Jahrbuch für Geschichte der sozialistischen Länder Europas: Band 25, Heft 1 [Reprint 2021 ed.]
 9783112591222, 9783112591215

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Jahrbuch für Geschichte der sozialistischen Länder Europas Band 25/1

Jahrbuch

für Geschichte der sozialistischen Länder Europas Band 25/1

f\

VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften

B

Berlin 1981

Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Geschichte Wissenschaftsbereich Allgemeine Geschichte HERAUSGEBERKOLLEGIUM C. Grau (verantwortlicher Redakteur), G. Voigt (Stellv.), E. Stoecker (wiss. Sekretär), L.-D. Behrendt, H. Giertz, M. Hegemann, W. Küttler, E. Lewin, C. Remer (Mitglieder der Redaktion), A. Anderle, E. Donnert, R. Jeske, J. Kaiisch, E. Laboor, H. Lemke, J. Mai, S. Quilitzsch, G. Rosenfeld, E. Seeber, F. Straube, E. Winter, E. Wolfgramm

Das Jahrbuch erscheint zweimal jährlich Manuskripte und Besprechungsexemplare werden erbeten an die Redaktion des Jahrbuchs: 1080 Berlin, Glara-Zetkin-Straße 26, Zentralinstitut für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR Redaktionsschluß: 15. 9.1980

Verlagslektpr: Klaus Grüneberg Verlagshersteller: Karin Kempf Einbandgestalter: Peter Schulz ©1981 VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, DDR - 1080 Berlin, Postfach 1216 Lizenz-Nr.: 206-435/32/81 Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 4450 Gräfenhainichen LSV 0255 Bestelllnummer: 570 996 1 DDR 2 4 , - M

Inhaltsverzeichnis

Aufsätze Zur Ausarbeitung der bündnispolitischen Konzeption der Kommunistischen Internationale gegenüber der Bauernschaft ( 1 9 1 9 - 1 9 2 3 )

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D i e russischen Revolutionen im Jahre 1917 und die Intelligenz in Ungarn

29

Zur Herausbildung der ersten sozialistischen Arbeiterparteien Ungarns ( 1 8 7 3 - 1 8 7 8 )

41

Bakunin und einige Aspekte der nationalen Frage bei den slawischen Völkern im 19. J h .

59

M. P. Pavlovic/M. L . Vel'tman ( 1 8 7 1 - 1 9 2 7 ) . Imperialismus, Orientforschung und antikolonialer Kampf im Wirken eines russischen Revolutionärs

83

D i e Historiker Sowjetlitauens zum 60. Jahrestag des Großen Oktober und der sozialistischen Revolution in Litauen 1918/19

105

C. P. Agajan/ K . S. Chudaverdjan/ L . A. Chursudjan

Die Geschichte des Großen Oktober in der Geschichtswissenschaft Sowjetarmeniens im Jahrzehnt von 1968 bis 1977

113

Klaus J . Schiller

Allgemeine und besondere Elemente bei der Herstellung der nationalen Gleichberechtigung der Sorben in der DDR

121

Südosteuropaforschung des deutschen Imperialismus. Institutionelle Probleme und politische Zusammenhänge

131

Erwin Lewin

Agnes Gereben

Bela Zelicki

Miklos Kun

Erika Stoecker

Miszellen Mindaugas Tamosiünas

Johannes Irmscher

5

Boris Mironov

Horst Giertz/ Peter Schramm

Die Grundlagen der demographischen Entwicklung Rußlands im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts

145

Sowjetische Memoirenliteratur über den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion

163

Rezensionen Margot Hegemann

Aurica Simion, Preliminarii politico-diplomatice ale. insurectiei romàne din august 1944

173

Erwin Lewin

V . K . Volkov, Mjunchenskij sgovor i balkanskie strany

178

Lutz-Dieter Behrendt

Gerd Voigt, Otto Hoetzsch 1 8 7 6 - 1 9 4 6 . Wissenschaft und Politik im Leben eines deutschen Historikers

180

Sonja Striegnitz, Deutsche Internationalisten in Sowjetrußland 1 9 1 7 - 1 9 1 8

184

Horst Müller-Link, Industrialisierung und Außenpolitik. Preußen-Deutschland und das Zarenreich von 1860 bis 1890

1§6

Svetozâr Hurban-Vajansky, Listy z Uhorska. 40 Listov uverejnenych v ruskych „Moskovskije vedomosti" v priebehu roku 1908

190

N . M. Druzinin, Russkaja derevnja na perelome 1861 do 1880 gg.

193

Studien zu den Agrarreformen des 19. Jahrhunderts in Preußen und Rußland

196

Sovetskaja istoriografija Kievskoj Rusi Sovetskoe istocnikovedenie Kievskoj Rusi

198

Claus Remer

Heinz Lemke

Wilhelm Zeil

Peter Hoffmann

Peter Hoffmann

Stefan Wolle

Peter Wiek

Rußland

und

die

Sowjetunion

im

deutschsprachigen

Schrifttum. Bibliographisches Jahrbuch 1974 Autorenverzeichnis

6

201 203

Aufsätze Zur Ausarbeitung der bündnispolitischen Konzeption der Kommunistischen Internationale gegenüber der Bauernschaft (1919-1923) ERWIN LEWIN

D i e Kommunistische Internationale (KI) faßte den revolutionären Prozeß als wahrhaft weltumspannenden Prozeß auf, in dem alle Kräfte des sozialen Fortschritts zusammenwirken. Sie ging von der Leninschen These aus, daß die revolutionäre Partei der Arbeiterklasse ihrem Wesen nach die Organisation der proletarischen Vorhut ist, deren Hauptaufgabe darin besteht, unter den Massen zu wirken und nicht nur die Mehrheit der Arbeiterklasse, sondern auch nichtproletarische Kräfte, insbesondere die werktätige Bauernschaft, für den Kampf um demokratische Veränderungen und sozialen Fortschritt zu gewinnen. Das Streben der K I nach Verbündeten war von' Anbeginn an auf das engste damit verknüpft, die Arbeiterklasse zu befähigen, die Hegemonie in der revolutionären Bewegung zu erringen und somit ihre historische Mission zu verwirklichen. D i e Ausarbeitung einer umfassenden Bündniskonzeption vollzog sich in der K I in einem vielschichtigen Prozeß. 1 Dabei galt es, alte sozialreformistische Auffassungen zu überwinden und sich u. a. die marxistisch-leninistische Erkenntnis anzueignen, daß „der Kampf um die Bauernschaft eine der aktuellsten Fragen der Revolution" ist. 2 E n g damit verbunden waren die eigenen Erfahrungen der kommunistischen Parteien im Klassenkampf sowie ihre Fähigkeit, diese Erfahrungen unter den Bedingungen der durch die Große Sozialistische Oktoberrevolution eingeleiteten Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus zu verarbeiten und auf die konkreten Bedingungen des jeweiligen Landes anzuwenden. Zum Ausgangspunkt für die Ausarbeitung der Bündnispolitik der K I gegenüber den werktätigen Bauern wurde die marxistisch-leninistische Erkenntnis vom Bündnis der Arbeiter mit den Bauern als objektives, unabdingbares Erfordernis für die Lösung der Machtfrage. Eine weitere wesentliche Grundlage für die Ausprägung der bündnispolitischen Überlegungen der K I - ein Prozeß, der schrittweise yor sich ging - bildete die von der Oktoberrevolution vermittelte allgemeingültige Erfahrung, daß der Sieg des * Vgl. K. K. Sirinja, Voprosy sojuza rabocego klassa s krest'janstvom, in: Vtoroj kongress Kominterna, Moskau 1972, S. 111 ff.; T. Turlakova, Balkanskata kommunisticeska federacija i selskijat vüpros ( 1 9 2 0 - 1 9 2 3 ) , in: Izvestija na instituta po istorija na B K P , Sofia 1 9 7 7 , Nr. 3 7 , S. 2 6 9 ff.; R. Csonka, Agrarproblemäk parasztmozgalmak es a Kommunista Internationale agrärpolitikaja ( 1 9 1 9 - 1 9 2 9 ) , Budapest 1974. Im Überblick vgl. F. Apel, Die Entwicklung der marxistisch-leninistischen Strategie und Taktik gegenüber den Bauern und Landarbeitern durch die Leitungsgremien der Kommunistischen Internationale von 1 9 1 9 - 1 9 3 5 , Phil. Diss., Halle/Saale 1 9 7 0 . 2 W. Kolarow, Das Agrarprogramm der Kommunistischen Internationale, in: Die Agrarfrage und die gegenwärtige Bauernbewegung, H. 1, Fragen des Agrarprogramms und der Agrarpolitik, Moskau/ Leningrad 1 9 3 5 , S. 6. i

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Sozialismus nur möglich ist, wenn die Arbeiterklasse und ihre revolutionäre Vorhut es vermögen, die werktätigen Massen im Kampf für die Errichtung der neuen Gesellschaft zusammenzuschließen und zu führen. Zum ersten Mal in der Geschichte hatten die Arbeiterklasse Rußlands und ihre Verbündeten die proletarische Revolution zu einem dauerhaften Sieg geführt. In der Oktoberrevolution wurde die von Karl Marx und Friedrich Engels begründete und von W . I. Lenin weiterentwickelte Erkenntnis, d a ß das Bündnis zwischen Arbeiterklasse und Bauernschaft eine notwendige Voraussetzung im Kampf gegen den Kapitalismus und für den Sieg der proletarischen Revolution darstellt, praktisch realisiert. 3 D i e historischen Erfahrungen der Leninschen Partei in drei russischen Revolutionen waren für die internationale revolutionäre Arbeiterbewegung von besonderer Bedeutung. W . I. Lenin und den Bolschewiki gebührt das Hauptverdienst dafür, d a ß die Ausarbeitung der prinzipiellen Leitlinien für die Beziehungen der Arbeiterklasse gegenüber der Bauernschaft bereits mit der Gründung der Kommunistischen Internationale im März 1919 in Angriff genommen wurde. Auf dem Gründungskongreß der K I (2.-6. März 1919) stand die Lehre von der Diktatur des Proletariats im Mittelpunkt der Diskussion. Das Bündnis zwischen Arbeiterklasse und Bauernschaft wurde in diesem Zusammenhang als grundlegender Bestandteil der Diktatur des Proletariats behandelt. Alle Kongreßbeschlüsse durchzog wie ein roter Faden die Leninsche Erkenntnis, d a ß der einzige Ausweg aus der ökonomischen und politischen Krise des Kapitalismus in dem Übergang der Macht an die Arbeiterklasse liegt und die von ihr eingeleiteten sozialökonomischen Umgestaltungen im Interesse aller Werktätigen erfolgen. W . I. Lenins „Thesen und Referat über bürgerliche Demokratie und Diktatur des Proletariats" vermittelten den kommunistischen Parteien die entscheidende Lehre der Oktoberrevolution, daß der Sieg nur auf der Grundlage eines festen Bündnisses zwischen Arbeitern und Bauern erreicht und gesichert werden kann. Die von W . I. Lenin vorgeschlagene „Resolution zu den Thesen über bürgerliche Demokratie und Diktatur des Proletariats", die die grundlegenden Aufgaben der kommunistischen Parteien in den kapitalistischen Ländern konkretisierte, lenkte die Aufmerksamkeit darauf, „unter den Arbeitern aller Industriezweige und unter den Soldaten in der Armee und Flotte sowie unter den Landarbeitern und armen Bauern Räte zu verbreiten und zu organisieren". 4 Die „Richtlinien der Kommunistischen Internationale" kennzeichneten die Rolle der Arbeiterklasse und ihre Verantwortung als „größte, produktive Klasse" folgendermaßen: D i e Arbeiterklasse „muß eine wirkliche Ordnung schaffen, die kommunistische Ordnung. Sie muß die Herrschaft des Kapitals brechen, die Kriege unmöglich machen, . . . die Verbrüderung und Befreiung der Völker verwirklichen." 5 Und als eine wichtige Aufgabe, die die Arbeiterklasse „als die führende, bestorganisierte, politisch reifste Klasse" zu lösen hatte, wurde herausgestellt, „die ärmeren kleinbürgerlichen Massen auf dem Lande dem E i n f l u ß der ländlichen Großbauern und der Bourgeoisie zu entziehen und sie zu 3

4 5

8

Vgl. S. P. Trapeznikov, Leninizm i agrarno-krest'janskij vopros, 2 Bde., 2. Aufl., Moskau 1976; G. V. Sarapov, Mezdunarodnoe znacenie opyta KPSS po socialisticeskomu preobrazovaniju derevni, Moskau 1 9 7 6 ; vgl. auch A. 1. Kalmykova, Krest'janstvo - sojuznik rabocego klassa v antiimperialisticeskoj bor'be. In: Problemy mirovogo revoljucionnogo processa v sovetskoj naucnoj literature, Moskau 1978. W. I. Lenin, Werke, Bd. 28, S. 489. Der I. Kongreß der Kommunistischen Internationale, Protokoll der Verhandlungen in Moskau vom 2. bis zum 19. März 1919, Hamburg 1921, S. 186.

Mitarbeitern am kommunistischen Aufbau zu organisieren und zu erziehen". 6 In den „Richtlinien" hieß es weiter, „daß das Kleineigentum keineswegs enteignet werden wird und daß die Eigentümer, die keine Lohnarbeit ausbeuten, auch keinen Gewaltmaßregeln ausgesetzt werden". 7 Wenn auch noch in allgemeinen Zügen, so wurden doch Forderungen im Interesse der Bauernschaft umrissen, ebenso Vorstellungen zu ihrer Verwirklichung. Sie umfaßten die Enteignung des Großgrundbesitzes und seine Überführung in gesellschaftliches Eigentum, die Befreiung der Landarbeiter und werktätigen Bauern von Ausbeutung und Unterdrückung und die Einbeziehung dieser Schichten in den sozialistischen Aufbau auf freiwilliger Grundlage: „Diese Schicht wird allmählich in die sozialistische Organisation hineingezogen durch das Beispiel, durch die Praxis, die ihr die Vorzüge der neuen Ordnung zeigen wird, der Ordnung, die das Kleinbauerntum und das städtische Kleinbürgertum von dem wirtschaftlichen Druck des Wucherkapitals und Junkertums, von Steuerlast (insbesondere durch Annullierung der Staatsschulden) usw. befreien wird." 8 Von Anbeginn an orientierte sich die KI also in ihrer Bündnispolitik darauf, den Grundinteressen des natürlichen Verbündeten der Arbeiterklasse, die sowohl im Kapitalismus als auch im Sozialismus mit denen der Arbeiterklasse übereinstimmen, zu entsprechen. Angesichts dieser Tatsachen gehören Versuche bürgerlicher Ideologen, die Bündnispolitik der kommunistischen Parteien zu entstellen, indem dieser wichtige Bestandteil marxistisch-leninistischer Strategie und Taktik in den Bereich angeblich subjektivistischer und zeitlich bestimmter Überlegungen der Kommunisten gerückt wird, zur Apologetik des kapitalistischen Systems. 9 Sie sind Teil des Antikommunismus, der in dieser Form darauf gerichtet ist, das Bündnis von Arbeitern und Bauern anzugreifen und zu untergraben. Völlig haltlos sind solche bürgerlichen Darstellungen, in denen die Erfahrungen der Bolschewiki und der Sowjetunion, wo sich das Bündnis in Form der Sowjets herausgebildet hat, sowie das konsequente Eintreten der Kommunistischen Internationale für die Interessen der Bauernschaft als „machtpolitische" Bestrebungen verfälscht werden, um damit die Aufrichtigkeit der Arbeiterklasse in den Bündnisbeziehungen zu nichtproletarischen Klassen und Schichten generell in Frage zu stellen. 10 Der Gründungskongreß der KI definierte die Ausgangspunkte für die Bündnispolitik der kommunistischen Parteien. Die revolutionäre Praxis zeigte jedoch, daß es notwendig war, die Konzeption in der Bündnisfrage gegenüber der Bauernschaft allseitig auszuarbeiten. Das war durch mehrere Faktoren bedingt. Erstens wirkten besonders erschwerend die falschen Positionen rechter sozialdemokratischer Führer nach, die die revolutionären Potenzen der Bauernschaft unterschätzt und diese als reaktionäre Masse an6

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Manifest, Richtlinien, Beschlüsse des Ersten Kongresses. A u f r u f e und offene Schreiben des Exekutivkomitees bis zum Zweiten Kongreß, Hamburg 1 9 2 0 , S. 24. Ebenda, S. 26. D e r I. Kongreß der Kommunistischen Internationale. Protokoll, S. 1 9 0 . Vgl. Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft. Eine vergleichende Enzyklopädie, Freiburg/Basel/ Wien 1 9 7 2 , Bd. 6, S. 7 6 7 f f . Vgl. G. D. Jackson, Comintern and peasant in Eastern Europe, 1 9 1 9 - 1 9 3 0 , New York/London 1 9 6 6 , S. 5 3 f f . ; W. S. Sworakowski, The International Peasants' Council, in: W o r l d Communism. A Handbook 1 9 1 8 - 1 9 6 5 , Stanford, California 1 9 7 3 , S. 220. In der B R D wird in direkten Publikationen der Unternehmerverbände, die als „Hilfen für die Diskussion" gedacht sind, den Kommunisten unterstellt, „daß sie ihre Bündnispartner entmachten und die führende Rolle der K P sichern" wollen (vgl. Die neue Linke. 35. Kommunistische Bündnispolitik (I): Gemeinsame Aktionen/Volksfront, hg. v. Institut der deutschen Wirtschaft, Köln, in Zusammenarbeit mit der Bildungsabteilung' der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Köln 1 9 7 7 , S. 7).

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gesehen hatten. Die opportunistischen Elemente in der II. Internationale, die den revolutionären Kampf für die Befreiung der Arbeiterklasse und der Bauernschaft ablehnten, hatten auch nichts unternommen, um die Bauernschaft für die proletarische Revolution zu gewinnen. „Wenn wir Ernst machen wollen mit einer sozialistischen Umgestaltung, müssen Sie Ihr Augenmerk ebenso auf das flache Land richten wie auf die Industriezentren", erklärte Rosa Luxemburg auf dem Gründungsparteitag der K P D , „und hier sind wir leider noch nicht einmal beim Anfang des Anfangs." 1 1 Zunächst mußte das von der rechten Sozialdemokratie „vergessene" Erbe von Marx und Engels wieder aufgenommen werden, um es entsprechend den neuen Bedingungen weiterentwickeln zu können. In den Programmen und programmatischen Erklärungen einiger kommunistischer Parteien wurde die Haltung zu den Verbündeten der Arbeiterklasse im Kampf um die Macht aber noch nicht näher bestimmt. So forderte die K P D auf ihrem Gründungsparteitag die „Enteignung des Grtin,d und Bodens aller landwirtschaftlichen Groß- und Mittelbetriebe; Bildung sozialistischer landwirtschaftlicher Genossenschaften unter einheitlicher zentraler Leitung im ganzen Reiche". 12 Auch in der Programmerklärung des I. Parteitages der Bulgarischen Kommunistischen Partei vom Mai 1919, die die Arbeiterklasse auf die Befreiung von der Herrschaft des Kapitalismus orientierte, fehlte noch eine umfassende Einschätzung der sozialpolitischen Verhältnisse im Lande und der treibenden K r ä f t e der Revolution. Vor allem wurde das Verhältnis der B K P zu den Bauern, die in Bulgarien die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung bildeten, nicht behandelt. 1 3 Zweitens wurde die präzise Bestimmung der Bündnisbeziehungen zwischen der Arbeiterklasse und der Bauernschaft deswegen dringend erforderlich, weil „linksradikal'e" Auffassungen in der kommunistischen Bewegung an Einfluß gewannen. Vielen revolutionären Kräften erschien unter den Bedingungen der revolutionären Nachkriegskrise der baldige Nachvollzug der Oktoberrevolution realisierbar. So ging die im April 1920 gegründete Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands in ihrem Programm davon aus, „daß es nur eines energischen Zugreifens bedarf", um die sozialistische Revolution zum Siege zu führen. 1 4 Unter Mißachtung der Leninschen Prinzipien lehnten die linkssektiererischen Führer dieser Partei die Bildung einer proletarischen Partei neuen Typs ab. lD Ebenso wurde die revolutionäre Tätigkeit in den Gewerkschaften und in parlamentarischen Institutionen sowie zur Gewinnung von Verbündeten für die Vorbereitung auf die sozialistische Umwälzung abgelehnt. Diese Tendenzen widerspiegelten sich auch in anderen Ländern und in anderen kommunistischen Parteien. 16 D e r „Linksradikalismus" befand sich zwar im Stadium einer „Kinderkrankheit", barg aber die Gefahr in sich, die Arbeiterklasse von der Masse der werktätigen Bevölkerung zu isolieren. Die Verzögerung des Entwicklungstempos der Revolution verlangte indessen von der K I eine elastische Strategie und Taktik, um neue Verbündete und weiteren Masseneinfluß zu gewinnen. Drittens wurden in den Räterepubliken in Bayern, in der Slowakei und in Ungarn einige Fehler in der Haltung gegenüber der Bauernschaft als Hauptverbündetem der 11

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Protokoll des Gründungsparteitages der Kommunistischen Partei Deutschlands (30. Dezember 1918 12 bis 1. Januar 1919), Berlin 1972, S. 219. Ebenda, S. 321. Vgl. Kurze Geschichte der Bulgarischen Kommunistischen Partei, Sofia 1975, S. 6 4 ; P. Boev, Leninskoto preustrojstvo na Bulgarskata Kommunisticeska Partija, in: Izvestija na instituta po istorija na BKP, Bd. 35, Sofia 1976, S. 299. K A P D . Programm der Kommunistischen Arbeiter-Partei Deutschlands, o. O. u. J., S. 6 f. Vgl. ebenda, S. 4; Institut für Marxismus-Leninismus, Zentrales Parteiarchiv (IML, 134/1/2821. Vgl. K. K. Sirinja, Voprosy sojuza raboeego klassa, S. 118 ff.

ZPA),

Arbeiterklasse begangen. So verdeutlichten die Erfahrungen der Räterepublik in Ungarn, daß sich ein undifferenziertes Herangehen an die Lösung der Bodenfrage, das Kernproblem für die Bauernschaft, als ernsthaftes Hindernis erwies. Dort hatte die revolutionäre Regierung mit dem „Dekret über die Sozialisierung des Bodenbesitzes" vom 3. April lSft.9 festgelegt, daß „der gesamte Bpden des Landes in den Besitz der Gesellschaft der Werktätigen übergeht" und seine Aufteilung untersagt ist. 17 „Tibor (Szamuela - E. L.) und ich waren der Meinung", schrieb später Béla Kun selbstkritisch, „daß unsere Agrarpolitik weitsichtiger ist als die der russischen Bolschewiki, weil wir . . . sofort für eine sozialistische Großproduktion eintraten." 18 Das aber wirkte sich für den weiteren Verlauf der Revolution ungünstig aus. Ähnliche fehlerhafte Auffassungen wurden in der Slowakischen Räterepublik und im Provisorischen Revolutionskomitee Polens, das im Sommer 1920 entstand, vertreten. 19 Viertens schließlich wurde die Ausarbeitung der Bündnispolitik bedingt durch die anwachsende Bauernbewegung selbst. Unter dem Einfluß der Oktoberrevolution in Rußland waren Millionen Bauern in vielen Ländern in Bewegung geraten; unter ihnen hatten schon in den letzten Kriegsjahren als Ergebnis der Kriegsfolgen und der sich verschärfenden sozialen und nationalen Widersprüche Ernüchterung, Unzufriedenheit und Friedenssehnsucht immer stärker um sich gegriffen. „Die vier Jahre der Schützengräben und des Blutvergießens", schrieb Antonio Gramsci, „haben die Psychologie der Bauern von Grund auf verändert. Die Auswirkung wurde speziell in Rußland sichtbar und ist eine der grundlegenden Bedingungen der Revolution." 20 Die Bauern echoben sich gegen die Grundbesitzer und forderten die Aufteilung ihrer Güter. Streiks und Demonstrationen der Landarbeiter für Brot, Arbeit und Boden, für Frieden und Demokratie sowie für Solidarität mit dem Kampf der Arbeiterklasse zur Unterstützung der russischen Arbeiter und Bauern nahmen Massencharakter an. In Bulgarien brach im September 1918 ein Soldatenaufstand aus, in dem die Teilnehmer - geführt von den Vertretern des Bauernvolksbundes (BZNS) - die Republik ausriefen. 21 Auch in anderen Ländern kam es zu Auseinandersetzungen mit den Grundbesitzern und zur Aufteilung ihres Besitzes. 22 Vielerorts entstanden Komitees und Bauernräte. Allerdings brachten diese bäuerlichen Bestrebungen keine grundlegenden Veränderungen. Die Agrarfrage wurde außerhalb Sowjetrußlands in keinem Land auf revolutionäre Weise gelöst. Die wichtigsten Ursachen dafür sind darin zu suchen, daß die Bauernbewegung spontan und nicht organisiert war, daß sie ohne einheitliche Führung blieb und die Aktionen zwischen den einzelnen Gebieten eines Landes sowie über die Landesgrenzen hinaus nicht abgestimmt wurden. Spontaneität und Unorganisiertheit hinderten die Bauern daran, die Änderung der politischen Machtverhältnisse als revolutionäre Aufgabe zu erkennen. Obgleich Räte, 17

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L. Magyar, Die Agrarpolitik der proletarischen Diktatur in Ungarn, in: Die Kommunistische Internationale, Berlin 1 9 2 9 , Nr. 13, S. 7 6 8 . B. Kun, O Vengerskoj Sovetskoj Respublike, Moskau 1 9 6 6 , S. 5 1 1 . Vgl. A.Gürdev, Leninovite agrarni tezisi i selskijat v ü p r o s v Evropa prez 1 9 1 7 - 1 9 2 0 godina, in: Naucni trudove na akademijata na obscestveni nauki i socialno upravlenie pri C K na BKP, Sofia 1 9 7 1 , Nr. 4 7 , S. 2 2 7 . A. Gramsci, Operai e contadini, in: Scritti politici. A cura di Paolo Sptiano, Rom 1 9 7 1 , S. 2 2 7 . Vgl. Kurze Geschichte der Bulgarischen Kommunistischen Partei, S. 57 f. Vgl. T. Dombai, Die Bauernschaft und der Weltkrieg, in: Internationale Presse-Korrespondenz, Wien, Sondernr., 8. Juli 1 9 2 4 , S. 1 0 3 1 f f . ; Jos. Krasny, Der internationale Bauernsowjet (Die Bauerninternationale), in: Die Kommunistische Internationale, Moskau/Petrograd 1 9 2 4 , Nr. 3 4 - 3 5 , S. 6 9 f f .

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Komitees und andere Organe gebildet wurden, gab es keine klare Vorstellung über deren Wesen und Aufgaben. E s fehlten vor allem die Verbindungen zu Kampforganen der Arbeiterklasse. In vielen Fällen standen die aufgebrachten Bauern unter dem Einfluß von liberalen und reformistischen Elementen, die gegen radikale politische Forderungen und Veränderungen auftraten und versuchten, die Bauern mit Reformversprechungen zu beschwichtigen. Aufgrund der wachsenden Bauernbewegung gingen die herrschenden Klassen dazu über, diesen Aufschwung durch Zusicherungen über die Durchführung von „Agrarreformen" abzufangen. So wurden den Bauern in Polen, in der Tschechoslowakei, in Rumänien, Jugoslawien, Bulgarien und in den baltischen Ländern solche „Agrarreformen" versprochen. 23 Diese den Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung nicht überschreitenden Reformen waren jedoch nur ein Ablenkungsmanöver. Sie entsprachen nicht den Forderungen der Bauern, weil die entscheidende Frage - die Enteignung des großen Grundbesitzes und die Übergabe des Bodens an die Bauern - damit nicht gelöst wurde. 24 Einen wichtigen Abschnitt im Prozeß der Klärung und Ausarbeitung einer marxistischleninistischen Bündnispolitik stellte der II. Kongreß der K I (19. Juli-7. August 1920) dar. Dieser Kongreß, der die organisatorische Herausbildung der Komintern abschloß, widmete einen bedeutenden Teil seiner Arbeit der Diskussion grundlegender Gesetzmäßigkeiten und Probleme der proletarischen Revolution. Dazu gehörten solche Fragen wie die der Rolle der proletarischen Partei neuen Typs in der sozialistischen Revolution, des Kampfes der kommunistischen Parteien um die Massen sowie der Verbündeten der Arbeiterklasse im Kampf um die Macht. Auf dem Kongreß wurden die Beziehungen zwischen den verschiedenen Klassen und Schichten unter dem Aspekt der neuen historischen Epoche und aus der Sicht des fortschreitenden revolutionären Weltprozesses behandelt. Der II. Kongreß zog aus den Erfordernissen des Klassenkampfes in den ersten Jahren der revolutionären Nachkriegskrise die Schlußfolgerung, daß das Grundanliegen der gesamten Politik der K I darin bestehen müsse, die werktätigen Massen für die Weiterführung des revolutionären Prozesses und für dessen Vertiefung zu gewinnen. 25 In Vorbereitung des Kongresses hatte W. I. Lenin in seinem Buch „Der ,linke Radikalismus', die Kinderkrankheit im Kommunismus" nachgewiesen, daß das Bündnis der Arbeiterklasse mit den nichtproletarischen werktätigen Massen die sozialökonomische Grundlage der Diktatur, des Proletariats, das „Alpha und Omega" der proletarischen Macht ist. Lenin verallgemeinerte die wichtigsten Prinzipien der marxistisch-leninistischen Bündnispolitik und forderte, alle Möglichkeiten im Kampf gegen die Bourgeoisie auszunutzen, „um einen Verbündeten unter den Massen zu gewinnen, mag das auch ein zeitweiliger, schwankender, unsicherer, unzuverlässiger, bedingter Verbündeter sein". 26 Der II. Kongreß beschränkte sich nicht darauf, diese Forderung aufzunehmen. Im Unterschied zur II. Internationale legte die K I die konkreten Aufgaben zur Gewinnung des natürlichen Verbündeten der Arbeiterklasse fest. Der von W. I. Lenin vorgelegte „Ursprüngliche Entwurf der Thesen zur Agrarfrage (Für den Zweiten Kongreß der Kom-

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Vgl. W. Kolarow, Bauernparteien und -verbände, in: D i e Kommunistische Internationale, Hamburg/ Berlin 1925, H. 3, S. 260 f. Zu den Ergebnissen der bürgerlichen Agrarreformen vgl. Sest' let agrarnogo krizisa v cifrach j diagrammach, Moskau 1935, S. 30 ff. Vgl. Vtoroj kongress Kominterna, S. 6 ff. W. I. Lenin, Werke, Bd. 31, S. 56 f.

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munistischen Internationale)" 27 beantwortete die damals so lebhaft umstrittene Frage, wie die Arbeiterklasse ihre Beziehungen zur Bauernschaft vor und nach der politischen Machtergreifung gestalten müsse.28 Die „Agrarthesen" waren das erste Dokument der KI, das sich speziell mit der Bündnispolitik gegenüber der Bauernschaft beschäftigte. In diesem Dokument wird die objektive Notwendigkeit des Kampfbündnisses zwischen Arbeitern und werktätigen Bauern, das durch ihre soziale Stellung in der kapitalistischen Gesellschaft bedingt ist, begründet. W. I. Lenin betonte, daß ein solches Bündnis durch die grundlegenden Lebensinteressen sowohl der Arbeiterklasse als auch der werktätigen Bauernschaft diktiert werde, deren gemeinsamer Feind das Kapital ist. Lenin wies in dem Entwurf der Thesen nach, daß es für die Werktätigen des Dorfes keine andere Rettung vor der kapitalistischen Ausbeutung geben könne als durch das Bündnis mit der revolutionären Arbeiterklasse. Andererseits könne die Arbeiterklasse ihre historische Mission nicht verwirklichen, wenn sie sich von engen Zunft- und Berufsinteressen leiten lasse. „Eine wirklich revolutionäre, wirklich sozialistisch handelnde Klasse ist das Proletariat nur dann, wenn es als Avantgarde aller Werktätigen und Ausgebeuteten, als ihr Führer im Kampf um den Sturz der Ausbeuter auftritt und handelt. Das aber ist unmöglich, wenn der Klassenkampf nicht ins Dorf hineingetragen wird, wenn die kommunistische Partei des städtischen Proletariats die werktätigen Massen des Dorfes nicht um sich schart, wenn das Proletariat diese Massen nicht erzieht." 29 Der „Ursprüngliche Entwurf der Thesen zur Agrarfrage" enthält eine gründliche Analyse der Lage der Bauernschaft im Kapitalismus und der sozialen Gruppierungen innerhalb der Bauernschaft sowie eine wissenschaftliche Einschätzung der sozialen Differenzierung im kapitalistischen Dorf. Darin wurden die Landarbeiter, die halbproletarischen Elemente (Parzellenbauern) sowie die Klein-, Mittel- und Großbauern als die wesentlichen Gruppen definiert. Lenin verband die Charakterisierung dieser Schichten und ihrer Möglichkeiten mit spezifischen Forderungen an die kommunistischen Parteien gegenüber jeder dieser verschiedenen Gruppen. Als eine wichtige Aufgabe formulierte er, daß die kommunistischen Parteien auf der Grundlage der ökonomischen, sozialen und politischen Lage und gemeinsamer Interessen ein festes Bündnis zu den erstgenannten drei Gruppen - den Landarbeitern, Parzellenbauern und Kleinbauern - herstellen müßten. In der sozialistischen Revolution müßten die Mittelbauern dagegen neutralisiert werden. Gegen Großbauern und andere ausbeuterische Elemente müßte ein entschiedener Kampf geführt werden. 30 Über die Agrarfrage und die von W. I. Lenin gezogenen Schlußfolgerungen für die Bündnispolitik der kommunistischen Parteien entbrannte auf dem II. Kongreß und vor allem in der Agrarkommission eine heftige Diskussion. 31 Bei einigen Delegierten hatte 27 28

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Vgl. ebenda, S. 140 ££. Zur Geschichte der „Agrarthesen", ihrer Ausarbeitung und Diskussion auf dem II. Kongreß vgl. W. I. Lenin, Ursprünglicher Entwurf der Thesen zur Agrarfrage (Für den 2. Kongreß der Kommunistischen Internationale). Mit einem Vorwort v. W. Kolarow, in: Die Kommunistische Internationale, Hamburg/Berlin 1925, H. 9, S. 929 ff.; S. Bobinskij, K istorii agrarnych tezisov Vtorogo kongressa Kommunisticeskogo Internacionala, in: N a agrarnom fronte, Moskau 1928, Nr. 1. W. 1. Lenin, Werke, Bd. 31, S. 141. Vgl. Leitsätze und Statuten der Kommunistischen Internationale. Beschlossen auf dem II. Kongreß der Kommunistischen Internationale, Moskau, vom 19. Juli bis 7. August 1920, Hamburg 1920, S. 72 ff. Vgl. E. Lewin, Der II..Kongreß der Komintern über das Bündnis zwischen Arbeitern und Bauern, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung ( B 2 G ) , 1981, H. 3, S. 345 ff.

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sich noch nicht die Erkenntnis von der Notwendigkeit eines festen Bündnisses zwischen der Arbeiterklasse und der werktätigen Bauernschaft durchgesetzt. So vertrat G. M . Serrati (Italienische Sozialistische Partei) die Meinung, daß die Bündnisfrage den Kongreß nicht interessieren könne. 32 Serrati, der wie andere Vertreter offensichtlich von sozialreformistischen Ansichten beeinflußt war, enthielt sich auch bei der Abstimmung über die Thesen zur Agrarfrage der Stimme. Die Mehrheit der Delegierten stimmte mit diesen Ansichten nicht überein und unterstützte die Leninschen Positionen. W i e abs dem Bericht der Agrarkommission hervorging, kam es zu unterschiedlichen Auffassungen insbesondere über die Haltung zur Enteignung des großen Grundbesitzes nach dem Sieg der proletarischen Revolution. 33 Am Vorabend des II. Kongresses der Komintern hatte der polnische Kommunist J. Marchlewski einen Aufsatz über „Die Agrarfrage und die Weltrevolution" veröffentlicht. Darin sprach er sich dafür aus, ein Programm „in bezug auf die Agrarverhältnisse" auszuarbeiten. 34 Marchlewski unterschätzte jedoch die politische Bedeutung der Aufteilung des Bodens an die Bauern. Nach seiner .Auffassung sollte die Vergesellschaftung der großen landwirtschaftlichen Güter zur Hauptaufgabe der Agrar- und Bündnispolitik erklärt werden und nicht deren Aufteilung nach dem Beispiel Sowjetrußlands. Er meinte, daß dadurch die Produktivität erheblich sinken und Schwierigkeiten bei der Versorgung der Stadtbewohner auftreten würden. 35 W . I. Lenin bewertete den Artikel Marchlewskis sehr hoch: Er habe „die theoretischen Grundzüge des kommunistischen Agrarprogramms der III. Internationale" umrissen. 36 Dennoch forderte Lenin, ausgehen^ von der sozialen Schichtung auf dem Dorfe, ein differenzierteres Vorgehen. Dabei stützte er sich auf die Erfahrungen in Sowjetrußland sowie auf eine Analyse der Landwirtschaft in einigen kapitalistischen Ländern. Das Dekret über den Boden, das der II. Gesamtrussische Sowjetkongreß im Oktober 1917 angenommen hatte, hob das Privateigentum an Grund und Boden auf. Der Boden wurde nationalisiert und den werktätigen Bauern zur Nutzung überlassen. Diese revolutionäre Lör sung der Bodenfrage entsprach voll und ganz den Forderungen der werktätigen Bauernschaft; sie schuf unter den konkreten Gegebenheiten günstige Ansatzpunkte für die Festigung des Bündnisses wie für die weitere ökonomische Entwicklung des Landes. W . I. Lenin hatte die Nationalisierung des Grund und Bodens als einen „Schritt zum Sozialismus" 37 bezeichnet, zugleich jedoch darauf hingewiesen, daß man die konkreten historischen Bedingungen eines jeden Landes berücksichtigen muß; er hatte die Möglichkeit eines anderen Weges zur Lösung der Bodenfrage nicht ausgeschlossen: „In einer anderen historischen Situation, auf einer anderen Stufe der Agrarrevolution, kann sich die Aufteilung als unvermeidlich erweisen." 38 Ebenso umriß Lenin seinen Standpunkt in dem Entwurf der Thesen zur Agrarfrage.

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Der zweite Kongreß der Kommunistischen Internationale. Protokoll der Verhandlungen vom 19. Juli in Petrograd und vom 23. Juli bis 7. August 1 9 2 0 in Moskau, Hamburg 1 9 2 1 , S. 5 6 1 . Zur Zusammensetzung dieser auf dem zweiten Kongreß der K I gewählten Agrarkommission vgl. W. I. Lenin, Ursprünglicher Entwurf, S. 9 2 9 . J. Marchlewski, Die Agrarfrage und die Weltrevolution, in: Die Kommunistische Internationale, Hamburg 1 9 2 0 , Nr. 12, S. 97. Vgl. ebenda, S. 9 3 f. W. I. Lenin, Werke, Bd. 3 1 , S. 1 4 0 . W. I. Lenin, Werke, Bd. 13, S. 4 3 7 . Ebenda, S. 2 9 2 .

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„In den meisten kapitalistischen Ländern", schrieb er, „braucht die proletarische Staatsmacht das Privateigentum keineswegs sofort und vollständig aufzuheben, und jedenfalls garantiert sie sowohl der Klein- als auch der Mittelbauernschaft, d a ß ihre Grundstücke ihnen nicht nur erhalten bleiben, sondern auch um die gesamte von ihnen sonst gepachtete Fläche vergrößert werden." 3 9 Lenin sah als grundlegende Aufgabe der Arbeiterklasse, den proletarischen Sieg und die Diktatur des Proletariats zu sichern. E r war dafür, die landwirtschaftlichen Großbetriebe in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern vorwiegend zu erhalten und sie nach dem Vorbild der Sowjetwirtschaften zu betreiben. Zugleich wies er darauf hin, d a ß es ein großer Fehler wäre, allein auf diesen Maßnahmen zu bestehen oder sie schematisch anzuwenden und gar keinen Boden an die Klein- und Mittelbauern zu verteilen. W . I. Lenin verteidigte in der Agrarkommission energisch seinen Standpunkt, und es gelang ihm, die grundlegenden Forderungen, die im Thesenentwurf enthalten waren, durchzusetzen. 40 In den Beratungen der ^Agrarthesen" ging es des weiteren um die Durchsetzung der marxistisch-leninistischen Auffassung von der Hegemonie der Arbeiterklasse im Bündnis zwischen Arbeitern und werktätigen Bauern. W . I. Lenin verallgemeinerte die E r f a h rungen des revolutionären Kampfes in Rußland, wo die Arbeiterklasse ihre Rolle als Hegemon nicht aufgrund irgendwelcher Privilegien, sondern durch die konsequente, tagtägliche Arbeit der Bolschewiki, durch deren Eintreten für die Interessen der werktätigen Bauern und durch die Richtigkeit ihrer politischen Linie verwirklichte. Im Thesenentwurf forderte Lenin deshalb von den kommunistischen Parteien, alle Möglichkeiten zu nutzen, um das Klassenbewußtsein der werktätigen Massen des Dorfes in den kapitalistischen Ländern zu wecken, Aktionen und Streikkämpfe auf dem Lande zu unterstützen und möglichst Räte aus Vertretern der Landarbeiter und Halbproletarier zu bilden. 4 1 Sollten die Voraussetzungen für den gemeinsamen Kampf auf dem Lande noch nicht ausreichen, so erforderte das von den proletarischen Parteien „eine langwierige Vorarbeit, nämlich die Schaffung von zumindest kleinen kommunistischen Zellen; eine intensive Agitation, durch welche die Forderungen des Kommunismus in gemeinverständlichster Form dargelegt und an Beispielen besonders krasser Erscheinungsformen der Ausbeutung und Knechtung erläutert werden." 4 2 D e r II. Kongreß unterstützte voll und ganz den Leninschen Standpunkt. Im Bericht der Agrarkommission betonte Ernst Meyer ( K P D ) die Wichtigkeit der Aufgabe, „daß die kommunistischen Parteien die soziale Revolution auf das flache Land hinaustragen. Eine Sicherung des Sieges, besonders in Mittel- und Westeuropa", bemerkte er, „ist nicht anders möglich, als d a ß das ländliche Proletariat mit eingereiht wird in die Vorhut des städtischen Proletariats." 4 3 Am 4. August 1920 stimmten alle Delegierten, bei einer Stimmenthaltung, für die Beschlüsse über die Aufgaben der kommunistischen Parteien in der proletarischen Revolution sowie für die „Leitsätze über die Agrarfrage". 4 4 D a m i t wurde die marxistisch-leninistische Erkenntnis vom Bündnis der Arbeiterklasse mit der 39 40

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W. I. Lenin, Werke, Bd. 31, S. 145. Vgl. V. Kolarov, Zametka k istorii agrarnych tezisov II mirovogo kongressa, in: Kommunisticeskij Internacional, Moskau 1929, Nr. 1, S. 41. Ein Protokoll über die Tätigkeit der Agrarkommission liegt nicht vor. W. 1. Lenin, Werke, Bd. 31, S. 150 ff. Ebenda, S. 152. Der zweite Kongreß der Kommunistischen Internationale. Protokoll, S. 552. Vgl. ebenda, S. 570.

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werktätigen Bauernschaft zum untrennbaren Bestandteil der Strategie und Taktik der kommunistischen Weltbewegung. In den „Agrarthesen" wurden die Erfahrungen der revolutionären Arbeiterbewegung und insbesondere die Erfahrungen der Oktoberrevolution verallgemeinert. Gestützt auf die Entwicklung in Sowjetrußland, wurde die Notwendigkeit und Richtigkeit der kommunistischen Bündnispolitik bewiesen. Zu Recht bemerkte Edwin Hoernle in seiner Wertung des Kongresses: „Seit den Tagen von Marx und Engels war noch niemals in der internationalen Arbeiterbewegung mit einer derartigen Klarheit der Zusammenhang zwischen der sozialistischen Revolution und dem Bündnis des Proletariats mit der Bauernschaft herausgestellt worden wie in den von Lenin verfaßten Agrarthesen der Kommunistischen Internationale." 43 Die Kommunistische Internationale beschränkte sich bei der Festlegung der revolutionären Strategie und Taktik nicht auf enge Ländergrenzen. Ausgehend von der Leninschen Erkenntnis, daß der von der Oktoberrevolution eingeleitete Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus im Weltmaßstab von verschiedenen revolutionären Kräften getragen und bestimmt wird, orientierte der II. Kongreß darauf, alle Richtungen und Strömungen des Klassenkampfes zu berücksichtigen und insbesondere die drei großen revolutionären Ströme in einer einheitlichen antiimperialistischen Bewegung zusammenzuführen. Bei der Ausarbeitung der Bündniskonzeption gegenüber den Bauern wurde auf dem Kongreß die Entwicklung der Bündnisbeziehungen der Arbeiterklasse zu den antiimperialistischen Kräften der kolonialen und unterdrückten Völker einbezogen. Das war nicht zuletzt deshalb erforderlich, weil die Bauernschaft die Massenbasis der nationalen Befreiungsbewegung bildete. Dieses Bündnis war von grundlegender Bedeutung für die Erlangung der Hegemonie der Arbeiterklasse im weltumspannenden Kampf gegen Imperialismus und Kolonialismus, für den Sozialismus. Der II. Kongreß beschloß unter Zugrundelegung von W . I. Lenins „Ursprünglichem Entwurf der Thesen zur nationalen und kolonialen Frage" die „Leitsätze und Ergänzungsthesen über die National- und Kolonialfrage". 4 6 Darin wurden das Wesen und der Platz der nationalen Befreiungsbewegung in der weltweiten Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Imperialismus bestimmt. 47 Der Einfluß des II. Kongresses und seiner Beschlüsse war unverkennbar bei der Klärung des Standpunktes vieler kommunistischer Parteien über die Agrarfrage und damit über Probleme des Bündnisses zwischen Arbeitern und Bauern. Nach dem Kongreß vollzogen sich jedoch einige Veränderungen in der internationalen Situation. Die Arbeiterklasse erlitt in einigen Ländern - so während der Märzereignisse 1921 in Deutschland eine Niederlage; die Bourgeoisie ging zum Gegenangriff über. Zur gleichen Zeit entstanden in Frankreich, Italien und anderen Ländern kommunistische Parteien. Das Ringen um die Massen, um die Festigung der Bündnisbeziehungen der Arbeiterklasse zu anderen nichtproletarischen Kräften erlangte in der Tätigkeit der Parteien zunehmende Bedeutung. Der III. Kongreß der Komintern (22. Juni-12. Juli 1921) begründete angesichts Gegenangriffs und der Verstärkung des reaktionären Charakters der Bourgeoisie Wege zur Formierung der Triebkräfte des revolutionären Prozesses unter den neuen dingungen. Unter der Führung von W . I. Lenin wurden linkssektiererische Positionen 4o 46 47

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des die Beund

E. Hoernle, Ein Leben für die Bauernbefreiung, Berlin 1965, S. 47. Vgl. Leitsätze und Statuten der Kommunistischen Internationale, S. 61 ff. Vgl. A. B. Reznikov, Strategija i taktika Kommunisticeskogo Internacionala po nacional'no-kolonial'nomu voprosu. Problemy teorii i istorii, Moskau 1978.

insbesondere die schädliche „Offensivtheorie", die die kommunistische Bewegung auf den gefährlichen Weg eines „revolutionären" Abenteurertums drängte, zurückgewiesen. Auf dem III. Kongreß wurde die Konzeption der proletarischen Einheitsfront erarbeitet, um die Spaltung der Arbeiterklasse zu überwinden und die Aktionseinheit von kommunistischen, sozialdemokratischen wie parteilosen Arbeitern zu sichern und möglichst viele organisierte, aber auch nichtorganisierte Arbeiter in den Kampf um die Lösung von Tagesforderungen und perspektivischen Aufgaben einzubeziehen. 48 Im Kampf um die Herstellung einer proletarischen Einheitsfront konnten somit auch die von sozialreformistischen, christlichen oder anarchosyndikalistischen Organisationen beeinflußten Arbeiter aufgrund von eigenen Erfahrungen die gemeinsame Schule des Klassenkampfes durchlaufen und ihre Organisiertheit und Kampffähigkeit erhöhen. W. I. Lenin und die Komintern betrachteten den Kampf um die Einheitsfront als wichtigsten Bestandteil der Strategie der kommunistischen Parteien, um den subjektiven Faktor der Revolution vorzubereiten. Die Herstellung der Einheitsfront war zugleich eine Grundbedingung für eine erfolgreiche Bündnispolitik. In seiner „Rede zur Verteidigung der Taktik der Kommunistischen Internationale" verdeutlichte W. I. Lenin diesen engen Zusammenhang von Einheitsfront- und Bündnispolitik: „Um zu siegen, braucht man aber die Sympathie der Massen. Nicht immer ist die absolute Mehrheit erforderlich, doch um zu siegen und die Macht zu behaupten, ist nicht nur die Mehrheit der Arbeiterklasse erforderlich - ich gebrauche hier den Terminus .Arbeiterklasse' im westeuropäischen Sinne, meine also das Industrieproletariat - , sondern auch die Mehrheit der ausgebeuteten und werktätigen Landbevölkerung." 49 Die Beschlüsse des III. Kongresses lenkten mit der Losung „Zu den Massen" 50 die Aufmerksamkeit auf Möglichkeiten, aus den nichtproletarischen Schichten der Bevölkerung Verbündete zu gewinnen. Die vom Kongreß angenommenen „Thesen über die Taktik" beachteten den Leninschen Hinweis, daß man, um die Massen zu gewinnen, an ihre eigene Vorstellungskraft anknüpfen und von ihren dringenden Bedürfnissen ausgehen müsse. Das bedeutete, für die unmittelbaren Lebensinteressen der Werktätigen, für die Verteidigung- der revolutionären Errungenschaften der Arbeiterklasse gegen die Offensive des Kapitals einzutreten. Zu solchen Forderungen gehörten u. a. Produktionskontrolle, Besteuerung der Bourgeoisie, Verstaatlichung der Schwerindustrie und Kontrolle über die landwirtschaftlichen Großbetriebe. Die Kommunisten müßten sich für ein „System von Forderungen" einsetzen, hieß es in den „Thesen über die Taktik", „die in ihrer Gesamtheit die Macht der Bourgeoisie zersetzen, das Proletariat organisieren, Etappen im Kampf um die proletarische Diktatur bilden und deren jede für sich dem Bedürfnis der breitesten Massen Ausdruck verleiht, auch wenn diese Massen noch nicht bewußt auf dem Boden der proletarischen Diktatur stehen". 51 Diese Überlegungen konsequent weiterführend, wurde in den „Thesen über die Taktik" von den kommunistischen Parteien verlangt, in ihrer Tätigkeit auch auf dem Lande an die unmittelbaren Forderungen, insbesondere der werktätigen Schichten, anzuknüpfen und genau diejenigen Maßnahmen zu bestimmen und durchzuführen, „die unbedingt notwen48 49 50

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2

Vgl. A. Reisberg, An den Quellen der Einheitsfrontpolitik, 2 Bde., Berlin 1971. W. I. Lenin^ Werke, Bd. 32, S. 499 f. Vgl. Zu neuer Arbeit, zu neuen Kämpfen. An die Proletarier und Proletarierinnen aller Länder, in: Thesen und Resolutionen des III. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale (Moskau, 22. Juni bis 12. Juli 1921), Hamburg 1921, S. 184. Ebenda, S. 47. Jahrbuch 25/1

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dig sind zur Leitung des Bauerntums, zur Herstellung eines dauerhaften Bundes mit ihm und zur Durchführung einer langen Reihe allmählicher Übergangsmaßnahmen zum gesellschaftlichen maschinellen landwirtschaftlichen Großbetrieb". 5 2 Von großer Bedeutung waren hierbei die Erfahrungen der K P R (B) bei der Verwirklichung der Neuen Ökonomischen Politik, in der die Prinzipien zur Sicherung des Bündnisses der Arbeiterklasse mit der Bauernschaft praktische Anwendung fanden. Die Delegierten wiesen entschieden solche Angriffe zurück, wonach die N Ö P die Arbeiter entmutigen und „den Arbeitermassen das Vertrauen zum Kommunismus" rauben würde. 53 Der III. Kongreß wertete die Einbeziehung der nichtproletarischen Klassen und Schichten in den sozialistischen Aufbau während der N Ö P als ein zentrales Anliegen kommunistischer Bündnisbeziehungen, was nicht nur die russische Bauernschaft, sondern das Schicksal von Hunderten Millionen Menschen aller Kontinente betraf. Daher hieß es in den „Thesen zum Referat über die Politik der Kommunistischen Partei Rußlands": „Infolgedessen besteht vom Standpunkt der Entwicklung der proletarischen Weltrevolution als eines einheitlichen Prozesses die Bedeutung der Epoche, die Rußland jetzt durchmacht, darin, daß es praktisch die Politik des Proletariats, das die Staatsmacht in seinen Händen hat, gegenüber der kleinbürgerlichen Masse zu erproben und zu prüfen hat." 5 ' 1 Die umfassende Begründung der proletarischen Einheitsfrontpolitik und das Bestreben, sie erfolgreich zu verwirklichen, führten kontinuierlich zu einer Vertiefung der Bündnisfrage. Die kommunistischen Parteien begannen, entsprechend den Prinzipien einer marxistisch-leninistischen Bündnispolitik unter den konkreten Bedingungen ihrer Länder zu handeln. Sie unternahmen große Anstrengungen, um auf dem Lande Einfluß zu gewinnen ; dabei verlief die Herstellung enger Verbindungen zur Landbevölkerung keineswegs geradlinig. Auf dem III. Parteitag der Bulgarischen Kommunistischen Partei im Mai 1921 bildete die Haltung der Kommunisten zur Bauernschaft ein zentrales Problem. 5 0 Unter Leitung von D . Blagoev wurde eine Kommission zur Ausarbeitung einer Entschließung über die Agrarfrage gebildet. Blagoev hob auf dem Parteitag hervor, daß die Bolschewiki in der Oktoberrevolution den Sieg erringen konnten, weil sie zwischen dem städtischen Proletariat und der Dorfarmut ein festes Bündnis geschmiedet hatten. In Ländern mit überwiegend bäuerlicher Bevölkerung, erklärte er, müßten die kommunistischen Parteien mit größten Schwierigkeiten rechnen, wenn sie die Mehrheit der Bauern nicht für sich gewinnen könnten. 56 D e r Parteitag nahm auf der Grundlage des Referats von Blagoev eine Entschließung über die Agrarfrage an, die die Grundlinien der Bündnispolitik der Partei beinhaltete. 57 Darin wurde hervorgehoben, daß das Bündnis zwischen Arbeitern und 52 53

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Ebenda, S. 96. Protokoll des III. Kongresses der Kommunistischen Internationale (Moskau, 22. Juni bis 4 2 . Juli 1921), Hamburg 1921, S. 778. Thesen und Resolutionen des III. Weltkongresses, S. 97. Zum weiteren Klärungsprozeß bei der Ausarbeitung einer marxistisch-leninistischen Bauernpolitik der deutschen Kommunisten vgl. H. Schäwel, Die Bedeutung der Agrarthesen des II. Weltkongresses der Komintern für die Entwicklung der Bündnispolitik der KPD, in: Zur ideologischen Entwicklung der K P D 1 9 1 9 - 1 9 2 3 . Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Gesellsch.- u. sprachwiss. Reihe, Greifswald, 25, 1976, Nr. 1 - 2 , S. 15 ff. Vgl. D. Blagoev, Rezjume na doklada po agrarnija vüpros, iznesen pred tretija kongres na BKP. 10 maj 1921 g, in: D. Blagoev, Sücinenija, Bd. 19, Sofia 1964, S. 1 6 1 ; Dimitar Blagoev, Biografija, Sofia 1979, S. 409 ff. Vgl. Bulgarskata kommunisticeska partija v rezoljucii i resenija na kongresite, konferenciite i plenu-

werktätigen Bauern unter der Führung der Arbeiterklasse eine notwendige Bedingung für den Sieg der sozialistischen Revolution in Bulgarien ist. Aufgrund der Analyse der Klassenstruktur des bulgarischen Dorfes wurde das Verhältnis der Partei zu den verschiedenen.Schichten der Bauernschaft konkreter definiert: So forderte die Entschließung, selbständige politische und gewerkschaftliche Organisationen der Landarbeiter zu bilden und eine systematische Aufklärungsarbeit unter den halbproletarischen Elementen zu leisten. Was die Kleinbauern betraf, so ging der Parteitag davon aus, daß sie durch kommunistische Propagandaarbeit ebenfalls an die Seite der Arbeiterklasse geführt werden könnten. Ebenso sollten die Mittelbauern gewonnen oder zumindest neutralisiert werden. 58 Zugleich'sprachen sich die Delegierten des III. Parteitages der BKP für die Nationalisierung des Bodens und für die Umwandlung großer kapitalistischer Landwirtschaftsbetriebe in sozialistische sowie für die Kollektivierung der Landwirtschaft aus. Das wirkte sich hemmend auf die Herstellung eines Bündnisses insbesondere mit dem Bauernvolksbund aus. Ungeachtet des differenzierten Herangehens an die verschiedenen bäuerlichen Schichten stellte die BKP ein Maximalprogramm auf, das keine Teilforderungen enthielt, die die Bauernmassen - in ihrer Mehrheit noch nicht von der Realisierbarkeit ihrer Forderungen durch die sozialistische Revolution überzeugt - allmählich an die revolutionäre Bewegung heranführen konnten. Die Beschlüsse des Parteitages zeigten daher noch keine konkreten Wege und Methoden für die Herstellung eines solchen Bündnisses. 59 Auf den ersten Kongressen der Komintern wurden in diesem Zusammenhang auch nur allgemeine Hinweise gegeben. Zur Formulierung der weiteren Aufgaben bei der Schaffung eines Bündnisses vermittelte W. I. Lenin den bulgarischen Kommunisten wertvolle Ratschläge. In einem Gespräch mit G. Dimitroff verwies er darauf, daß in einem Land wie Bulgarien mit überwiegend bäuerlicher Bevölkerung und einer schwachen Arbeiterklasse eine revolutionäre Bewegung oder gar ein bewaffneter Aufstand, der die Bauernschaft nicht erfaßte, zum Scheitern verurteilt sein würde. 60 Lenin betonte, daß es eine entscheidende Aufgabe der revolutionären Partei der Arbeiterklasse sei, die Bauern durch geduldige Überzeugung dem Einfluß der Bourgeoisie zu entziehen. Im weiteren Verlauf gelang es der BKP immer besser, die Leninschen Ideen auf die spezifischen Bedingungen des Landes anzuwenden. Ende Dezember 1921 erörterten die französischen Kommunisten auf dem Parteitag in Marseille die Haltung der Partei zur Agrarfrage und zu den Bündnisbeziehungen mit der werktätigen Bauernschaft. Der Parteitag beschloß Thesen zur Agrarfrage, die das erste Agrarprogramm der FKP bildeten. 61 Die wichtigsten Forderungen dieses Programms bestanden darin, im Interesse der werktätigen Bauern den großen Grundbesitz entschädigungslos zu enteignen und den Boden denjenigen zu übergeben, die ihn bearbeiten. Enteignet werden sollten des weiteren unbebaute Ländereien und jener Besitz, auf dem Lohn-

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2*

mite na CK, 1 9 1 9 - 1 9 2 3 , Bd. II, Sofia 1957, S. 135 ff.; T. Turlakôva, Leninizacijâta na BKP i formiraneto na novo, marksistko-leninsko etnosënie na partdjata po selskija vüpros ( 1 9 1 7 - 1 9 2 3 g.) t in: Izvestija na instituta po istorija na BKP, Sofia 1976, Nr. 35, S. 342. Vgl. Bulgarskata kommunisticeska partija v rezolucii, S. 136 f. Vgl. Kurze Geschickte der Bulgarischen Kommunistischen Partei, S. 72. Vgl. S. Dimitrova-Duskova, Velikij Oktjabr' i bol'sevizacija Bolgarskoj Kommunisticeskoj partii, in: Sovetskoe Slavjanovedenie, Moskau 1977, Nr. 6, S. 9. Vgl. Histoire du Parti communiste français (manuel), Paris 1975, S. 121.

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arbeiter ausgebeutet wurden bzw. der verpachtet wurde. Das Agrarprogramm der FKP sicherte den Kleineigentümern, die ihren Boden selbständig bearbeiteten, zu, diesen ständig nutzen und vererben zu können; es wandte sich jedoch gegen' den Kauf und Verkauf des Bodens. Weiterhin war vorgesehen, ein umfassendes System der sozialen Sicherheit für ältere Menschen, für Kranke und zur Arbeit Unfähige zu organisieren und die Lage der überwiegenden Mehrheit der Landbevölkerung zu verbessern. 82 Eindeutig wurde im Agrarprogramm darauf orientiert, nach der Machtübernahme durch die Arbeiterklasse auch in der Landwirtschaft den sozialistischen Entwicklungsweg zu beschreiten. Auf der Grundlage einer neuen Agrargesetzgebung sollten Produktionsgenossenschaften gebildet werden, und zwar einmal durch die Übergabe des enteigneten Bodens an die ehemaligen Landarbeiter und Pächter, zum anderen durch den freiwilligen Zusammenschluß von kleinen Bauernwirtschaften. Trotz der im Programm enthaltenen Differenzierung wurde nach wie vor eine Unterschätzung der revolutionären Möglichkeiten der nichtproletarischen Schichten im Dorfe deutlich. Noch nicht überwundene sektiererische Tendenzen und die ablehnende Haltung leitender Funktionäre der Partei zur Einheitsfrontpolitik hemmten die Gewinnung der bäuerlichen Schichten. 63 W . I. Lenin erwies der FKP bei der Ausarbeitung ihres Agrarprogramms große Hilfe durch seine Bemerkungen zum Programmentwurf „Über die Thesen der Kommunistischen Partei Frankreichs zur Agrarfrage". 6 4 Er hielt es für richtig, in den Thesen die Ausbeutung der Bauernschaft konkret zu zeigen. Beispielsweise sollten Zahlen über die Größe der Bodenfläche genannt werden, die kapitalistisch ausgebeutet wurde. „Es wäre sehr nützlich, diese Zahlen anzuführen, um den französischen Kleinbauern recht anschaulich zu zeigen, was für eine Menge Land die französischen Kapitalisten und Gutsbesitzer (von den Bauern und 'Arbeitern) an sich gerissen haben." 65 In die gleiche Richtung zielte der Vorschlag, weitere Maßnahmen aufzunehmen, die der Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion und den Interessen der Bauern dienen sollten. Die Ratschläge W . I. Lenins wurden bei der Überarbeitung des Agrarprogramms berücksichtigt. Sie waren nicht nur von Bedeutung für die FKP, sondern förderten die weitere Ausarbeitung der Bündnispolitik in der KI. 66 Die Führungsorgane der KI befaßten sich intensiv mit der Weiterentwicklung, Konkretisierung und Durchsetzung der Bündnispolitik gegenüber der werktätigen Bauernschaft. Am 17. März 1922 wurde im EKKI eine spezielle Agrarkommission gebildet, die aufgrund von statistischen Erhebungen über die landwirtschaftliche Entwicklung in den verschiedenen kapitalistischen Ländern einen Bericht für den IV. Kongreß der Komintern vorbereitete. 67 Dazu veröffentlichten E. Varga, B. Smeral und W . Kostrzewa Beiträge im Organ „Die Kommunistische Internationale" 68 , die im Zusammenhang mit den DisVgl. Z. V. Cernucha, Stanovlenie Francuzskoj Kommunisticeskoj partii, Moskau 1 9 7 6 , S. 1 6 5 f f . Vgl. Protokoll des vierten Kongresses der Kommunistischen Internationale. Petrograd/Moskau vom 5. November bis 5. Dezember 1 9 2 2 , Hamburg 1 9 2 3 , S. 33. W. I. Lenin, Werke, Bd. 33, S. 1 1 3 f f . Ebenda, S. 1 1 8 . Vgl. E. N. Sokolov, III Kongress Kominterna i problemy razvitija Francuzskoj kommunisticeskoj partii, in: Tretij Kongress Kominterna. Razvitie kongressom politiceskoj linii kommunisticeskogo dVizenija. Kommunisty i massy, Moskau 1 9 7 5 , S. 4 6 3 .

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Vgl. Bericht über die Tätigkeit des Präsidiums und der Exekutive der Kommunistischen Internationale für die Zeit vom 6. März bis 1 1 . Juni 1 9 2 2 , Hamburg 1 9 2 2 , S. 8, 1 3 5 ; Internationale PresseKorrespondenz, Berlin, 26. August 1 9 2 2 , S. 1 1 1 7 . Vgl. E. Varga, Die Rolle der Bauernschaft im Verfallsstadium des Kapitalismus, in: Die Kommu-

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kussionen über das Programm der K I (seit Sommer 1922) standen und in denen die Notwendigkeit begründet wurde, demokratische Teilforderungen in das Programm der K I aufzunehmen. 69 Ausgehend von diesen Teilforderungen zur Verteidigung und Erweiterung der politischen und ökonomischen Rechte gegen das Kapital, konnten weitere Schritte zur Schaffung eines Bündnisses mit der werktätigen Bauernschaft unternommen werden. In seinem Artikel beschäftigte sich der ungarische Kommunist E . Varga mit der sozialen Differenzierung der Bauernschaft. E r machte deutlich, daß die Ruinierung und Proletarisierung der Bauern sowie die Möglichkeit, daß mittlere und selbst kleine Bauern ihren Bodenbesitz erweitern können, d. h. die Doppelnatur der Bauernschaft in ökonomischer Hinsicht, oft Unentschlossenheit in politischer Hinsicht und ein Schwanken zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie hervorrufen würden. Varga forderte, „daß die kommunistischen Parteien aller Länder sich mit dieser Frage eingehend beschäftigen und die gefundenen Ergebnisse sich gegenseitig im Wege der Kommunistischen Internationale mitteilen". 70 B. Smeral, der von den Erfahrungen der KPTsch in der Einheitsfrontpolitik ausging, legte in seinem Beitrag das Schwergewicht darauf, die Teilforderungen für die Bauern zu bestimmen. „ E s liegt nicht in unserem Plane'", schrieb er, „das kleinere und mittlere Eigentum (hauptsächlich dasjenige der Bauern) nach der Ergreifung der Macht schablonenhaft über Nacht zu zerstören." Smeral sprach sich dafür aus, „im Programm überzeugend und verbindlich auszusprechen, festzusetzen, daß entgegengesetzte Maßnahmen gegen die kleinen und mittleren Eigentümer nur im Falle ihrer gegenrevolutionären Aktivität, nur aus Gründen der revolutionären Abwehr gegen den inneren Feind in Anwendung gebracht würden". 7 1 D a m i t / s o schlußfolgerte er, könnten die kommunistischen Parteien ihren Einfluß auf die Mittelschichten, die ständig zwischen der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse schwanken, verstärken. Weitere konkrete Vorstellungen hinsichtlich der Übergangsmaßnahmen entwickelte die polnische Kommunistin W. Kostrzewa. Sie setzte sich kritisch mit solchen Behauptungen in der Kommunistischen Partei Polens auseinander, wonach die Aufteilung des Bodens die Produktivität verringern und die Ernährung der Stadtbevölkerung gefährden würde, d. h. „die Klassenbasis der Revolution sich durch die Umwandlung der Landproletarier in Kleinbesitzer schmälern" werde. 7 2 Kostrzewa vertrat die Auffassung, „daß sich die soziale Revolution auf der Basis der bestehenden Gestaltung der. Eigentumsverhältnisse auf dem Lande entwickeln wird" 7 3 , und bezeichnete die Haltung der verschiedenen Schichten der Bauernschaft gegenüber der sozialistischen Revolution als „das ausschlaggebende Problem". Sie hielt es für notwendig, die wirkliche Gestaltung der Verhältnisse auf dem Lande zu analysieren, Wege zu weisen, um das Wesen der Klassenkämpfe sowie revolutionäre und konterrevolutionäre Strömungen aufzudecken und vor allem „solche Agrarlosungen aufzustellen, die den Bedingungen des betreffenden Landes am besten, sowohl den wirtschaftlichen wie auch den politischen Interessen, Zielen und Mitteln der

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nistische Internationale, Moskau/Petrograd 1922, N r . 2 0 ; B. Smeral, Zur Programmdiskussion, in: ebenda, N r . 2 2 ; W. Kostrzewa, Thesen zur Agrarfrage, in: ebenda, N r . 23. Vgl. G. JähnjH. Köpstein/E. Lewin, Zum Wechselverhältnis von demokratischen und sozialistischen Forderungen im Kampf der Kommunistischen Internationale gegen Imperialismus und Faschismus, in: Studien zur Geschichte der Kommunistischen Internationale, Berlin 1974, S. 62. E. Varga, D i e Rolle der Bauernschaft, S. 70 f. B. Smeral, Zur Programmdiskussion, S. 86. . W. Kostrzewa, Thesen zur Agrarfrage, S. 152. E b e n d a , S. 145.

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sozialen Revolution entsprechen". 74 Kostrzewa formulierte unmißverständlich: „Die Agrarlosungen bilden heute einen Bestandteil der Plattform der sozialen Revolution." D e r Inhalt dieser Losungen müsse von den „Bestrebungen und Forderungen der arbeitenden Massen auf dem Lande" sowie von den Möglichkeiten bestimmt werden, „über die das Proletariat zur Verwirklichung seiner Bestrebungen auf der Basis der herrschenden ökonomischen, sozialen und psychologischen Verhältnisse verfügt". 7 5 Sie formulierte die Aufgabe, die spezifischen Formen und Methoden des Kampfes der Bauernschaft, die vom sozialen Inhalt dieses Kampfes bestimmt werden und der jeweils erreichten E n t wicklungsstufe der Bauernbewegung entsprechen müßten, zu fördern und zu nutzen. Diese Aktivitäten und Diskussionen mündeten auf dem IV. Kongreß (5. November bis 5. Dezember 1922) in das zweite programmatische Dokument der Komintern zur Agrarfrage und zur Bündnispolitik gegenüber der werktätigen Bauernschaft „Agrarisches Aktionsprogramm. Anweisung zur Anwendung der Agrarthesen des 2. Kongresses." D e r IV. Kongreß vertiefte damit wichtige Erkenntnisse der Bündniskonzeption gegenüber der Bauernschaft aufgrund der seit dem II. Kongreß gewonnenen Erfahrungen. D i e Arbeit am Programmentwurf, an dem E . Varga einen bedeutenden Anteil hatte, wurde durch einen Brief W . I. Lenins gelenkt, der nachdrücklich auf den Zusammenhang mit den Agrarthesen des II. Kongresses verwies. 76 Varga führte in seiner Einführung zum Aktionsprogramm aus, d a ß vor der K I die Aufgabe stehe, die verschiedenen Schichten der Bauernschaft zu gewinnen, um „das Angriffsheer der kommunistischen Parteien zu vergrößern". Um aber an die werktätige Bauernschaft heranzukommen, sei es „absolut notwendig, durch Aktionen, durch Teilnahme an ihrem alltäglichen Kampfe diese Schichten zu gewinnen". 77 Im Mittelpunkt des Aktionsprogramms stand die Frage nach den konkreten politischen Forderungen, für die die Arbeiterklasse in der Periode bis zur sozialistischen Revolution gemeinsam mit den Bauern kämpfen muß. Es wurde unterstrichen, d a ß die Kommunisten „gegen alle Arten von Ausbeutung der armen und mittleren Bauernschaft durch das Kapital" auftreten müssen. 78 An die unmittelbaren Interessen der Arbeitenden auf dem Lande anknüpfend, forderte das Aktionsprogramm für die LandarbeiterKVerbesserung der Arbeits- und Wohnverhältnisse, Erhöhung der Reallöhne, Streikrecht, Durchsetzung des Achtstundentages, Versicherungsschutz, Verbot der Lohnarbeit für Kinder u. a. Konkrete Forderungen für die arme und mittlere Bauernschaft waren: Unterstützung gegen die Ausbeutung durch das Leih- und Wucherkapital sowie im Kampf gegen das H a n dels- und Spekulationskapital, gegen die Monopolstellung des Industriekapitals bei der Preisbildung für industrielle Waren, gegen die Ausbeutung durch das private Monopol des Transportwesens und schließlich gegen die Steuerpolitik des kapitalistischen Staates. 79 „Eine endgültige Befreiung", so wurde im Aktionsprogramm ausgeführt, „kann nur eine proletarische Revolution bringen, welche den Grund und Boden der Großgrundbesitzer samt Einrichtung ohne Entschädigung konfisziert, den Boden der arbeitenden Bauern aber unangetastet läßt und von allen Lasten, Pachtzinsen, Hypotheken, feudalen Einschränkungen befreit und die werktätigen Bauern auf jede Weise unterstützt." 80 74 76 77 78 79 80

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75 Ebenda, S. 146. Ebenda, S. 149. Vgl. Protokoll des vierten Kongresses der Kommunistischen Internationale, S. 829. Ebenda, S. 636 f. Ebenda, S. 833. Vgl. ebenda, S. 833 ff. Ebenda, S. 835.

Die Aufgaben für die kommunistischen Parteien in den Kolonialländern wurden präziser erfaßt. In den vom Kongreß verabschiedeten „Leitsätzen zur Orientfrage" hieß es, daß nur eine Agrarrevolution die gewaltigen Bauernmassen in den unterdrückten und abhängigen Ländern in Bewegung zu setzen vermag und einen entscheidenden Einfluß auf den Kampf gegen den Imperialismus ausüben kann. 81 Das Aktionsprogramm umriß die Aufgaben für die Kommunisten in jenen Ländern, in denen die Bauern den nationalen Befreiungskampf noch gemeinsam mit ihren Grundbesitzern führten, wie beispielsweise in der Türkei, sowie für die Länder, wo die feudalen Grundbesitzer im Bunde mit den ausländischen imperialistischen Unterdrückern die Bauernschaft ausbeuteten, wie in Indien. Dort fiel der nationale mit dem sozialen Befreiungskampf der Bauernschaft zusammen, während unter den zuerst genannten Bedingungen der Kampf der unterdrückten Bauern gegen feudale Vorrechte erst nach dem Sieg des nationalen Befreiungskampfes beginnen mußte. 82 Die Diskussion zur Agrarfrage auf dem IV. Kongreß bestätigte die grundlegenden Aussagen des Aktionsprogramms. Der Vertreter der FKP, Renaud Jean, brachte die Überzeugung zum Ausdruck, daß es möglich sei, einen großen Teil der Bauernschaft für die Revolution zu gewinnen. 83 Rieux, ebenfalls Mitglied der französischen Delegation, leugnete eine solche Möglichkeit und sprach der französischen Bauernschaft „revolutionäre Fähigkeiten" ab. 84 W . Kostrzewa machte deutlich, daß die Arbeit auf dem Lande, die Gewinnung eines Teils der Bauernschaft bzw. die Neutralisierung anderer Teile, kein Organisationsproblem sei, „sondern vor allem ein politisches Problem" darstelle. Die Tatsache, daß sich die „Idee des revolutionären Bündnisses-der Arbeiter und der Kleinbauern" 85 in der KI nur langsam durchsetzte, sah sie im Zusammenhang damit, daß sich die kommunistischen Parteien erst auf dem Wege zu revolutionären Massenparteien, zu „Generalstäben der Revolution" befanden. 86 Kostrzewa unterstützte die zahlreichen konkreten Hinweise im Aktionsprogramm, die die Kommunisten befähigen sollten, sich an die Spitze der Auseinandersetzungen auf dem Lande zu stellen, beschränkte sich aber in ihren Ausführungen fast ausschließlich auf das Landproletariat bzw. auf die Kleinbauern. Die Zustimmung zum Aktionsprogramm brachte auch der japanische Kommunist S. Katayama zum Ausdruck. Er stellte heraus, daß in Japan, in einem erst am Anfang der Entwicklung befindlichen Industrielande, der Bündnisfrage eine besondere Bedeutung zukomme und „daß die japanische Revolution nicht allein durch das Industrieproletariat, sondern ebensowohl durch die Bauern und die landwirtschaftlichen Arbeiter Japans verwirklicht werden wird". S 7 Die Vertreter der KPR (B) konnten in diesen Diskussionen konkrete Erfahrungen im Kampf um die politische Macht der Arbeiterklasse und um die Festigung des Arbeiterund-Bauern-Staates vermitteln und dazu beitragen, die Bündnispolitik der KI weiterzuentwickeln. So führte Theodorowitsch zum Aktionsprogramm aus: „Der Umstand, daß unsere Revolution Erfolg hatte, erklärt sich in bedeutendem Maße daraus, daß unser Dorf auf die städtische Bewegung, auf die Bewegung des Industrieproletariats mit einer 81 82 83 84 85 86 87

Vgl. ebenda, S. 1 0 3 6 f. Vgl. ebenda, S. 8 3 3 . Vgl. ebenda, S. 6 5 2 f f . Ebenda, S. 660. Ebenda, S. 6 7 0 . Ebenda, S. 668. Ebenda, S. 673.

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grandiosen Agrarbewegung antwortete; und wenn diese Agrarbewegung ihrerseits bei uns in Rußland gesiegt hat, so war es nur deshalb der F a l l , weil sie vom Proletariat mit seiner kommunistischen Partei an der Spitze organisiert werden konnte". 8 8 In ihrer R e d e zum Referat Lenins über „Fünf Jahre russische Revolution und die Perspektiven der Weltrevolution" unterstrich C l a r a Zetkin die allgemeingültigen Erfahrungen der Bündnispolitik der Bolschewiki. D i e Überlassung des Bodens an die Bauefrn habe das Bündnis zwischen Arbeiterklasse und Bauernschaft gefestigt und dazu geführt, daß die werktätigen Bauernmassen die Sowjetmacht heldenhaft verteidigten. D i e s sei keineswegs nur eine „russische Angelegenheit", stellte Clara Zetkin fest, deshalb hätten die kommunistischen Parteien „von der einschlägigen Entwicklung der Dinge in der 'russischen Revolution außerordentlich viel zu lernen". 8 9 D i e Orientierung des I V . Kongresses, an die unmittelbaren Interessen und Forderungen der Landbevölkerung anzuknüpfen, bedeutete zugleich ein differenziertes Herangehen an die verschiedenen bäuerlichen Organisationen. E r s t e Erfahrungen lagen hier in der Tätigkeit der K P D vor, die bereits im M a i 1919 den „Verband kommunistischer L a n d arbeiter und Kleinbauern Deutschlands" gegründet hatte, um Stützpunkte auf dem L a n d e zu errichten. D e r Verband wurde zwar aufgelöst, aber das^Streben der Partei, an die verschiedenen bäuerlichen Schichten heranzukommen und ihren E i n f l u ß auch organisatorisch zu verankern, wurde nicht aufgegeben. Eine wichtige Rolle spielten der „ B u n d schaffender L a n d w i r t e " und die im Herbst 1923 gebildete „Arbeitsgemeinschaft der schaffenden Landwirte, Pächter und Siedler". In der K I wurde die Frage nach der Haltung zu bäuerlichen Parteien und Organisationen bzw. zur N e u b i l d u n g solcher Organisationen erst später umfassender behandelt, weil die Organisierung der Bauernschaft, wie V . K o l a r o v auf dem V . Kongreß der Komintern im Jahre 1924 bemerkte, noch keine großen Fortschritte zu verzeichnen hatte. 9 0 D i e K I entsprach mit dem Aktionsprogramm dem dringenden Bedürfnis der kommunistischen Parteien nach theoretischer Klarheit und praktischen Hinweisen zur Ausarbeitung der den Kampfbedingungen entsprechenden Methoden bei der Gewinnung der werktätigen Bauern. Dieses Agrarprogramm entsprach den Beschlüssen des I V . Kongresses zur Weiterentwicklung der Einheitsfrontpolitik und zur Gewinnung der Massen. E . V a r g a betonte ausdrücklich die Notwendigkeit, „in ähnlicher Weise, wie wir es im Sinne der Einheitsfronttaktik bei den industriellen Arbeitern machen, auch an die täglichen Interessen der weiten Schichten der landwirtschaftlich arbeitenden Bevölkerung anzuknüpfen". 9 1 E s ist charakteristisch, daß die „Thesen über die T a k t i k der K o m m u nistischen Internationale" nicht nur die A u f g a b e stellten, Arbeiterregierungen zu bilden, sondern auch auf die Möglichkeit verwiesen, in einigen Ländern für die Errichtung von Regierungen der Arbeiter und Bauern einzutreten. 9 2 D i e Begründung der L o s u n g von der Arbeiter-und-Bauern-Regierung als „konzentrierte politische F o r m e l " und „Generallosung kommunistischer Parteien" 9 3 auf der III. Erweiterten T a g u n g des E K K I im Sommer 1923 bildete einen weiteren wichtigen Schritt in 83 89 90 91 92 93

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E b e n d a , S. 6 5 4 f. E b e n d a , S. 2 4 8 , 2 5 5 . V g l . Protokoll. F ü n f t e r K o n g r e ß der Kommunistischen Internationale, B d . II, Berlin o. J . , S. 7 8 1 . Protokoll des vierten K o n g r e s s e s der Kommunistischen Internationale, S. 8 3 1 . V g l . e b e n d a , S. 1 0 1 5 , 1 0 1 7 . Protokoll der K o n f e r e n z der Erweiterten E x e k u t i v e der Kommunistischen Internationale. M o s k a u 1 2 . - 2 3 . Juni 1 9 2 3 , H a m b u r g 1 9 2 3 , S. 2 8 0 , 2 8 4 .

der A u s a r b e i t u n g der B ü n d n i s p o l i t i k der K I . D i e s e T a g u n g b e k r ä f t i g t e die K o n t i n u i t ä t in der E r a r b e i t u n g und Präzisierung der G r u n d s ä t z e hinsichtlich des Verhältnisses zur werktätigen B a u e r n s c h a f t . Zugleich berücksichtigte d a s E K K I in seinen B e r a t u n g e n neue T e n d e n z e n in der internationalen K l a s s e n a u s e i n a n d e r s e t z u n g . Sie ergaben sich vor a l l e m aus der w a c h s e n d e n G e f a h r des F a s c h i s m u s , die nach der E r r i c h t u n g der faschistischen D i k t a t u r in Italien E n d e 1922 und eines militärfaschistischen R e g i m e s a m 9. J u n i 1923 in B u l g a r i e n v o n den kommunistischen Parteien erforderte, die demokratischen und revolutionären E r r u n g e n s c h a f t e n der A r b e i t e r k l a s s e mit allen Mitteln zu verteidigen. M i t großer D r i n g l i c h k e i t stellte sich auch die A u f g a b e , den E i n f l u ß der K o m m u n i s t e n über die A r b e i t e r k l a s s e hinaus auf a n d e r e werktätige Schichten auszudehnen. D i e Einheitsfront der A r b e i t e r k l a s s e mußte zu einer E i n h e i t s f r o n t aller W e r k t ä t i g e n weitergeführt w e r d e n , u m die G r u n d l a g e n einer breiten K a m p f f r o n t der werktätigen M a s s e n zu schaffen, deren T r ä g e r und S t o ß k r a f t die A r b e i t e r k l a s s e darstellte. C l a r a Zetkin, die auf der T a g u n g über den K a m p f gegen den F a s c h i s m u s referierte, erläuterte die N o t w e n d i g k e i t , breitere B e v ö l k e r u n g s k r e i s e zusammenzuschließen und den W i d e r s t a n d auch der Mittelschichten, der B a u e r n s c h a f t und der Intelligenz, deren Interessen v o n der reaktionären G r o ß b o u r g e o i s i e e b e n f a l l s bedroht w u r d e n , zu organisieren. Sie begrüßte die Orientierung auf die A r b e i t e r - u n d - B a u e r n - R e g i e r u n g . „ D i e s e neue L o s u n g " , führte C l a r a Zetkin aus, „ist nicht nur u n a b w e i s b a r für die überwiegend a g r a rischen L ä n d e r auf d e m B a l k a n , wie B u l g a r i e n , R u m ä n i e n usw., sondern sie ist auch von großer B e d e u t u n g f ü r Italien, für Frankreich, für D e u t s c h l a n d und ganz besonders f ü r A m e r i k a . Sie ist g e r a d e z u eine N o t w e n d i g k e i t im K a m p f zur B e s i e g u n g des Faschismus." 9 ' 1 D i e L o s u n g v o n der A r b e i t e r - u n d - B a u e r n - R e g i e r u n g entsprach sowohl den objektiven als auch den subjektiven A n f o r d e r u n g e n des K l a s s e n k a m p f e s . Sie erfaßte klar den Z u s a m m e n h a n g v o n M a c h t f r a g e und B ü n d n i s p o l i t i k und brachte die Z i e l e des werktätigen V o l k e s im K a m p f gegen die O f f e n s i v e des K a p i t a l s und gegen R e a k t i o n und F a s c h i s m u s zum A u s d r u c k . D i e B i l d u n g v o n solchen Regierungen hätte die Positionen der B o u r g e o i s i e geschwächt, die E r r u n g e n s c h a f t e n der A r b e i t e r k l a s s e gestärkt und ihr B ü n d n i s mit der werktätigen B a u e r n s c h a f t gefestigt, w a s zu einer V e r t i e f u n g des revolutionären Prozesses hätte beitragen können. B e i den Teilnehmern der T a g u n g herrschte noch nicht von A n f a n g an v o l l s t ä n d i g e K l a r h e i t über den P l a t z der neuen L o s u n g in d r t Strategie und T a k t i k der K I . G . S i n o v ' e v , der sie als p r o p a g a n d i s t i s c h e L o s u n g f ü r die „ M a c h t der A r b e i t e r , H e r r s c h a f t des S o z i a l i s m u s " bezeichnete, 9 5

berücksichtigte

nicht die veränderten K l a s s e n k a m p f b e d i n g u n g e n und stellte letztlich auch die L e n i n S9hen Prinzipien zur G e w i n n u n g und E i n b e z i e h u n g der werktätigen M a s s e n in den antiimperialistischen K a m p f in F r a g e . D i e T a g u n g der E r w e i t e r t e n E x e k u t i v e wies ein solches enges Herangehen zurück. E i n H a u p t v e r d i e n s t der T a g u n g bestand darin, d a ß sie sich entschieden d a v o n grenzte, die A r b e i t e r - u n d - B a u e r n - R e g i e r u n g mit der D i k t a t u r des Proletariats

ab-

gleich-

zusetzen. I m Leninschen Sinne w u r d e eine solche R e g i e r u n g vielmehr als „ W e g zur D i k t a t u r des P r o l e t a r i a t s " gekennzeichnet. 9 6 D a s w a r eine z u k u n f t s w e i s e n d e E r k e n n t nis. A u s g e h e n d d a v o n orientierte d a s E K K I die kommunistischen Parteien d a r a u f , mit

94 95 06

Ebenda, S. 229 f. Ebenda, S. 34. Ebenda, S. 282.

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ihrer Bündnispolitik all jene Kräfte zu erfassen, die, ohne schon Anhänger der Diktatur des Proletariats zu sein, an der Verteidigung der demokratischen Rechte sowie daran interessiert sind, reaktionäre und faschistische Herrschaftsformen zu überwinden bzw. zu verhindern. In dem Aufruf an die bulgarischen Arbeiter und Bauern vom 2. Juli 1923 wurden die faschistischen Staatsstreichpolitiker als der entscheidende Feind gekennzeichnet, der geschlagen werden müsse: „Vereinigt Euch zum Kampf gegen den weißen Umsturz nicht nur mit den breiten Bauernmassen, sondern mit den noch am Leben gebliebenen Führern der Bauernpartei. Zeigt ihnen, wozu die Spaltung der Arbeiter und Bauern geführt hat, und ruft s'ie auf zum gemeinsamen Kampfe um eine Arbeiter-und-Bauern-Regierung." 97 Die III. Erweiterte Tagung des EKKI vermittelte den kommunistischen Parteien wertvolle Anregungen für die Bündnispolitik gegenüber der werktätigen Bauernschaft. 98 Unter der Losung der Arbeiter-und-Bauern-Regierung kämpften im Herbst 1923 die revolutionären Kräfte der deutschen Arbeiterklasse und der polnischen Arbeiterbewegung gegen die Reaktion, für die Überwindung der imperialistischen Herrschaft und für die Errichtung der Macht des werktätigen Volkes. Iii Bulgarien organisierte die BKP mit Hilfe des EKKI im September 1923 den ersten bewaffneten Volksaufstand unter der Losung der Arbeiter-und-Bauern-Regierung. Diese Politik war darauf gerichtet, die Steuerlasten für die Werktätigen zu erleichtern, den landlosen und landarmen Bauern Boden zu geben, die politischen Rechte und Freiheiten wiederherzustellen und auszubauen und die faschistischen Organisationen aufzulösen.' Eine solche Orientierung verdeutlichte, daß die BKP, gestützt auf die Erfahrungen und Lehren der KI,, einen wichtigen Schritt bei der Anwendung der Bündnispolitik gegenüber der werktätigen Bauernschaft vorangegangen war. 9 9 Die Ausarbeitung und Umsetzung der bündnispolitischen Konzeption der Arbeiterklasse gegenüber der Bauernschaft vollzog sich auf verschiedenen Ebenen. Zunächst und hauptsächlich in der kommunistischen Bewegung selbst, indem die Grundlinien von der KI und den kommunistischen Parteien ausgearbeitet und immer zielstrebiger auf die konkreten nationalen Bedingungen der einzelnen Länder angewendet wurden. Zugleich rang die Komintern darum, auch auf internationaler Ebene Bauernorganisationen zu schaffen, um die Idee des Bündnisses zwischen Arbeiterklasse und werktätiger Bauernschaft und die Verbindung zwischen Stadt und'Land im internationalen Rahmen zu verwirklichen. Diese beiden Ebenen durchdrangen einander immer mehr, und zwar in dem Maße, wie sich international Bauernorganisationen herausbildeten, die die Interessen der werktätigen Schichten der Bauernschaft verteidigten.' Eine aktive Rolle im Kampf um den Zusammenschluß der revolutionären Arbeiter mit den werktätigen Bauern spielte der im Oktober 1923 gegründete Internationale Bauernrat (Bauerninternationale). 100 Mit der Bildung der Bauerninternationale setzte ein 97 98

99

100

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Die Rote Fahne, 3. 7. 1923". Über die Ausarbeitung und Umsetzung dieser Losung in der K P D vgl. H. J. Krusch, Zum Zusammenwirken v o n K I und deutscher Sektion in der Frage der Arbeiter-und-Bauern-Regierung, i n : B Z G , 1 9 7 3 , H. 5, S. 7 5 2 f f . Vgl. T. Koleva, B K P i mezdunarodnoto kommunisticesko dvizenie ( 1 9 1 9 - 1 9 2 4 g.), S o f i a 1 9 7 3 S. 3 5 2 f f . Vgl. D i e Bauern auf dem W e g e zur Befreiung. V o m Ersten Weltkongreß der Bauern in Moskau vom 1 0 . - 1 6 . Oktober 1 9 2 3 , Berlin 1 9 2 4 ; D e r erste Internationale Bauernkongreß, in: Die Bauerninternationale. Erstes Heft, hg. v. Internationalen Bauernrat, Moskau/Berlin o. J.

neuer Abschnitt im Ringen um die Herstellung des Bündnisses zwischen Arbeiterklasse und werktätiger Bauernschaft ein. Sie gewann in vielen Ländern an Popularität, weil sie sich aktiv für die Interessen der werktätigen Bauern einsetzte. Ihr historischer Platz wird durch ihre Bemühungen charakterisiert, den großbäuerlichen Organisationen im internationalen Maßstab einen Bund der werktätigen Bauern entgegenzustellen, der sich auf die Zusammenarbeit mit der revolutionären internationalen Arbeiterbewegung orientierte. 101 Zusammengefaßt kann festgestellt werden: Die Ausarbeitung der Bündniskonzeption und die Entwicklung det Bündnispolitik gegenüber der werktätigen Bauernschaft durch die K I vollzog sich schrittweise. Sie wurde wesentlich geprägt durch die jeweiligen sich ändernden objektiven Kampfbedingungen, durch die sich daraus ergebenden Anforderungen im Ringen um Verbündete, durch die Reife der Organisationen der Bündnispartner und nicht zuletzt durch den erreichten Erkenntnisgrad bei der Aneignung allgemeingültiger Prinzipien des Marxismus-Leninismus. In den ersten Jahren, von der Gründung der Komintern bis etwa 1923, erfolgte die Verarbeitung des Leninschen Gedankengutes in der Bündnisfrage. Die K I schuf in dieser Periode - unmittelbar angeleitet und unterstützt durch W. I. Lenin - das ideologisch-theoretische Fundament der Bündnispolitik gegenüber den werktätigen Bauern. Die Dokumente gaben Antwort auf wichtige Grundfragen, z. B. auf die Frage nach der Notwendigkeit des Bündnisses zwischen Arbeiterklasse und Bauernschaft sowie nach den objektiven Grundlagen, dem Ziel und den Aufgaben desselben. Begründet wurden die geschichtliche Rolle und der Platz der Bündnispartner, die Hegemonie der Arbeiterklasse und die führende Rolle der kommunistischen Partei. Die K I machte sich die Erkenntnis zu eigen, daß ein festes Bündnis zwischen Arbeiterklasse und werktätiger Bauernschaft ein objektives Erfordernis für die Lösung der Machtfrage darstellt. Sie sah die Ausnutzung der revolutionären Möglichkeiten der Bauernschaft im Zusammenhang mit dem Charakter der neuen Epoche und den Aufgaben, die vor der Arbeiterklasse und ihrer Vorhut standen. Als nicht unwesentlich ist schließlich zu vermerken, daß der internationale Charakter des Bündnisses zwischen Arbeitern und Bauern aufgedeckt wufde. 101

D i e Darstellung der Tätigkeit der Bauerninternationale bleibt einer gesonderten vorbehalten.

Untersuchung

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Die russischen Revolutionen im Jahre 1917 und die Intelligenz in Ungarn* AGNES

„In

GEREBEN

den ersten Monaten

nach der Eroberung der politischen Macht durch das Pro-

letariat in R u ß l a n d . . . " , schrieb Lenin im Frühjahr 1920, „konnte es scheinen, d a ß infolge der ungeheuren Unterschiede zwischen dem rückständigen Rußland und den fortgeschrittenen westeuropäischen Ländern die Revolution des Proletariats in diesen L ä n dern der unsern sehr wenig ähnlich sein werde. Jetzt liegt uns bereits eine recht beträchtliche internationale Erfahrung vor, die mit voller Bestimmtheit erkennen

läßt,

d a ß einige Grundzüge unserer Revolution nicht örtliche, nicht spezifisch nationale, nicht ausschließlich russische, sondern internationale Bedeutung haben . . . versteht man unter internationaler Bedeutung, d a ß das, was bei uns geschehen ist, internationale Geltung hat oder sich mit historischer Unvermeidlichkeit im internationalen Maßstab wiederholen wird, so muß man einigen Grundzügen unserer Revolution eine solche Bedeutung zuerkennen." 1 D i e russischen Revolutionen des Jahres 1917 und vor allem die G r o ß e Sozialistische Oktoberrevolution haben auf das Proletariat anderer Länder stark und nachhaltig eingewirkt und der Entwicklung der Arbeiterbewegung die Richtung gewiesen und das Gepräge gegeben. D i e Tatsache, daß in einem L a n d die Arbeiterklasse das Geschick des Landes in die eigenen Hände genommen hatte, machte auch auf die fortschrittliche Intelligenz in vielen Teilen der W e l t tiefen Eindruck. In den Kreisen der Schriftsteller, Dichter, M a l e r und Komponisten wurde dem russischen Beispiel großes Interesse entgegengebracht. D i e Ereignisse wurden von zeitgenössischen humanistischen

Autoren

wie Romain Rolland, Henri Barbusse, Rabindranath Tagore, G . B . Shaw, Martin Andersen Nexö oder E n d r e Ady begrüßt. Als sich die Nachricht von den russischen Revolutionen verbreitete, standen die L ä n der Mittel- und Osteuropas vor dem totalen wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruch. In diesem Zeitraum spitzte sich die revolutionäre Situation in verschiedenen Ländern von M o n a t zu Monat immer deutlicher zu. In Ungarn mündete sie in die bürgerliche Revolution von 1918. Schließlich kam es 1 9 1 9 in Ungarn, Bayern und der Slo-t wakei zur Gründung von Räterepubliken. Außer den Verlusten, die fast jede Familie persönlich betrafen, waren es die offensichtliche Überlebtheit des politischen Systems der österreichisch-ungarischen Monarchie, die sozialen Probleme,, die Frage der nationalen Unabhängigkeit und - in geringerem M a ß e - der Nationalitäten s o w i e d a s Sicht* Übersetzt von Fridegilt Lemke. 1 W. I. Lenin, Werke, Bd. 31, S. 5.

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barwerden von Alternativen für die Zukunft, die die gebildeten Gesellschaftsschichten in Ungarn von Tag zu Tag immer deutlicher erfaßten. Die Tatsache, daß sich frühere ideologische Konzeptionen sowohl von Einzelpersonen als auch von sozialen Klassen als unbrauchbar erwiesen hatten, war hauptsächlich auf die katastrophale, scheinbar völlig ausweglose wirtschaftliche Lage zurückzuführen. Zu Beginn des ersten mit modernen technischen Mitteln geführten Krieges „waren die ökonomischen Erfordernisse der modernen Kriegführung gänzlich unbekannt und lösten neue Schwierigkeiten aus, da das Wirtschaftsgefüge der einzelnen Länder überhaupt nicht darauf vorbereitet war . . ," 2 Deswegen hatten alle osteuropäischen Länder, einschließlich Ungarns - gleichgültig, welchem Militärblock sie angehörten - , 1917/18 mit ernsten Versorgungsschwierigkeiten und mit Mängeln bei Brennmaterial und Rohstoffen zu kämpfen, wodurch das Eisenbahntransportwesen und die Industrieproduktion einen schweren Rückschlag erlitten. Die Arbeitslosigkeit, die zunehmende Inflation, die Rationierung der Lebensmittel und die Bestechungsskandale der Armeelieferanten, die Millionäre geworden waren, wirkten radikalisierend auf die Kämpfe der Arbeiterklasse. Im Frühjahr 1917 wurde Ungarn von zwei gewaltigen Streikwellen erfaßt. Neben wirtschaftlichen und politischen Forderungen (letztere bezogen sich auf das allgemeine Wahlrecht) mehrten sich die offenen Proteste gegen den Krieg. Während des Eisenbahnerstreiks im Herbst, dem außerordentlich große Bedeutung zukam, wurde trotz des ungeheuren Druckes der Polizei als eine der Hauptlosungen die Forderung nach der Beendigung des Krieges verkündet. Auch die Studenten traten radikaler auf: Im Galilei-Zirkel, einer ursprünglich völlig unpolitischen Studentenorganisation, die 1908 gegründet worden war und allgemein humanistische und demokratische Ziele anstrebte, bildete sich eine illegale kämpferische Linksgruppe heraus. 3 Besonders auffällig trat der Gärungsprozeß bei den Kriegsgefangenen in Rußland in Erscheinung. Unter ihnen befanden sich einige tausend Angehörige der ungarischen Intelligenz, die aus unmittelbarer Nähe die revolutionären Ereignisse beobachteten; sie gehörten zu den hunderttausend ungarischen Internationalisten, die später auf der Seite der Sowjetmacht im Bürgerkrieg kämpften. Besonders kennzeichnend für die Situation der ungarischen Gesellschaft war die Tatsache, daß sich innerhalb der herrschenden Kreise unmittelbar nach der bürgerlichdemokratischen Februarrevolution in Rußland eine Spaltung vollzog. Ministerpräsident Istvän Tisza und die Arbeiterpartei setzten sich mit unheilvoller politischer Blindheit gerade im Frühjahr 1917 für die Fortsetzung der harten Linie in der Innen- und Außenpolitik ein. D e r rechte Flügel der bürgerlichen Opposition trat wie die Regierungspartei für den Krieg ein; genauer gesagt, er wagte nicht, eine andere Haltung einzunehmen, da er von den Mittelmächten abhängig war. E r teilte jedoch nicht Tiszas Auffassung, daß alle Kriege die Menschen konservativer und religiöser werden lassen, und befürwortete daher kleinere innenpolitische Konzessionen. Nicht von ungefähr gewannen nach dem unausweichlichen Sturz der Tisza-Regierung Ende Mai Parteigänger dieser Richtung das Übergewicht; in einem erstaunlichen Tempo lösten die Ministerpräsidenten einander ab. Die dritte bürgerliche Strömung bildete die linke Opposition, die unter Wahrung der territorialen Integrität des Landes auf einen Separatfrieden für Ungarn drängte und für tiefgreifendere innere Reformen und für das allgemeine Wahlrecht eintrat. 2

3

30

1. T. Berend/G. Rdnki, Közep-Kelet-Euröpa gazdasägi fejlödese a 1 9 - 2 0 . szäzadban (Die wirtschaftliche Entwicklung Mittel- und Osteuropas im 19. und 20. Jh.), Budapest 1976, S. 255. M. Tömöry, Uj vizeken järol (A Galilei-kör törtenete) (Ich beschreite neue Wege/Die Geschichte des Galilei-Zirkels), Budapest 1960, S. 105.

Diese Strömung stützte sich auf das Klein- und das Mittelbürgertum sowie auf die Mittelbauern - also auf einen beachtlichen Teil der ungarischen Gesellschaft. An ihrer Spitze stand der Pazifist Graf Mihäly Kärolyi, der nach der bürgerlich-demokratischen Revolution 1918 die Führung des Landes übernahm. Politische Einsicht veranlaßte Vertreter dieser Strömung, Kontakte zur Sozialdemokratischen Partei zu suchen. 4 Selbst Jahrzehnte später wurde von Augenzeugen immer wieder mit Erstaunen geschildert, wie die Inhaber der Macht, Angehörige der ersten Adelsfamilien des Landes, in dem schäbigen Studierzimmer Ernö Garamis, eines reformistischen Führers der Sozialdemokratischen Partei, erschienen und mit den noch ganz offen von der Polizei überwachten offiziellen Vertretern der Arbeiterklasse Ungarns Verhandlungen aufzunehmen suchten. 5 Die ungarische Gesellschaft durchlebte also, als die Nachrichten über die Februarrevolution eingingen, eine ernste Krise und bot ein ideologisch und politisch kompliziertes Bild. Über die Februarereignisse in Petrograd (nach dem in Ungarn geltenden Gregorianischen Kalender am 11. März) berichteten die Zeitungen bereits am nächsten Tag auf den Titelseiten. „Hungerrevolte in Petrograd" und „Brot-Revolution in Rußland" lauteten die Überschriften der Meldungen, die sich auf die ersten und noch unbestimmten Mitteilungen der Presseagenturen stützten. 6 Erst am 15. März, dem Jahrestag des Beginns der ungarischen Revolution und des Unabhängigkeitskrieges von 1848/49, konnten die Zeitungen genauere Informationen liefern; deshalb wurden auch die beiden Ereignisse in den Überschriften der Leitartikel miteinander verknüpft. „Der 15. März, denkwürdig für uns", schrieb die „AZ Est", ein weitverbreitetes bürgerliches Abendblatt. Selbst die konservative Zeitung „Budapesti Hirlap" konnte nicht umhin, zwischen den Vorgängen in Rußland und der ungarischen Revolution, in der im 19. Jh. für bürgerliche Rechte gekämpft worden war, eine Parallele zu ziehen. Beachtung verdient die Vermengung nationaler und sozialer Gesichtspunkte, was angesichts des fehlenden bewußten Klassenstandpunktes durchaus kein Zufall war. In ihren ersten Kommentaren griffen alle Zeitungen, einschließlich der Witzblätter, überdies eine andere Nachricht auf, die von den offiziellen europäischen Agenturen bewußt verbreitet worden war. Danach hätte der britische Premierminister Lloyd George die russische Revolution als letztes Mittel zur Verhinderung eines russischen Separatfriedens „organisiert", und zwar über den britischen Botschafter in Petrograd. Man wagte allerdings nicht zu entscheiden, ob dies der Wahrheit entspräche; dagegen betonte man die absolut periphere Bedeutung der britischen Regierung, ja sogar der Entente in dieser Angelegenheit. 7 Insgesamt überrascht es, wie korrekt die Presse, die auf Sensationen des Krieges bereits recht gleichgültig reagierte, die Bedeutung der russischen Revolution einschätzte. Dies war nicht allein auf die Tatsache zurückzuführen, daß durch die Revolution - wie man bis zu den kriegerischen Proklamationen der Provisorischen Regierung glaubte das Ende des Krieges auch für Ungarn in greifbarere Nähe zu rücken schien. In allen seriöseren Stellungnahmen, sogar in den ersten von Mitte März, war die Rede von weitreichenden Veränderungen in Europa als Folge der russischen Revolution, vom Beginn 4

5

6 7

]• Galäntai, Magyarorszäg az I. viläghäboruban 1 9 1 4 - 1 9 1 8 (Ungarn im ersten Weltkrieg, 1 9 1 4 bis 1 9 1 8 ) , Budapest 1 9 7 4 , S. 3 2 8 f. Rengj csak, Föld (Beweg dich, Erde!), Budapest 1 9 6 8 , S. 39. L. Remete, Igy lättäk a kortarsak (In der Sicht von Zeitgenossen), Budapest 1 9 5 7 , S. 13. Viläg, 1 7 . 3 . 1 9 1 7 ; Est, 1 8 . 3 . 1 9 1 7 ; Pesti Naplö, 2 1 . 3 . 1 9 1 7 ; Borsszem Jankö, 25. 3 . 1 9 1 7 .

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einer neuen Epoche der Menschheitsgeschichte, die durch dieses Ereignis und zugleich durch den Weltkrieg eingeleitet worden wäre. 8 -Die spezifischen Kennzeichen dieser neuen Epoche blieben in Presseäußerungen vom Frühjahr 1917 lange Undefiniert; nicht von ungefähr wurden jedoch sowohl von der bürgerlichen als auch von der sozialdemokratischen Presse Vergleiche mit der Französischen Revolution angestellt. Der Lyriker und Prosaiker Dezsö Kosztolänyi, ein Repräsentant politisch gemäßigter ungarischer bürgerlicher Künstler- und Intellektuellenkreise des 20. Jh., der auch als „homo aestheticus" bezeichnet wurde, schrieb mit der ihm eigenen Sensibilität am 24. März: „Wir bei uns . . . können uns nicht einmal vorstellen, was dort vor sich geht; die Nachrichten, die uns erreichen, lassen lediglich ahnen, von welchem Fieber oder welchen Krämpfen dieser titanische Körper geschüttelt wird, der Jahrhunderte lang als Beispiel für Zurückgebliebenheit und Indolenz galt. Wenn alles der Wahrheit entspricht, dann hat die russische Nation einen größeren Sprung nach vorn getan als die französische." 9 Paradoxerweise begrüßte sogar die Rechte nach sorgsamem Abwägen die russische bürgerlich-demokratische Revolution. Zum einen hatte die Behauptung, daß der Krieg den „heiligen Zweck" verfolge, „den einfachen russischen Menschen von dem autokratischen zaristischen Regime zu befreien", in der offiziellen Kriegspropaganda und der Annexionspolitik eine wichtige Rolle gespielt; von dieser Losung konnte man sich nicht von einem Tag zum andern frei machen. Zum anderen, und das war natürlich der wichtigere Grund, werteten die offiziellen Regierungskreise die Ereignisse in Petrograd als eine plötzlich eingetretene innere Schwächung des gefürchteten Feindes und als unerwartete Verbesserung der eigenen Kriegsaussichten. Der humanistische Dichter Gyula Juhäsz, der progressiven Ideen anhing, machte in einem gesonderten Artikel bald auf die Gefahren dieses objektiv kriegsbejahenden Standpunktes aufmerksam. 10 Es entstand nunmehr die paradoxe Situation, daß im ungarischen Parlament, in dem infolge des undemokratischen und korrupten Wahlsystems ausschließlich Vertreter der herrschenden Klasse saßen, die Grafen, Barone und Bankiers tatsächlich in einer einstimmig angenommenen Resolution die Februarrevolution begrüßten, wobei deren bürgerlich-demokratisches und antiautokratisches Wesen hervorgehoben wurde. 1 1 In der gleichen Weise kommentierte Ministerpräsident Graf Istvän Tisza die Ereignisse in der Zeitung „Igazmondö". (Dieses Phänomen war in allen Rußland feindlich gegenüberstehenden Ländern zu beobachten.) Selbstverständlich konnte eine solche Situation nicht von Dauer sein. Ein halboffizieller intellektueller Wortführer des Regimes, der chauvinistische Verkünder eines „Ungarn der 30 Millionen", Jenö Räkosi, hielt es bald für notwendig, zu bemerken, daß vom Standpunkt der Herausbildung einer Ideologie der bürgerlichen Intelligenz weniger die Revolution als vielmehr der Sozialismus eine sehr große Gefahr darstelle und zu bekämpfen wäre, weil er „nur negatives Gedankengut in sich trägt und keinerlei positive Kraft besitzt. Wenn er dort geduldet wird, könnte durch ihn viel, beinahe alles aus den Fugen geraten und zerstört, nicht hingegen aufgebaut werden." In dieser Weise drohte er ganz unverhüllt den Intellektuellen bürgerlicher Herkunft. 12 Die Sympathien

8 9 10

11 12

32

Viläg, 17. 3 . 1 9 1 7 ; Est, 18. 3 . 1 9 1 7 . Nagyväradi Naplö, 20. 3. 1917. Del-Magyarorszäg, 4. 8. 1917. L. Remete, Igy lättak a kortärsak, S. 48 f. Szocialista viläg (Die sozialistische Welt), 5. 6. 1917, in: Tiszaviräg (Eintagsfliege), I, S. 205.

der herrschenden Klasse Ungarns für die Revolution waren nur von kurzer Dauer, und schon nach wenigen Wochen fanden ihre positiven Reaktionen ein Ende. Fortan suchte die herrschende Klasse durch Zensur, polizeiliche Überwachung und ähnliche administrative Methoden das zu tun, was ihrer historischen Rolle entsprach: die unzufriedenen ungarischen Massen daran zu hindern, dem russischen Beispiel zu folgen. Die Reaktion der Intelligenz auf die. Februarrevolution ließ gründlichere Überlegungen und mehr Weitsicht erkennen. In der ungarischen Publizistik und Belletristik waren bereits 1917 einige antimilitaristische Tendenzen wahrnehmbar, die jene mit ähnlichen Bestrebungen im übrigen Europa organisch verbanden. Durch mehr oder minder erfolgreiche Täuschung der Kriegszensur fanden seit 1916 antimilitaristische Erklärungen von Romain Rolland, Maksim Gor'kij, H. G. Wells oder der deutschen Expressionisten regelmäßig den Weg in die ungarische Presse. „Das Feuer", der erst 1918 als Buch erschienene Roman von Henri Barbusse, in dem der Krieg in all seiner Brutalität enhüllt wurde und der in ganz Europa eine ungeheure Wirkung hervorrief, fand durch Zeitschriftenveröffentlichungen bereits weite Verbreitung. 13 Gegen den Krieg gerichtete Werke ungarischer bürgerlicher Autoren erschienen, wenn auch selten, in anderen europäischen Ländern. So hatte Mihäly Babits, der Herausgeber der anspruchsvollsten ungarischen literarischen Zeitschrift der ersten Hälfte des 20. Jh., „Poeta doctus", im Ausland sein blasphemisches Poem „Fortissimo" veröffentlicht. Es war aus der äußersten Verzweiflung des Dichters angesichts der Zerstörung jungen Lebens entstanden und in Ungarn von der Zensur verboten worden. 14 Ausgeprägt antimilitaristischen Charakter trug die Zeitschrift „Ma". Sie wurde von dem modernistischen Dichter und Maler Lajos Kassak, der früher Handwerker gewesen war und sich autodidaktisch weitergebildet hatte, herausgegeben. Diese Zeitschrift verwandelte sich im Frühjahr 1917 vorübergehend in ein Organ revolutionärer Intellektueller. 15 Logisch und wohldurchdacht wirkt nach dem Gesagten die Stellungnahme des damaligen namhaften und mit dem Marxismus vertrauten Publizisten Oszkär Jäszi, die von humanistischen Gedanken durchdrungen war und in der er geographisch entfernte Ereignisse in einen .breiteren Rahmen unmittelbar einzufügen wußte. „Die furchtbarste Autokratie der Welt liegt in Trümmern", schrieb Oszkär Jaszi und ließ den ganzen Satz kursiv setzen, „und eine mit geistigen und moralischen Tugenden reich ausgestattete Nation schüttelt ihre Fesseln ab, um unsere gemeinsame europäische Kultur und Freiheit zu fördern . . . Durch die Forderung nach einer freiheitlichen Autonomie für die Nationalitäten, nach freiem Grund und Boden sowie nach Emanzipation der Frau sind gänzlich neue Farben auf die abgenutzte demokratische Palette gebracht worden." 16 Die Entscheidung der Provisorischen Regierung Rußlands, den Krieg fortzusetzen, 13

14

15

16

3

Der Korrespondent A d a m Lovag unterrichtete bereits 1 9 1 5 die Budapester Zeitungen über die Zimmerwalder Anti-Kriegs-Resolutionen; sein Bericht wurde erst im Frühjahr 1 9 1 6 in stark gekürzter Fassung veröffentlicht. F. Jozsef, A Nagy Oktober es a magyarorszägi forradalmak (Der Große Oktober und die Revolutionen in Ungarn), Budapest 1 9 6 7 , S. 4 9 0 . Dies war der Grund dafür, daß 191,7 die Märzausgabe des Blattes „Nyugat" nicht erscheinen durfte; das Gedicht wurde hier erst nach dem Sieg der bürgerlich-demokratischen Revolution im Dezember 1 9 1 8 veröffentlicht. In der Schweiz erschien es 1 9 1 7 im zweiten Heft der „Nouvelle Revue Internationale Politique". Die Zeitschrift „Ma" erschien von November 1 9 1 6 bis Juli 1 9 1 9 . Ihre Vorgängerin „Tett", ebenfalls von Lajos Kassak - seit November 1 9 1 5 - herausgegeben, war wegen ihrer pazifistischen Ausrichtung im Oktober 1 9 1 6 verboten worden. Viläg, 25. 3 / 1 9 1 7 . Jahrbuch 25/1

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löste in diesen revolutionär-antimilitaristischen und pazifistischen K r e i s e n

Verwunde-

rung und V e r z w e i f l u n g aus. „ H e u t e machen die M a s s e n die R e v o l u t i o n der A r m e e lieferanten noch mit . . . E i n e a n d e r e Revolution aber, die wahre R e v o l u t i o n der Frieden begehrenden M a s s e n , läßt sich nicht lange feste Z ü g e l anlegen." D i e s e

beinahe

prophetischen W o r t e waren in der „ A Z E s t " zu lesen. 1 7 A u c h die Zeitschrift der r a d i k a len B o u r g e o i s i e stellte fest, d a ß „dieser Revolution nicht imperialistische Interessen a u f gezwungen w e r d e n können . . . " 1 8 O s z k ä r J ä s z i , der über die Nachricht, d a ß der K r i e g fortgesetzt werden w ü r d e , ganz bestürzt w a r , erklärte mit aller B e s t i m m t h e i t : „ F r ü h e r oder später wird der K r i e g ein E n d e nehmen; der russische S t a a t aber, der den W e g der Freiheit des V o l k e s beschreitet und an die Stelle des raubgierigen Z a r i s m u s tritt, w i r d eine der sichersten Festungen des menschlichen Fortschritts sein." 1 9 Literarisch w u r d e n die d a m a l i g e n E r e i g n i s s e auf zwei E b e n e n rezipiert. A u f

der

einen Seite bediente m a n sich der Satire, um die demagogischen M a n ö v e r der herrschenden K l a s s e n R u ß l a n d s und anderer L ä n d e r , die die Revolution für eigennützige ökonomische und politische Ziele zu nutzen suchten, zu geißeln. D e r bedeutendste V e r treter dieses G e n r e s w a r Frigyes K a r i n t h y , der leidenschaftlich gegen den Mechanismus des europäischen P a r l a m e n t a r i s m u s aufbegehrte, der gegen die russische R e v o l u t i o n in G a n g gesetzt w u r d e . D i e s e r Protest trug rein politischen Charakter, w a s für K a r i n t h y ganz ungewöhnlich w a r : Seine „ F r i e d e n s h ä n d l e r und M i l i t ä r a p o s t e l des J a h r e s

1917"

zählten zu den Werken jener Wochen, die a m stärksten persönlich g e p r ä g t w a r e n . 2 0 D e r V e r f a s s e r w a n d t e sich gegen diejenigen, die sich darüber erfreut zeigten, d a ß -

und

hier bezieht sich der V e r f a s s e r auf W o r t e , die tatsächlich d a m a l s im Unterhaus in L o n don zu hören w a r e n - „ d i e F r i e d e n s p r o v o k a t i o n e n der r a d i k a l e n L a b o u r Party unterdrückt wurden und sich die A u f f a s s u n g e n der für den K r i e g stimmenden

Gemäßig-

t e n durchsetzten . . ." „Sei auf der H u t , E u r o p a ! " mahnte der A u t o r die W e l t des kleinen M a n n e s zur W a c h s a m k e i t vor den internationalen politischen M a n i p u l a t i o n e n . D i e unmittelbare R e a k t i o n der ungarischen Schriftsteller auf die E r e i g n i s s e in R u ß l a n d schlug sich auch in einigen ausgesprochen schöngeistigen Werken nieder, darunter auch in einer R e i h e gelungener Kurzgeschichten, die sowohl im persönlichen S c h a f f e n der einzelnen V e r f a s s e r als auch in der ungarischen Literatur einen festen Platz gefunden haben. Istvän T ö m ö r k e n y und Ferenc M ö r a , die in Provinzstädten schilderten

d a s geruhsame und besinnliche L a n d l e b e n

in der

Großen

wirkten,

Ungarischen

E b e n e nicht nur sprachlich sehr reizvoll, sondern fingen auch dessen charakteristische Besonderheiten ein. D i e V e r f a s s e r verzichteten auf eine breitere Schilderung der Z u s a m m e n h ä n g e und verdichteten

statt dessen durch die D a r s t e l l u n g

beeindruckender

Einzelschicksale die Vergangenheit, die die von der R e v o l u t i o n geprägte

Gegenwart

hervorgebracht hatte. U n d weit besser als irgendwelche Leitartikel wiesen die gelungensten W e r k e in die langersehnte Z u k u n f t , auf d a s E n d e des K r i e g e s und auf das weltweite Z u s a m m e n g e h e n der A r m e n . A l l e in dieser Zeit verfaßten belletristischen Arbeiten behandelten ein T h e m a , d a s sich beinahe v o n selbst a n b o t : die Reaktion der in Städten und D ö r f e r n arbeitenden russischen K r i e g s g e f a n g e n e n

auf

die aus R u ß l a n d eingehenden Nachrichten. In

der

Kurzgeschichte „ D i e E m p ö r u n g " , einer seiner letzten Arbeiten, schilderte I s t v ä n T ö 17 18 19 20

34

Est, 18.3.1917. Viläg, 17. 3. 1917. Viläg, 25. 3.1917. Pesti Naplö, 24. 3. 1917.

morkény, der ein Meister der Prosa war und bereits einen Monat nach den Ereignissen starb, wie ungarische Bauern russischen Kriegsgefangenen verständlich machten, was geschehen war. In der „international verständlichen Sprache" bemühten sie sich sogar, diesen die politische Lage zu erklären: „Revolution! Rebellion . . . Zar: nicht mehr! Zar: weg! Ihr seid frei, geht, wohin Ihr wollt!" 2 1 Ein anderer bedeutender ungarischer Schriftsteller, Zsigmond Móricz, wählte ebenfalls die selbst ein so großes Blutvergießen überdauernde Solidarität zwischen einfachen Menschen als Thema seiner Kurzgeschichte „Kis Samu Jóska", die heute in der Schule zur Pflichtlektüre gehört. Diese Geschichte handelt von einem russischen und einem ungarischen Soldaten. Eine kleine, aus Holz geschnitzte Wiege läßt in ihnen väterliche Gefühle lebendig werden, so daß sie sich, obwohl sie sich erst bekämpft hatten, über nationale und militärische Interessen hinweg solidarisch einander zuwenden. 22 Die StiiAme Endre Adys, des größten ungarischen Dichters des 20. Jh., war ebenfalls zu vernehmen. Mit seinen symbolhaften, bis zur Vollkommenheit gefeilten Gleichnissen protestierte der bereits vom Tode gezeichnete Dichter in aufrüttelnden Gedichten, in denen er seiner Verzweiflung Ausdruck gab, gegen den Krieg; nach den Ereignissen in Rußland vertraute er nur noch einem einzigen Mittel der Rettung und schrieb wenige Monate vor seinem Tode: „Revolutionen, o warum zögert ihr?" 2 3 Die Arbeiter- und sozialistischen Dichter erhoben ebenfalls ihre Stimme. Soweit es die Zensur gestattete, wurden offen die Revolution herbeisehnende Gedichte in der Tageszeitung der sozialdemokratischen Arbeiter „Népszava" veröffentlicht. „Mit angespannter Aufmerksamkeit blicken wir jetzt nach St. Petersburg", schrieb Zseni Värnai, deren Gedicht mit dem Refrain „Schieß nicht, Sohn, denn Deine Kugel kann auch mich dort treffen" vielleicht die aufrütteJndste damalige Stellungnahme gegen den Krieg war 24 Die „Népszava" trat damals unbestritten von allen Tageszeitungen am radikalsten auf. Zu Beginn des Krieges stand das Blatt keineswegs hinter der chauvinistischen Kriegstreiberei der anderen Presseorgane zurück: „Die europäische Kultur ist zum Kampf angetreten", war in der Ausgabe vom 2. August 1914 zu lesen. In dem ersten ausführlichen Artikel, der sich mit dem Ausbruch und der Bedeutung der Revolution beschäftigte und der reichlich Spuren der Zensur in Form weißer Flecke aufwies, •machte die Zeitung nunmehr auf die Möglichkeit und die Gefahren eines Angriffs gegen die Revolution von außen aufmerksam: „Es gibt jedoch ein Mittel, um die siegreiche russische Revolution zu einem sehr ernsten Hindernis für den Frieden werden zu lassen, nämlich sie dazu zu zwingen, sich und ihre Errungenschaften auf Leben und 21 22 23

24



Magyarors'zäg, 25. 3. 1 9 1 7 . Diese Kurzgeschichte entstand im Jahre 1 9 1 7 . Elégedetlen ifju panasza (Klage eines unzufriedenen Jungen), in: Nyugat, 16. 7. 1 9 1 8 . - Ady, der auch zur Frage des Weltkrieges einen richtigen Standpunkt einnahm, erkannte klarer als die bürgerlichen Politiker und als der rechte Flügel der sozialdemokratischen Führung, die ohnehin mit dem Machtgedanken spielte, welche Bedeutung und welche Rolle dem Jahr 1 9 1 7 zukam. Seine Meinung zur ungarischen bürgerlich-demokratischen Revolution wird von dem Maler lima Bernät w i e folgt wiedergegeben: „Ady verzog das Gesicht: ,Das ist keine Revolution', sagte er. ,Die ungarischen Soldaten strömen bereits aus Rußland zurück, und Béla Kun schickt mit ihnen in den Schuhen versteckte Flugblätter und die wahre Revolution; wenn Béla Kun mit seinen Genossen heimkehrt und das kann schon bald geschehen - , wird es zu einer echten Revolution kommen!* " I. Kun Béla Kun, Budapest 1 9 6 9 , S. 1 3 1 . Népszava, 8. 4 . 1 9 1 7 .

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Tod zu verteidigen, so wie es während der Französischen Revolution geschah. Dies bedeutet mit anderen Worten, den bisher imperialistischen Krieg Rußlands in einen Krieg zur Verteidigung der Revolution zu verwandeln." 2 0 Der gleiche Gedanke - eine sich für die ungarische Gesellschaft aus der durch die russische Revolution herbeigeführten neuen Situation ergebende erste und in Jenen Tagen wichtigste Konsequenz - wurde von einem radikalen bürgerlichen Politiker der Unabhängigen, dem Chefredakteur der Zeitschrift „Magyarorszäg", Märton Loväszy, der später die Konterrevolution unterstützte, zum Ausdruck gebracht: „Es ist eine Tatsache, daß in Rußland die Demokratie den Sieg davongetragen hat, und eine weitere Tatsache ist, daß die russische Nation keine Veranlassung hat, noch gegen uns zu kämpfen, und wir ebensowenig Grund haben, gegen sie zu kämpfen. Es war der Zarismus, der gegen uns gekämpft hat, und wir;haben gegen den Zarismus gekämpft; cessante causa, cessat effectus. . ," 20 Die damalige Öffentlichkeit - von den Regierungskreisen bis zu den linken avantgardistischen Künstlerkreisen - vertrat in den ersten Tagen nach der Revolution annähernd die gleiche Auffassung. Diese Übereinstimmung der Ansichten konnte natürlich nur wenige Tage oder höchstens ein oder zwei Wochen anhalten. Nachdem sich die russische Regierung für den Krieg erklärt hatte, gingen die Meinungen bereits wieder auseinander. Dies ergab sich aus der Einstellung zu der Rolle der Bolschewiki, der „Maximalisten", der „extremen" oder der „kommunistischen" Sozialisten, wie sie damals in der Presse genannt wurden. Mitte Mai veröffentlichten zwei Zeitungen, die „Nepszava" und die. „Viläg", gleichzeitig einen Bericht revolutionärer russischer sozialdemokratischer Emigranten, die nach Rußland zurückkehrten. Der Bericht war von Fritz Platten verfaßt, der diese bis zur deutschen Grenze begleitet hatte. 27 Es wurde auch über die Verhaftung Trockijs berichtet, der über England in die Heimat zurückgekehrt war, sowie über Lenin, der an den Menschewiki Kritik übte, weil sie die Regierung unterstützten. Alle Zeitungen rückten zu diesem Zeitpunkt das Friedensprogramm der bolschewistischen Partei in den Vordergrund, nicht dagegen deren soziale Forderungen. In den ungarischen Zeitungen kamen auch verschiedene Vorgänge zur Sprache, die erkennen ließen, daß sich nach der Februarrevolution eine Verschiebung nach rechts vollzog, wie z. B. die Tatsache, daß die Regierung im Juli Soldaten- und Arbeiterdemonstrationen in Petrograd unterdrückte. In Feuilletons, Artikeln wie auch in den Karikaturen wurden Kerenskij und seine Regierung immer wieder als diejenigen dargestellt, die mit der internationalen, vor allem aber mit der englischen Bourgeoisie Geschäfte abwickelten, während im Hintergrund der beraubte Bauer, der enttäuschte Soldat oder auch der sich in drohender Gefahr emporrichtende Arbeiter sichtbar wurde. Der empfindsame, für humanistische Ideen eintretende Prosaiker Ferenc Möra schrieb nunmehr beißende Satiren, die in dem Blatt „Szegedi Naplö" erschienen, über die Nationalitäten, die mit einer Verfassung getäuscht und betrogen wurden, über die Manöver der Regierung und über den pathologisch eitlen Demagogen Kerenskij. 28 Die ungarische Presse, die alle aus Rußland eintreffenden Nachrichten mit besonderem Interesse verfolgte, veröffentlichte am 8. und 9- November die unvollständige, aber sensationelle Meldung des ungarischen Nachrichtenbüros: „Kerenskij ist geflo25 26 27 28

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Nepszava, 2. 3. 1917. Magyarorszäg, 25. 3. 1917. Nepszava, 13. 5. 1 9 1 7 ; Viläg, 15. 5. 1917. Szegedi Naplö, 29. 3., 29. 8. 1917.

hen . . . in Petrograd hat die Revolution der Arbeiter und Soldaten gesiegt." Lenins Name, der seit dem Frühjahr, regelmäßig in der ungarischen Presse genannt wurde, war nun in den Schlagzeilen zu lesen; Lenin wurde als ein geheimnisumwitterter Prophet oder als ein neuer Apostel dargestellt. 29 Die Einschätzung der Ereignisse war vom ungarischen Standpunkt aus durchaus logisch und verständlich. Man vertrat einhellig die Auffassung, daß die russische Bourgeoisie und die Sozialchauvinisten nicht um eine Konsolidierung der inneren Lage bemüht gewesen waren, sondern vielmehr Verhandlungen angestrebt und ausländische Verbündete gesucht hatten. Darin sah man den Grund für den „vollständigen Sieg der extremen Linken". Die meisten ungarischen Zeitungen hatten also die Bedeutung der Februarrevolution wohl klar erfaßt und die Erfolge der bürgerlichen Revolution durchaus richtig eingeschätzt, aber die Ursachen, die die sozialistische Revolution ausgelöst hatten und die in immanenten und inneren Faktoren ¿u suchen waren, hatten sie ganz und gar fehlgedeutet. Dieser Fehler kann darauf zurückgeführt werden, daß man sich in den spezifisch russischen sozialpolitischen Verhältnissen nicht genügend auskannte, aber vor allem auch auf die Tatsache, daß die Presse - in der übergroßen Mehrheit bürgerliche Blätter - Abneigung gegen die sozialistische Revolution empfand. Der Sieg der Leninschen Partei wurde als vorübergehend betrachtet; da die Kerenskij-Regierung sich nur einige Monate hatte halten können, nahm man an, daß die Bolschewiki, die sowohl mit äußerem als auch mit innerem Widerstand zu rechnen hatten, nicht lange an der Macht bleiben würden. „Möglicherweise werden österreichische und deutsche Truppen es erleben, daß sich vor ihren Augen die Russen gegenseitig bekämpfen. All dies bringt uns dem Frieden näher. Und wenn wir von der "neuen Revolution, die jetzt den Sieg davongetragen hat, auch im Augenblick noch keinen Separatfrieden erwarten können, so kann doch zumindest mit Sicherheit damit gerechnet werden, daß das, was die beiden revolutionären Regierungen nicht bewirken konnten, durch eine dritte dann erreicht werden wird: die Verbündeten Rußlands in aller Offenheit mit äußerster Entschiedenheit und mit einem definitiven Ultimatum zum Frieden zu zwingen", schrieb unter dem unmittelbaren Eindruck dieser Nachricht Lajos Birö, ein Vertreter radikal-bürgerlicher Kreise. 30 Eine militärische Intervention von außen als Antwort auf die Oktoberrevolution für den Fall, daß sie sich nicht selbst zerstörte, wurde nicht einmal erwogen. Mit noch unverhüllterem Zynismus als im Februar äußerte der rechte Flügel: „Je größer die Verwirrung und Subversion in Rußland wird, desto günstiger gestalten sich natürlich die Voraussetzungen für den Frieden." So reagierte das konservative Blatt „Budapesti Hirlap" auf die Geschehnisse. 31 Diese Offenheit erklärt sich nicht allein aus der Tatsache, daß es sich in diesem Falle nicht um den Sieg einer b ü r g e r l i c h e n Revolution über den in Ungarn bereits verurteilten Zarismus, sondern um die Bewegung aufbegehrender Arbeiter handelte; auch die Lage an den Fronten hatte sich verändert. In Italien, wo auch stärkere ungarische Verbände kämpften, hatten die Mittelmächte beachtliche Siege errungen. Die Presse der Rechten begann die Annexion Polens durch die österreichisch-ungarische Monarchie und die Angliederung großer Teile Rumäniens an Ungarn in Erwägung zu ziehen; von der rumänischen Unabhängigkeitsbewegung wurde großspurig als von einem Phänomen gesprochen, das „eine Zwangs29 30 31

Aradi Közlöny, 15. 11. 1 9 1 7 ; Viläg, 1 9 . 1 2 . 1 9 1 7 ; Nagyväradi Naplö, 24. 12. 1917. Viläg, 9. 11. 1917. Budapesti Hirlap, 9. 11. 1917.

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jacke verdient". 32 Für diejenigen, die über Größe und Lage der zu okkupierenden Gebiete debattierten, konnten die Ereignisse in Rußland bestenfalls modifizierend wirken. Aus diesem Grund wurde das Angebot der Sowjetregierung - Frieden o h n e A n nexionen das in anderen Presseorganen am 10. und 11. November auf der Titelseite erschien, in den katholischen und rechtsgerichteten Blättern so unfreundlich aufgenommen und zu verheimlichen versucht. Läszlo Remete, ein in dieser Frage anerkannter Experte, stellte fest, daß Nachrichten über die Siege der Alliierten auf dem russischen Kriegsschauplatz keine Chance mehr hatten, als Hauptberichte veröffentlicht zu werden. 33 Dies waren Siege äußerst erschöpfter Truppen über eine nicht minder erschöpfte russische Armee, deren Soldaten, als sie die Nachricht von der Revolution erreichte, ihre Einheiten verließen und zu Zehntausenden nach Hause eilten. „Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß dies das Ende ist", lautete die Beurteilung der Lage am 22. November. 34 Und wiederum was es die Zeitung der sozialdemokratischen Arbeiter, die „Nepszava", die, obwohl sie in vielen Fragen damals inkonsequent und reformistisch war, den Mut aufbrachte, die wahre und „reife" Revolution zu feiern, was angesichts der veränderten Einstellung der Öffentlichkeit kein geringes Wagnis bedeutete. Dem Journalisten genügte bereits nicht mehr der Hinweis auf die Französische Revolution und die damit gegebene historische Parallele, um den das Blatt lesenden Arbeitern die Bedeutung der Ereignisse zu verdeutlichen. „Es ist ein längerer Weg von Guckov und Miljukov bis zu Lenin und Trockij als von Brissot und Guadet bis zu Marat, und der Sprung von der Duma, die nach dem Vermögenszensus gewählt wurde, bis zu den Arbeiter- und Soldatenräten ist größer als der von der Nationalversammlung bis zum Konvent." 35 In der Weltgeschichte gab es nur ein Beispiel, das als historische Parallele dienen konnte: „Was letzt in Rußland geschieht, ist nichts anderes als die Pariser Kommune von 1871 in viel gewaltigeren Ausmaßen." 36 Ob „es die Bewegung vermag, das ganze Land zu durchdringen, ob es ihr gelingt, die Bauern für das Anliegen des Proletariats zu gewinnen, und ob sie sofort Frieden schließen wird" - wir wissen nicht, welche Antwort der Journalist auf diese mehr oder minder richtig gestellten Fragen über die Zukunft der Revolution gegeben hat, da der folgende Abschnitt von der Zensur vollständig gestrichen wurde. Trotz der rigorosen Maßnahmen der Behörden erschienen in den linksgerichteten Zeitungen zahlreiche Stellungnahmen - sowohl Artikel von Journalisten als auch Leserbriefe - , in denen die Ereignisse mit aufrichtiger Begeisterung und Erwartung begrüßt wurden. Eines der wichtigsten Ergebnisse- des russischen Beispiels, das auch die Zukunft der ungarischen Arbeiterbewegung in vielerlei Hinsicht beeinflußte, war ,die Radikalisierung der Universitätsstudenten, die schon in der Zeit zwischen den beiden Revolutionen einsetzte. 37 32

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38

Budapesti Hirlap, 1 5 . 1 1 . 1 9 1 7 . L. Remete, Igy lattäk a kortarsak, S. 77. Alkotmäny, 22. 1 1 . 1 9 1 7 . Nepszava, 9. 1 1 . 1 9 1 7 . Ebenda. Den entscheidenden Anstoß dazu gab eine am 8. 6. 1 9 1 7 in Budapest veranstaltete Demonstration, an der 2 0 0 0 0 0 Menschen teilnahmen und auf der in erster Linie das Wahlrecht gefordert wurde.

Im Herbst 1917 beschloß die offizielle Leitung des bereits erwähnten Galilei-Zirkels, die bisherige apolitische Haltung aufzugeben und offen antimilitaristische Agitation zu treiben. „Wir wünschen Frieden", lautete der Titel ihrer Proklamation, die allen Ministern und Parlamentsabgeordneten zugesandt wurde.-® Dieser offizielle und gemäßigte Flügel hatte erkannt und billigte nün stillschweigend, daß sich innerhalb des Zirkels unter dem Einfluß der russischen Revolution eine linke Gruppe herausgebildet hatte, der man sich allerdings nicht anzuschließen wagte. Ilona Duczynska, eine revolutionäre Studentin, die aus der Schweiz zurückgekehrt war und während ihres Studiums verschiedene Politiker aus der Umgebung Lenins kennengelernt hatte, brachte die Proklamationen der Zimmerwalder Linken mit und machte verschiedene Mitglieder dieses Zirkels mit ihnen bekannt. ® Die illegale Gruppe trat mit russischen politischen Emigranten in Ungarn in Verbindung, die ihr auch eine kleine Handpresse für die Vervielfältigung ihrer Flugblätter ¿ur Verfügung stellten. Diese Gruppe reagierte am bewußtesten und in sehr organisierter Weise auf die Nachricht von der Oktoberrevolution. Ihr geistiger Führer war Ervin Szabö, der sich als erster um eine gezielte Verbreitung des Marxismus in Ungarn bemühte. Um die Jahrhundertwende hatte sich Szabö von der offiziellen Sozialdemokratie gelöst und war längere Zeit ein Anhänger des Syndikalismus. Schon einige Monate vor dem Oktober hatte er erklärt: „Wer kann leugnen, daß die Wogen der russischen Revolution jetzt ganz Europa bis ins Innerste aufwühlen? Und wer kann leugnen, daß die Ereignisse, die wir beobachtet haben, nichts anderes sind als Folgeerscheinungen der russischen Revolution?" 4 0 Im Sinne dieser Ausführungen wurde damals eine Plakataktion gegen die siebente Kriegsanleihe durchgeführt. Am 17. November erschienen nachts in den Straßen Budapests Anschläge mit dem Wortlaut: „Keinen Pfennig und keinen Mann für die Armee!" Die Polizei wußte sofort, daß dies das Werk der Galilei-Gruppe war. Als bekannt wurde, daß die ungarische Regierung das sofort ergangene Friedensangebot der Sowjets zu verschleiern beabsichtigte, veranstaltete diese Gruppe am. 24. November in der Budapester Industriehalle eine gewaltige Kundgebung. Allein die Tatsache, daß diese Versammlung zustande kam,, war eine bemerkenswerte Leistung der illegalen GalileiGruppe, die sich auch die Kontrolle über die Versammlung nicht entgleiten ließ. Als sich Geza Supka, der Führer der bürgerlich-radikalen Richtung, zu der Äußerung verstieg: „Eine enge Zusammenarbeit mit der Arbeiterklasse ist undenkbar . . . Ein Arbeiter, der eine körperliche Tätigkeit verrichtet, wird nicht die Arbeit eines Geistesschaffenden anerkennen, und somit fehlt eine gemeinsame JBasis für den Kampf gegen den gemeinsamen Feind (das Kapital - A. G . ) " , protestierten die Mitglieder der GalileiGruppe gegen diese Meinung, was von den Anwesenden mit lautem Beifall beantwortet wurde/' 1 Nach diesem Vorfall wurden alle Mitglieder des illegalen linken Flügels des GalileiZirkels wegen ihrer antimilitaristischen Haltung und wegen ihrer Sympathien für die russische Revolution während der folgenden Wochen von der Polizei verhaftet. Sie blieben nur wenige Monate in Haft, denn die bürgerlich-demokratische Revolution im

3S

M. Tömöry,

39

E b e n d a , S. 1 0 5 .

U j vizeken järol, S. 111.

40

Nepszava, 16. 6. 1 9 1 7 .

41

M. Tömöry,

U j vizeken järol, S. 1 1 0 .

39

November 1918 brachte ihnen wieder die Freiheit. Ihre Aktivität in der Zeit der russischen Revolution und auch die Haftzeit waren für sie eine gute Schule; viele schlössen sich bald der Kommunistischen Partei Ungarns an, die am 24. November 1918 gegründet wurde; einige Mitglieder der einstigen Studentengruppe wirkten aktiv in der Arbeiterbewegung, und einige, z. B. Imre Sallai, wurden deren Märtyrer. Die Oktoberrevolution wirkte unter den ungarischen Intellektuellen wie eine Art Aqua regia; diejenigen, die bewußt für das soziale Programm dieser Revolution eintraten, ermöglichten es der ungarischen Intelligenz, die zu Beginn des ersten Weltkrieges aufgehört hatte, eine geschichtsbewegende Kraft zu sein, diese Position zur Zeit der „Asternrevolution" im Jahre 1918 für wenige Tage zurückzugewinneij ;/l2 die hervorragendsten Vertreter der Intelligenz schlössen sich denjenigen an, für die die Oktoberrevolution wirklich entscheidende Bedeutung besaß, nämlich dem ungarischen Proletariat, das dem russischen Beispiel folgte und im März 1919 für 133 Tage die Macht übernahm. 42

2. Horvdth,

Magyar szäzadfordulö (Die Jahrhundertwende in Ungarn), Budapest, S. 530.

Zur Herausbildung der ersten sozialistischen Arbeiterparteien Ungarns (1873-1878)* B E L A ZELICKI

Einige Probleme der sozialistischen Arbeiterbewegung Ungarns in der zweiten Hälfte des 19. Jh., insbesondere der Herausbildung der ersten Arbeiterparteien, wurden von den Historikern bislang noch ungenügend erforscht. Von Jahr zu Jahr wächst jedoch das Interesse an dieser Problematik; sie wird in verallgemeinernden Arbeiten sowie in einer Monographie des Verfassers dieses Aufsatzes behandelt. 1 Die ersten ungarischen Arbeiten zu dieser Thematik schrieb ein Teilnehmer der Ereignisse, der zugleich der erste Historiker der ungarischen Sozialdemokratie war, M. Rev6sz 2 . Seine Schriften enthalten sehr wertvolles Material. Jedoch können selbst die Ausführungen eines Augenzeugen verständlicherweise nicht alle mit der Arbeiterbewegung dieser Zeit zusammenhängenden komplizierten Fragen erschöpfend beantworten. Die Geschichtswissenschaft der Ungarischen Volksrepublik mußte, auf den Forschungsergebnissen der vorhergegangenen Epoche fußend, weitergehen. In den fünfziger Jahren erschienen erste Dokumentensammlungen und • zugleich erste verallgemeinernde Werke über die ungarische Arbeiterbewegung, in denen eine Vielzahl von Fragen behandelt wurde. Die bemerkenswertesten Ergebnisse zu dieser Problematik verdanken wir jedoch den in den sechziger und siebziger Jahren erschienenen Arbeiten. Sie enthalten differenziertere, tiefere Analysen der zentralen Fragen der Arbeiterbewegung, Es sind hier vor allem die Arbeiten von Dezsö Nemes, Tibor Erenyi, Edit Vincze und Maria Kohut sowie die von mehreren Autoren verfaßten Werke „Geschichte Ungarns" (1964) und „Geschichte der ungarischen revolutionären Arbeiterbewegung" (1969-1970) zu nennen. 3 Auch tschechoslowakische und jugoslawische Historiker haben zur Klärung von Fragen der ungarischen Arbeiterbewegung beigetragen. * Übersetzt von Fridegilt Lemke. 1 Pervyj International, Moskau 1 9 6 5 ; Istorija vtorogo Internacionala, Moskau 1 9 6 5 ; Istorija Vengrii, Bd. 2, Moskau 1 9 7 2 ; B. ]. Zelicki, Socialisticeskoe rabocee dvizenie v Vengrii, 1 8 7 3 - 1 8 9 0 , Moskau 1975. 2 M. Revesz, A magyarorszägi munkäsmozgalom törtenete ( 1 8 6 7 - 1 9 1 3 ) , Budapest 1 9 1 3 ; ders., Följegyzesek a magyar munkäsmozgalom törteneteböl, in: Szocializmus, 1 9 1 2 , H. 6. " D e r Autor konzentriert sich im vorliegenden Aufsatz auf die Jahre 1 8 7 3 bis 1 8 7 8 . Aus diesem Grunde bleiben zahlreiche frühere Versuche zur Entfaltung der sozialistischen Arbeiterbewegung in Ungarn, darunter die Bestrebungen der Wiener Sozialdemokraten nach Einheit des multinationalen Proletariats der Monarchie sowie die Organisierung der sozialdemokratischen Partei in Ungarn im Herbst 1 8 7 9 , unberücksichtigt (vgl. dazu E. Sikläs-Vincze, Pläne und Versuche zur Gründung einer sozialdemokratischen Partei in Österreich und Ungarn ( 1 8 6 8 - 1 8 7 2 ) , in: Studia Historica, H. 1 0 9 , Budapest 1 9 7 5 , 4 4 S.). - Bei der Untersuchung der Anfänge der ungarischen Arbeiterbewegung beachtcn viele ungarische Historiker stärker den Zusammenhang zwischen den nationalen und den

41

Trotz aller bei der Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung Ungarns in der zweiten H ä l f t e des 19. Jh. gewonnenen neuen Kenntnisse bedarf es unserer A u f fassung nach noch weiterer Untersuchungen, um die Umstände aufzuhellen, die zur Herausbildung der Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Führung der Bewegung, zu deren Spaltung in der zweiten H ä l f t e der siebziger Jahre und zur Bildung zweier Arbeiterparteien führten. Im vorliegenden Aufsatz wird der Versuch unternommen, gestützt auf bisherige Forschungsergebnisse sowie an H a n d von Dokumenten der ungarischen Arbeiterbewegung und von sowjetischen und ungarischen Archivalien, die historischen Voraussetzungen, die vor 100 Jahren zur Herausbildung zweier sozialistischer Arbeiterparteien führten, kurz zu charakterisieren und die wichtigsten Umstände ihrer Entstehung aufzuzeigen. Mit der Entwicklung des Kapitalismus in Ungarn begann sich die Arbeiterklasse dieses L a n d e s herauszubilden; ihr zahlenmäßiges Anwachsen und ihr zunehmendes politisches Bewußtsein führten zur Gründung und Entfaltung eigener Organisationen. D i e erste gesamtungarische politische Arbeiterorganisation des multinationalen Ungarn - der Allgemeine Arbeiterverein (Altalänos Munkäsegylet) - wurde bereits im Februar 1868 gegründet. Zu den Organisatoren und Führern des Vereins gehörten Jänos H r a b j e 4 und der namhafte ungarische revolutionäre Demokrat Mihäly Täncsics. E s ist sehr wesentlich den hervorragenden rednerischen und organisatorischen Fähigkeiten Hrabjes zu verdanken, daß sich die Arbeitermassen von den bürgerlich-liberalen Ideen H . Schulze-Delitzschs abwandten und sich in der ersten gesamtpolitischen proletarischen Organisation des L a n d e s zusammenschlössen. D e r Allgemeine Arbeiterverein ließ sich in seiner Tätigkeit von den Ideen der I. Intersozialen Aufgaben und analysieren sehr eingehend die durch den „Ausgleich" von 1867 geschaffenen Bedingungen des K a m p f e s um die demokratische Umgestaltung Ungarns. Diese Arbeiten lassen mitunter andere Nuancierungen in ihren Wertungen erkennen als der vorliegende Aufsatz. So wird der von Leo Frankel eingeschlagene Weg als grundlegend richtig und internationalistisch angesehen ; es wird hervorgehoben, daß er sich zum marxistischen Grundsatz des politischen Bündnisses bekannte und die Zusammenarbeit mit dem linken Flügel der Unabhängigkeitspartei suchte. Viktor Külföldi habe hingegen eine oppositionelle Fraktion innerhalb der sozialistischen Bewegung gebildet. "Die Vff. der „Geschichte Ungarns" in zehn Bänden würdigen zwar die herausragende Rolle von Külföldi im Allgemeinen Arbeiterverein, betonen aber, daß er „die Konzeption von Marx nicht verstand", seine politischen Schritte waren vom „Abenteuer-Geist durchdrungen. 1877 wurde er aus der noch illegal arbeitenden Ungarländischen Arbeiterpartei ausgeschlossen. (Vgl.: Magyarorszäg törtenete 10 kötetben [Geschichte Ungarns in 10 Bänden], verfaßt im Institut für Geschichte der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 6/2, 1 8 4 8 - 1 8 9 0 , Budapest 1979, S. 865 ff., 1278 ff., Zitat auf S. 1283). Vgl. auch: A magyar nep törtenete (Geschichte des ungarischen Volkes), Budapest 1953, S. 4 0 6 ; A magyar munkäsmozgalom törtenete (Geschichte der ungarischen Arbeiterbewegung), hg. v. Institut für Parteigeschichte beim Z K der USAP, Budapest 1972, S. 15 ff.; A magyar • munkäsmozgalom törtenete 1 8 6 8 - 1 9 7 6

(Geschichte der ungarischen

Arbeiterbewegung),

Lehrmaterial f. Hochschulen u. Universitäten, Red. Kaiman Szakäcs, Budapest 1977, S. 8 ff. (d. Red.). i

D e r Arbeiter J . Hrabje wandte sich im Ausland den sozialistischen Ideen zu. 1865 gehörte er bereits dem Generalrat der Internationale an (siehe: General'nyj Sovet pervogo Internacionala. 1 8 6 4 - 1 8 6 6 . Protokoly, Moskau 1961, S. 77). Im September 1866 wurde Hrabje durch einen Beschluß dieser internationalen Arbeiterorganisation ermächtigt, nach seiner Rückkehr nach Ungarn „im Auftrage der Organisation im Lande zu wirken". Wie von Zeitgenossen berichtet' wird, beherrschte er die ungarische, deutsche, englische und französische Sprache, „kannte sich in den Arbeiten von Marx und Engels gut aus" und verehrte Marx und Engels grenzenlos (A magyar munkäsmozgalom törtenetenek välogatott dokumentumai [ M M T V D ] , Budapest 1951, S. 52).

42

nationale leiten. Die Zeitung von M. Täncsics, „Arany Trombita" (Die Goldene Trompete), die dieser Arbeiterorganisation zur Verfügung stand, schrieb in einer ihrer ersten Nummern, daß der Verein „alle Arbeiter der Länder der Ungarischen Krone zusammenschließt und den durch gleiche Ideen vereinten Arbeitern ganz Europas die Freundeshand reicht". 5 Ende der sechziger Jahre des 19. Jh. übernahmen neue Kräfte, die sich um die Gründung einer sozialdemokratischen Partei bemühten, die Leitung des Vereins. Es waren der Metallarbeiter Käroly Farkas (1843-1907), der Journalist Zsigmond Politzer, der Drucker Antal Ihrlinger (1843-1890), der Korrektor-Viktor Külföldi (1844-1894) und andere. Das Programm der künftigen Partei wurde auf zwei Arbeiterversammlungen im Jahre 1869 erörtert. Dabei diente das Programm der österreichischen Sozialdemokratie (1868), ergänzt durch einige Punkte des Eisenacher Programms der deutschen Sozialisten, als Vorbild. Anfang der siebziger Jahre verwandelte sich der Verein, dessen Führer enge Kontakte zur Internationale unterhielten, zu einer politischen Massenorganisation der Arbeiter, die im Lande über ein organisiertes Netz von Zellen und Sektionen verfügte. 6 Die Aufgabe, eine proletarische Partei in Ungarn zu gründen, wurde im Frühjahr 1870 in dem von Viktor Külföldi gegründeten und herausgegebenen, in ungarischer und in deutscher Sprache erscheinenden Organ des Allgemeinen Arbeitervereins „Altalänos Munkäs ujsäg" (Allgemeine Arbeiter-Zeitung) formuliert. Der Allgemeine Arbeiterverein und seine Presseorgane spielten bei der Verbreitung der Ideen des Internationalismus und bei der Popularisierung der Lehren von Karl Marx innerhalb der ungarischen Arbeiterbewegung eine wichtige Rolle. Wie weit diese Ideen in Ungarn allgemein verbreitet waren, zeigten viele Briefe von Arbeitern aus jenen Jahren sowie der revolutionäre Geist, der sich in den Tagen der Pariser Kommune offenbarte. So wandte sich beispielsweise der Maschinenarbeiter Samu Kassai 1871 an Johann Philipp Becker, den Führer der Genfer Sektion der I. Internationale und Chefredakteur der Zeitschrift „Vorbote", mit der Bitte, ihn als Mitglied in die Internationale Arbeiterassoziation aufzunehmen, wobei er versicherte, ein würdiges Mitglied werden zu wollen. In einem weiteren Brief teilte er mit, daß er in einer ungarischen Provinzstadt die Ideen des Sozialismus unter den Arbeitern zu propagieren suche. 7 Von dem Bemühen ungarischer Arbeiter, sich mit der marxistischen Literatur vertraut zu machen, zeugen Briefe des Schneiders G. Merlovics aus Baja, die an Marx persönlich gerichtet waren. 8 Merlovics berichtete, daß von den dortigen Arbeitern ein sozialdemokratischer Verein gegründet worden sei und daß man Marx um die Zusendung von Literatur bitte. Von dem wachsenden Interesse an den Arbeiten der Begründer des Marxismus zeugen auch die im Jahre 1872 beim Generalrat der Internationale aus Ungarn eingegangenen Briefe mit dem Vorschlag, die Schrift „Der Bürgerkrieg in Frankreich" ins Ungarische zu übersetzen. 9 5

M M T V D , S. 47.

6

8

Nach den Angaben des ungarischen Innenministeriums zählte die Internationale hier Anfang 1 8 7 1 fast 1 0 0 0 0 Mitglieder, das entsprach annähernd auch der Mitgliederzahl des Vereins, M M T V D , S. 1 9 6 . Zentrales Parteiarchiv des Instituts für Marxismus-Leninismus, Moskau (ZPA IML), f. 21, Faszikel 172/7, S. Kassai an J. Ph. Becker, 26. Februar 1 8 7 1 ; ZPA, f. 2 1 , ed. ehr. 172/13, S. Kassai an J. Ph. Becker, 25. 9. 1 8 7 1 . Z P A IML, f. 21, cd. ehr. 1 7 1 , G. Merlovics an Karl Marx, um 1 8 7 2 .

9

General'nyj Sovet Pervogo Internacionala. 1 8 7 1 - 1 8 7 2 , Protokoly, Moskau 1 9 6 5 , S. 234.

7

43

Um die Popularisierung der marxistischen Ideen in Ungarn und um deren Verteidigung gegen Angriffe reaktionärer Kräfte machte sich am Anfang der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts der ungarische Schriftsteller und Publizist Aladär György sehr verdient. György, der persönlich mit Marx und Engels bekannt war, übersetzte das „Statut der Internationalen Arbeiterassoziation" ins Ungarische und sorgte für dessen Herausgabe. Zum anderen veröffentlichte er, ausgehend von persönlichen Eindrücken, eine Artikelserie über Karl Marx, über Ziele und Aufgaben der Internationale sowie über deren Tagungen. 1 0 Obwohl die Arbeiterbewegung in Ungarn unter dem E i n f l u ß der Pariser Kommune einen bedeutenden Aufschwung erlebte, war es in den Jahren 1870 bis 1872 nicht möglich, eine Arbeiterpartei zu gründen. D a s hatte sowohl innere als auch internationale Gründe. Bekanntlich folgte dem Sturz der Pariser Kommune in ganz Europa eine Periode der Reaktion gegen die sozialistische Arbeiterbewegung. Die ungarische Arbeiterbewegung bildete in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Nach der vom Allgemeinen Arbeiterverein am 12. Juni 1871 organisierten Massenkundgebung, auf der man sich mit den Pariser Kommunarden solidarisierte, wurden die Führer des Vereins verhaftet und des „Landesverrats" beschuldigt, weil sie mit Karl Marx, der I. Internationale und der Pariser Kommune in Verbindung gestanden hatten. Wie Marx feststellte, verfiel die Arbeiterklasse in Österreich-Ungarn von nun an einer „wahren Schreckensherrschaft". 11 Dies mußte sich auf den Kampf um die Gründung einer \Arbeiterpartei auswirken. Obwohl die Führer des Vereins später freigesprochen wurden, hatten doch allein die Tatsache der Verhaftung und der Verhöre durch die Polizei sowie der folgende, sich über fast ein ganzes Jahr hinschleppende Prozeß für die Entwicklung der Arbeiterbewegung nachteilige Folgen. Diese war zeitweilig ihrer Führung beraubt; die Verbindung zwischen den Vereinen und Organisationen der Arbeiter lockerte sich. Trotzdem wirkten die Gruppen der I. Internationale weiterhin in den Gewerkschaften, in den Arbeiterkrankenkassen und in anderen Arbeiterorganisationen. Sie waren es vor allem, die nach der Befreiung der Führer des Vereins unter der Leitung von K. Farkas trotz des Terrors der Regierung die begonnenen Bemüh.ungen um die Gründung einer Arbeiterpartei fortführten. K . Farkas stellte über die Genfer Sektion der Internationale die Verbindung zum Generalrat wieder her und nahm am Haager Kongreß teil; hier wurde er mit Karl Marx bekannt und unterstützte in, allen prinzipiellen Fragen dessen Vorschläge. Im Januar 1873 begann er, gemeinsam mit A. Ihrlinger und V. Külföldi, eine neue Zeitung die „Arbeiter-Wochen-Chronik" („Munkas Heti-Krönika") - in ungarischer und deutscher Sprache herauszugeben. Dieses Blatt spielte im Kampf um die Gründung einer Partei der Arbeiterklasse eine wichtige Rolle. Am 23. März 1873 wurde in Budapest die erste Arbeiterpartei Ungarns gegründet. Nach wenigen Wochen zählte sie bereits über zweitausend Mitglieder. 12 Diese proletarische Partei bekannte sich zum proletarischen Internationalismus und setzte sich das Ziel, „unter Ausnutzung aller legalen Mittel die Arbeiter zu organisieren und deren 10

B. }. lelicki,

11

K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 18, S. 133.

12

D. Nemes, Az Altalänos Munkäsegylet törtenete (Geschichte des Allgemeinen Arbeitervereins) 1868-1873, Budapest 1952.

44

A. D'erd' i rabocee dvizenie, in: Yoprosy istorii, 1973, .Nr. 9.

geistige und materielle Interessen zu verteidigen". 13 Dem auf der Gründungsversammlung gewählten Provisorischen Zentralkomitee (dessen Vollmachten bis zur Einberufung des ersten Parteitages reichten) gehörten A. Ihrlinger (Vorsitzender), V. Külföldi (Sekretär) und K. Farkas (Kassierer) an. Die Parteiführung trat bald nach ihrer Wahl mit der Internationale in Verbindung und ersuchte den Generalrat, die Arbeiterpartei Ungarns in die Internationale Arbeiterassoziation aufzunehmen. Die ungarischen Behörden verfolgten mit Unbehagen die Entfaltung der Arbeiterbewegung im Lande; sie fürchteten die zunehmende Popularität der Partei sowie die Ausweitung ihrer internationalen Kontakte und verboten daher diese Partei. Durch eine Verordnung des Innenministers vom 25. April 1873 wurden die Behörden angewiesen, die Arbeiterpartei zu liquidieren und dieser fortan jede weitere Tätigkeit zu untersagen. Die Partei wurde aufgelöst, die „Arbeiter-Wochen-Chronik" erschien jedoch weiter. Seit 1876 verstärkte sich erneut der Kampf um die Gründung einer Partei. In dieser Zeit gewannen die Arbeitervereine an Festigkeit, die Aktivitäten der Gewerkschaften vervielfachten sich; die größte Arbeiterorganisation, die Allgemeine Arbeiterkrankenkasse, die 1870 von K. Farkas gegründet worden war, um den Arbeitern im Krankheitsfalle und bei Invalidität zu helfen, besaß bereits in 30 Städten und Ortschaften des Landes Filialen und zählte annähernd 14 000 Mitglieder. 1 4 Zu diesem Zeitpunkt kehrte Leo Frankel in die Heimat zurück. Frankel war Juwelier, Berufsrevolutionär, in der Pariser Kommune Vorsitzender der Kommission für Arbeit und Handel, Mitglied des Generalrates der I. Internationale sowie deren Sekretär und Berichterstatter für Österreich-Ungarn; mit seinem Namen ist die gesamte weitere Geschichte der ungarischen Arbeiterbewegung eng verknüpft. Das Redaktionskollegium der Zeitung „Arbeiter-Wochen-Chronik" bildete in dieser Situation ein wichtiges Zentrum, das im Kampf um die Gründung einer Arbeiterpartei die Führung übernahm. In einem seiner Briefe an Karl Marx machte L. Frankel auf die Bedeutung dieses Organs aufmerksam. Er wies darauf hin, daß „der Redakteur und das Redaktionskomitee hier die offizielle Führung der Arbeiterbewegung darstellen". 15 Je mehr Einfluß das Redaktionskollegium in der Arbeiterbewegung gewann, desto höhere Forderungen stellten die Leser, d. h. die Arbeiter, an dieses Blatt. Im Herbst 1876 äußerten Leser diescfr Zeitung den Wunsch, „Frankel zur Redaktionsarbeit in der Zeitung hinzuzuziehen, genauer gesagt, ihm die Leitung der Redaktion zu übertragen". Dabei wurde betont, daß allein dieser außerordentlich bekannte Name genügte, um den Einfluß und die Auflage der Zeitung zu steigern. 16 Wie Frankel in dem erwähnten Brief an Karl Marx feststellte, war der ihm von der Redaktion unterbreitete Vorschlag, im Redaktionsstab mitzuwirken, das Ergebnis der von den Arbeitern ausgehenden Agitation, die mit der derzeitigen Redaktion unzufrieden waren. 17 Die Unzufriedenheit der Arbeiter mit dem' von A. Ihrlinger geleiteten Redaktionskollegium resultierte tatsächlich aus dem unzureichenden Niveau der Artikel und Materialien in der Zeitung, vor allem zu theoretischen Fragen. Dies bestätigte L. Frankel in seinem Brief an Karl Marx, in dem er unterstrich, daß der Redakteur Marx' Arbeiten 13 14 15 16 17

MMTVD, S. 263. MMTVD, S. 150. ZPA IML, f. 1, op. 5, ed. ehr." 3693. A Budapest! munkäsok viszälya, Budapest 1877, S. 6 f. ZPA IML, f. 1, op. 5, d. 3693, Blatt 1, L. Frankel an Karl Marx, 9. 10. 1876. 45

nicht oder nur ungenügend kennen würde; die theoretischen Artikel wären schwach, weil Ihrlinger dergleichen Angelegenheiten nicht zu beurteilen verstünde. 18 Über das weitere Wirken A. Ihrlingers in der Redaktion der Arbeiterzeitung kam es innerhalb der Führung der Arbeiterbewegung bald zu Meinungsverschiedenheiten. Unter dem Druck der proletarischen Leserschaft und auf Drängen Külföldis schlug die Zeitungsredaktion L. Frankel vor, im Redaktionskollegium mitzuarbeiten. Ein Teil des Redaktionskollegiums, geführt von V . Külföldi, bestand darauf, A. Ihrlinger seines Postens zu entheben und L. Frankel die Leitung der Zeitung zu übertragen. Dieser Antrag wurde damit begründet, daß die Kenntnisse Ihrlingers „nicht mehr den von den Lesern an die Zeitung gestellten Anforderungen entsprechen". 19 Langwierige Auseinandersetzungen in den Redaktionssitzungen und der hartnäckige Widerstand A . Ihrlingers endeten schließlich mit der Einsetzung zweier Redakteure, nämlich L . Frankels und A . Ihrlingers. Dieser Beschluß stellte jedoch die Anhänger V . Külföldis nicht zufrieden und gab zu ständigen Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Führung der Arbeiterbewegung Anlaß. Diese Diskussionen innerhalb der Führung berührten auch organisatorische Fragen. Beide Seiten beanspruchten für sich die Leitung des Kampfes um die Gründung einer einheitlichen sozialistischen Arbeiterpartei. Die Anhänger V . Külföldis, die sich im Redaktionskollegium in der Minderheit befanden, forderten im Rahmen einer Reorganisation der Partei die Einführung von Rechenschaftslegungen innerhalb der Partei, womit sich die andere Seite nicht einverstanden erklärte. Später wandte sich V . Külföldi gegen den Vorschlag L. Frankels, neben dem obligatorischen Abonnement der Parteipresse noch einen Parteibeitrag in Höhe von 10 Kreuzern einzuführen. E r begründete seine Einwände damit, daß dieser Betrag von den am schlechtesten bezahlten Arbeitern nicht aufgebracht werden könnte. 20 D i e Verhandlungen, in denen V . Külföldi und dessen Anhänger nach wie vor auf der Ablösung A. Ihrlingers bestanden, erzeugten somit nur neue Meinungsverschiedenheiten auch über den Organisationsaufbau der Partei und führten zu keiner Annäherung der Standpunkte beider Gruppen. Ende Oktober 1876 fand die erste Etappe des Spaltungsprozesses ihren Abschluß. Bis dahin hatte es zwischen den Gruppierungen keine prinzipiellen ideologischen Meinungsverschiedenheiten gegeben; die Differenzen betrafen lediglich organisatorische Belange. In der zweiten Etappe blieben die Auseinandersetzungen nicht mehr auf das Redaktionskollegium begrenzt; sie wurden nun immer mehr auch auf Arbeiterversammlungen geführt; ihr Ergebnis war die Spaltung der Arbeiterbewegung, wobei die Ansichten der Gruppierungen nunmehr auch in taktischen Fragen auseinandergingen. Auf den Arbeiterversammlungen in Obuda, auf denen man sich V . Külföldis Auffassungen anschloß, war auch L . Frankel zugegen. E r versuchte, die Kluft zu überbrücken und wies auf die Notwendigkeit hin, den allgemeinen sozialistischen Charakter der Bewegung in Ungarn zu wahren. 21 Zu der Versammlung des Arbeitervereins in Obuda waren neben Frankel auch andere Vertreter des Redaktionskollegiums eingeladen worden. E s wurde beschlossen, ein Organisationskomitee zu bilden, das die mit dem

18

Ebenda.

19

A Budapesti munkasok viszälya, S. 7.

20

Ebenda, S. 17.

21

Munkäs Heti-Krönika ( M H K ) , 12. 11. 1 8 7 6 .

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Presseorgan der Arbeiter verbundene Frage einer vernünftigen Lösung zuführen sollte. 22 Der Allgemeine Arbeiterverein in Obuda wählte eine solche Kommission aus 15 Mitgliedern. Diese verhandelte seit Mitte November 1876 mit der entsprechenden Kommission des Redaktionskollegiums der Zeitung über die strittigen Fragen. Jedoch auch diese Verhandlungen führten nicht zu den erwünschten Ergebnissen. Am 26. November 1876 veröffentlichte die „Arbeiter-Wochen-Chronik" die Mitteilung über den Abbruch jeglicher Verbindungen zu den Führern der Opposition unter der Leitung von Külföldi. 2 3 Daraufhin brachten die letzteren seit dem 20. Mai 1877 eine neue Zeitung in ungarischer („Nepszava") und in deutscher („Volksstimme") Sprache heraus. Seither kam es zwischen den Gruppierungen zu Fraktionskämpfen, die zeitweilig sehr scharfe und bedenkliche Formen annahmen. Seit dem Abbruch der Beziehungen zwischen beiden Gruppen, d. h. seit November 1876, ging jede der beiden Fraktionen davon aus, daß ihr allein das Recht auf die Gründung der Arbeiterpartei zustände und sie die Führung übernehmen müßte; beide Fraktionen setzten daher alles daran, die Mehrheit der Arbeiter für sich zu gewinnen. Der Kampf um die Massen und um die Gründung der Partei verlief daher doppelgleisig; zugleich erwuchsen aus der Frage nach dem Weg und den Methoden der Verwirklichung dieses Zieles neue taktische Meinungsverschiedenheiten. Die politische Losung der um die „Arbeiter-Wochen-Chronik" gescharten Anhänger A. Ihrlingers und L. Frankels war die Erringung des allgemeinen Wahlrechts, während die Anhänger Külföldis den Kampf für die wirtschaftlichen Interessen der Arbeiterklasse in den Vordergrund stellten und der Organisierung der Gewerkschaftsbewegung großes Gewicht beilegten. Die Anhänger L. Frankels verlangten, die liberale Bourgeoisie als zeitweiligen Verbündeten der Arbeiterklasse in den Kampf um verschiedene allgemeine politische Ziele zu nutzen, die Anhänger V. Külföldis lehnten dagegen ein solches Vorgehen kategorisch ab. Die Leitung des Redaktionskollegiums der „Arbeiter-Wochen-Chronik" betrachtete zu jener Zeit die Allgemeine Arbeiterkrankenkasse als ihre Hauptstütze, der Organisierung der Gewerkschaftsbewegung schenkte sie dagegen nicht genügend Aufmerksamkeit. Die zahlenmäßig stärksten Gewerkschaften unterstützten daher die Gruppe um V. Külföldi, die ihr Augenmerk vor allem auf die Organisierung und auf die Gründung neuer Gewerkschaften richtete. Die Gruppe um Külföldi begnügte sich zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr mit dem politischen Programm der offiziellen Führung der Arbeiterbewegung - der Erkämpfung des allgemeinen Wahlrechts. Sie erhob neben den politischen auch ökonomische Forderungen und vermochte daher einen großen Teil der Arbeiterklasse für sich zu gewinnen, so u. a. die Zimmerleute, Schuhmacher, Schneider, Tischler und Maurer, 24 die unter ihrer Führung eigene Gewerkschaften gründeten. Die Arbeiter konnten allein mit politischen Forderungen nicht zufriedengestellt werden. Külföldis Gruppe nutzte gerade diese instinktive Unzufriedenheit zur selbständigen Vorbereitung der Gründung der Partei. In ihrer Zeitung agitierte die Opposition für eine weitergehende Vereinigung in Gewerkschaften, bereits im Mai 1877 rief die „Nepszava" zur Gründung der Arbeiterpartei auf. 2 5 22 23 2i 25

MHK, 12. 11. 1876. MHK, 26. 11. 1876. MMTVD, Bd. 1, S. 306 f. Ebenda, S. 307.

47

Auch das Redaktionskollegium der „Arbeiter-Wochen-Chronik" bemühte sich um die Gründung einer proletarischen Partei; sie stand im Mittelpunkt der Pester Arbeiterversammlungen. 26 Die Führer der Arbeiterbewegung Ungarns traten für unterschiedliche Formen ein, bekannten sich jedoch zum Internationalismus und verurteilten den Anarchismus. In diesen Fragen nahmen beide Fraktionen ähnliche Positionen ein/ Noch im November 1876 schrieb die „Arbeiter-Wochen-Chronik" über die Wechselbeziehung des Nationalen und des Internationalen in der Arbeiterbewegung folgendes: „Wir bekennen uns stärker denn je zuvor zum Internationalismus, den zu verteidigen und zu unterstützen wir als moralische Verpflichtung betrachten . . . Wir haben keine nationale, sondern eine internationale Aufgabe zu lösen, wozu es der Unterstützung eines jeden Arbeiters bedarf." 27 Die Zeitung „Nepszava", das Presseorgan der Anhänger Külföldis, hob Ende Mai hervor: „Gegen die bürgerlichen Parteien können wir Arbeiter uns nur als Partei erfolgreich behaupten . . . Und darum wollen wir Arbeiter uns zusammenschließen ungeachtet religiöser und nationaler Unterschiede. Ob Christ oder Jude, ob Ungar oder Deutscher, ob Serbe oder Tscheche - das sollte jetzt nicht entscheiden; wir alle sind vor allem Menschen und Arbeiter und sollten daher Brüder sein!" 28 Obwohl der Fraktionskampf die Arbeiterbewegung Ungarns aufspaltete und infolgedessen schwächte, weitete sich die Bewegung unaufhaltsam aus. Dieser Prozeß spiegelt sich recht deutlich in Regierungsdokumenten wider. So hieß es in einer an die Leiter der örtlichen Behörden gerichteten Geheimanweisung des Innenministeriums: „Die Arbeiterbewegung hat in einer Reihe europäischer Länder bereits ein derartiges Ausmaß erreicht, daß der Staat sie als eines der wichtigsten Probleme der Zukunft ernsthaft beachten muß. Und obwohl unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen die Arbeiterbewegung in unserem Lande noch keine gefährlichen Formen angenommen hat, gibt es allen Grut|d zu Befürchtungen . . . Die Bewegung weitet sich allmählich aus, wird organisierter und nimmt eigene Gestalt an. Im Laufe der Zeit wird sie angesichts der unvermeidbaren Veränderungen offensichtlich auf friedlichem odet| gewaltsamem Wege sehr gefährliche sozialdemokratische Aufgaben zu lösen suchen, die natürlich der Endzweck der Arbeiterbewegung sind und auf die vollständige Liquidierung der Gesellschaftsordnung hinzielen" 29 (d. h. der damals bestehenden Gesellschaftsordnung - B. 2 . ) . Das Ministerium forderte die örtlichen Staatsorgane auf, jede Aktivität der Arbeiterbewegung „auf das Sorgfältigste"' zu überwachen und darüber unverzüglich zu berichten. Zweifellos waren die herrschenden Klassen in dieser Situation über die Spaltung innerhalb der sozialistischen Arbeiterbewegung Ungarns erfreut und hofften, daß die Verschärfung der Widersprüche zwischen den beiden Strömungen der Arbeiterbewegung deren Entwicklung schwächen und hemmen würde. Die Spaltung hatte zweifelsohne der ungarischen Arbeiterbewegung großen Schaden zugefügt, sie führte zur Zersplitterung der Kräfte des Proletariats. Der Streit zwischen

26

Ebenda, S. 3 0 5 f.

27

Ebenda, S. 303. Ebenda, S. 307. Orszägos Leveltär (Ungarisches Staatsarchiv), Belügyminiszteriumi elnöksegi iratok sterium, Präsidiumsschriftstücke) (OLBM>, 1 8 7 7 - 4 9 3 , S. 1 - 3 .

2S 29

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(Innenmini-

den beiden Fraktionen um die Massen lenkte die Arbeiterbewegung auf ein Nebeneinander zweier Richtungen, was die Gründung zweier Parteien zur Folge hatte. Wie aus den Dokumenten des ungarischen Ministeriums des Innern hervorgeht, ersuchten beide Fraktionen fast gleichzeitig für den 21. und 22. April 1878 um die Genehmigung von Arbeiterkongressen:!0, auf denen Arbeiterparteien gegründet werden sollten. 31 „Die um eine Genehmigung Ersuchenden sind die maßgeblichen Aufwiegler der Arbeiter", heißt es in einem entsprechenden Rundschreiben des Ministeriums, „und es besteht daher kein Zweifel, daß mit dem geplanten Kongreß in Wirklichkeit nichts anderes bezweckt werden soll als die Organisierung einer Zusammenkunft der Arbeiter aus dem ganzen Lande. Auf diesem Treffen sollen die sich in der Hauptstadt versammelnden unruhigen Arbeiterelemente aus der Provinz von der in Budapest im Verborgenen weilenden [Führung - B. 2.] der sozialdemokratischen und kommunistischen Strömung, deren Hauptapostel Leo Frankel ist, entsprechende Weisungen erhalten . . . Eine andere Gruppe hauptstädtischer Arbeiteraufwiegler . . . hat ebenfalls mitgeteilt, daß sie für den 21.122. April ein als .Kongreß der Arbeiter Ungarns-' bezeichnetes Arbeitertreffen einberufen hat." 32 In den Eingaben, in denen um die Genehmigung für die Kongresse ersucht wurde, nannten beide Fraktionen die zu erörternden Probleme. Die Anhänger Frankels gaben zwei Punkte an; 33 sie betrafen das allgemeine Wahlrecht sowie die Möglichkeitefi, es herbeizuführen. Die Anhänger Külföldis nannten dagegen zwölf Punkte vorwiegend ökonomischen Inhalts, aber auch eine Reihe politischer Probleme, darunter das allgemeine Wahlrecht. 34 Die Regierung war von Anfang an gegen die Durchführung beider Kongresse. Wie aus den Dokumenten hervorgeht, fürchtete sie den Kongreß der Anhänger L. Frankels wegen der „gefährlichen internationalistischen Orientierung" der Bewegung35 und den Kongreß der Anhänger Külföldis wegen der Gefahr der Gründung eines zentralen Exekutivkomitees der Arbeiterpartei, das seinen Einfluß nach dem Kongreß auf das ganze Land hätte ausdehnen können und sich als Organ, „das vom Parteitag gewählt war, für berechtigt halten würde, die bisher mit so viel Mühe niedergehaltene Bewegung der sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterpartei zu führen". 36 Mit diesen Worten wurde in den Geheimdokumenten die Ablehnung der Regierung motiviert. 30

Unter den in der zweiten Hälfte des vergangenen Jh. in Ungarn bestehenden politischen Verhältnissen konnten legale Massenaktionen der Arbeiter - Versammlungen, Meetings, Tagungen - erst nach Einverständnis der Behörden durchgeführt werden, nachdem in offiziellen- Eingaben unter Angabe der wesentlichen Tagesordnungspunkte, der Namen der Organisatoren und der Hauptredner um die Genehmigung ersucht worden war. Vertreter der Polizei überwachten die Einhaltung der von den Behörden festgelegten Ordnung.

31

32 OLBM, 1 8 7 8 - X I V - 2 2 0 , Si 10. Ebenda. In der „Arbeiter-Wochen-Chronik" wurden bereits Anfang des Jahres 1878 fünf Tagesordnungspunkte des bevorstehenden Kongresses genannt: 1. Programm der Sozialisten Ungarns, 2. Organisierung der Einführung des allgemeinen Wahlrechts, 3. Organisierung der sozialistischen Presse, 4. Sozialistische Propaganda, 5. Gründung von Gewerkschaften und Bildungsvereinen. Siehe: M M T V D , Bd. 1, S. 321.. OLBM, 1 8 7 8 - X I V - 2 2 0 , S. 118. Ebenda. Ebenda, S. 119.

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34 33 36

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Jahrbuch 25/1

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D i e G e n e h m i g u n g der Kongresse erfolgte nach einer sorgfältigen P r ü f u n g der T a g e s o r d nungen. D e n A n h ä n g e r n K ü l f ö l d i s w u r d e die D u r c h f ü h r u n g der V e r a n s t a l t u n g (Parteitag der A r b e i t e r p a r t e i U n g a r n s ) unter der Voraussetzung gestattet, d a ß „der Kong r e ß keinerlei Beschlüsse f a ß t , deren D u r c h f ü h r u n g einem E x e k u t i v k o m i t e e übertragen w e r d e n k ö n n t e " / 7 D a s bedeutete, d a ß der z w ö l f t e T a g e s o r d n u n g s p u n k t ( W a h l eines Zentralen E x e k u t i v k o m i t e e s ) nicht e i n m a l zur Diskussion gestellt w e r d e n durfte. D i e V e r a n s t a l t u n g der A n h ä n g e r L . F r a n k e l s ( K o n g r e ß der Partei der N i c h t w a h l b e r e c h t i g ten) w u r d e genehmigt, n a c h d e m die Überbringer des T a g u n g s a n t r a g s 'Jakob Kürschner, Zsigmond C s i l l a g und Jöszef Ferenci v o m Chef der B u d a p e s t e r Polizeibehörde E . T h a i s e verhört w o r d e n w a r e n und sie versichert hatten, sie v e r s a m m e l t e n sich auf dem Kong r e ß l e d i g l i c h „zu dem Z w e c k , die gesetzlich erlaubten M e t h o d e n und M i t t e l , mit denen in U n g a r n das a l l g e m e i n e W a h l r e c h t e r w i r k t w e r d e n k a n n , zu erörtern und a n d e r e F r a gen auf diesem K o n g r e ß nicht zur Diskussion gestellt w e r d e n " . 3 8 E s lassen sich somit die B e h a u p t u n g e n mancher Autoren w i d e r l e g e n , d a ß w i r t schaftliche F o r d e r u n g e n sowie a n d e r e , mit der L a g e der A r b e i t e r k l a s s e zusammenh ä n g e n d e F r a g e n auf dem K o n g r e ß der Partei der N i c h t w a h l b e r e c h t i g t e n angeblich erörtert w e r d e n konnten. V o n der a n d e r e n Partei, der von V . K ü l f ö l d i geführten A r beiterpartei U n g a r n s , d u r f t e n sie nämlich b e h a n d e l t w e r d e n , und z w a r nicht deshalb, w e i l der G r u p p e u m K ü l f ö l d i mehr Rechte und Freiheiten zugestanden w u r d e n . D e r G r u n d l a g eher d a r i n , d a ß diese Probleme von den Organisatoren in dem offiziellen Antrag aufgeführt worden waren. W i e aus den D o k u m e n t e n und aus der Arbeiterpresse ersichtlich, w u r d e die w i r t schaftliche L a g e der A r b e i t e r in A r b e i t e r v e r s a m m l u n g e n offen diskutiert, wenngleich gewöhnlich im Beisein v o n Vertretern der Staatsmacht. D i e s e F r a g e n konnten d a h e r auch auf dem P a r t e i t a g zur Sprache gebracht w e r d e n . L e i d e r nahm die Partei der N i c h t w a h l b e r e c h t i g t e n diese Probleme nicht in ihre T a g e s o r d n u n g auf und führte sie auch in ihrer offiziellen E i n g a b e um die G e n e h m i g u n g des Kongresses nicht a n ; das w a r z w e i f e l l o s ein V e r s ä u m n i s der Führung. A u s diesem G r u n d e konnten die genannten F r a g e n (wie, auch die mit der G r ü n d u n g von G e w e r k s c h a f t e n und B i l d u n g s v e r e i n e n zuz u s a m m e n h ä n g e n d e n P r o b l e m e ) , d a sie in der offiziellen T a g e s o r d n u n g nicht rechtzeitig v e r m e r k t w o r d e n w a r e n , nicht diskutiert w e r d e n . Unserer A u f f a s s u n g nach nahm die R e g i e r u n g zu d e m von den A n h ä n g e r n F r a n k e l s einberufenen K o n g r e ß w e g e n der betont internationalistischen und politischen A u s richtung der B e w e g u n g und w e g e n der von der R e g i e r u n g gefürchteten engen Verbind u n g L . F r a n k e l s zu den Führern der internationalen A r b e i t e r b e w e g u n g eine e t w a s h ä r t e r e H a l t u n g ein. Offensichtlich w a r e n f ü r die R e g i e r u n g die internationalen Beziehungen m a ß g e b l i c h f ü r die Einschätzung dieser beiden Strömungen der sozialistischen A r b e i t e r b e w e g u n g U n g a r n s . A u ß e r d e m suchten die A n h ä n g e r F r a n k e l s d a m a l s bereits K o n t a k t e zum lib e r a l e n F l ü g e l . d e r parlamentarischen Opposition; die R e g i e r u n g sah sich g e r a d e durch diese Strömung stärker g e f ä h r d e t a l s durch die im politischen L e b e n doch mehr isolierte G r u p p e um V . K ü l f ö l d i , die jegliche Z u s a m m e n a r b e i t mit bürgerlichen Parteien ablehnte. O b w o h l b e i d e Parteien ihre Gründungskongresse für den A p r i l 1878 einberufen w o l l 37 38

50

Ebenda, S. 137; M. Revesz, Följegyzesek a magyat . . ., in: Szocializmus, 1912, H. 6. OLBM, 1878-XIV-220, S. 143.

ten und letztendlich auch die Genehmigung dafür erhielten, verschoben die Anhänger V. Külföldis aus nicht geklärten Gründen ihren Kongreß auf einen späteren Zeitpunkt. Hierbei dürften sehr unterschiedliche Faktoren eine Rolle gespielt haben - das Verbot des ungarischen Innenministeriums, den Kongreß am Ostermorgen zu beginnen, Verzögerungen bei der organisatorischen Vorbereitung, bei der Ausarbeitung der entsprechenden Dokumente, bei der Wahl der Delegierten und anderes mehr. Wie einer der ersten Historiker der Arbeiterbewegung Ungarns Mihâly Révész bemerkte, waren die Arbeiter von Szigetvär sowie der Allgemeine Arbeiterverein in O b u d a die Initiatoren des von den Anhängern Külföldis einberufenen Kongresses. D i e Delegiertenwahlen wurden in der Hauptstadt und auch in der Provinz von den Behörden behindert. „Es dauerte geraume Zeit, bis die Regierung der Durchführung des beantragten Kongresses zugestimmt hatte", stellte Mihâly Révész fest, womit er möglicherweise auf einen weiteren Grund für die zeitliche Verschiebung hinwies. „So wurde der Kongreß von Ostern auf Pfingsten verlegt. Zu Ostern traten die Delegierten der anderen Fraktion - die Nichtwahlberechtigten - zu ihrem Kongreß zusammen und kamen somit den Mitgliedern der Arbeiterpartei zuvor". 39 Nach den Angaben von Révész wurde den Anhängern Külföldis.erst ein bis zwei Tage vor Ostern die Genehmigung zum Kongreß erteilt. Am Arbeiterkongreß im Frühjahr 1878 in Budapest nahmen 109 Delegierte 4 0 teil, die von den Anhängern der „Arbeiter-Wochen-Chronik" entsandt worden waren. Davon kamen 79 aus Budapest und 30 aus 25 anderen Orten des Königreiches Ungarn, so aus Ûjpest, Nagykânizsa, Szombathely, Pécs, Pâpa, Debrecen, Miskolc, Szolnok, Sopron, Komarom (einschließlich des heutigen Komarno), aus Pozsony (Preßburg, Bratislava), Kassa (Kosice), Arad, Brasso (Brasov), Temesvâr (Timiçoara), Fehértemplom (Bele Zrkvi), Eger und anderen Städten/ 1 *. Über die einzelnen Delegierten und die von ihnen vertretenen Organisationen kann nichts Näheres ausgesagt werden, da zuverlässige und detaillierte Angaben fehlen. E i n Bericht L. Frankels über den Kongreß, der in der französischen Zeitung „Égalité" veröffentlicht wurde, gibt jedoch gewisse Auskunft. Das gilt für den Hinweis, die Delegierten hatten „legale und geheime Vereinigungen verschiedener industrieller und landwirtschaftlicher Zentren" 4 2 , d. h. Gewerkschaften und Bildungsvereine mit oder auch ohne bestätigte Statuten, vertreten. Der ungarische Historiker Tibor Erényi, ein guter Kenner der ungarischen Gewerkschaftsbewegung, nimmt an, d a ß „die Delegierten des Kongresses der Partei der Nichtwahlberechtigten aus der Provinz in der Mehrheit nicht gewerkschaftliche Organisationen vertraten, sondern Bevollmächtigte waren, die unmittelbare Kontakte zu dem Budapester Parteizentrum unterhielten". 4 3 Unserer A u f fassung nach waren viele Delegierte Vertreter von Arbeiterkrankenkassen, die in der überwältigenden Mehrheit hinter der „Arbeiter-Wochen-Chronik" standen und deren Linie innerhalb der Arbeiterbewegung verfochten. Als der Kongreß stattfand, gehörten den Krankenkassen über 16 000 Mitglieder in 29 Orten des Landes an/' 4 39 40 41

M. Révész, Fôljegyzések a magyar . . ., S. 251 f. • Magyarorszàg tôrténete (Geschichte Ungarns), Budapest 1964, Bd. II, S. 123. M M T V D , Bd. 1, S. 322 £.

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Ebenda, S. 337.

43

Tanulmânyok a magyarorszâgi szakszervezeti mozgalom tôrténetébol (Studien zur Geschichte der

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ungarischen Gewerkschaftsbewegung), S. 41. M M T V D , Bd. 1, S. 150.

51

Der von den Anhängern Leo Frankels am 21.122. April 1878 durchgeführte Kongreß war der erste sozialistische Kongreß der Arbeiter Ungarns. Er wurde von den Arbeitern mit Freude und Begeisterung begrüßt. Aus verschiedenen Teilen des Königreiches und sogar aus österreichischen Städten gingen Grußtelegramme und Briefe ein/'5 Der Kongreß hatte sich die Aufgabe gestellt, eine organisierte sozialistische Arbeiterpartei zu bilden und für diese Partei ein Programm auszuarbeiten. Darüber hinaus sollte über die Kampfmethoden zur Erringung des allgemeinen Wahlrechts sowie über Fragen der sozialistischen Presse und der Propaganda beraten werden/'6 Es handelte sich also um politische Fragen; die ökonomische Problematik wurde dagegen nicht erörtert, was entsprechend den Erklärungen, die von den Organisatoren des Parteitages bei den vorangegangenen Unterredungen auf der Polizeibehörde abgegeben worden waren, auch nicht vorgesehen war.47 Die Tatsache, daß der politische Kämpf in den Vordergrund gestellt wurde, ist zweifellos positiv zu werten, dennoch gab es eine Vielzahl von ökonomischen Problemen des Proletariats in Ungarn, die auch Berücksichtigung hätten finden müssen. Bekanntlich konnten aus den genannten Gründen auf dem Kongreß nur die Fragen diskutiert werden, zu deren Erörterung das Einverständnis der Behörden vorlag. In diesem Falle waren das Fragen des allgemeinen Wahlrechts. „Sozialistische Programmpünkte wurden auf dem Parteitag in der Tat niqht berührt und konnten auch gar nicht zur Sprache gebracht werden, denn die Regierung hätte es nicht geduldet. Es war jedoch notwendig, die Grundlagen einer Organisation zu schaffen, und dafär galt es, die erste Gelegenheit währzunehmen; es war notwendig zu zeigen, daß wir existieren", schrieb L. Frankel in der französischen Zeitung „Égalité". 48 Der Kongreß gründete eine solche Organisation, die Partei der Nichtwähler (oder Partei der Nichtwahlberechtigten). Frankel wertete diesen Akt als ersten Schritt zur Schaffung einer sozialdemokratischen Partei Ungarns. Auf dem Gründungskongreß der Partei der Nichtwähler wurden zwei Fragen erörtert: 1. das allgemeine Wahlrecht, 2. Wege und Mittel zur Verwirklichung dieses Zieles. Die neue Arbeiterpartei konzentrierte ihr Augenmerk auf die Entfaltung des politischen Kampfes der Arbeiterklasse, auf die Erkämpfung' politischer Rechte und vor allem des allgemeinen Wahlrechts. Entsprechend dieser Aufgabenstellung wandte sich der Kongreß an alle diejenigen, denen das Wahlrecht vorenthalten wurde. Dem Parlament wurde eine Petition zugeleitet, in der man die Abschaffung des Wahlzensus und die Einführung des allgemeinen Wahlrechts beantragte.49 Zum zweiten Punkt der Tagesordnung wurde der Beschluß gefaßt, „alle gesetzlich erlaubten Mittel für die Erwirkung und die gesetzliche Verankerung des allgemeinen Wahlrechts zu nutzen und im ganzen Lande dafür zu agitieren."50 Als wirksamste Mittel, um dieses Ziel zu erreichen, betrachtete der Kongreß: 1. die Bildung einer Partei der Nichtwahlberechtigten in Ungarn, die sich die Erwirkung des allgemeinen Wahlrechts zur Aufgabe stellt und der alle Nichtwahlberechtigten beitreten können; 2. die Eingabe einer Kollektivpetition an das Parlament; 3. die ausschließliche Wahl von Abgeordneten bei den nächsten Parlamentswahlen, die sich schriftlich verpflichtet hatEbenda, S. 323. « Ebenda, S. 321.

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OLBM, 1878-XIV-220, S. 143. MMTVD, Bd. 1, S. 338; OLBM, 1878-490, S. 14. MMTVD, Bd. 1, S. 332 £f. OLBM, 1878-XIV-220, S. 104; MMTVD, Bd. 1, S. 327.

ten, sich.für das allgemeine Wahlrecht zu verwenden. 51 Durch den ersten Punkt dieses Beschlusses wurde eine breite Plattform geschaffen, die selbst Vertretern der Bourgeoisie, die des Wahlrechts beraubt waren, den Eintritt in die Partei ermöglichte. Damit erhielt die Partei die Möglichkeit, unter der Führung der Arbeiterklasse alle Kräfte im Kampf um das allgemeine Wahlrecht zu vereinen. Auf dem Kongreß wurde versucht, ein Exekutivkomitee, bestehend aus 21 Mitgliedern, zu bilden, das für die Verwirklichung der Beschlüsse sorgen sollte. Der anwesende Regierungsvertreter, der stellvertretende Polizeichef von Budapest, Sändor Bajkai, untersagte jedoch die Bildung einer derartigen Körperschaft. 5 2 Trotz aller Behinderungen durch die Behörden beschränkten sich die Ziele und Aufgaben der Partei nicht auf die Agitation für das allgemeine Wahlrecht. D a s macht sogar das an alle Nichtwahlberechtigten gerichtete „Manifest" des Kongresses deutlich. 53 E s handelt sich dabei um ein im gewissen Sinne originelles programmatisches Dokument, das eine Reihe prinzipieller Fragen aufgreift, sie aber nicht als Forderungen formuliert. In diesem Dokument wird auf die Verantwortlichkeit der Unternehmer für den Arbeitsschutz in den Industriebetrieben sowie auf das Steuersystem eingegangen. Die Zweckmäßigkeit eines stehenden Heeres wird in Frage gestellt und andeutungsweise von der Ersetzung der Armee durch eine Volksmiliz gesprochen. Ferner wird darauf hingewieseni daß es angebracht sei, die Religion zur Privatangelegenheit eines jeden Bürgers zu erklären und die Kirche vom Staate zu trennen, sowie daß jeder Bürger Anspruch auf eine kostenlose wissenschaftliche Ausbildung habe und daß der Wahlzensus abzuschaffen sei. 54 Dieses „Manifest", wahrscheinlich weitgehend von Leo Frankel abgefaßt, weist Berührungspunkte mit den für jene Zeit charakteristischen Programmen der Arbeiterparteien Westeuropas auf. So findet sich hier die These: „Arbeit ist die einzige Quelle allen Reichtums und der Kultur". 0 5 D i e Gründung einer legalen Arbeiterpartei - der Partei der Nichtwähler - war zweifellos eine bemerkenswerte Errungenschaft der sozialistischen Arbeiterbewegung Ungarns. Die Arbeiterklasse des Lande? trat damit als reale und organisierte politische K r a f t auf. Und wenn auf dem Kongreß auch nicht alle Aufgaben und Ziele der Arbeiterpartei ausführlich erörtert werden konnten, so trug er doch in nicht geringem Maße zur politischen Aufklärung der Arbeiter bei und ließ diese die Notwendigkeit erkennen, den Kampf gegen die Ausbeuterklasse aufzunehmen. 56 Kurze Zeit nach dem Kongreß der Partei der Nichtwahlberechtigten, am 9./10. Juni 1878, fand der Parteitag der unter dem Einfluß der Külföldi-Gruppe stehenden und sich um die Zeitung „Nepszava" gruppierenden Arbeitervertreter statt. An diesem Kongreß nahmen lediglich 54 Delegierte teil, 57 was vor allem auf den Modus der Wahl der Delegierten zurückzuführen war, der sich von dem zum Kongreß der anderen Partei etwas unterschied. Über die Delegierten dieses Kongresses liegen genauere Angaben vor. Sie gliederten sich in zwei Kategorien - die von den Arbeitervereinen entsandten Delegierten (21 Teilnehmer) und die auf. öffentlichen Arbeiterversammlungen gewählten 51

Ebenda.

62

MMTVD, Bd. 1, S. 327 f. Ebenda, S. 330 ff. Ebenda, S. 331 ff. Ebenda, S. 331. Ebenda, S. 322 ff. Ebenda, S. 352.

53 54 55 66 57

53

Delegierten (33 Teilnehmer) ,r>s Aus den Dokumenten ist zu ersehen, daß dem Parteitag zahlreiche Arbeiterversammlungen vorangegangen waren, auf denen die Tagesordnung des bevorstehenden Kongresses beraten wurde. Nach den Unterlagen über eine Versammlung der Budapester Schneider im Mai 1878 hatte jeder Stadtbezirk nur das Recht, einen Delegierten zu entsenden; 59 da es damals in Budapest zehn Bezirke gab, .läßt sich mit Sicherheit sagen, daß die Mehrheit der Delegierten, die auf öffentlichen Versammlungen gewählt worden waxen, nicht aus der Hauptstadt, sondern aus einer Reihe anderer Städte Ungarns kam. In einem der Polizeiberichte über diesen Kongreß ist die Zahl von 130 bis 150 anwesenden Personen vermerkt. 60 Der Kongreß beschloß die Gründung der Arbeiterpartei Ungarns und beriet eine ganze Reihe außerordentlich wichtiger Fragen. Neben dem allgemeinen Wahlrecht waren das vor allem ökonomische 'Forderungen, so die Begrenzung des Arbeitstages auf maximal 10 Stunden, die Festsetzung eines Mindestlohnes für den Arbeitstag, der Schutz der Frauen- und Kinderarbeit u. a. 6 1 Diese Forderungen standen damals zweifellos im Mittelpunkt des Interesses und fanden bei den Arbeitern starke Resonanz. Einige wichtige Punkte des Kongreßbeschlusses der Arbeiterpartei Ungarns seien genannt, da sie als das eigentliche Programm aufzufassen sind. Zum ersten Punkt der Tagesordnung - die Stellung des Arbeiters in Staat und Gesellschaft - wurde ein Beschlußentwurf Külföldis angenommen, dessen Kern beispielsweise folgende Forderungen waren: die Erweiterung der politischen Rechte und Freiheiten unabhängig von der nationalen Zugehörigkeit, von der Vermögenslage, von der sozialen Herkunft und vom Glaubensbekenntnis; die Aufhebung des Vermögenszensus, die Einführung des allgemeinen Wahlrechts, die Abschaffung der zahlreichen Steuern und die Einführung einer einheitlichen Einkommenssteuer; die kostenlose Bildung; die Begrenzung des Arbeitstages auf maximal 10 Stunden; die Festsetzung eines Mindestlohnes für einen Arbeitstag in Höhe von 1 Forint 50 Kreuzern u. a.(>- Bei der Kennzeichnung des ersten Punktes des Beschlusses stellte M. Revesz fest, daß darin „die weitgehendste Erweiterung der politischen Rechte und Freiheiten unabhängig von der Nationalität, dem Besitz und der religiösen Zugehörigkeit" gefordert wird. R:i Der Kongreß übte an der 1872 in Kraft getretenen Industriegesetzgebung Kritik und erhob konkrete Forderungen zu deren Veränderung. In dem Beschluß zu diesem Punkt wird darauf hingewiesen, daß in Ungarn die „aus der freien Konkurrenz hervorgegangene Ausbeutung" keiner, nicht einmal einer teilweisen Beschränkung unterworfen sei und daß diese Industriegesetzgebung den Kapitalisten Gelegenheit gebe, „die Arbeiter auf das Schamloseste auszubeuten". fiiI Es wurde die Forderung erhoben, die Industriegesetzgebung in folgender. Hinsicht abzuändern: maximaler 10-Stunden-Arbeitstag, Abschaffung der Überstunden durch Androhung strenger Bestrafung, Verbot von Arbeit an freien Tagen und an Feiertagen, Festsetzung eines Mindestlohnes, Fixierung eines bestimmten Verhältnisses zwischen der Zahl von Lehrlingen und von Arbeitern in den 58

Nepszava, 23. 6. 1 8 7 8 ; OLBM, 1 8 7 8 - 5 i I V - 2 2 0 , S. 14, 20.

59

OLBM, 1 8 7 8 - X I V - 2 8 2 , S. 82 f.

60

OLBM, 1 8 7 8 - X I V - 2 2 0 , S. 6.

81

Magyarorszag törtenete, S. 1 2 3 ; M M T V D , Bd. 1, S. 342.

62

OLBM, 1 8 7 8 - X I V - 2 2 0 , S. 1 6 ; M M T V D , Bd. 1, S. 3 4 1 f. M. Revesz, Följegyzesek a magyar . . . , S. 252. O L B M , 1 8 7 8 - X I V - 2 2 0 , S. 1 8 ; M M T V D , Bd. 1, S. 3 4 3 .

w

54

Betrieben, um die Ausbeutung'von Kinderarbeit einzuschränken, Bildung gemischter Kommissionen aus Arbeitern und Unternehmern zur Klärung von Streitfragen und anderes mehr.'" Bemerkenswerterweise wurde auf dem Kongreß von einigen Delegierten sogar schon der 8-Stunden-Tag gefordert. 6 6 Auf dem Kongreß wurde die Frauen- und Kinderarbeit als selbständiger Punkt behandelt. Um die schwere Lage der Frauen und Kinder zu erleichtern, wurden die Gleichberechtigung der Frau, gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit und das Verbot der Nachtarbeit für Frauen verlangt. 6 7 Im Beschluß zum achten Tagesordnungspunkt wurde das Wahlrecht als „unabdingbares, selbstverständliches Recht eines jeden Bürgers" bezeichnet und zugleich darauf hingewiesen, d a ß von 15-16 Millionen Menschen in Ungarn nicht mehr als eine Million Bürger dieses Recht in Anspruch nehmen durften. Daher forderte der Kongreß „für jeden Bürger vom 20. Lebensjahr an das allgemeine, gleiche, direkte, geheime und obligatorische Wahlrecht". 6 8 Diese Forderungen des Kongresses waren, entsprechend d e m Beschluß zum zehnten Tagesordnungspunkt, als programmatische Forderungen der Partei anzusehen; sie spielten zweifellos eine positive Rolle, vermochten sie doch die breiten Massen zu mobilisieren und, wie E . Vincze bemerkte, „sie für sozialistische Ideen zu gewinnen". 6fl Neben den auf dem Gründungskongreß der Arbeiterpartei Ungarns gestellten programmatischen Forderungen verdienen noch einige konkrete Überlegungen der Parteiführung über die Veränderung der Regierungsform hervorgehoben zu werden. Sie wurden einige Zeit später in einem Artikel unter der Überschrift „Ip welcher Weise wünschen die Sozialisten die Regierungsforrii zu verändern" veröffentlicht. Darin wurde u. a. folgendes vorgeschlagen: Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts für alle Bürger, die das 20. Lebensjahr erreicht haben; das Recht, Gesetze anzunehmen oder außer K r a f t zu setzen, sollte ausschließlich'dem ganzen Volk vorbehalten bleiben; über Krieg und Frieden sollte nur durch allgemeine Volksabstimmungen entschieden werden; Abschaffung aller auf der sozialen Stellung, dem Besitz und der Zugehörigkeit zu bestimmten Glaubensbekenntnissen beruhenden Privilegien; allgemeine Wehrpflicht, Ablösung des stehenden Heeres durcheine Volksmiliz; Aufhebung aller Ausnahmegesetze und Verordnungen, durch die die Rede- und Pressefreiheit und das Recht, sich in Vereinen zusammenzuschließen, beeinträchtigt werden; Übertragung der Rechtspflege an das Volk und kostenlose Rechtsprechung; allgemeine und gleiche kostenlose obligatorische Volksbildung, Verbot des Religionsunterrichts in den Schulen; die Religion sollte zur Privatangelegenheit eines jeden Bürgers erklärt werden. 7 0 Leider gibt der Artikel keinen Hinweis darauf, welcher Staatsform die Führer der Arbeiterpartei Ungarns den Vorzug gegeben hätten, aber die von ihnen genannten Forderungen lassen erkennen, d a ß ihr Programm des durchzuführenden staatlichen Umbaus fortschrittlichen Charakter trug. Der einzige Punkt des vom Kongreß der Arbeiterpartei Ungarns angenommenen Beschlusses, der der Partei der Nichtwahlberechtigten begründeten Anlaß zur Kritik an 65 67

66 M M T V D , Bd. 1, S. 343. OLBM, 1 8 7 8 - X I V - 2 2 0 , S. 7. Ebenda, S. 2 2 ; M M T V D , Bd. 1, S. 344 f.

68

Ebenda, S. 28.

f>0

5. E„ Vincze, Küzdelcm az ömällo proletärpärt megteremteseert Magyarorszagon (Der Kampf um die Schaffung einer selbständigen proletarischen Partei in Ungarn), Budapest 1963 S. 43 M M T V D , Bd. 1, S. 373.

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55

der P a r t e i g a b , w a r der P u n k t über die A r b e i t e r b i l d u n g s v e r e i n e . D a s S t r e b e n , solche V e r e i n e zu gründen, w a r zweifellos positiv und n o t w e n d i g , d a sie die A u f k l ä r u n g der A r b e i t e r f ö r d e r t e n . D e r auf dem K o n g r e ß a n g e n o m m e n e V o r s c h l a g J ö z s e f E i d l s , in dem die V o r s t e l l u n g e n S c h u l z e - D e l i t z s c h s von staatlicher H i l f e ihre W i d e r s p i e g e l u n g

fan-

den, ging j e d o c h davon aus, d a ß diese V e r e i n e die e r f o r d e r l i c h e n L e h r m i t t e l v o m S t a a t erhalten und d a ß die L e h r v e r a n s t a l t u n g e n v o m S t a a t e finanziert w e r d e n sollten. 7 1 E i n derartiges System hätte die A r b e i t e r b i l d u n g s v e r e i n e zweifelsohne der K o n t r o l l e des v o n der B o u r g e o i s i e und den G u t s b e s i t z e r n beherrschten Staates u n t e r w o r f e n . E s w a r d a h e r falsch und schadete der A r b e i t e r b e w e g u n g . N a c h d e m es zur organisatorischen Spaltung der sozialistischen A r b e i t e r b e w e g u n g gek o m m e n w a r , gingen çjie A u f f a s s u n g e n der b e i d e n P a r t e i e n in taktischen F r a g e n noch s t ä r k e r auseinander. W ä h r e n d m a n in so wichtigen politischen und ideologischen

Fra-

gen w i e K r i e g und F r i e d e n ( H a l t u n g zur P o l i t i k militärischer E r o b e r u n g e n ) und V e r urteilung des A n a r c h i s m u s gleiche Positionen einnahm, v e r t r a t e n die beiden

Parteien

im H i n b l i c k auf die B e z i e h u n g e n , die eine P a r t e i der A r b e i t e r k l a s s e zu den politischen P a r t e i e n der B o u r g e o i s i e unterhalten sollte, sehr unterschiedliche S t a n d p u n k t e . D i e s e s V e r h ä l t n i s zu den bürgerlichen P a r t e i e n , genauer gesagt, die F r a g e , ob mit dem linken F l ü g e l der bürgerlichen U n a b h ä n g i g k e i t s p a r t e i z u s a m m e n g e a r b e i t e t w e r d e n konnte, w a r einer der zentralen Streitpunkte zwischen b e i d e n P a r t e i e n . In dieser F r a g e begingen b e i d e P a r t e i e n F e h l e r , o b w o h l sie ganz Auffassungen

vertraten.

Zusammenarbeit

Die

mit d e m

Partei

der N i c h t W ä h l e r

linken F l ü g e l

der

sprach

sich

parlamentarischen

entgegengesetzte

für

die

Opposition

politische aus,

die

A r b e i t e r p a r t e i U n g a r n s lehnte dagegen eine solche M ö g l i c h k e i t kategorisch ab. Z w e i fellos w u r d e in dieser F r a g e von den NichtWählern der richtigere S t a n d p u n k t v e r t r e t e n , brauchte doch die A r b e i t e r k l a s s e im K a m p f gegen die r e a k t i o n ä r e n K r ä f t e der R e g i e rung einen zeitweiligen V e r b ü n d e t e n , d. h. die Z u s a m m e n a r b e i t mit dem linken F l ü g e l der liberalen B o u r g e o i s i e , um gewisse b ü r g e r l i c h - d e m o k r a t i s c h e F r e i h e i t e n zu e r l a n g e n ; dies w a r in dieser Situation, im K a m p f um das a l l g e m e i n e W a h l r e c h t , v o l l gerechtfertigt. E s ist a b e r nicht zu übersehen, d a ß im R a h m e n dieser Z u s a m m e n a r b e i t

zuweilen

Zugeständnisse an die B o u r g e o i s i e gemacht w u r d e n , was w i e d e r u m nicht v e r t r e t b a r w a r . Aus der von uns durchgeführten knappen A n a l y s é der L a g e der A r b e i t e r b e w e g u n g in U n g a r n in den J a h r e n , in denen sie in eine K r i s e geriet und der Spaltung entgegenging, lassen sich gewisse S c h l u ß f o l g e r u n g e n

ableiten.

E s w a r ein langer und q u a l v o l l e r W e g , den die A r b e i t e r k l a s s e U n g a r n s im R i n g e n um eine legale sozialistische A r b e i t e r p a r t e i zurücklegen m u ß t e . D i e E n t w i c k l u n g der A r beiterbewegung

politische V e r h ä l t n i s s e

behindert,

sondern k o m p l i z i e r t e sich zusätzlich durch innere P r o b l e m e ; D i e Z e i t u n g

w u r d e nicht nur durch schwierige

„Arbeiter-

W o c h e n - C h r o n i k " w a r das Z e n t r u m , um das sich die besten K r ä f t e des P r o l e t a r i a t s , die sich um die G r ü n d u n g einer proletarischen P a r t e i und um die wirtschaftlichen und politischen Interessen der A r b e i t e r k l a s s e b e m ü h t e n , s a m m e l t e n . D i e D i f f e r e n z e n ,

die

nach L . F r a n k e l s E i n t r i t t in die R e d a k t i o n der Zeitung über die B e s e t z u n g d e r - R e d a k tionsposten a u f t r a t e n , untergruben j e d o c h die E i n h e i t dieses Führungsstabes der A r b e i terbewegung. D e r innerhalb der F ü h r u n g zwischen den b e i d e n G r u p p e n ausgefochtene K a m p f l i e ß nach und nach organisatorische und taktische- M e i n u n g s v e r s c h i e d e n h e i t e n entstehèn und begünstigte den S p a l t u n g s p r o z e ß .

71

56

Ebenda, S. 347.

E r f a h r u n g e n dieser P e r i o d e bestätigen d a h e r die B e r e c h t i g u n g v o n L e n i n s

Feststel-

l u n g : „ J e d e , selbst die geringfügigste, D i f f e r e n z k a n n politisch g e f ä h r l i c h w e r d e n , wenn die M ö g l i c h k e i t besteht, d a ß sie sich zu einer Spaltung a u s w ä c h s t " . 7 2 D i e T a t s a c h e , d a ß trotz aller B e h i n d e r u n g e n durch die B e h ö r d e n l e g a l e

Arbeiter-

parteien gegründet w u r d e n , die die M a s s e n zu führen v e r s t a n d e n , w a r ein g e w a l t i g e r politischer Sieg der A r b e i t e r k l a s s e und ein E r f o l g dgr ungarischen Die

programmatischen

Erklärungen

der

Arbeiterbewegung.

beiden A r b e i t e r p a r t e i e n stellten dem P r o -

l e t a r i a t U n g a r n s im K a m p f um die V e r w i r k l i c h u n g seiner politischen und s o z i a l ö k o n o mischen Z i e l e wichtige und aktuelle A u f g a b e n . U n g e a c h t e t der organisatorischen T r e n nung w a r e n sich die P a r t e i e n in einigen F o r d e r u n g e n einig. Sie erstrebten das gleiche E n d z i e l ( B e f r e i u n g des P r o l e t a r i a t s ) , sie stimmten in der u n m i t t e l b a r zu lösenden A u f g a b e ( a l l g e m e i n e s W a h l r e c h t ) ü b e r e i n , sie v e r t r a t e n gleiche A u f f a s s u n g e n in so w i c h t i gen politischen und ideologischen Fragen wie N o t w e n d i g k e i t einer politischen M a s s e n partei der A r b e i t e r , V e r b u n d e n h e i t mit den I d e e n des Sozialismus und B e k e n n t n i s zum proletarischen

Internationalismus.

I m H i n b l i c k auf die T a k t i k und die M e t h o d e n , die im K a m p f um die aufgezeigten Z i e l e und A u f g a b e n a n g e w a n d t w e r d e n sollten, v e r t r a t e n die b e i d e n P a r t e i e n a l l e r d i n g s unterschiedliche A u f f a s s u n g e n . D i e P a r t e i der N i c h t w a h l b e r e c h t i g t e n (die d a n k L . F r a n kel engere B e z i e h u n g e n

zur internationalen

Arbeiterbewegung

unterhielt)

rückte

die

politische A u f g a b e , für alle B ü r g e r , die das 2 0 . L e b e n s j a h r erreicht h a b e n , das allgemeine W a h l r e c h t zu e r w i r k e n , in den V o r d e r g r u n d des K l a s s e n k a m p f e s des P r o l e t a r i a t s . U m dieses Z i e l zu erreichen, a r b e i t e t e sie m i t dem linken F l ü g e l der bürgerlichen U n a b hängigkeitspartei z u s a m m e n . D i e P a r t e i f ü h r e r anerkannten z w a r die N o t w e n d i g k e i t des wirtschaftlichen

Kampfes,

schenkten

diesem

aber

nicht

genügend

Aufmerksamkeit,

sondern konzentrierten sich auf den K a m p f um das a l l g e m e i n e W a h l r e c h t . D i e A r b e i t e r p a r t e i U n g a r n s richtete dagegen ihr H a u p t a u g e n m e r k auf die alltäglichen w i r t s c h a f t lichen F o r d e r u n g e n der A r b e i t e r k l a s s e sowie auf die O r g a n i s i e r u n g der G e w e r k s c h a f t s b e w e g u n g . G l e i c h z e i t i g k ä m p f t e sie für das a l l g e m e i n e W a h l r e c h t (als B e s t a n d t e i l a l l e r bürgerlichen R e c h t e und F r e i h e i t e n ) und stellte sich dieselben A u f g a b e n w i e die P a r t e i der N i c h t w a h l b e r e c h t i g t e n ; ein Z u s a m m e n g e h e n mit P a r t e i e n der B o u r g e o i s i e lehnte sie j e d o c h kategorisch a b . T r o t z der b e m e r k e n s w e r t e n E r f o l g e , die die A r b e i t e r b e w e g u n g zu verzeichnen h a t t e , m u ß auf die unbestreitbare T a t s a c h e hingewiesen w e r d e n , d a ß der F r a k t i o n s k a m p f und die Spaltung, d. h. die Z e r s p l i t t e r u n g der K r ä f t e und der V e r z i c h t auf die E i n h e i t des P r o l e t a r i a t s , der A r b e i t e r b e w e g u n g insgesamt e m p f i n d l i c h s c h a d e t e n . D i e progressiven K r ä f t e des P r o l e t a r i a t s in U n g a r n e r k a n n t e n , d a ß die S p a l t u n g nur den herrschenden K l a s s e n zum V o r t e i l gereichte. D a n k der B e m ü h u n g e n , die in b e i d e n P a r t e i e n von den V e r t r e t e r n dieser progressiven R i c h t u n g u n t e r n o m m e n w u r d e n , gelang es der A r b e i t e r k l a s s e U n g a r n s , die S p a l t u n g zu ü b e r w i n d e n und 1 8 8 0 a l l e K r ä f t e in der A l l g e m e i n e n A r b e i t e r p a r t e i U n g a r n s zu v e r e i n i g e n . In dem P r o g r a m m dieser P a r t e i f a n d e n die wichtigsten F r a g e n des proletarischen K l a s s e n k a m p f e s und alle die A r b e i t e r klasse d a m a l s b e w e g e n d e n G r u n d p r o b l e m e ihre W i d e r s p i e g e l u n g . 72

W. I. Lenin, Werke, Bd. 32, S. 63.

57

Bakunin und einige Aspekte der nationalen Frage bei den slawischen Völkern im 19. J h . MIKLOS KUN

Zu den bedeutendsten, aber auch widersprüchlichsten Persönlichkeiten der russischen und internationalen revolutionären Bewegung im 19. Jh. gehört M. A. Bakunin. D e r folgende Aufsatz soll kein vollständiges Bild vom Wirken Bakunins entwerfen, sondern Wesen und Entwicklung seiner Auffassungen über die. nationale Frage und nationale Bewegung bei den slawischen Völkern untersuchen. Ausführlich werden Bakunins B e ziehungen zu den südslawischen Völkern behandelt. Im Mittelpunkt steht nicht die Schilderung von Vorgängen, sondern die Analyse der politischen Bestrebungen Bakunins in der nationalen Frage. Auf die äußerst negative Rolle Bakunins in der internationalen Arbeiterbewegung wird nur am Rande eingegangen, da diese sich auf die zweite Hälfte der sechziger Jahre bezieht und deshalb außerhalb des chronologischen Rahmens der Untersuchung liegt. Daher kann nur auf die umfangreiche Historiographie zu diesem Thema verwiesen werden, die wegen der Bedeutung des Themas und für die Auseinandersetzung mit bürgerlichen Kritikern der I. Internationale und der marxistischen Arbeiterbewegung großes Interesse verdient. 1 D i e Beziehungen M. A. Bakunins zu den Südslawen und seine Arbeiten über Schicksal der Balkanvölker sind ein organischer und integrierter Bestandteil seiner „demokratischen" panslawistischen ( 1 8 4 7 - 1 8 4 9 , 1 8 5 7 - 1 8 6 2 ) und später anarchistischen ( 1 8 6 9 - 1 8 7 6 ) Auffassungen und Theorien. In keiner dieser Perioden vermochte er in gleicher Weise auf alle slawischen Politiker dieser geographischen Region einzuwirken einmal waren es die* Kroaten und Serben, dann wieder die Bulgaren, die in dem ihn umgebenden Kreise zahlreicher vertreten waren. E r verwandte jedoch in den meisten sich auf unser Thema beziehenden Arbeiten den Ausdruck „südslawisch" und hob damit die nahe Verwandtschaft dieser Völker und deren gemeinsame Probleme hervor. E r war davon überzeugt, daß diese Völker eine eigene Entwicklung durchgemacht hatten, betrachtete dennoch die Südslawen nicht losgelöst von der Geschichte der Balkanhalbinsel und im weiteren Sinne von der Europas. Selbst in den Schriften, in denen Anzeichen eines slawischen Nationalismus deutlich wahrnehmbar sind, ist immer wieder * A. A. GalaktionovJP. F. Nikandrov, Russkaja filosofija X I - X T X vekov, Leningrad 1970; dies., Ideologija russkogo narodnicestva, Leningrad 1 9 6 6 ; M. I. Micbajlov, Bor'ba protiv bakunizma v I Internacionale, Moskau 1 9 7 6 ; V. G. Dzangirjan, Kritika anglo-amerikanskoj burzuaznoj istociografii M. A. Bakunina i bakunizma, Moskau 1 9 7 8 ; N. Ju. KolpinskijfV. A. Tvardovskaja, Bakunin v russkom i mezdunarodnom osvoboditel'nom dvizenii, in: Voprosy istorii, 1964, H. 10, S. 69 ff.; A. I. Novikov, Nigilizm i nigilisty, Leningrad 1 9 7 2 ; I. K. Pantin, Socialisticeskaja mysl' v Rossii. Perechod ot utopii k nauke, Moskau 1973.

59

von einem Bündnis der Slawen mit ihren Nachbarn, d. h. mit den Rumänen, Ungarn und Griechen, die R e d e . E i n solches Bündnis müsse auf demokratischen Prinzipien beruhen und sei Mittel und Zweck,_ um nationale K o n f l i k t e zu lösen. In seiner letzten, anarchistischen Periode vertrat Bakunin jedoch den Standpunkt, d a ß eine gleichberechtigte Beteiligung der Südslawen am politischen Geschehen in E u r o p a durch die V e r stärkung der Arbeiterbewegung in der ganzen W e l t und durch die Negation der staatlichen

Organisation,

d. h. die Abschaffung

des nationalen

Staatssystems,

begünstigt

würde. O b w o h l sich sein Verhältnis zu den Südslawen und zu der B a l k a n p r o b l e m a t i k während der verschiedenen

Perioden seines Wirkens wandelte, blieben doch

bestimmte

charakteristische Grundzüge bestehen. Angesichts der Tatsache, d a ß diese Grundzüge kontinuierlich hervortreten, und in Anbetracht der Unvollständigkeit des Quellenmate'rials ist eine eingehende Untersuchung der Beziehungen Bakunins zu den Südslawen gerechtfertigt. E s m u ß jedoch von vornherein darauf hingewiesen werden, daß wir hier auf Bakunins besser erforschte Beziehungen nach 1 8 6 2 , die einen organischen Bestandteil der revolutionären Traditionen des B a l k a n s bilden, nur kurz eingehen wollen und d a ß wir uns auf seinen „demokratischen" Panslawismus, der als Ausgangspunkt für diese Beziehungen anzusehen ist, konzentrieren. D e r B e g r i f f „Panslawismus" wurde nicht von Bakunin selbst, sondern von seinen A n hängern in Westeuropa und Polen verwendet. Dieser Begriff hatte dort einen antirussischen B e i k l a n g . In den Veröffentlichungen von Gelehrten und politischen Schriftstellern der slawischen L ä n d e r verlor sich allmählich dieser negative Sinn, und der B e g r i f f gewann nach und nach, vorwiegend in antideutschen und antiungarischen

Polemiken,

die Bedeutung von nationaler Wiedergeburt, politischer Zusammenarbeit und kultureller Gemeinschaft der Slawen. Bakunins Vorstellungen von der Gesamtheit der Slawen konnten in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. J h . allerdings nur oberflächlich sein, war er doch auf Schilderungen von Reisenden angewiesen ( I V . 1 3 2 ) 2 . E i n i g e Forscher behaupten, d a ß Bakunin in der Zeit seines Brüsseler E x i l s ( D e z e m b e r 1 8 4 7 - F e b r u a r 1 8 4 8 ) von dem bekannten polnischen Historiker J o a c h i m Lelewel, der nach dem erfolglosen Aufstand 1830/31 ins E x i l gehen mußte und der für die revolutionäre E i n h e i t der slawischen V ö l k e r eintrat, in dieser Richtung Anregungen erhalten habe und d a ß beide zusammen die Statuten einer „Altslawischen"

Geheimgesellschaft

entworfen hätten. 3 F ü r diese Vermutung liegen jedoch keine ausreichenden Beweise vor. A u ß e r d e m kann Bakunins ideologisches System, wie es in seinen bekannten Schriften und in seiner Korrespondenz zum Ausdruck kommt, vor M a i 1 8 4 8 keiner der verschiedenen Spielarten des Panslawismus gleichgesetzt werden, weder der russophilen Strömung, noch dem Austro-Slawismus, dem räumlich begrenzten Illyrismus, K o l l ä r s kultureller slawischer Wechselseitigkeit oder dem vom Mystizismus Mickiewiczs und

2

Wenn auf die Schriften Bakunins vor 1 8 6 1 Bezug genommen wird, stehen die genauen Angaben (Band, Seitenzahl) nach dem Verweis oder nach dem Zitat. M. A. Bakunin,

Sobranie socinenij i

pisem, 1 8 2 8 - 1 8 7 6 , Redaktion und Anmerkungen von Ju. M. Steklov, Moskau 1 9 3 4 - 1 9 3 5 , Bd. I - I V . 3

D. Nikolaevskij,

Z a nasu i vasu vol'nost', in: Novyj Zurnal, 1 9 4 3 , S. 2 7 6 . D e r Vf., der sich aus-

schließlich auf seine Erinnerungen stützt, bezieht sich auf eine Quelle, die nicht mehr auffindbar oder verlorengegangen ist. ß. S. Popkov,

der den Beziehungen J. Lelewels zu den Russen ein ganzes

Buch gewidmet hat (Pol'skij ucenyj i revoljuaioner Ioachim Lelevel'. Russkaja problematika i kontakty, Moskau 1 9 7 4 , S. 1 3 9 f., 186 ff.) nimmt darauf nicht Bezug, obwohl er sich in seiner Arbeit wiederholt mit Bakunin befaßt.

60

Towianskis durchdrungenen Polnisch-Slawischen Messianismus/' Der Panslawismus Bakunins nimmt auf Grund seiner revolutionären Tendenz eine deutliche Sonderstellung ein, weshalb er auch als „demokratischer Panslawismus" bezeichnet wird. Einige Forscher führen die panslawistische Ideologie Bakunins auf die Lehren der russischen Slawophilen zurück, besonders auf die des früh verstorbenen Kritikers K. Aksakov. 5 Diese Auffassung wird in überzeugender Weise von B. Evreinov widerlegt, der nachdrücklich darauf hinweist, daß Bakunin „für eine republikanische Konföderation der Slawen eintrat; Slawophile waren hingegen niemals Republikaner . . . , und das Bemühen um eine allslawische Föderation war ihnen ebenfalls fremd". 6 Evreinovs Argumentation kann noch durch die Tatsache ergänzt werden, daß K. Aksakov, ein früherer Freund des russischen Revolutionärs, gar kein panslawistischer Ideologe war. Bakunins Aufmerksamkeit muß durch die Negation des Etatismus, der dem sich auf die Obscina gründenden russischen Gesellschaftssystem fremd war, gefesselt worden sein. Hier sind auch die Anfänge des vor der Revolution von 1848 kaum wahrnehmbaren Panslawismus Bakunins ,zu suchen; nicht in der bewußten Hinwendung zu bereits ausgearbeiteten Konzeptionen, sondern ausschließlich in der Solidarität gegenüber den unter doppelter Bedrückung leidenden slawischen Völkern. Für die Herausbildung, den Charakter und die kritische Beurteilung der Ansichten und Aktivitäten Bakunins in der nationalen Frage und in der nationalen Bewegung ist sein Verhältnis zu Marx und zum entstehenden wissenschaftlichen Sozialismus in den vierziger Jahren besonders bedeutsam. Die Beziehungen und der Bruch mit Marx sind in gleicher Weise wichtig für die Richtung seiner ideologischen Konzeption und seiner praktischen politischen Tätigkeit. Es ist anzunehmen, daß er Marx im Frühjahr 1844 in Paris kennenlernte. Der Aufnahme des persönlichen Kontaktes ging die literarische Bekanntschaft in den Spalten der von A. Rüge redigierten „Deutsch-Französischen Jahrbücher" unmittelbar voraus. Ihre im Almanach veröffentlichten Schriften wiesen in ihrer revolutionären und kämpferischen Form Ähnlichkeiten auf, wenn auch das Methodensystem und der soziale Impuls bei Marx und Bakunin sehr unterschiedlich waren: Marx schrieb zu jenem Zeitpunkt bereits über die historische Mission des Proletariats, Bakunin lediglich über die betrogenen Massen, wobei er dem individuellen Auftreten der „einzelnen Vertreter" der Intelligenz und des Kleinbürgertums eine übermäßig große Bedeutung zuschrieb. Eine Ähnlichkeit ist dennoch nicht zufällig: Sie gehörten annähernd einer Generation an; sie gelangten nach dem Studium von Hegel und später von Feuerbach zu der Erkenntnis gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten und zur Kritik der sozialen Verhältnisse. Bakunin blieb jedoch beim linken Hegelianismus stehen, den historischen Materialismus vermochte er nicht mehr zu akzeptieren; er suchte die Richtung des weiteren Fortschritts nahezu ein Vierteljahrhundert lang auf Nebengleisen, was auch seine Entwicklung als Ideologe der nationalen Bewegung der Slawen wesentlich behinderte. Die Auffassungen von Marx und Engels einerseits und Bakunin andererseits zeigten bereits Mitte der vierziger Jahre einen weiteren wichtigen Unterschied: Die Begrün4

5 6

Der Illyrismus war eine Bewegung, die vor allem von Kroatien ausging, die Anhänger Towianskis und Mickiewiczs waren Polen, während zu den Anhängern der Russophilie und des Austroslawismus sowohl West- als auch Südslawen zählten. E. Pervecky, Michal Bakunin a Slavanstvo, Prudy, 1 9 2 6 , V - V I , S. 304. B. A. Evreinov, Bakunin i slavjanskij s-ezd 1 8 4 8 goda v Präge, in: Zapiski russkogo naucnogo instituta v Belgrade, Belgrad 1 9 3 6 , S. 1 3 4 f.

61

der des wissenschaftlichen Sozialismus setzten auch während ihrer publizistischen und praktischen Tätigkeit wissenschaftliche Untersuchungen fort. So konnten sie sich in ihrer revolutionären Theorie und Praxis auf umfassende Forschungen stützen. Im Leben des die Berliner Professoren mit seinen philosophischen Kenntnissen blendenden russischen Emigranten setzte dagegen der Ubergang zum Berufsrevolutionär der systematischen theoretischen Selbstbildung für längere Zeit ein Ende. Auch im Lichte der neueren Forschungen können w i r die Frage nach dem Grund dafür nicht überzeugend beantworten. Die häufigen Pariser Begegnungen mit M a r x , die langen Gespräche und Diskussionen zeugen nicht nur von einer fruchtbringenden politischen Verbindung; sie enthalten zugleich die Elemente der späteren Konfrontation. Darauf machte Rjazanov aufm e r k s a m : „ . . . innerhalb von nahezu fünf Jahren betraten M a r x und Engels einerseits, Bakunin und Herzen andererseits, obwohl sie noch 1842 a l l e dieselbe Ideensprache gebrauchten, auf radikalste W e i s e abweichende Wege und verstanden sich künftig nicht mehr. Über diese Erscheinung kann man diskutieren, man muß nach den Gründen suchen, aber nicht . . . in der Unterschiedlichkeit ihres ,Geistes' oder ihrer ,Natur' ".' Bakunin ist in vieler Hinsicht auf gefühlsmäßiger G r u n d l a g e Revolutionär geworden, was gewöhnlich nach einer gewissen Zeit zu einem retardierenden Faktor w i r d . Die tieferen sozialökonomischen Zusammenhänge der geschichtlichen Entwicklung erkannte er zu wenig und nur mit großer Verzögerung. D a r u m nahm er den Kampf nicht im N a men des Proletariats gegen eine bestimmte Klasse auf, sondern - wie er es in der Zeit des „Völkerfrühlings" zu sagen pflegte - „gegen die alte W e l t " im Namen der „Volksmassen". Sein eigenes ziemlich eklektisches ideologisches System baute er - nicht zu gleichen Teilen - aus dem Kommunismus Weitlings, aus dem französischen utopischen Sozialismus und aus Elementen des Freimaurertums, das Traditionen der A u f k l ä r u n g bewahrte, zusammen. Er nannte es eine allgemein-demokratische Ideologie. D a s Ideensystem, dessen vom eigenen Autor gegebener N a m e von der marxistischen Fachliteratur übernommen w u r d e , w a r tatsächlich sehr allgemein und unfaßbar. Sehen w i r von seinen 1849 vertretenen und in den für die Öffentlichkeit bestimmten Schriften "vorerst nicht in den Vordergrund gerückten egalitaristischen Vorstellungen ab, so können w i r feststellen, d a ß seine Ideen erst gegen Mitte der sechziger J a h r e des 19. Jh. einen anderen, mehr sozial bestimmten Inhalt bekamen. In den vierziger Jahren bezeichnete er sich mal als Sozialist, mal als Demokrat, seltener als Kommunist; auf gewisse W e i s e verband er sich mit allen progressiven Richtungen, vorbehaltlos jedoch letzten Endes mit keiner. Zweifellos wies Bakunins Ideenwelt ideologische Einflüsse von K a r l M a r x auf. Nach ihrer gemeinsamen Emigration in Paris wandte sich Bakunin den von M a r x verkündeten Ideen mit erhöhter Aufmerksamkeit zu: „Marx war damals viel extremer, als ich und unvergleichbar kultivierter. Ich hatte damals keine Ahnung von der politischen Ökonomie, und mein Sozialismus w a r ein rein instinktiver Sozialismus. Obwohl M a r x jünger w a r als ich, w a r er schon Atheist, ein ausgebildeter Materialist und ein bewußter Sozialist. G e r a d e zu jener Zeit arbeitete er . . . die ersten Grundlagen seines Systems aus. W i r trafen uns ziemlich, häufig, weil ich ihn wegen seines Wissens und wegen seiner leidenschaftlichen, ernsten . . . Hingabe . . . für die Sache des Proletariats sehr verehrte. Vollkommene N ä h e gab es jedoch zwischen uns nie. Unsere Temperamente machten das nicht möglich. Er nannte mich einen sentimentalen Idealisten, und ich hielt ihn für 7

62

D. Rjazanov,

Ocerki po istorii marksizma, Moskau/Leningrad 1 9 2 8 , I, S. 3 0 .

einen düsteren, eingebildeten und hinterlistigen Menschen", schrieb Bakunin in „Staatlichkeit und Anarchie". Selbst in diesepi, Marx gegenüber grobe Ausfälle enthaltenden Buch ist er also gezwungen einzugestehen, daß sein Denken nicht zuletzt durch die Wirkung von Marx auf den sozialistischen und materialistischen Weg geleitet wurde. J . Steklov, der sich mit den Beziehungen zwischen Marx und Bakunin in einer besonderen Studie befaßte, bemerkte, Marx habe in Bakunin „endgültig den Wunsch geweckt, mit den letzten Überresten der idealistischen Philosophie, in der er erzogen worden war, zu brechen, und weckte sein Interesse für ökonomische Fragen, deren Rolle er . . . früher nie verstand." 8 Nach den ersten Gesprächen mit Bakunin informierte Engels die Leser des englischen Organs „The New Moral World" am 5. Oktober 1844 über einige in Paris lebende russische „Grundbesitzer", die ihrer Weltanschauung nach. „radikale Kommunisten und Atheisten" seien. 3 Diese Charakteristik paßte am meisten auf Bakunin; in einem seiner früheren Briefe wurde er von A. Rüge auch so bezeichnet. Bakunin selbst legte jedoch diesen Begriff - von Marx und Engels abweichend - viel weiter aus: Mitte der sechziger Jahre bezeichnete er auch G . Babeuf und die Buonarrottisten als Kommunisten. Auf sich selbst bezogen hielt er diese Benennung auch nach seinem Anschluß an die Internationale Arbeitervereinigung für unzutreffend; in der Zeit seiner Tätigkeit in dep internationalen Arbeiterbewegung stellte er mehrfach fest, daß er sich als einen K o l lektivisten und nicht als Kommunisten betrachtete. Beim gegenwärtigen Kenntnisstand ist nicht festzustellen, ob gute persönliche Beziehungen der geistigen Annäherung von Marx und Bakunin folgten oder ob es sich umgekehrt verhielt. Tatsache ist, daß sich 1844/45 Marx ebenso wie Engels über die Annäherung von Bakunin an den Bund der deutschen Kommunisten in Paris, über seine Mitgliedschaft in der Vorwärts-Gruppe, im wesentlichen in der Redaktion, gefreut haben. Bei seinem Anschluß trennte er sich auch von seinem auf bürgerlich-demokratischen Positionen verharrenden Freund A . Rüge. Die Beziehung zwischen Marx und Bakunin, die sich allmählich zu einem politischen Bündnis festigte, wurde in den beiden Jahren vor der Revolution von 1848 durch taktische Meinungsunterschiede und Mißverständnisse unterbrochen, hinter denen sich tiefere ideologische Gegensätze verbargen; sie machten ein gemeinsames Auftreten der beiden in der Zeit des „Völkerfrühlings" unmöglich. Bakunin geriet - wie er sich selbst später erinnerte - immer mehr in Gegensatz zu den Bestrebungen, im Interesse eines wirkungsvollen Kampfes der Arbeiterklasse das Proletariat und die Besten der mit ihm sympathisierenden Intelligenz zu einer selbständigen Organisation zu formieren, die sich von den republikanischen Vereinigungen, geheimen Clubs und legalen Tischgesellschaften grundsätzlich unterschied, wie aus Briefen an P. V . Annenkov und G . Herwegh hervorgeht (III. 284, 283). Anstelle des „Bundes der Kommunisten" wählte er die außerordentlich heterogen zusammengesetzte, polnische Aristokraten und Jesuiten wie auch indifferente Persönlichkeiten umfassende internationale Kolonie zu seinem Tätigkeitsfeld. Und dies gilt in hohem Maße für seine- slawische Epoche. E s ist unbestreitbar, daß diese Entscheidung neben personell-praktischen Überlegungen auch eine.Folge seines ideologischen

8

Ju. M. Steklov,

Michail Aleksandrovic Bakunin. E g o zizn' i dejatel'nost', Bd. I, Moskau/Leningrad

1 9 2 8 , S. 189. 9

Marx/Engels,

Werke, Bd. 2, S. 5 0 7 f.

63

Kurswechsels darstellte. Im Frühjahr 1848 nahm er in Paris, später in Frankfurt, im Gegensatz zu den taktischen Vorstellungen von Marx und Engels an den Vorbereitungen des gescheiterten Einfalls der Herweghschen Legion in das Rheinland teil. Die im Verhältnis zu Marx zum Ausdruck kommende ideologische Orientierung Bakunins beeinflußte ganz wesentlich auch sein Auftreten in der nationalen Frage. Bis zum Slawenkongreß in Prag nahm er eher allgemeine paneuropäische als panslawische Positionen ein. Nach den Ereignissen in Paris im Februar 1848 gelangte er zu der Auffassung, daß die soziale Umgestaltung Osteuropas und der Aufstieg der osteuropäischen Nationen weniger durch die autonome Evolution der slawischen Nationen als vielmehr durch die Initiative der französischen Arbeiter und durch einen den ganzen Kontinent erfassenden Prozeß zu erwarten seien. „Die revolutionäre Bewegung wird nur~dann triumphieren, wenn Europa, ganz Europa, sogar einschließlich Rußlands, sich in eine föderative demokratische Republik verwandelt" (II. 294 ff.). Daß er Ende Mai 1848 mit einem die Slawen wesentlich stärker in den Mittelpunkt stellenden Programm an die Öffentlichkeit trat, läßt sich durch seine Ansicht vom Verebben der Revolution erklären, das er während seiner im April unternommenen Reise durch Deutschland zu beobachten glaubte. Was ihn selbst und seine Kontakte in Westeuropa anbelangt, so blieb er ein bewußter Demokrat, 10 der jedoch seine Ideen aus taktischen Gründen in eine „slawische Hülle" kleidete. Er blieb weiterhin Internationalist, was aus der Tatsache hervorgeht, daß der von ihm erstrebte föderative Staat nicht nur die Slawen, sondern ganz Osteuropa vereinen sollte, und daß er, was weit wichtiger ist, sehr deutlich erkannte, welche ernsten Probleme die Verknüpfung der slawischen Frage mit den inneren Problemen Österreichs zur Folge haben mußte. 11 Er betrachtete es sogar damals als seine dringendste Pflicht, den „Austro-Slawismus", der vor der Revolution von 1848 eine liberale Bewegung war, nach dem März 1848 jedoch eine immer negativere Rolle spielte, und die Russophilie, eine konservative, das autokratische System des russischen Zaren Nikolaus I. glorifizierende Ideologie, zu bekämpfen. Auf diesem politischen Hintergrund entwickelte sich seine „demokratische" panslawistische Konzeption, die im Grunde revolutionären Ursprungs war, wenn sie auch dem Geist der Zeit und des politischen Schauplatzes entsprechend nationalistisches Gepräge trug und abstrakte und emotionale Züge aufwies. Die soziale, allerdings ziemlich abstrakte Komponente seiner panslawistischen Auffassungen vom Frühjahr und Frühsommer 1848 trat in seinen Versuchen hervor, breiteste soziale Schichten für den Gedanken einer demokratischen Einheit der Slawen zu gewinnen. Die Formulierungen seiner programmatischen Erklärung „Die Begründung einer Neuen Slawenpolitik" waren unklar und außergewöhnlich abstrakt 12 (III. 300 ff.). So erklärte er, daß die Agrarfrage möglichst ohne Konflikte von den Slawen selbst zu 10

11

12

/. Pfitzner, Bakuninstudien, Prag 1932, S. 441.; Bakunin et les autres, Esquisses et portraits contemporains d'un révolutionnaire, hg. v. Arthur Lehning, Paris 1976, S. 122 ff. Endre Arato, Egykoru demokratikus nézetek az 1 8 4 8 - 1 8 4 9 , évi magyarorszâgi forradalomrôl és allenforradalomról (Zeitgenössische Auffassungen über die Revolution und Konterrevolution in Ungarn in den Jahren 1 8 4 8 - 1 8 4 9 ) , Budapest 1971, S. 20. Diese Frage wurde um die .Jahrhundertwende und auch in der Gegenwart eingehend untersucht: I. Franko, Osnovy novoj slavjan'skoj politiki Bakunina, in : Zapiski Nauki tovaristva im. Sevcenka, 1912, Bd. CIX, S. 155 f f . ; L. Orton, Bakunin's Plans for Slav Fédération, 1848, Canadian-American Slavic Studies, V i l i , I, 1974; dies' ist eine interessante moderne Studie. Der außerordentlich aufschlußreiche Artikel J. Frankos ist weniger eine wissenschaftliche als eine publizistische Abhandlung.

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lösen sei. Diese Schrift Bakunins enthält keine Ausführungen über die Agrarrevolution, die in seinem „demokratischen" Panslawismus Anfang 1849 bereits eine Rolle spielt; auch zeigt die Schrift Anklänge an die von ihm in Prag bewußt gewählte Taktik. D i e sozialen Bezugspunkte seines Slawenprogramms waren alles in allem der üblichen bürgerlich-liberalen Terminologie und Denkweise der Öffentlichkeit angepaßt und wiesen, vom demokratischen Standpunkt aus betrachtet, wenige fortschrittliche Züge auf. 1 3 In der Begründung der internationalen Slawenpolitik ging Bakunin allerdings keinerlei Kompromisse ein, und darin lag auch sein wesentliches Verdienst auf dem Kongreß. E r setzte alles daran, um eine gegen'die Habsburger und gegen die Romanovs gerichtete Gruppierung zu bilden und wirkte damit nachhaltig auf die slawischen nationalen B e wegungen des 19. Jh. ein. Am 29. Mai erschien er als geladener Gast, als Beobachter ohne Mandat im Organisationskomitee, aber schon nach kurzer Zeit bekleidete er auf dem Kongreß eine Reihe wichtiger Ämter. Auf der ersten interslawischen Tagung traten drei Arbeitsgruppen zusammen: die tschechoslowakische, die südslawische und die polnisch-ukrainische. Auf eigenen Antrag wurde Bakunin von den Mitgliedern der letzteren Gruppe beauftragt, diese gemeinsam mit W . Cibulski, dem bekannten polnischen Professor für Slawistik aus Berlin, bei den Südslawen zu vertreten (IV. 137). 1 4 Die Sektion, deren Sitzungen seit ihrer Konstituierung am l . J u n i regelmäßig von Bakunin besucht wurden, bestand hauptsächlich aus der serbischen Abordnung, der sowohl Delegierte aus Ungarn als auch aus dem serbischen Fürstentum angehörten. Auf die Stimmabgabe der Serben war es zurückzuführen, daß der Historiker und Publizist Pavao Stamatovic, Protopresbyter von Ujvidek (heute Novi Sad) und Bäcska, zum Vorsitzenden der Sektion gewählt wurde. Dieser gehörten zwei weitere hervorragende Persönlichkeiten an: Nikanor Gruic, ein tief religiöser Mann, der sich um die Förderung der interslawischen Beziehungen verdient gemacht hatte, und Jovan Subotic, der in den bürgerlichen serbischen Kreisen in Ungarn hohes Ansehen genoß. Vuk Karadzic, ein weiterer führender Vertreter der südslawischen nationalen Bewegung, zweifellos ein verdienstvoller Mann mit enzyklopädischem Wissen, paßte wegen seiner Abhängigkeit von österreichischen und russischen Geldgebern und politischer Konsequenz nicht in die Atmosphäre des Kongresses. Ljudovit G a j und I. Kukuljevic-'Saksansky, die bekanntesten kroatischen Ideologen des Illyrismus - der letztere zugleich auch einer der Initiatoren des Kongresses - kamen nicht nach Prag. Verfechter und'Begründer des Illyrismus waren jedoch in der tschechischen Hauptstadt anwesend. Dazu gehörte vor allem Stanko Vraz, der bekannte „buditel", der in Zagreb die Zeitschrift „Kolo" herausgegeben hatte und Vizepräsident dieser ersten internationalen Zusammenkunft der Slawen war. D i e wichtigsten Ämter bekleideten nicht die Serben, sondern die Kroaten, die in öffentlichen Angelegenheiten mehr Erfahrung hatten. Ihre Führer waren der glänzende Organisator und Redner Baron Dragutin Kuslan und der gewandte M. Prica. 1 5 Auch der 13

Diese Schrift Bakunins zählt nicht zu seinen gelungensten und progressivsten Arbeiten; auch hat sie die Probe der Zeit in keiner Weise bestanden. Dennoch wurde in diesem Zeitabschnitt von keinem in Osteuropa lebenden Politiker ein annähernd vergleichbares Projekt entworfen. Daraus erklärt sich auch, daß es nach 13 Jahren in einer tschechischen Emigrantenpublikation veröffentlicht wurde. Vgl. J. V. Fric, Spisy, Prag 1956, Bd. I, S. 2 2 0 - 2 2 5 .

14

Slovansky Sjezd v Praze roku 1848, Sbirka dokumentu, hg v. V. Zacek, Prag 1958, S. 204. Z. TobalkaUV. Zacek, Slovansky Sjezd v Praze 1848, Sbirka dokumentu, Prag 1952, I ; V. Karadzic,

15

5

Jahrbuch 25/1

65

mährische Delegierte Franjo Zach, der in den vierziger Jahren des 19. J h . in Belgrad als Agent des Fürsten Czartoryski tätig war und der in Prag in der Vorbereitungszeit des Kongresses als anerkannte Autorität für südslawische Angelegenheiten galt, sprach mehrfach in der Sektion. Daneben vertrat F. Zach im Frühjahr 1848 auch die antizaristischen Bestrebungen der polnischen konservativen Emigranten und die liberalen austroslawischen Bestrebungen des slawischen Bürgertums der Habsburger Monarchie. 1 6 Die Haltung der kroatischen und serbischen Delegierten auf dem Kongreß wurde im voraus durch die Entwicklung der südslawisch-ungarischen Beziehungen bestimmt. D i e Nationalbewegung der Kroaten konnte durch die von der Revolution vom 15. März 1848 allen Bürgern des Landes zuerkannten bürgerlichen Rechte und die Aufrechterhaltung der in die feudale Vergangenheit zurückreichenden Privilegien nicht befriedigt werden. Die Beziehungen zwischen Zagreb und Pest waren gegen Ende April gespannter geworden, und die kroatischen Politiker, eine unbedeutende prohabsburgische Gruppe und die sogenannte ungarische Linke ausgenommen, gerieten vor allem Mitte Mai auch mit den österreichischen Behörden in Konflikt. Infolge des Druckes der ungarischen .Regierung wurde die Erlaubnis, den Rat des Banus, praktisch des Gouverneurs von Kroatien, einzuberufen, auf der von Erzherzog Franz Karl geleiteten sogenannten Wiener Konferenz Ende Mai widerrufen. Josip Jelacic, der bestrebt war, im Rat die führende Rolle zu spielen, wurde aufgefordert, am Hofe zu erscheinen; die für den 2. Juni vorgesehene Tagung des kroatischen Sabor wurde für illegal. erklärt. Mit dem Einverständnis aller führenden kroatischen Politiker wurde am 2. Juni Jelacic, der der Dynastie sonst loyal gesinnt war, genötigt, in einem ehrerbietigen Schreiben an Ferdinand V. darauf hinzuweisen, daß er mit der Ausschaltung der Provinzialvertretung nicht einverstanden sei. Der manövrierende Hof, der aus dem revolutionären Wien geflüchtet war und in Innsbruck residierte, war sich der Loyalität Jelacics durchaus bewußt, unterstützte aber die zu dieser Zeit stärkere ungarische Regierung gegen .die kroatische Nationalbewegung. 17 Die antikroatische Kollaboration mit dem Habsburger Hofe Ende Mai, Anfang Juni ist durchaus nicht als progressiver Schritt der auf konstitutionellen Regierungsformen bestehenden Pester Regierung zu werten. D i e kroatischen Politiker einschließlich des linken Flügels des Sabor und der Abgeordneten des Slawenkongresses verfochten allerdings auch keine revolutionären Ziele. Bereits in Zagreb war beschlossen worden, daß die Südslawen, d. h. die kroatischen, serbischen und slowenischen Delegierten, einmütig ihre Loyalität gegenüber der Habsburgerdynastie bekunden sollten. Obwohl sie auf dem Kongreß von weiteren gegen die Kroaten gerichteten Maßnahmen Innsbrucks Kenntnis hatten, lehnten sie es Anfang Juni ab, sich der antiösterreichischen Minorität anzuschließen. Ihre Beiträge, selbst die D . Kuslans und M. Pricas, in denen sonst fortschrittliche Auffassungen vertreten wurden, ließen erkennen, daß sie die nationale Frage nicht ohne Unterstützung des Banus und der Geistlichkeit zu lösen wünschten. Objektiv gesehen,

1(5 17

Pismo sa slovenskogo sabora od 1 8 4 8 iz Zlatna Praga, in: Srot, 1 9 0 6 , Bd. V, S. 3 2 7 ff.; ]. Subotic, Zäpisky dra Subotice (z. r. 1 8 4 8 ) , in: Nase doba, 1 9 0 3 , Bd. X , 12, S. 8 8 5 ff.; P. Milan, Slovenska renesanca 1 7 8 0 - 1 8 4 8 , Zagreb 1 9 2 4 . V. lacek, Cehove a Poläci roku 1 8 4 8 , Prag 1 9 4 8 , Bd. II. Quellen: Kossuth Lajos az elsö magyar felelös miniszteriumban, 1 8 4 8 äprilis-szeptember (Lajos Kossuth im ersten Ministerium Ungarns, April-September, 1 8 4 8 ) , hg. v. 1. Sinkovils, Budapest 1 9 5 7 , S. 3 5 ff.; I. Mazuranic/H. Madjarom, O d govor na proglase njihove od oznjka mieseca i travuia 1 8 4 8 , Karlovac 1 8 4 8 .

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traten sie in Prag als Sprecher Jelacics auf und identifizierten sich, wenn auch nicht vorbehaltlos, mit der von F. Palacky geleiteten austroslawischen Majorität. 1 8 Viele serbische Delegierte kamen aus Kreisen, die dem Patriarchen Josif Rajacic, einem der führenden Vertreter der orthodoxen Kirche, nahestanden. Die in Karlovac tagende Skupstina hatte den obersten Odbor gewählt und diesem die Vollzugsgewalt übertragen, was für die im südlichen Teil der damaligen ungarischen Monarchie gelegene Vojvodina Loslösung von Pest bedeutete. E s ist beachtenswert, daß die antiungarische Koalition der Südslawen die serbisch-kroatischen Kontroversen in den Hintergrund treten ließ. 1 9 Bakunin mißtraute wie die Mehrheit der Kongreßdeputierten im Frühjahr 1848 der ungarischen Nationalbewegung. Die Informationen, die er aus parteiischen slawischen Quellen erhalten haben kann, müssen ihn von vornherein gegen die Ungarn eingenommen haben. Auch vertrat er den Standpunkt, daß die Wurzeln der slawisch-ungarischen Kontroverse in dem Aufbegehren des slawischen Bauern gegen den ungarischen Adel zu suchen seien, der danach trachtete, die slawischen Bauern ihres Bodens und in der Folge auch ihrer Muttersprache zu berauben (III. 349 f., 353 ff.; I V . 163). Noch Ende 1848 war Bakunin der Meinung, daß das leidenschaftliche Streben der Ungarn nach einem eigenen Staat der nationalen Entwicklung der Slawen schade. Seiner Auffassung nach gab dies jedoch der südslawischen Sektion nicht das Recht, ausschließlich auf die Vorbereitung eines Krieges gegen Ungarn zu orientieren. „Sie wünschten", erinnerte sich Bakunin in seiner „Beichte", „die übrigen Slawen davon zu überzeugen, daß alle inneren Auseinandersetzungen bis zur vollständigen Unterdrückung der Ungarn und, wie von einigen gefordert wurde, bis zu deren endgültiger Ausweisung aus dem ungarischen Territorium zurückzutreten hätten" (IV. 136). E s ist nicht ganz klar, was Bakunin mit „inneren Auseinandersetzungen" meinte. D e r russische Ausdruck „vnutrennye" kann sich in einem bestimmten Zusammenhang auf die Streitfragen im sozialen Bereich der slawischen Länder und Provinzen, aber auch auf die Kontroversen zwischen den slawischen Völkern beziehen. Eines ist jedoch sicher, daß Bakunin damals und auch in der Folgezeit diesen Standpunkt der Südslawen verwarf. Nachdem Bakunin sich im Verlauf der Sitzungen der südslawischen und der polnischukrainischen Sektionen des kriegerischen Standpunkts der Südslawen voll bewußt geworden war, trat er wahrscheinlich dagegen auf. E r ließ sich nicht dadurch irreführen, daß die „rebellische" kroatische Bewegung Anfang Juni gegen eine legitime, von den österreichischen Behörden offiziell unterstützte ungarische Regierung gerichtet war. Ungeachtet der Tatsache, daß er mit der Politik Lajos Kossuths (Führer im Ungarischen Unabhängigkeitskrieg 1848/49 und Minister in der ersten unabhängigen ungarischen Regierung unter Batthyany) und der Haltung der Batthyäny-Regierung in der Nationalitätenfrage nicht einverstanden war und es auch nicht sein konnte (III. 363, I V . 163), war er der Auffassung, daß militärische Auseinandersetzungen zwischen den Kroaten und den Ungarn dem gesamtslawischen Anliegen und auch der demokratischen Entwicklung Europas schaden. Sein Ziel war, die slawischen Völker und, was bemerkens13

19

5*

Weiteres dazu vgl. ]. Koci, Der Austroslawismus und seine Rolle in der tschechischen Politik, in: L'udovit Stur und die slawische Wechselseitigkeit, Bratislava 1969, S. 90 ff.; V.Zacek, Die Rolle des Austroslawismus in der Politik der österreichischen Slawen, ebenda, S. 134 ff. J. Tbim, A magyarorszägi 1848—1849-iki szerb fölkeles törtenete (Die Geschichte der serbischen Erhebung in Ungarn in den Jahren 1 8 4 8 - 1 8 4 9 ) , Budapest 1930, Bd. I, S. 41 ff., 128 ff.; Bd. II, S. 4 9 ff. über die spätere Entwicklung.

67

wert ist, auch die Ungarn gegen den in Innsbruck Zuflucht suchenden kaiserlichen Hof zusammenzuschließen und unter Ausschluß des Hofes in einer osteuropäischen Föderation zu vereinen. Seine Tätigkeit auf dem Kongreß diente somit der allgemeinen revolutionären Bewegung. Darüber hinaus forderte er die sofortige Abberufung der kroatischen Regimenter aus der in Norditalien stationierten Armee Radetzkys (IV. 141). Die genannten Pläne Bakunins waren nicht ganz unrealistisch. Die Zurückberufung der Regimenter forderte auch die Horvatska Levica (die kroatische Linke), und seine Kritik an den Habsburgern wurde von Ludovit Stur und anderen Slowaken sowie von radikalen tschechischen Delegierten begrüßt. Sie schenkten jedoch im Gegensatz zu Bakunin den von den europäischen revolutionären und den slawischen nationalen Bewegungen entwickelten Perspektiven durchweg wenig Beachtung. Bakunin strebte weitergesteckte Ziele an und hatte eine Abneigung gegen regionale Probleme; zeitweise trugen die letzteren jedoch zu einer Verzerrung seiner Vorstellungen von Osteuropa bei. Bakunin hatte bei der Beurteilung Jelacics, der auf dem Kongreß vielfach unterstützt wurde, vor allem die frühere Loyalität des Banus gegenüber den Habsburgern im Auge. Einige Monate später bezeichnete er Jelacic als „den eine Armee führenden Jesuiten, der imstande ist, zur Verteidigung der Interessen des raubgierigen Hofes und der ehrlosen Aristokratie jede Art von Verbrechen, Verrat und Niederträchtigkeiten zu begehen" (III. 365). Seine in Prag geäußerten abfälligen Bemerkungen über den Banus dekken sich weitgehend mit den negativen Ansichten der polnischen demokratischen Emigranten über Jelacic. F. Gordaszewski, der dem sogenannten Komitee des Generals Dwernicki angehörte, in dem sich ein Teil der polnischen Flüchtlinge in Frankreich zusammengefunden hatte, führte in einem Memorandum vom 26. Mai sein Fernbleiben vom Kongreß auf die antiungarischen Ziele der kroatischen nationalen Bewegung zurück. Er schrieb die politische Aktivität der Slawen irrtümlicherweise den Intrigen Moskaus zu. Er hatte jedoch recht, wenn er Jelacic als Werkzeug Metternichs, des führenden Politikers der Habsburger Monarchie in der ersten Hälfte des 19. Jh. und Ideologen der reaktionären Heiligen Allianz 2 0 , betrachtete. Als Bakunin auf dem Kongreß vorschlug, mit der ungarischen Regierung und mit Kossuth Verhandlungen aufzunehmen, ohne den Banus von Kroatien zu befragen, rechnete er mit der Unterstützung einiger polnischer Deputierter in Prag. Sein Plan fand bei den Südslawen keinen Widerhall, was auch nicht anders zu erwarten war. Offensichtlich konnten serbische und kroatische Politiker durch die Popularisierung der Ansichten Jelacics, der als proösterreichischet und zugleich antiungarischer slawischer Patriot dargestellt wurde, bei verschiedenen Gruppen der Kongreßdelegierten politisches Kapital schlagen. Sie bemühten sich nach besten Kräften, die Zusammenkunft der Slawen in Prag in eine betont antiungarische Richtung zu lenken. In diesem Sinne wirkte vor allem D. Kuslan, was seine intolerante Rede, die er am 3. Juli in der polnisch-ukrainischen Sektion hielt, erkennen läßt. Es gelang ihm jedoch nicht, seine Zuhörer gegen die ungarische Regierung einzunehmen. 21 Im Gegenteil, wie Bakunin selbst beobachtete, „boten die Polen (den Südslawen - M. K.) ihre Vermittlung an, was jedoch . . . von den Südslawen zurückgewiesen wurde" (IV. 136). Daß die Bemühungen der südslawischen Politiker, den russischen Revolutionär mit ihren Argumenten für Jelacic einzunehmen, erfolglos blieben, steht nicht im Widerspruch dazu, daß 20 21

68

Slovansky Sjezd v Praze, S. 1 3 1 f. Ebenda, S. 2 6 8 f f .

Bakunin in den Diskussionen in den Sektionen, die der Plenartagung vom 5. Juni vorangingen, und in privaten Unterredungen die Forderung erhob, das außerordentlich abstrakt gehaltene Programm des Kongresses abzuändern, griffen doch die kroatischen und serbischen Delegierten, die bestrebt waren, eine Front gegen die Ungarn zu errichten, das Programm von rechts an. Bakunin attackierte dagegen den Austroslawismus von links, da er in ihm in wesentlichen Fragen „allgemein"-demokratische und sogar „allslawische" Gesichtspunkte vermißte (IV. 138 ff., 157). 22 Einer der Hauptgründe für die Trennung der Mitglieder der südslawischen Sektion von Bakunin war deren Gleichgültigkeit gegenüber den slawischen Völkern außerhalb der Grenzen des Habsburger Reiches. Die Serben und Kroaten, die gegen Ungarn Stellung bezogen, verloren erstaunlich wenig Worte über das Schicksal der unter dem türkischen Joch leidenden Balkanvölker. Nicht den Serben und Kroaten, sondern Bakunin, einem Fremden, war es zu verdanken, daß in der von, dem Kongreß anzunehmenden programmatischen Erklärung „Appell an die Völker Europas" auf die unerträgliche Lage der Slawen in der Türkei eingegangen und deren nationale Befreiung gefordert wurde (IV. 476 ff.). Ungeachtet der Meinungsverschiedenheiten und Auseinandersetzungen unterhielt Bakunin als Privatmann und als Politiker gute Beziehungen zu den südslawischen Delegierten. Er bediente sich einer besonderen Taktik, die für seine „demokratischen" panslawistischen Schriften charakteristisch war und auf die bereits andeutungsweise hingewiesen wurde. Indem er unaufhörlich die Schlagworte der nationalen slawischen Bewegung wiederholte, tarnte er bis zu einem bestimmten Grade seine kritische Haltung. Außerdem kritisierte er auf dem Kongreß nicht die Völker insgesamt, sondern bestimmte reaktionäre Ideen ihrer Vertreter. 23 Neben offiziellen Kontakten ergaben sich im Juni 1848 auch freundschaftliche Beziehungen zu D. Kuslan und M . Prica sowie zu Josif Preus, dem Herausgeber der „Agramer Zeitung". Obwohl bei der Beurteilung nationaler wie auch internationaler Fragen die Auffassungen dieser drei Politiker denen Bakunins entgegengesetzt waren, ergaben sich doch auf Grund ihres progressiven sozialen Programms und des entschiedenen Eintretens für eine bürgerliche Umgestaltung Berührungspunkte zu Bakunin. 2/ ' Auch Andrija Torquat Brlic, ein namhafter Anhänger des Illyrismus, der später Jelacics V e r t r e t e r i n Paris war, berichtet von einer privaten Begegnung mit Bakunin. Er wurde zum Sekretär der südslawischen Sektion des Kongresses gewählt. 25 Über private Gespräche Bakunins mit serbischen Delegierten liegen keine Nachrichten vor; er begegnete täglich vielen Politikern der verschiedensten Nationalitäten; und es war ihm zeitlich nicht möglich, mit jedem Delegierten zu sprechen. Es wird für ihn leichter gewesen sein, sich den kroatischen Delegierten, für die eine modernere DenEbenda, S. 2 5 9 f f . Miklös Kun, A „demokratikus" pänszlävizmustol az anarchizmus feie. Mihail Bakunin politikai pälyakepe es eszmei fejlödese az 1 8 6 0 - a s evek közepen, Kandidätusi ertekezes (Vom „demokratischen" Panslawismus bis zum Anarchismus. Eine Darstellung der politischen Laufbahn Michail Bakunins und seiner ideologischen Entwicklung in der Mitte der sechziger Jahre des 19. Jh.), K a n d i datendissertation, Budapest 1 9 7 6 , S. 4 2 2 f f . 2 5 Über die Haltung der obengenannten Politiker während der Herausbildung des linken Flügels innerhalb der kroatischen nationalen Bewegung und über diesen Prozeß selbst vgl. I. I. Lescilovskaja, Nekotorye certy chorvatskogo nacional'nogo dvizenija v 1 8 4 9 g., in: V o p r o s y pervonacal'nogo _ nakoplenija kapitala i nacional'nye dvizenija v slavjanskich zemljach, Moskau 1 9 7 2 , S. 7 3 f f . 2 > S l o v a n s k y sjezd v Praze, S. 3 5 7 . 22

23

69

kungsart charakteristisch war, verständlich zu machen. Das soll nicht besagen, daß die Serben Bakunins suggestiven Reden nicht Beachtung geschenkt hätten. Jovan Subotic, ebenfalls Sekretär der südslawischen Sektion und Zensor für serbische und rumänische Literatur in Pest, den man keinesfalls als dem linken Flügel des Kongresses zugehörig betrachten kann, schrieb in seinen Erinnerungen: „Weder in der Zeit, bevor ich Bakunin kennenlernte, noch danach begegnete ich je einem Mann, der mit einer solchen Leichtigkeit die modernsten, neuesten und liberalsten Ideen und Konzeptionen zu entwickeln vermochte wie er . . . Jedes seiner Worte traf seine Zuhörer wie ein Blitz . . . wie ein vom Himmel zuckender Blitz, der beim Einschlag die Augen blendet. Oh, wie er sprechen konnte! Kossuths Ansprachen waren die eines Redners und Politikers. Bakunin trat ganz anders auf. Er sprach schlicht, als ob er sich unterhalte, aber in seinen Gedanken kam die ganze Fülle moderner Ideen zum Ausdruck. Seine Ausführungen ließen eine Vision von der Zukunft entstehen, man sah den Aufstieg der Menschheit, der Gesellschaft, der Weltgemeinschaft. Er war ein bedeutender Mann, zwar einfach in seiner äußeren Erscheinung und in seinem Auftreten . . . ein gewöhnlicher Bürger, aber mit einem hohen M a ß an Bildung und Wissen ausgestattet." 26 Ungeachtet der Tatsache, daß Bakunin und die südslawischen Delegierten im Hinblick auf die slawisch-ungarischen Beziehungen keine gemeinsame ideologische Plattform fanden und auch von einer Annäherung der Standpunkte nicht die Rede sein konnte, nahmen einige Mitglieder der südslawischen Sektion auf Grund ihrer früheren progressiven Haltung und der allgemeinen Linkswende auf dem Kongreß, vielleicht auch dank der Agitation Bakunins, an den von den tschechischen Radikalen herbeigeführten konspirativen Gesprächen teil. In der zweiten Kongreßwoche gründeten nämlich einige tschechische, slowakische, kroatische und polnische Delegierte unter aktiver Mitwirkung Bakunins eine als „Slawische Freunde" bezeichnete Geheimgesellschaft (IV. 157) 27 , deren Programm allerdings nicht bekannt ist. Da diese Gesellschaft bei den Massen keine Unterstützung fand und sich nach der Unterdrückung der Prager Erhebung die Lage ungünstig gestaltete, scheint sie ihre Tätigkeit eingestellt zu haben. Interessant ist, daß Bakunin, als er 14 Jahre später sein Bündnis mit D. Kuslan zu erneuern suchte, vorschlug, „die zerbrochene Kette wieder zusammenzufügen". 28 Es ist nicht ausgeschlossen, daß er hier auf ihre illegalen Zusammenkünfte anspielte, die in den Protokollen des Slawenkongresses unerwähnt geblieben sind. Es ist anzunehmen, daß Bakunin nach Juni 1848 noch einige Zeit konspirative Beziehungen zu südslawischen Politikern unterhielt. Wie aus Spionageberichten hervorgeht, beriet er sich, als er die Grundsätze der „Slawischen Carbonari" ausarbeitete, mit Gaj und Prica aus Zagreb. 29 Es scheint kaum denkbar, daß Bakunin zu einem solchen Zit. nach: P. Milan,

2,5

Michajlo Bakunin i Jugosloveni na svcslovenskom kongresu u Pragu god. 1 8 4 8 ,

in: Srpski K n j i z e v n i j ' G l a s n i k , B d . XII, S. 1 9 5 f f . Es ist durchaus möglich, d a ß die Mitglieder dieser Gcheimgesellschaft nicht einmal die Zeit fanden,

27

die bisher nicht a u f g e f u n d e n e n Statuten schriftlich abzufassen. 28

M. Lemke,

29

Im Zentralen Staatlichen Militärhistorischen

Ocerki osvoboditel'nogo dvizenija „sestidesjatych godov", Sankt Petersburg 1 9 0 8 , S. 8 6 f f .

die sich speziell

Archiv

der Sowjetunion

gibt es eine eigene

Akte,

mit Bakunins Balkanplänen und den Plänen der polnischen Emigranten s o w i e mit

den v o n den zaristischen Behörden dagegen eingeleiteten „ A b w e h r " - M ä ß n a h m e n b e f a ß t und D o k u mente aus der Zeit zwischen dem 6. D e z e m b e r 1 8 4 8 und dem 2 2 . J a n u a r 1 8 4 9 enthält. U n t e r den Schriftstücken der zaristischen Behörden b e f i n d e t sich ein Schreiben des Außenministers Nesselrode an den Kriegsminister C e r n y s e v

70

(eine A b s c h r i f t d a v o n w u r d e an Oberst D a n i l e v s k i j , den russi-

Zweck mit Ludovit Gaj, dem rechts ausgerichteten Ideologen des Illyrismus, zusammengearbeitet haben soll, es ist aber sehr leicht möglich, daß er mit anderen führenden Persönlichkeiten der „horvatska levica", mit D. Kuslan und M. Prica korrespondiert oder Nachrichten ausgetauscht hat. 1 Ferner ist bekannt, daß Bakunin gemeinsam mit D. Kuslan und einigen anderen Mitgliedern der südslawischen Sektion an dem Tage, da die Erhebung niedergeworfen wurde, Prag, das von Windischgraetz' Armee besetzt wurde, verließ. L. Stur, dem Führer der slowakischen nationalen Bewegung, gab er das Versprechen, in absehbarer Zeit mit ihm und seinen kroatischen Freunden in Zagreb zusammenzutreffen. 30 In den folgenden Monaten ließ Bakunin jedoch den in Prag gefaßten Plan, sich der slawischen nationalistischen Richtung anzuschließen, um deren antihabsburgischen und antiungarischen linken Flügel zu stärken, wieder fallen. In den Monaten Oktober und November überzeugte er sich immer mehr von der reaktionären Position der Führer der slawischen nationalen Bewegung, die entgegen deren persönlichen Ansichten bis zum Verrat an den Ideen der Revolution von 1848 ging. In dieser Zeit brach er auch seine Beziehungen zu den meisten früheren Mitdelegierten des Kongresses ab. In der Folgezeit forderte er die Slawen auf, sich auf der Basis neuer, über den Rahmen der damaligen nationalen Bewegungen hinausgehender Prinzipien zu vereinen. W i e auch im Juni 1848 betrachtete er die Opposition gegen die Habsburger und die Verurteilung der Russophilie als Kriterium der Einheit; femer forderte er mit Nachdruck ein Bündnis mit der gleichwohl ständig von ihm kritisierten ungarischen Regierung. Er erörterte nicht mehr die „Zukunft der Slawen", sondern agitierte ausschließlich für die Herstellung eines militärischen Bündnisses gegen Windischgraetz und für die Neutralisierung der mit diesem zusammenarbeitenden slawischen Insurgenten. Dies spiegelt sich in dem Entwurf und in der endgültigen Fassung seines „Aufrufs an die Slawen" wider, in dem einige Male auf die Südslawen Bezug genommen wird. 3 1 Es zeichnete sich jetzt" eine neue Phase des „demokratischen" Panslawismus Bakunins und seiner Beziehungen zu den Südslawen ab, als die ungarische Armee im Frühjahr sehen G e n e r a l k o n s u l in B e l g r a d , gesandt), das sich auf die oben erwähnten „Slawischen C a r b o nari"-Pläne Bakunins bezieht. D e r Kriegsminister weist u. a. auf diese „ G e f a h r " hin und ordnete mit Wissen des Zaren f ü r die russischen Einheiten bei O r s o v a A l a r m b e r e i t s c h a f t an. D e r G e n e r a l konsul in Belgrad und die sich dort a u f h a l t e n d e n zaristischen O f f i z i e r e d e r F e l d a r m e e erhielten den B e f e h l , Bakunin zu v e r h a f t e n . Z w e i Tage später sandte d e r Kriegsminister ein ähnliches Schreiben an den M i l i t ä r g e n e r a l g o u v e r n e u r v o n Novorossijsk und Bessarabien, in dem dieser d a v o n in K e n n t n i s gesetzt w u r d e , d a ß O r l o v , der Chef der Geheimpolizei, und auch Fürst Paskevic über diesen Fall auf dem D i e n s t w e g e verständigt w u r d e n . D i e zaristischen Behörden kamen a b e r trotz all ihrer Bemühungen w ä h r e n d des nächsten M o n a t s einer Lösung des Problems nicht näher. S o w u r d e in dem Bericht des K o m m a n d e u r s des V . Infanteriekorps, G e n e r a l Luders, v o m 2 2 . J a n u a r , den Z a r Nikolaus I. „persönlich zu lesen geruhte", ausgeführt, daß Bakunin, f a l l s man ihn v e r h a f t e , v o n einem zuverlässigen O f f i z i e r nach Bukarest gebracht w e r d e n w ü r d e , um von d o r t w e i t e r nach R u ß land geschickt zu w e r d e n . Gleichzeitig w u r d e aber auch zugegeben, d a ß der „gefährliche Rebell" noch nicht gefunden w o r d e n sei. D e r G e n e r a l v e r w e i s t auch auf G e n e r a l k o n s u l D a n i l e v s k i j s Bericht, dessen Nachforschungen in dieser Angelegenheit ebenfalls erfolglos geblieben w a r e n (Centraf'nyj G o s u d a r s t v e n n y j Voenno-Istoriceskij A r c h i v [ C G V I A ] , f. I, op. I, d. 1 7 5 9 7 ) . 30

Ü b e r die G r ü n d e f ü r ein derartiges V e r h a l t e n Bakunins vgl. T. lvantysynova, L ' u d o v i t Stur a Michail Bakunin v revolucii 1 8 4 8 - 1 8 4 9 , in: Zbornik Filozofickej F a k u l t y Univerzity K o m e n skeho, 2 1 / 1 9 7 0 .

31

V g l . dazu Ju. Steklov, Michail A l e k s a n d r o v i c Bakunin, ego zizn' i dejatel'nost', 1 8 1 4 - 1 8 7 6 , kau 1 9 2 6 , Bd. I, S. 3 1 9 f f . ; N. Pirumova, Bakunin, M o s k a u 1 9 7 0 , S. 1 0 4 f f .

Mos-

71

1 8 4 9 E r f o l g e errang, als, wie E n g e l s h e r v o r h o b , „die siegreichen ungarischen kräfte

die starke österreichische

A r m e e v o r sich hertrieben, triumphierend

W i e n marschiert w ä r e n und die österreichische M o n a r c h i e für alle Z e i t e n

Streit-

bis

nach

hinwegge-

fegt h ä t t e n " , 3 2 w e n n es nicht zur I n t e r v e n t i o n N i k o l a u s I . g e k o m m e n w ä r e . W i e schon auf dem P r a g e r K o n g r e ß v e r f o l g t e B a k u n i n mit g r o ß e m Interesse die slawischen, insb e s o n d e r e tschechischen und polnischen nationalen B e w e g u n g e n . D a h e r f o r d e r t e er im H i n b l i c k auf die sich abzeichnenden H i n d e r n i s s e , die der fortschrittlichen E n t w i c k l u n g E u r o p a s im W e g e standen, die S l a w e n a u f , der Intervention des russischen R e i c h e s entgegenzutreten. „ D e r russische M o n a r c h sollte E u c h aus der S k l a v e r e i b e f r e i e n ! W e l c h ein U n s i n n ! W e l c h ein unseliger I r r t u m ! S l a w e n ! H ö r t auf einen R u s s e n , der sein L a n d k e n n t und liebt und der sich im N a m e n des russischen V o l k e s an E u c h w e n d e t " ( I I I . 3 7 6 ) . Z u diesem Z e i t p u n k t hatte er eine wesentlich bessere M e i n u n g von den U n g a r n . „ D i e garn h a b e n die S c h w ä c h e der H a b s b u r g e r D y n a s t i e

deutlich b e w i e s e n ;

durch

Unihren

K a m p f h a b e n sie sich selbst und alle anderen V ö l k e r Österreichs von der S k l a v e r e i b e freit. W e r sich jetzt gegen die U n g a r n stellt, ist ein F e i n d der ganzen M e n s c h h e i t und auch seiner eigenen F r e i h e i t " ( I I I . 3 7 5 ) . 3 3 In dem „ d e m o k r a t i s c h e n " panslawistischen P r o g r a m m B a k u n i n s schienen die slawischen K o m p o n e n t e n hinter den demokratischen zurückzutreten. E r hob die B e d e u t u n g sozialer F r a g e n hervor und legte auf die plebejischen Schichten der S t ä d t e mehr

Ge-

wicht als auf die S l a w e n im a l l g e m e i n e n . W i e aus einem v o m 1 0 . D e z e m b e r 1 8 4 8 d a tierten, von dem ungarischen L i t e r a t u r h i s t o r i k e r Istvân F o d o r entdeckten B r i e f

Baku-

nins an G e o r g e S a n d hervorgeht, v e r t r a t er den S t a n d p u n k t , d a ß man sich im

Falle

einer revolutionären Situation in O s t e u r o p a auf das L a n d p r o l e t a r i a t

stützen

müsse. 3 ' 1

So b e t r a c h t e t gibt es im H i n b l i c k auf seine B e z i e h u n g e n zu den U n g a r n e b e n f a l l s rührungspunkte,

wenn

nicht sogar Ü b e r e i n s t i m m u n g

zwischen

ihm

und den

Be-

kroati-

schen L i n k e n , die sich i m m e r m e h r von J e l a c i c entfernten und r a d i k a l e r wurden. 3 '' N a c h der A n s i c h t M . Prelogs, eines jugoslawischen H i s t o r i k e r s , der durch seine Forschungen über die F r a g e der slawischen E i n h e i t b e k a n n t g e w o r d e n ist, k a n n kein Z w e i f e l d a r ü b e r bestehen, d a ß B a k u n i n diese E n t w i c k l u n g b e e i n f l u ß t hat. 3 6 A u f j e d e n F a l l

gelangten

A b s c h r i f t e n des „Aufrufs an die S l a w e n " und einige von tschechischen R a d i k a l e n v e r f a ß t e antiösterreichische A r t i k e l , die u. a. auch von B a k u n i n angeregt w o r d e n w a r e n , trotz des K r i e g s z u s t a n d e s ungehindert nach Z a g r e b . 3 7 A u c h weisen in dem O r g a n der L i n k e n , „ S l a v e n s k y J u g " , v e r ö f f e n t l i c h t e A r t i k e l in konzeptioneller Hinsicht

verblüf-

f e n d e Ä h n l i c h k e i t mit diesen P u b l i k a t i o n e n a u f . E i n a b s c h l i e ß e n d e s U r t e i l ist b e i m geg e n w ä r t i g e n Forschungsstand allerdings noch nicht möglich. N a c h der N i e d e r w e r f u n g des D r e s d n e r M a i a u f s t a n d e s von 1 8 4 9 w u r d e B a k u n i n , der in militärischer und politischer H i n s i c h t eine m a ß g e b l i c h e R o l l e gespielt hatte, v e r h a f -

32

33

34 35 36 37

72

Diese historische Situation spiegelt sich sehr anschaulich in den erst kürzlich identifizierten Schriften wider, vgl. K. Marx/F. Engels, Socinenija, Moskau 1976, Bd. 43, S. 137 ff. M. Kurt, M. A. Bakunin i vengerskoe nacional'no-osvoboditel'noe dvizenie, in: Studia slavica, 1973, S. 186 ff. Bibliothèque de la Ville de Paris, Papiers Sand, 6/3438/10-13. Vgl. I. 1. Lescilovskaja, Nekotorye certy; Endre Aratô, Egykoru demokratikus, S. 78 ff. Vgl. M. Prelog, Michajlo Bakunin. , Mit den tschechischen Linken und dem Slavenski Jug befaßt sich V. Bogdanov, Drustvene i politicke borbe u Hrvatskoj 1848-1849, Zagreb 1949, S. 328 f.

tet und zunächst von den sächsischen- und nach seiner Auslieferung an die Habsburger auch von den österreichischen Behörden zum Tode verurteilt. Im Hinblick auf unser T h e m a ist erwähnenswert, d a ß er in seiner in sächsischer H a f t geschriebenen Verteidigungsschrift den Ausbruch eines Konflikts zwischen den Slawen und Österreich für möglich hielt. Die österreichischen Behörden zeigten für seine Beziehungen zu den Südslawen erhebliches Interesse. 3 8 N a c h d e m ¿r von den Österreichern dem Hof von St. Petersburg «ausgeliefert worden w a r , schrieb er auf ausdrücklichen Befehl des Zaren die Geschichte seiner Emigration in Form einer „Beichte" nieder. Entstehung und Charakter dieses Dokuments werden in der Historiographie kontrovers beurteilt. Einige Historiker werten bereits die T a t sache, d a ß Bakunin mit den Behörden „ins Gespräch kam", als Verrat, während andere sie als Symptom eines geistigen Zusammenbruchs und als Resignation deuten. A n d e r e halten auf Grund der Analyse des Dokuments die „Beichte" für eine aktive Form der Verteidigung. Diese Auffassung trifft unseres Erachtens den wirklichen Sachverhalt. Die „Beichte" enthielt einen eingehenden Bericht über Bakunins Kontakte zu den Süds l a w e n ; Bakunin gab allerdings nicht alles preis. Nicht ohne Grund wurde Bakunin aufgefordert, über diese Angelegenheit Auskunft zu erteilen; 1848/49 unterhielten die russischen Ministerien für Verteidigung und für auswärtige Angelegenheiten eine umfangreiche Korrespondenz über seine „strafbaren" Kontakte und seine die Balkanstaaten betreffenden Pläne. 3 0 Bakunins Haftbedingungen waren außerordentlich schlecht, und in seiner Verzweiflung dachte er wiederholt an Selbstmord/' 0 Obwohl er den Behörden gegenüber Reue bezeigte und sich persönlich demütigte, hielt er, wie aus seinen aus dem Gefängnis geschmuggelten Briefen zu ersehen ist, an seiner revolutionären Überzeugung fest. Erst als A l e x a n d e r II. den Thron bestieg, w u r d e Bakunin aus der H a f t entlassen; man erkannte ihm den A d e l ab und verbannte ihn nach Sibirien. Die beste Beschäftigung, 'die er bekommen konnte, w a r die eines Angestellten, und auf Grund seiner lebenslänglichen Verbannung w a r es ihm nicht möglich, in den europäischen Teil R u ß l a n d s zurückzukehren. D a ß sich seine Verbannung nicht ganz unerträglich gestaltete, w a r Graf N. N M u r a v ' e v - A m u r s k i j , einem Verwandten mütterlicherseits, zu verdanken. M u r a v ' e v entstammte einer Familie, die dem russischen Volk ebenso viele revolutionäre M ä r t y r e r geschenkt hatte w i e dem Zaren treue D i e n e r ; er tat sein Bestes, um Bakunins L a g e zu erleichtern, und lud ihn als Generalgouverneur von Ostsibirien regelmäßig zu den für seine engsten Mitarbeiter veranstalteten Empfängen. D a s sogenannte Reformzeitalter hatte begonnen, und der Gouverneur begnügte sich nicht mehr mit seinem W i r k u n g s bereich, sondern entfaltete eine relativ selbständige außenpolitische Tätigkeit im Fernen Osten. In seinem Arbeitszimmer „berieten sich", wie Augenzeugen berichteten, „junge Männer mit dem in der Verbannung lebenden Bakunin über die Möglichkeit der Gründung der Vereinigten Staaten von Sibirien"/' 1 In der zweiten H ä l f t e der fünfziger J a h r e des 19. Jh. wurden die Gespräche in einer Atmosphäre fortgeführt, in der peben dem althergebrachten Mitgefühl für die unterdrückten Slawen auch ein Gefühl der Scham zu spüren w a r ; dieses Schamgefühl rührte 38 39 40

1,1

Materialy dlja biografii M . Bakunina, hg. v. V. Polonskij, Moskau/Leningrad 1 9 3 3 , Bd. II, S. 1 7 5 . C G V I A , ebenda. A k a d e m i e der. Wissenschaften der U d S S R , Institut f ü r russische Literatur/Puschkinhaus, Leningrad, 333/16. P. Kropotkin, Zapiski revoljucionera, Moskau 1 9 2 5 , S. 1 3 4 .

73

von der Niederlage auf der Krim her, wo sich nicht nur die britischen und französischen W a f f e n als viel moderner erwiesen hatten, sondern wo vor allem auch die Rückständigkeit der russischen sozialökonomischen Verhältnisse so „deutlich zur Schau" gestellt worden w a r . Hinzu k a m die in den meisten Schichten der russischen Gesellschaft verbreitete, wenn auch nicht immer in gleichem M a ß e ausgeprägte Austrophobie. Dieses Phänomen äußerte sich bisweilen auch als Antigermanismus und zählte, wie auch der Antisemitismus, zu den negativen Komponenten der späteren anarchistischen Ideologie Bakunins. In dieser Zeit, d. h. während der siebziger Jahre des 19. Jh., nahm Bakunin in den „jungen" slawischen Nationen nur die Aufgeschlossenheit für die Revolution wahr und bei den „Deutschen" nur den übertriebenen Gehorsam und die absolute Staatsgläubigkeit. Kennzeichnend für die Gespräche bei N. N. M u r a v ' e v - A m u r s k i j w a r ferner, d a ß sie an einem Ort stattfanden, der Tausende Kilometer von dem Schauplatz entfernt lag, der im Mittelpunkt der Unterredungen stand, und d a ß auf Grund des unvollständigen Faktenwissens die Gespräche einen doktrinären Anstrich erhielten. Zum Beispiel hatten die dort entworfenen slawischen Pläne wenig mit der allslawischen revolutionären Konzeption - dem „demokratischen" Panslawismus - zu tun, zu der sich Bakunin während der verschiedenen Phasen der Revolution von 1848 bekannt hatte. In den Diskussionen über die slawische Frage und über außenpolitische Probleme w a r nunmehr unverkennbar, d a ß er den Gouverneur idealisierte. Er erklärte, N. N. M u r a v ' e v sei ein fortschrittlicher M a n n und eine bedeutende Persönlichkeit. In seinen Briefen nannte er ihn die „Sonne von Sibirien" und kennzeichnete ihn als edlen, aktiven, energischen und „in jeder Hinsicht hervorragenden" Menschen (IV. 324). In der bis heute unaufgeklärt gebliebenen und Irkutsk in zwei Parteien spaltenden Nekljudov-Beklemisev-Affäre, dem ersten Duell in Sibirien, in dem ein kurz zuvor aus der Hauptstadt eingetroffener Beamter auf Verdacht erregende Weise ums Leben kam, unterstützte Bakunin rückhaltlos den Gouverneur und verurteilte in polternden Artikeln die Gegner des Hofes, darunter auch einige Verbannte. 4 2 In seinen von Ostsibirien nach dem europäischen Teil Europas und nach London gesandten Briefen erörterte Bakunin Lokalfragen und Befreiungspläne, vor allen Dingen beschäftigte er sich aber mit der Person des Gouverneurs. A l l dies stand im krassen Gegensatz zu seinen früheren revolutionären Aktivitäten. Interessant ist allerdings, d a ß in den Briefen auch jetzt noch Vorstellungen von der Befreiung der West- und Südslawen entwickelt w u r d e n ; Bakunin w a r jedoch der Auffassung, d a ß diese im Falle einer militärischen Niederlage der Türkei und Österreichs durch ein „reformiertes" R u ß l a n d herbeigeführt werden müsse. Im Vergleich zu seinem Panslawismus von 1848/49 stellte diese Konzeption einen beträchtlichen Rückschritt dar, handelte es sich doch um einen ganz abstrakten Plan. Die Vorstellung von einer mit radikalen sozialen U m w a n d l u n g e n verbundenen europäischen Revolution fehlt hier fast vollständig. Auch diesmal träumte Bakunin aber von einer sich auf demokratische Prinzipien gründenden osteuropäischen Föderation; auf die Bedeutung eines freien Polen legte er besonderes Gewicht. A m deutlichsten offenbart sich das Rückschrittliche seiner Ansichten jedoch darin, d a ß er in der Slawenfrage die „russischen nationalen Interessen" in den Vordergrund rückte. In der Emigration hatte er an einem solchen Standpünkt noch scharfe Kritik geübt. In Sibirien scheint Bakunin seine eigenen früheren Auffassungen zu B. G. Kubalov,

74

A . I. Gercen i obscestvennost' Sibiri ( 1 8 5 5 - 1 8 6 2 ) , Irkutsk 1 9 5 8 , S

1 3 4 ff. •

dieser Frage eine Zeitlang vergessen zu haben, was natürlich nicht besagt, daß er ein Anhänger der konservativen Richtung wurde. Er wurde auch kein Slawophile. Wenn man seine früheren Schriften mit den am Ende seiner Laufbahn verfaßten Arbeiten vergleicht, mutet es dennoch seltsam an, daß er später in der Slawenfrage den Standpunkt eines russischen Staatsmannes beziehen konnte. An den damaligen liberalen Publizisten M. N. Katkov, einen Bekannten aus seiner Jugendzeit, der später als Ideologe der reaktionären Kräfte Rußlands auftrat, schrieb er: „Die Zukunft ganz Südosteuropas wäre entschieden und eine Million stammesverwandter Menschen würde eine Erneuerung erleben", wenn Österreich und die Türkei die von Slawen besiedelten Gebiete aufgeben müßten. „Dies ist eine Frage, die uns Russen, wenn wir an unsere eigenen Interessen denken und der heiligen Pflicht der Selbstverwaltung, diesem Markstein des Lebens, genügen, nicht gleichgültig lassen kann . . . W i r haben unseren Beitrag zur Erneuerung der Slawen zu leisten, handelt es sich doch um eine entscheidende Frage, die nur uns zum Ruhme oder gegen unsere Interessen gelöst werden kann; überdies handelt es sich um eine wichtige und reale.Frage, die durchaus nicht von Philologen erfunden wurde . . . sie ist das unmittelbare Ergebnis des Verlaufs unserer modernen Geschichte . . ." (IV. 293) Bakunins Vorstellung von der historischen Aufgabe Rußlands war dermaßen abstrakt, daß sie fast völlig von der konkreten historischen Situation losgelöst erscheint: „Sich aus autonomen Verwaltungseinheiten zusammensetzend . . . muß Rußland in der russischen, in der slawischen Föderation zum Zentrum der slawischen Erneuerung werden." Er war der Überzeugung, daß es eigentlich zwei slawische Welten gebe: „Eine gehört dem Westen, die andere dem Osten an . . . Das ist unnatürlich: Eine v/ird sicher von der anderen verschlungen werden" (IV. 371 f.). Diese Zeilen geben einmal Bakunins wahre Ansichten jener Zeit wieder, sie lassen aber gleichzeitig auch taktische Rücksichten erkennen: Er wollte seine Ideen einem liberalen Journalisten nahebringen, dessen politischer Ehrgeiz allgemein bekannt war. Den Herausgebern des „Kolokol" schilderte er N. N. Murav'ev-Amurskij als „einen Freund der Ungarn und Italiener", als eine oppositionell eingestellte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, als Anhänger einer gesamtslawischen Gemeinschaft und einer gleichberechtigten Völkerfamilie (IV. 306). M. N. Katkov gegenüber kennzeichnete er ihn dann wieder als energisch durchgreifenden, aufrichtigen und liberaldenkenden Staatsdiener (IV. 296, 372 ff.). Nachdem Murav'ev Sibirien verlassen hatte, reduzierten sich Bakunins Möglichkeiten, sich etwas freier zu bewegen, auf ein Minimum. D a ß er weiterhin von einigen höheren Beamten von Krasnojarsk, Tomsk und Irkutsk bereitwillig empfangen wurde, war ohne Bedeutung; als Verbannter blieb er weiterhin vom politischen Leben des Landes und den immer breiter gefächerten sozialen Bewegungen ausgeschlossen. Das Hoffnungslose dieser Situation gab schließlich den Ausschlag: Er entfloh über Japan und die USA nach Großbritannien. Nachdem er seine persönliche Freiheit wiedererlangt hatte, kamen seine früheren revolutionären Auffassungen wieder stärker zum Ausdruck. Das zeigt sich an der differenzierteren Art, in der er sich seinen Bekannten in Irkutsk, u. a. M. S. Korsakov, dem neuen Generalgouverneur von Ostsibirien, mitteilte, mit dem er durch die Heirat seines Bruders Pavel verschwägert war. In seinem aus Japan an Korsakov gerichteten Abschiedsbrief bemerkte Bakunin kritisch, daß Alexander II. und seine Minister an der

75

Lösung der „ G r o ß e n Slawenfrage" nicht interessiert seien/' 3 Noch offener und freimütiger, in einer an das J a h r „ 1 8 4 8 erinnernden" Ausdrucksweise informierte er A . I. Herzen und N . P. O g a r e v aus San Francisco über seine P l ä n e : - „Sobald ich Ihnen begegne, werde ich mich unverzüglich an die Arbeit machen; ich werde die polnisch-slawische Frage zu fördern suchen, mit der ich mich seit 1 8 4 6 beschäftige und der ich mich 1 8 4 8 / 4 9 besonders intensiv gewidmet habe. D i e Vernichtung, die totale Vernichtung der österreichischen Monarchie, das wird mein letztes W o r t sein . . . A n ihre Stelle wird eine glorreiche und freie Föderation der Slawen treten, was für R u ß l a n d , für die Ukraine, fiir Polen und überhaupt für jede slawische Nation der einzige Ausweg ist.'" 1 '' N a c h d e m Bakunin Weihnachten 1 8 6 1 in der britischen Hauptstadt angekommen war, erwies es sich in der Praxis unter den neuen Bedingungen als durchaus nicht so leicht, an die Aktivitäten der Revolutionszeit anzuknüpfen, wie er es sich in seiner Begeisterung nach der Flucht vorgestellt hatte. Inzwischen war es A . I . Herzen gelungen, die V o r aussetzungen für eine gut funktionierende Organisation zu schaffen; daher fand B a k u nin trotz seiner politischen und persönlichen Ambitionen bei der Herausgabe des „ K o l o k o l " oder anderer Publikationen der Freien Russischen Presse kein angemessenes B e tätigungsfeld. 4 5 Seine wiederholten Vorschläge für ein Bündnis mit den Polen fanden wenig Resonanz. 4 6 W a s ihm nun noch verblieb, war die Verfolgung seiner „demokratischen" panslawistischen und insbesondere südslawischen Pläne, die er in Sibirien ausgearbeitet hatte und die allmählich wieder revolutionäre Züge annahmen. 4 7 Auch jetzt war der ideologische Ausgangspunkt die Vorstellung von einer demokratischen slawischen Wechselseitigkeit, wenn auch in einer etwas realistischeren F o r m als in den Jahren 1 8 4 8 / 4 9 . V o r allem betonte er, es sei für die slawischen V ö l k e r unerläßlich, daß der Agrarsozialismus in Osteuropa Verbreitung finde. I m Unterschied zu M a r x und E n g e l s setzte er seine Hoffnungen auf eine sich unabhängig vom westeuropäischen Kapitalismus entwickelnde Dorfgemeinde. Z w a r vertrat auch Bakunin

die

Auffassung, d a ß sich eine Lösung in der endgültigen Beseitigung der Feudalverhältnisse anbietet, die durch eine E r h e b u n g der Bauern eingeleitet werden könnte, er leitete diese Konsequenz jedoch nicht in jedem F a l l e von sozialökonomischen Erfordernissen

ab.

D i e s hing unmittelbar damit zusammen, d a ß er die E r h a l t u n g des D o r f e s und des Gemeinbesitzes an B o d e n , d. h. die russische Obscina und die südslawische Zadruga oder aus diesen schließlich hervorgehende höhere und freie Gemeinschaften, für wichtig hielt. In diesem Punkt machte sich der E i n f l u ß A . I . Herzens bemerkbar. Bakunin hatte, da er von den besonderen Agrar- und sozialen Verhältnissen in Sibirien ausgegangen war, vor 1 8 6 2 das Obscina-System fortwährend kritisiert ( I V . 2 9 3 f f . ) .

13 Vt

Central'nyj Gosudarstvennyj Archiv Goroda Moskvy ( C G A G M ) , f. 8 6 4 , op. I, ed.chr. 2 3 . Pis'ma M. A . Bakunina k A . I. Gcrcenu i N. P. Ogarevu, hg. u. eingel. v. M. P. Dragomanov,

Sankt Petersburg 1 9 0 6 , S. 1 8 9 f. '° W a s nicht besagen will, daß die Herausgeber des Kolokol ihn nicht mit Wärnie begrüßt hätten! „Man hat mich hier mit offenen Armen wie einen Bruder aufgenommen - und weiß hier über die gegenwärtige Lage in Rußland besser Bescheid und besitzt auch größere Einwirkungsmöglichkeiten als ich angenommen hatte. Hier gibt es viel Dringendes und Wichtiges zu tun, hier läßt sich Großes vollbringen . . . " Mit diesen Worten schilderte Bakunin in seinem Brief vom 4 . 1 . 1 8 6 2 an M. S. Korsakov seine ersten Eindrücke, C G A G M , f. 8 6 4 , op. I, ed. ehr. 23. 4 0 Kolokol, 1 8 6 2 , II, 15, 1 0 2 8 . r

47

„Anfangs schien er sich weniger für die russische als vielmehr für die slawische Bewegung im allgemeinen zu interessieren", ]u.

76

Steklov,

Michail Aleksandrovic Bakunin, Bd. II", Moskau/Leningrad

Bakunin betonte nachdrücklich die historischen Besonderheiten der slawischen E n t wicklung und sprach daher in der Folge von einem „slawischen" und einem „französischen" Sozialismus sowie von einem „deutschen" Kommunismus. Dieser Frage widmete er zahlreiche Seiten; eine sich mit diesem Thema beschäftigende französisch geschriebene Arbeit ist bis zum heutigen Tage Manuskript geblieben. J . V . Fric ist es zu verdanken, daß diese Arbeit schließlich 1968 im Emigrantenörgan „Blanik" in tschechischer Sprache erschien, von der historischen Forschung wurde sie lange Zeit praktisch übersehen. Erst vor kurzem wurde auf diese Artikelserie von der sowjetischen Historikerin G . I. Eremeeva aufmerksam gemacht. 48 D i e allgemein bekannte These Bakunins, die vom marxistischen Standpunkt unhistorisch ist und in seinem Werk „Staatlichkeit und Anarchie" besonders eingehend erörtert wird, läßt sich also bis zum Jahre 1862 zurückverfolgen: Danach würden die Slawen im Gegensatz zu den Deutschen auf Grund ihrer Mentalität und ihrer historischen Entwicklung der staatlichen Organisation von Natur aus feindlich gegenüberstehen. Bei der Analyse der Entwicklung der slawischen Nationen legte Bakunin in den siebziger Jahren dem Klassenkampf wesentlich mehr Gewicht bei 4 9 als zu Beginn der vorangegangenen Dekade, als er noch gehofft hatte, daß sich die internationale Lage günstig gestalten werde. 5 0 Hinsichtlich der politischen Rolle der Südslawen traten an die Stelle des 1848/49 angestrebten Bündnisses mit den Deutschen jetzt Versuche, mit der italienischen Freiheitsbewegung Garibaldis und Mazzinis Kontakt zu gewinnen. E s ist offensichtlich, daß Bakunin die an der gegenüberliegenden Küste der Adria lebenden Kroaten und Serben - die letzteren waren zum Teil bereits selbständig - in seine Pläne einbezog: Besondere Bedeutung maß er einem italienisch-südslawischen und im weiteren Sinne einem sich bis Aspromonte erstreckenden italienisch-slawischen Bündnis bei. Darüber hinaus wünschte er, daß das italienische Beispiel, der aus eigener Kraft errungene Sieg Garibaldis, die Südslawen davor bewahre, der offiziellen russischen Propaganda Glauben zu schenken. Bakunin spielte in der Kolokol-Ausgabe vom 8. April 1862 u. a. darauf an, daß die Petersburger Regierung die Südslawen mit verlockenden Versprechungen und unter Berufung auf den gleichen Glauben und die Stammesverwandtschaft vergewaltigt und dann ohne Gnade dem unbarmherzigen Feind preisgegeben habe. „Es wird die Zeit kommen, und vielleicht läßt sie gar nicht so lange auf sich warten, da Euch die Kunde von einem freien russischen Volk erreicht; dessen Freundschaft und feste Unterstützung sind Euch sicher. Vorerst solltet Ihr jedoch in erster Linie auf Eure eigene Kraft bauen . . . Sucht Macht zu gewinnen im unverbrüchlichen und festen Bündnis mit allen benachbarten slawischen Völkern, die in gleichem Maße unter dem türkischen und österreichischen Joch zu leiden haben. Bulgaren, Bosnier, Montenegriner, Serben, Kroaten, Slowaken und Dalmatiner! Schließt Euch in einer Phalanx zusammen, dann können Euch weder türkische Gewaltakte noch österreichische Schurkereien etwas anhaben. Ihr wünscht ein Bündnis? Dann reicht Euren rumänischen und armenischen Nachbarn die Hand, die beharrlich um ihre Unabhängigkeit kämpfen; oder schließlich auch den Griechen, deren panhellenische Bestrebungen in 48

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G. I. Eremeeva, Iz istorii ideologii cesskogo burzuaznogo radikalizma vtoroj poloviny X I X v. Zumal J. V. Frica „Blanik", in: Sovetskoe slavjanovedenie, Moskau 1976, H. 5, S. 32. Michel Bakounine, Gosudarstvennost' i Anarchija, hg. u. eingel. v. A. Lehning, Leiden 1967 S. 164 ff. ]u. Steklov, Michail Aleksandrovic Bakunin, Bd. II, S. 7 ff., 34 ff.

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keiner Weise zu befürchten sind. Was aber uns anbelangt, so haltet Euch zurück, bis wir uns befreit haben, sobald dies geschehen ist, könnt Ihr unserer Hilfe gewiß sein", schrieb Bakunin in seinem Artikel „Einige Worte an die Südslawen". 5 1 An anderer Stelle, z. B. in seiner Broschüre „Die Sache des Volkes. Romanov, Pugacev oder Pestel'", behandelt er diese Frage abstrakter: Die russische Hilfe, die lediglich versprochen wurde, wird von ihm als sicherer Fakt dargestellt. Gleichzeitig gibt er am Schluß seiner Ausführungen zu verstehen, daß die Südslawen auf die K r ä f t e eines „umgestalteten" Rußland bauen sollten, nicht aber auf die eines autokratischen Reiches, dem noch Spuren des Konservatismus von Nikolaus I. anhafteten. E r hob die für die slawischen Interessen positiven Elemente der Außenpolitik Frankreichs hervor, die britische Außenpolitik dagegen stand seiner Auffassung nach der slawischen Unabhängigkeit im Wege. 5 2 Schließlich bezeichnete Bakunin sehr oft und in zahlreichen Verbindungen auch die Ungarn als Waffenbrüder, deren Beziehungen zu den Südslawen während der Revolution von 1848 äußerst angespannt gewesen waren. Genau wie vor zwölf Jahren empfahl er, die slawisch-ungarischen Beziehungen auf der Grundlage gleicher Rechte, beiderseitigen Verzichts auf historische Rechte und der Prinzipien des Internationalismus zu gestalten. 53 Bakunin kritisierte die antislawischen Tendenzen der ungarischen nationalen Bewegung und. wies darauf hin, daß ein slawisch-ungarisches Bündnis eine sehr wirksame W a f f e gegen die Habsburger und gegen die Türken sei. Giuseppe Garibaldi und andere Führer der italienischen nationalen Bewegung hätte er gern als Vermittler zwischen den isolierten Unabhängigkeitsaktionen der Slawen gesehen. 54 Die mit der Gründung des allslawischen Organs „Svoboda Vseslovanska" verbundenen Arbeiten, die im Sommer 1862 einen beträchtlichen Teil seiner Zeit in Anspruch nahmen, waren eng mit seinen konkreten Plänen bezüglich der Süds,lawen verflochten. Bakunin beabsichtigte, die Zeitschrift gemeinsam mit dem radikalen Demokraten J. V. Fric herauszugeben. Sie sollte vor allem gegen die Habsburger gerichtet sein; daneben enthielt das Programm auch propolnische und antitürkische Akzente, d. h. Thesen, die die Unabhängigkeitsbestrebungen der südslawischen Völker unterstützten. 55 Über die Frage, ob die Balkanproblematik besonders in den Vordergrund zu rücken sei, und über die Vielsprachigkeit des neuen Organs kam es zwischen Bakunin und J. V. Fric zu einer Kontroverse. In der ersten Nummer sollte neben allgemein interessierenden Fragen und spezifisch tschechischen Belangen ursprünglich ein Aufruf Garibaldis veröffentlicht werden, in dem die Kämpfe Serbiens und Montenegros gegen die Türken besonders gewürdigt wurden. 0 6 Bakunin scheint dies nicht genügt zu haben, im Gegensatz zu Fries Vorstellungen wünschte er, d a ß sich das Blatt regelmäßig mit der südslawischen Problematik befasse. „Ich habe eine Anklageschrift gegen den serbischen Fürsten Michael vorbereitet, die genügen würde, um ihn zu des Teufels Großmutter zu schicken. Auch habe ich meinen Freund Vukovic gebeten, meinen ersten Artikel ins 51 52 B3

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Kolokol, IV. 8. 1862, S. 1068. Ebenda. M. Kun, M. A. Bakunin i vengerskoe nacional'no-osvoboditernoe dvizenie, S. 191 ff.; V. Cejban, Posledni Bakuninüv pokus o rozbitithabsburske rise, Dejiny a pritomnost, 1938, I, S. 28 ff. Vgl. P. C. MasinUG. Bosio, Bakunin, Garibaldi e gli affari slavi 1 8 6 2 - 1 8 6 3 , Movimento operaio, 1952, I. Vgl. dazu G. 1. Eremeeva, Pis'ma M. A. Bakunina Jozefu Vaclavu Fricu. 1862 g., in: Obscestvennopoliticeskie dvizenija v Central'noj Evrope v XlX-nacale X X veka, Moskau 1974, S. 161 ff. Ebenda, S. 175 f.

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Bulgarische zu übersetzen", schrieb Bakunin am 16. November 1862 an J . V . Fric. 3 7 Aus seinem nächsten, zwölf Tage später aufgegebenen Brief ist zu ersehen, daß der Konflikt zwischen den beiden Herausgebern nicht nur auf Meinungsverschiedenheiten in finanziellen und organisatorischen Fragen zurückzuführen war, sondern auch mit der unterschiedlichen Interpretation des allslawischen Charakters der Zeitschrift zusammenhing. Bakunin bestand darauf, daß die „Svoboda Vseslovanska" Beiträge sowohl in serbischer als auch in bulgarischer Sprache bringen sollte, während J . V . Fric das Blatt lieber den für die tschechische nationale Befreiung eintretenden Kräften zur Verfügung gestellt hätte. 5 8 Bakunin scheint sich in dieser Frage schließlich durchgesetzt zu haben. Allerdings blieb lediglich der Fahnenabzug der ersten Nummer der „Svoboda Vseslovanska" erhalten: Bakunin stellte seine der Zeitung und im weiteren Sinne der Organisation und politischen Beeinflussung der Slawen gewidmete Tätigkeit plötzlich ein. Wie er selbst angab, verwandte er seit Dezember 1862 seine ganze Zeit darauf, durch Gespräche ein revolutionäres Bündnis zwischen Russen und Polen herbeizuführen. E r gehörte zu den führenden Persönlichkeiten, die sich im Frühjahr 1863 im Ausland um den Erfolg des polnischen Januaraufstandes bemühten. Bakunins Verbindungen zu den Südslawen reichten im Spätherbst 1862 jedoch viel weiter als während der Revolution von 1848. Sobald er sich in London niedergelassen hatte, kam es auch schon zu Kontakten mit „Serben, Einwohnern der Wallachei, die wie Slawen handelten und deren Namen immer auf ,esko' endeten . . . darunter auch ein Bulgare, ein Chirurg in der türkischen Armee . . . " D e r Augenzeuge A. I. Herzen war der Meinung, daß „sie ihm nach dem neun Jahre währenden Schweigen den letzten Anstoß gaben, . . . er griff zur Feder und schrieb fünf, zehn, fünfzehn Briefe nach Semipalatinsk und Arad, nach Belgrad und Zargrad, nach Bessarabien, der Moldau und der Belaja Krinica . . . dann warf er die Feder beiseite und brachte einigen zurückgebliebenen Dalmatiern Zucht bei." 5 9 Nach V . J a . Grosul geht aus dem brieflichen Nachlaß Bakunins hervor, daß er im Verlauf des Jahres 1862 im Zusammenhang mit den Südosteuropa betreffenden Plänen der russischen revolutionären Emigration mindestens dreimal Sendboten nach dem Balkan geschickt hatte. 60 E r war bestrebt, auch seine kroatischen Bekannten von 1848 mit Baron D . Kuslan, der weiterhin dem antihabsburgischen Lager angehörte, an der Spitze sowie die jungen radikalen Bulgaren und Serben, die während ihres Aufenthaltes in der britischen Hauptstadt anläßlich der Weltausstellung von 1862 nacheinander Bakunin aufsuchten, als Verbündete zu gewinnen. Zu den letzteren zählten u. a. D . Vukovic, der G . Rakovsky nahestand, und V . Jovanovic, einer der namhaftesten zeitgenössischen Publizisten, der sich der serbischen Sprache bediente. Über J . V . Fric, eine hervorragende, im E x i l wirkende radikale Persönlichkeit der tschechischen nationalen Bewegung, und dessen in der tschechischen Hauptstadt lebenden Bruder V . Fric bot Bakunin der oppositionellen Jugend in Prag an, Kontakte zur kroatischen und serbischen Opposition zu vermittelnder selbst erklärte sich bereit, die damit zusammenhängenden Arbeiten zu koordinieren. 61 57 69 60

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5 8 Ebenda, S. 177 ff. Ebenda, S. 177 f. A. I. Cercen, Sobranie socinenij v 30 tomach, Moskau 1956, Bd. XI, S. 360. V. ]a. Grosul, Rossijskie revoljucionery v Jugo-Vostocnoj Evrope 1 8 5 9 - 1 8 7 4 , Kisinev 1974, S. 104 ff.; diese ausgezeichnet dokumentierte Arbeit ist die eingehendste Bearbeitung zu dieser Thematik. Ebenda, S. 128 f.

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Nach diesen Präliminarien standen der Gründung einer allslawischen, einige Dutzend Mitglieder zählenden Gesellschaft keine besonderen Schwierigkeiten mehr im Wege. Eine andere Frage ist es,' was eine solche Gesellschaft, wenn sie wirklich ins Leben gerufen worden wäre, tatsächlich bewirkt hätte. Während im Sommer 1848 der kurzlebigen Tätigkeit der „Slawischen Freunde" durch 'die Offensive der Konterrevolution ein rasches Ende gesetzt wurde, scheint es 1862 an Bakunin selbst gelegen zu haben, daß die entscheidenden Schritte, die erforderlich waren, um seine den verschiedenen Nationalitäten angehörenden Verbündeten zu vereinen, nicht unternommen wurden. Darüber hinaus stellte er seine Tätigkeit als Herausgeber der „Svoboda Vseslovanska" von sich aus ein, obwohl die Zeitschrift für eine solche Vereinigung als Basis und sozusagen auch als Deckmantel hätte dienen können. Was Bakunins revolutionäre Pläne anbelangt, so war die objektive Lage im Habsburgerreich und in Südosteuropa nicht günstig. Seine Zeitgenossen und vor allem er selbst beurteilten die Situation jedoch anders. Die erfolgreiche Kampagne Garibaldis in Süditalien und die griechisch-türkischen, serbisch-türkischen und russisch-österreichisch-französischen Differenzen, aber auch die sozialen und nationalen Konflikte innerhalb der Habsburgermonarchie wiesen darauf hin, daß sich die politische Landkarte mit Sicherheit zugunsten der slawischen Völker ändern würde. Überdies beeindruckten die erste revolutionäre Situation in Rußland 6 2 und die eng damit zusammenhängenden Ereignisse in Polen die radikalen südslawischen Politiker stark. In Anbetracht dieser Lage können die konkreten und langfristigen Pläne Bakunins nicht einfach als Donquichotterie abgetan werden. Nicht einmal seine föderativen Pläne waren unzeitgemäß; man denke nur an die Pläne einer Donauföderation, die 1862 festere Gestalt annahmen. 63 Die wesentlichsten Mängel der Bakuninschen Konzeption waren unzureichende Kenntnis der sozialökonomischen Struktur Südosteuropas, sein nicht deutlich genug hervortretender Klassenstandpunkt und das emotionale Herangehen an die Probleme. Aus diesen Schwächen erklärt sich auch weitgehend, daß es ihm schon 1862 nicht gelang, ein wirklich revolutionäres Aktionsprogramm für Ost- und Südosteuropa auszuarbeiten. Seine in dieser Zeit entstandenen Schriften, die veröffentlichten Arbeiten wie auch die Manuskripte, können auf jeden Fall nur als wertvolle Vorarbeiten und als Teilstücke eines solchen Aktionsprogramms gewertet werden. Zu Bakunins späteren theoretischen Arbeiten bemerkte Karl Marx, daß es Bakunin vor allem darauf ankam, ein eigenes Programm zu improvisieren.6''' Trotzdem tat keiner der russischen Revolutionäre dieser Periode theoretisch und auch praktisch so viel für die Aufklärung der Slawen und der Balkanvölker und wandte sich so energisch gegen die slawöphile Ideologie und die reaktionäre Propaganda Petersburgs wie Bakunin. 60 E r änderte seine Haltung in der slawischen Frage zunächst aus rein taktischen Erwägungen. Bereits seit Mitte 1862 muß Bakunin bewußt geworden sein, daß sein betontes Engagement für die Slawen auf Kosten der innenpolitischen Angelegenheiten Rußlands von den Herausgebern des „Kolokol" und in gleicher Weise auch von den führenden Mitgliedern der Geheimgesellschaft „Land und Freiheit", die Westeuropa 62 63

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Vgl. W. 1. Lenin, Werke, Bd. 5, S. 29 f.; ders., Bd. 21, S. 207. Gyula Merey, Förderäcios tervek Delkelet-Euröpäban es a Habsburg-Monarchie, . 1 8 4 0 - 1 9 1 8 (Föderationspläne in Südosteuropa und der Habsburger Monarchie, 1 8 4 0 - 1 9 1 8 ) , Budapest 1965, S. 64 ff. Marx/Engels/Lenin, Az anarchismusnöl, Budapest 1970, S. 84. N. Pirumova, Bakunin, S. 172 ff.

besucht hatten und auf einer verstärkten Tätigkeit des „Revolutionären Rußlands" auf dem Balkan bestanden, mit Mißfallen zur Kenntnis genommen wurde. 6 6 Wie sich herausstellte, gab in dieser Frage jedoch die Tatsache den Ausschlag, daß die meisten Führer der polnischen nationalen Befreiungsbewegung anderen slawischen nationalen Bewegungen ablehnend gegenüberstanden. Und Bakunin lag an einem konkreten Bündnis mit den Polen mehr als an allgemeinen slawischen Kontakten. Dies rechtfertigt allerdings nicht, daß er alle Brücken hinter sich abbrach - wie schon oft während seiner politischen Laufbahn faßte Bakunin auch diesmal sehr radikale Entschlüsse. „Wir täten besser daran, uns so energisch wie möglich gegen die Bezeichnung Panslawist zu verwahren . . . Sie sind niemals einer gewesen, und Sie sind der slawischen Bewegung immer mit Verachtung begegnet; auch ich bin nie Panslawist gewesen, aber ich habe mit der größten Begeisterung an der slawischen Bewegung teilgenommen; und ich bin auch jetzt noch der Auffassung, daß für uns die einzig mögliche Perspektive eine slawische Föderation ist, denn nur sie kann in einer neuen, völlig freien Form dem in unserem Volk zweifellos vorhandenen Gefühl für das Große Befriedigung gewähren. Geschieht dies nicht, so wird das Volk, wenn es im Schlepptau der kaiserlichen Macht bleibt, früher oder später zugrunde gehen. Aber dies liegt noch in weiter Ferne. Es wäre einfältig, sich jetzt mit den Slawen zu beschäftigen, es sei denn, man sucht sie von einem Bündnis mit dem jetzigen kaiserlichen Rußland zurückzuhalten. Was mich betrifft, so denke ich nicht einmal mehr an sie." - In dieser Weise legte er in seinem Brief an Herzen vom 1. August 1863 aus Stockholm seinen Standpunkt dar. 67 Nachdem Bakunin im Oktober 1863 die schwedische Hauptstadt verlassen hatte - er hatte hier als Vertreter der Londoner Zentrale der russischen revolutionären Bewegung mit polnischen Insurgenten und finnischen Emigranten zusammengearbeitet ließen sich weder seine taktischen noch seine strategischen Ziele mit einer Beteiligung an der slawischen und nationalen Bewegung schlechthin und auch nicht mit einer Wiederaufnahme seiner früheren Balkanverbindungen in Einklang bringen. Die in seinem Brief an Herzen geäußerte Bemerkung, er habe die Südslawen vergessen, dürfte übertrieben gewesen sein, verfolgte er doch mit gespannter Aufmerksamkeit das von Garibaldi und dessen Anhängern geplante Vorhaben, im Sommer 1864 eine Expedition nach dem Balkan zu unternehmen. 68 Auch kam es zu Begegnungen und Gesprächen mit Russen, die sich auf der Balkanhalbinsel längere Zeit aufgehalten hatten. 69 Ein unveröffentlichter Brief aus seiner Korrespondenz mit dem Bevollmächtigten der polnischen Emigration in Skandinavien, I. Demontowicz, enthält konspirative Adressen von der unteren Donau. Daraus läßt sich jedoch noch kein Vergleich zu den Auffassungen von 1848/49 oder von 1862 ableiten. Hinzu kommt, daß unmittelbar nach Bäkunins betonter Abkehr vom „demokratischen" Panslawismus im Jahre 1863 die Periode in seinem Leben ihren Anfang nahm, in der soziale Fragen im Mittelpunkt standen. Mit diesem Wandel beschäftigt sich Karl Marx in seinem bekannten Brief vom November 1864 an Friedrich Engels, in dem auch die Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation Erwähnung findet. 7 0 Um Bakunins Beziehungen zu den Südslawen und dem Balkan in den folgenden Jahren zu erhellen, bedarf es weiterer Untersuchungen; auch müssen sie von einem anderen 66 67 68 69 70

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N . G . Cernysevskij v vospominanijach sovremennikov, S a r a t o v 1 9 5 8 , Bd. I, S. 2 9 4 . Pis'ma M . A . Bakunina k A . I. Gercenu i N. P. Ogarevu, S. 2 3 3 f. M. Kun', M. A . Bakunin i vengerskoe nacional'no-osvoboditel'noe dvizenie, S. 1 9 4 . Pis'ma M . A . Bakunina k A . I. Gercenu i N. P. Ogarevu, S. 2 6 3 . Marx/Engels, W e r k e , Bd. 3 1 , S. 1 6 . Jahrbuch 25/1

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Gesichtspunkt aus betrachtet werden. Obwohl die nationalen Probleme in diesem Teil Europas nicht gelöst wurden, zeigte es sich immer deutlicher, d a ß ein sich ausschließlich auf nationale Fragen beschränkendes Programm, in dem soziale Fragen unberücksichtigt blieben, unzureichend war. Bei der Lösung der letzteren konnte der Marxismus nicht länger übergangen werden oder unbeachtet bleiben. Natürlich ging der Anarchist Bakunin Anfang der siebziger Jahre auch in der Nationalitätenfrage nicht von marxistischen Positionen aus. E r legte dem föderativen Prinzip zuviel Bedeutung bei, wobei er die Begriffe nationale und territoriale Föderation durcheinanderbrachte; die Teilung der Völker in revolutionäre und rückschrittliche übersteigerte er bis zur Absurdität. Auf der anderen Seite verdankte die revolutionäre Bewegung in Rußland, besonders die Narodniki-Bewegung, sehr viel seinem Internationalismus. Dies ist ihm zweifellos als großes Verdienst anzurechnen. Im Hinblick auf unser Thema ist auch bemerkenswert, d a ß Bakunin die Beilegung der nationalen Konflikte auf dem Balkan und auch die Lösung anderer Streitfragen Osteuropas in erster Linie von dem Sieg des Proletariats in der ganzen Welt abhängig machte. Seine Konzeption und Aktivitäten in der nationalen Frage zeigen somit ein Bild voller Widersprüche; seine Verdienste und seine Fehler sind von so großem Gewicht in der Geschichte der nationalen Bewegung der slawischen Völker, d a ß dieses Thema, u. a. auch Bakunins Bemühungen um die Südslawen, weitere Forschungen auch zur letzten Schaffensperiode Bakunins verdient.

M. P. Pavlovic/M. L. Vel'tman (1871-1927). Imperialismus, Orientforschung und antikolonialer Kampf im Wirken eines russischen Revolutionärs ERIKA STOECKER

„Ich bin begeistert von der Kraft der organisatorischen und schöpferischen Energie der russischen Sowjets, an deren Spitze einige geniale Führer stehen", schrieb Romain Rolland am 5. Mai 1920 im „Folkets Dagblad Politiken". In dem Brief, den das Bulletin des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten wiedergab, hieß es weiter: „Das Hirn des Weltproletariats befindet sich in Moskau. Meiner Meinung nach hatte nur die bolschewistische Revolution kraft einiger ökonomischer und moralischer Ursachen die Chance auf Erfolg." Neben bestimmten Faktoren im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gefüge des Landes maß Rolland einem weiteren Umstand große B e deutung zu: „Diese Leute glauben. Wenn sie nicht von dem Glauben daran erfüllt wären, daß ihre Opfer der ganzen Menschheit Nutzen bringen werden, so hätten sie nicht im Laufe von zwei Jahren eine derartige Selbstaufopferung an den Tag legen können", denn „ohne den Geist der Liebe für das Wohl des Ganzen kann nichts Großes und Dauerhaftes geschaffen werden". Die ehrenden und gedenkenden Worte der Freunde und Kampfgefährten M. Pavlovics, die anläßlich seiner Todes 1927 gesprochen wurden, bestätigten die tiefe Wahrheit der Worte Rollands. 1 Über viele Jahrzehnte standen an der Spitze der russischen revolutionären Bewegung sowohl hochbefähigte, ihren Ideen treu ergebene Berufsrevolutionäre als auch hervorragende Vertreter verschiedener Gebiete der Wissenschaft und Kultur. Viele hatten über ihr Spezialgebiet den Weg zur revolutionären Bewegung gefunden; andere hatten sich in der Emigration autodidaktisch wissenschaftliche Kenntnisse erworben und konnten als bereits ausgewiesene Fachleute nach dem Sieg der Revolution im Oktober 1917 darangehen, ihre Fachdisziplin mit neuen Inhalten zu bereichern. Doch wie auch immer ihr Lebensweg verlaufen sein mag, gemeinsam war ihnen der Glaube an das Wohl des Ganzen, daran, daß „Großes und Dauerhaftes" geschaffen werden sollte. Michail Lazarevic Vel'tman gehörte zu den Enthusiasten des ersten Jahrzehnts des jungen Sowjetstaates. Bereits seit dem Beginn des 20. Jh. erschienen in den legalen und illegalen Publikationsorganen der russischen Sozialdemokratischen Partei wie auch in verschiedenen Periodika vor allem Deutschlands und Frankreichs unter dem Pseudonym Volonter und Mich. Pavlovic seine Beiträge. Befaßte er sich anfangs vorwiegend mit 1

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Bjulleten Narodnogo Kommissariata Inostrannich Del, 1 0 . 6 . 1920, S. 11; Pamjati M. P. Pavlovica (Vel'tmana), Sammelband, Moskau 1928.

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militärpolitischen und -organisatorischen Fragen im Zusammenhang mit der Vorbereitung des organisierten Widerstandes gegen das zaristische System, so wandte er sich in den Jahren zwischen der ersten russischen Revolution und dem Beginn des ersten Weltkrieges verstärkt der Analyse des Wesens und der Erscheinungsformen des Imperialismus sowie der Politik der einzelnen Staaten im Gesamtgefüge des imperialistischen Staatensystems vor 1914 zu. Mit seinen Schriften leistete er einen wichtigen Beitrag zur Diskussion in der internationalen sozialdemokratischen Bewegung, wobei es sein Verdienst war, das Augenmerk verstärkt auf den Platz der kolonial unterdrückten Länder Asiens und Afrikas im System der imperialistischen Ökonomie und Politik gelenkt zu haben. Folgerichtig gehörte nach dem Oktober 1917 seine sehr intensive Aufmerksamkeit den sich entfaltenden nationalen Befreiungsbewegungen in den Ländern des Nahen Ostens und Asiens, damit zugleich dem Problem, wie Geschichte und Gegenwart dieser Länder und Völker in die wissenschaftliche Forschung und Lehre im jungen Sowjetstaat einzugliedern wären. Somit wird M. Pavlovic zu Recht als einer der Begründer der marxistischen Orientforschung bezeichnet. Michail Pavlovic Pavlovic - unter diesem Namen ging er in die Wissenschaftsgeschichte ein - stammte aus Odessa, wo er 1871 in der Familie eines Angestellten geboren wurde. Vorbereitet sowohl durch die lesefreudige unorthodoxe Erziehung im Elternhaus als auch angeregt durch die weltoffenere Atmosphäre der Hafenstadt, die Odessa von anderen, im Inneren des Landes gelegenen russischen Städten unterschied, wurde der Knabe früh aufnahmebereit für die Eindrücke seiner Umwelt. Als einziger aus der zahlreichen Kinderschar seiner Eltern (er hatte 11 Geschwister) wurde er von seiner Mutter auf die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium vorbereitet, um später an der Universität zu studieren, mußte aber kraft des antijüdischen Numerus clausus, der ihm als Kind jüdischer Eltern den Eintritt in eine Lehranstalt in seiner Heimatstadt'zunächst verbot, die ersten zwei Schuljahre in Elizavetgrad bei seinem Onkel verbringen, l i i e r eröffnete sich dem Zehnjährigen eine neue W e l t : Wie seine Kameraden vernachlässigte er nicht selten über der Lektüre fesselnder Abenteuerromane damals vielgelesener Schriftsteller wie Jules Verne, Mayne Reid und Gustave Aimard die pünktliche'Erledigung von Hausaufgaben. Nach zwei Jahren kehrte er nach Odessa zurück, wo ihn sein Vater mit Unterstützung seines Firmenleiters in einem städtischen Gymnasium unterbringen konnte. D i e vielfältigen Einflüsse, die in der Hafenstadt zu spüren waren, ließen die höheren Lehranstalten nicht unberührt. Wie Pavlovic in seiner Autobiographie 2 berichtete, geriet er hier in eine bisher völlig unbekannte Umgebung. Unter den älteren Schülern, die ihm besonders imponierten, war David Gol'denbach, später unter dem Namen D . Rjazanov bekannt, der ihn in jenen Jahren sowohl durch „seine phänomenale physische Kraft als auch durch seine Belesenheit und seinen revolutionären Geist" beeindruckte. Beide, Pavlovic und Rjazanov, gehörten mehr als 30 Jahre später als Professoren für Geschichte der Neuzeit zu den ersten Mitgliedern der Kommunistischen Akademie in Sowjetrußland. Durch die Schüler der höheren Klassen wurde Pavlovic erstmals mit den Werken von Karl Marx „Das Kapital" und von G . Plechanov „Unsere Meinungsverschiedenheiten" bekannt gemacht; man diskutierte über A. Herzens Buch „Wer ist schuldig?"; die Schüler der unteren Klassen führte er selbst an die Schriften von Pisarev, Cernysevskij 2

Pavlovic (Mich. Pavlovic)-Vel'tman (Volonter), Michail Lazarevic, Avtobiografija, in: Enciklopediceskij slovar', Bd. 41/11, Dejateli SSSR i Oktjabr'skoj Revoljucii, Moskau o. J., Sp. 105.

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und Dobroljubov heran. Zum anderen war das tägliche schulische Leben nicht frei von zunehmenden Auseinandersetzungen, die in den verschiedensten Formen zwischen den Schülern und Lehrern um Inhalt und Gestaltung des Unterrichts ausgetragen wurden. Gewiß dürfen diese Aktivitäten nicht überbewertet werden, doch beeinflußten sie nachhaltig die Neigung der Jugendlichen, sich mit aktuellen Fragen auseinanderzusetzen. Der Abschluß des Gymnasiums ermöglichte die Aufnahme in der Universität; M. Pavlovic hatte sich an der Juristischen Fakultät der Universität seiner Heimatstadt beworben. Doch den Studenten hielt es nicht sehr in den Hörsälen und Bibliotheken; vielmehr zog es ihn zur politisch-propagandistischen Arbeit in der näheren und weiteren Umgebung der Stadt. Unter dem Vorwand, sich Geld für den täglichen Lebensunterhalt erarbeiten zu müssen, verließ er die Universität und ging auf Wanderschaft, folgte, wie er schrieb, „den Eisenbahngleisen" und kam so mit einzelnen Arbeitern ins Gespräch, was ihn sehr beeindruckt haben muß: „Ich besinne mich", vermerkte er an derselben Stelle, „wie in den meisten Fällen meine Gesprächspartner mit mir übereinstimmten, wenn wir über die Kapitalisten, über die Handlungsweisen der Minister und Beamten sprachen, über das Fehlen von Volksschulen und über die allgemeinen Zustände; sobald ich jedoch auf den Zaren zu sprechen kam, verstanden sie mich nicht mehr." Nicht selten war das Ergebnis einer solchen Unterhaltung, daß der Gesprächspartner tief aufseufzte und meinte: „Ja, wenn man doch zum Zaren gehen könnte, man würde ihm alles erzählen, und dann wäre es vorbei mit all den Ministern und Polizeiaufsehern!" Die Agitationsarbeit Pavlovics, die er im engen Kontakt mit den sozialdemokratischen Organisationen betrieb, konnte nicht unbemerkt bleiben. 1892 wurde er verhaftet; es folgte der Prozeß Zyperovic, der erste große Prozeß gegen Sozialdemokraten, wie er in der illegalen Literatur genannt wurde, bei dem Pavlovic gemeinsam mit 50 Angeklagten - „eine für jene Zeit gewaltige Zahl" 3 - vor Gericht stand. Nach l%jähriger Haft schickte man ihn nach Sibirien; mehrere Monate war er mit seinen Gefährten zu Fuß in das Jakutsker Gebiet unterwegs, fünf Jahre verbrachte er dort. Wie viele Revolutionäre jener Generation nutzte er diese Zeit zu ersten ernsthaften autodidaktischen Studien: sowohl westeuropäische Sprachen als auch Geschichte, politische Ökonomie und Philosophie standen auf dem Programm. „Wir hatten genügend freie Zeit", schrieb er in seiner Biographie, „und so verbrachten wir viele Stunden mit heißen Disputen über die russische Dorfgemeinschaft, über das Schicksal des Kapitalismus, über die Bücher von V. B. Nikolaj-on (N. F. Daniel'son), Struve, Bel'tov (Plechanov) usw. Wir lasen sehr viel, und daraus entbrannten immer wieder neue Diskussionen.'""' Die Schärfe der unmittelbaren täglichen Auseinandersetzungen mit dem sozialen und politischen System des Zarismus, die gefahrvolle revolutionäre Alltagsarbeit erschwerten es vielen Revolutionären, Problemen ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden, die außerhalb der täglichen Anforderungen lagen. Daher standen außenpolitische Fragen in jener Zeit noch nicht im Mittelpunkt dieser Gespräche, gewannen aber zunehmend an Bedeutung, auch im Zusammenhang mit den Nachrichten, die über den Kampf der Engländer gegen die Buren nach Rußland drangen. Nach der Rückkehr aus der Verbannung verfolgte Pavlovic sehr aufmerksam den Verlauf der Ereignisse im Süden Afrikas. D a er auf Grund der Polizeiorder nicht in 3 4

M. Pavlovic, V tjurmach carskoj Rossii, i n : K a t o r g a i ssylka, M o s k a u 1 9 2 6 , N r . 2 ( 2 3 ) , S. 161. Pavlovic, A v t o b i o g r a f i j a , S p . 104.

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seine Heimatstadt zurückkehren durfte - Angehörigen der jüdischen Nationalität war es im zaristischen Rußland untersagt, sich ohne abgeschlossene Hochschulbildung in einer Universitätsstadt niederzulassen - , blieb er in den folgenden zwei Jahren in Kisinev, um dann nach Frankreich zu emigrieren. In Kisinev, um die Jahrhundertwende eines der revolutionären Zentren im Süden des russischen Reiches, fand er mit anderen ehemaligen Verbannten Unterstützung in den Kreisen der örtlichen Intelligenz. Mehrfach sprach er vor interessiertem Publikum über Ziele und Methoden der englischen Politik im Süden Afrikas, wobei in diesen Kreisen die Sympathien auf der Seite der Buren standen - ein Ausdruck der in Rußland seit der Jahrhundertwende verbreiteten Stimmung gegen die Politik Englands war das populäre Lied „Transval, Transval strana moja . . . " Pavlovic wertete diese Ereignisse als den „Beginn einer neuen Etappe in der internationalen Politik; sie werden gewaltigen Einfluß auf die innere Lage aller Staaten ausüben". Später begründete er seine damaligen propagandistischen Aktivitäten in außenpolitischen Fragen folgendermaßen: „Man muß berücksichtigen, daß viele Genossen damals sich nur sehr wenig für Probleme außenpolitischen Charakters interessierten; sie meinten, daß alles, was außerhalb des unmittelbaren Klassenkampfes und des Kampfes gegen den Zarismus lag, von untergeordneter Bedeutung wäre." 0 Daher versuchte er, seine Gedanken möglichst weiten Kreisen zugänglich zu machen, er veröffentlichte sein mehrfach vorgetragenes Referat 1901 in Odessa als Broschüre unter dem Titel „Was zeigte der englisch-burische Krieg? Reguläre Armee und Miliz in der gegenwärtigen Situation". 8 E s war seine erste, nicht sehr umfangreiche Schrift; der ausgesprochen antienglische Akzent wurde in der Verurteilung des Vorgehens der englischen Truppen gegen die burischen Siedler deutlich. Angesichts der legalen Druckmöglichkeit befaßte sich der Verfasser jedoch vor allem mit militärpolitischen Aspekten; so arbeitete er den Unterschied zwischen Angriffskriegen bisher herrschender Regierungen und Verteidigungskriegen von bewaffneten Volksorganen in revolutionären Situationen heraus. „Unter den Bedingungen der Zensur mußte natürlich vieles weggelassen werden", schrieb er später in seinem autobiographischen Rückblick über seine erste Arbeit. „Der Grundgedanke der Broschüre bestand darin, den Charakter eines kommenden Krieges sowie die Überlegenheit der Miliz (als Verteidigungsorgan des Volkes - E . St.) über die reguläre Armee zu zeigen." 7 Verschiedentlich kam er in späteren Arbeiten auf dieses Thema zurück. Bereichert durch die Erfahrungen der revolutionären Kämpfe von 1905/07 formulierte er in der 1912 in zweiter Auflage erschienenen Broschüre „Bewaffnung des Volkes und Bewaffnung gegen das Volk" folgenden Gedanken: „Armee - das bedeutet Bewaffnung eines Teiles des Volkes gegen das ganze Volk. Sie besteht nicht zur Verteidigung des Volkes gegen auswärtige Feinde, sondern zur Verteidigung der Regierung gegen das Volk." Im Gegensatz dazu wäre „die Volksarmee, die Miliz, gut geeignet zur Verteidigung des Heimatlandes gegen unliebsame Angriffe; zum Überfall auf andere Völker ist sie jedoch untauglich". Unmittelbar unter dem Eindruck des drohenden Krieges schrieb Pavlovic an derselben Stelle: „Das Volk braucht keine Spezialisten für Mord und Totschlag! E s

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Ebenda, Sp. 105. M, Pavlovic, Cto dokazala anglo-burskaja vojna. Reguljarnaja armija i milieija v sovremennoj obstanovke, Odessa 1901. Pavlovic, Avtobiografija, Sp. 105.

lebe die Volksmiliz! Sie bietet die Gewähr für die Freiheit und für das Recht des Volkes! Dies sind die Forderungen der Sozialdemokratie!" 8 Es folgten weitere Schriften über militärische Fragen, über die Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes, über die Taktik des Straßenkampfes. Sicherlich genügten diese Arbeiten nicht in jedem Falle höchsten militärwissenschaftlichen Ansprüchen; in den Monaten der revolutionären Kämpfe 1905/07 dienten sie jedoch als Anleitung für die bewaffneten Auseinandersetzungen und hatten schon vorher dem Verfasser innerhalb der Sozialdemokratie den Ruf eines Sachverständigen für militärpolitische und -organisatorische Fragen eingebracht. „Wir, die Jüngsten in der damaligen Gruppe unserer Partei in Berlin", schrieb A. Joffe, „interessierten uns außerordentlich für diese Arbeiten, zum einen wegen der Aktualität des Themas, zum anderen aber auch deshalb, weil in diesen Beiträgen eine marxistische Analyse mit ernsthafter Kenntnis der militärischen Fragen verbunden war. Zu jener Zeit gab es bei uns noch keine marxistischen Militärfachleute, und wir meinten, diese Artikel könnte nur ein Spezialist geschrieben haben. Groß war daher unser Erstaunen, als wir erfuhren, daß sich hinter dem Pseudonym ,Volonter' unser Genosse Pavlovic verbarg, einer der friedfertigsten Menschen, ein echter Zivilist." 9 Wie viele andere Revolutionäre war Pavlovic während der beginnenden Krise 1905 nach Rußland zurückgekehrt. Im engen Kontakt mit den Bolschewiki wirkte er im Revolutionsstab in Moskau und in Petersburg; er nutzte seine Kenntnisse bei der Propaganda in Truppenteilen der Armee sowie in revolutionären Kampfeinheiten zur Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes, zur Organisierung von "Straßenkämpfen usw. „Er war die ,Seele' unseres Militärkomitees in Piter 1905/06", berichtete Antonov-Ovseenko. „Wir redigierten gemeinsam das illegale Organ ,Kazarma'." 10 Mit voller Energie konzentrierte er sich auf diese Arbeit, „um die innerparteilichen Auseinandersetzungen hingegen kümmerte ich mich weniger", 11 gestand er später. Im April 1906 wurde auch Pavlovic auf der Allrussischen Konferenz der Militärkomitees in Moskau verhaftet; nach einem Jahr Haft konnte er fliehen, zuerst nach Finnland, dann fand er in Paris erneut eine Zuflucht, diesmal für zehn Jahre. Der Weg Pavlovics zum Marxismus, zu den von Lenin erarbeiteten weltanschaulichen Erkenntnissen, die zum tieferen Verständnis der Gegenwart wie der Vergangenheit verhalfen, war nicht geradlinig. Seit Beginn seiner politischen Tätigkeit fühlte er sich der russischen revolutionären Sozialdemokratie zugehörig und stand mit ihr in engster Verbindung. In der Emigration in Frankreich gehörte er zur zahlreichen russischen „Kolonie",'in jenen Jahren vor dem ersten Weltkrieg war er eine „bekannte Persönlichkeit der russischen Emigrantenkreise in Paris, einer der populärsten und beliebtesten sozialdemokratischen Redner", wie Cicerin schrieb. „Er verstand, lebendig und verständlich zu sprechen, und fesselte damit die Aufmerksamkeit seiner Hörer, zugleich erfaßte er jedoch mit außerordentlichem Ernst den tiefen Inhalt der behandelten Themen." 12 Verlauf und Ergebnis sowohl des Russisch-Japanischen Krieges als auch der Revolution von 1905/07 und der in den folgenden Jahren sich ausbreitenden Bewegungen in den Ländern des Nahen Ostens und dann auch Chinas hatten neue Fragen in den Mit8

Volonter,

9

A. Joffe, N e m n o g o vospominanija, in: Pamjati P a v l o v i c a , S. 8. V. Antonov-Ovseenko, Pamjati M . P. P a v l o v i c a (Vcl'tmana), in: Pamjati P a v l o v i c a , S; 1 7 . Pavlovic, A v t o b i o g r a f i j a , Sp. 1 0 5 . G. V. Cicerin, V o s p o m i n a n i j a o M . P. V e l ' t m a n e - P a v l o v i c e , in: Pamjati P a v l o v i c a , S. 5 f.

10 11 12

V o o r u z e n i e naroda i v o o r u z e n i e p r o t i v naroda, 2. A u f l . , W i e n 1 9 1 2 , S. 7, 1 7 , 2 2 f.

87

telpunkt der Auseinanderset2ungen gerückt. Immer im engen Kontakt zur russischen sozialdemokratischen Emigration, wählte Pavlovic, zurückgreifend auf frühere Interessengebiete, für sich ein Arbeitsfeld, das er für die Zukunft für bedeutsam hielt: Er untersuchte Wesen, Inhalt und Erscheinungsformen des damaligen Imperialismus, vor allem dessen auswärtige Politik, in der er zunächst den Hauptinhalt der neuen Phase des Kapitalismus sah; dabei kam es ihm, im Unterschied zu anderen Theoretikern der internationalen Sozialdemokratie, vor allem darauf an, den Platz der national und kolonial unterdrückten Völker im System der imperialistischen Politik wie der internationalen Beziehungen herauszustellen. Hierbei - und das ist eines der Verdienste Pavlovics - legte er W e r t darauf, den engen Zusammenhang zwischen dem antiimperialistischen Kampf des Proletariats der hochentwickelten L ä n d e r einerseits sowie dem nationalen und antikolonialen Befreiungskampf der Völker Asiens und des Nahen Ostens, dann auch A f r i k a s , andererseits deutlicher zu machen. Eine Vielzahl seiner Artikel und Schriften zeugen vom zunehmend klareren Verständnis dieser Problematik. Pavlovic hatte sich in Paris den Menschewiki angeschlossen, doch verachtete er, wie Nikiforov feststellte 1 3 , das unfruchtbare liberale Geschwätz menschewistischer Disputanten, das sinnlose Suchen nach letztlich doch nicht realisierbaren, pseudorevolutionären Varianten, das sich nach der Niederlage der Revolution in R u ß l a n d in diesen Kreisen der Emigranten breitmachte. Er hatte sich daher, wie er später schrieb, „für die innerparteilichen Meinungsverschiedenheiten nie interessiert. Ich las nichts, außer dem, was in unmittelbarer Beziehung zur internationalen Politik und zum Orient stand." 1 4 Pavlovic studierte eingehend die zeitgenössische Presse und Publizistik, vor allem der europäischen Kolonialmächte; zugleich suchte und fand er in den folgenden Jahren engen Kontakt zu Vertretern der nationalen demokratischen und antikolonialen Bewegungen in den L ä n d e r n des Nahen Ostens, vor allem der Türkei und Persiens, aber auch Indiens und Chinas. Im Gegensatz zu anderen Vertretern der menschewistischen Strömung w a r er der Überzeugung, d a ß die Revolution von 1905/07 in R u ß l a n d den nationalen und antikolonialen Bewegungen neue Impulse vermitteln würde. Vielleicht sogar zu sehr im Banne der revolutionären Traditionen Frankreichs, das er sehr liebte, schrieb er, wie Nikiforov meinte, der russischen Revolution die gleichen Auswirkungen auf Asien zu wie der französischen Revolution Ende des 18. Jh. auf Europa. 1 0 Der Ausbruch des Weltkrieges polarisierte auch innerhalb der russischen Emigration in Frankreich die politischen K r ä f t e . Unter dem E i n f l u ß des leidenschaftlichen und unversöhnlichen Auftretens Lenins und seiner Mitstreiter gegen den Krieg, gegen jede Form der „Vaterlandsverteidigung" und gegen Sozialchauvinismus vollendete sich die Abkehr Pavlovics von den Menschewiki. W i e so manchen Revolutionär jener Generation führte auch ihn die Erfahrung des politischen Kampfes, ergänzt durch die zunehmend reicheren wissenschaftlichen Kenntnisse, dazu, die Richtigkeit des Leninschen W e g e s zu akzeptieren und kompromißlos für diesen einzutreten. Im Jahrzehnt nach der ersten russischen Revolution leistete Pavlovic eine zu jener Zeit sehr breit wirkende, auch heute noch beeindruckende Arbeit. Das betraf sowohl die publizistische und propagandistische Tätigkeit als auch die damit verbundenen wissenschaftlichen Studien. Für seine Spezialisierung auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen in Gegenwart und unmittelbarer Vergangenheit, darin eingebettet der Ge13 14 13

88

Vgl. V. N. Nikiforov, Sovetskie istoriki o problemach Kitaja, Moskau 1 9 7 0 , S. 88. Pavlovic, Avtobiogrifija, Sp. 1 0 6 . Nikiforov, Sovetskie istoriki, S. 8 7 .

schichte der nationalen Befreiungsbewegungen und des antikolonialen Kampfes der Völker Asiens und A f r i k a s , waren jene Jahre von entscheidender Bedeutung. Erste Anzeichen für das beginnende Interesse am „Vostok" fand S. V e l ' t m a n im T a g e buch sei,nes Bruders, in dem detaillierte Aufzeichnungen über die Kinder- und J u g e n d jahre in Odessa, über die illegale Arbeit der sozialdemokratischen Gruppe dieses Gebietes w i e auch über die Verbannung zu lesen waren - S. Vel'tman vermutete, sein B r u d e r wollte einen Roman über die ihm wohl vertraute Atmosphäre seiner Heimatstadt in den letzten Jahrzehnten des 19. J h . schreiben. In diesen Heften notierte Pavlovic bereits 1895 Ausschnitte aus einer R e d e Bebels, in der dieser über das Recht der unter türkischem Joch lebenden Völker auf nationale Selbstbestimmung sprach. „Seit jener Zeit", so meinte S. Vel'tman, der nach 1917 seinen Bruder bei der Umorientierung der orientalistischen Forschungen auf mehr gegenwartsbezogene Themen sehr rege unterstützte, „seit jener Zeit w a n d t e Pavlovic seinen Blick dem Vostok zu/' 16 Ein Roman ist augenscheinlich nicht zustande gekommen ; die nächste Arbeit zur östlichen Thematik galt dem Russisch-Japanischen Krieg - den Artikel, den er 1905 in Petersburg veröffentlichte, schrieb er „in einem Zug nieder, ohne das Zimmer zu verlassen". 1 7 Dies w a r einer der ersten Beiträge zur fernöstlichen Problematik in der russischen sozialdemokratischen Literatur. Hier legte er recht eingehend seine Gedanken über Angriffs- und Verteidigungskriege dar und schilderte die Politik der kriegführenden Mächte. Zu jener Zeit kannte Pavlovic sicher noch nicht die Arbeiten Lenins 1 8 , in denen sich dieser auch über den Russisch-Japanischen Krieg ä u ß e r t e ; erst später würdigte er Lenin als den ersten, „der bereits 1905 die Unausweichlichkeit machtvoller nationaler Befreiungsbewegungen in Asien voraussah". Ihn beeindruckte, d a ß „Lenin seit dem Russisch-Japanischen Krieg eine Reihe von hochinteressanten Artikeln über das neue Asien, über den neuen Orient geschrieben hatte. M i t diesem Moment", so meinte er, „beginnt die Erforschung des neuen Orients in der russischen sozialistischen Literatur." 1 9 W i e Pavlovic richtig vermerkte, konnte Lenin wichtige Grunderkenntnisse in die Literatur über die Geschichte und Gegenwart der Völker Asiens einbringen; die detaillierte Untersuchung stand aber zu jener Zeit noch aus. D i e Rückkehr nach Paris, erneut in die Emigration, bedeutete zugleich erneute Auseinandersetzungen um Form, Inhalt und Perspektive der sozialistischen Bewegungen in Europa wie der im Gefolge der russischen Revolution in einzelnen Ländern des Nahen Ostens und Chinas a u f f l a m m e n d e n Volksbewegungen. Eine erste Schrift zu diesem T h e m a veröffentlichte Pavlovic 1907 in Petersburg, d. h. in den Tagen der N i e d e r l a g e der Revolution in R u ß l a n d , unter dem Titel „Sozialistische Bewegung in Westeuropa". Sie w u r d e von den zaristischen Behörden sofort verboten und konfisziert und blieb daher weitgehend unbekannt. Sie enthält Überlegungen über die Ursachen der Unterschiedlichkeit im Charakter und R e i f e g r a d der revolutionären Arbeiterbewegung in Frankreich, E n g l a n d und Deutschland, die der Autor mit der Verschiedenheit bisheriger sozialökonomischer Entwicklungen, aber auch mit ethnischen Besonderheiten in Verbindung brachte. In den Tagen und Wochen, da sich nach der Niederschlagung der russischen Revolution in der Arbeiterbewegung des Landes Unsicherheit und Ratlosigkeit 16

S. Val'tman,

17

Ebenda.

Zizn' i smert' M . Pavlovica, in: Pamjati Pavlovica, S. 63.

iS

Vgl. W. I. Lenin, W e r k e , Bd. 7, Bd. 8 u. a.

19

M. P. Pavlovic, Oktjabr'skaja revoljucija i vostocnyj vopros, in: ders., most', Moskau 1 9 8 0 , S. 78.

Vostok v bor'be za nezavisi-

89

über den weiteren Weg ausbreiteten, gab Pavlovic seiner Uberzeugung Ausdruck, daß „die russische Sozialdemokratie eine große Zukunft erwartet, wie auch immer die gegenwärtigen Situation in dieser Partei sein mag" 20 . Eine Begründung dieser These, die 1907 den Einschätzungen einiger Führer der Menschewiki widersprach, sah Pavlovic in den Potenzen der ökonomischen Entwicklung Rußlands, in seinen gewaltigen natürlichen Reichtümern sowie in seinen geistigen Kräften, die bislang noch nicht voll zur Entfaltung gekommen waren. ( Zugleich leitete er daraus eine Verantwortung ab, die die russische revolutionäre Sozialdemokratie gegenüber den nationalen und antikolonialen Bewegungen der Völker zu tragen hatte, die im zaristischen russischen Reich selbst und in den anliegenden Ländern um ihre Befreiung kämpften. Erstmals klang hier der Gedanke an, daß es notwendig wäre, die revolutionären Bewegungen in Europa trotz aller Unterschiedlichkeit des historischen Reifegrades in ihrer Wechselseitigkeit mit dem Kampf der Völker Asiens um ihre soziale und nationale Befreiung zu sehen. Die historische Bedeutung dieses Gesamtprozesses wurde Pavlovic mit den zunehmenden Kontakten zu Vertretern der antikolonialen Bewegungen immer klarer; ihn zu unterstütz|en, stellte er sich zur Aufgabe. Und schließlich wurde es sein Verdienst, daß diese Fragen später zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen erhoben wurden. Es steht nicht im Widerspruch zu dieser Aussage, wenn festgestellt wird, daß Pavlovic kein Mensch der alleinigen theoretischen wissenschaftlichen Forschung war. Entsprechend seinem Temperament, seinen publizistischen Fähigkeiten, seiner nie erlahmenden Energie und Aktivität suchte und fand er engsten Kontakt zu Vertretern verschiedenster nationaler Bewegungen Asiens und des Nahen Ostens. Die bescheidene Pariser Wohnung wurde bald zum Treffpunkt politischer Emigranten vieler Länder. „In Paris besuchte ich alle Revolutionäre aus dem Orient, Jungtürken, persische Konstitutiona-* listen, indische Emigranten, chinesische Offiziere usw. In meiner Wohnung versammelten sich ständig indische, persische, chinesische Revolutionäre, mit denen wir Pläne der revolutionären Arbeit besprachen" 21 , schrieb er später. Es ist schade, daß es ihm nicht vergönnt war, mehr über seine täglichen Aktivitäten der verschiedensten Art in der Emigration zu Papier zu bringen. Dabei hätte auch Erwähnung finden müssen, daß er in 'jenen Jahren gemeinsam mit G. P. Zolotaev die bekannte „Turgenev"-Bibliothek der russischen Emigranten in. Paris leitete. Aus wenigen, in Artikeln zu anderer Thematik eingestreuten Bemerkungen erfahren wir nur bruchstückhaft einiges über seine Begegnungen mit Vertretern der persischen konstitutionellen Bewegung, die in den Jahren der persischen Revolution nach Europa gereist waren, um die Öffentlichkeit über den Kampf zur Durchsetzung bürgerlich-demokratischer Rechte in ihrem Lande zu informieren - Pavlovic nannte die Namen von Dr. Abdul Mirza und des Teheraner Kaufmanns Raim-Zadeh, mit denen er durch Frankreich und England reiste. 22 An anderer Stelle schrieb er voller Sympathie und innerer Anteilnahme über indische Emigranten verschiedener sozialer Zugehörigkeit, denen er in Frankreich und England begegnete und mit denen er sich durch die Gemeinsamkeit des Kampfes gegen den eigenen, d. h. den russischen, wie auch gegen den Imperialismus Englands und Frankreichs verbunden fühlte. Hier berichtete er über die (seit 1909) zunehmend engeren 20

21 22

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M. Pavlovic, Socialisticeskoe dvizenie na Zapade Evropy. Itogi i perspektivy, St. Petersburg 1907, S. 78. Pavlovic, Avtobiografija, Sp. 106. M. Pawlowitscb, Die Persische Revolution, ihre Ursachen, ihr Charakter und ihre Kampfmethoden, in: Die Neue Zeit, 1909/10, Bd. 2, Stuttgart 1910, S. 51.

Kontakte zu so bedeutenden Persönlichkeiten der indischen nationalen Bewegung wie Madame Cama, der „Mutter" der revolutionären Partei, wie sie genannt wurde, für die er in seinen Erinnerungen Worte der aufrichtigen Hochachtung fand, oder zu S. Krishnavarma, einem hochgebildeten Aristokraten, der in jenen Vorkriegsjahren zum Führer der nationalen indischen Bewegung wurde. An ihrer Seite setzte sich Pavlovic gemeinsam mit französischen Sozialisten für die Befreiung des von der englischen Polizei 1910 auf französischem Boden verhafteten Helden der indischen Volksbewegung, Savarkar, ein. Zahllose Gespräche, auch über die russische Revolution und deren Voraussetzungen, förderten bei den indischen Emigranten das Interesse an theoretischen Problemen der revolutionären Bewegung und das Verständnis für den Marxismus. Die aufrüttelnden literarischen Werke eines proletarischen Dichters wie Maksim Gor'kij, der mit Madame Cama korrespondierte, wirkten in dieser Richtung.215 Vielfach standen natürlich in diesen Gesprächen die Erfahrungen der russischen Revolutionäre aus den Jahren 1905/07 zur Diskussion. Darüber schrieb Pavlovic 1910: „Auch in Persien erwies sich der Generalstreik als gänzlich unwirksam im Kampf gegen die Karabiner der winzigen Armee der Teheraner Kosaken und der Sarbasen (Soldaten - E. St.) des Schah. Wir machten daher im Januar 1909 unsere persischen Genossen auf die Unzulänglichkeit der alten Kampfmethoden zur Herbeiführung eines völligen Sieges aufmerksam. Die persischen Kämpfer beschlossen dann auch, eine Militärmacht zu bilden, die den Schah mit Waffengewalt bezwingen und die Stütze der persischen Reaktion, die Armee der Teheraner Kosaken, aufs Haupt schlagen sollte." 2 ' 1 Pavlovic redigierte Proklamationen für persische, chinesische und indische Revolutionäre und Demokraten, er arbeitete an ihren Zeitungen und Zeitschriften mit. „Diese intensive Arbeit in der national-revolutionären Bewegung des Orients, der ich hervorragende Bedeutung beimaß, nahm mich ganz in Anspruch", schrieb er später. 2,5 Im Zeichen dieser Thematik standen auch seine vielseitigen propagandistischen Aktivitäten sowohl im Rahmen der von Lenin in jenen Jahren mit großer Aufmerksamkeit betriebenen Schulungen für die Mitglieder der Partei - über die Methoden der durchzuführenden Veranstaltungen kam es mitunter zu erregten Meinungsverschiedenheiten 20 - als auch darüber hinaus. „Die Türkei, Persien, Indien, China und Japan - das waren gewöhnlich die Themen seiner Referate wie auch seiner Bücher und Artikel", schrieb Cicerin. „Aus seinen Vorträgen erfuhren wir nähere Einzelheiten über die Auflösung der Madshlis, über den Marsch auf Teheran und über die Annahme der Konstitution in Persien. Genosse Volonter zeichnete mit besonderer Liebe und Aufmerksamkeit das Bild der Persönlichkeit von Sattar Chan, schilderte die Tätigkeit der Agnoman (örtliche 23

24 20 26

M a d a m e Cama interessierte sich besonders f ü r M . Gor'kij und bat Pavlovic, ihr den „Sturmvogel" ins Französische zu übertragen. „Das ist ein echtes Kunstwerk", sagte sie v o l l e r Bewegung, „besser als ein beliebiger A r t i k e l oder irgendeine Proklamation. Dieses Poem ist sehr wirkungsvoll gegen Ihren Tolstoj und gegen jene Leute bei uns, die einen K a m p f gegen England ablehnen." Zit. nach M. Pavlovic, Revoljucionnye siluety. Indusskaja emigracija v Parize 1 9 0 9 - 1 9 1 4 gg., in: ders., V o stok v bor'be, S. 1 5 5 ; vgl. dazu auch: A. Raikov, A Russian revolutionary and his Indian friends, in: Sovietland, August 1 9 7 7 , Nr. 5 , S. 1 7 f . ; H. Krüger, D i e A n f ä n g e sozialistischen Denkens in Indien. D e r Beginn der Rezeption sozialitischer Ideen in Indien v o r 1 9 1 4 , Diss. B, Berlin 1 9 7 9 , S. 4 3 f f . , 1 5 2 f f . M. Pawlowitscb, D i e Persische Revolution, S. 5 5 . Pavlovic, A v t o b i o g r a f i j a , Sp. 1 0 6 . V. I. Lenin,

Polnoe sobranie socinenij, Bd. 4 8 , S. 2 8 .

91

Volksorgane - E. St.) und das Heldentum der persischen Fedaji. Zugleich verwandte er viel Zeit und Mühe darauf, die Intrigen der zaristischen Vertreter in Persien zu enthüllen." 27 Die nationalen Bewegungen im Nahen und Mittleren Osten hatten Pavlovic in der Tat ganz besonders gefesselt; die im Laufe von 20 Jahren geschriebenen Artikel und Bücher zu verschiedenen Aspekten sowohl der imperialistischen Politik gegenüber diesen Ländern als auch über die Aktivitäten der antikolonialen Kräfte bezeugen dies. Der politischen und ökonomischen Situation in Persien und in der Türkei in den letzten eineinhalb Jahrzehnten vor dem Weltkrieg, vor allem der Agrarfrage in Persien, waren bemerkenswerte Beiträge in verschiedenen deutschen, französischen und englischsprachigen Zeitschriften gewidmet. 28 Er stützte sich vorwiegend auf Materialien aus der zeitgenössischen Publizistik, auf Kenntnisse aus vielen persönlichen Begegnungen und Gesprächen mit Vertretern der demokratischen Bewegung dieser Länder, nutzte aber auch Veröffentlichungen englischer, deutscher und französischer Wissenschaftler. In seinen Arbeiten über die persische Revolution beispielsweise, die er zwischen 1910 und 1914 veröffentlichte, untersuchte er die Haupttriebkräfte der revolutionär-demokratischen Bewegung, die sich gegenüberstehenden Kräfte. Interessant sind seine Ausführungen über die Rolle der Geistlichkeit, vor allem der mittleren und der niederen, die er in einer gewissen Etappe der Revolution als Trägerin der Kultur und des Fortschritts charakterisierte und die der weltlichen Macht gegenüberstand; sie setzte sich für eine Konstitution ein und wirkte in breiten Kreisen der revolutionären Kräfte so stark, daß, wie Pavlovic feststellte, „nachdem sich in der an russisches Gebiet angrenzenden Provinz Aserbeidschan unter dem unmittelbaren Einfluß der revolutionären Bewegung im Kaukasus eine persische Sozialdemokratische Partei' gebildet hatte, auch diese unter' dem Banner .Allahs und seines großen Propheten' in die Öffentlichkeit trat" 29 . Im Mittelpunkt dieser Beiträge standen Wertungen der politischen Entwicklung im Lande, zugleich aber auch außenpolitische Fragen, so der Platz, den Persien in den Beziehungen der europäischen Mächte, in erster Linie zwischen Rußland und England, einnahm. Hierbei beschränkte er sich nicht auf die Schilderung zwischenstaatlicher Beziehungen, sondern suchte deren Hintergründe in den ökonomischen Interessen, die in diesen Ländern dominierten. Zum anderen erkannte Pavlovic die kardinale Bedeutung der Agrarfrage für die weitere Bestimmung der Strategie und Taktik der revolutionären Bewegung in den kolonial unterdrückten und abhängigen Ländern Asiens. Die Beantwortung dieser Frage beeinflußte in der Tat entscheidend die Formulierung der Aufgaben der revolutionären Kräfte in den einzelnen Etappen des Kampfes, das Erkennen des Standortes der einzelnen Klassen und Schichten sowie der realen und potentiellen Bündnispartner. Im Zusammenhang mit den Diskussionen, die nach dem Weltkrieg und unter dem Einfluß der Revolution von 1917 in Rußland um die Perspektive der revolutionären Bewegung vor allem in Asien unter anderem auf den Tagungen und Kongressen der Kommunistischen Internationale geführt wurden, kam Pavlovic wiederholt auf diese Fragen zurück. In jenem Jahrzehnt vor dem Weltkrieg stand China nicht außerhalb des Blickfeldes. Wie bereits erwähnt, war der Ferne Osten Gegenstand früherer Arbeiten von Pavlovic

28

G. V. Cicerin, V o s p o m i n a n i j a o M . P. P a v l o v i c e - V e l ' t m a n e , i n : Pamjati P a v l o v i c a , S. 6. V g l . Bibliographie der Schriften P a v l o v i c s i n : Pamjati P a v l o v i c a , N r . 6 9 , 7 0 , 7 1 , 7 2 , 7 4 u. a.

29

M. Pawlowitsch,

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92

D i e Persische Revolution, S. 5 1 .

gewesen, doch jetzt, im Zusammenhang mit der nach der ersten russischen Revolution sich entfaltenden revolutionären Bewegung in Asien lenkten auch die Ereignisse im fernen China die Aufmerksamkeit verstärkt auf sich. Bemerkenswert sind seine Voraussagen über eine kommende Revolution im „Reich der Mitte" 3 0 . Bereits vor Beginn der Revolution, 1910, sah er nicht in der Durchführung von Reformen, also in der Veränderung vorhandener Mißstände auf friedlichem Wege, die reale Möglichkeit einer Umgestaltung der Gesellschaft, wie dies von liberaler Seite vorgeschlagen wurde. E r erkannte allein in den Volksmassen die entscheidende Triebkraft, die in der Lage war, die Gesellschaft grundsätzlich zu verändern. Daher begriff er den Charakter der revolutionären Bewegung in China als den „Aufstand des dritten Standes", als Kampf der städtischen Bourgeoisie, des. Industrie- und Landproletariats, der mittleren und kleinen Bauernschaft gegen die bestehende Ordnung der Großgrundbesitzer und der Bürokratie. Diese, Lenins Einschätzung nahekommende Charakteristik der Revolution von 1911 in China wie deren Vorgeschichte entsprach nicht der in der menschewistischen Literatur vorherrschenden Meinung. Doch enthielt sie dadurch, daß sich Pavlovic ausschließlich auf die zeitgenössische bürgerliche Publizistik stützen mußte und ihm andere Quellen nicht zur Verfügung standen, mitunter auf nicht genügender Sachkenntnis der sozialen Struktur des Landes beruhende Überbewertungen des revolutionären Reifegrades der chinesischen Bourgeoisie wie auch der Rolle des chinesischen Proletariats und der Bauernschaft. Dennoch waren diese Untersuchungen, die sich durch ihr leidenschaftliches Engagement sehr spürbar von den schriftlichen Äußerungen menschewistischer Autoren unterschieden, ein wertvoller Beitrag zur marxistischen Analyse der nationalen Befreiungsbewegungen in der imperialistischen Epoche. 3 1 Angesichts der Tatsache, daß Pavlovic die von ihm untersuchten Länder außerhalb Europas nie besucht hatte und die Sprachen dieser Völker nicht beherrschte, ist es erstaunlich, wie feinfühlig er innere Prozesse dort wahrnehmen konnte und diese zugleich engagiert und scharfsinnig wertete. „Ich bin sehr zufrieden und froh, den Band Ihrer Artikel gedruckt zu sehen", schrieb ihm unmittelbar vor dem Weltkrieg Maksim Gor'kij, der mit ihm in jenen Jahren mehrfach über die Geschichte der internationalen Beziehungen korrespondierte, „denn ich lese Ihre Arbeiten - und bitte nehmen Sie dies nicht als reines Kompliment auf - immer mit dem größten Interesse und werte sie als das Bedeutsamste, was zur Zeit in der russischen Literatur zu Problemen der internationalen Politik erscheint." 32 So manche Gedanken Pavlovics zur Politik der imperialistischen Mächte gegenüber den asiatischen Ländern sowie zur nationalen und kolonialen B e freiungsbewegung in Asien sind als sachkundige Auseinandersetzung zu zeitgenössischen Entwicklungen bis heute von unbestreitbarem Wert. Im Laufe der Jahre erweiterte sich der Interessenkreis des streitbaren Publizisten. D i e revolutionäre Praxis machte ein neues Durchdenken vieler konkreter Fragen erforderlich; der stürmische Verlauf der Ereignisse seit der Jahrhundertwende drängte zu neuen Entscheidungen. In den Diskussionen der internationalen, in erster Linie der 30

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32

M. Pawlowitsch, Die revolutionäre Bewegung und die politischen Parteien im heutigen China, in: Die Neue Zeit, 1 9 1 0 / 1 1 , Bd. 2, S. 37 ff., 8 0 ff.; ders., Die G r o ß e Chinesische Revolution, in? ebenda, 1 9 1 1 , Nr. 11, 1 9 1 2 , Nr. 14, 1 6 . Vgl. Nikiforov, Sovetskie istoriki, S. 8 6 ff.; Ju. M. Garusjanc, W . I. Lenin o roli narodnych mass v Kitajskoj revoljucii 1 9 1 1 goda, in: Narody Azii i Afriki, 1 9 6 6 , Nr. 3, S. 1 4 4 ff. M. Gor'kij an Pavlovic, in: Novyj Vostok, 1 9 2 8 , N r . 2 0 / 2 1 , S. X X I V .

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europäischen sozialistischen Bewegung rückten immer mehr jene Fragen in den Vordergrund, die die neue Phase der Entwicklung des Kapitalismus betrafen. Es wurde notwendig, Wesen, Inhalt und Erscheinungsformen wie auch den historischen Platz des Imperialismus genauer zu analysieren. Dabei ging es um die Antwort auf die Frage - und dies zeigt die politische Brisanz der theoretischen Erörterungen - , wie die Arbeiterklasse und die Arbeiterparteien sich im Falle eines Krieges verhalten mußten. Die russischen revolutionären Sozialdemokraten, die in verschiedenen Ländern Asyl gefunden hatten, beteiligten sich lebhaft an diesen Diskussionen, unter ihnen und mit in vorderster Front M. Pavlovic, der eine beachtliche Zahl von Artikeln, Aufsätzen und Einzelschriften beisteuerte. In seinen Untersuchungen über den Imperialismus in den hochentwickelten Ländern Europas und in den USA war er zu der Erkenntnis gelangt, daß diese 'neue Phase im Gegensatz zur vorherigen von einer zunehmenden Aggressivität in der Außenpolitik charakterisiert wurde. Im Unterschied zu anderen Theoretikern fand er die Ursachen für diese Entwicklung in der Verlagerung des Schwergewichts der Produktion auf den Bereich der Schwerindustrie, insbesondere der Metallindustrie. Er stellte hier die Entstehung von Syndikaten und Kartellen fest; damit hatte die Konzentration der Produktion in diesem Wirtschaftsbereich einen Grad erreicht, der es ihr möglich machte, „Kaisern und Präsidenten "ihren Willen zu diktieren" 33 . Ausdruck fand diese Erscheinung nach Pavlovic in dem seit Beginn des Jahrhunderts sich verstärkenden Ringen um den Bau von Eisenbahnlinien und um die Erschließung von Seewegen, deren ökonomische Voraussetzung eine hochentwickelte Metallindustrie, deren politische Folgen zunehmender Kampf um neue Territorien (Rohstoffquellen, Absatz, d. h. Kolonien) waren. Hierin sah Pavlovic auch die Begründung für die sich zuspitzenden Widersprüche zwischen einzelnen Mächtegruppen, hierin sah er die Realisierung der imperialistischen Eroberungspolitik, hier sah er die Ursachen für drohende imperialistische Kriege. Diese Konzeption, die er erstmals 1912, dann ausführlicher 1913 formulierte 34 und während des Weltkrieges angesichts der neuen Tatsachen und Erfahrungen ergänzte und vertiefte, stand für Pavolic nicht im Widerspruch zu den von Lenin 1916 definierten Charakteristika des Imperialismus. 35 Im Gegenteil glaubte er die bedeutende Rolle, die er der Metallindustrie bei der Konzentration der Produktion während der eineinhalb Jahrzehnte vor dem Weltkrieg zumaß, auch später in Übereinstimmung mit Lenins Analyse der neuen Phase der kapitalistischen Entwicklung, die seit dem Beginn des Jahrhunderts in den wichtigsten Ländern zu beobachten war. Reiches statistisches Material nutzte Pavlovic bei der Darstellung der aggressiven Expansionspolitik der imperialistischen Mächte vor 1914, vor allem im außereuropäischen Raum, in Asien, im Nahen Osten, .aber auch in Lateinamerika. Der Bau des Panamakanals und dessen Bedeutung für die Expansionspolitik der US-amerikanischen Schwerindustrie und der Kampf um die Aufteilung des afrikanischen Kontinents während des Weltkrieges wurden, wie manche andere Fragen, gesondert untersucht. 36 33

Mich. Pavlovic, Imperializm, Moskau 1 9 2 3 , S. 1 9 9 . '' Mich. Pawlowitsch, D i e transiranische Eisenbahn und die englisch-russischen Beziehungen, in: D i e Neue Zeit, 1 9 1 2 , Nr. 1, S. 3 0 f f ; ders., Velikie zeleznodoroznye i raorskie puti buduscego. E k o nomiceskie osnovy vnesnej politiki sovremennych gosudarstv, St. Petersburg 1 9 1 3 .

3

35 36

94

Pavlovic, A v t o b i o g r a f i j a , Sp. 1 0 6 . Mich. Pawlowitsch, D e r Panamakanal und der K a m p f um die W e l t m ä r k t e , in: D i e Neue Zeit, 1 9 1 3 , Nr. 5 1 , S. 9 6 5 f f . ; M. P. Pavlovic, M i r o v a j a vojna i bor'ba za razdel cernogo kontinenta, Moskau 1 9 1 8 .

Seine Schrift über die Pläne der Großmächte zur Aufteilung Afrikas hatte Pavlovic sicher noch in Paris zu Papier gebracht, nach 1916, wie aus dem T e x t hervorgeht, doch er kannte bei der Drucklegung der Arbeit bereits die Leninsche Abhandlung über den Imperialismus, er zitiert aus ihr in der Einführung. Interessanterweise berief er sich hierbei gerade auf Lenins Definition des Imperialismus als „seinem ökonomischen W e sen nach monopolistischen Kapitalismus." 3 7 Pavlovic schloß sich diesen Überlegungen an, wenngleich auch damit noch nicht gesagt werden kann, daß er den Inhalt der Leninschen Theorie, die formationsgeschichtliche Einordnung des Imperialismus als höchstes und 'letztes Stadium der auf kapitalistischer Ausbeutung beruhenden Gesellschaftsordnung und die daraus für die Arbeiterklasse und ihre Parteien zu ziehenden Schlußfolgerungen vollständig erfaßt hätte. Dies konnte nicht schlagartig erfolgen; dies erforderte geraume Zeit, besonders wenn man berücksichtigt, welche gigantischen Anforderungen nach der Errichtüng der Sowjetmacht bei gleichzeitigem K a m p f gegen innere und äußere Feinde in den ersten Jahren an die führenden marxistischen Theoretiker gestellt wurden. Theoretische Erörterungen über Imperialismus und Krieg standen zu jener Zeit im engen Wechsel mit den täglichen Auseinandersetzungen - und dies 14m so mehr, je drohender die Gefahr eines Krieges heranrückte. D i e T a g e und Wochen des Juni/Juli 1914 waren in vielen großen und kleinen Städten Europas erfüllt von heißen Debatten auf zahllosen Versammlungen, Kundgebungen und Demonstrationen, so auch in Paris. Pavlovic hatte während seines mehr als zehnjährigen Emigrantendaseins engen K o n t a k t zur französischen sozialistischen Bewegung gefunden; seine erste Begegnung mit J e a n J a u rès, dem Führer der sozialistischen Partei, von dem er stark beeindruckt war, erwähnte er aus dem Jahre 1902. Als Korrespondent verschiedener Pariser Zeitungen besuchte er örtliche und überregionale Kongresse der französischen Sozialisten und Konferenzen der I I . Internationale. E i n eindrucksvolles B i l d jener spannungsreichen Wochen nach dem Attentat in Sarajevo bis zum Mord an Jaurès und der allgemeinen Mobilmachung in Frankreich vermittelte er in recht ausführlichen Tagebuchnotizen, die er 1918 in Moskau veröffentlichte. Aus der Sicht eines nicht nur scharf beobachtenden, sondern auch politisch leidenschaftlich engagierten russischen Sozialdemokraten, der zuvor die Unausweichlichkeit imperialistischer kriegerischer Auseinandersetzungen und Zusammenstöße erkannt und wissenschaftlich begründet hatte, schilderte er die Debatten, die auf diesen Zusammenkünften der französischen Sozialisten in jenen Sommermonaten geführt wurden. G a n z im Banne der Persönlichkeit von Jaurès, aber dessen Standpunkt nicht in jeder Frage voll akzeptierend, das Für und W i d e r über den Generalstreik im Falle eines Kriegsbeginns in Kenntnis der vorherigen Debatten auf den Tagungen der Internationale verfolgend, mit Unverständnis und Enttäuschung das Auftreten der Vertreter der deutschen Sozialdemokratie und seine persönlichen Gespräche mit ihnen (er nannte den Reichstagsabgeordneten für Elsaß-Lothringen, Georg Weill, und den Publizisten Salomon Grumbach) kommentierend, voll Hoffnung auf die siegende. Vernunft und das Klassenbewußtsein der führenden Parteien der Internationale und zugleich im Zweifel daran, ob es gelingen würde, die Beschlüsse von Stuttgart und Basel einzuhalten und die drohende Katastrophe abzuwenden - so widerspiegeln diese Tagebuchblätter jene sich von T a g zu T a g verschärfende Atmosphäre. 37

Ebenda, S. 11.

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„Die heutige Sitzung des Kongresses (der französischen Sozialisten - E. St.) war äußerst interessant", notierte er am 15. Juli, „und dies sowohl ihrem Inhalt nach als auch in der Leidenschaftlichkeit der Debatten. Wie immer auf den französischen Kongressen gab es viele stürmische Zusammenstöße und dramatische Episoden." Die Aufzeichnungen des nächsten Tages enthalten die Zusammenfassung der vorgetragenen Meinungen, Wertungen der Reden der deutschen Vertreter und schließlich, unter dem Eindruck des Erlebten, folgende Passage: „Nein, ein Krieg ist unmöglich, unmöglich gerade angesichts der drohenden Perspektive, die mit ihm verbunden ist. Aus Angst vor der Möglichkeit einer sozialen Katastrophe wird die deutsche Regierung es nicht wagen, einen europäischen Brand zu entfachen, der auch das Gebäude des preußischen Militarismus und des deutschen Junkertums erfassen würde. Doch habe ich nicht selbst erst vor wenigen Monaten," so fügt er hinzu, „geschrieben, daß derjenige, der mit dem Feuer spielt, einen Brand riskiert, wer den Wind sät, einen Sturm hervorruft. Mit anderen Worten, auch ich bin der Meinung, daß ein Krieg durchaus möglich ist." 38 Pavlovic war in seinen Untersuchungen zu dem Ergebnis gelangt, daß ein großer europäischer Krieg historisch unabwendbar war, daß „die Widersprüche der imperialistischen Interessen die Menschheit unausweichlich in eine schreckliche Katastrophe führen müssen. Zugleich war er", wie Antonov-Ovseenko in seinen Erinnerungen an die gemeinsam in Paris verbrachten Vorkriegsjahre schrieb, „der Überzeugung, daß aus dem Krieg die Revolution erwachsen werde. Doch er hielt den Krieg für einen zu hohen Preis für die Revolution. Seine Pflicht als Sozialist sah er darin, mit allen Mitteln gegen einen Krieg zu kämpfen." 39 Dies geschah sowohl in der Tagespresse als auch im Rahmen der Vorbereitung des vom Büro der II. Internationale für Ende August 1914 nach Wien einberufenen Kongresses. Für diesen sollte er, wie unter dem 6. Juli vermerkt ist, Ausarbeitungen für die Referate über den russischen Imperialismus, über die armenische Frage und über Imperialismus und Schiedsgerichte (einschließlich der für die Presse notwendigen Kurzfassungen in englischer, deutscher und französischer Sprache) vorlegen. „Mit einem Wort - eine Unmenge an Arbeit steht bevor . . . Ich werde mich besonders gründlich mit dem Referat über Imperialismus und Schiedsgerichte befassen", notierte er an derselben Stelle, „und mich bei der Gelegenheit kritisch mit den Ansichten von Jaurès auseinandersetzen." 40 Als der Krieg begonnen hatte, „trat er vom ersten Tage an als konsequenter Internationalist auf, treu den Beschlüssen von Stuttgart und Basel"' 51 . Neben V. Antonov-Ovseenko und D. Manuilskij gehörte er zu den wenigen russischen Sozialdemokraten in Paris, die in zahllosen Reden, auf Versammlungen und in der Presse kompromißlos von internationalistischen Positionen aus gegen den Krieg Partei ergriffen. 42 Von der Februarrevolution in Rußland erfuhr Pavlovic in Paris. Neben M. Pokrovskij und Agafonov gehörte er zu dem „Dreigespann", das den Auftrag erhielt, die im Archiv der zaristischen Botschaft in der französischen Hauptstadt aufgefundenen Dokumente zu sichten und sicherzustellen. Als sich für die russischen Emigranten in Frankreich die Möglichkeit eröffnete, in die Heimat zurückzukehren, ernannte man ihn zum. 3ä 39 40 41 42

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M. P, Pavlovic (Mich. Vel'tman), Francija nakanune mirovoj vojny, Moskau 1 9 1 8 , S. 67 f. V. Antonov-Ovseenko, Pamjati Pavlovica, S. 18. Pavlovic, Francija, S. 22. Antonov-Ovseenko, Pamjati Pavlovica, S. 18. Jagov, Parizskaja émigraciaja v gody vojny, in: Katorga i ssylka, Moskau 1 9 2 4 , Nr. 3 (10), S. 200.

Hauptverantwortlichen für die Organisation, die für die Abreise der russischen politischen Emigranten aus Frankreich zu sorgen hatte. Gemeinsam mit Pokrovskjj verließ er am 17. Juli 1917 Paris, nach mehr als zehnjähriger Emigration, um mit den letzten, etwa eintausend, in der Mehrzahl bolschewistischen Revolutionären per Schiff die Heimfahrt anzutreten. 43 Nach dem Sieg des Oktoberaufstandes in Petrograd und Moskau stellte sich Pavlovic sofort an der Seite der Bolschewiki, in deren Partei er 1918 eintrat, den neuen Aufgaben. Cicerin kannte seine Fähigkeiten und Neigungen aus der Pariser Zeit und bezog ihn unverzüglich in die Arbeit des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten ein. Wie kaum ein anderer war Pavlovic berufen, sich sachkundig an der Sichtung des Geheimarchivs des ehemaligen Außenministeriums zu beteiligen, aus dem, entsprechend den Grundprinzipien der Politik der Sowjetregierung, die die Aufdekkung der bisherigen volksfeindlichen Geheimdiplomatie erforderten, erste, höchst aufschlußreiche, die Handlungsweisen der gestürzten Regierungen wie auch europäischer Mächte charakterisierende Dokumente zur Publikation vorbereitet wurden. Wenige Monate später fuhr er als Militärexperte in der Delegation unter A. A. Joffe zu den Verhandlungen mit den Vertretern Deutschlands nach Brest-Litovsk. 44 Der folgende Kampf gegen die innere Konterrevolution und gegen die ausländischen Interventen zwangen auch Pavlovic zum aktiven militärischen Dienst an verschiedenen Frontabschnitten, vor allem an der Südfront. Lenin kommentierte dies 1919 scherzhaft mit der Bemerkung: „Wie weit hat uns die Entente gebracht, daß sogar Pavlovic ein Pferd besteigen muß!" 4 5 Einige seiner Publikationen jener Jahre vermitteln einen Eindruck von seinen Aktivitäten als Propagandist und Mitarbeiter der Politabteilung der Südfront - so Vorträge über die "internationale Lage und die Politik der Sowjetregierung besonders gegenüber den Nachbarstaaten sowie über Fragen der Nationalitätenpolitik. 46 Seine Beziehungen zu Bildungseinrichtungen der Roten Armee blieben auch in den folgenden Jahren sehr eng; er gehörte zu den Begründern und ersten Professoren ^er Akademie des Generalstabes der Roten Armee und hielt hier mehrere Jähre Vorlesungen, darunter über theoretische Probleme des Imperialismus. 47 Erst 1920 kehrte er nach Moskau zurück und konnte sich nun jenen Fragen zuwenden, mit denen er sich seit mehr als einem Jahrzehnt befaßt hatte. Die Außenpolitik der jungen Sowjetregierung, die im Gegensatz zur Politik der zaristischen Regierung ihre Beziehungen zu allen Staaten, darunter auch und nicht zuletzt zu denen des Vorderen Orients und Asiens, auf völlig neuer Grundlage herzustellen suchte, setzte voraus, die Geschichte und Gegenwart der Völker des sowjetischen Ostens wie auch der östlichen Nachbarvölker intensiver und umfassender, als dies bisher geschehen war, zu erforschen, ihnen einen festen Platz in den Akademien und historischen Instituten zu sichern. Dies war durchaus keine leichte Aufgabe.

43 44

Ebenda, S. 2 0 4 . A. Joffe, Nemnogo vospominanija, S. 8.

47

Ebenda. Pavlovic, Ekonomiceskie osnovy vnesnej politiki sovremennych gosudarstv. Cto takoe imperialiszm (Vorlesungen in der Politabteilung der Südfront), Orel, Char'kov, Ekaterinoslav 1 9 2 0 ; ders., V o j n a s polskimi p a n a m i ; ders., Ukraina kak ob-ekt mezdunarodnoj kontrrevoljucii, ders., Chozjajstvennaja razrucha, ee priciny i bor'ba s n e j ; ders., N a vysotach krasnogo D a g e s t a n a ; ders., Iz istorii kontrrevoljucii,na K a v k a z e . Diese Vorlesungen wurden 1 9 2 3 veröffentlicht, vgl. A n m . 33.

7

Jahrbuch 25/1

45 46

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M. Pavlovic wurde zu Recht von seinen Zeitgenossen als der Begründer der marxistischen Orientalistik anerkannt; er findet als solcher in der sowjetischen Wissenschaftsgeschichte verdientermaßen zunehmende Aufmerksamkeit. Eine umfassende, alle Bereiche seiner vielseitigen Aktivitäten einbeziehende Würdigung steht aber noch aus. In der Einführung zu dem ersten Sammelband ausgewählter Schriften von M. Pavlovic schreiben N. A. Kuznecova und L. M. Kulagina, die heutigen bedeutenden Leistungen der sowjetischen Orientalistik lassen die an deren Anfängen aufgetretenen Mängel und Unzulänglichkeiten, so in der Akribie der Quellenkritik, in der Kenntnis der Sprachen der orientalischen Völker und vieles andere, in den Hintergrund treten; und dennoch, „der heutige Leser braucht auch die politischen Pamphlete' von Pavlovic mit ihrem revolutionären Kampfgeist, mit ihrer scharfen polemischen Heftigkeit, mit der bewundernswerten Frische der gerade erst entstandenen Formulierungen, dem Fehlen jeglicher pathetischer Phrasen".'' 8 Sicher zu Recht wird festgestellt, daß sich Pavlovic mit- der Mehrzahl seiner Publikationen - die 1928 angefertigte unvollständige Bibliographie weist 241 Titel aus - an breite Leserkreise Sowjetrußlands wandte, an Leser also, die mit dem Thema nur unvollkommen vertraut waren, die im Gefolge der. Erfahrungen des Weltkrieges und der Revolution erst begonnen hatten, sich mit Problemen der nationalen und antikolonialen Bewegung, deren Abhängigkeit und Zusammenhang mit Grundfragen des Imperialismus sowie mit der Rolle und Funktion des ersten Arbeiter-und-Bauern-Staates in dem neu entstehenden Gefüge der internationalen Beziehungen bekannt zu machen. 49 M. Pavlovic, der „rote Imperialist", wie ihn Zeitgenossen nannten 50 , gehörte zu den wenigen im jungen Sowjetrußland, die an verschiedenen Hochschuleinrichtungen erste Lehrveranstaltungen zu dieser Thematik abhielten. Lenin kannte die Arbeiten Pavlovics und wußte um deren starke Seiten. Daß er dessen Publikationen genau verfolgte, bezeugt die Bibliothek in seinem Arbeitszimmer im Kreml, die 34 Titel Pavlovics enthielt. In einem Brief vom 31. Mai 1921 bat Lenin um dessen Mitarbeit bei- der Herausgabe eines für den Unterricht vorgesehenen Atlasses, der nach seiner Meinung auch graphische Darstellungen über die Entwicklung des Imperialismus enthalten sollte. So schlug Lenin im einzelnen vor, Karten über die Ausbreitung der kolonialen Besitzungen seit 1876, über die finanzielle Abhängigkeit der einzelnen Länder und den Grad ihrer Verschuldung, des weiteren, über die Ausdehnung des Eisenbahnnetzes in der Welt mit den entsprechenden Vermerken über deren Eigentümer und schließlich über die wichtigsten Rohstoffquellen und deren Nutzung durch die verschiedenen Länder anzufertigen. 51 Teilergebnisse der bereits 1911 begonnenen Untersuchungen über „Genesis und Grundzüge der imperialistischen Politik der gegenwärtigen Mächte" konnte Pavlovic schon vor Kriegsbeginn publizieren; er setzte sie nunmehr fort mit einer Reihe von Studien unter dem Thema „Die RSFSR in der kapitalistischen Umkreisung", die sich mit dem Verhältnis des jungen Sowjetstaates zu England, Frankreich, Japan und anderen imperialistischen Staaten befaßten. Dieses achtunggebietende Arbeitspensum wurde durch weitere Aktivitäten ergänzt, die das konkrete Verhältnis zu den Völkern des sowjetischen Ostens wie auch zu den angrenzenden östlichen Nachbarstaaten betrafen.

49 50 51

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Vgl. die Arbeiten von N. A. Kuznecova und L. M. Kulagina, inbes. deren Einführung zu M. P. Pavlovic, Vostok v bor'be za nesavisimost'; ebenda, S. 3 9 f. Pavlovic, Imperializm. R. Abich, „Krasnyj Imperialist", in: Pamjati Pavlovica, S. 99 f f . W. I. Lenin, Werke, Bd. 35, S. 4 7 6 f. Dieses Projekt konnte zu jener Zeit nicht verwirklicht werden.

D i e in vielen Teiluntersuchungen dargestellte Geschichte der Orientalistik 5 2 weist vor allem seit dem Beginn des 19. Jh. bemerkenswerte Leistungen bedeutender russischer Gelehrter in einer großen Anzahl von Fachbereichen auf, so bei der Erforschung der Geschichte der Sprachen, der Literatur, der Kultur der asiatischen und orientalischen Völker, bei geographischen und ethnographischen Erkundungen und vieles andere mehr. Dennoch formulierte S. Ol'denburg, ein Indologe, der mit den orientalischen Forschungen als langjähriger Sekretär der Petersburger Akademie der Wissenschaften (1904 bis 1929) aufs engste verbunden war, in einer gedenkenden Würdigung Pavlovics folgendes: „M. Pavlovic lernte ich mitten in der Revolution kennen. Uns führte die gemeinsame Liebe zum Orient zusammen und die Erkenntnis der dringenden Notwendigkeit, bei uns den Orient zu erforschen. M. Pavlovic lenkte die Aufmerksamkeit auf einen charakteristischen Zug der wissenschaftlichen Orientalistik, der fast allen Disziplinen gleichermaßen anhaftete, die den Menschen - dieses schwerste aller Forschungsobjekte - untersuchen. Pavlovic sah, daß die wissenschaftliche Orientalistik sich nur wenig, ausgenommen bestimmte Bereiche der Linguistik, mit der Gegenwart befaßt." 0 3 D i e Gegenwart in die Aufmerksamkeit akademischer und Hochschuleinrichtungen einzubeziehen, hielt Pavlovic in der Tat für außerordentlich wichtig. Dabei die Erfahrungen, Kenntnisse und Ergebnisse der traditionsreichen bisherigen Forschung zu nutzen schien ihm dringend geboten. Doch verstand er dieses „Nutzen" nicht im vereinfachenden Sinne; er meinte die Verarbeitung und Aneignung der bedeutenden Leistungen hervorragender Gelehrter vergangener Generationen; seine Bemühungen um die Uberwindung der anfänglich in den Beziehungen zu Gelehrten alter Schule enthaltenen spürbaren Schärfe brachten ihm von deren Seite Achtung und Anerkennung ein. 54 Zum anderen - und darin besteht das historische Verdienst dieses unermüdlichen Enthusiasten der ersten Stunde - eröffnete er der orientalistischen Forschung neue Bereiche, er faßte sie auf als „Teil der Wissenschaft über die Gesellschaft, die nicht nur die weit zurückliegende Vergangenheit der Völker des Ostens erforschen muß, sondern auch die Gegenwart, um die Entwicklung dieser Völker zu unterstützen, ihnen im Kampf um die Befreiung von kolonialer und sozialer Versklavung zu helfen" 0 0 . Das bedeutete ein Hinlenken von Forschung, Lehre und Publikation auf bis dahin nicht oder nur sehr begrenzt beobachtete Komplexe wie die sozialökonomische und klassenmäßige Struktur kolonial unterdrückter Gesellschaften in asiatischen und orientalischen Ländern in Vergangenheit und Gegenwart; die Zurückgebliebenheit der sozialökonomischen Beziehungen und der Grad des Vordringens der Kapitalisierung im Wirtschaftsleben dieser Länder und dessen Abhängigkeit von den entwickelten ¡Ländern Westeuropas; der Entwicklungsstand der Ware-Geld-Beziehungen; Klassenstruktur, insbesondere auf dem Land und viele andere, daraus abgeleitete Fragen. An der Spitze einer - gemessen an der Vielzahl und Größe der Aufgaben - kleinen Gruppe von Enthusiasten - hier seien die Namen von V . A. Gurko-Krjazin, Irandust 52

03 54 55



V. V. Bartol'd, Istotija izucenija vostoka v Evrope i Rossii, 2. Aufl., Leningrad 1925, vgl. auch in: Socinenija, Bd. IX, Moskau 1 9 7 7 ; V. N. Nikiforov, Yostok i sovremennaja istorija, Moskau 1 9 7 7 ; ders., Sovetskie istoriki o problemach Kitaja; A. N. Kononov/I. I. Ioris, Leningradskij vostocnyj institut, Moskau 1 9 7 7 ; T. A. Sumovskij, Vospominanija arabista, Leningrad 1 9 7 7 ; N. A. Kuznecova/L. M. Kulagina, Iz istorii sovetskogo vostokovedenija 1 9 1 7 - 1 9 6 7 , Moskau 1970, u. a. S. Ol'denburg, Pamjati M. P. Pavlovica, in: Pamjati Pavlovica, S. 32. Vgl. ebenda; Pavlovic, Akademija Nauk i vostokovedenie, in: ders., Vostok v bor'be, S. 252 ff. Kuznecova/Kulagina, Einführung, S. 19.

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(V. P. Osetrov), S. Iranskij (S. K . Pastuchov), I. N. Borozdin, A. Je.Chodorov, K . Trojanovskij genannt - ging M. Pavlovic nach der Rückkehr von der Front an die Verwirklichung der gestellten Aufgaben. Bestehende wissenschaftliche Einrichtungen mußten mit den neuen Anforderungen vertraut gemacht werden, neue Institute und Hochschulen wie die Kommunistische Universität der Werktätigen des Ostens als bedeutendste dieser Art wurden gegründet, mit neuen Lehr- und Forschungsprogrammen. Als Mitglied des Kollegiums des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen leistete Pavlovic eine gewaltige Arbeit, in der die theoretischen und methodologischen Überlegungen eng verbunden wurden mit den praktisch-politischen Aufgaben bei der Verwirklichung der Nationalitätenpolitik des Sowjetstaates wie auch bei der Realisierung der auf-den Prinzipien der Gleichberechtigung und Achtung der Souveränität und Integrität der Nachbarstaaten beruhenden Außenpolitik. Pavlovic wurde einbezogen in die Behandlung handelspolitischer Fragen - er war der Vorsitzende der Russisch-Orientalischen Handelskammer - , aber auch in die praktische Verwirklichung der schließlich in die Gründung der Union einmündenden Nationalitätenpolitik, ein Aufgabenfeld, das er mit Takt und Feingefühl zu meistern suchte: „Der komplizierten und verantwortungsvollen Frage der nationalen Minderheiten schenkte M. Pavlovic viel Aufmerksamkeit", schrieb Ol'denburg, „und unsere östlichen Unionsrepubliken werden ihm deshalb dankbare Erinnerung bewahren, weil er immer das Recht auf Selbstbestimmung verteidigte und auf die Wichtigkeit der Erhaltung der Vielfalt der Bevölkerungsstruktur unserer Union verwies. Denn mit dem Untergang eines jeden Volkes gehen aus dem Antlitz der ganzen Menschheit wertvolle und notwendige Züge verloren. Das Leben tendiert auch unabhängig davon recht stark zur Nivellierung, und die Menschen streben immer mehr zur Koordinierung und Vereinigung, ohne die gesellschaftliche Bedeutung der Vielfalt genügend zu berücksichtigen." 56 Es verdient festgehalten zu werden, daß Ol'denburg sich in dieser Uberzeugung mit Pavlovic in Übereinstimmung wußte. Sicher waren es nicht zuletzt jene Eigenschaften wie Einfühlungsvermögen und Takt neben Sachkenntnis und politischer Urteilsreife, die ihn zur „Seele" der Wissenschaftlichen Assoziation für Orientalistik ( V N A V ) werden ließen. Auf Anraten von Lenin und mitinspiriert von Maksim Gor'kij, der sich sehr um den Fortbestand und die Förderung der nun auflebenden Völker im sowjetischen Osten sorgte, wurde 1922 diese Organisation gegründet, der Pavlovic bis zu seinem'Tode vorstand, der er sein Profil aufprägte und die ihm sehr am Herzen lag. Hier sah er die Möglichkeiten für die breite, den neuen Anforderungen entsprechende Entfaltung orientalistischer Studien und für die wissenschaftliche und populäre Verbreitung neuer Erkenntnisse. E r bemühte sich um die Gewinnung und Vorbereitung neuer Studenten, die bereit waren, „die Suche nach dem Zugang zum Verständnis des ,neuen Orient' aufzunehmen", wie Ol'denburg schrieb. Zugleich mußten erst die methodologischen Grundlagen dieser neuen Thematik erarbeitet werden; man begann mit Fragespiegeln für Statistiken über die soziale Struktur der Bevölkerung, über die Art der Beschäftigung, den Bildungsstand, über politische Organisationen und revolutionäre Bewegungen; diese wurden zunächst an jene ausgegeben, die als Korrespondenten, Mitarbeiter verschiedener Dienststellen usw. nach Osten reisten 57 , bevor man die erst noch auszubildenden Spezialisten in diese Regionen 50 57

Ol'denburg, Pamjati Pavlovica, S. 34. Mich. Pavlovic, Zadaci Vserossijskoj Naucnoj Associacii Vostokovedenija, in: Novyj Vostok, 1922, Nr. 1, S. 11 f.

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delegieren konnte. Dazu mußten außerdem noch die sprachlichen Voraussetzungen geschaffen werden. Diese völlig neuen Aufgaben zu bewältigen und dabei gleichzeitig den Kontakt zu den profilierten Fachkräften in den bisherigen wissenschaftlichen Zentren zu fördern und zu vertiefen, mühte sich Pavlovic; am Ende seines Lebens brachte ihm dies Kritik von ultralinken Wissenschaftspolitikern ein, die ein Zusammengehen mit nichtmarxistischen Gelehrten für überflüssig hielten. 58 Die Richtigkeit des von Pavlovic verfolgten Weges zeigen u. a. die Publikationen der Assoziation, nicht zuletzt deren Journal „Novyj Vostok", das unter seiner Leitung seit 1922 (bis 1930) mit 29 Bänden erschien und sehr anschaulich nicht nur das akademische Leben innerhalb der Organisation widerspiegelt. Eine eingehendere Untersuchung des wissenschaftlichen Gehalts dieser Zeitschrift und der von ihr dem zeitgenössischen Leser gebotenen Anregungen und neuen Fragestellungen würde einen wichtigen Abschnitt der sowjetischen Wissenschaftsgeschichte illustrieren. Die Tätigkeit der Assoziation beschränkte sich jedoch nicht auf die Publikation von Monographien und Periodika. Am Beginn der grundsätzlichen Umorientierung im Verhältnis zwischen der. im Zentrum des ehemaligen russischen Reiches befindlichen neuen Regierung der Sowjets und den vordem von der zaristischen Regierung unterdrückten Völkern und Nationen standen neben vielen anderen auch solche 'Ereignisse wie der erste Ko'ngreß der Völker des Ostens 1920 in Baku, initiiert vom Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale. Als einer der marxistischen Theoretiker, der sich mit nationalen und kolonialen Fragen der Gegenwart beschäftigt hatte, war Pavlovic aktiv an der Vorbereitung, Durchführung und mit umfangreichen Beiträgen an der Diskussion beteiligt, desgleichen am Kongreß der Völker des Fernen Ostens 1922 in Moskau. Die ers^e große Zusammenkunft der Ägyptologen (1922), der erste Turkologenkongreß, der sich mit der Erarbeitung eines neuen Alphabets für die Turkvölker befaßte, und so manche andere Veranstaltung, die unter wesentlicher Mitwirkung von Pavlovic zustande kam, beförderte beachtlich das gegenseitige Verständnis und die Einbeziehung ideologisch noch Fernstehender in die Lösung der neuen Probleme. 59 Der kaum beendete Bürgerkrieg im Lande und die im Gefolge der Oktoberrevolution aufflammenden Volksbewegungen im Nahen Osten rückten die sogenannte Orientalische Frage erneut in den Mittelpunkt theoretischer Erörterungen, so auch auf den Tagungen der Kommunistischen Internationale. Bei diesem Problem, das „seit der Oktoberrevolution einen völlig neuen Inhalt erhalten hat und das sich uns unter einem neuen Aspekt darstellt", das damit „Bestandteil der nationalen und kolonialen Frage im Weltmaßstab geworden ist, kann es eine Neutralität von unserer Seite nicht geben. Entweder Unterstützung der nationalen Befreiungsbewegungen im Osten oder Beteiligung an der Ausplünderung und Aufteilung des Orients", 60 schrieb Pavlovic. Das Parteiergreifen erforderte zugleich eine Stellungnahme zur Perspektive in diesem Raum, zur Strategie und Taktik im weiteren Kampf um die Sicherung der nationalen Selbständigkeit der Völker. Auch hier, in zahllosen mündlichen und schriftlichen Beiträgen, als Mitarbeiter des

68 59 60

V g l . Nikiforov, Sovetskie istoriki, S. 1 3 0 f. V K o g d a i kak ja stal vostokovedom, i n : N a r o d y Azii i A f r i k i , 1 9 6 7 Nr. 5, S.g l2.3 8N.f f .I. Konrad, M. P. Pavlovic, Oktjabr'skaja revoljucija i vostocnyj vopros, in: den., Vostok v bor'be, S. 6 9 f f .

101

Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale, stand Pavlovic an vorderster Front. „Gestützt auf die allgemeine kommunistische Theorie und Praxis, müssen Sie unter Anpassung an die spezifischen Bedingungen, die es in den europäischen Ländern nicht gibt, diese Theorie und Praxis auf Verhältnisse anzuwenden verstehen, wo die Hauptmasse der Bevölkerung Bauern sind und wo es den K a m p f nicht gegen das K a p i tal, sondern gegen die Überreste des Mittelalters,zu führen gilt", hatte Lenin 1 9 1 9 auf dem K o n g r e ß der Kommunistischen Organisationen der V ö l k e r des Ostens betont. D i e Aufgabe, „die echte kommunistische Lehre, die j a für die Kommunisten der fortgeschritteneren L ä n d e r bestimmt ist, in die Sprache eines jeden V o l k e s " 6 1 zu übertragen, stand somit nicht nur vor den Vertretern der asiatischen und orientalischen

Länder.

D e r e n Lösung verlangte auch von den Kommunisten, die im Rahmen der Kommunistischen Internationale als Vertreter der nichtkolonialen L ä n d e r an der Weiterentwicklung der Strategie und T a k t i k des revolutionären Weltprozesses arbeiteten, eine Analyse der inneren Struktur der Kolonien wie auch des Platzes dieser G e b i e t e im Gesamtgefüge des imperialistischen Systems. D a s bedeutete das Erarbeiten und Durchsetzen der E r kenntnis, daß die bislang als „peripher" eingeordneten kolonial abhängigen Territorien, denen nur ein „Zubringer-Status"

für die kapitalistischen

Hauptländer

zugestanden

wurde, ein Bestandteil des gesamten einheitlichen sozialökonomischen Systems des K a pitalismus darstellten. D e r nächste Schritt, das Herausarbeiten der Spezifik des Entwicklungsstandes in den einzelnen Gebieten, war' ungemein komplizierter. Hierbei ging es vor allem um die E i n schätzung der Agrarverhältnisse, um die Bestimmung des Platzes einzelner Klassen und Schichten in diesen Ländern und deren Funktion, um Fragen also, bei deren B e a n t wortung sich unterschiedliche Standpunkte zeigten. B e k a n n t ist die K r i t i k Lenins an den Ansichten

des indischen Vertreters M . N . Roy1*'2; ähnliche Ursachen lagen den

Fehleinschätzungen von Pavlovic zugrunde, der sich den Vorstellungen von Sultan-Zadeh, dem Vertreter der Kommunistischen Partei Irans, anschloß. D i e neuere Geschichte Persiens, zumindest seit dem Beginn des 20. J h . , kannte Pavlovic gut; in seinen Publikationen war er zu bemerkenswerten richtigen Urteilen gelangt. E i n e Orientierung der antiimperialistischen Bewegung, die seit der Oktoberrevolution an Intensität zugenommen hatte, erforderte jetzt jedoch eine noch tiefgehendere Analyse des augenblicklichen Kräfteverhältnisses, der sozialökonomischen Bedingungen wie auch der objektiven und subjektiven Klasseninteressen und damit der realen und potentiellen

Bündnispartner

im L a n d e und vieles andere mehr. Und hier kam Pavlovic, entgegen den Hinweisen von Lenin 6 3 , in bestimmten Fragen zu Fehlschlüssen, als er Sultan-Zadeh folgte, der im E r gebnis seiner Analyse der L a g e in Persien 1 9 2 0 feststellte, daß angesichts der Ähnlichkeit der Situation in Persien zu der in R u ß l a n d zu Beginn des 2 0 . J h . das L a n d vor einer sozialistischen Revolution stünde. Als sich in G i l a n die revolutionäre Bewegung ihrem Höhepunkt näherte, bestand Sultan-Zadeh auf radikalen Veränderungen auf dem L a n d e , ohne den nationalen Befreiungscharakter der Bewegung in dieser E t a p p e zu beachten. Forderungen nach Umgestaltungen sozialistischen Inhalts konnten noch nicht Werke, Bd. 30, S. 146 f.

61

W. I. Lenin,

62

Vgl. dazu: M. A. Ceskov, Analiz social'noj struktury kolonial'nych obscestv v dokumentach kominterna ( 1 9 2 0 - 1 9 2 7 ) , in: Komintern i Vostok, Moskau 1 9 6 9 , S. 1 9 2 ff. W. 1. Lenin, Ergänzungsband, Okt. 1 9 1 7 - M ä r z 1923, ßerlin 1 9 7 1 , S. 1 9 5 ; vgl. auch M. A. Persic, Idejnaja bor'ba po problemam sootnosenija kommunisticeskogo i osvoboditel'nogo dvizenij na Vostoke v period II kongressa Kominterna, in: Narody Azii i Afriki, 1 9 7 4 , Nr. 5, S. 3 8 ff.

03

102

auf die Tagesordnung gestellt werden, wie Ordzonikidze aus besserer Kenntnis

der

örtlichen Verhältnisse nachwies. Lenin verfolgte mit großer Sorge die in Moskau selbst, noch mehr aber in der iranischen revolutionären Bewegung zutage tretenden Meinungsverschiedenheiten, die schließlich zur Spaltung der Kommunistischen Partei Irans und zur Niederschlagung der K r ä f t e um K u c e k - C h a n führten. W e n i g e J a h r e später bradhte zwar die weitere E n t w i c k l u n g Pavlovic zu der Erkenntnis, d a ß eine sozialistische R e volution im Iran auch damals noch nicht unmittelbar bevorstand, doch auch 1 9 2 5 konnte er das leidenschaftliche Parteiergreifen für die R e c h t e der unterdrückten und ausgebeuteten Bauernmassen im benachbarten Persien nicht immer mit einer den objektiven B e dingungen entsprechenden Einschätzung des realen Kräfteverhältnisses im L a n d e , der Stellung der einzelnen Klassen und Schichten i m , K a m p f gegen die ausländischen, d. h. englischen, und einheimischen Ausbeuter, d. h. gegen das Schah-Regime und die eigenen Grundbesitzer, in Übereinstimmung bringen. 6 4 U n d dennoch bleibt das Verdienst Pavlovics um die theoretische und praktische B e wältigung einer ganzen Reihe von aktuellen' Problemen in den vorrevolutionären J a h r e n wie auch im ersten Jahrzehnt der jungen Sowjetmacht unbestritten. D a ß seine, auf viele B e r e i c h e ausstrahlende Tätigkeit auch im Ausland aufmerksam beobachtet wurde, ist in dem Literaturbericht nachzulesen, den Fritz Epstein 1 9 3 0 in den Jahrbüchern für K u l tur und Geschichte der Slaven veröffentlichte. Ü b e r Pavlovic heißt es dort: „Seine intensive wissenschaftliche und agitatorische Beschäftigung mit Orientfragen im weitesten Sinne und persönliche Fühlung mit den Kreisen, die als T r ä g e r der orientalischen Freiheitsbewegungen im Jahrzehnt vor dem Kriege erschienen, ließ Pavlovic nach der Oktoberrevolution zum Pionier einer neuen marxistischen, vor allem auf die G e g e n w a r t und die sogenannten ,Realien' eingestellten Orientalistik werden, die in ihm eine organisatorische K r a f t ersten Ranges verlor -

den Anreger der

.Wissenschaft-

lichen Assoziation für Orientkunde' ( N a u c n a j a Associacija V o s t o k o v e d e n i j a ) , den R e k tor des Moskauer Instituts für Orientkunde und Bevollmächtigten des Zentralen V o l l zugsausschusses beim Leningrader

Orient-Institut." 6 3

V i e l e seiner Anregungen gingen ein in die Wissenschaftsgeschichte, so manche seiner Fragestellungen beschäftigen die Orientalisten noch heute. D i e linken Fehler

„begin-

gen wirklich die besten, ergebensten E l e m e n t e , ohne die es wohl die Kommunistische Internationale überhaupt nicht g ä b e " , hatte Lenin 1921 geschrieben. 6 6 Zweifellos gehörte Pavlovic zu diesen. „Seine breiten Kenntnisse öffneten weite Horizonte. E r entzündete sich an gigantischen Aufgaben, er beschäftigte sich mit grandiosen Projekten des sozialistischen A u f baus", schrieb Antonov-Ovseenko. „Und er glaubte, glaubte an ihre vollständige D u r c h führbarkeit. H a t t e sich nicht schon das scheinbar Schwerste verwirklichen lassen -

im

zurückgebliebenen gequälten R u ß l a n d erwachten die Millionen des werktätigen Volkes zu selbständigem Schöpfertum. D e r W e g erwies sich als schwerer, länger, gewundener. U n d auch auf diesem W e g blieb M . Pavlovic rüstig, ein Enthusiast bei jeder ihm übertragenen Arbeit. D i e A r b e i t aber war unvorstellbar groß, gewaltig." 6 7 M 65

66 67

Vgl. Pavlovic, Persija v bor'be za nezavisimost', Moskau 1 9 2 5 , S. 18, Anm. 1. F. Epstein, Die marxistische Geschichtswissenschaft in der Sowjetunion seit 1 9 2 7 , in: Jahrbücher für Kultur und Geschichte der Slaven, N F , Bd. VI, H. 1, S. 1 8 2 f. W. I. Lenin, Werke, Bd. 32, S. 5 4 5 . Antonov-Ovseenko, Pamjati M. P. Pavlovica, S. 19.

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Miszellen Die Historiker Sowjetlitauens zum 60. Jahrestag des Großen Oktober und der sozialistischen Revolution in Litauen 1918/19 MINDAUGAS TAMOSlÜNAS

Die Große Sozialistische Oktoberrevolution war ein Ereignis von weltweiter historischer Bedeutung; sie übte großen Einfluß auf das historische Schicksal der Völker des ehemaligen russischen Zarenreiches aus. Unter dem unmittelbaren Einfluß dieser W e l tenwende entstand im Oktober 1918 die Kommunistische Partei Litauens; im Dezember desselben Jahres begann die sozialistische Revolution, die in der Bildung der Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik ihre Krönung fand. Allerdings bestand die Sowjetmacht in Litauen nicht lange; im Sommer 1919 wurde sie von den ausländischen Interventen und der inneren Konterrevolution niedergeschlagen. Die Konjmunistische Partei Litauens mußte in die Illegalität gehen; die litauischen Werktätigen setzten den revolutionären Kampf unter den schweren Bedingungen der bürgerlichen Diktatur fort. Mit dem Sieg der sozialistischen Revolution und der Wiedererrichtung der Sowjetmacht im Sommer 1940 fand der Kampf des litauischen Volkes für die soziale Befreiung seinen Abschluß. Der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus in der Litauischen SSR wurde durch die mehr als dreijährige faschistische deutsche Okkupation erschwert. Dank der umfassenden Unterstützung durch die sozialistischen Brudervölker konnte der Aufbau der Grundlagen des Sozialismus in Sowjetlitauen jedoch bis 1952 im wesentlichen abgeschlossen werden. Die Weiterentwicklung der sozialistischen Gesellschaft in Sowjetlitauen bis zum gegenwärtigen Reifestadium vollzog sich in untrennbarer Einheit mit der Entwicklung der gesamten Sowjetunion. Anläßlich des Jubiläums der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution fand am 27./28. September 1977 in Vilnius ein internationales Kolloquium statt, das gemeinsam von der Vincas-Kapsukas-Universität Vilnius, der Ernst-Moritz-Arndt-Universitat Greifswald und dem Institut für Parteigeschichte beim ZK der KP Litauens vorbereitet worden war. Auf dem Kolloquium standen Fragen der Geschichte der litauisch-deutschen Beziehungen im Mittelpunkt; großen Raum nahmen dabei die Verbindungen zwischen den revolutionären Kräften des litauischen und des deutschen Volkes vom Großen Oktober bis zum zweiten Weltkrieg ein. 1 Der Würdigung des Großen Oktober diente auch die Veröffentlichung von grundlegenden wissenschaftlichen Arbeiten, von denen der Sammelband „Der Große Oktober und Litauen", zusammengestellt von V. Psibilskis und herausgegeben von K. Na1

Vgl. ß . Friscb/D. Langöhr, Kolloquium über litauisch-deutsche Beziehungen von der Oktoberrevolution bis zur Gegenwart, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 1 9 7 8 , H. 2, S. 2 8 1 f.

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vickas, besonders hervorzuheben ist. 2 E r enthält 15 Beiträge, die den schwierigen historischen. W e g des litauischen Volkes vom Oktober 1917 bis zur Gegenwart behandeln. E r ö f f n e t wird der B a n d mit einem Aufsatz von K . N a v i c k a s über die Bedeutung des Großen Oktober für die Wiedererlangung der Eigenstaatlichkeit des litauischen Volkes. B . Vaitkevicius schreibt, über die Errichtung der Ärbeiter-und-Bauern-Macht in Litauen, während M . Tamosiunas einen Überblick über die geschichtswissenschaftlichen Arbeiten zur Bedeutung der Oktoberrevolution für Litauen gibt. D e n K a m p f der Arbeiterklasse Litauens für die Ideen des Oktober in den Jahren von 1919 bis 1940 beleuchtet R'. C e p a s : V . Sinkevicius behandelt den wachsenden E i n f l u ß der K P Litauens auf die Bauernschaft in den Jahren der bürgerlichen Diktatur. V . Kancevicius untersucht die Wende zum Sozialismus in Litauen im Jahre 1940. D i e übrigen neun Beiträge sind Problemen des sozialistischen A u f b a u s in der Litauischen S S R gewidmet. So schreibt Z. Rulis über die K P d S U als politische A v a n t g a r d e der Arbeiterklasse und des ganzen Sowjetvolkes. O . Pakensiene berichtet über den K o m s o m o l . D e m A u f b a u der sozialistischen Gesellschaft ist der Aufsatz von H . Sadzius gewidmet, J . Hermalavicius geht auf die Herausbildung der wissenschaftlichen Weltanschauung bei den Werktätigen der Republik ein, während E . Jancauskas die Entwicklung der Sozialfürsorge untersucht. Über die Industrie unter den Bedingungen des reifen Sozialismus schreibt K . Surblys, über die Landwirtschaft I. L o j k o ; A . Sabaliauskas beleuchtet die Vervollkommnung der politischen Organisation der sozialistischen G e sellschaft, und E . Baltiniene charakterisiert Grundzüge der Kulturentwicklung im reifen Sozialismus. K . N a v i c k a s und V . Kancevicius greifen in ihren Artikeln auch Fragen aus der G e schichte der litauisch-deutschen Beziehungen auf. K . N a v i c k a s analysiert eingehend die Abmachungen der deutschen Besatzungsbehörden mit den Vertretern der litauischen Bourgeoisie 1917/18, in deren Ergebnis im September 1917 die litauische bürgerliche T a r y b a (Rat) entstand. Deutschland plante, Litauen unter dem Schein einer „Selbstverwaltung" zu annektieren. Anhand überzeugender Fakten weist K . N a v i c k a s nach, daß allein die Arbeiterklasse, allein die litauischen Werktätigen, begeistert vom Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, für die Unabhängigkeit vom Imperialismus, für die Eigenstaatlichkeit und die nationale Befreiung Litauens eintraten. Ausdruck der wirklichen Selbstbestimmung des litauischen Volkes waren nicht die Aktivitäten der im September 1917 gegründeten bürgerlichen litauischen Taryba, sondern war das Manifest der Provisorischen revolutionären Arbeiter-und-Bauern-Regierung Litauens vom 16. Dezember 1918. Dieses Manifest und das Leninsche Dekret des Rates der Volkskommissare der R S F S R vom 22. Dezember 1918 über die Anerkennung der Unabhängigkeit Sowjetlitauens bildeten die juristische G r u n d l a g e für die soziale und nationale Befreiung Litauens. D e r V f . stellt fest, daß nur im Ergebnis der „proletarischen Revolution, mit der Gründung der Litauischen Sowjetrepublik das litauische Volk eine dem Inhalt und der F o r m nach neue Eigenstaatlichkeit erlangte". 3 Im Frühjahr und Sommer 1919 stürzten deutsche und polnische Truppen, unterstützt von den Ententemächten und der inneren Konterrevolution, die Sowjetmacht in Litauen. D i e Imperialisten lehnten jedoch selbst die Unabhängigkeit eines kapitalistischen litauischen Staates ab. In ihren Plänen war vielmehr vorgesehen, mit H i l f e russi2 3

D i d y s i s S p a l i s ir L i e t u v a , Vilnius 1 9 7 7 . E b e n d a , S. 32.

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scher Weißgardisten, deren alte großmachtchauvinistische Bestrebungen sie unterstützten, die Sowjetmacht in R u ß l a n d niederzuschlagen. Falls sich diese Absichten nicht verwirklichen ließen, erwog man eine Eingliederung Litauens in das Polen der Bourgeoisie und der Gutsbesitzer. Angesichts dieses Vorhabens w a r der Friedensvertrag vom 12. J u l i 1920 zwischen Sowjetrußland und Litauen für die Erhaltung der nationalen Unabhängigkeit Litauens von ausschlaggebender Bedeutung. Dieser Vertrag machte alle annexionistischen Pläne der Imperialisten zunichte. Folglich w a r es letztendlich dem Sieg der sozialistischen R e volution in R u ß l a n d zu danken, d a ß die bürgerliche Eigenstaatlichkeit Litauens erhalten blieb. K. N a v i c k a s zitiert in diesem Zusammenhang aus der Zeitschrift „Vairas" (Das Steuer), einem Organ der Tautininkai-Partei (der Nationalisten), die sich von 1926 bis 1940 in Litauen an der Macht befanden. Im J a h r e 1934 konnte man darin lesen, d a ß „sich die Großmächte nur dank des Bolschewismus in R u ß l a n d an die Unabhängigkeit der baltischen Staaten gewöhnten und sie auch ,de jure' anerkannten"/ 1 V . Kancevicius behandelt in seinem Artikel „Die W e n d e zum Sozialismus in Litauen im J a h r e 1940" die internationalen' und nationalen Voraussetzungen für den Sieg der zweiten sozialistischen Revolution in Litauen. 5 Er zeigt, d a ß der im Oktober 1939 zwischen L i t a u e n und der U d S S R abgeschlossene Vertrag über Freundschaft und gegenseitigen Beistand ein ernsthaftes Hindernis für die Eroberungsabsichten Deutschlands im Osten darstellte und zugleich die Handlungsfreiheit der inneren konterrevolutionären Kräfte einschränkte. Die reaktionärsten Kreise der herrschenden litauischen Bourgeoisie versuchten in der ersten H ä l f t e des Jahres 1940, geheime Kontakte zur Führung Hitlerdeutschlands aufzunehmen, um die eigenen antisowjetischen Positionen auszubauen. Im innenpolitischen Leben Litauens vollzog sich auf Grund des gesamten volksfeindlichen Kurses der Regierung ein Prozeß zunehmender Differenzierung der politischen K r ä f t e . Unter den schwierigen Bedingungen der Illegalität vermochte es die Kommunistische Partei, alle antifaschistischen Kräfte zum Sturz des faschistischen R e gimes des Diktators A . Smetona zu mobilisieren. Die bloße Anwesenheit begrenzter sowjetischer Truppenkontingente, die sich auf vertraglicher Grundlage in Litauen bef a n d e n , ' o h n e sich auf irgendeine W e i s e in die innere Entwicklung des Landes einzumischen, paralysierte die herrschende Klasse. D e r . Arbeiterklasse und ihren Verbündeten aber verlieh sie Selbstvertrauen und K r a f t zur endgültigen Lösung der M a c h t f r a g e unter Führung der K P . M i t der Bildung der litauischen Volksregierung am 17. Juni 1940 begann die sozialistische Revolution, die zur Wiedererrichtung der Sowjetmacht führte. A m 3. August 1940 w u r d e die junge Sowjetrepublik in den Staatsverband der U d S S R aufgenommen. J . Arvasevicius beleuchtet in seinem Buch „Karolis Pozela. Sein Leben und Schaffen im Uberblick" 13 neben der Tätigkeit des führenden Vertreters der Kommunistischen Partei Litauens wichtige Seiten sowohl der, internationalen Beziehungen der Partei als auch der Formierung der K P Litauens und ihres Kampfes für die Errichtung der Sowjetmacht in Litauen. Die Dokumentensammlung „Dekrete der Sowjetmacht in Litauen 1918-1919" 7 , zu-

Ebenda, S. 33. Ebenda, S. 1 1 2 f. '' ]. Arvasevicius, Karotis Pozela. G y v e n i m o ir veiklos bruozai, Vilnius 7 Lietuvos Tarybu valdzios dekretai 1 9 1 8 - 1 9 1 9 , Vilnius 1 9 7 7 . 4 5

1976.

107

sammengestellt von E . D i r v e l e und herausgegeben von B . Vaitkevicius, enthält 61 D o kumente, von denen viele schon früher veröffentlicht wurden. 8 In der jetzt vorliegenden Zusammenfassung vermitteln sie jedoch einen vollständigeren Überblick über die revolutionären Ereignisse der J a h r e 1918/19 und die ersten Maßnahmen der sozialistischen Umgestaltung in Litauen. D e r B a n d enthält das Manifest der Provisorischen Revolutionären Arbeiter-und-Bauern-Regierung vom 16. 12. 1918, ferner die Dekrete über den Boden vom 11. 1. 1919, über die Einführung des achtstündigen Arbeitstages v o m 31. 1. 1919 Und über die E r ö f f n u n g der Universität Vilnius vom 13. 3. 1919 sowie weitere Gesetzesakte der Sowjetregierung Litauens und der Litauisch-Belorussischen S S R , die am 27. 2. 1919 gegründet wurde. Außerdem enthält der B a n d A u f r u f e , Telegramme und Befehle der Sowjetorgane. In dem Sammelband wird z. B . der Funkspruch der Provisorischen Revolutionären Arbeiter-und-Bauern-Regierung Litauens an das deutsche Auswärtige A m t und an den R a t der Volksbeauftragten vom 17. 2. 1919 veröffentlicht. 9 D a r i n wird auch erklärt, warum der Bevollmächtigte Deutschlands für das Baltikum, D r . von Trützschler, unter Hausarrest gestellt wurde. E s handelte sich um eine Gegenmaßnahme auf die von den deutschen Okkupanten im Januar 1919 vorgenommene Zerschlagung des Sowjets der Arbeiterdeputierten in K a u n a s . Wörtlich heißt es: „ D i e Arbeiter-und-Bauern-Regierung Litauens sieht sich gezwungen, den Bevollmächtigten Deutschlands, Herrn D r . von Trützschler, und die ihn begleitenden Personen in Vilnius bis zu dem Zeitpunkt festzusetzen, an dem die Befreiung aller inhaftierten litauischen Bürger erfolgt, d a sie keine anderen Möglichkeiten zur Befreiung, wenn nicht sogar zur Rettung des Lebens jener litauischen Bürger, die von deutschen Konterrevolutionären verhaftet wurden, sieht." 1 0 D e r Funkspruch wurde vom Vorsitzenden der' Regierung V . Mickevicius-Kapsukas unterzeichnet. D e r Sammelband enthält ferner den Aufruf des Zentralen Exekutivkomitees der Sowjets der Litauisch-Belorussischen S S R an die deutschen Soldaten, der zwischen Februar und Juli 1919 in deutscher Sprache erschien. ( D a s genaue D a t u m des A u f r u f s ist nicht zu ermitteln.) D a s Flugblatt appellierte an die Einsicht der deutschen Soldaten, daß der K a m p f gegen die Revolution in Rußland letztendlich auch gegen d'as deutsche Volk gerichtet war. „Versteht, wenn Ihr die Arbeiter-und-Bauern-Regierung in Rußland oder in Litauen zerschlagt, Ihr dadurch die E r f o l g e der Revolution in Deutschland in den Wind schreibt." Weiter wurde der Überzeugung Ausdruck gegeben, daß die Sympathien der einfachen deutschen Soldaten auf der Seite der revolutionären Arbeiter seien und daß sie nicht zusammen mit den Kapitalisten gegen die Litauisch-Belorussische S S R kämpfen würden. D e r Aufruf schließt mit den Losungen: „ E s lebe die Solidarität der Arbeiter aller L ä n d e r ! E s lebe die proletarische Weltrevolution! E s lebe der Sozialismus!" 1 1 D i e Biographiesammlung „Litauer als Teilnehmer an der Oktoberrevolution Bürgerkrieg" 1 2 enthält 75 Lebensbilder von Teilnehmern an den K ä m p f e n für wjetmacht in Rußland. D a m i t ist freilich nur ein geringer Teil der etwa 4 000 erfaßt, die aktiv an der Oktoberrevolution teilnahmen. D e r Wert des Buches 8 9 10 11 12

und am die SoLitauer besteht

V g l . B o r ' b a za Sovetskuju v l a s t ' v L i t v e v 1 9 1 8 - 1 9 2 0 gg. Sbornik d o k u m e n t o v , Vilnius 1 9 6 7 . L i e t u v o s T a r y b u v a l d z i o s dekretai 1 9 1 8 - 1 9 1 9 , S. 66 f f . E b e n d a , S. 67. E b e n d a , S. 96 f f . L i e t u v i a i - S p a l i o revoliucijos ir pilietinio k a r o d a l y v i a i , Vilnius 1 9 7 6 .

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darin, daß erstmals Biographien von Persönlichkeiten veröffentlicht wurden, über die bisher kaum etwas bekannt war. In dem statistischen Band „Die Kommunistische Partei Litauens in Zahlen 1918 bis 1976" 1 3 wird der organisatorische Aufbau der Partei in den Jahren 1918/19 beleuchtet und die Mitgliederbewegung bis zum Jahre 1976 verfolgt. Die K P Litauens zählte bei ihrer Gründung im Oktober 1918 nur 795 Mitglieder. Als sie 1940 aus der Illegalität heraustrat, gehörten ihr 1 690 Genossen an, und im Jahre 1976 vereinte sie in ihren Reihen 145 557 Mitglieder. Seit dem 8. Oktober 1940 ist die Kommunistische Partei Litauens eine Abteilung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. In den Monaten Oktober bis Dezember 1978 wurde in der Unionsrepublik der 6Q. Jahrestag der Gründung der Kommunistischen Partei Litauens und der sozialistischen Revolution von 1918/19 begangen. Anläßlich dieser Jubiläen erschien eine Monographie von P. Vitkauskas über „Die Gründung der Sozialistischen Sowjetrepublik Litauen 1 9 1 8 - 1 9 1 9 " . 1 4 Sie spiegelt den neuesten Stand der Wissenschaft über die erste sozialistische Revolution in Litauen wider: Die bisherigen Ergebnisse der Historiographie finden darin ihren Niederschlag, und es werden auch verschiedene neue Archivalien ausgewertet. D i e ersten beiden Kapitel des Buches behandeln das deutsche Okkupationsregime und die nationale Unterdrückung Litauens; insbesondere wird auf die Beziehungen zwischen der bürgerlichen Taryba und den deutschen Okkupationsbehörden 1917/18 eingegangen. Dabei werden nicht nur bereits veröffentlichte Quellen ausgewertet, sondern vor allem auch die Protokolle der Taryba. Ebenso wie K . Navickas in dem Sammelband „Der Große Oktober und Litauen" unterzieht auch P. Vitkauskas die Aktivitäten der Taryba einer kritischen Analyse und weist ihr,volksfeindliches Wesen nach. E s wird deutlich gemacht, daß das kaiserliche Deutschland seine Annexions- und Kolonisationspolitik in Litauen fortsetzen konnte, obwohl die bürgerliche Opposition im Reichstag die groben „preußischen" Methoden kritisierte. Die Taryba proklamierte zwar einen „unabhängigen" litauischen Staat, war jedoch, wie die Dokumente aus dem Jahre 1918 beweisen, in Wirklichkeit nicht abgeneigt, Litauen zu einem Vasallen mit „Selbstverwaltung" innerhalb des deutschen Kaiserreiches zu machen. 15 Ihre Unabhängigkeitserklärung vom 16. Februar 1918 wird vom Verfasser als ein Schachzug bewertet, mit äem die Taryba sich einerseits vor der litauischen Öffentlichkeit rechtfertigen und andererseits auf die deutsche Regierung Druck ausüben wollte, damit diese die Litauen zugesicherte Selbstverwaltung schneller gewährte. 16 Im dritten Kapitel unter dem Titel „Die nationale Politik der Kommunistischen Partei Litauens in der Zeit des Bestehens der Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik" 1 7 bestätigt der Verfasser die Auffassung der marxistischen Historiographie, daß das Manifest der Provisorischen revolutionären Arbeiter-und-Bauern-Regierung Litauens vom 16. Dezember 1918 im Gegensatz zu den Aktivitäten der bürgerlichen Taryba das einzige Dokument ist, das die Wiedergewinnung der Eigenstaatlichkeit Litauens bezeugt. In diesem Manifest wurde nicht nur die nationale, sondern auch die soziale Befreiung proklamiert. D e r Verfasser verdeutlicht in seiner Monographie, daß sich die K P Litauens konse13

Kommunisticeskaja partija Litvy v cifrach 1 9 1 8 - 1 9 7 6 , Vilnius 1 9 7 7 .

14

P. Vitkauskas, Lietuvos Tarybu Respublikos sukurimas 1 9 1 8 - 1 9 1 9 metais, Vilnius 1 9 7 8 . Ebenda, S. 4 1 . Ebenda, S. 6 6 . Ebenda, S^ 8 6 ff.

15 16 17

109

quent von den Beschlüssen des ZK der K P R ( B ) über den nationalstaatlichen A u f b a u der Sowjetrepubliken leiten ließ, den Prinzipien des proletarischen Internationalismus treu ergeben w a r und stets für enge Beziehungen mit der R S F S R und den anderen Sowjetrepubliken eintrat. 1 8 U m ihre militärischen und ökonomischen Ressourcen im Kampf gegen die ausländische Intervention und die?- innere Konterrevolution zu vereinigen, schlössen sich Ende Februar 1919 die Sowjetrepubliken Litauen und Belorußland zur Litauisch-Belorussischen SSR zusammen. A n f a n g M ä r z 1919 vollzogen auch die kommunistischen Parteien beider L ä n d e r diesen Zusammenschluß. Die Vereinigte K P Litauens und Belorußlands bestand bis zum September 1920. Diesen Ereignissen ist das vierte Kapitel der Monographie von P. Vitkauskas gewidmet. In den Kapiteln V und VI werden die Politik der K P Litauens und der Sowjetmacht beim ökonomischen und kulturellen A u f b a u in Litauen untersucht. Der Verfasser unterstreicht die fruchtbare Zusammenarbeit im Rahmen der Litauisch-Belorussischen SSR. Kennzeichnend dafür waren die hervorragenden Ergebnisse beim sozialistischen A u f b a u sowie bei der sozialökonomischen und der kulturellen Umgestaltung in den Jahren 1918/19. Im abschließenden, siebenten Kapitel werden die Gründe für das Ende der LitauischBelorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik analysiert. In der Historiographie gibt es hierzu unterschiedliche Auffassungen. Einige Historiker, u. a. E. J . Skljar, meinen, diese Sowjetrepublik habe formal bis E n d e Juli 1920 bestanden. Nach der Ansicht von P. Vitkaüskas hat sie faktisch bis zum 25. J u l i 1919 existiert, d. h. bis zur Selbstauflösung des Rates der Volkskommissare der vereinigten Republik nach dem Sturz der Sowjetmacht in Litauen. Formell endete die Geschichte der Litauisch-Belorussischen SSR am 11. September 1919, als die Regierung der R S F S R den bürgerlichen litauischen Staat de facto anerkannte. 1 9 D a n k ihrem umfangreichen Faktenmaterial, ihren Verallgemeinerungen und ihren Schlußfolgerungen bildet P. Vitkauskas' Monographie eine wertvolle Bereicherung der sowjetischen Historiographie über die erste proletarische Revolution in Litauen. Die einbändige Ausgabe der Schriften von J . Greifenbergeris (1898-1926) 2 0 , eines führenden Mitgliedes der K P Litauens und Mitbegründers des litauischen Komsomol, der nach dem faschistischen Putsch vom Dezember 1926 ebenso w i e K. Pozela hingerichtet w u r d e , läßt erkennen, wie die Kommunistische Partei in den Jahren 1923 bis 1925, als J . Greifenbergeris die Parteiorganisation der K P Litauens in K l a i p e d a ( M e m e l ) leitete, auf den politischen Zusammenschluß der litauischen und der deutschen Arbeiter in diesem Gebiet hinwirkte. Zum 60. Jahrestag der Gründung der KP Litauens wurde die Herausgabe der gesammelten W e r k e von V. Kapsukas ( 1 8 8 0 - 1 9 3 5 ) in zwölf Bänden abgeschlossen. 2 1 V . K a p sukas, ein führender Vertreter der litauischen und internationalen kommunistischen Bewegung, hat in seinen Arbeiten des öfteren Fragen der Beziehungen zwischen der litauischen und der deutschen Arbeiterbewegung behandelt. Die Sammelbände „Der W e g der ,Tiesa' 1 9 1 7 - 1 9 7 7 " (zusammengestellt von S. Bistrickas, herausgegeben von R . Sarmaitis) 2 2 und „Kampfjahre des ,Komunistas' 1918 bis 18

E b e n d a , S. 1 0 8 f .

19

E b e n d a , S. 2 1 3 .

21

]. Greifenbergeris, Rästai, Vilnius 1 9 7 8 . Vincas Kapsukas, Rastai, T. 1 2 , 1 9 3 0 - 1 9 3 5 , V i l n i u s 1 9 7 8 . „Tiesos" kelias 1 9 1 7 - 1 9 7 7 , L i e t u v o s komunistines spaudos istorijos puslapiai, Vilnius

21 22

110

1977.

1978" (zusammengestellt von L . Zelanskis, herausgegeben von G . Z i m a n a s ) 2 3 beleuchten d i e Geschichte der litauischen kommunistischen Presse und ergänzen e i n a n d e r . D e r zuletzt genannte B a n d w u r d e auch in russischer Sprache v e r l e g t . M D i e Zeitung „ T i e s a " ( D i e W a h r h e i t ) ist das Z e n t r a l o r g a n des Z K der K P Litauens, des Obersten Sowjets und des M i n i s t e r r a t e s der Litauischen S S R , die Zeitschrift „Komunistas" ( D e r K o m m u n i s t ) das theoretische und politische O r g a n des Z K der K P L i t a u e n s . D i e „Tiesa" erscheint seit d e m 12. A p r i l 1917, ursprünglich als O r g a n der litauischen B o l s c h e w i k i in Petrog r a d ; der „Komunistas" k o m m t seit dem 6. A p r i l 1918 heraus. Seit ihrem ersten Erscheinen sind „Tiesa" und „Komunistas" die wichtigsten P e r i o d i k a der K P L i t a u e n s . Seit 1946 w i r d der „Komunistas" auch in russischer Sprache publiziert. D i e s e Presseorgane v e r m i t t e l n ein getreues B i l d vom K a m p f der W e r k t ä t i g e n L i t a u e n s für die Ideen des O k t o b e r , f ü r den Sieg der sozialistischen R e v o l u t i o n und für den A u f b a u des Sozialismus in der R e p u b l i k . D i e E i n l e i t u n g e n zu beiden S a m m e l b ä n d e n v e r f a ß t e der S e k r e t ä r des Z K der K P L i t a u e n s , P. Griskevicius. R . Sarmaitis gibt in seinen beiden A r t i k e l n „Für die Sowjetmacht, f ü r die Leninschen Ideen" 2 5 und „60 J a h r e ,Komunistas' " 2 6 j e w e i l s einen Ü b e r blick über d i e E n t w i c k l u n g der „Tiesa" und des „Komunistas". D i e in den b e i d e n B ä n den enthaltenen A r t i k e l und Erinnerungen umfassen den gesamten Erscheinungszeitraum des j e w e i l i g e n Presseorgans. So f i n d e t in beiden B ä n d e n auch die internationale Solid a r i t ä t litauischer und deutscher A r b e i t e r ihre W i d e r s p i e g e l u n g , denn von 1928 bis 1933 erschienen mit Unterstützung des Z K der K P D und der örtlichen P a r t e i o r g a n i s a t i o n e n in T i l s i t , Königsberg und später auch in Berlin litauische kommunistische Presseorgane, d a r u n t e r auch der „Komunistas". D a r a u f weist R . Sarmaitis in seinem A r t i k e l hin, d a r ü ber schreiben auch die P a r t e i v e t e r a n e n M . D o m e i k i e n e , M . B o r d o n a i t e , J . Stimburys 2 7 und E . Pusiniene 2 8 in ihren E r i n n e r u n g e n . E . Pusiniene macht darauf a u f m e r k s a m , d a ß die deutschen K o m m u n i s t e n R . N e d d e r n i e y e r , M . L a b o r i u s , W . Schütz und a n d e r e bei der H e r a u s g a b e und d e m T r a n s p o r t litauischer kommunistischer P a r t e i l i t e r a t u r in jenen J a h r e n w e r t v o l l e H i l f e leisteten. Herzliche F r e u n d e der K P L i t a u e n s nennt E . Pusiniene Ernst T h ä l m a n n , W i l h e l m Pieck und a n d e r e f ü h r e n d e Genossen der K P D . 2 9 E i n e b e d e u t s a m e Leistung der Geschichtswissenschaft S o w j e t l i t a u e n s ist die H e r a u s g a b e des „Abrisses der Geschichte der Kommunistischen Partei L i t a u e n s " , B d . 2 ( 1 9 2 0 bis 1940). 3 0 V e r a n t w o r t l i c h e r R e d a k t e u r des B a n d e s ist R . Sarmaitis, Korrespondierendes M i t g l i e d der A k a d e m i e der W i s s e n s c h a f t e n der Litauischen S S R . In diesem B a n d w i r d auf der G r u n d l a g e eines u m f a n g r e i c h e n F a k t e n m a t e r i a l s der historische W e g der K P L i t a u e n s im K a m p f u m den Sieg der sozialistischen R e v o l u t i o n und die W i e d e r e r richtung der S o w j e t m a c h t 1940 in L i t a u e n nachgezeichnet. Zugleich w i r d auf hervorr a g e n d e B e i s p i e l e der gegenseitigen H i l f e der A r b e i t e r und der kommunistischen P a r teien L i t a u e n s und D e u t s c h l a n d s im K a m p f gegen den Faschismus eingegangen. Hoch 23

Vt 23 26 27 28 29 30

„Komunisto" kovos metai 1 9 1 8 - 1 9 7 8 . Is Lietuvos Komunistu partijos spaudos istorijos, Vilnius 1978. Slovo o „Kommuniste" 1 9 1 8 - 1 9 7 8 . Iz istorii pecati Kommunisticeskoj partii Litvy, Vilnius 1 9 7 8 . „Tiesos" kelias 1 9 1 7 - 1 9 7 7 , S. 1 2 f f . „Komunisto" kovos metai 1 9 1 8 - 1 9 7 8 , S. 8 f f . „Tiesos" kelias 1 9 1 7 - 1 9 7 7 , S. 5 1 f f . „Komunisto" kovos metai 1 9 1 8 - 1 9 7 8 , S. 37 f f . Ebenda, S. 45. Lietuvos Komunistu partijos istorijos apybraiza, Bd. 2, 1 9 2 0 - 1 9 4 0 , Vilnius 1 9 7 8 (Ocerki istorii Kommunisticeskoj partii Litvy, Bd. 2, 1 9 2 0 - 1 9 4 0 , Vilnius 1 9 8 0 ) .

111

eingeschätzt wird die Hilfe deutscher Kommunisten bei der Herausgabe der litauischen kommunistischen Presse 1927-1933. Dieses Werk zur Parteigeschichte Litauens korrespondiert eng mit der umfangreichen Gesamtdarstellung zur Geschichte der sozialistischen Revolutionen des Jahres 1940 in Litauen, Lettland und Estlapd, einer Kollektivarbeit geschichtswissenschaftlicher Einrichtungen Moskaus und der baltischen Sowjetrepubliken unter Leitung von I. I. Mine, Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. 3 1 W i e die genannte Literatur zeigt, sind die Historiker Sowjetlitauens bemüht, die wissenschaftliche Erforschung der revolutionären Vergangenheit und der internationalen Traditionen der Arbeiterklasse Litauens und des ganzen Sowjetvolkes ständig weiter zu vertiefen. 31

Socialisticeskie revoljucii 1 9 4 0 g. v. Litve, Latvii i Estonii. kau 1 9 7 8 .

Vosstanovlenie Sovetskoj vlasti, Mos-

Die Geschichte des Großen Oktober in der Geschichtswissenschaft Sowjetarmeniens im Jahrzehnt von 1968 bis 1977* C. P. A G A J A N / K . S. C H U D A V E R D J A N / L . A . C H U R S U D J A N

D i e Geschichte der G r o ß e n Sozialistischen Oktoberrevolution und der Errichtung der Sowjetmacht in Armenien nahm auch im Jahrzehnt von 1 9 6 8 bis 1977 eine zentrale Stellung in der Geschichtswissenschaft der Armenischen S S R ein. Gestützt auf die E r f a h rungen und die Ergebnisse der sowjetischen Historiographie der vorhergehenden Periode, schufen die Historiker Sowjetarmeniens eine große Anzahl von Arbeiten, die der Bedeutung der Oktoberrevolution für das Schicksal des armenischen Volkes und der Geschichte des Kampfes der Werktätigen für den Sieg der Sowjetmacht in Armenien gewidmet sind. W i l l man den gegenwärtigen Forschungsstand dieser Thematik in der Historiographie Sowjetarmeniens charakterisieren, muß man zwei Forschungsrichtungen

unterscheiden.

D i e eine drückt sich in dem Bemühen einiger Autoren aus, die Geschichte des Kampfes der Werktätigen für die Sowjetmacht im Rahmen der gesamten Region Transkaukasiens zu betrachten, das entsprechende Material heranzuziehen und die allgemeingültigen G e setzmäßigkeiten des revolutionären Prozesses in dieser Region herauszuarbeiten.

Die

zweite Richtung wird wie in früheren Jahren in einem vertieften Studium einzelner F r a gen dieses vielschichtigen Problems deutlich. D a b e i muß hervorgehoben werden, daß im letzten Jahrzehnt eine ganze Reihe von Forschungen erschien, die jenen Aspekten gewidmet waren, die früher unzureichend oder überhaupt nicht behandelt wurden. D i e Hinwendung der Historiker zu solchen Forschungsfragen wie der Geschichte des nationalen Befreiungskampfes des armenischen Volkes in den Jahren 1 9 1 7 - 1 9 2 0 , der armenischen Frage in dieser Periode und dem Verhältnis Sowjetrußlands zu diesem Problem, dem nationalstaatlichen Aufbau, der revolutionären Bewegung in der Armee und der Möglichkeit der Ausnutzung der Kaukasus-Armee für die Ziele der sozialistischen R e volution sowie dem Verhältnis der armenischen Werktätigen im Ausland zur sozialistischen Revolution in Rußland und zum Sieg der Sowjetmacht in Armenien zeigt, daß sich mit der Erforschung der Geschichte des Oktober noch mehrere Generationen von Historikern beschäftigen werden. Von den Arbeiten allgemeinen Charakters muß vor allem das W e r k „ D e r Sieg der Sowjetmacht in Transkaukasien" 1 genannt werden, das vom Wissenschaftlichen Problemrat der Akademie der Wissenschaften der U d S S R zur Geschichte der G r o ß e n Sozialistischen Oktoberrevolution gemeinsam mit den Instituten für Geschichte der Akademien * Aus dem Russischen übersetzt von L.-D. Behrendt. 1 Pobeda Sovetskoj vlasti v Zakavkaz'e, Tbilisi 1971. 8

Jahrbuch 25/1

113

der W i s s e n s c h a f t e n

der transkaukasischen R e p u b l i k e n , nicht zuletzt von

armenischen

H i s t o r i k e r n , e r a r b e i t e t w u r d e . D e r wichtigste V o r z u g dieser K o l l e k t i v a r b e i t liegt unseres E r a c h t e n s d a r i n , d a ß die Untersuchung im M a ß s t a b der R e g i o n es e r m ö g l i c h t e , die a l l gemeinen G e s e t z m ä ß i g k e i t e n des revolutionären Prozesses in diesem G e b i e t herauszukristallisieren und die T ä t i g k e i t der bolschewistischen O r g a n i s a t i o n e n in der gesamten R e g i o n zu b e l e u c h t e n . D i e M o n o g r a p h i e über den Sieg der S o w j e t m a c h t in T r a n s k a u kasien gehört zu den bedeutendsten W e r k e n über den Sieg der sozialistischen R e v o l u t i o n in den verschiedenen R e g i o n e n des L a n d e s . D i e Forschungen G . B . G a r i b d z a n j a n s zum T h e m a „ L e n i n und T r a n s k a u k a s i e n " 2 sind ein wichtiger B e i t r a g zur v e r t i e f t e n K e n n t n i s über die G e s c h i c h t e der revolutionären B e w e g u n g in T r a n s k a u k a s i e n , über den K a m p f der bolschewistischen O r g a n i s a t i o n e n für den Sieg der S o w j e t m a c h t und zugleich zur armenischen L e n i n f o r s c h u n g . D i e M o n o g r a p h i e G . A . G a l o j a n s „ D i e O k t o b e r r e v o l u t i o n und die W i e d e r g e b u r t der V ö l k e r T r a n s k a u k a s i e n s " 3 gehört e b e n f a l l s zu den A r b e i t e n , die die G e s c h i c h t e

des

K a m p f e s für den Sieg der sozialistischen R e v o l u t i o n im R a h m e n der gesamten R e g i o n untersuchen. D e r A u t o r zeigt, d a ß der Sieg der sozialistischen R e v o l u t i o n das gesetzm ä ß i g e E r g e b n i s der sozialökonomischen und politischen E n t w i c k l u n g T r a n s k a u k a s i e n s im B e s t a n d R u ß l a n d s w a r , v e r f o l g t a b e r den A b l a u f der E r e i g n i s s e w ä h r e n d der E r richtung und Festigung der S o w j e t m a c h t in der R e g i o n nicht chronologisch. G . geht vielm e h r seinen schon in v o r h e r g e h e n d e n A r b e i t e n deutlich g e w o r d e n e n wissenschaftlichen Interessen nach und untersucht die E x p a n s i o n der W e s t m ä c h t e in T r a n s k a u k a s i e n , den K a m p f der W e r k t ä t i g e n gegen die ausländische I n t e r v e n t i o n und die

nationalistische

K o n t e r r e v o l u t i o n . B e i der B e h a n d l u n g des B e f r e i u n g s k a m p f e s des armenischen V o l k e s in den J a h r e n 1 9 1 7 - 1 9 2 0 zieht er neues M a t e r i a l h e r a n . D e r A u t o r , der sich schon in früheren A r b e i t e n m i t bürgerlichen F ä l s c h u n g e n der G e s c h i c h t e der sozialistischen R e v o l u t i o n in T r a n s k a u k a s i e n auseinandergesetzt h a t t e , polemisiert in seinem letzten W e r k gegen V e r f ä l s c h u n g e n bürgerlicher A u t o r e n , w o b e i deren A n s i c h t e n und S c h l u ß f o l g e r u n gen auch gewissen V e r ä n d e r u n g e n unterlagen. D a v o n ausgehend, d a ß die P o l i t i k S o w j e t r u ß l a n d s gegenüber den bürgerlichen R e p u b l i k e n T r a n s k a u k a s i e n s , insonderheit gegenüber A r m e n i e n in der für dieses L a n d schweren P e r i o d e des W i d e r s t a n d e s gegen türkische A g g r e s s i o n , besonders hartnäckigen A n g r i f f e n der. bürgerlichen

die

Historiogra-

phie unterliegt, b e w e i s t G . a n h a n d v o n F a k t e n , w i e die R e g i e r u n g S o w j e t r u ß l a n d s k o n sequent für die V e r t e i d i g u n g der Interessen des armenischen V o l k e s eintrat und sich um die E i n s t e l l u n g der türkischen Aggression gegen A r m e n i e n b e m ü h t e . I n der A r b e i t wird unter V e r w e n d u n g neuer F a k t e n m a t e r i a l i e n nachgewiesen, d a ß nach der E r r i c h t u n g der S o w j e t m a c h t und der ihr f o l g e n d e n politischen, ö k o n o m i s c h e n und staatlichen V e r einigung

der jungen

Sowjetrepubliken

Transkaukasiens

mit

Sowjetrußland

und

den

a n d e r e n S o w j e t r e p u b l i k e n die E n t w i c k l u n g der V ö l k e r dieser R e g i o n einen neuen A u f schwung n a h m . I n der schon früher publizierten M o n o g r a p h i e G . s „ D i e A r b e i t e r b e w e g u n g und die 2

3

G. B. Garibdzahjan, V. I. Lenin i bol'sevistskie organizacii Zakavkaz'ja (1893-1924), Erevan 1967; ders., Lenin i Zakavkaz'e, Buch 1, Erevan 1970; Buch 2, Erevan 1973; Buch 3, Erevan 1975 (arm.). G. A. Galojan, Oktjabr'skaja revoljucija i vozrozdenie narodov Zakavkaz'ja, Moskau 1977. Diese Monographie ist eine Fortsetzung der Arbeit desselben Autors: „Rossija i narody Zakavkaz'ja. Ocerki politiceskoj istorii ich vzaimootnosenij s drevnich vremen do pobedy Velikoj Oktjabr'skoj socialisticeskoj revoljucii", Moskau 1976.

114

nationale Frage in Transkaukasien 1900-1922'" i werden, wiederum im Maßstab der gesamten Region, die Arbeiterbewegung und der nationale Befreiungskampf der Völker Transkaukasiens in zwei Hauptetappen - vom Beginn des 20. Jh. bis zum Sieg des Oktober und von der Oktoberrevolution bis zur Errichtung und Festigung der Sowjetmacht in Transkaukasien - behandelt. Es wird die Kompliziertheit der politischen Lage in Transkaukasien analysiert, die durch die plötzliche Verschärfung der Beziehungen zwischen den Nationen in der Periode der Herrschaft der bürgerlich-nationalistischen Parteien hervorgerufen wurde. Der Autor zeigt, daß die Erreichung des lang ersehnten nationalen Friedens in der Region erst nach dem Sieg der Sowjetmacht möglich wurde. In dem Buch C. P. Agajans „Die jahrhundertealte Freundschaft der Völker Transkaukasiens" (Teil II) 5 wird der Sieg der Prinzipien des proletarischen Internationalismus untersucht, der dank des Wirkens der bolschewistischen Organisationen der Region erreicht wurde und eine Grundbedingung für den Erfolg des Kampfes zur Errichtung der Sowjetmacht war. Der Autor belegt, daß mit dem Sieg der Sowjetmacht und dem Beginn des sozialistischen Aufbaus die Freundschaft der Völker Transkaukasiens eine neue Qualität annahm und zur festen Grundlage ihrer ökonomischen, politischen und kulturellen Entwicklung wurde. In einer anderen zum 60. Jahrestag des Oktober herausgegebenen Arbeit A.s 6 wurden die welthistorische Bedeutung der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution als Hauptereignis des 20. Jh. und ihr Einfluß auf den revolutionären Weltprozeß gewürdigt. Wenden wir uns jetzt den Forschungen zu, die einzelnen Fragen des behandelten Problems gewidmet sind. Nicht zufällig lenkten die Geschichte der nationalen Befreiungsbewegung des armenischen Volkes in der Periode des Kampfes um die Sowjetmacht, die armenische Frage und die Versuche zu ihrer Lösung in der genannten Periode die Aufmerksamkeit der Historiker Sowjetarmeniens im letzten Jahrzehnt auf sich. Dieses Interesse ergibt sich sowohl aus der großen Bedeutung der historischen Ereignisse, die mit dem nationalen Befreiungskampf des armenischen Volkes verbunden sind, als auch daraus, daß sie bis in die letzte Zeit hinein nur ungenügend erforscht worden sind. Die 1969 erschienene Monographie A. Tursjans 7 behandelt eine der heroischen Seiten aus der Geschichte der nationalen Befreiungsbewegung des armenischen Volkes in der Neuzeit - die Schlacht bei Sardarabad im Mai 1918, in der armenische nationale ¿ i n heiten und eilig aufgestellte Abteilungen einer Bauernlandwehr Ostarmeniens es vermochten, den türkischen Aggressor an den Zugängen zu Erevan aufzuhalten und schließlich zurückzuschlagen. Dadurch wurde nicht nur die Bevölkerung Erevans und des Ararattales von der drohenden tödlichen Gefahr gerettet, sondern auch den türkischen Eroberern, die nach Baku, dem Vorposten der Sowjetmacht in Transkaukasien, durchbrechen wollten, der Weg verlegt. Die Monographie M. V. Arzumanjans 8 untersucht schwerpunktmäßig den nationalen '' G. A. Galojan, Rabocee dvizenie i nacional'nyj vopros v Zakavkaz'e. 1 9 0 0 - 1 9 2 2 ; Erevan 1 9 6 9 . 6 C. P. Agajan, Vekovaja druzba narodov Zakavkaz'ja. T. II, Erevan 1 9 7 2 . D e r erste Teil erschien unter demselben Titel 1 9 7 0 ; in ihm werden die gesellschaftlichen und kulturellen Beziehungen der Völker Transkaukasiens vom Altertum bis zum Sturz des Zarismus in Rußland behandelt. 0 C. P. Agajan, Velikij Oktjabr' i mirovoj revoljucionnyj process, Erevan 1 9 7 7 (arm.). 7 A. Tursjan, Sardarabadskoe srazenie, Erevan 1 9 6 9 (arm.). 8 M. V. Arzumanjan, Ot bedstvija k vozrozdeniju, Erevan 1 9 7 3 (arm.). Die Arbeit ist die Fortsetzung des Buches „Armenija. 1 9 1 4 - 1 9 1 7 " (Erevan 1 9 6 9 , arm.) vom selben Autor.'

8*

115

Befreiungskampf des armenischen Volkes gegen die türkische Aggression in den Jahren 1 9 1 7 - 1 9 2 0 sowie die Versuche, die armenische Frage wieder aufzuwerfen, bis zur Konferenz von Lausanne, die Resonanz der internationalen Kreise auf diese Versuche, die Lage der Westarmenier und andere Fragen. Die Geschichte des Befreiungskampfes des armenischen Volkes von der zweiten Hälfte des 19. Jh., als die Lage und das Schicksal der Westarmenier Objekt des internationalen diplomatischen Kampfes wurden, bis zum Sieg der Sowjetmacht in Armenien ist Gegenstand des Buches von C. P. Agajan „Aus der Geschichte des Befreiungskampfes des armenischen Volkes". 9 Die breite Faktengrundlage und der weitgespannte chronologische Rahmen gestatten dem Autor den überzeugenden Beweis, daß die Logik der Entwicklung der nationalen Befreiungsbewegung des armenischen Volkes die breiten Massen der Werktätigen zur Aufnahme der sozialistischen Ideen führte, die mächtig genug waren, nicht nur die sozialen, sondern auch die nationalen Bestrebungen des Volkes zu verwirklichen. Die Politik Sowjetrußlands gegenüber Armenien 1917/18 und die Bemühungen der Sowjetregierung zur Lösung der armenischen Frage in diesen Jahren werden in der Monographie von L. A. Chursudjan „Sowjetrußland und die armenische Frage" 1 0 dargestellt. Auf der Grundlage einer Analyse der Äußerungen Lenins zum Schicksal der Armenier gelangt der Autor zu der wichtigen Schlußfolgerung, daß am Vorabend der Oktoberrevolution Lenin als einzige Lösung der armenischen Frage die Schaffung einer unabhängigen armenischen Republik auf dem gesamten Territorium Armeniens betrachtete. Anhand der außenpolitischen Aktionen der Sowjetregierung und des Leninschen Dekretes „Über ,Türkisch-Armenien"' weist Ch. nach, daß auch nach dem Sieg der Oktoberrevolution Sowjetrußland alles unternahm, um zu einer gerechten Lösung der armenischen Frage zu gelangen und die nationalen Interessen des armenischen Volkes zu verteidigen. Demgegenüber wird die kurzsichtige, volksfeindliche Politik der in Armenien zur Mächt gelangten Dasnaken, die sich in ihrer Tätigkeit von zügellosem Antisowjetismus leiten ließen, besonders deutlich. Im letzten Jahrzehnt ist also ein anerkennenswerter Beitrag zur Erforschung der Geschichte der nationalen Befreiungsbewegung des armenischen Volkes in der Periode des Oktobers geleistet worden. Dennoch ist unserer Meinung nach dieses Problem bei weitem noch nicht erschöpfend behandelt worden, und es bedarf weiterer Forschungen. E i n neues Sujet in der Historiographie Sowjetarmeniens während der letzten Jahre stellt das Problem „Der Oktober, der Sieg der Sowjetmacht in Armenien und die Amenier im Ausland" dar. Bekanntlich gestaltete sich das historische Schicksal des armenischen Volkes so, daß seit dem frühen Mittelalter große Teile dieses Volkes, um sich vor dem schweren sozialen und nationalen Joch ausländischer Unterdrücker zu retten, gezwungen waren, die Heimat zu verlassen und Siedlungen in der Fremde zu gründen. Eine armenische Diaspora entstand in vielen Ländern der Erde und existiert bis auf den heutigen Tag. Wie verhielten sich die gesellschaftspolitischen Kreise der Auslandsarmenier zum Sieg der sozialistischen Revolution in Rußland und zur Errichtung der Sowjetmacht in Armenien, wie wirkten diese Ereignisse auf die politische Orientierung der Auslandsarmenier, welche Politik betrieb die junge Sowjetrepublik gegenüber den Armeniern im Ausland - das sind im wesentlichen die Fragen, die dieses Problem umreißen. Bei seiner Erforschung sind bisher nur erste Schritte zu registrieren. 9 10

C. P. Agajan, Iz istorii osvoboditel'noj bor'by armjanskogo naroda, Erevan 1976 (arm.). L. A. Chursudjan, Sovetskaja Rossija i arrajanskij vopros, Erevan 1977 (arm.).

116

Bemerkenswert ist die Monographie von O. U. Meliksetjan", in der eingehender darüber berichtet wird, wie sich die Werktätigen der armenischen Siedlungen im Ausland allmählich auf Sowjetarmenien zu orientieren begannen und welche Hilfsmaßnahmen die Regierung der Republik den Flüchtlingen gewährte. M. untersucht auch die erste Massenrepatriierung von Auslandsarmeniern nach Sowjetarmenien, die nur durch den Sieg der neuen Ordnung möglich wurde. In dem Buch M. V. Arzumanjans „Nansen und Armenien" 12 wird das Problem anhand der Tätigkeit Fridtjof Nansens abgehandelt, der großen Anteil am Schicksal der armenischen Flüchtlinge nahm und verstand, daß die beste Lösung ihrer Frage die Organisierung ihrer Repatriierung war. Um die Bedingungen dafür an Ort und Stelle zu studieren, unternahm er eine Reise nach Sowjetarmenien. Schließlich ist der Aufsatz von G. R. Simonjan „Das Echo auf die Oktoberrevolution in den armenischen Kolonien im Ausland (1917-1920)" 1 3 zu erwähnen. Darin wird nachgewiesen, daß das Verhältnis zur Oktoberrevolution und zur revolutionären Bewegung in Armenien ein weiterer Faktor bei der sozialpolitischen Abgrenzung der Kräfte in der armenischen Diaspora war. Ein wesentlicher Beitrag wurde im letzten Jahrzehnt auch zur Erforschung der Geschichte der revolutionären Bewegung in der Kaukasus-Armee erbracht. Diesem Problem sind zwei Monographien G. S. Melikjans 1 4 und eine Arbeit R. Manukjans 1 5 gewidmet. Den Historikern Transkaukasiens ist bekannt, daß im Streit um die Ursachen für die Verzögerung des Sieges der sozialistischen Revolution in Transkaukasien die Anhänger des Standpunktes, die Bolschewiki hätten 1917/Anfang 1918 die Macht erobern können, besonders auf den Fehler der Bolschewiki verweisen, die revolutionär gestimmte Kaukasus-Armee nicht für die Ziele der sozialistischen Revolution genutzt zu haben. Am besten wird in diesem Sinne in der bereits erwähnten Arbeit G. S. Melikjans „Die Oktoberrevolution und die Kaukasus-Armee" argumentiert. Das Buch A. O. Arutjunjans 16 , das die militärischen Aktionen an der Kaukasus-Front 1914-1917 behandelt, berührt die revolutionäre Bewegung in der Kaukasus-Armee nur am Rande. Bedeutend bereichert wurde die Literatur, die sich mit dem nationalstaatlichen Aufbau in der Republik und in Transkaukasien in der unmittelbar auf die Errichtung der Sowjetmacht folgenden Periode beschäftigt. M. Nikogosjan 17 untersucht die Entstehungsgeschichte der Sowjets in Armenien in der Periode der Doppelherrschaft sowie ihre Rolle bei der Mobilisierung der Werktätigen zum Kampf für den Sieg der Sowjetmacht. Im postum herausgegebenen Buch A. M. El'cibekjans 18 wird die folgende Etappe des Staatsaufbaus abgehandelt: der Übergang von den Revolutionskomitees zu den Sowjets, der sich in Armenien nach der Zerschlagung des antisowjetischen Aufstandes der Dasnaken 1921 vollzog. Es sei erwähnt, daß fi. in dieser Arbeit seine Auffassung zur Politik des Kriegskommunismus darlegt, die in Armenien unmittelbar nach Errichtung 11

O. U. Meliksetjan, Armeniju.

12 13

)/l

D e p o r t a c i j a zapadnych a r m j a n i repatriaeija zarubeznych armjan v Sovetskuju

1915-1940

gg., E r e v a n 1 9 7 5 (arm.). M. V. Arzumanjan, Nansen i A r m e n i j a , E r e v a n 1 9 7 7 (arm.). G. R. Simonjan, O t k l i k i na Oktjabr'skuju revoljuciju v zarubeznych armjanskich kolonijach ( 1 9 1 7 bis 1 9 2 0 ) , i n : Po puti v e l i k o g o O k t j a b r j a , E r e v a n 1 9 7 7 (arm.). G. S. Melikjan, O k t j a b r ' s k a j a revoljucija i K a v k a z s k a j a armija, E r e v a n 1 9 7 0 ; ders., R e v o l j u c i o n n o e dvizenie v K a v k a z s k o j armii ( 1 9 1 4 - 1 9 1 7 ) , E r e v a n 1 9 7 5 (beide arm.').

15

R. Manukjan,

16 17

A. O. Arutjunjan, K a v k a z s k i j f r o n t . 1 9 1 4 - 1 9 1 7 gg., E r e v a n 1 9 7 1 . M. Nikogosjan, S o v e t y v A r m e n i i (mart 1 9 1 7 g . - m a j 1 9 1 8 g.), E r e v a n 1 9 6 8

18

A. M. El'cibekjan,

R e v o l j u c i o n n a j a rabota b o l ' s e v i k o v v K a v k a z s k o j armii, E r e v a n 1 9 6 9 (arm.).

Ot revkomov k Sovetam, Erevan

(arm.).

1978.

117

der Sowjetmacht eingeführt wurde. Zur Frage der Zweckmäßigkeit der Einführung der Politik des Kriegskommunismus in Armenien gibt es unter den Historikern Sowjetarmeniens keine einheitliche Meinung. E. zeigt in seinem Buch einige negative Folgen der Methoden bei der Einführung der Politik des Kriegskommunismus in Armenien. Zwei Arbeiten behandeln die Geschichte des nationalstaatlichen Aufbaus in Transkaukasien unmittelbar nach dem Sieg der Sowjetmacht. C. P. Agajan würdigt in seiner Monographie „V. I. Lenin und die Gründung der transkaukasischen Sowjetrepubliken" 19 die Rolle des Gründers unseres Staates beim Sieg der sozialistischen Revolution in Transkaukasien, bei der Festigung der Brüderlichkeit und Freundschaft zwischen den Völkern. Die Leninschen Hinweise zu Fragen des nationalstaatlichen Aufbaus erhellten nach einem vom Autor zitierten Ausspruch M. D. Orachelasvilis „wie die Strahlen eines starken Scheinwerfers den Kreis der politisch aktuellen Aufgaben", die vor den kommunistischen Parteien und den Regierungen der transkaukasischen Republiken standen. In der Monographie wird die Gründungsgeschichte der sowjetischen Staatlichkeit in Azerbaidzan, Armenien und Georgien ausführlich dargestellt. Es werden die Voraussetzungen des politischen und ökonomischen Bündnisses der transkaukasischen Republiken aufgezeigt, die zur Bildung der Transkaukasischen Föderation und dann zur Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken führten. S. V. Charmandarjan erforscht in seinem Werk „V. I. Lenin und die Entstehung der Transkaukasischen Föderation" 20 die anschließende Etappe des nationalstaatlichen Aufbaus in der Region, die mit der Bildung der Transkaukasischen Föderation abgeschlossen wurde. Der Autor weist nach, wie die Idee der Föderation allmählich unter den führenden Parteifunktionären der Region vorherrschend wurde. Er zeigt die unmittelbare Mitwirkung Lenins an der Ausarbeitung der Projekte einer nationalstaatlichen Vereinigung der Republiken Transkaukasiens. Ausführlich wird die von den Parteiorganisationen geführte Vereinigungsbewegung der Völker Transkaukasiens geschildert und die historische Rolle der RSFSR herausgearbeitet. A. N. Mnacakanjan unternimmt in seiner Monographie „V. I. Lenin und die Lösung der nationalen Frage in der UdSSR" 2 1 den Versuch, die Tätigkeit Lenins auf dem Gebiet des nationalen Aufbaus von 1917 bis 1923 zu verfolgen, solange Lenin unmittelbaren Anteil an der Ausarbeitung und Verwirklichung der Nationalitätenpolitik unserer Partei hatte. Der Autor schildert kurz die Lage der Nationen unter dem Zarismus und zeigt die Bemühungen der bolschewistischen Partei, den nationalen Befreiungskampf der nichtrussischen Völker in einen Bestandteil des gesamtrussischen revolutionären Prozesses zu verwandeln. M. ist bestrebt, durch die Einbeziehung aller Regionen des Landes die allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten und die einzelnen Regionen eigenen Besonderheiten des nationalstaatlichen Aufbaus und die Lösung der nationalen Frage herauszuarbeiten. Ungeachtet einiger strittiger Thesen, worauf in den wissenschaftlichen Zeitschriften der Sowjetunion verwiesen wurde, zeichnet sich M.s Buch durch eine weite Fragestellung aus. Es behandelt neben den Problemen des nationalstaatlichen Aufbaus Fragen der Nationalitätenpolitik im Parteiaufbau, beim Aufbau der bewaffneten Kräfte usw. Im Jahre 1977 gab der Wissenschaftliche Problemrat der Akademie der Wissen19 20 21

C. P. Agajan, V. I. Lenin i sozdanie Zakavkazskich sovetskich respublik, Erevan 1 9 7 6 . S. V. Charmandarjan, V. I. Lenin i stanovlenie Zakavkazskoj federacii, Erevan 1 9 6 9 . A. N. Mnacakanjan, Lenin i resenie nacional'nogo voprosa v SSSR, Erevan 1 9 7 0 .

118

schaften der UdSSR „Geschichte der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution" gemeinsam mit seiner armenischen Sektion die Kollektivarbeit „Der Große Oktober und die nationale Frage" heraus. 22 An der Ausarbeitung des Buches nahmen die führenden Spezialisten des Landes auf dem Gebiet der nationalen Frage und Kollegen aus den sozialistischen Ländern teil. Grundlage des Werkes waren die Materialien einer 1974 in Erevan stattgefundenen wissenschaftlichen Session zur nationalen Frage. Am Beispiel der verschiedenen Regionen des Landes werden die sowjetischen Erfahrungen bei der Lösung der nationalen Frage, Probleme des national-kulturellen Aufbaus und der Historiographie dargestellt. Man muß feststellen, daß im vergangenen Jahrzehnt von den Historikern Sowjetarmeniens nur relativ wenig auf dem Gebiet der Quellenedition zur Geschichte des Kampfes um den Sieg der sozialistischen Revolution getan wurde. 1972 wurde ein umfangreicher Dokumentenband „Armenien in Dokumenten der internationalen Diplomatie und der sowjetischen Außenpolitik" 2 3 herausgegeben. Ein Abschnitt des Bandes enthält Dokumente über die Beziehungen zwischen Sowjetrußland und der Armenischen Republik und zeugt von dem Bemühen der Sowjetregierung, dem armenischen Volk Hilfe zu erweisen und die türkische Aggression abzuwenden. Der 1957 in Armenisch, 1960 auch in Russisch herausgegebene Sammelband von Dokumenten und Materialien zum Thema „Die Große Sozialistische Oktoberrevolution und der Sieg der Sowjetmacht in Armenien", der seinerzeit eine wichtige Rolle spielte, ist leider schon lange zu einer bibliophilen Rarität geworden. In den letzten zwanzig Jahren wurden in wissenschaftlichen Zeitschriften, vor allem im „Vestnik obscestvennych nauk A N Arm. SSR" und im „Vestnik archivov Armenii" interessante Dokumente publiziert. Eine bedeutende Anzahl von Archivmaterialien hat Eingang in die wissenschaftliche Forschung gefunden, wovon die veröffentlichten Arbeiten zeugen. In Georgien und Azerbaidzan wurden Sammelbände mit Dokumenten und Materialien herausgegeben, die auch von Interesse für die Geschichte der revolutionären Bewegung in Armenien sind. Unserer Auffassung nach ist die Zeit gekommen, um, gestützt auf die Ergebnisse bisheriger Quellenpublikationen, einen neu/en fundamentalen Sammelband von Dokumenten und Materialien zur Geschichte des Kampfes für den Sieg der Sowjetmacht in Armenien zum Druck vorzubereiten. Es wäre auch zweckmäßig, einen Dokumentenband zur Geschichte des Kampfes für den Sieg der sozialistischen Revolution in Transkaukasien in gemeinsamer Arbeit der Historiker und Archivwissenschaftler aller drei Republiken zusammenzustellen. Im vergangenen Jahrzehnt wurde auch die Historiographie des Problems wenig erforscht. Es wurden lediglich einige Aufsätze über das Studium der Geschichte des Kampfes um die Sowjetmacht in Armenien von C. P. Agajan, K. S. Chudaverdjan, L. A. Chursudjan, G. S. Melikjan u. a. veröffentlicht. Das heutige Entwicklungsniveau unserer Geschichtswissenschaft, die bisherigen Erfahrungen sowie die vorliegenden Ergebnisse der Historiographie Sowjetarmeniens erlauben es, eine spezielle 22

23

Velikij Oktjabr' i nacional'nyj vopros, Erevan 1 9 7 7 . Im Sammelband sind folgende Beiträge von Historikern Sowjetarmeniens enthalten: G. B. Gariodzanjan, Bor'ba leninskoj partii za internacional'noe splocenie trudjascichsja Rossii v period Oktjabr'skoj revoljucii; C. P. Agajan, Obrazovanie sovetskich respublik Zakavkaz'ja - torzestvo leninskoj nacional'noj politiki; K. S.. Chudaverdjan, Ob osnovnych zakonomernostjach i nekotorych osobennostjach processa stanovlenija socialisticeskoj kul'tury narodov SSSR. Armenija v dokumentach mezdunarodnoj diplomatii i sovetskoj vnesnej politiki. Zus.-gest. v. Dz. Kirakosjan/R. Saakjan, Erevan 1 9 7 2 (arm.).

119

Monographie über Probleme des Oktober in der Geschichtswissenschaft Sowjetarmeniens zu erarbeiten. D i e Schaffung eines solchen Werkes ist nicht nur zur Verallgemeinerung des bereits Erreichten wichtig, sondern auch für die Absteckung der künftigen Aufgaben. Es ist offensichtlich auch die Zeit herangereift für eine umfassende historiographische Arbeit zur Geschichte des Roten Oktober im Maßstab des ganzen Landes unter Einschluß aller seiner Regionen. Eine solche Arbeit, an deren Abfassung sich die Historiker aller Sowjetrepubliken beteiligen kön'nten, wäre eine gute und nützliche E r gänzung zu der vom Wissenschaftlichen Problemrat herausgegebenen Serie von Forschungsarbeiten zur Geschichte des Sieges der Sowjetmacht in den verschiedenen Regionen des Landes. In Zukunft sollten unserer Auffassung nach Abhandlungen über die Geschichte der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution und über ihre internationale Bedeutung in den sozialistischen Ländern sowie über die Hauptetappen der bürgerlichen Historiographie zur Geschichte des Oktober folgen. D i e kurze Analyse der Forschungen zur Geschichte der Oktoberrevolution in Sowjetarmenien zeigt, d a ß dieses Problem ein zentrales Thema unserer Wissenschaft bleibt, daß bei der Erforschung der Geschichte der sozialistischen Revolution bereits viel getan und erreicht worden ist, daß aber auch in Zukunft noch vieles zu tun bleibt.

120

Allgemeine und besondere Elemente bei der Herstellung der nationalen Gleichberechtigung der Sorben in der DDR K L A U S J. S C H I L L E R

D i e H e r s t e l l u n g der n a t i o n a l e n G l e i c h b e r e c h t i g u n g zwischen den v e r s c h i e d e n e n N a t i o n a l i t ä t e n eines j e d e n L a n d e s , dessen B e v ö l k e r u n g k e i n e einheitliche n a t i o n a l e Z u s a m mensetzung aufweist, gehört zu den a l l g e m e i n e n G e s e t z m ä ß i g k e i t e n des Ü b e r g a n g s v o m K a p i t a l i s m u s zum Sozialismus, der sozialistischen R e v o l u t i o n

und des

sozialistischen

Aufbaus. A u f den engen Z u s a m m e n h a n g zwischen sozialer R e v o l u t i o n und L ö s u n g der nationalen F r a g e , H e r s t e l l u n g neuer z w i s c h e n n a t i o n a l e r B e z i e h u n g e n h a b e n bereits die K l a s siker des M a r x i s m u s - L e n i n i s m u s nachdrücklich hingewiesen. I m „ M a n i f e s t der K o m m u nistischen P a r t e i " schrieben K a r l M a r x und F r i e d r i c h E n g e l s : „In dem M a ß e , wie die E x p l o i t a t i o n des einen I n d i v i d u u m s durch das a n d e r e a u f g e h o b e n w i r d , wird die E x ploitation einer N a t i o n durch die a n d e r e a u f g e h o b e n . M i t dem G e g e n s a t z der K l a s s e n im Innern

der N a t i o n f ä l l t die f e i n d l i c h e Stellung der N a t i o n e n

später zeigte F r i e d r i c h E n g e l s ,

gegeneinander."1

„ d a ß der ganze N a t i o n a l i t ä t e n h a d e r

Und

nur m ö g l i c h

ist

unter der H e r r s c h a f t der großen grundbesitzenden F e u d a l h e r r e n und der K a p i t a l i s t e n ; d a ß er nur dazu dient, diese H e r r s c h a f t zu v e r e w i g e n ; . . . und d a ß , s o b a l d die A r b e i t e r k l a s s e zur politischen* H e r r s c h a f t k o m m t , aller V o r w a n d zu n a t i o n a l e m Z w i s t beseitigt ist".2 V l a d i m i r U ' i c L e n i n e n t w i c k e l t e die Prinzipien des M a r x i s m u s - L e n i n i s m u s in der n a tionalen

F r a g e w e i t e r zur umfassenden

Arbeiterbewegung. Verteidigung

des

Als

„Grundprinzip"

bolschewistischen

T h e o r i e , zum formulierte

Programms

Programm

Lenin

bei

„Unzulässigkeit

der

der

revolutionären

Begründung

jeglicher

und

nationaler

P r i v i l e g i e n und jeglicher nationalen R e c h t s u n g l e i c h h e i t " 3 . W i e d e r h o l t hat er d a r a u f v e r wiesen, „ d a ß es nur eine einzige L ö s u n g der n a t i o n a l e n F r a g e gibt . . ., und diese L ö sung ist der k o n s e q u e n t e D e m o k r a t i s m u s " 4 , der „vollständige D e m o k r a t i s m u s , w i e er von der A r b e i t e r k l a s s e vertreten w i r d . K e i n e r l e i Privilegien für irgendeine N a t i o n , für i r g e n d e i n e S p r a c h e ! N i c h t die geringste B e s c h r ä n k u n g , nicht die geringste

Ungerech-

tigkeit gegenüber einer nationalen M i n d e r h e i t ! - das sind die Prinzipien der p r o l e t a r i schen D e m o k r a t i e . " 5 I m m e r w i e d e r hob L e n i n die u m f a s s e n d e n a t i o n a l e G l e i c h b e r e c h t i g u n g als u n a b d i n g 1 2 3 5 5

K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 4, S. 479. K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 22, S. 403. W. I. Lenin, Werke, Bd. 20, S. 29. Ebenda, S. 2 5 ; vgl. ders., ebenda, Bd. 19, S. 346, 420. W. I. Lenin, Werke, Bd. 19, S. 75; vgl. auch ebenda, S. 346 und Bd. 20, S. 6.

121

bare Voraussetzung für den Sieg der sozialistischen Revolution, für den erfolgreichen sozialistischen Aufbau hervor und begründete diese Notwendigkeit: „Wo die volle Gleichberechtigung der Nationen und der Sprachen propagiert wird, dort werden in jeder Nation allein die konsequent demokratischen Elemente (d. h. nur die Proletarier) herausgehoben und nicht entsprechend der Nationalität, sondern entsprechend ihrem Streben nach tiefgreifenden und ernstlichen Verbesserungen der gesamten Staatsordnung vereinigt,"G Und an anderer Stelle formulierte er: „Die Interessen der Arbeiterklasse - wie überhaupt die Interessen der politischen Freiheit - erfordern dagegen die vollste Gleichberechtigung ausnahmslos aller Nationalitäten eines gegebenen Staates und die Beseitigung jeglicher Scheidewände zwischen den Nationen . . ," 7 Mit dem Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution 1917 und der Bildung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken 1922 wurden diese theoretischen und ideologischen Prinzipien des Marxismus-Leninismus erstmals in die Tat umgesetzt, wurden sie zu praktisch-politischen Grundsätzen der Partei der Bolschewiki und des sich unter ihrer Führung entwickelnden ersten multinationalen sozialistischen Staates, der Sowjetunion. Und mit der Entfaltung der volksdemokratischen Revolution in Mittelund Südosteuropa seit der Mitte der vierziger Jahre gingen auch die kommunistischen und Arbeiterparteien solcher Länder wie Bulgarien, Jugoslawien, Polen, Rumänien, Tschechoslowakei und Ungarn 8 ebenso wie die Kommunistische Partei bzw. seit April 1946 die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands 9 daran, die nationale Gleichberechtigung entsprechend den nationalitätenpolitischen Prinzipien des Marxismus-Leninismus zu verwirklichen. In Anwendung der Leninschen Erkenntnisse, der allgemeingültigen Lehren aus der Entwicklung der Sowjetunion und der Erfahrungen anderer sozialistischer Staaten können als grundlegende Merkmale für die Herstellung der nationalen Gleichberechtigung zwischen den Nationen und Völkerschaften, ethnischen und nationalen Gruppen eines sozialistischen Landes herausgestellt werden: - Beseitigung jeglicher nationaler Unterdrückung und Rechtsungleichheit; - Abschaffung aller nationalen Privilegien und Beschränkungen; - Durchsetzung der politischen und rechtlichen Gleichheit aller Nationalitäten; - Gewährleistung gleicher staatsbürgerlicher, politischer Rechte unabhängig von nationaler Zugehörigkeit; 6 7 s

9

W. I. Lenin, Werke, Bd. 20, S. 27 f. W. I. Lenin, Werke, Bd. 19, S. 2 9 8 . Grundlegende Ausführungen und Hinweise auf weitere Literatur zur Thematik in den sozialistischen Ländern Mittel- und Südosteuropas enthalten u. a . : M. Bejuttov, Zivotät na naselenieto ot turski proizehod v N R B , Sofia 1 9 7 5 ; / . Byczkowski, Mniejszosci narodowe w Europie 1945—1974 (Wybrane zagadnienia), Opole 1 9 7 6 ; ]. Demeter/E. Eisenburger/V. Lipatti, Zur nationalen Frage in Rumänien. Daten und Fakten, Bukarest 1 9 7 2 ; L . Kövagö, Zur Nationalitätenfrage und Nationalitätenpolitik in der Ungarischen Volksrepublik, in: Letopis (Bautzen), Reihe B, N r . 2 1 / 2 , 1 9 7 4 , S. 129 ff.; Nacional'nye otnosenija i gosudarstvo v sovremennyj period, Moskau 1 9 7 2 ; Närodnostne vzt'ahy v socialistickom Ceskoslovensku, Bratislava 1 9 7 6 ; Nemzetisegi kerdes - nemzetisegi politika, Budapest 1 9 6 8 ; Otäzky kultür närodnosti v socialistickom Ceskoslovensku (sowie D D R und U V R ) , Bratislava 1 9 7 3 ; J. Sindelka, Narodnostni politika v CSSR, Praha 1 9 7 5 ; Stav a ükoly vyzkumu narodnostni otäzky v CSSR (sowie D D R und V R P ) , Opava 1 9 7 5 ; E. A. Tychonova, Rozv'jazannja nacional'noho pytannja u derzavnomu budivnyctvi jevropejskych socialistycnych krain (CSSR, S R R , S F R J ) , Kiev 1 9 6 6 ; ]. Zvara, Robotnicka trieda a narod, Bratislava 1 9 7 5 . K. J. Schiller, 1976.

122

Die Sorben in der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung ( 1 9 4 5 - 1 9 4 9 ) , Bautzen

- Schaffung gleicher Entwicklungsmöglichkeiten für alle Bürger; - Anerkennung des Freiwilligkeitsprinzips in den zwischennationalen Beziehungen; - Entwicklung brüderlicher Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitiger H i l f e zwischen den Nationalitäten; - Hilfeleistung der fortgeschritteneren gegenüber den noch unter den Bedingungen der Klassenherrschaft und nationalen Unterdrückung lebenden Völkern; - internationalistische Erziehung der gesamten Arbeiterklasse des L a n d e s und aller Werktätigen einer jeden Nationalität. In Abhängigkeit von den jeweiligen konkreten historischen, sozial-politischen'und nationalen Bedingungen der einzelnen sozialistischen Länder wurden diese allgemeingültigen Prinzipien in der Praxis der jeweiligen kommunistischen und Arbeiterparteien auf unterschiedliche Weise verwirklicht. Unter dem Aspekt der nationalen Zusammensetzung der Bevölkerung der sozialistischen L ä n d e r lassen sich zwei verschiedene Formen unterscheiden: einerseits selbständige sozialistische Nationalstaaten wie die D D R , die V R Polen, die Ungarische V R , die S R Rumänien, die V R Bulgarien und weitere; andererseits multinationale sozialistische Staaten, so die U d S S R , die C S S R und die S F R J , unter denen die Sowjetunion die größte Vielfalt aufweist - Kulicenko zählt für die Gegenwart 36 Nationen, 32 Völkerschaften, 35 nationale Gruppen und 17 ethnische Gruppen. 1 0 In den multinationalen sozialistischen Staaten wurden vor allem national-staatliche und national-territoriale Formen für die Sicherung der Gleichberechtigung zwischen den verschiedenen Nationen und Nationalitäten gefunden und angewandt: - Als zweckmäßige Form der brüderlichen Zusammenarbeit mehrerer sozialistischer Nationen und Völkerschaften wurde zunächst in der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik, dann in der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken unter Einbeziehung der R S F S R und 14 nationaler Sowjetrepubliken der föderative Zusammenschluß erkannt, der sich später auch in der Form der sechs sozialistischen Republiken innerhalb der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien und der beiden sozialistischen Republiken der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik bewährte; - als zweckmäßige Form der Eigenstaatlichkeit kleinerer sozialistischer Nationen und national besonders stark gemischter Territorien haben sich zunächst in der R S F S R 16 autonome Republiken bewährt, eine Lösung, die dann auch in der Georgischen S S R und der S R Serbien mit je zwei sowie in der Aserbaidshanischen und der Usbekischen S S R mit je einer autonomen Republik angewandt wurde; - als zweckmäßig hat sich in der U d S S R darüber hinaus die Schaffung von autonomen administrativ-territorialen Einheiten erwiesen, d. h. von fünf autonomen Gebieten und von zehn autonomen Bezirken in der R S F S R sowie von je einem autonomen G e biet in der Aserbaidshanischen, Georgischen und Tadzikischen Sowjetrepublik. 1 1 Sosehr sich diese Lösungsvarianten in den genannten Fällen bewährt haben, sowenig sind sie jedoch allgemein verbindlich. Schon Lenin hatte auf „die zwei Grundprinzipien" in der nationalen Frage hingewiesen, an die sich alle Kommunisten halten müssen,

10 11

M. Kulicenko, U k r e p l e n i e internacional'nogo edinstva s o v e t s k o g o obscestva, K i e v 1 9 7 6 , S. 6 3 f f . V g l . hierzu auch V e r f a s s u n g ( G r u n d g e s e t z ) der UniQn der Sozialistischen S o w j e t r e p u b l i k e n , M o s k a u 1 9 7 7 , bes. Abschnitt I I I . : D i e nationalstaatliche O r d n u n g der U d S S R .

123

„erstens die Forderung nicht der nationalen Autonomie, sondern der politischen und bürgerlichen Freiheit und der vollständigen Gleichberechtigung; . . . zweitens die Forderung des Selbstbestimmungsrechtes für jedfe Nationalität, die zum Bestand des Reiches gehört". 12 W. I. Lenin verband die Forderung nach „weitgehender Selbstverwaltung und Autonomie" stets mit solchen Prinzipien wie der „administrativen Einteilung, die den Erfordernissen des modernen Wirtschaftslebens gerecht wird und nach Möglichkeit (!) der nationalen Zusammensetzung der Bevölkerung entspricht,"13 der Schaffung von „einzelnen Gebieten, die unter anderem (!) auch nach nationalen Merkmalen abzugrenzen sind,"1'1 und der „Entscheidung aller staatlichen Fragen durch den Willen der Bevölkerungsmehrheit (d. h. das Prinzip des konsequenten Demokratismus)", 15 und hob hervor: „Somit muß das allgemeine, grundlegende, stets verbindliche Programm der Sozialdemokraten Rußlands nur in der Forderung der vollständigen Gleichberechtigung der Staatsbürger (unabhängig von Geschlecht, Sprache, Religion, Rasse, Nationalität usw.) und ihres Rechtes auf freie demokratische Seitobestimmung bestehen. Was hingegen die Unterstützung der Forderungen nach nationaler Autonomie betrifft, so ist diese Unterstützung durchaus keine bleibende, programmatische Pflicht des Proletariats." 1 " Dementsprechend gibt es heute weder in der D D R noch in anderen sozialistischen Staaten Mittel- und Südosteuropas mit Ausnahme der SFR Jugoslawien eine nationale Autonomie, was einerseits eine Besonderheit gegenüber der Sowjetunion, andererseits ein konkret-historisch entstandener allgemeiner Zug der volksdemokratischen Revolution in Europa ist. Von diesen Ländern weisen die D D R mit einem sorbischen Bevölkerungsanteil von 0,6 Prozent und die VR Polen mit einem nichtpolnischen Bevölkerungsanteil von 1,4 Prozent die größte, die SR Rumänien und die VR Bulgarien mit je etwa zwölfprozentigem Anteil von Nationalitäten die relativ geringste nationale Homogenität auf, während die CSSR und die Ungarische VR mit etwa sechs Prozent der Bevölkerung, die nicht den jeweils namengebenden Nationen angehören, dazwischen liegen. In allen diesen Fällen ist die vollständige nationale Gleichberechtigung in allen ihren eingangs aufgeführten Aspekten gewährleistet. Was sich bereits seit den zwanziger Jahren in der Praxis der Sowjetunion an Prinzipiellem bewährt hatte, wurde seit den vierziger Jahren auch hier, entsprechend den besonderen historischen sozial-politischen und nationalen Bedingungen zwar modifiziert, aber in seinen allgemeingültigen Grundlagen vollauf verwirklicht, wobei vor allem gilt 17 : 1. Die führende soziale, politische und ideologische Kraft jeder einzelnen sozialistischen Nation wie auch der anderen Nationalitäten des jeweiligen Landes ist die Arbeiterklasse mit ihrer marxistisch-leninistischen Partei. Die internationalistische Arbeiterklasse prägt durch ihre geschichtliche Aktivität, durch ihre grundlegenden Interessen und durch ihr Endziel - die klassenlose kommunistische Gesellschaft - die Entwicklung der nationalen Gemeinschaften, ihrer zwischennationalen wie ihrer internationalen Beziehungen. 2. Zur ökonomischen Grundlage der freien Entwicklung der Völker, aller Natio12 13

17

W. 1. Lenin, Werke, Bd. 6, S. 322. W. 1. Lenin, Werke, Bd. 19, S. 236. 1 5 Ebenda, S. 371. 1 6 W. I. Lenin, Ebenda, S. 99. Werke, Bd. 6, S. 323. Vgl. dazu u. a. Der Leninismus und die nationale Frage in der Gegenwart, Moskau 1974, S. 257 ff.; K. J. Schiller, Die zwei Tendenzen des Sozialismus in den nationalen Beziehungen und die Sorben, Bautzen 1976, S. 16 ff.

124

nalitäten wird im Ergebnis der sozialistischen Revolution und des sozialistischen Aufbaus die Beseitigung des Privateigentums und dessen Ablösung durch gesellschaftliches Eigentum, die Errichtung sozialistischer Produktionsverhältnisse sowie die Schaffung und allseitige Entwicklung einer sozialistischen Wirtschaft, die zugleich zur Herausbildung bzw. Festigung eines dichten Netzes von sozialistischen ökonomischen Beziehungen zwischen den Klassen und Schichten im nationalen Rahmen sowie der einbezogenen kleineren Nationalitäten führt. 3. Zur politischen Grundlage für die sozialistische Entwicklung der Völker, aller Nationalitäten sowie der neuen zwischennationalen Beziehungen, für die Freundschaft und Zusammenarbeit, gegenseitige Hilfe und Annäherung wurde die Diktatur des Proletariats in dieser oder jener Form, die sozialistische Demokratie. 4. D a s sozialistische Staatswesen spielt darüber hinaus sowohl im Rahmen des nationalen wie des multinationalen Staates eine gewaltige Rolle bei der Verwirklichung der sozialistischen Kulturrevolution und beim kulturellen Aufbau. Nicht nur für die sowjetische, sondern auch für andere sozialistische Kulturen gilt die Feststellung: „Unsere Kultur ist eine in ihrem Inhalt, in ihrer Hauptentwicklungsrichtung sozialistische, in ihren nationalen Formen mannigfaltige und in ihrem Geist und ihrem Charakter internationalistische Kultur. Sie stellt folglich eine organische feste Verbindung der von allen Völkern geschaffenen geistigen Werte dar." 1 8 5. In der Geschlossenheit aller seiner Bestandteile wurde der Marxismus-Leninismus zur ideologisch-theoretischen Grundlage der Entwicklung der Völker, aller Nationalitäten sowie der nationalen Beziehungen. Dabei kommt dem proletarischen Internationalismus als politischem und ideologischem Prinzip der Arbeiterklasse für die E n t wicklung der sozialistischen Nationen und Nationalitäten sowie der nationalen Beziehungen ebenso große Bedeutung zu wie dem mit ihm organisch verbundenen sozialistischen Patriotismus als politischem und ideologischem Prinzip der Arbeiterklasse, das die Ergebenheit der Werktätigen ohne Unterschied der Nationalität, des ganzen Volkes gegenüber seinem sozialistischen Vaterland zum Ausdruck bringt. In den europäischen sozialistischen Nationalstaaten, einschließlich der Tschechischen und der Slowakischen SR, haben sich in Verwirklichung dieser Grundprinzipien auf besondere Weise und somit als Elemente des politischen Systems des Sozialismus, die die nationale Gleichberechtigung und damit die Wahrung der spezifischen, sprachlichen und kulturellen Interessen der Nationalitäten ausdrücken, die verschiedenen Organisationsformen der Nationalitäten als nichtterritoriale Form des Mitwirkens der Nationalitäten am A u f b a u der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft bewährt, deren Tätigkeit fast überall mit den nationalen Fronten verbunden und in diese einbezogen ist, so: - in der D D R die Domowina, der Bund Lausitzer Sorben; - in der VR Polen die sozial-kulturellen Gesellschaften der Belorussen, Deutschen, Juden, Litauer, Russen, Tschechen und Slowaken sowie Ukrainer und Flüchtlinge aus Griechenland; - in der CSSR die Kulturverbände der Ungarn (Csemadok), Polen ( P Z K O ) , der Deutschen und Ukrainer; - in der Ungarischen VR die Demokratischen Verbände der Südslawen, Deutschen, Rumänen und Slowaken; 18

L. I. Breshnew, Fünfzig Jahre Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, in: Der XXIV. Parteitag der KPdSU - Einheit von Theorie und Praxis, Berlin 1974, S. 31.

125

- in der SR Rumänien die Räte der Werktätigen ungarischer und deutscher Nationalität sowie die Kreisräte der ungarischen, deutschen, serbischen und ukrainischen Werktätigen; - in der VR Bulgarien die Kulturvereinigungen der Türken und Armenier. Darüber hinaus genießen auch weitere, zumeist kleinere und recht verstreut lebende nationale und ethnische Gruppen wie beispielsweise die in den meisten sozialistischen Ländern beheimateten Juden und Zigeuner 19 und andere die volle Gleichberechtigung. Somit kann man die Bildung von Nationalitätenorganisationen als einen allgemeinen Charakterzug der Verwirklichung der nationalen Gleichberechtigung in den europäischen sozialistischen Nationalstaaten (einschließlich der Tschechischen und der Slowakischen SR) ansehen. Besonderheiten der einzelnen Länder zeigen sich teilweise in unterschiedlichen konkreten Aufgaben und Stellungen im Rahmen des politischen Systems des Sozialismus, vor allem aber auch im Zeitpunkt der Gründung der Vereinigungen. So entstanden beispielsweise die Nationalitätenräte in der SR Rumänien bei der Weiterentwicklung des Sozialismus im Jahr 1968, der PZKO und der Csemadok in der CSSR sowie die Demokratischen Verbände der Südslawen, Rumänen und Slowaken in der Ungarischen VR' schon während der volksdemokratischen Revolution in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre, während die Domowina schon zu dieser Zeit auf mehr als drei Jahrzehnte Geschichte zurückblickte. Die Domowina war bereits am 13. Oktober 1912 in der preußisch-oberlausitzischen Kreisstadt Hoyerswerda gegründet worden und hatte damals die Form einer- Dachorganisation von 31 örtlichen sorbischen Vereinen vorwiegend kleinbürgerlich-bäuerlicher Prägung. Im imperialistischen Deutschen Reich stellte sie sich unter hervorragender Teilnahme der werktätigen Landbevölkerung das Ziel, die sich verschärfende Unterdrückung der Sorben durch den deutschen Imperialismus abzuwehren sowie für demokratische nationale Rechte aufzutreten und die sorbische nationale Kultur zu pflegen. Am 18. März 1937 wurde die Domowina nach 25jährigem Wirken in antiimperialistisch-demokratischem Geist von den faschistischen Behörden, die jede demokratische und humanistische Regung brutal unterdrückten und verfolgten, verboten und aufgelöst. Nach der Befreiung vom Hitlerfaschismus erneuerte sie sich bereits am 10. Mai 1945 in Crostwitz bei Kamenz als antifaschistisch-demokratischer Bund Lausitzer Sorben und war somit ein Ausdruck des ungebeugten nationalen Lebenswillens sowie der Sehnsucht nach dauerhaftem Frieden, sozialer Sicherheit und Menschenrechten unter den sorbischen Werktätigen. 2 0 Nach der Befreiung durch die Sowjetunion war es Aufgabe der Kommunistischen Partei Deutschlands auch in der Nationalitätenfrage, „die Werktätigen zu befähigen, die insgesamt günstige Situation zur Durchsetzung der Interessen des Volkes und der Ziele der Arbeiterklasse zu nutzen". Dabei kam der Schlußfolgerung der Partei aus der unmittelbaren Nachkriegssituation größte Bedeutung zu, „daß der Hauptklassengegensatz der Gegensatz zwischen der Arbeiterklasse und den anderen werktätigen Schichten auf der einen, dem Monopolkapital und dem mit ihm verflochtenen Großgründ-

13

20

Vgl. z. B. ]. Ficowski, Cyganie na polskich drogach, K r a k o w 1 9 6 5 ; K e spolecenske problematice Cikdnü v CSSR, Prag 1 9 7 5 . Vgl. /. Gros a kolektiw, D o m o w i n a . Zarys stawiznow, Bautzen 1 9 7 2 (gekürzte dt. Ausg.: D o m o wina. Ein geschichtlicher A b r i ß , Bautzen 1 9 7 7 ) .

126

besitz auf der anderen Seite war" 21 . Damit hatten auch die vorwiegend kleinbürgerlichbäuerlichen Kräfte des sorbischen Volkes und seiner nationalen Bewegung, darunter der Domowina, objektiv ihren Platz an der Seite der Arbeiterklasse. Ausgehend von einer solchen bündnispolitischen Grundhaltung der Kommunistischen Partei bzw. der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, konnten unter ihrer Führung die jahrzehntelangen antiimperialistischen und demokratischen Traditionen der Domowina schon im Verlauf der ersten Jahre des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus entsprechend den neuen gesellschaftlichen Anforderungen weiterentwikkelt werden. So war es der Partei der Arbeiterklasse möglich, ihre Konzeption zur Herstellung der nationalen Gleichberechtigung der Sorben, zur Lösung der Nationalitätenfrage und zur Entwicklung qualitativ neuer zwischennationaler Beziehungen zwischen den sorbischen und deutschen Werktätigen stets mit der Domowina zu beraten und gestützt auf die Domowina zu verwirklichen. Durch ihre politisch-ideologische Arbeit half und hilft diese nationale Organisation, das sozialistische Bewußtsein unter den Sorben zu festigen, deren patriotisches und internationalistisches Denken und Handeln zu entwickeln. Die Domowina hat einen wesentlichen Anteil an der Entwicklung der sozialistischen sorbischen Kultur, der geistig-kulturellen Bildung der Sorben und der Pflege der sorbischen Sprache. 22 Mit ihrem gesellschaftlichen Platz und ihrer grundsätzlichen Aufgabenstellung hat sich im Ergebnis des sozialistischen Aufbaus eine Wesensgleichheit zu Nationalitätenvereinigungen sozialistischer Bruderländer wie der CSSR, der Ungarischen VR und anderer herausgebildet. Staatsrechtliche Grundlage der Gleichberechtigung der Nationalitäten ist in allen sozialistischen Ländern die jeweilige Verfassung. Darüber hinaus wurden entsprechende Festlegungen in gesetzliche Bestimmungen für einzelne Bereiche des staatlichen Lebens wie die Volksbildung und die Kultur, die innere Verwaltung und die Rechtspflege und andere aufgenommen, die vor allem die Berücksichtigung der spezifischnationalen Interessen, der Nationalsprachen und -kulturen betreffen. Während diese nationalitätenpolitischen Rechtsgrundlagen zunächst in der RSFSR bzw. in der UdSSR und dann in den volksdemokratischen Staaten Europas bereits am Beginn der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus geschaffen wurden, erfolgte die juristische Lösung der Nationalitätenfrage der Sorben auf andere Weise. Der deutsche Arbeiter-und-Bauern-Staat entstand als eine Form der Diktatur des Proletariats erst am 7. Oktober 1949, womit die erste Verfassung der DDR in Kraft trat, die mit ihrem Artikel 11 auch die Gleichberechtigung und Förderung der „fremdsprachigen Volksteile der Republik" in ihrer freien Entwicklung einschließlich des Gebrauchs ihrer Sprache garantierte. Zuvor gab es auf diesem Territorium vom Mai 1945 bis zum Februar 1947 überhaupt keine, dann ab Februar 1947 nur die Verfassungen der einzelnen fünf Länder, darunter die für die Mark Brandenburg und das Land Sachsen, in denen die sorbische Bevölkerung lebte; sie fand jedoch in den Verfassungstexten nur ungenügend Berücksichtigung. Um diesen Mangel der neuen, antifaschistischen deutschen Demokratie entsprechend den nationalitätenpolitischen Prinzipien der Arbeiterklasse zu beheben und die nationale Gleichberechtigung der Sorben rechtlich zu fixieren, wurde auf Initiative der So21 22

Geschichte der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Abriß, Berlin 1 9 7 8 , S. 76, 86. Vgl. u. a. IX. zwezkowy kongres Domowiny - Bundeskongreß der Domowina. Protokoll, Bautzen 1 9 7 7 ; Wustawki Domowiny - Satzung der Domowina, Bautzen 1 9 7 3 .

127

zialistischen Einheitspartei Deutschlands und der Domowina, nach Beratung durch den Verfassungs- und den Rechtsausschuß sowie in der demokratischen Öffentlichkeit, auf Antrag der Parteien des antifaschistisch-demokratischen Blocks vom Sächsischen Landtag in Dresden am 23. März 1948 einstimmig ein besonderes „Gesetz zur Wahrung der Rechte der sorbischen Bevölkerung" angenommen, zu dem es anderswo keine unmittelbaren Parallelen gibt. 23 Mit diesem Gesetz war ein Dokument entstanden, dem für die Lösung der Nationalitätenfrage der staatsrechtliche Charakter eines Grundgesetzes zu-' kam und das zugleich beispielgebend für einen einheitlichen demokratischen deutschen Staat hätte sein können. Nachdem die Befreiung vom Faschismus und die nachfolgende antifaschistisch-demokratische Umwälzung die politische und sozialökonomische Freiheit der Sorben einschließlich der spezifischen nationalen Belange ermöglicht hatten und deren Verwirklichung eingeleitet wurde, war die Nationalitätenfrage der Sorben nunmehr auf der Grundlage der antiimperialistisch-demokratischen Errungenschaften juristisch gelöst, die Gleichberechtigung der Sorben mit den Deutschen auch staatsrechtlich gewährleistet. Dabei garantierte dieses Gesetz die Wahrnehmung der besonderen kulturellen und sprachlichen Interessen der Sorben unter den gesellschaftlichen Bedingungen der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus in der D D R , insbesondere gesetzlichen Schutz und staatliche Förderung der sorbischen Sprache sowie kulturellen Betätigung und Entwicklung, Einrichtung von Grund- und weiterbildenden Schulen mit sorbischer Unterrichtssprache, Zulassung der sorbischen Sprache bei Behörden und Verwaltungen, Einbeziehung von Sorben in die staatliche Verwaltung, E r richtung eines Sorbischen Kultur-und-Volksbildungs-Amtes zur Lenkung und Förderung des Kulturlebens sowie Bereitstellung finanzieller Mittel für den Wiederaufbau des sorbischen Kulturlebens durch den Staat. 2 4 In .der weiteren gesellschaftlichen Praxis hat sich dieses Gesetz als zweckmäßige Lösungsform der Nationalitätenfrage unter den konkreten Bedingungen der D D R bewährt, wobei es zugleich weiter ausgestaltet wurde. Die Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus währte in der Deutschen Demokratischen Republik reichlich anderthalb Jahrzehnte, von der Befreiung 1945 bis zum Beginn der sechziger Jahre. Geht man von deren Charakteristik aus, wie sie der Abriß „Geschichte der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands" enthält, 25 läßt sich daraus für die Entwicklung der Sorben als Ergebnis ableiten 2 6 : 1. Mit der Beseitigung der Ausbeuterklasse und dadurch, daß die sozialistischen Produktionsverhältnisse die sozialökonomische Struktur der Gesellschaft kennzeichneten, waren auch die sozialpolitischen Grundlagen der nationalen Unterdrückung überwunden und die materielle Basis für die freie, sozialistische Entwicklung der sorbischen Nationalität und der zwischennationalen Beziehungen entstanden. 2. Mit der Schaffung der politischen Organisation der sozialistischen Gesellschaft erhielt die Domowina ihren festen Platz im politischen System der D D R , sie entwickelte sich zur sozialistischen nationalen Organisation, die sich unter Führung der S E D als 23

24 25 26

Das zwei Jahrzehnte später unter ganz anderen Voraussetzungen und bereits sozialistischen Bedingungen entstandene Verfassungsgesetz über die Stellung der Nationalitäten in der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik vom 27. 10. 1968 kann hier kaum zum Vergleich herangezogen werden. Schiller, Die Sorben in der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung, S. 106 ff., 141 ff. Geschichte der SED, S. 439 f. Vgl. auch K. }. SchillerlM. Thiemann, Geschichte der Sorben. Bd. 4 : Von 1945 bis zur Gegenwart, Bautzen 1979, Kap. 1 - 2 .

128

Bestandteil der K r ä f t e der Nationalen Front aktiv für die Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft einsetzt und darum ringt, d a ß ihre Mitglieder und die sorbischen Bürger überhaupt zur weiteren Entwicklung und allseitigen, politischen, ökonomischen, kulturellen und militärischen Stärkung der D D R und somit zur Festigung des Sozialismus und des Friedens beitragen. 3. Die sozialistische Staatsmacht, das Hauptinstrument der Arbeiterklasse beim Aufbau der Grundlagen des Sozialismus, hatte sich auch in der Hinsicht bewährt, d a ß sie einerseits die im Gesetz zur Wahrung der Rechte der sorbischen Bevölkerung vom 23. März 1948, in Artikel 11 der ersten Verfassung der D D R und in anderen gesetzlichen Bestimmungen staatsrechtlich fixierten nationalitätenpolitischen Prinzipien der Arbeiterklasse konsequent verwirklichte und andererseits immer mehr sorbische Bürger in die Leitung des Staates einbezog - nicht nur in den Organen für Sorbenfragen der Ministerien des Innern, für Volksbildung und für Kultur sowie bei den 1. Stellvertretern der Räte der Bezirke Cottbus und Dresden und der zwölf gemischtnationalen Kreise, sondern auch in allen anderen Bereichen staatlicher Tätigkeit. 4. Wenn immer mehr Angehörige aller Klassen und Schichten durch die sozialistische Demokratie zur bewußten Teilnahme am A u f b a u der neuen Gesellschaft aktiviert wurden, so gilt das auch für die breite Mitarbeit von Arbeitern und Genossenschaftsbauern, Angehörigen der Intelligenz und anderen Werktätigen sorbischer Nationalität in den Volksvertretungen aller Ebenen vom Gemeindeparlament bis zur Völkskammer der D D R und ihren Organen, in allen Parteien und Massenorganisationen des Landes einschließlich (und keineswegs vorwiegend) der Domowina, in den Ausschüssen der Nationalen Front vom Wohnbezirks- und Ortsausschuß bis zum Präsidium des Nationalrats, in den Elternvertretungen aller Schultypen einschließlich der sorbischen Schulen und derer mit sorbischem Sprachunterricht, in den verschiedensten Ausschüssen, Kommissionen und Einrichtungen, in denen die Bürger mitarbeiten, mitplanen und mitregieren. 5. Indem der Marxismus-Leninismus zur herrschenden Ideologie geworden war, bestimmte er auch Inhalt und Entwicklung der zwischennationalen Beziehungen zwischen den Bürgern deutscher und sorbischer Nationalität, in denen es für Chauvinismus und Nationalismus keinen Platz mehr gab und letzte Erscheinungen von Mißtrauen und Vorbehalten im Zuge des weiteren sozialistischen Aufbaus vollends überwunden werden. 6. Mit der Entwicklung der sozialistischen deutschen Nationalkultur vollzog sich zugleich die sozialistische Umgestaltung der sorbischen nationalen Kultur und ihre zunehmende Integration als immanenter Bestandteil der sozialistischen Nationalkultur der D D R , repräsentiert durch begabte und bewährte Schriftsteller, Komponisten und bildende Künstler sorbischer Nationalität, das Staatliche Ensemble für sorbische Volkskultur oder das Deutsch-Sorbische Volkstheater Bautzen, die weit über die Lausitz und die Grenzen unseres Landes hinaus bekannt sind und dort sowohl ihr sozialistisches Vaterland D D R als auch ihre hier erblühte sorbische Nationalität vertreten. 7. Bildete sich auf diesem Fundament mehr und mehr die politisch-moralische Einheit des Volkes heraus, so vollzog sich das im gemischtnationalen Gebiet auf zwei Ebenen, nämlich sowohl und hauptsächlich als politisch-moralische Einheit der Arbeiter und Genossenschaftsbauern, der Angehörigen der Intelligenz und anderen sozialen Gruppen als auch - in dessen Folge - als Einheit der grundlegenden Interessen und Ziele der Werktätigen deutscher und sorbischer Nationalität, ohne die besonderen sprachlichkulturellen Interessen der Sorben in irgendeiner Weise zu beeinträchtigen oder zu nivellieren, sondern bei ihrer vielseitigen Förderung. 9

Jahrbuch 25/1

129

8. Mit dem Entstehen der sozialistischen deutschen Nation in der D D R nahm auch die sorbische Nationalität immer mehr sozialistische Züge an, und Schritt für Schritt entwickelten sich sozialistische zwischennationale Beziehungen zwischen den Bürgern sorbischer und deutscher Nationalität als wesentliches Element der politisch-moralischen Einheit des Volkes der Deutschen Demokratischen Republik. Auf der G r u n d l a g e des in der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus erzielten Entwicklungsstandes konnte in der sozialistischen Verfassung der Republik vom 6. April 1968 und auch im Gesetz zur Ergänzung und Änderung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974, Artikel 40, speziell festgelegt werden: „Bürger der Deutschen Demokratischen Republik sorbischer N a t i o nalität haben das Recht zur Pflege ihrer Muttersprache und Kultur. D i e Ausübung dieses Rechts wird vom Staat gefördert." Auch mit dieser grundgesetzlichen Bestimmung über die weitere Gewährleistung der nationalen Gleichberechtigung und über die Fortführung der marxistisch-leninistischen Nationalitätenpolitik bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der D D R kommt die Wesensgleichheit zum Ausdruck, die sich im Verlauf der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus zwischen den gesellschaftlichen E n t wicklungsprozessen einschließlich der Nationalitätenproblematik in den einzelnen sozialistischen Bruderländern herausbildete und bei der weiteren Gestaltung des Sozialismus auf allen Gebieten, darunter auch dem der nationalen Beziehungen, zu ihrer immer umfassenderen und tiefergreifenden Annäherung führt.

130

Südosteuropaforschung des deutschen Imperialismus. Institutionelle Probleme und politische Zusammenhänge JOHANNES IRMSCHER

Seit im Jahre 1963 die Association internationale des études du sud-est européen gegründet wurde, 1 spielen die interdisziplinär und in zwischenstaatlicher Zusammenarbeit betriebenen balkanistischen Forschungen und südosteuropäischen Studien im Ensemble der Gesellschaftswissenschaften eine beständig zunehmende Rolle, und die bisher durchgeführten großen Fachkongresse in Sofia, Athen, Bukarest und Ankara waren nicht nur gelehrte Manifestationen, sondern stellten zugleich einen bedeutsamen Beitrag dar, den die wissenschaftliche Arbeit zur vertiefteren gegenseitigen Kenntnis der Völker und somit zur Sicherung des Friedens zu erbringen vermochte. Doch so intensiv und zugleich extensiv auch die Südosteuropaforschung in den letzten Jahrzehnten voranschritt, so blieben doch hinsichtlich ihrer definitorischen Abgrenzung sowie ihrer Zweckbestimmung noch manche Fragen offen, auf die wir notwendigerweise zuerst eingehen müssen, ehe wir uns einer speziellen Strecke in der Ausformung dieser Studien, nämlich ihrer Entwicklung im Zeichen des deutschen Imperialismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen, zuwenden können. Mit der Geschichte und Kultur - beides im weiteren Sinne verstanden - des südosteuropäischen Raumes haben sich seit dem 18., namentlich aber seit dem Beginn des 19. Jh. zahlreiche Disziplinen beschäftigt. D i e klassische Altertumswissenschaft erkannte, je mehr sie sich aus ihren klassizistischen Fesseln löste, die Eigenständigkeit der illyrischen, thrakischen, dakischen und anderen sogenannten Randkulturen. D i e Byzantinistik gab in Fülle Quellen und Materialien für die mediävale Geschichte jenes Territoriums an die Hand. D i e Slawistik mit allen ihren Verzweigungen, die Neogräzistik, die Turkologie, die Albanologie, die Rumänistik, die Hungarologie - sie alle erhellten Sprachen, Literaturen, Kulturen. Das nationale Erwachen der Völker der Balkanhalbinsel endlich führte zur Ausbildung einer nationalen Historiographie, zur Entwicklung nationaler Geschichtsbilder. Doch so rege alle solche Initiativen auch sein mochten, sie konnten auf die Dauer allein nicht genügen, sondern forderten mit Notwendigkeit zur Komparation, zum Vergleich und Ausgleich heraus : Das Geschichtsbild der ungarischen und das Geschichtsbild der rumänischen Bourgeoisie, um nur ein Beispiel aus vielen möglichen herauszugreifen, ergänzten sich keineswegs, vielmehr standen sie einander in entscheidenden Details schroff entgegen. D i e Gemeinsamkeiten jedoch drängten zur zusammenfassenden Behandlung der geographischen, sprachlichen, historischen und kulturellen Bedingungen jenes europäischen Großraumes südlich von Donau und Karpaten 1

D. Zakythinos, Association internationale des études du sud-est européen. Bulletin 1, 1963, S. 5.

9*

131

(die Abgrenzung wird unterschiedlich vorgenommen), führten zum Zusammenwirken von gesellschaftswissenschaftlichen und partiell auch von naturwissenschaftlichen Fächern im Rahmen der Études du sud-est européen. Diesen eingegliedert und zugleich ihnen gegenüber auf ein wesentliches Teilgebiet beschränkt, begegnen wir der Balkanistik (Balkanologie) ; sie nahm ihren Ausgang von der Feststellung von Gemeinsamkeiten im Sprachbau, in der Volksdichtung und überhaupt in der Folklore der Völker des Balkangebietes. 2 Ungeachtet dieser unseres Erachtens notwendigen Differenzierung findet man jedoch die Begriffe Südosteuropaforschung (Südosteuropakunde) und Balkanistik (Balkanologie) häufig in synonymer Verwendung. Älter indes, wie wir andeuteten, als die Benennung sind die Studien, die sich mit jenem südosteuropäischen Territorium, seinen Völkern und Kulturen in ihren Wechselbeziehungen befassen. Soweit es das deutsche Sprachgebiet anlangt, doch auch über dieses hinauswirkend, hatten seit dem Anfang des 18. Jh. Gelehrte der Habsburgermonarchie in der Erforschung des Balkans die führende Rolle gespielt.'® Das war durchaus verständlich; denn mit der vergeblichen Belagerung Wiens im Jahre löSS 4 war die Aggressionskraft der Türken gebrochen, und es begann die österreichische Offensive, die mit dem Friedensschluß von Karlowitz 1697 die Voraussetzung für die Erwerbung Siebenbürgens, Kroatiens und Sloweniens und das Vordringen auf dem Balkan schuf. Der Habsburgerstaat begann zur Großmacht aufzusteigen, und eine seiner politischmilitärischen Stoßrichtungen zielte nach dem Südosten, auf den sich schon die 1671 gegründete Levantinische Handelskompanie orientiert hatte. Die zurückgewonnenen Territorien ebenso wie die Europäische Türkei - so bezeichnete man das Balkangebiet reizten zu geographischer und geschichtlicher Darstellung. Genannt seien der Theologe Matthias Bél im heutigen Bratislava mit seiner „Notitia Hungariae novae historico-geographica", der sprachkundige, von rationalistischem Kosmopolitismus durchdrungene Aufklärungshistoriker Johann Christian von Engel, der nachmals in Rußland wirkende Orientalist Ignaz Aurelius Feßler. Das beginnende 19. Jh. sah den serbischen Aufstand, die Erhebung Vladimirescus in Rumänien, den griechischen Freiheitskampf; es sah aber auch die Entstehung einer vergleichenden slawischen Philologie und die Ausbildung der Byzantinistik, welche die mittelalterliche Balkanwelt in ihrer Einheit wie in ihrer Vielfalt erfaßte. Wieder seien nur wenige Namen genannt: Am Anfang der wissenschaftlichen Slawistik standen der Slowene Bartholomäus Kopitar, der Tscheche Josef Dobrovsky, der Slowene Franz Xaver von Miklosich; den umfassenden südosteuropäischen Aspekt setzte der österreichische Konsul in Jannina und später in Syra, Johann Georg von Hahn, durch, um die osmanische Geschichte bemühte sich Joseph Freiherr von Hammer-Purgstall, der gleichfalls aus dem diplomatischen Dienst des Habsburgerreiches k a m ; den byzantinistischen Studien brachen die Deutschen Jakob Philipp Fallmerayer und Gottlieb Lukas Friedrich Tafel die Bahn. Die Epoche zwischen dem dualistischen Ausgleich von 1867 und dem ersten Weltkrieg war durch den österreichischungarischen Imperialismus bestimmt, der ökonomische und politische Interessen auf dem Balkan - diese Bezeichnung setzte sich namentlich seit dem Frieden von San Stefano 2 3

4

Richtiges zur Unterscheidung bei F. Valjavec, Südost-Forschungen 7, 1942, S. 5 f. Dazu F. Valjavec, Südost-Forschungen 6, 1941, S. 1 ff. sowie die Kurzbiographien von Forschern bei G. Stadtmüller, Geschichte Südosteuropas, München 1950, S. 405 ff. Vergleiche ferner den Rapport von R. G. Plaschka/H. HaselsteinerlA. Suppan, Der Beitrag Österreichs zur slawischen 1 Balkanforschung, in: Les cultures slaves et les Balkans, 2, Sofia 1978, S. 9 ff. D i e Fakten sämtlich nach: Weltgeschichte in Daten, 2. Aufl., Berlin 1973, S. 377 ff.

132

und dem Berliner Kongreß von 1878 durch - vertrat und dabei in stetig wachsende Abhängigkeit von dem deutschen Monopolkapitalismus geriet, dessen Hauptstoßrichtung freilich zunächst über den Balkan hinaus auf den Mittleren Osten tendierte. 5 Jetzt wurden die einschlägigen Forschungen erstmals auch institutionalisiert. 1897 trat die Balkankommission der Wiener Akademie der Wissenschaften ins Leben, deren 1. Abteilung sich den historisch-archäologischen sowie den philologisch-ethnographischen und deren 2. Abteilung sich den linguistischen Studien zuwandte; die Publikationen der Kommission haben weithin heute noch ihre Bedeutung. Noch vor der Annexion wurde in Sarajevo 1904 das Bosnisch-Herzegowinische Institut für Balkanforschung errichtet, 6 das bis zum Zusammenbruch der Donaumonarchie bestand; sein Leiter Carl Patsch wußte solide Spezialforschung mit den Erfordernissen der österreichisch-ungarischen Politik zu verbinden. Mit dem Niedergang des Habsburgerreiches und vollends nach dessen Zerschlagung suchte der deutsche Imperialismus ungeachtet der Niederlage, mit welcher der erste Weltkrieg für ihn selbst geendet hatte, verstärkt in Südosteuropa vorzudringen 7 - diese Benennung setzte sich jetzt zunehmend durch und verdrängte mit der Zeit die nach 1918 gelegentlich verwendete, sachlich jedoch nur eingeschränkt zutreffende Bezeichnung Donauraum 8 . Eine ökonomisch-politische Orientierung von solcher Art spiegelte sich schon früh in der Wissenschaftspolitik wider; 9 es entstanden an mehreren Orten Institute unterschiedlichen Charakters, wobei als Forschungsobjekt neu die deutsche Diaspora in der südosteuropäischen Staatenwelt eine zunehmende Rolle spielte - die spätere Funktion bestimmter deutschsprachiger Bevölkerungsteile als Fünfter Kolonne Hitlers bereitete sich in Wissenschaft und Publizistik vor, gleichgültig, ob das ihren Repräsentanten im einzelnen immer zum Bewußtsein kam. Die ersten Institutsgründungen erfolgten noch im Verlaufe des ersten Weltkrieges. Eine Initiative der Universität München im Jahre 1915 vermochte nicht effektiv zu werden, 1 0 ihr folgte 1917 das Ungarische Institut bei der Berliner Friedrich-WilhelmUniversität; letzteres kann jedoch in unserem Zusammenhang außer acht bleiben, da es sich auf die hungarologischen Studien begrenzte. Wichtig wurde dagegen die Leipziger Südosteuropaforschung, die sich auf die Traditionen der Messestadt und die langjährige Bewährung der Leipziger Universität als Ausbildungsstätte für Studenten aus den Balkanländern zu berufen vermochte. Der gekennzeichneten Stoßrichtung des deutschen Imperialismus entsprechend, trat zum Sommersemester 1918 in der Universität Leipzig ein Südosteuropa- und Islam-Institut ins Leben, dessen Leitung der Arabist August Fischer, der Historiker Erich Brandenburg, der Staatswissenschaftler Ferdinand 5

6

7 8

9 10

Vgl. als markantes Beispiel die Schrift von K. v. Wintersbetten, Berlin-Bagdad. Neue Ziele mitteleuropäischer Politik, 2. Aufl. München 1913, der sowohl für Südosteuropa als auch für den Nahen Osten die deutsche Vorherrschaft forderte: „Ein geeintes Mitteleuropa! Berlin-Bagdad!" (S. 53). Eine im Gegensatz dazu autarke Mitteleuropaideologie vertrat am sichtbarsten F. Naumann, Mitteleuropa, Berlin 1916. Über dieses apologetisch C. Patsch, Leipziger Vierteljahrsschrift für Südosteuropa 3, 1939, S. 248 ff., kritisch l. Pudic, Südost-Forschungen 15, 1956, S. 567. Dazu W. Schumann, Griff nach Südosteuropa, Berlin 1973, S. 16 ff. Vgl. Buchtitel wie: Der Donauraum und seine Probleme, Stuttgart 1933, oder E. Hantos, Die'Neuordnung des Donauraumes, Berlin 1935. Dazu F.-H. Gentzen/E. Wolfgramm, „Ostforscher" - „Ostforschung", Berlin 1960, S. 81: Sie bleibt darum auch bei K. A. v. Müller, Die wissenschaftlichen Anstalten der Ludwig-Maximilians-Universität zu München, München 1926, unerwähnt.

133

Schmid, der Slawist Mathias Murko und der Rumänist G u s t a v W e i g a n d , also zum T e i l Gelehrte von hohem Rang, gemeinsam wahrnahmen. 1 1 D a s Fundament bildeten zweifelsohne die integrierenden Bestrebungen Weigands, der von der rumänischen

Sprachge-

schichte her zu einer Balkanlinguistik gelangt war, wie sie dann seit den dreißiger J a h ren vielerorts ausgebildet wurde. 1 2 Außerhalb des Instituts gab er von 1 9 2 5 bis 1 9 2 8 sein „ B a l k a n - A r c h i v " heraus, das theoretisch und praktisch seine Auffassungen verfestigte. Auf dem F e l d e der balkanistischen Sprachwissenschaft vermochte das Leipziger Institut wegbereitend wirksam zu werden, während ansonsten die Integration im programmatischen Ansatz steckenblieb. D a r a n änderte sich auch nicht viel, als die E i n r i c h tung im Frühjahr 1 9 2 4 in Osteuropa- und Islam-Institut umbenannt wurde. 1 3 D i e U m benennung bekundete das wachsende politische Interesse der W e i m a r e r Republik an den Ländern Osteuropas, konkret der Sowjetunion und den baltischen

Randstaaten,

aber auch an der Zwischenzone, dem sogenannten Ostmitteleuropa. I n die Leitung des umgebildeten Instituts traten neu der Slawist M a x V a s m e r , der Baltist G e o r g Gerullis und der Wirtschaftswissenschaftler A l e x a n d e r H o f f m a n n e i n ; 1 4 die Tätigkeit begrenzte sich dagegen auch weiterhin auf die Lehrveranstaltungen der beteiligten Fachrichtungen. W e n n die Benennung der Einrichtung im Sommer 1927 auf Osteuropa-Institut verkürzt wurde, so mag darin eine

(wissenschafts-)politische

Schwerpunktverlagerung

erkannt

werden; unbeschadet der Veränderung blieb der Arabist Fischer jedoch auch weiter Mitdirektor. D a ß die im ganzen philologisch orientierte A r b e i t des Instituts den praktischen Erfordernissen nicht genügte, beweist indirekt die 1 9 2 8 erfolgte Stiftung des Instituts für mittel- und südosteuropäische Wirtschaftsforschung, das selbständig sein, aber zugleich den Unterrichtsaufgaben der Universität dienen sollte. 1 3 Zum ehrenamtlichen D i r e k t o r wurde K u r t W i e d e n f e l d bestellt, ein seit 1 9 0 2 im akademischen Lehramt stehender, vielseitiger Wirtschaftswissenschaftler, der nach der Novemberrevolution eine Zeitlang im auswärtigen Dienst gearbeitet hatte, unter anderem 1921/22 als V e r treter des Deutschen Reichs in Moskau. 1 6 D i e Ergebnisse und Erfahrungen aller solcher Bemühungen, deren Bedeutung

für

die Spezialforschung und die Ausbildung von Spezialisten nicht gering einzuschätzen ist, wurden von dem deutschen Faschismus systematisch in den D i e n s t seiner E x p a n sionspolitik gestellt. A n die Stelle des 1 9 3 2 aufgelösten Osteuropa-Instituts 1 7 trat 1937 das Institut für Kultur und Geschichte Südosteuropas m i t . der zugehörigen Professur, welche von 1 9 3 8 an der Historiker G e o r g Stadtmüller b e k l e i d e t e ; 1 8 Schüler von Carl Patsch, vertrat Stadtmüller die Auffassung, daß der Wissenschaftler, der aus einer großen Nation stammt, eher dazu berufen sei, ein objektives B i l d der Geschichte Südosteuropas zu zeichnen, als die Gelehrten der südosteuropäischen Länder. 1 9 E r trat mit 11

Universität Leipzig. Verzeichnis des Personenbestandes. Sommer-Halbjahr 1 9 1 8 , S. 4 8 .

12

A. Meillet, Revue internationale des études balkaniques 1, 1 9 3 4 / 3 5 , S. 2 9 f. Universität Leipzig. Verzeichnis des Personenbestandes. Sommer-Halbjahr 1 9 2 4 , S. 52. Universität Leipzig. Verzeichnis des Personenbestandes. Winter-Halbjahr 1 9 2 4 / 2 5 , S. 5 1 . Universität Leipzig. Verzeichnis des Personenbestandes. Winter-Halbjahr 1 9 2 9 / 3 0 , S. 37. Zehnjahresbericht mit Bibliographie von H.-J. Seraphim, Leipziger Vierteljahrsschrift für Südosteuropa 1, 1 9 3 8 , S. 4 ; 8 9 ff.

53 1/1 15

lc

Als Ergebnis dieses Aufenthaltes entstand das als Zeitdokument „Lenin und sein Werk", München 1 9 2 3 .

17

H. A. Münster, in: Leipziger Vierteljahrsschrift für Südosteuropa 1, 1 9 3 7 , S. 1, 7 9 f. Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender 1 9 6 1 , hg. v. W. Schuder, (West-) Berlin 1 9 6 1 , S. 1 9 8 9 .

18 19

Stadtmüller,

134

Geschichte Südosteuropas, S. 1 0 f.

höchst bemerkenswerte

Buch

einer Vielzahl gewichtiger Spezialuntersuchungen hervor, schrieb 1950 eine „Geschichte Südosteuropas" (bis zum ersten Weltkrieg) und gehörte in den fünfziger Jahren zu den literarischen Verfechtern des kalten Krieges. 20 Das selbständig weiterbestehende Institut für mittel- und südosteuropäische Wirtschaftsforschung leitete nach der Emeritierung Wiedenfelds von 1936 bis 1941 Hans-Jürgen Seraphim, nach ihm Erich Dittrich. Seraphim, gebürtiger Deutschbalte, schrieb über Agrarpolitik und bemühte sich um die Mobilisierung des Auslandsdeutschtums im Dienste der faschistischen Expansion. 21 1943 postulierte er, inzwischen Direktor des Osteuropa-Instituts Breslau, eine deutsch-südosteuropäische Wirtschaftsgemeinschaft; nach der Niederlage Hitlerdeutschlands wurde er 1947 Professor an der Universität Münster (BRD) und Direktor der Universitätsinstitute für Genossenschaftswesen sowie für Siedlungs- und Wohnungswesen. Der Volkswirt Erich Dittrich arbeitete speziell über die Wirtschaft Österreichs und der Tschechoslowakei und fungierte nach dem zweiten Weltkrieg als Direktor des Instituts für Raumforschung in Bad Godesberg (BRD). 2 2 Doch wichtiger als die Tätigkeit dieser beiden Spezialinstitute wurde die Zusammenfassung des einschlägigen Potentials der philosophischen Fakultät in einer „Südosteuropäischen Arbeits- und Forschungsgemeinschaft", für die man die irreführende Bezeichnung „Südosteuropa-Institut" wählte. 2 - 1 Mochten die alten Institute noch immer durch die Tradition der Zeit ihrer Gründung mitbestimmt sein, so handelte es sich bei der neuen Einrichtung um eine bewußt nationalsozialistische Schöpfung. Sie sollte sich, wie es in der Eröffnungsrede des Regierungsvertreters vom 30. September 1936 hieß, zu einem Herzstück der Universität entwickeln und dieser einen neuen, sehr markanten Gesichtspunkt aufprägen. 2 4 Das neue Institut hatte seiner Struktur nach keine Forschungsarbeit zu leisten, sondern sollte inspirierend, koordinierend und organisierend in Erscheinung treten. Präsident war ex officio der jeweilige Dekan der philosophischen Fakultät, Vizepräsident der jeweilige Ordinarius für Kultur und Geschichte Südosteuropas. Es wurden einerseits 4 Sachgruppen - 1. Völker und Staaten, 2. Sprachen und Rassen, 3. Wirtschaft und Geographie, 4. Naturwissenschaften - und gleichzeitig zehn Länderabteilungen - 1. Gesamtraum Südosteuropa, 2. Albanien, 3. Bulgarien, 4. Griechenland, 5. Jugoslawien, 6. Rumänien, 7. Tschechoslowakei, 8. Türkei, 9. Ungarn, 10. Deutschtum in Südosteuropa gebildet. 2 "' Erster Präsident wurde der Zeitungswissenschaftler Hans Münster, ein Exponent des faschistischen Nachwuchses; ansonsten wurden zur Mitarbeit neben Mitgliedern der NSDAP auch apolitische Gelehrte wie der Schweizer Romanist Walther von Wartburg und in wachsendem Maße Wissenschaftler aus den südosteuropäischen Ländern selbst herangezogen. Die studentische Ausbildung des Instituts beschränkte sich auf die Zusammenfassung des Angebots entsprechender Lehrveranstaltungen, wobei nach den Vorlesungsverzeichnissen das philologische Übergewicht erhalten blieb, ja in den Kriegs-

20 21

V g l . die Buchtitel in K ü r s c h n e r s Deutschem G e l e h r t e n - K a l e n d e r 1 9 6 1 , S. 1 9 8 9 . A r c h i v der K a r l - M a r x - U n i v e r s i t ä t Leipzig, Personalakte 8 8 7 , Seraphim.

22

Vgl. speziell auch seinen A r t i k e l „Südosteuropaforschung und Raumforschung", Südost-Forschungen 1 5 , 1 9 5 6 , S. 5 4 0 f f .

23

N e b e n der Universität spielte die Leipziger Handelshochschule in der Südostforschung eine zweitrangige Rolle, w i e der Bericht v o n A. Liebisch, Leipziger Viertel]ahrsschrift f ü r Südosteuropa 7 , 1 9 4 3 , S. 9 9 f f . , sichtbar w e r d e n läßt.

2,1

O f f e n e s Visier, 26. Halbjahr, N r . 5, 1 5 . 6. 1 9 3 7 . Münster, in: Leipziger Viertcljahrsschrift, S. 8 1 .

135

jähren sogar noch anwuchs. Für Akademiker aus den südosteuropäischen Ländern wurden von. 1936 bis 1941 mit erheblichem materiellem und propagandistischem Aufwand,' aber augenscheinlich durchaus nicht ohne Erfolge, Sommerkurse durchgeführt. D i e Schriftenreihe des Instituts, die als „Beihefte zur ,Leipziger Viertel jahrsschrift für Südosteuropa'" firmierte, brachte es von 1937 bis 1943 lediglich auf fünf Titel, von denen die beiden ersten noch auf Wiedenfeld zurückgingen. 26 Die Viertel jahrsschrift selbst erschien bis zum 7. Jahrgang 1943. Vom Jahrgang 1941 an wurde als Mitherausgeber der Südostausschuß der Deutschen Akademie in München angegeben, von dem im folgenden noch die Rede sein wird; das Titelblatt des Jahrgangs 7 nannte überdies die Südostgemeinschaft der Wiener Hochschulen, eine gleichfalls faschistische Kreation. Was die inhaltliche Gestaltung der Zeitschrift anlangt, so sollte nach der Ankündigung des ersten Heftes „im Austausch mit der Wissenschaft des Auslands echte Forscherarbeit auf lange Sicht betrieben werden" 2 7 ; überdies konnte mit Recht festgestellt werden, daß die Vierteljahrsschrift von ihrer Thematik her ein Novum im internationalen Ensemble der wissenschaftlichen Periodika ausmachte. Ihre Gesamttendenz war, wie nicht anders zu erwarten, der Linie des Instituts und damit der nazistischen Politik untergeordnet. Das schloß jcdoch keineswegs aus, sondern erforderte sogar zuweilen, um die begehrte Mitarbeit ausländischer Spezialisten herbeizuführen, eine zurückhaltende Kulanz. 28 Auf geographischem, geologischem und überhaupt auf naturwissenschaftlichem Gebiet, ferner auf linguistisch-philologischem Felde sowie im Bereich der geschichtlichen Faktenvermittlung bietet daher das Periodikum eine Vielzahl von Beiträgen, die auch heute noch ihre Bedeutung haben. Schließlich aber findet man unter den Autoren nicht wenige, die in ihren Heimatländern auch in der Gegenwart in hohem Ansehen stehen, wie den Sprachforscher Eqrem Cabej (SVR Albanien), die Historiker Ivan Dujcev (VR Bulgarien) und Francisco Pall (SR Rumänien), den-Archäologen Anton Tocik (CSSR), den Musikwissenschaftler Franz Zagiba (Österreich), um nur einige Namen herauszugreifen. Achtbare wissenschaftliche Leistung wurde in den Dienst der faschistischen Expansion gestellt. In München war die institutionalisierte Südosteuropaforschung aufs engste mit der Deutschen Akademie, im Häupttitel: Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und Pflege des Deutschtums, verbunden, die - lange vor der nationalsozialistischen Machtübernahme - am 3. Mai 1925 ins Leben getreten war. 29 Hier zeigt sich höchst eindrucksvoll die Kontinuität von den Rechtskräften in der Weimarer Republik bis hin zum Faschismus. „Die Akademie will", so hieß es in der Satzung, „allen Deutschen in der Welt ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen dienen. Ihr Zweck ist, alle geistigen und kul26

2/

H. Groß, Südosteuropa. Bau und Entwicklung der Wirtschaft, 1 9 3 7 ; E. Dittrich, Staatszerfall, Staatsneubildung und Wirtschaft. Eine Untersuchung über die Probleme der Volkswirtschaftsbildung in Österreich und der Tschechoslowakei, 1 9 3 7 ; R. Busch-Zantner, Agrarverfassung und Siedlung in Südpsteuropa. Unter besonderer Berücksichtigung der Türkenzeit, 1 9 3 8 ; W. Schumann, Die Römischen Protokolle als wirtschaftspolitisches Problem, 1 9 3 9 ; A. Roth, Theodor Vladimirescu und die Orientpolitik, 1 9 4 3 . Münster, in: Leipziger Vierteljahrsschrift, S. 3.

28

Richtig stellte W. Philipp, in: Nationalsozialismus und die deutsche Universität, (West-)Berlin 1 9 6 6 , S. 4 4 , in solchem Zusammenhang fest: „Es gab nüchterne Fachbeiträge zu Sammelschriften, deren Gesamttendenz aber nationalsozialistisch war und die gerade durch wissenschaftlich einwandfreie Aufsätze ein Gewicht in der Öffentlichkeit erlangten."

29

Über die „Deutsche Akademie" zusammenfassend und kritisch wertend W. Schlicker, für Volkskunde und Kulturgeschichte 20, 1 9 7 7 , S. 4 3 ff.

136

in: Jahrbuch

turellen Beziehungen Deutschlands zum Ausland und der Auslandsdeutschen zur Heimat im Sinne des deutschen Nationalbewußtseins zielbewußt zusammenzufassen und zu fördern" 3 0 , das heißt, bedenkt man die territoriale Situation Deutschlands nach dem Versailler Friedensvertrag, im K l a r t e x t : revanchistische Politik mit wissenschaftlichen Mitteln betreiben. Nicht zufällig waren daher unter den Ehrengästen der Gründungssitzung Vertreter der österreichischen und der Danziger Hochschulen, der Deutschen Gesellschaft der Wissenschaften und Künste für die Tschechoslowakische

Republik,

des revanchistischen Deutschen Schutzbundes 3 1 sowie auslandsdeutscher Vereinigungen zugegen. Unter den 93 Mitgliedern des Senats befand sich kein einziger Sozialdemokrat, wohl aber gehörten zu ihnen Repräsentanten des Monopolkapitals wie der G e heime Kommerzienrat Ernst von Borsig, der Vorsitzende des Aufsichtsrats der H a m b u r g - A m e r i k a - L i n i e , Reichskanzler a. D . Wilhelm Cuno, Generaldirektor Carl Duisberg in Leverkusen 3 2 , Geheimer Kommerzienrat Peter Klöckner, Vorsitzender des Aufsichtsrats der Klöckner-Werke, der Bankier Franz von Mendelssohn, Geheimer K o m m e r zienrat Louis Ravene, Geheimer Kommerzienrat Hermann Reusch,

Generaldirektor

der Gute-Hoffnungshütte Oberhausen, Geheimer Kommerzienrat Hermann

Röchling,

Carl Friedrich von Siemens, Vorsitzender des Aufsichtsrats der Siemens und Halske A G , E m i l Georg von Stauß, Direktor der Deutschen B a n k , neben Militaristen wie dem Generalmajor von Lettow-Vorbeck und Großadmiral von Tirpitz und imperialistischen Politikern wie dem ehemaligen Gouverneur von Deutsch-Ostafrika, Heinrich Schnee, und K a r l von Loesch : W , dem Präsidenten des Deutschen Schutzbundes. Gründungspräsident der Akademie wurde der katholische Theologe G e o r g Pfeilschifter, als Abteilungspräsidenten fungierten der liberale Historiker Hermann Oncken (der später völlig inaktiv wurde) sowie der General a. D . und Professor K a r l Haushofer, der B e gründer der Geopolitik in Deutschland und Protektor des späteren Naziführers und Kriegsverbrechers Rudolf H e ß . Als Mitglieder des Sekretariats wirkten ausgediente O f f i ziere sowie - bis 1937 - der Publizist Franz Thierfelder 3 ' 1 , der während des zweiten Weltkrieges mit mehreren nach der Zeittendenz gestalteten Büchern über Balkanprobleme hervortrat 3 5 , nach 1950 das Institut für Auslandsbeziehungen in Stuttgart ( B R D ) aufbaute und im übrigen sehr nachdrücklich die Abendlandkonzeption des kalten K r i e ges vertrat. Neben editorischen Plänen - Ausgaben der Schriften Rankes und Lists sowie des CEvre des Tonsetzers Carl Maria von W e b e r -

wurden in der Akademie

„praktische", d. h. kulturpropagandistische, Aufgaben verfolgt, wobei sich schon früh der Blick auf den Südosten richtete: J a k o b Bleyer, seit 1906 habilitierter Germanist, 30

31

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33 34

3o

Mitteilungen der Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und zur Pflege des Deutschtums/ Deutsche Akademie 1925/26, S. 1 ff. D. Fensch, Zur Vorgeschichte, Organisation und Tätigkeit des Deutschen Schutzbundes in der Weimarer Republik, Phil. Diss., Rostock 1966; ferner Angaben in: Die bürgerlichen Parteien in Deutschland, Handbuch, Bd. 1, Leipzig 1968, S. 554 ff. Über dessen Südosteuropakonzeption vgl. C. Dulsberg, Abhandlungen, Vorträge und Reden aus den Jahren 1922-1933, Berlin 1933, S. 173. Loesch wurde 1940 zum Professor für Auslandsdeutschtum an der Berliner Universität ernannt. E. Sieben, Die Rolle der Kultur- und Wissenschaftspolitik bei der Expansion des deutschen Imperialismus nach Bulgarien, Jugoslawien, Rumänien und Ungarn in den Jahren 1938-1944. Mit einem Blick auf die vom westdeutschen Imperialismus wiederaufgenommene auswärtige Kulturpolitik, Phil. Diss., Berlin 1971. Zum Beispiel: Schicksalsstunden des Balkans, Wien 1941; Der Balkan im europäischen Raum, Berlin 1941; Ursprung und Wirkung der französischen Kultureinflüsse in Südosteuropa, Berlin 1943.

137

1919/20 ungarischer Minister für nationale Minderheiten, forderte bereits im Gründungsjahr der A k a d e m i e die Einrichtung eines südosteuropäischen Forschungsinstituts. D a z u gab es freilich vorerst noch keine Voraussetzungen. Wohl aber initiierte die A k a d e m i e Einladungen an Gelehrte vornehmlich aus den Ländern Südosteuropas zu wissenschaftlichen Veranstaltungen und Studienreisen, die „von privater Seite" 3 6 subventioniert wurden; wenn diese Aktionen unter den Gästen „Bewunderung des deutschen G e i s t e s " 3 7 und die Einsicht erweckten, „der B a l k a n mit seinem Gemisch verschiedener R a s s e n " brauche eine Verkehrssprache, nämlich die deutsche, so hatten^ diese Aktivitäten vorerst ihr Ziel erreicht. 1931 - an die Stelle des erkrankten Präsidenten Pfeilschifter war inzwischen der Professor der inneren Medizin Friedrich von Müller getreten - konnten jedoch in den „Schriften der Deutschen A k a d e m i e " auch die ersten wissenschaftlichen Publikationen vorgelegt werden; sie bezogen sich auf Gegenwartsprobleme. 3 8 D a s J a h r 1934 brachte die faschistische c ,Gleichschaltung" der Deutschen A k a d e m i e - der konservative Präsident von Müller wurde durch den Altnazi Haushofer ersetzt 3 9 und zugleich eine Ausweitung ihrer Tätigkeit im unverhüllten Dienste der nationalsozialistischen Expansionspolitik bei beträchtlicher Erweiterung der finanziellen Mittel und Mitarbeiter. D a b e i wurde sehr nachdrücklich die Kontinuität herausgekehrt; die A k a d e m i e sei eine „geistige Frühgeburt in der Blütezeit der Weimarer Koalition gewesen", hieß es bei der Jubiläumsfeier zum zehnjährigen Bestehen der Institution/' 0 die darum in der deutschen Republik weder durch das Reich noch durch die L ä n d e r offizielle Förderung erfahren habe; auch sei bei der G r ü n d u n g der A k a d e m i e „die Forderung, der Gelehrte sei verpflichtet; seine Fachstudien nach den nationalen Erfordernissen auszurichten", „noch durchaus nicht allgemein erkannt" gewesen. Ferner wurde kritisiert, daß sich die A k a d e m i e .in ihrem ersten Dezennium zu nachdrücklich dem Auslandsdeutschtum zugewandt habe als vielmehr den Verpflichtungen, „die das deutsche V o l k gegenüber der Welt als eine der fruchtbarsten Kulturnationen aller uns bekannten Zeitalter zu erfüllen hatte" 4 1 . D i e s e aus nationalistischer Überheblichkeit geborene Forderung ließ, ausgehend von den politischen Zielsetzungen, auf ein neues Mal in den Ländern Ost- und Südosteuropas einen Schwerpunkt von besonderem Gewicht erkennen; es sollten die deutschen Siedlungsgebiete in Ost- und Südosteuropa bearbeitet und die geistigen Einflüsse Deutschlands auf die fremden Völker dieses Raumes erforscht werden mit dem Ziele, diese Einflüsse in der Gegenwart zu verstärken. Sprachwerbung und Kontaktpflege wurden „als die G r u n d l a g e jeder kulturpolitischen Tätigkeit unter fremden Völkern" herausgestellt. 4 2 D i e A k a d e m i e und im speziellen ihre Südosteuropaarbeit waren dazu bestimmt, wissenschaftliche und wissenschaftsorganisatorische Fundamente zu legen für die politische Expansion und über diese hinaus für die militärische Aggression.

3i;

37

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33 40

« 'a

Mitteilungen, Institut f ü r Auslandsbeziehungen, 1 9 2 9 , S. 9 3 7 , 2 8 0 . D. Schischmanoff, Mitteilungen, 1 9 2 9 , S. 2 6 0 . F ü r S ü d o s t e u r o p a von B e l a n g waren H e f t 1 : A. Dammang, D i e deutsche L a n d w i r t s c h a f t im B a n a t und in. der B a t s c h k a , 1 9 3 0 , und H e f t 4: N. Handjieff, O r g a n i s a t i o n der Staats- und Selbstverwaltung in B u l g a r i e n , 1 9 3 1 . F. v. Müller, Lebenserinnerungen, München 1 9 5 3 , S. 2 4 5 ff. Mitteilungen, 1 9 3 5 , S. 177. E b e n d a , 1 9 3 5 , S . 178. E b e n d a , 1 9 3 5 , S . 1 8 0 f.

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Noch im Jahre 1934 konnten für eine solche erweiterte. Tätigkeit bereits auch die institutionellen Voraussetzungen geschaffen werden. Zur deutschen Kulturwerbung in einem Gebiet, in dem nach Einschätzung der Akademie „Liberalismus, Faschismus und Nationalismus" sich „schon heute in den Herzen der Jungen" messen/' 3 bildete die Akademie ihren Südost-Ausschuß und betraute mit dem Vorsitz den Prager Slawisten Gerhard Gesemann. Die dem Ausschuß zugeordnete Arbeitsstelle übernahm neben anderem die folgenden Aufgaben: 1. „Herausgabe monatlicher Lageberichte, die das kultur- und wirtschaftspolitische Leben der Länder im Verhältnis zu Deutschland und den anderen Kulturstaaten widerspiegeln." Diese informative Dokumentation wurde zunächst nur als Manuskript gedruckt und erschien vom Jahrgang 2 (1935/36) an; unter dem Titel „Südostbericht", 1937 wurde sie eingestellt; 2. „die Anlage einer Kartei, aus der jederzeit zuverlässig über bedeutendere Persönlichkeiten und Vereinigungen Auskunft erteilt werden kann"; 3. „Veröffentlichung wertvollen Schrifttums der genannten Länder in guten deutschen Übersetzungen." Es erschien die „Südosteuropa-Bücherei" in München, ein zweifelsohne verdienstliches Unternehmen, das mit dem Hauptwerk des serbischen Schriftstellers Borisov Stankovic eingeleitet wurde; 4. die Buchreihe „Die südosteuropäischen Staaten in Einzeldarstellungen" ist über die Darstellung „Das Königreich Südslawien" 44 (1935) nicht hinausgekommen; 5. Aufbau einer Südostbücherei; 6. Einladungen, Ausstellungen, Dichtertreffen. Schließlich nahmen von nun an Beiträge über Südosteuropa in den „Mitteilungen" der Akademie breiten Raum ein, wobei eine differenzierende Einachätzung geboten ist: Neben politischen Aufsätzen von eindeutig faschistischer Prägung finden sich historische und folkloristische Darstellungen sowie Übersetzungen von Werken zum Teil weltliterarischer Bedeutung,; so wurde der spätere serbische Nobelpreisträger Ivo Andric bereits 1935 an diesem Orte vorgestellt/' 5 Unmittelbar im Ausland wirkte die Akademie durch das von Franz Thierfelder geleitete Goethe-Institut, für das wiederum Südosteuropa einen Arbeitsschwerpunkt ausmachte: Von insgesamt 34 Orten, in denen das Goethe-Institut 1934/35 Sprachkurse durchführte, lagen 19 im Balkanraum, Sofia und Athen besaßen sogenannte Mittelstellen, Zentralen für den Einsatz der Sprachlehrer. Deutschland dürfe „nicht wieder, wie ini Weltkriege, in die Lage versetzt werden", „den Wirkungen einer feindlichen geistigen Weltpropaganda schutzlos ausgeliefert zu werden", konstatierte 1936 der Vertreter des Auswärtigen Amtes, von Twardowski, auf der Hauptversammlung der Akademie, während gleichzeitig Präsident Haushofer feststellen konnte, die Finanzlage habe sich gefestigt dank „dem erfreulichen Verständnis privater, vor allem wirtschaftlicher Kreise" sowie derjenigen Stellen, „die unmittelbar an der Arbeit der Deutschen Akademie interessiert sind" 4 6 . Der bereits erwähnte Südost-Ausschuß konstituierte sich unter so günstigen Auspizien am 26. Oktober 1936 mit 22 Mitgliedern, darunter neben dem Vorsitzenden Gesemann die Byzantinisten Dölger und Soyter, der Turkologc H. Jobst, Mitteilungen, 1 9 3 5 , S. 1 1 7 . ' Dargestellt von einem achtköpfigen Autorenkollektiv, darunter der slowenische Kunsthistoriker F. Stele, mit Geleitwort von K. Haushofer. 45 1. Andritscb, Die Brücke über die Schepa, dt. v. J. Schulz; Mitteilungen, 1 9 3 5 , S. 8 4 ff. 4 0 Mitteilungen, 1 9 3 6 , S. 5 6 9 .

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Duda, der Rumänist Gamillscheg, Prof.-Münster für das Leipziger Institut, ferner die Osteuropahistoriker Schünemann und Uebersberger, der Gräzist Ziebarth, der reaktionäre Publizist Giselher Wirsing, der später in der B R D zur Zeit Adenauers eine dubiose Rolle spielte. Als Publikationsorgan schuf sich der Südost-Ausschpß nach der Einstellung der „Südostberichte" die „Stimmen aus dem Südosten", die von 1937 bis 1943 erschienen. Herausgeber war der nationalsozialistische Geograph Gustav Fochler-Hauke, 1944 Extraordinarius in München, nach Beendigung des zweiten Weltkrieges eine Zeitlang Professor in Argentinien und seit 1954 wieder in München; zur Redaktion gehörten Gerhard Gesemann, Franz Dölger, Herbert Duda, Ernst Gamillscheg und andere. D i e „Stimmen aus dem Südosten" sollten nicht unbeabsichtigt an die Herderschen „Stimmen der Völker" erinnern, denn mit ihnen sollte die ehrwürdige deutsche Überlieferung wiederaufgenommen werden, die an die Namen Herder, Goethe, Jakob Grimm und Ranke knüpfte, hieß es im Geleitwort/' 7 und unleugbar haben sich Mitarbeiter der Zeitschrift dieser Aufgabe verpflichtet gefühlt. Die „Stimmen aus dem Südosten" vermittelten in allgemeinverständlicher Form zumeist aus der Feder einheimischer Autoren Informationen über die Geschichte und Kultur der südosteuropäischen Völker, welche freilich, was nicht übersehen werden darf, zu jener Zeit sämtlich unter faschistischen oder faschistoiden Systemen standen, und erschlossen deren Literatur in Übersetzungsproben ; aus dem klassisch gewordenen neugriechischen Schrifttum zum Beispiel wurden nahezu alle Autoren vorgestellt, einbegriffen der Individualist par excellence Konstantin Kavaphis'' 8 . Ein- und untergeordnet waren solche kulturellen Aktivitäten allerdings eindeutig der nazistischen Expansion auf wirtschaftlichem, politischem und militärischem Gebiet: An Südosteuropa „ist Großdeutschland dauernd interessiert, und es kann den Südosten nicht mehr dem freien Kräftespiel überlassen. Die bisherigen Ausdrucksformen der neuen Gemeinschaft enthüllen ein neues Denken", hieß es auf dem Höhepunkt des zweiten Weltkrieges/' 9 Ungeachtet dieses selbständigen Publikationsorgans nahmen die südosteuropäischen Fragen auch weiterhin eine gewichtige Stellung in den „Mitteilungen" der Deutschen Akademie ein, die vom Jahrgang 1938 an unter dem Titel „Deutsche Kultur im Leben der Völker" erschienen; ein Absinken der Qualität der Zeitschrift, in der die propagandistischen Beiträge gegenüber den wissenschaftlichen zunehmend mehr das. Profil bestimmten, ist freilich nicht zu übersehen. Es war darum nur eine folgerichtige Entwicklung, wenn die Akademie durch E r l a ß Hitlers vom 15. November 1941 ausschließlich auf die deutsche Külturpropaganda orientiert 50 und der Dienstaufsicht des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda, das heißt des Kriegsverbrechers Joseph Goebbels, unterstellt wurde 51 , der in seiner Eröffnungsansprache die endgültige „Lösung der Judenfrage"., das heißt die physische Vernichtung der Juden, als einen ausschlaggebenden Faktor für das kommende Europa bezeichnete-'-.

47

Stimmen aus dem Südosten 1 9 3 7 / 3 8 , Heft 1/2, S. 1 ; nachgedruckt in: Mitteilungen, 1 9 3 7 , S. 4 0 4 .

48

K. Kafavis, Das große Ja, in: Stimmen aus dem Südosten 1 9 3 7 / 3 8 , Heft 7 / 8 , S. 1. /. März, Stimmen aus dem Südosten 1 9 4 3 , S. 1 5 9 .

49 50

Entsprechend wurde mit großem personellem Aufgebot eine Abteilung für deutsch-balkanische Beziehungen gegründet (Deutsche Kultur im Leben der Völker 17, 1 9 4 2 , S. 1 6 3 ) , die freilich infolge der Kriegsereignisse in keiner Weise wirksam wurde.

51

Deutsche Kultur im Leben der Völker 16, 1 9 4 1 , S. 3 6 9 f. Ebenda, S. 3 7 4 .

52

140

D i e Münchner Aktivitäten auf dem Feld der Südosteuropaforschung beschränkten sich jedoch nicht auf die Deutsche Akademie, sondern begriffen auch die Universität ein. Hier war bereits 1930 ein Südostinstitut entstanden, das jedoch zunächst auf die „Erforschung des deutschen Volkstums im Süden und Südosten" 51 ' begrenzt wurde und entsprechend in seinen Arbeiten orientiert blieb. Auch die 1936 ins Leben getretene Zeitschrift trug demgemäß zunächst den Titel „Südostdeutsche Forschungen". Ihr Herausgeber, der aus Wien gebürtige Historiker Fritz Valjavec, stellte jedoch bereits dem ersten Bande, an dem überdies der rumänische Universalhistoriker Nicolae Jorga mitarbeitete, einen einführenden Artikel „Wege und Wandlungen deutscher Südostforschung" voran; der Beitrag beleuchtete die progressive Rolle der Aufklärung zur Vertiefung des gegenseitigen Verständnisses zwischen den Deutschen einer- und den südosteuropäischen Völkern andererseits, wies auf die hemmende Funktion der Habsburgermonarchie bei der Emanzipation jener Völker hin und postulierte gegenüber der bisherigen Abkapselung eine Kooperation der deutschen mit der „fremdvolklichen Wissenschaft". 5 4 Für eine gewisse Zeit ließ sich in der T a t diese Linie durchhalten. An der Zeitschrift wurden in weitem Ausmaße ausländische Gelehrte beteiligt, die Aufsätze und Mitteilungen rückten Spezialthemen aus der älteren Geschichte, aus der Sprachwissenschaft und aus der Volkskunde in den Vordergrund, und es war sogar möglich, dem kommunistischen tschechischen Musikwissenschaftler und Historiker Zdenek Nejedly zu seinem 60. Geburtstag eine positive Würdigung angedeihen zu lassen. 5 j Im ausführlich gepflegten Rezensionsteil freilich, in den die Behandlung Ostmitteleuropas einbezogen wurde, mußten notwendigerweise nazistische Fragestellungen und Wertungen aufgegriffen werden. In der zugehörigen Schriftenreihe „Südosteuropäische Arbeiten" 5 6 , die es bis Kriegsende auf 38 Bände brachte, dominierten die auslandsdeutschen Themen und bei aller Solidität in der Behandlung der Details deren parteiliche E r örterung im Sinne eines alldeutschen Expansionismus. Vom Jahrgang 5 (1940) an erschien im nunmehr in „Südost-Forschungen" geänderten Titel neben dem Münchner Südostinstitut das Deutsche Auslandswissenschaftliche Institut in Berlin, vom Jahrgang 7 (1942) an traten noch die schon oben erwähnte Südostgemeinschaft Wiener Hochschulen und „eine" Gemeinschaft Prager Institute hinzu, ohne daß diese Erweiterung in ihrer Bedeutung motiviert worden wäre. Der Band 9/10 (1944/45) der Zeitschrift wurde noch im Januar 1945, ein Vierteljahr vor dem Zusammenbruch Hitlerdeutschlands, herausgegeben; so große Bedeutung maß der deutsche Imperialismus der Südostforschung bei! Über die beiden Einrichtungen in Prag und Wien 5 7 , die übrigens sachlich wenig wirksam wurden, wäre im Zusammenhang mit der Okkupationspolitik des deutschen Faschismus zu sprechen; hier soll nur noch ein Hinweis' auf das gleichfalls bereits genannte Deutsche Auslandswissenschaftliche Institut erfolgen. 53

54 55

Universität München, Personen- und Vorlesungsverzeichnis für das Sommerhalbjahr 1935, S. 6 5 . E r s t während des zweiten Weltkrieges erfolgte die Umbenennung in „Südostinstitut" (vgl. Uni.versität München. Personen- und Vorlesungs-Verzeichnis für das Sommersemester 1 9 4 4 , S. 6 5 ) . F. Valjavec, Südöstdeutsche Forschungen 1, 1 9 3 6 , S. 1 ff. (das Zitat S. 1 2 ) . Emmerling, Südostdeutsche Forschungen 3, 1 9 3 8 , S. 4 2 5 .

5b

Sie begannen unter dem Titel „Veröffentlichungen des Institutes zur Erforschung des deutschen Volkstums im Süden und Südosten in München und des Institutes für ostbairische Heimatforschung in Passau".

57

Wien sollte zum Vorort der faschistischen Südostpolitik entwickelt werden; vgl. W. Griff nach Südosteuropa, S. 2 0 4 f.

Schumann,

141

Um 1887 w a r neben der Berliner Universität und doch zugleich in engem Zusammenhang mit ihr das Seminar für orientalische Sprachen gegründet worden, das für Beamte und Offiziere im Auslandsdienst Landes- und Sprachkenntnisse vermitteln sollte. Die Einrichtung bezog sukzessive auch die südosteuropäischen Sprachen in ihre A u f m e r k samkeit ein, leistete jedoch in erster Linie Ausbildungs- und nur bedingt Forschungsarbeit. Sie änderte mehrfach ihre Bezeichnung und wurde im Januar 1940 als „Auslandshochschule" zusammen mit der 1933 im faschistischen Sinne reorganisierten Deutschen Hochschule für Politik zur Auslandswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-WilhelmUniversität umgebildet. 5 8 Spiritus rector der neuen Gründung w a r der nazistische Abenteurer und hohe SS-Führer Franz A l f r e d Six, 1939 Extraordinarius, 1940 Ordinarius und Dekan 5 9 , später Leiter der Abteilung VII „Weltanschauliche Forschung und Auswertung" des Reichssicherheitshauptamtes, 1943 Gesandter Erster Klasse und Honorarprofessor. An dieser rein faschistischen Einrichtung gab es auch eine Abteilung für Volks- und Landeskunde Südosteuropas, die von Fritz V a l j a v e c geleitet wurde. 6 0 Im Rahmen der Fakultät wurden einschlägige Lehrveranstaltungen gehalten; die Verwirklichung der weitgespannten Forschungs- und Publikationsvorhaben dagegen verhinderten die Kriegsereignisse. 6 1 Ein knappes Fazit, wie es sich aus den vorgetragenen Materialien ergibt, sei zu ziehen gestattet. Die B a l k a n - und Südosteuropaforschung in Deutschland fand ihr Fundament und ihren Ausgangpunkt in den philologischen und historischen Disziplinen, die der Positivismus und Historismus des 19. Jh. herausgebildet hatten; bürgerlicher Humanismus, in dem Gedankengut der A u f k l ä r u n g und Herdersche Ideen sich verbanden, standen dabei Pate. Der deutsche Imperialismus, der sich namentlich nach dem Berliner Kongreß von 1878 auf Südosteuropa zu orientieren begann, ließ jenen Wissenschaften Unterstützung zuteil werden, da er im Dienste seiner Politik sprach- und landeskundiger K a d e r bedurfte; die Institutionalisierung jener Disziplinen begann noch vor dem ersten W e l t k r i e g in Österreich-Ungarn; nach dem ersten W e l t k r i e g w a r sie vornehmlich mit Leipzig, München und sehr viel später auch mit Berlin verbunden. Als neue Momente traten die Förderung des Auslandsdeutschtums als potentieller Fünfter Kolonne bei der kulturellen, ökonomischen, politischen und schließlich militärischen Expansion hinzu sowie die von allen imperialistischen Staaten betriebene Kulturpropag a n d a . Die Forschungseinrichtungen betrieben die Kontaktaufnahme und Kooperation mit Wissenschaftlern Südosteuropas, erschlossen durch Zeitschriften und Schriftenreihen Faktenmaterial und nahmen an der Qualifizierung wissenschaftlicher K a d e r teil. Die propagandistische Nutzung jener Materialien überließen sie der Publizistik in den damals möglichen Formen; gleichermaßen blieb zunächst die politische, wirtschaftsstrategische sowie militärische Verwertung der durch die Forschungsinstitute gesammelten Erkenntnisse den Einrichtungen der Monopole sowie des Staatsapparats überlassen. 68

59 60

61

W. Schlicker, Beiträge zur Erforschung der Wissenschafts- und auswärtigen Kulturpolitik im imperialistischen Deutschland 1 9 1 7 / 1 8 bis 1 9 4 5 , Diss. (B), Halle 1 9 7 7 , S. 2 3 9 (maschinenschr.). J. Asen, Gesamtverzeichnis des Lehrkörpers der Universität Berlin, 1, Leipzig 1 9 5 5 , S. 1 8 8 . Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin, Personal- und Vorlesungsverzeichnis. Wintersemester 1 9 4 1 / 4 2 , S. 1 3 8 . D i e Abteilung ging hervor aus dem Seminar f ü r Südosteuropa an der Hochschule f ü r Politik, das 1 9 3 7 mit dem NS-Funktionär K a r l Franz Jurde als Leiter gegründet worden w a r (vgl. K. F. Jurde, Leipziger Vierteljahrsschrift f ü r Südosteuropa 4, 1 9 4 0 , S. 1 4 2 ff.'). Über die Arbeitsinstrumente des Instituts informieren verschiedene Mitarbeiter in: Jahrbuch f ü r Politik und Auslandskunde 1 9 4 1 , S. 3 8 7 f f . In der von Six herausgegebenen „Kleinen Auslandskunde" erschien eine journalistische Information von M. Scbwartz, D i e Slowakei, Berlin 1 9 4 3 .

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Die Verbindung von faschistischer Forschung und faschistischer Exekutive wurde von den SS-Einrichtungen wie 'dem aus ihrem Geiste erwachsenen Deutschen Auslandswissenschaftlichen Institut angestrebt; sie kam jedoch infolge der sich immer stärker abzeichnenden unvermeidlichen Niederlage nicht mehr zum Tragen. Die Südosteuropaforschung in der B R D hat in weitestem Ausmaße personell wie institutionell an die Südosteuropaforschung des deutschen Faschismus angeknüpft. Zwar wurde die Deutsche Akademie aufgelöst, das 1952 wiedereröffnete Goethe-Institut 6 2 entwickelte jedoch, wo immer ihm sich Gelegenheit dazu bot, weitestgehende Initiativen. D i e „Südostforschungen" beispielsweise wurden unter dem alten Chefredakteur Valjavec 6 3 fortgesetzt.611 Im übrigen sind die inzwischen neu ins Leben getretenen Institutionen mit der Beilegung des kalten Krieges in der Wahl ihrer Methoden und Mittel erheblich flexibler geworden, ohne daß der imperialistische Expansionismus aufgegeben worden wäre und aufgegeben werden könnte. Diese Entwicklungen erfordern jedoch eine selbständige Öarstellung. 62 63

Institut für Auslandsbeziehungcn. Mitteilungen 2, 1 9 5 2 , Nr. 6 / 7 , S. 1 ff.; 3, 1 9 5 3 , N r . 1, S. 8 f. Dieser schrieb im Geleitwort zu Band 11 ( 1 9 4 6 , 1 9 5 2 ) , S. 1 : „In den vorangegangenen zehn Bänden hat sich eine feste Linie herausgebildet, die für uns verpflichtend ist." Das Münchner Südostinstitut aber, das sie begründet hatte, blieb 1 9 4 5 von der amerikanischen Besatzungsmacht unbehelligt; es betonte seine Kontinuität und wurde zu einem gewichtigen Ausgangspunkt der Südosteuropaforschung in der B R D , vgl. dazu F. Valjavec, Südostforschungen 15, 1 9 5 6 , S. 1 ff. sowie Gentzen/Wolfgramm, „Ostforscher" - „Ostforschung", S. 1 1 6 f.

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Die Grundlagen der demographischen Entwicklung Rußlands im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts* BORIS MIRONOV

In jüngster Zeit hat sich das Interesse der sowjetischen Historiker verstärkt den Problemen der historischen Demographie Rußlands zugewandt. So wurden u. a. Arbeiten zur Bevölkerungsdynamik und -entwicklung Rußlands vom 16. bis 19. Jh., zu den Problemen der bäuerlichen Familie und zur sozialen Mobilität veröffentlicht. 1 Dennoch sind bis heute viele Fragen der Geburtenentwicklung und Sterblichkeit, des' natürlichen Bevölkerungswachstums und der Eheschließung offen. Der vorliegende Aufsatz unternimmt den Versuch, auf der Grundlage der Analyse der wichtigsten demographischen Prozesse - der Geburten-, Sterblichkeits- und Eheschließungsentwicklung - die Besonderheiten der Bevölkerungsentwicklung Rußlands im 19. Jh. und zu Beginn des 20. Jh. herauszuarbeiten. D i e folgende Untersuchung ist in drei Teile gegliedert. Zunächst sollen die im bäuerlichen Milieu herrschenden Vorstellungen über Ehe, Kinder und Familie sowie anhand dieser Vorstellungen die Normen des demographischen Verhaltens, aber auch die Veränderungen dieser Normen im Laufe des 19. Jh. und zu Beginn des 20. Jh. in den verschiedenen Gebieten Rußlands dargestellt werden. Im Ergebnis dieser Untersuchung soll ein hypothetisches Bild des sozialpsychologischen Verhaltensmodells der Bauernschaft aufgestellt werden. Im zweiten Teil der Untersuchung soll das vorgeschlagene hypothetische Modell des demographischen Verhaltens mit der tatsächlichen Reproduktion der ländlichen Bevölkerung verglichen werden. Schließlich soll im dritten Teil der Untersuchung das Verhältnis zwischen der faktischen demographischen Entwicklung und den materiellen ökonomischen Bedingungen, unter denen sie sich vollzog, behandelt werden. Dies alles soll zur Beantwortung der Fragen nach der Selbständigkeit und der Eigengesetzlichkeit demographischer Prozesse und nach dem Einfluß dieser Prozesse auf die sozialökonomische Entwicklung Rußlands in dem hier behandelten Zeitraum beitragen. D i e Arbeit beruht auf verschiedenartigen Quellen: 1. demographische Materialien, die im 19. Jh. von der „Russischen Geographischen Gesellschaft" ( R G O ) gesammelt wurden; 2. Forschungen über die Lebensweise und Bräuche der Bauernschaft, die von Mitarbeitern der R G O zusammengetragen wurden und die im Archiv dieser Gesell* Aus dem Russischen übersetzt von S. Wolle. 1 Ja. E. Vodarskij, Naselenie Rossii za 400 let (XVI - nacalo X X vv.), Moskau 1 9 7 3 ; ders., Promyslennye selenija Central'noj Rossii v period genezisa i razvitija kapitalizma, Moskau 1 9 7 2 ; V. M. Kabuzan, Izmcnenija v razmescenii naselenija Rossii v XVIII - pervoj polovine X I X v., Moskau 1 9 6 3 ; Pervyj Vsesojuznyj seminar po istoriceskoj demografii, Tallinn 1 9 7 4 ; V. K. Jacunskij, Istoriceskaja demografija v SSSR, in: Voprosy geografii, Bd. 83, 1970. 10

Jahrbuch 2 5 / 1

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schaff, zum größten Teil noch unpubliziert, aufbewahrt w e r d e n ; 3. folkloristisches M a t e r i a l , das die Ansichten der Bauern über Ehe, Kinder und Familie illustriert 2 ; 4. Forschungsberichte von Landärzten, die in den Jahren von 1 8 6 0 - 1 8 9 0 aufgezeichnet und publiziert w u r d e n ; 5. bevölkerungsstatistische Angaben der kirchlichen und staatlichen V e r w a l t u n g . Ein zentrales Moment der verschiedenen demograpischen Modelle sind die Anschauungen der Menschen über Ehe, Familie und Kinder. Diese Anschauungen ändern sich bekanntlich im L a u f e der Zeit. In den Augen des russischen Bauern des 19. und beginnenden 20. Jh. w a r die Ehe ein wichtiges Fundament der menschlichen Ordnung, seines materiellen Wohlstandes und seines gesellschaftlichen Gewichtes. Diese Denkungsart fand eifrige Unterstützung seitens der Kirche und des Staates. 3 Bis zur Verheiratung w u r d e ein Bauernbursche trotz seiner möglicherweise 20 Jahre im Dorfe von niemandem ernst genommen. Er galt als „Kleiner". Schon in der Bezeichnung selbst liegt eine Herabminderung. Aber auch praktisch w u r d e der „Kleine" von den Älteren in vollständiger Unterwürfigkeit gehalten. Er hatte weder im Familienrat noch in der Dorfversammlung eine Stimme. Es w a r ihm nicht einmal gestattet, das Dorf auf kurze Zeit zu verlassen. Erst nach seiner Verheiratung wurde aus dem „Kleinen" ein M a n n , ein gleichberechtigtes Mitglied der Familie und der D o r f g e m e i n d e ; erst jetzt erhielt er die Rechte und Pflichten eines vollwertigen Mitgliedes der bäuerlichen Gesellschaft. Männer, die unverheiratet blieben, wurden im Dorf verachtet und mit Spottnamen bedacht, unverhohlen wurden Vermutungen geäußert, welche physischen Mängel wohl die Ursache ihres unbeweibten Zustandes wären, kurz: ihr lediges Leben w a r in den Augen der Bauern beinahe ein unsittliches Verhalten. Kein leichteres Schicksal erwartete unverheiratete Frauen. Innerhalb des bäuerlichen W e l t b i l d e s hatte eine Frau ohne einen M a n n keinen eigenen W e r t . Aus diesem Grunde zogen die Bauernmädchen oft selbst eine schlechte Partie der ewigen Jungfernschaft vor. Diese und ähnliche Anschauungen der Bauern waren in erster Linie bedingt durch die ökonomischen und rechtlichen Verhältnisse, unter denen sie lebten. Vor allem erhielt ein unverheirateter Bauer und erst recht eine unverheiratete Bäuerin keinen L a n d anteil von der bäuerlichen Gemeinde. Sie waren also der Grundlage beraubt, Steuern und Abgaben zu bezahlen und ihren anderen Pflichten nachzukommen. Ohne diese Pflichterfüllung aber verfügten sie auch über keinerlei Rechte. Erwachsene ledige M ä n ner befanden sich deswegen, ohne festumrissenen Platz in der Gesellschaft und ohne Existenzmittel, in der gesellschaftlichen Situation von Asozialen, Tagedieben und Schmarotzern. Nicht weniger wichtig ist die Tatsache, d a ß die bäuerliche Wirtschaft auf der Grundlage der Arbeitsteilung zwischen männlichen und weiblichen Arbeitskräften funktionierte. Die' Lebensanschauung des Bauern erlaubte weder dem M a n n weibliche Arbeit 2

Poslovicy russkogo naroda, hg. v. V. I. Dal', Moskau 1 9 5 7 ; A. 1. Zelobovskij, Sem'ja po vozzrenijam russkogo naroda, vyrazennym v poslovicach i drugich proizvcdenijach narodo-poeticeskogo tvorcestva, in: Filologiceskie zapiski, Voronez 1 8 9 2 ; T. lvanovskaja, Deti v poslovicach i pogovorkach, i n : Vestnik vospitanija 1 9 0 8 , Bd. 2.

3

A. P. Zvonkova, Sovremennyj brak i svad'ba sredi krest'jan Tambovskoj gubernii, in: Sbornik svedenij dlja izucenija byta sel'skogo naselenija Rossii, Lief. 1, Moskau 1 8 8 9 , S. 8 0 , 8 7 ; F. ll'inskij, Russkaja svad'ba v Belgorodskom uezde, Kremenec 1 8 9 3 , S. 1 f f . ; P. Giljarovskij, Zenit'ba i zamuz'e, A r c h i v Geograficeskogo obscestva SSSR (Archiv G O ) , razrjad 4 8 , op. 1, d. 9 0 , 1. 7.

146

noch der Frau männliche. Alle Hausarbeit einschließlich der Bedienung des Mannes war Weibersache. Die Feldarbeit dagegen lag in den Händen des Mannes, obwohl sie beispielsweise bei der Einbringung der Ernte ohne die Hilfe der Frau nicht möglich war. Eine normal funktionierende Wirtschaft mußte, um die materiellen Lebensbedürfnisse der Familie zu befriedigen, aus dem Bauern und der Bäuerin bestehen. 4 Die Unmöglichkeit eines ledigen Daseins spielte bei den materiellen Erwägungen bei einer Heirat eine sehr große Rolle. Aus diesem Grunde sahen viele Beobachter des bäuerlichen Lebens in der Ehe einen rein wirtschaftlichen Vertrag und räumten irgendwelchen gegenseitigen Zuneigungen, Emotionen oder anderen- nicht rein materiellen Gesichtspunkten keinerlei Bedeutung ein. Die bäuerliche Ehe basierte tatsächlich nicht auf Neigungen, sondern auf ökonomischen Notwendigkeiten. Die moralische Legitimation der Ehe boten, neben der materiellen Notwendigkeit, die Kinder. Kinder waren im bäuerlichen Verständnis keine Freude oder nicht nur eine Freude, sondern, wie auch die Ehe, eine Notwendigkeit. Aus diesem Grunde waren sie Begründung und Rechtfertigung des ehelichen Zusammenlebens. Kinderlosigkeit betrachteten die Eheleute als großes Unglück. Auch dies ist verständlich. Ohne erwachsene Söhne konnte die bäuerliche Wirtschaft niemals wirklich wohlhabend werden; ohne ihre Arbeitskraft konnte sie im besten Falle eine mittlere Stellung erwirtschaften. Die Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 änderte daran nichts. Auch nach dieser Zeit gerieten kinderlose Eltern im Alter oft in tiefe Not. Die ethischen und juristischen Normen der russischen Dorfgemeinde (obscina) geboten dem Sohn, für den Unterhalt der alten und kranken Eltern zu sorgen, und der Tochter, sie zu pflegen und ihnen Trost zu spenden. Und so war es auch tatsächlich. In der Zeit der Leibeigenschaft war diese allgemeine Anschauung auch im „gemeinen Recht" fixiert und wurde von den Gutsherren gefördert. Die Dorfgemeinde und der Gutsherr zwangen im äußersten Falle nachlässige Söhne, ihre Pflicht zu erfüllen. In der Zeit nach der Aufhebung der Leibeigenschaft wurde das staatliche Recht zum Hüter der Interessen der Eltern. In den Gerichtsbezirken, in denen Klagen der Eltern gegen ihre Kinder registriert wurden, erhielten Söhne Arreststrafen von einigen Tagen und wurden schließlich so gezwungen, ihren Verpflichtungen gegenüber den Eltern nachzukommen. 5 Die Sorge um das Alter also zwang die Bauern, Kinder zu haben. Wieviel Kinder aber meinte er besitzen zu müssen für ein sorgenfreies Alter? Mindestens wohl drei, wie verschiedene Sprichwörter und Redensarten der, Bauern belegen. Aber die ungefähr gleiche Wahrscheinlichkeit der Geburt einer Tochter und eines Sohnes vorausgesetzt, waren für drei Söhne durchschnittlich sechs Kinder notwendig. Diese untere Grenze, der Kinderzahl ist nicht aus der Luft gegriffen, sondern sie war fest gegründet aus den Erfahrungen des bäuerlichen Lebens. Nach den Berechnungen der Demographen betrug die Wahrscheinlichkeit des Mannes, das 40. Lebensjahr zu erreichen - den Zeitpunkt also, von dem an er von seinem alten Vater benötigt wurde - 26 Prozent bis

4

5

10*

P. M. Bogaevskij, Zametki o juridiceskom byte krest'jan Sarapul'skogo uezda Vjatskoj gubernii, i n : Sbornik svedenij dlja izucenija byta krest'janskogo naselenija Rossii, Lief. 1, Moskau 1 8 8 9 , S. 1 2 ; Zvonkova, Sovremennyj brak, S. 8 7 . V . N. Dobrovol'skij, Smolenskij etnograficeskij sbornik, Teil 2, S t Petersburg 1 8 9 4 , S. 3 3 3 f . ; F. O. Pokrovskij, O semejnom polozenii krest'jainskoj zensciny v Kostromskoj gubernii po dannam volostnogo suda, in: Z i v a j a starina, Bd. 6, St. Petersburg 1 8 9 6 , Teil 1 , S. 4 7 1 f .

147

4 2 Prozent. 6 D i e Bauern wußten auch ohne mathematische Berechnungen

aufgrund

von Erfahrungen, daß durchschnittlich nur einer von drei Söhnen zu dem Alter heranwuchs, in dem er seinen alten E l t e r n eine Hilfe sein konnte. Auch die Regierung wußte dies: In der Zeit vor der Aufhebung der Leibeigenschaft wurden laut Gesetz Rekruten nur aus den Familien genommen, die mehr als drei Söhne hatten.

.

D e r russische B a u e r des 19. J h . wünschte sich also viele K i n d e r , mindestens sechs; nur so konnte er auf einen befriedigenden Zustand seiner Wirtschaft, auf Anerkennung innerhalb der dörflichen Gemeinschaft und auf ein sorgenfreies Alter hoffen.

Dies

alles bedeutet aber nicht, daß unter den Bauern eine bewußte Geburtenplanung existierte, d. h., d a ß die Ehepartner versuchten, die Zahl der K i n d e r auf sechs zu beschränken. E i n e gezielte Einschränkung der Geburtenzahlen wird auch zu Beginn des 20. J h . kaum

existiert

haben. D i e

künstlichen Schwangerschaftsabbruch

Bauernfrauen

nahmen

selbstverständlich

keinen

vor, sie kannten in der Mehrheit nicht einmal

diese Möglichkeit. Ü b e r solche D i n g e hörte nur, wer in der Stadt lebte, auf dem D o r f e des 19. J h . und zu Beginn des 2 0 . J h . gab es das sehr selten. 7 A b e r auch über empfängnisverhütende Mittel wußte der B a u e r nichts. Vielleicht die einzige Methode, deren er sich zur .Verzögerung der nächsten Schwangerschaft bediente, war die künstliche

Verlän-

gerung der Stillzeit. D a s Ergebnis war die fast ständige Schwangerschaft der Frauen. 8 D i e Bauern hielten dies für Gottes W i l l e n , denn die orthodoxe Kirche pries den K i n derreichtum als gottgefälliges W e r k und verdammte nicht nur die

Schwangerschafts-

unterbrechung, sondern die Kinderlosigkeit überhaupt als schwere Sünde. „Wer keine K i n d e r hat, lebt in Sünde" hieß es. D i e Kinderzeugung war die moralische Legitimation für das fleischliche Vergnügen, ohne K i n d e r war die E h e demzufolge sündhaft. Dieses D o g m a war fest verwurzelt im D e n k e n des russischen B a u e r n . O b w o h l also der Kinderreichtum wie eine Naturgewalt wirkte, entsprach er durchaus den Interessen der Bauern und ihren moralischen Vorstellungen, und er wurde von der russisch-orthodoxen K i r c h e geheiligt und als moralische Pflicht betrachtet. Hatte aber eine Bauernfamilie über sechs K i n d e r , entsprach dann das Ideal des Kinderreichtums noch den materiellen Möglichkeiten? D i e materiellen Möglichkeiten eines B a u e r n waren in der T a t nicht sehr groß, selbst eine wohlhabende Bauernwirtschaft verfügte nicht über beliebig große Reserven. Jedoch war der Unterhalt der K i n d e r nicht aufwendig. D i e Ausbildung erforderte keine besonderen Mittel. D i e große Mehrheit der B a u e r n kinder erhielt bis zum Beginn des 20. J h . , als der allgemeine Elementarunterricht eingeführt wurde, keinerlei Ausbildung. In den sechziger Jahren des 19. J h . zählte man unter der ländlichen Bevölkerung 5 bis 6 Prozent Schreibkundige, im J a h r e 1897 bis 17 Prozent und 1 9 1 4 zwischen 2 4 und 2 5 Prozent. 9 Auch Ernährung und K l e i d u n g er6

7

S. A. Novosel'skij, Smertnost' i prodolzitel'nost' zizni v Rossti, Petrograd 1 9 1 6 ; Z. V. Tutycbina, O tablicach smertnosti v dorevoljucionnoj Rossii, Diss. Moskau 1 9 5 6 . F. V. Giljarovskij, Issledovanija o rozdenii i smertnosti detej v Novgorodskoj gubernii, in: Zapiski R G O po otdeleniju statistiki, Bd. 1, St. Petersburg 1 8 6 6 , S. X I , I V ; G. P. Sinkevic, Vologodskaja krest'janka i ee rebenok, Moskau/Leningrad 1 9 2 9 , S. 4 6 ; A. O. Afinogenov, Zizn' zenskogo naselenija Rjazanskogo uezda v period dctorodnoj dejatel'nosti zensciny i polozenie dela akuserskoj pomosci etomu naseleniju, St. Petersburg 1 9 0 3 , S. 5 7 .

3

Giljarovskij, Zenit'ba i zamuz'e, 1. 3 . ; M. Ja. Fenomenov, Sovremennaja derevnja. Opyt kraevedceskogo obsledovanija odnoj derevni. D . Gadysi Valdajskogo u., Novgorodskoj gub., in: Staryj i novyj byt, Teil 2, Moskau/Leningrad 1925, S. 91.

9

A. G. Rasin, Naselenie Rossii za 1 0 0 let 1 8 1 1 - 1 9 1 3 gg. Statisticeskie ocerki, Moskau 1 9 5 6 , S. 2 8 9 , 2 9 3 , 295.

148

forderten keinen großen A u f w a n d , dagegen begannen die Bauernkinder schon früh, mit sieben bis acht Jahren, den Eltern zu helfen. M i t 16 Jahren waren die Jugendlichen schon vollwertige Arbeitskräfte und trugen selbst zum Unterhalt der Familie bei. 1 0 W e n n man berücksichtigt, d a ß fast jedes zweite Kind einer Bauernfamilie das zweite Lebensjahr nicht überlebte und d a ß mit dem Wachsen der Geburtenrate auch die Sterberate stieg, kann man mit Sicherheit sagen, d a ß unter den konkreten Bedingungen des 19. und beginnenden 20. Jh. der Kinderreichtum den Bedürfnissen der bäuerlichen Familie entsprach. D a s bäuerliche Ideal des Kinderreichtums entsprach andererseits insgesamt auch den Möglichkeiten. . . Die Ansichten der Bauern über Ehe und Kinder befanden sich in Übereinstimmung mit den Vorstellungen über das heiratsfähige Alter, über Ehescheidung, eine neuerliche Eheschließung, über den W i t w e n s t a n d und uneheliche Kinder. D a die Ehe eine gottgefällige Sache w a r und im Ganzen dem Bauern sympathisch und nutzbringend erschien, strebte er danach, seine Kinder früh zu verheiraten; die Mädchen mit 16 bis 18 Jahren, die Jungen mit 18 bis 20 Jahren. 1 1 Bis zur Einführung der allgemeinen militärischen Dienstpflicht im J a h r e 1874 wurden Mädchen, die älter waren als 20, schon als sitzengebliebene Jungfrauen betrachtet und Burschen mit 23 bis 25 Jahren als alte Junggesellen. Danach, als a l l e gesunden Bauernjungen mit 21 Jahren zur A r m e e eingezogen wurden und dort drei J a h r e blieben, stieg das Eheschli^ßungsalter bis zum Beginn des 20. Jh. etwas an. 1 2 Die Männer heirateten im allgemeinen nach dem A r m e e dienst mit 24 bis 25, und die Mädchen wurden mit 21 bis 22 Jahren noch nicht zu den alten Jungfern gerechnet. 1:1 Es ist interessant festzustellen, d a ß das Steigen des Heiratsalters bei den Männern auch bei den Frauen die gleiche Tendenz hervorrief. Die Bauern zeichneten sich schon immer durch praktisches Denken aus. Hinter dem Bestreben, den Sohn so früh w i e möglich zu verheiraten, stand nicht zuletzt das Interesse, eine zusätzliche Arbeitskraft zu erhalten. Der Sohn aber wünschte sich eine Hausfrau, um bald zu den Männern gerechnet zu werden. W a s aber drängte die Braut und deren Eltern zu einer frühen Ehe? Auf der einen Seite w a r die Familie der Braut daran interessiert, eine Arbeitskraft zu behalten. Nicht ohne Grund wurden die Mädchen im W i n t e r verheiratet, wenn die Ernte eingebracht w a r . Jedoch spielten hier auch nichtökonomische Gesichtspunkte eine Rolle. Die Mädchen fürchteten, sitzengelassen zu werden, die Eltern aber fürchteten vor allem die Schande, die Tochter könne sich vor der Eheschließung versündigen. Denn diese Schande - und was für eine Schande! - träfe nicht sie allein, sondern auch die Eltern und die gesamte Familie. Im Dorfe fände ein so „gefallenes" Mädchen niemals einen Mann, und auf immer w ä r e der gute Name der Familie befleckt. 1 4 So stimmten im allgemeinen Bräutigam, Braut und die Eltern der Braut die letzten hatten das entscheidende W o r t - in ihrem Bestreben überein. 10

11

n

1:1

14

A. N. Minch, Narodnye obycai, obrjady, sueverija i predrassudki krest'jan Saratovskoj gubernii, St. Petersburg 1 8 9 0 , S. 8 1 . Im 19. und zu Beginn des 20. Jh. gestattete das Gesetz den Männern vom 1 8 . und den Frauen vom 1 6 . Lebensjahr an die Eheschließung; im 1 8 . Jh. den Männern vom 15., den Frauen vom 13. Lebensjahr an. Die Dienstzeit wurde innerhalb der Jahre 1 8 7 4 - 1 9 ^ 4 mehrfach geändert, sie schwankte zwischen 3 und 5 Jahren; der größte Teil der Bauern aber diente 3 Jahre. O. P. Semenova-Tjan-Sanskaja, Zizn' Ivana, in: Zapiski imper. R G O po otdcleniju etnografii, Bd. 39, St. Petersburg 1 9 1 4 , S. 4. Zvonkova, Sovremennyj brak, S. 68 f . ; M. Uspemkij, Marincel'skaja krest'janskaja svad'ba, in: Zivaja Starina, Jg. 7, St. Petersburg 1 8 9 8 , Lief. 1, S. 83.

149

D i e Stellung der E h e im bäuerlichen Weltbild bestimmte auch ihre scharfe Ablehnung von Ehescheidung und von außerehelichen Kindern. E i n e Scheidung war in den Augen der Bauern und der orthodoxen Kirche eine schwere Sünde, d a sich Mann und Frau einander Treue bis zum T o d e versprochen hatten. N u r in äußerst seltenen F ä l len - wenn einer der Ehepartner die Familie und das Dorf verlassen hatte, bei Verbannung nach Sibirien, nach 1861 auch bei körperlicher Mißhandlung der Frau durch den Mann - entschlossen sich die Bauern zur Scheidung. Zuweilen ergab es sich, daß, wenn die höheren Kirchenbehörden eine Scheidung behinderten, der Gemeindegeistliche die E h e kraft seines Amtes annullierte. 1 5 Aber natürlich geschah das nur im äußersten Fall. Uneheliche K i n d e r - d. h. Kinder, die von einer unverheirateten Frau zur Welt gebracht und nicht durch eine Eheschließung nachträglich legitimiert wurden - standen für den Bauern außerhalb des Gesetzes. Ihr L o s war nicht beneidenswert: Ohne Familie, ohne Verwandte, ohne H i l f e und ohne Unterstützung, in der Regel getrennt von der Mutter, waren sie die Parias der dörflichen Gesellschaft. Weder vom Staat noch von der Dorfgemeinde erhielten sie irgendeine Unterstützung, und auch der Vater war nach dem Gesetz nicht verpflichtet, ein uneheliches K i n d zu unterhalten. D i e allgemein verbreiteten Ansichten über die Ehescheidung und über uneheliche K i n d e r hatten eine strenge Ordnung im D o r f e zur Folge, sie waren ein ernst zu nehmender Hinderungsgrund für außereheliche Beziehungen. E i n Bauer konnte nicht mit der Scheidung und der Gründung einer neuen Familie rechnen, solange der Ehepartner lebte, selbst dann nicht, wenn dieser schwer krank oder unfruchtbar w a r ; auch uneheliche Kinder waren kein Argument für eine Scheidung und eine zweite E h e . D i e Frau aber, die ein uneheliches K i n d geboren hatte, traf die Verachtung der Dorfbewohner und Armut. O f t war sie gezwungen, das Dorf zu verlassen und in die Stadt in ein öffentliches H a u s zu gehen. E i n e zweite Eheschließung nach dem T o d e des Partners wurde dagegen nicht grundsätzlich abgelehnt. Allerdings stand man ihr mit Vorbehalten gegenüber, die von der abergläubischen Furcht getragen waren, auch die neue E h e würde nicht lange dauern oder würde unglücklich sein. „ G o t t hat uns einmal gestraft, er wird auch ein zweitesmal strafen", sagte eine bäuerliche Redensart. E i n e dritte E h e wäre im dörflichen Milieu zweifellos streng verurteilt worden, es hieß: „ D i e erste Frau ist von G o t t , die zweite vom Menschen, die dritte - vom T e u f e l . " D i e Armut überwand die Furcht, ein zweites oder drittes M a l zu heiraten. Aber es gab noch einen anderen Hinderungsgrund: Durch den hohen G r a d der Verheiratung fand ein Verwitweter schwer einen Altersgenossen ohne Familie. Ehen zwischen Partnern unterschiedlichen Alters wurden jedoch ungern eingegangen. Infolge des Frauenüberschusses in den heiratsfähigen Altersgruppen waren für einen Mann die Möglichkeiten größer, zum zweiten M a l eine Familie zu gründen. Nicht zufällig bezieht sich die Mehrzahl der Sprichwörter und Redensarten über die Witwenschaft auf die Frauen. Versucht man die Anschauungen des russischen Bauern über die Familie zusammenzufassen, kann man folgendes sagen. E h e und Kinder waren heilige Güter. J e eher der rechtgläubige Christ in die E h e trat, desto besser. Unverheiratet zu bleiben galt als unwürdig. K i n d e r waren ein Geschenk Gottes, die Garantie für ein sorgenfreies Alter und eine H i l f e in der Wirtschaft. Als ideale Kinderzahl galt sechs oder mehr. Durch irgendwelche Mittel der Schwangerschaft entgegenzuwirken galt als Sünde. D i e K i n d e r 15

V. I. Semevskij, Domasnij byt i nravy krest'jan vo vtoroj polovine X V I I I v., Ustoi 1882, Nr. 2,S. 77.

150

wurden geboren und starben, wie es Gott gefiel. Eine Scheidung war praktisch ausgeschlossen. Im Falle des Todes eines der Ehepartner aber, wenn es schwierig wurde, die Familie zu ernähren und die Wirtschaft zu führen, galt eine zweite Ehe als erwünscht und nutzbringend. Die Gesamtheit dieser Anschauungen bilden ein sozialpsychologisches Verhaltensmuster, d. h. ein Modell des vom Standpunkt des Bauern aus idealen Verhaltens. Die Vorstellungen der Bauern über die Familie flössen in die Normen des allgemeinen Rechts, in die ethischen Normen und die verschiedenen Verhaltensmuster ein. Der Entstehung und Entwicklung dieser Vorstellungen und der aus ihnen resultierenden Normen liegt ein ganzer Komplex von sozialpsychologischen Faktoren zugrunde. Einige der wichtigsten dieser Faktoren sind: die Unmöglichkeit der Existenz der bäuerlichen Wirtschaft außerhalb des Familienrahmens; die hohe Sterblichkeit; das Fehlen einer Altersversorgung durch die Gemeinde oder den Staat. Zu den Normen der Familie existierte für den Bauern (das gilt für den Mann wie für die Frau) keinerlei Alternative, diese Normen waren ein kategorischer Imperativ, ihre Verletzung stellte den Betreffenden außerhalb der Gemeinschaft, er verfiel dem Scherbengericht, der Selbstjustiz. In bezug auf das demographische Verhalten wie auf das soziale Verhalten im allgemeinen läßt sich sagen, daß der einzelne beherrscht wurde durch die Normen der Dorfgemeinschaft. Die Dorfgemeinschaft war eine .kleine soziale Struktureinheit, die auf den persönlichen Kontakten der Mitglieder, die einander kannten, beruhte. Dies gab ihr ein uneingeschränktes Recht und die Möglichkeit, durch ein engmaschiges Netz der sozialen Kontrolle das Individuum zu regulieren. 16 Schließlich bleibt noch die Frage, ob sich im Verlaufe des 19. und zu Beginn des 20. Jh. Änderungen im sozialpsychologischen Modell des demographischen Verhaltens^ der Bauernschaft feststellen ließen und ob dieses Modell territorial differenziert war. Man kann davon ausgehen, daß das geschilderte Verhaltensmodell, welches sich lange vor dem 19. Jh. herausgebildet hatte, einheitlich für alle russischen Bauern war und während der hier behandelten Periode keine grundlegenden Veränderungen erfuhr. Gewisse Veränderungen sind lediglich in der Zeit der Aufhebung der Leibeigenschaft im Umkreis der Hauptstadt und anderer großer Städte feststellbar. Diese Veränderungen wurden durch die Saisonarbeit^ der Bauern in den Städten verursacht. Durch sie drang die städtische Kultur und Lebensweise bis zu einem gewissen Grad in die dörfliche Welt ein. Allerdings besaßen in den Jahren 1891-1900 im gesamten europäischen Rußland nur 5,3 Prozent aller Bauern einen Paß und damit die Möglichkeit, als Saisonarbeiter in die Stadt zu gehen. 17 Der übereinstimmenden Meinung der Zeitgenossen zufolge begannen neue Tendenzen erst gegen Ende des 19. Jh. in die bäuerliche Familienstruktur einzudringen. Noch zu Beginn der zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts hatten sich die traditionellen Verhaltensweisen auf dem Dorfe nicht prinzipiell gewandelt. Das Modell des demographischen Verhaltens des russischen Bauern im 19. und zu Beginn des 20.. Jh. läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: 1. Frühe Eheschließung und eine hohe Eheschließungsziffer pro Kopf der Bevölkerung; 2. Eine geringe Zahl von Witwen und Witwern und eine verschwindend geringe Häufigkeit von Eheschei15

A. F. Kistjakovskij, K voprosu o cenzure nravov u naroda, in: Zapiski imper. R G O po otdeleniju etnografii, Bd. 8, St. Petersburg 1 8 7 8 . Materialy vysocajse uciezdennoj 1 6 nojabrja 1 9 0 1 g. Komissii po issledovaniju voprosa o dvizenii s 1 8 6 1 g. po 1 9 0 0 g. blagosostojanija sel'skogo naselenija Evropejskoj Rossii, Teil 3, St. Petersburg 1 9 0 3 , S. 226.

151

düngen; 3. D i e Fruchtbarkeit der Frauen und die Geburtenrate entsprachen dem natürlichen M a x i m u m ; 4. D i e Geburtenrate unterlag innerhalb des hier behandelten Zeitraumes keinen zeitlichen oder territorialen Schwankungen. D i e s e Thesen sollen im folgenden anhand von statistischen Angaben aus dem 19. und beginnenden 20. J h . überprüft werden. Umfassende statistische Daten über den Familienstand liegen seit den sechziger Jahren des 19. J h . vor. N a c h diesen Angaben lag das mittlere Alter der Eheschließung bei den Männern bei 25,1 bis 25,4 und bei den Frauen bei 21,5 bis 21,9 Jahren (diese Statistik umfaßt sowohl die ländliche als auch die städtische Bevölkerung). 65 bis 69 Prozent der Männer und 84.bis 86 Prozent der Frauen über 25 Jahre waren verheiratet. Bei der orthodoxen Bevölkerung lag das Alter der Eheschließung niedriger als bei den anderen Konfessionen, die Moslems ausgenommen. D i e städtische Bevölkerung heiratete im Durchschnitt drei Jahre später. Weiter ist festzustellen, daß das Eheschließungsalter von Norden nach Süden und von Westen nach Osten niedriger wurde und in den Industriegouvernements Höher lag. Auch innerhalb eines Gouvernements, Bezirks oder Kreises sind Unterschiede festzustellen. Als Beispiel seien zwei D ö r f e r des Bezirks Voronez angeführt: Novozivotinnoe und Mochovatka. In den Jahren 1 8 9 1 - 1 9 0 0 lag im ersteren das mittlere Alter der Eheschließung bei den Frauen bei 20,1 und bei den Männern bei 23 J a h r e n ; im letzteren bei 19,6 und 20,5 Jahren. Novozivotinnoe war eine Gewerbesiedlung und Mochovatka eine rein ländliche Siedlung. 1 8 In der Zeit vor 1861 kam es in den überwiegend ländlichen Gouvernements nicht selten vor, daß Mädchen unter dem- durch das Gesetz vorgeschriebenen Alter von 16 Jahren verheiratet wurden. D i e Bauern dieser Gouvernements wandten sich oft an die geistliche Obrigkeit, um die für eine solche Eheschließung notwendige Erlaubnis einzuholen. In der Regel wurde dabei die Begründung angeführt, man brauche für die Wirtschaft eine Arbeitskraft bzw. eine Hausfrau. 1 9 Vor Aufhebung der Leibeigenschaft traten den Angaben der Korrespondenten der R G O zufolge die Bauern, insbesondere die Gutsbauern, in sehr jungen Jahren in die E h e : die Mädchen überwiegend bis zum 18., die Jungen bis zum 20. Lebensjahr. 2 0 Sowohl in den einem Gutsherrn gehörenden als auch in den staatlichen Dörfern gab es einen weiteren sehr einfachen G r u n d für die frühe Eheschließung: Abgaben bezahlten nur die verheirateten Männer, sie allein trugen die gesamte Steuerlast; unverheiratete Bauern waren demzufolge in den Augen der Besitzer Hühner, die keine Eier legten. D a der Gutsherr mehr Möglichkeiten hatte, auf seine Leibeigenen einzuwirken, lag die Eheschließungsziffer bei den Gutsbauern in der Regel höher. Im Bezirk L u g a in Ingermanland lag die Eheschließungsziffer pro 1000 Einwohner im Alter über 16 Jahre bei den Gutsbauern bei 21 Promille, bei den Staatsbauer^i bei 19,6 Promille und bei den Domänenbauern bei 18 Promille. 2 1 Auch Landärzte berichten, daß unter den Bauern häufig Ehen vor dem 20. Lebens18

A. I. Singarev,

19

Afinogenov,

Zizn' z e n s k o g o naselenija, S. 30.

Giljarovskij,

Zenit'ba i zamuz'e, 1 . 3 ; A. G. Ponomarev,

20

V y m i r a j u s c a j a d e r e v n j a , St. Petersburg 1 9 0 7 , S. 189. O dvizenii naselenija p o

Bogorodskomu

uezdu M o s k o v s k o j gubernii za 1 8 4 7 - 1 8 5 6 gg., Archiv G O , r. 22, d. 7, 1. 11 f . ; 1. Bratoljubov,

Za-

p i s k a o dvizenii n a r o d o n a s e l e n i j a p o L u z s k o m u uezdu S.-Peterburgskoj gubernii za 1 8 4 1 - 1 8 5 0 gg., Archiv G O , r. 35, d. 9, 1. 37 f . ; A. Ltikanin,

O dvizenii n a r o d o n a s e l e n i j a po S o l i k a m s k o m u uezdu

za 1 8 4 1 - 1 8 5 0 gg., i n : Vestnik imper. R G O , Teil 13, St. Petersburg 1 8 5 5 , S. 2 6 7 . 21

V . V. Selivanoo,

152

Socinenija, B d . 2, M o s k a u 1 9 0 2 , S. 112.

jähr geschlossen wurden, so d a ß oft die Partner die volle physische und geschlechtliche R e i f e nicht erlangt hatten. So w u r d e bei ungefähr 8 Prozent der Neuverheirateten von 1874 bis 1901 der Vollzug der Ehe wegen mangelnder R e i f e verzögert. 2 2 Auf das späte Eintreten der Geschlechtsreife bei den Bauern verweisen Landärzte häufig. 2 3 Einem dieser Berichte zufolge w a r bei 1 0 - 1 7 Prozent der Mädchen im 21. Lebensjahr die Menstruation noch nicht eingetreten. 2 ' 1 Die frühe Eheschließung und die ablehnende Haltung der Bauern zur Ehelosigkeit hatte eine hohe Eheschließungsziffer zur Folge. Von 1 8 0 1 - 1 8 6 0 lag die Eheschließungsziffer pro 1000 Einwohner im Alter über 15 J a h r e im europäischen R u ß l a n d bei 16 Promille, sie schwankte in einzelnen ^ünfjahreszeiträumen von 13 Promille bis 19 Promille. 2 5 In ländlichen Gebieten lag diese Zahl noch höher, wahrscheinlich bei 18 bis 20 Promille. 2 « In der zweiten H ä l f t e der sechziger Jahre zeigten die Eheschließungsziffern eine sinkende Tendenz: Sie betrug von 1861 bis 1865 (auf 1000 Einwohner) 11 Promille, 1871 bis 1875 - 10 Promille, und gegen Ende des Jahrhunderts sank die Eheschließungsziffer auf 9 Promille. W o liegen die Ursachen für diese Tendenz? Und stehen diese Zahlen nicht in Widerspruch zu dem oben Gesagten über die Haltung der Bauern zur Ehe und über die Stabilität der Normen des demographischen Verhaltens? Die Hauptursache für das Sinken der Eheschließungsziffer l a g wohl in der Aufhebung der Leibeigenschaft durch die Reformen des Jahres 1861. Der Gutsherr, der bisher an einer frühen Verheiratung und an der hohen Fruchtbarkeit seiner Leibeigenen interessiert gewesen w a r , hörte jetzt' auf, in die Familienverhältnisse der Bauern einzugreifen. Auch die Tatsache, d a ß das Sinken der Eheschließungsziffer in jenen Gebieten und Gouvernements besonders deutlich w a r , in denen der Anteil der ehemaligen Gutsbauern groß w a r , und umgekehrt dort die Eheschließungsziffern nur geringfügig sanken, wo der Anteil der ehemaligen Gutsbauern gering w a r , scheint diese Vermutung zu bestätigen. In den baltischen Gouvernements betrug der Anteil der ehemaligen Gutsbauern 77 Prozent der Gesamtzahl der Bauern, und dort zeigt sich auch ein deutliches Sinken der Eheschließungsziffer - um 25 Prozent. In den östlichen Gouvernements dagegen w a r der Anteil der ehemaligen Gutsbauern wesentlich geringer, er betrug hier nur 15 Prozent, und hier sank die Zahl der Eheschließungen nur um 9 Prozent. Die übrigen Gebiete rangieren in der Reihenfolge entsprechend dem Anteil der ehemaligen Gutsbauern. Dies zeigt deutlich, d a ß der Hauptinteressent an den frühen Eheschließungen der Gutsherr gewesen w a r . Die Gütsherren zwangen ihre Bauern gewöhnlich zur Eheschließung, ohne deren Neigungen zu einem bestimmten Partner zu berücksichtigen. Auch Waisen, Kranke oder schlecht angesehene Bauern - mit einem Wort, auch diejenigen, die nicht damit rechnen konnten, einen Ehepartner zu finden, verheiratete der Gutsherr kraft seiner G e w a l t . In solchen Fällen gab er - bewogen durch wirtschaftliche Überlegungen - zuweilen eine materielle Beihilfe. Als der Gutsherr schließlich durch die Verhältnisse gehindert w u r d e , weiter in die Heiratsangelegenheiten einzugreifen, verlor ein bestimmter Teil der Bauernschaft die Möglichkeit, eine Ehe einzugehen. Auch dies trug zum Sinken der Ehe-- M a t e r i a l y vysocajse ucrezdennoj . . . , Teil 1, S. 3 2 f. L. Bogdanov, Sanitarnye ocerki Posechonskogo uezda, J a r o s l a v l ' 1 8 8 1 , S. 1 5 .

23

24 20

Zemskij vrac, 1 8 9 0 , N r . 5 2 , S. 8 2 4 ; Z d o r o v ' e , 1 8 7 4 / 7 5 , N r . 1 0 , S. 2 4 4 . Ju. E . Jansons, Sravnitel'naja statistika naselenija, St. Petersburg 1 8 9 2 , S. 3 3 9 . A. Nalimov, O dvizenii narodonaselenija po N o v o - L a d o z s k o m u uezda, za desjatiletie 1 8 4 6 - 1 8 5 5 gg., in: V e s t n i k imper. R G O , Teil X X X , St. Petersburg 1 8 6 0 , otd. 2, S. 5 7 f f .

153

schließungsziffer bei. D a s Gesagte bezieht sich - in allerdings geringerem Maße - auch auf die anderen Kategorien von B a u e r n : auf die Staatsbauern, Domänenbauern und Kronbauern. D i e Verwaltung ergriff aus den gleichen Gründen wie der Gutsherr Maßnahmen zur Stimulierung der Eheschließungen unter den Bauern. Jedoch ging die E i n mischung der Staatsbeamten in die Familienangelegenheiten der Bauern nicht so weit wie die der Gutsbesitzer - besonders derjenigen, die selbst auf dem L a n d e lebten. Aus diesem G r u n d e war das Sinken der Eheschließungsziffer bei den Staats-, Krön- und Domänenbauern weniger deutlich. D i e Bauernbefreiung von 1861 brachte die Eheschließungsziffern bei allen Kategorien von Bauern auf ein natürliches Maß, welches freilich nach wie vor das höchste in E u ropa war. Einen gewissen E i n f l u ß auf das Sinken der Eheschließungszahlen übte auch das E i n dringen gewerblicher Arbeit in die dörfliche Welt aus, insbesondere die Saisonarbeit der Bauern in der Stadt. Spezielle Erhebungen, die ein L a n d a r z t in den achtziger Jahren des 19. J h . anstellte, ergaben, daß das Eindringen gewerblicher Arbeit zum Sinken der Eheschließungsziffer beitrug. In gewerblichen Siedlungen betrug die Eheschließungsziffer pro 1000 Einwohner 8,4 Promille, in ländlichen Siedlungen dagegen 9,2 Promille. 2 7 D i e Schlußfolgerungen des Autors, die auf statistischen Daten des Gouvernements K o s t r o m a beruhen, werden auch durch D a t e n aus anderen Gouvernements bestätigt. Gegen E n d e des 19. Jh. war in den nördlichen und zentralen Gebieten die Saisonarbeit der Bauern in der Stadt verbreitet, die Eheschließungsziffer betrug hier 9 Promille. In den vorwiegend landwirtschaftlichen Gebieten, in der Ukraine, im Südwesten, in den südlichen Steppengebieten, im Osten betrug sie dagegen 9 bis 10 Promille. Aus dem Eindringen der Saisonarbeit erklärt sich auch ein gewisses Sinken der Eheschließungszahlen vor 1861 in jenen Gouvernements, in denen es zwar keine Gutswirtschaft, aber ein intensives Kleingewerbe g a b : in Archangel'sk, Olonec, V o l o g d a u. a. D e r dritte Faktor schließlich, der zum Sinken der Eheschließungsziffern beitrug, war die zunehmende Verarmung und soziale Differenzierung auf dem D o r f e nach 1861. D i e Eheschließungszahlen veränderten sich, wie Spezialuntersuchungen zeigen, in direkter Relation zu den Schwankungen der Ernteerträge und zu den Veränderungen der ökonomischen Situation der Bauernwirtschaften. 2 8 Weiter ist festzustellen, daß aus der insgesamt außerordentlich hohen Eheschließungsziffer, dem frühen Eheschließungsalter, der Unkenntnis von empfängnisverhütenden Mitteln und der positiven Einstellung zum Kinderreichtum eine hohe Geburtenrate auf dem D o r f e resultierte. Im 19. und zu Beginn des 20. J h . betrug die Geburtenhäufigkeit der orthodoxen Bevölkerung unter Einbeziehung der illegitimen Geburten im europäischen Rußland ungefähr 50 Promille. Auf dem L a n d e lag sie höher als in der Stadt. So betrug die Geburtenziffer zwischen 1861 und 1870 auf dem L a n d e 52 Promille, von 1881 bis 1890 - 50,5 Promille, von 1891 bis 1900 - 49 Promille. Bei einem Geburtenkoeffizienten von über 50 Promille spricht man im allgemeinen von einer natürlichen, 27

D.

N.

Zbankov,

Vlijanic otchozich

po dannym 1866-1883, Kostroma 28

V.

V.

Trubnikov,

Rezul'taty

promyslov

na dvizenie narodonaselenija

1 8 8 7 , S . 4 0 f.,

narodnych

perepisej

v

Sbornik Statisticeskich svedenij o Rossii, hg. v. R G O ,

kanin,

gubernii

Ardatovskom

uezde

Simbirskoj

gubernii,

B d . 3, St. P e t e r s b u r g 1 8 5 8 , S. 4 1 5 ; A

Naselenie O c h a n s k o g o uezda Permskoj gubernii p o poslovijam, vozrastam i semejnomu

z e n i j u p o d a n n y m X r e v i z i i , in-, Z a p i s k i i m p e r . R G O 1 8 5 1 , S. 206.

154

Kostromskoj

108.

p o otdeleniju statistiki, Teil 5, St.

in:

Lupolo-

Petersburg

unkontrollierten Geburtenhäufigkeit. 29 Von 1896 bis 1897 betrug die Geburtenziffer unter den verheirateten Bauernfrauen im Alter von 15 bis 50 Jahren im europäischen Rußland 307 Promille, die außereheliche 13,1 Promille, das macht zusammen 320 Promille. 30 Das bedeutet, daß jede verheiratete Bäuerin 35 Jahre lang in jedem dritten Jahr ein Kind bekam, durchschnittlich also insgesamt 1 0 - 1 1 Kinder. Von Landärzten angestellte lokale Erhebungen bestätigen diese Zahlen - 10 bis 11 Kinder bei verheirateten Frauen und "6 bis 7 Kinder alle Frauen insgesamt. Von 1871 bis 1915 hatten die Bäuerinnen des Gebietes von Vologda, einschließlich der unverheirateten, durchschnittlich 6,3 Kinder und von 1921 bis 1925 - 6,4. : i l In der zweiten Hälfte des 19. Jh. lag die Geburtenzahl pro Bäuerin einschließlich der unverheirateten im Rjazaner Gouvernement bei 7,68, im Kostromer Gouvernement bei 7,98, im Jaroslaver Gouvernement bei 8, im Voronezer Gouvernement bei 8,9. :!2 Eine Erhebung ergab, daß die Geburtenzahl in den Jahren 1 8 9 0 - 1 8 9 9 - 5,34 Kinder pro Bäuerin betrug. 33 Jedoch widersprechen diese Zahlen nicht dem Obengesagten: Ein großer Teil der befragten Frauen lebte unter anderen sozialökonomischen Bedingungen als die Bauern der vorrevolutionären Periode. Diese Bedingungen beeinflußten auch die Geburtenziffern. Tabelle 1:

Das natürliche Wachstum der Bevölkerung im europäischen Teil Rußlands von 1801 bis 1913 (in Promille) 3 4 Jahre

Zahl der Geburten

1801-1810 1811-1820

43,7 40,0

1821-1830 1831-1840 1841-1850 1851-1860 1861-1870 1871-1880 1881-1890 1891-1900 1901-1910

42,7 45,6 49,7 52,4 50,2 50,4 50,4 49,2 46,8

1911-1913

43,9

Natürlicher Zuwachs

27,1 26,5 27,5 33,6 39,4 39,4 36,9 36,4 35,5 34,2 30,3 27,1

Geschlossene Ehen

16,6 13,5 15,2 12,0 10,3 13,0 13,3 14,0

10,0 8,4 10,3

10,7 10,4 9,5

14,9 15,0 16,5 16,8

9,1 9,0 8,5 8,0

9,1 10,4

Zahl der Geburten

4,4 4,8 4,2 5,1 4,8 4,9 4,9 5,3 5,5 5,5 5,5 5,5

Istorija odnogo pokolenija, Moskau 1 9 6 8 , S. 7 0 f., 86 f.

29

B. C. Urlanis,

30

S. A. Novosel'skij,

31

Sinkevic,

32

Zahl der Sterbefälle

Obzor glavnejsich dannych po demografii, .Petrograd 1 9 1 6 , S. 4 6 .

Vologodskaja krest'janka, S. 41 f.

K. F. Slav']anskij, K uceniju o fiziologiceskich projavlcnijach polovoj zizni zensciny-krest'janki, in: Zdorov'e, 1 8 7 4 / 7 5 , Nr. 10, S. 2 1 5 ; S. Olichov, uezda, in: Zemskij vrac, 1 8 9 0 , Nr. 5 2 ; N.

K voprosu o plodovitosti krest'janok Kiniscmskogo

Sokolov,

K charakteristike polovoj dejatel'nosti zen-

sciny-krest'janki severo-vostocnogo ugla Moskovskogo uezda, in: Protokoly i trudy IV Moskovskogo gubernskogo s-ezda vracej, Moskau 1 8 8 0 ; A. I. Singarev,

Polozenic zensciny v krest'janskoj

srede, in: Medicinskaja beseda, 1 8 9 9 , N r . 10, S. 2 8 4 . Dinamika rozdaemosti v SSSR, Moskau 1 9 7 4 , S. 4 4 .

33

R. I. Sifman,

3'*

Quellen: V. I. Pokrovskij,

Vlijanie kolebanij urozaja i chlebnych cen na estestvennoe dvizenie nase-

155

Bekanntlich ergibt sich die durchschnittliche allgemeine Fruchtbarkeit der Frau aus der Beziehung der Zahl der Geburten zur Zahl der geschlossenen Ehen (vgl. Tabelle 1). Von 1'801 bis 1870 kamen auf eine; geschlossene E h e durchschnittlich 4,7, von 1871 bis 1913 - 5,5 Geburten. Eine orthodoxe verheiratete Frau bekam in ihrem Leben in den Jahren 1801 bis 1870 im Durchschnitt 9,4 Kinder, und von 1871 bis 1913 - 11 K i n d e r . Bei den Bäuerinpen liegen diese Zahlen etwas höher. D e r Koeffizient der allgemeinen Fruchtbarkeit betrug im 19. J h . und zu Beginn des 20. J h . mehr als 200 Promille, bezogen auf die Zahl der Ehen über 300 Promille. E i n e verheiratete Bäuerin bekam durchschnittlich 10,5 Kinder. K a n n man diese Zahl als die äußerste natürliche Greiize der Fruchtbarkeit betrachten? Einige Autoren meinen, die Grenze läge bei 30 bis 35 Kindern.'' 5 D i e s e Zahl ergibt sich aus der abstrakten Rechnung, daß eine Frau im äußersten Falle vom 16. bis 50. Lebensjahr jährlich gebären könnte. Jedoch ergibt sich die physische Grenze der Geburtenhäufigkeit nicht nur aus biologischen, sondern auch aus sozialökonomischen Faktoren, aus den Lebensbedingungen, dem kulturellen N i v e a u , dem Charakter der Arbeit, der Ernährung und dem materiellen Wohlstand. Ein weiterer wichtiger Faktor ist das Alter, in welchem Sitten und Gesetze die Eheschließung erlaubten. D i e zu frühe Eheschließung senkte die Fruchtbarkeit. Einen entscheidenden E i n f l u ß hatte auch das Entwicklungsniveau der Sozialhygiene und der Geburtenhilfe. Beispielsweise war es auf dem Dorf bis in die zwanziger Jahre hinein normal, daß die Frauen bis zur Entbindung auf dem Felde oder im H a u s e arbeiteten und sich nach der Entbindung nur 3 bis 5 T a g e erholen konnten.' 6 Für die Entbindung wurde kein Arzt geholt, sondern eine Hebamme, und es wurden bei der P f l e g e . d e r Wöchnerin nur sehr einfache Methoden verwandt. D i e Bedingungen, unter denen die Bäuerinnen gewöhnlich ihre Kinder bekamen, hatten natürlich Folgen für die Fruchtbarkeit. D i e physische Grenze der Gebärfähigkeit war aus diesen Gründen nicht einheitlich, sondern nach sozialen Gruppen unterschiedlich. D i e russischen Bäuerinnen erreichten ihre Geschlechtsreife im Alter von durchschnittlich 1 5 - 1 6 Jahren, dies war jedoch territorial unterschiedlich, es schwankte zwischen 17,7 Jahren in Archangelsk und 15,25 Jahren im Gouvernement Niznij N o v g o r o d , sank also von N o r d e n nach Süden. 3 7 D a s Klimakterium trat bei den Bauernfrauen zu jener Zeit etwa mit 45 Jahren ein, auch wieder unterschiedlich in den verschiedenen Gebieten, zwischen 42 und 47 Jahren. 3 8 Folglich umfaßte die gebärfähige Periode durchschnittlich 29 Jahre. Wie schon bemerkt, trat die Mehrheit der Bauern schon vor dem 20. Lebensjahr in die E h e . D a s mittlere Alter der ersten Eheschließung betrug nach der Bauernbefreiung 20 bis 21 Jahre und in der Zeit vor 1861 18 bis 20 Jahre. D i e strengen Sitten bewirkten, daß uneheliche Kinder auf dem D o r f e sehr selten waren. Landärzte berichteten, daß die Bäuerinnen ihre ersten K i n d e r erst 2 bis 2,5 Jahre lenija, in: V l i j a n i e u r o z a e v i chlebnych cen na nekotorye storony russkogo n a r o d n o g o chozjajstva, B d . 2, St. Petersburg 1 8 9 7 , S. 1 8 2 ; S. A. Novosel'skij,

O b z o r glavnejsich dannych p o d e m o g r a f i i ,

S. 14 f f . ; Voenno-statisticeskij sbornik, L i e f . I V , R o s s i j a , St. Petersburg 1 8 7 1 , S. 51 f f . !o

Sifman,

3(i

Ochanskij uezd Permskoj gubernii. 1 8 5 4 g., Archiv G O , r. 29, op. 1, d. 62, N r . 2 ; Sinkevic,

D i n a m i k a , S . 10^. Volo-

g o d s k a j a krest'janka, S. 56. '' V. S. Gruzdev,

N a c a l o p o l o v o j zrelosti u obitatel'nic R o s s i i v zavisimosti ot vlijajuscich rrä nego

faktorov, in: Z u m a l Russkogo

obscestva n a r o d n o g o z d o r o v ' j a ,

Zizn' z e n s k o g o naselenija, S. 29. !s

Afinogenov,

156

Zizn' zenskogo naselenija, S. 3 7 .

1 8 9 4 , N r . 5, 6, 7 ;

Afinogenov,

nach der Eheschließung bekamen und die letzten bis zum 4 0 . Lebensjahr, also 4 bis 7 J a h r e vor dem K l i m a k t e r i u m . 3 9 D i e schweren Lebensbedingungen und die ständige physische Belastung bewirkten ein vorzeitiges E n d e der gebärfähigen Periode, und

die

frühen Eheschließungen verzögerten die ersten Geburten. D i e s alles bedeutet, d a ß die gebärfähige Periode der verheirateten Bauernfrauen nicht mehr als 2 0 J a h r e u m f a ß t e . Innerhalb dieser Zeit bekamen sie 10 bis 11 K i n d e r . D i e Pause zwischen den Schwangerschaften betrug also durchschnittlich 1 J a h r und drei Monate. V o m 20. L e b e n s j a h r an war die F r a u eine „Gebärmaschine", die pausenlos K i n d e r produzierte/' 0 E i n i g e besonders fruchtbare Frauen hatten bis zu 2 0 K i n d e r , d. h., sie bekamen praktisch jedes J a h r ein K i n d . Folgende Angaben über die Kinderzahlen der Frauen des Kostromer G e b i e tes können für die Zeit vor der Bauernbefreiung als charakteristisch gelten'' 1 : Z a h l der K i n d e r :

0

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

Z a h l der F r a u e n : 19

4

14

8

13

21

20

49

57

83

71

55

13

14

15

16

17

18

21

29

19

7

10

5

2

1

Z a h l der K i n d e r : 12 Z a h l der F r a u e n : 83 D i e auffallenden

Differenzen

resultieren aus der unterschiedlichen

Gesundheit,

der

unterschiedlichen Fruchtbarkeit 4 2 und dem unterschiedlichen materiellen Lebensniveau. Folgendes läßt sich über die Geburtenzahlen zusammenfassen: Im russischen

Dorf

herrschte im 19. J h . und zu Beginn des 20. J h . eine natürliche, uneingeschränkte G e b u r tenhäufigkeit; die Bäuerinnen gebaren die ihnen mögliche Z a h l von K i n d e r n , der K o e f fizient der ehelichen Fruchtbarkeit lag bei 3 2 0 P r o m i l l e ; dem entsprach eine K i n d e r z a h l von 10 bis 11 K i n d e r n pro F a m i l i e ; diese Z a h l entsprach dem physischen Belastungsvermögen der Bauernfrauen innerhalb der gebärfähigen P e r i o d e ; die schwere körperliche A r b e i t auf dem F e l d und im Hause, auch während der Stillzeit und der Schwangerschaft, führte zu einer Einschränkung der natürlichen Fruchtbarkeit. Interessanterweise hängen die Geburtenziffern weniger von den Schwankungen

der

Ernteerträge und Brotpreise ab als die Schwankungen der Sterblichkeitsziffern. 4 3

Die

geringe Abhängigkeit der Geburtenziffer von den Konjunkturschwankungen war ein wichtiger F a k t o r ihrer Stabilität. D i e Sterblichkeitsziffern

dagegen befanden sich in

direkter Abhängigkeit von den Änderungen der ökonomischen L a g e der Bauernwirtschaften. D i e s e r Sachverhalt, der für den gesamten "erforschten Zeitraum nachzuweisen ist, stellt eine weitere Bestätigung für das natürliche demographische Verhalten

der

Bauernschaft dar. D i e Forschung hat schon oft auf die sich aufhebende Relation zwischen dem N i v e a u der Geburtenhäufigkeit und der Sterblichkeitsziffer verwiesen. D o r t , wo die Sterblichkeit hoch ist, steigen auch die Geburtenziffern und umgekehrt, bei einer niedrigen Sterblichkeit sinken auch die Geburtenziffern.

D i e s e Erscheinung,

die über den

gesam-

Slavjanski], K uceniju, S. 2 1 6 . 'l0 A. Lepukaln, K voprosu o plodovitosti krest'janskoj zensciny i smertnosti c c detej, in: Vracebnaja gazeta, 1 9 2 6 , Nr. 20, S. 2 8 9 ff. 41 Fenomenov, Sovremennaja derevnja, S. 1 7 0 f. r ' 2 D i e Zahl der unfruchtbaren Frauen schwankte in den einzelnen Gouvernements zwischen 2 und 7 39

43

Prozent; vgl. Slavjanskij, K uceniju, S. 2 1 5 . Jansons, Sravnitel'naja statistika, S. 3 5 3 f.; N. B. Gersevanov, O vlijanii neurozaja na uvelicenie smertnosti v Novorossijskom krae v 1 8 4 9 i 1 8 5 0 godach, in: Sbornik statisticeskich svedenij o Rossii, hg. v. d. R G O , Bd. 2, St. Petersburg 1 8 5 3 , otd. 2, S. 97 ff.

157

ten hier behandelten Zeitraum hin wirksam war, hat zwei Ursachen. Erstens kann eine Familie, je mehr Kinder sie hat, desto weniger Aufmerksamkeit einem einzelnen Kind widmen. Auch war es oft so, daß die mit den Sorgen um eine vielköpfige Familie beladene Mutter Gott dankte, wenn er eines ihrer Kinder zu sich nahm/' 4 Zum zweiten forcierte die hohe Sterblichkeit der Kinder im ersten und zweiten Lebensjahr praktisch die Geburtenhäufigkeit, da bei einer nichtstillenden Frau die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft wesentlich größer war. Deswegen wurden die Sterblichkeitsziffern nur durch den Tod von Kindern im Alter von über zwei Jahren beeinflußt. So bedingten die hohe Sterblichkeit und die hohe Geburtenrate einander, sie waren zwei Seiten einer Medaille, des irrationalen demographischen Verhaltens. Dabei blieb die Geburtenziffer stabil, die Sterblichkeitsrate dagegen schwankte kurzfristig. Natürlich kann man nicht behaupten, die hohe Sterblichkeit hätte allein in den hohen Geburtenziffern ihre Begründung. Wichtige Ursachen der hohen Sterblichkeit in Rußland im 19. und zu Beginn des 20. Jh. waren die schlechten hygienischen Bedingungen, die oben geschilderte Art der Entbindungen im bäuerlichen Milieu, die harte Arbeit, die Armut, die mangelhafte medizinische Betreuung, das Analphabetentum und das Elend der bäuerlichen Bevölkerung. Aus den gleichen Lebensbedingungen heraus resultierte jedoch auch die große Geburtenhäufigkeit. Die bisherige Analyse hat gezeigt, daß sozialpsychologische Faktoren nicht ausreichen für die Erklärung demographischer Prozesse. Ein völliges Begreifen dieser Prozesse ist nur durch die Synthese sozialpsychologischer und sozialökonomischer Forschungen möglich. Inwieweit stimmt nun das Modell des demographischen Verhaltens der russischen Bauern mit den sozialökonomischen Bedingungen überein, unter denen sie im 19. und zu Beginn des 20. Jh. lebten? E s scheint, daß diese Übereinstimmung in der Zeit vor der Bauernbefreiung existierte. Bis 1861 konnte sich die schnell wachsende ländliche Bevölkerung auf dem Dorfe ohne Schwierigkeiten ausdehnen. Aber schon die erste nach der Aufhebung der Leibeigenschaft geborene Generation litt unter Landmangel. Seit den achtziger Jahren des 19. Jh. entstand in den zentralen russischen Gouvernements eine ländliche Überbevölkerung - eine relative Überbevölkerung natürlich. Unter den konkreten Bedingungen Rußlands nach der Bauernbefreiung jedoch - der nur langsam wachsenden, hinter dem Bevölkerungsanstieg zurückbleibenden Produktivität und Intensität der bäuerlichen Arbeit, den noch existierenden Überresten der Leibeigenschaft, der Gutswirtschaft, des nur langsamen Wachsens der Städte und der Industrie - unter diesen Bedingungen fand die wachsende Landbevölkerung keine Ernährungsmöglichkeiten mehr, und ihr schnelles Wachstum wurde zu einem der Faktoren, die die Situation der Bauern verschärfte. Das Bevölkerungswachstum wurde durch die Verbesserung der medizinischen Versorgung in den siebziger Jahren noch forciert, da die Sterblichkeit sank, ohne daß dies durch ein Sinken der Eheschließungsziffern kompensiert wurde. Im Resultat bedeutete das ein erhöhtes Bevölkerungswachstum (s. Tabelle 1). Unter den Bedingungen einer sinkenden Sterblichkeit wurde der traditionelle Geburtenreichtum, der in früheren Zeiten vollkommen gerechtfertigt war, zu einem Anachronismus. Jedoch wurde die Entstehung neuer Verhaltensmuster unter den Bauern durch Unwissenheit, Analphabetentum, Elend und durch ein reaktionäres politisches System gehemmt. Vl

Zbankov,

158

Vlijanie otchizich promyslov, S. 85.

D i e o r t h o d o x e n russischen B a u e r n b i l d e t e n z w a r einen g r o ß e n T e i l der B e v ö l k e r u n g R u ß l a n d s , j e d o c h eben nur einen T e i l . W e l c h e a n d e r e n demographischen

Verhaltens-

strukturen herrschten unter den a n d e r e n sozialen und ethnischen G r u p p e n der B e v ö l kerung? D i e Vorhandenen statistischen M a t e r i a l i e n zeigen, d a ß bis in die sechziger J a h r e des 1 9 . J h . auch in den S t ä d t e n ein u n k o n t r o l l i e r t e r G e b u r t e n r e i c h t u m vorherrschte. D i e G e burtenziffer

betrug über 4 5

dem L a n d e ;

Promille;

die E h e s c h l i e ß u n g s z i f f e r

die

Sterblichkeitsziffern

lagen

höher

als

lag nur geringfügig unter der l ä n d l i c h e n .

auf Das

E h e s c h l i e ß u n g s a l t e r in der S t a d t lag höher, die M ä n n e r heirateten hier später, bei den F r a u e n lag das E h e s c h l i e ß u n g s a l t e r auf dem gleichen N i v e a u w i e auf dem L a n d e . D i e geringe Z a h l v o n Scheidungen und strenge Sitten in moralischen D i n g e n w a r e n auch für die S t a d t charakteristisch/' 5 A u c h zwischen den sozialen Schichten und S t ä n d e n

sind

k e i n e U n t e r s c h i e d e in bezug auf die demographischen K e n n z i f f e r n zu registrieren. S o gar der A d e l blieb i n n e r h a l b der gleichen V e r h a l t e n s m u s t e r w i e die B a u e r n . D e n Z e i t genossen schien dies s e l b s t v e r s t ä n d l i c h . M i t dem B e g i n n der sechziger J a h r e des 1 9 . J h . begann die G e b u r t e n r a t e in den S t ä d ten zu s i n k e n ; zunächst in den H a u p t s t ä d t e n M o s k a u und P e t e r s b u r g , dann in den H a fenstädten

und in den H a u p t s t ä d t e n

der zentralen

G o u v e r n e m e n t s , schließlich

auch

in den B e z i r k s s t ä d t e n . I m J a h r e 1 9 1 3 betrug die G e b u r t e n z i f f e r der städtischen B e v ö l kerung im europäischen R u ß l a n d 3 0 , 2 P r o m i l l e und lag d a m i t gegenüber der G e b u r t e n z i f f e r der l ä n d l i c h e n B e v ö l k e r u n g v o n 4 8 , 8 P r o m i l l e um 6 1 , 6 P r o z e n t niedriger/' 6 P a r a l lel dazu sanken auch die E h e s c h l i e ß u n g s - und G e b u r t e n z i f f e r n . D a s S i n k e n der G e b u r t e n z i f f e r bis auf 3 0 P r o m i l l e zeigt, d a ß die städtische B e v ö l kerung im ersten J a h r z e h n t des 2 0 . J h . deutlich von dem t r a d i t i o n e l l e n d e m o g r a p h i s c h e n V e r h a l t e n s m u s t e r a b w i c h . W e n n m a n den E i n f l u ß der unterschiedlichen

Alterszusam-

mensetzung und die U n t e r s c h i e d e in der E h e der ländlichen und städtischen

Bevölke-

rung berücksichtigt, k o m m t m a n zu dem E r g e b n i s , d a ß sich gegen E n d e des 1 9 . J h . die G e b u r t e n h ä u f i g k e i t in der S t a d t nicht g r a v i e r e n d von der d ö r f l i c h e n u n t e r s c h i e d ; die J a h r e 1 8 9 6 bis 1 8 9 7 stehen 4 2 , 9 P r o m i l l e in der S t a d t -

5 0 , 9 P r o m i l l e auf

D o r f e gegenüber/' 7 B e r ü c k s i c h t i g t m a n dieselben K o r r e k t i v e bei den Z a h l e n für

für dem das

J a h r 1 9 1 3 , k o m m t das D o r f auf einen K o e f f i z i e n t e n v o n 4 8 , 8 P r o m i l l e . J e d o c h ist die G e b u r t e n z i f f e r noch zu hoch, um von einem Ü b e r g a n g von' der unkontrollierten S c h w a n gerschaft zur geplanten zu sprechen, die A b w e i c h u n g e n v o n den traditionellen

Verhal-

tensmustern begannen sich erst a l l m ä h l i c h durchzusetzen. A u c h A b t r e i b u n g e n w u r d e n in den S t ä d t e n noch sehr selten v o r g e n o m m e n . I n allen russischen geburtshilflichen E i n r i c h tungen wurden v o n 1 8 4 0 bis 1 8 9 0 insgesamt 2 4 7 A b t r e i b u n g e n v o r g e n o m m e n , das entspricht 1 P r o z e n t v o n der Z a h l der dort erfolgten G e b u r t e n / ' 8 ',J V. A. Popov, Dvizenie narodonaselenija v Vologodskoj gubernii, in : Zapiski imper. RGO po otdeleniju statistiki, Bd. 2, St. Petersburg 1870, S. 219, 235 ff.; Vedemost' o cisle rodivsichsja, brakom socetavsichsja i umersich pravoslavnogo veroispovedanija v Moskovskoj gubernii za 1850 g., Archiv GO, r. 22, op. 1, d. 3 ; A. 1. Kopanev, Naselenie Peterburga v pervoj polovine XIX v., Moskau/ Leningrad 1957; E. T. Solov'ev, Pribyl' i ubyl' naselenija v gorodach i posadach Kazanskoj gubernii za poslednie 15 let, 1860-1875. 1876 g. Archiv GO, r. 14, d. 32; Statisticeskoe opisanie goroda Novgoroda za 1836 g., Archiv GO, r. 24, d. 1. 4C B. C. Urlanis, Dinamika i faktory rozdaemosti v SSSR, in: Voprosy narodonaselenija i demograficeskoj statistiki, Moskau 1966, S. 447. 4/ S. A. Novosel'skij, Obzor glavnejsich dannych po demografii, S. 51. 48 V. Michajlov, Srednie russkie akuserskie itogi za 50 let, 1840-1890, Novgorod 1895, S. 417.

159

D i e statistischen Angaben zeigen, daß sich die ländliche Bevölkerung des Baltikums, Litauens, Belorußlands, der Ukraine und die nichtrussischen Völkerschaften des Wolgagebietes bis in die sechziger Jahre des 19. J h . hinein in bezug auf das N i v e a u der Geburtenhäufigkeit und Sterberate sowie der Fruchtbarkeits- und Eheschließungsziffern in keiner Weise von den russischen Bauern unterschieden/' 0 Lediglich in den baltischen Gouvernements lag die Sterblichkeit deutlich niedriger. Seit den sechziger Jahren des 19. J h . sanken in E s t l a n d und Lettland auch die Geburtenziffern, seit dem Beginn des 20. J h . auch in Litauen. Im Jahre 1906 lag die Geburtenziffer in den Gouvernements Wilna, G r o d n o , K a u n a s und Vitebsk unter 40 Promille. D i e s zeigt, daß die estnische, litauische, lettische und polnische Bevölkerung zu einer Regulierung der Geburtenhäufigkeit übergegangen war. 5 0 Die" Eheschließungs- und Sterblichkeitsziffern sanken nur in den drei baltischen Gouvernements, in den übrigen Gebieten bewegten sie sich auf dem gleichen N i v e a u wie in den großrussischen Gouvernements. D i e vor sich gehenden Veränderungen bei der Geburtenhäufigkeit werden auch aus den folgenden Angaben deutlich 5 1 : Konfession Orthodoxe Moslems Katholiken Protestanten Juden

Geburtenziffer im Jahre 1906 (in Promille) 50,0 46,6 33,1 25,7 25,4

D a die Religion in dieser Zeit ein wesentliches Kennzeichen der nationalen Zugehörigkeit war, geht aus den angeführten Zahlen hervor, daß bei der russischen, ukrainischen und belorussischen Bevölkerung, wie auch bei den nationalen Minderheiten moslemischen Glaubens zu Beginn des 20. J h . die traditionellen Verhaltensmuster vorherrschten und die Litauer, Esten, Letten, Polen und J u d e n zu einer Regulierung der Geburtenhäufigkeit übergegangen waren. In der ersten H ä l f t e des 19. J h . existierte zwischen der Geburtenhäufigkeit der verschiedenen Konfessionen praktisch kein Unterschied. Zusammenfassend kann man feststellen, daß die Ähnlichkeit der demographischen Prozesse bei den verschiedenen sozialen Gruppen, in Stadt und L a n d sowie bei den verschiedenen Nationalitäten bis zur Reform von 1861 so stark war, daß man von einem einheitlichen demographi^chen Verhaltensmodell des größten Teils der Bevölkerung sprechen kann. 49

50 51

Statisticeskis svedenija o naselcnii Lifljandskoj gubernii, Archiv G O , r. 49, d. 9 ; Statisticeskie svedenija o naselenii Estljandskoj gubernii, Archiv G O , r. 49, d. 1 0 ; V. Antonov, Vedomost' o narodonaselenii krest'jan Vasil'kovskogo uezda Kievskoj gubernii za 1858 g., Archiv G O , r. 16, d. 2 ; A. Smanovskij, O smertnosti sel'skogo naselenija Malorossii, St. Petersburg 1891; A. P. ZablockijDesjatovskii, Dvizenie narodonaselenija Rossii v 1838 po 1847 gg., in: Sbornik statisticeskich svedenij o Rossii, Bd. 1, St. Petersburg 1851, S. 59 f f . ; E. I. Kajpsa, Dvizenie narodonaselenija v R o s s i i s 1848 po 1852 god, ebenda, Bd. 3, St. Petersburg 1858, S. 429 f f . ; S. Korsakov, Zakony narodonaselenija v Rossii, in: Materialy dlja statistiki Rossijskoj imperii, hg. v. d. statistischen Abteilung des Innenministeriums, Teil 2, St. Petersburg 1841, S. 219 f f . ; Voenno-statisticeskij sbornik, Lief. IV, S. 51 ff. Urlanis, Istorija odnogo pokolenija, S. 70 f., S. 86 f. Ebenda, S. 89.

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In den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jh. entstand bei der städtischen Bevölkerung und in den westlichen Gebieten des Russischen Reiches allmählich ein neues Modell des demographischen Verhaltens, welches sich im 20. Jh. endgültig durchsetzte. Für dieses neue Verhaltensmodell sind die Geburtenregulierung, eine relativ späte Eheschließung, eine große Zahl unehelicher Geburten, Scheidungen sowie die niedrige Sterblichkeit typisch. Die ländliche Bevölkerung Rußlands ging zu diesem Verhaltensmodell erst in der Sowjetperiode unter vollkommen anderen politischen und sozialökonomischen Bedingungen über.

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Jahrbuch 25/1

Sowjetische Memoirenliteratur über den Großjen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion Auswahlbibliographie HORST GIERTZ/PETER SCHRAMM

Probleme des zweiten Weltkrieges werden nach wie vor von der Geschichtswissenschaft mit besonderer Intensität untersucht. Diese Forschungen führten vor allem in den sozialistischen Ländern, speziell aber in der UdSSR, zur Aufhellung vieler historischer Tatsachen und ihrer Hintergründe. Zu der Literatur über den zweiten Weltkrieg, besonders über den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion, gehören auch zahlreiche Memoiren. In der UdSSR speziell führte der Aufschwung der Geschichtswissenschaft nach dem X X . Parteitag der K P d S U z u einer rasch wachsenden Zahl derartiger Publikationen. Die Autoren, zumeist Militärs verschiedener Dienstgrade und Dienststellungen, 1 berichten in ihren vielfach auf Primärquellen gestützten Publikationen über den Kampfweg ihrer Einheiten, Truppenteile und Verbände während des gesamten bzw. während einzelner Perioden dieses Krieges, über einzelne Operationen oder Schlachten; zugleich schildern sie in vielfältiger Weise eigene Erlebnisse und Eindrücke und lassen damit an subjektiven Beispielen den schweren Weg der Sowjietstreitkräfte bis zum Sieg vom Mai/August 1945 deutlich werden. Viele Memoiren tragen den Charakter militärhistorischer Spezialuntersuchungen; besonders trifft dies auf die Erinnerungen einiger Front- und Armeeoberbefehlshaber zu. Die Bücher von A. Ch. Bagramjan, A. A. Grecko und K . S. Moskalenko (8, 9, 56, 57, 58, 96) 2 enthalten beispielsweise bemerkenswerte Beiträge zur Truppengeschichte sowie Untersuchungen zur Entwicklung der sowjetischen Kriegskunst. Die Memoiren der sowjetischen Militärs bieten in ihrer Gesamtheit ein außerordentlich eindrucksvolles Bild nahezu aller wichtigen Ereignisse an der entscheidenden Front des zweiten Weltkrieges. 3 In der UdSSR sind bisher mehr als 1100 Memoirenpublikationen in Buchform erschienen; hinzu kommt noch eine Vielzahl von Erinnerungen, die in Fachzeitschriften sowie in zentralen und regionalen Presseorganen veröffentlicht wurden/' Die nach1

2 3

4

11»

An Memoiren aus dem nichtmilitärischen Bereich sei u. a. verwiesen auf I. M. Maiski, Memoiren eines sowjetischen Botschafters, 5. Aufl., Berlin 1 9 7 5 ; 1. Ehrenburg, Menschen, Jahre, Leben, 3 Bde., Berlin* 1 9 7 8 . Die in Klammern gesetzten Ziffern verweisen auf die Nummern der Auswahlbibliographie. Vgl. G.- Förster, Memoiren führender sowjetischer Militärs über den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion, in: Jahrbuch für Geschichte der sozialistischen Länder Europas, Bd. 1 5 / 2 , Berlin 1 9 7 1 , S. 1 4 5 ff.; W. N. Samoschenko, Memoirenliteratur über den Großen Vaterländischen Krieg, in: Sowjetwissenschaft, Gesellschaftswiss. Beitr., 1 9 7 0 , H. 5, S. 4 6 7 ff.; H. Giertz/S. Jaeger, Memoiren sowjetischer Militärs über den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion, in: Militärgeschichte, 1 9 7 9 , H. 5, S. 6 0 7 ff. Vgl. SSSR v gody Velikoj Otecestvennoj vojny. Ukazatel' sovetskoj literatury za 1 9 4 1 - 1 9 6 7

gg.,

163

stehende Auswahlbibliographie enthält daraus jene" Buchpublikation, die aufgrund der Positionen ihrer Autoren bzw. der thematischen Breite der einzelnen Arbeiten einen gewissen Überblick über die militärische Entwicklung während eines längeren Zeitraums, an einem größeren Frontabschnitt oder während eines besonders bedeutenden Ereignisses ermöglichen. Zugleich wurde versucht, auch solche Bücher einzubeziehen, die Hinweise auf den Einsatz von Teilstreitkräften und Waffengattungen (z. T . unter spezifischen Bedingungen) und auf die Entwicklung neuer Erkentnisse der Kriegskunst sowie generell der Militärwissenschaft ermöglichen. Zu den Autoren der Memoiren gehören u. a. der Stellvertreter des Obersten Befehlshabers, leitende Mitarbeiter des Generalstabes, der Volkskommissar für die Seekriegsflotte, Oberbefehlshaber, Mitglieder des Kriegsrates, Stabschefs verschiedener Richtungen und Ebenen sowie Kommandeure von Verbänden, Truppenteilen und Einheiten. Aufgrund der Vielfalt des Autorenkreises lassen die Memoiren sowohl die prinzipielle Einheitlichkeit im Handeln der sowjetischen Streitkräfte im Kampf gegen die faschistischen Aggressoren als auch die Unterschiede in den jeweiligen Kampf- und Einsatzbedingungen erkennen. D a etliche Autoren ihre Arbeiten nicht auf die Kriegsjahre beschränken, sondern in ihnen auch mehr oder minder ausführliche Überblicke über ihren Lebensweg in der Vorkriegszeit geben, vermitteln diese Publikationen zugleich einen Einblick in die Entwicklung der sowjetischen Streitkräfte während der zwanziger und dreißiger Jahre. Umfassende Überblicke über den Großen Vaterländischen Krieg, über das Wirken der obersten militärischen Führungsorgane der Sowjetunion und über die Planung und Durchführung der wichtigsten Verteidigungs- und Angriffsoperationen vermitteln die Memoiren von G . K . 2ukov (57), A. M. Vasilevskij (144), S. M. Stemenko (137) und N . G . Kuznecov (85, 86, 87) . 3 Wichtige Darlegungen über die Arbeit der Stäbe sind auch in den Memoiren von S. S. Birjuzov und G . S. Nadysev enthalten (17, 18, 99). Inzwischen ist von sowjetischer Seite auch damit begonnen worden, die in der Arbeit der Führungsorgane und der Stäbe gesammelten Erfahrungen in militärwissenschaftlicher Hinsicht auszuwerten.15 In ähnlicher Weise informieren auch A. G . Golovko, J a . K . Iosseliani, S. I. Kabanov, I. A. Kolyskin, M. F. Kumanin, Ju. A . Panteleev, I. V . Travkin und V . F. Tribuc (54, 59, 71, 83, 110, 111, 142, 143), die in ihren Memoiren die Handlungen einzelner Flotten bzw. von Teilen der Seestreitkräfte (z. B . der U-Boote) schildern. Zusammenfassende Memoirenwerke wie die über die Land- und Seestreitkräfte fehlen leider für die sowjetischen Luftstreitkräfte. Über Entstehung, Einsatz und Kampfbewährung einzelner Teile der sowjetischen Luftstreitkräfte, vor allem über die Handlungen der sowjetischen Jagdfliegerkräfte, berichtet dagegen eine ganze Anzahl von 2 Bde., Moskau 1 9 7 7 ; O vojne, o tovariscach, o scbe. Velikaja Otecestvennaja vojna v vospominanijach ucastnikov boevych dejstvij. Annotirovannyj ukazatel' voenno-memuarnoj literatury ( 1 9 4 1 do 1 9 7 5 gg.), Moskau 1 9 7 7 ; P. Schramm, Bibliographie der Memoiren sowjetischer Militärs. Manuskript im Militärgeschichtlichen Institut der D D R , Potsdam. Die wohl wichtigsten dieser Memoiren 5

6

sind als Übersetzungen auch in der D D R erschienen (vgl. Giertz/Jaegef). Ausführungen über die politische und wissenschaftliche Bedeutung vieler der nachfolgend angeführten Memoirenbände, zu darin aufgeworfenen Problemen sowohl des Krieges als auch seiner geschichtswissenschaftlichen Erforschung sowie knappe Inhaltsangaben sind enthalten in: ebenda, S. 6 0 8 ff. Vgl. M. Golovin, Memuarnaja literatura o stabach i stabnych oficerach, in: Voenno-istoriceskij zurnal, 1979, H. 11, S. 81 ff.

164

Memoirenautoren. Von ihnen seien hier vor allem A . V. Vorozejkin und A . I. Pokryskin, der berühmteste J a g d f l i e g e r der UdSSR-, aber auch M . P. Cecneva, A . G . F e d o r o v , M . L . G a l l a j , A . S. J a k o v l e v , I. N . K o z e d u b , S. A . K r a s o v s k i j , V . S. Molokov, A . A . N o v i k o v , V . I. R a k o v , S. I. Rudenko und K . A . Versinin (28, 44, 50, 61, 75, 78, 9 5 , 1 0 3 , 1 2 0 , 1 2 1 , 126, 130, 148, 155, 156) genannt. Ihre Arbeiten lassen den Einsatz der sowjetischen Fliegerkräfte von unterschiedlichen Kommandoebenen her sichtbar werden, berichten vom opfervollen und erfolgreichen K a m p f um die Luftherrschaft sowie von der damit verbundenen Weiterentwicklung der strategischen, operativen und taktischen Prinzipien für das Handeln der Luftstreitkräfte und machen deutlich, wie die sowjetischen Flieger das Zusammenwirken sowohl untereinander als auch mit den Landstreitkräften immer besser beherrschten. D i e Hauptlast des K a m p f e s gegen den faschistischen Aggressor hatten die sowjetischen Landstreitkräfte zu tragen. Ihr Ringen bestimmt daher den Inhalt der meisten Memoiren. Für die gesamte Zeitspanne des Krieges liegen die Erinnerungen u. a. der Front- und Armeeoberbefehlshaber I. Ch. B a g r a m j a n (8, 9), A . I. Eremenko (39, 40, 41, 42), A . A . Grecko (56, 57, 58), K . A . Mereckov (94), K . S. Moskalenko (96) und K . K . Rokossovskij (128) vor. In ihnen schildern die Autoren die schweren Rückzugskämpfe unmittelbar nach dem faschistischen Ü b e r f a l l , die Verteidigung vor Moskau und Leningrad, die Stalingrader Schlacht, den K a m p f im Kursker Bogen und danach die große Offensive, mit der die sowjetischen Streitkräfte den, Heimatboden, Polen, die Tschechoslowakei und große Teile Deutschlands befreiten. Zugleich widerlegen sie zahlreiche antisowjetische Entstellungen und Fälschungen. 7 D a s Ringen um Stalingrad sowie der K a m p f w e g jeweils einer A r m e e von der W o l g a bis Berlin bzw. Stettin bilden den Inhalt der Memoirenbände von P. I. B a t o v (11, 12) und V . I. Cujkov (32, 33). In ähnlicher Weise haben weitere sowjetische Armeeoberbefehlshaber über den K a m p f weg von allgemeinen oder Panzerarmeen berichtet. Zu dieser Autorengruppe zählen u. a. I. M . Cistjakov, K . N . Galickij, F . I. Golikov, M . E . K a t u k o v , M . I. K a z a k o v , N . I. K r a l o v , D . D . Leljusenko, P. A . Rotmistrov und I. V . Tjulenev (31, 48, 53, 68, 69, 80, 89, 90, 129, 141). D i e s e Arbeiten zeigen die ganze Vielfalt der A u f g a b e n einer allgemeinen Armee und ihres Oberbefehlshabers, mußte eine solche Armee doch in der L a g e sein, sowohl eine gegnerische Offensive abzuwehren als auch den Gegner in offener Feldschlacht und nicht zuletzt durch die Erstürmung von Stellungen, Festungen und Städten militärisch zu zerschlagen. D i e Memoiren der Armeeoberbefehlshaber bieten daher ebenso wie die vielfältigen Erinnerungen von Kommandeuren unterer Strukturebenen (vgl. z. B . 13, 15, 16, 19, 25, 34, 37, 45, 46, 47, 49, 79, 97, 1 0 4 , 1 0 5 , 1 0 8 , 1 1 5 , 116, 127, 139, 140) sowie die zahlreichen Aufzeichnungen von Kriegsteilnehmern unterschiedlichster Dienstgrade über einzelne Gefechte, Schlachten oder Operationen z. B . über die Verteidigung Leningrads (27, 91, 104, 105, 112, 134) oder über den Sturm auf Berlin (3, 93, 97, 102, 124, 139) - wesentliche Ergänzungen zu den Memoiren der führenden sowjetischen Militärs. D i e s e außerordentlich umfangreiche G r u p p e der Memoirenliteratur ist oft mit starkem emotionalem Engagement geschrieben und vermittelt eine Fülle von Details über einzelne Gefechte, Schlachten, Operationen und Feldzüge. In ihnen werden der Einsatz, der Mut und die Opferbereitschaft der sowjetischen ' V g l . P. Gosztony, M e m o i r e n russischer K r i e g s t e i l n e h m e r ( 1 9 4 1 - 1 9 4 5 ) , ( 1 9 7 2 ) . Bibliothek für Zeitgeschichte, F r a n k f u r t a . M . 1 9 7 3 , S. 5 3 5 f f .

in:

Jahresbibliographie

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Soldaten und Offiziere im Kampf gegen den faschistischen Feind deutlich. In diese Publikationsgruppe gehören auch die Memoirenbände über den Kampf der sowjetischen Partisanen (5, 47, 67, 113, 114, 147, 153) 8 sowie die Bücher von S. A. Sceglov und S. A. Vaupsasov (133, 145) über die Tätigkeit der Aufklärer. In nahezu allen Memoiren wird ausführlich auf die politische Aufklärungs- und Erziehungsarbeit in den Verbänden, Truppenteilen und Einheiten der sowjetischen Streitkräfte eingegangen, gehörte doch die politisch-moralische Überlegenheit zu den wichtigsten Ursachen für den Sieg der Sowjetunion im Großen Vaterländischen Krieg. Speziell mit dieser Frage haben sich in ihren Memoiren F. E . Bokov, L. I. Breznev, N. Ch. Kalasnik, K. V. Krajnjukov, N. M. Kulakov und N. K. Popel', alles erfahrene Politoffiziere, beschäftigt (21, 23, 24, 65, 76, 82, 122, 123). Sie arbeiten die Verantwortung der Kommunisten für die Meisterung jeder Gefechtssituation, für die Hebung des politisch-moralischen Bewußtseins und die Stärkung des Siegeswillens in den einzelnen Formationen heraus und machen konkret sichtbar, daß und wie die Kommunisten auch unter schwierigsten Gefechtsbedingungen das ideologische Leben in den Streitkräften bestimmten. Die große politische Erfahrung dieser sechs Autoren spiegelt sich auch in einer lockeren, lebendigen und bei Breznev und Popel' zudem stark personenbezogenen Darstellungsweise wider. Die von sowjetischen Militärs verfaßten Memoiren stellen somit innerhalb der historischen Literatur eine spezifische Gruppe dar, deren Bedeutung nicht nur darin besteht, daß ihre Autoren unsere Kenntnisse über die militärischen Auseinandersetzungen an der für den Verlauf des zweiten Weltkrieges entscheidenden sowjetisch-deutschen Front erheblich bereichern. Sie lassen für viele Leser trocken-nüchternes Geschichtswissen zu lebendigem, auch emotional nachempfindbarem Geschichtserleben werden und festigen so die Überzeugung, daß der Sozialismus stets verteidigungsbereit sein muß und sich stets auch wirksam verteidigen kann. 1. V. P. Agafonov, Neman! Neman! Ja - Dunaj!, Moskau 1967. 2. N. A. Antipenko, Na glavnom napravlenii, Moskau 1967; dt.: In der Hauptrichtung, 2. Aufl., Berlin 1975. 3. V. S. Antonov, Put' k Berlinu, Moskau 1975. 4. I. I. Azarov, Nepobezdennye, Moskau 1973. 5. I. I. Azarov, Osazdennaja Odessa, Moskau 1962. 6. A. Ch. Babadzanjan, Dorogi pobedy, Moskau 1975. 7. M. A. Babikov, Na vostoenom beregu, Moskau 1969. 8. I. Ch. Bagramjan, Tak nacinalas' vojna, Moskau 1971; dt.: So begann der Krieg, 2. Aufl., Berlin 1979. 9. 1. Ch. Bagramjan, Tak sli my k pobede, Moskau 1977. 10. P. I. Batov, Operacija „Oder", Moskau 1965. 11. P. I. Batov, V pochodach i bojach, Moskau 1962; dt.: Von der Wolga zur Oder, Berlin 1965. 12. A. P. Beloborodov, Vsegda v boju, Moskau 1978. 13. P. A. Belov, Za nami Moskva, Moskau 1963. 8

Vgl. A. Fjodorow, Das illegale Gebietskomitee arbeitet. Erlebnisbericht, Berlin 1 9 5 8 ; P. Werscbigora, Im Gespensterwald. Erlebnisbericht, Berlin 1 9 5 8 ; In den Wäldern Belorußlands. Erinnerungen sowjetischer Partisanen und deutscher Antifaschisten, Berlin 1 9 7 6 .

166

14. K beregam Jantarnogo morja. Sbornik vospominanij, hg. v. V. S. Loksin, Moskau 1969. 15. A. N. Bessarab, V princele-tanki, Moskau 1970; dt.: Panzer im Winter, 2. Aufl., Berlin 1975. 16. N. I. Birjukov, Trudnaja nauk4 pobezdat', Moskau 1975. 17. S. S. Birjusov, Kogda gremeli puski, Moskau 1961. 18. S. S. Birjuzov, Sovetskij soldat na Balkanach, Moskau 1963. 19. Bitva ?a Volgu (Vospominanija ucastnikov Stalingradskogo srazenija), hg. v. 7. K. Morozov, Stalingrad 1973. 20. Bojcy vsporriinajut minuvsie dni, Moskau 1960. 21. F. E. Bokov, Vesna pobedy i ozvobozdenija, Moskau 1979; dt.: Frühjahr des Sieges und der Befreiung, Berlin 1979. 22. 7. V. Boldin, Stranicy zizni, Moskau 1961. 23. L. I. Breznev, Malaja zemlja, Moskau 1978; dt.: Das kleine Land. Erinnerungen, Berlin 1978. 24. L. I. Breznev, Vozrozdenie, Moskau 1978; dt.: Die Wiedergeburt, Berlin 1978. 25. Budapest - Vena - Praga. Istoriko-metnuarnyj trud, hg. v. R. A. Malinovskij, Moskau -1965. 26. Bug v ogne, hg. v. A. A. Krupennikov, Minsk 1970. 27. B. V. Bycevskij, Gorod-front, Leningrad 1967. 28. M. P. Cecneva, Nebo ostaetsja nasim, Moskau 1970. 29. N. M. Chlebnikov, Pod grochot soten batarej, 2., überarb. Aufl., Moskau 1979. 30. G. N. Cholostjakov, Vecnyj ogon', Moskau 1976. 31. 7. M. Cistjakov, Sluzim otcizne, Moskau 1975. 32. V. 7. Cujkov,' Gvardejcy Stalingrada idut na zapad, Moskau 1972; Konec Tret'ego Rejcha, Moskau 1973, dt.: Gardisten auf dem Weg nach Berlin, Berlin 1976. 33. V. I. Cujkov, Nacalo puti, Moskau 1959; dt.: Stalingrad, Anfang des Weges, 3. Aufl., Berlin 1968. 34. Dan prikaz emu na zapad. Vospominanija, hg. v. 7. M. Vidjukov, Moskau 1968. 35. Den' pervyj, den' poslednyj 22. 6. 1941-9. 5. 1945, hg. v. Ju. M. Strechnin, Moskau 1966. 36. Dobrovolcy. Vospominanija, hg. v. S. G. Aleksandrov, Moskau 1968. 37. Dorogoj bor'by i slavy, hg. v. 7. M. Danisevskij, Moskau 1961. 38. D. A. Dragunskij, Gody v broni, Moskau 1975. 39. A. I. Eremenko, Gody vozmezdija 1943-1945, Moskau 1969. 40. A. I. Eremenko, Na zapadnom napravlenii. Vospominanija o boevych dejstvijach vojsk Zapadnogo i Brjanskogo frontov i 4 - j udarnoj armii v pervom periode Velikoj Otecestvennoj vojny, Moskau 1959; dt.: Tage der Bewährung, Berlin 1961. 41. A. 1. Eremenko, Stalingrad. Zapiski komandujuscego frontom, Moskau 1961; dt.: Tage der Entscheidung. Als Frontbefehlshaber in der Schlacht an der Wolga, Berlin 1964. 42. A. I. Eremenko, V nacale vojny, Moskau 1965. 43. 7. 7. Fedjunskij, Podnjatye po trevoge, Moskau 1964. 44. A. G. Fedorov, Do poslednogo starta, Moskau 1965. 45. Final. Istoriko-memuarnyj ocerk o razgrome imperialisticeskoj Japonii v 1945 g., hg. v. M. V. Zachärov, Moskau 196946. Cerez Fiordy, hg. v. V. G. Korsunov, Moskau 1969. 167

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110. 111. 112. 113. 114. 115. 116. 117. 118. 119. 120. 121. 122. 123. 124. 125. 126. 127. 128. 129. 130. 131. 132. 133. 134. 135. 136. 137. 138. 139. 140. 141. 142. 143. 144.

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Rezensionen Auricá Simion, Preliminar« politico-diplomatice ale insurectiei romäne din august 1944 Cluj-Napoca, Editura D a d a , 1979, 510 S.

Die Erstauflage des Buches von 68 000 Exemplaren war innerhalb weniger Tage vergriffen. D i e hauptsächliche Erklärung für das große Interesse an der Publikation dürfte darin liegen, daß der Autor zahlreiche der Öffentlichkeit bisher nicht zugängliche Dokumente aus der Vorgeschichte des antifaschistischen Aufstandes mit großer Ausführlichkeit zitiert und damit Licht in manche Vorgänge bringt, die bisher selbst für die Mitgestalter der historischen Ereignisse um den 23. August 1944 nur in unklaren Umrissen erkennbar waren. D e r Autor, .durch andere Arbeiten über die politische Geschichte Rumäniens während des zweiten Weltkrieges bereits bekannt, 1 hat in bezug auf die Quellenerschließung und -auswertung eine enorme Arbeit geleistet. Nicht nur, daß er eine Fülle von Dokumenten aus rumänischen Archiven anführt, die erst in jüngster Zeit der Forschung zugänglich geworden sind; er konfrontiert und ergänzt sie auch mit Material aus dem Staatsarchiv der D D R sowie aus einschlägigen Quelleneditionen der U S A , Frankreichs, Italiens, Ungarns und anderer Länder. Die solide Arbeit mit den Quellen ist in dem Buch jedoch nicht mit einer gleichermaßen aufwendigen theoretischen Verarbeitung des Materials gepaart. Sei es, daß der Autor glaubte, die Dokumente für sich allein sprechen lassen zu müssen, sei es, daß er dem Leser die Urteilsbildung überlassen wollte, er hält sich mit Einschätzungen ganz und gar zurück, bringt nur sparsame - m. E . zu sparsame - Kommentare und beschränkt sich über weite Strecken des Buches darauf, die Originaltexte durch sachliche Erläuterungen zu verbinden. Wie aus dem Vorwort des V f . zu entnehmen ist, ging es ihm in der Arbeit um den Nachweis, daß sich die „außergewöhnliche Fähigkeit", die sich das rumänische Volk in seinem jahrhundertelangen Kampf um den nationalen Bestand erworben habe, „an historischen Wegscheiden alle Energien und Ressourcen gegen die Fremdherrschaft, für die nationale Freiheit zu konzentrieren, im Zusammenhang mit dem Aufstand vom August 1944 mit besonderer Prägnanz erwiesen" habe (S. 6). Die Gesamtanlage des Buches läßt jedoch deutlich werden, daß die damals herrschende Klasse aus dieser Einschätzung größtenteils auszunehmen ist, da sie sich ausschließlich von ihrem Klasseninteresse leiten ließ und damit den Volkskräften, die sich zum Kampf um die antifa-

1

Auricä Simion, Dictatul de la Viena, Cluj 1972; ders., Política de aliante a Partídului Comunist Román in pregätirea insurectiei, in: Insurectiei din august 1944 $i scmnificifia ei istoricä, Bukarest 1 9 7 4 ; ders., Regimul politic din Románia in perioada sept. 1940 - ian. 1941, Cluj 1976.

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schistisch-nationalen Ziele um die Kommunistische Partei zusammenschlössen, in den Rücken fiel. Im ersten Kapitel stellt S. das Antonescu-Regime vor, das er zu Recht als eine von Hitlerdeutschland bevorzugte Alternative zur Diktatur der faschistischen Partei „Eiserne Garde" betrachtet. Im September 1940 war zwar unter dem Druck der deutschen Emissäre ein faschistisches Regime in Rumänien errichtet worden, an dem sowohl die Eiserne Garde als auch der Militärdiktator Ion Antonescu beteiligt waren, aber als die Gardisten im Januar 1941 putschten, entschied sich die faschistische deutsche Führungsspitze für Antonescu (was sie nicht davon abhielt, gleichzeitig und später auch die Legionäre zu unterstützen). Als strenger und energischer Militär schien Antonescu besser als die anarchistische Praktiken bevorzugenden Gardisten geeignet, Rumänien an der Seite Hitlerdeutschlands in den Krieg gegen die Sowjetunion zu führen, der sich, als die Entscheidung zwischen den zwei faschistischen Fraktionen in Rumänien anstand, ja bereits in voller Vorbereitung befand. Vom Standpunkt der deutschen Aggressoren sprachen für Antonescu auch seine soziale Demagogie gegenüber den werktätigen Klassen, sein Antikommunismus und sein Terror gegen die Arbeiterbewegung, worüber S. ausführlich schreibt. Vor allem war es sein ausgeprägter Antisowjetismus, wäre hinzuzufügen, der Antonescu für die Absichten des deutschen Imperialismus prädestinierte. Auch die Mehrheit der herrschenden Klassen Rumäniens bevorzugte Antonescu als ihren Sachwalter. Sie partizipierte am Profit seiner judenfeindlichen Gesetzgebung (S. 120 ff.) wie auch an seiner Rüstungspolitik (S. 127) und am Wirtschaftsverkehr mit Hitlerdeutschland. Der Autor gelangt zu der Feststellung, daß sich „das Antonescuregime der Unterstützung der ganzen rumänischen Bourgeoisie erfreute, die in Antonescu den am besten geeigneten Mann zur Wahrnehmung und Verteidigung ihrer Interessen unter den komplizierten internationalen Umständen jener Jahre sah" (S. 129). Neuartig sind die Vergleiche, die der Vf. zwischen den faschistischen Regimen in Deutschland und Italien einerseits und in Rumänien andererseits anstellt. Er arbeitet als Gemeinsamkeiten zwischen ihnen die „Ausartung" der repressiven Funktion des Staates, die Überzeugung der Diktatoren von ihrer Messias-Rolle und den Antisemitismus heraus. Zugleich betont er die Besonderheiten der Antonescu-Diktatur, die er erstens in der gesetzlichen Grundlage der terroristischen Politik Antonescus sieht; zweitens in dessen „gemäßigter antisemitischer Orientierung" (S. 131); (S. führt an, daß sich Antonescu dem Druck der Naziführung widersetzte und die sogenannte Endlösung der Judenfrage in Rumänien nicht zuließ), und drittens in einigen innerstaatlichen Eigentümlichkeiten des faschistischen Regimes in Rumänien, so in der Machtübernahme durch einen Staatsstreich und infolgedessen im Fehlen des Parlaments, in der Beibehaltung der liberalen Struktur des rumänischen Wirtschaftslebens (obwohl die Eiserne Garde und auch die deutschen Wirtschafts „partner" auf die Anpassung der Wirtschaft an die Erfordernisse eines totalitären Staates drängten) sowie im Fehlen einer faschistischen Massenpartei (S. 130 ff.). Aus diesen keineswegs grundsätzlichen Unterscheidungsmerkmalen darf nicht der Schluß gezogen werden, daß der Faschismus in Rumänien „besser" oder humaner gewesen sei als anderswo. Der Vf. führt zwar die bekannte Dimitroffsche Definition nicht an, läßt aber doch erkennen, daß der Faschismus auch in Rumänien die Diktatur der reaktionärsten, aggressivsten, am meisten imperialistischen und am meisten chauvinistischen Kreise des Finanzkapitals war, wobei die Liaison mit Hitlerdeutschland ganz sicher zur Ausprägung dieser Züge beigetragen hat. 174

Im zweiten K a p i t e l beschreibt der Autor das Verhältnis zwischen Rumänien und Hitlerdeutschland in den Jahren 1940 bis 1942. D e r dominierende Z u g dieser Beziehungen war die hemmungslose G i e r , mit der die deutschen Konzerne sich der rumänischen Wirtschaft bemächtigten. E i n Aktienpaket nach dem anderen wanderte aus Rumänien in ihre Tresore, sie bestimmten, was Rumänien aus- und einführen durfte und welche Investitionen zu erfolgen oder zu unterbleiben hatten. D i e schwachen Versuche Antonescus, sich der Unterwanderung der rumänischen Wirtschaft durch das deutsche Finanzkapital zu widersetzen, mußten letztlich erfolglos bleiben, d a er mit der politischen Entscheidung, „rückhaltlos mit der Achse, mit dem großen Führer" zu gehen (S. 136), Rumänien dem deutschen Imperialismus ausgeliefert hatte. D i e prinzipielle Bindung an Deutschland führte auch zur militärischen Beteiligung Rumäniens am Überfall auf die Sowjetunion, die ebenfalls schwerpunktmäßig im zweiten K a p i t e l behandelt wird. A u s den Darlegungen geht hervor, daß einerseits Hitler Rumänien ständig drängte, einen größeren militärischen Beitrag für diesen „ F e l d z u g " zu leisten, daß aber andererseits auch Antonescu von sich aus entschlossen war, „zusammen mit der deutschen Armee bis zur Erreichung des Endsieges zu k ä m p f e n " (S. 145). D i e bürgerlichen Oppositionsparteien erklärten sich mit der Aggression Rumäniens gegen die Sowjetunion anfangs ebenfalls einverstanden, „damit wir die Grenzen des L a n des wieder herstellen" (S. 207/08), womit sie die rumänisch-sowjetische Grenze meinten, wie sie nach 1918 infolge der Besetzung Bessarabiens durch konterrevolutionäre rumänische Truppen bestanden hatte. N a c h d e m die rumänische Armee am 27. Juli 1941 den Dnestr erreicht hatte, schickten die Führer der bürgerlichen Parteien eine Vielzahl von Memoranden und Briefen an Antonescu - die der Autor alle ausführlich zitiert - , in denen der Grundgedanke immer wiederkehrt, daß sie den K r i e g in seiner ersten Phase unterstützt hätten, daß sie aber verlangten, die rumänische Armee an dem ehemaligen Grenzfluß zu stoppen. „Wir sind kategorisch dagegen, daß Rumänien A g gressionsziele verfolgt. E s ist nicht zulässig, daß wir uns ^Rußland, dem heutigen Verbündeten E n g l a n d s gegenüber, wie Aggressoren aufführen . . . und das in Waffenbrüderschaft mit Ungarn und der Achse, die uns durch einen von niemandem ratifizierten schiedsrichterlichen Akt einen bedeutenden Teil unseres L a n d e s entrissen haben und damit unser Territorium, unseren Geist und unsere E h r e verletzten" (S. 208). D e r Standpunkt, daß die Eroberung des Territoriums zwischen Prut und Dnestr keine Aggression sei, war offensichtlich eine in der gesamten herrschenden K l a s s e Rumäniens und darüber hinaus verbreitete Idee, denn der V f . schreibt, daß „die erste Kriegsphase die Unterstützung der Armee und eines Teils der öffentlichen Meinung" gehabt hätte, die „unter dem ersten Eindruck der Ereignisse nicht verstanden" hätten, „ d a ß die Verwirklichung eines nationalen Anliegens, wie es Antonescu nannte, nicht im Bündnis mit den reaktionären K r ä f t e n des Faschismus erfolgen konnte" (S. 206). An anderer Stelle vertritt der Autor die A u f f a s s u n g , daß „besonders die Fortsetzung der militärischen Aktionen östlich des Dnestr dazu führten, daß Rumänien in den Kriegszustand mit der Antihitlerkoalition als ganzes geriet" (S. 146). D a s dritte K a p i t e l überschrieb S. „Stalingrad und seine Konsequenzen", worunter er die zunehmenden Spannungen zwischen Bukarest und Berlin und die im L a u f e des Jahres 1943 sich häufenden Bemühungen von Vertretern der herrschenden K l a s s e , R u m ä nien aus dem Bündnis mit den Achsenmächten herauszubrechen, versteht. E r geht von den schweren Verlusten aus, die die rumänische A r m e e in den Schlachten am D o n , bei Stalingrad und in der Kalmückensteppe erlitt (von den 425 000 beteiligten rumänischen

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Soldaten fielen 105 000 bzw. blieben vermißt [S. 226]), und berichtet anschaulich darüber, wie sich die faschistischen Staaten gegenseitig die Schuld an den schweren militärischen Niederlagen zuschoben. Gegenseitige Vorwürfe bildeten fortan das Hauptgesprächsthema auch zwischen ,Antonescu und Hitler, wie der V f . am Beispiel ihres Treffens im J a n u a r 1943 zeigt. Ion Antonescu klagte z. B . darüber, d a ß Rumänien wegen seiner Erdöllieferungen an Deutschland zu Vorkriegspreisen Verluste von 35 Mrd. Lei erlitten und weitere 30 M r d . Lei (500 Mill. R M ) infolge des unausgeglichenen Clearingkontos unfreiwillig an Deutschland verliehen habe. E s gelang dem rumänischen Diktator, die Bezahlung der deutschen Schulden durch 30 t G o l d und 43 Mill. Schweizer Franken durchzusetzen (S. 249 ff.) und weitere Kompensationen zu erzwingen, was bei S. erstmals detailliert dargestellt wird. Wie der Autor weiter schreibt, verfolgte die Antonescu-Regierung bereits vor und verstärkt nach Stalingrad die Konzeption, die Westmächte zu einem gemeinsamen Vorgehen mit den faschistischen Staaten gegen die Sowjetunion zu bewegen. Außenminister Mihai Antonescu unternahm mit dieser Zielstellung Dutzende diplomatische Aktionen, die jedoch an der Forderung der britischen und USA-Regierung nach bedingungsloser Kapitulation scheiterten (S. 263 ff., 278 ff.). Parallel dazu versuchte die rumänische bürgerliche Opposition, mit den kapitalistischen Staaten der Antihitlerkoalition ins Einvernehmen zu gelangen. Wiederholt wurden lange Memoranden an Churchill, an Benes und an die polnische Exilregierung in London geschickt, deren antisowjetische Grundlinie und anmaßender T o n deutlich machten, daß die Führer der bürgerlichen Parteien Rumäniens keinerlei Sinn für die politischen Realitäten aufbrachten. So stellte Iuliu Maniu (National-Jaranistische Partei) im Februar 1943 für das Ausscheiden Rumäniens aus dem Bündnis mit Hitlerdeutschland die Vorbedingung, daß „der Standpunkt der britischen und der amerikanischen Regierung in bezug auf Rumäniens Grenzen und der ihm zugedachten Rolle bekanntgegeben w ü r d e " (S. 276). Maniu erklärte sich auch mit einem Plan der polnischen Exilregierung einverstanden, wonach Polen, die Tschechoslowakei, Österreich, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Griechenland, Jugoslawien und die Türkei eine Staatenkonföderation bilden sollten, die „stark genug wäre, um sowohl dem Druck Deutschlands widerstehen als auch als ,cordon sanitair' an der Westgrenze der Sowjetunion fungieren zu können". (S. 277). Chronologisch vorgehend, fügt der Autor in dieses K a p i t e l auch die ergebnislosen rumänisch-italienischen und rumänisch-ungarischen Unterhandlungen von 1943 ein. E r tut das in dankenswerter Ausführlichkeit, wobei er allerdings dort zu weit geht, wo er sogar Gerüchte in seine Darlegungen aufnimmt, wie etwa das von den deutsch-sowjetischen Geheimverhandlungen (S. 293 f.). Im vierten K a p i t e l schildert S. einerseits die „zunehmenden Reibungen" zwischen Bukarest und Berlin, andererseits die fieberhaften Versuche der verschiedensten Regierungs- und oppositionellen Kreise Rumäniens, das L a n d möglichst verlustlos aus dem K r i e g herauszuführen und eine Besetzung durch sowjetische Truppen zu verhindern. D a s Hauptmotiv für diese Bestrebungen war in allen Fällen die Furcht vor sozialen E r schütterungen. Maniu hatte schon 1941 erklärt, daß man darauf vorbereitet sein müsse, „ d a ß sich nach dem K r i e g große gesellschaftliche und wirtschaftliche Unordnung in ganz E u r o p a und ganz besonders im Südosten ausbreiten wird. Wir können nur hoffen, daß die Großmächte, welche von ihnen auch die Sieger sein werden, in der L a g e sind, die Rolle des Gendarmen zur Aufrechterhaltung der Ordnung zu übernehmen. Sie werden zufrieden sein, wenn es ihnen gelingt, die Ordnung bei sich zu H a u s e zu wahren. 176

Unsere einzige Rettung wird die innere Ordnung und eine gut zusammengehaltene, ihre Moral vollständig bewahrende Armee sein" (S. 342). Auch Antonescu dachte an Revolution. In einem Brief vom 29. Oktober 1942 warnte er die Führer der liberalen Opposition davor, die Massen durch Kritik am faschistischen Regime in Bewegung zu bringen. „Sie schneiden mit dieser Agitation den Ast ab, auf dem Sie selbst sitzen, Herr Brätianu. Jede neue soziale Bewegung würde zweifellos alles, was Sie, die Reichen, errichtet haben, endgültig und vollständig zum Einsturz bringen. Bs wird Ihr Tod sein Einmal habe ich Sie gerettet. Ich werde Sie nicht ein zweites Mal retten können, wenn mir Ordnung und Ruhe aus der Hand gleiten. Diese elementare Weisheit müßte Sie alle dazu bewegen, in diesen schweren Augenblicken an meiner Seite zu stehen und gemeinsam mit mir die Mühe auf sich zu nehmen, durch Arbeit, durch Ratschläge, durch das Beispiel der Einheit die Massen in Ruhe, Arbeit, Geduld und Verständnis um uns zu scharen" (S. 222). Die Furcht vor revolutionären Massenbewegungen veranlaßte die herrschenden Klassen Rumäniens, bei ihren Unterhandlungen mit der Antihitlerkoalition unangemessene und unannehmbare Bedingungen zu stellen. Die Rumänen „zeigen sich weder geneigt" - so wurde in einem Dokument des USA-Außenministeriums im März 1944 eingeschätzt - , ,,a) die Waffen in effektiver Weise gegen Deutschland zu kehren noch b) sich den Russen widerstandslos zu ergeben. Ihre große Hoffnung besteht darin, es möge sich etwas ereignen, das ihnen die Möglichkeit gibt, vor den Angelsachsen zu kapitulieren" (S. 355). Aus den detaillierten Darlegungen des Autors über die Gespräche der rumänischen Unterhändler mit Vertretern der Alliierten in Kairo, Stockholm, Bern und anderswo geht hervor, daß die herrschenden Schichten direkte Kontakte zwischen dem rumänischen Volk und sowjetischen Soldaten um jeden Preis vermeiden wollten. Deshalb weigerten sie sich, den sowjetischen Kampfeinheiten die „uneingeschränkte Bewegungsfreiheit auf dem ganzen Territorium Rumäniens, soweit es die militärische Lage erfordert", zuzugestehen, die im sowjetischen Waffenstillstandsvorschlag vom 8. April 1944 logischerweise beansprucht wurde (S. 387 ff.). Dagegen boten sie der amerikanischen und der britischen Regierung „jede gewünschte Konzession in der Erdölindustrie, im Bergbau, in der Forstwirtschaft oder in anderen Industriezweigen an, wenn die angloamerikanischen Behörden dafür die von der Sowjetunion geforderten Kriegsentschädigungen übernehmen" würden (S. 413). Durch ihr klassenegoistisches Verhalten zögerten die faschistischen wie die oppositionellen bürgerlichen Politiker den Abschluß des W a f fenstillstands immer mehr hinaus und verschuldeten dadurch weitere schwere Menschenverluste auf der Seite der Alliierten wie seitens des rumänischen Volkes. Der Autor beurteilt die Weigerung Antonescus, den Waffenstillstand mit der Sowjetregierung zu unterzeichnen, als „umso verdammenswerter, als die internationale Situation Rumäniens im Sommer 1944 ein neues Erschwernis erfuhr, indem mehr und mehr klar wurde, daß das ganze rumänische Territorium die Perspektive hatte, Schlachtfeld zu werden" (S. 414). Von dieser Einschätzung aus gelangt S. im letzten Kapitel zur Darstellung des Nationalaufstands als einer „notwendigen Lösung" (S. 421). Da ihm das Parteiarchiv der R K P offenstand, konnte er zur Geschichte der Vorbereitung und Durchführung des antifaschistischen Aufstandes zahlreiche neue Fakten und Zusammenhänge vorlegen. Insbesondere bestätigte er damit die führende Rolle, die die Kommunistische Partei bei diesem historischen Ereignis ausübte (S. führt z. B. an, daß sogar die Proklamation, 12

Jahrbuch 25/1

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die der König am Abend des 23. August 1944 über den Rundfunk verlas, von Lucrefiu Päträfcanu, einem führenden Kommunisten, entworfen worden war. - S. 468). Abschließend berichtet der Autor über die Umstände der Unterzeichnung und über den Inhalt des Waffenstillstandsvertrages. Er führt damit - insbesondere durch die Erwähnung einiger „extrem schwerer Bedingungen" (S. 490) - dem Leser vor Augen, wie sehr sich die rumänischen herrschenden Klassen durch ihre antikommunistische und antisowjetische Politik nicht zuletzt dem rumänischen Volk gegenüber schuldig machten. Dem Buch sind ein Namenindex und Fotografien aus der behandelten Zeit beigefügt. Margot Hegemann

V. K. Volkov, Mjunchenskij sgovor i balkanskie strany M o s k a u , Lzdatel'stvo Nauka, 1978, 327 S. Am 30. September 1938 unterzeichneten die Vertreter Hitlerdeutschlands, des faschistischen Italiens, Frankreichs und Großbritanniens auf der sogenannten Viererkonferenz in München ein Abkommen, mit dem angeblich der Frieden gerettet werden sollte. Tatsächlich wurde damit nach der Annexion Österreichs durch den faschistischen deutschen Imperialismus im M ä r z 1938 das Ende der Tschechoslowakischen Republik von 1918 eingeleitet und der Friede verraten. Das Münchener Abkommen bedeutete einen Höhepunkt in der antisowjetischen Verschwörung des Weltimperialismus am Vorabend des zweiten Weltkrieges: Es w a r eine Kapitulation vor der Aggression des internationalen Faschismus. Diese seinerzeit von der Regierung der Sowjetunion und von der Kommunistischen Internationale getroffene Einschätzung 1 hat bis in die Gegenwart ihre volle Gültigkeit behalten. V., der sich in seiner Monographie speziell mit dem Münchener Abkommen und seinen Auswirkungen auf einen geographisch begrenzten Raum beschäftigt, geht von dieser prinzipiellen Wertung aus. Seine Arbeit ist für die Aufdeckung des wahren Charakters dieses Abkommens außerordentlich verdienstvoll und leistet einen Beitrag zur Auseinandersetzung mit Versuchen bürgerlicher Geschichtsschreiber, die Münchener Politik zu „rehabilitieren". Darüber hinaus schließt der Autor damit eine Lücke in der Literatur über eine komplizierte Frage aus der Geschichte der internationalen Beziehungen jener Zeit. Zum ersten M a l e wird eine komplexe Untersuchung vorgelegt, in der die Einwirkungen des Münchener Abkommens auf die Außenpolitik sowie die innere Lage in Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien, der Türkei und Griechenland verfolgt und die W i dersprüche und Auseinandersetzungen der imperialistischen Großmächte auf der B a l kanhalbinsel analysiert werden. V. deckt die Methoden des Eindringens und die Veränderungen im System der internationalen Beziehungen, vor allem zwischen den faschistischen und nichtfaschistischen imperialistischen Staaten, und den damit verbundenen E i n f l u ß auf die außenpolitischen Konzepte der herrschenden Klassen der Balkanländer auf. Hervorzuheben ist, d a ß er auch den inneren Entwicklungsprozessen in den einzelnen Ländern große Aufmerksamkeit schenkt und die Einwirkung der Außenpolitik auf ihren Verlauf untersucht. 1

Vgl. München - ein Verbrechen am Frieden, in: Rundschau über Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung, 13. 1 0 . 1 9 3 8 , S. 1 6 9 7 f.

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die der König am Abend des 23. August 1944 über den Rundfunk verlas, von Lucrefiu Päträfcanu, einem führenden Kommunisten, entworfen worden war. - S. 468). Abschließend berichtet der Autor über die Umstände der Unterzeichnung und über den Inhalt des Waffenstillstandsvertrages. Er führt damit - insbesondere durch die Erwähnung einiger „extrem schwerer Bedingungen" (S. 490) - dem Leser vor Augen, wie sehr sich die rumänischen herrschenden Klassen durch ihre antikommunistische und antisowjetische Politik nicht zuletzt dem rumänischen Volk gegenüber schuldig machten. Dem Buch sind ein Namenindex und Fotografien aus der behandelten Zeit beigefügt. Margot Hegemann

V. K. Volkov, Mjunchenskij sgovor i balkanskie strany M o s k a u , Lzdatel'stvo Nauka, 1978, 327 S. Am 30. September 1938 unterzeichneten die Vertreter Hitlerdeutschlands, des faschistischen Italiens, Frankreichs und Großbritanniens auf der sogenannten Viererkonferenz in München ein Abkommen, mit dem angeblich der Frieden gerettet werden sollte. Tatsächlich wurde damit nach der Annexion Österreichs durch den faschistischen deutschen Imperialismus im M ä r z 1938 das Ende der Tschechoslowakischen Republik von 1918 eingeleitet und der Friede verraten. Das Münchener Abkommen bedeutete einen Höhepunkt in der antisowjetischen Verschwörung des Weltimperialismus am Vorabend des zweiten Weltkrieges: Es w a r eine Kapitulation vor der Aggression des internationalen Faschismus. Diese seinerzeit von der Regierung der Sowjetunion und von der Kommunistischen Internationale getroffene Einschätzung 1 hat bis in die Gegenwart ihre volle Gültigkeit behalten. V., der sich in seiner Monographie speziell mit dem Münchener Abkommen und seinen Auswirkungen auf einen geographisch begrenzten Raum beschäftigt, geht von dieser prinzipiellen Wertung aus. Seine Arbeit ist für die Aufdeckung des wahren Charakters dieses Abkommens außerordentlich verdienstvoll und leistet einen Beitrag zur Auseinandersetzung mit Versuchen bürgerlicher Geschichtsschreiber, die Münchener Politik zu „rehabilitieren". Darüber hinaus schließt der Autor damit eine Lücke in der Literatur über eine komplizierte Frage aus der Geschichte der internationalen Beziehungen jener Zeit. Zum ersten M a l e wird eine komplexe Untersuchung vorgelegt, in der die Einwirkungen des Münchener Abkommens auf die Außenpolitik sowie die innere Lage in Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien, der Türkei und Griechenland verfolgt und die W i dersprüche und Auseinandersetzungen der imperialistischen Großmächte auf der B a l kanhalbinsel analysiert werden. V. deckt die Methoden des Eindringens und die Veränderungen im System der internationalen Beziehungen, vor allem zwischen den faschistischen und nichtfaschistischen imperialistischen Staaten, und den damit verbundenen E i n f l u ß auf die außenpolitischen Konzepte der herrschenden Klassen der Balkanländer auf. Hervorzuheben ist, d a ß er auch den inneren Entwicklungsprozessen in den einzelnen Ländern große Aufmerksamkeit schenkt und die Einwirkung der Außenpolitik auf ihren Verlauf untersucht. 1

Vgl. München - ein Verbrechen am Frieden, in: Rundschau über Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung, 13. 1 0 . 1 9 3 8 , S. 1 6 9 7 f.

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Die Monographie stützt sich auf reichhaltiges Quellenmaterial sowohl veröffentlichter als auch unveröffentlichter Dokumente, letztere insbesondere aus Archiven der in der Arbeit behandelten Länder. In fünf Kapiteln - historisch-chronologisch und sachlich angelegt - zeichnet V. detailliert den politischen Kurs der Balkanländer in der ganzen Periode vor und nach „München" bis zur Okkupation der Tschechoslowakei im März 1939 nach. Dabei geht er methodisch so vor, daß in den ersten drei Kapiteln die Haltung der einzelnen Länder abgehandelt und in den letzten zwei Kapiteln Fragen, die den gesamten Raum betreffen, analysiert und zusammengeführt werden. Die Politik der fünf Balkanländer vor dem September 1938 wurde maßgeblich bestimmt von dem anglo-französischen Konzept der Befriedungspolitik. So waren Jugoslawien und Rumänien bestrebt, nicht in die Auseinandersetzungen der imperialistischen Großmächte während der „tschechoslowakischen Krise" einbezogen zu werden; sie überließen ebenso wie die Westmächte ihren Bündnispartner Tschechoslowakei in der Kleinen Entente seinem Schicksal. Schon vor dem Münchener Abkommen hatten sowohl Jugoslawien und Rumänien als auch Griechenland und die Türkei mit den Abkommen von Saloniki (Juli 1938) bzw. von Bled (August 1938) ihren „Beitrag" zur Revision des imperialistischen Versailler Nachkriegssystems eingebracht. Widersprüchlicher gestaltete sich vor allem die außenpolitische Linie der herrschenden Kreise in Bulgarien, die, wie V. sichtbar macht, darauf gerichtet war, ein Gleichgewicht zwischen den faschistischen Achsenmächten und den Westmächten zu erreichen. Aber die Politik der Zugeständnisse gegenüber den faschistischen Aggressoren schwächte faktisch den Einfluß Großbritanniens und Frankreichs. Nach „München" wurde das Kräfteverhältnis in Europa verändert, bestehende Verträge bzw. politische Blöcke ausgehöhlt, und die Balkanhalbinsel wurde aufgrund ihrer militär-strategischen, politischen und ökonomischen Bedeutung zu einem der wichtigsten Knotenpunkte imperialistischer Widersprüche. Die einzelnen Länder, die sich vorher mehr oder weniger an der „Peripherie" befanden, gerieten nun vollends in das Zentrum der Bestrebungen Hitlerdeutschlands um die Vorherrschaft in diesem Raum. Der faschistische deutsche Imperialismus setzte seine Expansionspolitik gegenüber dem Balkan auf einer qualitativ neuen Stufe fort: Die auf Grund der schmachvollen Kapitulation der sogenannten westlichen „Demokratien" in den Balkanländern entstandene Verwirrung ausnutzend, wurde der wirtschaftliche und politische Sturmangriff eröffnet. Die herrschenden Kreise Großbritanniens und Frankreichs, die fest entschlossen waren, die Aggressoren gegen die Sowjetunion zu lenken, ließen den faschistischen Umtrieben auch weiterhin freie Hand. Chamberlain erklärte offen, daß es nicht zweckmäßig sei, Hitlerdeutschland irgendwelche Hindernisse in den Weg zu legen. 2 V. verallgemeinert die Methoden der faschistischen Durchdringung: so nutzten die deutschen Faschisten die Widersprüche zwischen den herrschenden Klassen der Balkanländer und die gegenseitigen territorialen Ansprüche aus, festigten die Wirtschaftsbeziehungen und die eigenen ökonomischen Positionen durch knechtende Handelsverträge, Kreditabkommen u. ä. und förderten die faschistischen Elemente innerhalb der nationalen deutschen Minderheiten, denen nicht selten die Funktion einer „fünften Kolonne" aufgezwungen wurde. Anhand zahlreicher Beispiele wird deutlich, wie durch das Münchener Abkommen in den einzelnen Ländern einerseits volksfeindliche und 2

Vgl. D i e faschistische Aggression auf dem Balkan, in: Die Kommunistische Internationale, 1 9 3 9 , H. 5, S. 5 9 8 .

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monarcho-faschistische Regimes gefestigt wurden und andererseits jene Kräfte, die sich auf das faschistische Deutschland orientierten, Auftrieb erhielten und bürgerlich-demokratische oppositionelle Kräfte unter diesem Eindruck weiter zersplittert wurden. V . zieht als Fazit seiner Untersuchungen, d a ß die Versuche der Balkanregierungen, eine Position der Neutralität zwischen den westlichen „Demokratien" und den faschistischen Staaten einzunehmen, zum Scheitern verurteilt waren. Die Sicherheit der Balkanländer konnte nur erreicht werden auf dem W e g e der Festigung ihrer Beziehungen zur sozialistischen Sowjetunion, die als einzige dafür eintrat, den Frieden zu erhalten und ein System der kollektiven Sicherheit in ganz Europa zu schaffen. Verblendet durch den H a ß gegen das erste sozialistische Land, beschritten die herrschenden Kreise dieser Länder jedoch nicht diesen W e g und vermochten auch nicht die weitere faschistische Expansion aufzuhalten. Allein die kommunistischen Parteien setzten ihre Bestrebungen fort, die nationale Unabhängigkeit ihrer Völker zu verteidigen und alle demokratischen Kräfte - von der revolutionären Arbeiterbewegung bis zu oppositionellen Vertretern bürgerlicher Parteien - gegen diese antinationale Politik zu breiten Volksfronten zusammenzuschließen. Insgesamt ist festzuhalten, d a ß die Arbeit V.s auf der Grundlage des erreichten Forschungsstandes der marxistisch-leninistischen Geschichtsschreibung und neuer Materialien eine Reihe von Problemen wissenschaftlich fundiert beantwortet: Sie wertet die Außenpolitik der Balkanregierungen im Zusammenhang mit dem Münchener Abkommen, charakterisiert den antisowjetischen Inhalt dieser Politik, stellt den inneren Zusammenhang zwischen Innen- und Außenpolitik heraus, untersucht gründlich die Haltung der imperialistischen Großmächte und ihre Einmischungspolitik und vermittelt schließlich ein Bild von dem Platz und der Rolle der Balkanhalbinsel im allgemeinen System der internationalen Beziehungen jener Jahre. Erwin Lewin

Gerd Voigt, Otto Hoetzsch 1876-1946. Wissenschaft und Politik im Leben eines deutschen Historikers Quellen und Studien zur Geschichte Osteuropas, Bd. X X I Berlin, Akademie-Verlag, 1978, 404 S. Otto Hoetzsch, eine der markantesten Gestalten der bürgerlichen deutschen Osteuropaforschung, durchlief in seinem siebzigjährigen Leben eine bemerkenswerte Entwicklung vom engagierten Verfechter der Klasseninteressen des deutschen Imperialismus bis zum Mitgestalter der entstehenden fortschrittlichen Geschichtswissenschaft an« der Seite der antifaschistisch-demokratischen Kräfte auf dem Territorium der heutigen D D R . Durch sein vielseitiges Wirken auf wissenschaftspolitischem, publizistischem und parlamentarisch-parteipolitischem Gebiet widerspiegeln sich in seinem widersprüchlichen Lebenslauf - gleich einem Prisma - mannigfaltige Prozesse der deutschen bürgerlichen Historiographie, der deutsch-sowjetischen Wissenschaftsbeziehungen, der bürgerlichen Parteientwicklung, ja der deutschen Geschichte überhaupt. Die Erarbeitung einer wissenschaftlichen Biographie dieses eng mit der Politik und dem gesellschaftlichen Leben

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monarcho-faschistische Regimes gefestigt wurden und andererseits jene Kräfte, die sich auf das faschistische Deutschland orientierten, Auftrieb erhielten und bürgerlich-demokratische oppositionelle Kräfte unter diesem Eindruck weiter zersplittert wurden. V . zieht als Fazit seiner Untersuchungen, d a ß die Versuche der Balkanregierungen, eine Position der Neutralität zwischen den westlichen „Demokratien" und den faschistischen Staaten einzunehmen, zum Scheitern verurteilt waren. Die Sicherheit der Balkanländer konnte nur erreicht werden auf dem W e g e der Festigung ihrer Beziehungen zur sozialistischen Sowjetunion, die als einzige dafür eintrat, den Frieden zu erhalten und ein System der kollektiven Sicherheit in ganz Europa zu schaffen. Verblendet durch den H a ß gegen das erste sozialistische Land, beschritten die herrschenden Kreise dieser Länder jedoch nicht diesen W e g und vermochten auch nicht die weitere faschistische Expansion aufzuhalten. Allein die kommunistischen Parteien setzten ihre Bestrebungen fort, die nationale Unabhängigkeit ihrer Völker zu verteidigen und alle demokratischen Kräfte - von der revolutionären Arbeiterbewegung bis zu oppositionellen Vertretern bürgerlicher Parteien - gegen diese antinationale Politik zu breiten Volksfronten zusammenzuschließen. Insgesamt ist festzuhalten, d a ß die Arbeit V.s auf der Grundlage des erreichten Forschungsstandes der marxistisch-leninistischen Geschichtsschreibung und neuer Materialien eine Reihe von Problemen wissenschaftlich fundiert beantwortet: Sie wertet die Außenpolitik der Balkanregierungen im Zusammenhang mit dem Münchener Abkommen, charakterisiert den antisowjetischen Inhalt dieser Politik, stellt den inneren Zusammenhang zwischen Innen- und Außenpolitik heraus, untersucht gründlich die Haltung der imperialistischen Großmächte und ihre Einmischungspolitik und vermittelt schließlich ein Bild von dem Platz und der Rolle der Balkanhalbinsel im allgemeinen System der internationalen Beziehungen jener Jahre. Erwin Lewin

Gerd Voigt, Otto Hoetzsch 1876-1946. Wissenschaft und Politik im Leben eines deutschen Historikers Quellen und Studien zur Geschichte Osteuropas, Bd. X X I Berlin, Akademie-Verlag, 1978, 404 S. Otto Hoetzsch, eine der markantesten Gestalten der bürgerlichen deutschen Osteuropaforschung, durchlief in seinem siebzigjährigen Leben eine bemerkenswerte Entwicklung vom engagierten Verfechter der Klasseninteressen des deutschen Imperialismus bis zum Mitgestalter der entstehenden fortschrittlichen Geschichtswissenschaft an« der Seite der antifaschistisch-demokratischen Kräfte auf dem Territorium der heutigen D D R . Durch sein vielseitiges Wirken auf wissenschaftspolitischem, publizistischem und parlamentarisch-parteipolitischem Gebiet widerspiegeln sich in seinem widersprüchlichen Lebenslauf - gleich einem Prisma - mannigfaltige Prozesse der deutschen bürgerlichen Historiographie, der deutsch-sowjetischen Wissenschaftsbeziehungen, der bürgerlichen Parteientwicklung, ja der deutschen Geschichte überhaupt. Die Erarbeitung einer wissenschaftlichen Biographie dieses eng mit der Politik und dem gesellschaftlichen Leben

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seiner Zeit verbundenen Historikers erwies sich deshalb als eine für die Geschichte der Geschichtswissenschaft überaus lohnende, zugleich aber wegen ihrer Vielschichtigkeit äußerst komplizierte Aufgabe. D e r Vf. krönte mit dem vorliegenden Werk, das auf seiner stark überarbeiteten Dissertation beruht 1 , seine mehr als ein Jahrzehnt währenden Forschungen zu dieser Problematik 2 . Seine Hoetzsch-Biographie wird höchsten Ansprüchen gerecht. Sie _gibt nicht nur ein umfassendes, lebendig und anschaulich geschriebenes Lebensbild dieses Historikers, sondern stellt darüber hinaus eine Geschichte der bürgerlichen deutschen Osteuropahistoriographie und ihrer wichtigsten Institutionen von ihrer Entstehung bis zum Ende des zweiten Weltkrieges dar und vermittelt eine Fülle von Fakten zur Geschichte der deutsch-sowjetischen Wissenschaftsbeziehungen in den Jahren der Weimarer Republik. Mit bewundernswertem Spürsinn hat V . das reichhaltige, weit verstreute Quellenmaterial zusammengetragen und aufbereitet. So wertete er zahlreiche Archivalien aus zehn Archiven der D D R , der UdSSR, der V R Polen und der B R D , eine kaum zu übersehende Menge von Zeitungen und Zeitschriften sowie anderer gedruckter Quellen aus und ergänzte sie durch Befragungen noch lebender Zeugen. D e r außerordentliche Materialreichtum ist ein entscheidender Vorzug des Buches. D i e Gliederung des Werkes folgt im wesentlichen chronologisch den Hauptetappen im Leben und Wirken von Hoetzsch. Nach einem einleitenden Kapitel über die Entstehung der imperialistischen deutschen Rußlandkunde, das die wissenschaftlichen und ideologischen Bedingungen umreißt, unter denen der junge Hoetzsch seine Laufbahn begann, wird in Kapitel II über die Jugend, die wissenschaftliche Ausbildung und die politischen Anfänge von Hoetzsch berichtet. Die gesellschaftspolitischen Ansichten Hoetzschs während seines Studiums in Leipzig (bis 1899) und seines ersten Berliner Aufenthalts ( 1 9 0 0 - 1 9 0 6 ) charakterisiert V . als „ein Gemisch von gemäßigt-konservativen, aggressiv-imperialistischen und sozialdemagogischen Bestandteilen" (S. 19). Im K a pitel I I I wird Hoetzschs Tätigkeit in Posen ( 1 9 0 6 - 1 9 1 3 ) dargestellt, wobei seine Lehrtätigkeit an der Königlichen Akademie und sein antipolnisches Wirken im Ostmarkenverein besondere Aufmerksamkeit findet. Kapitel I V enthält eine sehr ausgewogene Analyse des Rußlandbildes von Hoetzsch in allen seinen Komponenten, wie es sich seit 1905/06 bis etwa 1912/13 formierte. E s werden sowohl das reaktionäre Wesen seiner Anschauungen über die russische Geschichte als auch die richtigen Teilerkenntnisse und die Ansätze für seine Empfehlungen zu einer prorussischen Außenpolitik .Deutschlands herausgearbeitet. Ausführlich zeigt V . die Gegensätze in den Auffassungen von Hoetzsch und Theodor Schiemann, die sich

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G. Voigt, Otto Hoetzsch 1 8 7 6 - 1 9 4 6 . Ein biographischer Beitrag zur Geschichte der deutschen Osteuropakunde, Phil. Diss., Halle-Wittenberg 1967. Ders., Otto Hoetzsch - eine biographische Skizze, in: Der Antikommunismus in Theorie und Praxis des deutschen Imperialismus. Sonderband der Wissenschaftlichen Zeitschrift der Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg 1963, S. 143 ff.; G. Lozek/G. Voigt, Zu einigen Problemen der Auswirkung der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution auf die deutsche bürgerliche Geschichtswissenschaft, in: Die Große Sozialistische Oktoberrevolution und Deutschland, hg. v. d. Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Sektion Geschichte, Berlin 1967, Bd. 1, S. 515 ff.; G. Voigt, Otto Hoetzsch und die UdSSR, in: Verbündete in der Forschung. Traditionen der deutsch-sowjetischen Wissenschaftsbeziehungen und die wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen der Akademie der Wissenschaften der UdSSR und der Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin 1976, S. 149 ff.

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vor allem „aus den verschiedenen Antworten auf die Frage nach der geschichtlichen Zugehörigkeit R u ß l a n d s " ergaben (S. 64). K a p i t e l V und VI. behandeln Hoetzsch publizistische Tätigkeit im ersten Weltkrieg, seine Beteiligung an der imperialistischen Kriegszieldiskussion und sein Programm einer „Ostorientierung", einer Zusammenarbeit mit dem zaristischen Rußland nach dem Kriege, was völlig illusorisch war, d a er das Heranreifen der proletarischen Revolution lange Zeit verkannte. D i e Auseinandersetzungen um dieses dem Wesen nach reaktionäre Programm der „Ostorientierung", das Hoetzsch mehr oder weniger als Einzelgänger vertrat, bildeten - wie V. hervorhebt - den ersten Einschnitt in seinem komplizierten ideologisch-politischen Entwicklungsprozeß. E r trennte sich von einigen extrem imperialistischen Tendenzen und deren Trägern (S. 102). „ D e r Verzicht des konservativen Historikers Hoetzsch auf uferlose Annexionen und sein K a m p f gegen derartige Pläne, die Anerkennung bestimmter geschichtlich-politischer Sachverhalte und die Achtung vor dem russischen Volk waren durchaus geeignet, Ansatzpunkte für eine veränderte bürgerliche A u f f a s s u n g des deutsch-russischen Verhältnisses zu werden" (S. 90). Hoetzschs Stellung zur Großen Sozialistischen Oktoberrevolution und zum R a u b frieden von Brest-Litovsk wird im K a p i t e l V I I untersucht. E r betrachtete die Oktoberrevolution zwar als herausragendes Ereignis, konnte ihre Bedeutung als weltgeschichtliche Zäsur jedoch nicht erkennen. Einerseits Gegner des Brester Friedensdiktats, blieb er andererseits unter dem Eindruck der Novemberrevolution in Deutschland dem krassen Antibolschewismus verhaftet. Kapitel V I I I beschäftigt sich mit Hoetzschs Wirken als Mitglied des Parteivorstandes der konservativen D N V P , als außenpolitischer E x p e r t e und Reichstagsabgeordneter dieser Partei. Durch seine ausgedehnte Lehrtätigkeit an zahlreichen Hochschulcn, seine umfangreiche publizistische und parlamentarische Arbeit erzielte er eine Breitenwirkung wie kein anderer politisch tätiger Historiker der Weimarer Republik (S. 155). In methodologischer Hinsicht gehörte er dem konservativen Flügel der Neurankeaner an. „ D i e s ergab sich schon aus seiner Betonung des Machtstaatsprinzips, der damit verbundenen Lehre vom Primat der Außenpolitik und seinem Unverständnis für das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung, ferner aus seinem Versuch, die ,historischen' und sittlichen Werte des Preußentums zu beschwören und aus der seinem gesamten Wirken immanenten Tendenz, die Volksmassen für die gesamtstaatlichen', angeblich nationalen Ziele zu begeistern, wofür er auch liberalisierende Mittel nicht scheute" (S. 142 f.). Hoetzschs eigentliches Spezialgebiet in den Jahren der Weimarer Republik waren die Innen- und Außenpolitik der U d S S R und die deutsch-sowjetischen Beziehungen. E i n Drittel des Buches von V . (Kapitel I X und X ) ist deshalb berechtigterweise diesem Problemkreis gewidmet. V . hebt die Jahre 1925 bis 1930 als zweiten Einschnitt in der komplizierten ideologischen Entwicklung Hoetzschs hervor (S. 227). E r weist nach, daß sich Hoetzsch in den zwanziger Jahren zu einem konsequenten bürgerlichen Anhänger der friedlichen Koexistenz von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung entwickelte. D i e Ursachen dafür sieht er in Elementen seines ehemaligen Programms der „Ostorientierung", in der Idee einer historisch notwendigen Interessengemeinschaft von Rußland und Deutschland, in Hoetzschs Auffassung, daß historisch oder geographisch bedingte, schwerwiegende Gegensätze zwischen beiden Ländern und Völkern fehlten, dafür aber vielfältige Möglichkeiten gegenseitiger Ergänzung in Wirtschaft und Kultur bestanden (S. 199). Gleichzeitig deckt V. die ganze Widersprüchlichkeit der Ansichten Otto Hoetzschs durch eingehende Analyse aller seiner Äußerungen über die U d S S R 182

auf. So zeigt er z. B., d a ß Hoetzsch sich nur sehr widerstrebend von der antikommunistischen Evolutionstheorie löste,'"sie „aber niemals als Grundlage seines eigenen, von Zweckmäßigkeitserwägungen bestimmten außenpolitischen Programms gegenüber der U d S S R oder gar als Basis für ein erfolgreiches Zusammenwirken mit der sowjetischen Wissenschaft akzeptiert" hat (S. 174 f.). Wichtig ist der methodologische Hinweis V.s, die Evolutionstheorien der zwanziger Jahre nach ihrem Platz im jeweiligen, auf die Sowjetunion bezogenen politisch-ideologischen Konzept zu beurteilen. Bei Hoetzsch, der nicht mit blindem H a ß auf die U d S S R schaute, „war der Evolutionsgedanke mehr Ausdruck des Zweifels an der Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus und drückte das Unverständnis des bürgerlichen Beobachters für die tiefen revolutionären Umgestaltungen in der U d S S R , besonders für die geschichtliche Rolle des Proletariats, aus" (S. 173). Dieses Unverständnis hinderte ihn nicht, vor allem in der zweiten H ä l f t e der zwanziger J a h r e über die von ihm maßgeblich profilierte Deutsche Gesellschaft zum Studium Osteuropas Beziehungen zur marxistischen sowjetischen Wissenschaft anzubahnen, die von V . ebenfalls sehr ausführlich anhand von bisher wenig oder gar nicht bekannten Archivmaterialien beleuchtet werden. Um 1930 gelangte Hoetzsch zu einem vertieften Verständnis der sowjetischen Politik der friedlichen Koexistenz. Er verstärkte die Zusammenarbeit mit der sowjetischen Geschichtswissenschaft und w a r zur planmäßigen Zusammenarbeit mit ihr bereit. Aus der D N V P ausgeschieden, durch "antisowjetische K r ä f t e in seinem Wirkungsradius innerhalb der Gesellschaft zum Studium Osteuropas eingeengt, resignierte er aber „im entscheidenden Moment, da er offensichtlich an der Politik des Auswärtigen Amtes und an der inneren Entwicklung seiner Osteuropa-Gesellschaft verzweifelte" (S. 251). Kapitel XI „Unter der hitlerfaschistischen Diktatur" schildert die Faschisierung der deutschen Osteuropaforschung, die Ausschaltung Otto Hoetzschs aus Universität und Osteuropagesellschaft und dessen Versuche, die Zusammenarbeit mit der sowjetischen Geschichtswissenschaft über die Aktenpublikation „Die internationalen Beziehungen im Zeitalter des Imperialismus" zu retten. Kapitel XII ist dem letzten Lebensjahr von Hoetzsch, seinem M i t w i r k e n am demokratischen N e u a u f b a u 1945/46 in der sowjetischen Besatzungszone und damit dem abschließenden Einschnitt in seiner politisch-ideologischen Entwicklung vorbehalten. D a s w a r eine sehr fruchtbare Schaffensperiode, in der Hoetzsch mehr geschichtswissenschaftliche Arbeiten verfaßte als je zuvor in einem vergleichbaren Zeitraum seines Lebens, wesentliche Elemente des progressiven Geschichtsdenkens rezipierte und „in der K l a r heit politischer Schlußfolgerungen erstmals mit den Aufgaben des gesellschaftlichen Fortschritts" übereinstimmte (S. 277). W i e weit Hoetzsch die Revision seiner Geschichtsauffassung vorangetrieben hatte, belegt V . mit einer vergleichenden Analyse aller ihm zugänglichen Schriften von Hoetzsch aus den Jahren 1945/46. Es w i r d dadurch sichtbar, d a ß er den Antikommunismus endgültig überwunden hatte. Den von V . dargelegten Forschungsergebnissen ist voll zuzustimmen. Es seien lediglich einige kleine Anmerkungen gemacht. Geht es bei- allem berechtigten Bemühen um eine differenzierte Einschätzung einzelner. Vertreter der Osteuropaforschung nicht etwas zu weit, den Kulturhistoriker Martin W i n k l e r in eine Reihe mit dem marxistischen ( Forischer und antifaschistischen W i d e r s t a n d s k ä m p f e r Georg Sacke zu stellen (vgl. S. 190)? Nicht einverstanden erklären kann man sich mit der Behauptung, M . N. Pokrovskij habe die unheilvolle politische Rolle Theodor Schiemanns offensichtlich schwer unterschätzt (S. 213). Bereits 1-923 hatte er nämlich festgestellt, Schiemann unterbreite 183

„kein schlechtes, neues Material über Nikolaus I. in der erzreaktionärsten Beleuchtung, die man sich denken kann" 3 . Seine anderslautenden positiven Äußerungen auf der Historikerwoche 1928 sind wohl eher als Geste der Höflichkeit gegenüber den deutschen Veranstaltern zu verstehen. Nicht ganz verständlich ist, weshalb anstelle des üblichen Terminus Slawophile die Form „Slavjanophile" gewählt wurde (S. 57). V.s Monographie ist ein wertvoller Beitrag zur Auseinandersetzung mit der imperialistischen Osteuropahistoriographie. Mit Nachdruck wendet sich V . gegen deren Versuche, das politische und wissenschaftliche Erbe von Hoetzsch zu entstellen und für die eigene Traditionspflege zu mißbrauchen (vgl. u. a. S. 186, 269). Im Anhang des Buches befindet sich eine verdienstvolle Quellenedition. Die zwanzig (bis auf eine Ausnahme) bisher nicht veröffentlichten Dokumente gestatten interessante Einblicke in die Entwicklung der Auffassungen von Otto Hoetzsch, die Geschichte der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas und die Angriffe extrem reaktionärer Kräfte auf Hoetzsch. Besonders zu begrüßen ist der Wiederabdruck des heute kaum noch zugänglichen Vortrages „Die Eingliederung der osteuropäischen Geschichte in die Gesamtgeschichte nach Konzeption, Forschung und Lehre" vom 21. Mai 1946, in dem Hoetzsch am klarsten seine neugewonnenen Positionen niedergelegt hatte (S. 340 ff.). Eine Bibliographie der Schriften von und über Otto Hoetzsch, ein Quellen- und Literaturverzeichnis, das schon in seiner Beschränkung auf eine Auswahl die umfassende Literatur- und Quellenkenntnis des Autors belegt, söwie ein Personenregister runden den Band ab und geben ihm - in Verbindung mit den zahlreichen bibliographischen und biographischen Angaben zu den verschiedensten Vertretern der Osteuropaforschung im Text - in gewissem Maße den Charakter eines Nachschlagewerks, das für jeden Historiker unentbehrlich ist, der sich über die Entwicklung der deutschen bürgerlichen Osteuropahistoriographie informieren will. V.s Monographie, die dem wachsenden Bedürfnis nach wissenschaftlichen Biographien bedeutender Historiker entgegenkommt'1 und ein Musterbeispiel dieses Genres darstellt, wird sich als Standardwerk behaupten. Lutz-Dieter

Behrendt

Sonja Striegnitz, Deutsche Internationalisten in Sowjetrußland 1917-1918 Proletarische Solidarität im K a m p f um die Sowjetmacht Quellen und Studien zur Geschichte Osteuropas, Bd. X X I V Berlin, Akademie-Verlag, 1979, 260 S. D i e Große Sozialistische Oktoberrevolution und, ihr Widerhall in allen Sphären des gesellschaftlichen Lebens sind ein nahezu unerschöpfliches Thema der Geschichtswissenschaft. Das gilt gleichfalls für den Einfluß des Roten Oktober auf das damalige 3 4

M. N. Pokrovskij, Izbrannye proizvedenija v cetyrech knigach, Bd. 4, Moskau 1 9 6 7 , S. 2 7 3 . Vgl. M. V. Neckina, Vasilij Osipovic Kljucevskij. Istorija zizni i tvorcestva, Moskau 1 9 7 4 ; B. G. Safronov, Istoriceskoe mirovozzrenie R. Ju. Vippera i ego vremja, Moskau 1 9 7 6 ; E. I. Capkevic, Evgenij Viktorovic Tarle, Moskau 1 9 7 7 ; L. V. Badja, Akademik A. M. Pankratova - istorik rabocego klassa SSSR, Moskau 1 9 7 9 ; E. Stoecker, A. S. Jerussalimski. Deutsche Geschichte im Leben eines sowjetischen Historikers und Kommunisten, Berlin 1 9 8 0 .

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„kein schlechtes, neues Material über Nikolaus I. in der erzreaktionärsten Beleuchtung, die man sich denken kann" 3 . Seine anderslautenden positiven Äußerungen auf der Historikerwoche 1928 sind wohl eher als Geste der Höflichkeit gegenüber den deutschen Veranstaltern zu verstehen. Nicht ganz verständlich ist, weshalb anstelle des üblichen Terminus Slawophile die Form „Slavjanophile" gewählt wurde (S. 57). V.s Monographie ist ein wertvoller Beitrag zur Auseinandersetzung mit der imperialistischen Osteuropahistoriographie. Mit Nachdruck wendet sich V . gegen deren Versuche, das politische und wissenschaftliche Erbe von Hoetzsch zu entstellen und für die eigene Traditionspflege zu mißbrauchen (vgl. u. a. S. 186, 269). Im Anhang des Buches befindet sich eine verdienstvolle Quellenedition. Die zwanzig (bis auf eine Ausnahme) bisher nicht veröffentlichten Dokumente gestatten interessante Einblicke in die Entwicklung der Auffassungen von Otto Hoetzsch, die Geschichte der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas und die Angriffe extrem reaktionärer Kräfte auf Hoetzsch. Besonders zu begrüßen ist der Wiederabdruck des heute kaum noch zugänglichen Vortrages „Die Eingliederung der osteuropäischen Geschichte in die Gesamtgeschichte nach Konzeption, Forschung und Lehre" vom 21. Mai 1946, in dem Hoetzsch am klarsten seine neugewonnenen Positionen niedergelegt hatte (S. 340 ff.). Eine Bibliographie der Schriften von und über Otto Hoetzsch, ein Quellen- und Literaturverzeichnis, das schon in seiner Beschränkung auf eine Auswahl die umfassende Literatur- und Quellenkenntnis des Autors belegt, söwie ein Personenregister runden den Band ab und geben ihm - in Verbindung mit den zahlreichen bibliographischen und biographischen Angaben zu den verschiedensten Vertretern der Osteuropaforschung im Text - in gewissem Maße den Charakter eines Nachschlagewerks, das für jeden Historiker unentbehrlich ist, der sich über die Entwicklung der deutschen bürgerlichen Osteuropahistoriographie informieren will. V.s Monographie, die dem wachsenden Bedürfnis nach wissenschaftlichen Biographien bedeutender Historiker entgegenkommt'1 und ein Musterbeispiel dieses Genres darstellt, wird sich als Standardwerk behaupten. Lutz-Dieter

Behrendt

Sonja Striegnitz, Deutsche Internationalisten in Sowjetrußland 1917-1918 Proletarische Solidarität im K a m p f um die Sowjetmacht Quellen und Studien zur Geschichte Osteuropas, Bd. X X I V Berlin, Akademie-Verlag, 1979, 260 S. D i e Große Sozialistische Oktoberrevolution und, ihr Widerhall in allen Sphären des gesellschaftlichen Lebens sind ein nahezu unerschöpfliches Thema der Geschichtswissenschaft. Das gilt gleichfalls für den Einfluß des Roten Oktober auf das damalige 3 4

M. N. Pokrovskij, Izbrannye proizvedenija v cetyrech knigach, Bd. 4, Moskau 1 9 6 7 , S. 2 7 3 . Vgl. M. V. Neckina, Vasilij Osipovic Kljucevskij. Istorija zizni i tvorcestva, Moskau 1 9 7 4 ; B. G. Safronov, Istoriceskoe mirovozzrenie R. Ju. Vippera i ego vremja, Moskau 1 9 7 6 ; E. I. Capkevic, Evgenij Viktorovic Tarle, Moskau 1 9 7 7 ; L. V. Badja, Akademik A. M. Pankratova - istorik rabocego klassa SSSR, Moskau 1 9 7 9 ; E. Stoecker, A. S. Jerussalimski. Deutsche Geschichte im Leben eines sowjetischen Historikers und Kommunisten, Berlin 1 9 8 0 .

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Deutsche Reich und die deutsche Arbeiterbewegung. Wenn auch von der Historiographie der U d S S R und der D D R (hier nicht zuletzt von der Vfn.) zum Problemkreis dieser Monographie bereits einige Arbeiten, zumeist Aufsätze, veröffentlicht wurden, so haben wir es doch jetzt mit einer tiefgründigen Gesamtdarstellung über den Zeitraum v o m Beginn des ersten Weltkrieges bis A n f a n g 1919, vor allem vom Oktober 1917 bis zur deutschen Novemberrevolution 1918, zu tun. R u n d fünf Millionen Ausländer, darunter fast 2,2 Millionen Kriegsgefangene der Armeen der Mittelmächte, befanden sich zum Zeitpunkt der Oktoberrevolution in Rußl a n d ; in unterschiedlichem Maße wurden sie von den revolutionären, aber auch von den konterrevolutionären Vorgängen in allen Teilen des L a n d e s erfaßt. J e d e r einzelne mußte während der Revolution Partei ergreifen. Im Ergebnis der revolutionären E r e i g nisse und des Einflusses der Bolschewiki, der russischen Arbeiterklasse und der revolutionären Sozialisten und Sozialdemokraten-Internationalisten unter den Kriegsgefangenen - so arbeitet S. heraus - erkannten Hunderttausende von ihnen die Bedeutung des Großen Oktober und traten aktiv für die junge Sowjetmacht ein. Sie vereinigten sich in Massenorganisationen der revolutionären Kriegsgefangenen, in Komitees, Ausschüssen oder auch in Sowjets. D i e revolutionäre Vorhut dieser Internationalisten schloß sich in, nach Sprachen gegliederten, kommunistischen Gruppen zusammen, deren zentrale Föderation im Leninschen Zentralkomitee ihre Vertretung hatte. Aus den Reihen dieser klassenbewußten, internationalistischen und konsequent revolutionären K r ä f t e gingen internationale Einheiten der Roten A r m e e hervor. E s war Ausdruck ihrer höchsten Verbundenheit mit der Leninschen Partei, mit der russischen Arbeiterbewegung und der jungen Sowjetmacht, daß sie mit der W a f f e in der H a n d den ersten Arbeiter-und-Bauern-Staat in der Welt verteidigen halfen. Bis 15. September 1918 wurden 130 000 ehemalige Kriegsgefangene Angehörige der Roten Armee und 5000 von ihnen standen an den Fronten im K a m p f gegen Weißgardisten und Interventen (S. 153). E s ist das Verdienst der Vfn., diese Problematik und insbesondere den Anteil der deutschen Internationalisten an der Erringung und Verteidigung der Sowjetmacht mit wissenschaftlicher Akribie untersucht und dargestellt zu haben. D a b e i ist besonders hervorzuheben, d a ß S. zahlreiche ungedruckte Q u e l l e n zentraler Archive in der U d S S R und der D D R , Erinnerungen ehemaliger deutscher Rotarmisten über ihre Teilnahme am K a m p f um die Sowjetmacht, viele sowjetische Dokumentenpublikationen sowie wichtige russisch- und deutschsprachige Zeitungen, die damals in Sowjetrußland herausgegeben wurden oder Organe der Kriegsgefangenen-Internationalisten waren, auswerten konnte. E s gibt kaum eine andere Publikation zu diesem T h e m a , die auf einer so fundierten Materialbasis beruht und eine so umfassende Einschätzung der Aktivitäten der deutschen Internationalisten an der Seite der jungen Sowjetmacht vornimmt. Auch die bürgerliche Historiographie wird an dieser Veröffentlichung nicht vorbeigehen können, wenn sie sich mit dieser Problematik beschäftigt und ernst genommen werden möchte. E s ist ganz natürlich, d a ß das Lesen einer solchen Arbeit Fragen aufwirft und einige Wünsche entstehen. D a s berechtigte Anliegen der Vfn. und des Lesers, angesichts der komplizierten Materiallage (die damaligen K ä m p f e r hatten wohl kaum Zeit, an die spätere Arbeit der Historiker zu denken) möglichst viel über die Entstehungsgeschichte dieser Bewegung, über die A u f g a b e n , die Funktionsweise und Zusammensetzung der Organisationen, Gruppen und Komitees, über Einsatzgebiete und -orte usw. zusammenzutragen bzw. zu erfahren - dies wird tatsächlich in dankenswerter Gründlichkeit untersucht und dargestellt läßt doch die Seite des konkreten Geschehens, des helden-

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haften K a m p f e s der deutschen Internationalisten, kurz, die emotionale Seite, etwas zu sehr zurücktreten. Verweise auf die entsprechende historische Literatur, darunter auf eigene Publikationen (vgl. S. 2 0 1 ) , in denen die Darstellung des Grundsätzlichen mit der Schilderung konkreter Seiten des K a m p f e s aber m. E . besser gelungen ist, reichen nicht ganz aus. D i e V f n . hat in drei T a b e l l e n instruktive Übersichten über die Entwicklung der deutschen kommunistischen Gruppen (S. 1 7 0 ) , über den Vertrieb der von ihnen herausgegebenen Zeitungen, Broschüren und Aufrufe (S. 188 ff.) sowie über den Literaturvertrieb an den Fronten (S. 2 0 5 f.) gebracht. H ä t t e nicht auch die Übersichtlichkeit (und unter diesem Aspekt die Lesbarkeit) des ausgebreiteten Materials vor allem durch eine 4 . T a belle erhöht werden können, die die vielen zentralen Organisationen, Gruppen, K o m i tees, Büros, ihre Ü b e r - und Unterordnung sowie zeitweilig auch parallelen Funktionen auf einen B l i c k vorstellt? S. schreibt selbst auf S. 9 1 , d a ß sie bis zu diesem Punkt im wesentlichen den organisatorischen Rahmen für die Lösung der Kriegsgefangenenfrage nach B r e s t - L i t o v s k dargestellt hat. Sie war allerdings stets mit E r f o l g bemüht, sichtbar zu machen, d a ß „jede Frage politischen Charakter trug". Wünschenswert wäre auch der Abdruck einiger wichtiger D o k u m e n t e gewesen, z. B . Aufrufe und Stellungnahmen deutscher Internationalisten zu den revolutionären Vorgängen in Sowjetrußland. N o c h eine kleine Frage, die dem Rezensenten beim Lesen der politisch wie wissenschaftlich so bedeutsamen Monographie k a m : E s fällt auf, d a ß die ungarischen Kriegsgefangenen-Internationalisten 1917/18 eine besonders aktive und führende R o l l e spielten. W e n n auch die deutschen Internationalisten im Mittelpunkt der A r b e i t stehen, so wäre doch wenigstens der Versuch einer Antwort interessant gewesen, durch welche objektiven und subjektiven Faktoren gerade die ungarischen Internationalisten

(genannt

seien hier nur B é l a K u n , T i b o r Szamuely, Ferenc Münnich) eine solche Bedeutung erlangen konnten. D i e D D R - H i s t o r i o g r a p h i e hat schon lange auf, eine so gründliche

Sichtbarmachung

des Anteils deutscher Internationalisten an der Oktoberrevolution und ihrer Verteidigung gegen

die Angriffe

der in- und ausländischen

Konterrevolution

im

Zeitraum

1917/18 gewartet. D i e vorliegende Monographie schließt diese Lücke.

Claus Remer

Horst Müller-Link, Industrialisierung und Außenpolitik. Preußen-Deutschland und das Zarenreich von 1860 bis 1890 ( K r i t i s c h e Studien zur Geschichtswissenschaft, B d . 2 4 ) G ö t t i n g e n , V a n d e n h o e c k & R u p r e c h t , 1977, 5 0 6 S. In dieser für den D r u c k überarbeiteten Fassung einer von H . - U . W e h l e r angeregten und betreuten Bielefelder Dissertation unternimmt der V f . den Versuch, die deutschrussischen Beziehungen in den Jahren 1 8 6 0 - 1 8 9 0 einer Neuinterpretation zu unterziehen. Besonders ausführlich und eingehend wird von ihm dabei die sozialökonomische K o m p o n e n t e der deutschen R u ß l a n d - und der russischen Deutschlandpolitik

erörtert.

D i e älteren Arbeiten der deutschen bürgerlichen Geschichtsschreibung zu dieser T h e m a tik beurteilt M . - L . abfällig, vor allem, weil sie die wirtschaftlichen Aspekte vernachlässigten. „Wie mit ihren Beiträgen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Antike und 186

haften K a m p f e s der deutschen Internationalisten, kurz, die emotionale Seite, etwas zu sehr zurücktreten. Verweise auf die entsprechende historische Literatur, darunter auf eigene Publikationen (vgl. S. 2 0 1 ) , in denen die Darstellung des Grundsätzlichen mit der Schilderung konkreter Seiten des K a m p f e s aber m. E . besser gelungen ist, reichen nicht ganz aus. D i e V f n . hat in drei T a b e l l e n instruktive Übersichten über die Entwicklung der deutschen kommunistischen Gruppen (S. 1 7 0 ) , über den Vertrieb der von ihnen herausgegebenen Zeitungen, Broschüren und Aufrufe (S. 188 ff.) sowie über den Literaturvertrieb an den Fronten (S. 2 0 5 f.) gebracht. H ä t t e nicht auch die Übersichtlichkeit (und unter diesem Aspekt die Lesbarkeit) des ausgebreiteten Materials vor allem durch eine 4 . T a belle erhöht werden können, die die vielen zentralen Organisationen, Gruppen, K o m i tees, Büros, ihre Ü b e r - und Unterordnung sowie zeitweilig auch parallelen Funktionen auf einen B l i c k vorstellt? S. schreibt selbst auf S. 9 1 , d a ß sie bis zu diesem Punkt im wesentlichen den organisatorischen Rahmen für die Lösung der Kriegsgefangenenfrage nach B r e s t - L i t o v s k dargestellt hat. Sie war allerdings stets mit E r f o l g bemüht, sichtbar zu machen, d a ß „jede Frage politischen Charakter trug". Wünschenswert wäre auch der Abdruck einiger wichtiger D o k u m e n t e gewesen, z. B . Aufrufe und Stellungnahmen deutscher Internationalisten zu den revolutionären Vorgängen in Sowjetrußland. N o c h eine kleine Frage, die dem Rezensenten beim Lesen der politisch wie wissenschaftlich so bedeutsamen Monographie k a m : E s fällt auf, d a ß die ungarischen Kriegsgefangenen-Internationalisten 1917/18 eine besonders aktive und führende R o l l e spielten. W e n n auch die deutschen Internationalisten im Mittelpunkt der A r b e i t stehen, so wäre doch wenigstens der Versuch einer Antwort interessant gewesen, durch welche objektiven und subjektiven Faktoren gerade die ungarischen Internationalisten

(genannt

seien hier nur B é l a K u n , T i b o r Szamuely, Ferenc Münnich) eine solche Bedeutung erlangen konnten. D i e D D R - H i s t o r i o g r a p h i e hat schon lange auf, eine so gründliche

Sichtbarmachung

des Anteils deutscher Internationalisten an der Oktoberrevolution und ihrer Verteidigung gegen

die Angriffe

der in- und ausländischen

Konterrevolution

im

Zeitraum

1917/18 gewartet. D i e vorliegende Monographie schließt diese Lücke.

Claus Remer

Horst Müller-Link, Industrialisierung und Außenpolitik. Preußen-Deutschland und das Zarenreich von 1860 bis 1890 ( K r i t i s c h e Studien zur Geschichtswissenschaft, B d . 2 4 ) G ö t t i n g e n , V a n d e n h o e c k & R u p r e c h t , 1977, 5 0 6 S. In dieser für den D r u c k überarbeiteten Fassung einer von H . - U . W e h l e r angeregten und betreuten Bielefelder Dissertation unternimmt der V f . den Versuch, die deutschrussischen Beziehungen in den Jahren 1 8 6 0 - 1 8 9 0 einer Neuinterpretation zu unterziehen. Besonders ausführlich und eingehend wird von ihm dabei die sozialökonomische K o m p o n e n t e der deutschen R u ß l a n d - und der russischen Deutschlandpolitik

erörtert.

D i e älteren Arbeiten der deutschen bürgerlichen Geschichtsschreibung zu dieser T h e m a tik beurteilt M . - L . abfällig, vor allem, weil sie die wirtschaftlichen Aspekte vernachlässigten. „Wie mit ihren Beiträgen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Antike und 186

des Mittelalters brachte die Geschichtsforschung der D D R einen Prozeß in Gang, der eine völlige Revision der Ergebnisse der älteren deutschen Geschichtsschreibung über die deutsch-russischen Beziehungen vor dem ersten Weltkrieg erkennen läßt. Die Quellenlage, die engere Zusammenarbeit mit sowjetischen Historikern und nicht zuletzt die ideologische Orientierung stellen für DDR-Historiker zweifellos günstigere Bedingungen dar, um diese Geschichtsschreibung einer gründlichen Kritik zu unterziehen" (S. 1). Diese Feststellung bedeutet aber keineswegs, daß sich M.-L. der marxistischen Geschichtsschreibung und den von ihr aufgeworfenen Fragestellungen verpflichtet fühlt. „Der Mangel an einer Theorie, die der Komplexität des Makro-Umfeldes entspricht, schlägt sich bei Historikern der UdSSR und der D D R in der Unsicherheit nieder, mit der - bei wechselnder Priorität - ökonomische, politische und ^oziale Ursachen für den Prozeß der deutsch-russischen ,Entfremdung' verantwortlich gemacht werden" S. 369). Die angeführten Zitate kennzeichnen recht gut den Standpunkt des Vf. und wohl auch der bürgerlichen Schule, der er sich verbunden fühlt. Der Vf. beschränkt sich nicht darauf, die sozialökonomischen Voraussetzungen der Bismarckschen Rußlandpolitik zu analysieren, sondern räumt auch der entsprechenden Entwicklung im Zarenreich breiten Raum ein. D a er die russische Sprache nicht beherrscht, fußen die entsprechenden Partien in erster Linie auf zeitgenössischen deutschen Veröffentlichungen und Berichten der amtlichen Vertreter Deutschlands in Rußland. Historiker, die vor M.-L. die Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen behandelten, werteten unter diesem Gesichtspunkt dieses Material nicht so eingehend aus. Der Vf. entnahm ihm, das sei ausdrücklich vermerkt, interessante Angaben; auch verdienen die Schlußfolgerungen, zu denen er gelangte, zumindest partiell Beachtung. Die Ignorierung fast der gesamten Forschungsergebnisse der sowjetischen Historiker bedingt aber trotzdem, daß sich diese Ausführungen einer ernsthaften wissenschaftlichen Kritik einfach entziehen und M.-L. zu Fehlschlüssen verleitet wird - so überschätzt er die Bedeutung und den Einfluß der Moskauer Bourgeoisie im behandelten Zeitraum - , die den ganzen Gang seiner Darlegungen negativ beeinflussen. D a M.-L., abgesehen von den wenigen übersetzten Arbeiten, die einschlägigen sowjetischen Veröffentlichungen nicht kennt, wirkt sein oben angeführter, gegen die sowjetischen Historiker erhobener Vorwurf anmaßend, um nicht härter zu formulieren. Für M.-L. bildet der Übergang zur Schutzzollpolitik in Deutschland und Rußland E n d e der siebziger Jahre des 19. Jh. die entscheidende Wende, von der aus die Eskalation des deutsch-russischen Wirtschaftsantagonismus, und in dessen Gefolge auch das Anwachsen der politischen Spannungen, unvermeidbar wurde. Die sich in Deutschland formierende großagrarische Bewegung suchte der von ihr lauthals verkündeten „Not der Landwirtschaft", die im Fallen der Getreide- und teilweise auch der Viehpreise eine reale Grundlage besaß, durch finanz- und steuerpolitische Maßnahmen mit agrarprotektionistischer Tendenz zu begegnen. In dieser Agitation wurde Rußland als Feind Nr. 1 der deutschen Landwirtschaft abgestempelt. Die von den preußischen Agrariern durch die schrittweise Revision des deutschen Zolltarifs errungenen Erfolge ließen ihre russischen Standesgenossen, die den Absatz ihrer Produkte gefährdet sahen, in immer stärkerem Ausmaß in eine Frontstellung gegen Deutschland geraten. Damit verlor für die russischen Gutsbesitzer die auf ein enges Zusammengehen mit Deutschland ausgerichtete Politik beträchtlich an Anziehungskraft. D a auf dem russischen Markt die deutsche Industrie der gefährlichste Konkurrent für die russische Bourgeoisie war, hörte diese nicht auf, höhere Schutzzölle gegen den deutschen Export zu fordern. In dem Maße A in 187

dem russische Industriekreise auf diesem Gebiet E r f o l g e zu verzeichnen hatten, wuchs die Feindschaft einflußreicher, auf den E x p o r t nach Rußland orientierter Kreise der deutschen Bourgeoisie gegen die russische Zollpolitik. D i e s war mit ein G r u n d dafür, daß die ausschlaggebenden Kreise der deutschen Industrie den Zollforderungen der Agrarier zustimmten, weil sie dadurch einen Druck auf die zaristische Regierung auszuüben und sie zum A b b a u der Zollbarrieren zu veranlassen hofften. So entstand nach M . - L . ein Circulus vitiosus: D i e einflußreichsten Gesellschaftsschichten in Deutschland und Rußland glaubten ihre Interessen durch die Wirtschaftspolitik des Nachbarlandes bedroht, was ihre politische Haltung beeinflussen mußte. D i e Bestrebungen der Agrarier und Industriellen beider L ä n d e r wurden, wie M . - L . mit Nachdruck hervorhebt, durch finanzpolitische Notwendigkeiten, deren die Regierungen Herr werden mußten, gefördert. Bismarck kam den Rüstungsforderungen der Militärs weitgehend nach, um die deutsche Hegemonialstellung in E u r o p a zu behaupten. D a die Reichsfinanzen den neuen Anforderungen nicht gewachsen waren, mußte der Kanzler, weil sich eine anderweitige Vergrößerung der Reichseinnahmen als schwierig, wenn nicht gar als unmöglich erwies, auf vermehrte Zolleinnahmen, und das bedeutete Erhöhung der Agrarzölle, erhebliches Gewicht legen. Auf dieses Moment, die Abkehr v o m Freihandel als eine Konsequenz der angestiegenen Rüstungsausgaben, legt M . - L . großes Gewicht. Als die deutsch-russischen Spannungen wuchsen, suchte Bismarck in der zweiten H ä l f t e der achtziger Jahre die Abhängigkeit Rußlands vom deutschen K a p i t a l m á r k t rücksichtslos auszunutzen, um ein Einlenken der zaristischen Regierung in ihm genehmere Bahnen zu erzwingen. D i e diesbezüglichen Ausführungen des V f . werden durch ein reichhaltiges und überzeugendes Material abgesichert. 1884 erzielte Bismarck mit dieser Politik noch E r f o l g e , E n d e der achtziger Jahre scheiterte er jedoch damit, in erster Linie deshalb, weil Rußland einé durch gute Ernten bedingte aktive Handelsbilanz aufwies und in Frankreich den auch weiterhin benötigten Geldgeber fand. D i e s e hier verkürzt und daher notwendigerweise einseitig wiedergegebene Beweisführung des V f . enthält an sich keine Gesichtspunkte, die in der bisherigen Literatur nicht bereits erörtert worden wären. Allerdings wurden diese Argumente bisher nicht mit einer derartigen Konsequenz und unter Ausbreitung eines so reichhaltigen Materials, vor allem was die Entwicklung in Deutschland angeht, dargelegt. Recht ausführlich wird auch, das, sei noch vermerkt, das Anwachsen der durch strategische Eisenbahnbauten und durch die Verlegung von Truppen in die Grenzbezirke hervorgerufenen militärischen Spannungen behandelt. D e m eigentlichen politischen Geschehen wird hingegen von M . - L . nur ein relativ geringer R a u m eingeräumt. E s genügt hier festzustellen,- daß die Kenntnis der Bestimmungen des Dreikaiserbündnisses .und des Rückversicherungsvertrages, dessen Bedeutung sehr stark relativiert wird, beim Leser vorausgesetzt wird. Auch auf die Ereignisse auf dem Balkan in der zweiten H ä l f t e der achtziger Jahre, wodurch die öffentliche Meinung in Rußland so stark beeinflußt wurde, wird nur ganz nebenbei eingegangen. M.-L.s diesbezügliche Ausführungen vermitteln fast den Eindruck, als ob das A u f f l a m men des russischen Nationalismus sich einseitig auf Manipulationen der Moskauer Bourgeoisie zurückführen ließe. E s wird heute kaum jemand bestreiten können, daß das Anwachsen der deutsch-russischen Spannungen seit der Mitte der siebziger Jahre durch ökonomische Faktoren sehr stark und nachhaltig beeinflußt wurde. Zu fragen bliebe nur, ob die Ausschließlichkeit,

188

mit der M.-L. letztlich den sich verschärfenden russisch-deutschen Konflikt auf die durch die Außenhandelsstruktur bedingte Aversion der besitzenden Klassen beider Staaten gegenüber ihren Standesgenossen jenseits der Grenze zurückführt, berechtigt ist. Die Struktur des Warenaustausches zwischen beiden Ländern erfuhr bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges keine prinzipiellen Veränderungen; nach wie vor exportierte Rußland nach Deutschland vorwiegend Agrar- und Deutschland nach Rußland vorwiegend Industrieprodukte. Die russischen Großgrundbesitzer mußten weiterhin die Barriere der deutschen Agrar-, die deutsche Bourgeoisie die der russischen Industriezölle überwinden. Die Haltung der besitzenden Klassen und der Regierungen hätte daher gegenüber dem Nachbarlande, folgt man M.-L.s Beweisführung, keinen größeren Wandel erfahren dürfen. D a seit der Mitte der neunziger Jahre sowohl der Export russischer Agrarpodukte als auch der deutschen Industrieerzeugnisse in das jeweilige Nachbarland kräftig und stetig anwuchs, hätte der deutsch-russische Konflikt sich eigentlich sogar verschärfen müssen. Nun ist es offensichtlich, daß die Beziehungen zwischen den beiden Ländern sich nicht nach diesem Schema gestalteten, auch wenn sich durch den Abschluß des französisch-russischen Bündnisses das Verhältnis zwischen dem Zarenreich und Deutschland grundsätzlich veränderte und sich beide Staaten im August 1914 als Feinde gegenübertraten. In diesem Zusammenhang sei noch kurz auf die von M.-L. nicht berührte Frage eingegangen, wer denn die Kosten der deutschen Agrar- und der russischen Industriezölle zu tragen hatte. Die preußischen Junker waren bemüht, ihre Produkte zu überhöhten Preisen abzusetzen und daher daran interessiert, den Preis im Inland auf einer Höhe zu halten, die sich aus dem. Weltmarktpreis und dem Zollzuschlag ergab. Die russischen Großgrundbesitzer hatten daher nur einen Bruchteil der deutschen Agrarzölle zu tragen, die zum weitaus größten Teil' den Konsumenten belasteten. Auch die russische Bourgeoisie bestand nicht deshalb auf erhöhte Schutzzölle, weil sie tatsächlich glaubte, die ausländischen Produkte gänzlich vom russischen Markt verdrängen zu können. Dazu war die russische Industrie in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre ebensowenig in der Lage wie 1914. Was die russischen. Unternehmer anstrebten, waren Überprofite, die ihnen die Schutzzölle verschafften und die der russische Verbraucher zu tragen hatte. Damit ist bereits gesagt, daß auch die deutsche Industrie in Rußland nicht unter dem Weltmarktpreis verkaufte. Gewiß, das Wissen um diese Zusammenhänge war in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre auf relativ enge Kreise beschränkt. Auch trug die Tatsache, daß einzelnen deutschen Industriezweigen bzw. einzelnen Produkten, selbst bei einem generell steigenden Export von Industriewaren nach Rußland, durch Zollerhöhungen, der Absatz im Nachbarlande unmöglich gemacht werden konnte, zur Verdunkelung dieses Sachverhalts bei. Immerhin: daß man auch mit noch so hohen Schutzzöllen weder in Rußland eine leistungsfähige Industrie aus dem Boden stampfen noch in Deutschland im Agrarsektor die Schere zwischen Eigenproduktion und Bedarf schließen konnte, wurde von Zeitgenossen wahrgenommen. Nicht jede Äußerung deutscher Industrieller, die über den Ausschluß vom russischen Markt zeterten, war wirklich so ernst gemeint, wie es die Eingaben an die Regierung und Verbandsresolutionen nahelegen könnten: Vieles war bewußt propagandistisch zugespitzt. Damit,ist aber bereits gesagt, daß auch in den achtziger Jahren nicht allein ökonomische Faktoren eine Lösung verhindert hatten, wie sie dann nach dem Abbruch des deutsch-russischen Zollkrieges und im Jahrzehnt vor dem ersten Weltkrieg gefunden wurde. Diese Ausführungen verfolgen nicht den Zweck, dies sei um der Deutlichkeit willen 189

noch einmal gesagt, die große Bedeutung der wirtschaftlichen Komponenten für die Verschlechterung der deutsch-russischen Beziehungen in den achtziger Jahren in Zweifel zu ziehen. Zur Erklärung eines so komplexen Sachverhalts, wie ihn die Verschlechterung der Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland darstellt, ist es aber notwendig - hier beziehe ich mich noch einmal auf die eingangs zitierte Kritik des Vf. an den marxistischen Historikern - , ökonomische, politische und soziale Ursachen eingehend zu analysieren, wobei die „Prioritäten" nicht ein für allemal festgelegt zu sein brauchen. Heinz

Lemke

Svetozär Hurban-Vajansky, Listy z Uhorska. 40 listov uverejnenych v ruskych „Moskovskije vedomosti" v priebehu roku 1908 H g . v. L. P. Lapteva Martin, Matice slovenskä, 1977, 146 S. Svetozär Hurban-Vajansky (1847-1916), der älteste Sohn Jozef Miloslav Hurbans, des bekannten Mitarbeiters des Kreises um den slowakischen nationalen Erwecket L'udovit Stür, zählt zu den bedeutenden, wenn auch bereits zu Lebzeiten heftig umstrittenen slowakischen Dichtern, Schriftstellern und Publizisten, die wegen ihres slowakischen Nationalbewußtseins und wegen ihrer Kritik an der Politik der herrschenden Klassen Ungarns, zu dem die Slowakei damals gehörte, Verfolgungen ausgesetzt waren. 1 P. Petrus, der das reichhaltige und vielseitige dichterische, schriftstellerische und publizistische Schaffen Hurban-Vajanskys in den Zusammenhängen seines interessanten Lebensweges und auf dem zeitgeschichtlichen Hintergrund analysiert, dabei zugleich auf seine widerspruchsvolle Geisteshaltung und auf seinen politisch-ideologischen Konservatismus hingewiesen hat, konnte mit Recht das Fazit ziehen, Hurban-Vajansky habe in der Geschichte der Literatur und des Denkens des slowakischen Volkes seinen festen Platz. 2 Aus der vorliegenden Publikation der sowjetischen Historikerin L . P. Lapteva lernen wir Hurban-Vajansky als einen kämpferischen Publizisten naher kennen, der von der „slawischen Idee" der Slawophilen und der Panslawisten des 19. Jh. zutiefst durchdrungen w a r . In diesem Geiste unterzog er die gegen die nationalen und sozialen Interessen der slawischen Völker gerichtete offizielle Politik und Ideologie der Doppelmonarchie zu Beginn des 20. Jh., namentlich die Unterdrückungspraktiken der herrschenden Kreise Ungarns, einer scharfen Kritik von rechts. Gerade diese Politik hatte Männer wie Hurban-Vajansky in die Arme des zaristischen Rußland getrieben. In mühevoller Kleinarbeit ist es Lapteva gelungen, die 1908 in der russischen Zeitung „Moskovskie vedomosti" erschienene, mit V-skij unterzeichnete Serie von 40 Artikeln über die damaligen Verhältnisse in Ungarn als W e r k Hurban-Vajanskys zu identifizieren. Mit der für die sowjetische Wissenschaftlerin bezeichnenden Akribie hat sie diese Artikelserie zum Druck vorbereitet, eingeleitet und kommentiert und damit ein 1 2

Vgl. Dejiny slovenskej literatüry, Bratislava 1 9 6 0 , S. 3 1 6 ff. Ebenda, S. 329.

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noch einmal gesagt, die große Bedeutung der wirtschaftlichen Komponenten für die Verschlechterung der deutsch-russischen Beziehungen in den achtziger Jahren in Zweifel zu ziehen. Zur Erklärung eines so komplexen Sachverhalts, wie ihn die Verschlechterung der Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland darstellt, ist es aber notwendig - hier beziehe ich mich noch einmal auf die eingangs zitierte Kritik des Vf. an den marxistischen Historikern - , ökonomische, politische und soziale Ursachen eingehend zu analysieren, wobei die „Prioritäten" nicht ein für allemal festgelegt zu sein brauchen. Heinz

Lemke

Svetozär Hurban-Vajansky, Listy z Uhorska. 40 listov uverejnenych v ruskych „Moskovskije vedomosti" v priebehu roku 1908 H g . v. L. P. Lapteva Martin, Matice slovenskä, 1977, 146 S. Svetozär Hurban-Vajansky (1847-1916), der älteste Sohn Jozef Miloslav Hurbans, des bekannten Mitarbeiters des Kreises um den slowakischen nationalen Erwecket L'udovit Stür, zählt zu den bedeutenden, wenn auch bereits zu Lebzeiten heftig umstrittenen slowakischen Dichtern, Schriftstellern und Publizisten, die wegen ihres slowakischen Nationalbewußtseins und wegen ihrer Kritik an der Politik der herrschenden Klassen Ungarns, zu dem die Slowakei damals gehörte, Verfolgungen ausgesetzt waren. 1 P. Petrus, der das reichhaltige und vielseitige dichterische, schriftstellerische und publizistische Schaffen Hurban-Vajanskys in den Zusammenhängen seines interessanten Lebensweges und auf dem zeitgeschichtlichen Hintergrund analysiert, dabei zugleich auf seine widerspruchsvolle Geisteshaltung und auf seinen politisch-ideologischen Konservatismus hingewiesen hat, konnte mit Recht das Fazit ziehen, Hurban-Vajansky habe in der Geschichte der Literatur und des Denkens des slowakischen Volkes seinen festen Platz. 2 Aus der vorliegenden Publikation der sowjetischen Historikerin L . P. Lapteva lernen wir Hurban-Vajansky als einen kämpferischen Publizisten naher kennen, der von der „slawischen Idee" der Slawophilen und der Panslawisten des 19. Jh. zutiefst durchdrungen w a r . In diesem Geiste unterzog er die gegen die nationalen und sozialen Interessen der slawischen Völker gerichtete offizielle Politik und Ideologie der Doppelmonarchie zu Beginn des 20. Jh., namentlich die Unterdrückungspraktiken der herrschenden Kreise Ungarns, einer scharfen Kritik von rechts. Gerade diese Politik hatte Männer wie Hurban-Vajansky in die Arme des zaristischen Rußland getrieben. In mühevoller Kleinarbeit ist es Lapteva gelungen, die 1908 in der russischen Zeitung „Moskovskie vedomosti" erschienene, mit V-skij unterzeichnete Serie von 40 Artikeln über die damaligen Verhältnisse in Ungarn als W e r k Hurban-Vajanskys zu identifizieren. Mit der für die sowjetische Wissenschaftlerin bezeichnenden Akribie hat sie diese Artikelserie zum Druck vorbereitet, eingeleitet und kommentiert und damit ein 1 2

Vgl. Dejiny slovenskej literatüry, Bratislava 1 9 6 0 , S. 3 1 6 ff. Ebenda, S. 329.

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W e r k der Vergessenheit entrissen, in dem von konservativen Positionen aus zu zentralen Fragen der nationalen Entwicklung des slowakischen Volkes zu Beginn des 20. J h . im Zusammenhang mit der innen- und außenpolitischen Situation der Doppelmonarchie und zu wesentlichen Aspekten der Beziehungen zwischen den slawischen Völkern Stellung genommen und der russische Leser über wichtige Ereignisse und deren Resonanz in Ungarn, besonders bei den Slowaken, wie überhaupt über die Stimmung im L a n d e unterrichtet w u r d e . In ihrer umfangreichen Einleitung lenkt L. den Blick vor allem auf das U m f e l d der wichtigsten Fragen, die in den Artikeln des slowakischen Publizisten über Ungarn eine besondere Rolle spielen. Überzeugend arbeitet sie die Bedeutung des W i r k e n s von H u r b a n - V a j a n s k y für das slowakische Volk heraus, weist zugleich aber auch auf seine weltanschaulichen Grenzen w i e auf seine konservativen gesellschaftlich-politischen Positionen hin. Besonders betont sie die in den „Briefen aus Ungarn" enthaltene Kritik Hurban-Vajanskys an den ungarischen Regierungskreisen, an deren' Politik der M a djarisierung des slowakischen Volkes und anderer in Ungarn lebender Völker sowie an der unerträglichen Verfolgung slowakischer Patrioten und deren Zeitungen. M a n erfährt von dem Kampf des Verfassers gegen die Einführung des ungerechten Pluralitätswahlrechtes und von seiner Unzufriedenheit mit dem allgemeinen moralischen Verf a l l in Ungarn. Als ein wichtiges Problem der „Briefe aus Ungarn" und des gesamten W i r k e n s des Publizisten Hurban-Vajansky qualifiziert sie schließlich die Propagierung der Idee der Unterordnung der slawischen Völker unter die Herrschaft des zaristischen R u ß l a n d s . Des weiteren rückt sie Fragestellungen in das Blickfeld des Lesers, die in den Gedankengängen Hurban-Vajanskys wenn auch nicht immer einen zentralen Platz einnahmen, so doch stets ihren spezifischen Stellenwert besaßen: die Situation in Böhmen, in Kroatien, Serbien, Bosnien und der Herzegowina, in der Karpatoukraine und in Siebenbürgen. D i e freie E n t w i c k l u n g des slowakischen Volkes lag Hurban-Vajansky als Slowaken immer besonders am Herzen. So stand der in vielfältigen Formen geführte Kampf der Slowaken gegen ihre Madjarisierung stets im Mittelpunkt des W i r k e n s des slowakischen Publizisten, w a s sich auch in der vorliegenden Artikelserie zeigt. Die ideologische Auseinandersetzung Hurban-Vajanskys mit der nationalen Unterdrückung der Slowaken durch die madjarischen herrschenden Kreise und deren Sympathisanten führte ihn allerdings zu höchst abwegigen Gedankengängen, die Ausdruck eines nicht zu rechtfertigenden slowakischen Nationalismus sowie einer gefährlichen Überheblichkeit und Intoleranz gegenüber anderen .Völkern waren. D a s Positive und Bleibende im W i r k e n Hurban-Vajanskys - auch darauf w i r d von L. in der Einleitung wiederholt hingewiesen - ist sein geistiges Ringen um die G e w ä h r leistung einer freien nationalen Entwicklung des slowakischen Volkes. D a s findet auch in der Artikelserie seinen deutlichen Niederschlag. Eine der Formen des Kampfes Hurban-Vajanskys gegen die nationale und soziale Unterdrückung des slowakischen Volkes w a r sein nachdrückliches publizistisches Eintreten für eine Reförm des Wahlrechts. In diesem Zusammenhang w a r er als Konservativer sogar zu einem Zusammengehen mit den ungarischen Sozialdemokraten bereit, die 1905 Massendemonstrationen für das a l l gemeine Wahlrecht organisiert hatten. E r sympathisierte auch mit der Initiative slowakischer Parlamentsabgeordneter zur Bildung eines Blocks derjenigen Parteien, die für das allgemeine,' gleiche und geheime Wahlrecht kämpften. Ein weiteres zentrales Problem des W i r k e n s Hurban-Vajanskys w a r sein Ringen um

191

eine Vereinigung aller Slawen unter Führung Rußlands im Kampf gegen die Deutschen und die Ungarn. Im Jahre 1908, als die Artikelserie geschrieben wurde, war das Thema der slawischen Wechselseitigkeit besonders aktuell und wurde unter den slawischen Völkern neuerlich intensiv erörtert. Die Bewegung des Neoslawismus, unter deren Zeichen 1908 und 1910 Slawenkongresse in Prag und in Sofia stattfanden, erregte in slawischen und in nichtslawischen Ländern Aufsehen. Die marxistisch-leninistische Forschung hat festgestellt, daß diese bürgerliche politisch-ideologische Richtung in der Grundtendenz letzten Endes illusionäre Ziele im Interesse reaktionärer Kreise verfolgte. Darüber kann die Tatsache nicht hinwegtäuschen, daß es einmal einige Vertreter des Neoslawismus gab, die versuchten, sich aus taktischen Gründen vom diskreditierten Panslawismus abzugrenzen, den Gedanken der Annäherung und Vereinigung der Slawen auf eine den neuen Bedingungen des 20. Jh. entsprechende realistischere Grundlage zu stellen, und in diesem Zusammenhang einzelne Komponenten der Konzeption des Slawophilentums und des Panslawismus einer Revision unterzogen, daß es zum anderen Anhänger des Neoslawismus gab, die in ihm einen Hebel zur Förderung slawischer Kultur und Wissenschaft sehen zu können glaubten. Hurban-Vajansky, der sich für einen Zusammenschluß aller slawischen Völker um das zaristische Rußland einsetzte und damit für weitgehende Abstriche von der Forderung der Polen, insbesondere aber der Ukrainer und Belorussen, nach Wahrung ihrer nationalen Eigenständigkeit eintrat, polemisierte gegen die offiziellen Deklarationen des Neoslawismus, der ja - wenigstens verbal und theoretisch - von der Gleichberechtigung aller slawischen Völker ausging. Mit der Frage, ob der erste neoslawistische Kongreß, der 1908 in Prag stattfand, zur rechten Zeit einberufen worden sei, da doch die „slawische Welt" auf eine solche Begegnung noch sehr ungenügend vorbereitet- wäre, weil sich die slawischen Völker untereinander zu wenig kennten und weil es zu viele Gegensätze zwischen ihnen gäbe, hat er zweifellos auf den neuralgischen Punkt der ganzen „slawischen Idee" aufmerksam gemacht (S. 53-55). Aber wichtiger erschien ihm doch etwas anderes: die Durchsetzung des großrussischen Panslawismus bzw. die Erwärmung aller slawischen Völker für ihn. Mit der Ignorierung der Ukrainer und der Belorussen als selbständige slawische Völker (S. 62-63) und mit der Kritik an dem „polnischen Separatismus" - mit Haltungen also, die ganz im Sinne des großrussischen Panslawismus lagen - stellte er sich auf unrealistische und bereits überholte Positionen. Es gehört zu dem Bild der konservativen Weltanschauung Hurban-Vajanskys, daß er nicht nur jedweden „Separatismus" der Slawen, worunter er auch die Bestrebungen der Ukrainer und der Belorussen um Erhaltung ihrer nationalen Eigenart und Eigenständigkeit verstand, sondern auch jedweden Kontakt zwischen slawischen und nichtslawischen Völkern für sehr schädlich, ja sogar für einen Verrat an der „slawischen Sache" hielt. Sein Festhalten am alten, großrussisch orientierten Panslawismus zeigt sein Unvermögen, sich in der nationalen Frage neuen, in die Zukunft weisenden Entwicklungen zu öffnen und den sichtbaren dialektischen Zusammenhang zwischen der nationalen und der sozialen Frage zu erkennen. Der slowakische Gelehrte Ivan Kusy weist in seinem Nachwort zu Recht darauf hin, daß die „Briefe aus Ungarn" nicht nur von der Krise, sondern vom Bankrott der bürgerlichen Konzeptionen zur Lösung der nationalen Frage der Slowaken und der anderen slawischen Völker wie auch zur Lösung der „slawischen Frage" zeugen (S. 115). Man darf der zusammenfassenden Feststellung L.s voll und ganz zustimmen, daß sich HürBan-Vajansky im wesentlichen von den Idealen des 19. Jh. leiten ließ, daß er die 192

tiefgreifenden Veränderungen in der gesellschaftlichen Entwicklung, zu denen es zu B e ginn des 20. Jh. in Europa gekommen war, zu wenig berücksichtigte sowie nationale und rassische Gesichtspunkte zu stark betonte, die Klassenauseinandersetzungen der Zeit indes zu wenig sah (S. 21). Desgleichen kann man auch ihre Auffassung teilen, daß er sich trotz seines weltanschaulichen und politischen Konservatismus um die nationale Kultur des slowakischen Volkes und um dessen nationalen Kampf große Verdienste erworben hat. D i e mit einer aus reichem Quellenmaterial schöpfenden gründlichen Einleitung von L., mit einem Nachwort von Kusy und mit einem von beiden Wissenschaftlern erarbeiteten soliden Anmerkungsapparat versehene Quellenedition ist ein bedeutender und nützlicher Beitrag zur Geschichte der slowakisch-russischen Beziehungen in dieser Zeit und zur Biographie Hurban-Vajanskys.

Wilhelm

Zeil

N. M. Druzinin, Russkaja derevnja na perelome 1861—1880 gg. Moskau, Izdatel'stvo Nauka, 1978, 288 S. Die bürgerlichen Reformen der sechziger Jahre des 19. Jh. in Rußland sind seit längerer Zeit Gegenstand der sowjetischen Forschung, wobei gerade die Bauernreform besondere Aufmerksamkeit gefunden hat. 1 D i e unmittelbaren Auswirkungen der Reform sind dagegen weit weniger Gegenstand der Forschung gewesen. Für ein begrenztes G e biet, das zentrale Schwarzcrdegebiet, hat vor einigen Jahren B . G . Litvak eine gründliche Untersuchung vorgelegt 2 , eine zusammenfassende Darlegung für das gesamte europäische Rußland fehlte bisher. Das war der Ausgangspunkt für die Arbeit Druzinins, der vor über zwanzig Jahren bereits mit der systematischen Sammlung des Materials zu diesem Thema begonnen hatte. 3 E s war ihm vergönnt, dieses Vorhaben auch abzuschließen, mit dem eine spürbare Forschungslücke geschlossen und unser Bild von der historischen Entwicklung Rußlands in der zweiten Hälfte des 19. J h . wesentlich vervollständigt wird. Zugleich zeigt die marxistische Auffassung von.der sozialökonomischen Gesellschaftsformation und der in der Klassengesellschaft gesetzmäßigen Ablösung der einen durch eine andere, höhere Gesellschaftsordnung - hier am Beispiel des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus - ihre Tragfähigkeit und Überzeugungskraft am konkreten Beispiel. 4 D . gliedert seine Arbeit in Einleitung, acht Kapitel und Zusammenfassung. Das erste Kapitel, die Reform des Jahres 1861, gibt in drei Abschnitten einen Überblick über 1

Vgl. P. A. Zajonckovskij,

Otmena krepostnogo prava v Rossii, 3. Aufl., Moskau 1 9 6 5 ; ders.,

Pre-

vederne v zizn' krest'janskoj reforma 1 8 6 1 g., Moskau 1 9 5 8 (diese Arbeit schließt mit der Mitte der sechziger Jahre ab). 2

B. G. Litvak, Russkaja derevnja v reforme 1 8 6 1 goda. Cernozemnyj centr 1 8 6 1 - 1 8 9 5 , Moskau 1 9 7 2 .

3

Vgl. N. M. Druzinin,

Vospominanija i mysli istorika, 2. Aufl., Moskau 1 9 7 9 , S. 8 0 .

'' Vgl. die Versuche P. Scheiberts, gerade diese Auffassung der Bauernreform 1 8 6 1 in Rußland zu diskreditieren (P. Scheiben,

Die russische Agrarreform von 1 8 6 1 . Ihre Probleme und der Stand ihrer

Erforschung, K ö l n / W i e n 1 9 7 3 , S. 3 8 ff., 1 2 7 u. a.). 13

Jahrbuch 25/1

193

tiefgreifenden Veränderungen in der gesellschaftlichen Entwicklung, zu denen es zu B e ginn des 20. Jh. in Europa gekommen war, zu wenig berücksichtigte sowie nationale und rassische Gesichtspunkte zu stark betonte, die Klassenauseinandersetzungen der Zeit indes zu wenig sah (S. 21). Desgleichen kann man auch ihre Auffassung teilen, daß er sich trotz seines weltanschaulichen und politischen Konservatismus um die nationale Kultur des slowakischen Volkes und um dessen nationalen Kampf große Verdienste erworben hat. D i e mit einer aus reichem Quellenmaterial schöpfenden gründlichen Einleitung von L., mit einem Nachwort von Kusy und mit einem von beiden Wissenschaftlern erarbeiteten soliden Anmerkungsapparat versehene Quellenedition ist ein bedeutender und nützlicher Beitrag zur Geschichte der slowakisch-russischen Beziehungen in dieser Zeit und zur Biographie Hurban-Vajanskys.

Wilhelm

Zeil

N. M. Druzinin, Russkaja derevnja na perelome 1861—1880 gg. Moskau, Izdatel'stvo Nauka, 1978, 288 S. Die bürgerlichen Reformen der sechziger Jahre des 19. Jh. in Rußland sind seit längerer Zeit Gegenstand der sowjetischen Forschung, wobei gerade die Bauernreform besondere Aufmerksamkeit gefunden hat. 1 D i e unmittelbaren Auswirkungen der Reform sind dagegen weit weniger Gegenstand der Forschung gewesen. Für ein begrenztes G e biet, das zentrale Schwarzcrdegebiet, hat vor einigen Jahren B . G . Litvak eine gründliche Untersuchung vorgelegt 2 , eine zusammenfassende Darlegung für das gesamte europäische Rußland fehlte bisher. Das war der Ausgangspunkt für die Arbeit Druzinins, der vor über zwanzig Jahren bereits mit der systematischen Sammlung des Materials zu diesem Thema begonnen hatte. 3 E s war ihm vergönnt, dieses Vorhaben auch abzuschließen, mit dem eine spürbare Forschungslücke geschlossen und unser Bild von der historischen Entwicklung Rußlands in der zweiten Hälfte des 19. J h . wesentlich vervollständigt wird. Zugleich zeigt die marxistische Auffassung von.der sozialökonomischen Gesellschaftsformation und der in der Klassengesellschaft gesetzmäßigen Ablösung der einen durch eine andere, höhere Gesellschaftsordnung - hier am Beispiel des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus - ihre Tragfähigkeit und Überzeugungskraft am konkreten Beispiel. 4 D . gliedert seine Arbeit in Einleitung, acht Kapitel und Zusammenfassung. Das erste Kapitel, die Reform des Jahres 1861, gibt in drei Abschnitten einen Überblick über 1

Vgl. P. A. Zajonckovskij,

Otmena krepostnogo prava v Rossii, 3. Aufl., Moskau 1 9 6 5 ; ders.,

Pre-

vederne v zizn' krest'janskoj reforma 1 8 6 1 g., Moskau 1 9 5 8 (diese Arbeit schließt mit der Mitte der sechziger Jahre ab). 2

B. G. Litvak, Russkaja derevnja v reforme 1 8 6 1 goda. Cernozemnyj centr 1 8 6 1 - 1 8 9 5 , Moskau 1 9 7 2 .

3

Vgl. N. M. Druzinin,

Vospominanija i mysli istorika, 2. Aufl., Moskau 1 9 7 9 , S. 8 0 .

'' Vgl. die Versuche P. Scheiberts, gerade diese Auffassung der Bauernreform 1 8 6 1 in Rußland zu diskreditieren (P. Scheiben,

Die russische Agrarreform von 1 8 6 1 . Ihre Probleme und der Stand ihrer

Erforschung, K ö l n / W i e n 1 9 7 3 , S. 3 8 ff., 1 2 7 u. a.). 13

Jahrbuch 25/1

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Struktur und Zahl der russischen Bauernschaft vor den Reformen, über Voraussetzungen und Durchführung der Reformen sowie über die wesentlichen Verordnungen des Jahres 1861. Im zweiten Kapitel werden die zur Regelung der Bauernfrage geschaffenen neuen Institutionen eingehender analysiert, das Hauptkomitee, die „Friedensmittler", die Gouvernementsbehörden für Bauernangelegenheiten und schließlich die Rolle der bäuerlichen Selbstverwaltung in den Gemeinden (Obscina). Das folgende Kapitel behandelt die die Beziehungen zwischen den ehemaligen Gutsherren und den Bauern regelnden Urkunden (ustavnye gramoty) sowie die Loskaufoperationen. Im vierten Kapitel wird die Ausweitung der Reform auf weitere Gruppen der Bauernschaft - 1863 auf die Kronbauern und 1866 auf die Staatsbauern - behandelt. Diese Kapitel bestätigen im wesentlichen das Bild, das in den vielen sowjetischen Publikationen zu dieser Thematik gezeichnet wird, fügen aber auch manches neue Detail hinzu oder- setzen einzelne bekannte Angaben in ein neues Licht. Alle Ausführungen werden eingehend begründet, wobei die detaillierte statistische Erschließung des Materials überwiegt. Damit wird das Typische der Entwicklung charakterisiert, auch wenn der Einzelfall nicht immer exakt erfaßt werden kann. W i e aussagekräftig sind - um hier aus der Fülle nur einige Beispiele anzuführen - etwa die Statistiken über die Loskaufzahlungen der ehemaligen Gutsbauern von 1862 bis 1882 (für Dreijahresabschnitte zusammengefaßt) 5 oder die Angaben über die Rückstände in den Zahlungen der ehemaligen Gutsbauern für jeweils Fünfjahresabschnitte (S. 76 f.). Die folgenden Kapitel geben in systematischer Zusammenfassung einen Überblick über die Verhältnisse im russischen Dorf nach den Reformen. Das fünfte Kapitel behandelt Fragen des Grundbesitzes und der Landnutzung, u. a. die Größe der Landanteile, die Gemeinde-Nutzung, Neulandgewinnung, Pacht, Kauf; im folgenden Kapitel wird die bäuerliche Wirtschaft eingehender vorgestellt, Arbeitsgerät, Vieh, landwirtschaftliche Kulturen, Ernteerträge, Erwerbstätigkeit äußerhalb der Landwirtschaft; es folgt ein Kapitel, in dem regionale Besonderheiten wichtiger Gebiete des Nordens, des zentralen Industriegebietes, des zentralen Schwarzerdegebietes und des Wolgagebietes um Samara herausgearbeitet werden. Das abschließende achte Kapitel geht auf die sozialpolitische Krise der Jahre 1879-1881 ein, also auf die „zweite revolutionäre Situation". Die erneut anwachsende Protestbewegung der Bauern war von einer oppositionellen liberalen Bewegung begleitet; der russisch-türkische Krieg 1877/78 sowie die Mißernte 1880/81 wirkten verschärfend. Im Smolensker Gouvernement waren danach die Rückstände in den bäuerlichen Zahlungen auf über 4 Millionen Rubel bei jährlichen Zahlungsverpflichtungen von knapp 2 Millionen Rubeln angewachsen, in-neun weiteren Gouvernements betrugen die Rückstände mehr als eine Jahreszahlung (S. 252). Mit dem Regierungsantritt Alexanders III. wurde auch in der Bauernfrage ein härterer Kurs eingeschlagen, weshalb D. hier durchaus begründet seine Arbeit ausklingen läßt. Etwa mit diesem Zeitpunkt setzen außerdem die detaillierteren Forschungen Lenins zur Entwicklung des Kapitalismus im russischen Dorf ein. 6 Schlußfolgerungen, Aufstellung der benutzten Archivmaterialien, Namensregister und geographisches Register beschließen dieses Werk. 5

c

S. 6 4 f f . - Diese Tabelle findet sich auch in dem wesentliche Ergebnisse des Buches zusammenfassenden Beitrag von N. M. Druzinin, Die Agrarreform der sechziger Jahre des 1 9 . Jh. und ihr Einfluß auf das russische Dorf, in: Studien zu den Agrarreformen des 19. Jh. in Preußen und Rußland, Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Sonderband 1 9 7 8 , S. 1 5 6 f f . Vgl. W. L Lenin, Entwicklung des Kapitalismus in Rußland, in: Werke, Bd. 3.

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Es überschreitet die Möglichkeiten einer Rezension, den Inhalt der vorliegenden Monographie auch nur annähernd zu erschließen. Einige mir bemerkenswert erscheinende Ergebnisse seien hier genannt. D. arbeitet überzeugend heraus, daß ein Ziel der Regierung bei der Durchführung der Reformen darin bestand, eine einheitliche Bauernschaft zu schaffen, die früheren unterschiedlichen Kategorien - Gutsbauern, Kronbauern, Staatsbauern - vor allem in der Stellung gegenüber der Verwaltung, aber doch auch weitgehend in sozialökonomischer Hinsicht zu nivellieren. Auf diese Weise glaubte man Unruhen vorbeugen zu können (vgl. S. 84 ff., Agrarreform, S. 167 ff.). Im Zusammenhang mit der von der Forschung immer wieder betonten Landarmut der russischen Bauern in der zweiten Hälfte des 19. Jh. verweist D. auf einen bisher weniger beachteten Fakt: Mit den Reformen erhielten die Bauern bzw. die Bauerngemeinden fest abgegrenzte Landanteile; früher war es üblich gewesen, von Zeit zu Zeit für „hinzugekommene Seelen" den Gemeinden zusätzliche Ländereien zuzuweisen, das fiel jetzt weg. Bei einer weiteren allgemeinen Zunahme der Bevölkerung bedeutete das eine Verringerung des Landanteils für die einzelne Familie (S. 118, vgl. Agrarreform, S. 176). Bezeichnend ist es auch, daß u. a. in den nördlichen Gebieten die Einkünfte aus der Landwirtschaft nicht einmal ausreichten, um die geforderten Abgaben zu zahlen, sogar staatliche Stellen mußten 1879 feststellen, daß beispielsweise im Gouvernement Archang e l s k die durchschnittlichen Einkünfte aus der Landwirtschaft eines Bauernhofes im Jahr etwas über 12 Rubel betrugen, während über 17 Rubel als Abgaben gefordert wurden (S. 126, Agrarreform, S. 191). D. hebt hervor, daß gerade in der landwirtschaftlichen Technik vorerst noch die traditionellen Geräte und Bearbeitungsformen überwogen. „Aber es wäre falsch zu behaupten, daß in der Wirtschaft des russischen Dorfes keine fortschrittlichen Errungenschaften in den ersten zwanzig Jahren nach den Reformen zu finden gewesen seien. Auf dem Hintergrund der Rückständigkeit und der Stagnation begannen anfangs kaum merklich, dann aber immer deutlicher und allgemeiner, Erscheinungsformen der neuen Ordnung sichtbar zu werden" (S. 271). Diese neuen Formen sind dann von W . I. Lenin 1899 in seinem grundlegenden Werk „Entwicklung des Kapitalismus in Rußland" eingehend analysiert worden. 7 Die vorliegende Untersuchung läßt einige Desiderata der Forschung deutlicher hervortreten; dazu gehört beispielsweise eine ähnlich umfassende Erforschung der Überwindung feudaler Verhältnisse in den nationalen Gebieten des russischen Reiches - hier war teilweise diese Entwicklung bis zur Oktoberrevolution noch nicht abgeschlossen; in Daghestan wurde die feudale Abhängigkeit beispielsweise erst 1913 formal aufgehoben. 8 Zu den bisher noch ungenügend erforschten Fragen gehören auch die Auswirkungen der Reformen auf die sogenannten Possessionsbauern, auf die erbuntertänigen Facharbeiter in der Metallurgie, in der Tuchindustrie und in einigen anderen Produktionszweigen. Hier liegen nur für einzelne Bereiche Einzeluntersuchungen vor 9 , eine zusammenfassende Darstellung fehlt noch. Die Behandlung dieser Fragen würde das Bild zwar ergänzen, müßte sich jedoch in 7

V g l . ebenda, K a p . III und I V .

8

V g l . Feodal'nye otnosenija v Dagestane X I X - X X v . A r c h i v n y e materialy, Moskau 1 9 6 9 , S. 3 8 6 f f . Vgl. S. G. Strumilin, Istorija cernoj metallurgü v S S S R ( = S . G. Strumilin, Izbrannye proizvedenija, Moskau 1 9 6 7 ) , S. 3 4 7 f f . ; K. A. Pazitnov, Ocerki istorii tekstil'noj promyslennosti dorevoljucionnoj Rossii. Serstjanaja promyslennost', Moskau 1 9 5 5 , S. 1 2 5 f f .

9

13*

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die von D . behandelte zentrale Thematik einordnen und würde umfassend erst jetzt, nach dem Vorliegen der grundlegenden Publikation D . s , erforscht und dargestellt werden können. W a r es bisher in Überblicksdarstellungen üblich, von den Reformen unmittelbar zur Leninschen Analyse der Entwicklung der russischen Bauernschaft in den achtziger und neunziger Jahren überzugehen, so sind jetzt auch die dazwischenliegenden

zwanzig

Jahre in einer ähnlichen umfassenden Analyse erschlossen worden. Diese außerordentliche Leistung hat zu Recht in der Sowjetunion eine hohe Würdigung mit dem Staatspreis erhalten. Peter Ho ff mann

Studien zu den Agrarreformen des 19. Jahrhunderts in Preußen und Rußland J a h r b u c h für Wirtschaftsgeschichte, Sonderband 1978 Berlin, Akademie-Verlag, 1978, 3 5 6 S. D e r Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus im agrarischen Bereich ist eine Problematik, die in der jüngsten Zeit von marxistischen Historikern im Zusammenhang mit der allgemeinen Fragestellung des Übergangs von einer Gesellschaftsordnung zur nächsthöheren unter komparativer Sicht verstärkt erforscht wird. D i e vorliegende Publikation bietet dazu für das ostelbische Gebiet wesentliches Material. D e r B a n d vereinigt vier Beiträge, je zwei zur preußischen und zur russischen G e schichte. H. Harnisch nennt seinen Beitrag „Vom Oktoberedikt des Jahres 1807 zur Deklaration von 1816. Problematik und Charakter der preußischen Agrarreformgesetzjjebung zwischen 1807 und 1 8 1 6 " (S. 2 2 9 f f . ) ; weitergeführt wird diese Untersuchung durch den einen spezielleren Aspekt herausgreifenden Beitrag von R . Berthold, „Die Veränderungen im Bodeneigentum und in der Zahl der Bauernstellen, der Kleinstellen und der Rittergüter in den preußischen Provinzen Sachsen, Brandenburg und Pommern während der Durchführung der Agrarreformen des 19. J h . " (S. 7 ff.). I. D . Koval'cenko schrieb über „Das D o r f des Europäischen Rußlands vor der Aufhebung der Leibeigenschaft" (S. 2 9 5 ff.) und N . M . Druzinin über „Die Agrarreformen der sechziger Jahre des 19. J h . und ihren E i n f l u ß auf das russische D o r f " (S. 117 f f . ) . In der einführenden Bemerkung von H. Harnisch wird das Grundlegende der Agrarreform in beiden Ländern, in Preußen wie in Rußland, dahingehend charakterisiert, d a ß unter den Bedingungen des unausweichlichen Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus die entschädigungslose Beseitigung des feudalen Obereigentums und der Feudallasten nach dem Vorbild der Großen Französischen Revolution für die Bauern am günstigsten gewesen wäre, aber in der historischen Realität müssen wir von der Tatsache ausgehen, daß unter den gegebenen Bedingungen die Umwandlung der sozialökonomischen Struktur des Landes nicht gegen die Interessen der herrschenden

Adelsklassc

durchgeführt werden konnte (S. 2 3 2 ) . In Preußen war, wie H . herausarbeitet, weniger der revolutionäre D r u c k von unten als die allgemeine Krise des Staates nach der Niederlage im Krieg gegen Frankreich 1806/07 für die Durchführung der bürgerlichen Reformen ausschlaggebend. Für seine Untersuchungen hat er drei zentrale Fragen herausgegriffen: 1. Inwieweit wurde kapi196

die von D . behandelte zentrale Thematik einordnen und würde umfassend erst jetzt, nach dem Vorliegen der grundlegenden Publikation D . s , erforscht und dargestellt werden können. W a r es bisher in Überblicksdarstellungen üblich, von den Reformen unmittelbar zur Leninschen Analyse der Entwicklung der russischen Bauernschaft in den achtziger und neunziger Jahren überzugehen, so sind jetzt auch die dazwischenliegenden

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Jahre in einer ähnlichen umfassenden Analyse erschlossen worden. Diese außerordentliche Leistung hat zu Recht in der Sowjetunion eine hohe Würdigung mit dem Staatspreis erhalten. Peter Ho ff mann

Studien zu den Agrarreformen des 19. Jahrhunderts in Preußen und Rußland J a h r b u c h für Wirtschaftsgeschichte, Sonderband 1978 Berlin, Akademie-Verlag, 1978, 3 5 6 S. D e r Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus im agrarischen Bereich ist eine Problematik, die in der jüngsten Zeit von marxistischen Historikern im Zusammenhang mit der allgemeinen Fragestellung des Übergangs von einer Gesellschaftsordnung zur nächsthöheren unter komparativer Sicht verstärkt erforscht wird. D i e vorliegende Publikation bietet dazu für das ostelbische Gebiet wesentliches Material. D e r B a n d vereinigt vier Beiträge, je zwei zur preußischen und zur russischen G e schichte. H. Harnisch nennt seinen Beitrag „Vom Oktoberedikt des Jahres 1807 zur Deklaration von 1816. Problematik und Charakter der preußischen Agrarreformgesetzjjebung zwischen 1807 und 1 8 1 6 " (S. 2 2 9 f f . ) ; weitergeführt wird diese Untersuchung durch den einen spezielleren Aspekt herausgreifenden Beitrag von R . Berthold, „Die Veränderungen im Bodeneigentum und in der Zahl der Bauernstellen, der Kleinstellen und der Rittergüter in den preußischen Provinzen Sachsen, Brandenburg und Pommern während der Durchführung der Agrarreformen des 19. J h . " (S. 7 ff.). I. D . Koval'cenko schrieb über „Das D o r f des Europäischen Rußlands vor der Aufhebung der Leibeigenschaft" (S. 2 9 5 ff.) und N . M . Druzinin über „Die Agrarreformen der sechziger Jahre des 19. J h . und ihren E i n f l u ß auf das russische D o r f " (S. 117 f f . ) . In der einführenden Bemerkung von H. Harnisch wird das Grundlegende der Agrarreform in beiden Ländern, in Preußen wie in Rußland, dahingehend charakterisiert, d a ß unter den Bedingungen des unausweichlichen Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus die entschädigungslose Beseitigung des feudalen Obereigentums und der Feudallasten nach dem Vorbild der Großen Französischen Revolution für die Bauern am günstigsten gewesen wäre, aber in der historischen Realität müssen wir von der Tatsache ausgehen, daß unter den gegebenen Bedingungen die Umwandlung der sozialökonomischen Struktur des Landes nicht gegen die Interessen der herrschenden

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durchgeführt werden konnte (S. 2 3 2 ) . In Preußen war, wie H . herausarbeitet, weniger der revolutionäre D r u c k von unten als die allgemeine Krise des Staates nach der Niederlage im Krieg gegen Frankreich 1806/07 für die Durchführung der bürgerlichen Reformen ausschlaggebend. Für seine Untersuchungen hat er drei zentrale Fragen herausgegriffen: 1. Inwieweit wurde kapi196

talistischen Produktionsverhältnissen in der Landwirtschaft Bahn gebrochen? 2. Unter welchen Bedingungen und in welchem Tempo wurde der Weg zur kapitalistischen Landwirtschaft beschritten? 3. Welchen Umfang behielten feudale Elemente? (S. 236). Im Detail wird dann dargelegt, wie im Verlauf der Reformgesetzgebung der Einfluß konservativer Kräfte ständig wuchs und damit eine für die Bauern ungünstiger werdende Entwicklung sich durchsetzte, eine Tendenz, die in analoger Form ja auch in Rußland zu beobachten war, wie u. a. die Forschungen von Druzinin erneut deutlich machen. Berthold bringt in seinem Beitrag den Nachweis dafür, daß sich die Überwindung der feudalen Verhältnisse in Preußen in den von ihm untersuchten Gebieten über das ganze 19. Jh. hinzog, also ähnlich qualvoll langsam verlief wie in Rußland, wo ja 1917 ebenfalls die Regulierungen aus der Reformgesetzgebung der sechziger Jahre des 19. Jh. noch nicht abgeschlossen waren. Zugleich zeigen seine umfassenden statistischen Angaben, daß diese Entwicklung zur absoluten Abnahme der vollwertigen (spannfähigen) Bauernstellen führte, während in der gleichen Zeit die Zahl der Kleinstellen außerordentlich, wenn auch mit regionalen Unterschieden, zunahm (vgl. u. a. die Grafik S. 105). Für Rußland untersucht Koval'cenko die Agrarentwicklung in der ersten Hälfte des 19. Jh. und hebt dabei als eine „wichtige, grundlegende Besonderheit . . . in der Ubergangsepoche vom Feudalismus zum Kapitalismus" hervor, „daß die Herausbildung und Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse in der Landwirtschaft oft hinter dem Ablauf dieses Prozesses in der Industrie zurückblieb", und betont die Abhängigkeit der Genesis des „Agrarkapitalismus von den Erfolgen der Entwicklung des Kapitalismus in der Industrie" (S. 297). Als Besonderheit kommt für Rußland hinzu, daß durch die Leibeigenschaft dieser Prozeß „nicht nur außerordentlich stark gehemmt, sondern auch verzerrt" wurde (S. 298). K. beweist diese Feststellung durch seine Untersuchung der verschiedenen Aspekte der Entwicklung des russischen Dorfes, ausgehend von der Bevölkerungsverteilung und der Sozialstruktur über Bodennutzung und Pflanzenproduktion bis hin zur nichtagrarischen Erwerbstätigkeit der Dorfbevölkerung, wobei regionale Unterschiede in der Entwicklung klar herausgearbeitet werden. Der Vergleich der Verhältnisse zu Beginn des Jahrhunderts mit dem Entwicklungsstand in der Mitte des Jahrhunderts - vielfach durch statistische Angaben und Tabellen untermauert - läßt Tendenzen hervortreten, die K. in der allgemeinen Schlußfolgerung zusammenfaßt: In dieser Periode war die Bauernwirtschaft nicht nur „die Hauptorganisationsform der landwirtschaftlichen Produktion", .sondern „unter den Bedingungen des Zerfalls der feudalen und der Genesis kapitalistischer Verhältnisse . . . auch die progressivste Form" (S. 323). Als Begründung verweist er auf die höhere Arbeitsproduktivität in der bäuerlichen Wirtschaft, wobei er aber die Verhältnisse durchaus differenziert betrachtet und anmerkt, daß in den westlichen Gouvernements „das Niveau der Gutswirtschaft höher" war (S. 324). Die Agrarentwicklung in der ersten Hälfte des 19. Jh. in Rußland faßt K. folgendermaßen zusammen: Die Voraussetzungen „für einen Agrarfortschritt auf der Grundlage feudaler, durch Leibeigenschaft bestimmter Verhältnisse" waren geschwunden, die mit Leibeigenen betriebene Wirtschaft brach zusammen, doch konnten sich die neuen Verhältnisse der kleinen Warenproduktion sowie kapitalistische Beziehungen „nicht erfolgreich entwickeln"; das war die Grundlage des „bis aufs äußerste zugespitzten Konfliktes", der „das sozialökonomische Wesen dieser Krise ausmachte" (S. 348). Auf den wohl wichtigsten Beitrag des Bandes, die Darlegungen N. M. Druzinins, braucht hier nicht ausführlicher eingegangen zu werden, da er in gekürzter Form die wesentlichen Beweisführungen und Schlußfolgerungen des gesondert rezensierten Bu-V 197

ches über das russische D o r f 1 8 6 1 - 1 8 8 0 wiederholt. D a ß dieses so außerordentlich wichtige W e r k fast gleichzeitig auch dem deutschsprachigen Leser weitgehend zugänglich gemacht wurde, verdient ausdrücklich betont zu werden. Insgesamt bietet der B a n d , wie es auch im Titel heißt, Studien, die für Preußen mehr detailliertes Material vorlegen, während die beiden Aufsätze zur russischen Geschichte ein recht umfassendes Gesamtbild der Agrarentwicklung vom Beginn des Jahrhunderts bis zu den achtziger Jahren zeichnen. D i e eingangs genannte Forschungsrichtung - komparative Erforschung der Agrarverhältnisse in den ostelbischen Gebieten in der Periode des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus - wird wesentlich angeregt. Peter Ho ff mann

Sovetskaja istoriografija Kievskoj Rusi Leningrad, Izdatel'stvo Nauka, 1978, 2 7 9 S.

Sovetskoe istoenikovedenie Kievskoj Rusi Istoriograficeskie ocerki Leningrad, Izdatel'stvo Nauka, 1979, 2 6 4 S . D i e Geschichte des eigenen Fachgebietes nimmt innerhalb der sowjetischen Geschichtswissenschaft traditionell einen außerordentlich hohen Stellenwert ein. D i e Historiographie - wie die Geschichte der Geschichtswissenschaft etwas unpräzise meist genannt wird - hat sich längst zu einer eigenständigen historischen Spezialdisziplin entwickelt. Neben repräsentativen Gesamtdarstellungen der russischen und sowjetischen Geschichtsschreibung, Hochschullehrbüchern, Bibliographien und Monographien über verschiedene Historiker liegt bereits eine Reihe von Darstellungen der Entwicklung einzelner Zweige der sowjetischen Wissenschaft seit 1917 vor. D e n Fachhistorikern bieten solche Überblicksdarstellungen die Möglichkeit, ihr Selbstverständnis innerhalb der Tradition zu definieren, Bilanz zu ziehen und Impulse für die künftige Entwicklung der Forschung zu geben. D e n Historikern benachbarter Gebiete, Studenten oder anderen Interessierten geben solche Bücher Informationen, die in mancher Beziehung wertvoller als rein bibliographische Aufbereitungen sind, da sie aus der Flut der Veröffentlichungen Bleibendes von weniger Wichtigem scheiden und mehr oder weniger umfassende Wertungen geben. In den vorliegenden beiden Bänden versucht nun ein Kreis von Leningrader Historikern zum erstenmal, einen Gesamtüberblick über die Entwicklung der sowjetischen Historiographie zur Geschichte der Kiever Rus' zu geben. D i e beiden Bände bilden zwar formal keine bibliographische Einheit, stammen jedoch von demselben

Herausgebergre-

mium und sind über weite Strecken von denselben Autoren verfaßt. D i e einzelnen Abschnitte sind mit den Namen der Autoren gezeichnet, als Herausgeber fungiert ein R e daktionskollegium, dem V . V . Mavrodin als verantwortlicher Redakteur sowie N . E . Nosov, M . B . Sverdlov und I. P. Saskol'skij angehören. E i n erheblicher Teil der Einzelabschnitte wurde von den Herausgebern selbst geschrieben, daneben erscheinen als Autoren mehrerer Abschnitte A . V . G a d l o , I. J a . Frojanov, L . A . K o c a , J u . A . Limonov u. a.

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ches über das russische D o r f 1 8 6 1 - 1 8 8 0 wiederholt. D a ß dieses so außerordentlich wichtige W e r k fast gleichzeitig auch dem deutschsprachigen Leser weitgehend zugänglich gemacht wurde, verdient ausdrücklich betont zu werden. Insgesamt bietet der B a n d , wie es auch im Titel heißt, Studien, die für Preußen mehr detailliertes Material vorlegen, während die beiden Aufsätze zur russischen Geschichte ein recht umfassendes Gesamtbild der Agrarentwicklung vom Beginn des Jahrhunderts bis zu den achtziger Jahren zeichnen. D i e eingangs genannte Forschungsrichtung - komparative Erforschung der Agrarverhältnisse in den ostelbischen Gebieten in der Periode des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus - wird wesentlich angeregt. Peter Ho ff mann

Sovetskaja istoriografija Kievskoj Rusi Leningrad, Izdatel'stvo Nauka, 1978, 2 7 9 S.

Sovetskoe istoenikovedenie Kievskoj Rusi Istoriograficeskie ocerki Leningrad, Izdatel'stvo Nauka, 1979, 2 6 4 S . D i e Geschichte des eigenen Fachgebietes nimmt innerhalb der sowjetischen Geschichtswissenschaft traditionell einen außerordentlich hohen Stellenwert ein. D i e Historiographie - wie die Geschichte der Geschichtswissenschaft etwas unpräzise meist genannt wird - hat sich längst zu einer eigenständigen historischen Spezialdisziplin entwickelt. Neben repräsentativen Gesamtdarstellungen der russischen und sowjetischen Geschichtsschreibung, Hochschullehrbüchern, Bibliographien und Monographien über verschiedene Historiker liegt bereits eine Reihe von Darstellungen der Entwicklung einzelner Zweige der sowjetischen Wissenschaft seit 1917 vor. D e n Fachhistorikern bieten solche Überblicksdarstellungen die Möglichkeit, ihr Selbstverständnis innerhalb der Tradition zu definieren, Bilanz zu ziehen und Impulse für die künftige Entwicklung der Forschung zu geben. D e n Historikern benachbarter Gebiete, Studenten oder anderen Interessierten geben solche Bücher Informationen, die in mancher Beziehung wertvoller als rein bibliographische Aufbereitungen sind, da sie aus der Flut der Veröffentlichungen Bleibendes von weniger Wichtigem scheiden und mehr oder weniger umfassende Wertungen geben. In den vorliegenden beiden Bänden versucht nun ein Kreis von Leningrader Historikern zum erstenmal, einen Gesamtüberblick über die Entwicklung der sowjetischen Historiographie zur Geschichte der Kiever Rus' zu geben. D i e beiden Bände bilden zwar formal keine bibliographische Einheit, stammen jedoch von demselben

Herausgebergre-

mium und sind über weite Strecken von denselben Autoren verfaßt. D i e einzelnen Abschnitte sind mit den Namen der Autoren gezeichnet, als Herausgeber fungiert ein R e daktionskollegium, dem V . V . Mavrodin als verantwortlicher Redakteur sowie N . E . Nosov, M . B . Sverdlov und I. P. Saskol'skij angehören. E i n erheblicher Teil der Einzelabschnitte wurde von den Herausgebern selbst geschrieben, daneben erscheinen als Autoren mehrerer Abschnitte A . V . G a d l o , I. J a . Frojanov, L . A . K o c a , J u . A . Limonov u. a.

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In der Einleitung zum Band „Sovetskaja istoriografija" skizzieren V. V. Mavrodin und M. B.-Sverdlov die Grundlinien der Entwicklung der Forschungen über die Kiever Rus' seit 1917. Diese Darstellung erfolgt im Rahmen der Entwicklung der sowjetischen Geschichtswissenschaft insgesamt. Es wird auf den komplizierten und widerspruchsvollen Weg der Durchsetzung des Marxismus in dem Jahrzehnt nach der Oktoberrevolution und schließlich auf die grundlegende Zäsur innerhalb der sowjetischen Geschichtsforschung in den Jahren 1934 bis 1936 hingewiesen. Es wird hier auf die Beschlüsse des ZK der Kommunistischen Partei und des Rates der Volkskommissare des Jahres 1934 sowie auf die „Bemerkungen zum Konspekt des Lehrbuches der Geschichte der UdSSR" von J. V. Stalin, A. A. Zdanov und S. M. Kirov verwiesen, die für die Forschungen über die alte Rus' von unmittelbarer Bedeutung waren. Das von M. N. Pokrovskij überbetonte soziologische Herangehen an die Geschichte wurde überwunden und der Darstellung des konkreten historischen Geschichtsprozesses wieder mehr Raum gewidmet. Die nationale Geschichte erhielt eine neue Bedeutung bei der patriotischen Erziehung; die bisher umstrittene Abfolge der sozialökonomischen Gesellschaftsformationen wurde verbindlich formuliert. Der Charakter des Kiever Rußland wurde als feudal definiert. Schließlich finden einige Arbeiten B. D. Grekovs aus jener Zeit wie auch Veröffentlichungen aus den vierziger und fünfziger Jahren Erwähnung. Anschließend wird der Platz der Kiever Rus' in der gegenwärtigen sowjetischen Forschung umrissen. Nach der Einleitung folgen die Darlegungen systematischen Prinzipien. In jeweils untergliederten Sachkapiteln werden die Forschungen über die Ethnogenese des russischen Volkes, über die sozialökonomische Struktur der Kiever Rus', über die Beziehungen der Rus' zu den europäischen und orientalischen Staaten, zu Byzanz und den Steppenvölkern sowie über die Folklore, über die schriftlichen. Kulturdenkmäler, über das wissenschaftliche Denken im Kiever Staat untersucht. Innerhalb der einzelnen Unterabschnitte wird dann chronologisch der Gang der Forschungen von 1917 bis in. die Mitte der siebziger Jahre zum jeweiligen Thema nachgezeichnet. Die Darstellung der sowjetischen Geschichtswissenschaft der zwanziger Jahre ist besonders im Detail interessant, da hier an viele Autoren sowie an deren Forschungsergebnisse erinnert wird, die wegen ihres wissenschaftlichen Niveaus von bleibendem Wert sind. Bei der Darstellung der folgenden Jahrzehnte spielen die Wechselbeziehungen zwischen der politischen Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft und den konzeptionellen Änderungen innerhalb der Geschichtswissenschaft eine besondere Rolle. Ein interessantes Beispiel dafür ist die Darstellung der Problematik des normannischen Einflusses auf die Bildung des altrussischen Staates, eines Problems, das seit dem 18. Jh. heftig umstritten war und niemals eine rein akademische Frage blieb, sondern immer politische Implikationen einschloß. Dieser informative Abriß ist von I. P. Saskol'skij, dem sicherlich besten Kenner der Materie, verfaßt. Es wird zunächst darauf verwiesen, daß die Grundthesen der sogenannten Normannentheorie, insbesondere die Auffassung von der skandinavischen Herkunft der ersten russischen Dynastie, sich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts in der russischen Wissenschaft - soweit es sich um ernsthafte Forschung handelte - durchgesetzt hatte. Weiter wird ausgeführt, daß sowohl die frühe marxistische Forschung - so in den Gesamtdarstellungen der russischen Geschichte von M . N. Pokrovskij - als auch die noch überwiegend bürgerliche Fachwissenschaft die traditionellen Thesen der Normannentheorie zunächst rezipierte. Zu Beginn der dreißiger Jahre wurde die normannische Konzeption - wie es von nun an hieß - zuerst aufgrund neuer Kriterien der ethnischen Zuordnung von Grabfunden durch die Archäolo199

gie kritisiert. Der entscheidende Umschwung vollzog sich dann Mitte der dreißiger Jahre. „Es war weniger das Ergebnis konkreter Forschungen zu den Problemen selbst, sondern mehr das Resultat grundlegender Veränderungen in der sowjetischen Forschung zum russischen Feudalismus", schrieb Saskol'skij (S. 158). Der entscheidende Punkt der Veränderung wird in der nunmehr erfolgten Durchsetzung eines marxistischen G e schichtsbildes gesehen, das die Gründung des altrussischen Staates als Ergebnis eines langen sozialökonomischen Prozesses innerhalb der ostslawischen Gesellschaft ansah. Gewisse Überspitzungen, die ihren Höhepunkt in den Nachkriegsjahren erreichten, als einige Historiker die Anwesenheit von Normannen im mittelalterlichen Rußland überhaupt ins Reich der Legende verweisen wollten, werden kritisiert. Ähnlich vollzog sich die Entwicklung der Sicht in bezug auf andere Fragen der altrussischen Geschichte. Dabei fällt auf, daß die Priorität der politisch determinierten Veränderung der Geschichtsbetrachtung gegenüber den fachwissenschaftlichen Einzelergebnissen oft nicht bis zur letzten Konsequenz deutlich wird. Manche zeitbedingte Änderung von Auffassungen über bisher als sicher geltende historische Sachverhälte erscheinen so als Ergebnis wissenschaftlicher Diskussionen 1 ; die oben erwähnten Einseitigkeiten in der Normannenfrage beispielsweise werden faktisch den einzelnen Historikern zur Last gelegt, die sich in diesem Sinne äußerten. Von besonders großem Interesse ist die Darstellung der neuesten Forschungsergebnisse und der wissenschaftlichen Diskussionen. Man findet hier einen streng sachbezogenen Überblick über Tendenzen der sowjetischen Forschung zur altrussischen Geschichte. Jedes der den einzelnen Problemen gewidmeten Kapitel hat einen außerordentlich hohen Informationswert. Sie ermöglichen einen schnellen und umfassenden Überblick über den Forschungsgegenstand, über die Diskussionen in der Vergangenheit und in der Gegenwart, über offene Probleme und künftige Forschungsschwerpunkte. Interessant sind die Informationen über noch nicht abgeschlossene Diskussionen, beispielsweise über die Frage nach der Rolle vorfeudaler Elemente innerhalb der feudalen sozialökonomischen Struktur des Kiever Rußlands. Allerdings verpflichtet die handbuchartige Darstellung die Autoren, kontroverse Probleme mitunter relativ unpolemisch darzulegen. Mehr noch gelten diese Bemerkungen über den hohen Informationswert für den zweiten hier anzuzeigenden Band. E r ist faktisch als umfassende Einführung in das Studium der Geschichte des altrussischen Staates zu verwenden und bietet, zumindest was die angeführte Literatur betrifft, mehr als bisherige Versuche einer solchen Einführung. D e r Begriff „istoenikovedenie" wird wesentlich umfassender verwendet als die deutsche Entsprechung „Quellenkunde". Der vorliegende Band behandelt die Forschungen zu den altrussischen schriftlichen Quellen, zu den ausländischen schriftlichen Quellen, soweit sie die russische Geschichte betreffen, sowie zu den sogenannten historischen Hilfswissenschaften Archäologie, Ethnographie, Anthropologie, Linguistik, Numismatik, Sphragistik usw. Wie im ersten Band wird auch hier chronologisch seit 1917 der Gang der Forschungen zu dem jeweiligen Spezialthema nachvollzogen. Der Abstand zwischen dem Erscheinungsjahr und der in die Darstellung einbezogenen Literatur ist geringer als in dem Band zur Historiographie. Die Kapitel sind auch hier von den maßgeblichen Fachleuten verfaßt. D a es hier weniger um konzeptionelle Fragen, sondern mehr um die Forschungspraxis geht, treffen die zum ersten Band gemachten kritischen Einwände nicht zu. Stefan 200

Wolle

Rußland und die Sowjetunion im deutschsprachigen Schrifttum. Bibliographisches Jahrbuch 1974 Unter Mitarbeit v. Vera Ziegler zus.-gest. u. hg. v. Peter Bruhn Wiesbaden, Harrassowitz, 1978, 691 S. (Bibliogr. Mitt. d. Osteuropa-Inst. an d. Fr. Univ. Berlin 16) Die internationale Bedeutung der Sowjetunion hat in der gesamten Welt zu einer ständig wachsenden Anzahl von Publikationen über die UdSSR geführt. Die engen Beziehungen zwischen der DDR und der UdSSR, aber auch die Verbindungen zwischen der B R D und der UdSSR finden in der Literatur dieser Staaten ihren Niederschlag. Nachdem bereits die amerikanische, englische und französische Literatur über die Sowjetunion in laufenden Bibliographien veröffentlicht wird - darauf verweist das Vorwort - , hat es das Osteuropa-Institut der Westberliner Universität übernommen, das deutschsprachige Schrifttum in einer laufenden Bibliographie nachzuweisen, deren erster Band für das Berichtsjahr 1974 im Jahre 1979 erschienen ist. Man kann darüber streiten, ob eine sprachlich orientierte Auswahl den notwendigen Gesamtüberblick zur Thematik geben kann oder ob eine thematische Auswahl unter Einbeziehung der wichtigsten Arbeiten mehrerer Sprachen einem Nutzer mehr zu bieten vermag. Meines Erachtens ist diese Form der sprachlichen Auswahl, die weniger arbeitsaufwendig ist und im allgemeinen auch einen relativ vollständigen Nachweis vermittelt, dann besonders zu rechtfertigen, wenn gleichzeitig entsprechende Arbeiten für die übrigen Sprachen vorliegen. Eine solche Bibliographie muß ihre Hauptaufgabe darin sehen, auf die breite Publikationsbasis in deutscher Sprache und die Publizisten und Wissenschaftler hinzuweisen, die sich zur Sowjetunion, ihrer Geschichte, Literatur und ihren Gegenwartsproblemen geäußert haben. Der vorliegende Band enthält vorwiegend deutschsprachige Literaturnachweise aus der DDR und der B R D sowie in geringem Maße aus Österreich und der Schweiz. Die Bibliographie will alle Arbeiten erfassen, die als formale Voraussetzung eine eigene Überschrift aufzuweisen haben, 1 wobei neben Monographien und Zeitschriftenaufsätzen (aus mehr als 400 Zeitschriften) auch (oft sehr kurze und nichtssagende) Rezensionen und Zeitungsartikel nachgewiesen werden. Man erwartet von einer Bibliographie, in thematischer Abgrenzung, übersichtlicher Gliederung und deutlichen Selektionskriterien Literaturnachweise zu erhalten, die eine gründliche und zuverlässige Auskunft über vorhandene Literatur zu einer bestimmten Thematik geben können. Ungenaue und allgemein gehaltene Aufnahmeprinzipien führen zu subjektiven Auslegungen der einzelnen Bearbeiter und zwangsläufig auch zu mehr oder weniger formalen Gesichtspunkten bei der Titelerfassung und damit zu redundanten Titeln, aber auch zu Lücken. Eine nur oberflächlich vorgenommene Überprüfung von drei Zeitschriften (Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Einheit, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft), die als ausgewertet in der Zeitschriftenliste aufgeführt sind, bestätigte das in 1

„ . . . möglichst alles zu erfassen, was mit Bezug auf Rußland und die Sowjetunion in deutscher Sprache veröffentlicht worden ist", und zwar „im weitesten Sinne".

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eindrucksvoller Weise. So werden von den 19 Titeln der „Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung", die nach den Bemerkungen im Vorwort in Betracht kommen, nur 6 aufgenommen. 2 Bei der „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft" kommen außer den erfaßten 11 T i teln 9 in Frage. 3 D i e Zeitschrift „Einheit" weist ein ähnliches Verhältnis von erfaßten und nicht erfaßten Arbeiten auf. Natürlich gibt es in jeder Bibliographie Lücken, die in späteren Bänden aufgefüllt werden müssen. D i e Fülle des Materials und die zunehmenden Schwierigkeiten bei der rechtzeitigen Bereitstellung von Monographien und Zeitschriften relativieren die V o l l ständigkeit selbst bei einem vierjährigen Abstand zwischen Berichts- und Erscheinungsjahr.. Trotzdem muß die Sorgfalt anerkannt werden, mit der die Bearbeiter versucht haben, auch entlegene T i t e l für ihre Bibliographie zu ermitteln. D a ß die Masse des M a terials auch dazu geführt hat, auf das bewährte bibliographische Prinzip der Autopsie zu verzichten, bleibt zu bedauern. D i e häufig auftretenden formalen Ungleichheiten in der Titelaufnahme, aber auch inhaltliche Ungenauigkeiten bei der Gliederung des Materials sind die zwangsläufige Folge. D i e Gliederung, die der Herausgeber selbst für nicht genügend differenziert hält (S. V I I ) , erscheint mir zwar nicht gut proportioniert, aber enthält doch alle wesentlichen Sachgebiete und Hinweise auf weitere Titel, die anderen Gruppen zugeordnet wurden. Nicht klar ist, nach welchen Gesichtspunkten die Reihenfolge innerhalb der weiteren Gruppen gewählt wurde. Bedauerlich ist das Fehlen eines Sachregisters, das offenbar auch für die nächsten B ä n d e nicht vorgesehen ist. D a s Personenregister, das sowohl die Namen von Autoren und Bearbeitern als auch der behandelten Personen enthält, muß als gelungen eingeschätzt werden. D a s gilt auch für die Bewältigung der Schwierigkeiten bei der Transliteration. Insgesamt handelt es sich um eine nützliche Bibliographie, die jedoch besonders im Hinblick auf die Aktualität ihrer Erscheinungsweise und ihrer Aufnahmeprinzipien sowie wegen des fehlenden Sachregisters manche Wünsche offenläßt.

Peter Wiek 2

3

Es fehlen: Jahn, Gr. Nr. 1, S. 60; 4, 547; Kusnezowa, O.: 1, 85; Reisberg, A.: 5, 1084; Becker, /.: 2, 316; Kumpf-Korfes, Sr. 2, 317: Schäwel, Hr. 2, 318; Pech, K. Hr. 2, 328; Tregubow, A. Wr. 3, 369; Stoljarowa, K.: 3, 414; Richter, Kr. 3, 498; Horn, W.: Sonderband, 43. Scbaaf, H. W.: 7, 753; Donnert, E./Solta, JJZeil, Wr. 8, 870; Benser, G.: 8, 884; Laboor, Er. 10, 1107; Wegner-Korfes, S.: 10, 1126; Poljakov, Ju. A : 11, 1243; Badstübner-Peters!Behrendt/ Born-, 11, 1244; Einhorn, Mr. 1, 102; Donnert, E . : 3, 356.

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Autorenverzeichnis

Dr. C. P. Agajan Prof., Mitglied der Akademie der Wissenschaften der Armenischen SSR, Erevan Dr. Lutz-Dieter

Behrendt

Wissenschaftlicher Oberassistent an der Sektion Geschichte der Karl-Marx-Universität Leipzig Dr. K. S. Chudaverdjan Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Geschichte der UdSSR an der Akademie der Wissenschaften der Armenischen SSR, Erevan

Dr. L. A. Cbursudjan Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Geschichte der UdSSR an der Akademie der Wissenschaften der Armenischen SSR, Erevan Dr. Agnes Gereben Assistentin am Lehrstuhl für russische Sprache der Karl-Marx-Universität für ökonomische Wissenschaften, Budapest Dr. Horst Giertz Militärgeschichtliches Institut der D D R , Potsdam Dr. Margot

Hegemann

Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Zentralinstitut für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften der D D R Dr. Peter Hoffmann Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentralinstitut für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften der D D R Dr. Johannes Irmscher Prof., Korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der D D R 203

Dr. Miklos Kurt Dozent am Lehrstuhl für Geschichte Osteuropas an der Universität Budapest

Dr. Heinz Lemke Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentralinstitut für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR

Dr. Erwin

Lewin

Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED

Dr. Boris

Mironov

Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Geschichte der UdSSR an der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Leningrader Abteilung

Dr. Claus Remer Dozent an der Sektion Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena

Dr. Klaus }. Schiller Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Sorbische Volksforschung beim Zentralinstitut für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR

Peter

Schramm

Diplom-Historiker, Leitet der Wissenschaftlichen Bibliothek im Militärgeschichtlichen Institut der DDR, Potsdam

Dr. Erika Stoecker Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Zentralinstitut für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR

Dr. Mindaugas

T'amosiTinas

Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Parteigeschichte beim ZK der Kommunistischen Partei Litauens, Vilnius

Dr. Peter Wiek Abteilungsleiter im Zentralinstitut für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften der D D R

Stefan

Wolle

Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentralinstitut für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR

Dr. Wilhelm

Zeil

Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentralinstitut für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR

Dr. Bela

Zelicki

Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Slawenkunde und Balkanistik an der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Moskau 204