch den Absendern beantwortet. Das »» Ebenda, S. 4 Anm. 17. ™ Weber, Rolf, Die Revolution in Sachsen 1848/49, Berlin 1970, S. 300. 121 StAD, Ständeversammlung 1833-1918, Nr. 3127, Bl. 25; Nr. 3259, Fasz. 130; Nr. 3284, Fasz. 396, 401, 437. 122 Ebenda, Nr. 3284, Fasz. 401.
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führte zwangsläufig zu einer Verbitterung und Desillusionierung der Arbeiter, gleichzeitig aber zu einem starken Anwachsen der revolutionären Aktivität in den sächsischen Arbeitervereinen, die in der Mairevolution 1849 ihren Höhepunkt erreichte. 36 Jahre später hat Friedrich Engels in seiner „Geschichte des Bundes der Kommunisten" (1885) den politisch-ideologischen Standort der „Arbeiterverbrüderung" sowie das Verhältnis des Bundes der Kommunisten zu dieser Organisation gekennzeichnet. Während laut Engels die meisten Bundesmitglieder, die im März 1848 aus der Emigration nach Deutschland zurückkehrten, sich dort an die Spitze der extrem-demokratischen Bewegung gestellt hätten, so am Rhein, in Nassau, Rheinhessen, Hamburg, Breslau und anderwärts, habe Born, „ein sehr talentvoller junger Mann, der es aber mit seiner Verwandlung in eine politische Größe etwas zu eilig hatte", von Berlin aus „eine kleine Separatbewegung auf eigene Rechnung" begründet. Er war jedoch „keineswegs der Mann, der Einheit in die widerstrebenden Tendenzen, Licht in das Chaos bringen konnte. In den amtlichen Veröffentlichungen des Vereins laufen daher auch die im kommunistischen Manifest' vertretenen Ansichten kunterbunt durcheinander mit Zunfterinnerungen und Zunft wünschen, Abfällen von Louis Blanc und Proudhon usw., kurz man wollte allen alles sein. Speziell wurden Streiks, Gewerksgenossenschaften, Produktivgenossenschaften ins Werk gesetzt und vergessen, daß es sich vor allem darum handelte, durch politische Siege sich erst das Gebiet zu erobern, worauf allein solche Dinge auf die Dauer durchführbar waren."123 Damit griff Engels auf den Kern der Polemik zurück, die einst von Marx und ihm in der NRhZ gegen Proudhon, L. Blanc u. a. geführt worden war; außerdem fällte er ein historisch zutreffendes Urteil über die ungenügende ideologische Grundlage der „Arbeiterverbrüderung", indem er erneut die Verabsolutierung des Assoziationsgedankens zurückwies. Der Abschnitt schließt mit der Erwähnung von Borns Emigration in die Schweiz vom Sommer 1849 und sehr ironischen Bemerkungen über das weitere kleinbürgerliche Dasein Borns, „der eigentlich Buttermilch heißt '. Auffallenderweise wird jedoch die „Arbeiterverbrüderung", wenige Zeilen später erneut erwähnt, diesmal aber in positivem Sinne.124 Im Frühjahr 1850 brachte Heinrich Bauer, so heißt es bei Engels, auf einer erfolgreichen Emissärreise zur Reorganisation des Bundes „die teils lässig gewordenen, teils auf eigene Rechnung operierenden ehemaligen Bundesmitglieder wieder in die aktive Organisation, namentlich auch die jetzigen Führer der ,Arbeiterverbrüderung' (also Borns Nachfolger — H. S.). Der Bund fing an, in den Arbeiter-, Bauern- und Turnvereinen in weit größerem Maß als vor 1848 die dominierende Rolle zu spielen." Zwischen den beiden bei Engels nur durch zwei kurze Abschnitte getrennten Stellen besteht keine echte Diskrepanz. Beide Male kam es Engels darauf an, die tatsächliche historische Rolle des Bundes der Kommunisten gegenüber der Arbeiterverbrüderung — als einem Teil der elementaren Bewegung — richtigzustellen. Dafür lag 1885 besondere Veranlassung vor. Im April hatte August Bebel Engels brieflich seine starken Bedenken gegen das damals eben erschienene MEW, Bd. 21, S. 219. Ebenda, S. 220.
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Buch Adlers „Die Geschichte der ersten sozialpolitischen Arbeiterbewegung in Deutschland" (Breslau 1885) mitgeteilt und ihn gebeten, eine kritische Rezension in der „Neuen Zeit" zu veranlassen. Noch vor Abschluß seiner „Geschichte des Bundes der Kommunisten" (8.10.1885) las Engels Adlers Buch und schrieb darüber am 28. des selben Monats an Bebel: „Das sehr flache und wesentlich auf Stieber beruhende Buch von Adler hat mir Kfautsky] gegeben, ich werde ihm bei einer Kritik helfen".125 Aus den kürzlich von J.Rokitjanski veröffentlichten Randnotizen, die Engels damals eintrug und die er Kautsky als Hilfe für dessen spätere Rezension übergab, kennen wir Engels' negatives Urteil über Adler ziemlich genau.126 Der zu dieser Zeit erst 22jährige Georg Adler hatte sein Buch von einem dem revolutionären Sozialismus feindlichen Standpunkt aus geschrieben und sich an Kathedersozialisten wie Johann Karl Rodbertus und Adolph Wagner orientiert. Wie Engels, höchstwahrscheinlich zu Recht, vermutete, hatte außerdem der 1850 aus dem Bund ausgestoßene und zum Gegner der Kommunisten gewordene Stephan Born Adler bei der Abfassung, besonders hinsichtlich der Einschätzung der von Born 1848 begründeten „Arbeiterverbrüderung" beeinflußt.127 Kurze Zeit, nachdem Engels seine „Geschichte des Bundes" abgeschlossen hatte, schrieb er am 11. November 1885 an den Leiter des sozialdemokratischen Buchverlags in Zürich-Hottingen, Hermann Schlüter: „Korrektur zu ,Bund der Kommunisten* werden Sie erhalten haben. Wollen Sie gfl. Ede (d. h. Eduard Bernstein — H. S.) sagen, daß ich das Buch von dem Spatzen der sich ,Adler' nennt, durch K[autsky] schon vorher erhalten . . . Der Passus wegen Buttermilch-Born war grade deshalb so abgefaßt, weil das Buch mir bewies, daß Born dem Adler im stillen etwas Buttermilch eingeschenkt hat, aber (siehe Vorrede) verboten, daß man seinen Namen nenne. Dafür mußte er etwas auf den Allerwertesten bekommen." 128 Diese vertrauliche Äußerung an Schlüter zeigt, daß Engels in der vermutlich von Born beeinflußten Darstellung Adlers eine böswillige Herabsetzung der Rolle des Bundes der Kommunisten und den Versuch zu einer Glorifizierung der 125
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Ebenda, Bd. 36, S. 379. Die Kritik von Karl Kautsky erschien im Februar 1886, in: Die Neue Zeit, 4, Stuttgart 1886, 2, S. 91-96. Rokitjanski, Jakow, Engels* Notizen in Georg Adlers Buch „Die Geschichte der ersten sozialpolitischen Arbeiterbewegung in Deutschland", in: Marx-Engels-Jahrbuch, Bd. 2, Berlin 1979, S. 339-368. Stephan Born, geb. 28. 12. 1824 in Lissa (Lezno sw. Poznan), gest. 4. 5. 1898 als Professor für Literatur in Basel. 1847/48 hatte Born, damals Bundesmitglied und Schriftsetzer in Brüssel, das volle Vertrauen von Marx und Engels besessen, wie deren anerkennende Worte vom Oktober 1847 in der „Deutschen Brüsseler Zeitung" (MEW, Bd. 4, S. 324, 359) zu Borns polemischer Schrift gegen Carl Heinzen und der ihm 1847 erteilte Auftrag, in der Schweiz für den Bund zu agitieren, zeigen. Nach seiner späteren Emigration in die Schweiz schloß sich Born 1850 der Marx feindlichen „Revolutionären Zentralisation" an (vgl. Rogger, Franziska, Biographie Stephan Born, Bern 1977, S. 73 ff.) und wurde aus dem Bund ausgestoßen. In einem Briefe an JennyMarx vom 23. 6. 1859 (IML/CPA, F 6, Nr. 137) sagte sich Born von seiner früheren kommunistischen Uberzeugung los. MEW, Bd. 36, S. 382.
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„Arbeiterverbrüderung" sah, die er beide nicht unwidersprochen hinnehmen konnte. Sein zorniger Protest richtete sich weniger gegen Adler als vielmehr gegen Born. 129 Engels begnügte sich daher nicht damit, seine Notizen zu den zahlreichen groben Fehlern und Einseitigkeiten in Adlers Buch Kautsky zur Verfügung zu stellen. Vielmehr benutzte er seine damals im Entstehen begriffene „Geschichte des Bundes der Kommunisten" 130 dazu, um selbst in prinzipieller und umfassender Weise der von Born/Adler verzerrten Darstellung des Verhältnisses zwischen Bund der Kommunisten und „Arbeiterverbrüderung" entgegenzutreten. Dabei kam es Engels einerseits auf die Feststellung an, daß sich die „Arbeiterverbrüderung" im Frühsommer 1849 „gegenüber der großen politischen Bewegung des Proletariats als ein reiner Sonderbund bewährte, der großenteils nur auf dem Papier stand und eine so untergeordnete Rolle spielte, daß die Reaktion ihn erst 1850 . . . zu unterdrücken für nötig fand". Als mindestens ebenso wichtig aber hob es Engels ausdrücklich hervor, daß der Bund spätestens seit Frühjahr 1850 auf die „Arbeiterverbrüderung" richtunggebend einwirkte und mit ihrer Hilfe „in den Arbeiter-, Bauern- und Turnvereinen in weit größerem Maß als vor 1848 die dominierende Rolle zu spielen" anfing.131 Die ideologische und organisatorische Grundlage für diese verstärkte Agitationstätigkeit des Bundes schuf die Zentralbehörde mit der durch Heinrich Bauer verbreiteten Märzansprache von 1850, die den Bundesmitgliedern nahelegte, „eine geheime und öffentliche Organisation der Arbeiterpartei herzustellen und jede Gemeinde zum Mittelpunkt und Kern von Arbeitervereinen zu machen". 132 Dasselbe Ziel verfolgten die Bundesmitglieder Weydemeyer und Schapper, die seit Februar 1850 den organisatorischen Anschluß der mittelrheinischen Arbeitervereine an das Leipziger Zentralkomitee der Arbeiterverbrüderung herbeiführten.133 In den von ihnen geleiteten Arbeitervereinen von Frankfurt/M. und Wiesbaden wurden 1850/51 die gleichen Fragen diskutiert, die auch anderwärts die Arbeiter bewegten, z. B.: Inwiefern entspricht die Konzentration des Kapitals und der Produktionsinstrumente dem Interesse des Arbeiters? Begünstigen Arbeiterassoziationen, wie sie gegenwärtig bestehen, die nächste Revolution oder nicht? 134 ia) Vermutlich waren Engels schon 1885 antikommunistische Äußerungen Borns bekannt, wie sie sich in dessen nach Engels* Tod gedruckten „Erinnerungen eines Achtundvierzigers" (Leipzig 1898) mehrfach finden, z. B. S. 135 f., 196 II. Erschienen im Oktober 1885 im Büchverlag des „Sozialdemokrat", Zürich-Hottingen, als Einführung zu Karl Marx' „Enthüllungen über den Kommunistenprozeß zu Köln" sowie gesondert am 12., 19. und 26.11. 1885 in dem von Eduard Bernstein geleiteten „Sozialdemokrat". 131 MEW, Bd. 21, S. 219, 220. 132 Ebenda, Bd. 7, S. 248. Vgl. auch Juniansprache 1850 (ebenda, S. 310): „Die Zentralbehörde macht alle Gemeinden und Bundesmitglieder darauf aufmerksam, daß dieser Einfluß auf die Arbeiter-, Turn-, Bauern- und Taglöhnervereine etc. von der höchsten Widitigkeit ist und überall gewonnen werden muß. Sie fordert die leitenden Kreise und direkt mit ihr korrespondierenden Gemeinden auf, in ihren nächsten Briefen speziell zu berichten, was in dieser Beziehung geschehen ist." Vgl. Arbeiterverbrüderung, S. 5,432 Anm. 1. 1M Ebenda, S. 69.
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Marx und Engels hielten auch später an ihrer im Kommunistischen Manifest geäußerten Ansicht über das Verhältnis zwischen dem Bund der Kommunisten und den anderen Arbeiterorganisationen fest. Noch 1886 erklärte Engels in einem Brief an Friedrich Adolph Sorge in Hoboken (USA): „Die Massen müssen Zeit und Gelegenheit haben, sich zu entwickeln, und die Gelegenheit haben sie erst, sobald sie eine eigene Bewegung haben — einerlei in welcher Form, sobald es nur ihre eigne Bewegung ist —, in der sie durch ihre eignen Fehler weitergetrifrben werden, durch Schaden klug werden. Die Bewegung steht in Amerika da, wo sie bei uns vor 48 stand; die wirklich intelligenten Leute dort werden zunächst die Rolle zu spielen haben wie der Kommunistenbund vor 48 unter den Arbeitervereinen." 135 Wie sich auch am Beispiel des Assoziationsgedankens nachweisen läßt, waren Marx und Engels zeitlebens mit Nachdruck darum bemüht, der elementaren Bewegung ihre eigenen Erkenntnisse und die des Bundes zugänglich zu machen. Im Falle der Arbeiterassoziationen bedeutete das, deren Rolle als Mittel zur Stärkung der Klassenorganisation und zur Vorbereitung auf die revolutionären Aufgaben des Proletariats bewußt zu machen, zugleich aber ein Abgleiten in kleinbürgerlich-utopische Vorstellungen zu verhindern, die das Erfüllen dieser Mission gefährden konnten. ws
MEW, Bd. 36, S. 579.
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Bürgerlicher Parlamentarismus und Arbeiterbewegung. Zur Entwicklung der Parlaments- und Wahlkampftaktik der internationalen Arbeiterbewegung von der Herausbildung der II. Internationale bis zu ihrem Züricher Kongreß
„Heute erwarten wir Burns hier", schrieb Friedrich Engels am 31. März 1893 an Julie Bebel, „und so werden denn zum ersten Mal in der Weltgeschichte drei sozialistische Abgeordnete Deutschlands, Frankreichs und Englands zusammenkommen. Daß so eine Zusammenkunft möglich ist, wo drei Leute die drei ersten Parlamente von Europa — drei sozialistische Parteiführer die drei ausschlaggebenden europäischen Nationen vertreten, das beweist allein, welche enorme Fortschritte wir gemacht haben."1 Mit dem starken Aufschwung der Massenkämpfe des Proletariats Ende der 80er Jahre und den Fortschritten im Formierungsprozeß der internationalen Arbeiterbewegung, die in der Herausbildung revolutionärer proletarischer Massenparteien und der Gründung der II. Internationale sichtbaren Ausdruck fanden2, war auch eine verstärkte Hinwendung zur Ausnutzung des bürgerlichen 1 2
Engels an Julie Bebel, 31. 3.1893, in: MEW, Bd. 39, S. 60. Siehe dazu u. a. Istorija vtorogo internationale, Tom 1, Moskva 1965 (Akademija nauk SSSR, Institut istorii, biblioteka vsemirnoj istorii); Meidunarodnoe raboöee dvizenie. Voprosy istorii i teorii, Tom 3, RaboCee dvizenie v period perchodka k imperializmu 1871-1904, Moskva 1976, S. 201-321; Seidel, Jutta, Zu einigen Aspekten der proletarisch-internationalistischen Position der deutschen Sozialdemokratie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, in: BzG, 12, 1970, 5, S. 723 ff.; dies., Friedrich Engels' theoretisches und politisches Wirken für den internationalen Zusammenschluß der Arbeiterbewegung in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, in: WZ Leipzig, Ges.wiss. R., 19, 1970, 5, S. 791 ff.; dies., Die deutsche Sozialdemokratie und das Problem der revolutionären Arbeitereinheit in der internationalen Arbeiterbewegung (1875—1889), in: Die Programmkritiken von Marx und Engels. Historische Bedeutung — internationale Ausstrahlung — aktuelle Lehren, Leipzig 1976; Krivogus, J. M., Osnovnye periody i zakonomernosti mezdunarodnogo raboöego dvizenja do oktjabrja 1917 g, Moskva 1976; Der Sozialdemokrat 1879—1890. Ein Beitrag zur Rolle des Zentralorgans im Kampf gegen das Sozialistengesetz, Berlin 1975, S. 183 ff.; Bartel, Horst/Schröder, Wolfgang/Seeber, Gustav, Das Sozialistengesetz 1878—1890. Illustrierte Geschichte des Kampfes der Arbeiterklasse gegen das Ausnahmegesetz, Berlin 1980; Bartel, Horst/Laschitza, Annelies/Schmidt, Walter, Reform und Revolution im Ringen um die Konstituierung der Arbeiterklasse. Zum politischideologischen Formierungsprozeß des Proletariats in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: ZfG, 23,1975, 6, S. 640 ff.; Herrmann, Ursula, Zum Wesen der proletarischen Parteien im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, in: BzG,
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Parlamentarismus für den politischen Kampf der Arbeiterklasse verknüpft. Hierfür gingen wichtige Impulse von der deutschen Sozialdemokratie aus, die mit der Entwicklung und erfolgreichen Anwendung ihrer revolutionären Parlamentstaktik einen wertvollen Beitrag zum Erfahrungsschatz der internationalen Arbeiterbewegung geleistet hatte.3 Dabei kam ihr zustatten, „daß die Gesamtheit einer ganzen Reihe historischer Bedingungen den Parlamentarismus für Deutschland in einer bestimmten Periode zu einem spezifischen Kampfmittel gemacht hat, nicht zum hauptsächlichen, höchsten, bedeutenden und im Vergleich zu den anderen wesentlichen, sondern eben zu einem spezifischen und im Vergleich zu anderen Ländern höchst charakteristischen".4 Die Entfaltung des parlamentarischen Kampfes der Arbeiterklasse, der unter den Bedingungen des letzten Drittels des 19. Jh. auch in den anderen Ländern wachsendes Gewicht für die Mobilisierung der Massen erhielt, vollzog sich jedoch weder geradlinig und konfliktlos noch als einfache, schematische Übernahme der deutschen Erfahrungen durch die Bruderparteien. Vielmehr war sie von zum Teil heftigen Auseinandersetzungen mit reformistischen und anarchistischen Kräften sowohl in den einzelnen Ländern als auch in der internationalen Arena begleitet. Einige Aspekte dieses Prozesses sollen unter besonderer Berücksichtigung der Mitwirkung der deutschen Sozialdemokratie und der aktiven Hilfe von Friedrich Engels im folgenden untersucht werden. Bereits die ersten Erfolge der deutschen Sozialdemokratie bei den Reichstagswahlen und das mutige Auftreten ihrer Führer im Parlament weckten die Aufmerksamkeit der internationalen Arbeiterbewegung. Sie trugen schon in den 70er Jahren dazu bei, den Bakunismus mit Erfolg zu bekämpfen.5 Angesichts ihrer erfolgreichen Nutzung des allgemeinen Wahlrechts und der Reichstagstribüne unter den Bedingungen des Sozialistengesetzterrors mehrten sich die Stimmen, die zur Nachahmung dieser Taktik aufforderten. Die richtige Beantwortung der somit immer zwingender werdenden Frage nach dem Wert parlamentarischer Kampfmittel verlangte jedoch die sorgsame Berücksichtigung aller
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19,1977, 3, S. 360 ff.; Braunthal, Julius, Geschichte der Internationale, Bd. 1, Hannover 1961; Geschichte des Sozialismus, hrsg. von Jacques Droz, Bd. 3—7, Frankfurt a. M./ (West-)Berlin/Wien 1975; Haupt, Georges, Programm und Wirklichkeit. Die internationale Sozialdemokratie vor 1914. Mit einem Vorwort v. E. Labrousse, Neuwied/ (West-)Berlin 1970. Siehe auch Oviarenko, N., V. Bor'be za revoljucionny markzizm. Problemy teorii, taktiki i organizacii germanskoj social-demokratii v konce XIX veka, Moskva 1967, S. 285 ff.; Weien, Manfred, Revolutionäre und Opportunisten im Deutschen Reichstag. Ein Beitrag zur Parlaments- und Wahlkampftaktik der deutschen Sozialdemokratie in der ersten Hälfte der 90er Jahre des 19. Jh., phil. Diss. B, Leipzig 1980. Lenin, W. 1., Uber die Fraktion der Anhänger des Otsowismus und des Cottbildnertums, in: Werke, Bd. 16, S. 22. Vgl. Engels an August Bebel, 11. 10. 1884, in: MEW, Bd. 36, S. 214. - Siehe auch Engels, Friedrich, Aus Italien, ebenda, Bd. 19, S. 91—95; ders., Die europäischen Arbeiter im Jahre 1877, ebenda, S. 122—124; ders., Eine Arbeiterpartei, ebenda, S. 277-279.
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Besonderheiten, die sich aus den konkreten politischen, ökonomischen, sozialen und ideologischen Verhältnissen, also aus den unterschiedlichen Voraussetzungen und Bedingungen des Kampfes der Arbeiterklasse in den einzelnen Ländern ergaben. Dazu gehörten z. T. erhebliche Unterschiede in den Machtstrukturen, in der staatlichen Organisation, hinsichtlich des Platzes und der Funktion der Parlamente im Leben der Gesellschaft und nicht zuletzt in bezug auf Ausgestaltung und Handhabung der politischen Rechte des Volks (insbesondere des Wahlrechts, aber damit verknüpft auch der anderen bürgerlichen Rechte und Freiheiten). Die effektiven Machtbefugnisse des Parlaments in einer parlamentarischen Regierungsform wie in England oder Frankreich gegenüber dem konstitutionellen System preußisch-deutscher Prägung blieben nicht ohne Auswirkung auf die Stellung des Abgeordneten und das Verhalten der Wähler. „Bei uns stimmt sich leicht für einen Sozialdemokraten, weil wir die einzige wirkliche Oppositionspartei sind und weil der Reichstag doch nichts zu sagen hat", schrieb Engels 1885 an August Bebel und fügte hinzu: „Aber in Frankreich ist das was andres. Da ist die Kammer die entscheidende Macht im Land . . . " Deshalb würden die Arbeiter dort mit richtigem Instinkt „stets die radikalste mögliche Partei . . . unterstützen. Sobald die Radikalen am Ruder sind, treibt derselbe Instinkt sie in die Arme der Kommunisten .. ."6 Hinsichtlich der in Verfassungen und Wahlgesetzen fixierten staatsrechtlichen Grundlagen parlamentarischer Arbeit reichte das Spektrum von den unterschiedlichen Formen eines allgemeinen Wahlrechts in Frankreich, Deutschland, Spanien und der Schweiz, das allerdings nur für Männer galt und mit verschiedenen einschränkenden Bestimmungen versehen war, bis zu dem reaktionären Mehrklassenwahlsystem Österreichs, wobei verschiedene Varianten des Zensuswahlrechtes dominierten. 7 Während es also für die einen um die volle Ausnutzung des allgemeinen Wahlrechts, seinen Ausbau und seine Verteidigung ging, galt es für die anderen, dasselbe erst einmal zu erobern bzw. nach Möglichkeiten zu suchen, selbst das Zensuswahlrecht zu nutzen. Dabei handelte es sich nicht nur um unterschiedliche Aufgabenstellungen, sondern zwangsläufig auch um sehr verschiedene Erfahrungen und um ein unterschiedliches Herangehen an die Fragen des parlamentarischen Kampfes. Selbst unter im wesentlichen gleichem oder doch zumindest ähnlichem allgemeinem Wahlrecht vollzog sich die Entwicklung des parlamentarischen Kampfes der Arbeiterklasse sehr verschieden. Friedrich Engels verwies darauf, daß das allgemeine Wahlrecht z. B. in Frankreich, wo es ja schon seit 1848 existierte, B 7
Engels an August Bebel, 28.10.1885, ebenda, Bd. 36, S. 378 f. Zur Entwicklung des Wahlrechts in den einzelnen Ländern siehe Graf, Herbert/Seiler, Günther, Wahl und Wahlrecht im Klassenkampf, Berlin 1971; Marxistisch-leninistische allgemeine Theorie des Staates und des Rechts, Bd. 2, Historische Typen des Staates und des Rechts, Berlin 1974; Meyer, Georg, Das parlamentarische Wahlrecht, hrsg. von Georg Jellinek, Berlin 1901; Die Wahl der Parlamente und anderer Staatsorgane. Ein Handbuch, hrsg. von Dolf Sternberger und Bernhard Vogel, Bd. 1, Europa, 1. Halbbd., (West-)Berlin 1969.
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durch den bonapartistischen Mißbrauch in Verruf gekommen war und nach 1871 keine Arbeiterpartei existierte, die es nutzen konnte.8 Gerade in Frankreich aber war es in dieser Zeit im Zusammenhang mit dem Vordringen des Radikalismus zu einer weitgehenden Ausgestaltung des bürgerlichen Parlamentarismus gekommen. Eingeleitet wurde dieser Prozeß mit der Verabschiedung der Verfassung im Jahre 1875, wodurch das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht wieder hergestellt wurde. Nachdem 1885 formell auch die geheime Stimmabgabe eingeführt wurde, bestand in Frankreich ein für die Arbeiterklasse insgesamt günstiger gestaltetes aktives und passives Wahlrecht als in Deutschland. Noch deutlichere, qualitative Unterschiede existierten in bezug auf die realen Machtbefugnisse und die politische Autorität des Parlaments und des einzelnen Abgeordneten. Seit Ende der 70er Jahre hatte sich in Frankreich ein bürgerlichparlamentarisches Regierungssystem herausgebildet, das durch die volle Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament gekennzeichnet war. Das Parlament besaß nicht nur Macht, einer Regierung das Mißtrauen auszusprechen und sie damit zu stürzen, sondern konnte im Konfliktfall auch den Präsidenten der Republik zur Demission zwingen. Diese starke Position des Parlaments fand nicht zuletzt darin Ausdruck, daß seit 1877 bis weit in das 20. Jh. hinein in Frankreich kein Parlament vor Beendigung der vierjährigen Legislaturperiode aufgelöst wurde. Dem entsprachen auch das hohe Ansehen eines Deputierten in der französischen Öffentlichkeit sowie eine Reihe ansehnlicher Vorrechte, die er besaß. Darüber berichtete Paul Lafargue: „Ein französischer Abgeordneter ist unverletzlich; sobald er die dreifarbige Schärpe trägt, darf er von keinem Beamten verhaftet oder angetastet werden, es sei denn, daß er bei einer groben Gesetzesübertretung betroffen werde; sobald er seine Medaille als Abgeordneter vorzeigt, müssen sich ihm die Reihen der Polizisten und Gendarmen öffnen; gegen eine Zahlung von 120 Francs jährlich kann er frei alle Eisenbahnen benützen, und endlich erhält er Jahresdiäten im Betrag von 9 000 Francs." 9 Dessenungeachtet hatte die französische Arbeiterbewegung gegenüber der deutschen Sozialdemokratie bei der Ausnutzung des bürgerlichen Parlamentarismus einen beträchtlichen Rückstand. Dies unterstrich nachdrücklich die Erfahrung der deutschen Sozialdemokratie, daß die Entwicklung des parlamentarischen Kampfes und die Parteibildung des Proletariats untrennbar miteinander verknüpfte Prozesse waren und daß die erfolgreiche Ausnutzung des bürgerlichen Parlamentarismus nicht nur von objektiven, sondern maßgeblich auch von subjektiven Faktoren, vom politischen Reifegrad der Arbeiterklasse und ihrer Partei abhing. Allerdings kam das nicht unvermittelt, sondern oftmals auf sehr komplizierte, widersprüchliche Weise zur Geltung. So bot in Frankreich die erstmalige Teilnahme der Arbeiterpartei an den Wahlen der Gemeinderäte und der National8
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Engels, Friedrich, Einleitung zu Karl Marx* „Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850", in: MEW, Bd. 22, S. 518. Lafargue, Paul, Der Klassenkampf in Frankreich, in: Die Neue Zeit, 12, 1893/94, Bd. 2, S. 644 f.
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Versammlung im Januar bzw. August 1881 den Anlaß f ü r harte Auseinandersetzungen, die schließlich zur Spaltung des Parti ouvrier führten. Dem Wesen der .Sache nach handelte es sich um das Ringen zwischen den marxistischen Kräften, die f ü r eine revolutionäre Wahlkampf- und Parlamentstaktik auf der Grundlage der Beschlüsse von L e Havre eintraten, und der possibilistischen Richtung, die heftige Angriffe gegen das 1880 beschlossene Partei- und Wahlprogramm richtete und offen den opportunistischen Verzicht auf die darin enthaltenen revolutionären Grundsätze verlangte. „Die Streitfrage ist rein prinzipiell", schrieb Engels an August Bebel, nachdem die Spaltung des Parti ouvrier vollzogen war, „soll der Kampf als Klassenkampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie geführt werden, oder soll es gestattet sein, auf gut opportunistisch (oder w i e das in sozialistischer Übersetzimg heißt: possibilistisch) den Klassencharakter der Bewegimg und das Programm überall da fallenzulassen, w o man dadurch mehr Stimmen mehr .Anhänger' bekommen kann?" 10 Das einzige, was die Possibilisten zusammenhalte, sei bürgerlicher Radikalismus, urteilte er gegenüber Bernstein und fuhr f o r t : „Und die Arbeiterführer, die sich dazu hergeben, ein solches Arbeiterstimmvieh f ü r die Radikalen zu fabrizieren, begehn in meinen Augen direkten Verrat." 1 1 Der untrennbare Zusammenhang von Parteibildung, Durchsetzung des Marxismus, Kampf um die Gewinnung der Massen und revolutionärer Parlamentstaktik im Formierungsprozeß der Arbeiterklasse trat Mitte der 80er Jahre noch deutlicher hervor. 1886 fanden sowohl in Frankreich als auch in England Wahlen auf der Grundlage neuer Wahlgesetze statt. Das Ende 1884 mit der dritten Reformbill in K r a f t getretene englische Wahlrecht gab „bei der Abwesenheit einer Bauernklasse und dem industriellen Vorsprung Englands den Arbeitern soviel Macht, w i e das deutsche allgemeine", urteilte Friedrich Engels.12 Da aber das erst wieder „zu politischem Leben erwachende Proletariat" zunächst noch als Schwanz der liberalen Bourgeoisie auftrat 13 , mußte es hier anders wirken als etwa in Frankreich oder Deutschland. Engels versprach sich davon, daß nunmehr „die offiziellen Arbeiterführer massenweise ins Parlament kommen", um sich dort möglichst rasch zu entlarven und sodann als Hindernis auf dem W e g e zur englischen Arbeiterpartei beiseite geräumt werden zu können. 14 In diesem Sinne schrieb er auch an Johann Philipp Becker, daß acht bis zehn Arbeiter gewählt worden
*> Engels an August Bebel, 28.10.1882, in: MEW, Bd. 35, S. 382. - A m 16.12.1882 schrieb er an Johann Philipp Becker: „Malon und Brousse können die Zeit nicht abwarten, wo sie Deputierte werden, und so muß rasch Stimmvieh zusammengetrommelt werden. Also eine Partei gemacht ohne Programm (buchstäblich — denn nach einer langen Reihe ,Consid6rants' folgt der Schluß: dass jede Lokalität ihr Programm selber mache)." (Ebenda, S. 412.) 11 Engels an Bernstein, 28.11. 1882, ebenda, S. 404. " Engels an August Bebel, 28.10.1885, ebenda, Bd. 36, S. 377. 13 Vgl. Engels an August Bebel, 24. 7.1885, ebenda, S. 349. 14 Vgl. Engels an August Bebel, 28. 10. 1885, S. 377; siehe auch Engels an Becker, 15. 6. 1885, ebenda, S. 327 f.
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wären, „teils an die Bourgeoisie verkaufte, teils reine Gewerkschaftsleute —, die sich wahrscheinlich arg blamieren und die Bildung einer selbständigen Arbeiterpartei dadurch enorm befördern werden, indem sie vererbte Selbsttäuschungen der Arbeiter beseitigen. Die Geschichte geht hier langsam, aber sie geht." 15 Für Frankreich hingegen erwartete Engels, daß das neue Listenwahlrecht die Radikalen als „letzte mögliche unter den jetzt existierenden bürgerlichen Parteien" an die Macht bringen würde. „Herrschaft der Radikalen heißt aber in Frankreich vor allem Emanzipation des Proletariats von der alten revolutionären Tradition, direkter Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie, also Herstellung der endlichen klaren Kampflage."16 Obwohl sich der scrutin de liste zunächst gegen die Sozialisten auswirkte, bedurfte es nur weniger Monate, bis der Gang der Geschichte Friedrich Engels vollauf recht gab. Im Januar 1886 brach in Decazeville ein Streik der Grubenarbeiter aus, der bis zum Juni andauerte und eine breite Solidaritätsbewegung der Arbeiterklasse auslöste. Diese Massenaktion des Proletariats hatte für die Formierung der französischen Arbeiterbewegung bedeutsame Auswirkungen: Erstens brachte dieser Streik die erwartete Konfrontation zwischen der Arbeiterklasse und den Radikalen, die „jetzt mit ihrer Politik gegenüber den Arbeitern herausrücken" mußten und sich so erbärmlich benahmen, daß geschah, „was bisher kein Predigen zustande gebracht hatte: der Abfall der französischen Arbeiter von den Radikalen". Als weiteres Resultat hob Friedrich Engels hervor, daß sich mit Ausnahme der Possibilisten „sämtliche sozialistischen Fraktionen zu gemeinsamer Aktion" vereinigten.17 Drittens schließlich vollzog sich als „das große Ereignis des Jahres", wie er an Laura Lafargue schrieb, das „Erscheinen einer parti ouvrier im Palais Bourbon". 18 Die Lostrennung Baslys, Camelinats und Boyers von den Radikalen und ihre Konstituierung als sozialistische Arbeiterfraktion in der Nationalversammlung im Zusammenhang mit einer kraftvollen außerparlamentarischen Aktion besaß große Bedeutung für den Aufschwung der französischen Arbeiterbewegung: „Der französische Sozialismus ist plötzlich aus einer Sekte eine Partei geworden, und jetzt erst und dadurch erst der Massenanschluß der Arbeiter möglich, denn diese sind dort die Sektiererei übersatt, und das war das Geheimnis, weshalb sie der äußersten Bourgeoisie anhingen, den Radikalen."19 Dieser Erfolg war den marxistischen Kräften jedoch nicht in den Schoß gefallen. Ihr Verdienst beschränkte sich auch nicht darauf, für die Formierung dieser ersten sozialistischen Parlamentsfraktion in Frankreich das Terrain vorbereitet zu haben. Vielmehr vollzog sie sich auch unter ihrem unmittelbaren Einfluß.20 Engels an Becker, 5.12.1885, ebenda, S. 401. Engels an August Bebel, 24. 7.1885, S. 349. 17 Engels an Sorge, 29. 4.1886, ebenda, S. 478. 18 Engels an Laura Lafargue, 15./16. 3.1886, ebenda, S. 461; siehe auch Engels an August Bebel, 15. 2. 1886, ebenda, S. 446 f.; Engels an Bernstein, 24. 2. 1886, ebenda, S. 450; Engels an Sorge, 29. 4.1886, ebenda, S. 478. » Engels an Sorge, 29. 4.1886, ebenda, S. 479. 15 18
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Allerdings ging es in der Folgezeit nur relativ langsam voran. Dabei wurden die marxistischen Kräfte mit im Wesen gleichen Problemen wie die revolutionäre deutsche Sozialdemokratie konfrontiert: auch hier vollzog sich die Herausbildung und Entwicklung einer revolutionären Parlamentstaktik im Kampf gegen den Opportunismus, insbesondere gegen die reformistischen und munizipalsozialistischen Illusionen der Possibilisten, und gegen die anarchistische Negation aller parlamentarischen Kampfformen. Weitaus komplizierter gestaltete sich die Entwicklung in England, da es hier noch immer zunächst um die „Vorbereitung einer eigenen Arbeiterpartei und allmähliches Herüberziehen der Leute zum bewußten Sozialismus" ging. Um so erfreuter registrierte Friedrich Engels, daß der Abgeordnete Robert B. CunnighameGraham, der als einer der Organisatoren der Arbeitslosendemonstrationen im November 1887 auf dem Trafalger Square vor Gericht gestellt worden war, sich nach seiner Haftentlassung mehrfach auf öffentlichen Meetings zum Marxismus bekannt hatte. „Also auch hier sind wir im Parlament vertreten", resümierte er. 21 Freilich konnten daran keine übertriebenen Erwartungen geknüpft werden. „Ein netter Kerl, der aber immer einen Manager braucht, sonst tapfer bis zur Tollkühnheit, im ganzen hat er viel von einem englischen Blanquisten", urteilte Engels schon Anfang 1889 und bekräftigte dies im darauffolgenden Jahr. 22 Vor allem aber fehlte ihm die entscheidende Voraussetzung erfolgreicher revolutionärer Parlamentstaktik — die selbständige, politisch, ideologisch und organisatorisch geschlossene Partei des Proletariats. Trotz aller Hemmnisse ging der Formierungsprozeß der Arbeiterparteien und mit ihm die Hinwendung zur Ausnutzung des bürgerlichen Parlamentarismus in den 80er Jahren sichtbar voran. Bereits 1882 war mit Andrea Costa der erste Sozialist in das italienische Parlament eingezogen, und ihm folgten 1884 Musini sowie 1886 Moneta.23 Erstmals 1884 zogen auch in den dänischen Folketing zwei Sozialdemokraten ein. In den USA beteiligte sich die junge, gerade erst sich formierende Arbeiterbewegung im November 1886 durchaus erfolgreich in einigen Bundesstaaten an den Parlamentswahlen und eroberte neben mehreren Senatsmandaten in den Bundesstaaten ihren ersten Abgeordnetensitz im Kongreß.24 Da schließlich 1888 *> Vgl. Engels an Laura Lafargue, 15./16. 3.1886, ebenda, S. 462. 21 Engels an Nieuwenhuis, 23. 2.1888, ebenda, Bd. 37, S. 31 f.; siehe auch Engels an Laura Lafargue, 25. 2.1888, ebenda, S. 33. Engels an Laura Lafargue, 2. 1. 1889, ebenda, S. 129. In einem Brief an Sorge v. 8. 2. 1890 bezeichnete ihn Engels als einen „sehr tapferen, aber sehr konfusen ex-ranchman", ebenda, S. 354. B Vgl. Michels, Robert, Sozialismus in Italien. Intellektuelle Strömungen, München 1925, S. 164 f. Zur Geschichte der italienischen Arbeiterbewegung siehe auch Manakorda, G., Ital'janskoe raboiee dvizenie po materialam sezdov, Moskva 1955; Fiedler, H., Die Stellung der deutschen Sozialdemokratie zur Herausbildung einer einheitlichen sozialistischen Partei in Italien (1876—1892), in: Die Programmkritiken von Marx und Engels, S. 26 f. 10 Jahrbuch 25
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Ferdinand Domela Nieuwenhuis einen Platz im holländischen Parlament erlangte, besaß die Arbeiterklasse am Vorabend des Gründungskongresses der II. Internationale bereits in sieben Ländern eigene parlamentarische Vertreter. Natürlich existierten zwischen diesen sowohl hinsichtlich ihrer politisch-ideologischen Positionen als auch ihrer Wirksamkeit und eigener parlamentarischer Kampferfahrung beträchtliche quantitative und qualitative Unterschiede, die in Verbindung mit dem verschiedenen politischen Reifegrad der Arbeiterbewegung und ihrer Führer zu erheblichen Differenzen in den Anschauungen und Haltungen zur revolutionären Parlamentstaktik führen konnten. Während z. B. das parlamentarische Wirken der dänischen und der italienischen Arbeitervertreter von Anfang an im wesentlichen reformistischen Charakter trug, ging Nieuwenhuis sehr rasch auf linksradikale Positionen über. Folglich war es unausbleiblich, daß Fragen des Wahlkampfes und der Parlamentsarbeit in den Diskussionen zwischen den einzelnen Arbeiterparteien eine große Rolle spielten und auf den Kongressen der II. Internationale immer wieder heiß umstrittene Themen waren. Obwohl im Kampf um die Durchsetzung der marxistischen Anschauungen über den Stellenwert parlamentarischer Kampfmittel eine besonders hohe Verantwortung bei der revolutionären deutschen Sozialdemokratie lag, hatte Friedrich Engels schon 1885 bei einem Vergleich des unterschiedlichen Verhaltens der französischen, englischen und deutschen Arbeiterklasse bei Parlamentswahlen davor gewarnt, „die verschiedne Haltung der Arbeiter der drei Länder an demselben einseitigen Maßstab zu ermessen". 25 Erfahrungsaustausch und Zusammenarbeit zwischen den nationalen Arbeiterparteien verlangte einerseits Verständnis der einen für die Besonderheiten in den Kampfbedingungen der anderen, andererseits aber entschiedene Parteinahme dort, wo es um die gemeinsame Verantwortung für den revolutionären Charakter der Gesamtbewegung des internationalen Proletariats ging. In diesem Sinne schrieb der „Sozialdemokrat" in Vorbereitung des Gründungskongresses der II. Internationale: „Wir Sozialisten haben nicht bloß ein theoretisches, sondern auch ein praktisches Interesse daran, daß unsere Partei in allen Ländern stark und geachtet dasteht, daß sie die gemeinsam anerkannten Prinzipien energisch aufrecht erhält und ihre Selbständigkeit in jeder Beziehung wahrt. Niemand wird dabei verkennen, daß die Verhältnisse nicht überall die gleichen, und daß die Taktik daher nicht bis ins kleinste Detail die gleiche sein kann, aber der Grundcharakter der Partei ist in allen modernen Staaten derselbe." Deshalb wandte sich das Blatt gegen eine „Dreinsprecherei in alles und jedes" unter der Voraussetzung, daß „der verständige Sozialist in Fragen von prinzipieller Tragweite den Genossen des Auslandes ein Urteil einräumen" werde. 26 Davon ausgehend, begründete August Bebel auf dem Pariser Kongreß namens der deutschen Sozialdemokratie die Ausnutzung der Gesetzgebung mit der Notwendigkeit, dem Arbeiter „eine Existenz zu verschaffen, in welcher er den Eman-
26
Vgl. Engels an Nieuwenhuis, 11. 1. 1887, in: MEW, Bd. 36, S. 542; siehe auch Engels, Friedrich, Die Arbeiterbewegung in Amerika, ebenda, Bd. 21, S. 337. Engels an August Bebel, 28.10.1885, S. 379. Der Sozialdemokrat, Nr. 13, 30. 3.1889.
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zipationskampf leichter und mit größerer Aussicht auf Erfolg aufzunehmen vermag". Sich gleichzeitig gegen opportunistische Illusionen wendend, forderte er, das Proletariat „müsse sich darüber klar werden, daß es vom guten Willen der Regierung und der Bourgeoisie so gut wie nichts zu erwarten habe, daß es aber alles erlangen werde im Kampf um sein Recht und ausschließlich durch seine eigene Kraft . . . und zwar durch tatkräftige Propaganda und Aktion".27 Gegen den Widerstand anarchistischer Wahlabstinenzler setzten die marxistischen Kräfte auf dem Kongreß wichtige Beschlüsse zur Ausnutzung des bürgerlichen Parlamentarismus seitens der internationalen Arbeiterbewegung durch. So wurde in der Resolution über die Mittel und Wege zur Verwirklichung des Arbeiterschutzprogramms u. a. ausdrücklich gefordert, daß in allen Ländern, in denen Sozialisten parlamentarischen Vertretungen angehören, sowie bei allen Wahlkämpfen die sozialistischen Kandidaten im Sinne der Kongreßbeschlüsse zu wirken hätten. In einer weiteren Resolution, die die Erweckung des Klassenbewußtseins als „eine notwendige Vorbedingung zur Emanzipation der Arbeiterklasse durch sich selbst" verlangte und die Notwendigkeit des politischen Kampfes der Arbeiterklasse betonte, wurden die Proletarier zur aktiven Nutzung ihres Wahlrechts bzw. zu seiner Eroberung aufgefordert.28 Mit der Orientierung auf die selbständige politische Partei des Proletariats als Vorbedingung der Ausnutzung des bürgerlichen Parlamentarismus, die mit der Ablehnung von Kompromissen mit anderen politischen Parteien noch bekräftigt wurde, und der Forderung, „mit allen möglichen Mitteln" für das Wahlrecht zu kämpfen, drückte die Resolution unmißverständlich die Anschauungen der revolutionären Kräfte der internationalen Arbeiterbewegung aus. Den Aussagen über die politische Machteroberung hingegen mangelte es an dieser Klarheit, und damit waren sie auch reformistisch deutbar. Lediglich im 3. Punkt der Resolution wurde „die Anwendung repressiver Gewalt seitens der herrschenden Klassen zu dem Zwecke, die friedliche Entwicklung der Gesellschaft . . . zu verhindern", als ein Verbrechen bezeichnet und die verdiente Bestrafung der Unmenschlichkeit der Angreifer angedroht.29 Damit war zumindest in umschriebener Form auf die Möglichkeit revolutionärer Gewaltanwendung hingewiesen worden. Alles in allem machte bereits der Gründungskongreß deutlich, daß von der II. Internationale, ihren Kongreßdebatten und -beschlüssen über die Ausnutzung des bürgerlichen Parlamentarismus wichtige Impulse zur Erschließung dieses Kampffeldes ausgingen, womit sie sich nach dem Urteil Lenins eines ihrer bleibenden historischen Verdienste erwarb.30 Bereits wenige Monate später errang die französische Arbeiterpartei einen bemerkenswerten Erfolg. Sechs Teilnehmer des Internationalen Arbeiterkongresses eroberten bei den Wahlen zur Deputiertenkammer einen Parlamentssitz. Neben Protokoll
des Internationalen
Arbeiter-Congresses
zu Paris. Abgehalten v o m 14. bis
20. 7. 1889. Mit einem V o r w o r t von W i l h e l m Liebknecht, N ü r n b e r g 1890, S. 28 f. 28
Vgl. ebenda, S. 120 f., 124 f. Vgl. ebenda, S. 125. Vgl. Lenin, W. 1., Ü b e r die A u f g a b e n der III. Internationale, in: Werke, Bd. 29, S. 496.
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Cluseret, Baudin, Lachize, Ferroul und Thivrier zählte dazu auch Boyer31, der ja schon 1885 auf der Liste der Radikalen in die Nationalversammlung gewählt worden war und 1886 an der Bildung der ersten sozialistischen Arbeiterfraktion im französischen Parlament beteiligt war. Ihnen schloß sich Couturier an, so daß die französische Arbeiterpartei nunmehr über sieben Abgeordnete verfügte. Da aber solche Führer wie Lafargue, Guesde, Vaillant und Deville nicht gewählt worden waren, herrschte unter ihnen zunächst eine gewisse Enttäuschung über den Wahlausgang. Dem trat Friedrich Engels energisch entgegen. Vorrangig war für ihn die mit dem Wahlausgang bewirkte weitere Klärung der Lage, insbesondere die Niederlage des Boulangismus als eines der Hemmnisse auf dem Wege zur unabhängigen Arbeiterpartei. Darüber hinaus erwartete er von den gewählten Vertretern der Arbeiterpartei, daß sie eine Gruppe bildeten, „die nicht allein auf die Kammer und das Publikum Eindruck machen, sondern auch die Possibilisten in eine komische Lage bringen wird. Es war gerade das Nebeneinander unserer Abgeordneten und der Lassalleaner im Reichstag, das mehr als jeder andere Umstand die Einigung der beiden Gruppen erzwang, d. h. die Kapitulation der Lassalleaner."32 Jules Guesde, dessen Wahl durch eine von der Reaktion gegen ihn inszenierte Verleumdungskampagne verhindert worden war, wurde zum „Sekretär und Redefabrikanten" der Kammerfraktion gewählt. Als nächste Aufgabe wurde beschlossen, für die Durchsetzung der Beschlüsse des Pariser Kongresses von 1889 in der Kammer einzutreten. Paul Lafargue urteilte, daß die Arbeiterpartei „in Frankreich jetzt zum erstenmal ein parlamentarisches Haupt bekommen hat", womit eine neue Ära für den französischen Sozialismus beginne.33 Daran durften allerdings nicht zu hohe Erwartungen geknüpft werden, denn nicht minder berechtigt war die Feststellung Leo Frankels: „Wie ganz anders stände alles, wenn das französische Proletariat geeinigt wäre. Ein einiges und darum mächtiges Proletariat in Frankreich, ein ebensolches in Deutschland und beide vereint miteinander marschierend, wer könnte sie dann noch in ihrem Marsche hindern?"34 Vor der von ihm vorgeschlagenen raschen Vereinigung mit den Possibilisten warnte Engels jedoch nachdrücklich mit dem Hinweis auf die Erfahrungen der deutschen Sozialdemokratie. „Die Vereinigung wird kommen, genauso wie in Deutschland", schrieb er an Frankel, „aber von Dauer kann sie nur sein, wenn die Schlacht ausgefochten, die Gegensätze ausgeglichen sind und wenn die Schurken von ihren eigenen Anhängern davongejagt wurden."35 31
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Vgl. Lafargue, Paul, Die sozialistische Bewegung von 1876—1890, in: Die neue Zeit, 8,1890, S. 353. Engels an Paul Lafargue, 3.10.1889, in: MEW, Bd. 37, S. 279. Lafargue, Die sozialistische Bewegung, S. 353; vgl. Engels an August Bebel, 15.11.1889, in: MEW, Bd. 37, S. 303; Engels an Sorge, 7.12.1889, ebenda, S. 322. Frankel an Engels, 23.12.1890, IML/CPA, F. 1, op. 5, Nr. 5107. Engels an Frankel, 25. 12.1890, in: MEW, Bd. 37, S. 531. Er bekräftigte seinen Standpunkt mit der abschließenden Feststellung: „Niemand kann mehr als ich eine starke sozialistische Partei in Frankreich herbei wünschen. Doch ich trage nun einmal den
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Einen besonders anschaulichen und überzeugenden Beweis für den Wert parlamentarischer Kampfmittel lieferte wiederum die revolutionäre deutsche Sozialdemokratie. Ihr Sieg bei den Reichstagswahlen im Februar 1890 wurde in der internationalen Arbeiterbewegung mit großer Begeisterung aufgenommen und weckte mancherlei Hoffnungen. „Die neue Lage Deutschlands macht jetzt in Italien großen Eindruck", schrieb Antonio Labriola an Wilhelm Liebknecht. „Das wird, wie ich hoffe, auf die Arbeiterpresse und auf die Arbeitervereine allmählich wirken. Was in Italien Sozialismus heißt, ist leider bis auf wenige Ausnahmen entweder unklarer Republikanismus oder lauter Anarchismus."36 Und F. A. Sorge wünschte sich: „Hoffentlich lernen die englischen Arbeiter jetzt auch etwas von den Deutschen und gehen gelegentlich tüchtig ins Zeug. So ein bißchen Chartisten-revival wäre vortrefflich und von besonderem Nutzen für die Yankeecourses."37 Während dies jedoch noch auf sich warten ließ, entwickelte die Spanische Sozialistische Arbeiterpartei beachtliche Aktivitäten im Sinne der Pariser Beschlüsse. Auf ihrem zweiten Parteitag Ende August 1890 in Bilbao entschied sie im Gegensatz zu der in Spanien noch immer verbreiteten anarchistischen Losung der Wahlabstinenz, „daß die Partei an dem Wahlkampf teilnehmen, eigene Kandidaten aufstellen und alle Kompromisse mit den Bourgeoisparteien zurückweisen soll". Demgemäß beteiligte sich die Partei erstmals an den Anfang Februar 1891 durchgeführten Cortes-Wahlen. „Der Zweck, den sie bei der Teilnahme an den Wahlen verfolgte", schrieb Iglesias, „bestand darin, die Massen in Bewegung zu bringen und sie überall den Bourgeoisparteien gegenüberzustellen; ferner die Republikaner zu entlarven und wiederholt auf die Grundsätze des revolutionären Sozialismus hinzuweisen. Und diese Aufgabe wurde aufs vollständigste erfüllt."38 Den Beweis dafür sah er darin, daß trotz Wahlterrors, unzureichender Organisation und Geldmangels die Nutzung des 1890 in Spanien eingeführten allgemeinen Wahlrechts zu einem Zuwachs der Parteimitgliedschaft um 50 Prozent führte. Diese Stärkung der Partei bestätigte sich eindrucksvoll bei den Munizipalwahlen im Mai 1891. Voller Stolz berichtete Iglesias an Friedrich Engels, daß in Bilbao vier sozialistische Abgeordnete gewählt worden waren, und bat ihn, darüber die englischen und deutschen Zeitungen zu informieren, damit „unsere Parteigenos-
bestehenden Tatsachen gebührend Rechnung und wünsche es allein auf einer Grundlage, die Dauerhaftigkeit verspricht und real ist und keine humbug-Bewegung ä la Brousse zur Folge hat" (S. 532). 36 Labriola an Wilhelm Liebknecht, 23. 3. 1890, IML/CPA, F. 200, op. 4, Nr. 2430. Siehe dazu auch Istorija vtorogo internacionala, S. 206 f.; Ragionieri, Ernesto, Der Einfluß der deutschen Sozialdemokratie auf die Herausbildung der Sozialistischen Partei in Italien, in: BzG, 2,1960,1, S. 66 ff. a/ Sorge an Engels, 3. 3.1890, IML/CPA, F. 1, op. 5, Nr. 4991. 138 Iglesias, Pablo, Die sozialistische Arbeiterpartei in Spanien, in: Die Neue Zeit, 10, 1891/92, Bd. 1, S. 405 f. Zur Geschichte der spanischen Arbeiterbewegung siehe auch Maiski, 1. M., Neuere Geschichte Spaniens, Berlin 1961; Droz, Jaques, Die sozialistischen Parteien Europas: Italien, Spanien, Belgien, Schweiz, in: Geschichte des Sozialismus, Bd. 6.
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sen in den anderen Ländern erkennen, daß wir in Spanien das Möglichste tun, um die Freiheitsideen zu verteidigen". 39 Auch in Schweden befaßte sich der Gründungskongreß der Sozialdemokratischen Partei 1889 mit der Ausnutzung des bürgerlichen Parlamentarismus. Allerdings beschränkte sich der Kongreß, ohne ein Programm zu beschließen, auf die Annahme einiger Resolutionen über die nächsten Aufgaben, darunter auch über den Kampf für das allgemeine Wahlrecht. 40 Sie beteiligte sich dementsprechend 1890 in ihren Zentren Stockholm und Malmö trotz Zensuswahlrechts, das die große Mehrheit der Arbeiter von der Stimmabgabe ausschloß, an den Wahlen. Im Mittelpunkt stand aber der Kampf um das allgemeine Wahlrecht. Deshalb faßte der zweite Parteikongreß 1891 den Beschluß, für 1893 die Einberufung eines „Volks-Reichstags" zur Erkämpfung des allgemeinen Stimmrechts vorzubereiten. Dabei ließen sich jedoch Branting und seine Anhänger von reformistischen Positionen leiten. Branting beteuerte zwar in dem Bericht, den er im Auftrag der Partei 1893 an den Internationalen Kongreß in Zürich gab, daß „das marxistischsozialistische Programm mit seinen letzten Konsequenzen . . . ausdrücklich gutgeheißen" und „das Hauptgewicht immer auf die Propaganda für die letzten Ziele gelegt" wurde, erklärte aber wenig später, daß seit den Wahlen von 1890 „die Sozialisten Schonens, welche früher auf der äußersten Linken der Partei und auf sehr gespanntem Fuße mit den gemäßigten Führern Dänemarks standen, von da an die praktische Wirksamkeit für bald erreichbare Ziele immer mehr in den Vordergrund gestellt haben". Die Führer einer sich in Stockholm herausbildenden anarchistischen Gruppierung, die jegliche zukünftige Wahlbeteiligung und den Kampf für das allgemeine Wahlrecht ablehnte, wurden dagegen 1891 aus der Partei ausgeschlossen.41 Die Politik Brantings und seiner Anhänger war stark am Beispiel der reformistischen Führer der dänischen Sozialdemokratie orientiert. In der dänischen Partei hatten sich Ende der 80er Jahre heftige Meinungsverschiedenheiten zwischen dem reformistischen Flügel, der im Hauptvorstand die Mehrheit besaß, und einer um Niels Petersen und Gerson Trier gescharten revolutionären Minderheit entwickelt. Der Streit entzündete sich vor allem an der Frage nach der bei den 1890 bevorstehenden Parlamentswahlen einzuschlagenden Taktik. Die dänische Sozialdemokratie errang 17 000 Stimmen und konnte zwei Abgeordnete in das Oberhaus entsenden. 42 Dabei wurde von den Reformisten jedoch eine Politik des Wahlkompromisses mit den Liberalen praktiziert, die bis zum Verzicht auf die Wahlagitation für die eigenen Kandidaten führte. Das wurde von den revolutionären Kräften entschieden bekämpft, und deshalb schloß man sie 1889 zu Beginn der Wahlkampagne aus der Partei aus. 39 w
41 Vi
Iglesias an Engels, 15. 5.1891, IML/CPA, F. 1, op. 5, Nr. 5189. Vgl. Branting, Hjalmar, Die Arbeiterbewegung in Schweden, in: Die Neue Zeit, 11, 1892/93, Bd. 2, S. 712; Tartakowski, Boris, Die Grundfragen des Marxismus in den Programmen der sozialistischen Parteien der siebziger bis neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts, in: Revolutionäres Parteiprogramm — Revolutionäre Arbeitereinheit, Berlin 1975, S. 524 f. Vgl. Branting, S. 712 f£.; Istorija vtorogo internacionala, S. 213 f. Vgl. Istorija vtorogo internacionala, S. 214.
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Friedrich Engels, an den sich Gerson Trier ratsuchend gewandt hatte43, sprach sich zwar gegen eine prinzipielle Ablehnung jeglicher Zusammenarbeit mit anderen Parteien aus, unterstützte aber in diesem Fall in Anbetracht der „unwürdigen Oppositionskomödie" der dänischen Liberalen uneingeschränkt die Haltung Triers.44 Der reformistische Flügel hingegen beharrte auf seiner opportunistischen Konzeption und machte sogar den Versuch, sich dabei auf die Wahlkampftaktik der deutschen Sozialdemokratie zu berufen. August Bebel, den Petersen über solche Behauptungen in einigen Artikeln des „Social-Demokraten" informiert hatte, wies das energisch zurück und betonte, daß die deutsche Sozialdemokratie „von dem Augenblick an, als sie an den Wahlen teilzunehmen begann, als selbständige Partei aufgetreten" war. Doch Knudsen, der sich im Namen des Hauptvorstandes an Liebknecht wandte, blieb dabei, daß ihr Zusammengehen mit den Liberalen von Anfang an lediglich eine Modifikation (in Dänemark wurde mit relativer Mehrheit und damit ohne Stichwahlen gewählt) der deutschen Stichwahltaktik wäre.45 Dem Wesen nach praktizierte der Hauptvorstand der dänischen Sozialdemokratie aber eine Taktik, die weitgehend mit der opportunistischen Konzeption Vollmars und seiner Anhänger in der deutschen Sozialdemokratie übereinstimmte. Die Entwicklung in Dänemark wie in Schweden bestätigte ebenso wie die Haltung der Possibilisten in Frankreich und der meisten „Arbeitervertreter" im britischen Unterhaus die von den marxistischen Kräften der deutschen Sozialdemokratie im Kampf gegen die Opportunisten gewonnene Erfahrung, daß die Überbewertung des bürgerlichen Parlamentarismus und die Pflege kleinbürgerlich-parlamentarischer Illusionen überall Eingang in das Arsenal reformistischer Politik gefunden hatte. Eine ähnliche internationale Übereinstimmung wie hinsichtlich der reformistischen Parlamentsillusionen existierte auch bei der abstinenten anarchistischen Ablehnung aller parlamentarischen Kampfmittel. So ist es keineswegs zufällig, daß sich Nieuwenhuis im Zuge seiner Annäherung an anarchistische Positionen der scheinradikalen Opposition der „Jungen" mit ihren Attacken auf die revolutionäre Parlamentstaktik als willkommenen Kronzeugen bediente, um die marxistischen Auffassungen von der Ausnutzung des bürgerlichen Parlamentarismus anzugreifen.46 Obwohl es ja schon 1889 auf dem Pariser Kongreß erste Angriffe dieser Art gegeben hatte, begrüßte Nieuwenhuis noch im Frühjahr 1890 den Wahlsieg der deutschen Sozialdemokratie47, besuchte den Parteitag in Halle und schrieb während dieser Wochen in der „Neuen Zeit", daß das Wahlrecht „eine unserer ersten Forderungen, wofür wir arbeiten", bleibe.48 Nachdem er jedoch 1891 bei Trier an Engels, 8.12.1889, IML/CPA, F. 1, op. 5, Nr. 4972. Vgl. Engels an Trier, 18.12.1889, in: MEW, Bd. 37, S. 327. "'•> Bebel an Petersen, undadiert (1889), IML/ZPA, NL 22/19; Knudsen an Liebknecht, 7. 3.1890, IML/CPA, F. 200, op. 4, Nr. 2418. "ö Vgl. Nieuwenhuis, Ferdinand Domela, Die verschiedenen Strömungen in der deutschen Sozialdemokratie, Berlin 1892. Vgl. Der Sozialdemokrat, Nr. 10, 8. 3.1890. 43
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den Wahlen eine Niederlage erlitten hatte, schwenkte er immer mehr auf anarchistische Positionen über. Zum gleichen Zeitpunkt, da in der holländischen Partei unter dem Einfluß von Nieuwenhuis immer stärker eine Abwendung von der Ausnutzung parlamentarischer Kampfmittel und der eigenen Forderung nach allgemeinem Wahlrecht stattfand, vollzog sich in Belgien ein bemerkenswerter Aufschwung des Massenkampfes für das allgemeine Wahlrecht. Auftakt dafür war eine von der belgischen Arbeiterpartei am 10. August 1890 in Brüssel organisierte machtvolle Kundgebung, an der über 75 000 Menschen teilnahmen und ihre Entschlossenheit zum Ausdruck brachten, für das allgemeine Wahlrecht zu kämpfen. Unter dem Druck der Massen sah sich das belgische Parlament im November 1890 nach jahrelanger Weigerung genötigt, der Erörterung einer Verfassungsänderung zuzustimmen. Für den Fall, daß die Regierung oder das Büro des Parlaments bei der Erörterung der Verfassungsänderung die Revision des Wahlsystems ablehnen sollte, beschloß der Parteitag der belgischen Arbeiterpartei im April 1891, den Generalstreik auszurufen.49 Demgemäß führten die belgischen Bergarbeiter in den Maitagen 1891 einen Generalstreik durch, in dem neben Lohnerhöhung und Achtstundentag die Einführung des allgemeinen Wahlrechts gefordert wurde, der jedoch, wie von Friedrich Engels befürchtet, mit einer Niederlage endete.50 Aber der Kampf ging weiter, und dabei konnten sich die belgischen Sozialdemokraten der Solidarität der internationalen Arbeiterbewegung sicher sein. Schon die Demonstration, im August 1890 wurde z. B. in der sozialdemokratischen Presse Deutschlands als wichtiges Ereignis gewürdigt.51 Und für Bebel gab das den Ausschlag, eine Einberufung des nächsten internationalen Sozialistenkongresses nach Brüssel zu unterstützen, und zwar „in Rücksicht auf die agitatorische Wirkung und zur Unterstützung der in Belgien im Gange befindlichen Agitation für das allgemeine Stimmrecht etc.". 52 Die Vorbereitung und Durchführung des Brüsseler Kongresses im August 1891 war geprägt durch die Verschärfung der inneren Widersprüche des Kapitalismus mit der 1890 beginnenden Weltwirtschaftskrise und die Entwicklung großer Massenkämpfe des Proletariats einerseits, durch verschärfte Auseinandersetzungen innerhalb der Arbeiterbewegimg mit reformistischen und anarchistischen Kräften andererseits, die sich in nicht unerheblichem Maße an den zutage getretenen Divergenzen in der Stellung zum bürgerlichen Parlamentarismus Nieuwenhuis, Ferdinand Domela, Die sozialistische Bewegung in Holland, in: Die Neue Zeit, 9,1890/91, Bd. 1, S. 55. 48 Vgl. Istorija vtorogo internacionala, S. 182. *» Vgl. Engels an Sorge, 8. 4. 1891, in: MEW, Bd. 38, S. 81; Engels an Frankel, 24. 4. 1891, ebenda, S. 84; Engels an Paul Lafargue, 19. 5.1891, ebenda, S. 105. 51 So schrieb z. B. „Der Wähler" am 23. 8. 1890 u. a.: „Die organisierten belgischen Arbeiter imponierten am 10. August ihren Gegnern und werden sicher bald das allgemeine Stimmrecht, hoffentlich noch mehr, erringen." 02 Bebel an Engels, 23. 9. 1890, in August Bebels Briefwechsel mit Friedrich Engels, hrsg. von Werner Blumenberg, London/The Hague/Paris 1965, S. 398 (Quellen und Untersuchungen zur Geschichte der deutschen und österreichischen Arbeiterbewegung, VI.). 48
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entzündeten. Die Aufgaben und Merkmale einer revolutionären proletarischen Parlaments- und Wahlkampftaktik spielten deshalb auch in den Beratungen des zweiten internationalen Sozialistenkongresses eine große Rolle. In diesem Lichte erhielt der Kampf der marxistischen Kräfte der deutschen Sozialdemokratie sowohl gegen die scheinradikale Opposition der „Jungen" als auch gegen die opportunistischen Vorstöße Vollmars eine besondere, über die Grenzen Deutschlands hinausreichende Bedeutung und war ein wichtiger Beitrag zur Vorbereitung des Internationalen Arbeiterkongresses. Nicht minder bedeutsam war, daß die unmittelbare Vorbereitung und Durchführung des Kongresses in eine Zeit fiel, in der die revolutionären Kräfte der deutschen Sozialdemokratie, aktiv von Friedrich Engels unterstützt, mit der Vorbereitung des Erfurter Parteitages und der Ausarbeitung ihres neuen, marxistischen Parteiprogramms befaßt waren. Der mit all dem verknüpfte politisch-ideologische Klärungsprozeß kam den Delegierten der deutschen Arbeiterpartei auf dem Brüsseler Kongreß sehr zustatten. Er befähigte sie, aktiv beizutragen, daß hier die Marxisten „nach Prinzip wie nach Taktik auf der ganzen Linie" siegten.53 Dies bedurfte jedoch, wie schon die Diskussion über den Stand der Arbeiterschutzgesetzgebung zeigte, großer Anstrengungen. In dem hierzu von Vandervelde vorgetragenen Kommissionsbericht wurde festgestellt, daß die Arbeiter „nur durch ihre eigene Kraft sich Reformen erringen werden. Daher unermüdliche Propaganda und Eroberung der politischen Macht, des Parlaments durch Entsendung von Sozialisten in die gesetzgebenden Körperschaften." Die hier enthaltenen reformistischen Töne klangen auch in dem iftiterbreiteten Resolutionsentwurf an, worin den Arbeitern lediglich empfohlen wurde, keinen Abgeordneten zu wählen, der nicht für ihre Arbeiterschutzforderungen einzutreten bereit war. 54 Darauf erwiderte August Bebel, daß die Hauptaufgabe der Sozialdemokratie nicht die Erringung eines Arbeiterschutzgesetzes wäre, sondern die Aufklärung der Arbeiter „über das Wesen und den Charakter der heutigen Gesellschaft, um dieselbe so rasch als möglich verschwinden zu lassen". Deshalb würde von der deutschen Sozialdemokratie für die Wahlen kein Kandidat nominiert werden, der nicht das sozialistische Programm bis in seine äußerste Konsequenz unterschriebe.55 Bebels Kritik an den Schwächen des Resolutionsentwurfes wurde aktiv von Victor Adler unterstützt. Obwohl in Österreich die Versuchung nahe läge, „mit den bürgerlich-radikalen Parteien zu mogeln auf Grund solcher Forderungen", hätten sie das stets zurückgewiesen, erklärte er unter großem Beifall, weil die Arbeiter nicht zu gewinnen wären, „wenn wir selber unsere Fahnen verhüllen oder einstecken". Für genauso falsch hielt er es, die Ausnutzung des bürgerlichen Parlamentarismus zu verwerfen, und betonte: „Für uns ist der ganze ParlamenM 54
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Engels an Sorge, 2.12.1891, in: MEW, Bd. 38, S. 150. Verhandlungen und Beschlüsse des Internationalen Arbeiter-Kongresses zu Brüssel (16.-22. 8. 1891) (im folg.: Protokoll, Brüsseler Kongreß 1891), Berlin 1893, S. 8 f. Ebenda, S. 11 f. Ebenda, S. 13.
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tarismus, für uns ist Wahlrecht, Stimmrecht, Arbeiterschutz nur Mittel zum Zweck, ein gutes Mittel, um die Gehirne zu revolutionieren und so die Arme zu gewinnen, welche die Revolution ausführen sollen. Über diesen Mitteln werden wir nie das Ziel aus den Augen verlieren." 56 Es war von großer Bedeutung, daß dank den Anstrengungen der marxistischen Kräfte in die Resolution die Feststellung aufgenommen wurde, daß sich der Kongreß auf den Boden des Klassenkampfes stelle und die Befreiung der Arbeiterklasse ohne Aufhebung der Klassenherrschaft unmöglich sei. Und an die Stelle der kritisierten reformistischen Position, die Kandidaten lediglich auf das Eintreten für den Arbeiterschutz zu verpflichten, trat der Appell an die Arbeiter der ganzen Erde, „ihre Kräfte zu einigen gegen die Herrschaft der kapitalistischen Parteien und überall da, wo sie im Besitze der politischen Rechte sind, dieselben zu benutzen, um sich von der Lohnsklaverei zu befreien". 57 Dieser Erfolg der marxistischen Kräfte über die reformistischen Elemente wurde allerdings nicht weiter ausgebaut, da die Aufmerksamkeit des Kongresses immer stärker von den Auseinandersetzungen mit den Anarchisten beherrscht wurde. „Bis jetzt in jeder Sitzung Störung und Zeitverlust mit den Anarchisten", berichtete Friedrich Leßner aus Brüssel an Engels.58 Nach deren Ausschluß trat Ferdinand Domela Nieuwenhuis mit ähnlichen Positionen gegen die marxistischen Kräfte auf und richtete Angriffe gegen die deutsche Sozialdemokratie, die er u. a. rundweg des Chauvinismus bezichtigte.59 Obwohl er bereits mit seiner abenteuerlichen Parole, einen Krieg mit dem Generalstreik zu beantworten, von der großen Mehrheit des Kongresses eine Abfuhr erhielt, hielten er und seine Anhänger an dem Konfrontationskurs fest. Das zeigte sich, als der Kongreß über Behandlung oder Absetzung der Tagesordnungspunkte 5 und 6 zu befinden hatte. Der von Nieuwenhuis inspirierte holländische Vorschlag für Punkt 5 lautete: „Die Verwendung des Parlamentarismus und des allgemeinen Stimmrechts zu Gunsten der sozialistischen Arbeitersache; die Taktik, welche einzuschlagen ist, um die Befreiung der Arbeiter zu erreichen; und die Mittel, welche angewendet werden müssen, um sie zu verwirklichen." Außerdem sollte als 6. Tagesordnungspunkt über das Bündnis der sozialistischen Arbeiter mit den bürgerlichen Parteien debattiert werden. 60 Für die Erörterung dieser Themen schienen nicht nur die stärkere Hinwendung der Arbeiterklasse in einer Reihe von Ländern bis hin zum fernen Australien 61 3/
Ebenda, S. 14 f. » Leßner an Engels, 18. 8.1891, IML/CPA, F. 1, op. 5, Nr. 5240. 59 Vgl. Protokoll, Brüsseler Kongreß 1891, S. 27. Die „gemeinen Angriffe und Insinuationen des Nieuwenhuis seien nicht zum Anhören gewesen", berichtete Engels nach dem Zeugnis von Louise Kautsky an Sorge 1891 (MEW, Bd. 38, S. 166). u > Vgl. Protokoll, Brüsseler Kongreß 1891, S. 3. Harry Weber schrieb am 3. 9. 1891 aus Sydney/Australien an Wilhelm Liebknecht: „Von den erstaunlichen Wahlsiegen der hiesigen Arbeiterpartei vor zwei Monaten haben Sie wohl gehört — von 141 Sitzen im Parlament haben wir 36 direkte und 17 indirekte, d. h. solche der anderen Parteien, welche auf unser Programm eingegangen sind, erobert. Ich wünsche nur, daß die jetzige politische Aufregung anhält, da wir
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zur Ausnutzung des bürgerlichen Parlamentarismus und ein Aufschwung — wie etwa in Belgien — im Kampf um das allgemeine Wahlrecht zu sprechen, sondern auch der Umstand, daß neben 14 Abgeordneten des deutschen Reichstags und sieben Mitgliedern der französischen Nationalversammlung auch ein englischer, ein dänischer, ein rumänischer und ein früherer holländischer Abgeordneter an dem Kongreß teilnahmen.62 Dennoch hatte die deutsche Delegation schon auf ihrer Vorkonferenz gegen die Verhandlung dieser Punkte Einwände erhoben und ihre Absetzung von der Tagesordnung vorgeschlagen. Sollte dem nicht entsprochen werden, träten die deutseihen Delegierten für eine Beschränkung der Debatte auf die „prinzipielle Frage der Beteiligung am Parlamentarismus und die Benutzung des allgemeinen Stimmrechts" ein, denn die zweite Hälfte des Punktes 5 wie Punkt 6 seien einfach auf einem internationalen Kongreß undiskutierbar, weil hierfür die ökonomische wie politische Entwicklung der einzelnen Länder ausschlaggebend sei, die zu beurteilen nur die Genossen der betreffenden Länder kompetent wären.63 Für die Entwicklung einer fruchtbaren und schöpferischen internationalen Zusammenarbeit war die strikte Beachtung ihrer objektiven Voraussetzungen und damit auch der hinsichtlich taktischer Überlegungen existierenden objektiven Grenzen dringend geboten. Als sich deshalb die Mehrheit des Kongreßbüros der Auffassung der deutschen Delegierten anschloß und die Absetzung dieser Fragen von der Tagesordnung empfahl, wurde das von dem Holländer Fortujin zum Anlaß genommen, dem Kongreßbüro und insbesondere den Deutschen Furcht vor der Erörterung dieser Themen zu unterstellen. Dagegen verwahrte sich Paul Singer mit aller Entschiedenheit. Nachdem er mit der gleichen Begründung wie die Vorkonferenz die Haltung der deutschen Delegation motiviert hatte, erklärte er unter dem Beifall des Kongresses, daß sie keine Ursache hätte, „die Diskussion dieser Fragen zu scheuen, die vom ganzen internationalen Proletariat seit j e in unserem Sinne entschieden worden, und von der ganzen proletarischen Welt als richtig und gut anerkannt worden sei".64 Auch der Umstand, daß Nieuwenhuis und seine Apologeten, lauthals von den „Jungen" unterstützt65, nach dem Kongreß ihre Attacken gegen die revolutionäre deutsche Sozialdemokratie fortsetzten, vermochte nichts an der Tatsache zu ändern, daß sie eine Niederlage erlitten hatten. „Die Einheit sämtlicher ,ernsthaften' Arbeitergruppen und Arbeiterorganisationen der ganzen Welt ist fortan eine Wahrheit", urteilte Wilhelm Liebknecht in der „Neuen Zeit". 66 Mit besondann bei der nächsten Wahl (mit Hilfe des neuen Wahlgesetzes, das jetzt unter Verhandlung ist) noch bedeutend besseres leisten können" (IML/CPA, F. 200, op. 4, Nr. 3223). 62 Vgl. Vorwärts, 17. 8.1891. U1 Protokoll, Brüsseler Kongreß 1891, S. 4. M Vgl. ebenda, S. 31. 03 Auerbach, A., Wider die kleinbürgerlich-parlamentarische Sozialreform, für die revolutionäre Sozialdemokratie, Berlin 1892, besonders S. 14 ff. 06 Liebknecht, Wilhelm, Skizzen vom Brüsseler Kongreß, in: Die Neue Zeit, 9, 1890/91, Bd. 2, S. 836.
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derer Befriedigung wurde in der revolutionären deutschen Sozialdemokratie gewürdigt, daß sich die Arbeiterbewegung in allen Ländern auf den Boden des Klassenkampfes gestellt hatte.67 Deshalb bezeichnete der „Vorwärts" als wichtigstes Ergebnis des Kongresses den Sieg des wissenschaftlichen Sozialismus in den Arbeiterparteien68, und das war ein wichtiger Ausgangspunkt, um die internationale Zusammenarbeit bei der Ausnutzung des bürgerlichen Parlamentarismus zu entwickeln und zu vertiefen. Im Namen der deutschen Sozialdemokratie übersandten 15 Reichstagsabgeordnete im März 1892 anläßlich des Jahrestages der Pariser Kommune an Paul Lafargue ein Grußschreiben, worin sie ausdrücklich ihren Willen bekundeten, nach den Beschlüssen von Paris und Brüssel zu handeln, und erklärten, daß sie „allezeit die Pflichten erfüllen werden, welche die Prinzipien der internationalen Solidarität uns auferlegen".69 Der Erfurter Parteitag der deutschen Sozialdemokratie hatte vor aller Welt überzeugend bekundet, daß diese hierfür entscheidende Voraussetzungen geschaffen hatte. Solange es aber weder in Frankreich noch in England eine starke und einheitliche revolutionäre Partei gab, waren die Möglichkeiten einer wirksamen internationalen Zusammenarbeit begrenzt. „Unsere Partei in Frankreich hat leider noch einen viel zu geringen Einfluß", schrieb Bebel und beklagte, daß unter den Abgeordneten der Arbeiterpartei eine Führerpersönlichkeit fehle. Die Tätigkeit Guesdes als Sekretär der Fraktion, die von außen die nötige Einflußnahme der marxistischen Führer auf deren Aktivität und Verhalten und im Parlament gewährleisten sollte, hatte offensichtlich nicht jene stimulierende Wirkung, die man sich seinerzeit bei der Beschlußfassimg davon versprochen hatte. Es mußte immer eine Notlösung bleiben, die das eigene Auftreten der marxistischen Führer auf der Parlamentstribüne nicht ersetzen konnte. „Käme Lafargue in die Kammer, so wäre wenigstens ein Mann vorhanden, der den richtigen Standpunkt einzunehmen verstände", meinte Bebel.70 Die Wahl Lafargues in die Deputiertenkammer im November 1891 ließ ihn deshalb hoffen, „daß sie auf die Entwicklung unserer Partei in Frankreich von den allerbesten Folgen sein wird".71 Zweifelsohne wurde er darin bestärkt durch die Umstände dieses Sieges, wodurch, wie Engels schrieb, „eine simple Nachwahl zu einer großen politischen Aktion wurde, deren Folgen nicht abzusehen sind".72 Lafargue, der nach dem Überfall des Militärs auf die Maidemonstration in Fourmies im Juli 1891 zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt worden war, wurde entgegen den französischen Gepflogenheiten im Gefängnis festgehalten und dadurch daran gehindert, seine Kandidatur für die Nachwahl in Lille zu vertreten. Damit zog die Regierung auch die Kritik der Radikalen auf sich, die eine Interpellation in der Kammer einbrachten und ihren Kandidaten zugunsten Lafargues
Vgl. Die Hauptergebnisse des Brüsseler Kongresses, in: Der Wähler, 11. und 12. 9.1891. Vgl. Vorwärts, 27. 8.1891. Ebenda, 25. 3.1892. ™ Bebel an Engels, 9. 10. 1891, in August Bebels Briefwechsel, S. 447: „Was jetzt in der franzöischen Kammer sitzt, sind Sterne dritter und vierter Größe." 11 Bebel an Engels, 15.11.1891, ebenda, S. 476. r l Engels an Laura Lafargue, 9.11.1891, in: MEW, Bd. 38, S. 206.
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zurückzogen. Die Dummheit Constans' habe ihn nicht nur zum unfreiwilligen Wahlhelfer f ü r Lafargue gemacht, sondern gleichzeitig auch die Regierungsallianz geschwächt, urteilte Engels. Für nicht minder bedeutsam hielt er es, daß „hier wirklich alle sozialistischen Fraktionen, auch die Possibilisten, wenn auch stellenweise sauersüß, zusammen gegangen sind". 73 Erst auf diesem Hintergrund wird verständlich, daß Friedrich Leßner gerade überschwenglich an Engels schrieb: „Dies ist ein glänzender Sieg f ü r unsere Richtung und ein guter Beweis f ü r die gesunden Ansichten der französischen Sozialisten. Ein donnerndes Hoch f ü r die Arbeiter in Lille, möge man ihrem Beispiel allwärts folgen." 74 Zusätzlich gewann dieser Wahlerfolg f ü r die deutsche Sozialdemokratie besondere Bedeutung infolge der dadurch f ü r Lafargue bewirkten vorzeitigen Haftentlassung. „Seine Freilassung kommt uns ä propos, sie gibt uns eine gute Waffe in die Hand gegenüber der Behandlung, die in Deutschland Volksvertretern zuteil wird", bemerkte Bebel. „Es ist zwar nach meinem Geschmack etwas zuviel Kultus, den man in Frankreich dem Träger eines Mandats entgegenbringt; aber es ist doch ein erfreulicher Gegensatz zu der Mißachtung, die man in Deutschland von offizieller Seite handhabt. Wir werden nächstens im Reichstag über das Kapitel zu reden haben, und da soll uns das ,wilde' Frankreich als Trumpf dienen." 75 Für die französischen Marxisten ging es nunmehr darum, den Wahlerfolg in eine effektivere Parlamentsarbeit umzumünzen und sich auf dem f ü r sie noch immer recht neuen Terrain besser zurechtzufinden. Friedrich Engels, der aufmerksam die ersten Schritte Lafargues als Abgeordneter verfolgte, sparte nicht mit Lob, als dieser erstmals im Dezember 1891 mit einem Antrag auf Trennung von Kirche und Staat in die Parlamentsverhandlungen eingriff. Das wäre ganz im Sinne der Pariser Kommune und das Beste gewesen, was er tun konnte. 76 Gleichzeitig ermunterte er ihn, sich nicht durch die Zwischenrufe und den Lärm der politischen Gegner beeindrucken zu lassen, andererseits sich rasch mit der ungewohnten neuen Atmosphäre, den parlamentarischen Formen, der Geschäftsordnung und den Gepflogenheiten der Kammer vertraut zu machen. Engels zögerte aber auch nicht, Kritik zu üben und auf Fehler und Schwächen in Verhalten und taktischer Konzeption Lafargues hinzuweisen. So ermahnte er ihn dringend, bei seinen Agitationsreisen durch die Provinz nicht die parlamentarische Tätigkeit zu vernachlässigen. Schließlich wollten die Wähler ja auch von ihrem Abgeordneten etwas sehen und hören. Andernfalls bestünde die Gefahr, daß das Mandat bei der nächsten Wahl verlorenginge. 77 Nachdrücklich warnte er davor, in der Kammer mit einer Anzahl linker Radikaler eine gemeinsame parlamentarische Gruppe zu bilden, weil eine Fusion mit m
Vgl. Engels an Sorge, 29.10.1891, ebenda, S. 194; Engels an Laura Lafargue, 9.11.1891, S. 206; Engels an Sorge, 14. 11. 1891, ebenda, S. 215 f.; Engels an August Bebel, 9. 11. 1891, ebenda, S. 209. "> Leßner an Engels, 10.11.1891, IML/CPA, F. 1, op. 5, Nr. 5268. '"> Bebel an Engels, 15.11.1891, in: August Bebels Briefwechsel, S. 476. w Vgl. Engels an Laura Lafargue, 19. 12. 1891 und 6. 1. 189% in: MEW, Bd. 38, S. 239, 248. " Vgl. Engels an Laura Lafargue, 14.10.1892, ebenda, S. 493.
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Leuten, die Gegner der Vergesellschaftung der Produktionsmittel seien, für eine marxistische Partei unmöglich wäre. Dagegen hielt er es für möglich, gegebenenfalls „eine mehr oder weniger vorübergehende Allianz . . . , aber ohne Fusion" einzugehen. Besorgt schrieb er an Laura Lafargue: „Haben wir nicht, nur um den Anschein einer Gruppe von 25 Mann im Parlament zu wecken, sehr ernsthafte Zunkunftschancen geopfert? Jedoch, die Sache ist geschehen und kann nicht geändert werden. Ich hoffe nur, daß unsere Freunde nicht zu großes Vertrauen in ihre neuen Verbündeten setzen."78 Mit diesen Bemühungen Engels', den französischen Marxisten bei der Eroberung des parlamentarischen Kampffeldes zu helfen, ging sein Bestreben einher, die Entwicklung der Zusammenarbeit auf diesem Gebiet mit den Arbeiterparteien anderer Länder, insbesondere mit der deutschen Sozialdemokratie anzuregen und zu fördern. „Die kontinentale Bewegung muß, um siegreich zu sein, weder ganz französisch noch ganz deutsch, sondern französisch-deutsch sein", betonte er und erläuterte: „Während die Deutschen die Franzosen lehren müssen, das Wahlrecht auszunutzen und eine straffe Organisation zu schaffen, werden die Franzosen die Deutschen mit jenem revolutionärem Geist erfüllen, den die Geschichte eines Jahrhunderts bei Ihnen zur Tradition gemacht."79 Dieses beiderseitige Lernen und eine wirkliche Zusammenarbeit erforderten jedoch zunächst erst einmal eine genauere Kenntnis über die fcampfbedingungen, die Lage in der Partei und die jeweiligen nächsten Aufgaben beim anderen. Gerade hier lag aber infolge unzureichender Publikationsmöglichkeiten auf französischer Seite und Mängeln in der Informationstätigkeit des „Vorwärts" deutscherseits vieles im argen. Deshalb war Friedrich Engels unablässig bemüht, die Führer der französischen und der deutschen Arbeiterbewegung, insbesondere Paul Lafargue und August Bebel über wichtige Vorgänge in der Bruderpartei zu informieren und ihnen bei ihrer richtigen Beurteilung behilflich zu sein.80 Gleichzeitig förderte er aktiv die Herausbildung erster Formen der internationalen Zusammenarbeit zwischen den sozialistischen Parlamentariern. Einen ersten Ansatzpunkt dafür bot die gegenseitige Unterstützung mit Materialien, die die politische Wirkung ihres Auftretens in den Parlamenten erhöhen konnten. Dazu erbat Engels z. B. für August Bebel bei Laura Lafargue französische Pressestimmen zur Veröffentlichung des Geheimbefehles des Prinzen Georg von Sachsen im „Vorwärts". Umgekehrt wandte er sich an Bebel mit der Bitte, Paul Lafargue Material für eine geplante Rede zur Verfügung zu stellen, worin das konsequente Eintreten der deutschen Sozialisten für gut nachbarliche Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland erläutert werden sollte. In derselben Angelegenheit schrieb Lafargue selbst auch mehrfach an Liebknecht.81 Engels an Paul Lafargue, 31.10.1891, ebenda, S. 198-201; Engels an Laura Lafargue, 19. 4.1892, ebenda, S. 323. ' 9 Engels an Laura Lafargue, 14.10.1892, S. 494. "» Vgl. u. a. Engels an August Bebel, 6. 12., 24.-26. 10., 9./10. 11. 1891, ebenda, S. 170, 186, 209-211; Engels atfPaul Lafargue, 31. 1., 2. 9., 31. 10. 1891, ebenda, S. 19 f., 152 f., 201 f. 78
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Da Bebel unverzüglich reagierte, konnte Engels schon nach wenigen Tagen das gewünschte Material an Laura Lafargue absenden. 82 Dennoch scheiterte das ursprüngliche Vorhaben, für diese Rede eine Interpellation des Boulangisten Millevoye zum Anlaß zu nehmen, da diese ungeachtet eines Lafargue gegebenen Versprechens während dessen Abwesenheit erfolgte. Uber diesen Ausgang war man deutscherseits recht verärgert, und auch Friedrich Engels verhehlte nicht seine Unzufriedenheit. Er ermahnte Paul Lafargue dringend, sich mit den deutschen Sozialdemokraten zu verständigen 83 , und besänftigte Bebel: „Lafargue hat noch zu lernen, daß unter Bourgeoispolitikern das gegebene Wort nur dazu da ist, gebrochen zu werden." Er ^erwies darauf, daß Lafargue ohnehin nicht zu Wort gekommen wäre, da die Geschäftsordnung bei solchen Interpellationen eine Debatte ausschloß, und fügte hinzu: „Er ist noch viel zu sehr Neuling auf dem Boden der Kammer, doch hat er versprochen, jetzt mehr hinzugehen. Sie wollen die Dokumente jetzt als Broschüre drucken." 84 Bebel akzeptierte diese Erklärungen, worüber Engels sichtlich erleichtert Lafargue informierte. Er war überzeugt, daß dazu die Erfolge des Parti ouvrier in Carmaux erheblich beigetragen hatten. Zu Recht hatten die Ereignisse in dieser südfranzösischen Bergarbeiterstadt großes Aufsehen in der internationalen Arbeiterbewegung erregt. Hier wie in anderen Städten Frankreichs hatte die Arbeiterpartei bei den Gemeinderatswahlen im Mai 1892 bedeutende Erfolge erzielt. Insgesamt errang sie über 100 000 Stimmen und etwa 635 Mandate in den Munizipalräten. Dabei wurde in 26 Orten eine sozialistische Mehrheit erzielt, und in einigen Orten, darunter Marseille, Narbonne, Toulon, Roubaix und auch Carmaux, wurden sozialistische Bürgermeister gewählt. 85 Für die französische Bourgeoisie war das Anlaß genug, die Beschränkung der Amtsbefugnisse der Gemeinderäte zu betreiben. Die erste und zugleich einschneidendste Maßnahme erfolgte mit dem Entzug der Polizeigewalt und ihrer Übertragung in allen Gemeinden auf die Zentralgewalt und deren Exekutivorgane. Gleichzeitig maßregelten die Unternehmer viele sozialistische Bürgermeister. Da das Gemeindeamt nicht besoldet war, wurden sie so entweder gezwungen, ihr Amt niederzulegen oder aber sich eine selbständige Existenz als Schankwirt, Kleinhändler und dergleichen zu schaffen. Als jedoch auch in Carmaux der neugewählte sozialistische Bürgermeister von den Bergwerksbesitzern entlassen wurde, setzte sich die Arbeiterklasse aktiv zur Wehr und trat Mitte Aügust 1892 in den Streik. „Der Aufstand der Kohlengräber
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Vgl. Engels an Laura Lafargue, 3. 2. 1892, ebenda, S. 266; Engels an August Bebel, 7. 10. 1892, ebenda, S. 487 f.; Paul Lafargue an Wilhelm Liebknecht, 15., 18., 24. 10., 8.11.1892, IML/CPA, F. 200, op. 4, Nr. 3502, 3507, 3512, 3524. Vgl. Engels an Laura Lafargue, 14.10.1892, in: MEW, Bd. 38, S. 492. Vgl. Engels an Paul Lafargue, 3.11.1892, ebenda, S. 504. Engels an Bebel, 6.11.1892, ebenda, S. 509. Vgl. ebenda, S. 626 Anm. 357. Siehe auch Engels an Adler, 19. 5. 1892, ebenda, S. 344; Engels an Paul Lafargue, 19. 5. 1892, ebenda. S. 345. — Paul Lafargue sprach von 157 531 Stimmen und 736 gewählten Kandidaten der Marxisten. Vgl. Lafargue, Der Klassenkampf in Frankreich, S. 645. — In Istorija internacionala (S. 168) wird die Stimmzahl mit ca. 160 000 beziffert.
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von Carmaux ist also ein Streik ganz neuer, eigener Art", berichtete Paul Lafargue: „Kein ökonomisches Interesse . . . hat ihn veranlaßt, sondern ein rein politisches Motiv. Um dem allgemeinen Stimmrecht Achtung zu verschaffen, welches die Bourgeoisie seiner Zeit dem Proletariat aufoktroyiert hat, sind die Arbeiter von Carmaux am 15. August in den Streik getreten." Der Kampf dauerte bis Anfang November und endete mit einem Sieg der Arbeiter. Obwohl sich die Arbeiterpartei mit einem Solidaritätsaufruf ihres Vorstandes an alle Gemeinderäte, die der Partei angehörten, wandte und mit öffentlichen Sammlungen täglich zwischen 2 000 und 3 000 Francs für die Streikenden aufbrachte, konnten diese nur an 55 von 80 Streiktagen eine materielle Unterstützung erhalten. Dennoch blieb die Streikfront geschlossen. Ein Schiedsgerichtsurteil, das die Forderungen der Arbeiter unbeachtet ließ, wurde zurückgewiesen und schließlich der volle Sieg errungen. 86 Damit bewährten sich die Arbeiter von Carmaux als „Schützer des allgemeinen Wahlrechts ..., das von der Bourgeoisie gehaßt und verraten wird", schrieb der „Wähler".87 Für Friedrich Engels bewies der Kampf der Arbeiterklasse in Carmaux „nicht nur den Fortschritt unserer Ideen in den Reihen der Arbeiterklasse, sondern auch die Tatsache, daß das die Bourgeoisie und die Regierung wissen. Die maßvolle Haltung der Menschen dort . . . und die ruhige, aber bestimmte Art, in der die sozialistischen Stadträte ohne irgendwelche possibilistische Schwäche oder Konzession vorgehen, zeugen von einem ungeheuren Fortschritt." 88 Dieser Kampf der französischen Arbeiterklasse war ein bedeutsamer Beitrag zum Erfahrungsschatz der internationalen Arbeiterbewegung im allgemeinen und zu ihrer revolutionären Parlamentstaktik im besonderen, weil hier auf bisher nicht gekannte Weise parlamentarischer und außerparlamentarischer Kampf miteinander verknüpft worden war. Zum anderen bewährte sich wiederum die schon während des Streiks von Decazeville 1885 von den ersten französischen Arbeiterdeputierten begründete und seither immer wirksamer geübte Praxis, daß alle sozialistischen Abgeordneten ungeachtet bourgeoiser Entrüstung die Vorrechte eines französischen Parlamentariers nutzten, um zugunsten der Streikenden zu intervenieren. 89 Damit erzielten die Parlamentarier des Parti ouvrier auf einem Gebiet politische Wirkung, wo ihnen die deutschen Arbeitervertreter infolge der weitaus bescheideneren Autorität eines Reichstagsabgeordneten nicht folgen konnten und sich bestenfalls auf die Rolle eines Beobachters und vorsichtigen Ratgebers beschränken mußten. Im Interesse der Festigung und Vertiefung ihrer internationalen Zusammenarbeit hielt es Engels für geboten, solche Leistungen auch bei der Kritik an bestimmten Fehlern und Mängeln in anderer Hinsicht nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und immer wieder in Erinnerung zu rufen, daß gedeihliche Beziehungen zwischen den marxistischen Kräften Frankreichs und Deutschlands durch ein gegenseitiges Nehmen und Geben geprägt sein mußten. w> Lafarpue, Paul, Der Streik von Carmaux, in: Die Neue Zeit, 11, 1892/93, Bd. 1, S. 250 ff. Siehe auch Bourgeoisie und Wahlrecht, in: Der Wähler, 1.11.1892. «' Der Wähler, 1.11.1892. 88 Engels an Laura Lafargue, 14.10.1892, S. 493 f.
P a r l a m e n t a r i s m u s und A r b e i t e r b e w e g u n g
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Friedrich Engels war unablässig bemüht, den Führern der deutschen und französischen Arbeiterbewegung bei der Entwicklung einer vertrauensvollen, kameradschaftlichen Zusammenarbeit behilflich zu sein, alles dabei Hemmende zu beseitigen und auftretende Störungen möglichst rasch zu überwinden. Deshalb trachtete er auch danach, durch die Vermittlung der persönlichen Bekanntschaft mit Bebel bei Lafargue vorhandene Vorbehalte abzubauen. Ausdrücklich diesem Zweck diente ein von Engels arrangierter Aufenthalt beider im Frühjahr 1893 bei ihm in London.90 Bei dieser Gelegenheit fand auch eine Begegnung mit einem dritten sozialistischen Abgeordneten — dem im Sommer 1892 in das britische Unterhaus gewählten John Burns — statt. Bei diesen Wahlen kandidierten erstmals in England neben sogenannten Arbeiterkandidaten, die von den Tories oder den Liberalen finanziert wurden, eine ganze Anzahl wirklicher Arbeiterkandidaten, „die auf eigene Faust agieren und sich nicht fragen, ob sie gegen Liberale oder Tories auftreten".91 Drei dieser Kandidaten — Keir Hardie, John Burns und John Havelock Wilson — siegten, während in einer ganzen Anzahl von Orten die Liberalen zum Teil erheblich Stimmen an die unabhängigen Arbeiterkandidaten verloren. Dieser Erfolg war um so beachtlicher, wenn man bedenkt, daß noch immer zweieinhalb Millionen Männer kein Wahlrecht besaßen, außerdem für jeden Kandidaten ein Garantiebetrag von 700 Pfund Sterling für die amtlichen Wahlauslagen hinterlegt werden mußten, vor allem aber große Teile der Arbeiterklasse stark opportunistisch beeinflußt waren.92 Eleanor Marx-Aveling und Edward Aveling, die in der „Neuen Zeit" über die englischen Wahlen berichteten, hoben hervor, es sei zum ersten Mal in England „mehr oder weniger klar anerkannt worden, daß die politischen Interessen der Arbeiterklasse wesentlich verschieden sind von denen der beiden alten politischen Parteien, der Liberalen mit ihrem Schwanz von Radikalen und der Tories". Sie unterstrichen jedoch, „daß es nichtsdestoweniger gegenwärtig keine Arbeiterpartei in England gibt".93 Auch Engels wies bei aller Wertschätzung des Wahlausgangs für die Entwicklung der englischen Arbeiterbewegung darauf hin, daß die im Entstehen begriffene unabhängige Arbeiterpartei noch keineswegs zu ihrer Konstituierung reif sei. Gleichzeitig warnte er, daß sie für die nächsten Wahlen mancherlei Allianzangebote von den alten Parteien, insbesondere den Liberalen erwarte: „Dann gibt's Kompromisselei, dann werden sich auch die Fabians, die bei dieser Wahl ganz durch Abwesenheit geglänzt haben, wieder vordrängen, aber derlei ist hier nun einmal nicht zu vermeiden."?4 8a
V g l . Lafargue,
D e r K l a s s e n k a m p f in Frankreich, S. 645.
V g l . Engels a n L a u r a L a f a r g u e , 14. 3.1893, i n : M E W , B d . 39, S. 47. m
Engels an A u g u s t B e b e l , 5. 7. 1892, ebenda, B d . 38, S. 385. Z u den englischen W a h l e n v o n 1892 siehe auch Bünger,
Siegfried,
Friedrich Engels und die britische sozialistische
B e w e g u n g 1881-1895, B e r l i n 1962, S. 200 ff. az
V g l . Am Vorabend
M
Marx-Aveling, S. 596.
11 Jahrbuch 25
der englischen
Eleanor/Aveling,
Wahlen, i n : D i e N e u e Zeit, 10,1891/92, B d . 2, S. 390 f. Edward,
D i e W a h l e n in Großbritannien,
ebenda,
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Darum war Engels außerordentlich unzufrieden, daß Kautsky aus dem Artikel der Avelings in der „Neuen Zeit" die kritischen Bemerkungen über das Sektierertum der Social Democratic Federation und über die reformistische Fabian Society, die als Anhängsel der Liberalen auftraten, aus „Platzmangel" wegließ. „Im Augenblick, wo die Arbeiter zum ersten Mal selbständig auftreten, redet ihnen die Fabian Society zu, sie sollen der Schwanz der Liberalen bleiben. Und das muß den kontinentalen Sozialisten offen gesagt werden", forderte er in einem Brief an Kautsky, zumal ihre Mittel „ganz die der korrupten Parlamentarierpolitik: Geld, Klüngel, Strebertum" wären und sie all das praktizierten, „wovor man die Arbeiter warnen muß".95 Obwohl sich die mangelnden Führerqualitäten der Gewählten, und vor allem aber das Fehlen einer revolutionären Partei auch 1892 als entscheidendes Hindernis bei der vollen Nutzung des Wahlrechts durch die englische Arbeiterklasse erwiesen, hatten die Arbeiter Großbritanniens erstmals „gesehen und gefühlt, was sie können, wenn sie ihr Wahlrecht im Interesse ihrer Klasse ausnutzen".96 Das entsprach der in den Jahren zwischen dem Brüsseler und dem Züricher Kongreß sich immer stärker in der internationalen Arbeiterbewegung ausprägenden praktischen Anwendung parlamentarischer Kampfmittel. Begünstigend hierfür wirkte, daß die Vorbereitung des dritten Kongresses der II. Internationale von Ereignissen begleitet war, die in starkem Maße die Aufmerksamkeit der internationalen Arbeiterbewegung auf die Frage der Stellung der Arbeiterklasse zum bürgerlichen Parlamentarismus lenkten. Ende 1892 begannen in den Parlamenten Deutschlands, Frankreichs und Italiens politische Auseinandersetzungen, die außerordentlich heftigen Charakter annahmen und z. T. monatelang andauerten. Dabei ging es sowohl beim Panamaskandal, der in der französischen Deputiertenkammer die Wellen hochschlagen ließ, als auch bei der Affäre der Banca Romana, die das italienische Parlament beschäftigte, um Korruption und Bestechung von Abgeordneten und Ministern. Das beherrschende Thema des deutschen Reichstags war die Militärvorlage und in Verbindung damit die Notstandsinterpellation und die Zukunftsstaatsdebatte. In England sah sich das liberale Gladstone-Kabinett unter dem Druck der Volksmassen gezwungen, im Februar 1893 dem Unterhaus Gesetzentwürfe über die Veränderung der Wählerlisten und die Gewährimg von Diäten an die Abgeordneten vorzulegen, deren Annahme eine spürbare Verbesserung des Wahlrechts für die Arbeiterklasse bedeutet hätte. In Belgien, Österreich und Schweden rückte dagegen immer stärker die Forderung nach allgemeinem Wahlrecht in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Darüber hinaus fanden in einigen Ländern Wahlen statt: in den USA am 6. No* Engels an August Bebel, 7. 7.1892, in: MEW, Bd. 38, S. 393. *» Vgl. Engels an Karl Kautsky, 12.8.1892, S. 422 f.; Engels an Kautsky, 4. 9. 1892, ebenda, S. 447 f. Engels, Friedrich, Vorwort zur zweiten deutschen Auflage (1892) der „Lage der arbeitenden Klasse in England", ebenda, Bd. 22, S. 330. w Engels an Laura Lafargue, 5. 12. 1892, ebenda, Bd. 38, S. 645; Engels an Paul Lafargue, 22.11.1892, ebenda, S. 520.
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vember 1892 die Präsidentschaftswahlen, im März 1893 die Corte&-Wahlen in Spanien, im nachfolgenden Monat im schweizerischen Kanton Zürich Kantonratswahlen und schließlich im Juni 1893 die deutschen Reichtagswahlen. So nimmt es nicht wunder, daß im Vorfeld des Züricher Kongresses Fragen der Parlamentsund Wahlkampftaktik bei allen Unterschieden im Herangehen, in den Resultaten und den Schlußfolgerungen erheblichen Einfluß auf das politische Leben einer ganzen Reihe von Parteien ausübten und über die Staatsgrenzen hinweg von den Sozialisten vieler Länder lebhaft diskutiert wurden. Besonderes Interesse verdienten die Auseinandersetzungen in Frankreich. Schon die ersten Nachrichten über die Panama-Affäre enthielten so viel politische Brisanz, daß Friedrich Engels sie als gewichtige „Operationsbasis für eine sozialistische Kampagne" ansah. In Anbetracht der großen Tragweite dieses Korruptionsskandals gab er Paul Lafargue den dringenden Rat, unbedingt in Paris zu bleiben und an den Parlamentssitzungen teilzunehmen, um immer auf dem laufenden zu sein.97 Die sich hier anbietenden Möglichkeiten offensiven Vorgehens in der Deputiertenkammer wurden jedoch von den sozialistischen Parlamentariern zunächst nicht genutzt. Darüber gab es unter den Führern der deutschen Sozialdemokratie, die sich davon viel versprochen hatten, große Unzufriedenheit.98 Friedrich Engels, der Liebknecht informierte, daß er Lafargue bereits zum Eingreifen in die Debatten aufgefordert hatte, hielt es aber noch für möglich, daß die französischen Sozialisten bisher deshalb schwiegen, weil der Höhepunkt der Auseinandersetzungen noch nicht herangekommen sei. „Zweitens aber sitzen in der Kammer neben den Marxisten noch Blanquisten, Allemanisten und Wilde ä la Cluseret — von den gänzlich verkommenen Leuten, die an unseren Rockschößen hängen, wie Lachize und Thivrier, gar nicht zu sprechen —, und da ist es den anderen leicht, mit der Zerfahrenheit der sozialistischen Parlamentsfraktionen eine Art Retourkutsche zu spielen."99 Unter diesen Umständen war Singers Hoffnung auf eine sozialistische Mehrheit in der französischen Kammer ausgesprochen illusionär100, auch wenn es in jüngster Zeit Ansätze zu einer gemeinsamen Aktion der verschiedenen sozialistischen Parlamentariergruppen gab. So berichtete der „Vorwärts" aus Paris, daß dort am 29. Dezember 1892 eine zweite Zusammenkunft zur Gründung einer sozialistischen Aktionsliga stattgefunden hatte, woran sich Delegierte sämtlicher sozia-
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Vgl. Bebel an Engels, 27. 12. 1892, in August Bebels Briefwechsel, S. 643. - Ignaz Auer spottete, daß die Franzosen nie zu sehen wären, wo es gelte, „aber jetzt wieder die .Revolution' so gründlich .beschließen', daß man über dieses ganze Gerede wirklich bald Bauchweh bekommen konnte . . . Weder in Carmaux noch jetzt in der Kammer spielten und spielen die Leute von uns die Rolle, welche sie spielen sollten" (Auer an Engels, 2.1.1893,1ML/CPA, F. 1, op. 5, Nr. 5484). Engels an Liebknecht, 28.12.1892, in: MEW, Bd. 38, S. 558. Paul Singer schrieb am 31. 12.1892 an Engels: wenn unsere Genossen klug sind, so unterstützen sie die Bewegung auf Auflösung der Kammer und sehen zu, eine sozialistische Mehrheit im Parlament zu bekommen, um dann im Besitz der politischen Macht Herrn Carnot und seinen Ministern, Präfekten und sonstigem Gesindel das Kehraus aufzuspielen" (IML/CPA, F. 1, op. 5, Nr. 5479).
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listischer Parlamentariergruppen beteiligten. Das Blatt hob hervor, daß nunmehr die Bildung der Liga endgültig beschlossen worden war, wobei sämtliche Delegierte das Prinzip des Klassenkampfes anerkannt hätten.101 Im Hinblick auf die parlamentarische Aktivität der französischen Sozialisten hatte dieser Schritt jedoch eher negative als positive Auswirkungen. So sah sich z. B. Friedrich Engels zu einer geharnischten Kritik veranlaßt, daß sich Lafargue und andere „diese wundervolle Gelegenheit entgehen lassen" und sich noch immer zum Panamaskandal aus schwiegen. Er fügte an die Adresse Paul Lafargues gerichtet hinzu: „Ich kann sehr gut verstehn, daß die unsichere Gesellschaft der sogenannten sozialistischen Deputierten nicht möchte, daß er spricht, jeder zieht in eine andere Richtung und jeder spielt sein eigenes Spiel, und sie wissen, daß Paul, wenn er erst auf der Tribüne steht, durch sie nicht mehr zu halten oder zu kontrollieren wäre, aber von unserem Gesichtspunkt aus ist gerade das der Grund, warum er sprechen sollte."102 Mit sichtlicher Erleichterung konstatierte August Bebel, daß Lafargue dann endlich am 16. Februar in der Kammer im Namen der Sozialisten grundsätzlich zu der Panama-Affäre Stellung nahm. Für gut hielt er es dabei auch, daß Lafargue „sich gegen Millerand erklärte, der von französischen Sozialisten bereits als der eigentliche Führer der sozialistischen Gruppe hingestellt wurde".103 Da der Pariser Korrespondent des „Vorwärts", der mit den Blanquisten liierte Paul Arndt, schon seit längerem versuchte, Wilhelm Liebknecht gegen die marxistischen Kräfte im allgemeinen und Paul Lafargue im besonderen zu beeinflussen10'1, war es sehr wichtig, daß sich das Blatt dem Urteil Bebels anschloß. Es würdigte die Rede Lafargues als „erste eingehende Prinzipienerklärung" der Sozialisten und brachte sie etwas später in vollem Wortlaut zum Abdruck.105 Auch Friedrich Engels lobte ausdrücklich diese Rede und bedauerte nur, daß sie nicht schon zwei Monate früher gehalten worden war. Dabei hatte er nicht zuletzt die Wirkung hinsichtlich der im Sommer 1893 bevorstehenden Parlamentswahlen vor Augen, für die er als das Wichtigste ansah, „ein für allemal festzustellen, daß es unsere Partei ist, die in Frankreich den Sozialismus repräsentiert, und daß alle anderen mehr oder weniger sozialistischen Fraktionen — Broussisten, i«i vgl. Vorwärts, 3.1.1893. Engels an Laura Lafargue, 12. 2.1893, in: MEW, Bd. 39, S. 32. lua Bebel an Engels, 25, 2.1893, in August Bebels Briefwechsel, S. 668. " " So schrieb Arndt z. B. am 22. 8. 1892 an Wilhelm Liebknecht: „Es muß aber vor allem etwas geschehen, damit die deutsche Partei wieder in verträgliche und freundschaftliche Beziehungen zu den anderen sozialistischen Gruppen tritt, und nicht bloß die Leute, die zwar .vortreffliche Kerle' sind aber einen taktischen Fehler nach dem anderen begehen, sich der moralischen Unterstützung unserer Partei erfreuen können." Sodann behauptete er, daß zwischen dem marxistischen und dem possibilistischen Programm „fast gar kein prinzipieller Gegensatz besteht, und daß auch in taktischen Fragen bei der Faktoren in gleicher Richtung marschieren, vielleicht mit etwas verschiedenem Tempo. Natürlich kann die Schwenkung in der Haltung unserer Partei gegenüber den französischen Brudergruppen nur nach und nach mit Vorsicht vollzogen werden" (IML/CPA, F. 200, op. 4, Nr. 3452). it» Vorwärts, 19. und 25. 2.1893.
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Allemanisten, Blanquisten — reine und unreine — nur durch die zeitweilige Zersplitterung in einer mehr oder weniger frühen Phase der proletarischen Bewegung neben uns eine Rolle spielen konnten; daß aber jetzt die Periode der Kinderkrankheiten vorüber und das französische Proletariat sich seiner historischen Rolle voll bewußt geworden ist".106 Die Realisierung dieser Zielstellung stellte hohe Ansprüche an die marxistischen Kräfte. Deshalb war es richtig, daß sie sehr frühzeitig und sehr intensiv mit der Wahlvorbereitung begannen. Allerdings vernachlässigte Lafargue darüber seine Deputiertenpflichten und fehlte häufig in der Kammer. Er verstand es also nicht, Wahlagitation und Parlamentsarbeit richtig miteinander zu verbinden, und damit lief er Gefahr, bei den nächsten Wahlen sein Mandat wieder zu verlieren. Alles in allem blieben in bezug auf die wirksame Ausnutzung des bürgerlichen Parlamentarismus durch die französischen Marxisten auch in dieser Phase noch viele Wünsche offen. Noch unbefriedigender war hingegen der Verlauf der Auseinandersetzungen um das „italienische Panama". Der im August 1892 auf dem Kongreß in Genua gerade erst gegründete Partito dei Lavoratori Italiani hatte sich zwar von den Anarchisten abgegrenzt und die Notwendigkeit des politischen Kampfes anerkannt, erwies sich aber noch als zu schwach, um in die Auseinandersetzungen, die im italienischen Parlament durch den Skandal um die Banca Romana ausgelöst wurden, einzugreifen und die Parlamentstribüne für die Entfaltung des politischen Kampfes zu nutzen.107 Wie verworren die Situation war, hatte sich schon bei den im Herbst 1892 stattgefundenen Parlamentswahlen gezeigt. Antonio Labriola berichtete am 28. Oktober 1892 an Engels, daß es geradezu von sozialistischen Kandidaturen wimmelte, deren politischer Standort aber zum Teil von sozialistischen Positionen weit entfernt war.108 Laut Michels wurden 1892 zehn sozialistische Abgeordnete gewählt, wobei er dazu auch solche nicht zur Partei gehörigen Kandidaten zählte wie Casilli, Merlani, Maifei (der später als Polizeispitzel entlarvt wurde) und Colajanni, ein den Sozialisten nahestehender Republikaner, der maßgeblichen Anteil an den Enthüllungen über die Banca Romana hatte. Sieht man von diesen ab, hatten aber selbst unter den Bedingungen des italienischen Zensuswahlrechtes immerhin sechs Sozialisten ein Parlamentsmandat erobern können: Angiolini, Prampolini, Agnini, Berenini, Badaloni und De Feiice.109 Unter ihnen befand sich zumindest mit Prampolini ein aktiver Mitstreiter Turatis, der auf dem Gründungskongreß der Vgl. Engels an Paul Lafargue, 23. 2.1893, in: MEW, Bd. 39, S. 39 f. w/ vgl. istorija vtorogo internacionala, S. 209 f. Siehe hierzu auch Engels, Friedrich, Vom italienischen Panama, in: MEW, Bd. 22, S. 358-364. 1US Vgl. Labriola an Engels, 28.10.1892, IML/CPA, F. 1, op. 5, Nr. 5442. iua vgl. Michels, S. 164 ff. Stegmann und Hugo schreiben, daß die junge Partei 25 Kandidaten nominiert hätte, von denen Prampolini in Guastalla/Reggio Emilio, Agnini in Carpi/Modena und Berenini in Borgo S. Sonnino/Parma gewählt worden wären, während Costa in Imola nur wenige Dutzend Stimmen zum Sieg gefehlt hätten. Andere mit den Sozialisten Sympathisierende hätten dagegen auch mit anderen Wählerstimmen ein Mandat erhalten. Vgl. Stegmann, Carl/Hugo, C., Handbuch des Sozialismus, Zürich 1897, S. 408 f. Iue
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Partei eine wichtige Rolle im Kampf für die Trennung von den Anarchisten gespielt hatte. 110 Im Ausland war darüber aber kaum etwas bekannt, so daß z. B. in der Berichterstattung des Leipziger „Wählers" über die italienischen Wahlen der Eindruck erweckt wurde, als ob kein Sozialist im italienischen Parlament vertreten wäre. 111 Allerdings schien diese Einschätzung insofern berechtigt zu sein, als die in das Parlament gewählten Sozialisten dort zunächst überhaupt nicht in Erscheinimg traten. So beklagte sich Labriola bei Engels darüber, daß die sozialistischen Abgeordneten stets bei den entscheidenden Sitzungen fehlen würden, und zwar, wie der Abgeordnete Agnini bei der Rede Colajannis, mit sonderbaren Entschuldigungen.112 Friedrich Engels griff dies umgehend auf und schrieb an Turati: „Aber wo zum Teufel sind die sozialistischen Abgeordneten in diesen entscheidenden Tagen gewesen? In Deutschland würde man den Unsrigen niemals verzeihen, daß sie auf der Colajanni-Sitzung nicht anwesend waren — das hätte sie ihre Mandate gekostet." 113 Für die Vorbildwirkung der revolutionären Parlamentstaktik der deutschen Sozialdemokratie hatte diese mit ihrem Kampf gegen die Militärvorlage, mit dem beeindruckenden Vorgehen in der Notstands- und der Zukunftstaatsdebatte und schließlich mit ihrem Erfolg bei den Reichstagswahlen von 1893 neuerlich überzeugende Beispiele geliefert. Dem Wahlkampf der deutschen Sozialdemokratie vorausgegangen waren Achtungserfolge der spanischen Sozialisten, die Anfang März 1893 bei den CortesWahlen trotz aller Behinderungen 2 000 Stimmen mehr als bei den Wahlen von 1891 erringen konnten, wie Pablo Iglesias stolz an Engels berichtete.114 Wenngleich es auch noch nicht gelang, ein Parlamentsmandat zu erobern, so war doch die Partei in zahlreichen Wahlkreisen mit eigenen Kandidaten vor die Werktätigen getreten. Allein Pablo Iglesias kandidierte in neun Wahlkreisen. 115 Aus dem Schweizer Kanton Zürich meldete der „Vorwärts", daß bei den dortigen Kantonratswahlen im April 1893 zehn Sozialdemokraten ein Mandat erhielten, unter ihnen neben den wiedergewählten Bürkli, Greulich und Lang auch Robert Seidel, der Sekretär des von den Schweizer Sozialdemokraten gebildeten Organisations-Komitees für den Züricher Kongreß. 116 Im Blickfeld der internationalen Arbeiterbewegung aber stand vor allem die von der deutschen Sozialdemokratie organisierte und geführte Wahlschlacht. So hob Beifort Bax in einem Beitrag für den „Vorwärts" hervor: „Die Bedeutung der von der deutschen Sozialdemokratie zuerst angenommenen und über ein Viertel11U
Vgl. Istorija vtorogo internacionala, S. 209. „Der Wähler" schrieb am 14.11.1892 unter der Überschrift „Vom italienschen Wahlrecht" , daß bei den „jetzt stattgehabten italienischen Wahlen . . . die Sozialisten mit allen erdenklichen Machinationen glücklich hinausgedrängt worden sind". 10 Vgl. Labriola an Engels, 19.1.1893, IML/CPA, F. 1, op. 5, Nr. 5493. 113 Engels an Turati, 1. 2.1893, in: MEW, Bd. 39, S. 22. 114 Vgl. Iglesias an Engels, Anfang April 1893, IML/CPA, F. 1, op. 5, Nr. 5540. »5 vgl. Vorwärts, 8. und 9. 3.1893. ,1B Vgl. ebenda, 27. 4.1893. 111
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jahrhundert hindurch systematisch befolgten Taktik: alle Waffen, die der Klassenstaat bietet, namentlich das Wahlrecht, gegen den Klassenstaat zur Erkämpfung der sozialistischen Gesellschaftsorganisation zu gebrauchen, ist durch unsere, jedem, auch dem verhärtetsten Pessimisten in die Augen fallenden Erfolge allen, die bisher noch zweifelten, klar geworden." 117 In einem Gratulationsschreiben, das Ferderick Barnes im Namen der Social Democratic Reading Brandl an Liebknecht richtete, wurde die Überzeugung ausgedrückt, daß der deutsche Wahlsieg eine anspornende Wirkung auf die sozialistische Bewegung in England und in der ganzen Welt haben würde. 118 Ähnlich schrieb Danielson aus Petersburg an Friedrich Engels. 119 In einer Zeitschrift der Aberdeen Socialist Society an Liebknecht und Bebel wurde insbesondere auf die Stärke, Geschlossenheit und den umfassenden Charakter der deutschen Sozialdemokratie verwiesen, die sie zur Schaffung einer ähnlichen Partei in England anspornen würde. 120 Außerordentlich wichtige Schlußfolgerungen aus dem Wahlsieg der deutschen Sozialdemokratie zog der „Socialiste", das französische Bruderorgan: „Das Geheimnis ihrer ebenso glänzenden als fortdauernden Erfolge ist in ihrer Einheitlichkeit des Handelns, in der Disziplin, welche sie von Anfang an in ihren Reihen eingeführt und unter allen Umständen aufrecht zu erhalten gewußt haben. Ihre Erwählten, welches auch immer ihre Zahl war, sind niemals die Erwählten einer Gruppe oder irgend einer Stadt, sondern allezeit die Erwählten der Partei gewesen. Ihre Erwählten gehören der Partei; sie sind der Partei verpflichtet; sie stehen unter der Disziplin der Partei, die in ihrem jährlichen Kongreß souverän alle ihre Geschäfte erledigt. Der Klassenkampf heischt solche geschlossene Organisation, soll er zu siegreichem Ende gebracht werden. Einheit der Klasse, Einheit des Programms und der Taktik, Einheit der Leitung — so hat man in Deutschland gesiegt. So wird man in Frankreich siegen." 121 Damit hatte der „Socialiste" wichtige Fragen f ü r die Entwicklung des Parti ouvrier und seiner Pariamenstaktik aufgeworfen. Aber nicht überall war man bereit, auf so konstruktive Weise an die Erfahrungen der deutschen Sozialdemokratie heranzugehen. Nieuwenhuis z. B. behauptete kurzerhand, daß der Wahlsieg der deutschen Sozialdemokratie „auf Kosten des sozialdemokratischen Prinzips" errungen worden wäre. 122 Auch in anderen Ländern gab es Vorbehalte und geteilte Meinungen hinsichtlich der Ausnutzung parlamentarischer Kampfmittel. In den USA entbrannte z. B. zwischen verschiedenen Sozialisten ein Streit über die Beteiligung an den Präsi117
Bax, Beifort, Die Wahlerfolge der deutschen Sozialdemokratie, ebenda, 4. 7. 1893, 1. Beilage. »8 vgl. Barnes an Liebknecht, 14. 7.1893, IML/CPA, F. 200, op. 4, Nr. 3744. UM „It is to be hoped that a similar victory may be looked for in another countries", hieß es in einem Brief von Danielson an Engels vom 26. 7.1893, ebenda, F 1, op. 5, Nr. 5597. Vgl. Aberdeen Socialist Society, William S. Reume an Wilhelm Liebknecht und August Bebel, 4. 7.1893, ebenda, F. 200, op. 4, Nr. 3739. m Zit. nach: Vorwärts, 9. 7.1893. ra Vgl. van Kol an Wilhelm Liebknecht, 2. 7. 1893, IML/CPA, F. 200, op. 4, Nr. 3737.
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dentschaftswahlen. Mit der Begründung, daß das Programm die Abschaffung des Präsidentenamtes forderte, behauptete F. Wiesen von den Befürwortern der Wahlbeteiligung, „daß ihr Kampf für die Präsidentenwahl zugleich ein solcher gegen den Sozialismus selbst ist".123 Friedrich Engels, der die Ursache für diesen Streit vor allem in der Unreife der amerikanischen Arbeiterbewegung sah124, hatte auch in bezug auf die Führer der Independent Labour Party mehrfach Grund zur Klage. Entrüstet berichtete er August Bebel, daß K. Hardie „von Ausdehnung des Wahlrechts und den anderen Reformen, die das Arbeiterwahlrecht hier erst zur Wirklichkeit machen sollen, mit Verachtung als untergeordneten, bloß politischen Dingen spricht, die hinter die sozialen Forderungen, 8 Stunden, Arbeitsschutz etc. zurückzutreten haben".125 Doch ungeachtet solcher Widerstände, Vorbehalte und Schwächen wurde in den Monaten vor dem Züricher Kongreß das Bild der internationalen Arbeiterbewegung vor allem durch eine immer breitere Entfaltung des Kampfes um die Gewinnung der Massen und die verstärkte Hinwendung zur Ausnutzung des bürgerlichen Parlamentarismus geprägt. Das offenbarte sich auch in dem Aufschwung der Wahlrechtskämpfe in einigen Ländern. Zusammen mit der liberalen Stimmrechtsbewegung führten die schwedischen Sozialisten um die Jahreswende 1892/93 Wahlen für einen „Volks-Reichstag" „ganz wie ordentliche Reichtagswahlen, aber nach allgemeinem Stimmrecht" durch, wobei rund 150 000 Stimmen abgegeben wurden. Dabei kam es in Stockholm zu heftigen Auseinandersetzungen mit den Liberalen, die sich auch in den Beratungen des im März 1893 zusammengetretenen „Volks-Reichstags" noch fortsetzten. Ihr Bestreben war, den 30 Sozialisten unter den 120 Mitgliedern des Gremiums die Einflußnahme auf die zu fassenden Beschlüsse unmöglich zu machen. Doch je deutlicher sich abzeichnete, daß „weder der König noch der Reichstag, ja nicht einmal die liberalen Parteiführer im Reichstag in irgend welcher Weise für das allgemeine Stimmrecht zu haben wären, rückte der Schwerpunkt im ,Volks-Reichstage' immer mehr nach links". Als wichtigste Beschlüsse, die unter sozialistischem Einfluß gefaßt wurden, hob Branting hervor „die Verwerfung aller Vorschläge auf Ausdehnung des Stimmrechts, die hinter dem allgemeinen Stimmrecht zurückblieben, die Empfehlung außerordentlicher Mittel und Wege ä la Belgien, um den Widerstand der herrschenden Klasse zu brechen, die Sympathieadresse an die norwegische Linke" sowie ein „Manifest des .VolksReichstags' an das schwedische Volk".126 In diesen Beschlüssen widerspiegelte sich der tiefe Eindruck, den die Massenaktionen der belgischen Arbeiterklasse zur Erkämpfung des allgemeinen Wahlrechts auf die internationale Arbeiterbewegung gemacht hatten. Die belgische Arbeiterpartei rief am 12. April 1893 neuerlich zum politischen Generalstreik auf, nachdem tags zuvor von der Kammer die Forderung nach allgemeinem Wahlrecht abgelehnt worden war. Dieser Streik, der das ganze Land ergriff, zeigte ra
Wiesen an Engels, 29.1.1893, ebenda, F. 1, op. 5, N r . 5501.
™ Vgl. Engels an Wiesen, 14. 3.1893, in: M E W , Bd. 39, S. 46. V£>
Engels an August Bebel, 24.1.1893, ebenda, S. 13.
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Vgl. Branting, S. 714 ff.
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ein bis daliin in der Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung nicht gekanntes einmütiges Auftreten des Proletariats.127 Mit diesem Massenkampfe, der auch von der deutschen Arbeiterbewegung mit lebhaftestem Interesse verfolgt wurde und den der „Vorwärts" wie selten ein ausländisches Ereignis kommentierte128, wurde am 18. April 1893 die Annahme eines Wahlreformgesetzes erzwungen, wonach allen Männern über 25 Jahren das allgemeine Wahlrecht gewährt wurde. Damit verzehnfachte sich die Zahl der Wahlberechtigten. Gleichzeitig wurde jedoch für bestimmte Wählergruppen ein Pluralwahlrecht eingeführt und damit die Stimmengleichheit aufgehoben. Dennoch beschloß der Generalrat der belgischen Arbeiterpartei am selben Tage die Beendigung des Streiks. Volders erklärte dazu: „Wir hören wohl auf zu streiken, aber nicht das plurale Wahlrecht zu bekämpfen." Gleichzeitig forderte er: „Alle diejenigen, die jetzt mit uns marschiert sind, müssen für die Arbeiterpartei dauernd gewonnen werden."129 Ein großartiges Echo fand der Sieg des belgischen Proletariats bei der österreichischen Arbeiterbewegung. „In allen Maiversammlungen entfesselte das Wort .Belgien' stürmischen Jubel", berichtete Ellenbogen und betonte, daß mit dem 1. Mai 1893 in Österreich der eigentliche Kampf gegen das reaktionäre Kurienwahlsystem und für das allgemeine Stimmrecht begonnen habe. „Die Erfolge der belgischen Arbeiterschaft gaben den Anstoß zu einem Sturmlauf gegen die ständische Verfassung", urteilte auch Victor Adler.130 Mit einer großen Flugblattaktion leiteten die österreichischen Sozialisten eine Volksversammlungskampagne ein, die sich über das ganze Land erstreckte. Dabei kam es in Prag und Brünn nach dem Verbot der einberufenen Meetings zu heftigen Zusammenstößen mit der Polizei. In Prag wurde gegen 54 Arbeiter, die während dieser Zusammenstöße verhaftet worden waren, ein Prozeß durchgeführt. Doch unter dem Eindruck der großen Massenbewegung wurde die Reaktion zum Rückzug gezwungen. Während 19 Angeklagte freigesprochen werden mußten, wurden die anderen 35 lediglich wegen Auflaufs zu dreitägigem Arrest verurteilt und dann ebenfalls auf freien Fuß gesetzt.131 In Wien sahen sich die Behörden gezwungen, am 9. Julü im Arkadenhof des Rathauses eine Wahlrechtskundgebung zu gestatten, an der sich rund 50 000 Werktätige beteiligten, die sich dabei so diszipliniert verhielten, daß der Polizei keinerlei Anlaß zum Einschreiten gegeben wurde. Insgesamt fanden in Österreich in der Zeit vom 1. Mai bis zum 15. September 1893, also unmittelbar vor, während und nach dem Züricher Kongreß, rund 400 Volksversammlungen statt, in denen die Forderung nach dem allgemeinen ' Vgl. lstorija vtorogo internacionala, S. 182. ra, vgl Vorwärts, 13.-29. 4. 1893. - Siehe auch Bebel an Engels, 14. 4. 1893, in August Bebels Briefwechsel, S. 679. ™ Vorwärts, 22. 4.1893. Ellenbogen, Wilhelm, Der Kampf um das allgemeine Wahlrecht und die politischen Parteien in Österreich, in: Die Neue Zeit, 12, 1893/94, Bd. 1, S. 54; Adler, Victor, Die Lage in Österreich und der sozialdemokratische Parteitag, ebenda, Bd. 2., S. 197. «i vgl. Vorwärts, 9. 7. und 1. 8.1893. Vl
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Wahlrecht erhoben wurde.132 Damit sorgte die österreichische Arbeiterklasse auf ihre Weise für die rechte Begleitmusik zum dritten Internationalen Sozialistischen Arbeiterkongreß. Der Berliner Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands hatte im November 1892 beschlossen, für die Tagesordnung des Züricher Kongresses u. a. die Beratung über „die politische Betätigung der Arbeiterklasse" zu beantragen. Ewald begründete dies mit den Worten: „Wir sehen in allen Ländern, wo das gleiche geheime direkte Wahlrecht noch nicht gegeben ist, einen Kampf zur Erringung dieses Rechts; und es gibt noch eine ganze Reihe von Ländern, wo die Arbeiterklasse politisch rechtlos ist und daher in erster Linie die ihr vorenthaltenen politischen Rechte als Kampfmittel für ihren sozialen Befreiungskampf mit aller Energie fordern muß." August Bebel machte aber den Parteitag darauf aufmerksam, daß sich die Parteiführung darüber hinaus auch deshalb zu diesem Antrag veranlaßt sah, weil die sozialdemokratische Partei und ihre Reichstagsfraktion seit Brüssel von den verschiedensten Seiten des In- und Auslandes wegen ihrer politischen Betätigung angegriffen worden waren. Dem sollte nun dadurch ein Riegel vorgeschoben werden, „daß der internationale Kongreß Stellung nimmt und klar erklärt, was nach seiner Meinung Aufgabe der Arbeiterklasse bei ihrer politischen Betätigung ist".133 Neben dem deutschen Antrag lagen zum Zeitpunkt der Brüsseler Vorkonferenz, die am 26. März 1893 über die vorläufige Tagesordnung und die Zulassungsbedingungen zum Kongreß beriet134, auch aus Frankreich, Holland und der Schweiz Anträge und Resolutionsentwürfe zu diesem Fragenkomplex vor135, denen sich in den folgenden Monaten noch weitere zugesellten. Diese Anträge, die nach dem Urteil des „Vorwärts" nicht durchweg auf der Höhe des internationalen Sozialismus standen136, offenbarten z. T. erheblich voneinander abweichende Standpunkte. Dennoch hatte, wie Bernstein in der „Neuen Zeit" beklagte, ihre Veröffentlichung „in der deutschen Parteipresse kaum eine nennenswerte Diskussion zur Folge gehabt". Entschuldigend meinte er, daß dies der Heftigkeit des Kampfes mit dem Klassengegner sowie der Tatsache geschuldet wäre, daß es in der deutschen Sozialdemokratie keine „nennenswerten Meinungsverschiedenheiten" über die Beratungsgegenstände gäbe, fügte aber hinzu: „Aber nicht überall haben die Sozialisten die gleiche theoretische Schule durchgemacht wie wir, und nicht alle, die unsere Theoretiker anerkennen, kämpfen unter den gleichen praktischen Verhältnissen wie wir. Ein anderer Grad ökonomischer Entwicklung, eine andere Geschichte, andere politische Inisi 1X1
Vgl. ebenda, 11. 7.1893. Siehe auch Ellenbogen, S. 55. Vgl. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Berlin vom 14. bis 21. 11. 1892, Berlin 1892, S. 215-220. Siehe hierzu auch Wittwer, Walter, Zur Vorgeschichte des Internationalen Sozialistenkongresses 1893 in Zürich, in: Marxismus und deutsche Arbeiterbewegung, Berlin 1970, S. 649-667. vgl. Vorwärts, 30. 3.1893, 2. Beilage. Ebenda, 6. 8.1893.
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stitutionen, andere Konstellationen der Parteien der herrschenden Klassen — das produziert eine andere Taktik, eine andere Art der Agitation und, bei aller Gleichartigkeit der anerkannten sozialistischen Grundlehren, eine andere geistige Aneignung derselben."137 Für sich genommen waren dies durchaus zutreffende und wichtige Feststellungen. Im Kontext mit der von Bernstein zuvor jedoch angenommenen und recht unverblümt ausgesprochenen Voraussetzung, daß in der deutschen Sozialdemokratie über die Kongreßthemen im wesentlichen theoretische Klarheit herrschte, wurden daraus allerdings einseitige „Betrachtungen über die Geistesströmungen", die in verschiedenen Anträgen anderer Parteien ihren Ausdruck gefunden hatten. Gegen die von F. Wiesner aus Baird, Texas138, sowie von mehreren Parteimitgliedern aus Covington, Kentucky, in ähnlich lautenden Anträgen erhobene Forderung, die Teilnahme von Sozialisten an der Wahl von „Machthabern und Exekutivbeamten" und die Aufstellung eigener Kandidaten für solche Ämter generell zu verbieten 139 , hatte er durchaus berechtigt eingewandt, daß eine solche Wahlbeteiligung auch im Interesse der Arbeiterbewegung liegen könnte. Wenig überzeugend war hingegen, daß er sich zur Beweisführung ausgerechnet auf die stark reformistisch beeinflußte Haltung führender Schweizer Sozialdemokraten bezog sowie die von den amerikanischen Genossen ausgedrückte Besorgnis über mögliche korrumpierende Gefahren des bürgerlichen Parlamentarismus damit abtat, daß sie nur da zu fürchten wären, „wo die Partei und der .revolutionäre Geist' auf schwachen Füßen stehen". 140 Die von der revolutionären deutschen Sozialdemokratie im Kampf gegen die Opportunisten gewonnenen Erfahrungen hatten aber nachdrücklich gezeigt, daß solche Gefahren auch für starke Parteien existierten. Treffender argumentierte Bernstein gegen den von den Holländern vorgelegten Resolutionsentwurf und begründete, daß die von ihnen geforderte reine Protesthaltung sozialistischer Parlamentarier Verzicht auf die Vertretung der unmittelbaren Interessen der Arbeiterklasse und auf die Gewinnung der Massen durch die Partei bedeuten würde. 141 Zu diesen Fragen hatte es in der Tat kaum Diskussionen in der Presse gegeben. Etwas anders lagen die Dinge dagegen bei dem Schweizer Antrag zur direkten Gesetzgebung durch das Volk. Dazu enthielt sich Bernstein allerdings der Stellungnahme. Offensichtlich geschah dies in Absprache mit Kautsky, der in derselben Nummer der „Neuen Zeit" das letzte zusammenfassende Kapitel seiner 137
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Bernstein, Eduard, Volapük. Ein Beitrag zum bevorstehenden internationalen sozialistischen Arbeiterkongreß, in: Die Neue Zeit, 11,1892/93, Bd. 2, S. 527 f. Offensichtlich handelt es sich hier um eine falsche Namenswiedergabe durch den „Vorwärts" (19. 7. 1893, Beilage), die auch von der „Sächsischen Arbeiter-Zeitung" (25. 7.1893) übernommen wurde. Es dürfte sich hier um F. Wiesen aus Baird, Texas, handeln, der sich — wie schon erwähnt — bereits Anfang des Jahres in derselben Frage an Engels gewandt hatte. vgl. Vorwärts, 19. 7.1893, Beilage; Sächsische Arbeiter-Zeitung, 25. 7.1893. Bernstein, S. 530. Vgl. ebenda, S. 531.
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gerade fertiggestellten Broschüre „Der Parlamentarismus, die Volksgesetzgebung und die Sozialdemokratie" veröffentlichte. 142 Mit dieser Arbeit trat Kautsky den opportunistischen Auffassungen Bürklis und seiner Anhänger entgegen, die die direkte Volksgesetzgebung als „die organisierte Diktatur des Proletariats" ansahen 143 und damit die zu erkämpfende politische Macht der Arbeiterklasse zu einem vulgär-demokratischen „Vorschlagsund Abstimmungsrecht" verstümmelten, das laut Bürkli „das echte, rechte Werkzeug ist, mit dem man die Arbeiterfragen, die große soziale Frage friedlich lösen kann".144 Ausgehend von der historischen Aufgabe der Sozialdemokratie, den Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat „zu enthüllen und dem Proletariat auf das Schärfste zum Bewußtsein zu bringen" 145 , polemisierte Kautsky nach zwei Hauptrichtungen gegen die „direkte Volksgesetzgebung". Erstens untersuchte er ihre Wirkung auf die Arbeiterklasse und ihre revolutionäre Partei. Gestützt auf seine Darlegungen im Kommentar zum Erfurter Programm über den Zusammenhang von Parteibildung des Proletariats und parlamentarischem Kampf und diese weitgehend wiederholend, wies er nach, daß die direkte Gesetzgebung nicht auf die Betonung, sondern auf die Verwässerung des proletarischen Klassenbewußtseins und schließlich auf die Auflösung der Parteien abzielte.146 Die Ablehnung des Parteigedankens, die bei Considérant nach Kautskys Ansicht daraus folgte, daß „der Klassenkampf als der Hebel der Emanzipation des Proletariats noch nicht klar erkannt war", bezeichnete er als „widersinnig, wenn man sich auf den Standpunkt des Kommunistischen Manifestes stellt".147 Genauso falsch und illusionär war das Beharren auf der vulgärdemokratischen Vorstellung vom imperativen Mandat, die die Klassenteilung der Gesellschaft außer acht ließ und den Parlamentarier als Mandatar seines Wahlkreises ansah. Kautsky unterstrich demgegenüber die marxistische Auffassung, wonach der sozialdemokratische Parlamentarier in einem anderen Sinne Mandatar war: nicht der Beauftrage der Bevölkerung einer kleinen Gemeinde, sondern „einer Partei, welche sich über den Bereich des ganzen Staates erstreckt, welche das gesamte arbeitende Volk des Staates zu umfassen strebt". 148 Zweitens beschäftigte sich Kautsky ausführlich mit einer vergleichenden Untersuchung von Parlamentarismus und Volksgesetzgebung. Dabei gelangte er zu 142 vgl. Kautsky, Karl, Der Parlamentarismus, die Volksgesetzgebung und die Sozialdemokratie, Stuttgart 1893; ders., Die direkte Gesetzgebung durch das Volk und der Klassenkampf, in: Die Neue Zeit, 11, 1892/93, Bd. 2, S. 516-527. 143 Sächsische Arbeiter-Zeitung, 19. 7.1893. 144 Bürkli, Karl, Die direkte Gesetzgebung durch das Volk (Schluß), in: Vorwärts, 4. 8. 1893, 2. Beilage. Ausführlicher hierzu Weien, S. 194 ff. 140 Kautsky, Der Parlamentarismus, S. 121. 146 Vgl. ders., Das Erfurter Programm, Berlin 1965, S. 22—225; ders., Der Parlamentarismus, S. 124-134. Ebenda, S. 133. 148 Ebenda, S. 112.
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dem Schluß, daß die Erkämpfung des allgemeinen Wahlrechts und die Ablösung des Scheinkonstitutionalismus durch wirkliche parlamentarische Regimes im Interesse der Arbeiterklasse lagen, während die Ideen der direkten Gesetzgebung „bei diesen Kämpfen höchstens lähmend und verwirrend wirken" würden. Nachdrücklich warnte er davor, die in der Mehrheit der europäischen Staaten ohnehin nur wenig Macht besitzenden Volksvertretungen durch die direkte Gesetzgebung weiter zu schwächen, weil dies nur der Reaktion zugute käme, die die Volksgesetzgebung nur allzuleicht in ein Plebiszit nach dem Muster des französischen Kaiserreichs verwandeln könnte. 149 Kautskys Kritik der direkten Volksgesetzgebung war ein wichtiger Beitrag zur weiteren Ausarbeitung der Strategie und Taktik der internationalen Arbeiterbewegung. Ausdrücklich darauf Bezug nehmend, gelangte W. I. Lenin zu dem Schluß, daß man „nicht prinzipiell den Sieg des Sozialismus mit der Ablösung des Parlamentarismus durch die direkte Volksgesetzgebung verbinden" durfte. 150 Die Kritik der Auffassungen Bürklis verband Kautsky mit der Erörterung der Bedéutung des allgemeinen Wahlrechts und der Ausnutzung des bürgerlichen Parlamentarismus f ü r die Arbeiterklasse und der Darstellung wichtiger Aspekte der von der deutschen Sozialdemokratie entwickelten und angewandten revolutionären Parlamentstaktik. Die dabei getroffenen Feststellungen über die Notwendigkeit des Kampfes der Arbeiterklasse f ü r Demokratie und dessen Zusammenhang mit dem Kampf u m Sozialismus waren sichtlich von Friedrich Engels beeinflußt. Karl Kautsky erläuterte, daß die Partei des klassenbewußten Proletariats „die entschiedenste Kämpferin f ü r die Bestrebungen der Demokratie" sei, weil der demokratische Staat das Schlachtfeld biete, auf dem „der letzte Entscheidungskampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat ausgefochten" würde. Darum hätte sich das Proletariat auch vor den Illusionen der bürgerlichen Demokratie zu hüten und bei jeder einzelnen demokratischen Institution zu prüfen, „ob und inwieweit sie die Macht und den Entwicklungsgang des Proletariats insbesondere beeinflusse(n)". 151 Zweifelsohne waren dies wichtige Einsichten. Zugleich offenbarten sich aber auch noch immer nicht überwundene Schwächen hinsichtlich des tieferen Erfassens der Dialektik des Kampfes f ü r Demokratie und Sozialismus. Die unzureichende Beachtung ihrer qualitativen Unterschiede mußte auch zu Fehlern bei der Beurteilung der Kampfmittel und -methoden des Proletariats auf den verschiedenen Abschnitten ihres Weges zur politischen Machteroberung führen. Das zeigte sich in Kautskys Schrift sehr deutlich an der Einschätzung des Stellenwertes des bürgerlichen Parlamentarismus f ü r die Arbeiterklasse. So unterstrich er zwar richtig die Bedeutung des Kampfes f ü r das allgemeine Wahlrecht 149 ltM
101
Ebenda, S. 119,136. Lenin, W. 1., Entwurf eines Programmes unserer Partei, in: Werke, Bd. 4, S. 233. Siehe auch Tartakovskij, B. G., Lenin i mezdunarodnoe rabocee dvizenie v 90-ch godach XIX veka, in: Lenin v bor'be za revoljucionnyj Internacional, Moskva 1970, S. 25 f. Kautsky, Der Parlamentarismus, S. 123.
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und f ü r die Ablösung des Scheinkonstitutionalismus durch ein parlamentarisches Regime als wichtigste Aufgabe im Ringen um die demokratische Republik. Gleichzeitig vertrat er jedoch die Auffassung, „daß ein wirklich parlamentarisches Regime ebenso gut ein Werkzeug der Diktatur des Proletariats sein kann, als es ein Werkzeug der Diktatur der Bourgeoisie ist". Das aber bedeutete nichts anderes, als die historische Begrenztheit des Parlamentarismus zu übersehen und ein zeitweiliges, f ü r eine Etappe des Herankommens an die proletarische Revolution notwendiges Kampfmittel in den Rang der „wichtigsten Aufgabe der Arbeiterklasse in ihrem Kampf um die Erringung der politischen Macht" 152 zu erheben. Damit befand sich Kautsky direkt im Widerspruch zu Marx' Forderung, in der proletarischen Revolution die parlamentarische durch eine arbeitende Körperschaft, „vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit", abzulösen. 153 In der Polemik mit den Anhängern der direkten Volksgesetzgebung begründete Kautsky zwar richtig die Notwendigkeit, an dem Repräsentativsystem festzuhalten, erfaßte jedoch nicht den qualitativen Wandel, dem es in der proletarischen Revolution unterlag. Begünstigt sowohl durch den Umstand, daß sich in der Bourgeoisie aus Furcht vor der Arbeiterklasse zunehmend antiparlamentarische Stimmungen entwickelten und daß der Kampf f ü r die Stärkung der Volksvertretung gegen Absolutismus und Militarismus vor allem in den Händen der Arbeiterklasse lag, als auch durch die großen Erfolge der deutschen Sozialdemokratie im parlamentarischen Kampf, blieb Kautsky in der Vorstellung eines durch die Arbeiterklasse weitgehend demokratisch ausgestalteten, letztlich dennoch bürgerlichen Parlamentarismus befangen. Diese Überbewertung 'des bürgerlichen Parlamentarismus fand schließlich ihren Niederschlag in der These, „daß in einem modernen Großstaat der Schwerpunkt der politischen Tätigkeit naturnotwendig in seinem Parlament liegt". 154 Indem er die Fragen des parlamentarischen Kampfes zu sehr isoliert, herausgelöst aus der Gesamtstrategie und -taktik der Partei betrachtete, machte er sich in bestimmtem Maße des gleichen Fehlers schuldig wie die Anhänger der direkten Volksgesetzgebung. Obwohl zu anderen Schlußfolgerungen gelangend, waren diese zwangsläufig nicht minder einseitig. So verdienstvoll Kautskys Arbeit also f ü r die Zurückweisung der an die direkte Volksgesetzgebung geknüpften opportunistischen Illusionen einerseits war, so enthielt sie andererseits mit der Verwischung der Unterschiede zwischen bürgerlichem Parlamentarismus und proletarischem Demokratismus selbst neue Anknüpfungspunkte f ü r den Opportunismus. Diese Schwächen der Arbeit blieben jedoch in der Partei weitgehend unbemerkt. Die Erfahrungen des Wahlkampfes von 1893, die großen Anstrengungen der deutschen Sozialdemokratie im Kampf gegen den Militarismus, f ü r die Verteidigung und den Ausbau der demokratischen Rechte des Volkes, die gesamte politische Situation in Deutschland ließen dem Kampf um ein parlamentarisches 1Kä
Ebenda, S. 118 f. »» Marx, Karl, Der Bürgerkrieg in Frankreich. Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation, in: MEW, Bd. 17, S. 339. 1M Kautsky, Der Parlamentarismus, S. 120.
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Regime ein solches Gewicht zukommen, daß er offensichtlich nicht nur für Kautsky bereits mit der politischen Machteroberung des Proletariats zusammenfiel. Dennoch blieben Kautskys Auffassungen nicht unwidersprochen. Wenn es auch keine Öffentliche Polemik gab, so fand doch ein recht lebhafter brieflicher Meinungsstreit zwischen Kautsky und Franz Mehring statt.155 Ausgangspunkt dafür war ein Artikel Mehrings über den neugewählten Reichstag, worin er „die Ansicht, daß einmal die Mehrheit eines bürgerlichen Parlaments, und bestände sie selbst aus klassenbewußten Arbeitern, der sozialistischen Gesellschaft die Bahn brechen könnte", als ein Messer bezeichnete, dem Griff und Klinge fehlten.156 Wenn sich das revolutionäre Proletariat also parlamentarischer Kampfmöglichkeiten bediene, so müßte das immer unter der Voraussetzung geschehen, daß es „niemals auf den Wegen des bürgerlichen Parlamentarismus seine Ziele erreichen kann".157 Dagegen wandte Kautsky ein, daß seiner Ansicht nach die Aufgabe des Proletariats darin bestünde, „nachzuholen, was die deutsche Bourgeoisie in ihrer Feigheit versäumt, ein wirklich parlamentarisches Regime zu schaffen". Weder darin noch in dem Hinweis auf die mit dem Zusammenbruch des Freisinns noch deutlicher zutage getretene Verantwortung des Proletariats im Kampf für solche demokratischen Umgestaltungen war Mehring anderer Meinung. Die grundverschiedenen Positionen offenbarten sich hingegen mit Kautskys folgenden Worten: „Für die Diktatur des Proletariats kann ich mir aber eine andere Form nicht denken, als die eines kraftvollen Parlamentarismus, etwa nach englischem Muster, mit einer sozialdemokratischen Majorität und einem starken und bewußten Proletariat hinter sich. Der Kampf um einen wirklichen Parlamentarismus wird meines Erachtens in Deutschland zum Entscheidungskampf der sozialen Revolution werden, denn ein parlamentarisches Regime bedeutet in Deutschland den politischen Sieg des Proletariats — aber auch umgekehrt."158 Das berechtigt jedoch nicht zu dem in der bürgerlichen Historiographie der BRD immer wieder anzutreffenden Versuch, Kautskys Äußerungen als Absage an die proletarische Revolution und seine Orientierimg auf die Errichtung des Sozialismus als Wahlvorgang zu interpretieren.159 i5b v g l . Schleifstein, Josef, Franz Mehring. Sein marxistisches Schaffen 1891—1919, Berlin 1959, S. 268-272. ,ae
Mehring,
to/
Ders., Das zweite Wahlergebnis, ebenda, S. 418.
158
Kautsky an Mehring, 8. 7.1893, I M L / C P A , F. 201, op. 1, N r . 51.
»t« v g l .
U-
Franz, D e r neue Reichstag, in: Die N e u e Zeit, 11, 1892/93, Bd. 2, S. 452.
a.
Johannsen,
Harro,
Der Revisionismus der deutschen
1890-1914, phil. Diss., H a m b u r g 1954, S. 36 f.; Ritter, Gerhard
Sozialdemokratie
A., D i e A r b e i t e r b e w e -
gung im Wilhelminischen Reich. Die Sozialdemokratische Partei und die Freien G e werkschaften 1890—1900, (West-)Berlin 1963, S. 203; Grosser,
Dieter,
V o m monar-
chischen Konstitutionalismus zur parlamentarischen Demokratie. Die Verfassungspolitik der deutschen Parteien im letzten Jahrzehnt des Kaiserreichs, Den H a a g 1970, S. 33; Lamer,
Reinhard
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tischen Theorie im Zeitalter Bismarcks (1857—1890). Ein Beitrag zur Vorgeschichte des deutschen Parlamentarismus, Lübeck/Hamburg 1963, S. 114; Misch.
Axel,
Das
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Manfred Weiert
Bereits im nächsten Brief stimmte Kautsky ausdrücklich Mehring zu, daß der Militarismus nicht ruhig zusehen werde, „bis wir die Majorität haben und die demokratische Republik beschließen, worauf er gehorsam sich fügen und verschwinden wird". Vielmehr erwartete auch er einen harten Kampf, „vielleicht eher als wir glauben, einen Kampf, in dem wir mit rein parlamentarischen Mitteln nicht ausreichen werden". Damit zog er einen deutlichen Trennungsstrich zwischen sich und jenen Kräften, die auf ein „friedliches Hineinwachsen in den Sozialismus" setzten. Er war überzeugt, „daß der Parlamentarismus in Deutschland sich nicht beim eignen Zopf aus dem Sumpf ziehen kann, daß ein ohnmächtiges Parlament nicht durch Parlamentsbeschlüsse ein kraftvolles werden kann, daß das deutsche Parlament aus seiner Ohnmacht nur gerissen werden kann durch eine Aktion des Proletariats". Er hielt den Parlamentarismus für noch nicht erledigt und meinte, daß sich der Kampf der Arbeiterklasse schließlich doch nur um das Parlament drehen würde, denn: „Nur die parlamentarische Republik — ob mit oder ohne monarchistische Spitze nach englischem Muster — kann meines Erachtens den Boden bilden, aus dem die Diktatur des Proletariats, aus dem die sozialistische Gesellschaft erwachsen kann." Für ihn war diese Republik der Zukunftsstaat, und wie sich die Gesellschaft auf dieser Basis dann gestalte, wollte er der Zukunft überlassen. 160 Als sich Mehring nach dem Erscheinen der Broschüre Kautskys gegen dessen „allzu optimistische Auffassung" des Parlamentarismus aussprach161, erwiderte Kautsky, daß er nur warnen wollte, „eine beistimmte Phase des Parlamentarismus für diesen überhaupt zu halten und zu glauben, der jetzige bürgerliche Parlamentarismus, namentlich in Deutschland sei der notwendige Typus eines jeden Parlamentarismus". Wegen der ablehnenden Haltung der Anarchisten und der Anhänger der direkten Volksgesetzgebung wollte er zeigen, „was aus dem Parlamentarismus werden kann". 162 Hier wird wiederum deutlich, wie sich Richtiges und Falsches in den Auffassungen Kautskys mengten. Gegenüber dem existierenden bürgerlichen Parlamentarismus deutscher Prägung wäre eine parlamentarische Republik als Ergebnis des Kampfes der demokratischen Kräfte, vor allem der Arbeiterklasse, und als Alternative zu Absolutismus und Militarismus in der Tat ein bedeutsamer historischer Fortschritt gewesen. Die zielstrebige Ausnutzung des bürgerlichen Parlamentarismus als Bestandteil des Kampfes um die demokratische Republik entsprach dem Klasseninteresse des Proletariats, und deshalb war es auch notwendig, der Negierung oder Geringschätzung dieses Kampfes entgegenzutreten. Doch die verkürzte Revolutionsperspektive, das Verwischen der qualitativen Unterschiede zwischen den einzelnen Etappen des Weges der Arbeiterklasse zur politischen Macht hatte zur Folge, daß Kautsky lediglich Wandlungen im bürger-
161
Wahlsystem zwischen Theorie und Taktik. Zur Frage der Mehrheitswahl und Verhältniswahl in der Programmatik der Sozialdemokratie bis 1933, (West-)Berlin 1974, S. 122; Steinberg, Hans Josef, Sozialismus und deutsche Sozialdemokratie. Zur Ideologie und Politik der Partei vor dem I. Weltkrieg, Hannover 1967, S. 81. Kautsky an Mehring, 15. 7.1893, IML/CPA, F. 201, op. 1, Nr. 52. Mehring an Kautsky, 21. 9.1893, zit. nach Schleifstein, S. 270. Kautsky an Mehring, 13. 9.1893, IML/CPA, F. 201, op. 1, Nr. 53.
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liehen Parlamentarismus, nicht aber dessen Überwindung für notwendig erachtete. Im Gegensatz dazu erwartete Mehring im Falle einer Kräfteverschiebung zugunsten der Arbeiterklasse im Parlament die Zerschlagung des bürgerlichen Parlamentarismus und die Vernichtung des allgemeinen Stimmrechts durch den Militarismus. Damit wäre ein revolutionärer Zustand eingetreten, und „der bürgerliche Parlamentarismus kommt nicht wieder ans Tageslicht".163 Deshalb kritisierte er Kautsky, daß dieser „den Übergang vom bürgerlichen zum proletarischen Parlamentarismus zu ,gemütlich' beurteilte". 164 Obwohl die Vorstellung eines „proletarischen Parlamentarismus" davon zeugte, daß auch Mehring die neue Qualität der „arbeitenden Körperschaft" als Alternative zum bürgerlichen Parlamentarismus noch nicht erfaßt hatte, ging er doch auf grundlegend verschiedene Weise an das Problem heran: Während sich für Kautsky der revolutionäre Kampf letztendlich um das Parlament drehte, war f ü r Mehring die Ausnutzung des bürgerlichen Parlamentarismus eine Seite des Kampfes der Arbeiterklasse, der in die Revolution einmündete. Damit entsprach die Position Mehrings weitgehend der Auffassung von Friedrich Engels, für den der Wert des allgemeinen Wahlrechts vor allem darin bestand, daß es den Tag bestimmte, „an dem man für die Revolution zu den Waffen greifen muß; es steht sogar zehn zu eins, das das allgemeine Wahlrecht, von den Arbeitern geschickt genutzt, die herrschenden Kreise zwingen wird, die Gesetzlichkeit umzustoßen, d. h. uns in die günstige Lage zu versetzen, die Revolution durchzuführen". 165 Dort, wo sich Kautsky der Perspektive des bürgerlichen Parlamentarismus zuwandte, zeigen sich sehr deutlich jene Schwächen, die die revolutionäre deutsche Sozialdemokratie bei der Aneignung der marxistischen Staatstheorie bisher nicht zu überwinden vermocht hatte. Dessenungeachtet besaßen die Abschnitte seiner Arbeit, die der Begründung und Erläuterung der nächsten Aufgaben bei der Ausnutzung des bürgerlichen Parlamentarismus durch die Arbeiterklasse gewidmet waren, großen theoretischen und praktischen Wert. Dabei lieferte sie der internationalen Arbeiterbewegung wichtige Argumente zur Bekämpfung der revolutionären Phrasen der Anarchisten und der vulgärdemokratischen Illusionen der Anhänger einer direkten Volksgesetzgebung und vermittelte ihr wichtige Erfahrungen, die die deutsche Sozialdemokratie im parlamentarischen Kampf gewonnen hatte. Deshalb war diese Schrift ein wichtiger Beitrag Kautskys zu dem Klärungsprozeß, der vor und auf dem Züricher Kongreß über die Taktik der internationalen Arbeiterbewegung stattfand. In der unter aktiver Mitwirkung von Bebel, Kautsky und Liebknecht ausgearbeiteten und vom dritten Internationalen Sozialistischen Arbeiterkongreß verabschiedeten Resolution zur politischen Taktik hieß es: „Die Wahl der Formen und Arten des ökonomischen und politischen Kampfes muß den einzelnen Nationalitäten nach Maßgabe der besonderen Verhältnisse ihres Landes überlassen 104 163
Mehring an Kautsky, 15. 7.1893, zit. nach Schleifstein, S. 269. Mehring an Kautsky, 21. 9.1893, ebenda, S. 270. Engels an Paul Lafargue, 12.11.1892, in: MEW, Bd. 38, S. 513 f.
12 J a h r b u c h 25
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bleiben. Jedoch erklärte es der Kongreß für notwendig, daß bei diesen Kämpfen das revolutonäre Ziel der sozialistischen Bewegung, die vollständige ökonomische, politische und moralische Umgestaltung der heutigen Gesellschaft, im Vordergrund gehalten wird. In keinem Fall darf die politische Aktion als Vorwand für Kompromisse und Allianzen dienen, die eine Schädigung unserer Prinzipien oder unserer Selbständigkeit bedingen." Im Zusammenhang mit der eingangs der Resolution getroffenen Feststellung, „daß die politische Aktion nur ein Mittel zur Erlangung der ökonomischen Emanzipation des Proletariats ist", und der Forderung, „die politischen Machtmittel zu erobern, um sie aus Mitteln der Herrschaft des Kapitals in solche der Befreiung des Proletariats zu verwandeln", ließ das keinen Zweifel an den revolutionären Zielen aufkommen, die der Kongreß mit der politischen Aktion erstrebte.166 Bei der Erläuterung dieser Resolution unterstrich Vandervelde, „daß die parlamentarische Taktik nur ein Mittel zum Zweck sein könne, der Hauptzweck ist die Emanzipation des Proletariats", und betonte nachdrücklich, „daß die Machtfrage nicht auf dem Boden der Parlamente entschieden werden wird". Zu Recht wandten sich jedoch Vandervelde und Liebknecht gegen die Auffassung der Holländer, die die parlamentarische Tätigkeit von Sozialisten auf den reinen Protest beschränken wollten, weil jegliche parlamentarische Mitarbeit angeblich zur Korruption führen würde. Für Vandervelde lag Korruptionsrgefahr „nicht im Parlamentarismus selbst begründet, sondern darin, daß die Parlamente sich in der Hand der Bourgeoisie befinden; gelangen die Parlamente erst in die Hand des befreiten Proletariats, so ist der Korruption die Wurzel untergraben".167 Liebknecht hingegen betonte, daß „die Frage der Korruption . . . eine Frage der Organisation" wäre.168 Nannte der eine mit dem Hinweis auf die bürgerliche Klassenherrschaft die Ursache parlamentarischer Korruption, so verwies der andere genauso treffend auf das Mittel ihrer Bekämpfung: auf die revolutionäre Partei des Proletariats, die ihre Abgeordneten schon zu erziehen wüßte. Offensichtlich waren aber sowohl in Vanderveldes als auch in Liebknechts Darlegungen Tendenzen enthalten, die stark an die Anschauungen Kautskys erinnerten. Gleich Kautsky erwartete Vandervelde die Übernahme des Parlamentarismus durch die befreite Arbeiterklasse, nicht aber seine Überwindimg durch sie. Und Liebknechts Meinung, daß „die Staatsmaschinerie an sich" nicht reaktionär wäre169, konnte durchaus in gleicher Weise gedeutet werden. Die sich hier neuerlich offenbarenden Schwächen bei der Rezeption der marxistischen Staatstheorie machten sich auch in der Resolution über die politische Aktion der Sozialdemokratie geltend: die Notwendigkeit der Errichtung der Diktatur des Proletariats und der Zerschlagung der bürgerlichen Staatsin der Tonhalle iee Vgl, Protokoll des Internationalen Sozialistischen Arbeiterkongresses Zürich vom 6. bis 12. August 1893, hrsg. vom Organisationskomitee, Zürich 1894, S. 40. «" Ebenda, S. 41 f. 108 Ebenda, S. 45 f. 1W Vgl. ebenda.
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maschinerie fand keine Erwähnung. Unter diesen Umständen barg die Orientierung auf „die Erkämpfung und Ausübung der politischen Rechte, welche sich als notwendig erweisen, um die Forderungen der Arbeiter in allen gesetzgebenden und verwaltenden Körperschaften auf das nachdrücklichste und wirkungsvollste zur Geltung zu bringen"170, eine Überbewertung parlamentarischer Kampfmittel und -erfolge in sich. Trotz des eindeutigen Bekenntnisses zur Notwendigkeit der politischen Machteroberung blieben infolge der Unklarheiten über den Weg zur politischen Macht der Arbeiterklasse Ansatzpunkte für opportunistische Verfälschungen des revolutionären Geistes dieser Resolution. Begünstigt wurde dies dadurch, daß zur Abwehr der anarchistischen Angriffe von vornherein der Schwerpunkt der Kongreßdebatten über die politische Taktik der Sozialdemokratie bei Fragen des parlamentarischen Kampfes lag, dessen Nutzen und Aufgaben sehr breit erörtert, seine Grenzen und sein Verhältnis zu den anderen proletarischen Kampfformen hingeben nur global umrissen bzw. angedeutet wurden. Dennoch besaßen die Kongreßbeschlüsse großes politisches Gewicht: sie bedeuteten nicht nur eine Niederlage für die Anarchisten, sondern gaben zugleich den Parteien der II. Internationale wichtige Anregungen im Kampf um die Gewinnung der Massen. Die vom Züricher Kongreß ausgehenden Impulse und das starke Echo, das seine Beschlüsse in vielen Parteien der II. Internationale fanden, waren darüber hinaus ein glänzender Triumph der von der revolutionären deutschen Sozialdemokratie entwickelten und erprobten Wahlkampf- und Parlamentstaktik. Ebenda, S. 40.
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„Sozialismus und Landwirtschaft". Eduard David und der Agrarrevisionismus
Eduard David trat 1893 als bürgerlicher Intellektueller mit demokratisch-liberalem Gedankengut und elitärem Führungsanspruch gegenüber den Volksmassen der deutschen Sozialdemokratie bei. Kurz nach seinem Eintritt in die Partei hatte er Wilhelm Liebknecht noch versichert, daß er „nicht in die akademische Diskussion der Landagitationsfrage eingreifen" werde, da „die Tatsache dieser ländlichen und länglichen Erörterungen" an sich schon beweise, „daß hier die Fische auf's Trockene geraten". 1 Mit Beginn seiner politischen Tätigkeit beteiligte sich David aktiv an der sozialdemokratischen Landagitation. Aus den „Erfahrungen und Bedürfnissen der landagitatorischen Praxis" sei „der Anstoß zur Revision der agrarischen Vorstellungen" entsprungen. 2 Auf diese Revision zielte Davids Buch „Sozialismus und Landwirtschaft", dessen erster Band im Frühjahr 1903 unmittelbar vor den Reichstagswahlen im Verlag der „Sozialistischen Monatshefte" — und nicht, wie ursprünglich beabsichtigt, im Stuttgarter Parteiverlag — erschien.3 Marx und Engels hatten bei ihrer Untersuchung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse nachgewiesen, daß sich die kapitalistische Entwicklung in der Landwirtschaft — wenn auch langsamer — nach denselben ökonomischen Gesetzen vollzieht wie in der Industrie. 4 Im Erfurter Programm von 1891 wurde die Gesetzmäßigkeit des Untergangs des bäuerlichen Kleinbetriebes im Kapitalismus betont und festgestellt, daß die kapitalistische Entwicklung nicht nur für das Proletariat^ sondern auch für die Mittelschichten einschließlich der Bauern „wachsende Zunahme der Unsicherheit ihrer Existenz, des Elends, des Drucks, der Knechtung, der Erniedrigung, der Ausbeutung" 5 bringt. Das gemeinsame Interesse an der Überwindung derartiger unmenschlicher Zustände ermöglicht in 1 2
3
David an W. Liebknecht, 23. 3. 1894, in: IML/CPA, Fond 200, op. 4, egxp. Nr. 3866. David, Eduard, Socialismus und Landwirtschaft, Bd. 1, Berlin 1903, S. 37. Die vorliegende Studie beruht auf Müller, Eckhard, Die politische Tätigkeit des Revisionisten Eduard David in der deutschen Sozialdemokratie 1894—1907, Diss. A, Berlin 1979, und knüpft an die Forschungen von Hellmut Hesselbarth an. Vgl. Hesselbarth, Hellmut, Revolutionäre Sozialdemokraten, Opportunisten und die Bauern am Vorabend des Imperialismus, Berlin 1968; ders., Der aufkommende Revisionismus in der Bauernfrage und Karl Kautsky, in: Marxismus und deutsche Arbeiterbewegung, Berlin 1970, S. 331 ff. Vgl. David an Bernstein, 19. 11. 1899, in: IML/CPA, Fond 204, op. 1, Nr. 469.
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Eckhard Müller
erster Linie das Bündnis von Proletariat und Bauernschaft. Diese Schlußfolgerung wurde allerdings im Programm nicht klar formuliert. Marx und Engels sahen die Lösung der Bauernfrage stets in enger Verbindung mit dem Sturz der Ausbeuterordnung und der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat. „Die ausschließlich und lebenslänglich auf den Arbeitslohn angewiesene Klasse bildet noch immer bei weitem nicht die Mehrzahl des deutschen Volkes. Sie ist also auch auf Bundesgenossen angewiesen. Und diese können nur gesucht werden unter den . . . kleinen Bauern und Ackerbautagelöhnern."6 Auf dem Parteitag in Köln 1893 wurde die Frage der Landagitation besonders ausgiebig diskutiert. Man forderte mehr geschulte Redner in den Landgebieten, populär geschriebene Flugblätter und Broschüren, die den Landarbeitern und den Bauern die Ziele der Sozialdemokratie erläutern sollten, und statistisches Material über die Lage der Landbevölkerung, das für eine fruchtbare Landagitation unentbehrlich war. Aus allen Anträgen auf dem Kölner Parteitag war das Bemühen zu erkennen, den Einfluß der Partei auch auf das flache Land auszudehnen. Zugleich wurde aber auch die Unsicherheit in grundsätzlichen Fragen der marxistischen Agrartheorie sichtbar. Die Ausführungen im Erfurter Programm reichten nicht aus; die Parteimitglieder verlangten konkrete Richtlinien. Es wurde beschlossen, auf dem Parteitag von 1894 die Agrarfrage als besonderen Tagesordnungspunkt zu behandeln. Schoenlank und Vollmar wurden mit der Berichterstattung beauftragt.7 Die ungelösten Probleme in der Agrar- und Bauernfrage reizten David bei seinem Einstieg in die direkte politische Tätigkeit. Hier knüpfte er an, als er mit Simon Katzenstein 1893/94 die „Mitteldeutsche Sonntagszeitung" gründete: „Unser Blatt stellt sich die besondere Aufgabe, die kleinstädtisch-ländliche Arbeiter-, Handwerker- und Kleinbauernbevölkerung unserer Gegend in Masse aufzubrechen. Die aus fernen, großstädtischen Industriezentren kommenden, für politisch geschulte Arbeiter geschriebenen Parteiblätter erweisen sich für die Masse unserer größtenteils noch unaufgeschlossenen Mischbevölkerung nicht als geeignete ErVgl. Marx, Karl, Das Kapital. Dritter Band, in: MEW, Bd. 25, bes. S. 627 ff.; Engels, Friedrich, Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland, ebenda, Bd. 22, S. 483—505; vgl. Schmidt, Walter, Zur Entwicklung der Grundgedanken in der Bauernfrage bei Marx und Engels bis 1852, in: Friedrich Engels' Kampf und Vermächtnis, Berlin 1961, S. 284-304. & Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Erfurt vom 14. bis 20. 10. 1891, Berlin 1891, S. 3. e Engels, Friedrich, Vorbemerkung [zum zweiten Abdruck (1870) von „Der deutsche Bauerkrieg"], in: MEW, Bd. 16, S. 398; vgl. Schaaf, Fritz, Der Kampf der deutschen Arbeiterbewegung um die Landarbeiter und werktätigen Bauern 1848—1890, Berlin 1962. ' Vgl. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Köln vom 22. bis 28. 10. 1893, Berlin 1893, S. 243; vgl. Hesselbarth, Revolutionäre Sozialdemokraten, S. 79 ff.; Zimmermann, Fritz, Friedrich Engels' Hilfe für die deutsche Sozialdemokratie im Kampf gegen den Opportunismus in der Bauernfrage in den 90er Jahren des 19. Jh., in: BzG, 3,1961, Sonderh., S. 150 ff. 4
„Sozialismus und Landwirtschaft"
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schließungslektüre. Unser Blatt ist ein Versuch, der, wenn er gelingt, eine mehr als lokale Bedeutung für die Frage der Landagitation hat."8 Als „Neuhinzugekommener" engagierte sich David von vornherein für jene opportunistische Landagitation, die Karl Kautsky als „Politik der homöopathischen Dosen" bezeichnete, mit der Elemente angelockt würden, „die von unseren letzten Zielen nichts wissen wollen".9 Die spezifische Rolle Davids bestand darin, daß er an der Seite und als Vertreter Vollmars mit einer eigenen Wochenschrift, mit Artikeln bzw. Artikelserien im „Sozialdemokrat", in der „Leipziger Volkszeitung", im „Offenbacher Tageblatt", in der „Frankfurter Volksstimme", in der „Neuen Zeit", auf sozialdemokratischen Versammlungen im süddeutschen Raum, auf Parteikonferenzen der sozialdemokratischen Landesorganisation Hessens, mit Fragebogenerhebungen im süddeutschen Gebiet, in der sozialdemokratischen Agrarkommission und auf den Parteitagen in Frankfurt a. M. und Breslau große Aktivitäten für ein opportunistisches Programm „zur Rettung des bäurichen Mittelstandes"10 entfaltete. Maßgeblich wirkte David an der Formulierung des Agrarprogrammentwurfs des süddeutschen Unterausschusses der sozialdemokratischen Agrarkommission mit. 11 Vollmars Staatssozialismuskonzeption prägte diesen Entwurf. Auf der ersten Sitzung des süddeutschen Unterausschusses der sozialdemokratischen Agrarkommission am 21. und 22. April 1895 wurde nach der einstimmigen Billigung des Agrarprogrammentwurfs ein von David gemeinsam mit den süddeutschen sozialdemokratischen Landtagsabgeordneten Vollmar, Erhard und Joest abgestimmter Erhebungsbogen mit 40 Fragen verabschiedet und mit von David ausgearbeiteten Musterantworten an rund 1 000 süddeutsche Vertrauensleute verschickt.12 8
David an v. Vollmar, 4. 1. 1894, zit. nach Das Kriegstagebuch des Reichstagsabgeordneten Eduard David 1914 bis 1918. In Verbindung mit Erich Matthias bearb. von Susanne Miller, Düsseldorf 1966, S. XIV; vgl. Scheidemann, Philipp, Memoiren eines Sozialdemokraten, Bd. 1, Dresden 1928, S. 59 ff. a Kautsky, Karl, Das Erfurter Programm und die Landagitation, in: Die Neue Zeit, 13, 1894/95,1, S. 281. 1U Engels an Kautsky, 6. 5. 1895, in: Friedrich Engels' Briefwechsel mit Karl Kautsky, Wien 1955, S. 433. 11 Vgl. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei. Abgehalten zu Breslau vom 6. bis 12.10.1895 (im folg.: Protokoll des Breslauer Parteitages 1895), Berlin 1895, S. 210 f. Der Renegat Max Lorenz wertete den Entwurf des süddeutschen Unterausschusses als „ein historisches Dokument . . . in der Entwicklungsgeschichte der sozialdemokratischen Partei", da er „in jedem Satz ein Bruch mit allem" ist, „was bisher für sozialdemokratisch gegolten hatte". Lorenz publizierte den süddeutschen Entwurf zustimmend in seiner Broschüre Die Marxistische Sozialdemokratie, Leipzig 1896. 12 Ergebnisse der Fragebogen-Erhebung über die ländlichen Verhältnisse Süddeutschlands. Veranstaltet durch den Süddeutschen Unterausschuß der Sozialdemokratischen Agrarkommission und in dessen Auftrage bearbeitet von Eduard David. Erster Teil (Fragen 1—21), Nr. 1 der „Sammlung agrarpolitischer Schriften", Berlin 1895, S. 6; vgl. Vorwärts, 23. und 24. 4. 1895; Hesselbarth, Revolutionäre Sozialdemokraten, S.211 ff.
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David bearbeitete die eingehenden Ergebnisse, deren erster Teil 1895 in der ersten und einzigen Nummer der „Sammlung agrarpolitischer Schriften" im Verlag des „Vorwärts" kurz vor dem Breslauer Parteitag veröffentlicht wurde. Als Beispiel für die Fragebogenerhebung des süddeutschen Unterausschusses der Agrarkommission sollen die Fragen 9 und 18 wiedergegeben werden. Frage 9 lautete: „Gibt der Zwischenhandel beim Verkauf landwirtschaftlicher Erzeugnisse Anlaß zu Klagen und zu welchen?" Davids Musterantwort: „In anderen Gegenden wird sehr geklagt, bei uns wird durch Konkurrenz unter den Aufkäufern eine Schädigung ferngehalten; nur beim Getreide wird über Preisdruck geklagt." Ergebnis des Bearbeiters David: „Das ganze Resultat spricht nicht dafür, daß die produzierende Landbevölkerung allgemein über Unsolidität und Ringbildung seitens der Zwischenhändler Klage zu führen h a t . . . Die Klagen bei Getreide laufen nur auf Angaben wie,niedrige Preise',,Preisdruck' hinaus." Frage 18 lautete: „Wie ist das ganze Verhältnis zwischen den Bauern und ihren Dienstboten? — schroff oder umgänglich? Arbeiten, essen und leben sie zusammen oder getrennt?" Davids Musterantwort: „Leidlich umgänglich, zusammenarbeiten und leben, dienen der Verwandten usw. machen, daß das Gemeinsame des bäuerlichen Betriebes das Trennende (zwischen Arbeitgeber und Arbeiter) überwiegt." Ergebnis des Bearbeiters David: „Die Behandlung des Gesindes wird als schroff, sehr schroff, grob und ungebildet und ähnlich nur für 15 Erhebungsorte charakterisiert; in 13 wird sie als verschieden verzeichnet; in 158 lautet die Antwort = umgänglich, leidlich, verträglich, annehmbar, angänglich, zufriedenstellend, keine Klage, ziemlich gut. In 32 weiteren Orten wird das Verhältnis gekennzeichnet durch = gut, recht verträglich, geachtet, wie zur Familie gehörig, schönes patriarchalisches Verhältnis, sehr befriedigend, familiär und ähnliche Ausdrücke."13 Durch die beigelegten Musterantworten Davids wurden die Ergebnisse tendenziös beeinflußt und damit manipuliert. Die Münchener Sozialdemokraten J. Schmidt und A. Müller verwarfen die Methoden und den Inhalt der Fragebogenerhebung. David habe zu weiten Spielraum bei der Bearbeitung der Ergebnisse erhalten, so daß sie für die Agitation wertlos seien. „Zweifellos werden diejenigen, welche Dr. David bisher als großen Agrargelehrten bewunderten, ihre Ansicht nun insofern modifizieren, daß sie ihn von jetzt ab als glänzenden .positiven' Agrarpropheten anstaunen. Denn der veröffentlichte Teil der von ihm geleiteten Enquete hat in allen wesentlichen Punkten die in den Musterbogen niedergelegten Voraussagen vollauf eintreffen lassen."14 Auf Grundlage der Erfahrungen der opportunistischen Landagitation sowie von tendenziös gefärbtem empirischem Material bestritt David die Anwendung der ökonomischen Lehren von Marx auf die Landwirtschaft, konstruierte einen 13 14
Ergebnisse der Fragebogen-Erhebung, S. 12, 20. Schmidt, J./Müller, A., Noch einmal die sozialdemokratische Agrarenquete, in: Die Neue Zeit, 14, 1895/96, 1, S. 437; vgl. dies., Eine sozialdemokratische Agrar-Enquete, ebenda, S. 292 ff.
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Widerspruch von Theorie und Praxis der Sozialdemokratie und formulierte: „Die Landwirtschaft wächst auf ihre besondere Art in den Zukunftsstaat hinein."15 Auf diese Weise versuchte er, in den Sitzungen der gesamten Agrarkommission den Widerstand der revolutionären Sozialdemokraten gegen die von den Opportunisten geforderte Preisgabe marxistischer Grundauffassungen zu brechen. Die Opportunisten griffen die Bauernfrage auf, um sie als Ausgangspunkt zum Angriff auf die Politik und Theorie der revolutionären Sozialdemokratie zu gebrauchen. Aus den Verhandlungen der Agrarkommission, schrieb David, „habe ich die Quintessenz gezogen. Die Wissenschaft tut unserer Wissenschaft' so not wie das liebe Brot; wir marschieren bereits hinter der Linie; mausern oder verknöchern wird die Frage sein." Er berichtete Vollmar, daß er im Punkt 13 des Agrarprogrammentwurfs „die theoretische Konzession der möglichen Rationalität des Kleinbetriebes" gegenüber Bebel habe durchsetzen können.16 Der Punkt 13 lautete: „Bewirtschaftung der Staats- und Gemeindeländereien auf eigene Rechnung, oder Verpachtung an Genossenschaften von Landarbeitern und Kleinbauern oder soweit sich beides nicht als rationell erweist, Verpachtung an Selbstbewirtschafter unter Aufsicht des Staates oder der Gemeinde."17 Der Entwurf trug ausgesprochenen Kompromißcharakter. Neben berechtigten Forderungen wie der „Abschaffung aller mit dem Grundbesitz verbundenen behördlichen Funktionen und Privilegien" enthielt er Einzelheiten, die den Rahmen eines Programms sprengten, und auch Forderungen, die geeignet waren, unter den Bauern, aber auch unter dem Proletariat Illusionen über den Charakter des junkerlich-bourgeoisen Staates und die Tendenz und Wirkungsweise der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten hervorzurufen. „Was sagst Du zum Agrarprogramm?" fragte Kautsky bei Friedrich Engels an. „Ich bin nicht sehr davon erbaut, wie da der Grundbesitzerschutz als Aufgabe des Proletariats proklamiert wird."18 Der Führer des National-Sozialen Vereins Friedrich Naumann, mit dem David seit der Studentenzeit in persönlichem Kontakt stand, veröffentlichte 1895 den Agrarprogrammentwurf mit einem ausführlichen zustimmenden Kommentar. In den Vorschlägen der Agrarkommission sei „die Idee vom ,Klassenstaat' aufgegeben"19 worden. August Bebel war sich des Kompromißcharakters des Programmentwurfs bewußt. „Unser Agrarprogramm wird innerhalb der nächsten acht Tage veröffentlicht", informierte er Kautsky; „fall' aber nicht auf den Rücken über die Verbauerung, der das Programm verfallen ist. Und weiter tue mir den Gefallen und David, Eduard, Zur Landagitation in Mitteldeutschland, in: Der Sozialdemokrat, 20. 9.1894. 10 David an v. Vollmar, 3. 7.1895, zit. nach Lehmann, Hans Georg, Die Agrarfrage in der Theorie und Praxis der deutschen Sozialdemokratie. Vom Marxismus zum Revisionismus und Bolschewismus, Tübingen 1970, S. 174 ff. « Protokoll des Breslauer Parteitages 1895, S. 213; Vorwärts, 16. 7.1895. 18 Kautsky an Engels, 30. 7. 1895, in: Friedrich Engels' Briefwechsel mit Karl Kautsky, S. 443. 19 Naumann, Friedrich, Zum sozialdemokratischen Landprogramm, in: Die Hilfe, 1, 1895, Nr. 32,11. 8.1895.
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sorge für einen Kritiker, der es scharf unter die Lupe nimmt und verarbeitet. Daß Liebk[necht] und ich und andere Größen daran mitgebaut, darf Euch nicht abhalten, scharf zuzugreifen. Es ist nur möglich, wenn die Kritik von außen hilft." 20 Im gleichen Sinne schrieb Bebel an Engels: „Hoffentlich bist Du über unser Bauernprogramm vor Schreck nicht vom Stuhle gefallen, als Du es lasest. Du siehst dem Dinge an, daß es ein Kompromiß ist. Ich hoffe, daß jetzt die Kritik tüchtig einsetzt und wir verschiedenes auf dem Parteitag herauswerfen. Das Ding war eine Schwergeburt ersten Ranges, und wir sind tüchtig hintereinandergeraten." 21 Mit wem sich Bebel besonders auseinandersetzte, geht deutlich aus seinen Briefen an Kautsky hervor. „So wenig ich mit dem Inhalt zufrieden bin, so wenig ist es Vollmar. Dieser natürlich aus entgegengesetzten Gründen wie ich. David ist ein kleinbäuerlicher Doktrinär, ein schrecklich gehirnenger Mensch. Ich hoffe, Du gibst ihm oder läßt ihm die gebührende Antwort auf seinen letzten Artikel zukommen. Mit ihm hatte ich auch in der Kommission die heftigsten Kämpfe, da Vollm[ar] durch Krankheit verhindert war, bei der definitiven Festsetzung des Programms mitzuwirken." 22 Die Wiederveröffentlichung von Engels' „Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland" im „Vorwärts" vom 29. August bis 1. September 1895 gab den revolutionären Sozialdemokraten eine Orientierung im Kampf gegen die opportunistischen Vorstöße in der Agrar- und Bauernfrage. Auch David versuchte, seine opportunistischen Auffassungen zur Agrar- und Bauernfrage im „Vorwärts" Ende August/Anfang September 1895 zu publizieren. Der „Vorwärts'-Redakteur Adolph Braun lehnte jedoch eine fünfteilige Artikelserie Davids ab, da „dies ebenso unbescheiden von David wie doch allzu objektiv von uns dem Vertreter der unsozialistischen Anschauungen in der Agrarkommission und der Partei gegenüber wäre . . . Niemand hat bisher in dieser Weise den Raum des Vorwärts in Anspruch genommen." 23 Diese Artikelserie, in der David die opportunistischen Vorschläge der Agrarkommission verteidigte, publizierte wenig später die „Leipziger Volkszeitung". 24 Erstens wollte David mit der Artikelserie widerlegen, daß die Vorschläge der Agrarkommission staatssozialistische Tendenzen beinhalten würden. Er vertrat die vulgäre Auffassung, daß die Macht der Kapitalisten im Staat in erster Linie auf dem Wahlrecht ihrer Arbeiter beruhe. Zweitens versuchte David die opportunistischen Vorstöße in der Bauernfrage fälschlicherweise mit Zitaten von Friedrich Engels zur Bündnisfrage aus der Einleitung zum „Deutschen Bauernkrieg" von 1870 und aus der Arbeit „Die Bauernfrage in M
Bebel an Kautsky, 11. 7.1895, in: August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, hrsg. von Karl Kautsky jr., Assen 1971, S. 91. 21 Bebel an Engels, 17. 7.1895, in: August Bebels Briefwechsel mit Friedrich Engels, hrsg. von Werner Blumberg, London/The Hague/Paris 1965, S. 803. Bebel an Kautsky, 11. 7.1895. * Braun an W. Liebknecht, 2. 9.1895, in: IML/ZPA, NL 34/14. 24 David, Eduard, Zur Diskussion über den Agrarprogrammentwurf, in: Leipziger Volkszeitung, 16., 17. und 19.9.1895; vgl. Parvus, Dr. E. David im Kampf für das Agrarprogramm, in: Der Sozialdemokrat, 29. 9. und 3.10.1895.
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Frankreich und Deutschland" zu rechtfertigen. Er riß die Zitate aus dem konkreten Zusammenhang, indem er die sozialökonomischen Ausgangspositionen von Engels zur Bauernfrage verschwieg, von einer abstrakten Bauernschaft ausging und den Zusammenhang von sozialökonomischer Lage und dem kapitalistischen Differenzierungsprozeß der Bauernschaft auflöste. Drittens verknüpfte David die Bauernfrage mit dem Militarismusproblem und erweckte die illusionäre Vorstellung, daß mit dem Eingehen der Sozialdemokratie auf die Forderungen der kleinen Warenproduzenten in der Landwirtschaft der junkerlichbourgeoise Charakter des Heeres verändert werden könne. Die heftige Kritik an den Vorschlägen der Agrarkommission innerhalb der Partei veranlaßte die Opportunisten um Vollmar bereits im August zu der Erklärung, der vorliegende Entwurf sei unausgereift. Die Partei sei andererseits nicht hinreichend vorbereitet, um mit Sachkenntnis entscheiden zu können. Deshalb seien die Vorschläge in den Agrarausschuß zurückzuweisen und die Entscheidung um mindestens ein Jahr zu vertagen. Dadurch sollte eine Verurteilung des Opportunismus auf dem Breslauer Parteitag vermieden werden. David schloß sich dieser Taktik erst Ende September an und verfocht sie auf dem Breslauer Parteitag. Vollmar war durch Krankheit verhindert, daran teilzunehmen. Nun mußte Dävid „vornweg ins Feuer", um eine beschlußmäßige Bindung des Parteitages im Sinne der Gegner des opportunistischen Agrarprogramms zu verhindern. „Die Masse ist zu unselbständig", schrieb er an Vollmar. „Wären Sie doch in Breslau dabei! Dann könnte ich mich hinter Ihrem breiten Rücken bergen . . . Aber was tut man nicht alles für die Menschheit! Manchmal bewundere ich mich selbst. Dann tue ich mir wieder leid." 25 Kurz vor dem Parteitag 1895 betonte Bebel, daß die heterogene Zusammensetzung der Agrarkommission eine gemeinsame Interpretation ihrer Vorschläge unmöglich gemacht habe. Mit David habe er nicht nur ein kleines Scharmützel zu Beginn der Verhandlungen ausgefochten, sondern sich „mit ihm und teilweise auch mit anderen sehr scharf bei der Mehrzahl der Punkte auseinandergesetzt, und das dürfte auch wieder in Breslau zutage treten". 26 Unmittelbar vor Beginn des Breslauer Parteitages publizierte der „Vorwärts"' unter dem Titel „Karl Marx über das Kleinbauerntum" einen Auszug aus dem dritten Band des „Kapitals" als ideologische Hilfe für die revolutionären Kräfte zur Zurückweisung der opportunistischen Vorstöße in der Agrarfrage. 27 David stellte auf dem Parteitag die durch den Agrarprogrammentwurf angestrebte allmähliche Verstaatlichung und Munizipalisierung des Bodens in den Vordergrund und ließ seine Theorie vom ewigen Kleinbetrieb, der diese verstaatlichten Ländereien bewirtschaften sollte, aus dem Spiel. Jedoch in der Frage des Vorkaufsrechtes ließ Davids Diskussionsrede staatssozialistische Tendenzen erkennbar werden: Das Vorkaufsrecht „entspricht dem Ziel, das Ge25
David an v. Vollmar, 12.9.1895, zit. nach Hesselbarth, Revolutionäre Sozialdemokraten, S. 230, und Lehmann, S. 188. -ö Bebel an Kautsky, 27. 9. 1895, in: August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, S. 94 f. Vgl. Vorwärts, 4. und 5.10.1895.
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meindeeigentum zu vermehren und die heutige bloß politische Gemeinde allmählich in eine Wirtschaftsgemeinde überzuleiten". 28 Mehrere Delegierte verurteilten mit Recht die Vorschläge des Programms zur Bodenfrage. „Wir leben in einem kapitalistischen Staate, der durch Militarismus und Bürokratismus verbösert ist", rief Clara Zetkin aus und lehnte es ab, durch Vergrößerung der Staatsländereien die Machtmittel dieses Staates vermehren zu helfen. „Die Krautjunker, zusammen mit den Schlotjunkern haben den Staat . . . Könnte das Proletariat erst sagen: ,Die Staatsgewalt bin ich!', so lägen die Dinge wesentlich anders." 29 Nach viertägiger gründlicher Diskussion wurden die Agrarprogrammvorschläge abgelehnt unä mit überwiegender Mehrheit eine u. a. von Kautsky, Clara Zetkin und Paul Singer eingebrachte Resolution angenommen, die alle opportunistischen Vorstöße zur Untergrabung der marxistischen Prinzipien in der Agrarfrage zurückwies und die Vollmarsche Resolution des Frankfurter Parteitages 1894 überwand. Aber anstelle der kompromißhaften Programmvorschläge der Agrarkommission trat kein marxistisches Bauernprogramm. Die Resolution war, wie Kautsky treffend schrieb, „nur eine Warnungstafel und kein Wegweiser". 30 Die Schwäche der Diskussion und der Resolution war die Unterschätzung des Kampfes um Demokratie. Die demokratischen Forderungen der Bauern wurden ungenügend mit den unmittelbaren proletarischen Interessen verknüpft. 31 August Bebel vermochte die neuen Probleme in der Bündnisfrage tiefer zu erfassen. „Im Eifer zu verwerfen hat man dann auch Forderungen verworfen, die man dann vernünftigerweise gar nicht verwerfen konnte, nicht verwerfen durfte und deren Verwerfung auf dem Lande . . . den allerbösesten Eindruck macht, sogar bei den halb Tagelöhnern, halb Bauern." 32 Eduard David forderte in seiner „Mitteldeutschen Sonntagszeitung" unter der Überschrift „Es bleibt beim Alten!" dazu auf, die Breslauer Agrar-Resolution zu mißachten. 33 In Briefen an Vollmar entwickelte er seine weitere Marschroute. An der Resolution Kautskys werde sich „der theoretische Kampf entfachen. Das doktrinäre Fundament, auf dem sie ruht, muß zertrümmert werden, wenn gesundere Anschauungen über den Gang der Dinge und unsere agrarpolitischen Pflichten zur Geltung kommen sollen."34 28
Protokoll des Breslauer Parteitages 1895, S. 133. Ebenda, S. 140. M Kautsky, Karl, Und nochmals die Breslauer Resolution, in: Die Neue Zeit, 14, 1895/96, 1, S. 211; vgl. Hesselbarth, Der aufkommende Revisionismus. 31 Vgl. ders., Revolutionäre Sozialdemokraten, S. 241—243; Lage und Kampf der Landarbeiter im ostelbisdien Preußen (Vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zur Novemberrevolution 1918/19), Einltg. von Hans Hübner, Berlin 1977, S. XLVII (Archivalische Forschungen zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 8/1). 32 Bebel an Adler, 20. 10. 1895, in: Adler, Victor, Briefwechsel mit August Bebel und Karl Kautsky. Gesammelt und hrsg. von Friedrich Adler, Wien 1954, S. 194. 33 Vgl. Lehmann, Die Agrarfrage in Theorie und Praxis, S. 205 Anm. 9. 34 David an v. Vollmar, 16. 10. 1895, zit. nach ebenda, S. 200; vgl. David an v. Vollmar, 13.10.1895, ebenda, S. 203. 28
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Als seinen. Beitrag im Kampf gegen die marxistischen Auffassungen in der Agrar- und Bauernfrage betrachtete David die Schrift „Sozialismus und Landwirtschaft", an der er seit Mitte der 90er Jahre arbeitete. Das Buch schreite „langsam, aber sicher" voran, meldete er selbstgefällig Vollmar, und werde „zu starken Korrekturen der parteiüblichen Theorien" führen.35 Dabei konnte er sich ab 1897 auf seinen Einfluß als Landesparteisekretär der Landesorganisation Hessens und als sozialdemokratischer Landtagsabgeordneter stützen. Auf der hessischen Landeskonferenz 1898 referierte David zum Thema „Lehren der, Reichstagswahl". Seine Niederlage schrieb er dem Fehlen eines Agrarprogramms und der geringen Resonanz der sozialdemokratischen Landagitation zu. Er forderte die gesamte Sozialdemokratie auf, die Agrarfrage wiederum zu erörtern und die wirtschaftlichen Interessen der Bauernschaft zu vertreten.36 In diesem Sinne begründete David auf dem Stuttgarter Parteitag 1898 den Mainzer Antrag, der den sozialdemokratischen Vertretern in den Landtagen empfahl, „im Interesse eines einheitlichen Verhaltens in agrarpolitischen Fragen Fühlung miteinander aufzunehmen und den Entwurf eines agrarpolitischen Aktionsprogramms auszuarbeiten, der dem nächsten Parteitag zur Beratung und Beschlußfassung vorzulegen ist". Der Antrag wurde abgelehnt.37 Unmittelbar nach dem Stuttgarter Parteitag versicherte David Bernstein: „Ich stimme Ihrer Auffassung im wesentlichen zu. Betr. Landwirtschaft vertrete ich seit Jahren die Überzeugung, daß der Sozialisierungsprozeß ein anderer ist, als die Schablone des Erf[urter] Programms meint. Ich hoffe, diese Seite der Frage in einem umfangreichen Buch, das ich nächstes Frühjahr zum Druck denke fertig zu haben, so klarstellen zu können, daß die Mehrheit der Partei ihre Vorstellung korrigiert."38 Für David waren die ungelösten Probleme der Agrarfrage — insbesondere die sozialökonomische Entwicklung der Landwirtschaft und die Bündnisproblematik — Ansatzpunkt für sein Bestreben, revisionistische Auffassungen in der Agrarund Bauernfrage in die deutsche Sozialdemokratie hineinzutragen. Das war der wesentliche Grund für das Entstehen von Davids „Sozialismus und Landwirtschaft". Außerdem wollte er die Versuche Bernsteins zur Revision des Marxismus auf dem Gebiet der politischen Ökonomie direkt unterstützen. Im Briefwechsel mit Bernstein in den Jahren 1898 bis 1903 nahm deshalb die Agrarfrage einen festen Platz ein.39 David erklärte darin den konzeptionellen Aufbau seiner Schrift, suchte um Material über die landwirtschaftlichen Produ38 David an v. Vollmar, 21. 5.1898, ebenda, S. 220. ® Vgl. Vorwärts, 31. 8.1898. TJ Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Stuttgart vom 3. bis 8. 10.1898, Berlin 1898, S. 54, 165. m David an Bernstein, 3. 11. 1898, in: IML/CPA, Fond. 204, op. 1, Nr. 463; vgl. Bartel, Horst, Zur Auseinandersetzung zwischen Marxismus und Revisionismus in der deutschen Arbeiterbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts, in: BzG, 19, 1977, 2, S. 199-218. 30 David an Bernstein, 29. 4., 19. 5., 28. 8., 18. 9., 19.11. 1899; 17. 2., 17. 10. 1902, in: IML,/ CPA, Fond 204, op. 1, Nr. 464, 465,466, 467,469, 473, 475.
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zentengenossenschaften nach und begründete die Verzögerungen des Abschlusses der Arbeiten. Das Thema sei kompliziert, und ihm, „einem von opportunistischen Zweifeln angesteckten .Reformer'", mache die bürgerliche Fachwissenschaft schwer zu schaffen.40 Anfang 1899 wurde David bei seinen Studien zu „Sozialismus und Landwirtschaft" vom Erscheinen der Schrift Karl Kautskys „Die Agrarfrage" überrascht. In der Vorrede nannte Kautsky Gründe und Zweck seiner Arbeit: „Das Wachstum unserer Partei wie die Agrarkrise hatten sie (die Agrarfrage — E. M.) zu einer der wichtigsten unter den praktischen Fragen erhoben, mit denen sich die Sozialdemokratie zu befassen hat." Gleichzeitig sei sie „auch in den Vordergrund des theoretischen Interesses"41 getreten. Zunächst habe die Sozialdemokratie erwartet, „die ökonomische Entwicklung werde ihr auf dem Lande ebenso vorarbeiten wie in der Stadt und der Kampf zwischen Kleinbetrieb und Großbetrieb zur Verdrängung des ersteren führen, so daß es ihr dann leicht fallen würde, auch als rein proletarische Partei die Masse der Landbevölkerung zu gewinnen". Sobald die Sozialdemokratie tatsächlich aufs Land kam, habe sie gesehen, „daß der Kleinbetrieb in der Landwirtschaft keineswegs in raschem Verschwinden begriffen ist, daß die großen landwirtschaftlichen Betriebe nur langsam an Boden gewinnen, stellenweise sogar an Boden verlieren . . . Wir müssen untersuchen, ob und wie das Kapital sich der Landwirtschaft bemächtigt, sie umwälzt, alte Produktionsund Eigentumsformen unhaltbar macht und die Notwendigkeit neuer hervorbringt."*2 W. I. Lenin teilte das analytische Herangehen und alle wesentlichen Aussagen Kautskys, benutzte sie in seiner Argumentation gegen den Agrarrevisionismus und für seine marxistische Beantwortung der neu herangereiften Probleme in der Agrar- und Bündnisfrage.43 David bestimmte seinen in Arbeit befindlichen „Sozialismus und Landwirtschaft" als Gegenschrift zu Kautskys „Agrarfrage". „Das Kautskysche Buch traf mich mitten in der Arbeit an einem umfassenden Werke über wesentlich das gleiche Thema. Da ich zu teilweise sehr abweichenden Schlüssen über Gegenwart und Zukunft der Landwirtschaft und unsere Stellung zu ihr gelange, so erscheint mir die Fertigstellung dieser Arbeit jetzt um so dringender geboten."44 David und Kautsky standen sich somit als Kontrahenten in der Agrarfrage gegenüber. David an Bernstein, 31.1.1903, ebenda, Nr. 477. Kautsky, Karl, Die Agrarfrage. Eine Übersicht über die Tendenzen der modernen Landwirtschaft und die Agrarpolitik der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, S. Vf.; vgl. Hesselbarth, Der aufkommende Revisionismus. 1,2 Kautsky, Die Agrarfrage, S. 4—6; vgl. Ballwanz, Ilona, Auswirkungen sozialökonomischer Veränderungen in der deutschen Landwirtschaft in den 90er Jahren des 19. Jh., in: Wissenschaftliche Mitteilungen der Historiker-Gesellschaft der DDR, Berlin 1978, I - I I I , S. 224-236. 43 Vgl. Lenin, W. 1., Rezension über das Buch von K. Kautsky „Die Agrarfrage", in: Werke, Bd. 4, S. 86; vgl. auch ders., Der Kapitalismus in der Landwirtschaft (über das Buch Kautskys und einen Artikel des Herrn Bulgakow), ebenda, S. 95—150. Vt David, Eduard, Kritische Bemerkungen zu Kautskys „Agrarfrage", in: Die Neue Zeit, 18,1899/1900, 1, S. 228.
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In den „Sozialistischen Monatsheften" polemisierte David hn Februar 1899 gegen Kautskys „Agrarfrage". Er behauptete, daß „in viel höherem Maße . . . die Fortschritte der modernen Landwirtschaft in die kleinbäuerliche Betriebsweise eingedrungen" seien. Die maschinelle Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion ausklammernd, bezog er die Fortschritte in der Landwirtschaft auf die Anwendung der Erkenntnisse der Wissenschaft (chemische Düngung, Bodenverbesserung, rationelle Fruchtwechselfolge, Verbesserung des Saatgutes und der Viehbestände) und auf die Organisation der Verwertung der landwirtschaftlichen Erzeugnisse und des Kreditwesens. Auf dieser Grundlage sah er den bäuerlichen Familienbetrieb als rationellste Form der landwirtschaftlichen Betriebstechnik an. Er empfahl die Umstellung der Produktion auf Fleisch, Milch, Obst und Gemüse, um sich der internationalen Konkurrenz entziehen zu können.45 Rosa Luxemburg kennzeichnete den Artikel Davids als erneutes Aufkommen des „Agraropportunismus". 46 Lenin charakterisierte David als Kleinbürger und die inhaltliche Tendenz seines Artikels als „ein charakteristisches Beispiel für den Unfug, der mit dem Begriff Kleinbauer getrieben wird". 47 Er kritisiert die enge Betrachtungsweise Davids, der keine Angaben zur Lohnarbeit und überarbeit in der Landwirtschaft machte, sich nur auf kleinbäuerliche Betriebe in Hessen und Baden bezog und diese nicht in den Gesamtzusammenhang der Agrarverhältnisse einordnete. Unmittelbar vor dem Hannoverschen Parteitag 1899 setzte sich David im „Vorwärts" wiederum mit Kautskys „Agrarfrage" auseinander. Die Sozialdemokratie sei in großer Verlegenheit, weil sie noch nicht wisse, wie die Landwirtschaft in der sozialistischen Gesellschaft organisiert werden solle. „Wer Kautskys .Agrarfrage' in der Hoffnung durchgelesen hat, aus dieser Verlegenheit befreit zu werden und zugleich eine zugkräftige Agitationsparole zur Eroberung der politischen Macht auf dem Lande zu erhalten, der dürfte bitter enttäuscht worden sein." Die landwirtschaftliche Entwicklung mache die Revision der marxistischen politischen Ökonomie notwendig, da die bäuerlichen Klein- und Mittelbetriebe und damit die klein- und mittelbäuerlichen Schichten zunähmen. Darauf müsse sich die Sozialdemokratie einstellen, denn sie könne die politische Macht „ohne die Gewinnung der in der Landwirtschaft beschäftigten Volksmassen" 48 nicht erobern. Zugleich verwies David auf eine Arbeit des österreichischen Revisionisten Friedrich Hertz, „Die agrarischen Fragen im Verhältnis zum Sozialismus", die ebenfalls die Überlegenheit des Kleinbetriebes in der Landwirtschaft behauptete und deren Vorwort bezeichnenderweise Bernstein verfaßt hatte. Die „Herstellung 40
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Ders., Bäuerliche Barbaren, in: Sozialistische Monatshefte, 1899, S. 62 ff.; vgl. Müller, Gerhard, Der kapitalistische Charakter der agrarpolitischen Grundlagen der bürgerlichen landwirtschaftlichen Betriebslehre, phil. Diss. Berlin 1962, S. 25 f. Luxemburg an Jogiches, 4. 3. 1899, in: Luksemburg, Rósza, Listy do Leona JogichesTyszki, Bd. 1, Warszawa 1968, S. 396 f. Lenin, W. I., Kritische Bemerkungen zu dem Artikel von E. David „Bäuerliche Barbaren", in: Werke, Bd. 40, S. 91. David, Eduard, Neues zur Agrarfrage, in: Vorwärts, 5.10.1899.
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des mit den gegebenen Mitteln höchstmöglichen materiellen Wohlstands", so proklamierte Bernstein, müsse Ausgang jeder volkswirtschaftlichen Betrachtung sein, solle sie nicht zu falschen Schlüssen gelangen. „Im Hinblick auf dieses Ziel ist der Sozialismus selbst nur ein Mittel, dessen Zweckmäßigkeit sich daran bewährt, wie es dem gestellten Ziel gerecht wird. Für den Sozialisten steht also mit Bezug auf die Landwirtschaft die Frage so: wie sind mit dem Sozialismus diejenigen Formen und Organisationen der Bodenbewirtschaftung vereinbar, die in jedem konkreten Falle ohne Raubbau an Mensch und Boden die jeweilig möglichst ertragreiche Ausnutzung des Letzeren verbürgen?" 49 Diese Konzeption floß auch in Davids Plädoyer für Bernstein auf dem Hannoverschen Parteitag 1899 ein. In Anlehnung an Bernstein behauptete er, daß die von Marx entdeckte geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation nicht stimme. Methodisch gingen sie beide von den deutschen landwirtschaftlichen Betriebszählungen 1882 und 1895 aus und folgerten daraus, daß in der Landwirtschaft weder eine Konzentration der Produktionsmittel noch des Eigentums stattfinde und demgemäß die Marxsche Konzentrationslehre für die Landwirtschaft generell nicht zuträfe. Bei der Analyse des industriellen Produktionsvorganges habe Marx „auch zahlreiche Seitenblicke auf die Landwirtschaft" geworfen, aber nicht den Wesensunterschied zwischen industrieller und landwirtschaftlicher Produktion erörtert. „Das ist auffallend; aber es erklärt sich daraus, daß Marx in erster Linie die Gesetze des Wertbildungsprozesses, nicht des Produktbildungsprozesses darlegen wollte." 50 Das wäre die Quelle zu einer der irrtümlichsten Auffassungen bei Marx. Die einzige spezifische Eigentümlichkeit, der Marx entgegengetreten, sei die landwirtschaftliche Grundrente gewesen. Nach David müßten vor allem die biologischen Gesetze im landwirtschaftlichen Produktionsprozeß und ihre Auswirkungen auf die Betriebsform in Betracht gezogen werden. Auf dieser Basis legte David seine Theorie von der Stabilität der klein- und mittelbäuerlichen Wirtschaften dar und griff dabei prinzipielle Positionen der marxistischen politischen Ökonomie an. August Bebel hatte demgegenüber in seinem Referat zur Bernsteinfrage den zunehmenden kapitalistischen Charakter der Landwirtschaft, insbesondere den Konzentrationsprozeß der Produktionsmittel und des Eigentums, unterstrichen. Er stützte sich auf die Ergebnisse von Kautskys „Agrarfrage". Bebel verwies darauf, daß es dem junkerlich-bourgeoisen Staat mit seiner Gesetzgebung möglich sei, wirksam „die natürliche Entwicklung" zu stören, was für die Richtung der sozialdemokratischen Agitation auf dem Lande von großer Wichtigkeit sei. Namentlich der preußische Staat versuche, den' Konzentrationsprozeß in der Landwirtschaft zu hemmen, um die landwirtschaftliche Bevölkerung in ihrer konservativen Grundhaltung zu bestärken. 51 Die revisionistischen Auffassungen Davids zu den Entwicklungstendenzen in der VJ
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Hertz, Friedrich Otto, Die agrarischen Fragen im Verhältnis zum Sozialismus. Mit einer Vorrede von Ed. Bernstein, Wien 1899, S. VI. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Hannover vom 9. bis 14.10.1899, (im folg.: Protokoll des Hannoveranischen Parteitages 1899), Berlin 1899, S. 134.
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Landwirtschaft wiesen in der Diskussion speziell Hofer, Kautsky, Stolle und Ledebour zurück. 52 Kautsky betonte, daß David an das Verhältnis von Groß- und Kleinbetrieb schematisch, einseitig, undifferenziert, unkritisch und ohne Beachtung regionaler Unterschiede herangehe. David vergleiche nur die feudale Großgrundwirtschaft in Ostelbien mit den westdeutschen Klein- und Mittelbauern und sähe so nicht die kapitalistische Großlandwirtschaft in Sachsen, in SachsenAnhalt und in Süd-Hannover, die f ü r die künftige Entwicklung der Landwirtschaft f ü r ganz Deutschland typisch werde. 53 Im Novemberheft der „Neuen Zeit" erschien Davids Polemik gegen Kautskys „Agrarfrage". Die Redaktion erklärte in einer Anmerkung: „Vorliegende Arbeit war schon Mitte Februar d. J. in unseren Händen. Nach Rücksprache mit Genossen David verschoben wir ihren Abdruck bis nach der Erledigung der Diskussion mit Bernstein, um nicht die Polemik in der ,Neuen Zeit' überwuchern zu lassen" 54 , was David als zwangsweises Verfahren 5 5 bezeichnete. In dem Artikel suchte David die Frage der Hypothekarverschuldung der Landwirte zu deuten. Er erkannte den Konzentrationsprozeß von Hypotheken in den Händen von Hypothekenbanken und Sparkassen an. Aber diese Institutionen würden den Konzentrationsprozeß nicht mit ihrem eigenen Gelde besorgen, sondern mit dem anderer Leute, der Käufer von Pfandbriefen, der Sparkasseneinleger usw. Im Gegensatz zu Kautsky, der die Hypothekarverschuldung als Teil des kapitalistischen Konzentrationsprozesses in der Landwirtschaft charakterisiert hatte 56 , behauptete David, daß sich hinter der Zentralisierung der Hypo-1 thekarkredite eine Dezentralisierung des Grundeigentums verberge und daraus „eine fortschreitende Expropriation der Landwirte" durch Hypothekargläubiger nicht hergeleitet werden könne. Für David war „der Kleinbetrieb in der Landwirtschaft . . . keine untergehende, sondern eine aufsteigende Betriebsform" 57 , und dieser Entwicklung müsse sich die Sozialdemokratie in Theorie und Praxis anpassen. Karl Kautsky antwortete in einer fünfteiligen Artikelserie „Zwei Kritiker meiner Agrarfrage'". 5 8 Prinzipiell stellte er dabei fest, daß die Gegensätze zwischen ihm und David unterschiedlichen Standpunkten und Betrachtungsweisen über die soziale Frage und die Gesellschaft entsprängen. David sei ein Ideologe des Kleinbauern- und Kleinbürgertums, der ihre Widersprüche, die „gleichzeitig Arbeiter 51
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Ebenda, S. 105; vgl. Baudis, Dieter/Nussbaum, Helga, Wirtschaft und Staat in Deutschland vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1918/19, Berlin 1978, S. 224-248; Ballwanz, Ilona, Sozialstruktur und Produktionsentwicklung der deutschen Landwirtschaft von 1871-1914, phil. Diss. Rostock 1977, S. 221-242. Vgl. Protokoll des Hannoveranischen Parteitages 1899, S. 163,176,184,195 f. Vgl. ebenda, S. 176. David, Kritische Bemerkungen zu Kautskys „Agrarfrage", S. 228 ff., 260 ff.; Redaktionelle Anmerkung, S. 228. Vgl. David an Bernstein, 19. 5., 28. 8. und 19.11.1899. Kautsky, Die Agrarfrage, S. 86 ff. David, Kritische Bemerkungen zu Kautskys „Agrarfrage", S. 264. Kautsky, Karl, Zwei Kritiker meiner „Agrarfrage", in: Die Neue Zeit, 18, 1899/1900, 1, S. 292 ff., 338 ff., 363 ff., 428 ff., 470 ff.
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und Unternehmer" sind, „in sich vereinigt, bald zu der einen, bald zu der anderen neigt, einmal die eine, einmal die andere verrät". Sollten Davids Auffassungen in der deutschen Sozialdemokratie populär werden, dann würde es nach Kautsky Zeit, „daß die Sozialdemokraten zum Unterschied von dieser Sorte Sozialisten sich wieder Kommunisten nennen, wie die Verfasser des .Kommunistischen Manifests' getan".59 Kautsky stellte David als isoliert und ohne Rückendeckung in der deutschen Sozialdemokratie hin, dessen Auffassungen „keine Gefahr für die Einigkeit der Partei" 60 bildeten. Von Davids Buch über die Agrarfrage erwartete Kautsky wesentliche Aussagen über die Auffassungen der Revisionisten. In der Revisionismusdebatte 1898/99 verharmloste David den Angriff Bernsteins auf den Marxismus, indem er sich auf das Recht der „freien und voraussetzungslosen Kritik und wissenschaftlichen Forschung" in der Partei berief. Für Bernstein war die sozialistische Lehre „gerade soweit Wissenschaft, als ihre Sätze auch von jedem vorurteilsfreien, nicht durch gegenteilige Interessen beeinflußten Nichtsozialisten unterschrieben werden können".61 In seinen Briefen an Bernstein erklärte sich David mit den Thesen Bernsteins einverstanden und bestärkte ihn, die theoretische Kritik am Marxismus weiterzuführen. Kautskys Betrachtung zum Parteitag sei „sehr elegisch. Er scheint doch zu fühlen, daß er in Hannover keine Lorbeeren gepflückt hat." In Breslau 1895 und Stuttgart 1898 hätten ihm die Delegierten gläubig gelauscht, ihn in Hannover 1899 aber skeptisch angehört und „bei der sophistischen Kladderadatsch-Rederei" verhöhnt. David begreife so die „nervöse Ermattung" Kautskys. „Er mag fühlen, daß die wissenschaftliche Lebensaufgabe, die ihm seiner Zeit wohlverdienten Ruhm eingebracht hat, die Popularisierung und Verteidigung des Marxschen Systems, erfüllt ist; daß er sie über den kritischen Punkt hinaus festgehalten hat und durch diese Verbissenheit aus einem Bahnbrecher des Neuen ein Verteidiger des Überwundenen geworden ist. Ob er nicht lichte Augenblicke hat, wo er Sie beneidet? — Und nun droht ihm noch die Abrechnung in der Agrarfrage." 62 David behauptete, die Entwicklung der marxistischen Theorie sei an einem kritischen Punkt angelangt, und stimmte mit Bernstein überein, daß der Marxismus veraltet und ein Dogma wäre Er negierte damit die Ansätze zur schöpferischen Weiterentwicklung des Marxismus durch die fortgeschrittensten Kräfte. David forderte, daß sich die Sozialdemokratie von den marxistischen Thesen des Erfurter Programms in Theorie und Praxis löse. In der politischen Tätigkeit sei die Sozialdemokratie bereits „auf dem Wege des praktischen Opportunismus'".63 Die revolutionären Sozialdemokraten hatten es abgelehnt, auf die redaktionelle
»» Ebenda, S. 293, 296. °> Ebenda, S. 476. 61 Bernstein, Eduard, Der Kernpunkt des Streites (Ein Schlußwort zur Frage: Wie ist wissenschaftlicher Sozialismus möglich?), in: Sozialistische Monatshefte, 1901, S. 782. 62 David an Bernstein, 19.11.1899. 03 Vgl. David, Eduard, Die Ergebnissse des Hannoverschen Parteitages, in: Sozialistische Monatshefte, 1899, S. 600; ders., Warum konnten die ,Bernsteinianer' für die Resolution Bebels stimmen?, ebenda, S. 550 ff.
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Umfrage der „Sozialistischen Monatshefte" zu den Ergebnissen des Hannoverschen Parteitages zu antworten. August Bebel konstatierte, daß sich „die ,Bernsteinianer', mit David und Arons an der Spitze . . . zu Einsendungen drängten". 64 Victor Adler antwortete ihm: „Auf die Entwicklung des David bin ich begierig. Er scheint ja ein sachlich unterrichteter Mann zu sein und daß er ein Fanatiker ist, macht mir ihn sympathischer als die Zyniker. Sein Aufsatz in den S o z i a listischen] Monatsh[eften] hat mir den unangenehmsten Eindruck gemacht: eine kleinliche Wortklauberei, die selbst, wo sie witzig ist, peinlich wirkt. Hannover in einen Sieg der Bernst[einianer] umzulügen kann ihm nicht jjelingen und wenn er noch so sehr mit einem jesuitischen Diplomatentum prahlt, das er in dem Grade gar nicht besitzt." 65 Bebel charakterisierte David ähnlich wie in den Agrardebatten Mitte der 90er Jahre als einen Schulmeister, der zwar „scharfsinnig, aber [es] nur auf einem beschränkten Gebiet" sei, „ein Klein- und Krimskramsmensch, dem jede Fähigkeit über eine gewisse Grenze zu sehen abgeht". 66 Von zugespitzten Einschätzungen Bebels zu David konnte hier nicht die Rede sein. Eher deuten Bebels Äußerungen darauf hin, daß er den politischen Aussagen und Aktivitäten Davids nicht allzuviel große Aufmerksamkeit schenkte. Es scheint fast, daß er von der Demagogie Davids getäuscht wurde. Bebel unterschätzte in diesem Falle die Gefährlichkeit der theoretischen Tätigkeit der Revisionisten f ü r den politischen Kampf der Partei, aber auch die verschiedenen Gesichter, Formen und verteilten Rollen innerhalb der opportunistischen Strömung. Zugleich m u ß darauf verwiesen werden, daß auf den Parteitagen der deutschen Sozialdemokratie um die Jahrhundertwende, entgegen den Forderungen von Rosa Luxemburg und Clara Zetkin, die Grenze der „Freiheit der wissenschaftlichen Kritik und Forschung" nicht bestimmt worden war. Damit blieb der Spielraum f ü r die uneingeschränkte Marxismuskritik der Revisionisten innerhalb der Partei erhalten. Von dieser theoretischen Schwäche profitierte David. Er bestritt, daß der Marxismus die theoretische Grundlage f ü r das praktische Handeln der Sozialdemokratie ist. Wie Bernstein nahm David in Anspruch; die Theorie in Übereinstimmung mit der sozialökonomischen Praxis bringen zu wollen. 67 Dabei stellte er die Behauptung auf, Unabhängigkeit von Ideologie sei eine unabdingbare Voraussetzung wissenschaftlicher Erkenntnis. „Die wissenschaftliche Forschung hat über den Parteien zu stehen." 68 Lenin griff in der Schrift „Was tun?" die Feststellung der deutschen Marxisten auf, „daß die vielgerühmte Freiheit der Kritik nicht das Ablösen einer Theorie durch eine andere bedeutet, sondern das Freisein von jeder geschlossenen und durchdachten Theorie, daß sie Eklektizismus und Prinzipienlosigkeit bedeutet" 69 , 6
'* Bebel an Adler, 24.11.1899, in: Adler, Briefwechsel, S. 332. Adler an Bebel, 30.11.1899, ebenda, S. 334 f. w Bebel an Adler, 5.12.1899, ebenda, S. 336. 67 David, Eduard, Die neuere Entwicklung des Agrarproblems innerhalb der Sozialdemokratie, in: Sozialistische Monatshefte, 1902, S. 369 ff.; ders., Rückblick auf Jena, ebenda, 1905, S. 841 ff. w Ders., Socialismus und Landwirtschaft, S. 57; ders., Die neuere Entwicklung des 65
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und charakterisierte diese Losung als die „Freiheit der opportunistischen Richtung in der Sozialdemokratie", die Partei „in eine demokratische Reformpartei zu verwandeln, die Freiheit, bürgerliche Elemente in den Sozialismus hineinzutragen".70 Mit der These von der „Wertfreiheit" und „Unparteilichkeit" der Wissenschaft versuchte David zu verschleiern, daß die Revisionisten eine marxistisch getarnte Kritik an den Grundpositionen des Marxismus vornahmen und damit bürgerliche Ideologie in die Arbeiterbewegung hineintrugen. Bei diesem Prozeß spielten die seit 1897 erscheinenden „Sozialistischen Monatshefte", die sich unter der Bezeichnung „Freies Diskussionsorgan für alle Anschauungen auf dem gemeinsamen Boden des Sozialismus" zur „Musterzeitschrift der Opportunisten" entwickelt hatten, eine wesentliche Rolle. Die Zeitschrift war jedoch kein offizielles sozialdemokratisches Presseorgan. Bebel charakterisierte Joseph Bloch, ihren Herausgeber, als Nationalliberalen.71 Bloch und eine kleine Gruppe von Revisionisten, wie Heine, Bernstein und David, bestimmten die politisch-ideologische Grundlinie der revisionistischen Zeitschrift.72 Obwohl David auf dem Münchener Parteitag 1902 als Mitglied der Kontrollkommission der deutschen Sozialdemokratie „abgewählt" wurde73, fiel für ihn Agrarproblems, S. 374; vgl. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Lübeck vom 22. bis 28. 9. 1901 (im folg.: Protokoll des Lübecker Parteitages 1901), Berlin 1901, S. 163. w Lenin, W. I., Was tun?, in: Werke, Bd. 5, S. 379. w Ebenda, S. 364. 71 Vgl. Bebel an Ulrich, 2. 8. 1910, in: Ulrich, Carl, Erinnerungen des ersten hessischen Staatspräsidenten, hrsg. von Ludwig Bergsträsser, Offenbach/M. 1953, S. 209. 12 Vgl. Fricke, Dieter, Eine Musterzeitschrift des Opportunismus. Die „Sozialistischen Monatshefte" am Ende der relativ friedlichen Entwicklung des Kapitalismus in Deutschland (1909), in: ZfG, 21,1973,10, S. 1210. 73 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu München vom 14. bis 20. 9. 1902, Berlin 1902, S. 94, 271. Zur Kontrollkommission vgl. Fricke, Dieter, Die deutsche Arbeiterbewegung 1869 bis 1914. Ein Handbuch über ihre Organisation und Tätigkeit im Klassenkampf, Berlin 1976, S. 297 f. „Von dem Münchener Parteitag bin ich sehr befriedigt", erklärte Kautsky. „Er bedeutete einen größeren moralischen Sieg, als ein anderer der letzten Parteitage seit Hannover, was sich am deutlichsten in den Wahlen zur Kontrollkommission zeigt. Es entspricht der herkömmlichen Höflichkeit in der Partei, daß man einen Repräsentanten des Landes, in dem man tagt, in die Kontrollkommission wählt, wenn eine Lücke in dieser vorhanden, ebenso wie es üblich ist, die bisherigen Mitglieder wiederzuwählen, wenn man mit ihnen zufrieden ist. Diesmal war eine Lücke, Metzner war gestorben. Aber an seine Stelle kam nicht Vollmar, trotzdem der Parteitag in München tagte, sondern ein ganz Unbekannter; und David wieder, der der erwähnten Höflichkeit in Mainz seine Wahl in die Kommission verdankt hatte, fiel diesmal durch, was in unserer Partei ein Zeichen ernstlicher Mißbilligung ist. Und das geschah ganz spontan, ohne irgendeine Agitation gegen ihn. Bernstein selbst spielte eine klägliche Rolle. Der nationalsoziale Pfarrer Naumann gibt ihn schon a u f . . . ,Der theoretische Revisionismus ist tot. Was fortlebt ist der praktische Revisionismus, der durch Briefe und Konventikel seine Ideen in die Partei einzuschmuggeln sucht.'
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das „Gericht in München" milder als erwartet aus. Der Parteitag habe gezeigt, „daß die geistige Betätigungsfreiheit ein unantastbares Gut sein muß, das höher steht als alle Autorität".™ Er setzte in der deutschen Sozialdemokratie systematisch seine revisionistische Zersetzungsarbeit an der Theorie und Praxis der revolutionären Partei fort. In der Agrar- und Bauernfrage, die neue schöpferische Lösungen von den fortgeschrittensten marxistischen Kräften in der Arbeiterbewegung verlangte, versuchte er, die deutsche Sozialdemokratie auf antimarxistische Positionen abzudrängen. Im Sommer 1900 hatte sich David bereits mit dem Entwurf eines Agrarprogramms des National-Sozialen Vereins identifiziert, der die Schaffung eines lebensfähigen unabhängigen Bauerntums mittels innerer Kolonisation forderte. 75 Davids Ausgangsthese war, daß die „Wesensverschiedenheit" von Industrie und Landwirtschaft „Entwicklungsverschiedenheit" bedinge. Das Eindringen des Kapitals in die Landwirtschaft habe nur sekundäre Bedeutung; die Entwicklung der Landwirtschaft könne durch das Kapital zwar modifiziert, aber nicht, wie Kautsky meine, bestimmt werden.76 Die Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion sah er weniger durch erhöhten Kapitaleinsatz als primär in der intensiveren Arbeit der Mitglieder der bäuerlichen Familienbetriebe. Zugleich entstellte David, wie die bürgerlichen Ökonomen, den Kapitalbegriff, indem er den Kapitalcharakter als eine natürliche Eigenschaft der Produktionsmittel ansah, statt als ein historisch bedingtes Verhältnis zwischen den Menschen in der Produktion. So betrachtete er die Entwicklungstendenzen in der Landwirtschaft losgelöst von der gesamten gesellschaftlichen Produktion. Kautskys marxistische These von der „Wiedervereinigung von Industrie und Landwirtschaft" 77 wurde von David angegriffen. Als das Wesen der Landwirtschaft bestimmte er den rein organischen Prozeß, der nicht mechanisiert werden könne. Sobald der organische Prozeß erloschen sei, behauptete David, „hört die eigentliche landwirtschaftliche Produktion auf. Die Erntearbeit bildet den Übergang aus der landwirtschaftlichen in die industrielle Produktionssphäre."78 Ausgehend davon griff er die marxi-
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Also aus einer Revision der Theorie wird die Bernsteinerei zur Intrige einiger Streber. Das ist sehr richtig die Kennzeichnung des augenblicklichen Standes der revisionistischen Bewegung in Deutschland". Kautsky an Plechanow, 29. 9. 1902, in: IML/ ZPA, NL 55/5. — Rosa Luxemburg glaubte sich daher auf dem Münchener Parteitag in der Auseinandersetzung mit den Revisionisten von ihren Kampfgefährten zurückgewiesen. Mittels des Verfahrensweges sei sie durch Kautsky, Singer und Vollmar gehindert worden, an diesen Diskussionen teilzunehmen, um „vorzubeugen, daß ich mit allzu scharfen Tönen . . . ö l ins Feuer gießen sollte. Ich bin von all dem so deprimiert." (Rosa Luxemburg an Leo Jogiches, 18. 9. 1902, zit. nach Laschitza, Annelies/Radczun, Günter, Rosa Luxemburg. Ihr Wirken in der deutschen Arbeiterbewegung, Berlin 19802, S. 132.) Die unterschiedlichen Einseihätzungen Karl Kautskys und Rosa Luxemburgs geben einen begrenzten Einblick in die widersprüchliche Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie und in ihre heterogene Struktur. David, Eduard, Das Gericht in München, in: Sozialistische Monatshefte, 1902, S. 761. Vgl. ders., Ein Agrarprogramm, in: Vorwärts, 6. 7.1900. David an Bernstein, 28. 8.1899. Vgl. Kautsky, Die Agrarfrage, S. 257-289.
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stische Auffassung von der Industrialisierung der Landwirtschaft an und entwickelte die These von der „Herausschälung des reinen Landwirtschaftsbetriebs"79 als Gegenteil der Industrialisierung und charakterisierte das als weiteren Fortschritt der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. David lehnte sich damit an die bürgerliche landwirtschaftliche Betriebslehre vom „Landwirtschaftsbetrieb an sich" an80, stellte das Verhältnis Groß- und Kleinbetrieb und die biologischen Prozesse bei der pflanzlichen und tierischen Produktion in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen, nicht aber die Frage, welche sozial-ökonomischen Prozesse — etwa die Durchdringung der Landwirtschaft durch das Kapital oder die Entwicklung der Produktivkräfte — sich in der Landwirtschaft vollziehen. David umriß sein Bestreben zur Revision des Marxismus in der Agrarfrage deutlich: „Der Kleinbetrieb ist überlegen in den Zweigen, für die Intensitätsstufen und unter den Produktionsverhältnissen, denen die Landwirtschaft der westeuropäischen Kulturländer infolge der überseeischen Konkurrenz entgegenstrebt. Damit geraten wir allerdings in den allerschärfsten Widerspruch zu der Marxschen Agrarprognose. Wir behaupten die entgegengesetzte Entwicklungstendenz. Die Notwendigkeit, einem gegebenen Bodenstück eine immer größere Wertmasse abzugewinnen, das Fortschreiten zur höchsten Intensität erfordert und fördert den Übergang zum Kleinbetrieb. Das Schifflem des bäuerlichen Selbstwirtschafters fährt nicht gegen, sondern mit dem Strom der Entwicklung."81 Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion bedeutete für David „stärkere Anspannung der Fruchtbarkeitsfaktoren, gesteigerte Bodenausbeutung" 82 durch Zunahme der Handarbeit und Abnahme der Maschinenarbeit. Vor allem trete diese Tendenz bei Kulturen mit höherem Arbeitsfassungsvermögen heraus. „Die nicht mechanisierbare Hantierung und in Sonderheit die qualifizierte Handarbeit nimmt dabei außerordentlich zu. Der Anwendungsraum für die Maschine wird immer mehr eingeengt. Das Prinzip der individuellen Anpassung der Arbeit an den pflegenden Einzelorganismus durchdringt den gesamten Arbeitsprozeß derart, daß die Maschinenarbeit nicht nur relativ, sondern auch absolut abnimmt, bis sie auf den höchsten Stufen der Bodenkultur gänzlich verschwindet... In der Landwirtschaft... je höher die Intensität, desto weniger Maschinenarbeit."83 Daraus erklärte sich seine absurde Auffassung, daß die Entwicklung der Landwirtschaft zum Garten-Feldbau gehe. Von dieser einseitigen Sicht aus belegte David mit einer Fülle von Einzelheiten die Unterschiede zwischen Landwirtschaft und verarbeitender Industrie. In die Unterschiede schloß er die historische Rückständigkeit der landwirtschaftlichen Produktivkräfte ein und verwischte so den sozialökonomischen Kern der mannigfaltigen Entwicklungstendenzen in der Landwirtschaft. Da sich das Kapital zuerst in der Industrie David, Socialismus und Landwirtschaft, S. 70 f. ™ Ebenda, S. 534. 91 Vgl. Müller, Der kapitalistische Charakter der agrarpolitischen Grundlagen, S. 80—93. 81 David, Socialismus und Landwirtschaft, S. 56. 82 Ebenda, Anm. 83 Ebenda, S. 653 f.
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entwickelte und erst später in die Landwirtschaft eindrang 84 , blieben über einen längeren Zeitraum mehr oder minder entwickelte Elemente vorkapitalistischer Produktionsverhältnisse bestehen. Dies veranlaßte David, den Konzentrationsprozeß in der Landwirtschaft in Frage zu stellen. Für ihn war die Bodenfläche das alleinige Kriterium für die Bestimmung der sozialökonomischen Entwicklungstendenz in der Landwirtschaft. Er berief sich dabei auf das Ergebnis der landwirtschaftlichen Betriebszählung von 1895.85 Sie ergab, daß in der Zeit von 1882 bis 1895 bei allgemeinen geringfügigen Verschiebungen und einer Zunahme sowohl der Anzahl der Betriebe als auch der landwirtschaftlichen Nutzfläche der Anteil der großbäuerlichen Wirtschaften und zum Teil auch der großen Güter (20 bis 1000 ha) an der Nutzfläche zurückgegangen war, während der Anteil der klein- und mittelbäuerlichen Betriebe (2 bis 20 ha) zugenommen hatte. Der Anteil der Latifundien (über 1000 ha) war gestiegen, die Zwergbetriebe (unter 2 ha) hatten zugenommen, während ihr Anteil am Boden zurückgegangen war. „Danach sind also gerade die Betriebe der bäuerlichen Selbstwirtschafter im Vormarsch begriffen" 86 , schrieb David. Gestützt auf die landwirtschaftliche Betriebsstatistik behaupteten die Revisionisten, daß die marxistische Konzentrationstheorie zumindest für die Landwirtschaft nicht gelte; der Klein- und Mittelbetrieb habe sich als widerstandsfähig und sogar dem Großbetrieb überlegen erwiesen. Davids „Sozialismus und Landwirtschaft" liegt die bürgerliche Theorie vom bäuerlichen Familienbetrieb zugrunde. 87 Mit der These von der Überlegenheit des Kleinbetriebes über den Großbetrieb wurde eine zeitweilige Erscheinung zu einem allgemeingültigen Gesetz erhoben. Lenin wies nach, daß diese Fehlinterpretation in der Vernachlässigung der Kapitalkonzentration und der allgemeinen Beurteilung der Wirtschaftskraft der Betriebe nach der Bodenfläche begründet liegt. „Daß es bei einer Intensivierung der Wirtschaft mitunter nötig ist, die Bodenfläche etwas zu verringern, daß die großen Landwirte Landstücke, die vom Mittelpunkt des Gutes entfernt liegen, in Parzellen verpachten, um sich Arbeiter zu verschaffen, das sind allgemein bekannte Erscheinungen." 88 Da der Boden das Hauptproduktionsmittel in der Landwirtschaft ist, bietet eine Gruppierimg der Betriebe nach der Nutzfläche einen Ausgangspunkt f ü r die Beurteilung weiterer agrarischer Kennziffern und für die Charakterisierung des sozialökonomischen Typs des Betriebes. Zum alleinigen Kriterium erhoben, muß dies jedoch zu einem verzerrten Bild der sozialökonomischen Struktur der kapitalistischen Landwirtschaft führen. Darauf wies Karl Kautsky hin, der sich in 84
Vgl. Lenin, W. I., Neue Daten über die Entwicklungsgesetze des Kapitalismus in der Landwirtschaft, in: Werke, Bd. 22, S. 92. ea Vgl. Dillwitz, Sigrid, Quellen zur sozialökonomischen Struktur der deutschen Bauernschaft im Deutschen Reich nach 1871, in: JbfW, 1977, II, S. 242-247. w David, Socialismus und Landwirtschaft, S. 49. 87 Vgl. Welack, Herbert, Die bürgerliche Pseudotheorie vom bäuerlichen Familienbetrieb — Instrument zur Verschleierung des kapitalistischen Konzentrations- und Differenzierungs-Prozesses in der westdeutschen Landwirtschaft, Diss. Berlin 1964. 88 Lenin, W. I., Die Agrarfrage und die „Marxkritiker", in: Werke, Bd. 5, S. 194.
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seiner „Agrarfrage" auf die von Karl Marx im „Kapital" erarbeitete ökonomische Analyse der kapitalistischen Produktionsweise stützte und sich mit bürgerlicher und revisionistischer Literatur auseinandersetzte.89 Die deutsche landwirtschaftliche Betriebszählung von 190790, die erstmals Aussagen zur Lohnarbeit enthielt, nutzte Lenin zur umfassenden Analyse der sozialökonomischen Struktur der Landwirtschaft. Er bewies, daß nicht allein die Beschäftigung von Lohnarbeitern, sondern das Uberwiegen der Lohnarbeit gegenüber der Familienarbeit als Kriterium für die kapitalistische Warenproduktion in der Landwirtschaft anzusehen ist 91 , und konstatierte, „das bürgerliche Wesen Davids" komme insbesondere darin zum Ausdruck, „daß er die Frage der Anwendung von Lohnarbeit durch die .kleinen' Landwirte und der Verwandlung dieser letzteren in Lohnarbeiter völlig ignoriert". 92 Um seine These von der Tendenz zum landwirtschaftlichen Kleinbetrieb zu stützen, berief sich David selbst auf die USA. „Amerika, das Land der freiesten Wirtschaftsentwicklung, das Land der ungehinderten kapitalistischen Betriebskonzentration, der gigantischen Kapitalvereinigungen in Industrie und Handel, überläßt die Führung und Vorherrschaft in der Landwirtschaft dem kleinen Selbstwirtschafter."93 Weiter bezog er sich auf das von bürgerlichen Ökonomen proklamierte „universelle" Naturgesetz vom abnehmenden Bodenertrag, nach dem jede zusätzliche Arbeitsund Kapitalinvestition in den Boden nicht durch eine entsprechende, sondern durch eine abnehmende Menge des Produkts begleitet werde.94 Vom Entwicklungsstand der Technik abstrahierend, sah Eduard David den „richtigen Kern" dieses „Gesetzes" darin, daß bei „weiterer Anspannung der organischen Produktionskräfte" 95 die Produktivität sinke. Auch in der Viehhaltung suchte David eine Überlegenheit des Kleinbetriebes zu belegen. Die kleinen Landwirte halten mehr Vieh pro Hektar als die Grundbesitzer; folglich müßten sie etwas mehr Dünger haben, — und: „Der Mist ist die Seele der Landwirtschaft."96 David umging die sozialökonomische Problematik, indem er in allen Wirtschaftstypen Vieh gleicher Qualität voraussetzte. David negierte neben dem kapitalistischen Konzentrationsprozeß in der Land Wirtschaft den intensiven Differenzierungsprozeß, dem die Bauernschaft unterlag.97 ^ Vgl. Kautsky, Die Agrarfrage, S. 92 fi. Vgl. Dillwitz, Quellen zur sozialökonomischen Struktur der deutschen Bauernschaft. 91 Lenin, W. I., Das kapitalistische System der modernen Landwirtschaft, in: Werke, Bd. 16, S. 441. 92 Ders., Die Agrarfrage und die „Marxkritiker", ebenda, Bd. 13, S. 171. 50 David, Socialismus und Landwirtschaft, S. 661. 94 Vgl. Der Leninismus und die Agrar- und Bauernfrage, Moskau 1969, S. 3—14. 95 David, Socialismus und Landwirtschaft, S. 77. 90 Ebenda, S. 308. 97 Vgl. Hoell, Günter, Die Grundrente und die Entwicklung des Kapitalismus in der Landwirtschaft, Berlin 1*974, S. 73—81; Dillwitz, Sigrid, Die Struktur der Bauernschaft von 1871 bis 1914. Dargestellt auf der Grundlage der deutschen Reichsstatistik, in: JbG, Bd. 9,1973, S. 89—95; Solta, Jan, Die Bauern der Lausitz. Eine Untersuchung des Differenzierungsprozesses der Bauernschaft im Kapitalismus, Bautzen 1968.
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Mit den kapitalistischen Produktionsverhältnissen in der Landwirtschaft bildeten sich in Deutschland folgende sozialökonomische Wirtschaftstypen heraus: 1. Proletarische Wirtschaften, 2. bäuerliche Wirtschaften, die sich in klein- und mittelbäuerliche Betriebe differenzierten, und 3. kapitalistische Betriebe, die sich in großbäuerliche und Großbetriebe gliederten.98 Ihre Differenzierung — eine Folge der Konzentration der Produktion und des Kapitals — belegt das Wirken des allgemeinen Gesetzes der kapitalistischen Akkumulation in der Landwirtschaft. Hier verlief dieser Prozeß jedoch langwierig und für die Bauernschaft äußerst qualvoll, nicht nur weil sich die kapitalistische Entwicklung in der Landwirtschaft insgesamt langsamer als in der Industrie vollzog, sondern auch weil die kleine und mittlere Bauernschaft mit einer weitestgehenden Bedürfnislosigkeit und Steigerung ihrer Arbeitsintensität um ihre bäuerliche Existenz kämpfte, die sie nur durch Raubbau an der eigenen Kraft, am Vieh und am Boden erhalten konnte.99 Im Zeitraum von 1883 bis 1913 stieg die Getreideproduktion um 60 Prozent, während sich die Produktion von Hackfrüchten nahezu verdreifachte. Die tierische Produktion entwickelt sich in ähnlichem Tempo.100 Das besondere Merkmal dieser Leistungssteigerimg in der deutschen Landwirtschaft war die Erhöhung der Flächenleistung. Wie in neuesten Forschungsergebnissen von Agrarhistorikern nachgewiesen wird, basierte die höhere Flächenleistung auf der Steigerung der Effektivität der kapitalistischen Großbetriebe.101 Damit wurden neben den technischen und ökonomischen Vorzügen des Großbetriebes auch Vorteile in der Produktion sichtbar. Je kapitalistischer die Landwirtschaft, stellte Kautsky bereits 1899 fest, desto größer der qualitative Unterschied in der technischen Ausstattung und in der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse zwischen Groß- und Kleinbetrieb.102 Solange dieser Unterschied nicht bestand oder durch Unterkonsumtion und Uberarbeit der Klein- und Mittelbauern ausgeglichen werden konnte, gelang es den bäuerlichen Familienbetrieben, gleiche oder auch höhere Erträge zu erzielen. Als aber die arbeitsintensive Wirtschaftsweise, die nicht unendlich gesteigert werden konnte und sich auch von einem bestimmten Punkte an als unrentabel erweisen ^ Vgl. Ballwanz, Sozialstruktur und Produktionsentwicklung der deutschen Landwirtschaft von 1871-1914, S. 243-257. Vgl. Lenin, W. 1., Neue Daten über die Entwicklungsgesetze des Kapitalismus in der Landwirtschaft, S. 78; Dillwitz, Die Struktur der Bauernschaft. " " Vgl. Bittermann, Eberhard, Die landwirtschaftliche Produktion in Deutschland von 1800 bis 1950. Ein methodischer Beitrag zur Ermittlung der Veränderungen des Umfangs der landwirtschaftlichen Produktion in den letzten 150 Jahren, Diss. Halle 1956; Rothmann, Helmut, Zur Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktion und der landwirtschaftlichen Produktionsverhältnisse in Deutschland in der Zeit von 1871 bis 1918, Diss. Leipzig 1963. iui ygi Ballwanz, Sozialstruktur und Produktionsentwicklung der deutschen Landwirtschaft von 1871—1914, S. 136—257; Berthold, Rudolf, Zur sozialökonomischen Struktur des kapitalistischen Systems der deutschen Landwirtschaft zwischen 1905 und 1925, in: JbfW, 1974, III, S. 105 ff.; Dillwitz, Die Struktur der Bauernschaft. im vgl. Kautsky, Die Agrarfrage, S. 92.
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mußte, die höhere Produktivität der Düngemittel- und Maschinenanwendung nicht mehr egalisieren konnte, blieben die Steigerungsraten der bäuerlichen Betriebe hinter denen der Großbetriebe zurück. Die Entwicklung verlief also anders, als David prognostizierte, nicht vom Großbetrieb zum überlegenen Kleinbetrieb103, sondern in umgekehrter Richtung. J e mehr der Großbetrieb seine technischen Vorteile nutzte und kapitalintensiv arbeitete, desto überlegener wurde er. In der landwirtschaftlichen Produktion des Deutschen Reiches vollzog sich damit gegen Ende des 19. Jh. eine Änderung in der Rangfolge der produktionstechnischen Faktoren, es wurde der Wechsel von Arbeits-, Boden-, Kapitaleinsatz zu einem Kapital-, Arbeits-, Bodeneinsatz vollzogen.104 Da den klein- und mittelbäuerlichen Betrieben das notwendige Kapital fehlte, blieben ihre Steigerungsraten gegenüber den Großbetrieben zurück. Die Entwicklung der pflanzlichen Produktion widersprach der revisionistischen Theorie von der Überlegenheit des Kleinbetriebes eindeutig. Der landwirtschaftliche Großbetrieb galt David als zum Untergang verurteilte Wirtschaftsform, wobei er die Junkerwirtschaften mit den kapitalistischen Pachtwirtschaften gleichsetzte. Beide seien unrentabel und würden künstlich durch staatliche Zuschüsse und Gesetze am Leben gehalten. Er forderte die „Etablierung von kleinen Selbstwirtschaften auf dem Gelände der Großbetriebe".105 Das würde dem Ideal der Landarbeiter nach bäuerlicher Selbständigkeit entsprechen und gehöre an die Spitze eines sozialdemokratischen Landarbeiterprogramms. Damit erhoffte David, die Landarbeiter und Klein- und Mittelbauern für die Sozialdemokratie zu gewinnen. Auf Kosten des Großgrundbesitzes wollte er die bäuerlichen Familienbetriebe vermehren, welche für ihn Elemente der sozialistischen Produktionsweise waren. Nach David würden mit der Parzellierung des Großgrundbesitzes existierende sozialistische Verhältnisse verstärkt. Er gab Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Umwälzung als sozialistisch aus und landete in kleinbürgerlich-utopischer Beschränkung. Seine Pläne zur Parzellierung des Großgrundbesitzes waren auf die Verewigung der kleinen Warenproduzenten in der Landwirtschaft gerichtet.106 David lehnte sich in seinen Auffassungen an wesentliche Thesen der deutschen liberalen Bodenreformer an, die die Nationalisierung von Grund und Boden forderten. Ihr bekanntester Vertreter, Adolf Damaschke, hatte 1898 den „Bund deutscher Bodenreformer" gegründet. In dessen von ihm entworfenen Programm hieß es: „Der Bund tritt dafür ein, daß der Grund und Boden, diese Grundlage aller nationalen Existenz, unter Recht gestellt werde, das seinen Gebrauch als Werk- und Wohnstätte befördert, das jeden Mißbrauch mit ihm ausschließt und das die Wertsteigerung, die er ohne Arbeit des einzelnen erhält, möglichst dem Volksganzen nutzbar macht."107 Damit korrespondierend schrieb David 1903: «« David, Socialismus und Landwirtschaft, S. 414—429. Vgl. Ballwanz, Sozialstruktur und Produktionsentwicklung der deutschen Landwirtschaft von 1871-1914, S. 46-242. 1U!> Vgl. David, Socialismus und Landwirtschaft, S. 701. «w> vgl. Hesselbarth, Der aufkommende Revisionismus in der Bauernfrage und Karl Kautsky, S. 349-354. m
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„Aber die Eigentumsfrage? Unter welchem Rechtstitel sollen die Landarbeiter Selbstwirtschafter werden? Diese Frage muß einer eingehenden Erörterung vorbehalten bleiben, nur soviel schon jetzt: Sie brauchen keine .Eigentümer' zu werden im Sinne beliebiger Verfügungsfreiheit über den Boden wie über irgend eine Ware. Es sind Formen der Nutznießung möglich, die, der Schattenseiten des freien Eigentums entkleidet, die Lichtseiten desselben aufweisen. Man braucht nicht neue .Eigentumsfanatiker' zu schaffen, um lebenskräftige Wirtschaftsbetriebe zu bilden, die das volle psychologische Interesse der bewirtschaftenden Familie entfalten und dauernd fesseln. Das Obereigentumsrecht der Gesamtheit und das Nutznießungsrecht des einzelnen gegeneinander abzugrenzen wird die Praxis bald lehren."108 David und die liberalen Bodenreformer akzeptierten das Privateigentum an den Produktionsmitteln als eine natürliche Grundlage der menschlichen Gesellschaft, und das hielt sie ab, eine spezifische Form dieses Privateigentums anzutasten. Die Bodenreformer waren kleinbürgerliche Sozialisten; sie kritisierten den Kapitalismus, aber sie wollten die kapitalistischen Produktionsverhältnisse aufrechterhalten. Ein weiterer liberaler Bodenreformer, Franz Oppenheimer, schlug vor, das volle, lebenslängliche, aber veräußerliche Nutzungsrecht am Boden einzuführen und Siedlungsgenossenschaften, d. h. landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften zu bilden.109 David verwarf die Bildung von Landarbeiterproduktivgenossenschaften als Teil eines agrarpolitischen Gegenwartsprogramms, da in der Landwirtschaft „der psychologische Faktor infolge der Unmöglichkeit ausreichender Kontrolle eine noch viel größere Bedeutung" habe. Ein großer Irrtum sei es, „das solidarische Interesse, das der genossenschaftliche Arbeiter am Betriebserfolg hat, gleichzusetzen dem persönlichen Interesse des Selbstwirtschafters am Erfolg seiner Arbeit".110 Er forderte deshalb die klein- und mittelbäuerlichen Familienbetriebe auf, sich zu Produzentengenossenschaften zusammenzuschließen. Nach Davids Auffassung vollzog sich über die Produzentengenossenschaften die weitere Sozialisierung der Landwirtschaft, obwohl „der innerste Kern des Produktionsvorganges nicht vergenossenschaftlicht ist, sondern individuell gestaltet bleibt".111 Zwischen dem kollektivistischen Prinzip des gemeinsamen Verkaufs und Absatzes und dem individuellen Prinzip der Produkterzeugung herrsche ein Kompromiß. Bereits auf dem Hannoverschen Parteitag 1899 hatte David gefolgert, daß die Produzentengenossenschaft „für absehbare Zeiten ... für die Landwirtschaft ... die am weitesten vorgeschrittene Sozialisierungsmöglichkeit ist". Der mittlere und der kleine Bauer mache „schon gewisse Konzessionen an das Zit. nach Behrens, Fritz, Die Marxsche politische Ökonomie, Berlin 1976, S. 270. »* David, Socialismus und Landwirtschaft, S. 701. io» vgl Oppenheimer, Franz, Die Siedlungsgenossenschaft. Versuch einer positiven Uberwindung des Kommunismus durch Lösung des Genossenschaftsproblems und der Agrarfrage, Leipzig 1896. »« David, Socialismus und Landwirtschaft, S. 700. 111 Protokoll des Hannoveranischen Parteitages 1899, S. 144. lu/
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Wirtschaftsprinzip des Sozialismus". Darum hätten die sozialdemokratischen Abgeordneten in den Landtagen und im Reichstag „das Recht und die Pflicht, diese Genossenschaftsbewegung im Parlament soweit wie möglich zu fördern". 112 Die Parlamentsfraktionen der Sozialdemokratie sollten demgemäß für die Demokratisierung der staatlichen Unterstützung für die Landwirtschaft eintreten. Die Produzentengenossenschaften müßten geordnete Marktbeziehungen zu den städtischen Konsumentengenossenschaften aufbauen. David selbst hatte im Mai 1899 gemeinsam mit seiner Frau Gertrud in Mainz eine Konsumgenossenschaft gegründet. 113 Vertretungsweise für seine Frau bestritt er zeitweilig die Rubrik „Genossenschaftsbewegung" in den „Sozialistischen Monatsheften". 114 Er orientierte auf die volle Entfaltung der Genossenschaftsbewegung in Stadt und Land und erwartete, daß die „auf der Höhe der Agronomie stehenden Kleinbetriebe die lebenskräftigen Zellen eines genossenschaftlichen Organisationssystems abgeben werden, das befähigt und berufen ist, in Verbindung mit den konsumgenossenschaftlichen Organisationen der Arbeiter die Nahrungsmittelversorgung des Volkes von allem kapitalistischen Ausbeuter- und Zwischenhändlertum immer mehr zu befreien". 115 David war der Auffassung, mittels der Genossenschaften die kapitalistischen Verteilungsverhältnisse allmählich in sozialistische umwandeln zu können. Die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln verzerrte er, indem er den Eigentumsbegriff auf ein „Recht auf Aneignung" reduzierte. Genossenschaften aber werden immer von den jeweiligen Produktionsverhältnissen bestimmt. Sie können diese nicht überwinden, sondern müssen sich ihnen anpassen. David vertrat einen Genossenschaftssozialismus im Sinne des kleinbürgerlichen Sozialismus. Wie die bürgerlichen Liberalen erkor David das „Idealland" Dänemark als Beweis für seine Theorie von der Lebensfähigkeit des Kleinbetriebes in Form des bäuerlichen Familienbetriebes und für die Rolle der Genossenschaften. Dänemark sei ein Agrarexportland, das fast nur bäuerliche Kleinbetriebe aufweise.116 Diese Auffassung widerlegte der dänische Sozialdemokrat Gustav Bang: Die Zunahme der Kleinbetriebe sei eine Vermehrung des in kümmerlichsten Verhältnissen lebenden Landproletariats, und die kapitalistisch produzierenden 112
Ebenda, vgl. David, Socialismus und Landwirtschaft, S. 698—703. 113 vgl Der Genossenschafts-Pionier. Organ für soziales Genossenschaftswesen, Berlin, 3, Nr. 3,15. 3.1899, Beilage. 114 David, Eduard, Rundschau Genossenschaftsbewegung, in: Sozialistische Monatshefte, 1901, S. 145 ff., 130 ff., 304 f.; vgl. Fricke, Die deutsche Arbeiterbewegung 1869-1914, S. 771—782; Raubbaum, Jörg, Die deutsche Arbeiterklasse und die Konsumgenossenschaften bis zum 1. Weltkrieg, in: ZfG, 16,1968, 1, S. 54-67. "!> David, Socialismus und Landwirtschaft, S. 699; vgl. Krause, Werner/Rudolph, Günter, Grundlinien des ökonomischen Denkens in Deutschland 1848 bis 1954, Berlin 1980, S. 164-191. 116 Vgl. David, Socialismus und Landwirtschaft, S. 540-552, 564-566, 680 f.; ders., Sozialismus und Landwirtschaft. Sonderabdr. aus „Deutsche Worte", Wien, April 1903, S. 18-20.
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Groß- und Mittelbetriebe bestimmten ökonomisch die dänische Landwirtschaft. 117 Auf der Grundlage der amtlichen Statistik kam W. I. Lenin in seiner Analyse der dänischen Landwirtschaft zum gleichen Ergebnis. Er wies nach, daß die Masse der Kleinbetriebe in der landwirtschaftlichen Gesamtproduktion ein geringes Gewicht besaß, daß sich der kapitalistische Konzentrationsprozeß besonders auf dem Gebiet der Viehzucht vollzog und daß die übergroße Mehrheit der Landbevölkerung proletarisiert wurde. Die dänischen Genossenschaftsverbände, die David als beispielhafte sozialistische Organisation ansah, charakterisierte Lenin als kapitalistische Unternehmen. 118 Die Positionen Davids wertete Lenin als die eines Kleinbürgers, „der sich mit dem verhältnismäßig langsamen Fortschritt des Kapitalismus tröstet und sich fürchtet, die gesellschaftliche Evolution in ihrer Gesamtheit zu betrachten . . . Das Tatsachenmaterial, das von einer Überlegenheit des Großbetriebes über den Kleinbetrieb zeugt, versteht er nicht zu verallgemeinern und miteinander zu verknüpfen. Im Resultat bleibt nichts übrig als das reaktionäre Lamentieren eines Spießbürgers, der seine Hoffnungen in die Rückständigkeit der Technik, in die Langsamkeit der Entwicklung des Kapitalismus setzt."119 Grundzug aller agrarpolitischen Forderungen Davids war es, an das Eigeninteresse und die Privateigentümerideologie der kleinen Warenproduzenten in der Landwirtschaft anzuknüpfen. Er forderte die Sozialdemokratie auf, für den staatlichen Bauernschutz einzutreten. „Bauernschutz heißt Schutz und Förderung der moderneren rationelleren Betriebsform . . . der Kleinbetrieb bietet die günstigste Voraussetzung f ü r rationelle Betriebsführung bei intensiver Bodeivausbeutung."m Wiederholt verlangte David auch im Hessischen Landtag, die bäuerlichen Familienbetriebe noch stärker zu unterstützen. So erklärte er z. B. am 27. März 1901: „Meine Herren, Sie können nun von uns verlangen, zu hören, wie wir uns denken, daß man der Landwirtschaft helfen solle. Nun, Sie haben bei vielen Gelegenheiten schon gesehen, daß wir mit Ihnen im Interesse der Landwirtschaft in einer Front marschieren. Sie haben gesehen, daß wir sehr große Staatsnüttel für die Landwirtschaft bewilligt haben, und Sie werden uns weiter mit Ihnen in einer Front sehen, wenn irgendwelche Anforderungen gestellt werden, die darauf hinauslaufen, unsere Landwirtschaft zu heben nicht durch künstliche Preissteigerungen, sondern dadurch, daß man dem Bauern alle diejenigen Mittel der Wissenschaft, der Technik und der Organisation zugänglich macht, die es ihm erlauben, dem Boden mehr abzugewinnen, also seinen Ertrag zu steigern . . . Ich bin mehr dafür, daß der Staat hier in weitgehendstem Maße eintritt." 121 Mit der These von der Perspektive des landwirtschaftlichen Klein- und Mittel117
Vgl. Bang, Gustav, Groß- und Kleinbetrieb in der Landwirtschaft, in: Die Neue Zeit, 21, 1902/03, 2, S. 324-330. 118 Vgl. Lenin, Die Agrarfrage und die „Marxkritiker", in: Werke, Bd. 13, S. 192—212. " a Ebenda, S. 170. David, Socialismus und Landwirtschaft, S. 698 f. 121 Verhandlungen der zweiten Kammer der Landstände des Großherzogthums Hessen in den Jahren 1900/1903. 31. Landtag, Protokolle, Bd. 2, Darmstadt 1901, S. 1508.
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betriebes versuchte David, eine bürgerliche Alternative der marxistischen Agrarkonzeption und der mit ihr verbundenen revolutionären Bündnispolitik entgegenzusetzen und damit deren schöpferischen, vor allem durch die imperialistischen Bedingungen notwendigen Weiterentwicklung entgegenzuwirken. Mit seinem Programm zur staatlichen Förderung der Klein- und Mittelbetriebe wollte er die klein- und mittelbäuerlichen Schichten als potentielle Wählerschaft und als Anhänger für eine reformistische Sozialdemokratie gewinnen, wobei es ihm ausschließlich um die Gewinnung der arithmetischen Mehrheit des Volkes bei der Ausübung des Wahlrechts ging. Das war für David „der Kernpunkt der Frage nach der Eroberung der politischen Macht". Ohne die ländliche Bevölkerung war die parlamentarische Mehrheit nicht zu gewinnen. David stellte die Eroberung der politischen Macht in den Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus und der gesetzlichen Reformtätigkeit. Daraus leitete sich seine Forderung nach Umwandlung der Sozialdemokratie „zu einer allgemeinen Volkspartei" ab.122 In seiner Schrift „Sozialismus und Landwirtschaft" wandte sich David auch der Kolonialfrage zu. Der Konservatismus der lebendigen Natur, der sich im Gesetz vom abnehmenden Bodenertragszuwachs ausdrücke, verhindere eine mit der industriellen Entwicklung schritthaltende Steigerung der landwirtschaftlichen Produktionsmasse. Die westeuropäische Landwirtschaft müsse daher die Intensität des landwirtschaftlichen Produktionsvorgangs steigern, zumal angesichts der Ausweitung der Industrie auf Kosten der landwirtschaftlichen Nutzfläche und der Konkurrenz aus Ubersee. Zur ausreichenden und kontinuierlichen Versorgung mit Brotgetreide müsse Westeuropa selbst zur Expansion übergehen. „Die industrielle Entwicklung Europas konnte sich nur in dieser raschen und mächtigen Weise vollziehen unter Voraussetzung einer gewaltigen Expansion des landwirtschaftlichen Produktionsareals ... Diese Nahrungsquellen verschließen, heißt unsere gesamte industrielle Kulturentwicklung unterbinden."123 David ließ damit durchblicken, daß er die imperialistische Kolonialpolitik im Interesse der Entwicklung der kapitalistischen Industrieproduktion für erforderlich hielt. Mit diesen Auffassungen befand er sich in vollständiger Übereinstimmung mit Bernstein.134 ra David, Eduard, Die Eroberung der politischen Macht, in: Sozialistische Monatshefte, 1904, S. 204. ra Ders., Socialismus und Landwirtschaft, S. 694. im vgl Bernstein, Eduard, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, S. 145 f.; ders., Sozialdemokratie und Imperialismus, in: Sozialistische Monatshefte, 1900; ders., Der Sozialismus und die Colonialfrage, ebenda, S. 553 f. — David hatte Bernstein zu dem Artikel angeregt: „Wollen sie nicht einmal die Frage der Kolonialpolitik gründlich unter's Messer nehmen — Rein akademisch — bei Leibe noch nicht anders — liesse sich da doch der kindlich naive Standpunkt, den Kautsky in der letzten Nr. der N[euen] Z[eit] mit der Gravität des gewiegten politischen Praktikers vertritt, grausam ad absurdum führen. Er scheint wirklich zu glauben, die Wilden seien doch bessere Menschen und die zivilisierten Völker hätten sich auch ohne Kriegsschiffe den Luxus des Kaffee- etc. Genusses verschaffen können. Man brauchte ja nur jedem Neger und Südseeinsulaner ein Erfurter Programm auszuhändigen, dann wäre für Rechtssicherheit und Ungefährlichkeit des
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Davids Arbeit „Sozialismus und Landwirtschaft" wurde von revisionistischer und bürgerlicher Seite als epochemachendes Werk herausgestellt. Nach Bernstein gehörte sie „zu den bedeutendsten theoretischen Leistungen . . d i e der Sozialismus überhaupt zu verzeichnen hat . . . In gewissem Sinne kann man sagen, daß dies Buch mehr als irgend eine andere sozialistische Publikation des letzten Jahrzehnts dasjenige verwirklicht, was vielen der als Kritiker des Marxismus aufgetretenen Sozialisten als zu lösende Aufgabe vorgeschwebt hat. Emanzipation von überlebten marxistischen Schlagworten unter Festhaltung der Errungenschaft der marxistischen Wissenschaftstheorie."125 Wie Bernstein verwarf David die dialektische Untersuchungsmethode als veraltet, indem er sie als ein Schema zur Konstruktion der Wirklichkeit erklärte und den Hauptangriff gegen ihre Lehre von der Einheit und vom Kampf der Gegensätze richtete. „Heiliger Hegel, wann wird deine geistreiche Methode, den Gang der Weltgeschichte zu entschleiern, aufhören, das unentbehrliche, siegessichere Rüstzeug gewisser Vertreter des wissenschaftlichen Sozialismus' zu sein! Der olle, ehrliche ,dialektische Prozeß' . . . Uns scheint, der .dialektische Prozeß' ist nichts anderes, als der zum Range einer geschichtsphilosophischen Methode erhobene ewige Jude. Es wäre wirklich Zeit, daß der Mann in den wohlverdienten Ruhestand versetzt wird."126 Friedrich Engels hatte im „Anti-Dühring" die untrennbare Einheit von Materialismus und Dialektik als fundamentale theoretische Grundlage der marxistischen Weltanschauung nachgewiesen. Wie Dühring stellten die Revisionisten nicht nur diese Einheit in Frage, sondern richteten ihren Hauptstoß gegen den Kern der Dialektik, die Widerspruchsdialektik. Das zielte auf die politischen Konsequenzen der kritischen und revolutionären Dialektik des Marxismus.127 Auf diesen Zusammenhang hatte Rosa Luxemburg bereits 1899 aufmerksam gemacht. „Indem Bernstein der Dialektik Valet sagt und die Gedankenschaukel des Einerseits — Andererseits, Zwar — Aber, Obgleich — Dennoch, Mehr — Weniger sich aneignet, verfällt er ganz folgerichtig in die historisch bedingte Denkweise der untergehenden Bourgeoisie, eine Denkweise, die das getreue geistige Abbild ihres gesellschaftlichen Daseins und ihres politischen Tuns ist."128 Der Revisionismus nützte und nützt neu auftauchende Probleme der gesellschaftlichen Entwicklung zu Angriffen auf die marxistisch-leninistische Theorie und Kolonialhandels gewiß ausreichend gesorgt." (David an Bernstein, 19. 11. 1899). Davids höhnische Polemik richtete sich gegen Karl Kautskys „Der Krieg in Südafrika" (Die Neue Zeit, 18, 1899/1900, 1, S. 196-203). In diesem Artikel hatte Kautsky die imperialistische Expansion Großbritanniens im Süden Afrikas verurteilt. 125 Bernstein, Eduard, David, Socialismus und Landwirtschaft, Bd. 1, in: Documente des Socialismus. Hefte für Geschichte, Urkunden und Bibliographie des Socialismus, hrsg. von Eduard Bernstein, Berlin 1903, Bd. 3, H. 3, S. 103. **> David, Socialismus und Landwirtschaft, S. 534. "i Vgl. Hager, Kurt, Ein aktuelles Handbuch für klassenbewußte Arbeiter. 100 Jahre „Anti-Dühring" von Friedrich Engels, Berlin 1978; Redlow, Götz, Zu einigen aktuellen theoretischen Fragen der materialistischen Dialektik, in: DZfPh, 27,1979, 1, S. 5—19. «x Luxemburg, Rosa, Sozialreform oder Revolution, in: Gesammelte Werke, Bd. 1/1, Berlin 1970, S. 439.
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die Strategie und Taktik der revolutionären Arbeiterbewegung aus. 129 Auch David spekulierte, wenn er den Marxismus als erstarrte, dogmatische Lehre verleumdete, auf die Veränderungen in den Kampfbedingungen der Arbeiterklasse und versuchte, die komplizierten Probleme, die die imperialistische Epoche f ü r die Strategie und Taktik der Arbeiterbewegung aufwarf, gegen die erprobten weltanschaulichen Grundlagen des Marxismus auszuspielen und unter dem Aushängeschild der „Freiheit der wissenschaftlichen Kritik" den Marxismus seines revolutionären Kerns zu berauben. 130 Bernstein sah in den Interpretationen Davids zur Entwicklung der Landwirtschaft ein Kennzeichen dafür, „daß die Konzentration der Produktionsbetriebe gar nicht das oberste Gesetz der modernen Wirtschaft ist, sondern die Produktion f ü r den Markt unter den Gesetzen des Markts, das heißt gemäß den Ansprüchen der höchsten Wirtschaftlichkeit". Besondere Bedeutung maß Bernstein der Schrift Davids f ü r die sozialdemokratische Agitation und f ü r den Wahlkampf auf dem Lande zu. „Mit einem Programm auf Grund der Darlegungen Davids ist eine intimere Fühlung mit dem Bauer möglich." 131 Im gleichen Sinne hoffte David, daß es der Sozialdemokratie nicht an Stimmen fehle, die die praktische Bedeutung seiner Arbeit „für das Vordringen der Partei auf dem flachen Lande erfassen und würdigen". 132 Davids agrarpolitische Forderungen erwiesen sich als bürgerliche Ideologie und als wahltaktisches Mittel gegenüber dem natürlichen Bündnispartner des Proletariats. David drängte den Bauern zum Eigentümerstandpunkt der Bourgeoisie, indem er die bürgerliche Theorie vom bäuerlichen Familienbetrieb propagierte. Der Revisionismus setzte in seiner antimarxistischen Frontstellung auf die ökonomisch und politisch determinierten Unterschiede im Klassenbewußtsein und auch auf rückwärtsgerichtete Auffassungen der kleinbürgerlichen Elemente. 133 Simon Katzenstein, mit dem David zu Beginn seiner Mitgliedschaft in der Sozialdemokratie politisch wirkte, hob in seiner Rezension speziell die Stellung zum landwirtschaftlichen Genossenschaftswesen hervor. „David hält im Gegensatz zu der überlieferten sozialistischen Theorie in Deutschland . . . den Kleinbetrieb in der Landwirtschaft f ü r die wirtschaftliche Betriebsform und erwartet daher bei freiem Wettbewerb dessen Sieg über den Großgrundbesitz, sobald dieser nicht mehr durch Zölle, Liebesgaben und sonstige staatliche Zuwendungen begünstigt wird. Ebenso stellt er im Gegensatz zu Kautsky und Oppenheimer der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft f ü r absehbare Zeiten keine günstigen ia» vgl. Lenin, W. 1., Marxismus und Revisionismus, in: Werke, Bd. 15, S. 26. Vgl. Pomomarjow, B. N., Die lebendige und wirksame Lehre des Marxismus-Leninismus. Antwort an Kritiker, Berlin 1978, S. 12. 131 Bernstein, Eduard, Die Bedeutung von Eduard Davids Agrarwerk, in: Sozialistische Monatshefte, 1903, S. 114 f.; vgl. ders., Unsere theoretischen Debatten und der Wahlkampf, ebenda, S. 331. lsi David an Bernstein, 20. 2.1903, in: IML/CPA, Fond 204, op. 1, Nr. 478. j® vgl. Lenin, Marxismus und Revisionismus, S. 23; vgl. Milhau, Jacques, Lenin und der Revisionismus in der Philosophie, Berlin 1975, S. 14 ff. (Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie, hrsg. von Manfred Buhr, 52).
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Aussichten, sieht vielmehr die Zukunft der Landwirtschaft im Betrieb selbstwirtschaftender Kleinbesitzer, die durch genossenschaftliche Produzentenorganisation des Einkaufs, der Verarbeitung, des Absatzes . . . zusammengeschlossen sind und in direkter Geschäftsverbindung mit den städtischen Konsumvereinen stehen."134 Nach dem bürgerlichen Ökonomen Gothein werde „eine weitere Marxsche Theorie zu den Toten geworfen, die, daß in der Landwirtschaft die unbedingt notwendige Entwicklung der Großbetriebe sei. Einer der bedeutendsten Männer der Sozialdemokratie hat in seinem Buch klar auseinandergesetzt, daß gerade das Umgekehrte der Fall sein muß, daß in einem sich industriell entwickelnden Land nicht der Großbetrieb, sondern der Kleinbetrieb herrschend werde." 135 Ähnlich argumentierte auch der Zentrumsabgeordnete Erzberger im Reichstag: David habe die marxistischen Auffassungen auf dem Gebiet der Landwirtschaft verworfen und damit das sozialdemokratische Parteiprogramm angegriffen. David bestätigte ihm, er habe „die Marxsche Theorie in bezug auf die Agrarfrage als unzutreffend bezeichnet... Marx war ein Großer im Reiche der Wissenschaft, einer der Größten, ein Bahnbrecher, dessen geistiges Werk nicht untergehen wird, und der neben seinen wissenschaftlichen Verdiensten unsterbliche Verdienste für die Arbeiterbewegung hat, der deswegen auch im Herzen der Arbeiter fortleben wird, solange es eine Kulturmenschheit gibt. Aber darum war Marx doch auf wissenschaftlichem Gebiet kein Papst; wir haben keinen wissenschaftlichen Papst , . . Für die Sozialdemokraten ist die wissenschaftliche Forschung die einzige Erkenntnisquelle ... deshalb ist es ganz selbstverständlich, daß wir in der Sozialdemokratie auch Meinungsverschiedenheiten haben." 136 Pharisäerhaft sich vor Marx verbeugend, suchte David den revisionistischen Auffassungen einen Nimbus „objektiver Wissenschaftlichkeit" zu verleihen. Zugleich behauptete er, daß theoretische Meinungsverschiedenheiten nicht die Einigkeit der Partei im praktisch-politischen Handeln beeinträchtigen würden. „Meine Herren, und wenn wir uns darüber in der Partei einmal streiten, worauf und in welchem Maße das größere Gewicht zu legen sei, so haben Sie doch hier im Hause den handgreiflichen Beweis, daß wir in bezug auf alle diejenigen Punkte, in denen wir für die werktätigen Volksmassen etwas erreichen können, geschlossen und einig vor Ihnen stehen. Sie haben wohl kaum eine zweite Partei im Hause, die eine derartige Einheitlichkeit ihres praktischen Handelns zutage treten läßt." 137 Während David verbal die Einheit der Strömungen in der Partei proklamierte, verständigte er sich brieflich mit Bernstein, gemeinsam gegen Kautsky vorzugehen, die revisionistischen Auffassungen in der „Agrarfrage" zu popularisieren und Kautskys Einschätzung, David vertrete einen „Neuproudhonismus", entgegenzutreten. „Ich glaube, es ist gut, K[autsky] gegenüber jetzt in enger geistiger Fühlung zu bleiben, damit der Angriff so wuchtig wie möglich ausfällt." 158
Katzenstein, Simon, Rubrik Literatur, in: Der Genossenschafts-Pionier, Nr. 3,7.2.1903. Zit. nach Kuczynski, Jürgen, Darstellung der Lage der Arbeiter in Deutschland 1900 bis 1917/18, Bd. 13, Berlin 1967, S. 139 f. la > Vgl. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, 11. Leg.per., Bd. 197, Berlin 1904, S. 719, 737 f. Ebenda, S. 740. 135
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Karl Kautsky wies Davids revisionistische Auffassungen sofort nach dem Erscheinen von „Sozialismus und Landwirtschaft" zurück. Er hob hervor, daß der Revisionismus in der Theorie unfruchtbar sei, da er mit dem Marxismus gebrochen habe.139 David hielt dem entgegen, daß die untrennbare Einheit von Marxismus und Sozialdemokratie falsch sei.140 Der Nachfolger Davids in der Ausarbeitung einer opportunistischen Agrarpolitik verkündete, das „Erscheinen des Davidschen Agrarwerkes" habe den Vorwurf von der Unfähigkeit des Revisionismus zur eigenen Theoriebildung entkräftet. Für die Durchsetzung des Revisionismus sei es notwendig, die revisionistischen Auffassungen „in gründlichen sozialistischen Werken" darzulegen, „die dem Davidschen ebenbürtig sind". 141 Zeitlich gekoppelt mit der Publikation seines Buchs, referierte David im Januar 1903 in Wien, München, Stuttgart, Karlsruhe und Frankfurt a. M. über das Verhältnis von Sozialismus und Landwirtschaft mit dem Vorsatz: „Der Hammer wird jetzt geschwungen." 142 Über Davids Auftreten im Wienen Verein bürgerlicher Sozialpolitiker berichtete Victor Adler: „Sein Vortrag beganh mit einer nicht allzu seichten Darlegung des historischen Materialismus und einem Hymnus auf Marx. Dann hat er seine Hypothese von der Zukunft des ,Selbstwirtschafters', zwar mit Polemik gegen die Marxisten und gelegentlich gegen Dich, aber alles durchaus anständig . . . Überzeugend ist er nicht für seine Hypothese, aber wohl gegen die durchgängige Gültigkeit der alten. Was mir die Hauptsache ist: taktisch ändert sich für uns jetzt gar nichts, ob er recht hat oder nicht."143 Karl Kautsky opponierte: „Lachen mußte ich, daß Du wieder einmal gefunden hast, daß wir alle schließlich dasselbe wollen. Nun, das ist unsere Eigenart. Du mußt stets die einigenden Momente hervorheben, mir ist nichts unerträglicher als Unklarheit. Natürlich müssen in der Bewegung beide Momente zu ihrem Recht kommen, man kann nicht wegen jeder theoretischen Meinungsverschiedenheit die Partei auseinandersprengen. Aber man darf auch nicht das Bewußtsein dieser Verschiedenheit um der Einigkeit willen trüben." 144 In einer fünfteiligen Artikelserie belegte Kautsky, daß Davids Buch „einen gänzlichen Bruch mit den Anschauungen des Sozialismus" darstelle.145 Theoretisch Ausdruck einer vom Kleinbürgertum abhängigen Arbeiterbewegung, werde in dem Buch überhaupt nicht von den proletarischen Klasseninteressen gesprochen, da David das Streben nach höherer Wirtschaftlichkeit zu dem die Sozialdemokratie beherrschenden höchsten Gesetz erkläre. „Die kommende Herrschaft des 138
David an Bernstein, 2.4.1903, in: IML/CPA, Fond 204, op. 1, Nr. 480. u» vgl. Klarl Kautsky], Drei Krisen des Marxismus, in: Die Neue Zeit, 21, 1902/03, 1, S. 728. ,4U Vgl. David, Eduard, Zur vorläufigen Abwehr, in: Sozialistische Monatshefte, 1903, S. 327. 141 Schulz an Bernstein, 2.11.1903, in: IML/CPA, Fond 204, op. 1, Nr. 1301. m David an Bernstein, 14.1.1903, ebenda, S. 477. 143 Adler an Kautsky, 22.1.1903, in: Adler, Briefwechsel, S. 408; vgl. David, Sozialismus und Landwirtschaft, Sonderabdr. aus „Deutsche Worte". 144 Kautsky an Adler, 26.1.1903, in: Adler, Briefwechsel, S. 411.
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Kleinbetriebs in der Landwirtschaft" bezeichnete Kautsky als „Utopie, und zwar eine reaktionäre Utopie". David habe mechanisch die Landwirtschaft von der Gesamtgesellschaft losgelöst und ihr gegenübergestellt. Sein Endziel beruhe „auf agrarischer Romantik, auf der Idealisierung jener der heutigen Produktionsformen, die aus dem Mittelalter stammend, seine Eigenart in jeder Beziehung am meisten bewahrt hat". Für die politisch-ideologische Auseinandersetzung innerhalb der Sozialdemokratie sei Davids Buch jedoch ein Fortschritt, denn jetzt stünden „zwei Programme gegeneinander, die miteinander unvereinbar sind. Jetzt kommt man mit Gemeinplätzen von Freiheit und Kritik und dergleichen nicht mehr aus. Jetzt heißt es, das neue Programm annehmen oder verwerfen."146 Kautsky hatte auch die Konsequenzen dieser politisch-ideologischen Einschätzung überdacht. „Wenn ich es bewirken könnte, daß die Göhre, David und Konsorten aus der Partei hinausfliegen, ohne daß die Partei darüber sich spaltet, würde ich es tun. Ich muß sie leider als Parteigenossen anerkennen, da jeder Versuch, sie hinauszuschmeißen, noch schlimmere Übel hervorrufen würde, als sie selbst sind. Aber wenn einmal eine Gelegenheit dazu kommen sollte, werde ich dabei mittun." David sei als Agitator verwendbar, „aber er wird ein Parteischädling, wenn er nicht als Werkzeug, sondern als richtunggebender Führer wirken will. Er ist aber eine zu kräftige und selbständige Natur, um sich mit der ersteren Rolle zufrieden zu geben. So kann er uns nichts sein, als eine Quelle ewigen Zwistes." Aufgabe der sozialdemokratischen Intellektuellen, deren Zustrom eine Wachstumserscheinung der Partei sei, müsse es sein, dem Proletariat die marxistische Theorie klar und unverfälscht zu vermitteln. „Aber daß ich helfen soll, diesen Elementen einen Boden unter uns zu bereiten, daß ich Leute, wie einen David, schonen soll, wenn sie alles auf den Kopf stellen, was wir seit einem Menschenalter gelernt und sie nicht gelernt haben —, das sehe ich nicht ein."147 Mit Rücksicht auf die „Einheit der Partei" schloß Kautsky jedoch organisatorische Konsequenzen aus.148 Zu den Entwicklungstendenzen der Landwirtschaft hieß es in einer offiziellen sozialdemokratischen Propagandabroschüre: „Im allgemeinen zeigt die Landwirtschaft, was das Verhältnis der einzelnen Größenklassen der Betriebe anbelangt, keine entscheidende Bewegung, kein Vordringen des Großbetriebes. Darin unterscheidet sie sich allerdings von der Industrie. Aber nichtsdestoweniger wird auch die landwirtschaftliche Bevölkerung immer abhängiger vom Kapital und hört immer mehr auf, Herr ihrer eigenen Produktionsmittel zu sein, ebenso wie die industrielle Arbeiterschaft. Die Wege dieses Entwicklungsganges sind
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14»
Kautsky, Karl, Sozialismus und Landwirtschaft, in: Die Neue Zeit, 21, 1902/03, 1, S. 818. Ebenda, S. 816. Kautsky an Adler, Briefwechsel, S. 415 f. Vgl. Laschitza, Annelies, Karl Kautsky und der Zentrismus, in: BzG, 10, 1968, 5, S. 798—832; Plener, Ulla, Karl Kautskys Opportunismus in Organisationsfragen (1900—1914). Zur Entstehung und Entwicklung des Zentrismus in der deutschen Sozialdemokratie, ebenda, 3,1961, S. 349—370.
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Eckhard Müller
jedoch äußerst verschlungen."149 Auf der Grundlage der im Erfurter Parteiprogramm charakterisierten sozialökonomischen Entwicklungstendenzen wurden in weiteren Artikeln der „Neuen Zeit" die revisionistischen Auffassungen Davids in der Agrarfrage zurückgewiesen150, eine positive Lösung der Bauernfrage wurde jedoch nicht gefunden. Auf dem Dresdner Parteitag 1903 fand der folgende Antrag eines Sozialdemokraten aus Frankfurt a. d. O. nicht genügend Unterstützung: „Der Parteitag möge selbst oder möge versuchen, durch von ihm ausgehende Weisungen in der Agrar-, speziell aber Grund- und Bodenfrage ein klares, einheitliches Bild und Ziel zu schaffen."151 Den Hintergrund der ungenügenden Diskussionsbereitschaft zur Agrar- und damit zur Bündnisfrage bildete die Auffassung, welche Ludwig Quessel in seiner Kritik an Davids Schrift dahingehend zusammenfaßte, daß das ständig wachsende Proletariat zur politischen Machteroberung keinen Bundesgenossen brauche. „Nur, wer den inneren Kräften der menschlichen Wirtschaftsentwicklung blind gegenüberstehe, kann die Gewinnung der selbständigen Landbebauermasse noch für unentbehrlich zur Eroberung der politischen Macht halten."152 W. I. Lenin, der sich der Dringlichkeit der Lösung der Bündnisfrage unter imperialistischen Bedingungen für die Strategie und Taktik der sozialistischen Revolution bewußt war, kämpfte auch in der Bauernfrage entschieden sowohl gegen die rechtsopportunistischen Auffassungen als auch gegen verengte Ansichten und Praktiken einen komplizierten und umfassenden Kampf. Ausgehend von den Grundideen in Engels' „Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland" begründete Lenin, „daß die Arbeiterpartei, ohne die Grundgebote des Marxismus zu verletzen und einen gewaltigen politischen Fehler zu begehen, an den revolutionären Elementen, die es auch in der Bauernschaft gibt, nicht vorbeigehen, diesen Elementen nicht die Unterstützung versagen kann". 153 Dabei könne es sich nicht um die Unterstützung der Bauernschaft als einer Klasse von Kleineigentümern handeln oder gar darum, ihr Kleineigentum an Produktionsmitteln zu verewigen. Ihm ging es jetzt vielmehr um die Frage: „Wie gerade solche Forderungen ausgearbeitet werden können, die nicht zur Unterstützung der Kleinbesitzer in der kapitalistischen Gesellschaft abgleiten."154 Diese prinzipielle Frage iiu Die Vernichtung der Sozialdemokratie durch den Gelehrten des Centraiverbandes deutscher Industrieller. Eine Antwort, hrsg. im Auftrag des Parteivorstandes der deutschen Sozialdemokratie, Berlin 1903, S. 13. »au Vgl. Adler, Georg, Die Behandlung nichtproletarischer Schichten in der „Neuen Zeit" (1898-1914), in: Jenaer Beiträge zur Parteigeschichte, Nr. 31, Jena 1972, S. 9—19. 151 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Dresden vom 13. bis 20. 9. 1903, Berlin 1903, S. 124, 447. wa Quessel, Ludwig, Landwirtschaft und Industrie. Kritische Betrachtungen zu Eduard Davids Agrarwerk, 3, in: Die Neue Zeit, 21,1902/03, 2, S. 518. 153 Lenin, W. I., Entwurf eines Programms unserer Partei, in: Werke, Bd. 4, S. 328. li>4 Ebenda, S. 237; vgl. Hinckel, Oskar, Die Ausarbeitung des Leninschen Programms der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands, in: Revolutionäres Parteiprogramm — Revolutionäre Arbeitereinheit. Studien zum Kampf um die Vereinigung des Marxismus mit der Arbeiterbewegung, Berlin 1975, S. 582-593; Winternitz, J., Lenin und die Agrarfrage in Deutschland, Berlin 1949.
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hatte nicht nur Bedeutung für die Ausarbeitung des Agrarprogramms der russischen Sozialdemokratie. Sie richtete sich gegen die revisionistischen Auffassungen Davids und gleichzeitig gegen einen Verzicht auf die Ausarbeitung von Forderungen, die geeignet waren, die Bauern als Verbündete des Proletariats zu gewinnen. Lenin charakterisierte Davids Schrift „Sozialismus und Landwirtschaft", die er unmittelbar nach ihrem Erscheinen gelesen und konspektiert hatte 155 , als das „Hauptwerk des Revisionismus in der Agrarfrage" 156 und setzte sich systematisch mit diesen Auffassungen auseinander. „Furchtbar fade, dürftig und banal . . . Haben Sie Kautskys Artikel über diesen ,Neuproudhonismus' gelesen?" 157 In der „Iskra" vom 15. April 1903 kritisierte Lenin bereits die Hauptthesen des Davidschen Buches.158 1903 und 1906 erschien Davids „Sozialismus und Landwirtschaft" in russischer Übersetzung.159 Die russischen Opportunisten wollten auf diese Weise ihre Positionen in den Agrardebatten der SDAPR während der ersten russischen Revolution 1905—1907 fundieren und das reformistische Programm einer Munizipalisierung von Grund und Boden der Menschewiki stützen.160 Das menschewistische Munizipalisierungsprogramm charakterisierte Lenin als eine kleinbürgerliche Methode „der Schaffung von Verhältnissen eines größtmöglichen sozialen Friedens. Die proletarische Methode hat ausschließlich die Säuberung des Weges von allem Mittelalterlichen im Auge, die Freilegung des Weges für den Klassenkampf." Mit der Idee des „Munizipalsozialismus" werde der Klassenkampf abgestumpft, „denn dieser ist in der bürgerlichen Gesellschaft nur abseits von der großen Heerstraße des Klassenkampfes, nur in kleinen, lokalen, unwichtigen Fragen denkbar, in den sogar die Bourgeoisie nachgeben, sich aussöhnen kann, ohne dadurch die Möglichkeit der Erhaltung ihrer Herrschaft als Klasse einzubüßen". 161 1906 propagierten der Ungar A. Däniel und der Schweizer H. Karo die revisionistischen Thesen Davids in zwei Publikationen.162 Mit seinem Buch „Sozialismus »» Lenin, W. I., Konspekt und kritische Bemerkungen zu dem Buch von E. David. „Socialismus und Landwirtschaft", in: Werke, Bd. 40, S. 247—263. »56 Ders., Die Agrarfrage und die „Marxkritiker", ebenda, Bd. 13, S. 169. 157 Lenin an Plechanow, 15. 3.1903, ebenda, Bd. 34, S. 139. 158 Ders., „Les beaux exprits se rensontrent. (Was ungefähr heißt: Verwandte Seelen finden sich)", ebenda, Bd. 6, S. 431 ff. 15a David, Eduard, Sozializm i selskoe chozajstvo. Per s nem pod red. G. A. Grossmann, Petersburg 1906; vgl. Lenin, W. I., Die Agrarfrage und die „Marxkritiker", Moskau 1953, S. 38 Anm. 1; BolSaja sovetskaja enciklopedija, Bd. 7, Moskva 1972, S. 1428. 160 vgl Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Bd. 2, Moskau o. J., S. 205-215. 101 Lenin, Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie in der ersten russischen Revolution, S. 363 f. >62 Däniel, A., A magyar földmüvelo szocialismus feladati, Budapest 1906; Karo, H., Sozialismus und Landwirtschaft. Kurzgefaßte Abhandlung und Zugrundelegung des gleichnamigen Werkes von Dr. E. David, Züridi 1906.
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Eckhard
Müller
und Landwirtschaft" wurde David ein theoretischer Wortführer des Revisionismus, was auch international seinen Niederschlag fand.163 Der Agrarrevisionismus war jedoch nur eine Seite des vielseitigen Wirkens des ^Revisionisten Eduard David. Er war eine Schlüsselfigur im Umwandlungspro2eß der revolutionären deutschen Sozialdemokratie zu einer reformistischen Arbeiterpartei am Vorabend des ersten Weltkrieges.164 Er strebte Führungspositionen in der deutschen Sozialdemokratie an, die er als Reichstagsabgeordneter (1903), als Mitglied des Zentralbildungsausschusses (1906) und als Mitglied des Vorstandes der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion (1912) erreichte. Die politisch-ideologischen Grundlagen für Davids sozialchauvinistischen Verrat an den Interessen der Arbeiterklasse entstanden bereits von Anbeginn seiner Tätigkeit in der Sozialdemokratie. Es bedarf weiterer Forschungen, die klären helfen, wie in eine revolutionäre Partei, in der sich der Marxismus durchgesetzt hatte, solche Verfechter bürgerlicher Ideologie wie David eindringen und in ihr wichtige Funktionen und Einfluß erringen konnten. W. I. Lenin charakterisierte David 1915 als einen liberalen Arbeiterpolitiker.165 Der schnelle politische Aufstieg Davids lenkt mit Nachdruck darauf, die verschiedenartigen Typen von Revisionisten näher zu bestimmen und den Zusammenhang von Liberalismus und Revisionismus detaillierter zu ergründen. ua vgl. David, Eduard, Dwie rozprawki o stosunku socyalizmu do rolnictwa. S polszyk Dr. Wladyslaw Gumplowitz, Lwöw 1904; ders., Szocializmus 6s Mezögazdasag. Forditatto Dr. Sändor Szabados, 2 Bde., Budapest 1909. im vgl. Müller, Eckhard, Zum politischen Wirken des Revisionisten Eduard David in der deutschen Sozialdemokratie 1894-1907, in: BzG, 23,1981, 4, S. 569-582; ders., Eine alarmierende Vorentscheidung des 4. 8. 1914. Zur Haltung'der Opportunisten in der Wehrdebatte 1913, in: ebenda, 16,1974, 4, S. 662-671. 163 Vgl. Lenin, W. I., Das Hauptwerk des Opportunismus über den Krieg, in: Werke, Bd. 21, S. 268; Elm, Ludwig, Zwischen Fortschritt und Reaktion. Geschichte der Parteien der liberalen Bourgeoisie in Deutschland 1893-1918, Berlin 1968, S. 37-50; Steigerwald, Robert, Bürgerliche Philosophie und Revisionismus im imperialistischen Deutschland, Berlin 1980, S. 48-55.
Matthias John
Karl Liebknecht im „Roten Rathaus". Sein Wirken in ständigen und zeitweiligen Ausschüssen sowie in Deputationen der Berliner Stadtverordnetenversammlung 1901-1913
12 Jahre lang, von 1901 bis 1913, wirkte Karl Liebknecht als Mitglied der Berliner Stadtverordnetenversammlung. Seine außerordentlich umfangreiche Kommunalarbeit umfaßte im wesentlichen vier Tätigkeitsbereiche: Sein Wirken im Plenum des Stadtparlaments, seine Arbeit in dessen Deputationen und Ausschüssen, seine Wirksamkeit als recherchierender Stadtverordneter sowie schließlich sein Auftreten außerhalb des „Roten Rathauses", etwa in den Wahlkämpfen zu den zweijährlichen Ergänzungswahlen oder in Versammlungen zu kommunalen Problemen.1 Seit der Steinschen Städtereform von 1808 spielten in den preußischen Städten Deputationen und Ausschüsse als Organe der kommunalen Selbstverwaltung eine wichtige Rolle. Obligatorisch waren auf Grund der Städteordnung die Armendeputation (Armendirektion), die Gesundheitskommission, die Schuldeputation, die Servis- und Einquartierungsdeputation und der Waisenrat (Gemeindewaisenrat) zu bilden. Darüber hinaus konnten fakultativ Verwaltungsdeputationen zur dauernden Verwaltung oder Beaufsichtigung einzelner Geschäftszweige eingerichtet werden. Besondere Bedeutung besaßen die Finanz-, Gewerbe-, Grundeigentums-, Bau- oder Verkehrsdeputationen, die mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet waren. Zur Erledigung zeitweiliger Aufgaben konnten schließlich nichtständige Deputationen eingesetzt werden. Die Verwaltungsdeputationen waren ihrer rechtlichen Stellung nach Hilfsorgane des Magistrats und diesem in jeder Beziehung untergeordnet. Sie konnten gebildet werden entweder nur aus Magistratsmitgliedern oder aus Mitgliedern des Magistrats und der Stadtverordnetenversammlung oder aus Mitgliedern beider Gemeindevertretungen und einer Anzahl stimmfähiger Bürger.2 Die 1
2
Vgl. Herbig, Erna, Über Karl Liebknechts Referententätigkeit, in: BzG, 1971, S. 590 ff. Die folgende Darstellung beruht auf John, Matthias, Karl Liebknechts Tätigkeit als Berliner Stadtverordneter, Phil. Diss. Leipzig, 1980, S. 47 ff. Vgl. Ries, Deputationen und Kommissionen, in: Handwörterbuch der Kommunalwissenschaften, Bd. 1, Jena 1914, S. 525. Zur gesetzlichen Grundlage der Bildung, Stellung und Befugnisse von Verwaltungsdeputationen siehe § 59 der preußischen Städteordnung von 1853, in: Ledermann, Walter/Brühl, Ludwig, Die Städteordnüng für die sechs östlichen Provinzen Preußens vom 30. 5. 1853 nebst ihren gesetzlichen Ergänzungen, Berlin 1913, S. 327 ff.; § 26 der Instruktion für die Stadtmagistrate vom 25. 5. 1835, ebenda, S. 505. Die preußische Städteordnung von 1853 hatte Rechte und Aufgaben der Ausschüsse sowie Deputationen stark beschnitten. Nach der Steinsdien
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Matthias
John
Mitglieder einer gemischten Deputationen wurden, soweit es sich um Stadtverordnete oder stimmfähige Bürger handelte, von der Stadtverordnetenversammlung gewählt; dagegen nominierte der Bürgermeister die einer Verwaltungsdeputation zugehörenden Magistratsmitglieder, aus denen er auch den jeweiligen Vorsitzenden der Deputation zu bestimmen hatte. Die Verwaltungsdeputationen hatten die ihnen übertragenen Geschäfte ausschließlich unter Aufsicht und Leitung des Magistrats auszuführen, der jeden von ihnen gefaßten Beschluß abändern konnte. Anders als die Verwaltungsdeputationen waren die Ausschüsse Organe der Stadtverordnetenversammlung. Der Bürgermeister besaß ihnen gegenüber lediglich das Recht, jedem Ausschuß ein Mitglied des Magistrats beizuordnen.3 Über die Ausschüsse kontrollierte die Versammlung in erster Linie die Ausführung ihrer Beschlüsse und die Verwendung aller Gemeindeeinnahmen. Sie war jedoch auch befugt, besondere Ausschüsse „zur Vorberatung bestimmter Kategorien von Gegenständen sowie für einzelne Angelegenheiten" zu bestellen. Derartige Ausschüsse wurden insbesondere zur Vorbesprechung und Prüfung der Magistratsvorlagen eingesetzt. Neben einer Vielzahl zeitweiliger gab es auch eine Reihe ständiger Ausschüsse, wie beispielsweise den Rechnungs-, den Petitionssowie den Wahlprüfungsausschuß. Zur Wahl von Ausschüssen wurde die Berliner Stadtverordnetenversammlung am Beginn eines jeden Kalenderjahres durch Auslosung in fünf Abteilungen mit möglichst gleicher Mitgliederzahl geteilt. Jede von ihnen wählte mit absoluter Stimmenmehrheit einen Vorsitzenden und einen Schriftführer sowie die Stellvertreter für beide. Alle Abteilungen wählten die gleiche Zahl von Ausschußmitgliedern durch Stimmzettel, wobei sich die Wahl auf sämtliche Mitglieder der Stadtverordnetenversammlung erstrecken konnte. Entsprechend der Größe der zu bildenden Kommission hatte jede Abteilung ein, zwei oder drei Mitglieder für einen Ausschuß zu wählen.4 Oftmals entschied nur eine Stimme zugunsten oder zuungunsten eines Kandidaten, da die Wahl der Ausschußmitglieder in den einzelnen Abteilungen nach der absoluten Mehrheit ihrer anwesenden Mitglieder erfolgte. Bemerkenswert ist, daß Liebknecht auch 1908 und 1909 einer Abteilung zugelost wurde, obwohl er vom 24. Oktober 1907 bis zum 1. Juni 1908 infolge der ihm
3 4
Städteordnung von 1808 war die Bildung von Verwaltungsdeputationen obligatorisch gewesen. Sie setzten sich größtenteils aus Stadtverordneten sowie Bürgern zusammen. Dem Magistrat verblieben ohne deren unmittelbare Beteiligung nur die allgemeine Leitung der ganzen Verwaltung und diejenigen Geschäftszweige, bei denen es nicht auf „eigene Administration, sondern hauptsächlich auf Gesetze und Verfassungskunde" ankam. Vgl. Stein, Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr von und zum, Briefe und amtliche Schriften, Bd. 2/11, Stuttgart 1960, S. 969 ff. § 37 der preußischen Städteordnung von 1853, in: Ledermann/Brühl, S. 171 ff. Gemäß der Bedeutung und des Umfanges der zu beratenden Gegenstände wurden Ausschüsse mit 5, 10 oder 15 Mitgliedern gebildet, (vgl. § 17 der Geschäftsordnung für die Stadtverordneten zu Berlin vom 8.12.1894, in: Geschäftsordnung für die Stadtverordneten zu Berlin, Berlin 1904, S. 16 f.).
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Elm, Ludwig, Freisinnige Volkspartei, in: Die bürgerlichen Parteien in Deutschland. Handbuch, Bd. 2, Leipzig 1970, S. 80 ff.; Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 4 (Struktur und Krisen des Kaiserreichs), Stuttgart/ Berlin/Köln/Mainz 1969, S. 85. JB Liebknecht, Karl, Gegen die Entrechtung der sozialdemokratischen Mitglieder der Deputation für das Obdachwesen, in: Werke, Bd. 1, Berlin 1958, S. 64 ff.
Liebknecht im „Roten Rathaus"
221
abhängig von allem Cliquen- und Parteiwesen" bezeichnende „Berliner Zeitung" mußte die Argumentation des sozialdemokratischen Stadtverordneten anerkennen: „Was . . . Dr. Liebknecht in scharfsinnig-logischen Ausführungen bot, schien uns darzutun, als wenn das juristische Fundament der Herren Magistratsvertreter doch recht schwach bestellt sei."17 Das hinderte jedoch die freisinnige Majorität in der Berliner Stadtverordnetenversammlung nicht daran, die Fischbecksche Maßregel zu billigen.18 Hoffmann und Augustin beauftragten daraufhin am 19. bzw. 28. April 1904 Karl Liebknecht, alle zulässigen Rechtsmittel gegen diese Maßnahmen anzuwenden. 19 Nachdem seine Vorstellung beim Oberbürgermeister erfolglos blieb20, erhob Liebknecht am 22. Juni 1904 beim Oberpräsidenten der Provinz Brandenburg Verwaltungsbeschwerde. Dieser ließ dem Beschwerdeführer Anfang August mitteilen, daß sich die Anordnung des Stadtrates Fischbeck wie auch der angegriffene Bescheid des Oberbürgermeisters „im Rahmen der Beschlüsse der Deputation" hielten. 21 Nunmehr wandte sich Karl Liebknecht namens seiner Mandanten an die höchste Instanz, das Oberverwaltungsgericht. Am 25. November 1904 fand die Verhandlung statt. 22 Liebknecht hatte zunächst die Zulässigkeit der Klage zu belegen und zu beweisen, daß es sich bei der Verfügung Fischbecks um eine Disziplinarmaßregel handelte. Wie am 23. März 1904, betonte er nochmals, daß den beiden sozialdemokratischen Deputationsmitgliedern mit dem Verbot des Zutritts zum Obdachlosenasyl das Recht auf Information genommen werde. Da sich diese Maßregel ausschließlich gegen Augustin und Hoffmann richte und vom Stadtrat Fischbeck mit der „Verletzung der ihnen als Beamten obliegenden Pflichten" motiviert werde, handele es sich hier eindeutig um eine Disziplinarmaßnahme. Das preußische Oberverwaltungsgericht wies jedoch die Klage mit der Behauptung ab, „daß eine Strafverfügung, eine Disziplinarmaßregel nicht getroffen sei, weil keine Ausübung der Disziplinarstrafgewalt vorgekommen wäre". Damit erklärte aber dasselbe Gericht, wie auch kaum anders zu erwarten, das „Ausnahmegesetz" gegen die beiden sozialdemokratischen Deputationsmitglieder f ü r legitim. Ungeachtet aller Versuche der freisinnigen Stadtverordnetenmehrheit, die Sozialdemokratie zunächst von allen, später aber von den wichtigen Ausschüssen sowie Deputationen auszuschließen und schließlich zumindest ihr Wirken zu erschweren bzw. unmöglich zu machen, gelang der Arbeiterpartei im ersten Jahrzehnt des 20. Jh. der entscheidende Durchbruch in diesem Bereich der kommunalen Selbstverwaltung. Ihr jahrzehntelanger Kampf um eine der Mitgliederstärke der sozialdemokratischen Fraktion entsprechende Vertretung in allen Verwaltungsdeputationen sowie Ausschüssen beweist, daß sie ihre be" Lange, Annemarie, Das Wilhelminische Berlin. Zwischen Jahrhundertwende und Novemberrevolution, Berlin 19762, S. 290 f.; Berliner Zeitung, 24. 3.1904. 18 Stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung, 31. Jg., S. 209. la StadtAB, Rep. 01, Nr. 3125, Bl. 9 f. Ebenda, Bl. 2 ff., 12. ' a Ebenda, Bl. 32 ff., 44. ' a Vorwärts, 26.11.1904.
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Matthias
Tabelle
John
2
Die Sozialdemokratie in den Ausschüssen verordnetenversammlung™ Jahr 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 Jahr
Mitgliederzahl der Stadtverordder sozialdemokranetenversammlung tischen Fraktion _»»
142 143 144 140 144 142 144 143 143 141 144 143
23 28 28 31 31 35 35 35 35 38 38 38 43
der Berliner
Stadt-
Sozialdemokratische Abgeordnete in Ausschüssen u n d Deputationen* 20 28 27 29 30 34 35 33 34 37 36 _ » *
43
Ständige Deputationen u n d Ausschüsse Gesamtzahl
1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913
und Deputationen
90 91 92 91 94 94 100 102 102 102 103
Davon mit sozialdemokratischer Beteiligung 17 23 25 47 49 51 52 55 55 57 58 _ * *
111
63
Gesamtzahl der sozialdemokratischen Sitze 49 69 72 75 78 89 98 102 102 106 107 _ * »
143
*
Die Zahlenangaben beziehen sich jeweils auf die a m Beginn des entsprechenden J a h r e s bestehende Verteilung der Sitze in den K u r a t o r i e n u n d Deputationen. ** H i e r f ü r konnten bisher noch keine Angaben ermittelt werden. 23
Zusammengestellt nach: StadtAB, Rep. 00, Nr. 1310 (unfol.); Stadtverordnetenversammlung zu Berlin. Mitgliederverzeichnis, Berlin 1901 ff.; Vorwärts, 4. 11. 1909; 6.11.1911; 10.11.1913; Hirsch, S. 546 f.
Liebknecht im „Roten Bathaus"
223
sondere Bedeutving als gemeindliche Selbstverwaltungsorgane sehr wohl erkannte. Diese bestand vor allem darin, daß oftmals bereits hier de facto die Entscheidungen gefällt wurden, an denen die Aussprachen im Plenum meist .wenig oder nichts mehr änderten. Deshalb betonte der „Vorwärts", der Anteil der Sozialdemokraten an der Gemeindeverwaltung dürfe nicht nur danach beurteilt werden, was sie im Plenum der Stadtverordnetenversammlung leisteten. „Mindestens ebenso wichtig ist ihre Tätigkeit in den Verwaltungsdeputationen, den Kuratorien usw." 24 Unter den von Annemarie Lange genannten Vertretern der sozialdemokratischen Berliner Stadtverordnetenfraktion, die jahrelang in zwei oder drei städtischen Ausschüssen sowie Verwaltungsdeputationen arbeiteten, fehlt der Name Liebknecht, obwohl Heimann, Hoffmann, Pfannkuch, Wengeis oder Dr. Weyl erwähnt sind.25 Erstmals findet sich bei Heinz Wohlgemuth ein Hinweis auf Liebknechts Ausschußarbeit. Er führt zwei ständige Kommissionen an, denen Karl Liebknecht angehörte.26 Karl Liebknecht war jedoch während seiner zwölfjährigen Tätigkeit als Stadtverordneter nicht nur in zwei, sondern in den nachfolgenden fünf dauernden Ausschüssen und Deputationen Mitglied: 1. Von 1902 bis 1904 im Plenum der Armendirektion; 2. von 1902 bis 1913 im Ausschuß zur Vorprüfung der Gültigkeit der Stadtverordnetenwahlen ; 3. von 1904 bis 1913 in der Kommission zur Verteilung der aus städtischen Fonds mit 3 600 M jährlich bewilligten Unterstützungen für Studierende der Berliner Königlichen Universität; 4. von 1904 bis 1913 in der gemischten Deputation zur Verteilung der zu Stipendien für Studierende der Berliner Königlichen Universität bewilligten 6 400 M; 5. von 1911 bis 1913 in der Verbandsversammlung von Großberlin. Außerdem wurde Liebknecht auch in drei zeitweilige Kommissionen gewählt: 1902 in den Ausschuß, der die Vorlage über die Joseph-Herzfeld-Stiftung vorzuberaten hatte, sowie in eine Kommission zur Vorberatung über die Annahme einer Schenkung; 1904 in das Kuratorium, das den vom Magistrat vorgelegten Entwurf eines Ortsstatuts für das Kaufmannsgericht der Stadt Berlin vorzubesprechen hatte. Trotzdem es sich bei der Tätigkeit in den ständigen Ausschüssen sowie Verwaltungsdeputationen oftmals um außerordentlich zeitraubende Arbeiten handelte, die Liebknecht neben seinem Engagement als Rechtsanwalt, später auch als Landtags- sowie Reichstagsabgeordneter, Führer der revolutionären Arbeiterjugendbewegung und der deutschen Linken bewältigen mußte, gehörte er kaum weniger Deputationen und Kommissionen an als die meisten der sozial24 25 26
Vorwärts, 28.1.1904. Lange, S. 384. Wohlgemuth, S. 55.
224
Matthias John
demokratischen Abgeordneten, deren politisches Hauptbetätigungsfeld das Berliner Stadtparlament war. Es sei hier nur an Waldeck Manasse oder Karl Koblenzer erinnert; das traf aber auch auf Arthur Stadthagen zu, der der Kommunalpolitik sehr große Aufmerksamkeit zumaß, oder auf Adolph Hoffmann, der im Plenum des Berliner Stadtparlaments zu den wirkungsvollsten Vertretern der Sozialdemokratie zählte.37 Tabelle 3 Zuordnung der sozialdemokratischen Vertreter der Berliner Stadtverordnetenversammlung zu den ständigen Ausschüssen und Deputationen28 Jahr*
1902
Sozialdemokratische Stadtverordnete 28
Ausschüsse und Depu- Name des jeweiligen sozialdemokratationen, denen ein so- tischen Stadtverordneten zialdemokratischer Vertreter gleichzeitig angehörte 6 5 3 2
1 1904
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1906
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Singer Freudenberg Basner, Borgmann, Bruns, Ewald, Glocke, Heimann, Tolksdorf, Wurm, Zubeil Augustin, A. Bernstein, Gleinert, Hintze, Hoffmann, Koblenzer, Leid, Liebknecht, Metzner, Pfannkuch, Ramlow, Wernau, Weyl, Wilke Friedberg, G. Schulz, Stadthagen Singer Weyl Antrick, Borgmann, Bruns, Ewald, Glocke, Gründel, Heimann, Kotzke, Liebknecht, Pfannkuch, Schubert, Tolksdorf, Wurm Basner, Hintze, Hoffmann, Koblenzer, Leid, Ramlow, Schneider, G. Schulz, Voigt, Zubeil Augustin, A. Bernstein, Gleinert, Stadthagen, Wilke Freudenberg Singer Arons, Ewald, Wurm Pfannkuch, Weyl Basner, Borgmann, Glocke, Gründel, Heimann, Hoffmann, Koblenzer, Liebknecht, Sassenbach, G. Schulz, Tolksdorf
Vgl. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Biographisches Lexikon, Berlin 1970, S. 216, 439.
Liebknecht im „Roten Rathaus" Jahr*
Sozialdemokratische Stadtverordnete
Ausschüsse und Depu- Name des jeweiligen sozialdemokratationen, denen ein so- tischen Stadtverordneten zialdemokratischer Vertreter gleichzeitig angehörte 2
1906
1 —
1908
35
8 6 5 4 3
2 1 —
1910
38
6 5 4 3 2
1 —
1913
43
8 7 6 5 4 3 2
15 J a h r b u c h 25
225
Bruns, Hintze, Kotzke, Ramlow, Schneider, Schubert, Voigt, Wengeis, Zubeil Augustin, A. Bernstein, Leid, Manasse, Stadthagen, Wilke, Zadek Antrick Singer Ewald, Weyl Borgmann, Tolksdorf Arons, Basner, Heimann, Koblenzer, Pfannkuch Bruns, Dupont, Glocke, Hintze, Sassenbach, Schneider, G. Schulz, Wengeis Hoffmann, Kotzke, Leid, Mars, Schubert, Voigt, Zubeil Augustin, A. Bernstein, Fischer, Manasse, Stadthagen, Wilke, Zadek Liebknecht (Festungshaft), Ritter Arons, Ewald, Singer, Tolksdorf, Wurm Basner, Weyl Borgmann, Heimann, Pfannkuch Bruns, Glocke, Hintze, Koblenzer, Liebknecht, Schneider, G. Schulz A. Bernstein, Cohn, Dupont, Hoffmann, Mars, Metzke, Ritter, Sassenbach, Wengeis, Wilke, Zubeil, Zucht Börner, Fischer, Leid, Manasse, Rosenfeld, Stadthagen, Zadek Kerfin Arons, Ewald, W u r m Pfannkuch Tolksdorf, Weyl Basner, Glocke, Hintze, G. Schulz Bruns, Heimann, Koblenzer, Leid, Liebknecht, Schneider Böhm, Dupont, Hoffmann, Manasse, Mann, Ritter, Wengeis, Zucht A. Bernstein, Börner, Cohn, Drescher, Fröhlich, Kerf in, Mars,
226
Matthias
Jahr*
Sozialdemokratische Stadtverordnete
1913
John Ausschüsse und Depu- Name des jeweiligen sozialdemokratationen, denen ein so- tischen Stadtverordneten zialdemokratischer Vertreter gleichzeitig angehörte 2 1
Metzke, Meyer, Sassenbach, Stadthagen, Zadek, Zubeil Brückner, Fischer, Rosenfeld, Wilke, Woldersky
* Zusammengestellt f ü r jene Jahre, in denen die Neuverteilung der Stadtverordneten auf die einzelnen Deputationen und Ausschüsse erfolgte (abgesehen von 1913, da f ü r 1912 die Angaben bisher nicht ermittelt werden konnten).
In sinnvoller Arbeitsteilung entsandte die sozialdemokratische Stadtverordnetenfraktion Berlins die Rechtsanwälte Karl Liebknecht, Arthur Stadthagen, Kurt Rosenfeld oder Oskar Cohn meist in Verwaltungsdeputationen und Ausschüsse, die vorrangig juristische Probleme berieten. Außerdem delegierte sie Leo Arons zumeist in solche Kuratorien, die Fragen des Schul- und Fortbildungswesens erörterten 29 , Waldeck Manasse gewöhnlich in Deputationen, in denen Probleme des Fürsorgewesens und der Waisenpflege im Mittelpunkt standen, oder Emanuel Wurm in Kommissionen, die Steuerfragen behandelten. 30 A m 17. April 1902 wurde Karl Liebknecht in den zeitweiligen Ausschuß gewählt, der die Vorlage über die Joseph-Herzfeld-Stiftung vorzuberaten hatte. 31 Diese Schenkung mit einem Grundkapital von 200 000 M sollte nach dem Willen der Herzfeldschen Erben wohltätigen Zwecken dienen. Sie wollten sie durch die Stadt Berlin lediglich verwalten lassen, während sie sich die Entscheidung über die Verwendung ihrer Erträge ausschließlich selbst vorbehielten. Karl 81
29
M
31
Zusammengestellt nach Hirsch, S. 546 f.; Vorwärts, 4. 11. 1909; 6. 11. 1911; 10.11.1913, und Stadtverordnetenversammlung zu Berlin. Mitgliederverzeichnis, Berlin 1902 ff. Die Tätigkeit eines Sozialdemokraten in Ausschüssen und Deputationen einer Stadtverordnetenversammlung wurde bisher lediglich bei Kotowski, Georg, Friedrich Ebert. Eine politische Biographie, Bd. 1, Wiesbaden 1963, ausführlich behandelt. Im Unterschied zur Ausschußtätigkeit Eberts in Bremen erweist sich die Quellenlage für Liebknechts Arbeit in kommunalen Kommissionen Berlins als teilweise recht kompliziert. So gehörte er 1909 unter anderem der Deputation für die äußeren Angelegenheiten der höheren Lehranstalten, dem Kuratorium der technischen Mittelschulen sowie der Deputation f ü r das Fach- und Fortbildungsschulwesen an (vgl. Stadtverordnetenversammlung zu Berlin. Mitgliederverzeichnis, Berlin 1909, S. 57). Emanuel Wurm wurde 1909 in den Rechnungsausschuß abgeordnet. Weiterhin war er in der Finanzdeputation und in der Deputation für Statistik sowie in noch zwei weiteren Ausschüssen Mitglied (vgl. ebenda, S. 79 f.). Stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung, 29. Jg., Berlin 1902, S. 239.
Liebknecht im „Roten Rathaus"
227
Liebknecht mußte sich für den 29. April entschuldigen, nahm aber an der zweiten und entscheidenden Beratung vom 24. Juni teil. In ihr beschloß der Ausschuß einstimmig, daß unter den gegebenen Bedingungen nur empfohlen werden könne, die Übernahme der Stiftung abzulehnen. Die Feststellung, daß „es der Würde der Stadt nicht angemessen sei, Bankiers und Rechtsanwälten Konkurrenz zu machen dadurch, daß sie Gelder gegen Provision verwahre und Zinszahlungen auf Anweisung Dritter vornehme"32, stammt mit einiger Sicherheit von Liebknecht. Am 12. Juni desselben Jahres wählte die III. Abteilung Karl Liebknecht und mit Hermann Ramlow einen weiteren Sozialdemokraten zu Mitgliedern des Ausschusses, der über die Annahme einer Schenkung vorzuberaten hatte.33 Diese Schenkung in Höhe von 10 000 M sollte den Grundstock einer „Martin-Kirschner-Stiftung" bilden, deren Erträge hilfsbedürftigen ehemaligen Stadtverordneten und Magistratsmitgliedern sowie ihren Hinterbliebenen zukommen würden. Der Stifter bestimmte, daß sein Name nicht genannt werde. Der Ausschuß beschloß am 24. Juni einstimmig, die Annahme der Stiftung zu empfehlen.34 Schließlich wurde Liebknecht am 1. Dezember 1904 noch in den zeitweiligen Ausschuß gewählt, der den vom Magistrat vorgelegten Entwurf eines Ortsstatuts für das Kaufmannsgericht der Stadt Berlin vorzuberaten hatte.35 In dieser außerordentlich wichtigen Kommission setzte sich Liebknecht gemeinsam mit Singer und Hintze vor allem für die Handlungsgehilfen ein. Nach langen Kämpfen hatte die Sozialdemokratie erreicht, daß dem Reichstag im Januar 1904 ein Gesetzentwurf über die Errichtung von Kaufmannsgerichten vorgelegt wurde.36 Dieser überwies ihn an einen Ausschuß, in dem die Vertreter der Sozialdemokratie konsequent die Interessen der Handlungsgehilfen — eine schnelle und billige Rechtsprechung unter direkter Mitwirkung der Gehilfen bei Streitigkeiten mit Prinzipalen37 — vertraten. Nach langwierigen Diskussionen in dieser Kommission sowie im Plenum verabschiedete der Reichs^tag am 15. Juni 1904 dieses Gesetz. Danach mußte in jeder Gemeinde mit mehr als 20 000 Einwohnern ein Kaufmannsgericht geschaffen werden, wobei die Errichtung durch Ortsstatut zu erfolgen hatte.38 32 x
30 M 31 M
15*
Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung zu Berlin, 29. Jg., Berlin 1902, S. 564. Stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung, 29. Jg., S. 323. Ebenda, S. 350. Martin Kirschner (1842—1912) war Jurist, wurde 1892 zum zweiten Bürgermeister und im Juli 1898 zum Oberbürgermeister von Berlin gewählt. Die Regierung bestätigte diese Wahl erst im Dezember 1899, da sie sich im Konflikt mit der Berliner Stadtverordnetenversammlung wegen eines Beschlusses über die Instandhaltung der Gräber der Märzgefallenen von 1848 befand (vgl. Hirsch, S. 61 f., 68; Huber, S. 85). Vorwärts, 3.12.1904. Ebenda, 10. und 21.1.1904. Ebenda, 20. 9.1904. Von Meyeren, Das Reichsgesetz betreffend Kaufmannsgerichte vom 6. 7. 1904, Berlin 1905, S. X I I ; Depöne, Reichsgesetz betreffend Kaufmannsgerichte vom 6. 7. 1904, Berlin 1914, S. 36.
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Matthias John
Der Magistratsentwurf eines solchen Statuts ging der Berliner Stadtverordnetenversammlung im November 1904 zu, und sie setzte ihn sofort auf die Tagesordnung. Bei der Beratung im Stadtverordnetenkollegium am 1. Dezember brachte Liebknecht namens der sozialdemokratischen Fraktion eine Reihe von Verbesserungsvorschlägen vor, die den Anschluß des Kaufmannsgerichts an das Gewerbegericht, das Wahlverfahren für die Beisitzer (Sonntag als Wahltag und Wahlgeheimnis), die Gebührenfreiheit, die Höhe der Vergütung für die Beisitzer sowie die Hinzuziehung von Frauen betrafen.39 Da sich in der Diskussion größere Divergenzen gegenüber dem Magistratsentwurf des Ortsstatuts zeigten, wurde die Vorlage an einen Ausschuß verwiesen. Karl Liebknecht maß der Arbeit in dieser Kommission sehr große Aufmerksamkeit bei. Er nahm an allen sechs Ausschußsitzungen teil, die am 5., 9., 16. und 19. Dezember 1904 sowie am 11. und 14. Januar 1905 stattfanden.40 So waren auch die von der Sozialdemokratie in dieser Kommission erzielten Erfolge, wie die Einigung über die Einbeziehung der Frauen, die Sicherung des Wahlgeheimnisses und die Sonntagswahl, wesentlich auf Liebknechts Wirken zurückzuführen. In der Stadtverordnetensitzung vom 26. Januar 1905 begründete Liebknecht nochmals die bereits in der Kommission verhandelten und dort von der freisinnigen Mehrheit abgelehnten Anträge auf Anschluß der Kaufmannsgerichte an die Gewerbegerichte sowie auf Gebührenfreiheit. Sie wurden jedoch auch von der bürgerlichen Majorität in der Berliner Stadtverordnetenversammlung rundweg verworfen.41 Am 13. Januar 1902 schlug der zeitweilige Ausschuß, der die Abordnung der Stadtverordneten in die ständigen Kommissionen des Stadtparlaments sowie in die Verwaltungsdeputationen vorzubereiten hatte, Karl Liebknecht als Mitglied der Armendirektion (Plenum) vor. Die Versammlung bestätigte ihn am 23. Januar in dieser Funktion 42 Gerade die Armendirektion besaß als Verwaltungsdeputation ein außerordentlich hohes Gewicht; nicht zuletzt deshalb wurde ihre rechtliche Grundlage reichs- und landesgesetzlich geregelt.43 Sie hatte im allgemeinen die Aufsicht über das gesamte Kommunalarmenwesen (Armenkommissionen und -kreise)
40 41
42
Liebknecht, Karl, Für die Demokratisierung der Kaufmannsgerichte, in: Werke, Bd. 1, S. 93 ff. Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung zu Berlin, 32. Jg., Berlin 1905, S. 57 ff. Liebknecht, Karl, Nochmals zur Frage der Kaufmannsgerichte, in: Werke, Bd. 1, S. 116 ff.; Stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen der Stadverordnetenversammlung, 32. Jg., Berlin 1905, S. 52. Die Problematik der Kaufmannsgerichte und Liebknechts Aktivitäten, u. a. im Ausschuß zur Vorprüfung des Ortsstatutenentwurfs für Berlin, bedürfen m. E. weitergehende Untersuchungen; vgl. Hirsch, S. 235 ff.; Bernstein, Eduard, Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung, 3. T., Berlin 1910, S. 244 f. Vorlagen für die Stadtverodnetenversammlung zu Berlin, 29. Jg., S. 86; Stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen der Stadtverodnetenversammlung, 29. Jg., S. 52.
Liebknecht im „Roten Rathaus"
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auszuüben und im besonderen für die öffentliche Unterstützung hilfsbedürftiger Armer zu sorgen.44 Liebknecht hatte u. a. in jeiner Rede vom 11. Oktober 1900 nachgewiesen, daß auf der einen Seite der moderne Großbetrieb immer mehr Fortschritte mache und auf der anderen das moderne Elend zunehme, und daraus gefolgert, daß der Kapitalismus einzig und allein durch „die Uberführung der Produktionsmittel in den Besitz der Gesellschaft" gebannt werden könne.45 Als am 11. März 1902 sich eine Volksversammlung in der „Urania", Wrangelstraße, mit dem Thema „Uber die Mängel der Berliner Armenpflege" beschäftigte, betonte Karl Liebknecht als Referent, man dürfe „die Armenpflege nur als kleine Reform im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft" auffassen. Jedes Arbeiterschutzgesetz, „welches die Lage der arbeitenden Klassen verbessert und damit die Armut vermindert", sei wertvoller als jede Armenunterstützung; gleichzeitig müßten jedoch unter den noch bestehenden Zuständen Sozialdemokraten auch in der öffentlichen Armenpflege mitarbeiten. Liebknecht ordnete das Ringen um eine Verbesserung des Armenwesens eindeutig in den Kampf um demokratische Verhältnisse ein und grenzte sich in dieser Frage von den Ansichten der „Munizipalsozialisten" ab.46 Als August Hintze, der zweite sozialdemokratische Vertreter in der „Armendirektion", erklärte, die Armenpflege lasse zwar noch viel zu wünschen übrig, aber neuerdings solle ein Weg zur Besserung eingeschlagen werden, erwiderte Liebknecht: „Wenn sich die Verhältnisse in Bezug auf die Armenpflege etwas bessern, so sei das hauptsächlich auf das Drängen und die Agitation der Sozialdemokratie zurückzuführen."47 Hintze verlor sich zuletzt in der Erörterung einer Vielzahl von Details des Armenwesens, verband aber keine dieser offenen Fragen, wie ein revolutionärer Sozialdemokrat von der sozialdemokratischen Kommunalpolitik gefordert hatte und von Karl Liebknecht demonstriert wurde, „mit den großen universellen Gesichtspunkten, von denen die Arbeiterbewegung geleitet ist".48 An diesem Beispiel zeigt sich in Ansätzen, was in den folgenden Jahren auch in der Kommunalpolitik der Berliner Sozialdemokratie immer deutlicher hervortrat: das Bestehen einer revolutionären Strömung, zu deren führendem Ver-
43
44
4b
45
47 48
Vgl. Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz vom 6. 6. 1860 (bes. § 2) und das preußische Ausführungsgesetz vom 8. 3. 1871 (§§ 2 und 3), in: Ledermann/Brühl, S. 333 ff. Vgl. § 3 der Armenordnung für die Residenz Berlin vom 3. 10. 1826, in: Berliner Gemeinderecht, Bd. 8 (Verwaltung der offenen Armenhilfe, Armendirektion, Stiftungsdeputation), Berlin 1905, S. 14; § 59 der preußischen Städteordnung von 1853, in: Ledermann/Brühl, S. 333. Liebknecht, Karl, Gegen den Hunnenfeldzug, in: Werke, Bd. 1, S. 8; vgl. Marx, Karl, Das Kapital, 1. Bd., in: MEW, Bd. 23, S. 673 f. Bernstein, Eduard, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart/Berlin 19212, S. 186 f., 227 f. Vorwärts, 14. 3.1902. Vhlig, Otto, Reform der Armenpflege, in: Kommunale Praxis, 1902,12, S. 206.
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treter Liebknecht wurde, und einer opportunistischen Richtung, zu deren einem Repräsentanten Hintze werden sollte. Die hier erwähnte Versammlung fand nur einen Tag nach Karl Liebknechts Einführung in die Armendeputation statt. Ursprünglich sollte er bereits am 10. Februar 1902 um 11 Uhr im Sitzungssaal der Armendirektion, Mühlendamm 1, in das Plenum eingeführt werden.49 Er war aber — wie er in einem Schreiben vom 6. Februar 1902 mitteilte — „durch die Verteidigung in einer Strafsache gegen Köthke und Genossen bis etwa zum 20. d. Mts. hier (in Neuruppin — M. J.) festgehalten"; aus diesem Grund bat Liebknecht, ihn „von der erwähnten Sitzung wie überhaupt von den Geschäften der Armendirektion bis dahin beurlauben zu wollen".50 Infolgedessen wurde Karl Liebknecht erst in der nächsten Sitzung am 10. März 1902 in das Plenum der Armendirektion eingeführt. Von diesem Tage an konnte er die ihm als Mitglied der Armendeputation verliehenen Obliegenheiten rechtlich wahrnehmen.51 Liebknechts Zugehörigkeit zur Armendeputation fiel in eine Zeit, die durch eine tiefe, von 1900 bis 1902/03 dauernde Wirtschaftskrise gekennzeichnet war. 52 Mit ihren direkten Auswirkungen wurde er gerade im Plenum der Armendirektion konfrontiert, da sich die Krisenerscheinungen neben Produktionsrückgang und Zusammenbruch vieler Unternehmen vor allem in der zahlenmäßigen Zunahme der Arbeitslosen zeigten (vgl. Tab. 4). Den nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitslosen53 blieb in der Regel nur die Armenunterstützung. Der Erhalt einer solchen Zuwendung war aber mit dem Verlust einer Reihe politischer Rechte verbunden, wie des Bürger- und damit auch des Kommunalwahlrechts. Aus diesem Grunde, so erklärte Karl Liebknecht, könne er jedem nur dringend empfehlen, „lieber sein Letztes zu versetzen, als die Hilfe der Armenverwaltung in Anspruch zu nehmen und dadurch sich seiner natürlichen Rechte zu berauben."54 Unter dem Einfluß der sozialdemokratischen Agitation StadtAB, Rep. Armendirektion-Generalia, Nr. 317, Bl. 223 r. ^ Ebenda, Bl. 213 f. M Vgl. § 28 der preußischen Städteordnung von 1853, in: Ledermann/Brühl, S. 148. Eine umfassende Rekonstruktion von Liebknechts Wirken im Plenum der Armendirektion erweist sich als sehr schwierig: Obwohl der Aktenbestand der Armendeputation im Gegensatz zu dem anderer Verwaltungsdeputationen in das Stadtarchiv gelangte, fehlen weitgehend die Akten, die sich unmittelbar auf die Arbeit des Plenums der Armendirektion beziehen; vgl. Kutzsch, Gerhard, Berlinische Geschichtsforschung heute, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins, NF, 1966, S. 76 f. 02 Vgl. Mottek, Hans/Becker, Walter/Schröter, Alfred, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Ein Grundriß, Bd. 3 (Von der Zeit der Bismarckschen Reichsgründung 1871 bis zur Niederlage des faschistischen deutschen Imperialismus 1945), Berlin 19752, S. 186 ff.; Kuczynski Jürgen, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd. 12, Berlin 1961, S. 105 ff. M Die Berliner Gewerkschaftskommission repräsentierte 1901 bereits 93 562 Mitglieder, 1902 108 729 und 1903 134 897 (vgl. Bernstein, Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung, 3. T., S. 260 f.). M StAP, Rep. 30, Berlin C, Polizeipräsidium, Nr. 14, 928, Bl. 260 r.; vgl. §§ 5 und 7 der preußischen Städeordnung von 1853, in: Ledermann/Brühl, S. 56 f., 59. 4a
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Tabelle 4 Zahl der Arbeitslosen (Februar 1902J55 Ort Berlin Rixdorf Charlottenburg Lichtenberg Schöneberg Weißensee Rummelsburg Pankow Wilmersdorf Tempelhof Baumschulenweg Stralau
auf dem Höhepunkt der Krise in Berlin und Umgegend
Arbeiter und Angestellte* 665 381 28 387 56 729 12 866 27 006 10 108 4 576 5 352 8 248 2 753 ** 540
Zahl der Arbeitslosen 63 793 3 505 2 681 1 639 1 511 1 308 430 407 288 99 81 40
in Zahl der Prozent Kurzarbeiter
in Prozent
9,58 12,34 4,72 12,74 5,69 12,94 9,39 7,60 3,49 3,60
6,44 10,12 4,03 10,19 3,91 8,12 9,59 5,51 2,24 2,75
—
7,40
42 863 2 875 2 284 1311 1055 821 439 295 185 75 98 27
—
5,00
* Der Autor faßt unter diesen Begriffen auf Grundlage der am 1. Dezember 1900 in Berlin und 23 Nachbargemeinden erfolgten Volkszählung folgende einzeln ausgewiesene Gruppen: Angestellte in Handel und Gewerbe (technische Betriebsbeamte, kaufmännisches Personal, gewerbliches Aufsichtspersonal), niedere Abhängige (Gesellen, Gehilfen, Vorarbeiter, sonstige qualifizierte Arbeitsgehilfen, Lehrlinge, Kassenboten, Diener, Kutscher und unqualifizierte Arbeiter), Dienstboten sowie Arbeiter ohne nähere Angaben. ** In der Volkszählungsstatistik wurden die Zahlenangaben für diesen Außenbezirk mit denen von fünf weiteren Vororten zusammengefaßt. beantragten verhältnismäßig wenige Arbeitslose eine Armenunterstützung, um ihres Berliner Bürgerrechts nicht verlustig zu gehen. Die von der Armendirektion gewährten Beihilfen waren zudem so niedrig, daß sie meist bei weitem nicht das Existenzminimum sicherten. Lediglich 3,5 Prozent der im Jahre 1902 bzw. 4,3 Prozent der 1903 durch die Armendirektion Unterstützten erhielten Zuwendungen, die dem Minimum entsprachen oder wenig darüber lagen. Karl Liebknecht forderte daher in einer Kommunalwählerversammlung im De05
Zusammengestellt nach Ermittlungen des Gewerkschaftsbüros über die in Berlin und Umgebung herrschende Arbeitslosigkeit, in: Kommunale Praxis, 1902, 7, S. 125, und Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 27. Jg., enthaltend die Statistik der Jahre 1900 bis 1902, Berlin 1903, S. 34 ff. Bei den Ermittlungen des Gewerkschaftsbüros handelt es sich um die einzige exakte Erhebung über das Ausmaß der Arbeitslosigkeit in Berlin und Umgebung; alle anderen Statistiken können nur mittelbar Auskunft über deren Umfang geben, wie die über das Verhältnis von offenen Stellen und Arbeitssuchenden (vgl. Vorwärts, 17.11.1901 und 23.12.1902) oder die über die seitens der Gewerkschaften an Arbeitslose gezahlten Unterstützungen (vgl. ebenda, 17. 11. 1901).
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Matthias John
Tabelle 5 Höhe der durch die Armendirektion minimum von 24,40 Mark56
Einwohnerzahl Anzahl der Almosenempfänger (jeweils am 31. März) in Prozent Unterstützung bis 12 Mark Anzahl der Personen in Prozent Unterstützung von 12 bis 24 Mark Anzahl der Personen in Prozent Unterstützung von 24 bis 30 Mark Anzahl der Personen in Prozent
gezahlten
Beihilfen
bei einem
Existenz-
1899
1901
1903
1 846 217
1 893 960
1 946 130
29 078 1,57
30 297 1,60
33 160 1,70
11 535 39,7
10 973 36,2
11 018 33,2
17 036 58,6
18 513 61,1
20 715 62,5
507 1,7
1 094 2,7
1 427 4,3
zember 1903 eine bedeutende Erhöhung des Armenetats. 57 Dieses Verlangen konkretisierte er in seiner „Verwaltungsreform in Preußen" dahingehend, daß die den Armen gewährte Fürsorge „zur Erhaltung eines angemessenen Lebens und (bei Familienanhang) Hausstandes hinreichen" müsse. Die bedeutenden Kosten für die Armenfürsorge seien nicht mehr von den Gemeinden, sondern durch direkte Steuern nach den Grundsätzen des Erfurter Programms vom Staate aufzubringen. 58 Tabelle.-6 Das Verhältnis Berlin59
der Kosten
für die Armenfürsorge
zum Gesamtetat
der
Stadt
Jahr
Gesamtetat der Stadt Berlin (in Mark)
Ausgaben für das im Verhältnis zum GeArmenwesen (in Mark) samtetat (in Prozent)
1901/02 1902/03 1903/04
108 968 256 112 480 083 117 166 050
13174 722 13 663172 14 247 414
06
12,1 12,1 12,2
Zusammengestellt nach Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 30. Jg., enthaltend die Statistik des Jahres 1905, Berlin 1907, S. 3; Verwaltungsbericht des Magistrats zu Berlin für das Etatsjahr 1903, Nr. 14 — Bericht über die städtische Armenpflege, Berlin o. J., S. 16; Kuczynski, Jürgen, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd. 3, Berlin 1962, S. 324 f. Verwaltungsbericht des Magistrats zu Berlin für das Etatsjahr 1902, Nr. 14 — Bericht über die städtische Armenpflege, S. 5 f.
Liebknecht im „Roten Rathaus"
237
Karl Liebknecht war in sämtlichen Armenkommissionen des 20. Kreises stimmberechtigtes Mitglied und verpflichtet, die gesamte Geschäftsführung dieser Kommissionen zu überwachen; er hatte gelegentlich ihre Sitzungen zu besuchen und insbesondere darauf zu achten, „ob alle oder einzelne Kommissionsmitglieder überlastet sind, ob die Zahl der Mitglieder in richtigem Verhältnis zu der Zahl der zu unterstützenden Fälle steht, und ob Verminderung oder Vermehrung der Geschäfte die Teilung oder Zusammenlegung von Kommissionen erforderlich macht". Außerdem hatte er zu prüfen, inwieweit die Unterstützung, die durch diese Armenkommissionen gewährt wurden, „im einzelnen Falle" berechtigt waren. Wichen die Beschlüsse dieser Kommissionen von den Anordnungen der Armendirektion ab, so mußte sie Karl Liebknecht beanstanden, ihre Ausführung vorläufig verhindern und inzwischen anderweitig Anordnungen treffen. Endgültige Beschlüsse darüber hatte die 20. Kreisversammlung zu fassen, der Liebknecht als Vorsitzender (von Februar 1903 bis Januar 1904) vorstand und die aus den Vorstehern der zum 20. Armenkreis gehörenden Armenkommissionen bestand. Sie hatte ferner über die von den Kommissionen zu unterbreitenden Anträge hinsichtlich einmaliger Unterstützungen sowie dauernder Zuwendungen zu entscheiden, sofern diese die Höchstsätze überschritten. Die Kreisversammlung entschied ferner über den Entzug der Barunterstützung im Falle der „Unwürdigkeit des Empfängers" und traf Verfügungen über Beschwerden von Hilfsbedürftigen. Letztendlich mußte sie alle den 20. Ärmenkreis betreffenden Fragen der Armenpflege sowie die „ihr durch die Armendirektion zur Erwägung oder Beschlußfassung überwiesene Angelegenheiten" erörtern.77 Als Vorsteher des 20. Armenkreises und auch als Vorsitzender der 20. Kreisversammlung trug Liebknecht die Verantwortung für das Armenwesen in einem Teil des Berliner Ostens. Wenngleich gebunden an die bestehenden Festlegungen und verfügbaren Mittel, konnte er Einfluß zur Linderung der Not des Proletariats in diesem Arbeiterbezirk nehmen. Dazu leistete er außerordentlich zeitraubende Arbeiten, die zu seiner unmittelbaren Tätigkeit im Plenum der Armendirektion hinzukamen. Zu dem größeren Arbeitsaufwand, der von ihm seit Anfang 1903 in der Armendeputation zu erbringen war, erweiterte er sein politisches Engagement: Nachdem ihn bereits am 28. Juli 1901 eine sozialdemokratische Kreiskonferenz in Spandau als Kandidaten für den Reichstag nominiert hatte, leistete er in der Vorbereitung der Reichstagswahl 1903 im Wahlkreis Potsdam-Spandau-Osthavelland eine außerordentlich intensive Arbeit.78 Auch seine Wirksamkeit als politischer Rechtsanwalt nahm seine Kräfte immer mehr in Anspruch, wie etwa im September/Oktober 1903 die Verteidigung der „Vorwärts"-Redakteure " Vgl. Anweisung für die Verwaltung der Armenkreise vom 9. 6. 1902, in: Berliner Gemeinderecht, Bd. 8 (Verwaltung der offenen Armenhilfe, Armendirektion, Stiftungsdeputation), S. 119 ff. / s Vorwärts, 30. 7.1901; Rückert, Otto, Zur Geschichte der Arbeiterbewegung im Reichstagswahlkreis Potsdam—Spandau—Osthavelland (1871—1917) unter besonderer Berücksichtigung der Tätigkeit Karl Liebknechts, T. 1, Potsdam 1965, S. 69, 76 ff.
238
Matthias John
Leid und Kaliski im sogenannten „Kaiserinselprozeß" sowie der beiden russischen Revolutionäre Krassikow und Schtschekoldin.79 Objektiv war es kaum möglich, die immens gewachsenen Verpflichtungen aus der politischen Arbeit mit den so umfangreichen Aufgaben als Armendirektionsmitglied in Einklang zu bringen. Deshalb dürfte Liebknecht im Verlaufe des Jahres 1903 die sozialdemokratische Stadtverordnetenfraktion darum gebeten haben, ihn nicht wieder f ü r die Armendeputation zu nominieren. Dem wurde entsprochen. Dafür wurde er am 18. Januar 1904 von der Fraktion f ü r zwei Ausschüsse vorgeschlagen, die über die Verteilung von Stipendien an Studierende der Berliner Königlichen Universität zu entscheiden hatten. Er trat in sie anstelle des sozialdemokratischen Arztes Dr. Freudenberg ein, der krankheitshalber am 14. April 1904 auch sein Stadtverordnetenmandat niederlegen mußte. 80 Die Tätigkeit in diesen Ausschüssen konnte Liebknecht besser mit seinem gesamten politischen Wirken in Übereinstimmung bringen, da sie ihn nur aller halben Jahre in Anspruch nahm. Von seiner Studienzeit in Leipzig und Berlin (1890—1893) mit derartigen Problemen vertraut, bildeten f ü r ihn Fragen der Stipendienverteilung einen Aspekt der Jugend- und Bildungspolitik, mit der er sich, auch auf diesem Gebiet das Erbe seines Vaters aufgreifend 81 , seit 1904 intensiver beschäftigte. 82 Mit hohen Kosten und einer langen Vorbereitungszeit habe der kapitalistische Staat eine gewaltige Barriere gegen alle Wissensdurstigen aus den unteren Gesellschaftsschichten geschaffen, stellte Karl Liebknecht fest. Um das Privileg der sogenannten höheren Klasse auf Universitätsbildung brechen zu können, müsse die Unentgeltlichkeit des Unterrichts an höheren Lehranstalten sowie Universitäten durchgesetzt und dafür gesorgt werden, „daß überall diejenigen, die als besonders geeignet anzusehen sind, zu diesen höheren Bildungsanstalten Zutritt haben". Das Stipendienwesen, gelegentliche Freistellen usw. würden in dieser Richtung, wie Karl Liebknecht in seinen Reden vom 25. April sowie 13. Juni 1910 vor dem preußischen Abgeordnetenhaus aufzeigte, auch nicht annähernd ausreichen. 83 Dabei bezog er sich ausdrücklich auf seine Erfahrungen, die er in den beiden Stipendienausschüssen der Berliner Stadtverwaltung sammeln konnte. Dem Ausschuß, der die von den Kommunalbehörden der Stadt Berlin am 12. Oktober 1860 zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens der Berliner Universi''» Wohlgemuth, S. 76 f., 79 f. 80 Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung zu Berlin, 31. Jg., Berlin 1904, S. 59 f.; Bernstein, Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung, 3. T., S. 218. 81 Vgl. Brumme, Hans, Einleitung zu Wilhelm Liebknecht: Wissen ist Macht — Macht ist Wissen und andere bildungspolitisch-pädagogische Äußerungen, Berlin 1968, S. 34 ff. (Erziehung und Gesellschaft. Materialien zur Geschichte der Erziehung). 82 Vgl. Wohlgemuth, S. 113 ff.; Laschitza, Annelies, Deutsche Linke im Kampf für eine demokratische Republik, Berlin 1969, S. 192. 83 Liebknecht, Karl, Für Freiheit der Wissenschaft, in: Werke, Bd. 3, Berlin 1960, S. 220 ff.; ders., Für politische Freiheit der Studenten, ebenda, S. 420.
Liebknecht im „Roten Rathaus"
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tät gegründete Stiftung für Studierende in Höhe von 3 600 M zu verwalten hatte, gehörte Karl Liebknecht von Ende Januar 1904 bis Januar 191484 mit einer eineinhalbjährigen Unterbrechung an, während der er (von Januar 1908 bis zum 24. Juni 190985) durch den sozialdemokratischen Stadtverordneten und Arzt Dr. Hermann Weyl vertreten wurde, mit dem ihn auch eine Freundschaft verband. Diese Kommission bestand aus dem Oberbürgermeister als Vorsitzendem, einem Magistratsmitglied, vier Stadtverordneten (1904 neben Karl Liebknecht Stadtverordnetenvorsteher Paul Langerhans, dessen Stellvertreter Michelet und Karl Mommsen), dem Rektor, dem Universitätsrichter und den Dekanen der vier Fakultäten der Berliner Universität.86 Sie hatte jährlich im Mai und November die Gesuche um Beihilfen zu prüfen und über die Stipendien für das betreffende Semester zu beschließen. Bis 1910 bewilligte die Kommission jeweils 90 M pro Studienhalbjahr, seit dem Herbstsemester 1910 180 M, da „unter den heutigen Lebensverhältnissen den Studierenden mit einer Unterstützung von nur 90 M pro Semester eine wirksame Beihilfe nicht gewährt werden kann". Hatten im Wintersemester 1904/05 von 7 410 immatrikulierten Studenten 40 eine Unterstützung von 90 Mark erhalten, so konnte der Zuschuß von 180 Mark nur noch 20 Studenten (von insgesamt 9 202 im Wintersemester 1910/11) gewährt werden.87 Die Antragsteller hatten ihre Bedürftigkeit durch ein testimonium paupertatis nachzuweisen; außerdem mußten sie ihr Abiturzeugnis sowie, wenn sie bereits studierten, eine vom Dekan ausgestellte Beurteilung vorlegen. Auf Grund dieser Unterlagen entschied dann die Stipendienkommission unter der Maßgabe, daß sich „die Studierenden . . . während dieser Zeit des Stipendiums stets würdig erweisen". Auch in der zweiten Stipendiendeputation war Karl Liebknecht von Ende Januar 1904 bis Januar 1914 Mitglied, und wiederum wurde er während seiner Festungshaft von Dr. Weyl vertreten.88 Diese erst seit 1900 bestehende Verwaltungsdeputation hatte einen 6 400-M-Fonds zu verwalten, der nach Beschlüssen der Stadtverordnetenversammlung vom 9. März und 5. Oktober 1899 sowie des Magistrats vom 30. Juni und 3. November 1899 jährlich aus dem Stadtetat für Stipendienzwecke bereitgestellt wurde.89 Dieser Ausschuß war 84
Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung zu Berlin, 31. Jg., S. 60; Stadtverordnetenversammlung zu Berlin. Mitgliederverzeichnis, Berlin 1914. Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung zu Berlin, 35. Jg., Berlin 1908, S. 33; Stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen der Stadtverodnetenversammlung, 36. Jg., S. 274; StAP, Rep. 30, Berlin C, Polizeipräsidium, Nr. 15 971, Bl. 75. 86 Die Stiftung des städtischen Vnterstützungsfonds für Studierende an der hiesigen Universität, in: Die königliche Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Systematische Zusammenstellung der für dieselbe bestehenden gesetzlichen, statuarischen und reglementarischen Bestimmungen, Berlin 1887, S. 597. ÖJ Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 29.-33. Jg., Berlin 1905—1916. Die Stiftung des städtischen Unterstützungsfonds für Studierende an der hiesigen Universität, S. 579 f.; Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung zu Berlin, 37. Jg., S. 467. ^ Stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen der Stadtverordnetenver-
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eine gemischte Deputation aus drei Stadträten und vier Stadtverordneten; das Stadtparlament wurde 1904 neben Liebknecht durch je einen Abgeordneten der anderen drei im „Roten Rathaus" vertretenen Fraktionen repräsentiert: Liebermann (Alte Linke), Ullstein (Neue Linke) sowie Kyllmann (Freie Fraktion).90 In jedem Jahr waren zu Ostern 3 000 M und zu Michaelis 3 400 M zu verteilen, die Höhe der Stipendien lag zwischen 250 und 500 M. Vorschläge über die Verteilung der verfügbaren Summe hatte die Kommission zu machen, die den 3 600-M-Fonds verwaltete, ebenfalls erfolgte die Vergabe nach den gleichen Grundsätzen, die für jenen Stipendienfonds maßgebend waren. Liebknecht erhielt in diesen statuarisch eng verbundenen Unterstützungsausschüssen detaillierten Einblick in das bürgerliche Stipendienwesen. Wenn die im Stadtarchiv Berlin überlieferten Quellen auch keine Belege über seine Tätigkeit in diesen Kollegien enthalten91, so lassen mehrere Reden Liebknechts vor dem preußischen Abgeordnetenhaus doch Rückschlüsse zu. Danach wurde er in beiden Stipendienausschüssen vor allem mit dem Mißverhältnis zwischen Gesuchen und den gewährten Unterstützungen konfrontiert; mit diesen Beihilfen, wie Liebknecht am 25. April 1910 konstatierte, konnten „trotz der reichen Dotierung der Berliner Universität nur ein paar Prozent der Bedürftigen mit diesen Stipendien versorgt werden".92 Bei 60 Bewerbungen seien zu Ostern 1910 aus dem städtischen 6 400-Mark-Fonds lediglich 13 Stipendien gewährt worden, die nach ihrer Höhe tatsächlich nur eine Beihilfe darstellten.93 Einer der zweifellos bedeutendsten städtischen Ausschüsse war der zur Vorprüfung der Gültigkeit der Stadtverordnetenwahlen. Ihm gehörte Karl Liebknecht vom 23. Januar 1902 bis Januar 1914 an94,mitAusnahme von zwei längeren Unterbrechungen. Die erste wurde durch die achtzehnmonatige Festungshaft verursacht, während der er (von Januar 1908 bis zum 24. Juni 1909) durch den erfahrenen sozialdemokratischenStadtverordneten HermannBorgmann vertreten wurde.95 Eine zweite Vakanz ergab sich im September 1911. Im Stenographischen Bericht der Stadtverordnetenversammlung vom 7. September 1911 hieß es dazu lediglich, daß vorgeschlagen würde, in den Wahlprüfungsausschuß „statt der
S1 10 10 9,1
S5
Sammlung, 26. Jg., Berlin 1899, S. 75, 291; Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung zu Berlin, 26. Jg., Berlin 1899, S. 530 f.; Stiftungsnachweis der Stadt Berlin, Berlin 1910, S. 543. Vgl. Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung zu Berlin, 31. Jg., S. 60; Vossische Zeitung, 20.1.1902. StadtAB, Rep. 00, Nr. 2432, 2434, 2435, 2440, 2451. Liebknecht, Für Freiheit der Wissenschaft, S. 222. Ders., Für politische Freiheit der Studenten, S. 421. Stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung, 29. Jg., S. 52; Stadtverordnetenversammlung zu Berlin. Mitgliederverzeichnis, Berlin 1914. Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung zu Berlin, 35. Jg., S. 31; Stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung, 36. Jg., S. 274; StAP, Rep. 30, Berlin C, Polizeipräsidium, Nr. 15 971, Bl. 75.
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zunächst ausscheidenden Herrn Kollegen Liebknecht und Stadthagen die Kollegen Leid und Mann zu wählen".96 Karl Liebknecht befand sich im August/ September 1911 infolge der Marokkokrise fast ununterbrochen auf Agitationsreisen.97 Im September hatte aber auch der Wahlprüfungsausschuß über die Einsprüche gegen die Richtigkeit der Gemeindewählerliste zu beraten. Diese Erörterungen waren 1911 von besonderer Bedeutung, da im November erstmals sonntags die Stadtverordnetenwahlen stattfanden und der Freisinn deswegen möglichst vielen Arbeitern das Kommunalwahlrecht abzusprechen suchte.98 Aus diesen Gründen übergab Liebknecht sein Mandat im Wahlprüfungsausschuß für kurze Zeit seinem Fraktionskollegen Karl Leid, der es in den Ausschußsitzungen vom 7. und 14. September 1911 wahrnahm.99 Zur Zeit der zweiten Sitzung befand sich Liebknecht auf einer Agitationsreise durch Thüringen; am 14. September sprach er in Weimar, am 15. in Kahla sowie am 17. in Suhl.100 Für die Zeit um den 7. September konnten bisher keine Nachweise ermittelt werden. In der nächsten Beratung der Wahlprüfungskommission, die am 19. Dezember 1911 stattfand, nahm Liebknecht sein Mandat als Ausschußmitglied wieder wahr. Insgesamt wohnte er während seiner Zugehörigkeit zum Wahlprüfungsausschuß 11 von 24 Sitzungen bei, die sich jeweils mit Einsprüchen gegen die Richtigkeit der Gemeindewählerliste, mit der Vorprüfung der Gültigkeit der Stadtverordnetenwahlen sowie mit Wahlprotesten beschäftigten; außerdem war er bei drei von 21 Routineberatungen anwesend. Die Gründe für sein Fehlen waren u. a. am 20. September 1904, am 18. September 1905, am 17. September 1907, am 13. September 1909 sowie am 17. September 1912 seine Teilnahme an sozialdemokratischen Parteitagen 101 ; am 16. Dezember 1909 fehlte er, weil er mit großer Intensität an den Leitsätzen und seinem Referat „Zur Verwaltungsreform in Preußen" für den Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Preußens (Anfang Januar 1910) arbeitete102; wiederholt mußte er wegen seiner Verpflichtungen als Abgeordneter des preußischen Landtages oder des Deutschen Reichstags auf seine Teilnahme an Beratungen der Wahlprüfungskommission verzichten — u. a. wohnte er am 10. Februar 1910 der ersten Lesung der Wahlrechtsvorlage im preußischen Abgeordnetenhaus bei, am 2. Juni 1910 sprach er vor demselben Haus zu den Methoden w
08
Jw W1
102
Stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung, 38. Jg., Berlin 1911, S. 331. Wohlgemuth, S. 205. Vorwärts, 15.10.1911.1911 gab es die höchste Zahl von Einsprüchen gegen die Richtigkeit der Gemeindewählerliste vor 1914 (vgl. Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung zu Berlin, 38. Jg., Berlin 1911, S. 707, und Tabelle 9). Vgl. StadtAB, Rep. 00, Nr. 236 (unfol.); Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung zu Berlin, 38. Jg., S. 707. Herbig, S. 594. Vgl. Biographische Daten, in: Liebknecht, Karl, Werke, Bd. 1, S. 481 ff.; Bd. 2, S. 500 ff.; Bd. 6, S. 499. IML/ZPA, NL 1/37, zit. in Laschitza, Deutsche Linke im Kampf für eine demokratische Republik, S. 173.
16 J a h r b u c h 25
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Tabelle 8 Karl Liebknechts Arbeit verordnetenwahlen103
Datum der Beratung
im Ausschuß zur Vorprüfung
Charakter der Sitzung*
20. 2.1902 16. 9.1902 4.12.1902 5. 2.1903 11. 2.1903 10. 9.1903 15. 9.1903
R E R R R E E
11.12.1903 22.12.1903 29.12.1903 4. 2.1904 1. 3.1904 30. 6.1904 20. 9.1904 22.12.1904 19. 1.1905 21. 3.1905 13. 4.1905 18. 9.1905 18.12.1905 3. 5.1906 13. 9.1906 27.11.1906 11. 4.1907 16. 5.1907 13. 6.1907 17. 9.1907
G W W w w R E W W W R E G R E R R R R E
der Gültigkeit der
Stadt-
Anwesenheit
von Karl
Liebknecht
ja
nein
nicht mehr feststellbar
X X
X X X X X
(beurlaubt)
X X X X X X
X
X X
X X
X X X X X X X X X
Von Januar 1908 bis zum 24. Juni 1909 wurde Karl Liebknecht im Wahlprüfungsaussdiuß durch Hermann Bergmann vertreten. 13. 9.1909 21. 9.1909 16.12.1909 10. 2.1910
E E E R
2. 6.1910 13. 9. 1910 8.12.1910
R E R
X
X X X (beurlaubt)
lua
X
X X
Zusammengestellt nach: StadtAB, Rep. 00, Nr. 234, 235, 236, sowie Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung zu Berlin, 29.—40. Jg., 1902—1913, Berlin 1902—1913.
Liebknecht im „Roten Rathaus" Datum der Beratung
Charakter der Sitzung*
9. 2.1911 23. 3.1911 12. 4.1911 15. 6.1911 7. 9.1911 14. 9.1911 19.12.1911 25. 4.1912 20. 6.1912 17. 9.1912 26. 9.1912 5.12. 1912 16. 1.1913 30. 1.1913 4. 9.1913 12. 9.1913
R R R R E E G R R E E R R R E E
15.12.1913
G
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Anwesenheit von Karl Liebknecht ja nein nicht mehr feststellbar
X X X X
vertreten durch Karl Leid vertreten durch Karl Leid
X
X
X X X X X
X
X X
(beurlaubt)
X
*E = Erörterungen über die Einsprüche gegen Bichtigkeit der Gemeindewählerliste. G = In diesen Beratungen befand der Ausschuß über die Gültigkeit der Ergänzungswahlen zur Berliner Stadtverordnetenversammlung. R = Routinesitzungen, in denen in der Regel über die Gültigkeit einzelner notwendig gewordener Ersatzwahlen entschieden wurde. W = Verhandlungen über die gegen die Wahl einzelner Stadtverordneter erhobenen Wahlproteste. der politischen Polizei in Preußen104, und am 5. Dezember 1912 nahm er im Reichstag an der Debatte zum Reichshaushaltsetat 1913 teil.105 Mehrfach hatte er Volksversammlungen den Vorzug gegeben, vor denen er zu referieren hatte; so sprach er am 4. Dezember 1902 im 6. Berliner Reichstagswahlkreis vor 4 000 Personen zum Thema „Der Umsturz im Reichstag"106; am Vorabend des 8. Dezember 1910 war er von einer anstrengenden zweimonatigen Agitationsreise durch die USA nach Berlin zurückgekehrt107; am 25. April 1912 trat Karl Liebknecht im preußischen Landtag gegen die antidemokratische militaristische Innenpolitik des preußischen Staates 108 und in einer öffentlichen sozialdemokratischen Versammlung in Berlin gegen die Annahme der neuen Heeres104
Vgl. Liebknecht, Karl, Gleiche Brüder - gleiche Kappen, in: Werke, Bd. 3, S. 345 ff. Liebknecht, Karl, Jesuitendebatte — „unlautere Verwirrungs- und Verdunklungstaktik", in: Werke, Bd. 5, Berlin 1963, S. 443 ff. 1UB StAP, Rep. 30, Berlin C, Polizeipräsidium, Nr. 14 926, Bl. 740 f. *» IML/ZPA, NL 1/61, Bl. 46, zit. in Wohlgemuth, S. 188. 108 Liebknecht, Karl, Die preußische Staatsgewalt — „brutale Exekutive der herrschenden Klassen", in: Werke, Bd. 5, S. 238 11.
luä
16*
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vorläge auf. Am 12. September 1913 legte er auf der vom „Komitee Konfessionslos" in Berlin-Neukölln veranstalteten Volksversammlung seinen Standpunkt zur Kirchenaustrittsbewegung dar.109 Schließlich mußte Liebknecht infolge seiner Rechtsanwaltstätigkeit Sitzungen des Wahlprüfungsausschausses fernbleiben; so am 4. Februar'1904, als er eine 36jährige Frau zu verteidigen hatte, die wegen Beleidigung, Hausfriedensbruch und ähnlichen Vergehen angeklagt worden war.110 Mit Karl Liebknecht und Arthur Stadthagen hatte die sozialdemokratische Fraktion der Berliner Stadtverordnetenversammlung zwei hervorragende Juristen in den Ausschuß entsandt. In der Tat waren hier juristische Ausbildung und genaue Kenntnis der Gesetze — namentlich des preußischen Dreiklassenrwahlrechts in den Stadt- und Landgemeinden vom 30. Juni 1900111 sowie der „Städteordnung für die sechs östlichen Provinzen der Preußischen Monarchie" vom 30. Mai 1853 — wichtige Voraussetzungen für ein erfolgreiches Wirken. Liebknecht setzte als Kommissionsmitglied sein juristisches Wissen vor allem in drei Richtungen ein: Alljährlich fanden im September Beratungen des Wahlprüfungsausschusses zu den Einsprüchen gegen die Richtigkeit der Gemeindewählerliste statt. In diesen Sitzungen mußte Karl Liebknecht den Versuchen der freisinnigen Ausschußmehrheit entgegentreten, vor allem Arbeitern das Gemeindewahlrecht abzusprechen, das diese oft erst unter großen materiellen Opfern mit Erwerb des kommunalen Bürgerrechts errungen hatten. Um ihr Kommunalwahlrecht ausüben zu können, mußten sie in der Liste der „stimmfähigen" Bürger eingetragen sein, die vom 15. bis zum 30. Juli eines jeden Jahres offen auslag. In der vom Magistrat geführten Wählerliste112 kam es aber vielfach vor, daß insbesondere wahlberechtigte Proletarier „irrtümlich" weggelassen wurden.113 In solchen Fällen mußten sie zur Wahrung ihres Wahlrechts innerhalb der angegebenen Frist Einspruch gegen die Richtigkeit der Gemeindewählerliste erheben. Daß immer mehr Wähler von ihrem Recht zur Einsichtnahme Gebrauch machten, war ein Erfolg der sozialdemokratischen Agitation.114 1909 kam es im Wahlprüfungsausschuß zu besonders harten Auseinandersetzungen um die Wählerliste, da der vom Freisinn beherrschte Magistrat und die freisinnige Mehrheit sowohl im Stadtverordnetenkollegium als auch im Ausschuß den Versuch unternahmen, das Gemeindewahlrecht noch weiter zu verschlechtern. Deshalb fanden in diesem Jahr zwei Ausschußberatungen zu Einsprüchen gegen die iua Vorwärts, 26. 4.1912,14. 9.1913. 11U Ebenda, 5. 2.1904. 111 Vgl. Evert, Die Dreiklassenwahl in den preußischen Stadt- und Landgemeinden. Gesetz vom 30. 6.1900, Berlin 1901. 112 Vgl. §§ 19 und 20 der preußischen Städteordnung von 1853, in: Ledermann/Brühl, S. 110 ff. 113 Vorwärts, 8. 9.1909; Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung zu Berlin, 36. Jg., Berlin 1909, S. 676 f.; vgl. die analogen Materialien ebenda, 29.-40. Jg., Berlin 1902 bis 1913. 114 Vgl. Mitteilungsblatt des Verbandes der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und Umgegend, Nr. 8,12. 8.1908.
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Tabelle 9 Die Zahl der in die Gemeindewählerliste einsehenden Personen sowie der Einsprüche gegen ihre Richtigkeit (1913 = 100)m Jahr
Zahl der einsehenden Personen
Im Verhältnis zu Anzahl der Ein1913 (in Prozent) Sprüche
1901 1903 1905 1907
* 17 080 21 314 56 674
20,8 25,9 69,0
1909
75 247
91,6
1911 1913
77 785 82 116
94,7 100,0
—
33 321 318 1 063 (876)** 3 633 (3 322)** 3 671 2 574
Im Verhältnis zu 1913 (in Prozent) 1,3 12,5 12,4 41,3 (34,0) 141,4 (129,0) 142,6 100,0
* Konnte bisher nicht ermittelt werden. ** Bei der jeweils ersten Zahl von Einsprüchen gegen die Wählerliste handelt es sich um die tatsächliche, vom „Vorwärts" veröffentlichte, während die jeweils zweite Zahl als die „amtliche" in Wirklichkeit nur die Personen umfaßte, die nachträglich um Aufnahme in die Gemeindewählerliste baten. Diese Zahl ist aber nicht identisch mit der der Proteste. Ebendiese Praxis wurde von der Berliner Gemeindeverwaltung seit 1908 betrieben, um die wirkliche Anzahl der erhobenen Einwände gegen die Liste zu verschleiern. Gemeindewählerliste statt, während bisher — mit Ausnahme von 1903 — immer nur eine Sitzung durchgeführt werden mußte. An der ersten Beratung am 13. September 1913 konnte Karl Liebknecht nicht teilnehmen, da er Delegierter des Leipziger Parteitages war; der zweiten Sitzung am 21. September wohnte er bei.116 Der Wahlprüfungskommission lagen in beiden Sitzungen die Einwände von 3 322 Personen — vier Jahre zuvor waren es nur 318117 — vor. 627 Einsprüche wurden als berechtigt anerkannt'18, wofür meist das energische Eintreten von Karl Liebknecht und Arthur Stadthagen ausschlaggebend war. Folgende Gründe wurden für die nachträgliche Aufnahme dieser 627 Personen in die Wählerliste angeführt: 1. In 91 Fällen ließ sich überhaupt kein stichhaltiger Grund für die Nichtaufnahme feststellen. 119 " s Zusammengestellt nach Bericht über die Gemeindeverwaltung der Stadt Berlin in den Verwaltungsjahren 1901—1905, 1. T., Berlin 1907, S. 12; ebenda für 1906-1910, 1. T., Berlin 1912, S. 25 f.; Vorwärts, 23. 8.1903; 3. 9. 1907; 8. und 29. 9. 1909; 28. 8.1913. 116 Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung zu Berlin, 36. Jg., S. 676 f. Vorwärts, 3. 9.1907. 118 Ebenda, 29. 9. 1909. Insgesamt waren 3633 Einsprüche erhoben worden, wovon der Magistrat 311, bei denen es sich um die Berichtigung der Namens- und Berufsangaben handelte, sofort erledigte. 1,9 Zu dieser wie den folgenden Zahlenangaben vgl. Vorwärts, 29. 9. 1909, und Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung zu Berlin, 36. Jg., S. 676 f.
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2. 41 Personen waren zunächst wegen unbezahlter Steuerreste eliminiert worden. Ihr Protest hatte Erfolg, weil sie entweder die Bezahlung auch der Restsumme belegen konnten oder ihnen nicht nachzuweisen war, daß an sie eine Zahlungsaufforderung ergangen ist. Das Kommunalwahlrecht ging selbst dann verloren, wenn der Wähler vor der Wahl mit den Gemeindeabgaben auch nur für einen Teil des letzten Jahres in Rückstand geraten war.120 Diese Bestimmung prangerte Karl Liebknecht am 16. Mai 1911 im preußischen Abgeordnetenhaus an: „Wenn man in bezug auf das kommunale Wahlrecht den Standpunkt vertritt, daß derjenige, der nicht mittatet in dem Sinne der Steuerzahlung, was in Wahrheit kein richtigs Mittaten ist, auch nicht mitraten soll, kein Wahlrecht haben soll, dann erkennt man damit im Prinzip an, daß die Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte abhängig gemacht werden kann von der materiellen Position, vom Geldsack. Meine Herren, das ist das Grundprinzip, von dem alle übrigen reaktionären Wahlrechte ausgehen."121 3. Außerdem empfahl der Ausschuß der Versammlung, 59 Personen nachträglich in die Wählerliste aufzunehmen, die wegen des Erhalts von „Unterstützungen aus öffentlichen Mitteln" gestrichen worden waren, jedoch diese Subsidien noch rechtzeitig zurückerstatten konnten bzw. noch keine Rechnung erhalten hatten. Besonders auf diese Ungerechtigkeit des bestehenden Kommunalwahlsystems wies Liebknecht in fast jeder Gemeindewählerversammlung hin. Er ermahnte die Arbeiter immer wieder, wenn irgend möglich rechtzeitig die einmal erhaltene Armenunterstützung im Interesse ihres Wahlrechts zurückzuzahlen. Dasselbe gelte für Krankenhausverpflegungen sowie ärztliche Behandlung auf Gemeindekosten, die sie für sich oder ihre Familienangehörigen in Anspruch genommen hatten.122 In der Kommunalwählerversammlung vom 25. November 1903 führte er als Beispiel an, daß allein schon die Bitte, eine Krankenhausrechnung über 150 Mark durch Ratenzahlung zu begleichen, faktisch zum Verlust der politischen Rechte des Antragstellers führe.123 4. Weiterhin akzeptierte die Kommission 93 Proteste, da irrtümlich angenommen worden war, es handle sich um „Nichtpreußen" bzw. um Personen, die weniger als ein Jahr in Berlin wohnten. Auch diese Bestimmungen der preußischen Städteordnung prangerte Karl Liebknecht mehrfach in Wählerversamlungen an. Gerade Arbeiter könnten oftmals die Forderung nach einjähriger Ansässigkeit im Wahlbezirk nicht erfüllen. Bei den Stadtverordnetenwahlen von 1901 hätten allein 50 000 Arbeiter das Kommunalwahlrecht nicht ausüben dürfen.124 Paragraph 5 der preußischen Städteordnung machte außerdem die rM
121
la
124
§§ 5 und 7 der preußischen Städteordnung von 1853, in: Ledermann/Brühl, S. 56 f., 59. Liebknecht, Karl, Für eine gründliche Reform des Gemeindewahlrechts, in: Werke, Bd. 4, S. 382 f. StAP, Rep. 30, Berlin C, Polizeipräsidium, Nr. 14 928, Bl. 260 r. Ebenda, Nr. 14 927, Bl. 729. Ebenda. Zum Aufnahmeverfahren in den preußischen Staatsverband siehe Heinemann, Die Aufnahme in den preußischen Staatsverband, in: Mitteilungsblatt des Verbandes der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und Umgegend, Nr. 6, 12. 6.1907.
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Zugehörigkeit zum preußischen Staatsverband zur Vorbedingung f ü r das Gemeindewahlrecht; Sachsen oder Bayern galten danach als „Ausländer". Auch von diesem Ansatzpunkt aus verlangte Karl Liebknecht am 18. Mai 1914 im preußischen Landtag eine „Verdeutschung Preußens". 125 5. 238 Personen konnten beweisen, daß sie einen „eigenen Hausstand" hatten und damit eine in Paragraph 5 der Städteordnung geforderte weitere Voraussetzung f ü r das Kommunalwahlrecht erfüllten. Schlafburschen oder solche Personen, die wie z. B. Dienstboten gegen „Lohn und Kost" im Haushalt ihres Brotherrn lebten, galten als unselbständig und entbehrten so des Kommunalwahlrechts. Diese Bestimmung sicherte den Besitzenden einen enormen Einfluß auf die Kommunalwahlen, was Liebknecht als „schroffste Ungleichheit" anprangerte. 126 6. Schließlich empfahl die Kommission noch die nachträgliche Aufnahme von fast 100 Personen, die u. a. wegen der fälschlichen Annahme, sie seien in Konkurs oder ihnen fehlten die Ehrenrechte, nicht in die Wählerliste aufgenommen worden waren. Karl Liebknecht hatte sich in der Sitzimg des Wahlprüfungsausschusses vom 21. September 1909 nicht nur mit diesen überkommenen Bestimmungen des Kommunalwahlrechts auseinanderzusetzen, sondern zugleich auch mit dem zweifelhaften Verfahren des Magistrats, das dieser bei der Aufstellung der Gemeindewählerliste von 1909 hinsichtlich des sogenannten Kinderprivilegs anwandte. Nach dem preußischen Einkommensteuergesetz vom 19. Juni 1906 wurden einem Steuerpflichtigen mit einem Einkommen bis 3 000 M Steuerermäßigungen bewilligt, wenn zu seinem Haushalt drei oder mehr Kinder und Familienangehörige gehörten, denen er Unterhalt gewährte. 127 Im Herbst 1908 hatte die preußische Regierung — vor allem auf Druck der Sozialdemokratie — eine Erweiterung der Steuervergünstigungen f ü r kinderreiche Familien vorgeschlagen. Das Abgeordnetenhaus modifizierte die Regierungsvorlage zugunsten der wirtschaftlich schwächeren Bevölkerungsteile. 128 Um der Gefahr zu entgehen, daß durch die Ausdehnung der gewährten Ermäßigungen weite Kreise der Wähler''•ö Liebknecht, Karl, Herr von Dallwitz ist überdallwitzt worden, in: Werke, Bd. 7, Berlin 1971, S. 345. 120 Ders., Gegen den „Erfinder" eines reaktionären Wahlsystems, ebenda, Bd. 2, S. 291; ders., Für eine gründliche Reform des Gemeindewahlrechts, S. 383. »zv Vgl. §§ 19 und 20 des Gesetzes betreffend die Abänderung des Einkommensteuergesetzes und des Ergänzungssteuergesetzes vom 19. 6.1906, in: Gesetzsammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, 1906, Nr. 30, S. 271 f. 128 So wurde diese Vergünstigung auf Einkommen bis 6 500 M ausgedehnt und — im Gegensatz zur Regierungsvorlage — für Steuerpflichtige, die fünf und mehr Kindern Familienunterhalt gewährten, die Möglichkeit einer weiteren Ermäßigung geschaffen. Auch für Einkommen von 6 500 bis 9 500 M fand das Kinderprivileg in abgeschwächter Form Anwendung, während bei Einkommen bis 12 500 M nur eine begrenzte Ermäßigung in Kraft trat, wenn die Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen wesentlich beeinträchtigende wirtschaftliche Verhältnisse vorlagen. (Vgl. Vorwärts, 9. 9. 1909, und §§ 19 sowie 20 des Einkommensteuergesetzes vom 26. 5. 1909, in: Fernow, Ein-
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schaft in ihrem Wahlrecht beschränkt werden könnten, beantragte die sozialdemokratische Landtagsfraktion 129 , die gewährten Ermäßigungen bei der Berechnung der f ü r Wahlzwecke zu entrichtenden Steuerbeträge außer Betracht zu lassen. Diese Vorlage wurde schließlich angenommen. 130 Demgemäß war die Gemeindewählerliste von 1909 zu berichtigen. Diese Korrektur wurde aber vom Berliner Magistrat unterlassen bzw. in so fragwürdiger Weise vorgenommen, daß die im November 1909 fälligen Stadtverordnetenwahlen — wie • Liebknecht warnte — leicht angefochten werden konnten. Im Plenum der Stadtverordnetenversammlung trat Liebknecht am 30. September 1909131 der Behauptung des Magistrats entgegen, die Gemeindesteuerliste von 1909 konnte nach dem vom Landtag beschlossenen Kindersteuerprivileg nicht exakt und termingerecht berichtigt werden. Durch die Einstellung einer größeren Zahl von Hilfskräften hätten durchaus die entsprechenden Veränderungen der Wählerliste vorgenommen werden können. Statt dessen habe der Magistrat von den 18 Tagen, die ihm vom 28. Mai — an diesem Tag erhielt er Kenntnis von der neuen Novelle zum Einkommensteuergesetz — bisi zum 15. Juni, dem Abschlußtermin der Wählerliste, 13 Tage nutzlos verstreichen lassen und erst am 10. Juni einen Beschluß gefaßt, wonach die entsprechend dem Kindersteuerprivileg gewährten Ermäßigungen bei der Aufstellung der Wählerliste von 1909 nicht zu berücksichtigen seien, da in den verbleibenden fünf Tagen diese Veränderungen nicht mehr durchführbar seien. Mit dieser Entscheidung verstoße aber der Berliner Magistrat eindeutig gegen die neue Fassung des Einkommensteuergesetzes vom 19. Juni 1906. Dieser Verzögerungstaktik des Magistrats, erklärte Liebknecht, lägen politische Motive zugrunde. Der Magistrat versuche damit, selbst die geringfügige, von der Sozialdemokratie erkämpfte Verbesserung am erbärmlichen Dreiklassenwahlrecht in ihrer Umsetzung zu behindern. Diese politische Tendenz setze sich in der Handhabung des Magisitratsbeschlusses fort. Entgegen seiner eigenen Entschließung habe der Magistrat in einer Reihe von Fällen doch die entsprechend dem Kinderprivileg gewährten Steuerermäßigungen bei der Aufnahme in die Gemeindewählerliste berücksichtigt, aber nur bei solchen Personen, die gemäß dem Privileg eine Steuerreklamation und nach der daraufhin gewährten Steuerermäßigung noch zusätzlich eine besondere Beanstandimg' hinsichtlich der Wählerliste erhoben hatten. Der Magistrat habe voraussehen können, daß „eine erhebliche Benachteiligung des Wahlrechts der ärmeren Bevölkerung eintreten würde". Nach diesem fragwürdigen Verfahren, das neue kommensteuergesetz, Berlin 1913, S. 302 f., 310.) > Hermann Borgmann, Hugo Heimann, Paul Hirsch, Adolph Hoffmann, Robert Leinert, Karl Liebknecht sowie Heinrich Ströbel (vgl. Bernstein, Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung, 3. T., S. 400). 1M Vgl. Vorwärts, 9. 9.1909, und § 20a des Einkommensteuergesetzes vom 26. 5.1909, in: Fernow, S. 314. 131 Stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung, 36. Jg., S. 342 ff.; Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung zu Berlin, 36. Jg., S. 677. 12i
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Ungerechtigkeiten im Kommunalwahlrecht zuungunsten der meist sozialdemokratisch wählenden Teile der Bürgerschaft schaffe, würden, wie Liebknecht illustrierte, „zwei verschiedene Sorten von Kinderprivilegierten existieren, erstens solche nach dem alten Gesetz, zweitens solche nach dem neuen Gesetz. Die Kinderprivilegierten nach dem alten Gesetz zahlen höhere Steuern, die nach dem neuen Gesetz zahlen geringere Steuern. Diejenigen, die die höheren Steuern an den Staat zahlen, die es nicht über sich gebracht haben, ihren persönlichen Vorteil dem Staat gegenüber so geschickt zu wahren wie diejenigen, die reklamiert haben, sollen zur Strafe dafür, daß sie mehr Steuern bezahlen als die andern, nunmehr nicht in ihrem Wahlrecht so geschützt sein wie diejenigen, die weniger Steuern bezahlen?" Wenn der Berliner Magistrat sein Verfahren damit zu rechtfertigen suche, daß die Anwendung des „Kinderprivilegs" bei der Aufstellung der Gemeindewählerliste von 1909 eine zweifelhafte Frage gewesen sei, so habe er sich auf den Standpunkt gestellt, „im Zweifel entrechten wir die Bürger". Das charakterisiere sein Vorgehen als einen „Akt engherziger Parteipolitik". Diese Feststellung bezog Liebknecht auf die Freisinnige Volkspartei, Hauptstütze des Kommunalfreisinns. Sie vertrat in Berlin vor allem die Interessen kleiner und mittlerer Unternehmer, kaufmännischer Kreise, Gruppen der Angestellten sowie der Intelligenz. Auch hier betrieb sie insbesondere seit 1906 eine prononciert antisozialdemokratische Politik. 132 Ihr führender Repräsentant war in der Berliner Gemeindeverwaltung der bereits erwähnte Otto Fischbeck, der, wie Liebknecht sarkastisch betonte, „einer ganz ausgeprägten politischen Richtung angehört". Eine zweite Richtung, in der Karl Liebknecht im Wahlprüfungsausschuß wirksam wurde, war die Prüfung der Wahlakten von Ergänzungs- oder Ersatzwahlen zur Stadtverordnetenversammlung. Insgesamt zweimal hatte er Akten durchzusehen und dem Ausschuß darüber Bericht zu erstatten, ob aus ihnen „erhebliche Unregelmäßigkeiten" gegen das bestehende Kommunalwahlrecht hervorgingen, die eine Ungültigkeitserklärung der Wahlen zur Folge haben müßten. Dabei waren von ihm folgende Verstöße gegen das Wahlgesetz als „erheblich" anzusehen: 1. die Auslegung einer nicht nach Wahlabteilungen oder -bezirken gegliederten Gemeindewählerliste; 2. Verstöße gegen die vorschriftsmäßige Offenlegung der Wählerliste. Als gesetzwidrig galt in diesem Falle die Nichtbekanntmachung des Auslegungslokals, die Behinderung von Gemeindemitgliedern bei der Einsichtnahme in die Liste sowie die Verkürzung der lötägigen Auslegungsfrist; 3. die Einladung zur Wahl durch eine nichtkompetente Stelle bzw. unter Nichtwahrung der 14tägigen Ladungsfrist; 4. die ungesetzliche Zusammensetzung des Wahlvorstandes; 5. Wahlbeeinflussungen, die zu einer tatsächlichen Veränderung des Wahlergebnisses führten. 133 132 133
Die bürgerlichen Parteien in Deutschland, Bd. 2, Leipzig 1970, S. 82 ff. § 27 der preußischen Städteordnung von 1853, in: Ledermann/Brühl, S. 138, 141.
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Am 9. Dezember 1903 erhielt Karl Liebknecht erstmals vom Ausschußvorsitzenden den Auftrag, Wahlakten zu überprüfen, und zwar die der am 30. November stattgefundenen Ergänzungswahlen der I. Abteilung sowie die der Ersatzwahlen in der II. Abteilung.134 Bei der Durchsicht dieser Akten stellte er im 5. sowie im 13. Bezirk der I. Abteilung gesetzwidrige Zusammensetzungen der Wahlvorstände fest und brachte in der Sitzung des Wahlprüfungsausschusses am 11. Dezember auch Bedenken gegen eine Gültigkeitserklärung dieser Wahlen vor. Seine Zweifel „erledigte" jedoch die freisinnige Ausschußmehrheit dadurch, daß sie die betreffenden Wahlvorsteher vom Magistratskommissar vernehmen und „belehren" ließ. Der in derselben Beratung von freisinniger Seite vorgebrachte Einspruch gegen die Wahl des Sozialdemokraten Kerfin wurde dagegen, wie noch gezeigt werden wird, völlig anders behandelt.135 Tabelle 10 Übersicht über die im November 1903 stattgefundenen Stadtverordnetenversammlung136 I. Abteilung*
Ergänzungswahlen
Wahlbezirk
Gewählter Stadtverordneter
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16
Wahlberechtigte 73 75 135 76 106 118 124 140 117 128 109 137 99 102 192 122
Ergänzungswahlen
zur
Kaufmann Otto Spendig*** Fabrikbesitzer Georg Liebmann*** Bankdirektor Gelpcke*** Bankier Rudolph George*** Fabrikbesitzer Martin Friedberg*** Baumeister Körte*** Dr. Paul Nathan*** Dr. jur. Hugo Preuß*** Baumeister Stapf*** Justizrat Dr. Eduard Friedmann*** Zahnarzt Dr. Paul Ritter*** Rentier Hammerstein*** Kaufmann Hermann Groh*** Architekt Alfons Baumann*** Kaufmann I. Schröter*** Rentier Oskar Fritsch***
Insgesamt: 1 852 Stadt AB, Rep. 00, Nr. 133 (unfol.). ":> Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung zu Berlin, 30. Jg., 1903, Berlin 1903, S. 672. 130 Zusammengestellt nach Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 28. Jg., enthaltend die Statistik des Jahres 1903, Berlin 1904, S. 443; StadtAB, Rep. 00, Nr. 133 (unfol.).
Liebknecht im „Roten Rathaus" II. Abteilung* Wahlbezirk 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16
Wahlberechtigte 1165 1052 1581 1072 1990 1791 2 222 1235 2 119 1442 1757 2 687 1477 2 773 1 547 3 770
i5l
Ergänzungswahlen Gewählter Stadtverordneter Kaufmann Riemer Rentier Weiß Fabrikant Bracke Baumeister Wilhelm Cremer Sanitätsrat Dr. Rüge Prof. Dr. Glatzel Rentier Schoepke Rentier Ulrich Rentier Iden Kaufmann Klaar Gombert Kaufmann Fähndrich Apotheker Friederlci Fabrikant Rast Justizrat Oskar Cassel Fabrikbesitzer Thieme
Insgesamt: 29 680 III. Abteilung**
Ergänzungswahlen
Wahlbezirk
Wahlberechtigte
Gewählter Stadtverordneter
2 5 8 13 14 17 18 24 25 28 31 37 39 42 43 47
4 249 6 445 6 283 7 526 7 232 4 911 4 598 9122 11 320 5 717 5 610 6 312 7 245 5 250 8 367 6 842
Hotelbesitzer Robert Leis Rechtsanwalt Herrmann Marggraff Zigarrenhändler Otto Antrick Kaufmann Paul Singer Schriftsteller Arthur Stadthagen Gastwirt Emil Kerfin Gustav Frick Buchbinder Paul Schneider Expedient Bernhard Bruns Zigarrenhändler Franz Kotzke Sekretär Herrmann Schubert Fabrikant Borgmann Eigentümer Wilhelm Gründel Kaufmann Wilhelm Gericke Gastwirt Ferdinand Ewald Gastwirt Richard Augustin
Insgesamt: 107 019 * In der I. wie II. Abteilung gab es 16 Wahlbezirke mit je drei Stadtverordneten. ** In der III. Abteilung gab es 48 Wahlbezirke mit je einem Stadtverordneten. *** Die Wahlakten dieser Stadtverordneten wurden von Karl Liebknecht durchgesehen. Hinzu kamen zwei Ersatzwahlen in der II. Abteilung (Wahlbezirke 1 und 11, Rechtsanwalt Hugo Sonnenfeld und Kaufmann Max Salinger).
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Am 6. Dezember 1913 war Liebknecht vom Kommissionsvorsitzenden Michelet zum zweiten Mal mit der Prüfung von Wahlakten beauftragt worden. Gemeinsam mit Arthur Stadthagen hatte er die Akten der Ergänzungswahlen in der I. Abteilung durchzusehen und in der Ausschußsitzung vom 15. Dezember über sie Bericht zu erstatten. Da sie keine „erheblichen Unregelmäßigkeiten" gegen das Kommunalwahlgesetz feststellten, empfahlen Liebknecht und Stadthagen die Gültigkeitserklärung der Wahlen.137 Selbstverständlich standen beide als Sozialdemokraten in prinzipieller Opposition gegen das undemokratische Gemeindewahlsystem, nach dem die Wähler entsprechend ihren Steuerleistungen in drei Klassen eingeteilt wurden. 138 Wiederholt prangerte Liebknecht dieses Dreiklassenwahlrecht an, das unter Umständen einem Wähler der I. Klasse soviel Einfluß einräumte wie 400 bis 500 Wählern der III. Klasse (vgl. Tab. II). 139 Eine weitere Tätigkeitsrichtung Karl Liebknechts im Wahlprüfungsausschuß war die Auseinandersetzung mit Versuchen der freisinnigen Majorität, Wahlmanipulationen zu vertuschen bzw. gewählte sozialdemokratische Stadtverordnete zu entrechten. Besonders intensiv befaßte er sich dabei mit den folgenden drei Fällen: Erstens. Im 17. Berliner Kommunalwahlbezirk der dritten Abteilung wurde am 27. November 1903 der Sozialdemokrat Kerfin mit 45 Stimmen Mehrheit Tabelle 11 Zähl der in den Jahren 1900 bis 1910 eingetragenen
Gemeindewählerm Auf einen Wähler der I. Abteilung kamen Wähler der III. Abteilung
Jahr Wählerzahl Zahl der Gemeindewähler in der insgesamt
1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910
130
us ,4U
332 569 336 285 339 802 350 057 365 747 370 685 378 723 388 504 381613 386 786 380 327
I. Abteilung
II. Abteilung
III. Abteilung
578 1450 1497 1852 1679 1829 1728 1621 1259 995 928
7 639 27 485 27 940 29 680 31 260 32 304 32 989 33 250 32 211 31 506 31 999
324 352 307 351 310 365 318 525 332 808 336 552 344 006 353 633 348-143 354 285 347 400
561 212 207 172 198 184 199 218 276 356 374
StadtAB, Rep. 00, Nr. 136 (unfol.). § 1 des Gesetzes betreffend die Bildung der Wählerabteilungen bei den Gemeindewahlen vom 30. 6.1900, in: Evert, S. 1 f. StAP, Rep. 30, Berlin C, Polizeipräsidium, Nr. 14 927, Bl. 728 r. Zusammengestellt nach Bericht über die Gemeindeverwaltung der Stadt Berlin in den Verwaltungsjahren 1901—1905, 1. T., S. 9, und ebenda für 1906-1910, 1. T., S. 25.
Liebknecht im „Roten Rathaus"
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gegenüber dem Freisinnskandidaten gewählt. Nun aber hatte der Wahlvorsteher Wähler, die Kerfin als Karfin, Karsin u. dgl. aussprachen, gefragt: Sie meinen wohl Kerfin? Erfolgte daraufhin eine Bejahung, so wurde der Name Kerfin protokolliert.141 Diese Verfahrensweise bezeichnete die freisinnige Mehrheit als unzulässige Willensbeeinflussung, und die bürgerliche Majorität in der Berliner Stadtverordnetenversammlung kassierte auf Antrag des Wahlprüfungsausschusses am 29. Dezember 1903 das Mandat. Liebknecht trat sowohl im Ausschuß als auch im Plenum des Stadtverordnetenkollegiums, wo er Sprecher der Kommissionsminorität war, gegen diese Entrechtung eines sozialdemokratischen Stadtverordneten auf, mit der der Freisinn versuche, seinen Besitzstand in der dritten Abteilung zu wahren und das weitere Vordringen der Sozialdemokratie zu verhindern.142 Zweitens. Am 15. Dezember 1903 siegte im 2. Berliner Kommunalwahlbezirk der dritten Abteilung in einer Stichwahl der Freisinnige Leis über den Antisemiten Pretzel. Von konservativ-antisemitischer Seite wurde gegen die Wahl des Hotelbesitzers Leis Protest eingelegt, da eine Anzahl von Wählern unzulässig beeinflußt worden sei.143 Anhand dieses Wahlprotestes deckte Karl Liebknecht am 1. März 1904 im Wahlprüfungsausschuß sowie am 25. Februar und 7. April als Wortführer der Ausschußminderheit im Plenum des Stadtverordnetenkollegiums die Methoden bürgerlicher Wahlmanipulationen auf: Fälschungen von Wahlaufrufen, direkter materieller Druck, indirekte Wahlbeeinflussung usw. Die freisinnige Mehrheit erklärte jedoch die Wahl des Hoteliers für gültig.144 Drittens. Am 23. November 1904 wurde im 7. Berliner Kommunalwahlbezirk der ersten Abteilung der Baurat Herzberg gewählt.145 Obgleich er nicht mehr in der Hauptstadt wohnte, ließ er sich von einem Berliner Wahlbezirk ein Stadtverordnetenmandat übertragen. Damit verstieß Herzberg gegen die preußische Städteordnung, nach der nur derjenige Mitglied der Gemeindevertretung werden konnte, der Einwohner des Stadtbezirks war und zur Stadtgemeinde gehörte. Auf diesen eindeutigen Sachverhalt bezog sich nun Liebknecht, um im Ausschuß sowie als Ausschußberichterstatter im Plenum der Berliner Stadtverordnetenversammlung die Nichtigkeit der Herzbergschen Wahl aufzuzeigen. Da es sich jedoch bei dem Baurat um einen für den Freisinn besonders „wertvollen" Mann handelte, setzte sich die freisinnige Mehrheit über diesen eindeutigen Sachverhalt hinweg und erklärte die Wähl für gültig.146 Vgl. Bernstein, Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung, 3. T., S. 217; Vorwärts, 17.12.1903. v a Vgl. Liebknecht, Karl, Gegen den Raub eines sozialdemokratischen Mandats, in: Werke, Bd. 2, S. 46 ff.; vgl. Vorwärts, 30.12.1903. Vgl. ebenda, 16.12.1903; 1.1.1904. "w Stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung, 31. Jg., S. 106 ff., 238 ff.; Vorwärts, 8.4.1904. 148 Ebenda, 24.11.1904. 14« vg] stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung, 32. Jg., S. 205 ff. 1,1
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Wenn Karl Liebknecht am 15. Mai 1911 im preußischen Landtag die Bestimmungen des kommunalen Dreiklassenwahlrechts als „absolut veraltete, unbrauchbare, rechtliche Gebilde" bezeichnete, die durch eine gründliche Reform des gesamten Gemeindewahlrechts „beseitigt, exstirpiert, werden sollten"147, so ließ er niemals irgendwelche „munizipalsozialistischen" Illusionen darüber aufkommen, daß ein isolierter kommunalpolitischer Kampf um eine Demokratisierung des Gemeindewahlrechts Erfolg haben könne.148 Das Ringen um eine Reform des Kommunalwahlrechts müsse vielmehr in den Kampf um ein demokratisches Wahlrecht auf allen Ebenen eingeordnet werden. In einer Kommunalwählerversammlung präzisierte er am 5. November 1913 diese Forderung: „Der Kampf um ein besseres kommunales Wahlrecht hänge aber auf das innigste mit dem preußischen Wahlrechtskampf zusammen."149 Ein demokratisches Wahlrecht ohne Verbindung mit einer demokratisierten Staats- und Gemeindeverwaltung „wäre eine Attrappe ohne Inhalt, eine Tonne für den Walfisch. Das demokratische Wahlrecht ist wirkungslos, solange draußen, außerhalb des Parlaments, die Machtverhältnisse nicht verschoben sind. Ein Parlament wird nie und nimmer imstande sein, seinen ernsten Willen in ernsten Angelegenheiten gegen die Staatsregierung und ihre außerparlamentarischen Machtmittel durchzusetzen, solange die Verwaltung keine demokratische ist. Deshalb ist der Kampf um die demokratische Verwaltung das Herz- und Hauptstück des Wahlrechtskampfes." 150 Auf Grund des Gesetzes vom 19. Juli 1911 bildeten Berlin, Charlottenburg, Schöneberg, Neukölln, Wilmersdorf, Lichtenberg, Spandau, Steglitz, Großlichterfelde, Friedenau, Köpenick, Boxhagen-Rummelsburg, Pankow, Weißensee, Reinickendorf sowie die Kreise Teltow und Niederbarnim den Zweckverband Großberlin.151 Er verfolgte das Ziel, im Verbandsgebiet die das Verkehrswesen betreffenden Fragen zu regeln, sich an den Fluchtlinien- und Bebauungsplänen zu beteiligen, am Erlaß von Baupolizeiordnungen mitzuwirken sowie größere Freiflächen zu erwerben und zu erhalten. Das oberste Organ dieses Zweckverbandes war die Verbandsversammlung, der folgende Aufgaben oblagen: die Beschlußfassung über den Haushaltsplan; die Entlastung der Jahresrechnung; die Entschließung über Erlaß und Änderungen der Satzungen; die Feststellung des von den Verbandsmitgliedem zu erbringenden Umlagebedarfs; die Beschlußfassung über die Aufnahme von Anleihen; die Wahl der der Versammlung untergeordneten Organe: des Verbandsdirektors, der ihm zugeordneten Beamten sowie der wählbaren Mitglieder des Verbandsausschusses; die Aufstellung von Grundsätzen für die Zweckverbands147
148
lou
Liebknecht, Für eine gründliche Reform des Gemeindewahlrechts, S. 381 f£.; vgl. Sieber, Gustav, Wahlkämpfe, Parlamentsarbeit und revolutionäre Politik, in: Marxismus und deutsche Arbeiterbewegung. Studien zur sozialistischen Bewegung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, Berlin 1970, S. 219 ff. Vgl. Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus, S. 224 fE. Vorwärts, 6.11.1913. Liebknecht, Karl, Zur Verwaltungsreform in Preußen. II. Referat, in: Werke, Bd. 2, S. 421 f.
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tätigkeit und die Verwaltung des Verbandsvermögens; die Entschließung über die Schaffung von Ämtern des Zweckverbandes sowie die Anstellungs- und Besoldungsverhältnisse der Verbandsbeamten; die Prüfung der Gültigkeit der Wahlen der Verbandsversammlung; die Beschlußfassung gemäß den Aufgaben des Zweckverbandes und die Entschließung über den Kauf sowie die Veräußerung von Grundstücken. Insgesamt gehörten der Verbandsversammlung für Großberlin einhundert Mitglieder an, wobei in ihr jedes Verbandsmitglied entsprechend der Einwohnerzahl mit mindestens einem und höchstens vierzig Vertretern repräsentiert war. Außerdem trat in sie noch der Oberbürgermeister der Stadt Berlin als Versammlungsvorsitzender ein.152 Am 12. August 1911 ordnete der preußische Minister des Innern an, daß die Stadtgemeinde Berlin vierzig Mitglieder für die Verbandsversammlung zu wählen habe, und ersuchte zugleich, die Wahl dieser Vertreter bis spätestens zum 10. Oktober desselben Jahres zu vollziehen. Noch im Verlaufe des Monats September erfolgte die Abordnung dieser Zahl von Verbandsmitgliedern, die gemäß dem Zweckverbandsgesetz von Magistrat und Stadtverordnetenversammlung gemeinschaftlich vorgenommen wurde.153 Unter den vierzig Mitgliedern, die Berlin in der Verbandsversammlung vertreten sollten, befanden sich auch acht Sozialdemokraten: Dr. Arons, Basner, Bruns, Heimann, Hoffmann, Pfannkuch, Stadthagen sowie Dr. Weyl. Jedem Verbandsmitglied mußte nach § 16 des Zweckverbandsgesetzes ein Stellvertreter zugeordnet werden, der „im Falle der Behinderung des ersteren . . . befugt ist, für ihn einzutreten". Hierbei wurde ein Ersatzmann immer nur einem bestimmten Mitglied zugeordnet. Neben Theodor Glocke, August Hintze, Karl Leid, Mann, Paul Schneider, Gottfried Schulz sowie Emanuel Wurm gehörte von sozialdemokratischer Seite auch Karl Liebknecht — als Ersatzmann für Adolph Hoffmann — zu den vierzig vom Berliner Magistrat und dem Stadtverordnetenkollegium gemeinschaftlich gewählten Stellvertretern.154 Eine Teilnahme Liebknechts an Beratungen der Verbandsversammlung konnte nicht nachgewiesen werden, doch nahm er im preußischen Landtag dreimal zu der Problematik des Zweckverbandes Stellung, und zwar am 12. und 13. Mai sowie am 26. Juni 1911. Vgl. Brühl, Ludwig/Gordan, Kurt/Ledermann, Walter, Zweckverbandsgesetz für Großberlin. Vom 19. 7.1911, Berlin 1911, S. 1 f. üi Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung zu Berlin, 38. Jg., S. 707. Nach § 15, Absatz 1, des Zweckverbandsgesetzes für Großberlin hatte zunächst der preußische Innenminister, später der Verbandsausschuß die Verteilung der Sitze in der Verbandsversammlung auf die einzelnen Gemeinden sowie Kreise vorzunehmen. Im Jahre 1911 wurden sie dabei folgendermaßen aufgeteilt: Berlin 40, Charlottenburg 10, Schöneberg 5, Neukölln (Rixdorf) 8, Wilmersdorf 3, Lichtenberg 3, Spandau 3, Steglitz 2, Großlichterfelde 1, Friedenau 1, Köpenick 1, Boxhagen-Rummelsburg 2, Pankow 1, Weißensee 1, Reinickendorf 1, Kreis Teltow 9 und Kreis Niederbarnim 9. 153 Stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung, 38. Jg., S. 362. StadtAB, Rep. 46 - Magistrat der Stadt Köpenick, Nr. 13 (unfol.).
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Liebknecht vertrat den Standpunkt, daß die Sozialdemokratie jede Tendenz unterstützen müsse, die über die Grenzen der einzelnen Gemeinden hinaus die Möglichkeit zur Wahrung öffentlicher Interessen schaffe.155 Während sich jedoch etwa im Ruhrgebiet die Bildung eines Zweckverbandes als günstiger erweise156, müsse in bezug auf Berlin angesichts der Verschmelzung der Vororte mit der Hauptstadt die Eingemeindimg gefordert werden. Allerdings halte die Angst vor dem Proletariat die herrschenden Klassen davor zurück, diesem Erfordernis Rechnung zu tragen. So befürchtete der preußische Innenminister v. Dallwitz, „Berlin werde seine ganze Umgebung in die überwältigende sozialdemokratische Mehrheit hineinziehen".157 Aus diesem Grunde schlug auch Dallwitz lediglich die Schaffung eines Zweckverbandes von Großberlin vor. Dieses Gesetz kennzeichnete Karl Liebknecht als ein Verlegenheitsprodukt, das „den Haß und das Mißtrauen gegen Berlin und die Selbstverwaltung aus allen Poren" herausschwitze. So könne die Zusammensetzung der Verbandsversammlung in keiner Weise gebilligt werden, da sie „unserer Auffassung von der Selbstverwaltung ins Gesicht schlägt".158 Sie beruhe nicht auf dem von der Sozialdemokratie geforderten demokratischen Wahlrecht159, sondern auf einem in doppelter Weise plutokratischen, bürokratischen, volksfeindlichen Wahlsystem: Erstens bestehe für die Wahlen zu den Gemeindevertretungen das kommunale Dreiklassenwahlrecht, das die minderbemittelten Einwohner bereits stark benachteilige. Zweitens werde bei den Wahlen zur Verbandsversammlung auf dieses Wahlsystem noch ein anderes aufgepfropft, das nun auch weitgehend den Einfluß der in den Kommunalparlamenten die ärmere Bevölkerung vertretenden Minderheiten ausschalte. Da zwei Drittel der Mitglieder dieser Versammlung durch die Gemeindevertretungen gewählt würden und hier die Haus- und Grundbesitzer den überragenden Einfluß besäßen, würden diese auch die Zusammensetzimg der Zweckverbandsversammlung von Großberlin bestimmen. Allein schon deshalb könne die Sozialdemokratie das Zweckverbandsgesetz nicht billigen. Außerdem werde der Verbandsversammlung dadurch, daß der von ihr zu wählende Verbandsdirektor einer königlichen Genehmigung bedürfe, noch eine „Art Spreepräfekt aufgehängt".
135
Liebknecht,
Karl,
M e h r Handlungsfreiheit f ü r die Gemeinden!, in: Werke, Bd. 4,
S. 349. 15» Hers., Ein Gesetz zur Unterdrückung der Arbeiter im Ruhrrevier, ebenda, S. 13 ff. 137
Wermuth,
158
Liebknecht,
Adolf, Ein Beamtenleben. Erinnerungen, Berlin (1922), S. 343. Karl, Für eine fortschrittliche Kommunalpolitik in Berlin, in: Werke,
Bd. 4, S. 360. loa
Hierzu w a r von der sozialdemokratischen Landtagsfraktion ein Antrag eingebracht worden, der folgenden Wortlaut hatte: „Die W a h l der Vertreter erfolgt durch alle über 20 Jahre alten Gemeindeangehörigen auf G r u n d des gleichen, direkten und g e heimen Wahlrechts. Z u m Zwecke der Vornahme der W a h l e n sind Gemeinden b z w . Kreise in Bezirke einzuteilen. In jedem Bezirk ist nur ein Vertreter zu wählen. Die Abgrenzung der Bezirke erfolgt nach der nach jeder Volkszählung festgestellten Einwohnerzahl durch
den
Verbandsausschuß.
W ä h l b a r sind alle wahlberechtigte
Angehörigen der beteiligten Gemeinden und Landkreise" (zit. nach ebenda, S. 510 f.).
Liebknecht im „Roten Rathaus"
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Neben dem Minimalverlangen nach Beseitigung der „Spreepräfektur" und der Wahl der Verbandsmitglieder auf Grund eines demokratischen Wahlrechts vertrete die Sozialdemokratie die Forderung, daß der Zweckverband zu einer Gemeinde Großberlin zu erheben sei.160 Die außerordentlich zeit- und kraftaufwendige Kleinarbeit, die Karl Liebknecht während seiner 12jährigen kommunalpolitischen Tätigkeit im „Roten Rathaus" verrichtete, erwies sich in ihrer tatsächlichen Wirkung als eine wichtige Voraussetzung f ü r seine Massenverbundenheit und Ausstrahlungskraft und war auch insofern wesentlicher Bestandteil seines Lebenswerkes. 1ÖU
Ebenda, S. 360 ff.
17 J a h r b u c h 25
Guntolf Herzberg
Historismus: Wort, Begriff, Problem und die philosophische Begründung durch Wilhelm Dilthey
Die Auseinandersetzung mit dem Historismus stößt immer noch auf die Schwierigkeit einer klaren Bestimmung dessen, was eigentlich unter dem Ausdruck „Historismus" zu verstehen ist. Eine kaum noch überblickbare bürgerliche Literatur zu diesem Thema hat jahrzehntelang nur immer neue Auffassungen bereitgestellt, deren Differenzierungen und Widersprüche den Historismus um so unschärfer werden ließen. Auch der heutige scheinbare Konsensus bürgerlicher Historiker und Philosophen über den Historismus, der von ihnen als eine historisch abgeschlossene Hauptrichtung in der deutschen Geschichtsschreibung angesehen wird — wodurch eine zeitliche und begriffliche Fixierung erst möglich werden kann —, führt zu keiner wissenschaftlichen Klärung, weil auch die „Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus" (diese Sammelbezeichnung bildet den Titel einer programmatischen Schrift von Wolfgang J. Mommsen) trotz zahlreicher Neuansätze und partieller Fortschritte eine starke Affinität zu den Grundlagen des Historismus behalten hat. Aber auch die marxistische Philosophie und Historiographie kann das Problem des Historismus nur nach längerer Klärung und schrittweise lösen. Es existiert zwar schon eine Reihe von Vorarbeiten, aber noch keine umfassende marxistische Monographie zum Historismus.1 Der Verfasser hat sich in seiner Dissertation2 mit der Terminologie- und Begriffsgeschichte, der Herausbildung und philosophischen Begründung des Historismus beschäftigt und will hier einige Ergebnisse vortragen. Zuerst werden (1.) die Schwierigkeiten genannt, die in der bürgerlichen, aber auch in der marxistischen Theorie auftreten, wenn man das Phänomen des Historismus historisch erfassen und begrifflich bestimmen will. Dazu wird (2.) der marxistische Sprachgebrauch an ausgewählten Beispielen in seiner Geschichte dargelegt, werden die beiden unterschiedlichen marxistischen Auffassungen vom Historismus herausgestellt, wobei (3.) der Verfasser eine Begriffsbestimmung vorschlägt und erläutert, die zu einem einheitlichen Sprachgebrauch hinführen sollte. Um diese Begriffsbestimmung auch historisch plau1
2
17*
Zum Stand und zu den Aufgaben der marxistischen Erforschung des Historismus vgl. Schleier, Hans, DDR-Forschungen über die Geschichte der bürgerlichen Geschichtswissenschaft, in: BZG, 21,1979, 3, S. 366-369. Herzberg, Guntolf, Wilhelm Dilthey und das Problem des Historismus, phil. Diss. A, Berlin 1976 (MS).
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Guntolf Herzberg
sibel zu machen, wird (4.) die Geschichte des Terminus betrachtet. In aller Kürze werden (5.) die wichtigsten bürgerlichen Historismusauffassungen vorgestellt und schließlich (6.) die philosophische Begründung des Historismus durch den bedeutenden bürgerlichen Philosophen Wilhelm Dilthey. 1. Das Problem des Historismus < Bevor wir uns mit den marxistischen Auffassungen zum Historismus beschäftigen, läßt sich aus der Kenntnis der bürgerlichen Literatur zu diesem Thema folgendes feststellen: Seit der Jahrhundertwende ist der „Historismus" einer der meistgebrauchten Begriffe der bürgerlichen deutschen Geschichtsphilosophie und -Wissenschaft. Trotz häufigster Verwendung ist es den Philosophen und Historikern nicht gelungen, übér Inhalt und Umfang dieses Begriffes eine klare Vorstellung zu erzielen. Die Vielen direkten Reflexionen, historischen Untersuchungen, Definitions- und Umschreibungsversuche führten statt zur Klärung zu immer neuen Kontroversen. Nur ein paar typische Beispiele aus den 20er und 30er Jahren, der „Blütezeit" des Historismus: Ernst Troeltsch verstand darunter die Geschichtsphilosophie von Kant über Hegel, Marx, den Positivismus, Nietzsche, Dilthey usw. bis zum ersten Weltkrieg.3 Friedrich Meinecke sah darin „die aus der geistigen Revolution der Goethezeit stammenden neuen Prinzipien des Lebens- und Geschichtsverständnisses"4 und hielt den Historismus für einen bestimmten Typus von Geschichtsschreibung und «denken, der gegen Ende des 18. Jh. entstand und durch eine besondere Auffassung von „Individualität" und „Entwicklung" gekennzeichnet war. Karl Heussi entschied sich für das Umfeld „Geschichtsschreibung um 1900"5, nachdem er mehrere andere seit dem ersten Weltkrieg auftretende Bedeutungen klassifizierte und anschließend verwarf. Otto Hintze ging auf Vico, Herder und Rousseau zurück, bestimmte in Hegel Und Ranke den Gipfelpunkt, sah sogar die Möglichkeit, den Marxismus und Positivismus einzuschließen, und verstand den Historismus als eine Kategorialstruktur des Geistes zur Auffassung der Geschichte.6 Karl Mannheim betrachtete den Historismus als eine Weltanschauung, die mit derselben Universalität ein Weltbild zu organisieren in der Lage sei, mit der es im Mittelalter die Religion getan habe.7 Nach Jahrzehnten bürgerlicher Auseinandersetzung mit dem Historismus muß der Schweizer Historiker Walthér Hofer seine Untersuchimg über den „Historismus und seine Grundgedanken" mit der Feststellung beginnen: „ . . . er ist — was hier entscheidend ist — keine in ihrer Bedeutung irgendwie geklärte a 4
6 6
7
Troeltsch, Ernst, Der Historismus und seine Probleme, Tübingen 1922. Meinecke, Friedrich, Von der Krisis des Historismus, in: Werke, Bd. 4, Stuttgart 1965, S. 202. Heussi, Karl, Die Krisis des Historismus, Tübingen 1932, S. 20. Hintze, Otto, Troeltsch und die Probleme des Historismus, in: Soziologie und Geschichte, Göttingen 19642, S. 325-329. Mannheim, Karl, Historismus, in: Archiv für Sozial Wissenschaft und Sozialpolitik, 52,1924, S. 2.
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Kategorie. Der Begriff des Historismus ist neu, seihe Deutungen widerspruchsvoll: er ist ein Kampfbegriff, entstanden, bejaht, verworfen, umgedeutet im Getümmel unzähliger Diskussionen und Polemiken der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart."8 Hofer untersucht dabei die Hauptrepräsentanten der Diskussionen der 20er und 30er Jahre — Heussi, Troeltsch, Hintze, Mannheim — und stellt fest, daß es über die logische Beschaffenheit der Kategorie „Historismus" keine Einhelligkeit gibt: „ . . . ist er eine bestimmte Denkweise, eine Methode, eine historische Erkenntnistheorie oder eine Geschichtsauffassung, gar eine Weltanschauung und Philosophie?"9 Für Heussi sei er Geschichtsschreibung, für Troeltsch Wissenschaftsprinzip wie Denkweise, wie Weltanschauung, für Hintze Methode und für Mannheim Weltanschauung und Philosophie. Weiterhin stellt Hofer fest, daß ebensowenig der zeitliche Umfang, in dem der Begriff existiert, geklärt ist. Und in den 50er Jahren stellt einer der idealistischen Kritiker des Historismus, der Philosoph Gerhard Krüger, die Krise des bürgerlichen Geschichtsdenkens nicht ohne Witz so dar: „Für das Problem der Geschichte . . . ist bisher überhaupt noch kein einwandfreier Weg zur Lösung gefunden worden: der Weg der christlichen Philosophie ist nicht philosophisch; der Fortschrittsglaube der Aufklärung ist seit der Romantik mit Recht erschüttert; der absolute Idealismus der Romantik enthält die bisher größte geschichtsphilosophische Leistung, ist aber von Grund auf unhaltbar; der ästhetische Humanismus, der unsere Geisteswissenschaften durchdrungen hat, beruht auf einer Zeit gesicherter äußerer Verhältnisse, er ist den Erschütterungen der wirklich erlebten Geschichte gegenüber ratlos und wird undurchführbar; die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise vermag das eigentlich Geschichtliche an der Geschichte nicht zu erfassen; und der Historismus ist nur das Eingeständnis, daß man das Geschichtsproblem auf all diesen Wegen nicht hat lösen können."10 Fast zur gleichen Zeit wird aber im Fischer-Lexikon „Geschichte" wiederum behauptet, daß der Historismus dank Meineckes wissenschaftlicher Lebensarbeit „zur unaufgebbaren Grundlage der modernen Geschichtswissenschaft geworden ist"11 und „daß die Geschichte als Wissenschaft eigener Art mit dem Historismus steht und fällt".12 Selbstverständlich ist die deutsche bürgerliche Geschichtsphilosophie und -Wissenschaft viel umfangreicher als die Literatur tun und über den Historismus — und doch ist der Historismus kein Spezialthema, das nur einige Philosophen und Historiker anginge. Die Beschäftigung mit diesem Phänomen ist ein permanenter Versuch imperialistischer Ideologen, das spätbürgerliche Geschichtsverständnis in seiner Eigenart zu artikulieren und entsprechende Vorläufer dafür zu finden. Die bürgerliche Beschäftigung mit dem Historismus ist primär Selbstdarstellung der Grundlagen ihres Geschichtsverständnisses, ist 8
Hofer, Walther, Geschichtsschreibung und Weltanschauung, München 1950, S. 322.
a
Ebenda, S. 334.
10
Krüger, Gerhard, Grundfragen der Philosophie, Frankfurt a. M . 1958, S. 207.
11
Fischer Lexikon
»
Ebenda, S. 114.
Geschichte, hrsg. von W a l d e m a r Besson, Frankfurt a. M . 1961, S. 105.
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die Frage nach dem Wesen, dem Wert, dem Sinn der Geschichte. Deshalb stellt die marxistische Auseinandersetzung mit dem Begriff und dem Problem des Historismus direkt eine Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Geschichtsphilosophie und den Grundlagen der bürgerlichen Geschichtsschreibung dar. Sie ist, neben der unumgänglichen Begriffsklärung, die Kritik des historischen Idealismus. Um diese Aufgabe zu lösen, ist es notwendig, einige wesentliche Fragen noch einmal explizit zu formulieren: Ist der Historismus eine Methode, eine Geschichtsphilosophie, ein Synonym für eine bestimmte historiographische Praxis, eine Weltanschauung? Wer ist zum Historismus zu zählen: die Historiker in der Tradition von Ranke bis Meinecke, die Geschichtsphilosophen wie Dilthey oder Troeltsch oder Max Weber? Kann man den Begriff auf die Theoretiker der bürgerlichen Aufstiegsperiode wie Vico, Herder oder Hegel übertragen? Wo liegen seine Ursprünge: in der Aufklärungshistorie, in der Goethezeit, in der Romantik, in der historischen Rechtsschule oder im Beginn der imperialistischen Geschichtsphilosophie? Ist der Historismus theoretisch begründet worden von Wilhelm von Humboldt oder von Ranke oder von Dilthey? Stellt Goethe oder Ranke oder Dilthey oder Meinecke den Höhepunkt des Historismus dar? Ist er eine spezifisch deutsche Erscheinung oder eine internationale? Das sind einige der Fragen, mit denen sich die bürgerliche Historismus-Literatur seit langem beschäftigt. Aber auch die marxistische Literatur zu diesem Thema gibt neue Fragen auf: Ist der Historismus eine allgemeine Methode oder ein Prinzip geschichtlicher Betrachtungsweise oder ist er der Name für eine lebensphilosophisch orientierte imperialistische Geschichtsphilosophie? Kann man vom Historismus bei Hegel oder vom Historismus des Marxismus sprechen? Helfen zur Unterscheidung und Abgrenzung vom „marxistischen Prinzip des Historismus" solche Attribute wie „idealistischer", „bürgerlicher", „deutscher" Historismus? Kann man unterscheiden zwischen einem (positiven) „Historismus" und der „Krise des Historismus"? Wie steht es mit der These von Dieter Bergner und Reinhard Mocek, daß Begriffe wie „Historismus". oder auch „Antihistorismus" irreführend sind, daß sie keine wissenschaftlich legitimen Begriffe sind, „sondern Bezeichnungen, die sich die bürgerliche Geschichtsphilosophie und Gesellschaftstheorie selbst gegeben hat und hinter denen sich primär ideologische Anliegen verbergen" ?13 Um sich einer wissenschaftlichen Bestimmung des Historismus zu nähern, wird hier der Versuch unternommen, über die Terminologiegeschichte, den marxistischen Sprachgebrauch und bürgerliche Begriffsbestimmungen erst einmal aufzuarbeiten, was und warum dieses unter „Historismus" verstanden wurde, und wird, um gerade aus der Vielfalt bisheriger Aussagen dem Problem des Historismus auf die Spur zu kommen. Dies heißt natürlich nicht, daß sich automatisch aus solchen historischen Betrachtungen eine systematische Bestimmung des Wesens des Historismus ableiten läßt. Aber in Anwendung der marxistischen Erkenntnis, daß „das Logische
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Bergner, Dieter/Mocek, Reinhard, Bürgerliche Gesellschaftstheorien, Berlin 1976, S. 96.
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das begriffene (in Begriffen gefaßte) Historische" ist14 und daß die Geschichte „als Urbild auftritt, dem so oder so, bewußt oder unwillkürlich die logische Entwicklung angeglichen wird"15, kann das Material für die Begriffsbestimmung nur aus der geschichtlichen Entwicklung des zu bestimmenden Objektes genommen werden. Andererseits muß man natürlich, wie der sowjetische Philosoph E. W. Iljenkow hervorhebt, die einfache Tatsache berücksichtigen, „daß selbst die oberflächlichste Betrachtung der Geschichte des Entstehens und der Entwicklung eines beliebigen Gegenstandes schon eine mehr oder weniger deutlich bewußte Vorstellung davon,1 was dieser Gegenstand ist, voraussetzt. Anderenfalls wäre es überhaupt unmöglich zu entscheiden, ob irgendein historischer Fakt zur Geschichte des vorlegenden Gegenstands gehört oder nicht". Das heißt also, „eine theoretisch falsche Auffassung . . . führt automatisch zu einer falschen, pseudohistorischen Vorstellung über die Genesis des uns interessierenden Gegenstandes . . . Es erweist sich deshalb als wesentlich, daß die logische (systematisch-theoretische) Auffassung vom Wesen der Sache für sich selbst . . . historisch konkret ist, schon in ihren Bestimmungen die historischen Grenzen der Existenz des durch sie widergespiegelten Gegenstandes ausdrückt."16 Die marxistische Analyse sollte also von dem ausgehen, was bisher in der Geschichte unter „Historismus" verstanden wurde. Dabei ergeben sich aber einige Schwierigkeiten: Wir finden im 19. Jh. mehrfach die Verwendung des Terminus „Historismus" (im kritischen oder affirmativen Sinne), ohne daß damit bereits eine bestimmte Konzeption verbunden ist, die dann in der imperialistischen Geschichtsphilosophie und -Schreibung zum Tragen kommt. Andererseits werden die Grundlagen des Historismus von Theoretikern wie Ranke, Droysen, Dilthey entwickelt, die den Terminus entweder nicht erkennen oder nicht benutzen. Während die Terminologiegeschichte einerseits wichtige Veränderungen im geschichtsphilosophischen Denken seit Hegel signalisiert, zeigt sie andererseits eigentlich nur, wo der Historismus des 20. Jh. das Wort her hat und warum er gerade diesen Terminus benutzen konnte. Denn das Problem des Historismus taucht in voller Schärfe erst in der imperialistischen Geschichtsphilosophie und -Schreibung auf, seine Vertreter suchen für ihre Auffassungen Vorläufer, die wesentliche Gedanken zur spätbürgerlichen Geschichtstheorie entwickelt haben. So entsteht eine Vorgeschichte des Historismus, und indem dieser Begriff „zurückdatiert" wird, ergibt sich eine „falsche, pseudohistorische Vorstellung über die Genesis des uns interessierenden Gegenstandes" und daraus abgeleitet auch eine theoretisch falsche Auffassung vom Gegenstand selbst. Für die systematische (logische) Bestimmung ist es dagegen wesentlich, „jede Erscheinung an dem Punkt zu betrachten, wo sie ihren vollen und reifen Ausdruck findet".17 Die Suche nach der reifsten Gestalt führt uns direkt in die Iljenkow, E. W., Logisches un'd Historisches, in: Geschichte der marxistischen Dialektik. Von der Entstehung des Marxismus bis zur Leninschen Etappe, Berlin 1974, S. 235. " Ebenda, S. 242. 16 Ebenda, S. 243. 17 Ebenda, S. 238. 14
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spätbürgerliche Geschichtsphilosophie und -Schreibung, und die begriffliche Fassung des Historismus wird bei dieser „reifsten Gestalt" ansetzen müssen, ohne diese und die Vorgeschichte derselben unter eine und dadurch notwendigerweise abstrakt-allgemeine Bestimmung zusammenzufassen. Der erste Schritt einer marxistischen Analyse aber muß es sein, den eigenen Sprachgebraudi historisch-kritisch zu reflektieren.
2. Historismus in marxistischer
Sicht
Die marxistische Philosophie kennt zwei verschiedene Auffassungen vom Historismus: einmal als Kategorie ihres eigenen Systems^ zum anderen als Namen f ü r eine spätbürgerliche Geschichtsphilosophie. Dazu sollen hier drei Themenkreise in aller Kürze dargestellt werden: 2.1. die bisher bekannte Genesis der beiden unterschiedlichen Begriffe, 2.2. die Charakterisierung der beiden Historismus-Auffassungen, 2.3. die marxistischen Forschungen zum Historismus. 2.1. Marx und Engels kannten bzw. benutzten den Terminus „Historismus" (der ihnen theoretisch bekannt sein könnte, da er gelegentlich von Feuerbach verwendet wurde) noch nicht 18 — weder zur Darstellung ihrer wissenschaftlichen Geschichtsauffassung noch zur Kritik idealistischer Positionen etwa in der Zeit nach 1848. Auch f ü r Franz Mehring gibt es (bisher) keine Belege. Dagegen finden wir bei Rosa Luxemburg in ihrer Arbeit „Die sozialistische Krise in Frankreich" (1900/01) beinah überraschend den Terminus „Vulgärhistorismus" — und zwar sofort erläutert als „ein Gegenstück zur Vulgärökonomie", das „die Geschehnisse, so wie sie sich an der Oberfläche des politischen Lebens darstellen, als das Werk der Minister und anderer ,Hauptleute' der Geschichte statt in ihrem wahren inneren Zusammenhang auffaßt". 19 Wenn Luxemburg das Wort in Analogie zu „Vulgärökonomie" gebildet hat (so wie es Marx bei seiner berühmten Bestimmung der klassischen politischen Ökonomie als Gegenpol verwendet hat 20 ), so setzte das die Kenntnis eines positiv verstandenen „Historismus" voraus, der im Gegensatz zum „Pseudohistorismus" gerade die Geschichte „in ihrem wahren inneren Zusammenhang auffaßt". Ein Nachweis dafür fehlt bislang noch. Erstmals finden wir diesen Terminus in der marxistischen Literatur wohl bei Lenin. In der scharfen Polemik mit Peter Struve im Jahre 1914 — unter dem 18
Recherche im Marx/Engels-Wörterbuch (Kartei), hrsg. vom Zentralinstitut für Sprachwissenschaft an der AdW der DDR unter Leitung von J. Höppner (inzwischen eingestellt). 1M Luxemburg, Rosa, Die sozialistische Krise in Frankreich, in: Gesammelte Werke, Bd. 1/2, Berlin 1974, S. 21. M Marx, Karl, Das Kapital, Bd. I, in: MEW, Bd. 23, S. 95 Anm.
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Titel „Noch eine Vernichtung des Sozialismus"21 — verwendet er den Terminus gleich mehrmals und legt ihn dabei scheinbar in seiner Bedeutung fest. Lenin geht es in diesem Zusammenhang darum, die Auffassungen der Klassiker der bürgerlichen Ökonomie von der Objektivität der ökonomischen Gesetze zu verteidigen: „Gerade der ,materialistische Historismus' hat diese Idee endgültig begründet und sie von den metaphysischen ( . . . d. h. von den antidialektischen) Unsinnigkeiten und Mängeln gereinigt." Das Undialektische der englischen Ökonomen bestand bekanntlich darin, daß sie bei der Formulierung der „natürlichen Gesetze" des Kapitalismus weder dessen vergänglichen Charakter noch den ihm immanenten Klassenkampf erkannt haben. „Diese beiden Mängel wurden durch den materialistischen Historismus behoben." Soweit Lenin. Er benutzt das Wort zuerst in Anführung, um auf Struves Terminologie hinzuweisen (bei Struves Unterscheidung von „mystischem" und „materialistischem" Historismus könnte eine weitere Untersuchung einsetzen), dann wie selbstverständlich ohne Anführung — als marxistischen Terminus, der die Objektivität und Veränderung gesellschaftlicher Gesetze bezeichnet Auf eine Formel gebracht: materialistischer Historismus = dialektische historisch-materialistische Methode. Auf Lenins Hinweisen fußend und genau in diesem Sinne wurde in der Folge in den sowjetischen Arbeiten der Terminus „istorizm" gebraucht, ohne daß dies weiter von mir verfolgt werden kann. Anfang der 30er Jahre wird — wie sporadisch gefundene Belege zeigen — der Terminus auch im kritischen Sinne benutzt, so etwa von Karl Schmückle22 oder von W. F. Asmus.23 Eine Art Schlüsselrolle in der marxistischen Beschäftigung mit diesem Thema spielt in den 30er und 40er Jahren Georg Lukäcs.24 Er gibt in seinem Buch „Der historische Roman" (geschrieben 1936/37) eine knappe implizite Geschichte des Historismus — ausgehend von Herder über den „Pseudohistorismus" der Restaurationszeit, über Hegel als den „Höhepunkt des Historismus" und Ranke als den Vertreter eines „Antihistorismus in einer historischen Form". In weiteren Arbeiten vertieft Lukäcs diese Auffassung. So ist „Der junge Hegel" (vollendet 1938) direkt als Entwicklungsgeschichte des Hegeischen Historismus konzipiert, während er andererseits in Schellings Geschichtsauffassung eine der Quellen sieht, „aus denen der romantische reaktionäre Pseudohistorismus des 19. Jahrhunderts entspringt". Mit dieser Unterscheidung von „Historismus" als dem progressivsten bürgerlichen Geschichtsdenken von der Aufklärung bis zu Hegel und „Pseudohistorismus" als dem reaktionären Geschichtsdenken seit der Französischen Revolution — beginnend mit Burke, Schelling, französischer und deutscher Romantik, Ranke — hat Lukäcs die marxistische Terminologie nach« haltig beeinflußt.
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Lenin, W. 1., Noch eine Vernichtung des Sozialismus, in: Werke, Bd. 20; zum „Historismus" nur S. 192. Schmückte, Karl, Zur Kritik des deutschen Historismus, in: Unter dem Banner des Marxismus, 3,1929, S. 281-297. Asmus, W. F., Marks i burzuazni istorizm, Moskva 1933. Ausführlicher dazu Herzberg, S. 43—47.
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Aus einem a n d e r e n historischen Kontext — nämlich in Auseinandersetzung mit Benedetto Croce — setzt Antonio Gramsci die Leninsche Tradition fort. 2 5 In den „Briefen aus d e m K e r k e r " operiert e r m i t d e m T e r m i n u s viermal in gleicher Richtung: er akzeptiert diesen Ausdruck Croces (der seine neohegelianische Geschichtsphilosophie als „absoluten Historismus." bezeichnete u n d den Anspruch v e r t r a t , darin jeden Irrationalismus u n d Pessimismus, jede A r t v o n Spekulation u n d Geschichtstheologie ü b e r w u n d e n zu haben) u n d weist zugleich auf die Inkonsequenz Croces hin, d e r in d e r Transzendenz u n d Theologie steckengeblieben sei — wohingegen n u r der Marxismus, d e r f r e i von solchen Resten ist, als „absoluter Historismus" bezeichnet werden k a n n . A n a n d e r e r Stelle verweist Gramsci auf Ricardo, der den Begründern des Marxismus „bei ihrer Ü b e r w i n d u n g der Hegeischen Philosophie u n d beim A u f b a u ihres neuen, von jeder S p u r spekulativer Logik gereinigten Historismus" die Richtung gewiesen h a b e n kann. 2 6 Nach Gramsci h a t also nur d e r Maxismus d a s Recht, sich als Historismus zu bezeichnen. Nicht u m die Bedeutung des T e r m i n u s w i r d gestritten — Croce verstand d a r u n t e r „im wissenschaftlichen Sinne dieses Wortes . . . , d a ß das Leben u n d die Wirklichkeit Geschichte sind u n d nichts a n deres als Geschichte" 27 —, sondern u m seine materialistische oder idealistische Zuordnung. Doch h a b e n Gramscis Überlegungen, auch auf G r u n d i h r e r geringen Verbreitung bei uns, in u n s e r e m Sprachgebrauch k a u m eine Rolle gespielt. Neben dieser A u f f a s s u n g vom Historismus, die sich vergleichsweise f r ü h h e r ausgebildet h a t (Luxemburg 1900/01, Lenin 1914, Gramsci 1931/32), gibt es noch eine andere, die den Terminus: ausschließlich auf die spätbürgerliche Geschichtsphilosophie u n d -theorie anwendet. Diese A u f f a s s u n g geht von d e r Auseinandersetzung mit d e r bürgerlichen Ideologie aus u n d verzichtet d a r a u f , diesen vorbelasteten Begriff als i n h ä r e n t e Kategorie d e r marxistischen Philosophie zu verwenden. Merkwürdigerweise ist die Genesis dieser Bedeutung noch sehr unklar. Bisher steht a m A n f a n g d e r 1929 veröffentlichte Aufsatz von K a r l Schmückle „Zur Kritik des deutschen Historismus", d e r m e h r e r e größere Zeitabschnitte in der Entwicklung des „deutschen Historismus" — m i t der klassischen deutschen Philosophie beginnend — unterscheidet u n d sich d a n n mit R a n k e als d e m „Lehrmeister u n d eigentlichen Begründer der spezifisch ,deutschen', spezifisch ideologischen Geschichtsauffassung" u n d mit dessen F o r t s e t z e m in der Weimar e r Republik: Troeltsch, Mein ecke u n d Rosenzweig, u n d ihrem „historischen Staatsidealismus" kritisch auseinandersetzt, wobei e r abschließend feststellt:
27
Ich kann mich hier nur auf das bei uns erschienene Buch von Gramsci, Antonio, „Briefe aus dem Kerker" (Berlin 1956 und Leipzig 1962) beziehen; das Studium weiterer Arbeiten bringt mit Sicherheit neues Material. Ebenda. Die vier Stellen sind: Dietz-Ausgabe, S. 183, 228, 233; Reclam-Ausgabe, S. 243, 304, 310 f. Croce, Benedetto, Die Geschichte als Gedanke und als Tat, dt. Ausgabe Bern 1944, S. 104 (zit. nach Kon, I. S., Die Geschichtsphilosophie des 20. Jahrhunderts, ¡Bd. 1, Berlin 1964, S. 222).
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„Indem die moderne deutsche Geschichtsschreibung ihre grundlegenden Kategorien aus dem Historismus Rankes (und der historischen Schule') übernimmt, übernimmt und konserviert sie zugleich die prinzipiell-reaktionäre Fassung dieser Kategorien." Walter Benjamin stellt (1937) Historismus und historischen Materialismus einander gegenüber, indem er über die Wirkungsgeschichte von Kunstwerken reflektiert. Während der Historismus „ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit" zeichnet und damit zur „Beschaulichkeit", zum „Es-war-einmal" tendiert, berücksichtigt der historische Materialismus die jeweilige Erfahrung mit der Vergangenheit. Die explizierte Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen Historismus führt Benjamin in seinen tiefgründigen geschichtsphilosophischen Thesen „Uber den Begriff der Geschichte" (1939/Anfang 1940) durch. 28 Als Konzeption wird dies auch deutlich bei Werner Krauss, etwa in dem berühmten Aufsatz „Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag". Darin skizziert er u. a. den Weg von Ranke zu Dilthey, bei dem „das Historismusproblem mit aller Schärfe" hervortrete; 29 Dessen Historismus wird bestimmt durch die Wendung zur Geistesgeschichte, die Ersetzung der äußeren durch die „innere" Erfahrung, den historischen Relativismus, die Verdrängung einer optimistischen Geschichtsauffassung durch den Skeptizismus, die Auflösung der Geschichte in ein bloßes Nacheinander geschichtlicher Phänomene, wodurch sie „zum Ausdruck der bloßen Bewegung verkümmert". 30 Obwohl Krauss nicht ins Detail geht, wird es klar, in welchem Sinne er vom Historismus spricht — nämlich einzig zur Bezeichnung der sich an Dilthey anschließenden „Geistesgeschichte" als einer spezifischen Form imperialistischer Geschichts- und Literaturgeschichtsschreibung. 2.2. Alle in der marxistischen Literatur auftretenden Bedeutungen werden in der ersten Auflage des „Philosophischen Wörterbuches" wie folgt zusammengefaßt: „Historismus — philosophische Auffassung von der Geschichtlichkeit der gesellschaftlichen Erscheinungen; Methode, die die gesellschaftlichen Erscheinungen der Vergangenheit und Gegenwart aus ihrer eigenen Geschichte, aus bestimmten geschichtlichen Zusammenhängen und Beziehungen erklärt — wobei der bürgerliche und der marxistische Historismus grundsätzlich zu unterscheiden ist; Auffassung des historischen Materialismus von der historischen und klassenmäßigen Bedingtheit der Auffassungen der Historiker; Bezeichnung für eine bestimmte Tradition der bürgerlichen Historiographie, deren wesentliches Merkmal die Relativierung, Subjektivierung und Individualisierung der geschichtlichen Erscheinungen, Prozesse und Fakten ist." 31 a
Benjamin, Walter, Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker, in: Zeitschrift für Sozialforsdiung, 6, 1937; ders., Über den Begriff der Geschichte, in: Gesammelte Schriften, Werkausgabe ed. suhrkamp, Frankurt/M. 1980, Bd. I, 2, S. 691—704, vgl. auch Bd. I, 3, bes. S. 1240 f., 1248. 2 J ' Krauss, Werner, Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag, in: Zur Dichtungsgeschichte der romanischen Völker, Leipzig 1965, S. 61. 30 Vgl. ebenda, S. 54-66, 79. 31 Philosophisches Wörterbuch,, hrsg. von Georg Klaus und Manfred Buhr, Leipzig 1964, S. 234.
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Diese Gegenüberstellung von marxistischem und bürgerlichem Historismus ist in unserer Literatur weitverbreitet. Am ausführlichsten wird dies im „Sachwörterbuch der Geschichte Deutschlands und der deutschen Arbeiterbewegung" durchgeführt. 32 Einleitend heißt es zum Stichwort „Historismus": „Geschichtsauffassung, die alle gesellschaftlichen Erscheinungen und Prozesse aus den jeweiligen historischen Bedingungen heraus zu erfassen sucht. Infolge des inhaltlich, methodologisch und methodisch völlig unterschiedlichen Charakters der Geschichtserkenntnis und -darstellung besteht ein unüberbrückbarer Gegensatz zwischen bürgerlichem Historismus und marxistischem Historismus." Es wird unterschieden zwischen einem progressiven und einem reaktionären bürgerlichen Historismus (siehe unten) und eine ausführliche Definition des marxistischen Historismus gegeben. Darin heißt es: „Der marxistische Historismus, die konkrete geschichtliche Forschung organisch mit den allgemeinhistorischen Entwicklungstendenzen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbindend, bildet das wichtigste methodologische Prinzip aller marxistischen Gesellschaftswissenschaften und speziell der marxistischen Geschichtswissenschaft. Dieses Prinzip erfordert, daß jede gesellschaftliche Erscheinung in ihrer Entstehung, Entwicklung und Veränderung untersucht, in ihren Zusammenhängen mit den Erscheinungen und Bedingungen der jeweiligen historischen Epoche betrachtet und unter Berücksichtigung der geschichtlichen Erfahrungen gewertet wird . . . " 33 Ähnlich heißt es auch im Vorwort zur „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung": Der historische Materialismus „verbindet Parteilichkeit mit strengster Wissenschaftlichkeit und Objektivität. Ihm ist das Prinzip des Historismus eigen." 34 Das wird anschließend erläutert: es werden nicht einfach Tatsachen und Ereignisse chronologisch aneinandergereiht, sondern es wird der innere gesetzmäßige Zusammenhang der Geschichte aufgedeckt, die geschichtliche Entwicklung als Fortschreiten vom Niederen zum Höheren gezeigt, der Zusammenhang mit anderen gesellschaftlichen Ereignissen sichtbar gemacht, es werden die Triebkräfte der Entwicklung und ihre Dialektik aufgedeckt und historische Lehren vermittelt. 35 In diesem Rahmen bewegen sich fast alle Arbeiten, die im „Historismus" eine marxistische Kategorie sehen. Stellvertretend sei der Aufsatz von Wolfgang Küttler und Gerhard Lozek „Marxistisch-leninistischer Historismus und Gesellschaftsanalyse" mit der Betonung der Einheit des Historischen und des Logischen genannt. 36 Daneben treten aber auch vereinzelt gedankenlose Ausweitungen des Begriffs auf, die der Gefahr kaum entgehen, den „Historismus" zu einem' marxistischen Schlagwort zu machen. 37 32
Sachwörterbuch der Geschichte Deutschlands und der deutschen
Bd. 1, Berlin 1969, S. 792 f. Ebenda. 84 GdA, Bd. 1, S. 7«. » Ebenda, S. 7* f. 30
Arbeiterbewegung,
Küttler, Wolfgang/Lozek, Gerhard, Marxistisch-leninistischer Historismus und Gesell-
schaftsanalyse, in: Probleme der Geschiehtsmethodologie, hrsg. vpn Ernst Engelberg, Berlin 1972, bes. S. 33 f.
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In einer weiteren Bedeutung — wie sie in der 1. Auflage des „Philosophischen Wörterbuches" als „philosophische Auffassung von der Geschichtlichkeit der gesellschaftlichen Erscheinungen" noch unspezifisch angegeben, wird — soll dieser Terminus das Geschichtsdenken der klassischen deutschen Philosophie, besonders von Herder und Hegel, bezeichnen.38 Dies geht ziemlich sicher auf Lukäcs zurück, der in seinem Hegelbuch durchgehend von „Hegels Historismus" spricht und insgesamt unter „Historismus" einzig das progressivste bürgerliche Geschichtsdenken von der Aufklärung bis zu Hegel versteht. In diesem Sinne wird in unserer Literatur ein „progressiver bürgerlicher Historismus" als eine Quelle des marxistischen Historismus angesehen39 und auch als Gegenpol zum späteren reaktionären Historismus.40 In diesen Fällen haben wir es nicht mit einer marxistischen Kategorie zu tun, sondern mit einer geschichtsphilosophischen Kennzeichnung. (Vom „Historismiis" Herders oder Hegels sprechen auch imperialistische Historiker.) Im Unterschied zum „Historismus" als marxistischer Kategorie und als Name einer imperialistischen Geschichtskonzeption haben wir es hier mit einer sporadisch auftretenden und wenig reflektierten Mischform zu tun, die weniger aussagt, als ihre Benutzer damit verbinden wollen, und eine Vieldeutigkeit des Wortes unterstützt. Die Auseinandersetzung mit der dominierenden imperialistischen Geschichtsphilosophie und -Schreibung des 20. Jh. in Deutschland machte auch eine terminologische Fixierung notwendig. Wir finden in unserer Literatur Benennungen wie „Pseudohistorismus" (z. B. bei Lukäcs), „Krise des Historismus" (z. B. bei Kon), „deutscher" (z. B. in sowjetischen Arbeiten oder bei Hans Schulze), „idealistischer" (z. B. bei Hans Schleier), „relativistischer" (bei Gedö), „reaktionärer", „bürgerlicher", „philosophischer", „sogenannter" Historismus oder auch die Kombination mehrerer dieser Attribute. Der Sache nach sind sich alle diese Autoren einig (und wir legen diese gemeinsame Auffassung dem Punkt 3 „Begriff und Wesen des Historismus" zugrunde). Bereits die 1. Auflage des „Philosophischen Wörterbuches" nennt als eine Bedeutung „ . . . eine bestimmte Tradition der bürgerlichen Historiographie, deren wesentliches Merkmal die Relativierung, Subjektivierung und Individualisierung der geschichtlichen Erscheinungen, Prozesse und Fakten ist", und führt diese Bestimmung auch weiter aus. Ähnlich wird auch im „Sachwörterbuch der Geschichte Deutschlands" eine ausführliche Begriffsbestimmung dieser Auffassung vom Historismus als einer spätbürgerlichen Geschichtskonzeption vorgenommen. Aber erst in der 6. Auflage des überarbeiteten „Philosophischen Wörterbuches" (1969) werden von Winfried Schroeder alle anderen Bedeutungen des Terminus ausgeblendet, und es heißt dort: „Historismus — < Bollhagen, Peter, W. I. Lenin und der Historismus, in: Philosophen-Kongreß der DDR 1970, T. 3, Berlin 1970, S. 83; Gedö, Andras, Die Einheit von Geschichtlichkeit und Objektivität der Erkenntnis, in: DZfPh, 18,1970, 7, z. B. S. 825 f., 842. 38 Philosophisches Wörterbuch, 1964, S. 234; vgl. auch Hegel und wir, hrsg. von Erhard Lange, Berlin 1970. Sachwörterbuch der Geschichte Deutschlands. M Vgl. Hegel und wir, S. 134. w Z. B. Sachwörterbuch der Geschichte Deutschlands. d
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Name für eine in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in Deutschland als Reaktion auf den dialektischen und historischen Materialismus und den Positivismus entstandene spätbürgerliche Geschichtsphilosophie, die mit dem Entstehen der Lebensphilosophie und der Wendung zur Geistesgeschichte im Zusammenhang steht."41 Auch hier schließt sich eine ausführliche Bestimmung der Wesensmerkmale an. Mir erscheint es sinnvoll, diesen wortgeschichtlich und geschichtsphilosophisch „vorbelasteten" Begriff genau und ausschließlich in dieser Hinsicht zu verwenden. Damit würde die marxistische Historismusauffassung korrespondenzmäßig und kritisch an die bisherige Terminologie- und Begriffsgeschichte anschließen und das Nebeneinander verschiedener Bedeutungen (mit ihren vielen sprachlichen Differenzierungen) verschwinden. 2.3. Die marxistische Erforschung des Historismus wurde teils von Philosophen, teils von Historikern unternommen, ohne daß bisher eine umfassende oder gar abschließende Darstellung erreicht wurde. Erste Vorstufen finden sich bei Lukäcs in seinen Arbeiten „Der historische Roman" (1936/37 geschrieben, 1955 veröffentlicht) und „Die Zerstörung der Vernunft" (1954). Wichtige Einzeluntersuchungen sind die Arbeiten von Werner Berthold42 über Meinecke und Ritter, von Frank Fiedler43 über die Methodologie von Dilthey, Windelband und Rickert, von Gerhard Schilfert44 über Ranke, von Gerhard Lozek45 über Meinecke, von Hans Schleier46 über die Ranke-Renaissance. Aber zur Erforschung des Historismus war es zugleich notwendig, stärker die geschichtsphilosophischen Positionen, das Wechselverhältnis von bürgerlicher Philosophie und Geschichtsschreibung zu untersuchen. Hier haben besonders die Arbeiten der sowjetischen Autoren A. I. Danilov, N. I. Smolenski, V. I. Salov, V. P. Toloknow Entscheidendes geleistet.47 Die erste große Analyse über den Historismus stammt zweifellos von I. S. Kon.48 Er untersucht eingehend die sozialen Wurzeln der „Krise des Historismus" und die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen als Ergebnis der inneren Entwicklung des bürgerlichen Geschichtsdenkens. Er setzt sich auseinander u. a. mit Dilthey, dem Neukantianismus, Max Weber, der Lebensphilosophie, mit Troeltsch und Meinecke, dem Neuhegelianismus Croces, den Fortsetzern Diltheys — Litt und Rothacker. Der 41
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Philosophisches Wörterbuch, Leipzig 1969®, S. 478 (so auch in der bisher letzten Auflage, Leipzig 197410, S. 521). Berthold, Werner, „... großhungern und gehorchen", Berlin 1960. Fiedler, Frank, Methodologische Auseinandersetzungen in der Zeit des Übergangs zum Imperialismus (Dilthey, Windelband, Rickert), in: Studien über die deutsche Geschichtswissenschaft, hrsg. von Joachim Streisand, Bd. 2, Berlin 1965, S. 153 ff. Schilfert, Gerhard, Leopold von Ranke, ebenda, Bd. 1, Berlin 1963, S. 241 ff. Lozek, Gerhard, Friedrich Meinecke, ebenda, Bd. 2, S. 303 ff. Schleier, Hans, Die Ranke-Renaissance, ebenda, S. 99 ff. Verzeichnis der wichtigsten Arbeiten bei Schleier, DDR-Forschungen, S. 367, und Patruschew, A. 1., Die Tradition des „deutschen Historismus" in der bürgerlichen Geschichtsschreibung der BRD, in: SW, 29,1976, 3, S. 286. Kon, Bd. 1 und 2.
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große Vorzug dieser Arbeit besteht darin, daß Kon den Historismus als eine internationale Erscheinung untersucht — wie er in der englischen, amerikanischen und französischen Geschichtsphilosophie und -theorie auftritt — und zeigt, wie weit er die konkrete Geschichtsschreibung mit seinen theoretischen und methodologischen Auffassungen bestimmt hat. Knappe Darstellungen der Geschichte des Historismus finden sich in der 1. Auflage des Handbuches „Unbewältigte Vergangenheit" 49 und erweitert im 2. Kapitel der 3. Auflage. 50 An drei wesentlichen Ausprägungen — Diltheys Begründimg der „Geisteswissenschaften", der existenzphilosophischen Vorstellung von „Geschichtlichkeit", der hermeneutischen Wirkungsgeschichte — untersuchen Dieter Bergner und Reinhard Mocek die Grundpositionen des Historismus. 51 Wichtig sind auch jene Arbeiten über Dilthey von Georg Lukäcs52, Heinz Malorny 53 , Werner Sellnow54, die sich zwar nicht mit dem Historismus beschäftigen, aber die philosophischen und gesellschaftlichen Auffassungen dieses Denkers ausführlich behandeln. Der Erforschimg des Historismus — seines Verhältnisses zur Strukturgeschichte und zu den sozialwissenschaftlichen Methoden, seiner Assimilation mit Elementen des Neopositivismus und der „Kritischen Theorie", seiner Metamorphose in neuesten Geschichtstheorien und -methodologien — widmeten sich in den letzten Jahren verschiedene Arbeiten H. Schleiers u. a.55 Ein Forschungs*bericht 56 umreißt kurz den bisherigen Stand der Arbeiten und benennt vor allem die noch offenen Fragen, deren weitere Erforschung erst zu einer umfassenden und erschöpfenden Darstellung des Historismus führen werden. 3. Begriff und Viesen des
Historismus
Auf Grund der genannten marxistischen Forschungen über den Historismus und spezieller Überlegungen zu seiner Genesis kann er — dies ist mein Vorschlag — wie folgt näher bestimmt werden: Der Begriff dient zur Charakteri4a
Unbewältigte Vergangenheit. Kritik der bürgerlichen Geschichtsschreibung in der BRD, hrsg. von Gerhard Lozek (u. a.), Berlin 1970, S. 67—74. «w Ebenda, Berlin 19773, S. 81-159. 51 Bergner/Mocek, S. 75—96. 52 Lukäcs, Georg, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1954, S. 329—350. 53 Malorny, Heinz, Über die philosophischen Auffassungen Wilhelm Diltheys, phil. Diss. A., Jena 1967 (MS). 54 Sellnow, Werner, Gesellschaft — Staat - Recht, Berlin 1963. 35 Schleier, Hans, Zum Verhältnis von Historismus, Strukturgeschichte und sozialwissenschaftlichen Methoden in der gegenwärtigen Geschichtsschreibung der BRD, in: Probleme der Geschichtsmethodologie, S. 299 ff.; ders., Theorie der Geschichte — Theorie der Geschichtswissenschaft, Berlin 1975; ders., Zu den gegenwärtigen Versuchen bürgerlicher Historiker der BRD, Elemente des Historismus, des Neopositivismus und der Kritischen Theorie zu integrieren, in: Probleme der geschichtswissenschaftlichen Erkenntnis, hrsg. von Emst Engelberg und Wolfgang Küttler, Berlin 1977, S. 229 ff.; Irmschler, Konrad/Lozek, Gerhard, Historismus und Sozialgeschichte in der gegenwärtigen bürgerlichen Geschichtsschreibung, in: ZfG, 27,1979, 3, S. 195 ff.
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sierung einer bestimmten durchgängigen Geschichtskonzeption der imperialistischen Ideologie (die natürlich ihre Vorgeschichte hat und damit auch vorimperialistische Wegbereiter besitzt). E r muß abgegrenzt werden gegen die progressiven bürgerlichen Geschichtsauffassungen von der Aufklärung bis zu Hegel, gegen sogenannte „übergeschichtliche" Betrachtungsweisen der Existenzphilosophie und Geschichtstheologien sowie gegen die ungeschichtliche bzw. geschichtsfeindliche Haltung des Positivismus (einschließlich des Neopositivismus). Damit umfaßt der Begriff „Historismus" zeitlich die (mit Ranke und Droysen beginnende) spätbürgerliche Abwendung von den progressiven Auffassungen der aufstrebenden Bourgeoisie auf geschichtsphilosophischem und -wissenschaftlichem Gebiet und die Produktion eines den Erfordernissen der imperialistischen Bourgeoisie in einer bestimmten historischen Konstellation angepaßten Geschichtsbewußtseins. Als grundsätzlich internationale Erscheinung konnte der Historismus seine Vorherrschaft besonders im deutschen bürgerlichen Geschichtsdenken zu einer nahezu unumstrittenen Geltung ausbauen.57 Sein Einfluß schwächte sich seit den 60er Jahren ab, wobei freilich auch die heute führenden sozialgeschichtlichen Konzeptionen an wichtigen Grundprinzipien des Historismus festhalten und seit einigen Jahren wieder Tendenzen der Berufung auf einen modifizierten Neo-Historismus festzustellen sind.58 Inhaltlich erfaßt der Historismus eine spezifisch geisteswissenschaftliche Betrachtung der Vergangenheit und Gegenwart, die mit der Loslösung der Geschichtsschreibung von ihrer gesellschaftlichen Basis, mit der Leugnung objektiver gesellschaftlicher Gesetze, mit einer subjektiv-idealistischen Erkenntnistheorie, mit einer Machtstaatideologie, der Leugnung des geschichtlichen Fortschritts und einer weitgehenden Irrationalisierung der Triebkräfte, Maßstäbe und Werte verbunden ist — wobei seine charakteristischste Besonderheit in dem „Individualitätsgedanken" (Individualisierung der geschichtlichen Erscheinungen, Auffassung des Staates als „Individuum", individualisierende Methode, Verabsolutierung des subjektiven Faktors) besteht. Der Historismus ist sowohl eine spezielle Geschichtsphilosophie und -methodologie als auch „eine allgemeine Grundhaltung in der Gesamtheit der sogenannten Geisteswissenschaften, . . . eine Art ideologisches Klima' — vor allem im Bildungsbürgertum — in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts". 59 Er ist der permanente geschichtsphilosophische Versuch der imperialistischen Ideologie einer Auseinandersetzung mit der geschichtlich-gesellschaftlichen Entwicklung, wobei sein Einfluß über die Geschichtswissenschaft hinaus sich auf fast alle bürgerlichen Geisteswissenschaften erstreckt. Dabei ist der Historismus selbst
56 57
58
59
Schleier, DDR-Forschungen. Ders., Grundlinien der bürgerlichen deutschen Historiographie vor 1945, in: Unbewältigte Vergangenheit, 19773, S. 90; vgl. auch S. 87, 94. Ders., Theorie der Geschichte — Theorie der Geschichtswissenschaft, S. 84; ders., Sozialgeschichtliche Alternativkonzeptionen in der BRD, in: Formationstheorie und Geschichte, hrsg. von Ernst Engelberg und Wolfgang Küttler, Berlin 1978, S. 674 ff.
Bergner/Mocek, S. 79.
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abhängig von der jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Konstellation, dem Stand der bürgerlichen Philosophie und der (von ihm weitgehend beherrschten) Geschichtsschreibung — und damit deren Wandlungen unterworfen, wie dies vom bürgerlichen Standpunkt her sehr eindrucksvoll von Georg G. Iggers dargestellt worden ist.60 Andererseits besitzt der Historismus als konsequentester historischer Idealismus für die Aufrechterhaltung der bürgerlichen Ideologie auf dem Gebiet der Geschichte eine stabilisierende Dauerfunktion, die seine in den Grundzügen unwandelbare Struktur und seine lange Herrschaftsrolle in der imperialistischen Geschichtsauffassung erklärt. Im Folgenden werden seine wesentlichen Merkmale noch einmal genannt: 1. Leugnung des objektiven Charakters der Geschichte und des objektiven Zusammenhangs der geschichtlichen Erscheinungen: Geschichte wird prinzipiell der Natur entgegengestellt und erscheint als ein Werk des (menschlichen oder „objektiven") Geistes. Geschichtliche Prozesse werden subjektiviert und individualisiert; objektive kausale Zusammenhänge werden durch ideengeschichtliche ersetzt. 2. Leugnung von Gesetzmäßigkeiten in Geschichte und Gesellschaft: Gesetze werden mit „naturgesetzlicher Notwendigkeit" gleichgesetzt, in der Geschichte gebe es keine Notwendigkeiten, sondern Spontaneität, Zufall, Freiheit; geschichtliche Ereignisse seien einmalig und unwiederholbar. (Den Gegenpol zur Freiheit bildet dann das „Schicksal" mit seinen Synonymen wie »-„Rätsel", „Ungewisses" usw.) 3. Individualisierung der Geschichte: Das Kernstück des Historismus steht im engsten Konnex mit dem vorangegangenen Merkmal. Geschichte wird allein unter dem Aspekt ihrer Einmaligkeit betrachtet, das Zufällige und das Notwendige innerhalb geschichtlicher Ereignisse werden nicht mehr unterschiedden. Nicht nur die Fakten und Ereignisse sind einmalig (wodurch das Allgemeine aus der Geschichte verschwindet), auch die Werte und Maßstäbe. Selbst die Völker und Staaten werden als „Individuen" betrachtet. Die Geschichtsschreibung soll dieses „Individuelle" betrachten, dazu benutzt sie eine eigene individualisierende Betrachtungsweise („ideographische Methode" als Beitrag des Neukantianismus), muß sie sich in die einmaligen und einzigartigen Vorgänge „einfühlen" mittels einer eigenen „Verstehenslehre". Zwangsläufig richtet sich diese Haltung gegen jede Art von theoretischer Verallgemeinerung und muß zum Subjektivismus führen. 4. Leugnung des historischen Fortschritts: In extremer Form von Ranke (..Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott"), Burckhardt, Schopenhauer und Nietzsche vertreten. Während der Historismus permanent von „Entwicklung" spricht, meint er aber nur „immanente" Entwicklungen, wobei die Kontinuität die Grundlage dieser rein evolutionären Betrachtungsweise bildet. Wenn realer Fortschritt in bestimmten Bereichen (Wissenschaft, Technik, fortschreitende m
Iggers, Georg G., Deutsche Geschichtswissenschaft, München 19722.
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Rationalisierung des Lebens) anerkannt wird, so erscheint er als Entleerung der Humanität, als Bedrohung des Menschen. Die Auseinandersetzung mit der „Entwicklung" f ü h r t bei einigen maßgeblichen Vertretern des Historismus dazu, die vielen verschiedenen Werte, Ideen und Individualitäten im Laufe der Geschichte als Glieder in einer Kette der Entwicklung auf einen zeitlosen, absoluten Wert hin zu betrachten, der jenseits der Geschichte liegt (so Troeltsch), bzw. vom „Ewigen" her auf die Geschichte, den „bloßen Werdestrom", herabzusehen (so Meinecke). 5. Irrationalisierung der Geschichte: Mit der Intention, die Besonderheiten der Geschichte gegenüber der Natur herauszuarbeiten (hierzu trägt methodisch wesentlich der Neukantianismus bei), wurde im Kampf gegen den Materialismus und Positivismus die Geschichte subjektiviert und psychologisch als ein unentwirrbares Knäuel menschlicher Triebe, Leidenschaften, Probleme — in denen weder Gesetz noch Vernunft walten — interpretiert. Die grundsätzliche Irrationalisierung der Wirklichkeit durch die Lebensphilosophie (als die philosophische Grundlage des Historismus) macht auch vor der Geschichte nicht halt. Unterschiedliche Auffassungen gibt es darüber, ob es zu dieser irrationalen Welt einen rationalen Zugang gibt (so Max Weber) oder ob dieses einmalige und irrationale Geschehen nicht auch ein besonderes intuitives Verstehen von seiten des Historikers verlangt (das ist der Verbreitetste Standpunkt). 6. Das „Verstehen" als intuitive Methode: Da der Historiker in der Geschichte keine Gesetze aufsucht, geht es ihm neben der Beschreibung der Oberfläche primär darum, die einzelnen Ereignisse und die agierenden Personen zu „verstehen" (ausdrücklich als Gegensatz zum naturwissenschaftlichen „Erklären" gedacht). Durch psychologisches Einfühlen in die verborgenen Ursachen und Antriebe sollen die „tiefsten Wurzeln" des Geschehens bloßgelegt werden. Nicht materielle Verhältnisse, sondern die individuellen Motive, Erlebnisse, Stimmungen, Ideen — die „Innenseite" der Geschichte — sollen auf diese Weis© erfaßt werden. Ansätze solcher Betrachtungsweise finden sich bereits bei Wilhelm v. Humboldt, Ranke, Droysen. Aber erst die Verbindung mit der Lebensphilosophie f ü h r t zur Dominanz einer (hermeneutischen) Verstehenslehre und der von ihr ausgehenden „Einfühlung" in die Quellen. 7. Relativismus als geschichtsphilosophische und weltanschauliche Grundhaltung: Aus dem „Individualitätsprinzip" folgt, daß jedes geschichtliche Ereignis einmalig und einzigartig ist, daß es demzufolge auch keine rational begründet e n Maßstäbe zur Beurteilung dieser Ereignisse geben kann, sondern jede Erkenntnis und jede Bewertung selbst individuell und geschichtsgebunden ist. Objektive und überprüfbare Erkenntnis analog zu den Naturwissenschaften ist f ü r den Historismus ausgeschlossen. Sein Postulat, jedes Ereignis mit den ihm inhärenten Maßstäben zu beurteilen, f ü h r t zwangsläufig zum historischen Relativismus, also zum Verlust objektiver historischer Erkenntnis und Beurteilung. Diese f ü r die Bourgeoisie als herrschende Klasse n u r bedingt annehmbare Haltung wurde pragmatisch dahin gehend „korrigiert", daß der Staat als der
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entscheidende Wert anerkannt wurde, auf den sich die Historiker „bei der Sichtung des historischen Faktenmaterials und der Darstellung des historischen Geschehens mehr oder weniger bewußt bezogen".61 8. Primat des Staates: Der Historismus entwickelt antidemokratische politische Dogmen, die im einzelnen bis auf Ranke zurückgehen. Wenn auch meist nicht ausdrücklich erwähnt, so gehören folgende Standpunkte dazu: der Primat des Staates vor der Gesellschaft, der Primat politischer gegenüber sozialökonomischer Fragen, der Primat der äußeren vor der inneren Politik, die Gleichsetzung von Staat und Macht, die Irrationalisierung des Staates und der Politik. 9. Nationalismus: Die faktische Abkehr der bürgerlichen deutschen Geschichtsphilosophie vom westeuropäischen Denken wurde vom Historismus als „tiefere Einsicht" in die Geschichte gegenüber dem „flachen Positivismus" und „geschichtsblinden Rationalismus" bewertet, daraus eine wissenschaftliche Vorrangstellung der deutschen Geschichtsauffassung abgeleitet, um so auf historischem Gebiet einen ideologischen Führungsanspruch der eigenen Bourgeoisie aufzustellen. Die vom Historismus betonte Rolle des Machtstaates diente objektiv zur Unterstützung der Herrschaftsansprüche des deutschen Imperialismus (wobei nach 1945 die Funktion des Historismus zurückgetreten ist gegenüber der erzwungenen „Verständigung" mit den anderen imperialistischen Staaten). 10. Persönlichkeitskult und antidemokratischer Charaker: Die Einzigartigkeit der Individuen, ihre Spontaneität, Lebendigkeit und Freiheit bilden ein bevorzugtes und von der Lebensphilosophie kultiviertes Thema des Historismus. Der Mensch wird als ein durch und durch irrationales Wesen aufgefaßt. Aus der richtigen Erkenntnis, daß der Mensch ein geschichtliches Wesen sei, folgt aber nicht, daß er die Geschichte auch macht. Die Akteure der Geschichte sind nach der Auffassung des Historismus die „großen Männer", „geniale Ideen" usw., auf keinen Fall aber die Volksmassen. So wird die Geschichte als das Zusammenspiel einzelner ausgezeichneter Persönlichkeiten und überindividueller Einflüsse (die als verselbständigte Wesen erscheinen wie „Macht", „Konstellation", „Geschick") verstanden und damit ein elitäres wie irrationales, in jedem Fall aber antidemokratisches Geschichtsverständnis verbreitet. 11. Krisenbewußtsein: Der Historismus ist nicht nur objektiv (auf Grund der aufgezählten Merkmale) ein Ausdruck der Krise der bürgerlichen Geschichtsauffassung (-philosophie, -methodologie, -Schreibung), sondern wird auch subjektiv von vielen Vertretern als solche reflektiert. Dieses Bewußtsein wurde als weltanschauliche Grundhaltung von Philosophen wie Nietzsche, Dilthey, Yorck von Wartenburg, als Kulturpessimismus von Jacob Burckhardt u. a. bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jh. artikuliert, fand aber erst seit dem ersten Weltkrieg und der mit der Oktoberrevolution sich verschärfenden allgemeinen 61
18*
Ernst, Uber Theorie und Methode in der Geschichtswissenschaft, in: Probleme der Geschichtsmethodologie, S. 18.
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Krise des Kapitalismus verstärkt Eingang in die imperialistische Historiographie.62 Diese Merkmale geben recht genau das Wesen des Historismus wieder, wobei damit die Gesamtposition der wohl einflußreichsten imperialistischen Geschichtsphilosophie charakterisiert werden soll. Bei einzelnen Vertretern gibt es selbstverständlich auch abweichende oder schwankende Haltungen in einzelnen Fragen, können sogar gelegentlich dieser Gesamteinschätzung entgegenstehende Formulierungen gefunden werden (Überall in der objektiven Realität sind Erscheinungen vorhanden, die dem Wesen einer Sache widersprechen, ohne daß damit die Bestimmung des Wesens ihre Geltung verliert.) So erhebt sich auch die Frage, ob es im Historismus einen „rationellen Kern", „positive Elemente" o. ä. gibt. Zweifellos hat der Historismus zur Überwindung abstrakt-vernünftiger und noch unhistorischer Vorstellungen älterer Geschichtskonzeptionen (z. B. der Aufklärung) beigetragen, dort vorhandene positive Ideen auch übernommen und zum methodischen Fortschritt der Fachhistorie beigetragen. In dieser Hinsicht führt er Traditionen des bürgerlichen Geschichtsdenkens fort — aber im Rahmen eines übergreifenden weltanschaulichen Konzepts, das ausschließlich zur Verteidigung der Interessen der zuerst nachrevolutionären, dann imperialistischen Bourgeoisie dient. Die prinzipielle Gegenposition des Marxismus zum Historismus als Geschichtsphilosophie erlaubt nur ein Anknüpfen an einzelne methodische Prinzipien, die vom Historismus kultiviert worden sind, z. B. die Herausarbeitung der „Rolle des Besonderen in der Geschichte"63 und dessen „Beobachtungs- und Charakterisierungskunst".64 (Die rationalen Elemente wären bei einer umfassenden HistorismusAnalyse auch detaillierter herauszuarbeiten.) Z. B. geht der sowjetische Mediävist Aron J. Gurjewitsch bei der Rekonstruktion der Weltvorstellung des mittelalterlichen Menschen davon aus, „an sie mit den ihr adäquaten Kriterien heranzugehen, sie immanent zu studieren, ihre eigene innere Struktur zu erschließen"65, die ihr eigenen „Vorstellungen und Werte zu rekonstruieren".66 Damit wird bewußt eines der rationellen Merkmale des Historismus im Rahmen der marxistischen Geschichtswissenschaft erkenntnisfördernd genutzt. Daß der Historismus nicht mit einem Mal entstanden ist, sondern eine längere Vorgeschichte hat, in der sich seine einzelnen Elemente herausgebildet haben, ist zu sagen beinah trivial. Kann man aber auch genau angeben, welcher bürgerliche Theoretiker diese Vorgeschichte zusammengefaßt, systematisiert, philosophisch begründet und damit die Synthese von spätbürgerlicher Historiographie und Geschichtsphilosophie in der neuen Qualität des Historismus durchgeführt hat? In der bürgerlichen Literatur wurde eine Zeitlang ziemlich ein82
Zusammenfassender Überblick zum Krisenbewußtsein der bürgerlichen Philosophie bei Heise, Wolfgang,
Aufbruch in die Illusion, Berlin 1964, Kap. V I (S. 363-491) ; zum
Krisenbewußtsein des bürgerlichen Geschichtsdenkens bei Kon, Bd. 1 (S. 7—81). 03
So Schleier, Z u m Verhältnis von Historismus, S. 318.
64
So Engelberg,
65
Gurjewitsch,
66
Ebenda, S. 17.
S. 25. A. J., Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, Dresden 1978, S. 9.
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hellig anerkannt, daß der Historismus seine allgemein philosophische und geschichtsphilosophische Begründung durch Wilhelm Dilthey gefunden hat.67 In der neueren Literatur vertritt dagegen Iggers die Auffassung, daß die „grundlegenden metaphysischen und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen des deutschen Historismus . . . von [Wilhelm von] Humboldt geschaffen und . . . vollendet worden" seien68 und daß „Ranke den dichtesten Systementwurf des Historismus im 19. Jahrhundert" entwickelt habe.69 Auch Schnädelbach ist der Auffassung, daß der Historismus „bei Ranke eine erste zusammenhängende Formulierung als Position unter nachhegelschen Bedingungen erfährt" 70 , während Dilthey lediglich das gedankliche Gemeingut des Historismus begrifflich präzisiert und damit eine „große zusammenfassende Selbstdarstellung des Historismus" geleistet habe.71 Dem steht wieder die Einschätzung von Wolfgang J. Mommsen entgegen, der in Dilthey und Troeltsch den theoretischen Gipfelpunkt der Entwicklung des Historismus sieht, wobei mit ihnen zugleich die „Dauerkrise", die „Agonie des Historismus" beginnt.72 Die Konzeptionen von Schnädelbach und besonders von Iggers weisen auf wesentliche Entwicklungsstufen des Historismus hin— was übrigens Dilthey selbst tat. Während Wilhelm v. Humboldts geschichtstheoretische Auffassungen für das 19. und 20. Jh. ziemlich wirkungslos blieben, obwohl ein ideengeschichtlicher Zusammenhang bestehen blieb, hat Ranke als Historiker und, wie in der letzten Zeit erst verstärkt erkannt wurde, als Geschichtsmethodologe eine bedeutende Rolle in der Herausbildung des Historismus gespielt. Ranke, Droysen, aber auch Braniß, Yorck von Wartenburg sowie der Neukantianismus haben Wesentliches bereits zur Herausbildung des Historismus geleistet, von dem Dilthey ausging. Der Historismus als Hauptströmung der imperialistischen deutschen Geschichtsphilosöphie hat seine philosophischen Grundlagen in der Lebensphilosophie, deshalb ist es gerechtfertigt, die Synthese von spätbürgerlicher Historiographie, Methodologie und Geschichtsphilosophie im Lebenswerk von Dilthey vollzogen zu sehen. Wir gehen mit I. S. Kon davon aus, daß Dilthey „in der für ihn charakteristischen fragmentarischen Form . . . alle Grundfragen gestellt [hat], von denen die bürgerliche Geschichtsphilosophie der Epoche des Imperialismus zehrt"73, daß — so Bergner/Mocek — „Diltheys Philosophie der ,Innerlichkeit', seine irrational idealistische Begründung der sogenannten Geisteswissenschaften . . . heute als Gesamtkonzeption von der bürgerlichen Geschichtsphilosophie und Gesellschaftstheorie abgelehnt [wird] — obwohl die von ihm aufgegriffenen und formulierten Problemstellungen fortwirken".74 0/
08
Entsprechende Belege (Hofer, Heussi, G. Ritter, Diwald) bei Herzberg,
Iggers, S. 84.
S. 57 f.
Ebenda, S. 95. ™ Schnädelbach, Herbert, Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus. Freiburg/München 1974, S. 35. n Ebenda, S. 115. a Mommsen, Wolfgang J., Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus, Düsseldorf 19722, S. 18. " Kon, Bd. 1, S. 107. 69
Bergner/Mocek, S. 85 (Hervorhebung von mir).
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4.
Terminologiegeschichte
Das sporadische Auftreten des Wortes, sein Fehlen in Wörterbüchern und philosophischen Lexika des 19. Jh. lassen die Genesis des Begriffs schwer rekonstruieren. Durch den Fleiß solcher bürgerlichen Forscher wie Heussi, Meinecke, Schaper, Hoffmeister, Rothacker, v. Renthe-Fink (oder durch glückliche Zufälle) ergaben sich einige wesentliche Funde75, so daß hier in aller Kürze der Versuch unternommen wird zu zeigen, welche Ursachen und Intentionen bei der Verwendung dieses Wortes eine Rolle gespielt haben, welche Frontstellungen damit ausgedrückt werden sollten, welche inhaltlichen Veränderungen dieser Terminus durchmachte. Vermutlich zum ersten Mal tritt das Wort bei Novalis auf, und zwar ein einziges Mal in einem Fragment aus dem Jahre 1798/99.76 Der Sinn dieses Fragmentes, in dem die Wortkette „Das ConfusionsSystem. Mysticism. Historism." erscheint, ist nicht sehr klar. Dieser zufälligen Wortbildung scheint keine bestimmte Konzeption zugrunde zu liegen — und ganz sicher läßt sich sagen, daß von Novalis keine Einflüsse auf die Terminologiegeschichte ausgehen und die eigentliche und gezielte Verwendimg dieses Wortes erst nach Novalis beginnt. Relevant wird das Wort bei Ludwig Feuerbach: Er gebraucht es bewußt und erläutert es zur Genüge durch Attribute und den Kontext. Als Schüler Hegels und bedeutender Philosophiehistoriker hat er eine selbständige Auffassung von der Geschichte, kämpft er gegen den Traditionsglauben, gegen die Versuche der Reaktion zur Modernisierung der Orthodoxie und seit 1838/39 als Materialist mit den Junghegelianern für den gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Fortschritt. In seiner Arbeit „Über das Wunder" (1839)77 — einer scharfsinnigen Ablehnung jedes Wunderglaubens — verwendet Feuerbach das Wort „Historismus" als Gegenüberstellung zum Rationalismus und spricht vom „faulen Packesel eines stieren Historismus und Positivismus". Damit wendet er sich gegen die Tendenz, Fabeln für Fakten zu halten, aus „Vorstellungen" eine „Sache" zu machen. Er kritisiert die Faktengläubigkeit des Positivismus und stellt dies in eine Reihe mit dem „abergläubischen Historismus". Damit meint er eindeutig eine Position, die im Widerspruch zur Vernunfttätigkeit steht und mit historischen Fakten (die sie inhaltlich ungeprüft auf Grund ihrer Überlieferungen akzeptiert) längst abgetane Vorstellungen restaurieren will, also einen modernisierten Aberglauben vertritt. Feuerbach kämpft damit gegen eine falsche Berufung auf die Geschichte: Historismus ist historischer Aberglaube. ' b Vgl. zu den Vorläufern einer Terminologiegeschichte Herzberg, S. 314—318; Scholtz, G., Historismus, Historizismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter, Bd. 3, Stuttgart 1974, Sp. 1141-1147; Rothacker, Erich, Das Wort „Historismus", in: Zeitschrift für deutsche Wortforschung, Bd. 16, 1960, S. 3 ff. vb Novalis, „Die Kombination von Ich und Nicht-Ich" aus den Materialien zur Enzyklopädistik" (1798/99), in: Schriften, Bd. 3, hrsg. von Kluckhohn und Samuel, Stuttgart 1960, S. 446. " Feuerbach, Ludwig, Über das Wunder (1839), in: Sämtliche Werke, hrsg. von Bolin und Jodl, Bd. 7, Stuttgart 1903, S. 1-41.
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Auf dieser Linie liegt auch Feuerbachs Auseinandersetzung mit dem Historiker Heinrich Leo, der seine Geschichtsschreibung in den Dienst der Orthodoxie gestellt hatte und eine direkte politische Denunziation der Junghegelianer betrieb. Feuerbachs Antwort auf diese Herausforderung 78 gebraucht dabei bewußt und eindeutig zur Charakterisierung dieser Geschichtsauffassung den Ausdruck „Historismus", der damit einen deutlichen politisch-ideologischen Inhalt bekommt. Deutlicher als in der vorangegangenen Arbeit verteidigt hier Feuerbach die Sache der Vernunft (die Philosophie, das Wissen, den Fortschritt) gegen die Unvernunft (die Religion, den Glauben, die Reaktion). Dabei identifiziert er den geistigen Fortschritt mit der junghegelianischen Philosophie und die Reaktion mit dem — Historismus.79 Zusätzlich prägt er den Ausdruck „Antihistorismus", mit dem er die strenge Unterscheidung zwischen Historie und Wahrheit in der klassischen deutschen Philosophie bezeichnet, der das Historische nicht schon schlechthin die Wahrheit war. Wenn der Standpunkt der Vernunft diesen Denkern mehr galt als das zufällige historische Faktum, dann bedeutet umgekehrt der „Historismus" f ü r Feuerbach die Ersetzung der Vernunft durch das Gegebene — damit richtet er sich zugleich gegen den Standpunkt der „historischen Schule". Eines der wichtigsten Dokumente für die Entstehungsgeschichte des Historismus und für die Terminologiegeschichte bilden die heute nahezu unbekannten Vorlesungen von Christlieb Julius Braniß „Die wissenschaftliche Aufgabe der Gegenwart" 80 aus dem Revolutionsjahr 1848. Braniß, der Vorgänger Diltheys auf dem Breslauer Lehrstuhl und Lehrer des Grafen Yorck von Wartenburg, setzt sich darin mit den Auffassungen der klassischen deutschen Philosophie, der Junghegelianer und Feuerbachs auseinander und entwickelt — unter dem Einfluß des späten Schelling — ein Programm des Historismus, das in der philosophischen Intention zu Dilthey, Yorck von Wartenburg und der spätbürgerlichen Geschichtsphilosophie führt. 8 1 Seine ganze Theorie gipfelt im Begriff des Historismus und in seiner philosophischen Ausgestaltung. Der Historismus ist ihm der höchstentwickelte Stand des philosophischen Denkens, der jede an der Natur orientierte Metaphysik überwunden habe und einzig für die „Lösung der wichtigsten an den Welterscheinungen sich darbietenden Probleme" 82 geeignet sei. In der Auseinandersetzung mit Hegel und Feuerbach vollzieht er die Reduktion der Philosophie auf Geschichtsphilosophie, den Übergang zum subjektiven Idealismus und Theismus, zur Verschmelzung von Wissenschaft und Ders., „Der wahre Gesichtspunkt, aus welchem der Leo-Hegelsche Streit beurteilt werden muß", zuerst erschienen in den Halleschen Jahrbüchern, März 1839, vollständig unter dem Titel „Über Philosophie und Christentum", Mannheim 1839, in: Sämtliche Werke, Bd. 7. Vgl. ebenda, S. 43 f. 80 Braniß, Christlieb Julius, Die wissenschaftliche Aufgabe der Gegenwart als leitende Idee im akademischen Studium, Breslau 1848. 81 Ausführlich zu Braniß Herzberg, S. 128-141, 329-334. Noch nicht auswerten konnte ich bisher Scholtz, „Historismus" als spekulative Geschichtsphilosophie. Chr. J. Braniß, 1973. "" Braniß, S. 286.
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Religion und nennt dieses Produkt im emphatischen Sinne „Historismus". Es ist ziemlich sicher, daß Braniß diesen Terminus durch Feuerbach kennengelernt haben muß83, ihn aber programmatisch umwertet. E r führt ihn definitorisch ein: im Unterschied zum „Naturismus" (mit dem Naturbegriff als Grundgedanken) setzt der „Historismus" „den Geschichtsbegriff als prinzipielle Wahrheit, bestimmt aus ihm das Wesen des natürlichen Daseins, und sucht so die Natur aus der Geschichte zu verstehen". 84 Seine Geschichtsauffassung richtet sich vor allem gegen Hegel: an die Stelle der sich nach immanenten Gesetzmäßigkeiten entwickelnden Geschichte tritt das spontane Handeln, das sich von allen Notwendigkeiten frei weiß. Braniß nennt dies auch „Idealismus der Freiheit". Er kann als konservativer Ideologe auch nicht zugeben, daß durch Feuerbach die Theologie destruiert wurde: er erneuert im Zuge der Zeit (Schelling, Stahl, Ulrici) die Harmonie zwischen Religion und Philosophie — letztere bestätige wissenschaftlich den religiösen Gottesbegriff, der Historismus gebe der Religion „die ihrem Wesen entsprechende unabhängige Stellung neben der Philosophie zurück".85 Braniß restauriert nicht nur das religiöse Bewußtsein, sondern verteidigt auch das ökonomische und politische Zurückgebliebensein Deutschlands (gegen die liberale Entwicklung in England), zeichnet dessen Bild als kulturell führende Nation mit einer „Mission für die christliche Welt" 86 , wertet jede politische Tätigkeit ab, da diese in den „gesunden organischen Prozeß" eingreift und den „inhaltsvollen Lebensprozeß der Nation" gefährdet. Aus den „Problemen des sozialen Zeitlebens" ergibt sich für ihn direkt die Notwendigkeit des Historismus.87 Dieser Terminus steht für Braniß als Synonym für eine Geschichtsphilosophie, in deren Zentrum ein persönlicher transzendenter Gott steht und demzufolge die Welt eine göttliche Schöpfung ist. Diese Welt ist nicht aus ihrer natürlichen Existenz, sondern einzig aus einer christlich verstandenen Geschichte zu begreifen. Der Historismus verbindet Philosophie und Geschichtsschreibung mit der Theologie. Er ist begrifflich der Gegensatz zum Materialismus, Pantheismus, zur Naturphilosophie und zum objektiven Idealismus Hegels, er ist die bereits spätbürgerliche Antwort auf Feuerbachs Atheismus und Materialismus. In der nachrevolutionären Zeit taucht der Terminus „Historismus" immer noch sporadisch, aber häufiger auf. Einmal wie zufällig erscheint er bei Immanuel Hermann Fichte (1850)88, als konzeptioneller Begriff dagegen bei Carl Prantl (1852)89. » Vgl. Herzberg, S. 330 f. 84 Braniß, S. 120. » Ebenda, S. 270. a» Ebenda, S. 104. Ebenda, S. 294. 88 Fichte, Immanuel Hermann, Die philosophischen Lehren von Recht, Staat und Sitte, Leipzig 1850 (System der Ethik. Erster kritischer Teil). Wie mir nachträglich bekannt wurde, findet man den Terminus auch bei Chalybäus, Heinrich Moritz, System der spekulativen Ethik, Leipzig 1850, S. 42. 88 Prantl, Carl, Die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie, München 1852. Zu Prantl ausführlich Herzberg, S. 141-145, 335-337.
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Wie bei Braniß wird dieser Ausdruck von beiden programmatisch im affirmativen Sinne verwendet, um einen Neuansatz der Philosophie in Auseinandersetzung mit Hegel und den Erfahrungen der Revolution einzuleiten, um die Abkehr der Philosophie von der Politik und dem progressiven Gedankengut des klassischen deutschen Idealismus zu vollziehen. Fichte sucht ausdrücklich nach neuen Grundlagen für die staatlichen, gesellschaftlichen und Glaubenszustände — und plädiert f ü r einen christlichen Staat, worin die gleichmachende Liebe, die Idee des Wohlwollens und die Religion als der „allgemeine gesellschaftliche Zustand" walten. 90 Auf der theoretischen Ebene soll an die Stelle der bisherigen, f ü r ihn revolutionsverdächtigen Philosophie und des ihr unversöhnt gegenüberstehenden Historischen die „bewußte Vermittlung von Historie und Idee" treten. Aber nur an einer peripheren Stelle benutzt er den Ausdruck „Historismus", nämlich bei seiner Kritik an der Einseitigkeit der historischen Rechtsschule, der es an einer vergleichenden Rechtsgeschichte mangelte. Die Beschränkung auf die Untersuchung des Rechts einiger Völker f ü h r t dazu, daß „das wahre, zugleich erst zu philosophischer Bedeutung sich erhebende Prinzip des Historismus noch nicht erschöpft" ist.91 Das „Prinzip des Historismus" wird an keiner Stelle erläutert, aber es geht auch hier um die wechselseitige Annäherung und Durchdringung von Historie und (Rechts-)Philosophie, so daß das Wort „Historismus" trotz seiner einmaligen Verwendimg durchaus das konzeptionelle Anliegen Fichtes repräsentieren könnte. Ähnlich sucht Prantl in seiner programmatischen Rede einen Neuansatz für die Philosophie. In einer scharfsinnigen Kritik des subjektiven Idealismus und teilweise der Hegeischen Philosophie (die er als „umgestülpten" Historismus, „Antihistorismus" bezeichnet) sucht er — wie später Haym und Dilthey — eine neue Grundlage im „ganzen", „unzerstückten Menschen" und nennt diese Neubestimmung der Philosophie abwechselnd „Anthropologismus" und „Historismus". 92 Damit ist eine Auffassung gemeint, die den Erkenntnisanspruch etwa des Hegeischen Idealismus abweist, das „Wesen des Menschen" als „tief allseitiges Prinzip" zur Rettung der Philosophie ansieht und die Religion als „Mutter der Philosophie" anerkennt. Ohne eigene aktivierende Ideen hat dieser „Anthropologismus als Historismus"93 die Funktion, bis zur Neuinformierung der nimmehr spätbürgerlichen Philosophie als eine Art von Überbrückung das Gedankengut der klassischen deutschen Philosophie im Sinne der nachrevolutionären Bourgeoisie zu sichten und der veränderten Situation anzupassen. Festzuhalten bleibt, daß Prantl — wie Braniß — den Terminus zur Selbstcharakterisierung seines Standpunktes verwendet. Eine bisher kaum beachtete Schlüsselposition beim Übergang der Philosophie von Hegel zu Dilthey nimmt Rudolf Haym ein.94 Seine Hegel-Kritik, seine pathetisch vollzogene Abwendung von der „Metaphysik" und Hinwendung zur ®> Fichte, S. 815, 820. Ebenda, S. 470. « Prantl, S. 19, 28, 32, 40. w Ebenda, S. 40. 94 Ausführlich zu Haym Herzberg, S. 145-164, 337-346.
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Geschichtswissenschaft als zu der neuen Weltanschauung des Liberalismus, der Übergang zur Geistesgeschichte, die die Ideen der einzelnen historischen Individualitäten erfassen soll (hier gibt es übrigens einen Einfluß Wilhelm v. Humboldts) — all das bildet den Anknüpfungspunkt für Dilthey. Für Haym hat die Geschichtswissenschaft die Erbschaft der Hegeischen Philosophie angetreten95, ihr Thema ist die Entwicklungsgeschichte des Geistes, die Beschäftigung mit den „Tiefen des menschlichen Wesens" mittels des individualisierenden Erkennens, weil sich die Geschichte „nie und nirgends im Sinne der Theorie" bewegt. In der Auseinandersetzung mit Hegel verwendet Haym den Terminus „Historismus". Im Gegensatz zu Braniß und Prantl knüpft er wieder an die polemisch-kritische Bedeutung bei Feuerbach an. Aber nicht gegen die wirkliche Reaktion — wie seinerzeit Feuerbach gegen Leo — wendet sich die Kritik, sondern gegen den als preußischen Hofphilosophen, als Ideologen der Restauration mißverstandenen Hegel. Das erste Mal benutzt Haym den Terminus „Historismus" in der Kritik an Hegels „Ständeschrift" von 1817, die er als Vorläufer von dessen späterer Rechtsphilosophie bezeichnet und deren Inhalt er scharf verurteilt.96 Haym charakterisiert dessen System als miteinander verwobenen Rationalismus und Historismus, wobei ersterer die Grundhaltung von Hegels politischem Konservatismus, letzterer die der vorwärtsweisenden liberalen Elemente, denen Hayms Sympathie gehört, sein soll. Während also Feuerbach den Terminus „Historismus" kritisch verwendet und ihm den „Rationalismus" positiv entgegenstellt, vertauschen bei Haym beide Ausdrücke ihren Stellenwert. Zwischen beiden Belegstellen liegt die Revolution von 1848/49, die Abkehr von der klassischen deutschen Philosophie, die Hinwendung zur Geschichtswissenschaft, die Schrift von Braniß, an dessen Umwertung des „Historismus" Haym — vielleicht auch ohne Kenntnis dieser Quelle — anknüpft. Aber Haym geht in seiner Kritik noch weiter. Für ihn besitzt Hegels Systemdenken einen für die Entwicklung der Geschichtswissenschaft unannehmbaren Doppelcharakter: in der Metaphysik historisch und in der Geschichtsauffassung metaphysisch zu verfahren (wobei dies gerade Hegels tiefe Erkenntnis der Einheit des Logischen und Historischen war!) — dies nennt Haym an einer ganz wesentlichen Stelle seiner Kritik den „teils unreinen, teils illusorischen Historismus des Hegeischen Systems", der sich „in echte und wirkliche Geschichtlichkeit" zu übersetzen habe.97 Mit dieser Charakterisierung will Haym die gesamte Hegeische Geschichtsphilosophie richten, während er mit dem Terminus „Geschichtlichkeit" (der übrigens auch von Hegel geprägt wurde und über mehrere Etappen sich verändert, bis er eine zentrale Kategorie Diltheys wird98) das nach Haym nunmehr einsetzende „echte und wirkliche" Verhältnis zur Geschichte, eine zugleich positivistische und ideengeschichtliche Betrachtungsweise, bezeichnet. 95 Haym, Rudolf, Hegel und seine Zeit (1857), Leipzig 19272, S. 466. -•*> Ebenda, S. 354-356. Ebenda, S. 467. 38 Renthe-Fink, Leonhard v., Geschichtlichkeit, Göttingen 19682.
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Durch Feuerbach erhielt d e r Terminus „Historismus" einen kritisch-ideologischen Inhalt, durch Braniß — P r a n t l — H a y m eine f ü r die bürgerliche Weltanschauung u n d Geschichtsphilosophie positive Bedeutung. I m weiteren Verlauf treten zwei neue Bestimmungen auf. O h n e e r k e n n b a r e n Einfluß benutzt der österreichische katholische Theologe K a r l W e r n e r diesen Terminus (1879) zur Charakterisierung d e r Geschichtsphilosophie Giambattista Vicos", als S y n o n y m f ü r die „philosophische Konstruktion einer menschlichen Universalgeschichte" — ein Vorgang, der bedeutungslos geblieben wäre, w e n n nicht Meinecke in seiner „Entstehung des Historismus" darin den U r s p r u n g des Wortes glaubte g e f u n d e n zu h a b e n u n d damit diese Bedeutung (als Gegenüberstellung von Historismus u n d A u f k l ä r u n g ) f ü r p r i m ä r hielt. Eine entgegengesetzte Bedeutung gewann d e r Terminus in d e r Kritik Eugen Dührings (1866) a n der deutschen Nationalökonomie u n d in der Auseinandersetzung K a r l Mengers (1884) mit Schmoller u n d dessen „Historischer Schule". Dühring sieht in der deutschen Nationalökonomie — m i t d e r einzigen Ausn a h m e Friedrich List — ein „eklektisches Gemenge der unerträglichsten Entlehnungen u n d Nachahmungen oder ein[en] offene [n] Verzicht auf alles e n t scheidende Urteil" 1 0 0 , v e r b r ä m t mit „zitatenreicher Gelehrsamkeit" 1 0 1 , u n d e r bezeichnet diese in „Übergelehrsamkeit v e r k o m m e n d e Behandlungsart der Wissenschaft" als Historismus. Diese W e r t u n g f i n d e t sich später bei Menger wieder. E r n e n n t seine Arbeit bereits im Titel „Die I r r t ü m e r des Historismus" u n d bezeichnet damit die „ausschließliche Herrschaft d e r Wirtschaftsgeschichte auf dem Gebiet der politischen Ökonomie" 1 0 2 u n d deren „historisch-statistische Kleinmalerei". Menger ü b t eine scharfe Kritik an d e r „historischen Schule", die ü b e r die „historischen Studien die politische Ökonomie selbst aus den Augen verloren hat" 1 0 3 , u n d bestimmt in diesem Z u s a m m e n h a n g den Historismus als „Überschätzung historischer Studien", als „Ansicht, d a ß die Geschichte die ausschließliche empirische Grundlage . . . der Volkswirtschaftslehre" sei. 104 Dieser Ansicht schließt sich auch Adolph Wagner in seiner Polemik mit Schmoller an. 105 Damit erfolgt die Gleichsetzung von „Historismus" u n d „Historischer Schule" u n d d e r „Überschätzung historischer Studien" — eine Auffassung, die bis in die ersten J a h r z e h n t e des 20. J h . w i r k s a m geblieben ist. 5. Bürgerliche
Historismus-Konzeptionen
W ä h r e n d der T e r m i n u s „Historismus" im 19. J h . äußerst selten verwendet wird, gehört e r nach d e r J a h r h u n d e r t w e n d e , mit d e r Herausbildung des Imperialism u s und seiner Ideologie, zu den wichtigsten geschichtsphilosophischen u n d WJ Werner, Karl, Giambattista Vico als Philosoph und gelehrter Forscher, Wien 1879, S. 280, 283. 100 Dühring, Eugen, Kritische Grundlegung der Volkswirtschaftslehre, Berlin 1866, S. 50. Ebenda, S. 47. im Menger, Karl, Die Irrtümer des Historismus in der deutschen Nationalökonomie, Wien 1884, S. 37. ™ Ebenda, S. 25. »"" Ebenda, S. 42.
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-wissenschaftlichen Begriffen — und zwar um so mehr, je stärker der Einfluß Diltheys (bei dem dieser Begriff nicht auftrat) auf das geschichtliche Denken wurde. Lange Zeit fehlte jede Kenntnis über die Herkunft dieses Begriffes, gab es keine Einigkeit über seine Anwendung, war das Feld möglicher Deutungen ziemlich groß. Da hier auch nicht in aller Kürze eine Geschichte des Historismus oder der Diskussionen um ihn gegeben werden kann, sollen nur einige wichtige Konzeptionen betrachtet werden. Etwa bis zum ersten Weltkrieg wurde der Terminus im abwertenden Sinne verwendet, verband z. B. Troeltsch (1913) damit „den lastenden und ermüdenden Eindruck historischer Allerweltskenntnis", wurde eine wachsende Unzufriedenheit mit der empiristischen Geschichtsschreibung vom Ende des 19, Jh. damit ausgedrückt. Erst Meinecke106 unterscheidet (1918) zwischen „historischer Vielwisser ei", die er jetzt als „falschen Historismus" bezeichnet, und historischer Selbstbesinnung als „tiefe Fühlung mit allen Lebenswerten der Vergangenheit", die er mit der in Ranke gipfelnden Geschichtsauffassung verbindet, f ü r die er den Namen „Historismus" noch nicht prägt, aber eigentlich schon bereithält. Die umfassende Auseinandersetzung mit dem Historismus beginnt bei Troeltsch (1922).107 Er diagnostiziert eine tiefe Krise der bürgerlichen Geschichtsauffassung, die er vor allem in ihren allgemeinen philosophischen Grundlagen ausgeprägt findet, und versucht das Verhältnis von Weltanschauung und Geschichte neu zu bestimmen. Diese Aufgabe nennt er das „Problem des sogenannten Historismus" 108 , denn er kennt bisher nur die eingebürgerte negative Bedeutung des Terminus. Von jenem „schlechten Historismus", den er ausführlich charakterisiert 109 , führt aber der Weg zu einem neuen Geschichtsverständnis, und deshalb sei es an der Zeit, „dieses Wort von seinem schlechten Nebensinn völlig zu lösen und in dem Sinne der grundsätzlichen Historisierung alles unseres Denkens über den Menschen, seine Kultur und seine Werte zu verstehen". 110 Für ihn ist der Historismus eine spezifisch deutsche Denkweise über Staat und Gesellschaft im Unterschied zu den vom Naturrecht geprägten Auffassungen der westlichen Länder. Als bestimmende Merkmale sieht Troeltsch den Individualitäts- und den Entwicklungsgedanken; das Hauptproblem des Historismus sei der mit ihm verbundene philosophische Relativismus. Troeltsch entwirft in diesem Werk neben einer umfangreichen Auseinandersetzung mit beinah allen Geschichtsphilosophien seit Kant auch eine eigene, widersprüchliche Geschichtsphilosophie, so daß in der Folge der Begriff „Historismus" gleichbedeutend werden konnte mit den logischen, erkenntnistheoretischen und ethischen (axiologischen) Problemen der modernen bürgerlichen Geschichtsauffassung. »05 Wagner, Adolph, Grundlegung der politischen Ökonomie, Bd. 1, Leipzig/Heidelberg, 18923. M» Meinecke, Friedrich, Persönlichkeit und geschichtlidie Welt (1918), in: Werke, Bd. 4, bes. S. 50-57. 1U ' Troeltsch, Der Historismus. lue Ebenda, S. 9. »» Ebenda, S. 67. 1W Ebenda, S. 102.
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Etwa zur selben Zeit setzt sich auch Meinecke mit der „schweren Krisis" des Historismus auseinander, überwindet ebenfalls die negative Bedeutung dieses Terminus und bezeichnet den Historismus als eine große Errungenschaft, die in Deutschland durch den Idealismus und die Romantik erreicht wurde und durch das „tiefe Verständnis für die Individualität, sowohl die der Einzelpersönlichkeit wie der überpersönlichen menschlichen Gebilde"111, ausgezeichnet ist. Durch Troeltsch und Meinecke wird also Anfang der 20er Jahre eine — im einzelnen zwar divergierende — Auffassung vom Historismus entwickelt, die im Grundsätzlichen an Dilthey anknüpft, aber den Gefahren des Relativismus durch ein Bekenntnis — anders kann man dies nicht bezeichnen — zu überzeitlichen Werten zu entgehen glaubt. Durch diese beiden Deutungen erhält der Begriff seit den 20er Jahren einen relativ festen Inhalt, wenn auch die Diskussionen jener Zeit ein wesentlich breiteres Spektrum von Auffassungen zeigen. Dieser Inhalt wird noch einmal von Otto Hintze in einer kritischen Bestandsaufnahme der bisherigen Auffassungen und Kontroversen zusammengefaßt: danach schwankt seine Bedeutung „zwischen dem Begriff einer methodischen Denkrichtung im Sinne einer logischen Kategorialstruktur des Geistes und dem einer allgemeinen Welt- und Lebensanschauung, die auch wohl als Ersatz für Metaphysik betrachtet wird". 112 Die Deutung als Weltanschauung lehnt er ab und bestimmt den Historismus als „eine neue, eigenartige Kategorialstruktur des Geistes zur Auffassung der geschichtlichen Dinge, die sich seit dem 18. Jh. bei den abendländischen Völkern . . . herausgebildet hat. Sie ist charakterisiert durch die Kategorien der Individualität und der Entwicklung, die eine Auffassung der geschichtlichen Wirklichkeit nach der Analogie von Lebenseinheit und Lebensprozeß begründen, und sie beruht im Grunde darauf, daß der lange Zeit hindurch allein herrschenden Denkrichtung der . . . Vernünftigkeit die machtvolle Idee eines allgemeinen Lebens gegenübertritt, das höher ist als die individuelle Vernunft."113 Mit dieser Bestimmung hat der Historismus für lange Zeit eine verbindliche Deutung erhalten, der spätere Reflexionen kaum etwas Wesentliches hinzufügen konnten. Charakteristisch für viele Befürworter des Historismus war eine lebensphilosophische Grundhaltung, die besonders durch Meinecke in die Geschichtsschreibung eingebracht wurde. Wenn Heussi 1932 den Historismus mit der empiristisch-positivistischen Geschichtsschreibung um 1900 gleichsetzt114, so trug das in die Diskussion keine neuen Gedanken hinein, aber gleichzeitig prägt er die Kennzeichnung „Krisis des Historismus", womit er die „Krisis des historischen Denkens in den Jahren nach dem Weltkriege" bezeichnet115 und im Gegensatz zu Troeltsch, Meinecke und Hintze die sich herausbildende Geschichtsauffassung sehr kritisch als Ausdruck einer allgemeinen Krise wertet. Als Hauptmerkmale dieser wesentlich durch Dilthey und Troeltsch angeregten „philosophisch" oder „geistesgeschichtMeinecke, Friedrich, Uber Spenglers Geschichtsbetrachtung (1923), in: Werke, Bd. 4; ders., Kausalitäten und Werte in der Geschichte (1925), ebenda. ltä Hintze, Troeltsch und die Probleme des Historismus, S. 325. r " Ebenda, S. 329. >"' Heussi, S. 20. " " Ebenda, S. 21. 111
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lieh" orientierten Historie sieht er die Bevorzugung der „Ideengeschichte" und der intuitiven Methode sowie die Verstärkung des historischen Relativismus. Zugleich ist er aber dar Meinung, daß die Krise im Abklingen sei, und engt den Begriff „Krisis des Historismus" auf die Zeit von 1914 bis 1930 ein. Der Hauptrepräsentant des Historismus war in den 30er bis in die 50er Jahre hinein unzweifelhaft Friedrich Meinecke. In ihm setzt sich die preußisch-deutsche Geschichtsschreibung von Ranke bis Treitschke fort, ergänzt durch die Lebens- und Geschichtsphilosophie Diltheys und das politisch-historische Denken von Troeltsch. Er ist zum einen der Historiker des Historismus. Er konzipiert eine Traditionslinie, zu der als „Vorstufen" die großen Geistesströmungen des 17. und 18. Jh. bis hin zur französischen und englischen Aufklärungshistorie, als entwickelte Gestalt dagegen nur noch der deutsche Idealismus von Moser bis Goethe gehören, wobei Goethe den Gipfelpunkt dieser „Lebensauffassung und Weltanschauung" bildet und Ranke diese Ideenwelt auf die Erkenntnis der geschichtlichen Welt angewendet hat. Doch wie Iggers in einer scharfsinnigen Kritik feststellt, hat Meineckes Auffassung von Historismus „mit Geschichte ziemlich wenig zu tun", geht es vorrangig um die Herausbildung nicht einer geschichtswissenschaftlichen Methode, sondern einer umfassenden Lebensphilosophie, um den „Sieg der Seele über den Verstand" mit einer Grundhaltung, „daß hinter dem vordergründig irrationalen Chaos der geschichtlichen Welt ein Reich großer, zeitloser Ideen stehe".116 Historismus bedeutet für Meinecke in der Tat nicht nur die „Revolution des Irrationalen gegen das Rationale"117, sondern in noch stärkerem Maße — und deshalb mußte für ihn Goethe den Höhepunkt bilden — den Aufstieg ins „Überzeitlich-Zeitlose"118, das ideale Gleichgewicht „zwischen Werden und Sein, Wandelbarem und Dauerhaftem, Geschichtlichem und Übergeschichtlich-Zeitlosem"119, spricht er von der „Geburt des Historismus aus dem fortwirkenden Geiste des Piatonismus".120 Von dieser Überzeugung her betrachtet er das bürgerliche Geschichtsdenken nach Goethe und Ranke als einen Niedergang121 — und befindet sich damit zweifellos im Konflikt zu seinen sonstigen Historismusauffassungen und zu den geschichtsmethodischen Vorstellungen seiner Fachkollegen. Aber zugleich ist Meinecke nicht nur der Historiker der von ihm als „Historismus" bezeichneten Weltanschauung, sondern für ihn sind — wie Walther Hofer feststellt — „das Wesen des Historismus und das Wesen des eigenen geschichtlichen Denkens . . . in ihren Grundzügen identisch".122 Hofer macht deutlich, daß Meineckes Auffassungen über den Historismus auch für Meinecke selber gelten, daß dessen Geschichtstheorie Historismus ist, und im einzelnen zählt er folgende Hauptmerkmale auf: den Individualitätsgedanken (als GrundkategoIggers, S. 44-46. Meinecke, Friedrich, Die Entstehung des Historismus, München 1936, S. 49. 118 Ebenda, S. 502. "» Ebenda, S. 544. l M Ebenda, S. 650. 121 Ebenda, S. 623; vgl. auch Iggers, S. 286 f. m Hof er, S. 371; zum folgenden vgl. S. 357. 11B
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rie und „das erste Kriterium in der Bestimmung eines geschichtlichen Denkens als Historismus oder Nichthistorismus"), die „innere Vitalisierung des Staates" (eine Umschreibung f ü r die Vorherrschaft der Staatsinteressen), den Relativismus, den Irrationalismus (als das „innerste Wesen des Historismus"), die irrationale Theorie des „geschichtlichen Verstehens", den Entwicklungsgedanken (der gegen den Fortschrittsgedanken gerichtet ist). Diese Konzeption bestimmte auch die Historismusdiskussion in der BRD bis in die 50er Jahre hinein — neben Meinecke durch Gerhard Ritter, Karl Brandi, Hans Herzfeld, Walter Goetz, Siegfried A. Kaehler, Erich Rothacker und andere. Srbiks zweibändige Geschichte der bürgerlichen deutschen Geschichtsschreibung ist ganz in diesem Geiste geschrieben.123 Der traditionelle Historismus rief Bedenken, Angriffe und Verteidigungen hervor, bis sie allmählich ihre andere Auffassungen weitgehend ausschließende Vorrangstellung verlor und der Ruf nach einer Ergänzung der individualisierenden Geschichtsbetrachtung durch andere sozialwissenschaftliche Methoden und Betrachtungsweisen immer lauter wurde. Diese neuen Tendenzen in bezug auf politische Konzeption, Geschichtsbild und Methode führten zu einer Modernisierung des Historismus in der Anfang der 60er Jahre dominierenden Historikergruppe um Hans Rothfels. Charakteristisch für diese Spätform des Historismus ist das von ihr erarbeitete Fischer-Lexikon „Geschichte". Dort heißt es, daß der Historismus dank Meineckes wissenschaftlicher Lebensarbeit „zur unaufgebbaren Grundlage der modernen Geschichtswissenschaft geworden ist".124 Und auch die Entstehung des Historismus wird ganz im Sinne Meineckes skizziert, nur mit der ergänzenden Bemerkung, daß „historisches und konservatives Denken . . . in ihrer Entstehung auf das engste miteinander verbunden sind".125 Das Herzstück des Historismus ist nach wie vor der Individualitätsgedanke, dessen unentbehrliches Komplement die Vorstellung einer Entwicklung, die alle Individualitäten verbindet. 126 Aber fallengelassen werden die Verbindung mit der Lebensphilosophie und damit der Irrationalismus, die irrationale „Verstehenslehre" und der in der „Staatsräson" ausgedrückte Gedanke vom Primat des Staates vor der Gesellschaft. Das Wesen des Historismus besteht nach dieser Auffassung in seinem dynamischen Charakter, daß „alles Feste im Leben und Denken des Menschen in Fluß geraten" ist, daß es nichts Festes und Abgeschlossenes mehr gebe, und als Wissenschaftsprinzip hält der Historismus „den Aspekt des Werdens und Wachsens für zentral". 127 Der Relativismus (Troeltschs und Meineckes großes Problem) wird umgedeutet als „Standortgebundenheit jeder historischen Erkenntnis", so daß sich verschiedene Interpretationen derselben Sache nicht mehr widersprechen und keine Anarchie der Deutungen erzeugen, sondern eine Ya
Srbik, Heinrich Ritter von, Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart, 2 Bde., München/Salzburg 1950/51. yjA Fischer Lexikon Geschichte, S. 105. la Ebenda, S. 108. ,a > Ebenda, S. 115. B/ Ebenda, S. 114.
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„Hierarchie von Tiefendimensionen, insofern als verschiedene Perspektiven in verschiedener Weise dem Gegenstand adäquat sind".128 Mit diesen Korrekturen wird die „Tragfähigkeit und sittliche Kraft des Historismus auch für Gegenwart und Zukunft" als erwiesen angesehen.129 Doch reichten die bescheidenen Modernisierungsversuche nicht aus, um den Historismus nach seiner langen Vorherrschaft gegen die sich neu formierenden und umgruppierenden bürgerlichen Sozialwissenschaften, gegen das Vorrücken der Sozial- und Strukturgeschichte in den 60er Jahren zu verteidigen.130 Trotz einzelner Rechtfertigungsversuche überwog zunächst die kritische Auseinandersetzung mit dem bisherigen Historismus. Die wichtigste bürgerliche Kritik, die zugleich eine umfassende Bestimmung der theoretischen, methodischen und politischen Positionen dieser Strömung darstellt, scheint die des amerikanischen Historikers Georg G. Iggers zu sein. Dieser faßt den Historismus als die „Hauptströmung der deutschen Geschichtswissenschaft und des Geschichtsdenkens, wie sie in der deutschen Geschichtsschreibung, in den Kulturwissenschaften und im politischen Denken Deutschlands von der Zeit Wilhelm von Humboldts und Leopold von Rankes bis in die nahe Vergangenheit vorgeherrscht hat". 131 Ausführlich wird auf die Beziehung des Historismus zur politischen Ideologie eingegangen, werden neben den theoretischen vor allem die politischen Auffassungen der Historiker und Geschichtsphilosophen untersucht, wird der Historismus auch als tragende politische Konzeption zur Rechtfertigung und Stabilisierung der jeweils herrschenden Machtstruktur betrachtet. Als „Kern des Historismus" wird die Trennung von Natur und Gesellschaft und die daraus abgeleitete Gegenüberstellung der Methoden zu ihrer Erforschung bestimmt132, wobei der Individualitätsbegriff für den Historismus konstitutiv ist.133 Für die theoretische Grundlegung der Geschichtswissenschaft besitzen nach Iggers drei Ideenkomplexe des Historismus eine zentrale Bedeutung: seine Lehre vom Staat als Selbstzweck und die Auffassung vom Machtstaat, seine Wertphilosophie (daß es keine rational begründeten Wertmaßstäbe gibt, die auf die Vielfalt menschlicher Einrichtungen anwendbar sind), seine auf der Ablehnung des begrifflichen Denkens beruhende Erkenntnistheorie. Die Entstehung des Historismus setzt Iggers mit der „Trennung des deutschen Geschichtsdenkens von den Hauptströmungen des europäischen Denkens an der Wende vom 18. zum 19. Jh." an134, wobei Herder „ausgeprägte Grundzüge des Historismus" entwickelt haben soll, aber erst Wilhelm von Humboldt und später Ranke als die eigentlichen Begründer dieses Geschichtsdenkens angesehen werden. Inmitten einer tiefgreifenden Krise des bürgerlichen Geschichts- und GeEbenda, S. 115. -' Ebenda. 1JU Unbewältigte Vergangenheit, 131 Iggers, S. 13. 112 Ebenda. '•» Ebenda, S. 48. Ebenda, S. 41. J
Berlin 19773, S. 143.
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sellschaftsbewußtseins am Ende des 19. Jh. haben die Neukantianer Cohen, Windelband und Rickert sowie Dilthey und Max Weber die methodischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft kritisch geprüft und derart umgestaltet, daß nach Iggers damit die „Krise des Historismus" einsetzte. Die zweite Krise des Historismus manifestiert sich für Iggers im Werk von Troeltsch und Meinecke, als nach dem ersten Weltkrieg drei Akzente in der Geschichtsphilosophie an Bedeutimg gewannen: die Leugnung des objektiven Charakters der Geschichte, die Auflösung der einen menschlichen Geschichte in die Geschichten einzelner und in sich abgeschlossener Kulturen, die Umkehrung aller politischen und sozialen Werte. 1 3 5 Durch die „welterschütternden Ereignisse des 20. J h . " wurden die theoretischen und historischen Grundlagen des Historismus zerstört, und in einem allmählichen Ablösungsprozeß verlor der Historismus seine Vorherrschaft, wobei seine „theoretischen Voraussetzungen und politischen Wertungen . . . auch heute noch sehr lebendig sind". 136 Iggers versuchte auch von seinen bürgerlich-linksliberalen Positionen her eine Kritik der Gesamterscheinimg „Historismus" und setzt sich mit seinen konservativen Zügen, seiner antidemokratischen Staats;- und Gesellschaftstheorie, seiner unkritischen Wertphilosophie, seiner individualisierenden Methode auseinander 137 , um aber zu folgender positiven Stellungnahme zu kommen: „Unbezweifelbar hat der Historismus zum Verständnis des Menschen b e i g e t r a g e n . . . Die gültigen Bestandteile des Historismus als einer wissenschaftlichen Theorie und einer Auffassung von Mensch, Gesellschaft und Geschichte müssen natürlich unabhängig von jeglichen politischen Auswirkungen, die dem Historismus zugeschrieben werden können, anerkannt werden." 1 3 8 Damit löst Iggers den Historismus von seiner konkreten Entwicklung als bürgerlicher und imperialistischer Geschichtsauffassung ab und betrachtet ihn als eine Methode oder Denkweise, die die „Historizität und Relativität aller menschlichen Werte und Ideen" zum Ausdruck bringt. Damit knüpft er in gewisser Weise wieder an Troeltschs Historismuskonzeption an. Wenn es für einige Jahre so aussah, als ob der Historismus für die bürgerliche Geschichtswissenschaft abgetan und eine dazu im Gegensatz stehende Orientierung zur Struktur- und Sozialgeschichte erfolgt sei, so verstärken sich seit kurzem wieder die Tendenzen, den Historismus zu rehabilitieren und an seinen Grundpositionen festzuhalten. 139 Aus der Vielzahl dieser Erneuerungsversuche sei zur Illustration relativ willkürlich die Position von Herbert Schnädelbach herausgegriffen. 140 F ü r Schnädelbach steht die „unverminderte Aktualität" des Historismus „für die gegenwärtige Diskussion geschichtsphilosophischer Fragen" fest, und er beVgl. ebenda, S. 312 f. Ebenda, S. 363. r s ' Vgl. bes. S. 365-370. 138 Ebenda, S. 374 f. la» vgl. dazu die Untersuchungen von Hans Schleier (Anm. 58). Schnädelbach.
,3S
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hauptet, „daß die Probleme des Historismus unsere Probleme sind". 141 Indem er bewußt von den sozialhistorischen Bedingungen und der politisch-ideologischen Funktion des Historismus abstrahiert, kann er in einer theorieimmanenten Darstellung der f ü r ihn wichtigsten Vertreter (Ranke, Burckhardt, Nietzsche, Droysen, Dilthey, Windelband und Rickert) sich allein mit ihren philosophischen und wissenschaftstheoretischen Auffassungen, vor allem über den Gegenstand, die Begriffsbildung, Methoden, Ziele und Grenzen der Geschichtswissenschaft, beschäftigen und darin die „Einsichten und Probleme des Historismus" herausarbeiten. Von drei zentralen Bedeutungen des Ausdrucks „Historismus": als praktischer geisteswissenschaftlicher Positivismus, als philosophische Position eines durchgängigen historischen Relativismus und als umfassende Weltinterpretation, die f ü r Schnädelbach identisch ist mit Troeltschs Auffassung von der grundsätzlichen Historisierung alles Denkens über den Menschen und die geschichtlichen Phänomene 142 , läßt er allein die dritte Bestimmung als „echten" Historismus gelten. Gegen die drei wichtigsten Strömungen der modernen Geschichtsphilosophie: Hermeneutik, Marxismus und Analytische Wissenschaftstheorie — die nach Schnädelbach die Überzeugung von der Überwindung des Historismus gemeinsam haben 143 —, fragt er, „was da eigentlich als überwunden gilt"144, und darin äußert sich seine Konzeption zur offenen Verteidigung des Historismus. Denn es gibt f ü r Schnädelbach nur einen „unlösbaren Zusammenhang zwischen den Einsichten und den Problemen des Historismus" 145 , die er beide verteidigt. Nur zwei Aspekte des Historismus hält er f ü r aufgebbar: sein Bild von den Naturwissenschaften (weil der Historismiis — z. B. durch Thomas S. Kuhn auch in dieses Feld hineingetragen wurde) und seine Selbständigkeit gegenüber der „sprachanalytischen Wendung des Philosophierens" (da erst dliese Wende sämtliche Fragen der Geschichtsphilosophie in reformulierter Gestalt neu zur Diskussion stelle). Nach diesen beiden „Korrekturen" bleiben die Probleme des Historismus auch für die hermeneutische und marxistische Geschichtsphilosophie und f ü r die Analytische Wissenschaftstheorie aktuell und müssen von ihnen „unverkürzt" diskutiert werden. 146 Für Schnädelbach gibt es also keine Überwindung des Historismus, denn das würde einen „radikalen Wandel unserer Selbstinterpretation" bedeuten, sondern nur eine Annäherung des Marxismus und der bürgerlichen Geschichtsphilosophien an den Historismus. Das ist eine der heutigen Konzeptionen seiner Verteidigung. 6. Dilthey und die philosophische
Begründung des
Historismus
Die gegenseitige Durchdringung von Philosophie, Methodologie und Historiographie, die zur schrittweisen Herausbildung des Historismus führt, vollzieht sich über Jahrzehnte im Lebenswerk von Wilhelm Dilthey. Zahlreiche Quellen 141 10 143 144 145 148
Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda,
S. S. S. S. S. S.
30. 20-23. 160. 162. 163. 168.
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werden von ihm aufgenommen und bilden mit den philosophischen Voraussetzungen seines Denkens einen kontinuierlichen Zusammenhang in der Entwicklung des bürgerlichen Geschichtsbewußtseins des 19. Jh. Als Schüler von Ranke, in der Rezeption der Gedankenwelt Wilhelm v. Humboldts und Schleiermachers, durch die Bekanntschaft bzw. Freundschaft mit Burckhardt, Erdmannsdörffer, Häusser und Treitschke, im Gedankenaustausch mit Haym und als Forscher auf dem Gebiet der Philosophie- und Kirchengeschichte ist er mit den methodischen und theoretischen Problemen der Historiographie bereits früh vertraut und erkennt schon 1861 als seine Lebensaufgabe „die Verknüpfung des Philosophischen und des Historischen". Von der Theologie her kommend, hat er besonders Schleiermachers Auffassungen zur Geschichte, zur Hermeneutik, zur Typologie und zur Individualität in seine philosophischen Fragestellungen aufgenommen, während seine methodologischen und wissenschaftstheoretischen Überlegungen durch Kants Lehre von den Kategorien und Denkformen beeinflußt wurden. Mit Haym vollzieht er die Abkehr von der durch Hegel noch lebendig gebliebenen idealistischen Konzeption einer vernünftigen Weltordnung und beginnt die Philosophie — ausgehend von Humboldts und Hayms Uberzeugung, daß der „ganze Mensch" in seiner Totalität theoretisch erfaßt werden muß — anthropologisch zu fundieren, wobei er besonders die Rolle des Gefühls und des Willens gegenüber dem erkennenden Verstand aufwertet. Weil es für Dilthey keine „vernünftige Gestaltung der Welt" mehr gibt, muß für ihn auch die Philosophie ihren Charakter ändern. Sie sollte vor allem erkenntnistheoretische und methodologische Fragen der Wissenschaften bearbeiten, und so vollzieht Dilthey — wie viele andere seiner Generation — den Übergang zum Positivismus. In den 60er und 70er Jahren studiert er Comte und Mill, von denen er vieles übernimmt, um sich aber in einem wichtigen Punkt von ihnen zu trennen: Diltheys Positivismus entsteht von Beginn an in einer Kontrastellung zur Naturwissenschaft, ihm geht es allein um eine erkenntnistheoretische Grundlegung der „moralisch-politischen Wissenschaften" (ein früher Terminus, den er später durch „Geisteswissenschaften" ersetzt) und um die innere Erfahrung, um „Tatsachen des Bewußtseins" im strikten Gegensatz zur Erfahrung der äußeren Welt. Dieser Vorrang der Innerlichkeit bestimmt zeitlebens sein Weltverständnis: für ihn ist „die Welt nirgends anders als eben in der Vorstellung eines Individuums" (V, S. 61).147 Politisch und in seinen historischen Auffassungen gehört Dilthey in den 60er Jahren zu den preußischen Liberalen um Haym, Treitschke, Julian Schmidt, MV
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Zur Zitierweise im nachfolgenden Text: Diltheys Arbeiten werden angeführt nach den Gesammelten Schriften, Bd. I - I X , X I - X I I I , Leipzig/Berlin 1921-1936, Bd. XIV, (West-)Berlin 1966. Die römischen Ziffern in der Klammer bedeuten die Bandzahl. Außerdem werden folgende Abkürzungen benutzt: JgD — Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern 1852—1870, zusammengestellt von Clara Misch, Berlin 1933; BWY — Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg 1877—1897, hrsg. von Sigrid v. d. Schulenburg, Halle 1923; Erlebnis — Das Erlebnis und die Dichtung, Leipzig/Berlin 193911.
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die ihre Kräfte in den Dienst einer bürgerlich-nationalen (d. h. vorrangig preußisch-kleindeutschen) Publizistik stellen. Als Historiker übernimmt er es, die „Geistigkeit" und „Vernünftigkeit" des preußischen Staates nachzuweisen und auf diese Weise neben der militärisch-diplomatischen Geschichtsschreibung (Droysen, Sybel, Treitschke) die geistig-kulturelle Apologie Preußens zu betreiben. Nachhaltiger aber wirkt Dilthey durch seine theoretische Überwindung des vorherrschenden Geschichtsempirismus. Im engen Kontakt mit der Geschichtswissenschaft seiner Zeit faßt er das bürgerliche Geschichtsdenken nach 1848 zusammen, erkennt er die theoretischen und methodischen Schwierigkeiten und Bedürfnisse, bietet er mit der Hinwendung zur Geistesgeschichte einen scheinbaren Ausweg an. Die wesentlichen Einflüsse erfährt Dilthey dabei durch Haym, um dann konsequent weiterzugehen. Mit der Verbindung von Historiographie und Hermeneutik'kommt Dilthey zu einer Betrachtungsweise der Geschichte, in der er ausschließlich die geistigen Beziehungen heraushebt. Sein Interesse an der Geschichte sondert die politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse aus, und er erklärt, daß nur die „hervorragendsten Bedingungen" berücksichtigt werden, die „ohne weiteres als die Totalität" behandelt werden können (Erlebnis, S. 270). In diesem Zusammenhang behauptet er auch, daß die Geschichtsschreibung der wissenschaftlichen Erklärung nicht fähig sei und die Geschichte nicht kausal erklärt, sondern nur auf Grund der inneren Wahrnehmung „nachgebildet" und auf diese Weise „verstanden" werden kann (V, S. 61). So verändert Dilthey schrittweise den Gegenstand der Geschichtsschreibung: die Untersuchung realer Geschichtsabläufe reduziert sich auf die einfühlende Betrachtung der „inneren" Geschichte; die Geschichte, die für ihn keinen Gesamtsinn mehr besitzt, wird aus dem „Wesen des Menschen" gedeutet. Zunehmende politische Erfahrungen, die aus dem Erstarken der Arbeiterbewegung, dem Niedergang des Liberalismus, der Skepsis gegenüber Bismarcks Bonapartismus usw. resultierten, verändern seinen bislang vorhandenen weltanschaulichen Optimismus und bilden allmählich auch seine philosophischen und historischen Auffassungen um. Im intensiven Gedankenaustausch mit dem schlesischen Junker Paul Yorck von Wartenburg bildet sich bei Dilthey Ende der 70er Jahre das Bewußtsein heraus, in einer umfassenden Krise zu leben, überprüft er seine weltanschaulichen Positionen und befindet sich für Jahre in einer Ubergangssituation, in der einmal noch die Impulse seines positivistischen Denkens weiterwirken, die aber zunehmend unter dem Einfluß Yorcks von einer konservativ werdenden Denkhaltung überlagert werden. Dieser Übergang vom Positivismus in die Richtung einer irrationalistischen Lebensphilosophie vollzieht sich in seinem bekanntesten Werk, der „Einleitung in die Geisteswissenschaften" (1883). Zum einen geht es ihm darum, eine exakte Grundlegung und Methodologie der Geisteswissenschaften auszuarbeiten (also ein ganz positivistisches Anliegen), zum anderen darum, gegen den Positivismus die Geschichtsauffassung Rankes und der „historischen Schule" philosophisch zu fundieren. Erst mit dieser Aufgabenstellung und der damit verbundenen Durchdringung von Philosophie und an Ranke orientierter individualisierender Geschichtsbetrachtung ist für Dilthey die Richtung gegeben, die schließlich in
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den 90er Jahren zur theoretischen Begründung des Historismus führt — und zwar unter den Bedingungen eines sich permanent verstärkenden Krisenbewußtseins. Angesichts der für Dilthey nun zutage tretenden „Geistesarmut . . . unserer Bourgeoisie" und des „geschlossenen Gedankensystems" der Sozialdemokratie sieht er seine Aufgabe darin, gegen die für die Bourgeoisie unannehmbare marxistische Weltanschauung und an Stelle der noch dominierenden positivistischen „Verstümmelung des metaphysischen Bewußtseins" (II, S. 497) eine philosophische und geschichtsphilosophische „Selbstbesinnung" großen Stils im Interesse seiner Klasse durchzuführen. Bisher hatte er sich verstärkt einer philosophischen Grundlegung der Geisteswissenschaften gewidmet, jetzt geht es ihm mehr denn je um die weltanschauliche Orientierung des bürgerlichen Denkens, um „feste Zwecke" für die „Lebensführung des einzelnen und die Leitung der Gesellschaft" (V, S. 11). Dabei stößt er auf ein Problem, das für seine weiteren Arbeiten entscheidend wird: das Historismusproblem. In seiner „Poetik" (1886) formuliert er es so: „Die Pädagogik so gut als die Ethik, die Ästhetik so gut als die Logik suchen Prinzipien oder Normen, welche das Leben in ausreichender Weise zu regeln imstande seien, sie wollen sie aus den Tatsachen, die sich durch die Geschichte der Menschheit erstrecken, ableiten. Aber die unergründliche Mannigfaltigkeit und Singularität der geschichtlichen Erscheinungen spottet jedes Versuchs, solche Regeln abzuleiten" (VI, S. 189). Das heißt also, daß die gesuchten „Prinzipien", „Normen", „festen Zwecke" sich nicht aus der Geschichte herleiten lassen, andererseits lassen sie sich auch nicht — wie Dilthey immer wieder betont — auf metaphysische Weise begründen. Entweder, so folgert er, muß jede Gesellschaftswissenschaft auf allgemeingültige Prinzipien, Normen usw. verzichten und nur Sachverhalte beschreiben, oder sie muß zu metaphysischen Annahmen greifen. Beide Positionen sind für Dilthey unhaltbar — und so entsteht für ihn „das Problem der Geschichtlichkeit und doch zugleich Allgemeinheit" der Geisteswissenschaften (VI, S. 190), das er jedoch nicht zu lösen vermag. Für Dilthey bedeutet „Allgemeingültigkeit" die positivistische Übertragung naturwissenschaftlicher Gesetze oder logischer Prinzipien auf die Gesellschaft — und das lehnt er zu Recht und mit allem Nachdruck ab. Andererseits begreift er, daß ein bloßes Beschreiben geschichtlicher Sachverhalte keinerlei weltanschauliche Überzeugungskraft besitzt und in der Konsequenz zum historischen Relativismus führt. In dieser Situation entschließt er sich um das Jahr 1890 zu einer neuen Konzeption von Philosophie und Geschichtswissenschaft, die seine bisherigen wissenschaftstheoretischen Intentionen aufgibt (z. B. seine noch positivistisch orientierte Grundlegung der Geisteswissenschaften und die schon systemtheoretische Analyse einzelner gesellschaftlicher Zusammenhänge) und an die Stelle einer philosophischen Methodologie eine lebensphilosophische Weltanschauungslehre setzt. Diese Wende vollzieht Dilthey in ständiger Diskussion mit Yorck von Wartenburg, dessen konservativ-christliche Auffassungen stetig mit in Diltheys Überlegungen einflössen.
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Keinesfalls ist diese Neuorientierung ein innerphüosophischer Prozeß — wie ea von der bürgerlichen Philosophie immer wieder dargestellt wird —, sondern eine philosophische Antwort auf die weltanschaulichen Bedürfnisse der Bourgeoisie (nicht der Monopolbourgeoisie) beim Übergang zum Imperialismus. Dilthey selbst sieht dieses ideologische Bedürfnis deutlich, wie ein Brief an Yorck von 1892 zeigt. Darin wirft er seiner Klasse und ihren Ideologen vor, daß sie unfähig seien, „Überzeugungen zu produzieren, welche den Menschen gegen die armselige umzingelnde, geschwätzige, begehrliche, bietende unterstützende gesellschaftliche Menge frei machen" (BWY, S. 156). Dafür glaubt er aber, mit seiner philosophischen Begründung der Selbständigkeit der Geisteswissenschaften (gegenüber dem „Sumpf der geistlosen Materialität") einen Beitrag zur Formierung eines neuen Selbstbewußtseins seiner Klasse zu leisten. Die neue Konzeption deutet sich (bereits in diesem Brief) an in Begriffen wie „Selbstbesinnung", „siegreiche spontane Lebendigkeit", einen „im Denken nicht formulierbaren . . . Zusammenhang im Einzelleben", einem „höheren Zusammenhang besonderer und die naturwissenschaftlichen Mittel übersteigender Art". Diltheys weitere Arbeit konzentriert sich — bis zu seinem Lebensende — darauf, seiner Klasse die weltanschauliche „Selbstbesinnung" zu vermitteln, ihr einen neuen Begriff von Philosophie und Wissenschaft auszuarbeiten — auf der Grundlage einer Anthropologie und Psychologie, die ihrerseits wieder auf seine idealistische Konzeption des „Lebens" reduziert werden. Damit vertieft Dilthey die „anthropologische Wende" der bürgerlichen Philosophie und die theoretische Ausarbeitung der „Lebensphilosophie". Diese Wende setzt mit zwei Arbeiten aus den Jahren 1890 und 1892 ein.148 Unabhängig von Dilthey zeichnete sich im letzten Jahrzehnt des 19. Jh. deutlich eine philosophische Neuorientierung innerhalb der Bourgeoisie ab: Fragen nach dem Sinn des Lebens und der Geschichte, nach Werten usw. verdrängten die vulgärmaterialistischen, positivistischen und überlagerten die bisherigen neukantianischen Fragestellungen — ohne daß die akademische Philosophie diesen ideologischen Bedürfnissen entgegenkam. Diese neuen Fragen wurden durch Philosophen wie Nietzsche und Simmel (als eine akademische Ausnahme) und philosophierende Schriftsteller wie Maeterlinck und Tolstoi reflektiert. Die für die akademische Philosophie problematische Situation wurde von Dilthey erkannt 149 , und er strebt danach — indem er sich auf die neuentstandene „Lebensphilosophie" orientiert —, selbst eine umfassende Weltanschauung als „Selbstbewußtsein", als „Erfassen der immanenten Werte des Lebens" und als „geschichtliches Bewußtsein" auszuarbeiten. Er bejaht deutlich die Intentionen und Problemstellungen der sich herausbildenden Lebensphilosophie, kritisiert aber zugleich ihre unwissenschaftliche Methode, die „jede Verbindung mit Philosophie als Wissenschaft aufgehoben" habe (V, S. 370), und ihre Geschichts148
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Dilthey, Wilhelm, Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht (1890), in: Gesammelte Schriften, Bd. V.; ders., Erfahrung und Denken (1892), ebenda. Vgl. die wichtige Bestandsaufnahme des philosophischen Denkens in V, S. 412 f.
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losigkeit. So formuliert er gegen Nietzsche: „Nicht durch Introspektion erkennen wir die menschliche Natur. Dies war Nietzsches ungeheure Täuschung. Daher konnte er auch die Bedeutung der Geschichte nicht erfassen" (VII, S. 250). Die Richtung, in der Dilthey über jene Lebensphilosophie hinauszugehen gedenkt, wird in folgendem deutlich: „Die alten Götter müssen wir mitnehmen in jede neue Heimat. Nur der lebt sich aus, der sich dahingibt . . . Was der Mensch sei, sagt ihm nur seine Geschichte . . . Die Melodie unseres Lebens ist bedingt durch die begleitenden Stimmen der Vergangenheit" (Vljl, S. 224). Dieser beinah poetische Ton darf nicht über das wirkliche Problem Diltheys hinwegtäuschen: er sucht die Lebensphilosophie — die er grundsätzlich bejaht — zu einer begrifflich und methodisch geklärten Theorie umzugestalten und in Übereinstimmimg mit der Geschichte zu bringen. Dem ersten Ziel dienen seine jahrelang betriebenen ausführlichen Studien zu einer „beschreibenden Psychologie", welche die theoretische Grundlage der Lebensphilosophie bilden soll, und das zweite Ziel sucht er in seinen umfangreichen Studien über den „Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geistewissenschaften" zu realisieren — mit Diltheys Begriffen: in der Synthese von „Leben" und „Geschichtlichkeit". Dilthey hat zwei wesentliche Überzeugungen von der Lebensphilosophie übernommen: die Auffassung, die Rätsel des Lebens zu untersuchen, ohne daß es eine allgemeingültige Philosophie gibt, die hier helfen kann, und den zentralen Gedanken: „das Leben soll aus ihm selber gedeutet werden". Wie er im einzelnen eine Lösung sucht, die Lebensphilosophie mit einer „unabhängigen Methode" (unabhängig von der Philosophie!) der „beschreibenden und zergliedernden Psychologie" zu begründen, wie er sich mit dieser Aufgabe in den Jahren von 1890 bis 1896 und von 1905 bis 1910 intensiv beschäftigt, kann hier nicht dargestellt werden.150 Festgestellt sei aber seine Überzeugung, daß „Wirtschaft, Recht, Religion, Kunst und Wissenschaft, wie die äußere Organisation der Gesellschaft in den Verbänden der Familie, der Gemeinden, der Kirche, des Staates aus dem lebendigen Zusammenhang der Menschenseele hervorgegangen sind" und deshalb auch nur als seelische Manifestationen zu begreifen seien (V, S. 147). So erklärt sich auch die dominierende Rolle der Psychologie in Diltheys theoretischem Konzept. Aber erstens kam er in die fatale Lage, daß er bei seinen Analysen der individuellen Psyche genau jene geschichtslosen Strukturen erhalten mußte, die er gerade an der zeitgenössischen Lebensphilosophie kritisierte, und zweitens hatte er — was ihm nicht klar war — die gesamte Aufgabe falsch gestellt: die von ihm konzipierte Psychologie als Grundwissenschaft f ü r alle Gesellschaftswissenschaften anzunehmen wäre nur sinnvoll, wenn sich die menschliche Gesellschaft und ihre Geschichte tatsächlich aus den Gefühlen, Willensakten und Vorstellungen der Individuen vollständig erklären würden. So kommt Dilthey der erhofften Lösung einer theoretisch begründeten Lebensphilosophie nicht näher, statt dessen verstärken sich — nicht zuletzt auch unter dem Einfluß Yorcks von Wartenburg — die „existentiellen" Probleme in seinem ™ Vgl. dazu Herzberg, S. 281-292; Malorny, S. 133-157.
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Denken, geht es i h m m e h r u n d m e h r u m (quasireligiöse) Seins- u n d Daseinsf r a g e n , so d a ß die Philosophie sich zusehends von d e r E r k e n n t n i s p r o b l e m a t i k ab- u n d d e r Lebensproblematik (den „Rätseln des Lebens" als der „einzige dunkle, erschreckende G e g e n s t a n d aller Philosophie") zuwendet. D a m i t n ä h e r t er sich i m m e r s t ä r k e r d e r Analyse weltanschaulicher S i n n f r a g e n . A u s d e m B e d ü r f n i s h e r a u s , das Spezifische d e r Weltanschauungen zu beschreiben, v e r läßt Dilthey d e n von i h m b i s h e r v e r t r e t e n e n S t a n d p u n k t einer allgemeingültigen B e g r ü n d u n g der Philosophie. Z w a r b e t o n t e r ö f t e r noch, d a ß die Philosophie in drei Teile zerfällt: in die allgemeine Wissenschaftslehre (Logik u n d E r k e n n t nistheorie), d e n Z u s a m m e n h a n g der Wissenschaften u n d i h r e r Methoden (Methodologie), d r i t t e n s in die Weltanschauungslehre u n d Metaphysik. Faktisch interessiert er sich a b e r m e h r u n d m e h r allein f ü r die Weltanschauungslehre, die e r nach 1898 u m f a s s e n d a u s b a u t . Nach dieser L e h r e sind Weltanschauungen persönliche A n t w o r t e n auf d i e „Lebensprobleme", sie b e i n h a l t e n Lebensstimmungen, r a t i o n a l e Aussagen ü b e r ein Weltbild, schließlich Aussagen ü b e r ein höchstes Gut, o b e r s t e N o r m e n d e s H a n delns, Ideale d e r Gestaltung des persönlichen L e b e n s u n d d e r Gesellschaft (VIII, S. 82 ff.). Solche Weltanschauungen w i r k e n durch die Zeiten hindurch, es w i e derholen sich nach Dilthey „sowohl die H a u p t p r o b l e m e als die H a u p t r i c h t u n g e n i h r e r Lösung" (VIII, S. 135); sie liegen in p e r m a n e n t e m Streit, keine W e l t a n schauung sei widerlegbar, k e i n e beweisbar. Mit dieser L e h r e löst Dilthey die Philosophie vollständig ins S u b j e k t i v e a u f : es gibt keine allgemeingültige W a h r heit m e h r , j e d e Weltanschauung h a t auf i h r e Weise recht u n d gilt f ü r i h r e A n h ä n g e r ganz. Ausdrücklich v e r w a h r t sich Dilthey — u n d h i e r zeigt sich seine antimarxistische A u f f a s s u n g — gegen eine wissenschaftliche Weltanschauung (VIII, S. 94). Auf diese Weise sucht er d e n Materialismus u n b e w e i s b a r u n d d e n Idealismus u n a n g r e i f b a r z u machen, w i r d a u s d e r Entwicklung d e r Philosophie ein ewiger K a m p f u m unlösbare, doch persönlich b e d e u t s a m e Fragen. Mit dieser subjektivistischen E r k l ä r u n g der Weltanschauungen propagiert Dilthey einen philosophischen Relativismus, in d e m die verschiedensten Anschauungen gleichb e d e u t e n d sind u n d die F r a g e nach W a h r h e i t u n d Falschheit sinnlos g e w o r d e n ist. D a m i t h a t Dilthey m i t seiner Intention, d u r c h eine „beschreibende Psychologie" eine allgemeingültige Methodologie u n d G r u n d l a g e aller Geisteswissenschaften a u f z u b a u e n , endgültig gebrochen. Doch zu d e n K o n s t a n t e n seines D e n k e n s geh ö r e n seine A u f f a s s u n g e n v o m Menschen u n d v o m „Leben": d a ß d e r Mensch „im K e r n ein Bündel von Trieben" ist (BWY, S. 90), diel ü b e r die Ratio h e r r schen, d a ß das „Leben" e t w a s Irrationales ist. E r v e r s t e h t d a r u n t e r w e d e r eine biologische noch eine gesellschaftliche Kategorie, sondern eine psychologische: „Leben" m e i n t ausschließlich „Seelenleben", also die i n n e r e Welt „des" M e n schen: es erscheint bei Dilthey als Gegenpol z u r „ V e r n u n f t " u n d e r h ä l t A t t r i b u t e w i e „unerforschlich", „unendlich", es „ o f f e n b a r t " sich u n d läßt sich nicht auf „natürliche U m s t ä n d e " z u r ü c k f ü h r e n . „Leben" ist f ü r Dilthey das U r s p r ü n g liche, das v o r aller E r k e n n t n i s gegeben ist — in i h m sind alle Z u s a m m e n h ä n g e gegeben, m i t denen sich d a s D e n k e n beschäftigt. Diltheys großes Anliegen ist es, diese Lebensphilosophie m i t seiner Geschichts-
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auf fassung zu verbinden, um auf diese Weise die bisherige Geschichte von einem „anthropologischen" Standpunkt — unter Absehung aller konkreten sozialökonomischen Prozesse — betrachten zu können. Er hatte in allen Phasen seines Philosophierens die Rolle der Geschichte hervorgehoben und die „Geschichtlichkeit des Seelenlebens" als die „tiefste Tatsache der Geisteswissenschaften" bezeichnet (VI, S. 108). Es war notwendig gegenüber dem Positivismus und symptomatisch f ü r das ideologische Bedürfnis der Bourgeoisie, daß mit Dilthey jetzt verstärkt eine geschichtsphilosophische Begründung des „Lebens" erfolgt. Doch was die Geschichte selbst ist, das wird ausschließlich von der Lebensphilosophie her interpretiert. Auf diese Weise wird die Geschichte mit seiner Konzeption vom „irrationalen Leben" verklammert: ausdrücklich heißt es jetzt, daß der Begriff der Geschichte „abhängig ist von dem des Lebens" (VII, S. 261) und der „Zusammenhang der Geschichte . . . der des Lebens" ist (VII, S. 262). Diese Sätze bedeuten, daß die aus der Analyse des „Lebens" gewonnenen quasipsychologischen und quasianthropologischen Kategorien auch zur Deutung der Geschichte verwendet werden: wie „Leben" eigentlich das (unhistorische) „Seelenleben" eines abstrakt konzipierten Menschen meint, so versteht Dilthey unter „Geschichte" vorwiegend die „Erlebnisse" jenes Individuums. Aussagen wie „Geschichte ist nur das Leben" (VII, S. 256) und „Die Urzelle der geschichtlichen Welt ist das Erlebnis" (VII, S. 161) legen seine geschichtsphilosophische Konzeption auf der Linie der Lebensphilosophie fest. In seinen Studien über den „Aufbau der geschichtlichen Welt" und über das „geschichtliche Bewußtsein" f ü h r t Dilthey diese Auffassungen durch. Diltheys Geschichtsphilosophie resultiert aus der Auseinandersetzung mit den weltanschaulichen und ideologischen Problemen seiner Zeit, doch ihre bestimmende Form erhält sie aus der Beschäftigung nicht mit dem realen Geschichtsprozeß, sondern mit den lebensphilosophisch interpretierten Weltanschauungstypen. Nachdem er den Anspruch der Philosophie auf Allgemeingültigkeit liquidiert hat und jede Weltanschauung f ü r ihn „historisch bedingt, sonach begrenzt, relativ" und einseitig ist (VIII, S. 222), ergibt sich f ü r ihn konsequenterweise die Frage, ob daraus nicht eine „furchtbare Anarchie des Denkens" entstehen muß. Während er die philosophischen Systeme in ein historisches Panorama auflöst und damit die Philosophie in eine historische Disziplin, in ihre eigene Geschichte verwandelt, entsteht f ü r ihn vor allem das weltanschauliche Problem des Relativismus: „Eine Philosophie, welche das Bewußtsein ihrer Relativität hat, . . . erfüllt ihre Funktion nicht mehr" (VIII, S. 13). Notwendigerweise gehört es zu den ständigen Aufgaben bürgerlicher Ideologen, ihrer Klasse feste Leitbilder, Normen, Werte, Lebens-, Gesellschafts- und Geschichtsinterpretationen bereitzustellen — das hat Dilthey gerade nicht gemacht, weshalb er zu Lebzeiten bei aller Hochachtung vor seinem immensen Wissen doch als eine Art „esoterischer" Denker galt. Die Überwindimg des Relativismus stand nicht in seinen Möglichkeiten, statt dessen entwickelt er eine Konzeption, sich in diesem Relativismus einzurichten, aus der Not eine Tugend zu machen, mit anderen Worten: diesen Relativismus der Bourgeoisie als Norm und Ausweg anzubieten.
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Auf dieser Überzeugung von der durchgängigen Relativität aller weltanschaulichen Aussagen — daß jede philosophische These n u r relativ sein kann, n u r eine historische Größe ist — b a u t Dilthey auch seine Geschichtsphilosophie auf. Ihr Kern ist die Lehre vom „geschichtlichen Bewußtsein" — dem Bewußtsein von der Relativität alles geschichtlich Gewordenen (VIII, S. 167), das den Glauben an die Allgemeingültigkeit irgendeines metaphysischen Systems gründlich zerstört hat (VIII, S. 121) und alle Phänomene der geschichtlichen Welt als Produkte der geschichtlichen Entwicklung f a ß t : „Unter seinem Einfluß wurden die systematischen Geisteswissenschaften auf die Entwicklungsgeschichte und vergleichendes Verfahren gegründet" (VII, S. 105). Diltheys entwicklungsgeschichtliche Konzeption betont zu Recht die „Relativität jeder geschichtlichen Lebensform" (VIII, S. 77), aber zugleich sucht sie den inneren Zusammenhang ihrer Erkenntnisse „nicht in der Welt, sondern in dem Menschen" (VIII, S. 78), ist es ihre Aufgabe, „Innerlichkeit zu erfassen" (IV, S. 168), also die Welt des „Geistes". Z u r Abgrenzung von der realen Geschichte findet Dilthey d a f ü r eine eigene Kategorie: die Geschichtlichkeit. Mit ihrer Hilfe vollzieht er die vollständige Subjektivierung der Geschichte. Wie die „Welt" auf die „innere Welt" und das „Leben" auf die „psychische Erlebniswelt" des Individuums reduziert wird, so auch die „Geschichte" auf die „geschichtlichen Erlebnisse" dieses Individuums. Mit der Kategorie der Geschichtlichkeit sucht Dilthey Antworten auf die F r a gen: „Was ist der Mensch?" und „Wie ist Geschichtswissenschaft möglich?" Schon lange vertritt er die Auffassung, „es ist nunmehr das Wesen des Menschen selbst, daß er geschichtlich ist" (XI, S. 140), aber aus dieser Einsicht — einem Gedanken der klassischen deutschen Philosophie, die den Menschen als ein gesellschaftliches Wesen auffaßt, das sich in der Geschichte zu dem macht, was er ist — zieht Dilthey zwei Schlüsse: daß der Mensch nicht m e h r der „Schöpfer", sondern nur noch das „Geschöpf" der Geschichte ist und daß die „Totalität der Menschennatur . . . nur in der Geschichte" sei, wodurch der einzelne Mensch einer ganz bestimmten Zeit keine „Totalität" sein kann. Bei dieser Erkenntnis angekommen, beginnt f ü r Dilthey das Erschrecken: „Immer sind Wände da, die uns einschränken. Tumultuarische Bemühung, sie ganz loszuwerden . . . Unmöglichkeit hiervon; denn m a n stößt hier eben an die Geschichtlichkeit des menschlichen Bewußtseins als eine Grundeigenschaft derselben" (VIII, S. 38). F ü r Dilthey besitzt die „Geschichtlichkeit" des Menschen einen resignierenden Unterton: es ist die widerstrebend sich durchsetzende Einsicht in die Ohnmacht und Unfreiheit des Individuums (auch des bürgerlichen) u n t e r kapitalistischen Bedingungen, die sich bei Dilthey als Abhängigkeit des Menschen von der Gesellschaft, als ein Eingeschlossensein „von den geschichtlichen Bedingungen, u n ter denen er lebt", widerspiegeln. Die richtige Erkenntnis, daß der Mensch ein gesellschaftliches, ein geschichtliches Wesen ist, erscheint f ü r Dilthey als ein Verlust (des „ganzen Menschen", seiner „Innerlichkeit"), als Beherrschtwerden, zugleich als Angst vor der Endlichkeit des Menschen, so daß er im Zusammenhang mit seiner Weltanschauungslehre immer häufiger auf die Rolle des Todes, der den Sinn des Lebens bestimme, zu sprechen kommt. Nach v. Renthe-Fink
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ist der Begriff „Geschichtlichkeit" seit Beginn der 90er Jahre, also mit dem direkten Übergang zur Lebensphilosophie, f ü r Dilthey „die entscheidende Kategorie, das höchste begriffliche Symbol, in dem er seine Überzeugungen formuliert". 151 Diese Reduzierung der wirklichen Geschichte auf die subjektiv erlebte Geschichte „des" Menschen — ausgedrückt in der Kategorie „Geschichtlichkeit" — ist zugleich die Wende zum Historismus. Das wird z. B. von Walther Hofer im Hinblick auf die? imperialistische Geschichtsschreibung verallgemeinernd festgehalten: „Daß Geschichtlichkeit des Menschen unentrinnbares Schicksal ist, sein Wesen überhaupt ausmacht, das ist die Grundposition alles modernen Historismus."152 Die Wende zum Historismus ist gleichbedeutend mit der Durchdringung von Lebensphilosophie und anthropologisch-psychologisch reduzierter Geschichte, ist die Subjektivierung und Irrationalisierung der realen Geschichte, wobei die gesellschaftlichen Beziehungen als bloße Entfaltung des individuellen Seelenlebens des Menschen angesehen werden. Wie Malorny feststellt, wird der wirkliche Zusammenhang dadurch direkt auf den Kopf gestellt. Für Dilthey ist die Geschichte ein unablässig fließender irrationaler Strom absolut einmaliger Tatbestände geworden, in dem es keine Wiederholbarkeit, keine Kausalität und keine Gesetzmäßigkeit gibt. „Alles, was die Grundlage f ü r eine wissenschaftliche Betrachtung der Geschichte bildet, ist hier beseitigt."153 Dilthey benutzt nicht den Terminus „Historismus^' zur Kennzeichnung seiner geschichtsphilosophischen Auffassungen, statt dessen spricht er vom „geschichtlichen Bewußtsein" und stellt sich in eine Traditionslinie, die f ü r ihn von Herder über die Romantik, die Historische Schule, Droysen und Ranke reicht. Er interpretiert diese Linie als den „Aufgang des geschichtlichen Bewußtseins," und sieht als Charakteristikum dieser Traditionslinie die Auffassung der „geistigen Welt als Produkte der geschichtlichen Entwicklung" (VII, S. 105) — mithin jenen „Entwicklungsgedanken", den Troeltseh und Meinecke als. Kernstück des Historismus betrachteten. Hier liegt also eine echte Identität in der Sache vor, wenn sie auch einmal als „geschichtliches Bewußtsein", einmal als „Historismus" bezeichnet wird. Dilthey geht es um eine Tradition, die gegen den angeblich starren Rationalismus der Aufklärung, die Vernunftkonzeption und das Fortschrittsdenken die Betonung des Geschichtlichen zum Prinzip erhebt, wobei er vor krassen Verzeichnungen — etwa im Falle Herders und Hegels — nicht haltmacht. Dabei knüpft er vor allem an die Historische Schule und an Ranke an. Ersterer schreibt er das Verdienst zu, „die Geschichtlichkeit des Menschen und aller gesellschaftlichen Ordnungen erkannt" (V, S. 11) und die „vergleichende Methode" an die Stelle der stufenweisen Aufwärtsentwicklung der Menschheit gesetzt zu haben (VII, S. 375). In seinem Nachlaßwerk hebt er als weitere Merkmale der Historischen Schule hervor: ihre antirevolutionäre Einstellung, die Verteidigung der „historisch gewordenen Ordnungen" und der „deutschen Selbständig,M
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keit" (XIV, S. 375), die Überbewertung des „germanischen Geistes" gegen den „Mechanismus der französischen Lebensordnung", Haß gegen die Aufklärung (XIV, S. 394). An Ranke hebt Dilthey hervor die Individualisierung der Geschichte, das „universale Mitfühlen . . . , die Freude an der Mannigfaltigkeit der geschichtlichen Erscheinungen", die Auffassung von der „Geschichte als einer objektiven Wissenschaft" und den Relativismus, daß jedes Zeitalter in sich selbst zentriert ist und „Sinn, Bedeutung, Wert" in sich selbst trägt (VIII, S. 102 ff.). Zu den Wegbereitem des „geschichtlichen Bewußtseins" zählt Dilthey auch solche konservativen Historiker wie Carlyle und Tocqueville. Dabei kritisiert er an der Historischen Schule und Ranke die geringe Berücksichtigung erkenntnistheoretischer und methodologischer Fragen. Indem er sich auf seine „Einleitung in die Geisteswissenschaften" (1883) beruft, geht Dilthey nun daran, seine Auffassungen vom „geschichtlichen Bewußtsein" mit den erkenntnistheoretischen Fragestellungen (seiner „Kritik der historischen Vernunft") zu verbinden. In Auseinandersetzung mit den Geschichtsauffassungen von Kant bis Hegel und den geschichtstheoretischen Arbeiten von Humboldt, Gervinus und Droysen formuliert Dilthey in der Tradition der Historischen Schule und Rankes auf lebensphilosophischer Grundlage seine Geschichtstheorie — mit der er zum philosophischen Begründer des Historismus wird. Zusammengefaßt lassen sich die wichtigsten geschichtstheoretischen Aussagen Diltheys so darstellen: 1. Ausgehend von Rankes Geschichtskonzeption und historiographischer Praxis wendet sich Dilthey gegen „alle Theoreme von einer in Stufen aufwärtsschreitenden Entwicklung" (VII, S. 244) und begründet die Auffassung, daß „jede geistige Einheit in sich selbst zentriert ist. Wie das Individuum, so hat auch jedes Kultursystem, jede Gemeinschaft einen Mittelpunkt in sich selbst" (VII, S. 154). In dieser „Zentrierung der Zeitalter und Epochen in sich selbst" löst sich für Dilthey „das Problem der Bedeutung und des Sinnes in der Geschichte" (VII, S. 186). Dieser Individualisierung der Geschichte entspricht auf der erkenntnismäßigen Seite die Auffassung, daß die geschichtlichen Urteile in hohem Maße abhängig sind von der Individualität des Historikers (seiner Persönlichkeit, seiner nationalen Zugehörigkeit, seiner Zeit). Weil der Sinn und Zweck der Gesamtgeschichte unerkennbar ist, folgt für Dilthey, daß es keine wissenschaftliche Darstellung weltgeschichtlicher Zusammenhänge geben kann. 2. Diese Auflösung der Weltgeschichte hat ihren Grund in dem von Ranke übernommenen Kemgedanken von der „Individualität" der Geschichte insgesamt, wobei Ranke im Gegensatz zu Dilthey aber noch eine Weltgeschichte für möglich hielt. Schon in Diltheys frühen Tagebüchern wird diese — damals noch stark an Schleiermacher orientierte — Auffassung akzeptiert, und in einer Aufzeichnung aus dem Jahre 1870 heißt es: „Das Geheimnis der Welt . . . ist Individualität. Diese erstreckt sich auch in die Geschichte" (V, S. XCVII). Systematisch arbeitet er diese Auffassung in seinen „Beiträgen zum Studium der Individualität" (1896) aus, in der die „Einmaligkeit" des Lebens zum Prinzip
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erhoben wird, um „das Singulare zum Gegenstand der Wissenschaft" zu machen (V, S. 271). Danach gehört es zum „Schwerpunkt der Geisteswissenschaften", sich der „Fülle des individuellen Lebens zu bemächtigen", sich dem „liebevollen Verständnis des Persönlichen, dem Nacherleben der unerschöpflichen Totalitäten" hinzuwenden (V, S. 266). Auf diese Weise wird die Geschichtsschreibung von dem Aufsuchen historischer Gesetzmäßigkeiten freigesprochen. Zugleich stellt sich Dilthey die Frage, wie jenes Singuläre allgemeingültig „verstanden" werden kann — und er greift den Begriff des „Typus" auf, der „in einem singulären Falle ein Allgemeines darstellt" (VIII, S. 177). Mit Hilfe des „Typus" kann Dilthey auf subjektivistische Weise Individualitäten zusammenstellen und wenigstens den Schein erwecken, als ob damit das Problem der geschichtlichen Struktur objektiv darstellbar ist. Wie willkürlich diese „Typen" gewählt werden können, zeigt seine „Typologie der Weltanschauungen". 3. Auch die f ü r den Historismus spezifische Auffassung von „Entwicklung" wurde durch Dilthey theoretisch ausgeprägt. Bereits in seinen Tagebüchern erkennt er, daß die völlige Individualisierung der Geschichte notwendigerweise ihren Zusammenhang aufhebt, und er verweist darauf, „daß unbedingt Ernst mit der Kontinuität gemacht" werden muß (JgD, S. 95). Auf diese Weise motiviert, hat Dilthey seine Vorstellungen über den „Zusammenhang" und die „Kontinuität" in der Geschichte ausgearbeitet, wobei er auch hier nicht von den objektiv-realen Zusammenhängen ausgeht, sondern seine stark psychologisch orientierten Vorstellungen aus der Analyse des „Lebens" auf die Geschichte überträgt: der „Zusammenhang" wird vom Subjekt bestimmt, das, was von ihm erlebt wird, bildet f ü r ihn einen Zusammenhang. Damit ersetzt Dilthey die objektiven Kausalbeziehungen, die er allein in der Natur anerkennt, durch subjektiv feststellbare „Wirkungszusammenhänge", die den Gegenstand der Geisteswissenschaften bilden sollen. Der von ihm formulierte Entwicklungsbegriff richtet sich gegen die Entwicklungskonzeption der klassischen bürgerlichen Philosophie und selbstverständlich auch des Marxismus und basiert allein auf der Kontinuität als der „Grundeigenschaft aller Entwicklung" (V, S. 218). Von Hegels Entwicklungsdenken bleibt f ü r Dilthey „nur das Phänomen des reinen, sinnleeren Zeitablaufs übrig, der bloße Geschehenscharakter". 154 Diltheys Entwicklungsbegriff stellt also im wesentlichen nur die Kontinuität zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft her und gibt die dauernden geschichtlichen Veränderungen bereits als „Entwicklung" aus (VII, S. 232). Was er allein anerkennt, sind „immanente Entwicklungen" innerhalb einzelner „Kultursysteme" (VII, S. 169) und politisch-ideologisch für die Bourgeoisie akzeptable Fortschritte in der Wissenschaft, die zunehmenden Kontakte der Menschen, die zunehmende „Freiheit der Subjektivität" (VII, S. 346). Auf diese Weise hat Dilthey einen Entwicklungsbegriff vertreten, der von der imperialistischen Historiographie mühelos übernommen werden konnte, ohne die bürgerliche Gesellschaft in Frage zu stellen.
154
Renthe-Fink,
S. 37.
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4. Diltheys lebensphilosophischer Standpunkt macht eine objektive Geschichtsschreibung, wie sie Ranke noch annahm, unmöglich. In den Geisteswissenschaften wird „die geistige Welt in der Form von Wirkungszusammenhängen" erfaßt (VII, S. 156), die sich vom Kausalzusammenhang der Natur dadurch unterscheiden, daß sie „nach der Struktur des Seelenlebens" Werte erzeugen und Zwecke realisieren (VII, S. 153). Dazu zählt er „Erziehung, Wirtschaftsleben, Recht, politische Funktionen, Religion, Geselligkeit, Kunst, Philosophie, Wissenschaft" (VII, S. 166), aber ihr eigentliches Agens sind „die seelischen Zustände". Um dem zugrunde liegenden subjektivistischem Standpunkt in seinen Konsequenzen zu entgehen, macht er eine Anleihe bei Hegel, dessen Konzeption des „objektiven Geistes", lebensphilosophisch interpretiert, übernommen wird, so daß er nun sagen kann, „daß alles, worin der Geist sich objektiviert hat, in den Umkreis der Geisteswissenschaften fällt" (VII, S. 148). Dabei faßt er den „objektiven Geist" so, daß „an die Stelle der allgemeinen Vernunft Hegels das Leben in seiner Totalität tritt, Erlebnis, Verstehen, historischer Lebenszusammenhang, Macht des Irrationalen in ihm" (VII, S. 151). Auf diese Weise glaubt Dilthey von der „Subjektivität des Erlebnisses" zur „Objektivierung des Lebens" zu gelangen. Indem der Historiker den „objektiven Geist" einer Zeit untersucht, kann er nach Diltheys Auffassung die geistige Welt als Wirkungszusammenhang verstehen — und die materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse bleiben außerhalb der Betrachtung. Mit dieser Kategorie des „objektiven Geistes" hat Dilthey den Gegenstand des Historismus weiter profiliert und gegen die positivistische Faktenzusammenstellung wie gegen die marxistische sozialökonomische Analyse abgegrenzt. 5. Ein wesentlicher Beitrag Diltheys besteht in der Schaffung entsprechender „geisteswissenschaftlicher" Begriffe, denn bereits durch ihren Kategorialapparat kann eine Wissenschaft in eine bestimmte Richtung der Untersuchung und Interpretation gedrängt werden. Dilthey übernimmt aus seiner psychologisierenden Lebensphilosophie eine Begriffswelt, die f ü r ihn „im Wesen des Lebens selber" liegt (VII, S. 232) und die Dynamik des Geschichtlichen auszudrücken imstande ist. Die Kategorien des Lebens und der Geschichte „entstammen aus dem Erlebnis" (VII, S. 203) — sie verbergen also gar nicht ihren subjektivistischen Charakter, sie bilden untereinander auch kein festes Gefüge. Dilthey zählt sie an verschiedenen Stellen in unterschiedlicher Anzahl und Reihenfolge auf: Zweck, Wert, Bedeutsamkeit, Ideal, Wirken, Leiden, Kraft, Gestaltung usw. Zusammengehalten werden sie durch die Kategorien der „Bedeutung" und der „Zeitlichkeit". In diesen Begriffen sollen die „strukturellen Formen des Lebens selbst in seinem zeitlichen Verlauf" zum Ausdruck kommen. Die Geschichts>schreibung wird damit eindeutig in die Lebensphilosophie integriert, und die Aufgabe der Begriffsbildung liegt darin, solche Begriffe zu schaffen, „welche die Freiheit des Lebens und der Geschichte ausdrücken" (VII, S. 203). Dilthey stellt auf diese Weise Kategorien bereit, mit denen das Individuum an die Geschichte herangeht, um darin f ü r sich einen Sinn zu erkennen. Dadurch wird die Geschichte wieder auf das subjektive „Verstehen" hin analysiert.
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6. Dilthey arbeitet f ü r die Geschichtsschreibung und f ü r alle „Geisteswissenschaften" auch als grundlegende Methode eine „Verstehenslehre" aus, die bereits eine lange (theologische, juristische, philologische und durch Droysen auch eine geschichtsmethodische) Vorgeschichte hat, aber erst durch Dilthey f ü r den Historismus geradezu kanonische Geltung erhielt. Die Lehre vom Verstehen wird benutzt, u m die Trennung und Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaften zu begründen. Für Dilthey bildet der „Zusammenhang von Leben, Ausdruck und Verstehen . . . ein ganz klares Merkmal, durch welches die Abgrenzung der Geisteswissenschaften definitiv vollzogen werden kann" (VII, S. 87). Das „Verstehen" ist f ü r Dilthey die angemessene Erkenntnisart f ü r das Geistige, im Gegensatz zu dem rein intellektuellen Erkennen und Erklären in den Naturwissenschaften. Der Grundgedanke dieser Lehre besteht darin, daß die Einmaligkeit und Einzigartigkeit der menschlichen Lebensäußerungen nicht „auf den Begriff" gebracht, nicht diskursiv begriffen werden kann. Den Zugang zu den Lebensäußerungen der Vergangenheit bildet das Einfühlen, das Sichhineinversetzen, die Divination und die künstlerische Anschauung, u m das subjektive Seelenleben eines Autors der Vergangenheit oder „objektivierte" Strukturen nachzuerleben. Diese Erlebnisse sind nicht wissenschaftlich zu erklären, sie bleiben „ein Wissen von einem Einmaligen" (VII, S. 141), während das „Verstehen" als Methode diese Beschränkung des Individualerlebnisses aufheben und zum nachvollziehbaren Allgemeinen f ü h r e n solL In der beständigen Wechselwirkung von „Erleben" und „Verstehen" kann nach dieser Theorie die Geschichte allmählich aufgeklärt und in allgemeinen Begriffen dargestellt werden (VII, S. 145). Das Verstehen bezieht sich f ü r Dilthey n u r auf das, „was der Geist geschaffen hat" (VII, S. 148). Es bleibt eine subjektivistische und von Dilthey ausdrücklich auch als irrational bezeichnete Erkenntnisweise, in der auch die objektive Wahrheit nur als Übereinstimmung von Aussage und Erlebnis verstanden wird. 7. Auch die Triebkräfte der geschichtlichen Entwicklung werden von Dilthey psychologisierend subjektiviert und im Irrationalen gesucht. Die großen Weltveränderungen entstehen nach seiner Theorie durch das Zusammenwirken von Gefühlen mit negativen oder positiven Vorzeichen: Es sind „Druck", „Spannungen", „Sehnsucht aller Art", „Zunahme von Reibungen und Kämpfen", „Bewußtsein einer Insuffizienz der Kräfte", „vorwärtsdrängende Energien", sie beruhen auf „kräftigen Instinkten" und auf dem „Willen zur Macht". Ausdrücklich sieht er die Triebkräfte der Entwicklung in „seelischen Zuständen" (VII, S. 166) — den aufbauenden, die die „Kulturgüter" erzeugen, bis hin zur „Neigung, andere zu unterdrücken". Diltheys konsequente Position, die „Innenseite" der Geschichte zu betrachten, verbietet eine reine Machtstaatapologie, wie sie f ü r die politische Geschichtsschreibung etwa der preußischen Historikerschule selbstverständlich ist. Aber auch f ü r ihn ist es der „Machtwillen", der „überhaupt erst die Kultursysteme möglich" macht, ist die oberste Instanz die „souveräne Macht des Staates", der durch Krieg und Zwang nach innen einen „Gesamtwillen" durchsetzt (VIII, S. 170). Mit dieser Konzeption wird die Politik der herrschenden Klassen von
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ihren materiellen Interessen abgetrennt, erscheint der „Willen zur Macht" als Naturgegebenheit des „Lebens". Diltheys psychologisierende Betrachtung der geschichtlichen Triebkräfte verschleiert damit ebenso die realen Triebkräfte der Gesellschaft wie die Machtfrage, wodurch der Historismus seine ideologische Funktion in der „Geistesgeschichte" zugleich verbergen und durchsetzen kann. Mit dieser — keinesfalls vollständigen — Aufzählung sind einige wesentliche Ideen charakterisiert, mit denen Dilthey die Methodologie der imperialistischen Geschichtsschreibung wesentlich geprägt hat, ohne daß sie von den Historikern als Gesamtheit übernommen wurden. Neben Dilthey haben auch der Neukantianismus und besonders Max Weber die spätbürgerliche Geschichtsmethodologie maßgeblich beeinflußt. Zahlreiche führende Vertreter des Historismus waren sich aber darin einig, daß Dilthey die theoretischen Grundlagen f ü r einen neuen Typus einer philosophischen Geschichtsschreibung geschaffen hat. Zusammen mit seinen Arbeiten zur Literaturwissenschaft, Ästhetik und Pädagogik hat Dilthey in objektiver Übereinstimmung mit dem Welt- und Selbstverständnis der imperialistischen Bourgeoisie auf dem Gebiet der Philosophie und Geschichtsmethodologie konzeptionell wesentliche Grundlagen der spätbürgerlichen Ideologie erarbeitet und deren Auffassungen zu Gesellschaft und Geschichte im Sinne einer Irrationalisierung der realen Entwicklung theoretisch begründet. Nachbemerkung: Nach Fertigstellung des Manuskripts wurde mir bekannt, daß der Terminus „Historismus" im Jahre 1843 in der Arbeit des polnischen Philosophen Bronislaw Trentowski „Stosunek filozofii do cybernetyki, czyli sztuki rzad zenia narodem" verwendet wird. Trentowski (1808—1869) studierte in Königsberg, Heidelberg und Freiburg i. Br., habilitierte sich dort 1838, wurde Privatdozent und schrieb bis 1840 in deutscher Sprache. Er gehört in den Umkreis der durch Feuerbach angeregten Ideologen des Vormärz. In der genannten Arbeit analysiert er die Standpunkte des „Historismus" oder Konservatismus und des „Radikalismus". Ersterer setzt sich nach Trentowski für die Tradition und den Glauben an einen transzendenten Gott ein, letzterer führt zur Vergöttlichung des Menschen (Feuerbach!) und zur Befürwortung revolutionärer Methoden. Trentowskis Philosophie begreift sich als „Synthese der Wahrheit des Historismus" und der „Wahrheit des Radikalismus" und sei so der Ausdruck eines „wirklich philosophischen" Standpunktes in der Politik. Historismus ist für ihn wie für Feuerbach eine konservative und theistische Auffassung, die er aber — da sie ihm nur die „Verabsolutierung einer Teilwahrheit" ist — nicht verwirft, sondern partiell mit der Anerkennung der Transzendenz Gottes und der Ablehnung des Revolutionären in seine eigene Poisiton integriert. (Zu S. 279.)
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Karl Schmückles Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen deutschen Historismus
Der KPD gelang es im Verlaufe der Weimarer Republik, wichtige Elemente eines den Anforderungen der revolutionären Strategie und Taktik entsprechenden Geschichtsbildes auszuarbeiten und wirksame Geschichtspropaganda zu betreiben. 1 Diese Bemühungen fanden ihre zielstrebige Fortsetzung im Kampf gegen die faschistische Ideologie.2 Verdienste auf diesem Gebiet erwarben sich neben führenden Parteifunktionären auch andere Kommunisten, die zumeist direkt als Propagandisten und Journalisten tätig waren, u. a. Alexander Abusch, Gertrud Alexander, Else Bartnikol (bekannt unter dem Schriftstellernamen Trude Richter), Paul Braun (d. i. Wilhelm Guddorf), Hermann Duncker, Hans Günther, Werner Hirsch, Edwin Hoemle, Jürgen Kuczynski, Josef Lenz (d. L Josef Winternitz), Rudolf Lindau, Emst Ottwalt, Paul Reimann, Karl Schmückle, Albert Schreiner; einige wie Fritz Ausländer, Paul Frölich, Kurt Kersten, Arthur Rosenberg oder Karl August Wittfogel trennten sich später von der KPD bzw. wurden Renegaten. Die Kommunisten sahen sich in jenen Jahren ständig mit den noch immer äußerst breitenwirksamen bürgerlichen Geschichtsauffassungen 3 konfrontiert. Mit ihnen setzte man sich daher laufend auseinander. Für eine tiefgründige und umfassendere Kritik der bürgerlichen Geschichtsschreibung war jedoch auch eine Beschäftigung mit den vorherrschenden bürgerlichen Geschichtstheorien notwendig. Zu den herausragenden Stellungnahmen auf diesem Gebiet ist zweifellos ein Artikel Karl Schmückles zu zählen, den die Zeitschrift „Unter 1
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Vgl. Zur Entwicklung des Geschichtsdenkens und -bildes in der KPD (1917/18 bis 1945/46). Wissenschaftliche Beiträge der Karl-Marx-Universität Leipzig, Leipzig 1979; Berthold, Werner/Ratsch, Günter/Kinner, Klaus, Geschichte der Geschichtswissenschaft. Zur Geschichte der marxistisch-leninistischen deutschen Geschichtswissenschaft (1917—1945). Lehrmaterial zur Ausbildung von Diplomlehrern Geschichte, Potsdam 1978; Kinner, Klaus, Zur Entwicklung des marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes in der KPD in den Jahren der Weimarer Republik, phil. Diss. A, Leipzig 1973 (MS); ders., Zur Geschichte der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft in Deutschland 1917 bis 1933 (Teil II), Diss. B, Leipzig 1977 (MS). Diese Arbeiten verzeichnen auch die weitere Literatur. Vgl. Berthold, Werner, Marxistisches Geschichtsbild — Volksfront und antifaschistischdemokratische Revolution, Berlin 1970. Vgl. Schreier, Hans, Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung der Weimarer Republik, Berlin 1975.
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dem Banner des Marxismus" 1929 veröffentlichte.4 Da auch weitere, anderen Themen gewidmete Schriften Schmückles einen Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen Geschichts- und Gesellschaftsdenken leisteten, sollen sie im folgenden ebenfalls herangezogen werden. Uber den Lebensweg Schmückles ist bislang wenig bekannt. Einige Anhaltspunkte für die Jahre bis zum Abschluß seiner Universitätsstudien gibt ein eigenhändiger kurzer Lebenslauf vom 23. Juni 1923, eingereicht an die Philosophische Fakultät der Universität Jena. 5 Karl Friedrich Schmückle wurde am 9. September 1898 in Gompelschauer an der Nagold im württembergischen Schwarzwald geboren. Er war der erste Sohn des Försters bzw. Forstwarts Karl Schmückle und dessen Frau Anna, einer geborenen Koch. Die Kinder- und ersten Schuljahre verbrachte er im Parkhaus bei Hohengehren im württembergischen Schurwald. Um bessere Schulbedingungen zu gewährleisten, ließ sich der Vater dann nach Winnenden in der Nähe von Waiblingen versetzen, wo Schmückle die Kleine Land-LateinSchule besuchte. Auf ihr legte er 1913 das württembergische sogenannte Landexamen ab. Da die religiös eingestellte Familie unbemittelt war, bot sich als weiterer Ausbildungsweg das Theologiestudium an. Auch Karls zwei Jahre jüngerer Bruder Albert6 studierte später Theologie. Karl Schmückle durchlief in Vorbereitung auf das Studium das Niedere evangelisch-theologische Seminar zu Maulbronn (1913—1915) und weiter das zu Blaubeuren (bis Ende 1916), untergebracht in den ehemaligen Klöstern der Zisterzienser und Benediktiner. Weihnachten 1916 mußte Schmückle infolge des ersten Weltkrieges vorzeitig eine Notreifeprüfung ablegen. Anfang 1917 wurde er eingezogen. Im Oktober 1917 kam er an die Front zum württembergischen Infanterieregiment Nr. 120. Schmückle geriet gleich in die Schlacht bei Ypern, die Mitte und Ende des Monats besonders verlustreich gegen die Engländer ausgefochten wurde.7 Die heftige Materialschlacht und die Nässe in schlechten und zerschossenen Stellungen forderten viele Tote, Verwundete und Kranke. Von Mitte November 1917 bis Ende Januar 1918 mußte das Regiment von der Front zurückgezogen werden, verbrachte ruhige Etappenwochen bei Mülhausen und Colmar. Den Februar war das Regiment wieder an der Westfront eingesetzt, in den Stellungskämpfen bei Graincourt im Cambraibogen. In der großangelegten Frühjahrsoffensive, die die deutschen Militärs trotz der aussichtslosen Situation starteten, kämpfte Schmückles Regiment bei Villers-Guislain, wo er gleich am zweiten Tage, dem 22. März 1918, schwer verwundet wurde. Bis zum Schmückle, Karl, Zur Kritik des deutschen Historismus, in: Unter dem Banner des Marxismus, 3,1928, 2, S. 281 ff. 8 Universitätsarchiv Jena (im folg.: UAJ), M, Nr. 581, Bl. 240. Auch die weiteren Angaben bis 1923 entstammen, wenn nicht anders vermerkt, diesem Lebenslauf. 6 Albert Schmückle, geb. 17. 10. 1900, erlangte 1923 auf dem Ev. Stift Tübingen die Ordination, wurde 1928 Stadtpfarrer im württembergischen Feuerbach. Vgl. Das evangelische Deutschland. Jahr- und Adreßbuch, 1929/3011 Leipzig o. J. Er lebt noch heute in Württemberg. ' Vgl. Simon, Oberst a. D., Das Infanterie-Regiment „Karl Wilhelm, König von Preußen" (2. Württembergisches) Nr. 120 im Weltkrieg 1914-1918, Stuttgart 1922.
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Herbst mußte er im Lazarett in Dresden zubringen. Dann kam er zurück zum Ersatzbataillon des Regiments, kaserniert auf der Wilhelmsburg von Ulm. In Ulm, der damals nach Potsdam größten deutschen Garnisonstadt, erlebte er die Novemberrevolution. Mit welchen Ansichten und Stimmungen ist nicht bekannt. Im Gegensatz zu dem revolutionären Geschehen in der Landeshauptstadt Stuttgart blieb Ulm geradezu ein Hort der militärischen Konterrevolution.8 Dazu trug die Anpassungsfähigkeit des Garnisonbefehlhabers ebenso bei wie die abwiegelnde Tätigkeit führender rechter Sozialdemokraten, die sich den beherrschenden Einfluß in den Ulmer Arbeiter- und Soldatenräten zu sichern wußten. Aus verschiedenen Regimentern gebildete „Sicherheitskompanien" halfen im Januar 1919 die Revolution in Stuttgart niederzuschlagen. Doch drangen revolutionäre Stimmungen in alle Ulmer Regimenter. Auch in Schmückles Regiment gab es im Dezember 1918 heftige Auseinandersetzungen, Tätlichkeiten; fortschrittliche Elemente, besonders im Ersatzbataillon, fehlten nicht. Welche Anstöße Schmückle hier auch immer erhalten haben mag — als er im Frühjahr 1919 aus dem Heeresdienst entlassen wurde, entschloß er sich jedenfalls zur Aufnahme des Theologiestudiums, vielleicht auch angesichts der materiellen Situation der Familie. In dem bekannten Tübinger Stift, dem Theologischen Seminar, nahmen zum Frühjahr 1919 mit einem sogenannten Zwischensemester mehr als 150 Studenten, meist ehemalige Soldaten, den im Kriege stark eingeschränkten Studienbetrieb wieder auf.9 Schmückle blieb vier Semester in Tübingen. Zu den theologischen Hauptfächern gehörten Altes Testament, Kirchengeschichte, Neues Testament und systematische sowie praktische Fächer. Daneben hörte er Geschichte der griechischen und der neueren Philosophie, wahrscheinlich auch Einführung in die Philosophie und systematische Philosophie.10 Schmückles Zeugnisse aus dem Sommersemester 1919 und dem Wintersemester 1919/20 weisen teils gute, teils befriedigende Noten auf.11 Die Stiftsgeschichte vermeldet für den Sommer 1919 einige „Unruhe und Auflehnung gegen die Stiftsordnung", angefacht von „einigen betriebsamen, selbstbewußten Herren". 12 Namen werden nicht mitgeteilt. 8
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Vgl. über die Geschehnisse in Ulm die bürgerlichen, z. T. von konterrevolutionärer Warte geschriebenen Schilderungen: Specker, Hans Eugen, Ulmer Stadtgeschichte, Ulm 1977, S. 284 ff.; Beöczy, Siegfried v., Ulmer Augenzeugen: „Ich war dabei . . . ", Ulm 1970, S. 18 ff.; Marx, Ernst, Die Ulmer Garnison in der Revolution 1918/19, in: Ulm und Oberschwaben, Bd. 39, 1970, S. 156 ff. Vgl. allgemein Leube, Martin, Das Tübinger Stift 1770-1950, Stuttgart 1954, S. 635 ff., •zu den Lehrfächern S. 408 f. Freundliche Mitteilung an den Verf. von Ephorus Dr. Friedrich Hertel, dem ich auch für weitere Hinweise und Fotokopien zu danken habe. Evangelisches Stift Tübingen (im folg.: Ev. Stift Tüb.), Semester-Zeugnisse. Die Noten des SS 1919 (u. a. neuere Philosophie und Aufsatz) lauten durchweg IIb, im folg. Semester teils IIb, teils lila und Illb. Der Aufsatz über den „Gedankengang der platonischen Republik V—VII" wurde mit IIb benotet und wie folgt gewertet: „Zu wenig Unterordnung unter das Thema. Wo Vf. beim Thema bleibt, erfaßt er das Wesentliche richtig." Während die Fleiß- und Verhaltensnoten meist auf „gut" lauten, wurden Fassungskraft und Gedächtnis mit „befriedigend" bedacht.
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Offenbar setzte bei Schmückle in diesen Monaten der entscheidende Schritt im weltanschaulichen und politischen Umdenken ein. In den Stiftsakten befindet sich jedenfalls eine von ihm unterzeichnete Erklärung vom 23. November 1919, in der er „auf Ehrenwort" versicherte, „1) daß ich jede Gewaltanwendung zur Erreichung meiner kommunistischen Ideale grundsätzlich verwerfe und daß ich mich persönlich an keiner gewaltsamen Handlung zu genanntem Zweck beteiligen werde, 2) daß ich keiner Vereinigung angehöre, welche den gewaltsamen Umsturz der bestehenden Ordnung zum Zweck hat, 3) daß ich etwaige Kenntnis über Einwohnerwehr u. ähnliches, die ich als Angehöriger des Stifts erlange, niemals an spartakistische oder kommunistische Kreise weitergeben werde". 13 Die Schrift des Textes stammt nicht von Schmückte; die Erklärung wurde also offensichtlich von der Stiftsleitung vorgegeben. Sie zeigt aber erstens an, wie stark Schmückles Ansichten schon über das Theologische Seminar hinausstrebten, und zweitens, wie man ihn zumindest politisch in seinem Handlungsspielraum einschränken wollte. Offenbar war der Klärungsprozeß aber noch nicht abgeschlossen, denn erst ein Semester später, Ende des Sommersemesters 1920, trat Schmückle aus dem Stift aus.14 Schmückte ging nach Berlin, um Nationalökonomie zu studieren.15 Spätestens hier hatte er Gelegenheit, sich in speziellen Vorlesungen und Übungen bürgerlicher und rechtssozialdemokratischer Professoren (Cunow, ver Hees, Jastrow, Lensch, Sombart) mit Marx und dem Marxismus, mit Sozialismus und sozialer Bewegung zu befassen.16 Der fortschrittliche Historiker Gustav Mayer las im staatswissenschaftlichen Seminar über Geschichte der sozialen Bewegung und des Sozialismus in Frankreich und veranstaltete eine Übung über einige Frühschriften von Marx und Engels und die geistigen Strömungen in Deutschland. Mit dem Wintersemester 1921/22 setzte Schmückle seine nationalökonomischen Studien in Jena fort. 17 In Jena hatten unter Professoren und Studenten die Gegner der Weimarer Republik die Oberhand, wie sich in heftigen Auseinandersetzungen innerhalb und außerhalb der Universität erwies.18 Doch gab es hier nicht nur Lehrveranstaltungen über Geschichte volkswirtschaftlicher Theorien, sondern auch über Sozialismus und Kommunismus (z. B. Kessler). Am wichtigsten für Schmückle dürfte aber Karl Korsch geworden sein, seit 1920 Privatdozent und im selben Jahr von der USPD zur KPD übergetreten, » Leube, S. 635. " Ev. Stift Tüb., Fotokopie. 14 Im Archiv des Ev. Stifts gibt es keine Unterlagen, die im einzelnen Gründe für seinen Austritt erkennen lassen. 15 Laut frdl. Auskunft von Dr. Heinz Kossack, Leiter des Universitätsarchivs der Humboldt-Universität Berlin (im folg.: UAB), war Schmückle in Berlin vom 4. 11. 1920 bis zum 22.10.1921 immatrikuliert. 10 Vgl. Friedrich-Wilhelm-Universität Berlin. Verzeichnis der Vorlesungen, WS 1920/21 und SS 1921. 17 Schmückle war in Jena immatrikuliert vom 8.11.1921 bis 2. 4.1924. Diese und andere Auskünfte verdanke ich Dr. Volker Wahl, Leiter des UAJ.
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der 1923 eine Professur f ü r Zivil-, Prozeß- und Arbeitsrecht erhielt, in führenden Funktionen der KPD tätig war, bis er 1926, mehrere Jahre nach Schmückles Weggang aus Jena, wegen ultralinker und fraktioneller Tätigkeit aus der KPD ausgeschlossen wurde. Während Schmückles Studienzeit behandelte Korsch in seinen Lehrveranstaltungen 19 u. a. das Werk von Hegel und Marx; spezielle Vorlesungen und Übungen galten dem Hauptwerk von Karl Marx, dem „Kapital", der „Kritik der politischen Ökonomie. Einleitung" sowie der materialistischen Dialektik. Schmückle zeigte sich jedenfalls in seinen späteren Schriften ebenso belesen in den Werken von Hegel20 wie in denen von Marx und Engels. In der Studienzeit wurde Schmückle Marxist. Als im Sommer 1922 (wahrscheinlich zu Pfingsten im Mai) in Ilmenau eine von dem linksorientierten Dr. Felix Weil finanzierte „Erste Marxistische Arbeitswoche" stattfand, gehörte zu dem Teilnehmerkreis, der ausschließlich aus Intellektuellen bestand, neben Bela Fogarasi, Hede Gumperz, Karl Korsch, Georg Lukäcs, Friedrich Pollock, Richard Sorge, Karl August Wittfogel, Konstantin Zetkin auch Karl Schmückle. „Den größten Teil der Zeit verbrachte man mit der Diskussion von Korschs noch nicht veröffentlichtem Manuskript .Marxismus und Philosophie'." 21 Die bürgerlichen Wissenschaftler dieses uneinheitlichen Kreises hegten damals die illusionäre Hoffnung, durch Diskussionen innerhalb der verschiedenen marxistischen Strömungen einen „neuen" Marxismus zu gebären. Zu der geplanten zweiten Arbeitswoche kam es nicht, da Weil, Pollock und Max Horkheimer inzwischen die Gründung des Instituts f ü r Sozialforschung betrieben. Welche Stellung Schmückle bezog, ist ebensowenig bekannt wie sein Verhältnis zu Korsch. Angesichts der Breite seiner Literaturstudien (Marx, Engels, Mehring, Kautsky, Lenin usw.) und der schon in seinen ersten Schriften erkennbaren Selbständigkeit seines Urteils dürfte er aber Korsch schwerlich als alleinige Richtschnur angesehen haben. Auf alle Fälle gaben ihm Korschs Lehrveranstaltungen die Möglichkeit, im Rahmen des akademischen Lehrund Prüfungsbetriebes marxistische Werke zu studieren und zu diskutieren und zugleich die erforderlichen akademischen Beteiligungsnachweise zu erhalten. Von Jena aus besuchte Schmückle wiederholt die Freie Schulgemeinde des fortschrittlichen Reformpädagogen Dr. Gustav Wyneken 22 in Wickersdorf (in der 18 19
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Vgl. Geschichte der Universität Jena 1548/58-1958, Bd. 1, Jena 1958, S. 533 ff. Vgl. Thüringische Landesuniversität Jena. Vorlesungsverzeichnis, WS 1921/22 — WS 1923/24. Es ist möglich, daß Schmückles Interesse schon in Tübingen auf Hegel gelenkt wurde, da dieser ja dem Stift angehört hatte. Jay, Martin, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923—1950, Frankfurt a. M. 1976, S. 23. — Buckmiller, Michael, Zeittafel zu Karl Korsch — Leben und Werk, in: Arbeiterbewegung und Geschichte, Jb". 1, Frankurt a. M. 1973, S. 103, weist ebenfalls auf die „1. Sommerakademie" hin. Seine Namensliste enthält noch einige andere Namen, darunter Paul Massing; er schreibt aber fälschlich Schmücker. Vgl. Schröder, Alfred, Die pädagogischen Ansichten Gustav Wynekens und ihre Verwirklichung in der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, Diss. A, Leipzig 1964 (MS); Kupffer, Heinrich, Gustav Wyneken, Stuttgart 1970.
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Nähe von Saalfeld), wo er an Diskussionen mit Lehrern und Schülern teilnahm. 23 Ein Teil der Lehrer und Schüler stand der jungen Sowjetunion und der kommunistischen Bewegung mit Sympathie gegenüber, sammelte z. B. 1921 f ü r die Hungernden an der Wolga. Im Lesezimmer der Schule lag neben bürgerlichen und sozialdemokratischen Zeitungen auch die^ „Rote Fahne" aus, f ü r die damalige Schulpraxis ganz außergewöhnlich. Das Interesse Makarenkos und anderer sowjetischer Pädagogen an der hier geübten Form der Intematserziehung war so groß, daß Wynekens Schrift über seine Schulgemeinde24 zuerst in russischer und ukrainischer Sprache erschien. Die Jenaer Jahre müssen eine angestrengte Zeit f ü r Schmückle gewesen sein, denn neben den Studien, der Abfassung der Dissertationsschrift und den Vorbereitungen f ü r die Promotionsprüfung war er gezwungen, Geld zu verdienen, da der Vater auch den zweiten studieirenden Sohn zu versorgen hatte. Schmückle arbeitete neun Wochen im Organisationsbüro der Firma Zeiß in Jena, während der Sommerferien 1922 beim thüringischen Justizministerium in Weimar, erteilte ferner Stunden und erfüllte Sekretärarbeiten. Im Juni 1923 konnte er der Philosophischen Fakultät die Arbeit „Logisch-historische Elemente der Utopie" einreichen.25 Ihr liegt eine eindeutig marxistische Konzeption zugrunde. Sie behandelt den Klassengehalt der utopischen Lehren von den frühen bürgerlichen Utopisten Campanella und Morus bis zu den klassischen Vertretern Saint-Simon und Fourier. Das 125 Schreibmaschinenseiten umfassende Manuskript war nur Teil einer größeren, nach Schmückles Angabe im Rohbau teilweise fertiggestellten Arbeit, im ersten Teil gekürzt, mit dem dritten Kapitel abgebrochen, um den Rahmen einer Dissertation nicht zu sprengen. Die umfangreiche, fast ein Viertel des Textes umfassende Einleitung steckte Ausgangspositionen und Methoden des Herangehens ab. Der Zusammenhang von Theorie und Praxis (Utopie und bürgerliche Gesellschaft) bildete für Schmückle das Leitmotiv f ü r die Einordnung der bürgerlichen Utopisten in die Transformationsepochen der bürgerlichen Gesellschaft. Die Utopien waren nach ihm ein notwendiges Produkt der Kapitalverhältnisse; die Utopisten versuchten in utopischer Weise den fehlerhaften Kreislauf der kapitalistischen Gesellschaft theoretisch zu sprengen. Aus der Dialektik der objektiven gesellschaftlichen Entwicklung ergibt sich das Widerspruchsvolle der bürgerlichen Utopien. Schmückle versuchte die Utopien in die jeweiligen historischen Epochen und in die großen ideengeschichtlichen Zusammenhänge einzuordnen, um ihren jeweiligen theoretischen Standort zu bestimmen, immer bezogen auf ihre späteren vollausgebildeten Formen und verstanden als Vorformen des wissenschaftlichen Sozialismus. Die Klassiker der kritischen Utopie Saint-Simon und Fourier 23
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Für Hinweise hierzu und zu anderen biographischen Fakten habe ich herzlich zu danken Frau Margarete Mende-Hacks, die bis zu ihrem Abitur Ostern 1923 die Schule Wickersdorf besuchte. Vgl. Mende-Hacks, Margarete, Erinnerungen an Wickersdorf. Eine ehemalige Schülerin berichtet über Gustav Wyneken und seine Wickersdorfer Schulgemeinde, in: Volkswacht, Gera, 17.1.1980. Wyneken, Gustav, Wickersdorf, Lauenburg 1922.
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wirkten nach Schmückle nicht zufällig im klassischen Land der Klassenkämpfe, in Frankreich nach 1789. Den schon vom späteren Fabriksystem ausgehenden englischen Kommunisten Owen klammerte Schmückle daher aus seiner Betrachtung aus. Sein Herangehen an den Stoff bezeichnete Schmückle als logisch und historisch zugleich, d.h. als dialektisch; doch bringt die Wortfolge des Titels bereits zum Ausdruck, daß das Logische in der Betrachtungsweise die größere Rolle spielte. (Anzumerken wäre, daß Schmückle den Begriff des Logischen nicht im Sinne der heutigen Wissenschaftslogik benutzte, sondern als dialektisches Pendant zum Historischen, im Sinne einer allgemeinen Theorie der Gesellschaftsentwicklung.) Die von ihm angewandte Methode nannte Schmückle unverhüllt die marxistische. Ebenso bestimmt offenbarte er den sozialen Inhalt seiner Definition der Utopie; für ihn bestand die einzige, dem Begriff des Utopischen adäquate Utopie in der proletarischen, verstanden als Grundschema des freien, gemeinsamen, mehr oder weniger kommunistisch vorgestellten Lebens. Der wissenschaftliche Sozialismus war der übergeordnete, qualitativ neue Ideengehalt, der — als entwickelte Form — zugleich erst das richtige Verständnis f ü r die Vorformen des Denkens ermöglichte. Eine thesenartige kurze Einschätzung der Anschauungen von Saint-Simon und Fourier, ihrer Gemeinsamkeiten und Unterschiede beschloß die Einleitung. Das folgende erste Kapitel behandelte „die ältere Utopie, ihre gesellschaftliche Bestimmung und geschichtlichen Metamorphosen". In diesem besonders stark gekürzten Teil, in dem auch ein schon formulierter Abschnitt über Babeuf aus Platzgründen weggelassen wurde, skizzierte Schmückle, ohne auf die Ansichten der einzelnen Utopisten näher einzugehen, einige Hauptgesichtspunkte ihrer Lehren. Er hob hervor, daß in den frühen Formen der Utopie der Staat als oberstes Lebensorgan der Gesellschaft eine vorrangige Rolle spielte (Campanella, Morus u. a.). Mit der fortschreitenden Entwicklung radikalisierte sich die kritische Analyse der Gesellschaft, ging über zur Kritik des Eigentums, wollte in dem Idealbild der Gesellschaft zugleich Privateigentumsformen aufgehoben wissen (Meslier, Morelly, Mably u. a.). Schmückle arbeitete einerseits die Widersprüchlichkeiten und Begrenztheiten der utopischen Lehren heraus und zeigte andererseits, wie entsprechend dem wachsenden Reifeprozeß der bürgerlichen Gesellschaft schrittweise immer neue Probleme aufgegriffen wurden. Das zweite Kapitel wandte sich den „logischen Fundamenten" der klassischen Utopien von Saint-Simon und Fourier zu. Da die klassischen Utopisten von der realen Gesellschaft ausgingen, so stellte Schmückle fest, dürfe ihren Anschauungen über die Gesellschaft nicht pauschal Erkenntniswert und Nützlichkeit abgesprochen werden. Zunächst untersuchte er den Gesellschaftsbegriff der beiden Denker, der sich auf das Ganze der Gesellschaft richtete, im Unterschied zu den früheren Utopisten das Gewicht des Staates geringer veranschlagte und zu einzelnen wichtigen und materialistischen Erkenntnissen über das ökonomische Wesen der Gesellschaft vorstieß. Neben diesen Gemeinsamkeiten ihrer Ansichten ließ Schmückle immer wieder die unterschiedlichen Ansatzpunkte 25
Schmückle, Karl, Logisch-historische Elemente der Utopie, phil. Diss., Jena 1924 (MS).
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und Überlegungen von Saint-Simon und Fourier hervortreten. Danach schilderte er, wie die ökonomische Gesellschaft mit ihrem Fortschritt der Industrie und ihren Arbeitsverhältnissen von den beiden Utopisten erfaßt und interpretiert wurde. Ihrem totalen Blick auf die Gesellschaft und ihre Veränderbarkeit lag aber ein naturhafter und darum mehr oder weniger unhistorischer Gesetzesbegriff zugrunde. Sodann untersuchte Schmückle, auf welchen philosophischen Grundlagen die Zielstellung der Utopisten beruhte, eine industrielle Assoziation, eine harmonische Gesellschaft zu errichten, und bis zu welchen Grenzen beide Infolge der noch unausgereiften Klassenverhältnisse der kapitalistischen Gesellschaftsformation nur vorstoßen konnten, welche Widersprüche und Spekulationen ihre Sozialutopien enthalten mußten. Ihr Verdienst bestand nach seiner Ansicht aber darin, die Frage nach einer grundsätzlich neuen Gesellschaft zumindest aufgeworfen zu haben. Im entwickelten marxistischen Sozialismus habe dann die klassische Sozialutopie ihre „Aufhebung" gefunden. Das dritte Kapitel hieß „Der reale Mutterboden der klassischen Utopie für sich betrachtet; die Bewegung der französischen Revolution und der Aufbau der geschichtlichen Erscheinungen (ökonomisch, politisch, ideologisch)". Schmückle skizzierte hierin die Entfesselung der Produktivkräfte in der bürgerlichen Gesellschaft, die Bewegung der Klassen in der französischen Revolution von 1789, die ersten Regungen proletarischer Kräfte, den reaktionären Imperialismus während des napoleonischen Kaiserreiches, das Verhältnis der französischen Bourgeoisie zum Staate Napoleons und der Bourbonen. Es ging in dem Kapitel um die historischen Voraussetzungen, aus denen das Werk der SaintSimon und Fourier zu verstehen ist. Im Nachwort zur Dissertation bemerkte Schmückle, daß er beabsichtige, in einem vierten Kapitel die konkreten Anschauungen Saint-Simons und Fouriers darzustellen, insbesondere die Klassenkampftheorie Saint-Simons, Fouriers Kritik der Zivilisation, woraus sich dann im einzelnen der utopistische Charakter ihrer Vorstellungen von den Assoziationen ergeben werde. Abzuschließen gedachte er mit einer Untersuchung über die praktischen Assoziationen am Beispiel Lyons. — Der Inhalt der Dissertation wurde hier etwas näher umschrieben, da die Arbeit, wie eine Reihe von Stichproben in der späteren einschlägigen Literatur ergab, nicht bekannt und ausgewertet worden ist.26 Infolge Inflation und Mittellosigkeit des Verfassers kam es nicht zur Drucklegung der Arbeit, die auch nicht in Austauschexemplaren an andere Bibliotheken geliefert werden konnte. Die Dissertation des Fünfimdzwanzigj ährigen war eine beachtliche Leistung. Breite Literaturkenntnis war die Grundlage für aufschlußreiche Vergleiche der Werke und Lehren der einzelnen Utopisten, für die Einordung der Literatur in die Übergangsepoche von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaftsformation. 28
Soweit ich bisher sehe, existiert nur ein bibliographischer Hinweis in: Deutsche Doktordissertationen über Themen der Marx-Engels-Forschung, in: Marx-EngelsArchiv, 2, Frankfurt a. M. 1927, S. 548 ff.
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Dazu verhalf dem Autor auch die genaue Kenntnis der damals veröffentlichten Schriften von Marx und Engels, die im Text fortlaufend herangezogen wurden.27 Theoretisches Verständnis und dialektisches Herangehen ermöglichten Schmückle die Bewältigung der sowohl philosophischen als auch ökonomischen Problematik. Dem Äußeren des erhalten gebliebenen Exemplars der Dissertation merkt man an, unter welchem Zeitdruck die Niederschrift fertiggestellt wurde.28 Die Kapitelüberschriften stehen erst am Ende, auf anderes Papier geschrieben, wurden vielleicht erst nachträglich auf Wunsch des Gutachters hinzugefügt. Auch dem Stil fehlt die Glättung; stellenweise ist der Text mit Begriffen überfrachtet, unnötig kompliziert und manchmal auch schwülstig.29 Die nötig gewordenen Kürzungen mögen dazu beigetragen haben, daß verschiedene Passagen thesenhaft bzw. unverbunden wirken. Inhaltlich bleiben ebenfalls einige Wünsche offen: Heute wird man bei der Kennzeichnung des Entstehungsprozesses der bürgerlichen Gesellschaft das Gegenwirken feudaler Kräfte und Ideologen stärker betonen, als es Schmückle tat. Manche Abschnitte verselbständigen sich mehr als nötig, insbesondere im dritten Kapitel. Die Kenntnis und Differenzierung der Klassenkräfte, speziell der Linken, in der Französischen Revolution von 1789 ist heute erheblich weiter fortgeschritten als noch beim Stand der damaligen Literatur und Forschung, doch gibt es bei Schmückle die eine und andere Vereinfachung. Diese und andere Fragen zum Inhalt sollen aber nicht die Originalität der Arbeit vergessen machen, die zahlreiche schöpferische Forschungsansätze und weiterführende Problemstellungen enthält. Das anerkannte auch der Erstgutachter Franz Gutmann, bürgerlicher Nationalökonom und ausgewiesener Fachmann für Geld-, Währungs- und Reparationsfragen. Politisch trat Gutmann in der Weimarer Republik kaum hervor.30 Es ist aber sicherlich sein Verdienst, daß die Dissertation überhaupt angenommen und durchgebracht wurde. Auffällig und wohl mit dem politischen Stimmungsund Kräfteverhältnis an der Jenaer Universität zu erklären ist, daß Gutmann in seinem Gutachten mit keinem Wort erwähnt, daß der Doktorand seine Arbeit von marxistischer Warte geschrieben habe. Es hieß in seinem Gutachten lediglich: „Hinsichtlich der allgemeinen Voraussetzungen, auf denen sich die groß angelegte Untersuchung erhebt, stehe ich zwar auf einem grundsätzlich anderen Boden als der Verfasser. Auch in manchen Einzelheiten und ihrer Formulierung bestehen grundsätzliche Divergenzen in Auffassung und Anschauung, über die eine Auseinandersetzung hier nicht möglich ist. Mit großer Achtung
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Auch Lenins „Staat und Revolution" wurde zitiert. Ferner wertete Schmückle neben der bürgerlichen Sekundärliteratur auch die Schriften marxistischer und sozialdemokratischer Autoren aus. Das Manuskript weist zahlreiche handschriftlich korrigierte, manchmal auch unkorrigiert gebliebene Tippfehler auf. Im Tübinger Stift urteilte man 1919/20: „Stil bald plastisch, bald geschraubt" (Archiv Ev. Stift Tüb.). Gutmann mußte Deutschland während der Nazizeit verlassen. Er emigrierte nach den USA. Korsch konnte als Privatdozent nicht Gutachter sein.
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anerkenne ich jedoch den streng wissenschaftlichen Ernst und die geistige Bedeutung der Arbeit. Der Verfasser ist mit großer Gelehrsamkeit zu den unmittelbaren Quellen vorgedrungen und hat sie f ü r seine Problemstellung durchaus selbständig durchforscht." 31 Die anderen Ordinarien der Philosophischen Fakultät haben der Arbeit, damals nicht unüblich, ohne weitere Kommentare durch Unterschrift zugestimmt, so vielleicht das Manuskript nicht einmal angesehen. Eine schwierige politische Klippe war damit f ü r den marxistischen Doktoranden umgangen. Ansonsten bestätigte Gutmann, daß der Verfasser die sozialen Utopien aus der literaturhistorischen Entwicklung und den ihr eigenen Tendenzen heraus betrachtet habe. Die Form sei fesselnd und anregend, die Gedankenführung „an sich durchaus zielbewußt und geradlinig". Kritisch angemerkt wurde aber, daß der Doktorand die Linie verschiedentlich schärfer hätte herausarbeiten können. „Die Originalität und der Wert der Leistung wird dadurch nicht beeinträchtigt. Das wäre auch nicht der Fall, wenn einige Zuspitzungen im Ausdruck vermieden und gewisse Einzeltatbestände einer weniger schematischen Auslegung unterworfen worden wären." In der mündlichen Prüfung am 25. Juli 1923 wurde Schmückle bei Gutmann in Theorie und Geschichte der Nationalökonomie, Finanzwissenschaft, Agrarund Gewerbepolitik, bei Gerhard Kessler in Sozialpolitik und in Geld-, Kredit-, Bank- und Devisenwesen, bei Otto Koellreuther in Staatsrecht und Staatslehre geprüft; Ergebnis „Gut", in zwei Fächern „zum Teil besser" bzw. „gut bis sehr gut". 32 Man promovierte ihn demzufolge mit dem Prädikat „magna cum laude" zum Doktor rerum politicarum. 33 Über die nächsten Lebensjahre Schmückles ist wenig zu erfahren gewesen.34 Offenbar war Schmückle zunächst für die KPD in verschiedenen Funktionen tätig. Nach Erinnerung von Margarete Mende-Hacks, die ihn noch von Wickersdorf her kannte 35 , tauchte Schmückle Anfang 1924, kurz nach Lenins Tod am 21. Januar, in Breslau auf. Er lebte illegal; die KPD war bis 28. Februar 1 1924 verboten, doch wurden auch danach viele Funktionäre weiter strafrechtlich verfolgt und mußten daher im Untergrund wirken. So achtete Schmückle darauf, als er die Wohnung der Familie Hacks aufsuchte, daß er nicht beobachtet wurde.36 Die Regeln der Konspiration befolgend, erzählte Schmückle sehr wenig von sich. Er war vorher offenbar einige Zeit im Ruhrgebiet tätig gewesen, jetzt wirkte er in Breslau als Redakteur oder vielleicht sogar als stellvertretender Chefredakteur der „Schlesischen Arbeiterzeitung". Ebenso unvermutet wie er 32 33 34
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UAJ, M, Nr. 581, Bl. 245b, dadiert v. 29. 6.1923. Ebenda, Bl. 245c, d. Ebenda, Bl. 246. Datum der Promotion ist der 25. 7.1923. Nach Auskunft von Dr. Wahl (UAJ) wurde Schmückle erst am 2. 4. 1924 aus der Matrikel ausgetragen, wahrscheinlich nachträglich durch die Universitätsverwaltung. Denn nach den folgenden bekannt gewordenen Fakten ist nicht anzunehmen, daß er im Wintersemester 1923/24 noch (oder nicht längere Zeit) Vorlesungen besucht hat. Vgl. Anm. 23. Der mit den Kommunisten sympathisierenden jungen Margarete Hacks riet Schmückle, ihre politischen Aktivitäten mit dem Einsatz in der „Roten Hilfe" zu beginnen.
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in Breslau eintraf, war er auch wieder aus der Stadt verschwunden, wahrscheinlich in eine andere Parteifunktion berufen. Ende 1924 setzte sich Schmückle in einem Artikel in der Zeitschrift „Die Internationale" nachdrücklich für eine baldige Übersetzung der bisher viel zu wenig bekannten philosophischen Arbeiten Lenins ins Deutsche ein, insbesondere des wegweisenden Werkes „Materialismus und Empiriokritizismus".37 Schmückle verwies nicht nur darauf, daß Lenin die materialistische Dialektik weiter ausgestaltet habe, sondern er wandte sich auch gegen die in der Partei noch vorhandene Unterschätzung philosophischer und theoretischer Problemstellungen. Die philosophischen Anschauungen des Leninismus seien notwendige Grundlage nicht nur für die kommunistische Theorie, sondern auch für die revolutionäre Praxis. Das Studium theoretisch-philosophischer Probleme vermittelte auch für den praktischen Klassenkampf das erforderliche Wissen, z. B. über den bürgerlichen Staat, über Parlamentarismus, Republik usw. Spätestens im Sommer 1926 weilte Schmückle bereits in der Sowjetunion. Nach eigenem Rückblick38 hielt er sich damals, offenbar zur Erholung, in Georgien auf, die sagenhafte Landschaft Kolchis und die subtropische Wildnis zwischen den Flüssen Rion und Ingur am Schwarzen Meer durchstreifend, die ersten sozialpolitischen Veränderungen in diesem ehemals feudalen rückständigen Land registrierend. Das 1921 gegründete Marx-Engels-Institut in Moskau begann in den ersten Jahren mit der großangelegten Sammlung des Marx-Engels-Nachlasses in Originalen und Fotokopien, mit der Marx-Engels-Forschung und der Zusammenstellung der dazugehörigen Bibliothek. Eine auf 42 Bände berechnete Marx-EngelsGesamtausgabe (MEGA, in den Originalsprachen der Texte) wurde vorbereitet. Auf Beschluß des V. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale von 1924 wurde die Herausgabe der Werke von Marx, Engels und Lenin forciert. Zu dem Mitarbeiterstab der MEGA stießen nach und nach auch verschiedene deutsche und österreichische Spezialisten.39 Der Kommunist und Parteifunktionär Schmückle dürfte von der KPD delegiert worden sein, zumal er für die Marx-Engels-Forschung durch seine akademische Ausbildung schon vorbereitet 37
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Schmückle, Karl, A. Deborin: Lenin, der kämpfende Materialist, Wien 1924, in: Die Internationale, 7,1924, 23/24, S. 719 ff. Ders., Kolchis, in: Internationale Literatur (im folg.: IL), 6,1936, 6, S. 141 ff. Vgl. Schiller, Franz, Das Marx-Engels-Institut in Moskau, in: Archiv für Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, 15, 1930, S. 416 ff.; die Berichte: Das Marx-Engels-Institut und die Marx-Engels-Gesamtausgabe, beide in: Marx-EngelsArchiv, 1, Frankfurt a. M. (1926), S. 448 ff., 461 fi.; Dlubeck, Rolf, Traditionen der Marx/Engels-Forschung in der DDR, in: Beiträge zur Geschichte der Marx/EngelsForschung und -Edition in der Sowjetunion und der DDR, Berlin 1978, S. 46 f. Hier S. 58 die Namen weiterer deutscher Spezialisten, bes. Horst und Golda Fröhlich, Walter und Gabriele Haenisch, Dr. Lothar Bolz; Huppert, Hugo, Wanduhr mit Vordergrund, Halle 1977, S. 256 ff.; Stern, Heinz/Wolf, Dieter, Das große Erbe. Eine historische Reportage um den literarischen Nachlaß von Karl Marx und Friedrich Engels, Berlin 1972, S. 80 ff.
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war. Schmückle arbeitete bis 1931 im Marx-Engels-Institut, das damals in einer „stillen Seitengasse unweit vom Moskauer Kreml" untergebracht war, „im vormals fürstlichen Dolgorukow'schen Palais", das durch Initiative des Direktors D. B. Rjazanov um zwei im gleichen Stil angebaute Seitenflügel erweitert worden war. 40 Hugo Huppert, der im Frühjahr 1928 ebenfalls Mitarbeiter der MEGA wurde, charakterisierte in seinen 1977 erschienenen Memoiren seinen Mitarbeiter-Genossen Karl Schmückle in lebendiger Weise: „Über große Texte gebeugt. — Beim MEGA-Trupp des Instituts, in dem ich überzeugt und gesammelt aufgehe, ist Deutsch die Umgangssprache. Die mühsame Arbeit bezieht sich auf Vorbereitung mehrerer MEGA-Bände gleichzeitig. Man sitzt in getrennten Räumen über große Texte gebeugt. Karl Schmückle, der schwäbische Heißsporn, groß und eckig, gern tüftelnd, disputierend, seine dicke Hornbrille putzend, ein begabter Essayist in streng intellektualistischem Stil, ein sogenannt schwieriger Schreiber und noch schwierigerer Mensch." Und an anderer Stelle sprach Huppert noch einmal von Schmückles „schwäbischer Selbstzuversicht und Arbeitswut", dessen Wahlspruch gewesen sei: „Hier wird nicht Skat geklopft, hier wird gestemmt, geknufft und geschuftet, daß der Kopf raucht!" 41 Was Schmückle in wenigen Jahren auf ganz verschiedenen Gebieten in immenser „Arbeitswut" geleistet hat, wird anschließend noch angedeutet. Aber auch, daß er ein „schwieriger Mensch" war, läßt sich aus anderen Zeugnissen ablesen, etwa in einigen unveröffentlichten Briefen zwischen Johannes R. Becher und Willi Bredel aus dem Jahre 193442, aus denen hervorgeht, daß Schmückle in den Diskussionen in seiner Arbeitsstelle und Parteiorganisation zuweilen sehr heftig und aufbrausend werden konnte. Er war alles andere als ein sich überall vorsichtig durchwindender „Taktiker". Mit Huppert hatte er sich überworfen43, und auch Bredel stand ihm, im Unterschied zu Becher, recht distanziert gegenüber. Trude Richter, die Lebensgefährtin Hans Günthers, erinnert sich, daß Schmückle und seine Frau zu Beginn der 30er Jahre weniger persönliche und familiäre Kontakte zu anderen deutschen emigrierten Kommunisten hatten als andere, die enger zusammenhielten. Schmückle habe wahrscheinlich keine engeren Freunde gehabt, und so kursierten über ihn auch keine Anekdoten, weder positive noch negative.44 Margarete Mende-Hacks, die Schmückle zwischen 1921 und 1924 kennenlernte, schilderte den einige Jahre Älteren als einen ganz ehrHuppert, Wanduhr, S. 198 f. Gemeint ist die Maly-Snamenski-Gasse, die heutige MarxEngels-Straße. In dem ehemaligen Fürstenpalais befindet sich jetzt das Marx-EngelsMuseum (Stern/Wolf, S. 82,102). « Huppert, Wanduhr, S. 256, 301. 42 Für Informationen hierüber habe ich der Abteilung Geschichte der sozialistischen Literatur bei der Akademie der Künste der DDR, Leipzig, zu danken. Die Auskünfte stützen sich auf Fotokopien aus dem Zentralen Parteiarchiv der KPdSU in Moskau. Prof. A. Klein und Dr. I. Hiebel bin ich auch für anderweitige Hinweise verbunden. 43 Huppert, Wanduhr, S. 256. 44 Gespräch d. Vf. mit Dr. Trude Richter v. 12. 4. 1979, der dafür herzlich gedankt sei. Vgl. auch Richter, Trude, Die Plakette. Vom großen und vom kleinen Werden, Halle 1972. 4U
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lichen, sehr kameradschaftlichen und unegoistischen, unbedingt der Sache, der kommunistischen Bewegung hingegebenen Menschen.45 Karl Schmückle lernte am Marx-Engels-Institut seine spätere Lebensgefährtin kennen 46 : Anne Bernfeld. Uber sie ist ebenfalls nicht viel bekannt. Anna Salomon, sechs Jahre älter als Schmückle, wurde am 1. Oktober 1892 in Hirschberg (Schlesien) geboren. Die Eltern waren der jüdische Arzt Sanitätsrat Dr. med. Max Salomon und Rose, geborene Hahn. 47 Zuerst besuchte Anna Salomon die Städtische Höhere Mädchenschule in Hirschberg, dann zusammen mit ihrer Schwester Elisabeth die schon erwähnte Freie Schulgemeinde in Wickersdorf von August 1907 bis April 1909, während ihr Bruder Fritz (geb. 1890) ihr schon seit Gründung im September 1906 angehörte. Der offenbar konservative Vater beschwerte sich 1909 und 1910 mehrfach über die reformpädagogische Ausrichtung der Internatsschule Wickersdorf. Dies war den Schulbehörden in Meiningen willkommene Unterstützung gegen den mißliebig gewordenen Schulleiter Dr. Wyneken und trug zu seiner ersten Entlassung im Jahre 1910 bei. Obwohl die Geschwister vom Vater aus der Schule genommen wurden, hielten sie zu Wickersdorf und zu Wyneken. 48 Schon über Wyneken und über Wickersdorf dürfte Anna Salomon von ihrem späteren ersten Mann Siegfried Bernfeld (1892—1953)49 gehört haben, der mit Wyneken ab 1912 die auf Reformpädagogik und Jugendbewegung orientierte Zeitschrift „Der Anfang" herausgab und f ü r Wynekens Zeitschrift „Die Freie Schulgemeinde" Beiträge schrieb. Der Siegmund-Freud-Anhänger suchte während der Weimarer Republik Psychoanalyse und Marxismus zu integrieren. Persönlich kennengelernt haben sich Bernfeld und Anna Salomon offenbar erst in Freiburg, wo Anna nach dem Abitur auf dem Realgymnasium in Breslau (1913) Medizin studierte, wahrscheinlich drei Semester lang; beide heirateten 1914 in Wien.50 Genaueres über den Studiengang ist nicht bekannt. Anna Bernfeld studierte von Mai 1915 bis Mai 1916 in 40 40 47
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Unterredung mit dem Vf. v. 5. 4.1980. Der Ehe mit Schmückle entstammte ein Sohn. Biographische Angaben über die Geschwister Salomon verdanke ich Frau MendeHacks und dem Direktor der EOS Wickersdorf Studienrat Barth, Brief v. 20. 5. 1980. Vgl. ferner den Lebenslauf in Salomon, Elisabeth, Die Papierindustrie des Riesengebirges in ihrer standortmäßigen Bedingtheit, Diss. Heidelberg 1920. Vgl. Kupffer, S. 59 f., 63. — Fritz Salomon besuchte als Student (der Philologie) noch Anfang der 20er Jahre wiederholt Wickersdorf. Frau Mende-Hacks war mit ihm befreundet. Während der Nazizeit mußte er emigrieren und starb später in den USA. Die Angabe Huppert, Wanduhr, S. 256, daß Siegfried Bernfeld ein wohlrenommierter Bibelübersetzer gewesen sei, ist unzutreffend. Vgl. zu Bernfeld: Werder, Lutz/Wolf Reinhard, Siegfried Bernfeld (1892-1953). Anmerkungen zum Werk, in: Bernfeld, Siegfrieg, Antiautoritäre Erziehung und Psychoanalyse, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1970, S. 270 ff.; Kupffer, S. 70 ff.; Braun, Karl-Heinz, Kritik des Freudo-Marxismus, Köln 1979, S. 141 ff. Nach Auskünften, die ich Prof. Dr. Ulrich Herrmann, Tübingen, verdanke, desgleichen über die weiteren Beziehungen von Anna und Siegfried Bernfeld. Bernfeld mußte als österreichischer Staatsbürger in Wien und mit Zustimmung seines Vaters heiraten, da man damals erst mit 24 Jahren als volljährig galt.
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Berlin Medizin51, danach war sie vom Sommersemester 1916 bis zum Wintersemester 1916/17 in Wien als ordentliche Hörerin an der Medizinischen Fakultät inskribiert (in ihrem 6. und 7. Studiensemester). Einige Jahre später, am 21. Dezember 1923, promovierte sie dann in Wien zum Doktor der Medizin.52 Anna Bernfeld wirkte als Ärztin, als Spitalärztin und 1919/20 an dem Kinderheim Baumgarten, das ihr Mann leitete. Ab 1920 lebte das Ehepaar einige Zeit in Heidelberg, wo Bernfeld als Redakteur die Zeitschrift „Der Jude" redigierte, die Martin Buber herausgab, dann übersiedelte man wieder nach Wien. Etwa 1925 ging die Ehe auseinander; die ihr entstammenden zwei Töchter kamen in ein Internat und emigrierten später nach den USA. Anna (später Anne) nahm daraufhin einen Forschungsauftrag in der Sowjetunion an und reiste 1926 nach Moskau. Dort fand sie, als sich das ursprüngliche Projekt zerschlug, Anstellung am Marx-Engels-Institut. Der Wickersdorfer Stefan-George-Kult hat vielleicht das Kennenlernen von Elisabeth Salomon (1893-1958) und Friedrich Gundolf (1880-1931) gefördert, dessen Lebensgefährtin sie seit 1916 und dessen Ehefrau sie seit 1926 war. 53 Karl Schmückle war also der Schwager von Friedrich Gundolf. In Schmückles bekanntgewordenen Veröffentlichungen findet sich aber keine Stellungnahme zu George oder zu Gundolf, deren weltanschaulich-politische Ansichten und deren literarische Ambitionen er zumindest später entschieden abgelehnt haben dürfte. Nach Hupperts Meinung war Anne Bernfeld ebenso wie Karl Schmückle „schwierig", aber hochgebildet und vor allem: „Was ihre Arbeitsleistung im Institut anlangt, konnte man sagen: gewissenhaft, mustergültig."54 Die erstmalige Erarbeitung der Marx-Engels-Gesamtausgabe erforderte bei dem Riesenwerk von Marx und Engels, seiner gewaltigen geistigen Dimension, aber auch rein technisch bei der einwandfreien Textherstellung (nicht zuletzt wegen der nur für wenige leserlichen Handschrift von Marx) einen ungeheuren Arbeitsaufwand. Schmückle war zugleich für mehrere Bände der MEGA tätig, wie die Vorbemerkungen des Herausgebers Rjazanov erweisen: in erster Linie für Band 1/1, der erstmals Marxsche Texte über Hegel und andere Erstveröffentlichungen aus der Frühzeit edierte, aber auch für den Anmerkungsteil zu diesem Band, für den kommentierenden Band 1/2 und vermutlich auch für Texte und Kommentare in Band III. Desgleichen war er bei der Textherstellung der Briefbände 1 und zumindest auch 3 beteiligt. Diese Bände erschienen in den Jahren 1927 01 52
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UAB, Matrikel. Nach freundlicher Mitteilung von Prof. Dr. Gall, Leiter des Universitätsarchivs Wien v. 18. 7. 1980. Danach handelte es sich lediglich um eine Nostrifikation des Berliner Doktordiploms. In Wien legte Anna Bernfeld (mit der Note: genügend) nur noch ihre Prüfung in Gerichtsmedizin ab. Nach Auskunft von Dr. Kossack, UAB, finden sich über den Promotionsvorgang keine Unterlagen. So war bisher auch das Thema der Dissertation nicht zu ermitteln. Vgl. Helbing, Lothar, Gundolf und Elli. Vorwort, in: Gundolf, Elisabeth, Stefan George. Zwei Vorträge, Amsterdam 19652, S. 5 fi. Huppert, Wanduhr, S. 256 f.
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bis 1932. Anne BernfeLd-Schmückle wurde als Mitarbeiterin besonders für den MEGA-Band 1/2 hervorgehoben.55 Für diese Arbeiten kam Schmückle die Beherrschung mehrerer Fremdsprachen besonders zugute, da die Texte von Marx und Engels mit Worten und Sätzen aus anderen Sprachen gespickt sind. Hatte Schmückle in seiner Dissertation schon die Werke der Utopisten in lateinischer, französischer und italienischer Sprache ausgewertet, so erlernte er später Russisch. Er wurde auch als (Mit)Ubersetzer vom Russischen ins Deutsche herangezogen, etwa für „Die Grundprobleme des Marxismus" von Plechanow, die 1929 in deutscher Sprache erschienen, sowie für Band 18 der „Sämtlichen Werke" Lenins, der ebenfalls 1929 herauskam.56 In der „Roten Fahne" veröffentlichte Schmückle nach dem Erscheinen des ersten Bandes der MEGA (1/1) eine Artikelserie.57 In der ersten Folge schilderte er recht anschaulich die großen Schwierigkeiten der Textaufbereitung und Kommentierung und erläuterte den Lesern die Bedeutung der historisch-kritischen Gesamtausgabe mit ihren umfangreichen Einleitungen und Kommentaren für die Marx-Engels-Forschung. In der zweiten Folge wies Schmückle darauf hin, welchen Wert die Neuveröffentlichungen oder die seit dem Erstdruck nicht wieder publizierten Schriften des jungen Marx (bis 1844) für die genaue Kenntnis der Entwicklung seines Denkens besitzen, für die Wendung von der klassisch-idealistischen zur modern-materialistischen Weltansicht, von der Partei' nähme für die bürgerlich-politische zur radikal-gesellschaftlichen Revolution. Des näheren wurde dies an der Marxschen Dissertation, den Artikeln aus der „Rheinischen Zeitung" und der „Kritik des Hegeischen Staatsrechts" demonstriert. Im letzten Teil der Artikelfolge zog Schmückle den Bogen von der Theorie zur revolutionären Praxis, zeigte auf, daß die Kenntnis der Marxschen Schriften nicht nur rein biographisches oder historisches Interesse besitze, sondern auch aktuell politisches, enthielten die frühen Schriften doch unschätzbares Material zum Studium der materialistischen Dialektik und ihrer Entwicklungsgeschichte. Ohne Aneignung der materialistischen Dialektik sei es nun einmal nicht möglich, im Tageskampf, im Klassenkampf die taktischen FraVgl. Marx, Karl/Engels, Friedrich, Historisch-kritische Gesamtausgabe. Im Auftrage des Marx-Engels-Instituts Moskau hrsg. v. D. Rjazanov, 1. Abteilung, Werke, Schriften, Bd. 1/1, Frankfurt a. M. 1927; Bd. 1/2, Berlin 1930; 3. Abteilung, Briefwechsel, Bd. 1, Berlin 1929; Bd. 3, Berlin 1930; 1. Abteilung, Bd. 3, im Auftr. des Marx-Engels-LeninInstituts hrsg. v. V. Adoratskij, Berlin 1932. w Plechanow, G., Die Grundprobleme des Marxismus, hrsg. v. D. Rjazanov. Autorisierte Ubersetzung aus dem Russischen von Karl Schmückle, Wien/Berlin 1929; Lenin, W. 1., Sämtliche Werke, Bd. 18. Einzige vom Lenin-Institut in Moskau autorisierte Ausgabe. Ubertragen unter der Redaktion von Karl Schmückle und Ignaz Sorger, Wien/Berlin 1929. *>' Schmückle, Karl, Der erste Band der Marx-Engels-Gesamtausgabe, in: Rote Fahne, Nr. 222, 21. 9.1927, Fortsetzung Nr. 228, 28. 9.1927, Nr. 236, 6.10.1927. Nachdruck (nach Angabe von Dlubek, S. 78): Schmückle, Karl, Pervyj tom mezdunarodnogo izdanija soöinenij Marksa i Engel'sä, in: Letopisi Marksizma, V, Moskau/Leningrad 1928, S. 119 ff. Eine weitere Rezension erschien in: Istorik-Marksist, 1927,6, S. 115 ff.
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gen und die komplizierten gesellschaftlichen Zusammenhänge ohne Fehler zu erfassen. Auf diese Weise versuchte Schmückle darzutun, welche Bedeutung der MEGA auf allen Gebieten der revolutionären Theorie und Praxis zukam. Daneben veröffentlichte Schmückle verschiedene Arbeiten zur Marx-Forschung.58 Die bemerkenswerteste ist die 1933 erschienene Studie über den jungen Marx und die bürgerliche Gesellschaft. 59 Sie gehört, wie neuerdings von Heinz Malorny hervorgehoben wurde 60 , zu den ersten bedeutsamen Bemühungen marxistisch-leninistischer Theoretiker um die Auswertung der nachgelassenen und teils neuentdeckten Schriften und deren Einordnung in den Entwicklungsgang des jungen Marx bis zum Jahre 1844. In dieser Studie wandte sich Schmückle einleitend gegen die bürgerlichen und sozialdemokratischen Autoren (Otto Bauer, Arthur Rosenberg, Siegfried Landauer, J. P. Meyer, Hendrik de Man), die anhand der neu edierten Frühschriften zwischen den Ansichten des jungen und des älteren Marx einen Bruch feststellten und den jungen Marx in entstellender Weise als den „eigentlichen" Marx f ü r ihre ideologischen Zwecke interpretierten und in Anspruch nahmen. Schmückle konstatierte, „daß man in unserer Zeit nicht mehr Marxist sein kann ohne Leninist zu sein". 61 Er betonte, auf breiter Kenntnis der Marxschen Werke fußend, daß die Entwicklung von Karl Marx zum Theoretiker des Sozialismus/Kommunismus die unmittelbare und folgerichtige Fortsetzung seiner früheren Entwicklungsphase war: Marx war stets Revolutionär, noch ehe er kommunistischer Revolutionär war. Dies sei mit aller Klarheit sichtbar geworden, seitdem eine ganze Anzahl der Frühschriften erstmals gedruckt wurde. Malorny wies darauf hin, daß Schmückle ein wesentliches Forschungsprinzip f ü r die Marx-Engels-Forschung formulierte und anwandte: „Diesen Gedanken Schmückles liegt die methodologisch bedeutsame Erkenntnis von Marx aus der .Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie' zugrunde, daß erst die vollentfalteten, höheren Entwicklungsstufen die Voraussetzung f ü r das richtige Verständnis der vorangegangenen niederen bilden, die Schmückle hier auf die 08
Ders., Karl Marks i Ljudvig Feierbach (1843—1844 gg.), in: Na boevam postu, Moskau 1930 (den Hinweis verdanke ich Prof. Dr. B. G. Weber); ders., „Hegel oder Marx?", Rezension zu Rudolf Haus' gleichnamigem Buch, in: Internationale Presse-Korrespondenz, 11, Nr. 96, 6. 10. 1931, S. 2179 f. (eine Kritik an den unzureichenden Einschätzungen Hegels und der flachen Darstellung der dialektischen Methode); ders., Marx und Engels über die Literatur, in: Deutsche Zentralzeitung (im folg.: DZZ), 8, Nr. 115, 21. 5.1933. «• Ders., Der junge Marx und die bürgerliche Gesellschaft, in: IL, 3, 1933, 2, S. 146 ff. Malorny, Heinz, Ein Dokument des Marxismus aus dem Jahre 1933, in: WZ Jena, 26, 1977, 5, S. 591 ff. Vgl. auch Schiller, Dieter, „ . . . von Grund auf anders". Programmatik der Literatur im antifaschistischen Kampf während der dreißiger Jahre, Berlin 1974, S. 203 f. 61 Schmückle, Der junge Marx, S. 156. Vgl. zu den bürgerlichen und sozialdemokratischen Marx-Interpretationen der 30er Jahre Dlubek, S. 56 ff.; Bauer, Ileana, Karl Marx' „Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie" — fünfzig Jahre nach der Erstveröffentlichung, in: Beiträge zur Geschichte der Marx/Engels-Forschung, S. 97 ff.
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Entwicklungsgeschichte des Marxismus selbst anwendet. In diesem Sinne stellt er zunächst in gedrängter Form die Grundgedanken der entfalteten Analyse der kapitalistischen Gesellschaft dar, wie sie Marx in seinen späteren ökonomischen Werken gegeben hat."62 Dieses Vorgehen war sicherlich auch darauf berechnet, dem Leserkreis der „Internationalen Literatur" die Einordnung der Entwicklungsetappen des jungen Marx zu erleichtern. Schmückle charakterisierte eindringlich, mit welcher Gedankenkühnheit und -schärfe Marx und Engels das Phänomen der bürgerlichen Gesellschaft wissenschaftlich enträtselten, ihre Triebkräfte und Entwicklungsbedingungen enthüllten, zugleich aber die Theorie zum Leitfaden für die revolutionäre Praxis machten, die Erkenntnisse der materialistischen Dialektik auf die Erkenntnis der revolutionären Prozesse in Gesellschaft und Geschichte anwandten. Sodann gab Schmückle einen Überblick über die schrittweise geistige und theoretische Entwicklung des jungen Marx vom Hegelianer zum revolutionären Marxisten, im einzelnen belegt durch die Herausbildung der materialistischen Dialektik, die radikal-demokratische Staatsauffassung, das allmähliche Vordringen zu der Bedeutung der ökonomischen Basis für die Entwicklung von Staat und Gesellschaft, die Ausarbeitung einer materialistischen Gesellschaftskonzeption und die Erkenntnis von der weltgeschichtlichen Rolle der Arbeiterklasse. Schmückle zeigte, wie sich diese Auffassungen in steter Auseinandersetzung mit der klassischen deutschen Philosophie, dem französischen utopischen Sozialismus und der bürgerlichen Nationalökonomie herausbildeten. Von der Kritik der Religion und der bürgerlichen Philosophie stieß Marx nach und nach vor zur Kritik des Rechts, der Politik und des Staates, der politischen Ökonomie. Eine besondere Leistung Schmückles war die Analyse des Werdens der Marxschen Staats- und Gesellschaftskonzeption bis Mitte der 40er Jahre, die Uberwindung der um den Staat zentrierten Konzeption und die Erkenntnis der gesellschaftlichen Triebkräfte des historischen Prozesses, des Primats der Gesellschaft in dem dialektischen Verhältnis von Staat und Gesellschaft. Schon vorher hatte Schmückle die Thematik seiner Dissertation wieder aufgegriffen und erweitert. Außer einem Aufsatz über die Staatslehren von Thomas Hobbes63 verfaßte er einen Rezensionsartikel, in dem er sich mit den klassischen bürgerlichen Staats- und Gesellschaftstheorien von Machiavelli bis Hegel beschäftigte.64 Entstanden als Auseinandersetzung mit einem Buch des Sozialdemokraten und Neokantianers Karl Vorländer, verfolgte Schmückle in der Studie die Konzeptionen des bürgerlichen Staatsdenkens vom abstrakt-programmatischen bis zum genetischen Geschichtsdenken, die Ursachen für das
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Malomy, S. 592. Schmückle, Karl, Ucenia Tomesa Gobbsa o gosudarstve, in: Archiv K. Marksa i F. Engel'sa, 5, Moskau 1930, S. 5 ff.; vgl. ferner ders., [Rez. zu] Pflug, Hans, Die Entstehung des Sozialismus in Deutschland und die französische Revolution, Diss., Marburg 1924, in: Marx-Engels-Archiv, 2, Frankfurt a. M. 1927, S. 598 ff. Ders., Zur Geschichte der politischen Theorien. [Rez. zu:] Karl Vorländer, Von Machiavelli bis Lenin. Neuzeitliche Staats- und Gesellschaftstheorien, Leipzig 1926, in: Marx-Engels-Archiv, Bd. 2, S. 518 f.
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idealistische Staatsdenken und für seine schrittweise realere, empirische Fundierung aufzeigend, die schließlich zur Erkenntnis sozialer Klassen führte. Obwohl von Schmückle manches nur skizzenhaft angedeutet werden konnte, läßt dieser Artikel ebenso wie der über den jungen Marx eine enorme Vertrautheit mit den bürgerlichen Staats- und Gesellschaftslehren vom 17. bis zum 19. Jh. erkennen. Weitere Aktivitäten liefen nebenher: Als 1930 die Forschungsgruppe zum Studium der deutschen Sozialdemokratie am Institut für Geschichte der Kommunistischen Akademie in Moskau eine Tagung durchführte, beteiligte sich Schmückle mit einem Diskussionsbeitrag zur ideologischen Haltung der gegenwärtigen deutschen Sozialdemokratie.65 Neben seinen philosophischen, ökonomischen und staatstheoretischen Studien betrieb Schmückle auch intensiv historische. Die Beschäftigung mit bürgerlichen deutschen Geschichtsauffassungen setzte ihn in den Stand, 1929 mit der eingangs erwähnten Kritik des idealistischen deutschen Historismus hervorzutreten.66 Auseinandersetzungen mit der bürgerlichen deutschen Geschichtsschreibung waren in der deutschen Sozialdemokratie vor 1914 und in der KPD ein wichtiger Bestandteil bei der Erarbeitung eines revolutionären Geschichtsbildes und der Verbreitung eines revolutionären Geschichtsbewußtseins. Den Höhepunkt bildete wohl Franz Mehrings ebenso glänzend geschriebene wie wissenschaftlich fundierte „Lessinglegende", die sich nicht auf Polemik beschränkte, sondern darüber hinaus mit einer tiefgründigen Analyse der preußischen Geschichte und des Preußentums, mit einem eigenen revolutionären Geschichtsbild aufwarten konnte. Vergleichsweise selten blieb aber die Beschäftigung mit der bürgerlichen Geschichtstheorie und -methodologie. Auch hier ist u. a. wieder Mehring zu nennen, etwa mit seinen Stellungnahmen zu Karl Lamprecht oder Karl Barth, mit seiner Entgegensetzung des Historischen Materialismus zu Grundgedanken des bürgerlich-idealistischen Geschichtsdenkens. Für eine vertiefte Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Geschichtsideologie, insbesondere auch mit den neuen Tendenzen, die sich seit dem Epochenjahr 1917 und der Novemberrevolution 1918 abzuzeichnen begannen, war eine intensive Analyse der theoretischen ui>d methodologischen Grundlagen der bürgerlichen deutschen Geschichtsschreibung unumgänglich. Hierbei nahm der idealistische Historismus eine zentrale Stelle ein.67 Bis auf gelegentliche, beiläufige Äußerungen Rosa Luxemburgs über den „Vulgärhistorismus" (1900/01) und Lenins (1914)68 gab es im marxistischen Geschichtsdenken hierzu noch keine Vgl. Behrendt, Lutz-Dieter, Die internationalistische Hilfe der sowjetischen Geschichtswissenschaft bei der Formierung des marxistischen Geschichtsdenkens im Ausland, in: Die Große Sozialistische Oktoberrevolution und der revolutionäre Weltprozeß, Bd. 6, Berlin 1978, S. 145; Dunaevskij, V. A., Sovetskaja istoriografija novoj istorii stran Zapada 1917-1949 gg., Moskau 1974, S. 179 f. BB Vgl. Anm. 4. B/ Vgl. Schleier, Hans, DDR-Forschungen über die Geschichte der bürgerlichen Geschichtswissenschaft, in: BzG, 21,1979, 3, S. 366 f.
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näheren Überlegungen. So bildete Schmückles Studie die erste ausführlichere und kritische Darlegung. Sie ist einzuordnen in eine Reihe theoretischer Studien und Analysen, die während der Jahre der Weimarer Republik von Marxisten-Leninisten zu den verschiedensten weltanschaulich-theoretischen Themen geschrieben wurden. Auf diesen Zusammenhang und speziell die Bedeutung der Arbeit Schmückles hat bereits Klaus Kinner hingewiesen.69 Angesichts fehlender Vorarbeiten zu seinem Thema beschränkte sich Schmückle darauf, einige der wichtigsten ideellen und politischen Voraussetzungen des Historismus zu untersuchen, ohne schon eine Geschichte dieser „historischen Weltanschauung" geben zu können (S. 281).70 Beginnend mit einem Uberblick über aktuelle ideologische und theoretische Tendenzen des modernen bürgerlichen Geschichtsdenkens der 20er Jahre kennzeichnete Schmückle im ersten Teil des Artikels die Krise des Historismus und des bürgerlichen Geschichtsdenkens. Damit verbunden war ein Überblick über die Entwicklungsphasen des bürgerlich-idealistischen Historismus in Deutschland. Der zweite Teil des Aufsatzes behandelte wichtige Elemente der Geschichtsauffassung Rankes. Dabei war es notwendig, dem Leserkreis der Zeitschrift erst einmal die wichtigsten Grundzüge der bürgerlichen deutschen Geschichtsauffassungen nahezubringen. Diesem Artikel, der den Untertitel „Ranke und das Legitimitätsprinzip" trägt, sollte in der nächsten Nummer ein zweiter folgen über Friedrich Meinecke und sein Buch „Die Idee der Staatsräson", ist aber augenscheinlich nicht erschienen. Dies erschwert das Urteil über manche Ausführungen Schmückles, da nicht klar ist, ob sie eventuell in dem Folgeartikel noch einmal ergänzt, differenziert oder verschiedene Begriffe genauer definiert werden sollten. Es ist interessant zu beobachten, mit welchen zeitgenössischen bürgerlichen Autoren sich Schmückle intensiver beschäftigte: Es waren insbesondere die Schriften von Friedrich Meinecke und Ernst Troeltsch, politisch also Vertreter der flexibleren, rechtsliberalen Strömung, die in diesen Jahren den idealistischen Historismus geschichtstheoretisch weiter ausbauten und an seinen politischideologischen Komponenten wichtige Akzentverlagerungen vornahmen, auch wenn letztere von der Mehrheit der weiterhin konservativen imperialistischen Historiker nicht geteilt wurden. Des weiteren bezog Schmückle verschiedene Arbeiten sozialdemokratischer oder der SPD nahestehender, sich teilweise als „Marxisten" ausgebender Autoren anderer Fachdisziplinen (Ferdinand Tönnies, Franz Rosenzweig, Karl Vorländer) ein. Dagegen erwähnte Schmückle die geschichtstheoretischen Schriften der konservativen Zeitgenossen Below, Borries, Rachfahl, Rothacker oder Wahl, die nur traditionelle reaktionäre Positionen verfestigten oder fortführten, abgesehen, von Moriz Ritter nicht im einzelnen. Aus der Ferne, aus Moskau, besaß Schmückle die Fähigkeit, anhand einiger 08
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Vgl. Herzberg, Guntolf, Historismus: Wort, Begriff, Problem und die philosophische Begründung durch Wilhelm Dilthey, in diesem Band. Kinner, Klaus, Aufklärung und Klassik im Geschichtsdenken der deutschen Kommunisten in den Jahren der Weimarer Republik, in: JbG, Bd. 19,1979, 382 ff. Seitenangaben im Text beziehen sich auf Schmückles Aufsatz, vgl. Anm. 4. :.
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Standardwerke und darüber hinaus in breiter Literaturkenntnis die wesentlichen neuen Tendenzen des bürgerlichen Geschichtsdenkens der imperialistischen Epoche zu erfassen und sie mit den vorangegangenen Epochen der bürgerlichen Geschichtsschreibung zu vergleichen. Dabei kamen ihm sicher die ausgedehnten Studien auf philosophischem, ökonomischem und staatstheoretischem Felde und die damit verbundene Kenntnis der bürgerlichen Theorie- und Ideologieentwicklung zugute. Die wichtigsten Ergebnisse von Schmückles Historismuskritik lassen sich vielleicht in den folgenden sechs Gesichtspunkten zusammenfassen: Zum einen versuchte Schmückle erstmals und mit Erfolg eine Periodisierung des deutschen Historismus. Im Unterschied zu der bürgerlichen Wissenschaftsgeschichte, die gewöhnlich historisches Denken von der Aufklärung bis zur klassischen Philosophie einerseits und idealistischen Historismus (seit Historischer Schule und Ranke) andererseits als unvereinbare Gegensätze gegenüberstellte und die aufklärerische Geschichtsschreibung bis auf einige aus ihr willkürlich herausgetrennte Vertreter (insbesondere Herder und Goethe) gewissermaßen in den Vorhof der Wissenschaft verwies, die klassische Philosophie wegen ihrer abstrakten, angeblich unhistorischen Geschichtsphilosophie ablehnte, begann f ü r Schmückle die Entwicklungsgeschichte des deutschen Historismus Ende des 18. Jh.: „Die klassische deutsche Philosophie begründet — innerhalb ihrer eigentümlichen Schranken — die historische Denkweise . . . Das letzte und höchste Produkt der klassischen Philosophie ist die genetisch-historische Anschauung, die idealistische Dialektik" (S. 281). Im Zeitalter des aufstrebenden Bürgertums konnten also wichtige Grundelemente einer historischen Theorie und Methode in bedeutsamen Ansätzen entwickelt werden. 71 In einer zweiten Periode, die Schmückle von 1830 bis 1848/49 datierte, traten sich „die radikalen Ideologen Hegelscher Schule einerseits, die Vertreter der .Historischen Rechtsschule', der politischen Romantik', des Rankeschen Historismus usw. aufs schärfste ideell-politisch gegenüber" (ebenda). In tiefer Revolutionsfeindschaft und in der von der Restaurationsideologie geprägten Absage an die klassischen Geschichtstheorien wurden in diesen Jahrzehnten die wesentlichen Elemente des weiteren bürgerlich-historischen Denkens herausgebildet. Die entscheidende Trennlinie der beiden feindlichen Lager lag f ü r Schmückle darin, daß die Kritik an den abstrakten naturrechtlichen Anschauungen von links oder von rechts, progressiv oder reaktionär vollzogen werden konnte. Ob Schmückle im geplanten zweiten Aufsatz eine genauere Definition des Historismuisbegriffes geben wollte, wissen wir nicht. Doch so viel erscheint in dem uns vorliegenden Text in Umrissen: Der idealistische Historismus verliert in dieser Periode an theoretischer Substanz, wird theoretisch-methodologisch vereinseitigt und ideologisch reaktionär. „Indem die moderne deutsche Geschichtsschreibung ihre grundlegenden Kategorien aus dem Historismus Rankes (und der .historischen Schule') übernimmt, übernimmt und konserviert n
Vgl. Streisand, Joachim, Geschichtliches Denken von der deutschen Frühaufklärung bis zur Klassik, Berlin 1964.
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sie zugleich die prinzipiell-reaktionäre Fassung dieser Kategorien" (S. 297). Gegen diese Grundelemente, angefangen von Adam Müller und Ranke bis auf die Zeitgenossen Meinecke, Troeltsch & Co., richtete sich die Kritik Schmückles, auf sie wird der Historismusbegriff in den folgenden Erörterungen ausschließlich bezogen und begrenzt. Die Entwicklung der materialistischen Dialektik aus der idealistischen, also, können wir hinzufügen und erweitern, des materialistischen Historismus, klammerte Schmückle ausdrücklich aus seinen Betrachtungen aus.72 Die dritte, 1848/49 beginnende Periode kennzeichnete er mit den bekannten Worten von Friedrich Engels als die Absage der bürgerlichen Ideologen an die Theorie und den alten theoretisch-rücksichtslosen Geist (S. 282). Als Folge ergab sich nach Schmückle die Hinwendung der Historie auf die „rein empirische" Forschung, die Abwendung von dem großen weltgeschichtlichen Blickfeld und die Zerschlagung der Geschichte in Fachwissenschaften verschiedener Gebiete und Zeiträume, die vordergründige Orientierung auf politisch-diplomatischmilitärische Geschichte. „Die Prinzipien dieser Geschichtsschreibung reduzierten sich im wesentlichen auf die normalen Vorstellungen des konservativen oder des .national-liberalen' Bourgeois" (ebenda). Eine vierte Periode der Historismus-Entwicklung begann nach Schmückle seit der Jahrhundertwende, charakterisiert durch eine erneute Hinwendung zu einer philosophischen Betrachtung der Geschichte, der Staaten, der modernen Kultur. Die auch von den weitsichtigen bürgerlichen Wissenschaftlern zugegebene Krise des Geschichtsdenkens war die Krise der Zivilisation, d. h. der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, ausgelöst durch die dynamische Entwicklung der revolutionären Arbeiterbewegung und des Marxismus. „Neue scharfe Stacheln" für das bourgeoise Krisenbewußtsein schufen, wie Schmückle hinzufügte, die revolutionären Ereignisse der Jahre 1917 und 1918 (S. 283). Ziel der bürgerlichen Geschichtsschreibung wurde es mehr und mehr, dem Proletariat eine einheitliche, historisch begründete Weltanschauung entgegenzusetzen. Dazu dienten u. a. auch offiziöse Renaissancen der klassischen Philosophie, etwa die Bekämpfung von Marx mit dem wiederentdedkten Hegel. Weiter vermerkte Schmückle, daß neben diesen Bestrebungen, gewissermaßen im „hohepriesterlichen Gewände", auch die Begleiter „im Hausrocke" nicht übersehen werden dürften, die „mit harmlos trockener und genügsamer Miene" durch „die Gefilde der gesellschaftlichen Geschichte" zögen, „ohne wesentlich mehr darin zu entdecken als den ewigen Abklatsch durchschnittlicher Bourgeoisvorstellungen in einem Haufen von lauter .einmaligen* Tatsachen" (S. 285). Schmückle verwies mit Troeltsch auf die widersprüchliche Erscheinung, daß neben der tiefen Krise in den allgemeinen philosophischen Grundlagen und Elementen des historischen Denkens in der Fachhistorie die empirische Forschung ri
Im Unterschied zu Herzberg, S. 259 ff. bin ich der Meinung, daß man zwischen einem marxistischen und idealistischen Historismus unterscheiden sollte. Und wie Schmückle andeutete, sollte man auch die fortschrittlichen Elemente des bürgerlichen Geschichtsdenkens bis zu Hegel als Entstehungsprozeß des idealistischen Historismus einbeziehen und als eine der Quellen des Historischen Materialismus begreifen.
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emsig weitergetrieben wurde (S. 284), sich ausbreitend und in den Forschungs*techniken noch verfeinernd. Beide, der Hohepriester und der biedere Gelehrte im Hausrock, agierten jedoch auf dem gleichen Schauplatz, auch wenn „Miene und Habitus zuweilen noch so heftig kontrastieren" (S. 285). Zweiter Gesichtspunkt: Ein wesentliches Element der idealistischen Historismus-Konzeption, das von Schmückle erstmals zusammenfassend skizziert wurde, ist die zentrale Rolle, die der Staatsgedanke in den bürgerlichen deutschen Geschichtsauffassungen seit Anfang des 19. Jh. spielte. 73 Schmückle, der in seinen staatstheoretischen Untersuchungen wie in seinen Hegel- und Marxforschungen das allmählich gewachsene Verständnis f ü r die letzten Endes primäre Rolle der Gesellschaft in dem Wechselverhältnis von Staat und Gesellschaft verfolgt hatte, wies nicht nur auf den erneuten theoretischen Rückschritt hin, der in der Rankeschen Konzeption begründet lag, sondern auch auf die politisch-ideologischen Ursachen, die die bürgerlichen Ideologen und Gelehrten sowohl im Restaurationszeitalter des 19. Jh. als auch nach der Oktober- und Novemberrevolution mit der Staatsomnipotenz verfolgten. Bestand in der ersten Hälfte des 19. Jh. das Ziel in der Apologie dynastischer und halbfeudaler Mächte, so nach 1917/18 ungeachtet der neuen Weimarer Staatsform in der Konservierung des alten Staatsinhalts. Deshalb sprach Schmückle von einem modernen Legitimitätsprinzip (S. 288). Sehr scharfsichtig erkannte er, daß nach 1917/18 das auffallende Interesse an den Ideologen der Restaurationsepoche und des sogenannten klassisch-idealistischen Zeitalters politisch-ideologisch wie wissenschaftsgeschichtlich kein Zufall war. Heute wird man allerdings stärker, als es noch Schmückle tat — sicherlich in Anlehnung an marxistische Autoren wie Franz Mehring —, zwischen den Geschichtsideologen der Restaurationsepoche, den Vertretern der Historischen Schule (Romantik), differenzieren, die nicht allesamt schlechterdings feudaljunkerliche Apologie betrieben, sondern teilweise — trotz paralleler Abneigung gegen jede revolutionäre demokratisch-plebejische Bewegung — f ü r ein begrenztes Fortschreiten zur bürgerlichen Gesellschaft eintraten oder es zumindest guthießen, wenn auch unter der eindeutigen Suprematie der Fürsten und des Adels. Das gilt auch für Ranke und dessen freilich sehr zahme Verbürgerlichungskonzeption, die im großen und ganzen hinter den historischen Notwendigkeiten der Zeit hinterherhinkte — in den 20er und 30er Jahren ebenso wie während der Revolution 1848/49 oder in der Reichsgründungszeit. 74 Schmückles Kritik der Rankeschen Staatsauffassung charakterisierte zugleich wichtige Elemente und Einseitigkeiten des idealistischen Historismus, u. a., daß rs
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Vgl. Schleier, Hans, Zur Auswirkung der Reichsgründung auf historisch-politische und methodologische Konzeptionen der bürgerlichen deutschen Geschichtsschreibung bis 1914, in: Die großpreußisch-militaristische Reichsgründung 1871. Voraussetzungen und Folgen, hrsg. v. Horst Bartel/Ernst Engelberg, Bd. 2, Berlin 1971, S. 517 ff. Vgl. Schilfert, Gerhard, Leopold von Ranke, in: Studien über die deutsche Geschichtswissenschaft, hrsg. v. J. Streisand, Bd. 1, Berlin 1963, S. 241 ff., bes. S. 248 ff.; Iggers, Georg/Moltke, Konrad v., Introduction, in: The Theory and Practice of History. Leopold von Ranke, Indianapolis/New York 1973, S. XXVIII ff.
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der Staat von Ranke als die primäre Totalität des gesellschaftlichen Daseins gesehen und demzufolge zum Zentrum der Geschichtsschreibung gemacht wurde. Nach dem von fortschrittlichen bürgerlichen Autoren schon erreichten Stand der Erkenntnis der Rolle der Gesellschaft und der sozialen Klassen fiel man wieder zurück in die vordergründig politische Geschichte, den sogenannten Primat der Außenpolitik, d. h. ohne die ökonomischen und sozialen Strukturen und ohne die Triebkräfte der Geschichte zureichend zu berücksichtigen. Weiter ließ Schmückle die irrationalistischen Tendenzen in der Geschichtsschreibung Rankes anklingen. Ranke zufolge waren die Staaten von nebulösen Ideen getragen, deren innerste göttliche Wesenheiten von dem Historiker nicht zu enthüllen waren. Irrationalistisch war auch Rankes Gleichsetzung von Natur- und Staatsnotwendigkeit, der sich das einzelne Individuum unterzuordnen hatte. Schmückle verwies auch auf den politischen Hintersinn der Idee der Staatsnotwendigkeit, verklärte diese doch die reaktionäre Staatsform als natürliche Lebensform, als historisch gewachsenen Organismus, als natürliche Legitimität. Der Staat als Obrigkeitsstaat preußischer Observanz, der Bürger als Untertan — diese Leitsätze bildeten feste Bestandteile der Staatskonzeption Rankes und, in seinem Gefolge, des idealistischen Historismus bis hin zur (wenn auch liberaler gefärbten) Staatsräson Meineckes. Nur angedeutet wurde von Schmückle in diesem, vornehmlich auf die weltanschaulichen Aspekte gerichteten Zusammenhang, daß Ranke in irrationalistischer Weise die Staaten als überindividuelle Individualitäten subjektivierte, in ein Abstraktum verwandelte, das die sozialökonomische Basis der Staatsentwicklung, die Dynamik der Staatenwelt verhüllte. Drittens machte Schmückle auf einen außerordentlich wichtigen Zug der bürgerlichen deutschen Geschichtskonzeption des 19. Jh. aufmerksam: „Die Gesellschaft als Gesellschaft löst sich bei Ranke in dem romantischen Nebel einer natürlichen' Gliederung usw. auf, sie erscheint sofort und unmittelbar als Nation." Einerseits habe Ranke den Staat als eine Modifikation des nationalen Daseins abstrahiert, andererseits und im Widerspruch dazu das Prinzip des Staates als die bestimmende Modifikation angesehen. Widersprüche dieser und ähnlicher Art habe Ranke schließlich im trüben Dunst der beherrschenden Ideen aufgehoben (S. 293). So wurde, kann man hinzufügen, die Nation von zahlreichen bürgerlichen deutschen Historikern als eine von der sozialen Struktur entleerte Totalität betrachtet, zur Staatsnation verklärt bzw. nationales Interesse und (klassenbedingte) Staatsräson ineinander verwoben. Viertens beobachtete Schmückle, wie Ranke von der bürgerlichen deutschen Historiographiegeschichte der Weimarer Republik zum Begründer des (idealistischen) Historismus erhoben wurde, ja zum großen Geschichtsphilosophen und Klassiker (S. 288 f.).75 Schmückle verwahrte sich jedoch entschieden dagegen, daß der „halb pfäffische und ganz reaktionäre Historiker Ranke" einem 75
Vgl. Schleier, Hans, Geschichtsschreibung Weimarer Republik, S. 228 ff., auch zum folgenden.
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Hegel, „immerhin dem eigentlich historisch-politischen Genius", als ebenbürtiger Geist zur Seite gestellt würde (S. 289). Dieses Urteil bezog sich sowohl auf den Vergleich von Hegels und Rankes Leistungen f ü r die Theorie der Geschichte als auch auf ihre soziale und politische Position in der Übergangsepoche vom Feudalismus zum Kapitalismus. Doch Ende der 20er Jahre, als Schmückles Artikel erschien, wurde es bei den Georg v. Below, Friedrich Meinecke, Hermann Oncken, Erich Rothacker, Franz Schnabel u n d jüngeren Historikern wie K u r t Masur oder Ernst Simon darüber hinaus Mode, Hegel wegen seiner spekulativen Geschichtsphilosophie als überholt abzutun und Ranke als den tieferen Geschichtsdenker auszugeben. Deshalb fand auch die Hegel-Renaissance bürgerlicher Philosophen bei den deutschen Fachhistorikern weniger Anklang, als Schmückle empfand, der sich wohl zu sehr auf Troeltsch stützte, der aber gerade wegen seiner Hervorhebung der Hegeischen Dialektik getadelt wurde. Fünftens: Schmückle setzte sich mit dem Objektivitätsideal der bürgerlichen deutschen Geschichtsschreibung seit Ranke auseinander und zeigte auf, wie eng die führenden bürgerlichen Historiker trotz dieser immer wieder beschworenen Formel mit den Interessen der herrseihenden Klassen verbunden w a r e n und in deren Sinne sozial-parteilich urteilten. Zu diesen mehr beiläufigen Bemerkungen Schmückles bleibt jedoch zu ergänzen, daß es in dieser Frage im idealistischen deutschen Historismus immer zwei Richtungen gegeben hat. Ranke und seinen Nachfolgern standen seit Droysen, Sybel und Treitschke bis hin zu Dietrich Schäfer und Below in der Weimarer Republik ebenso f ü h r e n d e Historiker entgegen, die offen die politischen Aufgaben der Geschichtsschreibung und die Notwendigkeit historisch-politischer Stellungnahmen bekannten. Sechstens: Die neuen Momente, die Schmückle f ü r die Krise des bürgerlichen deutschen Geschichtsdenkens seit Ende des 19. Jh. herausstellte und in dieser Form erstmals im Zusammenhang beurteilte, wurden schon genannt. Hier sei dazu n u r ein Gesichtspunkt hervorgehoben, der die bürgerlichen Universalgeschichtskonzeptionen betrifft. Auf die Absage an die weltgeschichtliche Sicht der klassischen deutschen Philosophie folgte bei der Mehrheit der Fachhistoriker ein ebenso emsiger wie theoretisch und räumlich-zeitlich beschränkter Empirismus. Die noch bei Ranke vorherrschende religiös gebundene Selbstgewißheit, weltanschauliche Grundlage seiner Weltgeschichtsschreibung, die im übrigen in ihrer räumlichen europäisch-orientalischen Beschränkung schon ein Torso blieb, ging im allgemeinen in der Übergangsepoche zum Imperialismus verloren. Schmückle wies darauf hin, daß die bürgerlichen Geschichtsdenker sich trotzdem gezwungen sahen, dem Marxismus eine historisch begründete Weltsicht gegenüberzustellen, sich erneut intensiver Universalgeschichtskonzeptionen und -darstellungen zuzuwenden, ohne in ihrem Subjektivismus und Eklektizismus hierfür zu adäquaten Theorien zu finden. Auf beschränktem Raum und vor dem Leserkreis der Zeitschrift w a r Schmückle natürlich nicht in der Lage, alle wichtigen mit der Historisrfiuskonzeption verbundenen Probleme zu berühren, geschweige denn zu analysieren, zumal, wie gesagt, marxistische Vorarbeiten gänzlich fehlten, mit dem Historismus aber weltanschauliche, erkenntnistheoretische, theoretisch-methodologische u n d histo-
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risch-politische Probleme vom Beginn des 19. Jh. bis in die Jahre der Weimarer Republik zu erörtern waren. Es leuchtet ein, daß Schmückle daher die besonders komplizierten erkenntnistheoretischen und methodologischen Voraussetzungen der idealistischen Historismuskonzeption nicht darstellen konnte. Daß sie ihm aber nicht fremd waren, geht aus verschiedenen Andeutungen hervor. Dafür kann als Beweis auch eine Rezension erwähnt werden, in der er sich beiläufig, aber treffend zu dem Verhältnis von historischer Individualität und Allgemeinem, zu Historischem und Logischem in historischer Erkenntnis, Theorie und Methode, zu der Frage von Konstruktion und Rekonstruktion äußerte, sich hierbei auf Ranke und Sybel einerseits, auf Marx und Engels andererseits bezog.76 Eine genauere Definition des Historismus versuchte Schmückle nicht, zumindest nicht in dem uns allein vorliegenden ersten Artikel. Doch gibt es darüber noch heute, fünfzig Jahre später, die verschiedensten Auslegungen und keine umfassende theoretisch-methodologische und wissenschaftsgeschichtliche Darstellung, weder in der marxistischen deutschen77 noch in der bürgerlichen Literatur.78 Nur sehr am Rande deutete Schmückle auch an, daß Ende des 19. Jh. die weltanschauliche, erkenntnistheoretische und methodologische Begründung des idealistischen Historismus gewissermaßen erst nachgeliefert wurde, daß ferner die Krise des bürgerlichen Geschichtsdenkens verstärkt zu „metaphysischem, skeptisch-mystischem, philosophischem Räsonnieren" (S. 283), kurz: zum Ausbau irrationalistischer Lehren antrieb. Wieweit Schmückle darauf in dem geplanten zweiten Teil noch eingehen wollte, muß ebenso offenbleiben wie die Frage, ob er darin die konterrevolutionären Pseudotheorien über Staat, Gesellschaft und Arbeiterbewegung behandeln wollte, die seit Beginn der 20er Jahre von aggressiv-konservativen und völkischen Geschichtsideologen auf der Basis des offenen Irrationalismus zunehmend verbreitet und von ihm im ersten Teil in Gestalt der reaktionären Ständestaatstheorie eines Othmar Spann nur nebenbei gestreift wurden. Möglicherweise erst im Meinecke-Abschnitt wäre Schmückle darauf eingegangen, daß während der Jahre der Weimarer Republik in der Tradition des idealistischen Historismus auch eine anhaltende Antipathie, ja zuweilen sogar offene Feindschaft der Mehrheit der bürgerlichen Historiker gegen Modernisierungsversuche der Gesellschaftskonzeption und des Geschichtsdenkens verbunden war, wie sie insbesondere von der damaligen bürgerlichen Soziologie ausgingen und von einzelnen Historikern wie Otto Hintze, Ernst Troeltsch, Ernst Bernheim, Alfons Dopsch, Eberhard Gothein, Wolfgang Hallgarten, Siegmund Hellmann, Eckart Kehr, Alfred Vagts aufgegriffen wurden. /e
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Vgl. Schmückle, Rez. zu Hans Pflug, S. 601 f. Vgl. Anm. 67. Erst verspätet bekam ich in die Hand: Salov, V. I., Istorizm i sovremennaja burzuaznaj istoriografija, Moskau 1977. Die kritischste und beste Interpretation: Iggers, Georg G., Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, Stuttgart 1971 (dtv, Wiss. Reihe, 4059).
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Alles in allem bleibt Schmückles Aufsatz, seine einmalige Beschäftigung mit der bürgerlichen Historismuskonzeption, eine imponierende Leistung, getragen von theoretisch-methodologischem Wissen und Gespür. Dafür spricht auch, daß man heute im Rückblick und in umfassenderer Übersicht über die damalige Literatur kaum Wesentliches zu revidieren braucht. 1931 mußte Schmückle mit seiner Frau Anne Bernfeld aus dem Moskauer Marx-Engels-Institut ausscheiden. „Der Menschewistenprozeß, in den auch zwei Mitarbeiter des Instituts verwickelt waren, die unter dem Schutz von Rjazanov hier wirken konnten, führte zu einer generellen Überprüfung des gesamten Mitarbeiterstabs, in dessen Verlauf 127 Mitarbeiter entlassen wurden. Davon waren auch Karl Schmückle und seine Frau betroffen." 79 Neuer Direktor des mit dem Lenin-Institut vereinigten Marx-Engels-Lenin-Instituts wurde im November 1931 V. V. Adoratskij. 80 Hugo Huppert berichtet, daß „sogleich die IVRS, das Sekretariat der Internationalen Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller, den freigewordenen gelehrten Schreibkünstler Schmückle" an sich gezogen habe. 81 In diese Zeit fiel nach dem Beschluß des ZK der KPdSU vom 23. April 1932 die inhaltliche und organisatorische Umgestaltung der IVRS, die Bildung von Länderkommissionen revolutionärer Schriftsteller, darunter auch einer deutschen unter Leitung des von der KPD nach Moskau delegierten Hans Günther. 82 Schmückle stieß zum Mitarbeiterstab der 1931 neugegründeten Zeitschrift „Internationale Literatur", die in russischen, französischen, englischen und deutschen Ausgaben erschien.83 Die deutsche Redaktion, die ersten Jahre untergebracht im „altväterisch-bescheidenen IVRS-Gassenlokal im Winkel hinter der großen Oper" 84 , wurde bis Heft 2/1933 von Hans Günther geleitet, dann von dem emigrierten Lyriker und Kommunisten Johannes R. Becher übernommen. Sein Stellvertreter blieb zunächst Günther, ab Heft 4/1934 trat Karl Schmückle an seine Stelle. Zur Redaktion gehörten längere oder kürzere Zeit u. a. Hugo Huppert (Mai 1936 bis Januar 1938 als stellvertretender Chefredakteur), Fritz Erpenbeck, Ernst Ottwalt, Erich Weinert, Adam Scharrer, Heinz Willmann und Georg Lukäcs. Der weitere Lebensweg Schmückles verlief tragisch. Schon zwei Jahre später, mit Heft 4/1936, wurde er als stellvertretender Redakteur abgelöst. Seine letzten Artikel erschienen August 1936.85 Infolge der Mitte der 30er Jahre von Stalin va
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Jarmatz, Klaus/Barck, Simone/Diezel, Peter, Exil in der UdSSR, Leipzig 1979, S. 162 (Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil, 1933-1945, Bd. 1). Ausführlicher Huppert, Wanduhr, S. 297 ff. Vgl. Dunaevskij, S. 282 ff., auch zur Marx-, Engels-, Leninforschung der beiden vereinigten Institute. Huppert, Wanduhr, S. 300. Jarmatz/Barck/Diezel, S. 251 f. Dem schließt sich eine umfassende Einschätzung der Tätigkeit der IVRS an. Vgl. hierzu ebenda, S. 151 ff., mit einer ausführlichen Darstellung ihrer Rolle und Funktion. Huppert, Wanduhr, S. 445.
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verschuldeten „Verstöße(n) gegen die sozialistische Gesetzlichkeit und gegen die Leninschen Normen des Parteilebens" fiel Schmückle 1936 „unbegründeten Anschuldigungen zum Opfer". 86 Er ist wahrscheinlich 1941 verstorben. 87 Seine Frau Anne Bernfeld war 1931 bei der Vegaar untergekommen 88 , der Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR, die in diesen Jahren ein großes Programm bewältigte, die Herausgabe der MEGA und der Werke Lenins, politische und historische Schriften internationaler Autoren veröffentlichte und in ihrer deutschen Sektion die antifaschistische Literatur in der Sowjetunion betreute. Die Vegaar profilierte sich „zum wichtigsten internationalen Editionsunternehmen der kommunistischen und Arbeiterbewegung". 89 Anne Bernfeld übersetzte u. a. vom Russischen ins Deutsche 90 und schrieb Literaturkritiken. 91 Wohl durch das Schicksal ihres Mannes deprimiert, schied sie Ende 1941 freiwillig aus dem Leben, als sie unmittelbar „den Einmarsch der faschistischen Armee in Moskau" 92 befürchtete. Innerhalb kurzer Zeit hatte sich Karl Schmückle ein neues Schaffensfeld erarbeitet. Neben der anstrengenden Redaktionstätigkeit f ü r die „Internationale Literatur", die 1932 bis 1934 zweimonatlich, dann monatlich erschien, trat er seit Ende 1932 selbst mit Arbeiten auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Literaturwissenschaft hervor. Dies ist um so bemerkenswerter, als in jenen Jahren Literatur und Literaturwissenschaft im Zuge der neuen Aufgaben, die sich aus der Strategie und Taktik der revolutionären Arbeiterbewegung im Kampf gegen Faschismus und Krieg, f ü r Einheitsfront und Volksfront, f ü r ein demokratisches Deutschland ergaben, in einem komplizierten und sich nicht ohne Schwierigkeiten und Widerstände vollziehenden Umbruchsprozeß standen. Schmückle hatte hieran einen achtbaren Anteil, so daß die marxistischen Literaturwissenschaftler der DDR seit einiger Zeit in ihren literatur- und wissen85 80 87
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Vgl. Anm. 116. Jarmatz/Barck/Diezel, S. 46,163. Zur Tradition der sozialistischen deutschen Literatur. Veröffentlichung der Akademie der Künste der DDR, Abteilung Geschichte der sozialistischen Literatur, Bd. 4, Berlin/ Weimar 1979, S. 91. Walther, Hans-Albert, Deutsche Exilliteratur 1933—1950, Bd. 2, Darmstadt/Neuwied 1972, S. 346. Jarmatz/Barck/Diezel, S. 233; hier auch eine Gesamteinschätzung der Tätigkeit der Vegaar. Noch im Jahre 1946 wurden in der damaligen sowjetischen Besatzungszone und in Wien zwei Bücher herausgegeben: Popowski, Alexander, Auf den Spuren des Lebens. Eine biographische Skizze vom Leben und Forschen des großen russischen Physiologen J. P. Pawlow. Autorisierte Ubersetzung aus dem Russischen von Anne Bernfeld, Wien 1946; ders., Gesetze des Lebens. Roman einer Wissenschaft. Aus dem Russischen von Anne Bernfeld, Berlin 1946. Bernfeld, Anne, Rez. zu Mühlestein, Hans, Aurora, 1935, in: IL, 6, 1936, 2, S. 109 ff. Vor allem schrieb sie (Jarmatz/Barck/Diezel, S. 150) für die DZZ. Ebenda, S. 163; Huppert, Wanduhr, S. 257.
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schaftsgeschichtlichen Arbeiten wiederholt auf ihn eingegangen sind, angefangen von einer Bibliographie seiner Schriften 93 , dem Abdruck zwei seiner Aufsätze94 bis zu der Einschätzung in dem wiederholt zitierten Band „Exil in der UdSSR", in dem Schmückle als „einer der hervorragendsten Literaturkritiker" 95 gewürdigt wird. Dieses literaturkritische Arbeitsfeld Schmückles soll in unserem Zusammenhang nur herangezogen werden, soweit es seine Biographie und die Darstellung seiner Geschichtsauffassungen ergänzt. In dem Band „Exil in der UdSSR" wird hervorgehoben: „Es mag als glücklicher Umstand gelten, daß die .Internationale Literatur' gerade an der MEGA geschulte Theoretiker und Historiker zu ihren engsten Mitarbeitern und Gestaltem zählen durfte. Der Aufschluß der Werke der Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus war andererseits ein natürliches Anliegen des ersten sozialistischen Staates, es war auch nur natürlich, daß dieses Werk auf internationalistische Weise umgesetzt wurde, also auch deutsche marxistische Wissenschaftler dazu herangezogen wurden. Diese wissenschaftliche Erkundungsarbeit kam über den Umschlagspunkt .Internationale Literatur' der revolutionären und antifaschistischen Literaturbewegung zugute. Daneben stand gleichberechtigt der Versuch der .Internationalen Literatur', die Hinterlassenschaft Lenins — darum hatte sich vor allem Lunatscharski unsterbliche Verdienste erworben — gleichen Zwecken dienstbar zu machen. Mit dem Aufschluß der ästhetischen Ansichten der Klassiker des Marxismus-Leninismus ergaben sich bereits unmittelbare Berührungspunkte zu den aktuellen Diskussionsproblemen, die sich aus dem Entwicklungsstand des sozialistischen Realismus und der antifaschistischen Literatur herleiteten." 96 In diesem Zusammenhang standen die revolutionären Schriftsteller, Künstler und Literaturwissenschaftler im internationalen Maßstab vor großen Aufgaben 97 : das Volksfrontbündnis mit den antifaschistischen bürgerlich-humanistischen Schriftstellern und Künstlern durchzusetzen, dabei zunächst noch vorhandene sektiererische Ansichten in den eigenen Reihen zu überwinden; den Kampf gegen die Barden der faschistischen Literatur und Ideologie zu führen und die Grundlagen des Faschismus zu entlarven; zu einer erweiterten Rezeption des humanistischen Erbes zu kommen und dabei noch vorhandene Engen zu über50
Veröffentlichungen deutscher sozialistischer Schriftsteller in der revolutionären und demokratischen Presse 1918 bis 1945, Berlin/Weimar 1969, S. 461 f. Nicht einsehen konnte ich bisher die Artikel: Schmückle, Karl, Wir und sie. Bemerkungen über einige Probleme der revolutionären Literatur, in: DZZ, 9, Nr. 189,17. 8.1934; ders., Derevnaja v Tjuringii, in: Literaturnaja gaseta, 1935, H. 24; ders., Der Dichter Erich Weinert, in: Der Kämpfer, 4,1936, 3, S. 69 ff. 84 Zur Tradition der sozialistischen deutschen Literatur, Bd. 1, S. 670 ff. (Von der Freiheit und ihrem Trugbild — vgl. Anm. 113), 839 ff. (Lob der Entdeckerkunst — vgl. Anm. 132). JarmatzlBarck/Diezel, S. 162. « Ebenda, S. 163 f. s/ Vgl. hierzu ebenda, S. 64 ff.; Schiller; Herden, Werner, Wege zur Volksfront. Schriftsteller im antifaschistischen Bündnis, Berlin 1978; Zur Tradition.
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winden; den weiteren Aufschwung der sozialistischen Literatur und Kunst zu fördern. Diese inhaltlichen Aufgaben waren zugleich mit generellen Fragen des Schaffens, der Anwendung neuer künstlerischer Formen in der bürgerlichen und in der sozialistischen Literatur und Kunst verbunden. Es ist bekannt, welche zentrale Rolle Johannes R. Becher bei der Verwirklichung dieser Aufgaben als Kulturpolitiker, Propagandist, Organisator und als Kulturschaffender spielte.98 Kaum bekannt ist jedoch, wie ihn dabei Schmückle einige Jahre lang konzeptionell und organisatorisch linterstützte, in welch näherem persönlichen Verhältnis beide zueinander standen. Einige wenige erhaltene Briefe von Ende 1934 bis Mitte 1935 werfen darauf Schlaglichter." Während Bechers Frankreichaufenthalten 1934/35 führte Schmückle die Redaktion der „Internationalen Literatur" in dessen Sinne und engagierte sich — oftmals anscheinend recht impulsiv — gegen noch anzutreffende Widerstände gegen die neue Linie. Als Schmückle November 1934 (wohl bis März 1935) eine längere Mittelasienreise 100 antrat, machte sich das in der Redaktionsarbeit nachteilig bemerkbar. Becher scheint ihn aber auch bei Schwierigkeiten und Kontroversen, in die er als Redakteur der Zeitschrift und in der Deutschen Sektion der IVRS geriet, mehrfach gestützt zu haben. Ein Vorschlag Bechers vom August 1935, Schmückle zu einem Frankreich-Aufenthalt zu delegieren und ihn dadurch näher mit den Bedingungen des antifaschistischen Kampfes und der Literaturbewegung in verschiedenen westeuropäischen Ländern bekannt zu machen, ließ sich nicht verwirklichen, stieß auch auf Widerstreben in der IVRS. In der redaktionellen Linie der Zeitschrift und in eigenen Beiträgen setzte sich Schmückle nachdrücklich f ü r das breite antifaschistische Bündnis mit bürgerlich-humanistischen Schriftstellern ein, ohne dabei auf prinzipielle Auseinandersetzungen zu verzichten. Sehr am Herzen lag ihm auch die Pflege des kulturellen internationalen Erbes. Er griff für eigene Artikel dabei nicht nur auf sein altes Thema Utopisten zurück, speziell auf Thomas Morus, sondern vertiefte sich bald immer stärker in den „Don Quijote" des Cervantes. Mit warmherziger Sympathie begrüßte er auch die Versuche Johannes R. Bechers, in seinen Gedichten die traditionelle Form der Sonette wieder aufzunehmen und mit neuem Inhalt zu füllen. 101 Sehr positiv äußerte sich Schmückle zu Inhalt und Form des Brechtschen „Dreigroschenromans", zu dem es unter den emigrierten deutschen Schriftstellern auch entgegengesetzte Meinungen gab. „Die theoretischen und kritischen Arbeiten" von Becher, Bredel, Gabor, Günther, 98
Richter, S. 264 ff.; Barck, Simone, Johannes R. Bechers Publizistik in der Sowjetunion 1935-1945, Berlin 1976; Jarmatz/Barck/Diezel, S. 256 ff. '•*> Vgl. Anm. 42. In einer Reportage (Schmückle, Karl, Juden in Buchara, in: Die neue Weltbühne, 31, 1935,19, S. 592) erwähnte Schmückle, daß er Mittelasien schon „in früheren Sommern kennengelernt" habe. ,U1 Ders., Zu Bechers neuem Gedichtband, in: IL, 6, 1936, 2, S. 95 ff. Zu Becher ferner ders., Der Mann, der alles glaubte, in: DZZ, 10, Nr. 285,12.12.1935.
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Huppert, Schmückle u. a., berichtet Trude Richter, „die einen wesentlichen Bestandteil der .Internationalen Literatur' ausmachten, wurden in antifaschistischen Kreisen im Westen geradezu verschlungen. Davon überzeugten sich Becher, der als IVRS-Vertreter sowohl 1934 wie auch 1935 längere Zeit wieder im Ausland weilte."102 Schmückles Einsatz um die sozialistische Literatur und ihre antifaschistische Intention trug ihm schließlich den Auftrag ein, auf dem ersten Unionskongreß der sowjetdeutschen Schriftsteller zu diesem Thema eines der drei Hauptreferate zu halten. Diese Konferenz, die vom 21. bis 27. März 1934 im Moskauer Klub der Sowjetschriftsteller in Vorbereitung des I. Unionskongresses der Sowjetschriftsteller stattfand, parallel zu anderen Konferenzen nationaler Literaturen in der UdSSR, hatte das Ziel, die sowjetdeutsehen Schriftsteller für die neuen Aufgaben beim sozialistischen Aufbau im zweiten Planjahrfünft und im antifaschistischen Kampf zu mobilisieren, diese mit dem Kampf gegen konterrevolutionären Nationalismus zu verbinden, neue organisatorische Bedingungen hierfür zu schaffen.103 Schmückle beschäftigte sich in seinem Vortrag mit dem Engagement der progressiv-revolutionären deutschen Literatur gegen den Faschismus inner- und außerhalb Deutschlands, mit der Entwicklung der bekanntesten Emigrationszentren und der antifaschistischen Einheitsfront in der Literaturbewegung.104 In Entgegnung auf die verbreitete These, daß der Faschismus eine Rebellion des Kleinbürgertums sei, erläuterte Schmückle den wahren Klassencharakter des Faschismus, wobei er sich auf die Ergebnisse des XIII. EKKI-Plenums stützen konnte. Er setzte sich insbesondere mit der sozialen Demagogie und dem Mystizismus in der faschistischen Literatur und Ideologie auseinander.105 In diesem Zusammenhang ging er auch auf die pseudoästhetische, von Goebbels geprägte Formel der sogenannten aktiven stählernen Romantik in der nazistischen Literatur und Kunst ein, mit deren Hilfe die bewegenden Kräfte des historischen Prozesses verfälscht wurden. Im Referat und in einem Schlußwort sprach Schmückle über die Bedeutung, die der Methode des sozialistischen Realismus bei der Bewältigung der Aufgaben zukam, vor denen die revolutionäre Literatur stand.106 In seinen Veröffentlichungen der 30er Jahre versuchte sich Schmückle in verschiedenen Genres. Er schrieb, insbesondere für die „Deutsche Zentralzei™ Richter, S. 271. iu3 Vgl. Huppert, Hugo, Nach der ersten Unionskonferenz der sowjet-deutschen Schriftsteller, in: IL, 4,1934, S. 134 ff. Die beiden anderen Referate hielten Alexander Barta und Hugo Huppert, die einleitende Ansprache Fritz Heckert. 1U4 Nach ebenda. **> Hinweise hierauf gibt der Zeitungsartikel Schmückle, Karl, Vom Kampf der revolutionären Literatur. Zum ersten Unionskongreß der sowjet-deutschen Schriftsteller, in: DZZ, 9,1934, Nr. 66, 21. 3.1934. 1UB Nach einem Bericht der Deutschen Botschaft in Moskau vom 12. 4. 1934 an das Auswärtige Amt, Berlin, gezeichnet v. Nadolny: ZStAP, 15.01, RMdl, Nr. 28779, Bl. 158 bis 162.
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tung"107, die sowjetische Tageszeitung in deutscher Sprache, Zeitungsartikel108 zu den verschiedensten Themen, politischen und literaturkritischen. Er verfaßte flüssig und anschaulich geschriebene Reportagen, zum Beispiel über die erwähnte mehrwöchige Reise nach Mittelasien109, die den gewaltigen Umbruch vom vorkapitalistischen Zeitalter zur sozialistischen Sowjetgesellschaft schilderten. Wir finden einen belletristischen Versuch, utopische Reportage genannt110, der den 400. Jahrestag der Hinrichtung von Thomas Morus zum Anlaß nahm, den englischen Utopisten das Moskau der Gegenwart besichtigen zu lassen; bemerkenswert auch in der Form, weil der „Bericht" eines fiktiven Tagebuchschreibers aus dem Jahre 1935 von den angeblich weit später (in der Zukunft) geschriebenen Kommentaren eines Autors begleitet wird. Die wichtigsten Arbeiten dürften aber zweifelsohne die literaturkritischen Artikel und Rezensionen sein, die Schmückle in diesen Jahren schrieb, dazu die literaturhistorischen Studien, die sich besonders dem „Don Quijote" zuwandten. Die mannigfaltigen Versuche trugen dazu bei, daß sich Schmückles Stil wesentlich flüssiger, geschmeidiger gestaltete, vielfältiger wurde. Galt seine Schreibweise Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre noch, wie wir von Huppert hörten, als „schwierig"111, war sie nach dem Urteil von Klaus Jarmatz „recht wortreich, zuweilen auch etwas gewaltsam verquollen"112, so streifte er in seinen besten Arbeiten diese Eigenheiten und Mängel ab, wenn wir auch nebenher weiter auf „schwierige" Texte stoßen. Die genauere Auswertung der die Literatur betreffenden Artikel Schmückles muß den Literaturwissenschaftlem überlassen bleiben. Sie müßte durch eine Analyse seiner Tätigkeit in der Redaktion der „Internationalen Literatur" vervollständigt werden; doch sind die bisher dazu bekannt gewordenen Quellen sehr spärlich. Wir beschränken uns auf einige Bemerkungen, die das Verhältnis von Literatur und Geschichte bzw. das Geschichtsbild betreffen. Es wurde bereits erwähnt, daß sich Schmückle gegen die in der bürgerlichen Publizistik und Literatur anzutreffende These wandte, wonach der deutsche Faschismus eine Rebellion des Kleinbürgertums sei.113 Schmückle verwies dabei nicht nur auf bezeichnende zeitgenössische Ereignisse wie den 30. Juni 1934, die einmal mehr zeigten, wer der Herr im Hause war, sondern auch auf die historische Erfahrung, daß das Kleinbürgertum in den Klassenauseinander«" Vgl. hierzu Veröffentlichungen. "" Vgl. Jarmatz/Barck/Diezel, S. 146 ff. Schmückle, Karl, Juden in Buchara, 17, S. 527 ff.; 19, S. 592 ff.; ders., Vom usbekischen Theater, von der Mahalla und von jüdischen Kolchosen, in: DZZ, 10, Nr. 4, 4. 1. 1935; ders., Bucharische Juden, in: Der Kämpfer, Charkow, 3, 1935, 5/6, S. 80 ff.; ders., Gespräch über Thälmann am Roten Fluß, in: DZZ, 11, Nr. 15, 18.1.1936. »w Ders., Geschichte vom goldenen Buch. Eine utopische Reportage, in: IL, 5, 1935, 12, S. 41 ff. Zu Morus ferner ders., Thomas Morus. Zu seinem 400. Todestag, in: DZZ, 10, Nr. 156, 9. 7.1935. >» Huppert, Wanduhr, S. 256. 1,2 Jarmatz/Barck/Diezel, S. 191. 113 Schmückle, Vom Kampf; ders., Von der Freiheit und ihrem Trugbild, in: IL, 4, 1934, 3, S. 4 f.
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Setzungen zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse bislang immer geschwankt habe und zu keiner selbständigen Rolle finden konnte. Großen Wert legte Schmückle auf die Entlarvung der faschistischen Ideologie. Während dies jedoch Hans Günther in aller Gründlichkeit tat 114 , konnte Schmückle nur gelegentlich darauf eingehen, beispielsweise auf dem genannten Unionskongreß.115 Im Zusammenhang mit seinen Cervantes-Studien setzte sich Schmückle aber mit den Geschichtsfälschungen Jimenez Caballeros auseinander, der in faschistischer „Erbe"rezeption Cervantes rigoros aus der klassischen spanischen Literatur hinausverwies. 116 Nachdrücklich befürwortete Schmückle das Zusammengehen aller Antifaschisten in einer breiten Volksfront. In diesem Sinne äußerte er sich positiv zu Büchern und Artikeln von Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger und Hermann Kesten.117 Und lebhaft begrüßte er die nach langem Schweigen erfolgte öffentliche Stellungnahme Thomas Manns gegen den Faschismus, von der er sich innerhalb Deutschlands und international eine Stärkung des Volksfrontgedankens versprach.118 Das ist insofern von Bedeutung, als es vorher sehr kritische proletarische Stimmen zu Thomas Mann gegeben hatte. 119 Doch blieben Schmüekles Äußerungen weit entfernt von blinder Anerkennung und mechanischer Rezeption. Er setzte sich sehr nachhaltig in der — auch außerhalb der UdSSR weitverbreiteten — „Internationalen Literatur" mit verschiedenen Auffassungen der bürgerlichen Humanisten auseinander, die er als Kommunist nicht teilen konnte; in diesem Sinne wollte er ihnen keinen Punkt der prinzipiellen Kritik ersparen. 120 Er verwies gegen spätbürgerliche Ängste und Vorurteile auf die Klassenbezogenheit jeder Demokratie und Freiheit, betonte die Unterschiede zwischen proletarischer und faschistischer Diktatur, unterstrich die Notwendigkeit der revolutionären Gewalt zum Sturz des Kapitalismus, wie ja auch die plebejisch-proletarischen Gewalten bereits 1789 eine unabänderliche Notwendigkeit und die wahre Kraft der bürgerlichen Revolution gewesen seien. „Auch wenn dieser Argumentation noch die Vorstellung eines direkten Übergangs der ehrlichen Hasser des Faschismus auf die Position der Arbeiterklasse zugrunde liegt — der Gedanke des antiimperialistischen Demokratismus steht
114
Vgl. Günther, Hans, Der Herren eigener Geist. Die Ideologie des Nationalsozialismus, Moskau/Leningrad 1935 (Neuauflage: Berlin 1981). Vgl. Jarmatz/Barck/Diezel, S. 78 ff.; Richter, S. 260 ff.; Röhr, Werner, Hans Günther — ein marxistischer Theoretiker, in: DZfPh, 14, 1966, 6, S. 725 ff. ,15 Schmückle, Vom Kampf. ,1B Ders., Der aktuelle Don Quijote, in: IL, 6,1936, 4, S. 90; ders., Begegnungen mit Don Quijote, ebenda, 8, S. 110; ders., Söhne Spaniens, in: DZZ, 11, Nr. 182,9.8.1936. ,lv Ders., Von der Freiheit. Nicht einsehen konnte ich bisher die Stellungnahme zu Bruno Franks „Cervantes" in: Internacional'naja literatura, 1936, H. 6. "8 Ders., Thomas Mann gegen den Faschismus, in: DZZ, 11, Nr. 106,10. 5.1936. ua Vgl. Dahlke, Hans, Geschichtsroman und Literaturkritik im Exil, Berlin/Weimar 1976, S. 58. iJU Schmückle, Von der Freiheit, S. 7. Vgl. zu diesem Artikel Schiller, S. 204 ff.; Dahlke, S. 58 f.
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schon im Zentrum und wird als Weg zur Annäherung an die Hauptkraft des antifaschistischen Kampfes erkannt und analysiert."121 Eine mehr beiläufige Bemerkimg zeigt Schmückles Gespür für die Praktiken des Klassenkampfes von seiten der herrschenden Klassen: Der Klassenkampf, heißt es da122, prägt sich nicht nur der Arbeiterklasse ein, sondern auch den finanzkapitalistischen Magnaten in ihrer kalten Verständigkeit! Schmückle ging der Verwurzelung Thomas Manns und anderer antifaschistischer Schriftsteller im deutschen Bürgertum nach, die bewirkte, daß sie zwar die Krise der kapitalistischen Welt erfaßten und es erahnten, in einer grundlegenden Zeitenwende zu stehen, aber doch vor der revolutionären proletarischen Gewalt, der proletarischen Demokratie, kurzum vor den Erscheinungen des neuen historischen Zeitalters zurückschreckten. Gelegentlich kamen bei Schmückle auch noch gewisse einengende Gesichtspunkte im Prozeß der strategischen Umorientierung zum Ausdruck, so wenn er formulierte, die bürgerliche Demokratie habe die faschistische Diktatur hervorgebracht, der Sprößling gleiche der Erzeugerin aufs Haar123, oder wenn er von der Politik und Ideologie der „sozialfaschistischen Führer"124 sprach. Aus aktuellem Anlaß interessierten Schmückle besonders das Geschichtsdenken und Geschichtsbild in gesellschaftlichen Ubergangsepochen, das dadurch modifizierte Verhältnis zum historischen und literarischen Erbe. Das galt ebenso für die verschiedenen Etappen der weltgeschichtlichen Übergangsepoche vom Feudalismus zum Kapitalismus (von Cervantes und den Utopisten des 16. Jh. bis zu Saint-Simon und Fourier) wie für die Ubergangsepoche vom Kapitalismus zum Sozialismus, die sowohl bürgerliche als auch proletarische Schriftsteller vor neue Situationen und Aufgaben stellte. In seiner Sicht war es kein Zufall, daß in dem gegenwärtigen Zeitalter der Antagonismen fortschrittliche bürgerliche Schriftsteller wie Bruno Frank, Thomas Mann oder Jean Richard Bloch sich Cervantes und seinem Hauptwerk zuwandten. Es gelte, auf die Vergangenheit und ihre besten literarischen Werke schauend, zum Verständnis der wirklichen Bewegung der Geschichte und der gegenwärtigen Kämpfe sich emporzuarbeiten, mit dem großen Spanier den Blick auf das unerträglich Widerspruchsvolle in allen Existenzformen der bürgerlichen Gesellschaft zu schärfen.125 Eine weitere Aufgabe kam hinzu: Schmückle zitierte Georgi Dimitroff, der einmal gesagt hatte, daß das Proletariat einen einzigen Cervantes brauche, der die Welt der Bourgeoisie dem Gelächter preisgebe.126 Schmückle legte in diesem Zusammenhang großen Wert auf den sozialen und historischen Gehalt des „Don Quijote", die Bezogenheit des Werkes auf die großen Umbrucherscheinungen des damaligen Spanien, seine Kritik an den 121 ra 123 124 1:0 126
Schiller, S. 207. Schmückle, Von der Freiheit, S. 6. Ebenda, S. 15. Dazu Schiller, S. 205. Schmückle, Vom Kampf. Ders., Der aktuelle Don Quijote, S. 89 f.; ders., Begegnungen mit Don Quijote, S. 106. Ders., Der aktuelle Don Quijote, S. 99.
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überlebten feudalen Erscheinungen und sein Gespür für die Phänomene der aufziehenden neuen Epoche. Cervantes habe die ersten mächtigen Regungen der bürgerlichen Gesellschaft zwar nicht mit Schärfe und Bewußtsein dargestellt, aber durch die Unbefangenheit seiner Entdeckerkunst und seine realistisch-dialektische Darstellungsform mehr erreicht, als sein Ziel war. Hier kann nur allgemein darauf verwiesen werden, daß Schmückle mit diesem Interpretationsansatz zahlreiche Stellen des „Don Quijote" originell und abweichend von der bisherigen idealistischen Literaturgeschichte wertete, und man kann nur bedauern, daß die geplante größere Arbeit nicht zustande kam. Nicht von ungefähr wandte sich Schmückle gegen die aus dem 19. Jh. herstammenden bürgerlichen Anschauungen, die, im einzelnen aus recht unterschiedlichen Motiven, von dem sozialen und historischen Gehalt des Büches absahen und seine Substanz auf das Allgemein-Menschliche beschränken wollten. In diesem Sinne disputierte Schmückle auch mit Thomas Manns Essay über den „Don Quijote" aus dem Jahre 1934.127 Manns Stellungnahme gegen die barbarische Geistfeindlichkeit und die Inhumanität übersah er durchaus nicht, er erblickte aber in der kämpferischen Zeitbezogenheit des „Don Quijote" dessen eigentliche politische und damit auch humanistische Aktualität im Kampfe gegen das Uberholte in der Gegenwart. Ein weiterer Gesichtspunkt, auf den Schmückle vor allem in den Reportagen, aber auch in Rezensionen und Artikeln immer wieder verwies, war der neue Mensch, war die neue Generation, die in der jungen Sowjetgesellschaft sich herausbildete. In verschiedenen Gegenden der UdSSR, die er in Augenschein nehmen konnte, speziell den kaukasischen und mittelasiatischen Regionen, die einen Riesensprung in der gesellschaftlichen Entwicklung vollzogen, verfolgte Schmückle mit wachem Blick und großer innerer Anteilnahme die Entstehung der sozialistischen Gesellschaft, die Überwindung des Alten und noch immer Hemmenden, die wirtschaftliche Umwandlung des Landes; aber „das Wesentliche und Substantielle in allen den neuen Veränderungen" waren die „tiefen Veränderungen . . . in den Herzen und Köpfen"128 der Menschen, die die Oktoberrevolution getragen oder fortgeführt hatten, war die neue Generation, welche tief mit dem sozialistischen Aufbau verwachsen war. 129 Von nicht zu überschätzender Bedeutung sind seine literaturkritischen Arbeiten zu neuen Werken der sozialistischen Schriftsteller130 Egon Erwin Kisch, Anna Seghers, Johannes R. Becher und Erich Weinert. „Schmückle verstand es, die Analyse des einzelnen Werkes auf fruchtbare Weise mit grundsätzlichen literaturästhetischen Problemstellungen zu verknüpfen, wodurch er einer bloß beschreibenden, nachempfindenden Kritik ebenso entging wie der Verführung, Vgl. ebenda. >2) Ders., Ein Brief an Kisch, der nie geschrieben wurde, in: Neue Deutsche Blätter, 2, 1934/35, 5, S. 272. ,:!3 Ders., Festzug im Reiterlager, in: DZZ, 11, Nr. 147, 28. 6.1936; ders., Von Büchern und Kulturdingen, ebenda, Nr. 148, 29. 6. 1936. 1311 Gelengentlich äußerte sich Schmückle auch zu Werken sowjetischer Schriftsteller, u. a. zu Paustowski, vgl. ders., Kolchis, oder ders., „Die Eroberung von Kiimasjärvi", in: DZZ, 11, Nr. 164,18. 7.1936. 127
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das literarische Werk mit Kriterien zu beurteilen, die der Literatur vergangener Zeiten entnommen sind." Damit war ein „richtiger Ansatz" gefunden, „um einen wirklichen literarischen Avantgardismus aufzuhellen und zu befördern". 131 Die Aufsätze über Kisch haben das Verdienst, gegenüber verschiedenen Vorbehalten, u. a. von einem so einflußreichen Literaturwissenschaftler wie Georg Lukäcs vorgebracht, „auch die Reportagen als eine Möglichkeit realistischer Gestaltung nicht nur anerkannt, sondern auch begründet zu haben". 132 In einem Essay über Anna Seghers' Roman „Der Weg durch den Februar" hob Schmückle ausdrücklich die verschiedenartigen Möglichkeiten realistischer Gestaltungsweise hervor, auch hier über eine damals sich ankündigende verengte Sehweise hinausgehend. Er erläuterte im einzelnen den Realismus, wie er in Seghers' Prinzip der Simultandarstellung mit einer Vielzahl von Personen zutage tritt, sich rankend um die Chronik der Ereignisse des Februar 1934 und den heroischen Kampf der österreichischen Arbeiterklasse. 133 In unserem Zusammenhang am interessantesten sind aber Schmückles Ausführungen über das Verhältnis von Gesellschaft und Literatur, in die zugleich erkenntnistheoretische, weltanschauliche und ästhetische Überlegungen einflössen, in denen Gemeinsamkeiten und Unterschiede von künstlerischer und theoretisch-wissenschaftlicher Aneignung der Welt und der Vergangenheit aufgezeigt wurden. 134 „Ich glaube", schrieb Schmückle, „wir machen uns gemeinhin zu wenig Gedanken über die Natur des (Arbeitsprozesses' in der Kunst — so auch über die besonderen Qualitäten und Operationen, die mit dem Entdecken und Begreifen des .Stoffs' verbunden sind."135 Schmückle verwies auf das wissenschaftliche Element, das der Arbeitsprozeß der Kunst beinhalte, in den das Verhältnis des Künstlers zum Stoff, reale Erfahrung, Weltanschauung und schöpferische Phantasie eingehen. In seinem Stoff müsse der Künstler das Wesentliche, d. h. die Wahrheit, entdecken, diese könne aber nur in der Sache selbst entdeckt werden. Gegen idealistische erkenntnistheoretische Interpretationen gewandt, formulierte er, das Erfinden ist nur eine besondere Spielart des Findens. Dies schließe aber die weltanschauliche Komponente als Element des Findens der Wahrheit ein: „Jedermann gibt zu, daß die Auswahl dessen, was f ü r wesentlich gehalten wird, Zuallererst den Charakter eines Künstwerkes bestimmt. Die entscheidende Rolle der Weltanschauung: man wählt, bewußt oder unbewußt, kraft einer Weltanschauung aus."136 Und ein wichtiger GeU1 lst
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134
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22*
Jarmatz/Barck/Diezel, S. 193. Ebenda, S. 192. Vgl. Schmückle, Karl, Lob der Entdeckerkunst, in: IL, 5,1935,4, S. 27 ff.; zu Kisch ferner ders., Asien gründlich verändert. Kisch berichtet aus Tadshikistan und Usbekistan, in: DZZ, 7, Nr. 267, 22.11.1932; ders., Ein Brief an Kisch; ders., Kisch in der neuen Welt, in: DZZ, 10, Nr. 99, 29. 4.1935. Ders., Heroische Realität. Zu Anna Seghers' neuem Roman: „Der Weg durch den Februar", in: IL, 5,1935,10, S. 77 ff. Vgl. dazu Schiller, S. 36 ff. Die wichtigsten Essays hierfür sind: Schmückle, Lob der Entdeckerkunst; ders., Heroische Realität. Ders., Lob der Entdeckerkunst, S. 28, auch zum folgenden. Ebenda.
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sichtspunkt des Wahrhedtsfindens kam für Schmückle hinzu: Man müssei die Wahrheit immer unter dem Aspekt des Fortschritts auffassen, der den Menschen den wahren Sinn ihrer Kämpfe offenbare; und er hob hervor, daß das Perspektivbewußtsein den Unterschied zwischen dem klassischen Realismus des 19. Jh. und dem neuen sozialistischen Realismus ausmache.137 Jedoch legte Schmückle großen Wert auf die Feststellung, daß „die künstlerische Aneignung der Welt von der theoretischen verschieden" ist. „Ein Roman ist kein Kompendium zu einem Lehrsatz oder zu einer politischen Analyse, er ist es auch dann nicht, wenn er dieselbe bestimmte Wahrheit zeigt, die der Lehrsatz sagt." Schmückle begründete den Unterschied mit dem Hinweis darauf, daß „die Wahrheit in der Kunst eine andere Sinnen- und Formensprache als in der Wissenschaft" spreche, daß die Wahrheit im Kunstwerk eine' „neue sinnlich-konkrete Gegenständlichkeit, eine neue und eigene Unmittelbarkeit erhalte".138 Die weltanschaulich-inhaltliche Bezugnahme verführte Schmückle also nicht dazu, die spezifische Rolle der künstlerischen Aneignung der Realität und das Formproblem zu unterschätzen. Schmückle zitierte den Hegeischen Satz, die Methode ist die Seele des Ganzen, und er unterstrich, daß die Entdeckerkunst von allem Anfang an ein bestimmtes, formendes, gestaltendes Element enthalte. Da die Wahrheit durch den Künstler aber konkret in den individuellen Äußerungen des Geschehens gesucht werden müsse, gab es nach Schmückle eine fast unbeschränkte Anzahl von Möglichkeiten,' das Kunstwerk an dieser Wahrheit teilhaben zu lassen.139 Auf selbständigem Wege, in breiter Kenntnis des literarischen Erbes und der Wissenschaftsgeschichte, der politischen und literarischen Diskussionen seiner Zeit kam Schmückle zu beachtenswerten literarästhetischen Prinzipien, die seinen literaturkritischen Essays Originalität verliehen. Bemerkenswert auch, daß Schmückle kein Lobredner war. Trotz der hohen Anerkennungen beispielsweise für die besprochenen Werke von Anna Seghers und Johannes R.Becher,trotz des engen persönlichen Verhältnisses zu Becher, ließ Schmückle in seinen rezensierenden Betrachtungen kritische Gedanken einfließen, die prinzipielle Inhaltsi- und Formprobleme aufwarfen. Das glaubte er den Autoren ebenso schuldig zu sein wie der gemeinsamen Sache, für die sie Schulter an Schulter kämpften. Der Auszug aus einem Brief Hölderlins aus dem Jahre 1793, den Schmückle 1934 einem seiner Essays voranstellte, kann auch als Lebensmaxime des Kommunisten Karl Schmückle gelten: „Meine Liebe ist das Menschengeschlecht. Ich liebe das Geschlecht der kommenden Jahrhunderte. Denn dies ist meine seligste Hoffnung, der Glaube, der mich stark erhält und tätig, die Freiheit muß einmal kommen, und die Tugend wird besser gedeihen in der Freiheit heiligem erwärmendem Licht als unter der eiskalten Zone des Despotismus. Wir leben in einer Zeitperiode, wo alles hinarbeitet auf bessere Tage . . . " 140
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Ders., Ders., Ders., Ders.,
Heroische Realität, S. 78, 94. Heroische Realität, S. 91. Heroische Realität, S. 93, 78; ders., Lob der Entdeckerkunst, S. 28. Von der Freiheit, S. 3.
Konrad
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Zur Genesis der theoretisch-methodologischen Konzepte von Sozial-, Struktur- und Gesellschaftsgeschichte in der bürgerlichen Historiographie der BRD
Eine Reihe von Veröffentlichungen marxistischer Historiker hat in den letzten Jahren deutlich werden lassen, daß neben und zusammen mit der auf die historisch-politische Konzeption und das Geschichtsbild gerichteten Analyse und Kritik der bürgerlichen Historiographie die Untersuchung ihrer theoretischmethodologischen Grundlagen bzw. Forschungsansätze eine größere Aufmerksamkeit als bisher verdient. 1 Dies ist zum einen nötig, um durch die sorgfältige Charakteristik bürgerlicher geschichtstheoretischer Konzepte die Auseinandersetzung intensivieren zu können. Zum anderen ist im Bereich von Theorie und Methodologie innerhalb der bürgerlichen Historiographie in den vergangenen Jahren so viel in Bewegung geraten 2 , daß auch die Kennzeichnung ihrer historisch-politischen Konzeption und ihres Geschichtsbildes ohne eine gebührende Berücksichtigung theoretisch-methodologischer Aspekte nicht mehr auskommen kann. In der bürgerlichen Geschichtstheorie und -methodologie der BRD insbesondere des letzten Jahrzehnts nehmen die miteinander sehr eng verknüpften Konzepte der Sozial-, Struktur- und Gesellschaftsgeschichte eine Schlüsselstellung ein. In ihnen widerspiegelt sich in besonderem Maße die Herausbildung und die in die unmittelbare Gegenwart reichende Weiterentwicklung der modernen sozialgeschichtlichen Richtung. 3 So sind beispielsweise die Kontroversen über eine der theoretisch-methodologischen Grundfragen der bürgerlichen Geschichtswissenschaft — die Frage nach der Gestaltung des Verhältnisses von individualisierenden und generalisierenden Methoden — bis heute fast ausschließlich im Rahmen einer unterschied1
Vgl. Küttler, Wolfgang, Aufgaben der geschichtsmethodologischen Forschung nach dem IX. Parteitag der SED, in: ZfG, 25, 1977, 8, S. 941 f.; Lozek, Gerhard, Aktuelle Fragen der Entwicklung von Theorie und Methodologie in der bürgerlichen Historiographie, ebenda, 9, S. 1021 ff.; Schleier, Hans, Bericht über die erste Jahrestagung der Fachkommission „Theorie, Methodologie und Geschichte der Geschichtswissenschaft", ebenda, 26,1978,10, S. 916 f. * Vgl. ders., Theorie der Geschichte — Theorie der Geschichtswissenschaft. Zu neueren theoretisch-methodologischen Arbeiten der Geschichtsschreibung in der BRD, Berlin 1975. 3 Vgl. XJnbewältigte Vergangenheit. Kritik der bürgerlichen Geschichtsschreibung in der BRD, hrsg. von Gerhard Lozek u. a., Berlin 19773, Kapitel II, Abschnitt 3, S. 136 ff. 23 J a h r b u c h 25
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liehen Auslegung des Konzepts der modernen Sozialgeschichte ausgetragen worden.4 Sowohl die Anwendung der verschiedensten Theorien und Methoden aus den systematischen bürgerlichen Sozialwissenschaften als auch die Modifizierung der traditionellen geschichtstheoretisch-methodologischen Kategorien vollzogen und vollziehen sich gleichfalls im wesentlichen innerhalb modemer sozialgeschichtlicher Forschung und Darstellung.5 Mit besonderer Deutlichkeit läßt sich im theoretisch-methodologischen Konzept der modernen Sozialgeschichte auch der untrennbare Zusammenhang von bürgerlicher Geschichts- und Gesellschaftstheorie nachweisen, denn in sozialgeschichtlicher Sicht können Anpassungsprozesse am allerwenigsten auf die Methodologie der historischen Forschungsarbeit beschränkt werden.6 Des weiteren sind — insbesondere seit dem Beginn der 70er Jahre — im Zusammenhang mit einer deutlichen Differenzierung unter den Vertretern der modernen Sozialgeschichte in der BRD aufschlußreiche Diskussionen über die gesellschaftspolitische bzw. soziale Funktion der bürgerlichen Historiographie sowie über das Verhältnis von Objektivität und Parteilichkeit im bürgerlichen Geschichtsdenken zu verzeichnen.7 Schließlich ist im Verlauf der letzten Jahrzehnte die Übernahme von willkürlich interpretierten Elementen der marxistisch-leninistischen Geschichtsi- und Gesellschaftstheprie fast ausschließlich durch die verschiedenen Verfechter modemer sozialgeschichtlicher Konzeptionen intensiviert worden.8 Im folgenden soll versucht werden, auf der Grundlage einer begriffsgeschichtlich und partiell systematisch angelegten Untersuchung die jeweils dominierenden Entwicklungstendenzen modemer bürgerlicher sozial-, struktur- bzw. geVgl. Schieder, Theodor, Unterschiede zwischen historischer und sozialwissenschaftlicher Methode, in: Geschichte und Soziologie, hrsg. von Hans-Ulrich Wehler, Köln 1972, S. 283 ff.; Wehler, Hans-Ulrich, Geschichte als Historische Sozialwissenschaft, Frankfurt a. M. 1973. 5 Vgl. Kocka, Jürgen, Theorieprobleme der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, in: Geschichte und Soziologie, S. 305 ff.; Nipperdey, Thomas, Historismus und Historismuskritik heute, in: Die Funktion der Geschichte in unserer Zeit, hrsg. von Eberhard Jäckel und Ernst Weymar, Stuttgart 1975, S. 82 ff.; Faber, Karl-Georg, Ausprägungen des Historismus, in: HZ, Bd. 228,1979, S. 1 ff. 6 Vgl. Theorie der Geschichtswissenschaft und Praxis des Geschichtsunterrichts, hrsg. von Werner Conze, Stuttgart 1972; Theorien in der Praxis des Historikers. Forschungsbeispiele und ihre Diskussion, hrsg. von Jürgen Kocka, Göttingen 1977. ' Vgl. Kocka, Jürgen, Zu einigen sozialen Funktionen der Geschichtswissenschaft, in: Geschichte und Sozialwissenschaften, hrsg. von Peter Böhning, Göttingen 1972, S. 12 ff.; Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft, hrsg. von Reinhart Koselleck, Wolfgang J. Mommsen und Jörn Rüsen, München 1977. 8 Vgl. Kocka, Jürgen, Theorien in der Sozial- und Gesellschaftsgeschichte, in: GG, 1, 1975,1, S. 22 ff.; Wehler, Hans-Ulrich, Vorüberlegungen zu einer modernen deutschen Gesellschaftsgeschichte, in: Industrielle Gesellschaft und politisches System. Beiträge zur politischen Sozialgeschichte, hrsg. von Dirk Stegmann, Bernd-Jürgen Wendt und Peter-Christian Witt, Bonn 1978, S. 10 ff. 4
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sellschaftsgeschichtlicher Konzepte aufzuzeigen und einer Kritik zu unterziehen. Dabei ist es jedoch nicht möglich, der Komplexität und Vielschichtigkeit dieser Problematik in vollem Maße gerecht zu werden und auf alle in diesem Zusammenhang aufgeworfenen Aspekte näher einzugehen. Es ist auch nicht beabsichtigt, die Umsetzung der geschichtstheoretischen Konzeptionen in der Praxis zu untersuchen. Dies würde eine eigene Darstellung erfordern. Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges verstärkten sich innerhalb der bürgerlichen westdeutschen Historiographie die Bemühungen — ausgehend von politischen, aber auch wissenschaftstheoretischen Erwägungen —, in verschiedener Hinsicht den Anschluß an die internationale bürgerliche Geschichtsschreibung zu erreichen. Das Streben des deutschen Monopolkapitalismus nach einer notwendig gewordenen außen- und innenpolitischen Neuorientierung war dabei bis zur Mitte der 50er Jahre „vornehmlich mit einer sogenannten Revision des Geschichtsbildes, der Staatsphilosophie und — wenn auch abgeschwächter und bedeutend langsamer — methodologischer Prinzipien verbunden, die auf gewisse, durch die Situation erzwungene Wandlungen des bürgerlichen .deutschen Historismus' hinauslief".9 Werner Berthold und Gerhard Lozek haben darauf verwiesen, daß man sich unmittelbar nach 1945 an die Methodologie der historischen Forschung und Darstellung um so fester klammerte, je mehr Elemente des Geschichtsbildes, der Staats- bzw. Gesellschaftsphilosophie revidiert werden mußten.10 Wenn von ihnen in diesem Sinne das Jahrzehnt nach 1945 als ein Zeitraum eingeschätzt worden ist, in welchem es den führenden Historikern wie Friedrich Meinecke, Gerhard Ritter, Ludwig Dehio, Max Braubach, Hermann Heimpel u. a. darauf ankam, „die individualisierende Methode als Kern des ,deutschen Historismus' auch unter den neuen Bedingungen durch weniger bedeutsame theoretische Zugeständnisse an ,westliche Denkweisen' der bürgerlichen Historiographie und Soziologie zu retten"11, so ist damit ohne Zweifel die damals bestimmende Entwicklungstendenz auf dem Gebiet von Geschichtstheorie und -methodologie gekennzeichnet worden. Andererseits hatten aber bereits in der ersten Hälfte der 50er Jahre Werner Conze, Otto Brunner und Theodor Schieder einige über die Auffassungen Meineckes und Ritters hinausgehende — teilweise mit diesen sogar kollidierende — Versuche zu einer theoretisch-methodologischen Umorientierung der bürgerlichen BRD-Historiographie unternommen. Sie beriefen sich dabei in gewisser Weise auf Ritter, der auf dem, ersten Nachkriegskongreß des westdeutschen Historikerverbandes 1949 in München das halbherzige und sicher nur verbal gemeinte Zugeständnis gemacht hatte, daß „nicht alle Bereiche des geschichtlichen Lebens sich im gleichen Maße durch individualisierende Betrachtung
•J TJnbewältigte Vergangenheit, 10
Vgl. ebenda, S. 106.
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Ebenda, S. 140.
23«
S. 101.
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erschließen lassen".12 Insbesondere Werner Conze, in gewisser Hinsicht und nicht so prononciert auch Otto Brunner neigten dazu, einige geschichtstheoretische Modifizierungen nach dem Beispiel des Konzepts einer neuen Geschichtswissenschaft der um die Zeitschrift „Annales" gruppierten französischen Historiker vorzunehmen.13 Die sich seit 1929 um die „Annales" sammelnden französischen Historiker14 verkörperten zu diesem Zeitpunkt eine bürgerliche historiographische Strömung, welche bestrebt war, „die einseitige Orientierung der bürgerlichen Geschichtsschreibung auf den Staat und auf Staatspersönlichkeiten mittels individualisierender Methode durch komplexere und stärker synthetisierende Analysen und Darstellungen, vor allem durch die Einbeziehung sozialökonomischer und kulturgeschichtlicher Faktoren [zu] überwinden", was objektiv bei einem Teil von ihnen auch „zu einer Annäherung an materialistische Positionen" geführt hatte.15 Trotz seiner politischen, weltanschaulichen und erkenntnistheoretischen Grenzen war dieses bürgerliche geschichtstheoretische Konzept jedoch für die bis Mitte der 50er Jahre in der BRD-Historiographie tonangebenden Kräfte entschieden zu materialistisch16 und darüber hinaus zu stark mit einer Form bourgeoiser Innenpolitik verknüpft, „die den beherrschten Volksmassen gewisse Zugeständnisse machen möchte . . . und ihren sozialen, ökonomischen und kulturellen Bedürfnissen größeres Interesse entgegenbringt".17 Die Zahl derjenigen Historiker, die bereits am Anfang der 50er Jahre in der BRD erkannt hatten, daß das theoretisch-methodologische Konzept der „Annales" mit den Grundauffassungen bürgerlichen Geschichtsdenkens durchaus vereinbar war und deshalb auch als ein Ausgangspunkt für die theoretisch-methodologische Modifizierimg der BRD-Historiographie Verwendung finden konnte, war deshalb äußerst gering. Andere BRD-Historiker waren bemüht, sich bei den Versuchen zu einer äußerst vorsichtigen Erweiterung des theoretisch-methodologischen Instrumentariums der bürgerlichen Geschichtswissenschaft18 in erster Linie an bestimmte Auffassungen von Leopold v. Ranke, Johann Gustav Droysen, Jacob Burckhardt, Otto Ritter, Gerhard, Gegenwärtige Lage und Zukunftsaufgaben deutscher Geschichtswissenschaft. in: HZ, Bd. 170,1950,1, S. 8. 13 Vgl. dazu Conze, Werner, Die Stellung der Sozialgeschichte in Forschung und Unterricht, in: GWU, 3, 1952, 11, S. 648 ff.; Brunner, Otto, Das Problem einer europäischen Sozialgeschichte, in: Ders., Neue Wege der Sozialgeschichte, Göttingen 1956, S. 9, 220, Anm. 2; Schieder, Theodor, Zum gegenwärtigen Verhältnis von Geschichte und Soziologie, in: GWU, 3,1952,1, S. 27 iE. 14 Zur Entwicklung dieser historiographischen Strömung vgl. Kudrna, Jaroslav, Zur Entwicklung und zum internationalen Einfluß der französischen Annales-Richtung, in: ZfG, 29,1981, 3, S. 195 it. Eine ausgewogene und sachliche bürgerliche Einschätzung bei Iggers, Georg G., Die „Annales" und ihre Kritiker. Probleme moderner französischer Sozialgeschichte, in: HZ, Bd. 219,1974, 3, S. 578 ff. 15 Unbewältigte Vergangenheit, S. 141. 1B Vgl. Berthold, Werner, „ . . . großhungern und gehorchen", Berlin 1960, S. 241. " Ebenda, S. 244. 18 Vgl. Unbewältigte Vergangenheit, S. 143.
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Hintze, Max Weber und Hans Freyer anzulehnen und gegenüber der Grundlinie der „Annales" eine mehr oder weniger deutliche Distanz zu bewahren. Dieses vor allem von Theodor Schieder praktizierte Vorgehen schloß jedoch nicht aus, einzelne Elemente, Begriffe und Verfahrensweisen der französischen „Annales"-Historiker — z. B. den Strukturbegriff und das Arbeiten mit unterschiedlichen Zeitebenen — zumindest sinngemäß zu übernehmen.19 Obwohl die Diskussion über theoretisch-methodologische Fragen der Geschichtsschreibung auf dem Marburger Historikerkongreß im Jahre 1951 bereits unter dem Thema „Soziologie und Geschichte" geführt wurde20, bleibt doch festzustellen, daß die Zeit für eine breitere Anwendung soziologischer Kategorien und Forschungsmethoden bzw. für eine moderne Sozialgeschichte in der BRD noch nicht herangereift war. Nicht zuletzt bewirkte die massive Kritik bürgerlichreaktionärer Historiker an der theoretisch-methodologischen Konzeption der „Annales"21, daß es bis zur Mitte der 50er Jahre lediglich bei einigen Ansätzen geblieben ist, eine Sozialgeschichte als Synthese von politischer, sozialer und Wirtschaftsgeschichte nach dem Vorbild bzw. in spezifischer Abwandlung der französischen Strukturgeschichte zu begründen, zumal die Gegner einer solchen Neuorientierung die Schwächen sowohl der französischen als auch der Versuche in der BRD für sich ausnutzen konnten. Die in der zweiten Hälfte der 50er Jahre im Weltgeschehen und im Verhältnis der beiden deutschen Staaten vor sich gegangenen Veränderungen bewirkten jedoch weitergehende Modifizierungen im Geschichtsdenken der BRD, die mit einer Umgruppierung der Kräfte innerhalb ihres Historikerverbandes verbunden waren. In wachsendem Maße gewann die Strömung um Hans Rothfels, Theodor Schieder, Werner Conze und Karl Dietrich Erdmann an Bedeutung, welche im geschichtswissenschaftlichen Bereich den Tendenzen zu einer strategischen Neuorientierung imperialistischer Außenpolitik, zu einem weiteren Ausbau des staatsmonopolistischen Herrschaftssystems unter den Bedingungen einer sprunghaften Entwicklung der Produktivität und zu einer damit verbundenen Aufwertung der bürgerlichen Soziologie und Politologie weitgehend entgegenkam.22 In diesem Zusammenhang waren die genannten Historiker auch dazu bereit, sich im Zuge einer verstärkten „geschichtsideologischen Partnerschaft" zunehla
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Vgl. Schieder, Theodor, Der Typus in der Geschichtswissenschaft, in: Ders., Staat und Gesellschaft im Wandel unserer Zeit, München 1958, S. 181 ff. Vgl. dazu die Referate von Freyer, Hans, Soziologie und Geschichtswissenschaft, in: GWU, 3, 1952, 1, S. 14 ff., und Landshut, Siegfried, Die soziologische Geschichtsauffassung des Marxismus, ebenda, S. 21 ff. Vgl. Ritter, Gerhard, Zur Problematik gegenwärtiger Geschichtsschreibung, in: Ders., Lebendige Vergangenheit. Beiträge zur historisch-politischen Selbstbesinnung, München 1958, S. 255—271. Zur marxistischen Analyse dieser Angriffe vgl. Berthold, S. 236-247. Vgl. dazu Lozek, Gerhard/Syrbe, Horst, Geschichtsschreibung contra Geschichte, Berlin 1964, Einleitung und Kapitel II.
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mend auf die in den USA von Hajo Holborn, Hans Rosenberg, Lewis J. Edinger, Guenther Roth, Richard N. Hunt u. a. Historikern und Soziologen praktizierten sozialgeschichtlichen Theoriekonzepte zu orientieren.23 Dies war im Interesse der beabsichtigten stärkeren politischen und ideologischen Westorientierung der bürgerlichen BRD-Historiographie nicht nur notwendig, sondern auch möglich, weil die soziologischen bzw. sozialwissenschaftlichen Theorieansätze aus den USA im Rahmen eines sich verstärkenden Methodenpluralismus zunehmend offener für ideen- oder politikgeschichtliche Ergänzungen geworden waren. Erwähnenswert ist auch, daß sich mit der Rezeption von sozialgeschichtlichen Auffassungen US-amerikanischer Historiker zugleich ein sichtbarer Abbau der schroffen Kritik gegenüber der französischen sozialgeschichtlichen Richtung der „Annales" abzeichnete. Die Historiker der USA hatten vor allem gegenüber den BRD-Historikern „einen gewissen .Vorlauf' in der Modifizierung der Historiographie erreicht".24 Er läßt sich besonders in einer umfassenden Anwendung sozialgeschichtlicher bzw. sozialwissenschaftlicher Praktiken, ideengeschichtlicher Manipulationen sowie einer insgesamt größeren methodologischen Flexibilität bei der Entwicklung und Verbreitung bürgerlicher Geschichtsideologie nachweisen. Ihr pragmatischer Aspekt widerspiegelt sich vor allem in der Tatsache, daß die historisch-politischen Konzeptionen der jeweils führenden USA-Historiker weitaus mehr als in anderen imperialistischen Staaten „einer pseudowissenschaftlichen Verbrämung regierungspolitischer Konzepte" dienten.25 Auch die sogenannte sozialwissenschaftliche Behandlung von Grundfragen und Höhepunkten der Geschichte ermöglichte es den Geschichtsideologen der USA, das herkömmliche Geschichtsbild den ideologischen Erfordernissen der gesellschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Entwicklung im staatsmonopolistischen Kapitalismus sowie der Systemauseinandersetzung zwischen Sozialismus und Imperialismus relativ frühzeitig anzupassen. In Richtimg auf eine theoretisch-methodologische Umorientierung der BRDGeschichtswissenschaft wirkte vor allem eine Reihe ehemaliger deutscher Historiker, die nach 1933 aus verschiedenen Gründen in die USA gegangen waren. Eine wichtige Rolle spielte hierbei der bereits genannte Hans Rothfels. Dessen Bestrebungen liefen nach seiner Rückkehr aus den USA im Jahre 1951 als Professor an der Universität Tübingen (1951—1959), Vorsitzender des Verbandes der BRD-Historiker (1958—1962) und Mitherausgeber der seit 1953 erscheinenden „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte" vor allem darauf hinaus, mit richtungweisenden Gedanken der bürgerlichen Zeitgeschichtsschreibung eine bestimmende Rolle zu verschaffen26 und über das enge Verknüpfen von Geschichts-
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Vgl. dazu Loesdau, Alfred, Globalstrategie und Geschichtsideologie, Berlin 1974, S. 104 ff.; Unbewältigte Vergangenheit, S. 171 ff. Loesdau, S. 49. Ebenda, S. 76; Drechsler, Karl, Ursachen, Enstehung und Wesen des kalten Krieges in der Historiographie der USA — Richtungen und Trends, in: JbG, Bd. 18, 1978, S. 213 ff. Vgl. Rothfels, Hans, Zeitgeschichtliche Betrachtungen, Göttingen 1959.
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Schreibung und sogenannter Politikwissenschaft eine aktivere Politisierung der bürgerlichen BRD-Historiographie zu erreichen. Die von ihm maßgeblich beeinflußten Historiker bzw. Politikwissenschaftler zeichneten sich jedoch nicht nur hinsichtlich der von ihnen verfolgten historischpolitischen Konzeption durch ein hohes Maß an Flexibilität aus. Auch auf dem Gebiet von Theorie und Methodologie waren sie gezwungen, relativ weitgehende Zugeständnisse an soziologisch fundierte Gesellschaftstheorien (Industriegesellschaftslehre), soziologische Forschungstechniken und politologische Theorien zu machen, um die von ihnen beabsichtigte geschichtsideologische Neuorientierung in ihrer Gesamtheit durchsetzen zu können.27 Diese Tendenzen zeigten sich insbesondere in den geschichtstheoretischen Arbeiten von Schieder und Conze28, die bei der Begründung eines typologisierenden Verfahrens in der historischen Forschung, einer an historischen Strukturen orientierten Betrachtungsweise und bei ihren Bemühungen um eine Gesamtsicht von der Vergangenheit zwar vordergründig an die bereits modifizierten Historismus-Auffassungen von Ernst Troeltsch und Friedrich Meinecke, die soziologische Geschichtsbetrachtung Otto Hintzes und Max Webers oder der französischen „Annales"-Richtung anknüpften, damit jedoch günstige Bedingungen für eine Rezeption ähnlicher geschichtstheoretisch-methodologischer Konzepte aus den USA schufen. Bestimmenden Einfluß auf die geschichtsideologische und theoretisch-methodologische Umorientierung erlangten auch die Auffassungen Hajo Holborns, der im Jahre 1934 in die USA übersiedelte und 1940 die amerikanische Staatsbürgerschaft annahm. Holborn — wie Rothfels ein Schüler Friedrich Meineckes — war in seinem Entwicklungsweg als Historiker sowohl von Troeltsch und Meinecke als auch von Hintze und Weber beeinflußt worden. Nach 1945 wurde seine Konzeption über seine engen Beziehungen zu Meinecke, seine Vortragstätigkeit sowie das Wirken weiterer Vertreter der von ihm repräsentierten Richtung wie Dietrich Gerhard, Fritz und Klaus Epstein, Hans Rosenberg, Peter Gay lind Fritz Stern auf die Historiographieentwicklung der BRD wirksam.29 Eine gewisse Sonderstellung nahm der ebenfalls aus Deutschland stammende Meinecke-Schüler Hans Rosenberg ein, weil er in weitaus stärkerem Maße empirische Forschungsmethoden der Soziologie und ökonomische Theorien als
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'•" Vgl. Lozek/Syrbe, Geschichtsschreibung contra Geschichte, Kapitel II. Vgl. Schieder, Theodor, Der Typus in der Geschichtswissenschaft; ders., Strukturen und Persönlichkeiten in der Geschichte, in: HZ, Bd. 195,1962, S. 265 ff.; Conze, Werner, Die Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters als Aufgabe für Forschung und Unterricht, Köln/Opladen 1957. Vgl. Holborn, Hajo, A History of Modern Germany, N e w York 1959; The Varieties of History, hrsg. von Fritz Stern, Cleveland/Ohio 1956; Rosenberg, Hans, Bureaucracy, Aristocracy and Autocracy. The Prussian Experience 1660—1815, Cambridge/Mass. 1958. Zum Wirken der nach 1933 emigrierten bürgerlichen deutschen Historiker in der B R D vgl. auch Iggers, Georg G., Die deutschen Historiker in der Emigration, in: Geschichtswissenschaft in Deutschland. Traditionelle Positionen und gegenwärtige Aufgaben, hrsg. von B. Faulenbach, München 1974, S. 97 ff.
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Grundlage historischer Darstellungen benutzte, während bei den anderen Vertretern dieser Richtung vielfach die soziologischen und ökonomischen Aspekte mehr den Hintergrund einer politischen Ereignisgeschichte bildeten. Rosenberg knüpfte sowohl an Traditionen der bürgerlichen Verfassungsgeschichte als auch an Problemstellungen, Kategorien und Konzeptionen der bürgerlichen Sozialwissenschaften an; daher konnte er nicht nur eine Reihe neuer Aspekte der Beziehungen zwischen verschiedenen Klassen und Schichten in der Geschichte, sondern auch wesentliche Ursachen für die Spezifik der Herausbildung und Weiterentwicklung kapitalistischer Produktions- und Machtverhältnisse herausarbeiten.30 Seine Darstellungen waren mit einer relativ entschiedenen Kritik an den konservativ-aggressiven politischen Tendenzen des preußisch-deutschen Junkertums und Obrigkeitsstaates verbunden. In anderen Studien hat er versucht, ökonomische und soziologische Theorien für die Erklärung und Periodisierung des Geschichtsverlaufs zu nutzen und damit einer theoretisch und zugleich an der historischen Wirklichkeit orientierten bürgerlichen Sozialgeschichte den Weg zu bereiten.31 Von bürgerlichen Historikern der BRD ist hervorgehoben worden, daß das Verdienst Rosenbergs nicht nur darauf beruhe, in den USA „einen Schwerpunkt sozialgeschichtlicher Forschungsarbeiten zur Entwicklung des .deutschsprachigen Mitteleuropa'" gebildet, sondern „seit den 50er Jahren auch in der Bundesrepublik auf Forschungsinteressen, -methoden und -ziele einen stetig zunehmenden Einfluß" ausgeübt zu haben.32 Bereits durch seine Lehrtätigkeit als Gastprofessor an der Westberliner Universität in den Jahren 1949 und 1950 habe er eine Gruppe von Studenten „durch neue Fragen, neue Gesichtspunkte und unorthodoxe Methoden" herausgefordert und bei vielen „einen anhaltenden Gärungsprozeß des Umdenkens" eingeleitet.33 Als sich in der Mitte der 60er Jahre in einem neuen Anlauf zum Abbau konventioneller Schranken auf dem Gebiet der Geschichtstheorie und -methodologie das Interesse an einer konkreten sozialhistorischen Analyse durchsetzte und Fragen des Verhältnisses zwischen Geschichtswissenschaft und Sozialwissenschaften in verstärktem Maße diskutiert wurden, fanden seine Arbeiten und weiteren Lehrveranstaltungen in der BRD vor allem unter jüngeren Historikern und Sozialwissenschaftlern wachsende Resonanz. Im Selbstverständnis dieser jüngeren BRD-Historiker — zu denen damals Hans-Ulrich Wehler, Jürgen Kocka, Hans und Wolfgang J. Mommsen, Heinrich A. Winkler u. a. gehörten — haben Rosenbergs „kritische
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al
32
,af
Vgl. Rosenberg, Hans, Die Pseudodemokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse, in: Moderne deutsche Sozialgeschichte, hrsg. von Hans-Ulrich Wehler, Köln/(West-)Berlin 1966, S. 287 ff. Vgl. ders., Wirtschaftskonjunktur, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa. 1873—1896, ebenda, S. 225 ff.; ders., Zur sozialen Funktion der Agrarpolitik im Zweiten Reich, in: Ders., Probleme der deutschen Sozialgeschichte, Frankfurt a. M. 1969, S. 51 ff. Wehler, Hans-XJlrich, Vorwort zu Sozialgeschichte Heute, hrsg. von Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1974, S. 9. Ritter, Gerhard A., Vorwort zu Entstehung und Wandel der modernen Gesellschaft, hrsg. von Gerhard A. Ritter, (West-)Berlin 1970, S. VII f.
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Sozialgeschichte" der Bürokratie, des Adels und anderer sozialer Gruppen, seine Verbindung von Industrie- und Agrargeschichte, Konjunktur- und Wachstumsforschung, seine Beiträge zum Liberalismusproblem und sein „Insistieren auf theoretischer Klarheit" in Verbindimg mit „entschiedenem politischem Engagement und Mut zum Werturteil" einen Demonstrationseffekt ausgelöst34, der auch als Ausgangspunkt ihrer späteren Zielvorstellung von einer der historischen Komplexität angemessenen „kritischen Gesellschaftsgeschichte" betrachtet werden kann. Ein qualitativer Sprung in der Umorientierung konnte jedoch erst in der Mitte der 60er Jahre erreicht werden, als aus einer Reihe von wissenschaftstheoretischen und gesellschaftspolitischen Gründen die in ihrer ersten Phase „im großen und ganzen unzureichende Rezeption und Ausformung der Sozial- und Strukturgeschichte von einer intensiveren Hinwendung zur Sozialgeschichte" abgelöst wurde.35 Mit Recht ist dieser Einschnitt in der theoretisch-methodologischen Entwicklung der BRD-Historiographie gleichzeitig als Beginn einer neuen Phase der Grundlagenkrise des bürgerlichen Geschichtsdenkens herausgestellt worden, weil mit der Forcierung der geschichtstheoretischen Umrüstung in erster Linie „eine größere politische und ideologische Effektivität der bürgerlichen Geschichtsschreibung in gegenwärtigen und zukünftigen Klassenauseinandersetzungen" erreicht werden sollte.36 Zu den tragenden Kräften der geschichtstheoretischen Modifizierungen jener Zeit gehörten wiederum vor allem Otto Brunner, Theodor Schieder, Werner Conze und Karl Bosl, die — von einer neuen Führungsschicht im Historikerverband der BRD (H. Rothfels, K. D. Erdmann) tatkräftig unterstützt — ihr sozialgeschichtliches Konzept systematisch ausbauen und eine „nachwachsende" Generation von Historikern (Hans Mommsen, Hans-Ulrich Wehler, Wolfgang Schieder, Thomas Nipperdey, Wolfgang J. Mommsen, Heinrich August Winkler u. a.) in diesem Sinne beeinflussen konnten.37 Diese Historiker unternahmen bereits seit Beginn der 60er Jahre — nicht zuletzt mit dem Bestreben, dem Marxismus eine brauchbare gesellschafts- und geschichtstheoretische Alternative entgegenzusetzen — große Anstrengungen, um wesentliche Elemente des traditionellen deutschen Historismus durch partielle Erkenntnisse der neueren bürgerlichen Philosophie, der Soziologie und anderer bürgerlicher Sozialwissenschaften zu erweitern und in diesem Zusammenhang innerhalb der bürgerlichen Geschichtswissenschaft eine gesellschaftstheoretisch mit der Lehre von der Industriegesellschaft sowie den aus ihr abgeleiteten Konzepten verknüpfte sozialgeschichtliche Betrachtungsweise zu begründen, über welche man vor allem den Anschluß an die internationale bürgerliche Wissenschaftsentwicklung zu erreichen versuchte.38 04 05
36 rsl
Wehler, Vorwort zu Sozialgeschichte Heute, S. 20. Schleier, Hans, Zu den Theorien über die Entwicklung der Gesellschaft im spätbürgerlichen deutschen Geschichtsdenken, in: Formationstheorie und Geschichte, hrsg. von Ernst Engelberg und Wolfgang Küttler, Berlin 1978, S. 677 f. Unbewältigte Vergangenheit, S. 143 f. Vgl. Lozek/Syrbe, Geschichtsschreibung contra Geschichte, bes. S. 16 ff., 89 ff.
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Diese Bemühungen widerspiegelten sich vor allem in dem im Jahre 1961 von Waldemar Besson herausgegebenen und von Rothfels eingeleiteten FischerLexikon „Geschichte". Dieses Buch war weniger eine Bestandsaufnahme der damaligen geschichtswissenschaftlichen Tendenzen, sondern eher der Versuch, das geschichtsideologische und theoretisch-methodologische Konzept der Historiker um Rothfels, Erdmann, Schieder und Conze darzulegen.39 Zu einer charakteristischen Tendenz der 60er Jahre — besonders in ihrer zweiten Hälfte — entwickelten sich dabei die Bemühungen, die seit dem Endet der 50er Jahre in der BRD vornehmlich unter dem Gesichtspunkt einer vieldeutig auslegbaren „Soziologisierung" der bürgerlichen Historiographie vorgenommenen theoretisch-methodologischen Modifizierung konkreter zu bestimmen. Dies geschah in erster Linie über den neuen Begriff der modernen Sozialgeschichte, mit dessen Hilfe sowohl die Eigenständigkeit des bürgerlichen Geschichtsdenkens betont als auch die Möglichkeiten und Grenzen einer Anwendung soziologischer Methoden durch die Historiker klarer abgesteckt werden konnten. Um die wesentlichen Merkmale und Kriterien dieser modernen bürgerlichen Sozialgeschichte herausstellen zu können, muß zuerst auf das bis zum Anfang der 60er Jahre in der BRD vorherrschenden Verständnis des Begriffs Sozialgeschichte eingegangen werden. Sozialgeschichte wurde überwiegend als eine historische Teildisziplin mit einem eigenen Gegenstandsbereich, als Geschichte der Stände und Klassen, der sozialen Schichten und Gruppen, ihrer Bewegungen, Kooperationen und Konflikte, als Geschichte von Sitten, Gebräuchen oder des Alltagslebens (in Anlehnung an die Kulturgeschichte) bzw. als eine Ergänzung der bürgerlichen Wirtschaftsgeschichte (hinsichtlich der sozialen Wirkungen ökonomischer Entwicklungen) verstanden. Die so interpretierte Sozialgeschichte besaß den Charakter einer Spezial-, Fach- oder Sektorwissenschaft, was die „Vorstellung einer in Bereiche gegliederten oder sinnvoll zu analytischen Zwecken in Bereiche gliederbaren geschichtlichen Wirklichkeit" voraussetzte.40 Historiker wie Brunner, Bosl, Conze und Hans Mommsen wiesen nun im Verlaufe der 60er Jahre mit Nachdruck darauf hin, daß sowohl eine als Sektorwissenschaft verstandene Sozialgeschichte als auch die ihr zugrunde liegende Trennung von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat weder der alteuropäischen Wirklichkeit bis ins 18. Jh. mit ihrer unlösbaren Verschränkung ökonomischer, sozialer und politischer Momente (Brunner, Bosl), noch der von zunehmender gegenseitiger Durchdringung ökonomischer, gesellschaftlicher und politischer Momente gekennzeichneten Wirklichkeit des 20. Jh. (Conze, Mommsen) entsprechen können. Während es für die zuerst genannten Historiker typisch war, dem sozialgeschichtlichen Aspekt nur eine Gleichwertigkeit gegenüber einer Reihe anderer Gesichtspunkte in Geschichtsforschung und -darstellung einzuräumen, so zeigte sich damals bei Conze und Hans Mommsen die Bereitschaft, ihm einen etwas höheren Stellenwert als anderen „Sehweisen" beizumessen. Vgl. JJnbewältigte Vergangenheit, S. 110 f. Vgl. dazu Lozek/Syrbe, Geschichtsschreibung contra Geschichte, S. 239 Anm. 10. w Vgl. Kocka, Theorieprobleme der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, S. 306 f. 38 M
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Vor allem Conze, der bereits 1957 unterstrichen hatte, daß es die Geschichtswissenschaft „mit dem Ganzen der geschichtlichen Welt und nicht mit Sektoren zu tun hat" und daß der Historiker demzufolge „seine quellenfundierte Forschung nicht ohne Beziehung zu den systematischen Fächern" betreiben dürfe 4 1 , bemühte sich weiterhin u m eine Bestandsaufnahme bei der Klärung sowohl des Begriffs als auch des Inhalts der modernen bürgerlichen Sozialgeschichte. Sozialgeschichte w u r d e von ihm damals als Geschichte „der sozialen Strukturen, Abläufe, Bewegungen" definiert, die damit „sowohl der Geschichtswissenschaft wie der Soziologie" verbunden sei. Da in einer solchen Sozialgeschichte die „Gesellschaft" bzw. das „Soziale" stets „nur in ihren politischen oder in ihren wirtschaftlichen Beziehungen konkret thematisiert" werden könne, sei Sozialgeschichte in diesem Sinne durchaus auch politische Geschichte, n u r daß sie das politische Geschehen nicht an sich erforscht, sondern vorwiegend seine „gesellschaftlichen Objektivationen und Determinanten". Aufgabe des Sozialhistorikers wäre es deshalb, die Geschichtswissenschaft „allgemein sozialhistorisch zu f u n dieren oder zu durchdringen" und damit das bisherige Denkmodell einer als Sektorwissenschaft verstandenen Sozialgeschichte zu überwinden. 4 2 Auch von Hans Mommsen w u r d e darauf hingewiesen, daß sich die Sozialgeschichte von der allgemeinen Geschichte, aber auch von der traditionellen Sozialgeschichte durch „eine besondere Sehweise" unterscheide, die auf die „Erkenntnis der strukturellen gesellschaftlichen Prozesse" gerichtet sei und eine eigene Methodik besitze, welche die „Antithese zwischen individualisierender und generalisierender Betrachtungsweise durch die Synthese strukturierender Geschichtsbetrachtung" zu überwinden trachte. Mommsen hob weiterhin den Zusammenhang hervor, der zwischen einer Aufwertung der Sozialgeschichte im obengenannten Sinne und den Bestrebungen stand, „die moderne Soziologie f ü r die geschichtliche Forschung fruchtbar zu machen", indem er auf die gegenseitige Annäherung von Geschichte und Soziologie sowie die „Möglichkeit ihrer Synthese in der modernen Sozialgeschichte" aufmerksam machte. 43 Diese in der Mitte der 60er J a h r e durch politisch und methodologisch flexible Historiker in der BRD vorgenommene Erweiterung bzw. Neubestimmung des Inhalts der bürgerlichen Sozialgeschichte als eine „allgemeine Betrachtungsweise" bzw. „Aspektwissenschaft", mit deren Hilfe historische Erscheinungen und Prozesse insgesamt von den ihnen zugrunde liegenden verschiedenartigen „Strukturen" her untersucht werden sollten, muß auch aus marxistischer Sicht als eine deutliche Schwerpunktverlagerung innerhalb der bürgerlichen Geschichtswissenschaft eingeschätzt werden. Die Aufwertung sozialer, d. h. gesellschaftlicher Strukturen zu einer zentralen theoretisch-methodologischen Kategorie ermöglichte eine erhebliche Ausweitung der Geschichtsbetrachtung und -analyse, so daß f r ü h e r ängstlich gemiedene Bereiche der Geschichte — wie soziale und ökonomische Entwicklungen, Probleme des „gesellschaftlichen Wan41 A2 43
24*
Conze, Die Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters, S. 21 f. Ders., Sozialgeschichte, in: Moderne deutsche Sozialgeschichte, S. 19 ff. Mommsen, Hans, Sozialgeschichte, ebenda, S. 27 ff.
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dels" und nicht zuletzt die Geschichte der Arbeiterbewegung — nunmehr einbezogen werden konnten. Wenn auch die zunehmende Praktizierung der sozialgeschichtlichen Betrachtungsweise im Detail zu manchen mit der objektiven Realität übereinstimmenden Erkenntnissen führte, so war sie doch von ihrem Grundanliegen her darauf gerichtet, „die geschichtlichen Prozesse im allgemeinen und die Entwicklungstendenzen der modernen Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus im besonderen im Sinne der reaktionären Interessen der Monopolbourgeoisie zu erfassen und zu deuten" 44 bzw. von sozialreformistischer Warte zu interpretieren. Dies konnte auch gar nicht anders sein, weil die modernen Sozialhistoriker gerade die sozialökonomischen Strukturen nicht in den Mittelpunkt ihrer Analysen stellten, die sozialökonomische Grundkategorie der Gesellschaftsformation und den Kampf sozialer Klassen als die entscheidende Triebkraft der historischen Entwicklung weiterhin negierten und sich statt dessen auf Strukturen im ideologischen und politischen oder bestenfalls materiell-technischen Bereich konzentrierten. 45 Selbst bürgerliche Historiker haben aus ihrer Sicht die Grenzen und die Inkonsequenz der als Betrachtungsweise verstandenen Sozialgeschichte erkannt und aufgezeigt. Obwohl diese „die verbreitete Erfahrung der Abhängigkeit individueller Ereignisse, Handlungen und Personen von vorgegebenen, nur langsam veränderbaren und den Handelnden häufig nicht bewußten Strukturen und Prozessen überindividueller Art" reflektiere, stelle sie nicht notwendig „soziale und wirtschaftliche Faktoren" ins Zentrum ihrer Betrachtimg, brauche keineswegs von einem „materialen Begriff von Gesellschaft" auszugehen, könne im Prinzip dazu gelangen, nichtökonomischen Strukturen und Prozessen „den Primat einzuräumen", und ziele in der Regel auf eine gesamtgesellschaftliche Synthese ab, „die nicht notwendig eine soziale oder sozialökonomische" wäre. 46 In untrennbarem Zusammenhang mit der Übernahme von Begriffen und Kategorien der bürgerlichen Soziologie standen auch die sich in den 60er Jahren in der BRD verstärkenden Bemühungen um die Begründung einer speziellen sozialgeschichtlichen Methodologie. Mit dieser — vordergründig auf die Erforschung historischer Strukturen und die Erarbeitung historischer Typen gerichteten — Methodologie sollte nach den damals sich erst allmählich differenzierenden Auffassungen von Th. Schieder, Conze, H. Mommsen und Wehler vor allem die bis dahin in der bürgerlichen deutschen Geschichtswissenschaft postulierte Gegensätzlichkeit von individualisierender und generalisierender Betrachtungsweise abgebaut und überwunden werden. 144
45 40
Küttler, Wolfgang/Lozek, Gerhard, Marxistisch-leninistischer Historismus und Gesellschaftsanalyse, in: Probleme der Geschichtsmethodologie, hrsg. von Ernst Engelberg, Berlin 1971, S. 61. Vgl. Schleier, Zu den Theorien über die Entwicklung der Gesellschaft, S. 689—694. Kocka, Zur jüngeren marxistischen Sozialgeschichte, S. 495; vgl. auch ders., Sozialgeschichte — Strukturgeschichte — Gesellschaftsgeschichte, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 15,1975, S. 27 ff.
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Bei den Versuchen, dieses Ziel zu realisieren, ist fast ausnahmslos in mehr oder weniger direkter Weise an wissenschaftstheoretische Konzeptionen Max Webers angeknüpft worden. Es ist allerdings aufschlußreich, in welch geringem Maße man sich dabei teilweise von dessen gesellschafts- und geschichtstheoretischen Auffassungen abgrenzte, die durch den unstreitigen Vorrang der individualisierenden gegenüber der nur als Hilfsmittel im heuristischen Sinne verstandenen „generalisierenden" Methode gekennzeichnet waren. 47 Besonders deutlich zeigte sich diese Tendenz bei Schieder, der die Forderung zu begründen versuchte, generalisierende Verfahren und Methoden der Geschichtswissenschaft im allgemeinen und der modernen Sozialgeschichte im besonderen unmittelbar aus der traditionellen, mehr oder weniger offen idealistischen Geschichtstheorie und -methodologie abzuleiten. In diesem Zusammenhang vertrat er auch die These, daß ausgesprochene Vertreter des Historismus wie Leopold von Ranke und Ernst Troeltsch in verschiedenster Weise Verallgemeinerungen vorgenommen hätten, ohne dies jedoch besonders herausgestellt zu haben. Aufschlußreich ist in dieser Hinsicht seine Arbeit über „Möglichkeiten und Grenzen vergleichender Methoden in der Geschichtswissenschaft" (1965), in welcher er davon ausgeht, daß der Ruf nach Vergleich „in erster Linie ein Ruf nach größerer Verallgemeinerung der historischen Begriffsbildung, nach Unterordnung eines in beängstigender Weise angewachsenen Besonderen unter ein Allgemeines" sei.48 Schieders Argumentation lief eindeutig darauf hinaus, vergleichende und damit generalisierende Methoden lediglich „von den historistaschen Prinzipien des individualisierenden und synthetischen Vergleichs" aus weiterzuentwickeln 49 und bisher nicht erfaßte „Individualbegriffe höherer Ordnung" in Anlehnung an Max Weber zu erschließen, mit denen „Einzelzüge der Wirklichkeit gestrafft und zusammengefaßt" werden könnten. 50 Obwohl von anderen bürgerlichen Historikern der Unterschied zwischen traditioneller historischer und moderner sozialgeschichtlicher Theorie und Methodologie stärker betont und die von ihnen angewandten generalisierenden Forschungs- und Darstellungsmethoden in erster Linie aus sozialwissenschaftlichen Disziplinen, wie z. B. der Soziologie, entlehnt wurden, fällt jedoch auch hier ein deutliches Übergewicht der individualisierenden Methode ins Auge. Das zeigte sich auch in den Arbeiten Conzes, die bei der Profilierung der Sozialgeschichte in der BRD eine bestimmende Rolle gespielt haben. Vor allem in 4/
48
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w
Vgl. Weber, Max, Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1951, S. 146 ff. Schieder, Theodor, Möglichkeiten und Grenzen vergleichender Methoden in der Geschichtswissenschaft, in: Geschichte als Wissenschaft, München/Wien 1965, S. 189. Schieder, Theodor, Möglichkeiten und Grenzen vergleichender Methoden in der Geschichtswissenschaft, in: Geschichte als Wissenschaft, München/Wien 1965, S. 208. Schieder, Theodor, Möglichkeiten und Grenzen vergleichender Methoden in der Geschichtswissenschaft, in: Geschichte als Wissenschaft München/Wien 1965, S. 202.
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seiner Schrift über die „Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters", worin er einen wesentlichen Vorstoß zur Überwindung der „Unvereinbarkeit" von typologisierender und individualisierender Methode unternimmt, drängt Conze mit seiner Grundthese, daß eine „Revision" der Arbeitsweise des Historikers „keinesfalls den Kern des Sinns und der Methode" seines Faches angreifen dürfe, die sozialwissenschaftlichen Verallgemeinerungen von vornherein in eine untergeordnete Stellung. 51 Daß Conze von dieser Grundposition im Prinzip niemals abgewichen ist, beweisen auch spätere Arbeiten. So hob er in seinem 1966 erschienenen Aufsatz wiederum mit Nachdruck hervor, daß die Arbeitsweise der Sozialgeschichte „durch die in der Geschichtswissenschaft allgemein gültige historisch-kritische und historisch verstehende Methode" gekennzeichnet sei. Auch die mit Hilfe typologisierender Verfahren erreichten Generalisierungen bedürften gleichermaßen einer ständigen „Revidierung durch den unbefangenen Blick auf die Quellen" und somit einer historischen Konkretisierung. 52 Auf dem Mannheimer Historikerkongreß im Jahre 1976 gestand Conze schließlich mit nicht zu übersehender Genugtuung ein, daß in der BRD-Historiographie „keine eindeutige Gewichtsverlagerung . . . im Sinne einer Soziologisierung der Geschichte" eingetreten und daß der Historismus „in der heutigen Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft keinesfalls aufgegeben" sei. Diese im wesentlichen zutreffende Einschätzung war mit der Warnung vor der „Tendenz eines anti-histöristischen Pendelausschlags zu einer sich emanzipatorisch verstehenden kritisch-historischen Sozialwissenschaft" verknüpft, in der eine „sozio-ökonomische Betrachtungsweise" dominieren würde. 53 Noch deutlicher zeigte sich diese Tendenz bei Karl Bosl. Obwohl dieser sogar so weit ging, die moderne Sozialgeschichte — ebenfalls in Anlehnung an Max Weber — als „geschichtlich gesättigte Soziologie" zu bezeichnen, f ü r welche die Geschichte „alles objektive Material zum Verständnis der Gegenwart und der in ihr wirkenden Kräfte" bereiten und die Soziologie die „Sehweisen und Begriffe (Typen) f ü r die Sichtung und Ordnung des aufbereiteten Materials" liefern sollte54, wurde auch von ihm letzten Endes am traditionellen „Grundanliegen" der bürgerlichen Historiographie festgehalten, das trotz der Erweiterung ihres Gegenstandes und ihrer Methoden in der „Erforschung, Deutung und Darstellung des freien Individuums . . . , des Einmaligen und des Einzelereignisses" bestehen sollte.55 Neben diesen im Grunde genommen recht inkonsequenten Schritten in Richtung auf einen Ausgleich von individualisierender und generalisierender Me51 M 53 04
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Conze, Die Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters, S. 21 f. Ders., Sozialgeschichte, S. 25. Ders., Die deutsche Geschichtswissenschaft seit 1945, in: HZ, Bd. 225, 1977, 1, S. 21 f. Bosl, Karl, Geschichte und Soziologie. Grundfragen ihrer Begegnung, in: Ders., Frühformen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa, München/Wien 1964, S. 480. Ebenda, S. 491; weitergehende Aussagen zu Bosl bei Erbstößer, Martin/Matschke, Klaus-Peter, Von Bayern nach Europa. Geschichtsbild und politischer Standort des Historikers Karl Bosl, in: JbG, Bd. 9,1973, S. 467 ff.
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thode gab es aber bereits in den 60er Jahren auch Historiker in der BRD, die sich um ein ausgewogeneres Verhältnis beider in der modernen Sozialgeschichte bemühten. Als Beispiel soll Hans Mommsen angeführt werden, der im Jahre 1966 nicht nur auf die „Notwendigkeit einer typologisierenden und vergleichenden Methode", sondern darüber hinaus auf die Einbeziehung „ökonomisch-gesellschaftlicher Faktoren" verwies.56 Bei ihm zeigten sich sogar bestimmte Ansätze, sowohl das methodologische als auch das theoretisch-weltanschauliche Ubergewicht des Historismus in den damals dominierenden Auffassungen von Sozialgeschichte zugunsten einer verstärkten Heranziehung von „statistischen Methoden der Wirtschaftswissenschaft, der politischen Geographie und der Demographie", vor allem aber „heuristisch verstandener sozialer Theorien" abzubauen. Nicht zuletzt zeugte auch sein Bemühen um die Verbreitung der Ansicht, daß „den geschichtlichen Bewegungen ein prozeßhafter Wandel der gesellschaftlichen Strukturen zugrunde liegt"57, von einer sichtbaren Aufwertung neopositivistischer Methodologie, Geschichtstheorie und Gesellschaftsauffassung. Die dargestellten Auffassungen machen insgesamt deutlich, daß mindestens bis zur Mitte der 60er Jahre in der BRD-Historiographie unter einer Verbindung von individualisierender und generalisierender Methode überwiegend die Ergänzung der ersteren verstanden wurde. Die in diesen Jahren zur Anwendung gelangenden bzw. in theoretischen Arbeiten propagierten generalisierenden Methoden dienten demzufolge fast ausschließlich dazu, die Individualität historischer Ereignisse im Rahmen von meist nicht näher bezeichneten Allgemeinheiten deutlicher als bisher herauszustellen, sofern sie nicht — wie z. B. bei Schieder — aus der traditionellen historischen Methodologie selbst abgeleitet wurden. Der Historismus blieb somit als weltanschauliches Grundprinzip bürgerlichen Geschichtsdenkens im wesentlichen unangetastet und konnte aus diesem Grunde — trotz der sich verstärkenden Forderungen nach Generalisierung und kausaler Erklärung — auch seine führende Position auf methodologischem Gebiet erhalten. Dieser auch in den folgenden Jahren für die bestimmende Richtung innerhalb der bürgerlichen Sozialgeschichte typische methodologische Standort ist auch von bürgerlichen Historikern durchaus zutreffend gekennzeichnet worden. So schrieb beispielsweise Hans Mommsen 1974 in einer historiographiegeschichtlichen Arbeit, daß „die westdeutschen Historiker zwar bereit [sind], sozialwissenschaftliche Forschungstechniken aufzugreifen, . . . aber in der MehrzaKl an den klassischen Postulaten des Historismus, insbesondere dem Verstehens- und dem Individualitätsaxiom", festhalten.58 Andererseits sind von der damaligen Führungsgeneration um Schieder, Conze und Erdmann unter dem Zwang der sich verändernden Existenzbedingungen des BRD-Imperialismus auch auf theoretisch-methodologischem Gebiet tatsächlich einige unhaltbare Positionen aufgegeben und eine Entwicklung in Gang geM
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Mommsen, Sozialgeschichte, S. 27. Ebenda, S. 33 f. Ders., Die Herausforderung durch die Sozialwissenschaften, in: Geschichtswissenschaft in Deutschland, S. 145.
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setzt worden, an welche mit weitergehenden theoretisch-methodologischen Korrekturen zumindest angeknüpft werden konnte. Bei den dargestellten Bemühungen von Historikern der BRD, im Rahmen der modernen Sozialgeschichte zu einer Verknüpfung von individualisierender und generalisierender Methode zu gelangen, spielte in den 50er und 60er Jahren die Anwendimg des typologisierenden Verfahrens eine so bedeutende Rolle, daß es oftmals, wenn auch unzutreffend, mit der generalisierenden Methode identifiziert worden ist. Die Benutzung soziologischer bzw. ökonomischer Theorien und Methoden zur Bildung historischer Typen, die im Selbstverständnis bürgerlicher Historiker zur „Auswahl, Ordnung und Verknüpfung von Quelleninformationen nach strukturellen und prozessualen Mustern" dienen sollen59, geht im wesentlichen auf den bürgerlichen deutschen Soziologen Max Weber zurück. Dieser hatte sich bereits u m die Jahrhundertwende f ü r begrenzte Verallgemeinerungen bzw. Systematisierungen in der bürgerlichen Historiographie ausgesprochen. Vor allem mit der Lehre von den „Idealtypen", welche als zentrales Erkenntnisinstrument in den bürgerlichen Sozial- bzw. Geisteswissenschaften fungieren sollten, war von Weber in seinen historisch-soziologischen Arbeiten „eine neue, den konkreten Bedingungen imperialistischer Wissenschaftstheorie und -politik besser angepaßte Methode zur Leugnung der objektiven gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten" eingeführt worden, die sich durch ihre Elastizität von den theoretisch-methodologischen Positionen der damaligen Historiker unterschied, welche „den historischen Materialismus meist pauschal'von der Warte des reaktionären Historismus aus anfeindeten". 60 Wie stark aber sein methodologisches Konzept dem traditionellen bürgerlichen Idealismus verhaftet war, zeigt die nähere Betrachtung des von ihm angepriesenen Idealtypus selbst. Dieser wurde in direkter Frontstellung gegen den Gesetzesbegriff des historischen Materialismus als ein „Gedankenbild" definiert, „welches nicht die historische Wirklichkeit oder gar die eigentliche' Wirklichkeit ist . . . , sondern die Bedeutung eines rein idealen Grenzbegriffes hat, an welchem die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehalts gemessen, mit dem sie verglichen wird". 61 Als von der objektiven Realität abgetrennte Verstandeskategorien trugen diese Idealtypen nicht nur einen betont subjektivistischen Charakter, sondern waren darüber hinaus von Weber auf ein bloßes Erkenntnismittel reduziert worden. Das mit Hilfe der Bildung „abstrakter Idealtypen" möglich werdende Erfassen bestimmter Regelmäßigkeiten und Zusammenhänge wurde somit nicht als das Ziel der historisch-gesellschaftlichen Erkenntnis verstanden, sondern blieb ein59
Kocka, Theorieprobleme der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, S. 316. Schleier, Hans, Zum Verhältnis von Historismus, Strukturgeschichte und sozialwissenschaftlichen Methoden in der gegenwärtigen Geschichtsschreibung der BRD, in: Probleme der Geschichtsmeihodologie, S. 309. « Weber, S. 194. w
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deutig — wenn auch nicht ausschließlich — der „systematischen Charakterisierung von individuellen, d . h . in ihrer Einzigartigkeit bedeutsamen Zusammenhängen" untergeordnet. 6 2 Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß vor allem die u m eine verstärkte Generalisierung in der historischen Forschung und Darstellung bemühten BRDGeschichtswissenschaftler Webers Auffassungen aufgegriffen haben, zumal es sich bei der von ihm praktizierten Typologisierung n u r u m eine begrenzte, d. h. das Erkennen objektiver gesellschaftlicher Gesetze umgehende Methode des Verallgemeinems handelt, mit welcher jedoch „unter besonders günstigen Umständen auch brauchbare Halbfabrikate der Forschung" erreichbar sind. 63 Es w a r in erster Linie Theodor Schieder, der die Verwendbarkeit von Webers soziologischer Typenlehre f ü r die Verallgemeinerung historischer Ereignisse und das Herstellen von Zusammenhängen zwischen ihnen untersucht hat. So meinte er, daß Max Webers Typenlehre sehr stark „in geschichtlichem Erdreich verwurzelt" gewesen wäre, und teilte offensichtlich mit ihm die Überzeugung, daß „das Ubergreifen naturwissenschaftlicher Gesetzesbegriffe auf die Geschichte nicht mit dem alten Individualitätsgedanken allein abgewehrt w e r den könne". Die gedankliche Leistung Webers hätte darin bestanden, „nicht mehr n u r geschichtliche Individualität . . . , aber auch nicht naturwissenschaftliche .Gesetze', sondern die relative Allgemeinheit eines Typus" zu suchen, in welchem zwar ein „generalisierendes Moment" enthalten sei, der aber andererseits immer „so mit geschichtlicher Substanz gesättigt [bliebe], daß er nirgends eine Sprengung historischer Denkformen bewirkt". 6 4 Zeigte sich damals bereits mit aller Deutlichkeit, daß auch Schieder die typologisierende Methode lediglich als eine Ergänzung bzw. Effektivierung der t r a ditionellen individualiserenden Methode betrachtete, so läßt sich diese Grundposition in einer von ihm im J a h r e 1965 veröffentlichten Arbeit noch eindeutiger nachweisen. Dort w u r d e mit aller Offenheit eingestanden, „daß der Idealtypus zwar ein Ergebnis synthetischer Vergleichsmethoden ist, aber seine eigentliche Aufgabe darin besteht, Anhalt f ü r historische Individualisierung zu sein". Die Typenlehre Webers bezeichnete e r lediglich als einen Versuch, die bis dahin oft ohne klares methodisches Bewußtsein angewandten „synthetischen Methoden geschichtswissenschaftlichen Denkens . . . streng logisch zu: definieren". 6 5 Nachdem vor allem durch Schieders programmatische Aufsätze über die Anwendungsmöglichkeiten generalisierender bzw. typologisierender Methoden in der Historiographie den BRD-Historikern klargeworden war, daß durch die Typologisierung „letzten Endes das Individualitätsprinzip des reaktionären
62
Ebenda, S. 201. Grundlagen der marxistisch-leninistischen Soziologie, hrsg. von Georg Aßmann und Rudhard Stollberg, Berlin 1977, S. 355. 64 Schieder, Der Typus in der Geschichtswissenschaft, S. 177 f. •*> Ders., Möglichkeiten und Grenzen vergleichender Methoden in der Geschichtswissenschaft, S. 203. m
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Historismus nur auf eine allgemeinere Ebene übertragen" 66 wird und damit sogar in die moderne Sozialgeschichte hinübergerettet werden kann, setzte sich in der ersten Hälfte der 60er Jahre die idealtypische Verfahrensweise als gebräuchlichste Form der historischen Verallgemeinerung durch. Obwohl seit diesem Zeitpunkt typologische Generalisierungen von der Mehrheit der bürgerlichen BRD-Historiker nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt werden — was einige von ihnen zu der irreführenden Behauptung veranlaßte, daß damit der Historismus generell überwunden sei —, führte die einseitige und undialektische Bindung der Typologie an das Individuelle in Wirklichkeit zu einer Befestigung der theoretisch-weltanschaulichen Funktion des bürgerlichen Historismus. Hieraus erklärt sich auch die Tatsache, daß der Widerstand der auf betont konservativen ideologisch-theoretischen Positionen stehenden Historiker gegen eine solche Art von Verallgemeinerungen in der bürgerlichen BRD-Historiographie relativ gering war. Den größten Zuspruch fand die idealtypische Methode aber bei jüngeren Vertretern der modernen Sozialgeschichte, weil sie sich nahtlos in ihre Grundkonzeption einfügen ließ, mittels einer mehr oder weniger starken methodologischen Umorientierung die gesellschaftspolitische Effektivität und die Erkenntnisleistungen der bürgerlichen Historiographie zu erhöhen, ohne deren Bindung an die traditionelle, im wesentlichen idealistische Geschichtstheorie (bzw. Geschichtsphilosophie) überhaupt in Frage stellen zu müssen. Einige von ihnen hatten sich bereits in den 50er und 60er Jahren intensiv mit Max Webers idealtypischer Methodologie beschäftigt. So promovierte Wolfgang J. Mommsen 1958 bei Schieder mit einer Arbeit über Max Weber und veröffentlichte 1965 in der „Historischen Zeitschrift" eine darauf beruhende Interpretation seiner geschichtstheoretischen Auffassungen. 67 Auch Jürgen Kocka trat schon 1966 mit einem größeren Aufsatz zu methodologischen Aspekten in Webers historischsoziologischen Schriften in Erscheinung. 68 Ihr Interesse an dieser Problematik hat auch in den folgenden Jahren keinesfalls nachgelassen, was die nach 1970 veröffentlichte Arbeit Mommsens über erkenntnistheoretisch-methodologische Überlegungen Max Webers69 und Kockas Analysen der idealtypischen Theorieanwendung im Rahmen der bürgerlichen Sozial- und Gesellschaftsgeschichte in verschiedenen Aufsätzen beweisen. 70 m
Schleier, Zum Verhältnis von Historismus, S. 336. Vgl. Mommsen, Wolfgang J., Universalgeschichtliches und politisches Denken bei Max Weber, in: HZ, Bd. 201,1965, 3, S. 557 ff. 00 Vgl. Kocka, Jürgen, Karl Marx und Max Weber. Ein methodologischer Vergleich, in: Zeitschrift für die Gesamte Staatswissenschaft, Bd. 122,1966, S. 328 ff. ^ Vgl. Mommsen, Wolf gang J., „Verstehen" und „Idealtypus". Zur Methodologie einer historischen Sozial Wissenschaft, in: Ders., Max Weber. Gesellschaft, Politik und Geschichte, Frankfurt a. M. 1974, S. 208 ff. w Vgl. Kocka, Theorieprobleme der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, S. 316 ff.; ders., Theorien in der Sozial- und Gesellschaftsgeschichte, S. 17—20; ders., Kontroversen über Max Weber, in: Neue Politische Literatur, 21,1976, 3, S. 288-292.
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Das theoretisch-methodologische Kernstück der Versuche bürgerlicher BRDHistoriker, eine neue Art von Sozialgeschichte zu begründen, bildete jedoch die sogenannte strukturgeschichtliche Betrachtungsweise. Darunter wird ein Herangehen verstanden, das sich vorwiegend an den „gesellschaftlichen Verhältnissen und Determinanten geschichtlichen Handelns . . . , stärker an überindividuellen kollektiven Kräften als an individuellen Personen und Handlungen" orientiert und sich damit von einer rein narrativen, deskriptiven und theorielosen Geschichtsschreibung unterscheidet, die „den Kollektivkräften, den die Haltungen und Handlungen der Individuen bedingenden und begrenzenden Strukturen und Prozessen" allein nicht gerecht werden konnte.71 Das vordergründige Herausstellen dieser Betrachtungsweise durch einige Sozialhistoriker der BRD führte — vor allem in den 60er Jahren — sogar zu einer weitgehenden Identifizierung von Sozialgeschichte und Strukturgeschichte, die darauf beruhte, daß Sozialgeschichte im wesentlichen strukturalistisch betrieben wurde bzw. werden sollte. Die um 1960 erfolgte Hinwendung von Werner Conze, Otto Brunner, Theodor Schieder und Karl Bosl u. a. zur Analyse historischer Strukturen bzw. zur Strukturgeschichte vollzog sich — wie schon erwähnt — unter dem Einfluß der um die Zeitschrift „Annales" gruppierten französischen Historiker. Ein typisches Charakteristikum der Strukturgeschichte in der BRD bestand darin, daß ein äußerst unscharfer bzw. vieldeutig auslegbarer Strukturbegriff zugrunde gelegt wurde, mit dem die kausale und funktionale Verknüpfung der untersuchten gesellschaftlichen Bereiche und die Beziehungen zwischen historischen Ereignissen, Strukturen und Prozessen nicht einmal annähernd erklärt werden konnten. Diese Tendenz zeigte sich bereits in Conzes programmatischer „Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters als Aufgabe für Forschung und Unterricht", in der es weniger darum ging, eine Erklärung des Strukturbegriffs bzw. der Strukturanalyse in der historischen Forschung vorzunehmen, als vielmehr den Vorrang des strukturgeschichtlichen Interesses mit dem Hinweis auf die sich aus der Anerkennung einer determinierten Zwangsläufigkeit historisch-gesellschaftlicher Prozesse ergebenden Gefahren bereits wieder in gewisser Weise zu relativieren. Die sehr allgemeinen Aussagen in Conzes Arbeit über Inhalt und Methoden der Strukturgeschichte, die sich mit — nicht näher bezeichneten — „Strukturen in ihrer Kontinuität und Veränderung" befassen sollte72, haben andere Historiker nicht davon abgehalten, den Begriff Strukturgeschichte ebenfalls zu übernehmen. Dies traf auch für Brunner zu, der in seiner Rektoratsrede im Jahre 1959 bemerkt hatte, daß der von Conze vorgeschlagene Terminus für die Kennzeichnung einer auf politisches Handeln, soziale Strukturen und geistige Haltungen gleichermaßen gerichteten Betrachtungsweise „am zweckmäßigsten und am wenigsten mit irreführenden Vorstellungen belastet" sei.73 Dies verwundert f'1 Ders., Theorieprobleme der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, S. 307 f. 'n Conze, Die Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters, S. 17 f. ri Brunner, Otto, Das Fach „Geschichte" und die historischen Wissenschaften, in: Ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen 1968, S. 19.
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einerseits, weil sich Conzes Auffassung von Strukturgeschichte am sogenannten technisch-industriellen Zeitalter orientierte, während Brunners sozialgeschichtliche Konzeption auf der Grundlage von Forschungen über mittelalterliche Gesellschaftsverhältnisse beruhte, machte aber andererseits auch deutlich, daß die strukturgeschichtliche Betrachtungsweise eine universelle Geltung beanspruchte. Abgesehen davon, daß Conze in der hier angeführten Arbeit seine bis dahin bekannte Sozialgeschichtskonzeption im Prinzip nicht veränderte, hat er in späteren Veröffentlichungen den Begriff der Strukturgeschichte wieder fallenlassen und wie vor 1957 die auf eine Analyse von „sozialen Strukturen, Abläufen, Bewegungen" sowie auf die den Ereignissen und Entscheidungen zugrunde liegenden „gesellschaftlichen Objektivationen und Determinanten" gerichtete Betrachtungsweise wieder als Sozialgeschichte bezeichnet. 74 Nach einer Aussage des Heidelberger Historikers Dieter Groh soll Conze in einem von ihm geleiteten Seminar über „Strukturen und Geschichte" am 28. Januar 1971 seine damalige Wortprägung Strukturgeschichte lediglich als eine „unglückliche Übersetzung" der von den „Annales" übernommenen Begriffe einer „histoire des structures" bzw. „Histoire structurelle" bezeichnet haben. 75 Trotz dieser formalen Korrektur hat sich die verstärkte Beschäftigung der BRD-Historiker mit geschichtlichen Strukturen verschiedenster Art im Verlaufe der 60er J a h r e durchgesetzt, und noch heute ist die strukturgeschichtliche Betrachtungsweise das methodologische Hauptkennzeichen der vorherrschenden, als Aspektwissenschaft verstandenen bürgerlichen Sozialgeschichte. Am ausführlichsten hatte sich wiederum Theodor Schieder mit den Problemen der Analyse historischer Strukturen beschäftigt. In seinem bereits erwähnten — 1962 erstmalig veröffentlichten und wiederholt nachgedruckten — Aufsatz „Strukturen und Persönlichkeiten in der Geschichte" begründete er nicht nur die Notwendigkeit der Anwendung der Strukturanalyse in der historischen Forschungsarbeit, sondern versuchte sich auch als einer der wenigen BRD-Historiker an einer inhaltlichen Kennzeichnung des in der bürgerlichen Geschichtswissenschaft verwendbaren Strukturbegriffs. Diese Bemühungen waren damit verbunden, den jeweiligen Einfluß von Strukturen und Persönlichkeiten auf die historisch-gesellschaftliche Entwicklung und damit das Verhältnis von „strukturgeschichtlicher" und „ereignisgeschichtlicher" Betrachtungsweise zu bestimmen. Bezeichnend war sein Hinweis, daß Strukturen n u r als „von Menschen gesetzte Ordnungen und mit den Menschen sich wandelnde Erscheinungen" angenommen werden könnten und in diesem Sinne keinen objektiven, sondern einen „anthropologischen Charakter" besäßen, auch wenn in ihnen das „personale Element" zurücktreten würde. 76 Hier wie auch in der Forderung nach einer Erfassung der — allerdings nicht Vgl. Conze, Sozialgeschichte. *> Vgl. Groh, Dieter, Strukturgeschichte als „totale" Geschichte?, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 58,1971,3, S. 301 f. Anm. 44. m Schieder, Theodor, Strukturen und Persönlichkeiten in der Geschichte, in: Geschichte als Wissenschaft, S. 167.
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näher bezeichneten — „gegenseitigen Bedingtheiten und Verschränkungen" von Persönlichkeits- und Strukturelementen in der Geschichte kommt deutlich zum Ausdruck, daß sich Schieder im wesentlichen nicht weit von der historischen Kategorie der „Kollektivindividualitäten" entfernt hatte, wie sie praktisch bereits von Ranke angewandt und nachträglich von Windelband, Rickert u. a. theoretisch begründet worden war. Diese Haltung wird nicht zuletzt durch seine These unterstrichen, daß der Reiz der Geschichte gerade darin bestünde, die „Begegnung des Menschen mit den von ihm geschaffenen und ihn gleicherweise prägenden Strukturen" nicht „schematisieren . . . und etwa auf ein Verhältnis der reinen Abhängigkeit des Einzelnen von den sozialen Gebilden" zurückführen zu müssen. 77 Der Historiker sollte in der Geschichte nicht „ein System völliger sozialer Determiniertheit, sondern eines ständigen Kampfes zwischen persönlicher Entscheidung und allgemeiner Notwendigkeit" sehen. Das f ü h r t e zu einer undialektischen Gegenüberstellung von subjektiv handelnden Individuen und objektiven Strukturen, auch wenn sich Schieder — in Übereinstimmung mit Conze und Brunner — verbal gegen eine „zu radikale Trennung zwischen Ereignisgeschichte und Strukturgeschichte" aussprach. 78 Insgesamt wird in Schieders Arbeit sichtbar, daß der Begriff Struktur in einer Weise ausgeweitet wurde, daß ihm „die objektive, d . h . die auf materielle Erscheinungen basierende und sozialökonomisch bestimmte Bedingtheit verlorenging". 79 Der Autor befand sich mit seiner Orientierung auf ideelle Strukturen und der Hervorhebung der Eigenständigkeit bzw. Dynamik von historischen Strukturen einerseits und dem Bereich der Ereignisse und Handlungen andererseits nicht n u r in Übereinstimmung mit der traditionellen bürgerlichen Historiographie, sondern engte darüber hinaus die Strukturgeschichte zugunsten der Ereignisgeschichte in beträchtlichem Maße wieder ein. Schieders Interpretation von Strukturgeschichte hatte beispielsweise zur Folge, daß Historiker wie Ernst Pilz im Namen einer offenen idealistischen Strukturgeschichte die zaghaften, inkonsequenten und in sich widersprüchlichen Ansatzpunkte zu einer stärkeren Berücksichtigung sozialer und ökonomischer Faktoren in der bürgerlichen Geschichtsschreibung massiv angreifen konnten. 80 Auch Bosl definierte im J a h r e 1964 den Begriff Struktur als ein „an ,Entsprechung' in Zeit und Raum, nicht an Kausalität orientierte[s] Modell", mit dessen Hilfe ein „neues umfassenderes Geschichtsbild" erreicht werden könne, ohne sich von der. traditionellen Methodologie im Grundsätzlichen abwenden zu müssen. 81 Von marxistischen Historikern sind diese Ansätze bürgerlicher BRD-Historiker n
Schieder, Theodor, Strukturen und Persönlichkeiten in der Geschichte, in: Geschichte als Wissenschaft, S. 169 ff. 78 Schieder, Theodor, Strukturen und Persönlichkeiten in der Geschichte, in: Geschichte als Wissenschaft, S. 185 f. va Schleier, Zum Verhältnis von Historismus, S. 325. ** Vgl. Pitz, Ernst, Geschichtliche Strukturen. Betrachtungen zur angeblichen Grundlagenkrise der Geschichtswissenschaft, in: HZ, Bd. 198,1964, 2, S. 265 ff. 81 Bosl, Karl, Der „soziologische Aspekt" in der Geschichte, ebenda, Bd. 201, 1965, 3, S. 613 ff.
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zur Begründung einer strukturgeschichtlichen Betrachtungsweise mit Recht als eine „deformierte Anwendung" der an sich legitimen und auch von Marxisten in der historischen Forschung praktizierten Strukturmethode bzw. Strukturanalyse charakterisiert worden. Mit der als Strukturgeschichte bezeichneten Sozialgeschichte wurde vor allem versucht, „die extreme Einseitigkeit der herkömmlichen individualisierenden Methode zu korrigieren und eine teilweise Verknüpfung von individualisierender und generalisierender (speziell ,typologisierender' oder strukturierender') Methode bei Bewahrung des Wesensgehaltes der ersteren zu erreichen", wobei mit der Verwendung des Strukturbegriffs in der Tat eine Möglichkeit gefunden wurde, „die Kategorie des Allgemeinen in der Geschichte zumindest partiell zu erfassen und gegenüber dem Besonderen und Einzelnen abzuheben". 82 In dieser strukturorientierten Variante der bürgerlichen Sozialgeschichte verflochten sich Elemente des philosophisch-soziologischen Strukturalismus mit der idealistischen Geschichtsphilosophie des bürgerlichen Historismus. Obwohl diese eklektische Kombination weitgehend verhinderte, daß sich ein wesentliches Merkmal des abstrakten Strukturalismus der Soziologie — die ahistorische Betrachtungsweise — in der damaligen Strukturgeschichte durchsetzen konnte, lassen sich andere strukturalistische Tendenzen eindeutig in ihr nachweisen. Das betrifft einmal die undialektische Gegenüberstellung von Historischem und Logischem, von Ereignissen und Strukturen bzw. individuellem Handeln und sozialen Faktoren, die spätestens dann zutage trat, wenn es um ihren „universellen, objektiven, gesetzmäßigen Zusammenhang im Übergang von Geschichte, Gegenwart und Zukunft" ging. 83 Zum anderen negierten die Vertreter der sogenannten Strukturgeschichte die sozialökonomischen Grundstrukturen historischer bzw. gegenwärtiger Gesellschaften— insbesondere die Kategorie der Gesellschaftsformation — und operierten statt dessen mit einer Vielzahl von sozialen Strukturen, die bestenfalls unter willkürlich gesetzten „Zyklen", „Kulturen" oder „Stadien" — wie beispielsweise der als einer „Grundstruktur" deklarierten Industriegesellschaft — zusammengefaßt wurden. Die in der bürgerlichen Strukturgeschichte enthaltenen Elemente der traditionellen idealistischen Geschichtsphilosophie relativierten sogar die von einigen Historikern angestrebte Verlagerung des historischen Interesses auf materielle Teilstrukturen, indem nach wie vor die geschichtliche Entwicklung vor allem aus dem Handeln von Persönlichkeiten oder auch Gruppen und Verbänden, aus der Realisierung von Ideen und — um mit dem Zug der Zeit zu gehen — aus geistigen Strukturen erklärt wurde. Vielfach wurde versucht, den objektiven Charakter historischer Strukturen, aber auch jegliche Art von Kausalität, Determiniertheit und Gesetzmäßigkeit im Verhältnis der Strukturen zueinander bzw. innerhalb einzelner Strukturen zu bestreiten. 84 82
83 84
Küttler/Lozek, Marxistisch-leninistischer Historismus, S. 59. Ebenda, S. 40. Ebenda, S. 59 f.
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Diese charakteristischen Merkmale verdeutlichen, daß es sich bei der Anwendung der Strukturanalyse durch bürgerliche Historiker der BRD im Rahmen einer strukturgeschichtlichen Betrachtungsweise trotz der — allerdings begrenzten und teilweise entstellten — Berücksichtigung materialistischer Kategorien des Geschichtsprozesses keinesfalls um eine Annäherung an die marxistische Geschichtsauffassung handelte, sondern daß deren zunehmender Ausstrahlung gerade entgegengewirkt werden sollte. Das schloß jedoch nicht aus, daß mit ihrer Hilfe aus der objektiven Realität entsprechende Teilerkenntnisse gewonnen werden konnten, die aber fast ausschließlich zu einer verzerrten Interpretation der geschichtlichen Gesamtentwicklung ausgenutzt wurden. Unter dem Einfluß der sich im europäischen Raum vollziehenden Wende zur politischen Entspannung, konfrontiert mit einer sich im gleichen Zeitraum verstärkenden inneren gesellschaftspolitischen Krisensituation und der zunehmenden Ausstrahlung der marxistischen Geschichts- und Gesellschaftsauffassung kam es gegen Ende der 60er Jahre zu teilweise erheblichen Differenzierungen innerhalb der modernen Sozialgeschichte der BRD. In deren Ergebnis bildete sich eine inzwischen einflußreiche Richtung heraus, die auf Grund ihres Anspruchs, über die bis dahin im Rahmen der strukturorientierten Betrachtungsweise vorgenommenen theoretisch-methodologischen Modifizierungen qualitativ hinauszugehen, als erweiterte Variante moderner Sozialgeschichte gekennzeichnet werden kann. Zu den führenden Vertretern dieser Richtung müssen insbesondere Hans-Ulrich Wehler, Jürgen Kocka, Hans Mommsen und Heinrich A. Winkler gezählt werden, welche sich seit dieser Zeit um die Entwicklung einer „historisch-sozialwissenschaftlichen" Theorie und Methodologie bemühen und die moderne Sozialgeschichte auf dieser Grundlage in eine stark interdisziplinär angelegte historische Sozialwissenschaft verwandeln wollen.85 Bei diesen Versuchen handelt es sich einerseits um ein bewußtes Anknüpfen an die bis zum Ende der 60er Jahre erreichten und innerhalb der BRD-Historikerzunft überwiegend akzeptierten theoretisch-methodologischen Grundprinzipien moderner sozialgeschichtlicher Forschung und Darstellung. Andererseits ergab sich die Notwendigkeit weitergehender geschichtstheoretischer Modifizierungen aus dem selbst von bürgerlichen Historikern erkannten Unvermögen der als Aspektwissenschaft verstandenen Sozialgeschichte, das Bedürfnis nach einem Gesamtverständnis zu befriedigen und die historische Wirklichkeit in ihrem Zusammenhang und ihrer Komplexität zu erfassen. Die ersten Kontroversen zeichneten sich in dieser Hinsicht auf dem Freiburger BRD-Historikerkongreß im Jahre 1967* ab.86 Der besondere Akzent dieses Kongresses bestand darin, daß von verschiedenen Teilnehmern die Forderung erhoben wurde, bei den bis dahin erfolgten theoretisch-methodologischen Verän85
86
Vgl. Irmschler, Konrad/Lozek, Gerhard, Historismus und Sozialgeschichte in der gegenwärtigen bürgerlichen Geschichtsschreibung, in: ZfG, 27,1979, 3, S. 197 ff. Vgl. dazu Becker, Gerhard, Historie in der Krise. Der westdeutsche Historikertag 1967 in Freiburg i. Br., ebenda, 16, 1968, 2, S. 206 ff.
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derungen nicht stehenzubleiben. Dieses Aufbegehren nach weitergehenden Modifizierungen drängte einige exponierte Vertreter der modernen sozialgeschichtlichen Richtung wie Th. Schieder, Brunner, Conze und Gerhard Oestreich „in eine Art Zweifrontenstellung sowohl gegen den reaktionären Historismus alter Observanz als auch gegen die nachdrängende jüngere Generation" 87 , die sich darum bemühte, den theoretisch-weltanschaulichen Einfluß des bürgerlichen Historismus auf die Sozialgeschichte durch eine verstärkte Übernahme und Anwendung sozialwissenschaftlicher Theorien noch weiter zurückzudrängen. Die theoretisch-methodologischen Positionen der im BRD-Historikerverband tonangebenden Kräfte widerspiegelten sich am deutlichsten in Schieders Vortrag zum Thema „Die Geschichte im System der Geistes- und Sozialwissenschaften". In ihm wurde einerseits konstatiert, daß das „heutige Verhältnis von Historie zu Soziologie und Politikwissenschaft . . . durch eine gewisse Annäherung der Methoden gekennzeichnet" sei und daß die Geschichtswissenschaft sich nicht mehr damit begnüge, „rein individuelle Phänomene zu untersuchen", sondern „Erkenntnisse von relativer Allgemeinheit als Typen, Modelle oder Strukturen" anstrebe. 88 Andererseits wurde aber mit aller Deutlichkeit auf „entscheidende Unterschiede" zwischen historischen und soziologischen bzw. politikwissenschaftlichen Methoden verwiesen. Diese Tatsache würde dem Historiker die Pflicht auferlegen, bei jeglicher Anwendung der im Prinzip „einen höheren Generalisierungsgrad" anstrebenden sozialwissenschaftlichen Methoden keinesfalls diejenigen Grenzlinien zu überschreiten, die ihm durch seinen Stoff und durch die „großen methodischen Möglichkeiten seiner traditionsreichen Wissenschaft" gesetzt wären. Als ein f ü r die zukünftige Gestaltung des Verhältnisses von Geschichtswissenschaft und Soziologie „entscheidender Vorgang" wurde von Schieder nicht zuletzt die Tendenz innerhalb der bürgerlichen Soziologie bezeichnet, „sich immer weniger als eine allgemeine Geschichts- und Sozialphilosöphie, eine allgemeine Lehre von der Gesellschaft . . . , eine Art theoretische Geschichtswissenschaft" zu verstehen. Infolge der historischen Wandlungen der modernen Gesellschaft habe sich die Soziologie „einem gewissen Maß von Historisierung und den damit verbundenen methodischen Konsequenzen" nicht entziehen können und erstrebe gegenwärtig, nichts anderes mehr zu sein „als eine positive, empirische Wissenschaft, die sich mit sozialen Vorgängen beschäftigt". 89 Waren diese zuletzt genannten Hinweise in erster Linie gegen diejenigen Historiker gerichtet, die auf dem Kongreß unter dem Einfluß soziologischer Systemtheorien, des Strukturalismus, des Neopositivismus sowie der „kritischen Theorie" der sogenannten Frankfurter Schule f ü r eine noch stärkere theoretische sv 88
Schleier, Zum Verhältnis von Historismus, S. 316. Bericht über die 27. Versammlung deutscher Historiker in Freiburg/Breisgau (10. bis 15. 10. 1967). GWU-Beiheft, Stuttgart 1969, S. 18 (im folg.: Bericht Freiburg). Schieder, Theodor, Angewiesen auf zufällig Bewahrtes. Die Geschichte und die Sozialwissenschaften, in: Frankfurter Allgemeine, Nr. 271, 21. 11. 67, S. 13 f. (gekürzte Fassung seines Freiburger Vortrages).
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Fundierung der modernen Sozialgeschichte plädierten, so stellten seine Forderungen nach einer Ausweitung des Gegenstandes der bürgerlichen Historiographie auf „soziokulturelle Vorgänge", nach einer „Universalität des Stoffes und der Aspekte" sowie einer „Koordination und Kooperation" mit den verschiedenen Sozialwissenschaften die bisherige Arbeitsweise der am traditionellen Historismus orientierten „älteren Historikergeneration" der BRD in Frage. 90 Weil letztere aber in den Theorie- und Methodologiesektionen — von einzelnen Historikern wie Alfred Heuß, Ulrich Noack und Albert Mirgeler einmal abgesehen — kaum in Erscheinung trat und die Mehrheit der BRD-Historiker bereits vor dem Freiburger Kongreß die Einbeziehung soziologischer Methoden im Rahmen einer strukturorientierten Sozialgeschichte — wenn auch teilweise nur verbal — akzeptiert hatte, konzentrierten sich die Bemühungen der führenden Historiker um Karl Dietrich Erdmann, Theodor Schieder, Otto Brunner und Gerhard Oestreich vor allem auf die Festschreibimg und Verteidigung des bis dahin erreichten Standes in der Diskussion um Theorie und Methodologie. Dies war um so notwendiger, als die Diskussion auf dem Freiburger Kongreß durch eine Reihe von jüngeren Historikern wie Wolfgang J. Mommsen, Knut Borchardt, Hans Mommsen, Jürgen Kocka und Hans-Ulrich Wehler bestimmt wurde, die nicht nur f ü r eine Anwendung bestimmter sozialwissenschaftlicher Forschungsmethoden plädierten, sondern dazu übergingen, historische Fragestellungen auf sozialwissenschaftlichen Theorien aufzubauen, den Abstraktionsgrad historischer Aussagen weiter zu erhöhen und damit die bürgerliche Geschichtswissenschaft selbst bzw. ihre methodologisch fortgeschrittenste Variante — die moderne Sozialgeschichte — zu einer Sozialwissenschaft umzugestalten. 91 Diese Versuche sah die Gruppierung um Schieder, Brunner und Conze daher als eine besondere Gefahr an. Diese sich als logische Konsequenz aus der bis dahin erfolgten Entwicklung sozialgeschichtlicher Vorstellungen ergebenden Bestrebungen zu einer verstärkten Theoriebildung innerhalb der bürgerlichen BRD-Historiographie waren eingebettet in eine neue Etappe des Einwirken^ westeuropäischer, vor allem aber US-amerikanischer Geschichtstheorie und -methodologie. Diese Etappe war dadurch gekennzeichnet, daß in ihr durch eine Reihe von BRD-Historikem vor allem theoretische Konzepte sozialwissenschaftlicher Herkunft aus den USA aufgenommen wurden. Hierbei handelte es sich insbesondere um relativ umfassend angelegte soziologische Gesellschaftstheorien (System-, Konflikt- und Modernisierungstheorien), wirtschaftswissenschaftliche Ansätze (Theorien des Wirtschaftswachstums, Krise-Konjunktur-Zyklen, Theorien „mittlerer Reichweite") sowie Theorien aus dem Bereich der bürgerlichen Politologie (Revolu-tions-, Parteien- und Faschismustheorien), die in unterschiedlicher Verknüpfung und in Verbindung mit einer verstärkten Anwendung empirisch-soziologischer und quantifizierender Forschungsmethoden zur Erklärung historisch-gesellschaftlicher Ereignisse und Prozesse nutzbar gemacht werden sollten. Die Ini*> Vgl. Bericht Freiburg, S. 24. al Vgl. dazu die Referate bzw. Diskussionsbeiträge von Hans Mommsen, Jürgen Kocka, Wolfgang J. Mommsen, Knut Borchardt und Rudolf Vierhaus, ebenda. 23 J a h r b u c h 25
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tiatoren dieser verstärkten theoretischen Fundierung der bürgerlichen Sozialgeschichte stützen sich dabei vor allem auf eine Reihe von grundlegenden theoretischen Abhandlungen sowie sozialgeschichtlichen Darstellungen US-amerikanischer Historiker, Soziologen und Wirtschaftswissenschaftler, in denen sich eine deutliche Hinwendung zu den „langfristig folgenreichen sozioökonomischen und soziopolitischen Entwicklungen" bzw. ein „Trend zur konkreten sozialhistorischen Analyse" abzeichneten.92 Das betraf insbesondere die bereits genannten Arbeiten von Hans Rosenberg, aber auch solche von H. Stuart Hughes., Fritz Redlich, Werner J. Cahnmann, Alvin Boskoff, Alexander Gerschenkron, Alfred H. Conrad, John R. Meyer, S. Thernstrom, Charles Tilly, Cyril E. Black und anderen bürgerlichen Sozialwissenschaftlern. Obwohl diese Tendenzen in der BRD erst mit dem Beginn der 70er Jahre und in Verbindung mit sozialreformistischen Emanzipationsbestrebungen und Angriffen auf das Objektivitätspostulat der traditionellen Historiographie einen größeren Einfluß erreichten, wandten sich vor allem Schieder, Brunner und Oestreich bereits auf dem Freiburger Historikerkongreß gegen solche Bemühungen, die historischen Ereignisse und Prozesse aus einer bürgerlichen Sicht der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung zu erklären und dem Wirken materieller, d.h. sozialer und ökonomischer Faktoren eine größere Bedeutung als bisher beizumessen. Sowohl die gesamte Anlage von Schieders grundlegendem Vortrag, aber auch die in verschiedenen Diskussionen von Oestreich und anderen Historikern ausgesprochene Warnung, „der Sozialgeschichte durch unkritische Übernahme der angelsächsischen Begriffsbildung theoretisches Profil zu geben"93, demonstrierten die Furcht vor dem Eindringen marxistischer Auffassungen oder zumindest eines soziologischen oder ökonomischen Determinismus positivistischer Prägung. Eine besondere Beachtung verdient in diesem Zusammenhang die in Freiburg von Thomas Nipperdey aufgestellte Forderung hinsichtlich einer „Erweiterung" der bürgerlichen Sozialgeschichte zu einer „historischen Anthropologie".94 Diese Variante einer recht massiven Anwendung von Theorien und Methoden aus bestimmten Sozialwissenschaften schien in gleicher Weise wie die Bemühungen Kockas, Wehlers, Borchardts u. a. gegen wesentliche Grundprinzipien des bürgerlichen Historismus gerichtet zu sein, so daß Nipperdey in Einschätzungen bürgerlicher Historiker nicht nur zu diesen gezählt, sondern seine Kritik auf dem Freiburger Kongreß darüber hinaus als am „radikalsten" bezeichnet wurde.95 Dabei hatte er lediglich dafür plädiert, insbesondere die „ursprüngliche Intention" der traditionellen Kulturgeschichte — „Sozialgeschichte im Kontext der gesamten soziokulturellen Entwicklung zu betreiben" — auf das „moderne wissenschaftliche Bewußtsein" zu übertragen und in seinem Lichte zu modifizieren. 50
si)
Wehler, Vorwort zu Sozialgeschichte Heute, S. 18. Bericht Freiburg, S. 36. Vgl. Nipperdey, Thomas, Kulturgeschichte, Sozialgeschichte, historische Anthropologie, In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 55,1968, 2, S. 145 ff. Vgl. Iggers, Georg G., Deutsche Geschichtswissenschaft, München 1971, S. 355 f.
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Die von ihm angestrebte „Erweiterung" der sozialgeschichtlichen Forschung und ihre angeblich „künstlich auf einen sehr engen Teilbereich des Sozialen verengte(n) Fragestellung" lief demzufolge darauf hinaus, historisch-gesellschaftliche Erscheinungen nicht nur unter dem Aspekt „quasi-objektiver Daten" wie Herkunft, Mobilität und Klassenlage, sondern auch „im Horizont einer sozialpsychologischen und kulturanthropologischen Fragestellung" zu interpretieren.98 Bereits in Freiburg wurde also sichtbar, daß Nipperdeys Auffassungen über Gegenstand, weltanschaulich-theoretische Grundlagen und Methoden der modernen Sozialgeschichte im wesentlichen nicht von den bereits dargelegten Grundpositionen Schieders und Conzes abwichen. Die Anwendung eines soziologisierten Anthropologismus im Bereich der historischen Forschung und Darstellung stellte damals wie heute sogar eine sehr geschickt getarnte Variante des Vordringens bzw. der Befestigung konservativer theoretisch-methodologischer Positionen dar. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich nämlich, daß diesen anthropologischen Theorien und Methoden irrationalistische und subjektiv-idealistische weltanschauliche Positionen zugrunde liegen, die zum großen Teil von reaktionären bürgerlichen Sozialwissenschaftlern wie Wilhelm Dilthey, Oswald Spengler, Max Scheler und Arnold Gehlen übernommen worden sind.97 In letzter Konsequenz wurde durch das Hochspielen anthropologischer und psychologischer Momente bei der Erklärung historischer Prozesse und Ereignisse die traditionelle irrationalistische und mehr oder weniger offen idealistische bürgerliche Geschichtsauffassung in einer nach außen hin modernen und wissenschaftlichen Form erhalten und gefestigt. Daraus ist nicht nur zu schlußfolgern, daß sich Nipperdeys Vorstoß auf dem Freiburger Kongreß faktisch gegen die Bemühungen um eine Erweiterung der modernen Sozialgeschichte richtete, sondern daß er den Historikern um Schieder und Conze mit seiner kulturanthropologisch ausgerichteten Sozialgeschichte auch eine theoretisch-methodologische Plattform zur Verfügung stellte, welche die Anwendung überlegt ausgewählter sozialwissenschaftlicher Methoden und sogar Theorien bei gleichzeitigem Festhalten an den konservativen theoretischweltanschaulichen Grundlagen der bürgerlichen Historiographie ermöglicht. Die auf dem Freiburger Historikerkongreß sichtbar gewordenen Differenzierungen verweisen auf den Beginn einer neuen Phase in der Entwicklung der modernen bürgerlichen Sozialgeschichte in der BRD, die seitdem durch zwei relativ eigenständige Grundlinien gekennzeichnet ist.98 Zum einen führte das stärkere Hervortreten der Historiker um Wehler und Kocka bis zur Mitte der 70er Jahre dazu, daß die zumeist auf den politischen Positionen eines „liberalen" Konservatismus stehenden Vertreter der begrenzten — d. h. als strukturgeBericht Freiburg, S. 33; vgl. auch Nipperdey, Thomas, Die anthropologische Dimension der Geschichtswissenschaft, in: Geschichte heute, hrsg. von Gerhard Schulz, Göttingen 1973, S. 225 ff. "" Vgl. dazu Grundlagen des historischen Materialismus, Berlin 1976, S. 898—904. 518 Vgl. Lozek, Aktuelle Fragen der Entwicklung von Theorie und Methodologie, S. 1023 ££, 96
25«
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schichtliche Betrachtungsweise oder Aspektwissenschaft v e r s t a n d e n e n — Sozialgeschichte g e z w u n g e n w u r d e n , i h r e theoretisch-methodologischen Positionen u n t e r A u s n u t z u n g aller Möglichkeiten zu verteidigen. Sie h a b e n i m w e s e n t lichen erreicht, die auf einen theoretischen Ausgleich zwischen strukturgeschichtlicher Sicht u n d bürgerlichem Historismus h i n a u s l a u f e n d e V a r i a n t e d e r b ü r g e r lichen Sozialgeschichte z u r allgemein verbindlichen N o r m zu erklären. D a r ü b e r h i n a u s h a b e n sie durch selektive A n w e n d u n g b e s t i m m t e r sozialwissenschaftlicher Theorien u n d Methoden d e n Anschein d e r wissenschaftlichen Progressivität ihrer Auffassungen gewahrt. Z u m a n d e r e n h a t sich die auf d e m F r e i b u r g e r K o n g r e ß bei Wehler, Kocka u. a. abzeichnende Tendenz, m o d e r n e Sozialgeschichte als historische Sozialwissenschaft, d. h. als eine historisch h e r a n g e h e n d e Wissenschaft von d e r Gesellschaft zu interpretieren, zu einer einflußreichen Richtung i m R a h m e n d e r sozialgeschichtlichen Forschung u n d Darstellung in d e r BRD profiliert. Bezeichnend f ü r i h r e V a r i a n t e von m o d e r n e r bürgerlicher Sozialgeschichte sind die bis z u m gegenwärtigen Z e i t p u n k t a n h a l t e n d e n Versuche, sie von einer Aspektwissenschaft auf die E b e n e einer interdisziplinär angelegten Integrationswissenschaft zu h e b e n u n d diese durch das prononcierte Herausstellen i h r e r „emanzipatorischen F u n k t i o n " a n sozialreformistische Zielstellungen zu binden. I m G r u n d e g e n o m m e n h a n d e l t es sich bei diesen B e m ü h u n g e n u m eine besonders a k z e n t u i e r t e F o r t f ü h r u n g des in den 50er J a h r e n eingeleiteten u n d in d e n 60er J a h r e n f o r c i e r t e n A n p a s s u n g s - u n d Wandlungsprozesses bürgerlicher G e schichtstheorie u n d -methodologie. Ging es in dessen erster u n d zweiter P h a s e vorwiegend u m eine partielle Modifizierung d e r methodologischen G r u n d l a g e n — ü b e r die T h . Schieder, Conze, Nipperdey u n d i h n e n n a h e s t e h e n d e Historiker auch nicEt h i n a u s z u g e h e n gewillt sind —, so g e h t es in der; P h a s e seit A n f a n g d e r 70er J a h r e v o r allem auch u m theoretische Neuansätze, die in s t ä r k e r e m Maße als bisher m i t d e n traditionellen weltanschaulichen P r ä m i s s e n d e r B R D Historiographie kollidieren. D a m i t wird deutlich, d a ß die beiden g e g e n w ä r t i g existierenden G r u n d a u f f a s sungen von bürgerlicher Sozialgeschichte sich nicht in e r s t e r Linie durch eine m e h r oder w e n i g e r s t a r k e A n l e h n i m g a n die bürgerlichen Sozialwissenschaften voneinander unterscheiden, sondern d a ß zwischen i h n e n q u a l i t a t i v e D i f f e r e n zen auf d e r G r u n d l a g e einer Ü b e r n a h m e verschiedener Theorien u n d Methoden a u s d e m ä u ß e r s t b r e i t gefächerten Angebot d e r bürgerlichen Sozialwissenschaften bestehen. W ä h r e n d i n n e r h a l b d e r g e g e n w ä r t i g d o m i n i e r e n d e n sozialgeschichtlichen Richtung u m Schieder, Conze, N i p p e r d e y u. a. vorwiegend t h e o retisch-methodologische Konzeptionen der bürgerlichen Kulturanthropologie, Psychologie u n d empirischen Sozialforschung z u r U n t e r m a u e r u n g d e r s u b j e k tiv-idealistischen G r u n d l i n i e i h r e r Konzeption Eingang g e f u n d e n h a b e n , sind durch die Historiker u m Wehler, Kocka u n d W i n k l e r in s t a r k e m M a ß e soziologische, ökonomische u n d politische Theorien a u f g e g r i f f e n worden, mit denen nicht n u r eine ziemlich komplexe, sondern auch eine partiell materialistische G e schichtsbetrachtung möglich ist. Ein besonderer Einschnitt i m Hinblick auf die w e i t e r e inhaltliche P r o f i l i e r u n g d e r j e n i g e n sozialgeschichtlichen Richtung, welche seit d e m E n d e d e r 60er J a h r e
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als Initiator der Diskussion um theoretisch-methodologische Fragen fungiert, war das Erscheinen der Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft" im Jahre 1975." Seitdem ist das Forschungsinteresse der um sie gruppierten Historiker verstärkt auf die „Gesellschaftsgeschichte" gerichtet; das ist ein neuer Akzent in der Diskussion um Begriffsbestimmimg, Aufgaben und theoretisch-methodologische Grundlagen der modernen Sozialgeschichte. Das von Wehler, Kocka, Winkler und anderen Historikern100 in starker Anlehnung an die Auffassungen verschiedener britischer und US-amerikanischer Historiker über den Inhalt einer „social history"101 herausgestellte gesellschaftsgeschichtliche Konzept verweist weitaus deutlicher als vorherige Ansichten darauf, daß die sozialen Aspekte der historisch-gesellschaftlichen Entwicklung nicht von den ökonomischen, politischen und ideologischen Verhältnissen isoliert werden können. Forschungen über soziale Klassen und Gruppen bzw. ihre Strukturen und Bewegungen müßten aus diesem Grunde alle wesentlichen Bereiche der Gesellschaft mit einbeziehen und sich damit zu komplexen historischen Gesellschaftsanalysen entwickeln. Als wesentlichste Aufgabe des gesellschaftsgeschichtlichen Herangehens ist deshalb das „schwierige Problem der Vermittlung zwischen ökonomischen, sozialen, und kulturellen bzw. ideologischen Phänomenen" hervorgehoben worden, wobei von einer „relativen Autonomie und gegenseitigen Unableitbarkeit der einzelnen Teilsysteme" ebenso auszugehen sei wie von der „Existenz eines Gesamtzusammenhangs".102 Hierin zeigt sich, daß die Orientierung, „geschichtliche Wirklichtkeit ,von der Gesellschaft her* zu strukturieren und zu synthetisieren"103, weniger auf die Analyse bzw. Darstellung der jeweiligen Einzelprobleme als vielmehr auf ihre Einordnung in einen größeren Zusammenhang gerichtet ist. Auf diese Weise wurden sowohl der Gegenstand als auch die Zielstellung der „historischen Sozialwissenschaft" nicht unwesentlich modifiziert. Insbesondere von Kocka ist dabei erkannt worden, daß für die praktische Verwirklichung dieses Konzepts weder das inzwischen von der Mehrheit der bundesdeutschen Historiker akzeptierte sozial- bzw. stmkturgeschichtliche Instrumentarium noch die für das historisch-sozialwissenschaftliche Herangehen am 99
Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft, Göttingen 1975 ff. (Vandenhoeck & Ruprecht). Die Redaktion befindet sich in der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Universität Bielefeld. 100 Zum Herausgeberkreis von „Geschichte und Gesellschaft" gehören u. a. folgende Historiker: Helmut Berding, Dietrich Geyer, Jürgen Kocka, Reinhart Koselleck, Wolfgang J. Mommsen, Hans-Jürgen Puhle, Reinhard Rürup, Wolfgang Schieder, HansChristoph Schröder, Hans-Ulrich Wehler und Heinrich A. Winkler. 1U1 Vgl. dazu Laslett, Peter, History and the Social Sciences, in: International Encyclopaedia of the Social Sciences, vol. 6, 1968, S. 434 ff.; History as Social Sciences, hrsg. von David S. Landes und Charles Tilly, Englewood Cliffs 1971; Hobsbawm, Eric J., From Social History to the History of Society, in: Historical Studies Today, Bd. 100, 1971,1, S. 20 ff. K« Kocka, Sozialgeschichte — Strukturgeschichte — Gesellschaftsgeschichte, S. 40 f. luif Ebenda, S. 35.
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Anfang der 70er Jahre typüsche Anwendung verschiedener Theorien und Methoden aus den bürgerlichen S o z i a l w i s s e n s c h a f t e n ausreichen. Verschiedene Aussagen von ihm verdeutlichen, daß man bei einer bloßen Übernahme von Theorien aus den systematischen bürgerlichen Sozialwissenschaften nicht stehenbleiben dürfe, sondern sich in verstärktem Maße auf die Erarbeitung neuer „theoretischer Leitsektoren" zu konzentrieren habe. Nur mit Hilfe von solchen „übergreifenden, integrierenden theoretischen Zugriffen höherer Ordnung" sei es möglich, die durch Verwendung verschiedener anderer Theorien gewonnenen Einsichten „miteinander zu verknüpfen, statt sie additiv aneinanderzureihen oder inkonsistent nebeneinanderzustellen". 104 In weitgehender Übereinstimmung ist aus diesem Grunde von Kocka und Wehler auf zwei solche Theoriekomplexe verwiesen worden, die zur weiteren Profilierung einer Gesellschaftsgeschichte im obengenannten Sinne beitragen könnten. Dies betrifft einerseits die sogenannte historisch-komparative Modernisierungstheorie sowie zum anderen den von seiner Klassenposition und dementsprechenden weltanschaulichen Konsequenzen getrennten und auf einige seiner methodologischen Prämissen reduzierten historischen Materialismus. 105 Als rationellster bzw. effektivster Weg zu einer theoretischen Fundierung gesellschaftsgeschichtlicher Konzeptionen wird jedoch eine Verknüpfung von beiden betrachtet, da sie sich angeblich gegenseitig ergänzen und korrigieren könnten.106 In dieser Aufforderung widerspiegeln sich einerseits der f ü r die bürgerliche Ideologie insgesamt typische theoretisch-methodologische Pluralismus und Elektizismus sowie die Absicht, ihre Auffassungen von einer konsequent materialistischen Geschichts- und Gesellschaftstheorie deutlich abzugrenzen. Zum anderen verweist dieses Herangehen auf eine neue Stufe der Rezeption von Elementen der marxistisch-leninistischen Geschichtstheorie und -methodologie durch die historischen Sozialwissenschaftler. Der qualitative Unterschied gegenüber den bisher üblichen Versuchen solcher Art besteht darin, über die Anwendung von einzelnen sinnentstellten bzw. aus ihrem Zusammenhang gerissenen marxistischen Begriffen und Fragestellungen hinauszugehen. In verstärktem Maße bemüht man sich, besonders der gesellschaftsgeschichtlichen Forschungsarbeit einen relativ geschlossenen theoretisch-methodologischen Ansatz zugrunde zu legen, den man in die Nähe eines im sozialreformistischen Sinne, d. h. klassenmäßig entschärften und abgewandelten historischen Materialismus zu stellen versucht. Diese Tendenz muß als ein äußerst flexibler Versuch charakterisiert werden, die auch in der bürgerlichen Historiographie der BRD zunehmende Ausstrahlungskraft des marxistisch-leninistischen G&schichtsdenkens einzudämmen. 107 Das von Wehler, Kocka, Winkler und andeW4
Ders., Gegenstandsbezogene Theorien in der Geschichtswissenschaft, in: Theorien in der Praxis des Historikers, S. 184. lus vgl. ders., Theorien in der Sozial- und Gesellschaftsgeschichte, S. 22 ff., 27; Wehler, Hans-Ulrich, Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975, S. 51 ff.; ders., Vorüberlegungen zu einer modernen deutschen Gesellschaftsgeschichte, S. 4 ff., 10 ff. il» vgl. ebenda (Vorüberlegungen), S. 17. »uv vgl. dazu Irmschler, Konrad, Zum „historisch-sozialwissenschaftlichen" Konzept einer
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ren Historikern ausgearbeitete Programm einer Gesellschaftsgeschichte widerspiegelt insgesamt auf einer qualitativ neuen Stufe das permanente Dilemma des bürgerlichen Geschichtsdenkens, einerseits eine Gesamtsicht der historischgesellschaftlichen Entwicklung in zeitlicher, räumlicher und struktureller Totalität anzustreben, andererseits diese Absicht im Interesse einer Verteidigung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung stets relativieren zu müssen.108 Hieraus resultieren eine Reihe von Inkonsequenzen und Widersprüchlichkeiten. Das betrifft zum einen die Ausarbeitung des gesellschaftsgeschichtlichen Theoriekonzepts selbst. Die im Rahmen der Gesellschaftsgeschichte verfolgte Zielstellung, über eine „gegenstandsbezogene Theorieanwendung" hinausgehend zu einem relativ geschlossenen theoretischen Fundament für die historische Darstellung der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung zu gelangen, scheiterte offensichtlich an den objektiven Grenzen bürgerlicher Geschieht»- und Gesellschafts-vorstellungen. Dieses Zurückbleiben auf dem Gebiet der gesellschaftsgeschichtlichen Theoriebildung zeigt sich vor allem in der Beschränkung auf die sich an das keinesfalls neue industriegesellschaftliche Periodisierungsschema anlehnenden gesellschaftlichen Formationen als die bisher höchste Bezugsebene gesellschaftsgeschichtlicher Forschung und Darstellung.109 Auch in der historiographischen Umsetzung des gesellschaftsgeschichtlichen Theoriekonzepts dominieren bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf einen klar abgegrenzten Untersuchungsgegenstand bezogene Analysen bzw. Darstellungen, die lediglich durch den Versuch eines Verschränkens von sozial-, wirtschafts-, politik-, kultur- und geistesgeschichtlichem Herangehen gekennzeichnet sind. So lassen die seit 1975 im Abstand eines Vierteljahres jeweils Vinter einer bestimmten Thematik erscheinenden Hefte von „Geschichte und Gesellschaft" lediglich die enorme Breite des gesellschaftsgeschichtlichen Untersuchungsfeldes erkennen.110 Ohne das Bestreben zu übersehen, historisch-gesellschaftliche Ereignisse und Prozesse stärker als bisher bzw. erstmalig einer komplexeren Betrachtung zu unterziehen und in umfassendere Zusammenhänge einzuordnen, ist von den programmatisch angekündigten „Analysen langlebiger Strukturen und langfristiger Entwicklungsprozesse, die die traditionellen Periodisierungsschemata sprengen" sollten111, kaum etwas zu bemerken. Theoretischer Anspruch und konkrete Geschichtsdarstellungen gehen hier weiter auseinander. Dem bürgerlichen Verständnis über den Zusammenhang von Geschichte und gesellschaftlicher Praxis Rechnung tragend, ist die von Wehler, Kocka und anderen Historikern initiierte theoretisch-methodologische Konzeption auch bürgerlichen Gesellschaftsgeschichte in der BRD-Historiographie, in ZfG, 28, 1980, 12, S. 1135 ff. TO vgl. Schleier, Theorie der Geschichte — Theorie der Geschichtswissenschaft, S. 18—31. iu» Vorwort, in: GG, 1,1975,1, S. 5. 1IU Die Palette reicht hier von der historischen Demographie bzw. Sozialstrukturanalyse über Forschungen zu Industrialisierungsprozessen, zum Imperialismus, Faschismus, Liberalismus und Antisemitismus bis hin zur Behandlung der Wechselbeziehungen von Revolution und Reform, Religion und Gesellschaft oder Technik und Gesellschaft. 1,1 Vorwort, in: GG, S. 5.
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darauf gerichtet worden, in kritischer Weise „die Gesellschaft als veränderbares Ergebnis historischer Prozesse und Entscheidungen, als Resultat genutzter und versäumter Möglichkeiten" zu analysieren und in emanzipatorischem Sinne „vernünftiges Handeln von Individuen und Gruppen" zu bewirken, „humane Formen des menschlichen Zusammenlebens zu entwerfen, zu erarbeiten und zu bewahren sowie zur Entwicklung einer historisch orientierten, zugleich aber praktisch relevanten Theorie der Gegenwart beizutragen".112 Besonders die Aussagen von Wehler über den untrennbaren Zusammenhang von „expliziter Theorieanwendung", „erkenntnisleitendem Interesse" des Historikers und „kritisch-emanzipatorischer Funktion" der historischen SozialWissenschaft zeigen113, daß das von ihm und anderen verfochtene gesellschaftsgeschichtliche Konzept in mehr oder weniger direkter Weise auf ein sozialreformistisches Gegenwartsprogramm mit all seiner inneren Widersprüchlichkeit zugeschnitten ist bzw. einen Beitrag zu dessen theoretischer Begründung leisten soll. Aber auch bei Kocka ist die Erarbeitung und Praktizierung dieses Theoriekonzepts untrennbar mit einer „Neubestimmung" der sozialen — im Sinne von gesellschaftlichen bzw. politischen — Aufgaben des bürgerlichen Geschichtsdenkens verbunden. Stärker wird jedoch betont, daß die „kritisch-emanzipatorische Funktion" der historischen Sozialwissenschaft bzw. Gesellschaftsgeschichte auch der Neigung entgegenzuwirken habe, „die Wirklichkeit lediglich unter Prinzipien und Totalentwürfen zu begreifen".114 Ungeachtet dieser Differenzierungen kann jedoch die Bindung der kritischemanzipatorischen Funktion gesellschaftsgeschichtlicher Forschung und Darstellung an eine im Detail zwar nicht homogene, im Wesen aber recht eindeutig reformistische Strategie zur Erhaltung des kapitalistischen Gesellschaftssystems in der BRD als wichtigstes Abgrenzungskriterium gegenüber den an andere gesellschaftspolitische Konzeptionen gebundenen theoretisch-methodologischen Entwürfen der bürgerlichen Historiographie herausgestellt werden. Obwohl die von Wehler, Kocka, Winkler und anderen Historikern ausgearbeitete und praktizierte Geschichtskonzeption in eindeutiger Abgrenzung zum historischen Materialismus formuliert ist und auch in ihrer Verknüpfung mit sozialreformistischen Zielstellungen die Herrschaft des staatsmonopolistischen Kapitalismus keineswegs in Frage stellt, erblicken die in der BRD tonangebenden liberalkonservativen Historiker in ihr eine Gefährdimg nicht nur der eigenen gesellschaftspolitischen Strategie, sondern auch der bürgerlichen Geschichts- und Gesellschaftsauffassung insgesamt. Vordergründig richtet sich ihre teilweise äußerst scharfe Polemik gegen die kritisch-emanzipatorischen Inhalte des hier vorgestellten Theoriekonzepts und die mit diesen verbundenen, auf mehr oder weniger deutlich herausgestellte Veränderungen in der Gesellschaft der BRD hinzielenden und sich damit anEbenda, S. 7. Vgl. Wehler, Hans-TJlrich, Soziologie und Sozialgeschichte aus der Sicht des Sozialhistorikers, in: Soziologie und Sozialgeschichte, S. 69 f.; ders., Geschichte als Historische Sozial Wissenschaft, S. 73 f., 107. 115 Kocka, Zu einigen sozialen Funktionen der Geschichtswissenschaft, S. 14 f. 1U
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geblich in gefährlicher Nähe zum Marxismus befindlichen politischen Absichten.115 Es ist nur zu bezeichnend für die gegenwärtige Situation in diesem Land, wenn ein geschichtstheoretisches Konzept schon deshalb ins Feuer der Kritik gerät, weil es auf die „potentiellen Entwicklungschancen" und die „humanistische Perspektive" der bürgerlichen Gesellschaft verweist und seine Vertreter in diesem Zusammenhang in äußerst diffuser Weise für eine „Ausdehnimg der Freiheitsräume" bzw. „für mehr Gerechtigkeit" plädieren.116 Die theoretisch-methodologischen Auseinandersetzungen um das von einer nicht einflußlosen Minderheit formulierte historisch-sozialwissenschaftliche Konzept der Gesellschaftsgeschichte besitzen bei aller direkten Verknüpfung mit bestimmten politischen Zielstellungen jedoch auch eine wissenschaftimmanente Dimension. Da nach den Vorstellungen der Mehrheit der modernen Sozialhistoriker eine Gesellschaftsgeschichte bestenfalls das Resultat eines additiven Zusämmenfügens der verschiedenen historischen Teildisziplinen und nicht deren Verschränkung unter bestimmten übergeordneten Gesichtspunkten sein könne, werden von ihr insbesondere die Versuche attackiert, den Stellenwert des sozialökonomischen Bereichs der Gesellschaft als potentiellen Integrationspunkt der historischen Forschung und Darstellung zu erhöhen. Demgegenüber laufen die eigenen Anstrengungen darauf hinaus, moderne Sozialgeschichte weiterhin als historische Teildisziplin unter Betonung ihres strukturalistisehen Aspekts zu betreiben. In diesem Sinne hat vor allem Conze nichts unversucht gelassen, die weitgehend an traditionellen theoretisch-methodologischen Positionen orientierte und damit begrenzte Variante der modernen Sozialgeschichte zur allgemein verbindlichen Norm zu erklären. Seine seit Anfang der 70er Jahre ausgeteilten Seitenhiebe gegen eine „verhängnisvolle" sozialwissenschaftliche Aushöhlung der Historie117 sowie gegen eine „Reduktion der Geschichte durch die Verabsolutierung oder Übergewichtung eines einzigen, heute meist des sozioökonomischen Aspekts"118 verdichteten sich zunehmend zu einer gezielten theoretischen Polemik gegen die Initiatoren und Hauptvertreter des Programms einer historischen Sozialwissenschaft bzw. Gesellschaftsgeschichte119, der sich nicht nur Nipperdey und Klaus Hildebrand anschlössen. Die sich besonders in der zweiten Hälfte der 70er Jahre zuspitzenden Angriffe von Vertretern der begrenzten Variante bürgerlicher Sozialgeschichte, der Politik- und Diplomatiegeschichte sowie der historischen Publizistik auf die mit Vgl. Nipperdey, Thomas, Wehlers „Kaiserreich". Eine kritische Auseinandersetzung, in: GG, 1, 1975, 4, S. 539 ff.; Hildebrand, Klaus, Geschichte oder „Gesellschaftsgeschichte" ?, in: HZ, Bd. 223,1976, 2, S. 328 ff.; Conze, Werner, Zu den ersten drei Heften von „Geschichte und Gesellschaft", in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 16, 1976, S. 622 ff. 116 Wehler, Vorüberlegungen zu einer modernen deutschen Gesellschaftsgeschichte, S. 20. «7 vgl. Conze, Einleitung zu Theorie der Geschichtswissenschaft und Praxis des Geschichtsunterrichts, S. 8 f. 153 Ders., Zur Lage der Geschichtswissenschaft und des Geschichtsunterrichts, in: GWU, 26, 1975, 2, S. 76. , 1 S Vgl. ders., Die deutsche Geschichtswissenschaft seit 1945, S. 20 ff.
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historisch-sozialwissenschaftlichen Theorien und Methoden betriebene Gesellschaftsgeschichte120 verweisen darauf, daß die im Rahmen verschiedener sozialgeschichtlicher Konzepte seit Mitte der 50er Jahre in der BRD vorangetriebene theoretisch-methodologische Modifizierung der bürgerlichen Historiographie an einem vorläufigen Endpunkt angelangt ist. Die Zuspitzung der geschichtstheoretischen Diskussion durch die um die Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft" gruppierten Historiker hat offensichtlich in dialektischer Weise auch eine „Rückbesinnung der Geschichtswissenschaft auf ihre eigenen Erkenntnismöglichkeiten" bewirkt.121 Solche und ähnliche Einschätzungen widerspiegeln den in der Diskussion um eine stärkere theoretische Fundierung der bürgerlichen Geschichtsschreibung von Anfang an immanenten und nun für ihre eigenen Vertreter sichtbar werdenden Widerspruch zwischen der Notwendigkeit, dem generalisierenden Element in der historischen Forschung und Darstellung einen höheren Stellenwert einzuräumen, aber andererseits im Interesse einer Abgrenzung der Geschichte von den systematischen Sozialwissenschaften an den geschichtsphilosophischen und methodologischen Prämissen des bürgerlichen Historismus festzuhalten.122 Schließlich ist die gegenwärtig zunehmende Relativierung von sozialwissenschaftlichen Theorieansätzen auch auf die Tatsache zurückzuführen, daß mit ihnen allein keine befriedigende — und vor allem keine massenwirksame — Erklärung des Wechselverhältnisses von Allgemeinem und Besonderem bzw. von objektiven Bedingungen und subjektivem Handeln in der historisch-gesellschaftlichen Entwicklung gegeben werden kann. Diese Einsicht hat selbst bei Historikern wie Kocka dazu geführt, sich von dem Postulat einer Geschichtswissenschaft „jenseits des Historismus" in zunehmendem Maße zu distanzieren und „hermeneutisches Sinnverstehen und Interpretation" in der historischen Forschung und Darstellung für „unabdingbar und zentral" zu erklären.123 Es deutet sich damit an, daß für die Entwicklung der bürgerlichen Sozialgeschichte in der BRD in den 80er Jahren kaum mit weitergehenden Versuchen in Richtung einer historisch-sozialwissenschaftlichen oder gesellschaftsgeschichtlichen Theorienbildung, aber auch nicht mit einer massiven Rehabilitierung des bürgerlichen Historismus in seiner traditionellen Form zu rechnen ist. Es werden die Bemühungen zunehmen, über neue Formen der Verbindung von sozialVgl. Schieder, Theodor, Wenn Historiker nur besser schrieben..., in: Die Welt, Nr. 132, 9./10. 6. 1979, S. II (Beilage); Aretin, Karl Otmar Frhr. v., Wer soll die deutsche Geschichte schreiben?, in: Frankfurter Allgemeine, Nr. 231, 4. 10. 1979, S. 23; Fest, Joachim, Noch einmal: Abschied von der Geschichte, ebenda, Nr. 287,10.12.1977. 121 Vgl. Muhlack, Ulrich, Probleme einer erneuerten Historik, in: HZ, Bd. 228, 1979, 2, S. 352 f. l-jz vgj Nipperdey, Thomas, Historismus und Historismuskritik heute, in: Die Funktion der Geschichte in unserer Zeit, S. 82 ff.; Faber; Lübbe, Hermann, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse, Basel/Stuttgart 1977, bes. S. 118—126. ra Kocka, Jürgen, Quantifizierung in der Geschichtswissenschaft, in: Quantitative Methoden in der historisch-sozialwissenschaftlichen Forschung, hrsg. von Heinrich Best und Reinhard Mann, Stuttgart 1977, S. 8. VM
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wissenschaftlicher Analyse und historiographischer Hermeneutik einen Ausgleich bzw. eine partielle Synthese von empirisch orientierter Sozialgeschichtsschreibung unter strukturalistischem Aspekt und theoretisch ausgerichteter historischer Sozialwissenschaft zu erreichen, wobei eine Vielzahl von Kombinationen zu erwarten ist.124 Diese Bestrebungen erhalten einen zusätzlichen Impuls, welcher aus der sich gleichzeitig verstärkenden Tendenz resultiert, die Einheit von Politikgeschichte einerseits und Sozial- bzw. Gesellschaftsgeschichte andererseits — wenn auch unter verschiedenen Gesichtspunkten — zu betonen. Dies fällt den Historikern um Th. Schieder, Conze und Nipperdey insofern nicht schwer, als von ihnen mit einem sozialgeschichtlichen Herangehen zu keinem Zeitpunkt „die Stärkung eines die allgemeine Historie wenig berührenden historischen Spezialfachs, sondern die Verstärkung des sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Aspekts innerhalb der Geschichtswissenschaft allgemein" beabsichtigt worden ist.125 Ein prägnantes Beispiel f ü r die Bemühungen dieser Historiker, den politischen Aspekt in der „modernen" Sozialgeschichte wieder stärker zu akzentuieren, ist die vor wenigen Jahren herausgegebene Festschrift aus Anlaß des 65. Geburtstages von Werner Conze.126 Etwas schwerer haben es Wehler, Kocka und ihnen gleichgesinnte Historiker, da sie sich um die Mitte der 70er Jahre dafür entschieden hatten, Politikgeschichte lediglich als „Teildisziplin von Gesellschaftsgeschichte" zu betrachten, weil nur „eine weitgespannte Gesellschaftsgeschichte die restriktiven Bedingungen und Grenzen politischer Entscheidungen und Aktionen klar zu benennen und zu erklären" in der Lage sei.127 Aber auch innerhalb dieser geschichtstheoretisdien Richtung zeichnet sich immer deutlicher die Tendenz ab, in der Diskussion über das Verhältnis von Sozial- bzw. Gesellschaftsgeschichte und Politikgeschichte davon abzugehen, „gegensätzliche Positionen anstelle der Kooperationsmöglichkeiten zu betonen" 128 , und statt dessen auf die Nützlichkeit einer „Verknüpfung von Wirtschafts-, Sozial- und Politikgeschichte" zu verweisen.129 Als Beispiel f ü r die historiographische Umsetzung dieser Auffassungen kann die aus Anlaß des 70. Geburtstages von Fritz Fischer veröffent-
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Vgl. dazu Schleier, Hans, Zu den gegenwärtigen Versuchen bürgerlicher Historiker der BRD, Elemente des Historismus, des Neopositivismus und der Kritischen Theorie zu integrieren, in: Probleme der geschichtswissenschaftlichen Erkenntnis, hrsg. von Ernst Engelberg und Wolfgang Küttler, Berlin 1977; Irmschler/Lozek, Historismus und Sozialgeschichte. 125 Conze, Werner, Gedenkrede für Horst Stuke, in: Stuke, Horst, Sozialgeschichte — Begriffsgeschichte — Ideengeschichte, hrsg. von Werner Conze und Heilwig Schomerus, Stuttgart 1979, S. 11. 126 vgl. Soziale Bewegung und politische Verfassung. Beiträge zur Geschichte der modernen Welt, hrsg. von Ulrich Engelhardt, Volker Sellin und Horst Stuke, Stuttgart 1976. lz/ Wehler, Hans-Ulrich, Moderne Politikgeschichte oder „Große Politik der Kabinette" ?, in: GG, 1,1975, 2/3, S. 369. lai Ders., Kritik und kritische Antikritik, in: HZ, Bd. 225,1977, 2, S. 384. m Kocka, Jürgen, Eine Bilanz der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte?, in: Neue Politische Literatur, 24,1979,1, S. 27.
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lichte Festschrift gelten130, deren Herausgeber dem theoretisch-methodologischen Konzept der Gesellschaftsgeschichte zumindest sehr nahe stehen, , und die mit dessen Hilfe eine komplexe historische Analyse von ökonomischen Interessen, politischem System und sozialen Beziehungen in der „industriellen Gesellschaft" vor und nach dem ersten Weltkrieg anstreben. 131 Schließlich ist es auch nicht uninteressant, daß Wehler seine bereits mehrfach erwähnten theoretischen „Vorüberlegungen zu einer modernen deutschen Gesellschaftsgeschichte" gerade in diesem Sammelband publiziert hat. Diese laufen nämlich gleichfalls auf eine Berücksichtigung aller „im Prinzip gleichberechtigter Dimensionen einer solchen Gesellschaftsgeschichte" hinaus132, was sich besonders in seinem Plädoyer f ü r die Anwendung der „historisch-komparativen Modemisierungstheorie" äußert, zu deren Herausbildung und Profilierung „vor allem die Sozial-, Wirtschafts- und Politikwissenschaft" beigetragen hätten. 133 Die sich auch hier abzeichnende pluralistische Grundposition, die verschiedensten Theorien und Methoden in der sozialgeschichtlichen Forschung und Darstellung anzuwenden, zeigt nicht nur mit aller Deutlichkeit, wie weit ¡selbst deren entschiedenste Vertreter von konsequent materialistischen Auffassungen entfernt sind, sondern enthüllt in gleichem Maße die nach wie vor bestehende Krisenhaftigkeit der bürgerlichen Geschichtswissenschaft. Der auch in der sozial- und gesellschaftsgeschichtlichen Konzeption praktizierte Theorien- und Methodenpluralismus ist das wohl deutlichste Zeichen f ü r das unveränderte und vergebliche Suchen bürgerlicher Historiker nach einer theoretisch-methodologischen Grundlage ihrer Wissenschaftsdisziplin, welche eine überzeugende Interpretation sowohl der historischen Einzelereignisse und Teilprozesse als auch der historisch-gesellschaftlichen Gesamtentwicklung aus der Sicht ihrer Klasse ermöglichen soll.
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Industrielle Gesellschaft und politisches System. Beiträge zur politischen Sozialgeschichte, hrsg. von Dirk Stegmann, Bernd-Jürgen Wendt und Peter-Christian Witt, Bonn 1978. Vgl. ebenda, Einleitung der Herausgeber, S. VI. Wehler, Vorüberlegungen zu einer modernen deutschen Gesellschaftsgeschichte, S. 3. Ebenda, S. 6.
Autorenverzeichnis
Dr. sc. Johannes Irmscher, Professor, korr. Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR, Bereichsdirektor am Zentralinstitut f ü r Alte Geschichte und Archäologie der AdW der DDR Dr. habil. Günter Mühlpfordt, Professor, Halle/Saale Dr. phil. Hans-Peter Jaeck, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut f ü r Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR Dr. phil. Horst Schlechte, em. Direktor des Staatsarchivs Dresden Dr. sc. Manfred Weien, Dozent f ü r Wissenschaftlichen Kommunismus und Grundlagen der Geschichte der Arbeiterbewegung an der Medizinischen Akademie Magdeburg Dr. phil. Eckhard Müller, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut f ü r Marxismus/Leninismus beim ZK der SED Dr. phil. Matthias John, Wissenschaftlicher Assistent an der Sektion Marxismus-Leninismus der Karl-Marx-Universität Leipzig Dr. phil. Guntolf Herzberg, Lektor am Akademie-Verlag Dr. sc. Hans Schleier, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR Dr. phil. Konrad Irmschler, Wissenschaftlicher Oberassistent an der Akademie f ü r Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED