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German Pages 200 Year 1983
Jahrbuch fOr Geschichte der sozialistischen Länder Europas Band 25/2
Jahrbuch
für Geschichte der sozialistischen Länder Europas Band 2 5 / 2
m
VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften
Hl
Berlin 1982
Akademie der Wissenschaften der D D R Zentralinstitut für Geschichte Wissenschaftsbereich Allgemeine Geschichte HERAUSGEBERKOLLEGIUM C. Grau (verantwortlicher Redakteur), G. Voigt (Stellv.), E . Stoecker (wiss. Sekretär), L.-D. Behrendt, H. Giertz, M. Hegemann, W. Küttler, E. Lewin, C. Remer (Mitgliederder Redaktion), A. Anderle, E. Donnert, R. Jeske, E . Kalbe, J. Kaiisch, E. Laboor, H. Lemke, J. Mai, S. Quilitzsch, G. Rosenfeld, E . Seeber, F. Straube, E . Winter, E . Wolfgram
Das Jahrbuch erscheint zweimal jährlich Manuskripte und Besprechungsexemplare werden erbeten an die Redaktion des Jahrbuchs: 1080Berlin, Clara-Zetkin-Straße 26, Zentralinstitut für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften der D D R Redaktionsschluß: 2 0 . 3 . 1 9 8 1
Verlagslektor: Klaus Grüneberg Verlagshersteller: Karin Kempf Einbandgestalter: Peter Schulz © 1982 VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, D D R - 1 0 8 0 Berlin, Postfach 1216 Lizenz-Nr.: 206 • 435/143/82 Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 4450 Gräfenhainichen LSV 0255 Bestellnummer: 570 998 8 DDR 24,- M ISSN 0075-2657
Inhaltsverzeichnis
Zueignung
7
Aufsätze Eduard Winter
Bernard Bolzano (1781-1848)
9
Horst Schützler
Kulturbeziehungen zwischen der DDR und der UdSSR
17
Ulrike Kopp
Zu A. V. Lunacarskijs publizistischem und persönlichem Wirken als Volkskommissar für Bildung und Aufklärung
29
Peter Hoffmann/ Stefan Wolle
Zur Bedeutung B. D. Grekovs für die Entwicklung der sowjetischen Mediävistik
43
Conjad Grau
Die Petersburger Akademie der Wissenschaften in den interakademischen Beziehungen 1899 bis 1915
51
Zum Anteil der Slawistik in Deutschland an der Information über russische Kultur und Wissenschaft
69
Zu den deutsch-russischen Beziehungen von 1861 bis 1917 im Lichte der Buchgeschichte
83
Wilhelm Zeil
Othmar Feyl
Ljudmila Lapteva
Vikentij Makusev und Karl Hopf
107
Aleksandr Myl'nikov" Zu einigen kulturhistorischen Aspekten der slawischdeutschen Wissenschaftsbeziehungen Ende des 18./Anfang des 19. Jh. 123 Stefan Wolle
August Ludwig von Schlözers Nestor-Edition (1802-1809) im geistigen und politischen Umfeld des beginnenden 19. Jh. 139
Günter Mühlpfordt
Petersburg und Halle
155 5
Rezensionen Conrad Grau
Eduacd Winter, Mein Leben im Dienste des Völkerverständnisses
173
Heidi Richter
Geschichte der sowjetischen Außenpolitik 1945 bis 1976
175
Günter Höhne
Die sowjetische Arbeiterklasse
177
Ernst Laboor
Für ein Europa des Friedens und des Fortschritts
179
Gerd Voigt
Erika Stoecker, A. S. Jerussalimski
182
Peter Göhler
Thomas Nägler, Die Ansiedlung der Siebenbürger Sachsen
185
Erika Stoecker
M. P. Pävlovic, Vostok v bor'be za nezavisimost'
188
Armin Mitter
Akten zur preußischen Kirchenpolitik in den Bistümern Gnesen-Posen, Kulm und Ermland 1885-1914
190
M. D. Karpacev, Russkie revoljucionery-raznocincy i burzuaznye fal'sifikatory
193
Ole Feldbaek, Denmark and the Armed Neutrality 1800— 1801
195
Dietmar Wulff
Peter Hoffmann
Autorenverzeichnis
199
Zueignung
Eduard Winter hat Schüler und Kollegen durch eigene Arbeiten und in Gesprächen immer wieder angeregt, den deutsch-slawischen und den interslawischen Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen in der geschichtswissenschaftlichen Forschung der DDR größte Aufmerksamkeit zu schenken. Auch der vorliegende Jahrbuchband ordnet sich in die von Eduard Winter betriebenen Forschungen ein. Die Redaktion verfolgt mit ihm die Absicht, an ausgewählten Einzelthemen aus drei Jahrhunderten die Ergiebigkeit dieses Forschungsgebietes und die noch immer nicht ausgeschöpfte Fülle der Quellen sichtbar zu machen. In der Gestaltung dieses Bandes zeigt sich entsprechend dem Anliegen des Jahrbuches erneut die Fruchtbarkeit der von Eduard Winter stets mit hohem persönlichem Engagement angestrebten und verwirklichten wissenschaftlichen Zusammenarbeit mit sowjetischen Kollegen. Dieser Band wurde von der Redaktion des Jahrbuches in Zusammenarbeit mit Wilhelm Zeil vorbereitet. Eduard Winter voll'endet am 16. September 1981 sein 85. Lebensjahr. Unsere herzliche Gratulation zu seinem Geburtstag verbinden wir mit der Zueignung dieses Bandes an den Jubilar.
Die Redaktion
Aufsätze Bernard Bolzano (1781-1848) Philosoph der deutsch-slawischen Wechselseitigkeit EDUARD WINTER
Die Bezeichnung „Philosoph der deutsch-slawischen Wechselseitigkeit" verdient niemand mehr als Bernard Bolzano. 1 Er bekannte sich gern als „Böhme deutscher Zunge". Damit wollte er sich als bewußter Vertreter deutsch-slawischer Wechselseitigkeit vorstellen, die er in seinem Vaterland Böhmen durch das Zusammenleben von Tschechen und Deutschen als gegeben betrachtete. Den tschechischen wie den deutschen Landsleuten fühlte er sich gleicherweise verbunden, wenn auch sein gütiges Herz vor allem Anteil an dem Schicksal des damals benachteiligten tschechischen Volkes nahm, an dessen geistiger und politischer Entwicklung er stets besonders interessiert war. In diesem Geiste hielt Bolzano seine Erbauungsreden für deutsche und tschechische Hörer. 2 Damit klangen Töne an, die für die gesamte Donaumonarchie hätten Geltung haben sollen. Noch 100 Jahre später, 1939, war der faschistische Minister Rust bei der Übernahme der Universität Prag wütend auf Bolzano, weil dieser dem Deutschnationalismus, wie er von der deutschen Romantik und dem deutschen Idealismus gepflegt wurde, den Zugang nach Böhmen versperrt hätte. Bolzano wurde am 8. Oktober 1781 in Prag als Sohn eines aus Italien eingewanderten Kunsthändlers geboren. Seine Mutter stammte aus der deutschsprachigen Familie Maurer in Prag. Die Familie dachte im Geist der deutschen Aufklärung, die sich damals in Prag weitgehend durchgesetzt hatte. In diesem Geist wuchs der junge Bolzano auf. Die Liebe zur Menschheit suchte er mit der Hochachtung für sein Vaterland Böhmen, das damals ein Teil der Donaumonarchie war, zu verbinden. Bolzanos Schüler J. M. Fesl, der dem Prager Denker besonders nahestand, charakterisierte diesen so: „Bolzano ist von romanischem Stamm, ist Böhme von Geburt, aber seine Bildung gehört der deutschen Wissenschaft, wie sein Herz und sein Leben der Menschheit an." 3 Vgl. E. Winter, Bernard Bolzano. Ein Lebensbild (Bernard Bolzano — Gesamtausgabe. Einleitungsband, T. 1), Stuttgart/Bad Cannstatt 1969; ders., Der Weise von Prag. Bernard Bolzano (1781-1848),. in: E. Winter, Ketzerschicksale. Christliche Denker aus neun Jahrhunderten, Berlin 1979, S. 306ff.; J. Berg, Bolzano-Bibliographie (Bernard-Bolzano-Gesamtausgabe. Einleitungsband, T. 2/1), Stuttgart/Bad Cannstatt 1972. 2 ß . Bolzano, Erbauungsreden für Akademiker, Prag 1813, 2., verb. u. verm. Ausg., Sulzbach 1839; ders., Erbauungsreden an die akademische Jugend, Bd. 1—2, Prag 1849—1850; ders., Erbauungsreden an die Hörer der Philosophie an der Prager Universität, Bd. 3, Prag/Wien 1851 ; ders., Erbauungsreden für Hörer der Philosophie an der Prager Universität, Bd. 4, Prag/Wien 1852. 3 Briefentwurf Fesls an Schelling, 1836, Pamätnik närodniho pisemnictvi Praha, Literärni archiv, FeslNachlaß.
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Der Menschheit glaubte Bolzano am besten als katholischer Priester dienen zu können. Besonders der Gedanke, den sein Pastoralprofessor J. M. Mika an der theologischen Fakultät der Prager Universität ganz im Geist der Aufklärung vortrug, daß es nämlich bei Dogmen nicht so sehr auf ihre göttliche Offenbarung als vielmehr auf ihre Wirkung auf den Menschen ankäme, veranlaßte ihn trotz der Furcht vor dem Amtszölibat, katholischer Priester zu werden, wie er in seiner Selbstbiographie 4 betonte. Obwohl sich sein mathematisches Genie früh offenbarte und er 1805 von der Landesbehörde für die mathematische Professur an erster Stelle vorgeschlagen worden war, nahm er, nachdem man ihm seitens der Hofkanzlei J. J. Jandera als Professor für Mathematik vorgezogen hatte, die 1806 errichtete Lehrkanzel für Religionswissenschaft an. Religion sah er vor allem ethisch, als Erziehung zu einem guten Menschen. Bolzano entwickelte eine Sozial- und Ethno-Ethik von großer Tiefe und Einfachheit. 5 In seinen sonntäglichen Erbauungsreden, die er den Studenten zu halten hatte, erblickte er neben seinen Vorlesungen über Religionswissenschaft ein wichtiges Mittel zu dieser Erziehungsarbeit. Aber gerade seine 1813 in Prag im Druck erschienenen Erbauungsreden wurden der Anlaß zu Angriffen auf seine Rechtgläübigkeit und seine Treue zum absolutistischen Staat, den er vor allem wegen seiner Verbundenheit mit einer menschenunwürdigen Gesellschaftsordnung ablehnte. Bolzanos Philosophie gipfelt in Weisheit. Weise war für Bolzano derjenige, „der im Besitz aller derjenigen Erkenntnisse (ist), die unsere Tugend und unsere von ihr abhängige Glückseligkeit befördern". 6 Bolzanos Lebensgrundsatz, der seinen Grabstein in Prag heute noch ziert, lautete: „Glücklich sein und glücklich machen. Fortschreiten soll ich." Das war aber gar nicht im Sinn des österreichischen Vormärz. So war seine Entfernung von der Universität nur eine Frage der Zeit. Als Kaiser Franz I. 1819 in Rom mit dem Papst in enges Einvernehmen kam, war die Stunde der Entlassung Bolzanos aus dem Lehramt Ende 1819 gekommen. Als Hochverräter und Ketzer wurde ihm der Prozeß gemacht, der sich bis Ende 1825 hinzog. 7 Der Erzbischof von Prag, V. Chlumcansky, wagte wohl wegen des hohen Ansehens, das Bolzano erworben hatte, nicht, ihn zu bestrafen, wie Kaiser und Papst forderten, aber er wurde völlig kaltgestellt und stand bis März 1848 unter Polizeiaufsicht. Schon der Umgang mit ihm machte verdächtig; seine Bücher, wie die Erbauungsreden (Prag 1813) und sein „Lehrbuch der Religionswissenschaft" (Sulzbach 1834), kamen auf den Index der für Katholiken verbotenen Bücher in Rom, und seine Schriften waren in Österreich verboten. Bolzano zog sich ganz zurück. In Techobus in Südböhmen fand er, gepflegt von Anna Hoffmann, der Frau des Gutsbesitzers Josef Hoffmann, die Ruhe, die er benötigte, um seine großen Werke schreiben zu können. Hier schrieb er vor allem die vierbändige Wissenschaftslehre, die 1830 fertig war, aber erst 1837, wie alle seine späteren Werke durch Vermittlung von Schülern, in Sulzbach in Bayern erscheinen 4
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B. Bolzano, Lebensbeschreibung des Dr. B. Bolzano mit einigen seiner ungedruckten Aufsätze und dem Bildnisse des Verfassers, eingel. u. erläut. v. Hg. [M. J. Fesl], Sulzbach 1836; auch Bernard Bolzano. Ausgewählte Schriften, hg. u. eingel. v. E. Winter, Berlin 1976, S. 55ff. Vgl. E. Winter, Sozial- und Ethnoethik Bernard Bolzanos. Humanistischer Patriotismus oder romantischer Nationalismus im vormärzlichen Österreich. Bernard Bolzano contra Friedrich Schlegel. Eine Dokumentation, Wien 1977. Bolzano an E. von Badenfeld (Silesius) (1845—1847), Universitätsbibliothek Berlin, Handschriftenabteilung. Vgl. Der Bolzanoprozeß. Dokumente zur Geschichte der Prager Karlsuniversität im Vormärz. Eingel. u. hg. v. E. Winter, Brünn/München/Wien 1944.
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konnte. 8 Seine 1830 begonnene weitgespannte Philosophie der Mathematik blieb unvollendet. Krankheit und Tod der Frau Hoffmann 1841/42 waren für Bolzano ein beinahe tödlicher Schlag. Aber seine Innerlichkeit und seine damit verbundene Lebensphilosophie gaben ihm die Kraft, nach seiner Rückkehr nach Prag die philosophische und mathematische Klasse der Königlichen Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften bis 1848 zu leiten. Die Märzrevolution von 1848, die er begrüßte, warf ihre Schatten voraus, so daß er wirken konnte und dann im März 1848 voll rehabilitiert wurde. Aber seine Kraft war schon gebrochen. Am 18. Dezember 1848 ist er in Prag gestorben, wo sein Grab heute noch erhalten ist. Dies ist ein knapper Abriß seines Lebens: Triumph und Tragik! Das schwere Schicksal, im österreichischen Vormärz als Staatsverbrecher und Ketzer gebrandmarkt zu werden, hat dahin gewirkt, daß die Tiefe seines Denkens keineswegs voll zur Geltung kam. Die Schriften, die von Bolzano bis 1820 veröffentlicht wurden, waren charakteristischerweise hauptsächlich mathematisch-geometrische Arbeiten. 9 So erschienen schon 1804 in Prag seine „Betrachtungen über einige Gegenstände der Elementargeometrie (darunter eine Theorie der Parallelen)", die ihn sofort als genialen Mathematiker auswiesen. Da er aber keinen Lehrstuhl für Mathematik an der Prager Universität erhalten konnte, nahm er, aus seiner Auffassung heraus, dem allgemeinen Wohl dienen zu müssen, die neuerrichtete Lehrkanzel für Religionswissenschaft an, von der er durch seine Vorlesungen und vor allem seine Erbauungsreden hoffte, einen nachhaltigen, begründeten Einfluß auf die Studenten zu gewinnen. Aber er mußte sich erst allmählich gegen die Auffassung, die man in Wien von den Vorlesungen zur Religionswissenschaft hatte, durchsetzen. Der Lehrstuhl war geschaffen worden, um eine der Kirche und dem Staat ganz ergebene Intelligenz zu erziehen. Aber dies war nicht das Anliegen Bolzanos, wie die 1813 erschienenen Erbauungsreden nur zu deutlich zeigtén. Sie fanden in dem weltgeschichtlich bedeutenden Jahr 1813 nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdient hätten. Sie wurden aber dann im Jahre 1819 wichtiges Material der Anklage, die zu seiner Enthebung vom Lehramt führte. Auch jetzt wollte man ihm keinen mathematischen Lehrstuhl anvertrauen, obwohl inzwischen folgende Werke Bolzanos: „Beyträge zu einer begründeteren Darstellung der Mathematik" (Prag 1810), „Der binomische Lehrsatz . . ." (Prag 1816), „Die drey Probleme der Rectification, der Complanation und der Cubirung" (Prag 1817) und „Rein analytischer Beweis des Lehrsatzes, daß zwischen je zwey Werthen, die ein entgegengesetztes Resultat gewähren, wenigstens eine reelle Wurzel der Gleichung liege" (Prag 1817) erschienen waren, die seine ungewöhnliche mathematische Begabung unter Beweis stellten. Infolge des Prozesses gegen ihn in den Jahren 1820 bis 1825, der von Rom und Wien aus gesteuert wurde, war Bolzano «natürlich jeder Publikationsmöglichkeit beraubt. Es war deswegen eine glückliche Fügung, daß er in Prag und Techobus 1823 das erwähnte Asyl gefunden hat und sich ganz seinen Studien hingeben konnte. Neben Besprechungen mathematischer Schriften konnte er 1827 in Sulzbach die Schrift „Athanasia oder Gründe für die Unsterblichkeit der Seele" publizieren. Im Hause Hoffmann fand Bolzano auch die Muße zur Niederschrift seines Hauptwerkes, der „Wissenschaftslehre". Schon 1813 war Bolzano klargeworden, daß nur ein besseres Denken sein oberstes Sittengesetz gegenüber dem egoistischen Selbsterhaltungs8
B. Bolkam, Wissenschaftslehre. Versuch einer ausführlichen und größtentheils neuen Darstellung der Logik, Sulzbach 1837. ® Vgl. J. Berg, Bolzano-Bibliographie.
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trieb zu größerer Geltung bringen könnte. Sein oberstes Sittengesetz lautet: „Beförderung des allgemeinen Wohles". Seine Überlegungen darüber, warum ein solches Gesetz nicht allgemein angenommen wurde, drangen bis 1830 immer tiefer, so daß ein W e r k entstand, das Bolzano zu einem der größten Logiker aller Zeiten werden ließ. Doch bedurfte es sieben Jahre eifrigen Bemühens seiner Schüler, um das Werk in vier Bänden 1837 in Sulzbach herauszubringen. Inzwischen hatten seine Schüler aber 1834 das „Lehrbuch der Religionswissenschaft" in vier Bänden und 1836 seine Selbstbiographie in Sulzbach ediert. In Techobus kehrte Bolzano 1830, nachdem das umfangreiche Manuskript der „Wissenschaftslehre" abgeschlossen war, zu seinen mathematischen Studien zurück. Es sind umfangreiche Aufzeichnungen, vor allem über Zahlen- und Größenlehre, im Wiener Bolzano-Nachlaß erhalten, die auch als Torso beredtes Zeugnis für das mathematische Genie Bolzanos ablegen. Nachdem Bolzano 1842 nach Prag zurückgekehrt war, beschäftigte ihn, soweit seine Kräfte es zuließen, die Leitung der philosophischen und mathematischen Klasse der Königlich Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften. In den Abhandlungen dieser Gelehrtengesellschaft erschienen 1843—1847 mehrere Vorträge über mathematische und philosophische Probleme sowie zur Ästhetik und Sprachphilosophie. Da Bolzano durch Staat und Kirche so sehr bedrängt worden war, wird verständlich, daß er über den besten Staat und die beste Kirche nachdachte. 1845 schien dank der radikalen Kirchenreformbewegung des demokratischen Deutschkatholizismus die Gelegenheit gegeben, in Leipzig seine gründlichen Auseinandersetzungen mit seinem Freunde A. Stoppani aus den Jahren 1832/33 über die „Perfektibilität des Katholizismus" heräuszugeben. 1 0 Seine tiefgreifenden Untersuchungen über den besten Staat, über den er schon seit 1831, aber hauptsächlich in den vierziger Jahren viel nachgedacht hatte, wollte er selbst 1848 nicht veröffentlichen, weil er die Gesellschaftsordnung seinen Vorschlägen entsprechend viel radikaler verändert sehen wollte, als die bürgerlichen Demokraten es wahrhaben wollten. Seine Schrift über den besten Staat erschien deswegen erst 1932/33.H Überlegungen über die „Paradoxien des Unendlichen", die er mit seinem Schüler F. Prihonsky im Sommer 1847 angestellt hatte, gab dieser 1851 in Leipzig „aus dem schriftlichen Nachlasse des Verfassers" heraus. Damit haben wir bereits die Nachwirkung des Denkens Bolzanos ins Blickfeld gerückt. Bolzano hat bei seiner hohen Auffassung von der Lehr- und Erziehungstätigkeit und von der Freundschaft viele t r e u e r g e b e n e Schüler gewonnen. Freundschaft war f ü r Bolzano, wie er in seinen Erbauungsreden 1810 ausführte, „eine Verbindung mit dem innigen Wunsche, die Reise durch dieses Erdental soviel, als es möglich ist, Hand in Hand zu verrichten und so durch diese 'wechselseitige Verbindung gemeinschaftlich weiser , besser und glücklicher zu werden, als jeder einzelne für sich geworden wäre". 1 2 So versteht man die treue Gefolgschaft von Schülern wie J. M. Fesl, F. Prihonsky, J J und 10
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B. Bolzano, Über die Perfektibilität des Katholizismus. Streitschriften zweier katholischer Theolögen, zugleich ein Beitrag zur Aufhellung einiger wichtiger Begriffe aus Bolzano's Religionswissenschaft, Leipzig 1845. B. Bol%ano, Von dem besten Staate. Nach den Manuskripten des Nationalmuseums in Prag. Mit einführenden Betrachtungen hg. v. A. Kowalemki, Prag 1932; 2. Ausg. erschien u. d. T.: Paradoxien in der Politik. Aus Bolzanos Nachlaß hg. eingel. u. mit Anm. vers. v. W. Stäbler, Münster i. W./Regensburg 1933. B. Bolzano, Erbauungsreden für Akademiker, Prag 1813.
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R. Zimmermann, F. Werner, F. Zahradnik und sogar eines Polizeibeamten wie V. Fiebrich. Sie alle, von denen nur einige hier genannt wurden, die ihm besonders nahestanden, waren „Böhmen deutscher wie slawischer Zunge". Es ist daher nicht verwunderlich, daß sofort nach dem Tod des verehrten Lehrers eine Renaissance seiner Gedanken entstand. Fesl forderte schon in einem Rundbrief vom 28. Januar 1849 energisch dazu auf, die Herausgabe aller Schriften Bolzanos in Angriff zu nehmen. Seine Schüler wetteiferten geradezu in diesem Bestreben. Vor allem galt es, die Erbauungsreden Bolzanos herauszugeben. Schon 1849 erschien mit dem Vorwort von Prihonsky der erste Band, dem 1850, 1851 und 1852 drei weitere folgten. Gleichzeitig mit dem ersten Band der Erbauungsreden veröffentlichte Prihonsky das „Kurzgefaßte Lehrbuch der katholischen christlichen Religion . . . " (Bautzen 1849). R. Zimmermann, der aus Böhmen stammte und den Bolzano sehr schätzte, gab 1849 in Wien die grundlegende Schrift Bolzanos „Was ist Philosophie?" heraus, Prihonsky edierte 1851 in Leipzig „Drei philosophische Abhandlungen. . ." aus dem schriftlichen Nachlaß Bolzanos und die erwähnten „Paradoxien des Unendlichen". Besonders eifrig wirkte E. Veverka als Herausgeber von Teilen des Nachlasses Bolzanos. Er publizierte 1853 und 1854 in Prag die Schriften Bolzanos „Über Standeswahl. . ." und „Versuch einer sehr einfachen Erklärung der Aberration des Lichtes". Erst der 100. Geburtstag 1881 brachte eine neue Bolzano-Renaissance. Hinter ihr stand wohl R. Zimmermann, der nach Abgang F. Brentanos vom Lehrstuhl für Philosophie an der Wiener Universität im Jahre 1880 bis zu seiner eigenen Emeritierung 1894 der einzige maßgebende Vertreter der Philosophie an der Universität war. Er bekannte sich auf ausdrücklichen Wunsch Bolzanos nicht offen als sein Schüler, obwohl er der Erbe des wichtigen mathematischen Nachlasses Bolzanos war. Doch unterstützte er im geheimen um so nachdrücklicher eine Bolzano-Renaissance. Nicht zufällig erschien in Wien 1882 eine Neuedition der wichtigsten Schriften Bolzanos in 12 Bänden. Auch ein fünfter Band der Erbauungsreden wurde in Wien 1884 als erster Band einer neuen Folge herausgegeben. 13 Die Tschechen feierten 1881 Bolzano in Festversammlungen als „Böhmen deutscher Zunge". M.Cervinkovä-Riegrovä veröffentlichte 1881 die erste Biographie Bolzanos. 14 Eine Reihe von kleineren Schriften Bolzanos erschien in diesem Zusammenhang in tschechischer Sprache. 15 Aber auch in Deutschland erinnerte man sich 1880 an den Mathematiker Bolzano. Der bekannte Mathematiker Felix Klein, seit 1880 Professor an der Universität Leipzig, schrieb an Otto Stolz, Professor der Mathematik an der Universität Innsbruck, am 10. November 1880 auf einer Karte: „Was wird nun mit Bolzano? Harnack läßt bereits drucken . . ." 1 6 Stolz veröffentlichte in den mathematischen Annalen (Band 18,1881, und Band 22, 1883) den großen Aufsatz „B. Bolzanos Bedeutung in der Geschichte der Infinitesimalrechnung", und auch Georg Cantor verwies 1883 im 21. Band dieser Zeitschrift nachdrücklich auf Bolzano. Es ist freilich kennzeichnend, daß es die Österreichi13
1,1 13
B. Bo/zano, Erbauungsreden an die Hörer der Philosophie an der Prager Universität, 1. Bd., Neue Folge Prag 1884. M. Cervinkovä-Riegrova, B. Bolzano. Zivotopisny nästin, Prag 1881. Vgl. beispielsweise ]. Durdik, O filosofii a cinnosti Bolzanove, Prag 1881. Universitätsarchiv Innsbruck. Ich danke Dozent Dr. G. Oberkofler für diesen interessanten Hinweis. Axel Harnack (1851—1888), der Zwillingsbruder des Theologen, Kirchenhistorikers und Akademiegeschichtsschreibers, war ein bedeutender Funktionstheoretiker.
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sehe Akademie der Wissenschaften 1881 ablehnte, Balzanostudien von Stolz zu veröffentlichen. Da R. Zimmermann in Wien den Namen Bolzanos zwar nicht nannte, aber doch die Philosophie Bolzanos weitgehend vertrat, hat eine bisher nicht genügend beachtete Renaissance von Bolzanos Denken in den achtziger und neunziger Jahren, von Wien ausgehend, weit gewirkt. Die begabtesten Schüler F. Brentanos, so z. B. K. Twardowski und E. Husserl, irrten — nach Meinung ihres Lehrers — von Bolzanos Denken ab, das sie freilich, ohne daß der Name Bolzanos hervorgehoben worden wäre, von ihrem Ordinarius der Philosophie R. Zimmermann eingeprägt erhielten. So wird verständlich, daß einige Schüler von F. Brentano, der an sich in viel höherem Maße schulebildend wirkte als Zimmermann, in den neunziger Jahren eine Bolzano-Renaissance vorbereiteten. Beide Philosophen, F. Brentano und B. Bolzano, waren Gegner Kants und des deutschen Idealismus: Während Bolzano jedoch einen logischen Realismus vertrat, legte Brentano besonderes Gewicht auf Psychologie. Schon in der Arbeit K. Twardowskis „Zur Lehre von Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen", Wien 1894, wird die Zuneigung zu Bolzano deutlich. Twardowski hat dann als Professor der Philosophie in Krakow Bolzanos Gedanken in Polen und Rußland weitergegeben. Die sogenannte Lemberger Schule, von I. Lukasiewicz begründet, und wahrscheinlich auch der russische Denker V. Solov'ev sind durch Twardowski mit dem Denken Bolzanos bekannt geworden. Aber der eigentliche Durchbruch zur Erkenntnis der Bedeutung des Denkens von Bolzano erfolgte durch E. Husserl, den eigenwilligen Schüler Brentanos, der dann eigene Wege ging und der der Begründer der sehr ausgebreiteten phänomenologischen Schule wurde. In seinen „Logischen Untersuchungen", Halle 1900, pries er Bolzano als einen der größten Logiker aller Zeiten und stellte ihn neben Aristoteles und Leibniz. SchonB. Kerry, ein anderer Schüler Brentanos, hatte in seinen Arbeiten über Anschauung und psychische Verarbeitung aus den Jahren 1885 bis 1889 auf Bolzano hingewiesen. So verwundert es nicht, daß der Philosoph an der Berliner Universität, C. Stumpf, 1903 als Thema eines Preisausschreibens der Universität die Philosophie Bolzanos angab und daß A. Sauer in Prag in der von ihm begründeten Zeitschrift „Deutsche Arbeit" 1904 auf Bolzano, den „Prager Weisen", nachdrücklich hinwies, nachdem schon A. Marty in seiner Rektoratsrede 1896 an der Prager Universität auf Bolzanos Denken aufmerksam gemacht hatte. Vor allem ist aber im Zusammenhang mit der von Wien und Prag ausgehenden Bolzano-Renaissance um 1900 A. Höfler zu nennen, der sich bei R. Zimmermann an der Wiener Universität habilitiert hatte und 1896 Professor für Philosophie an der Prager Universität wurde, bis er wieder an der Wiener Universität einen Lehrstuhl für Philosophie erhielt. Über Zimmermann in Wien und Marty in Prag erschloß sich Höfler das Denken Bolzanos. An die Universität Wien zurückgekehrt, gründete Höfler 1913 als Obmann der „Philosophischen Gesellschaft der Universität Wien" eine BolzanoKommission. Er hielt es für seine Pflicht, vor allem durch die Neuherausgabe des Hauptwerkes Bolzanos, der „Wissenschaftslehre", auf den Prager Philosophen hinzuweisen. 1914 und 1915 erschienen, von ihm herausgegeben, die ersten zweiBände der „Wissenschaftslehre" in Leipzig, die aber im ersten Weltkrieg verlorengingen. Höfler ließ sich aber nicht entmutigen und bemühte sich sofort nach dem Ende des Krieges weiter um die Herausgabe dieses großen Werkes. Bevor er 1922 in Wien starb, verpflichtete er seinen Schüler W. Schultz, dieses Werk zu vollenden. Das gelang diesem auch durch die Herausgabe der vierbändigen Wissenschaftslehre bei F. Meiner 1929/31 in Leipzig. 14
Auf diese Ausgabe, die 1970 im Scientia-Verlag Aalen einen Nachdruck erlebte, sind wir heute noch angewiesen, da eine kritische Ausgabe in der Gesamtausgabe der Werke Bolzanos noch aussteht. Aber nicht nur in Österreich und Deutschland war Bolzano um die Jahrhundertwende wieder bekannt geworden.In Polen wirkte., wie wir bereits wissen, Twardowski in diesem Sinne und in Ungarn M. Palagyi, der seit 1902 über Bolzanos philosophisches Anliegen schrieb und Bolzanos Denken den Ungarn bekannt machte. Eine Reihe von ungarischen Philosophen, wie S. Vargas, A. Fenyo und A. v. Pauler, hat sich mit Bolzanos Denken beschäftigt. Auch dies geht auf die Ausstrahlungskraft Wiens vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jh. zurück. Nach dem ersten Weltkrieg besannen sich auch seine tschechischen Landsleute wieder auf Bolzano. Kennzeichnenderweise wirkte der in Wien befindliche mathematische Nachlaß anregend, wie die Arbeiten von M. Jasek seit 1920 beweisen. 17 Aber auch Aufrufe, wie der von A. Vesely in der Zeitung „Ceskoslovenska republika", Prag 1920, und vor allem der Fanfarenstoß K. Vorovskas „Unsere Verpflichtung gegenüber B. Bolzano" in der Zeitung „Närodni listy" bewiesen das neue Interesse der Tschechen für Bolzano. Durch den Hinweis von Jasek wurden tschechische Mathematiker, w i e Bydzovsky und vor allem K. Rychlik, auf den mathematischen Nachlaß Bolzanos in Wien aufmerksam und schufen in der Krälovskä Ceskä spolecnost nauk eine BolzanoKommission. Als deren Mitglied wurde auch ich berufen. Ich veröffentlichte den 4. Band der von dieser gelehrten Gesellschaft herausgegebenen Schriften Bolzanos, der 1935 in Prag erschien. 18 Rychlik hat dann nach dem zweiten Weltkrieg seine Forschungen über den Mathematiker Bolzano 1956 neu aufgegriffen und in zahlreichen Arbeiten bis zu seinem Tode 1964 veröffentlicht. Eine neue Periode der Bolzano-Renaissance setzte mit der längst schon erwünschten Gesamtausgabe der Schriften Bolzanos ein, die während eines Kolloquiums mit F. Kambartel und dem Verleger G. Holzboog bei mir in Berlin 1966 beschlossen und die dann, durch die Großzügigkeit Holzboogs gefördert und auf fünfzig Bände berechnet, vor allem von J. Berg energisch in die Hand genommen wurde. Von ihr konnten freilich erst zwölf Bände erscheinen. Der 200. Geburtstag Bolzanos 1981 wurde weltweit gefeiert. Vor hundert Jahren waren es Tschechen, die den 100. Geburtstag Bolzanos in Prag feierlich begingen. I. Durdik begann am 15. Oktober 1881 seinen Festvortrag mit den Worten: „Welch ein Ereignis! Tschechische Studenten und Professoren eilen, um einen deutschen Philosophen zu feiern." Er schloß mit den eindringenden Worten: „Bolzano war ein Deutscher, aber vor allem ein Mensch!" 1 9 Inzwischen ging das Gedankengut Bolzanos um die ganze Welt. Der Inder A. N. Sing, der Japaner I. Fujita und der Israelit Y. Bar Hilhel haben ihren Völkern Gedanken Bolzanos vermittelt. Aus Australien erhielt ich eine Anfrage wegen Literatur über Bolzano. Russen, Polen, Amerikanern, Franzosen, Engländern, Italienern, Spaniern ist 17
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Vgl. M. Jasek, Obrazy sociälniho zivota z dob naseho probuzeni, Prag 1920; ders., O funkcich s nekonecnym poctem oscilaci v rukopisech Bernarda Bolzana, in: Casopis pro pestoväni matematiky a fysiky, Bd. 53, Prag 1922, S. 102ff.; ders., O funkciBolzanove, ebenda, Bd. 51, Prag 1922, S. 69ff. 'Bernard Bolzano's Schriften. Herausgegeben von der Königlichen Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften, Bd. 4: Der Briefwechsel B. Bolzano's mit F. Exner. Herausgegeben mit Einleitung und Anmerkungen von E. Winter, Prag 1935. J. Durdik, O filosofii.
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Bolzano bekannt und wird er noch bekannt gemacht, wie die von J . Berg verfaßte gewissenhafte Bolzano-Bibliographie 1972 als Einleitung der Gesamtausgabe nachweist. Der Verleger Blackwell in Oxford teilte mir am 11. Oktober 1971 mit, daß er beabsichtige, Bolzanos „Wissenschaftslehre" in englischer Übersetzung herauszugeben. Doch die eigentliche Bolzano-Renaissance wird erst kommen, denn ein Schwerpunkt seines Denkens liegt in seiner Sozial- und Ethno-Ethik, die bisher zu wenig gesehen wurde. Sie ist fortschrittlich und internationalistisch. Gerade für das Zusammenleben der Völker ist sein oberstes Sittengesetz: „Wähle von allen Dir möglichen Handlungen immer diejenige, die, alle Folgen erwogen, das Wohl des Ganzen, gleichviel in welchen Teilen, am meisten befördert" von größter Bedeutung. Der Nationalismus, der soviel Unglück über die Menschheit gebracht hat und noch bringt, wird durch die Ethik Bolzanos zu überwinden versucht. Bolzano lebte nicht umsonst in einer Gemeinschaft von zwei Völkern, die unter dem Nationalismus in dem Vielvölkerstaat der Donaumonarchie sehr litten. Fesl überreichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien im Jahre 1849 Schriften Bblzanos zu Recht mit der Begründung, dieser sei „der Philosoph Österreichs". Die österreichische Akademie hat deswegen folgerichtig 1969 eine Bolzano-Subkomrriission geschaffen. Bolzano hat aber vor allem dyirch seine Schüler F. Prihonsky in Bautzen und J . Dittrich in Dresden sowie J . Sommer in Leipzig auch auf das Gebiet der heutigen Deutschen Demokratischen Republik nachhaltig gewirkt. Der 200. Geburtstag des größten Philosophen Böhmens und der Donaumonarchie ist somit namentlich für die drei Akademien in Prag, Wien und Berlin ein besonderer Anlaß, das Vermächtnis Bolzanos in Ehren zu halten sowie sein Erbe zu pflegen und zu verbreiten.
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Kulturbeziehungen zwischen der DDR und der UdSSR. Aufblühen, Wechselwirkung und Annäherung sozialistischer Nationalkulturen HORST
SCHÜTZLER
Verbindung und gegenseitige Beeinflussung der Kulturen sind so alt wie die Kultur und Zivilisation selbst. Dieser V o r g a n g verläuft stets widersprüchlich und ungleichmäßig, und zwar als parallele, horizontale Verbindung v o n Kulturen verschiedener V ö l k e r und als historische, vertikale Entwicklung der Kultur im ganzen. 1 Im Sozialismus gewinnt die Verbindung und gegenseitige Beeinflussung der Kulturen historisch neue Dimensionen und eine neue Qualität. E s bilden sich geistig-kulturelle Gemeinsamkeiten der sozialistischen Völkerfamilie heraus. E s entwickelt und festigt sich eine internationalistische Einheit der sozialistischen Kulturen bei fortbestehender nationaler Vielfalt. D i e nach 1945 entstandene und sich festigende kulturelle Zusammenarbeit zwischen der D D R und der U d S S R war und ist ein wichtiger Bestandteil dieses Gesamtprozesses. D i e Befreiung des deutschen Volkes durch die Sowjetunion und ihre Verbündeten im Mai 1945 brachte in den Beziehungen zwischen dem deutschen V o l k einerseits und den V ö l k e r n der Sowjetunion und der volksdemokratischen Länder andererseits eine grundlegende Wende. Unter Führung der sich einenden und dann geeinten Arbeiterklasse und ihrer revolutionären Partei, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, wurde in einem einheitlichen revolutionären Prozeß unter harten Klassenauseinandersetzungen auf dem Gebiet der D D R aus der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung heraus der Sozialismus zum Siege geführt und die Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in einem Staat v o m Typ der Diktatur des Proletariats, der Deutschen Demokratischen Republik, in A n g r i f f genommen. I m Zuge dieser Revolution bildeten sich auch umfassende Beziehungen neuer Art, des sozialistischen Internationalismus, zur Sowjetunion und anderen sozialistischen Staaten heraus und festigen sich. E i n gesetzmäßiger Prozeß des Aufblühens, der Wechselwirkung und der Annäherung der Völker und ihrer Kulturen auf neuer Grundlage und in neuen Dimensionen kam in Gang, dessen generellen Entwicklungstendenzen jedes beteiligte Land unterlag. E s handelt sich dabei um kein geradliniges Vorwärts1 Dieser Beitrag fußt auf der Untersuchung des Verfassers: Kultur und Wissenschaft im Freundschaftsbündnis. Kulturelle und wissenschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen der D D R und der UdSSR Mai 1 9 4 5 - O k t o b e r 1964, Diss. B., Berlin 1978. Vgl. zur theoretischen Problematik: A. I. Arnoldow, Kulturelle Prozesse im Sozialismus. Aspekte — Tendenzen — Perspektiven, Berlin 1975, S. 107ff.; N. M. undS. T. Kaltachtschjan, Nation und Nationalität im Sozialismus, Berlin 1976, S. 62 ff.; Zusammenarbeit und Annäherung in der sozialistischen Gemeinschaft, Berlin 1977, S. 270ff.; Sozialistische Kulturen — Wechselbeziehungen und gegenseitige Bereicherung, Berlin 1980; Sozialismus und Nationen,'Berlin 1976; Grundlagen der marxistisch-leninistischen Kulturtheorie, Berlin 1979, S. 242ff.; Ju. A. Lukin, Mnogogrannaja socialisticeskaja kul'tura, Moskau 1977, S. 107ff.
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Jahrbuch 25/2
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schreiten und Annähern. In diesem Prozeß traten Internationales und Nationales hervor, wirkten Tradition und Neuerertum, und in ihn wurden breiteste Bevölkerungskreise einbezogen. Der imperialistische Gegner suchte ihn unaufhörlich mit antisowjetischer und nationalistischer Diversion zu beeinflussen. Dieser Prozeß bedurfte der aufmerksamen prinzipiellen und zugleich behutsamen Führung durch die marxistisch-leninistischen Parteien, entsprechend der Leninschen Richtlinie, daß man das freiwillige Bündnis sozialistischer Nationen „nicht mit einem Schlage verwirklichen" könne, sondern daß man mit „größter Geduld und Behutsamkeit" daraufhinarbeiten müsse. 2 Im Rahmen dieses Prozesses traten auf zunächst sehr unterschiedlicher gesellschaftlicher Entwicklungsstufe und Struktur die Kulturen der UdSSR und der D D R in Austausch, Wechselwirkung und Annäherung ein. Der Beginn war außerordentlich kompliziert. Seitens der U d S S R handelte es sich um eine in voller Entfaltung befindliche, dem Inhalt nach sozialistische, dem Geist nach internationalistische und der Form nach multinationale Kultur. 3 Sie hatte im zurückliegenden Krieg gewaltige geistige und materielle Verluste erlitten, die erst überwunden werden mußten und ihrer internationalen Wirksamkeit Grenzen setzten. Sie hatte aber auch in diesem Krieg ihre überlegene geistige Kraft unter Beweis gestellt und ihre Ausstrahlung und Anziehungskraft, insbesondere durch ihre Ideologie, erhöht. Ihre Repräsentanten besaßen zudem das Vermögen, entsprechend den Prinzipien des proletarischen Internationalismus zu handeln: „Erstens, daß die Interessen des proletarischen Kampfes in jedem einzelnen Lande den Interessen des proletarischen Kampfes im Weltmaßstab untergeordnet werden ; zweitens, daß die Nation, die den Sieg über die Bourgeoisie erringt, fähig und bereit ist, die größten nationalen Opfer für den Sturz des internationalen Kapitals zu bringen."" Seitens der DDR handelte es sich um eine erst in der Kulturrevolution entstehende sozialistische deutsche Nationalkultur, die sich in dialektischer Widersprüchlichkeit aus vielen Bindungen zur bürgerlichen Kultur, darunter auch zu der in der B R D existenten, zu lösen hatte. Die schon unter dem Kapitalismus vorhandenen relativ starken demokratischen und sozialistischen Elemente einer sich entwickelnden neuen deutschen Kultur sowie das allgemeine Kulturniveau hatten in den zwölf Jahren Faschismus große Einbußen erlitten und verheerenden Schaden genommen, was noch lange nachwirkte. Die Unterschiedlichkeit im gesellschaftlichen Entwicklungsstand war in verschiedenartiger Ausprägung für alle Länder typisch, deren Kultur im Zuge der revolutionären inneren Umgestaltung mit der Sowjetkultur in intensive Verbindung trat, während in den kulturellen Beziehungen untereinander von etwa gleichartigen gesellschaftlichen Positionen ausgegangen werden konnte. Diese Unterschiedlichkeit wird auch für jedes im Umbruch zum Sozialismus befindliche Land der Ausgangspunkt für sein produktives Verhältnis zur Kultur früher entstandener sozialistischer Staaten sein, allerdings auf einem wesentlich höheren Niveau des Weltsozialismus insgesamt. Der unterschiedliche gesellschaftliche Entwicklungsstand hatte für den kulturellen Austausch und für eine kulturelle Annäherung zwischen der D D R und der U d S S R wesentliche Bedeutung und Folgen. 2 W. I. Lenin, Werke, Bd. 30, S. 283. Vgl. M. T.Jowtscbuk/J. A. Lukin, Die internationalistische Gemeinschaft und die weitere Annäherung der Kulturen der Völker der sozialistischen Gemeinschaft, in: Sozialismus und Nationen, S. 96. < W. I. Lenin, Werke, Bd. 31, S. 136f. 3
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Bei der antifaschistisch-demokratischen Erneuerung der Kultur in der sowjetischen Besatzungszone und der allmählichen Herausbildung einer sozialistischen deutschen Nationalkultur der DDR wurden die Erfahrungen der Kulturrevolution, der Ud'SSR, die Erkenntnisse des.Marxismus-Leninismus, die wissenschaftlichen Leistungen und die großen Errungenschaften aus dem künstlerischen Bereich der Sowjetkultur voll genutzt. Das war nicht etwa vorrangig Ausdruck subjektiver Wünsche einzelner, die Sowjetkultur hochschätzender deutscher Künstler und Politiker oder Mitarbeiter der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD),die nach den Darstellungen bürgerlicher Historiker der BRD eine „Sowjetisierungspolitik" 5 betrieben, obwohl es solche Wünsche begreiflicherweise gab. Es ergab sich vielmehr aus der Notwendigkeit, nur auf diese Weise eine tiefgehende demokratische und sozialistische Umwälzung in Ideologie und Kultur zum Siege führen und ein solches Freundschaftsverhältnis zum Sowjetvolk herbeiführen zu können, das die Gewähr bot, in der äußerst harten internationalen Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Imperialismus an der Scheidelinie der beiden Gesellschaftssysteme im Zentrum Europas bestehen zu können. Im Rahmen eines revolutionären Umbruchs, der alle Sphären des gesellschaftlichen Lebens in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR erfaßte und umgestaltete, erreichte die Sowjetkultur eine Verbreitung und Wirkung, wie sie bis dahin keine andere Kultur innerhalb weniger Jahrzehnte im deutschen Volk gefunden hatte. Der Marxismus-Leninismus, Basis und Wesensbestandteil der sozialistischen Sowjetkultur, wurde zur Grundlage des Wirkens der revolutionären Arbeiterpartei und fand breiten Eingang in die geistige Kultur. Die Kommunistische Partei Deutschlands und dann die SED nahmen den wertvollen Erfahrungsschatz der KPdSU, den diese in zwei bürgerlich-demokratischen Revolutionen und in der sozialistischen Revolution sowie im Verlaufe des sozialistischen Aufbaus gesammelt hatte, in sich auf. Die revolutionäre Partei der deutschen Arbeiterklasse suchte ihre Mitglieder und immer breitere Kreise der Bevölkerung zur Freundschaft mit dem Sowjetvolk zu führen, zur Anerkennung der großen Rolle der KPdSU und der Sowjetunion bei der Sicherung von Frieden und Fortschritt in der Welt. Sie schuf damit die Bedingungen für eine bis dahin in der deutschen Geschichte nicht bekannte Bewegung des Lernens von einem anderen Volk. Die Politik der KPD und der SED, wie sie dem Aufruf vom 11. Juni 1945 zugrunde lag und in den „Grundsätzen und Zielen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands" programmatischen Ausdruck fand, knüpfte direkt an das Leninsche Erbe an. Aus dem großen Erfahrungsschatz der KPdSU gewannen für die deutsche Arbeiterklasse und ihre revolutionäre Partei besonders jene Leninschen Arbeiten große Bedeutung, in denen die grundlegenden Probleme der demokratischen Revolution, das Wesen des Staates und der Diktatur des Proletariats sowie die Wesenszüge einer Partei neuen Typs behandelt wurden — „Was tun?", „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution", „Staat und Revolution" und andere. Der Ideengehalt der Leninschen Arbeiten wurde unter neuartigen klassenmäßigen, politischen, nationalen und internationalen Bedingungen für die Politik der revolutionären Partei konstruktiv herangezogen. Er erfaßte allmählich die Masse der Parteimitglieder und ging in einem längeren und komplizierten Prozeß geistiger Auseinandersetzung in das Handeln der Volkskräfte ein. Als Partei der Arbeiterklasse, die Kommunisten und Sozialdemokraten mit zunächst sehr unterschiedlichem politisch-ideologischem Niveau zusammenschloß 5
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Vgl. R. Badstübner, Restaurationsapologie und Fortschrittsverteufelung. Das entspannungsfeindliche bürgerliche Nachkriegsgeschichtsbild in der BRD, Berlin 1978, S. 60.
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und viele weitere Werktätige aufnahm, formierte und entwickelte sich die S E D zur marxistisch-leninistischen Kampfpartei, wobei die Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung organisch mit den Erfahrungen der internationalen Arbeiterbewegung, insbesondere der K P d S U , eng verbunden wurden. Der Verwirklichung des Leninschen Postulats „Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben" 6 wurde dabei besondere Bedeutung beigemessen. Seit 1945/46 erschienen zunehmend Werke von W. I. Lenin und andere marxistischleninistische Schriften, wobei der Dietz Verlag eine hervorragende Rolle spielte. Insgesamt wurde allein von 1945 bis 1948 marxistisch-leninistische Grundsatzliteratur in einer Auflagenhöhe von etwa 8,581 Millionen Exemplaren verlegt. 7 D a s war eine große politisch-ideologische und kulturelle Erziehungspotenz. Besonders seit Mitte des Jahres 1948, als sich die internationale Situation komplizierte, begann die S E D , sich in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß den Leninismus und die damit verbundenen allgemeingültigen Erfahrungen der K P d S U anzueignen und diese in der Praxis erfolgreich anzuwenden. U m den weiteren Weg zum Sozialismus beschreiten zu können, war es erforderlich, weiterhin die Unterstützung der K P d S U und der Sowjetunion zu erhalten, ihre Kraft in der erbitterten Auseinandersetzung mit dem Imperialismus in Anspruch nehmen und ihre reichen Erfahrungen gründlich nutzen zu können. So wurde die Klärung des Verhältnisses zur K P d S U und zur Sowjetunion, die Herausbildung einer festen freundschaftlichen Einstellung zum ersten sozialistischen Land zur politischideologischen Hauptfrage des weiteren Entwicklungsweges der Revolution. Auf der I. Parteikonferenz der S E D im Januar 1949 traf Otto Grotewohl die Feststellung: „Die entscheidende Voraussetzung einer erfolgreichen Demokratisierung und eines Erstarkens der inneren demokratischen Kräfte der sowjetischen Besatzungszone ist ein absolut positives Verhältnis zur Sowjetunion." 8 Diese Klärung bedeutete für die Partei die Festigung ihrer Reihen, die vertiefte Aneignung des Leninismus und eine erweiterte Ausstrahlungskraft. Für die Arbeiterklasse und andere Werktätige kam es darauf an, über die Auseinandersetzung mit einem von reaktionären Kräften verstärkt geschürten Antisowjetismus zubegreifen, daß sie in der Sowjetunion einen zuverlässigen und starken Verbündeten im K a m p f gegen N o t und Ausbeutung, für ein besseres Leben hatten. Eine gründliche Klärung dieses Verhältnisses mußte zu Konturen eines konkreten Sozialismusbildes führen, das bei Überwindung antisowjetischer Zerr- und Schreckbilder den Sozialismus für immer mehr Menschen als erstrebenswerte Ordnung erscheinen ließ. Die Partei erweiterte und intensivierte ihre Schulungsarbeit, wobei dem Studium der Geschichte der K P d S U entsprechend einem Beschluß des Zentralsekretariats des Parteivorstandes v o m 20. September 1948 besondere Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Die Sowjetkultur konnte unter diesen Bedingungen mit ihren Werken und Repräsentanten, ihrem Ideengehalt und ihren Gestaltungs- und Arbeitsprinzipien eine bis dahin nicht gekannte Aufnahme und Wirkung finden — ein Prozeß, der mit der Befreiung einsetzte und jetzt breite und tiefe gesellschaftliche Relevanz bekam. 9 Die 6 W. I. Lenin, W e r k e , B d . 5, S . 379. 7
V g l . M. Gröscbel, D e r B e i t r a g s o w j e t i s c h e r P h i l o s o p h e n zur A n e i g n u n g der marxistisch-leninistischen W e l t a n s c h a u u n g d u r c h d i e d e u t s c h e A r b e i t e r k l a s s e u n d zu ihrer V e r b r e i t u n g unter d e n V o l k s m a s s e n in der Zeit v o n 1945 bis 1949, Phil. D i s s . , Berlin 1965, A n h a n g , S . 11.
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P r o t o k o l l der I. P a r t e i k o n f e r e n z der Sozialistischen E i n h e i t s p a r t e i D e u t s c h l a n d s v o m 25. bis 28. J a n u a r 1949, Berlin 1949, S. 3 3 2 .
9 V g l . I. Heller/H.-Tb. Krause, Kulturelle Zusammenarbeit D D R - U d S S R , H. Schüttler, K u l t u r und W i s s e n s c h a f t im F r e u n d s c h a f t s b ü n d n i s , S . 13 f f . •
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Berlin
1967,
S. 1 9 f f . ;
Aneignung des Leninismus schloß die Aufnahme hervorragender sowjetischer Kulturwerte und der Ergebnisse des wissenschaftlichen Denkens im Bereich der Gesellschaftswissenschaften in sich ein, wobei als Mittlerin die Zeitschrift „Sowjetwissenschaft" eine bedeutsame Rolle zu spielen begann. Die rationale und emotionale Aufnahme und geistige Verarbeitung künstlerischer W e r k e und Werte aus Literatur, Musik, Volkskunstschaffen, Malerei, Grafik und Film der Sowjetunion durch viele Werktätige weckte und verbreitete das gesellschaftliche, aber zugleich individuell unterschiedliche Bedürfnis, gründlicher und umfassender in die neu entdeckte Welt, die Sowjetunion, den Sozialismus,. einzudringen, sich weiter mit ihr auseinanderzusetzen, sie zu verstehen und sich mehr und mehr mit ihr zu identifizieren. Sie bewirkte bei vielen eine freundschaftliche Einstellung zur Sowjetunion und ihren Menschen, ein positives Verhältnis zum Sozialismus und ein überzeugtes Mitwirken beim Aufbau neuer gesellschaftlicher Verhältnisse in der sowjetischen Besatzungszone und der D D R . Diese Vorgänge fanden ihren organisatorischen Rahmen in der Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion bzw. in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft. Durch viele Veranstaltungen, Filmvorführungen, Treffen mit Sowjetbürgern, Zirkelarbeit, die in ihrem eigenen Verlag „Kultur und Fortschritt" übersetzten und veröffentlichten Werke der schöngeistigen Literatur und die Organisierung der ersten Gastspiele hervorragender sowjetischer Solisten und Ensembles konnte die Gesellschaft große Teile der Bevölkerung erreichen und sie für den Gedanken der Freundschaft mit der Sowjetunion gewinnen. 1 0 Zählte die Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion bei ihrer Gründung am 30. Juni 1947 etwa 2200 Personen, so vereinte sie Anfang Juli 1949 bereits nahezu 100000 Mitglieder. Sie nahm den Charakter einer politischen Massenorganisation an und gab sich zu dieser Zeit auf ihrem II. Kongreß den verpflichtenden Namen „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft". Bis Anfang Dezember 1949 erhöhte die Gesellschaft ihre Mitgliederzahl auf etwa 655000, und im April 1950 überschritt sie die Millionengrenze. Diese Entwicklung machte deutlich, daß das Jahr 1949 „ein Jahr des Umschwungs" im Verhältnis zum Sowjetvolk darstellte, wie es im Aufruf des Parteivorstandes der SED zum Jahreswechsel 1949/50 hieß. 1 1 Dieser Umschwung war eine wesentliche Bedingung für den revolutionären Entwicklungsprozeß, der mit der Gründung des deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staates eine heue Qualität erlangte und mit Beginn der fünfziger Jahre zum planmäßigen A u f b a u des Sozialismus in der D D R , innerhalb der Gemeinschaft der sozialistischen Länder, führte. Die SED entwickelte unter der von Wilhelm Pieck geprägten Losung „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen" einen Lernprozeß, der die Massen ergriff und sie zur schöpferischen A n w e n d u n g sowjetischer Erfahrungen auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens mobilisierte. 1 2 Die KPdSU, die Sowjetregierung und die sowjetischen gesellschaftlichen Organisationen, insbesondere die Gewerkschaften, der
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Vgl. J. Petersdorf, Tätigkeit und Wirkung der Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion, in: Jahrbuch für Geschichte der sozialistischen Länder Europas, Bd. 18/1, Berlin 1974, S. 139ff.; dies.. Die Rolle der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft bei der Entwicklung und Festigung der Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen DDR und UdSSR (1947—1955), Phil. Diss., Berlin 1973, S . 4 7 f f . Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Bd. II, Berlin 1951, S. 412; G.Dittricb, Über den Umschwung im Verhältnis der Bevölkerung der DDR zur Sowjetunion im Jahre 1949, in: Kampfgemeinschaft S E D - K P d S U . Grundlagen, Tradition, Wirkungen, Berlin 1978, S. 345 ff. Vgl. F. Eiert, Reden und Aufsätze zur deutsch-sowjetischen Freundschaft, Berlin 1959. S. 41 ff.
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Komsomol und die Allunionsgesellschaft für kulturelle Verbindungen mit dem Ausland (VOKS), unterstützten diesen großen Prozeß in vielfältiger Weise. Bei der Verwirklichung der sozialistischen Kulturrevolution, die ein unentbehrlicher Bestandteil des gesellschaftlichen Umgestaltungsprozesses in der D D R war, wurden jene Wesenszüge betont, die sich in der Sowjetunion als generell und allgemeingültig erwiesen hatten — die Heranführung der Werktätigen an das kulturelle Leben und ihre aktive Teilnahme an dessen Gestaltung, die Aneignung des kulturellen Erbes der eigenen Nation und anderer Völker, die Formierung einer neuen Intelligenz, die sozialistische Entwicklung von Kunst und Wissenschaft, die Herausbildung sozialistischer Lebensformen, die Durchsetzung des Marxismus-Leninismus als vorherrschende Weltanschauung. 1 3 Der reiche Schatz sowjetischer praktischer kultureller Erfahrungen wurde intensiv studiert und in der Kulturpolitik zur Anwendung gebracht. 1,1 In der allgemeinbildenden Schule spielten bei der Bewältigung ihrer neuen Aufgabe, einen wissenschaftlichen Unterricht auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus zu erteilen und allseitig entwickelte Persönlichkeiten heranzubilden, die dem Sozialismus ergeben sind, sowjetische pädagogische Erfahrungen, die umfassend ausgewertet wurden, und die direkte sowjetische Unterstützung eine wesentliche Rolle. Die sowjetische Pädagogik wurde zur „entscheidenden Quelle der pädagogischen Wissenschaft in der DDR".15 Beim Aufbau des Sozialismus wurden auch neue Aufgaben an das Hochschulwesen und an die Wissenschaften gestellt. Bei ihrer Verwirklichung in der Ausbildung politisch und fachlich qualifizierter Kader, im Zuschnitt der wissenschaftlichen Forschung auf wesentliche gesellschaftliche Erfordernisse, bei der Durchsetzung des MarxismusLeninismus und des obligatorischen Russisch-Sprachunterrichts sowie der führenden Rolle der marxistisch-leninistischen Partei sowohl in Erziehung und Ausbildung als auch in der Forschung spielten die Sowjetwissenschaft und ihre Erfahrungen sowie die großzügige Unterstützung der Regierung der UdSSR eine bedeutende Rolle. So weilte auf deren Einladung im Sommer 1951 erstmals ein£ Hochschuldelegation der D D R in der Sowjetunion, um Erfahrungen des sowjetischen Hochschulwesens zu studieren. Diese sowie die Ergebnisse von Studienreisen weiterer Delegationen fanden ihre nützliche Verwertung in den Planungen und Maßnahmen zur grundlegenden sozialistischen Umgestaltung des Hochschulwesens. 1956 hatten bereits etwa eintausend Studenten und Aspiranten als zukünftige Kader einer sozialistischen wissenschaftlichen Intelligenz der DDR eine hochqualifizierte Ausbildung und internationalistische Erziehung im Freundesland erhalten oder weilten noch dort. In der DDR wirkten von 1951/52 bis 1955/56 an einer solchen Ausbildung 40 Wissenschaftler aus der U d S S R als Gastlehrkräfte mit. 1 6 Aus den Bedürfnissen des sozialistischen A u f b a u s in der D D R , seiner wachsenden Verflechtung mit der Entwicklung in der U d S S R und anderen sozialistischen Ländern sowie aus den Erfordernissen bei der Herausbildung einer sozialistischen National13
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Vgl. M. P. Kim, O suscnosti kul'turnoj revoljucii i etapach ee osuscestvlenija v SSSR, in: Kul'turnaja revoljucija v SSSR 1917—1965 gg., Moskau 1967, S. 1 5 f f . j Grundlagen der marxistisch-leninistischen Kulturtheorie, Berlin 1979, S. 70ff. Vgl. R. Richter, Kultur im Bündnis. Die Bedeutung der Sowjetunion für die Kulturpolitik der DDR, Berlin 1979. K.-H. GüntberjG. Ublig, Geschichte der Schule in der Deutschen Demokratischen Republik 1945—1971, Berlin 1974, S. 126. Vgl. H. Schüttler, Kultur und Wissenschaft im Freundschaftsbündnis, S. 189f.
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kultur erwuchs eine beständige, wenn auch nicht immer gleichermaßen intensive Wirkung der Literatur und Kunst der Völker der Sowjetunion, die Millionen Menschen erreichte und an ihrer geistigen Veränderung Anteil hatte. V o n 1945 bis 1975 wurden etwa 2 9 0 0 Werke der schöngeistigen Literatur in Übersetzungen herausgebracht. Im Theaterleben erhielten Stücke sowjetischer Autoren und Stücke aus dem Kulturerbe der Völker der Sowjetunion ihren festen Platz. D e r sowjetische Film erfaßte ein Millionenpublikum und hatte Ende der fünfziger und zu Beginn der sechziger Jahre seine größte Massenwirksamkeit. 1 7 Im neuen Massenmedium Fernsehen nahm die Darstellung der Sowjetkultur breiten Raum ein. 18 Repräsentative Ausstellungen von Werken der bildenden Kunst, wie die Ausstellung „Sowjetische und vorrevolutionäre russische K u n s t " 1953, zogen Tausende von Betrachtern an. Die Musik der Völker der U d S S R ging in das Repertoire von Orchestern und Solisten ein, und hervorragende sowjetische Ensembles und Solisten begeisterten immer wieder Zehntausende von Zuschauern und Hörern. D i e Aufnahme von Werken der sowjetischen Literatur und Kunst war kein spontaner, sondern ein von der Partei der Arbeiterklasse initiierter und gelenkter Prozeß, der über die individuelle Erlebniswelt des einzelnen bewußtseins- und persönlichkeitsbildend in Erscheinung trat und gesellschaftliche Gesamtwirkungen großen Ausmaßes zeitigte. D i e besten Werke der Sowjetkultur beeinflußten Millionen Werktätige im Erlebnis des sozialistischen Aufbaus und in der aktiven Teilnahme an seiner Gestaltung. Der Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung erforderte und ermöglichte die Herausbildung neuer menschlicher Verhaltensweisen — eines gesellschaftlichen Verantwortungsbewußtseins, einer bewußten Disziplin, einer neuen Einstellung zum Volkseigentum, eines neuen Arbeitsethos. In den Werken der sowjetischen Literatur und Kunst fanden viele Bürger' der D D R in individuell sehr verschiedenen rationalen und emotionalen Bezügen T h e men, Gestalten, Konflikte und Lösungen, die ihre eigenen Haltungen beeinflußten. D e r Aufbau des Sozialismus in der D D R richtete den Blick seiner bewußten Gestalter und derer, die sich in dessen Aufbau einreihen wollten, auf die Sowjetunion, um zu prüfen und abzuschätzen, was der Sozialismus vermag und für das eigene Leben bedeuten kann und wird. D i e Werke der sowjetischen Literatur und Kunst, die in ihrer gesellschaftlichen Aussagekraft, ihrer künstlerischen Qualität und ihrem nationalen Kolorit sehr unterschiedlich waren, gaben dafür den Blick frei und halfen, weiterführende Antworten zu finden. Während die Kommunisten Rußlands, als sie ihren unerforschten W e g zum Sozialismus einschlugen, Kraft und E m o t i o n aus einer Literatur und Kunst bezogen, die vor allem die Ungerechtigkeiten der Ausbeuterordnung bloßlegte und die Notwendigkeit einer besseren Welt verkündete, stand den deutschen Kommunisten und den K o m munisten anderer Länder, die den Sozialismus aufbauten, zusätzlich eine Literatur und Kutlst zur Seite, die eine gesellschaftliche Entwicklungsstufe als anziehende Realität künstlerisch gestaltete, zu der man erst noch gelangen wollte. Dies war Hilfe von hohem Wert. Sie wurde zudem in einer Situation wirksam, als der gesellschaftliche Bedarf nach solcher Literatur und Kunst wesentlich wuchs, dieser aber von den Schriftstellern und Künstlern des eigenen Landes nur teilweise befriedigt werden konnte, da die künstleri" Vgl. ebenda, Anhang, Tabelle N r . 1 und S. 3441. 18
Vgl. M. Nakati, Zu ausgewählten Fragen der Zusammenarbeit zwischen dem Fernsehen der D D R und dem Zentralen Sowjetischen Fernsehen in den Jahren 1964 bis 1970, Phil. Diss., Berlin 1979, S. 42 ff.
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sehe Gestaltung des sozialistischen Aufbaus viele Schaffensprobleme aufwarf, deren Lösung Erfahrung und Zeit brauchte. Viele Schriftsteller und Künstler fanden, beeinflußt durch Werke und Repräsentanten der Sowjetkultur, die immer häufiger die DDR besuchten, sowie durch deren Arbeitsprinzipien und sowjetische Literatur- und Kunstdiskussionen, zu neuen Horizonten ihres Schaffens. Der Schriftsteller Max Walter Schulz charakterisierte dies in gelungener Weise: „So wie es einst geheißen hat, alle Großen der russischen Literatur seien gewissermaßen aus Gogols ,Mantel' hervorgegangen, könnte man von den Schriftstellern der DDR sagen: ,Von uns ist keiner zu denken ohne Gorki, Scholochow und Ostrowski.' " 19 In den Bemühungen um die Aneignung und Durchsetzung des sozialistischen Realismus als der dem Sozialismus adäquaten künstlerischen Schaffensmethode, die nicht frei waren von Vereinfachungen und Verengungen, waren das Vorbild und die Erfahrungen des sowjetischen Kulturlebens immer im Blickfeld. Es ging um Parteilichkeit, Volksverbundenheit, politisch-erzieherische Potenz und gesellschaftliche Aktualität — Grundzüge, die sich in Literatur und Kunst der DDR als die bestimmenden ausprägten. 20 Die breite und tiefe Wirkung der Sowjetkultur in der DDR nach 1945 hatte mehrere Ursachen, denen Allgemeines und Besonderes zugrunde lag. Die Niederlage des faschistischen Deutschland hatte die tiefe Krise der bürgerlichen Ideologie und Kultur verdeutlicht. Weiteste Bevölkerungskreise wurden für andere Auffassungen, Haltungen, Werte und Ideale empfänglich. Dies betraf insbesondere auch die Jugend. 2 1 Die Arbeiterklasse vollzog nach der Befreiung vom Faschismus mit ihren Verbündeten unter Führung der SED eine große revolutionäre politische, ökonomische, soziale und kulturelle Umwälzung. Um dabei erfolgreich sein zu können, wandte sie sich in einem inneren Reifeprozeß vor allem jenem Volk und seiner Kultur zu, das für diese Revolution die größte Unterstützung, Vorbilder, neue Ideen, Verhaltensweisen, moralische Grundsätze und Zielvorstellungen geben konnte. Im Maße ihrer eigenen Entfaltung wurde die Kultur der DDR der Sowjetkultur in ihrem sozialen Gehalt auf unterschiedlicher sozialistischer Entwicklungsstufe wesensgleich. Dadurch ergaben sich, bei zeitweise partiellen Abschwächungen in einzelnen Sphären, anhaltend breite und immer wieder neue Wirkungsmöglichkeiten. Für die schnelle und breite Aufnahme kultureller Errungenschaften aus der UdSSR war auch die Nachkriegssituation relevant. Einerseits waren die Leistungen der Sowjetkultur weitgehend unbekannt, da die Faschisten dem „Bolschewismus" keine Kultur zugebilligt hatten, ihre Werke verboten sowie deutsche Kenner und Interpreten verfolgt hatten. Andererseits weckten der Sieg der UdSSR, die unübersehbare, neue internationale Stellung des ersten sozialistischen Staates und die Anwesenheit seiner Streitkräfte sowie deren Unterstützung und Hilfe für die deutsche Bevölkerung das Interesse an der Kultur der Sowjetunion. Auch an die reichhaltigen kulturellen und wissenschaftlichen Beziehungen, die vor dem Machtantritt des Faschismus zwischen dem deutschen Volk und dem Sowjetvolk bestanden hatten, und an ihre begrenzte Weiterführung durch deutsche antifaschistische Emigranten wurde angeknüpft. 22 Neues Deutschland, 28. 5. 1964; Begegnung und Bündnis. Sowjetische und deutsche Literatur. Historische und theoretische Aspekte ihrer Beziehungen, Berlin 1972, S. 577ff. 2 0 Vgl. Sozialistische Kulturrevolution, Berlin 1977, S. 1 3 8 f f . ; Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 11, Literatur der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1976, S. 1 8 9 f f . 21 Vgl. E. Honecker, Aus meinem Leben, Berlin 1980, S. 1 2 1 f f „ 347f. 22 Vgl. Exil in der UdSSR, Leipzig 1979. 19
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Stimulierend für die An- und Aufnahme von Leistungen der Sowjetkultur wirkte auch die Tatsache, daß deutsche Schriftsteller und Künstler von internationalem Rang und Ansehen, wie Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Erich Weinert, Friedrich Wolf, Arnold Zweig und andere, beispielhaft vorangingen, sich zur engen Freundschaft mit der Sowjetunion bekannten und alles taten, um die Errungenschaften der Sowjetkultur bekanntzumachen. 2 3 Hinzu kamen in den Jahren bis zur Gründung der DDR das unermüdliche W i r k e n und die Hilfe der Kulturoffiziere der SMAD. 2 4 Natürlich darf nicht übersehen werden, daß die Verbreitung ünd Aufnahme von Werken und Werten der Sowjetkultur durch den Sachverhalt erschwert und kompliziert wurde, daß dabei Kulturen und Angehörige von Völkern in Verbindung traten, die sich jüngst im Krieg feindlich gegenübergestanden hatten. Für die D D R war dieser Umstand eine wichtige Besonderheit im Annäherungsprozeß der sozialistischen Länder und ihrer Kulturen. Die Wiedererlangung von Ansehen und Vertrauen bei den vom Faschismus leidgeprüften Völkern und die Gewinnung ihrer Freundschaft waren deshalb wichtige politische Komponenten in der Kulturpolitik der antifaschistisch-demokratischen Kräfte in der sowjetischen Besatzungszone und der Regierung der DDR gegenüber der Sowjetunion und den volksdemokratischen Staaten. Dabei war klar, wie Otto Grotewohl feststellte, „daß es uns Deutschen nach den geschichtlichen Ereignissen nicht zukommt, anderen Völkern mit biedermännischer Miene die Hand für eine friedliche Zusammenarbeit darzubieten." 2 5 Die Hand reichten den deutschen antifaschistischdemokratischen Kräften Verständnis- und hilfsbereit Repräsentanten der Sowjetunion und der Volksdemokratien. Neben sowjetischen Künstlern, die erstmals im Herbst 1946 kamen, gaben polnische Dirigenten und Solisten 1947 Konzerte in Berlin, und im März 1949 gastierte die Prager Philharmonie erstmals nach dem Krieg in Dresden und Leipzig. 2 6 Für die deutschen demokratischen Kräfte kam es im Bereich der Kulturpolitik vor allem darauf an, den gesellschaftlichen Umgestaltungsprozeß zu unterstützen und zur Erziehung von Menschen beizutragen, die sich gegenüber anderen Völkern und deren kulturellen Leistungen voller Achtung verhielten. Kultur, Kulturbeziehungen, Völkerverständigung und Freundschaft wurden aus diesen Zusammenhängen heraus akzentuiert als unlösbare Einheit begriffen und gestaltet. Dies ergab sich auch aus der Zuspitzung der internationalen Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Imperialismus und dem politisch-ideologischen Kampf in der D D R . Gegen den von der B R D und Westberlin mit allen Mitteln geschürten Antikommunismus und Antisowjetismus war der Einsatz aller Mittel der Kultur erforderlich und wurden die Errungenschaften der Sowjetkultur in breitem Maße ins Feld geführt, wobei die Gesellschaft für DeutschSowjetische Freundschaft eine hervorragende Rolle spielte. Tausende, Hunderttausende und Millionen Bürger der D D R wurden dabei nach und nach auf sehr verschiedene Weise mit unterschiedlicher Intensität und Festigkeit vom Antisowjetismus und Nationalismus befreit und zu neuen, sozialistischen Anschauungen und internationalistischen Verhaltensweisen geführt. Darin wird mit Recht ein Hauptergebnis der sozialistischen Kulturrevolution in der D D R gesehen, das weiter auszubauen und zu festigen ist. Auch im Sowjetvolk entstanden nach der Enttäuschung, dem Schmerz und dem Haß 23 Vgl. R. Kicbter, Kultur im Bündnis, S. 70ff. 24 Vgl. A. Dymscbitsi, Wissenschaftler — Soldat — Internationalist, Berlin 1977. 2 5 0 . Grotewobl, Im Kampf um die einige deutsche demokratische Republik, Bd. 1, Berlin 1954, S. 95. 26 Vgl. H. Schüttler, Kultur und Wissenschaft im Freundschaftsbündnis, S. 142f.
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der Kriegsjahre neues Vertrauen und eine freundschaftliche Einstellung zum Volk der DDR. Daran hatten die wachsende Rezeption der Kultur der DDR und die kulturelle Zusammenarbeit wesentlichen Anteil. Nach dem Krieg wurde die Rezeption der humanistischen deutschen Kultur zunächst wieder mit den vorhandenen Werken, vor allem der Literatur und Musik, weitergeführt. Doch wurde dem kulturellen Leben der DDR bald wachsendes Interesse entgegengebracht. Neue Werke und Leistungen aus der Kultur des jungen deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staates wurden aufgenommen und in das sowjetische Kulturleben integriert. So wurden von 1957 bis 1975 mehr als 570 belletristische Werke von Autoren der DDR in einer Auflage von über 34,5 Millionen Exemplaren in viele Sprachen der Völker der UdSSR übersetzt. 27 Mit der zunehmenden kulturellen Kraft des sozialistischen deutschen Staates wandelte sich die Rezeption. Aus einer Aufnahme der humanistischen deutschen Kultur, mit der ihre „wertvollsten Errungenschaften des bürgerlichen Zeitalters" 28 angeeignet wurden, entstand die Rezeption der sozialistischen Nationalkultur der DDR, die deren reiches Erbe einschloß. Die Kultur der DDR fand mit ihren Werken und Repräsentanten überall in der UdSSR Verbreitung und Wirkungsmöglichkeiten. Sie erreichte jedoch eine größere Ballung und Intensität in der RSFSR mit Moskau und Leningrad, in der Ukraine, den drei baltischen Sowjetrepubliken, in Belorußland und Georgien. Kulturelle Traditionen,. Sprachbeherrschüng, vorhandene Interpreten und Übersetzer waren vor allem maßgebend für diese Unterschiede. Die Kultur der DDR wirkte gleichberechtigt im Ensemble der sozialistischen Nationalkulturen anderer Bruderländer, die ebenfalls in der Sowjetunion breite Wirkungsmöglichkeiten fanden. Diese Ensemble- und Gesamtwirkung, die noch der Untersuchung durch Historiker bedarf, ist es, die die multinationale Sowjetkultur beeinflußt und ihren internationalistischen Gehalt merklich stärkt. Beim Austausch, bei der Zusammenarbeit und der Annäherung mit den Kulturen anderer Länder trat die Sowjetkultur im ersten Nachkriegsjahrzehnt, bedingt vor allem durch den unterschiedlichen gesellschaftlichen Entwicklungsstand der Partner, als vorwiegend gebend in Erscheinung. Die Übermittlung von Erfahrungen der sozialistischen Kulturrevolution und des sozialistischen Aufbaus insgesamt, die Ausbildung von Nachwuchskräften in der UdSSR, die vielen Gastspiele sowjetischer Künstler und Ensembles, die Tätigkeit sowjetischer Gastlehrkräfte und zahlreiche Studienreisen von Kulturschaffenden der DDR in die UdSSR zeigen dieses gebende, vom Geist des Internationalismus geprägte Verhalten. Danach entwickelten sich immer stärker ein wechselseitiges Geben und Nehmen sowie ein produktives Miteinander, das beide Kulturen bereicherte, einander annäherte und fest miteinander verband. Das reiche nationale Kulturerbe, über das beide Länder verfügten und das gegenseitig zugänglich gemacht wurde, förderte diese Verbindung und bildete eine wichtige Quelle für das Verstehen des anderen Volkes. Die kulturelle Zusammenarbeit und Annäherung gründete sich auf bestimmte Strukturen des gesellschaftlichen Lebens, wie die führende Rolle der marxistischVgl. H. Schüttler, Literarische Beziehungen zwischen der UdSSR und der DDR im Dienste der deutschsowjetischen Freundschaft, in: Jahrbuch für Geschichte der UdSSR und der volksdemokratischen Länder Europas, Bd. 11, Berlin 1967, S. 5 1 f f . , und ders., Kultur und Wissenschaft im Freundschaftsbündnis, Anhang, Tabellen Nr. 4 und 7. Auch vor 1957 erschienen schon solche Übersetzungen, konnten jedoch nicht genau erfaßt werden. 28 W. I. Lenin, Werke, Bd. 31, S. 308.
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Jeninistischen Partei, entsprechende staatliche Institutionen und gesellschaftliche Organisationen, und entwickelte sich im Rahmen bestimmter Organisationsformen, von denen langfristige Kulturabkommen, spezielle staatliche Verträge, Jahresarbeitspläne der kulturellen und wissenschaftlichen Zusammenarbeit, Verträge, Vereinbarungen und Arbeitspläne zwischen einzelnen Institutionen und Organisationen genannt seien. Bis zur Mitte der sechziger Jahre hatten sich stabile und bewährte Struktur- und Organisationsformen herausgebildet, die vor allem der bilateralen Zusammenarbeit und Annäherung dienten. Multilaterale Organisationsformen (Konferenzen der Kulturminister, der Hochschulminister, der Akademiepräsidenten und andere Formen) folgten später. Die kulturelle Zusammenarbeit und Annäherung zwischen der D D R und der U d S S R , die zu echter Partnerschaft und Wechselwirkung geführt hat 29 , verläuft komplex im größeren Rahmen des Aufblühens, der Wechselwirkung und der Annäherung sozialistischer Nationalkulturen. Sie ist ein Glied in der Kette der bilateralen Beziehungen beider Partner, der Beziehungen zu anderen sozialistischen Ländern und der sich entwickelnden multilateralen Zusammenarbeit. Dabei bilden die Verbindungen zur Sowjetunion den Schwerpunkt in den internationalen Kulturbeziehungen der Länder der sozialistischen Gemeinschaft. Ein instruktives Beispiel bietet dafür die schöngeistige Literatur. Nachdem schon in den ersten Nachkriegs jähren in den sozialistischen Ländern einige tausend Übersetzungen sowjetischer belletristischer Werke herausgegeben wurden, läßt sich für die rund zwanzig Jahre von 1954 bis 1975 feststellen, daß in allen Ländern der Erde über zwanzigtausend Übersetzungen von Werken sowjetischer Schriftsteller erschienen. Rund 75 Prozent, d. h. mehr als fünfzehntausend, wurden davon in 13 sozialistischen Ländern herausgegeben, wobei die D D R nach der CSSR den zweitgrößten Anteil mit etwa 13,6 Prozent hatte. 30 In der DDR steht die Aufnahme der multinationalen Sowjetkultur im engen Verhältnis mit den Wirkungen der Kultur anderer sozialistischer Länder; dabei dominiert die Rezeption der Sowjetkultur. So erschienen von 1945 bis 1964 unter anderem 83 Publikationen aus Bulgarien, 279 aus Polen, 234 aus Ungarn, 83 (1951—1964) aus Rumänien und 460 aus der tschechischen Literatur (jeweils übersetzte Belletristik und Sachliteratur). Die kulturelle Zusammenarbeit und Annäherung ist ferner ein Bestandteil der Gesamtb.eziehungen zwischen der D D R und der U d S S R und entsprach einer immer engeren Zusammenarbeit. Sie war ein Teil der sich herausbildenden multilateralen Gesamtbeziehungen sozialistischer Staaten? die dem Erstarken des Weltsozialismus und dem Frieden dienen.
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V g l . bis zur Mitte der sechziger Jahre insgesamt H. Schüttler, Kultur und Wissenschaft im Freundschaftsbündnis, f ü r die nachfolgende Zeit I. Heller, Die Entwicklung der kulturellen Zusammenarbeit zwischen der D D R und der U d S S R 1956 bis 1973, in: Z f G , 1975, H. 4, S. 3 7 9 f f . ; dies./H.-Tb. Krause, Kulturelle Zusammenarbeit D D R - U d S S R in den 70er Jahren, Berlin 1979, S. 3 2 f f . V g l . H. Schüttler, Kultur und Wissenschaft im Freundschaftsbündnis, Anhang, Tabelle Nr. 8.
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Zu A.Y. Lunacarskijs publizistischem und persönlichem Wirken als Volkskommissar für Bildung und Aufklärung ULRIKE
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I n seinem Schweizer E x i l verfolgte A . V . Lunacarskij aufmerksam das revolutionäre. G ä r e n in Rußland. N o c h während des Weltkrieges, 1915/16, begann er, sich systematisch mit Problemen der V o l k s b i l d u n g und der Pädagogik zu befassen. Später erinnerte er s i c h : „ I c h war überzeugt, daß die R e v o l u t i o n mich vor die Frage einer breiten Arbeit auf dem G e b i e t der K u l t u r stellen w ü r d e . " 1 Als Lenin in den T a g e n der O k t o b e r r e v o l u t i o n die Liste der ersten Sowjetregierung zusammenstellte, war es für ihn kaum eine Frage, wem allein die V e r a n t w o r t u n g für den Aufbau der V o l k s b i l d u n g zu übertragen sei. Lunacarskij sah sich selbst etwa im Vergleich zu Lenin immer mehr als Philosoph denn als Politiker, dennoch war er zeit seines L e b e n s auch Politiker — weil glühender Revolutionär. 1875 als Sohn eines Notars in Poltava geboren, wurde er in dem aufgeklärten Elternhaus frühzeitig mit revolutionärdemokratischen Anschauungen vertraut. D e r wißbegierige Gymnasiast in K i e v las die Schriften v o n E n g e l s , Kautsky und Marx, organisierte sozialdemokratische
Zirkel
zunächst zum Selbststudium und gab dann sein marxistisches Wissen als Propagandist an K i e v e r Arbeiter weiter. Später studierte er in Zürich Philosophie, politische Ö k o n o mie, Soziologie, Psychologie, A n a t o m i e und Physiologie. D i e persönlichen Erlebnisse und A n r e g u n g e n , die er hier aufnahm, waren vielseitig: Nachhaltig beeindruckte ihn die empiriokritizistische Philosophie v o n Avenarius, er lernte Aksel'rod kennen, erlebte und verehrte die revolutionäre Leidenschaft und den scharfen Geist seiner K o m m i l i t o n i n R o s a L u x e m b u r g . In ersten B e g e g n u n g e n lenkte ihn Plechanov auf die klassische deutsche Philosophie und bestärkte ihn in seinen Interessen für ästhetische und kunstwissenschaftliche Fragen. Nach Aufenthalten in Frankreich und Italien waren die J a h r e u m 1900 erfüllt v o n revolutionärer Arbeit in Rußland, immer wieder bestraft mit Gefängnis und V e r b a n n u n g . Lunacarskij nutzte die erzwungenen Pausen für intensive Beschäftigung mit russischer und mit ausländischer K u n s t und Literatur; zu der Zeit begann seine publizistische, kunst- und literaturkritische T ä t i g k e i t , es entstanden seine ersten eigenen belletristischen V e r s u c h e , aber auch Übersetzungen fremdsprachiger Literatur. 1904 drängte Lenin ihn zur Mitarbeit am Zentralorgan der Bolschewiki in G e n f . I m R u ß l a n d v o n 1905 begründete Lunacarskij seinen R u f als brillanter und glühender Redner, der die Massen „elektrisierte" und die Genossen in H o c h s t i m m u n g versetzte, wie Nadezda K r u p s k a j a berichtete. 2
1 V. I. Lenin)A. V. Lunacarskij, 2 Ebenda, S. 609.
Perepiska. Dcklady. Dokument^, Moskau 1971, S. 741 f.
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In den Jahren nach 1907 gehörte Lunacarskij zu jenen Intellektuellen, die von Enttäuschung und Niedergeschlagenheit über die verlorene Revolution erfaßt wurden. Neben Bogdanovwar er einer der bedeutendsten Vertreter des „Gottbildnertums". Der utopische Aktivismus in Lunacarskijs religiös gefärbten, den Marxismus „ergänzenden" kulturphilosophischen Anschauungen korrespondierte mit seiner Ablehnung der bolschewistischen Taktik in der Frage der Ausnutzung aller legalen Kampfmittel, der Arbeit der Bolschewiki in der reaktionären Duma. Lunacarskij schloß sich der Gruppe der Otsovisten an, er gehörte zu den Organisatoren und Lehrern an den- Parteischulen in Capri und Bologna. Doch mitten in den anhaltenden Auseinandersetzungen zwischen Marxisten und „Gottbildnern", zwischen Bolschewiki und Otsovisten, gestand Lenin in einem Brief an Gor'kij, daß er eine Schwäche hege für Lunacarskij, für diesen „vortrefflichen Revolutionär", diese „selten reich begabte Natur", und äußerte die Gewißheit, daß Lunacarskij zur Partei zurückfinden werde. 3 Lenin täuschte sich nicht; freilich hatte er sehr geschickt Lunacarskij zur Mitarbeit herangezogen und ihm politische Aufträge erteilt trotz aller philosophischer Divergenzen. In den Tagen der Februarrevolution erklärte sich Lunacarskij bedingungslos für die Bolschewiki, kehrte nach Rußland zurück und nahm an hervorragendem Platz an der Vorbereitung und Durchführung der Oktoberrevolution teil. So gelang es ihm als bolschewistischem Deputierten des Petrograder Sowjets im Sommer 1917 in begeisternder Rede die 4000 für die Fortsetzung des Krieges gestimmten Arbeiter einer Petrograder Fabrik binnen einer halben Stunde für die Bolschewiki zu gewinnen.' 1 Volkskommissar für Bildung und Aufklärung — die Bezeichnung erfaßt nicht annähernd die f ü l l e der Aufgaben und die Größe der Verantwortung, die mit dieser Funktion seit den ersten Tagen der Sowjetmacht bis 1929 auf Lunacarskij lasteten, die er sich aufgrund seiner universellen Bildung und seines weiten Gesichtskreises selbst stellte. Große revolutionäre Ereignisse und historische Umwälzungen waren immer aufs engste mit herausragenden Persönlichkeiten verbunden. Dem kam in dem kulturell rückständigen Rußland um so größere Bedeutung zu, da dieses sich als erstes Land der "Erde anschickte, eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Allein das gigantische Unterfangen, in diesem Land mit der ungeheuren Zahl von Analphabeten ein sozialistisches Bildungssystem zu schaffen, bestätigte und beflügelte einerseits die Hoffnungen und den revolutionären Kampf der internationalen Arbeiterbewegung und nötigte andererseits die Herrschenden wie auch Vertreter anderer • sozialer Schichten außerhalb des Lands zu Respekt vor den politischen und sozialen Umwandlungen, die eine Arbeiter-und-Bauern-Macht in Gang setzte. Es war keineswegs nebensächlich f ü r die Ausstrahlung der jungen Sowjetrepublik auf das Ausland, auf Künstler und Intellektuelle, daß gerade ein philosophisch, literatur- und kunstwissenschaftlich so belesener und gebildeter Mensch wie Lunacarskij, der selbst literarisch tätig war, von der Sowjetregierung mit der Verantwortung für die Kulturpolitik betraut worden war. Als exponierter Vertreter des ersten Arbeiter-und-Bauern-Staates der Welt gelang es. Lunacarskij in überzeugender Weise, das verleumderische Geschrei der bürgerlichen und imperialistischen Reaktion von der „bolschewistischen Kulturbarbarei" zu widerlegen. Uns soll hier interessieren, wie Lunacarskij als Politiker, Kulturpolitiker und Wissenschaftler sein Land in Deutschland vertrat, wie er in deutschsprachigen Veröffentlichungen ein Bild von Sowjetrußland vermittelte, um Verständnis und Sympathie 3 4
M. Gor'kij, Sobranie socinenij v tridcatych tomach, Moskau 1949—1956, Bd. 17, S. 21. V. I. Lenin jA. V. Lunacarskij, Perepiska, S. 645.
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für die kulturrevolutionären Prozesse bei deutschen Politikern und Wissenschaftlern warb und den deutschen revolutionären Arbeitern die Erfahrungen der Bolschewiki beim Aufbau des Sozialismus weitergab. Dabei kann nicht die ganze Breite der Ausstrahlung und Wirksamkeit Lunacarskijs erfaßt werden. Durch die sowjetfeindliche Politik der Ententemächte und der Vereinigten Staaten gewann das durch den Versailler Vertrag gleichfalls in die Isolierung gezwungene imperialistische Deutschland eine besondere Bedeutung für die junge Sowjetmacht. Es gejang der sowjetischen Außenpolitik mit dem Rapallo-Vertrag 1922, an das politisch und ökonomisch motivierte Interesse realistisch denkender Kreise in Deutschland an gleichberechtigten zwischenstaatlichen Beziehungen anzuknüpfen und den Grundstein für eine Politik der friedlichen Koexistenz zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung zu legen. Die bereits vor 1922 sporadisch angebahnten deutsch-sowjetischen Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen wurden nunmehr zu einem wichtigen und festen Bestandteil der konkreten Ausgestaltung der friedlichen Koexistenz zwischen beiden Ländern. Für die Sowjetunion galt es, die wissenschaftlich-technischen Errungenschaften des industriell hochentwickelten Deutschland für den Aufbau des Sozialismus nutzbar zu machen, aber umgekehrt auch die eigenen Erfolge und Ziele der neuen Gesellschaftsordnung im Ausland zu propagieren. Lunacarskij hatte, da er als Volksbildungskommissar auch für die Hochschul- und Wissenschaftspolitik zuständig war, durch zahlreiche Verbindungen und Gespräche mit deutschen Wissenschaftlern und Regierungsvertretern bedeutenden Anteil an der Entwicklung der kulturellen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Sowjetunion; 1925 wurde er zweiter Vorsitzender der im gleichen Jahr gegründeten „Gesellschaft für kulturelle Verbindungen mit dem Ausland" (VOKS). Lunacarskij hatte darüber hinaus eine besondere Beziehung zu Deutschland und zur deutschen Kultur. Sie ging zurück auf sein intensives Studium der deutschen Philosophie und der Kunst der Vergangenheit. Schon vor 1900 hatte er sich mit den verschiedenen Faust-Adaptionen in der deutschen Literatur beschäftigt und selbst ein Drama „Faust und die Stadt" verfaßt. Ebenso aufmerksam verfolgte er cfie Entwicklung der modernen Literatur und Kunst in Deutschland. Seine besonderen Erwartungen bezüglich einer gedeihlichen kulturellen Zusammenarbeit mit Deutschland gingen von der Verehrung für die Leistungen der deutschen Wissenschaft und Kultur aus, zugleich von der Hoffnung auf die revolutionäre Arbeiterbewegung in Deutschland, die mit ihrer Kommunistischen Partei die stärkste Sektion in der Kommunistischen Internationale war. Aufmerksam und einfühlsam reagierte Lunacarskij auf künstlerische und ästhetische Fragen und Prozesse, registrierte und verfolgte die besondere revolutionäre und antibourgeoise Gestimmtheit und Produktion vornehmlich auch linksradikaler Künstler und Literaten im Nachkriegsdeutschland und neigte — auch aus seiner eigenen Begeisterung heraus — zuweilen zu einer Überschätzung der Reife der deutschen revolutionären Bewegung. 5 Bereits 1919 hatten sich linksradikale Intellektuelle um eine erste Publizierung von Lunacarskijs Schriften — wie überhaupt von Literatur über die Kulturrevolution in Sowjetrußland — verdient gemacht. Die bemerkenswerte Arbeit „Die Kulturaufgaben der Arbeiterklasse", geschrieben zwischen der Februar- und der Oktoberrevolution, stellt 5
Vgl. A. V. "Lunatscbarski, Die Kommunistische Internationale und die Intellektuellen, in: Kommunistische Internationale 2, 1921, Nr. 17, S. 203ff.; Deutsche Kunstausstellung (1924), in: A.V.Lunatscbarskij, Die Revolution und die Kunst, Dresden 1962, S. 92 ff.
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Lunacarskij als Philosoph und Kulturtheoretiker vor. Wie alle Nachrichten über die russische Revolution — die besonders während der Zeit der imperialistischen Intervention nur spärlich und von Zufällen abhängig in die Welt gelangten — wurde auch diese mit Begierde aufgenommen, zumal Lunacarskij mit diesem Aufsatz in den Prozeß kulturhistorischer Selbstverständigung und kultureller Selbstbewußtwerdung der Arbeiterklasse eingriff und die Formulierung politischer und kultureller Zielvorstellungen der internationalen revolutionären Arbeiterbewegung in Abgrenzung von der kapitalistischen Gegenwart mitbestimmte. In der genannten Schrift behandelte Lunacarskij zentrale Fragen der Herausbildung einer marxistischen Kulturauffassung und des kulturpolitischen Programms der revolutionären Arbeiterbewegung, Fragen, die in Deutschland besonders heftig und konträr in der Periode der revolutionären Nachkriegsjahre diskutiert wurden. In seinem Aufsatz formulierte Lunacarskij einen marxistischen Kulturbegriff. 6 Nach seiner Definition ist Kultur — gewachsen auf dem Boden der politischen und materiellen Interessen von Klassen und Schichten — ein System von Lebensformen, von Auffassungen über die Welt und Gott, über Recht und Moral, ein System materieller und geistiger Kultur. Daraus leitete er den Klassencharakter der Kultur ab und beantwortete positiv die Frage nach der Möglichkeit für das Proletariat, bereits innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung eine eigene Kultur zu entwickeln. Für ihn war die Kultur des Proletariats vor der politischen Machteroberung bestimmt durch ihren Charakter als „Kultur des Kampfes", zugleich war sie „auch die Kultur als Traum, die Kultur als das Ziel", das Ideal der Bestrebungen der Arbeiterklasse. Folgerichtig gehören zur Kultur des kämpfenden Proletariats der Marxismus als Weltanschauung, die Partei als politische Organisation und die Gewerkschaften als politisch-ökonomische Organisation der Klasse. Die Kampfkultur des Proletariats beinhaltete den Kampf um Bildung und um die Verbesserung der materiellen und geistigen Lebensbedingungen der unterdrückten Klasse. Kampfkultur meint die Ausprägung solcher entscheidenden proletarischen Normen wie die der .Solidarität und der disziplinierten politischen und gewerkschaftlichen Organisation der Klassengenossen. Lunacarskijs Kulturbegriff fragt aber ebenso nach den spezifischen Verhaltensweisen, die die proletarische Klasse etwa in den Familienund Geschlechterbeziehungen oder auch in der Sorge um die Kinder entwickelt. „ Eine wichtige Rolle innerhalb der Kampfkultur räumte Lunacarskij den Künsten ein. Sie nämlich vermögen mit ihren besonderen Mitteln und Möglichkeiten, die revolutionären „Gemütsbewegungen" der Arbeiter zu „organisieren" 7 . Diese Definition der proletarischen Kultur war von grundsätzlicher Bedeutung für die Abgrenzung von der reformistischen sozialdemokratischen Kulturauffassung. Sie zielte auf die revolutionäre Umwälzung der kapitalistischen Gesellschaft als Voraussetzung für den Aufbau einer sozialistischen Kultur. Lunacarskij traf daher mit diesem Kulturbegriff mitten in die erbitterten Auseinandersetzungen gerade auch der deutschen revolutionären Arbeiterbewegung mit dem Kulturreformismus der rechten Führer der SPD und dem Ringen der KPD um eine revolutionäre kulturpolitische Programmatik. Aber die Aufnahme von Lunacarskijs Schrift über „Die Kulturaufgaben der Arbeiterklasse" durch die deutsche revolutionäre Bewegung war widersprüchlich, vollzog sich e
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Zum Inhalt des marxistischen Kulturbegriffs vgl. Kulturpolitisches Wörterbuch, 2. Aufl., Berlin 1978, Stichwort Kultur, S. 364 ff. A. V. Lunatscharski, Die Kulturaufgaben der Arbeiterklasse, Berlin 1919, Reihe „Der Rote Hahn", Bd. 36, S. 11, 14, 21 f.
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keineswegs geradlinig, sondern höchst vermittelt durch die konkreten historischen Bedingungen im Deutschland der revolutionären Nachkriegskrise. Welche der Gedanken von Lunacarskij aufgegriffen wurden und auf welche Weise, war abhängig von den jeweiligen politisch-ideologischen Auffassungen innerhalb der revolutionären Arbeiterbewegung und den daraus abgeleiteten strategisch-taktischen Aufgabenstellungen. Für die konsequenten Marxisten wie Clara Zetkin, Hermann Duncker und E d w i n Hoernle, die sich besonders um die Klärung revolutionärer kulturpolitischer Positionen in der jungen KPD verdient machten, bedeutete Lunacarskijs Behauptung des politischen Primats im Klassenkampf zunächst lediglich mittelbar eine Unterstützung und Bestätigung ihrer eigenen theoretischen und praktisch-politischen Bemühungen. Hingegen Lunacarskijs besonders betonte und unter den Bedingungen der neuen historischen Epoche wichtige Bemerkung, daß das Proletariat bereits vor der politischen Machtergreifung eine eigenständige revolutionäre Kultur entwickeln könne, wurde noch nicht für eine kommunistische kulturpolitische Programmatik fruchtbar gemacht. Die Frage nach der Möglichkeit einer proletarischen Kultur unter der kapitalistischen Klassenherrschaft wurde in der revolutionären Nachkriegskrise — weil in Erwartung der baldigen proletarischen Revolution — von Kommunisten sogar vielfach verneint. Ihre positive Beantwortung setzte sich erst 1925 durch, in der Periode der relativen Stabilisierung, als es für' die Kommunisten darauf ankam, in allen gesellschaftlichen Bereichen und mit allen Mitteln um die Gewinnung breiter Massen zu kämpfen. In diesem Zusammenhang griff Karl August Wittfogel in einer für die kulturpolitische Programmatik der KPD grundsätzlichen Artikelserie in der „Roten Fahne" 8 ganz offensichtlich auf den Begriff der Kampfkultur von Lunacarskij zurück. Die unmittelbare W i r k u n g der hier vorgestellten Abhandlung von 1919 ging jedoch zunächst in eine andere Richtung. Nicht von ungefähr hatte sich gerade der Verlag von Franz Pfempfert, „Die Aktion", um den Druck der Schrift von Lunacarskij verdient gemacht. Es entsprach dem politisch-ästhetischen Programm der mit expressionistischen und aktivistischen Traditionen verbundenen Literaten und Intellektuellen, daß für sie Fragen einer spezifisch proletarischen Kultur und Kunst im Mittelpunkt standen. Demgegenüber wurden Funktionäre und Theoretiker der KPD in den ersten nachrevolutionären Jahren zumeist von den politischen Tageskämpfen und Fragen der politischen Strategiefindung absorbiert. In dem Vorwort von L u d w i g Rubiner wurde Lunacarskij als der Begründer des Proletkult vorgestellt. Tatsächlich ließen Lunacarskijs Ausführungen selbst die Möglichkeit dieser Interpretation zu, da er die Frage, wer die proletarische Kultur schaffen werde, nur für die Kunst beantwortete. Obwohl er auch die Rolle der bürgerlichen Intelligenz beim Aufbau einer sozialistischen Kultur behandelte, war er doch überzeugt, daß eine wirklich proletarische Kunst in erster Linie v o m Künstler „rein proletarischer Abstammung" hervorgebracht werden würde. 9 Linksradikale Proletkultbestrebungen in Deutschland, die den Prozeß der Formierung der jungen Kommunistischen Partei komplizierten und erschwerten, konnten sich daher zeitweilig auf Lunacarskij berufen. 1 0 8
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K. A. Wittfogel, Über proletarische Kultur, in: Rote Fahne, 3 1 . 5. 1 9 2 5 ; dsrs., Proletarische Kampfkultur, in: Rote Fahne, 7. 6. 1 9 2 5 ; ders., Im Kampf mit welchen Elementen entwickelt sich die prole9 Lunatscbarski, Die Kulturaufgaben, S. 2 6 f . tarische Kultur? in: Rote Fahne, 2 1 . 6. 1925. Der Bund f ü r proletarische Kultur, in: Rote Fahne, 1 9 . 1 2 . 1 9 1 9 ; vgl. Angres, Die Beziehungen Lunacarskijs zur deutschen Literatur, Berlin 1970. S. 51 f. Jahrbuch 25/2
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Diese Tendenzen wurden noch unterstützt durch einen Artikel in der „Roten Fahne" vom 6. August 1920, in dem Lunacarskij auf manch nützliche Gedanken v o n B o g d a n o v hinwies und die Arbeiter ermutigte, auch unabhängig von der Sowjetmacht an ihrer eigenen Kultur zu schaffen. 1 1 Diese Äußerungen haben Lunacarskij in der wissenschaftlichen Literatur den V o r w u r f eingebracht, er habe in schädlicher Weise Autonomiebestrebungen des Proletkult begünstigt. 1 2 Dabei berief man sich auch auf die von Lenin scharf kritisierte, nicht konsequente PositionLunacarskijs auf dem I. Allrussischen Kongreß des Proletkult 1920, als es darum ging, die führende Rolle der Partei gegenüber den Organisationen des Proletkult durchzusetzen. Dennoch ist dieser Vorwurf nur bedingt aufrechtzuerhalten. D e n n in demselben Artikel merkte Lunacarskij an, daß die Aktivitäten der Sowjetorgane und der Proletkultorganisationen sich oft in der Praxis überschnitten, d. h. beide noch keine klaren Vorstellungen von ihren spezifischen Aufgaben hatten. Tatsächlich bestätigten neue sowjetische Forschungsergebnisse, die zu Recht zwischen den idealistischen Theoretikern des Proletkult und dem Proletkult als einer Massenbewegung differenzieren, den von Lunacarskij nur angedeuteten Sachverhalt des Revolutionsalltags: In vielen Provinzen, in denen das Kommissariat für Volksbildung nur schleppend oder gar nicht seinen Aufgaben gerecht wurde, übernahm es der Proletkult spontan oder auf Anregung der Sowjets, der Gewerkschaften oder der Partei, die politisch-revolutionäre Aufklärung der Massen in Arbeiterklubs, Lesehütten und Zirkeln zu organisieren. 1 3 Die Theoretiker des Proletkult konnten sich auch nur höchst partiell auf Lunacarskij berufen. Denn die für den Proletkult so charakteristischen nihilistischen Tendenzen in der Frage des historischen Erbes der Arbeiterklasse fanden keinerlei Nahrung in der diesbezüglich stets klaren marxistischen Position Lunacarskijs. E s sei nur daran erinnert, daß Lunacarskij, wie J o h n Reed berichtete, weinend seinen Austritt aus der Regierung erklärte, als er hörte, daß während der revolutionären Kämpfe in Petrograd wertvolle Gebäude und Kunstschätze beschädigt worden seien. E s ist Lunacarskijs besonderes Verdienst, immer wieder den Standpunkt der Bolschewiki propagiert zu haben, nach dem der Aufbau einer neuen sozialistischen Kultur nur durch die Bewahrung, Aneignung und Weiterführung des kulturellen Erbes möglich sei. E r entkräftete den Vorwurf des Vandalismus, den amerikanische Zeitungen verbreiteten, indem er über Maßnahmen der Abteilung für Schutz der Denkmäler des Altertums und der Kunstwerke berichtete. 1,1 Schon in den Tagen der Revolution wurde in den Palästen, so auch im Winterpalais, fürsorglich der dort lagernde Alkohol vernichtet, um die Soldaten vor Versuchung und Trunkenheitsexzessen zu bewahren. Die Spuren der Verwüstung durch Kerenskijs Truppen wurden beseitigt. Die Paläste erhielten neue Exponate, z. T . aus privatem Besitz, und wurden den Massen zur Besichtigung freigegeben, andere für Konzerte, Kino- und Theateraufführungen zur Verfügung gestellt. Gerade diese Maßnahmen der Bolschewiki waren von außerordentlicher Bedeutung für die Wirkung Sowjetrußlands außerhalb der Landesgrenzen, für künftige Beziehungen zu Politikern, Wissenschaftlern und Künstlern auch aus Deutschland. Sie nahmen deshalb gerade auch 11 12 13
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A. V. 'Lunatscharski, Die Aufgaben der sozialistischen Kultur, in: Rote Fahne, 6. 8. 1920. D. Angres, Die Beziehungen, S. 54. W. Gorbunow, Lenin und der Proletkult, Berlin 1979, S. 61 f. Darüber hinaus steht eine kritische Aufarbeitung der Auffassungen von Bogdanov durch die marxistische Kulturtheorie jedoch noch aus. A. V. Lunatscharski, Die Sowjetmacht und die Denkmäler des Altertums, in: Russische Korrespondenz, 1, 1920, Nr. 8/9, S. 8 6 f f ; Rote Fahne, Nr. 113 vom 25. 6. 1920, Nr. 115 vom 27. 6. 1920; Die Kommunistische Internationale, 1919, Nr. 7/8, S. 1123ff.
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in Lunacarskij s deutschsprachigen Publikationen einen breiten Raum ein und halfen, eine Antwort zu geben auf Fragen, die im Ausland oft gestellt wurden: Welchen Platz nehmen Kultur und Kunst in einer sozialistischen Gesellschaft ein? Wie verhält sich die Sowjetregierung gegenüber dem bürgerlichen Erbe und der zeitgenössischen Kunst und Kultur? Wilhelm von Bode, der langjährige Direktor der Königlichen Museen zu Berlin, hatte Vertrauen gefunden zu dem Umgang der Bolschewiki mit den Schätzen der Museen; er sprach mit Achtung von der kulturellenBildung vieler Bolschewiki, die sie sich bereits vor der Revolution angeeignet hatten. 15 Lunacarskij analysierte auch die Schwierigkeiten, die eine Pflege des kulturellen Erbes noch behinderten. 1 0 Es mußte gegen Proletkultanhänger und Futuristen verteidigt werden, die ihre Aktivitäten noch verstärkten, als einige Vertreter dieser Richtungen in die Partei eintraten. Vladimir Majakovskij erzählt von dem Vorschlag eines Futuristen, eine Kommission zur planmäßigen Zerstörung der Kunst- und Altertumsdenkmäler zu schaffen. 17 Neben den Artikeln, die speziell dem U m g a n g der Sowjetorgane mit dem bürgerlichen Erbe gewidmet waren, erschien eine Reihe anderer, in denen sich Lunacarskij allgemein mit dem Prozeß der Kulturrevolution beschäftigte. Lunacarskij informierte nicht nur über das kulturelle Geschehen in Sowjetrußland, sondern er übernahm es, die Grundaspekte der Leninschen Theorie der Kulturrevolution zu popularisieren. Als das russische Proletariat bei seiner Machtübernahme das Erbe äußerster kultureller Rückständigkeit antrat, charakterisierte Lenin diese Situation mit den W o r t e n : „Die ganze Schwere der russischen Revolution besteht darin, daß es für die russische Arbeiterklasse bedeutend leichter war als für die westeuropäische Arbeiterklasse, die Revolution zu beginnen, daß es für uns aber schwerer ist, sie fortzusetzen." Und 1923, nachdem die politische Macht gesichert war, stellte er fest, daß „sich bei uns jetzt das Schwergewicht der Arbeit tatsächlich auf bloße Kulturarbeit (reduziert)". 1 8 Diese besonderen Bedingungen der sozialistischen Revolution in Rußland waren eine Ursache dafür, daß diese von Beginn an immer auch als eine Kulturrevolution begriffen wurde. So eröffnete die „Pravda" am 10. Februar 1918 eine Artikelserie unter der programmatischen Überschrift: „Die Oktoberrevolution als ein neues kulturelles Zeitalter". 1 9 Und in seinem Vorwort zu der Broschüre von Lunacarskij über „Die Kulturaufgaben der Arbeiterklasse" — also bereits 1919 — bezeichnete L u d w i g Rubiner die russische Räterepublik als ein „Kulturwerk". Er artikulierte damit die Hoffnungen deutscher linksbürgerlicher Intellektueller und Künstler auf eine soziale und kulturelle Alternative, wie sie sich welthistorisch zum ersten Male als eine reale abzeichnete. Gerade unter Dichtern und Intellektuellen hatte der Weltkrieg eine ungeheure Erschütterung und Zweifel an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen ausgelöst. Ihre Sehnsucht nach einem sinnvollen Leben war jedoch zunächst politisch noch äußerst unklar und diffus auf eine idealische Menschengemeinschaft gerichtet. Erst die Nachrichten von der Oktoberrevolution und das Dekret über den Frieden waren deutschen Schriftstellern und Intellektuellen wie eine Antwort auf ihre Fragen nach einer Perspektive menschlichen Zu15 16 17
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W. v. Bode, 50 Jahre Museumsarbeit, Bielefeld/Leipzig 1922, S. 11 f. A. V. Lunatscharski, Prinzipien der Kunstpolitik in Rußland, in: Das Neue Rußland, 2,1925, H. 5/6. Vgl. N. Thun, Oktoberrevolution — Kulturrevolution — Lenin (1917—1918), in: Revolution und Literatur, Leipzig 1971, S. 4 5 f f „ 52. W. I. Lenin, Werke, Bd. 27, S. 464; ders., Werke, Bd. 33, S. 460. IV. Thun, Das erste Jahrzehnt, Berlin 1973, S. 60ff.
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sammenlebens, unabhängig davon, daß die wenigsten von ihnen die Oktoberrevolution in ihrer ganzen historischen Tragweite schon begriffen hatten. Johannes R. Becher gehörte zu diesen Künstlern, für die die Oktoberrevolution das Signal war, das ihrer Sehnsucht zu einer konkreteren Orientierung verhalf. Schon 1917 sandte er seinen „Gruß des deutschen Dichters an die Russische Föderative Sowjetrepublik". Wenngleich seine Verse auch von einem expressionistischen Pathos getragen waren, so enthielten sie vor allem ein politisches Bekenntnis und bedeuteten ein Schritt auf dem W e g e zum festen Bündnis mit der revolutionären Arbeiterbewegung und ihrer führenden Partei. Wir haben die Wirkungen der Oktoberrevolution speziell auf deutsche Intellektuelle und am Beispiel Bechers an dieser Stelle hervorgehoben, um zu zeigen, wie wichtig in den folgenden Jahren die authentischen Nachrichten über den Aufbau des Sozialismus waren. Entscheidend für die Gewinnung der linksbürgerlichen Intelligenz für die Idee des Kommunismus war vor allem, den humanistischen Charakter der sozialistischen Gesellschaftsordnung zu demonstrieren, die Komplexität und die kulturelle Tragweite der revolutionären Umwälzungen aufzuzeigen. Bei der Durchsicht der „Russischen Korrespondenz", später des „Neuen Rußland", sowie erster deutschsprachiger Sammelbände über Sowjetrußland fällt -dann auch auf, daß Berichte über das neue Leben unter der Söwjetmacht häufig und ganz selbstverständlich unter Begriffen wie „Kulturwerk Sowjet-Rußlands", „Unsere Kulturaufgaben", „Kulturaufbau" zusammengefaßt wurden. Lunacarskij selbst hatte einen ganz wesentlichen Beitrag dazu geleistet, daß die revolutionären Veränderungen in Sowjetrußland im Ausland ihrem Wesen nach als Kulturrevolution begriffen wurden. Im Mittelpunkt seiner Berichte standen die Maßnahmen zur Beseitigung des Analphabetentums und zur Organisation eines einheitlichen Bildungssystems. Er berichtete über den Enthusiasmus, mit dem 1917/18 diese Aufgaben in Angriff genommen wurden, verschwieg aber auch nicht, daß im Hungerjahr 1921 und zu Beginn der Neuen Ökonomischen Politik sich die Zahl der Elementarschulen verringerte, daß so manches Ziel zurückgesteckt werden mußte. 2 0 In den ersten Jahren der Revolution hatte die Sowjetregierung mit beispielloser Großzügigkeit, die zu jener Zeit noch nicht ihren materiellen Verhältnissen entsprach, allen Schichten der Bevölkerung den Zugang zu Theatern und Museen ermöglicht. 1921 jedoch stand die Regierung oft vor der Notwendigkeit, diese Institutionen schließen zu müssen. Nur dem Erfindungsreichtum, der Unerschrockenheit, dem Idealismus und persönlicher Einsatzbereitschaft der Leiter und Mitarbeiter von Museen oder Bibliotheken war es' zu danken, wenn sie trotz Hunger, Kälte und allgemeiner Desorganisation die Arbeit der kulturellen Institutionen aufrechterhielten und weiterführten. Mit dem Übergang zur NÖP schließlich mußten viele staatliche Subventionen gestrichen werden, Theater mußten sich selbst ökonomisch erhalten und von ihren Besuchern Eintrittspreise verlangen, die die Arbeiter kaum noch bezahlen konnten. 2 1 Indem Lunacarskij den deutschen Leser auch über die zeitweiligen Rückschläge im Prozeß der Kulturrevolution 20
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A.. V. Lunatscbarski, Die Kommunistische Propaganda und der Volksunterricht, in : Das Kulturwerk Sowjet-Rußlands, Wien 1920, S. 2 5 f f . ; ders., Revolutionäre Aufklärung, in: Russische Korrespondenz, II. Jg. Bd. 1, Nr. 1/2,1921, S. 1 1 7 f f . ; ders., Volksaufklärung in Sowjetrußland, in: Rote Fahne, Nr. 75, 15. 2. 1921; ders.. Die Kulturarbeit im neuen Rußland, in: Das Neue Rußland, I. Jg. 1924, Nr. 3/4,' S. 3 f f . ; ders., Sieben Jahre Sowjetkultur, in: Das Neue Rußland, I. Jg., 1924, Nr. 7/8, S. 3f. Vgl. N. Thun, Das erste Jahrzehnt. Literatur- und Kulturrevolution in der Sowjetunion, Berlin 19/3, S. 1 1 8 f f .
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informierte, suchte er das Verständnis für die komplizierten und gewaltigen Aufgaben beim Aufbau des Sozialismus zu wecken und an die Solidarität der internationalen Arbeiterbewegung mit dem ersten Arbeiter-und-Bauern-Staat der Welt zu appellieren. Im siebenten Jahr der Revolution zog Lunacarskij eine Bilanz der Kulturarbeit in seinem Lande und machte den deutschen Leser mit einer in der Sowjetunion gebräuchlichen Wendung bekannt. Nachdem an der militärischen Front der Sieg errungen und die politische Macht gefestigt worden war, konnte die Eröffnung der „dritten Front", der „Kulturfront", in Angriff genommen werden. Er rechtfertigt den Gebrauch dieses Begriffs damit, daß unmittelbar nach der Revolution der unerbittliche Kampf an der politischen und militärischen Front zunächst vordringlich war. Der Begriff der „Kulturfront" sollte nun aber nachdrücklich ausweisen, daß „die politische Revolution nicht (tatsächlich) unser letztes Ziel" sei, daß die Errichtung des Sozialismus, der Ausbau einer sozialistischen Ökonomie nicht Selbstzweck, sondern einzig und allein der Voraussetzung „der freien Entwicklung aller im Menschen enthaltenen Möglichkeiten" diene. 22 Wenn Lunacarskij mit dieser Trennung von politischem, ökonomischem und kulturellem Kampf operierte, so war darin allerdings eine Inkonsequenz enthalten. Nadezda Krupskaja polemisierte gegen den Begriff der „dritten Front", weil sein Gebrauch verhinderte, die politisch-ideologischen, ökonomischen und kulturellen Prozesse in ihrer Abhängigkeit und Wechselwirkung zu begreifen. 2 3 Daß Lunacarskij dennoch diesen Begriff benutzte, muß seinen Grund darin haben, daß es gerade ihm immer wieder besonderes Anliegen war, die Bedeutung der politischen und kulturellen Aufklärung der breiten Massen als Voraussetzung für den Aufbau des Sozialismus zu betonen. Gleichzeitig charakterisiert dieser Umstand die konkrete Situation jener J a h r e : Die Überfülle der zu lösenden Aufgaben erlaubte nicht sofort auch tiefgründige historisch-theoretische Analysen, sondern verlangte von der Publizistik das operative Eingreifen in aktuelle Prozesse sowie die schnelle Verbreitung der gewonnenen Erfahrungen. Denn gerade Lunacarskij gehörte zu jenen Theoretikern, die in Fragen der Kultur und Kunst eindeutig marxistisch-leninistische Positionen vertraten. Anläßlich des 11. Jahrestages der Oktoberrevolution 1928 arbeitete Lunacarskij in einerruArtikel der „Internationalen Presse-Korrespondenz" die Wechselwirkung von ökonomischer und kultureller Entwicklung mit besonderem Nachdruck heraus. Der X V . Parteitag der K P d S U , der ein Jahr zuvor die Kollektivierung der Landwirtschaft und die Industrialisierung beschloß, hatte auch die Losung der Kulturrevolution ausgegeben. Lunacarskij verwies darauf, daß es sich beim Programm der Kulturrevolution keineswegs u m eine neue politische Orientierung handele, hatte doch Lenin bereits 1923 in seinem Aufsatz „Über das Genossenschaftswesen" geschrieben, daß es nun nur noch der Kulturrevolution bedarf, „um ein vollständig sozialistisches Land zu werden". 2 4 Die Kollektivierung und die Industrialisierung erforderten als Voraussetzung eine beschleunigte Entwicklung des kulturellen Niveaus der breiten Massen. Aber der X V . Parteitag hatte könstatieren müssen, daß die Kulturarbeit hinter dem "Wachstum der Industrie zurückgeblieben war. Speziell die Bewegung gegen das Analphabetentum war rückläufig. Die Losung der Kulturrevolution bezweckte einerseits, daß sich der Staatsapparat dieser Aufgabenstellung sowie des Zusammenhangs von 22 A. V. Lunatscbarski, Sieben Jahre Sowjetkultur, in: Das Neue Rußland, I. Jg. 1924, Nr. 7/8, S. 3f. 23 Vgl. N. Thun, Das erste Jahrzehnt, S. 179. 24 W. I. Lenin, Werke, Bd. 33, S. 461.
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industrieller und kultureller Entwicklung neuerlich und deutlicher bewußt würde. Andererseits sollten die Partei, die Gewerkschaften, die Genossenschaften, die Jugendund Kulturorganisationen zu neuen Initiativen im „Kulturfeldzug" aufgerufen werden. Darüber hinaus waren mit der Losung Konsequenzen im Staatshaushalt verbunden. Die Erhöhung des Budgets der Volksbildung um 4 0 % wurde hauptsächlich bestimmt für die Entwicklung technischer Institutionen und Industriehochschulen. Den untrennbaren Zusammenhang von technischer und kultureller Entwicklung bekräftigte Lunacarskij, indem er die Entwicklung und Verbreitung von Kino und Radio in Städten und Dörfern als einen Schwerpunkt der Kulturrevolution benannte. 2 5 In einem Interview, das Lunacarskij 1931 dem „Arbeiter-Sender", dem Organ der kommunistischen Arbeiterradiobewegung, gab, äußerte er sich ausführlicher zur Bedeutung der Radiofizierung seines Landes. Er bezeichnete den Rundfunk als „gigantisches Werkzeug eines planmäßigen Kulturfortschritts". Der Sowjetfunk, der anfänglich ausschließlich ein unentbehrliches Mittel zur Nachrichtenübertragung gewesen war, sei in seiner 14jährigen Entwicklung u. a. mit seinem Programm der „RadioUniversität" „in erster Linie ein Lehrprogramm für das ganze Land geworden". 2 6 Lunacarskij bestimmte die kulturelle Funktion des Rundfunks in einem sozialistischen Land und zeigte gleichzeitig die Alternative zum Rundfunk im kapitalistischen Deutschland, der ausschließlich der politischen Manipulation und kulturellen Unterdrückung der Massen diente. Indem Lunacarskij über die Erfahrungen und die Praxis des Sowjetfunks sprach, vermittelte er der kommunistischen Arbeiterradiobewegung konkrete Ziele für ihr kulturpolitisches Programm und unterstützte deren Erkenntnis von der Einheit des politischen und kulturpolitischen Kampfes der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung. Einen besonderen Platz bei der Verbreitung der Inhalte der Kulturrevolution nahmen die Erfahrungen der Sowjetmacht mit den bürgerlichen Intellektuellen ein. Lunacarskij war in seiner Funktion als Volkskommissar für Bildungswesen besonders mit der Frage der Bündnispolitik gegenüber den Intellektuellen und Künstlern konfrontiert. Er verwandte viel Aufmerksamkeit auf die Rolle der Intellektuellen, besonders der technischen Ingenieure, beim Aufbau des Sozialismus und verwies auf die Notwendigkeit, sie für das Bündnis mit den Kommunisten zu gewinnen. 2 7 Er schlug vor, eine „Internationale der . Intellektuellen" zu schaffen, dachte dabei aber nicht an einen organisatorischen Zusammenschluß der Intellektuellen der Welt ähnlich dem der Komintern. Im Gegenteil ; als Voraussetzung für ein Bündnis mit den Intellektuellen könne man, so schrieb er, von ihnen nicht einen kommunistischen Standpunkt oder die Höhe proletarischer Disziplin und politischer Einsicht verlangen. Es wäre falsch, sie vor die Alternative zu stellen: „Entweder ihr seid mit uns, oder gegen uns". Lunacarskij meinte, daß es durch die Organisierung eines allgemeinen internationalen Austauschs, durch das Zusammentreffen von Wissenschaftlern aus aller Welt auf Kongressen möglich sein müsse, kommunistischen Einfluß auf bürgerliche Intellektuelle geltend zu machen. Die Initiative dazu müßte von Moskau, dem Zentrum der revolutionären Weltbewegung, 25
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A.V. Lunatscbarski, Die Errungenschaften der Kulturrevolution, in: Internationale Presse-Korrespondenz, 8, 1928, Nr. 123. Rote Sender im Sozialistischen Aufbau. Lunatscharski über den Sowjetfunk, in: Arbeiter-Sender, 4, 6. 1 1 . 1 9 3 1 , S. 1. A. V. Lunatscbarski, Die Kommunistische Internationale und die Intellektuellen, in: Kommunistische Internationale, 2, 1 9 2 1 , Nr. 17, S. 2 0 3 - 2 1 0 .
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ausgehen. Bei der Aufnahme von Beziehungen zu Vertretern der deutschen Wissenschaft, des Staats und der Künste ließ sich Lunacarskij stets von dem Grundsatz leiten: „Wer nicht gegen uns ist, ist für uns noch nicht hoffnungslos" 28. Dieser Grundsatz hat seine Gültigkeit freilich nur in Zeiten nicht zugespitzter Klassenauseinandersetzung; Lunacarskij verteidigte ihn 1925 auch in persönlichen Diskussionen mit deutschen Kommunisten. Betrachtet man die deutsch-sowjetischen Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen, so muß man zwei Ebenen dieser Kontakte und Beziehungen unterscheiden: auf der einen Seite die staatlich vermittelten Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen und auf der anderen die Kontakte mit revolutionären Organisationen der deutschen Arbeiterbewegung sowie die der revolutionären und sympathisierenden Künstler mit dem Sowjetstaat auf der Ebene des proletarischen Internationalismus. Zwischen beiden Ebenen bestand jedoch auch eine Wechselwirkung, und sie beförderten sich gegenseitig. Bereits am 30. November 1918 erging von Moskau aus ein auch von Lunacarskij unterzeichneter „Aufruf der russischen fortschrittlichen bildenden Künstler an die deutschen Kollegen!" 2 9 zur gemeinschaftlichen schöpferischen Gestaltung eines neuen Lebens. Dieser Aufruf war getragen von der Hoffnung des russischen Proletariats und seiner Verbündeten auf die siegreiche Revolution in Deutschland. Er schlug einen Kongreß deutscher und russischer Künstler zur Vorbereitung eines künftigen internationalen Austausches im Verlagswesen und von Ausstellungen vor. Nach der Unterzeichnung des Rapallo-Vertrages im April 1922 wurde im Oktober desselben Jahres die „1. Russische Kunstausstellung" in der Galerie van Diemen eröffnet; sie fand in einer veränderten politischen Situation statt. Die Ausstellung wurde veranstaltet von der Abteilung Bildende Kunst beim Volkskommissariat für Bildungswesen und dem „Auslandskomitee zur Organisierung der Arbeiterhilfe für die Hungernden in Rußland". Sie wäre nicht denkbar gewesen ohne die Unterstützung der revolutionären deutschen Künstler. 30 Diese Ausstellung stellte eine bedeutsame Zäsur in der Repräsentation russischer Kunst und Kultur in Deutschland dar. Bis zum Jahre 1922 war sie im wesentlichen von den russischen Emigrantengruppen in Berlin vertreten worden. Der Reichskunstwart Dr. Edwin Redslob kennzeichnete die Ausstellung später rückblickend als den Beginn eines hoffnungsvollen kulturellen und künstlerischen Austausches der beiden Länder. 31 Redslob selbst war es, der Lunacarskij während dessen Aufenthalt in Berlin 1925 in der sowjetischen Botschaft aufsuchte und um Unterstützung für eine Ikonenausstellung bat. 32 Vorbereitet wurde die Ausstellung russischer Ikonen des 12. —18. Jahrhunderts schließlich von der „Gesellschaft zum Studium Osteuropas". Sie wanderte im Frühjahr 1929 von Berlin nach Köln, Hamburg und Frankfurt am Main und wurde in einem Katalog mit Vorworten von Otto Hoetzsch und Lunacarskij begleitet. 33 Das Jahr 1925 stellte einen Höhepunkt in der Geschichte der deutsch-sowjetischen Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen dar. Die Feierlichkeiten zum 200jährigen A. V. Lunacarskij, Na zapade, Moskau 1927, S. 23. 29 Menseben. Zeitschrift für Neue Kunst. II. Jg. Nr. 5, 1. 3. 1919. 30 Materialien zu den Beziehungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion auf dem Gebiet der Bildenden Kunst, in: Wem gehört die Welt, Kunst und Gesellschaft in der Weimarer Republik (Katalog), Berlin (West) 1977, S. '234f. 31 E. Redslob, Künstlerischer Austausch zwischen Rußland und Deutschland, in: Das Neue Rußland, 2, 1925, Nr. 3/4, S. 5f. 32 V. A. Lunacarskij, Na zapade, S. 20. 33 Denkmäler altrussiscber Malerei. Russische Ikonen vom XII.—XVIII. Jahrhundert, 1929. 28
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Bestehen der russischen Akademie der Wissenschaften gaben Gelegenheit zu persönlichen Gesprächen zwischen den eingeladenen führenden Vertretern der deutschen Wissenschaft und hohen Repräsentanten der U d S S R . Auch Lünacarskij war an diesen Gesprächen beteiligt, in deren Verlaufe es zu einer Reihe konkreter Vorschläge und Abmachungen über die Zusammenarbeit zwischen der deutschen und sowjetischen Wissenschaft kam. 3 4 V o m 23. November bis 3. Dezember 1925 endlich weilte Lünacarskij selbst in Berlin. In der sowjetischen Botschaft wurden diese T a g e als „Lünacarskij-Woche" apostrophiert. Lunacarskijs Aufenthalt in Deutschland demonstrierte den Rapallo-Geist gegen das gerade vollendete Vertragswerk von Locarno, mit dem die imperialistischen Westmächte den Grundstein für ihre langfristige Strategie legten, Deutschland zur Aggressionsmacht gegen die Sowjetunion aufzubauen. Lünacarskij hat in „Briefen aus dem Westen" dem sowjetischen Leser über die Fülle seiner Begegnungen und seiner Eindrücke berichtet. Über hundert Vertreter der deutschen Wissenschaft, unter ihnen Schmidt-Ott, die Professoren Otto Hoetzsch, Max Planck und Adolf von Harnack, waren gekommen, um Lünacarskij als Repräsentanten der Sowjetunion zu begrüßen-. Beeindruckt zeigte sich Lünacarskij anläßlich des Empfangs, den die sowjetische Vertretung in Berlin ausgerichtet hatte und dem zahlreiche Regierungsvertreter gefolgt waren, voran Reichskanzler Luther und der preußische Ministerpräsident Otto Braun. 3 5 Ein Vortrag Lunacarskijs im Saal des Berliner Konservatoriums am 26. November, zu dem die „Gesellschaft der Freunde des neuen Rußlands" eingeladen hatte, war ein Höhepunkt seines Besuchs in Berlin. Lünacarskij sprach vor über 1000 Zuhörern über die Entwicklung der Volksbildung, der Künste und über die Kulturpolitik seines Landes. 3 6 Lünacarskij erlebte während der Veranstaltung — wie auch bei anderen Begegnungen — eine Atmosphäre der Offenheit und des Interesses bei den Zuhörern gegenüber den Tatsachen und Entwicklungen in der Sowjetunion, er empfing nicht endenwollenden Beifall. Die allgemeine Aufgeschlossenheit für die Sowjetunion, der Lünacarskij immer wieder begegnete, erweckte bei ihm den Eindruck, daß in Deutschland die Sympathien und das Interesse für das sowjetische Experiment überwogen, daß die seinem Land feindlich gesonnenen Elemente „nicht die Musik" machen. 3 7 Die von Lünacarskij mehrfach bewunderte „Tiefe und Beweglichkeit" der Gedanken und Anschauungen deutscher Wissenschaftler weckten bei ihm die „rosigsten Hoffnungen" 3 8 hinsichtlich einer fruchtbaren Zusammenarbeit beider Länder. Die hohen Erwartungen Lunacarskijs wurden auch bekräftigt in einer langen Unterredung mit dem Reichskunstwart Redslob. Dieser setzte Lünacarskij eingehend seine Vorstellungen von einer Volkskultur und sein Anliegen auseinander, die Lebensbedingungen und die räumliche Umwelt breiter Arbeitermassen künstlerisch zu gestalten. Beide Gesprächspartner waren sich darin einig, daß die Kunst das gesellschaftliche Ziel habe, die Bedürfnisse breiter Massen zu befriedigen. Obwohl Redslob selbst die unterschiedlichen sozialökonomischen Grundlagen der politischen Interessen Deutschlands und der Sowjetunion 34
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G. Voigt, Otto Hoetzsch 1876—1946. Wissenschaft und Politik im Leben eines deutschen Historikers, Berlin 1978, S. 201 f . ; vgl. auch: Lünacarskij, N a zapade, S. 10. A. V. Lünacarskij, N a zapade, S. 7ff., 10, 15f. A. V. Lunatscbarski, Unsere Kulturaufgaben, in: D a s N e u e Rußland, II. J g . 1925, Nr. 9/10, S. 2 f f . A. V. Lünacarskij, N a zapade, S. 14, 17 f. A. V. Lunatscbarski, Unsere Kulturaufgaben, in: Das N e u e Rußland, II. J g . 1925, Nr. 9/10, S. 5.
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einräumte, äußerte er doch seine Zuversicht, beide Länder könnten sich unabhängig davon in schöpferischer Zusammenarbeit gegenseitig bereichern und voneinander lernen. 3 9 Lunacarskij nutzte alle Möglichkeiten, um das literarische und künstlerische Leben in Berlin kennenzulernen. Berliner Theaterschaffende luden Lunacarskij zu einer Festveranstaltung ein. Sie empfingen ihn nicht nur als den Volkskommissar, sondern begrüßten ihn auch als den Dichter, denn es traf sich - und zeugte an Ort und Stelle von der Vielseitigkeit seiner Persönlichkeit - , daß gerade während Lunacarskijs Aufenthalt sein Theaterstück „Der befreite Don Quichotte" auf dem Spielplan der Berliner Volksbühne stand. Lunacarskij griff in diesem Stück auf den klassischen Stoff von Cervantes zurück und verarbeitete die Erfahrungen und Lehren der Oktoberrevolution, indem er Don Quichotte mit dem Konflikt Humanismus - revolutionäre Gewalt konfrontierte. Lunacarskij versuchte mit seinem Drama seine theoretisch-ästhetische Position in der Frage des humanistischen Erbes auch praktisch umzusetzen. A m Beginn unserer Erörterung hatten wir anhand vonLunacarskijs Schrift „Die Kulturaufgaben der Arbeiterklasse" versucht zu zeigen, wie die Oktoberrevolution und die von ihr ausgehenden grundlegenden gesellschaftlichen Umwälzungen das politische und kulturelle Selbstbewußtsein der internationalen Arbeiterbewegung stärkten und die Formulierung kulturpolitischer Zielvorstellungen der revolutionären Partei in einem kapitalistischen Land unterstützten. In den Schilderungen Lunacarskijs über seinen Aufenthalt in Berlin wie auch in anderen Äußerungen von ihm finden wir umgekehrt die Fruchtbarkeit der deutsch-sowjetischen Beziehungen für das Sowjetland bestätigt. Der Aufbau des Sozialismus gewann nicht nur durch den wissenschaftlich-technischen und künstlerischen Austausch mit Deutschland. Die Anregungen und Erfahrungen, die reisende Sowjetbürger im industriell hochentwickelten kapitalistischen Ausland sammeln konnten, reichten bis in die Bereiche der Lebensweise hinein. 1918 stellte Lenin die „Aufgabe, vom Staatskapitalismus der Deutschen zu lernen, ihn mit aller Kraft zu übernehmen, keine diktatorischen Methoden zu scheuen, um diese Übernahme noch stärker zu beschleunigen, als Peter die Übernahme der westlichen Kultur durch das barbarische Rußland beschleunigte"/' 0 1921 wurde in Moskau das Zentralinstitut für Arbeit gegründet, zu dessen Aufgaben es gehörte, wissenschaftliche Methoden der Arbeit und Arbeitsorganisation zu erarbeiten. Lenin selbst hat den Beschluß zur Gründung des Instituts mit seiner Unterschrift bestätigt/' 1 Lunacarskij erlebte in Deutschland diesen „Staatskapitalismus" und vermittelte ein anschauliches Bild von der durch hundertjährige industrielle Entwicklung geprägten Arbeits- und Lebensweise der Deutschen: „. . . in Berlin kocht überall die Arbeit. Bei meinem Besuch der gigantischen Fabrik A E G war ich beeindruckt von dieser sagenhaften Ordnung, in der die Dinge und die Menschen dort ineinandergreifen und funktionieren, . . . ganz Berlin erinnert an eine vollkommene Fabrik, in der konzentriert organisiert und gewissenhaft fast die gesamte Bevölkerung arbeitet". Lunacarskij beobachtete auch Verhaltensnormen des Alltags, wenn er schrieb, daß „das verarmte Berlin sich aus allen Kräften bemüht, einen ordentlichen Eindruck zu wahren. Anständig angezogen zu Hause, im Betrieb, auf der Straße, das ist die erste
39 A. V. Lunacarskij, Na zapade, S. 19ff. «0 IV. I. Lenin, Werke, Bd. 27, S. 334. 4 1 Beschluß des Rats für Arbeit und Verteidigung über das Zentralinstitut für Arbeit, in: W. I. Lenin, i Über wissenschaftliche Arbeitsorganisation, Berlin 1975, S. 113 f.
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Pflicht eines jeden Deutschen." 4 2 Mit Nachdruck propagierte Lunacarskij wiederholt die Organisation der wissenschaftlichen Arbeit durch die „Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaften" als beispielgebend, und er empfahl die — selbstverständlich kritische — Aneignung bestimmter Elemente der westeuropäischen Lebensweise/» 3 Die weitreichende Bedeutung der deutsch-sowjetischen Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen für den ersten Arbeiter-und-Bauern-Staat sei abschließend unter einem kaum beachteten, freilich auch schwer meßbaren Aspekt, schlaglichtartig erhellt: Legendär sind die Erschütterung und Begeisterung, die 1925 in Deutschland der Film „Panzerkreuzer Potemkin" von Sergej Ejsenstejn in der Arbeiterklasse wie bei bürgerlichen Intellektuellen erregte. Solange die deutsche Arbeiterbewegung nicht über die politische Macht und vor. allem nicht über die ökonomischen Mittel verfügte, eine eigene künstlerische Filmproduktion zu entwickeln, fand sie in den „Russenfilmen" politisch und ästhetisch ihr Selbstverständnis als revolutionäre Klasse bestätigt. Der aufmerksame Beobachter Lunacarskij aber registrierte auch, daß die Resonanz auf die sowjetischen Filme in Deutschland eine viel größere war als in dem Land, in dem sie gedreht wurden. 4 ' 1 Lunacarskij wird diese Wertschätzung des Auslandes nach Hause getragen haben. Erst der internationale Austausch und Vergleich ermöglichten in diesem Fall, die kulturell-künstlerischen Leistungen, die unter der Sowjetmacht möglich wurden, mit Stolz zu bewerten. 42 A. V. Lunacarskij, N a zapade, S. 9 f . « D. Angres, D i e Beziehungen, S. 198f. 4 4 „ E r s t in dem deutschen Echo*vermochten wir uns über die Fortschritte unserer Filmkunst klar zu werden" — Lunacarskij in seiner Einleitung zu: Der russische Revolutionsfilm, Zürich/Leipzig 1928, S. 7.
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Zur Bedeutung B. D. Grekovs für die Entwicklung der sowjetischen Mediävistik Anläßlich des hundertsten Geburtstages von B. D. Grekov PETER HOFFMANN/STEFAN WOLLE
Die Forschungsergebnisse der sowjetischen Mediävistik, besonders zur Geschichte der Kiever Rus', finden weltweite Anerkennung, die in langen, oft komplizierten Auseinandersetzungen errungen wurde. Grundlage dafür war die intensive Erschließung neuen Quellenmaterials, darunter auch neuer Quellengattungen, sowie die von marxistisch-leninistischer Methodologie ausgehende Interpretation des historischen Prozesses. Die Formierung und Durchsetzung der marxistischen Geschichtswissenschaft in der Sowjetunion bestimmte in den zwanziger und dreißiger Jahren wesentlich Profil und Charakter der Forschung und Lehre sowie der damit verbundenen historischen Publikationen. In jener Zeit fanden mehrere Vertreter der sozialökonomisch orientierten Schule der russischen bürgerlichen Geschichtswissenschaft den Weg zum Marxismus, wie E. V. Tarle 1 und V. I. Piceta 2 , die in den folgenden Jahrzehnten auf ihren jeweiligen speziellen Forschungsgebieten das Niveau der historischen Forschung in der Sowjetunion mitbestimmten. Einen gleichartigen Entwicklungsweg nahm auchB. D. Grekov, der die Gedanken und Anregungen, die der Marxismus der Geschichtswissenschaft allgemein vermittelt, auf die Erforschung des russischen Mittelalters übertrug und damit der Forschung völlig neuartige Perspektiven wies. In den theoretischen Diskussionen um eine Neuorientierung der sowjetischen Geschichtswissenschaft gebührt ihm für das Teilgebiet der russischen Mediävistik eine zentrale Rolle. Boris Dmitrievic Grekov wurde am 10./22. 4. 1882 in der ukrainischen Stadt Mirgorod geboren; nach Übersiedlung der Familie in das damals zum russischen Reich gehörende Königreich Polen schloß er 1901 in Radom seine Gymnasialausbildung ab und nahm im gleichen Jahr das Studium an der historisch-philologischen Fakultät der Universität Warschau auf, das er 1907 an der Moskauer Universität abschloß. Anschließend ging er nach Petersburg, um an der dortigen Universität seine Magisterdissertation vorzubereiten. Bereits in diesen Jahren veröffentlichte er erste wissenschaftliche Arbeiten — 1908 zwei Rezensionen, 1910 einen Aufsatz über die Naturalwirtschaft und ihre Bedeutung im politischen Leben des Moskauer Staates 3 , bis 1917 folgten noch vier weitere Aufsätze und Berichte; in diese Zeit fällt auch seine Mitarbeit am russischen biographischen ' V g l . E. I.Capkevic, Evgenij Viktorovic Tarle, Moskau 1977, S. 60ff.; Istoriograficeskij sbornik 6, Saratov 1977 (Zum 100. Geburtstag von E. V. Tarle). 2 Vgl. V. D. Koroljuk, Vladimir Ivanovic Piceta, in: Slavjane v epochu feodalizma. K stoletiju akademika V. I. Picety, Moskau 1978, S. 8ff. 3 B. D. Grekov, Natural'noe chozjajstvo i ego rol' v obscestvennoj i gosudarstvennoj zizni Moskovskoj Rusi, in: Ja. G. GurevicjB. A. Pavlovic, Istoriceskaja chrestomatija po russkoj istoiii, Bd. 2, 5. Aufl.
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Wörterbuch, für das er insgesamt 20 Beiträge verfaßte. 4 Zu nennen sind weiterhin zwei kommentierte Quelleneditionen aus dem Jahre 1912 5 , 1914 verteidigte er seine M a gisterdissertation über das Novgoroder Sophienhaus, wobei, wie der Untertitel ausweist, Organisation und innere Struktur dieser kirchlichen Votcina im Mittelpunkt seiner Untersuchungen standen. 6 Mit diesen frühen Schriften hatte Grekov bereits wesentliche Bereiche jener wissenschaftlichen Thematik umrissen, denen er sich auch in seinen weiteren Forschungen vorrangig widmen sollte. Schon diese frühen Arbeiten zeigen hohes wissenschaftliches Niveau insbesondere der Editionstechnik und Akribie beim Zusammentragen und Auswerten umfangreichen Faktenmaterials sowie das Bestreben, aus dem .erfaßten Material zu weiterreichenden Schlußfolgerungen vorzudringen. Zugleich wird aber deutlich, daß er zu dieser Zeit noch im Rahmen einer positivistischen bürgerlichen Fachwissenschaft geblieben war. Diese frühen Arbeiten sind charakteristisch für diefortschrittliche bürgerliche russische Geschichtswissenschaft jener Zeit. Mit ihrem ausgeprägten Interesse für wirtschaftliche Aspekte und teilweise auch für soziale Fragen ging sie über die offizielle akademisch etablierte Geschichtswissenschaft jener Zeit in den mittel- und westeuropäischen Ländern hinaus. Der erste Weltkrieg unterbrach zwar die Publikationstätigkeit, nicht aber die wissenschaftliche Arbeit Grekovs. 1916 übersiedelte er nach Perm', wohin ein Teil der Petrograder Universität evakuiert wurde ; nach Kriegsende lebte er einige Zeit auf der Krim, ehe er 1921 nach Petrograd zurückkehrte und dort wieder seine Tätigkeit an der Universität aufnahm. 7 Gleichzeitig arbeitete er in der Archäographischen Kommission an der Akademie der Wissenschaften, bei der traditionsgemäß die zentralen Arbeiten z u r Quellenkunde und Quellenedition konzentriert waren. Auch seine Mitarbeit in den neu geschaffenen Staatsarchiven begann in jenen, Jahren. In methodologischer Hinsicht waren die zwanziger Jahre für ihn eine Zeit des Suchens, de^ Herantastens an den Marxismus. Unmittelbar in die Auseinandersetzungen über historische Fragen griff er erstmals mit einer 1926 veröffentlichten Arbeit ein, in der er seine früheren Forschungen über die Novgoroder erzbisc-höfliche Wirtschaft, das Sophienhaus, weiterführte, jetzt jedoch seine Aufmerksamkeit vorwiegend sozialökonomischen Aspekten dieser Thematik zuwandte. Wie ein Programm und eine Vorwegnahme seiner späteren Darlegungen über die Feudalverhältnisse in der Kiever Rus*" klingen die Ausführungen in dieser Arbeit: „Es ist unmöglich, den Moskauer Staat isoliert von Europa zu betrachten; und wir müssen von vornherein darauf vorbereitet sein, in der russischen Gesellschaft Erscheinungen zu finden, die anders als parallel zu europäischen Analogien sehr schwer zu begreifen sind. Das betrifft vor allem die wirtschaftlichen Aspekte des Lebens der russischen Gesellschaft. Die Ausweitung und Belebung der westeuropäischen Märkte, die Verlagerung von Handelswegen und Petersburg 1 9 1 0 ; vgl. Spisok naucnych trudov akademika B. D. Grekova, in: Akademiku Borisu. Dmitrievicu Grekovu ko dnju semidesjatiletija, Sammelband, Moskau 1952, S. 20. 4 Vgl. Spisok naucnych trudov, S. 2 0 f . $ B.D. Grekov, Novgorodskie bobylskie porjadnye, in: Ctenija v obscestve istorii i drevnostej Rossijskich, 1912, Bd. 2, S. l f f . ; ders., Opis' T o r g o v o j storony v piscovoj knige po Novgorodu Velikomu X V I veka, in: Letopis' zanjatij imp. archeograficeskoj komissii 2a 1 9 1 1 g., Heft 24, Petersburg 1 9 1 2 . 6 B. D. Grekov, Novgorodskij dorn svjatoj Sofii (Opyt izucenija organizacii i vnutrennich otnosenijcerkovnoj votciny), Teil 1, Petersburg 1 9 1 4 (mehr nicht erschienen); Neudruck: B. D. Grekov, Izbrannye trudy, Bd. IV, Moskau 1960. 7 Vgl. V. V.Mavrodin, Boris Dmitrievic G r e k o v ( 1 8 8 2 - 1 9 5 3 ) , Leningrad 1968, S. 5.
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Handelszentren, das Auftauchen neuer Waren, die Veränderung der Marktlage für alte Waren — all das mußte sich auf den Moskauer Staat und besonders auf das Novgoroder Gebiet auswirken. Das dem tatsächlich so ist, davon konnten wir uns mehrfach überzeugen. Die wirtschaftlichen Prozesse verlaufen auf russischem Boden analog den europäischen und ihre parallele Betrachtung bietet methodologisch viele Vorteile im Sinne einer Vertiefung unserer Vorstellungen vom Entwicklungsweg der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in R u ß l a n d . " 8 Mit diesen Ausführungen ging Grekov wesentlich über seine bisherigen Arbeiten hinaus; er betrachtete den Novgoroder Sophienhof nunmehr vorwiegend im Gesamtzusammenhang mit der allgemeinen ökonomischen und sozialen Entwicklung Rußlands, als ein spezielles Beispiel, an dem sich das Allgemeine dieser Entwicklung demonstrieren läßt. Der Übergang der Feudalwirtschaft zur Warenproduktion, wie er sich im 16. und 17. J h . auch in Rußland durchzusetzen begann, fand die besondere Aufmerksamkeit des Forschers. Die erste Arbeit zu dieser Thematik, in der die Gutswirtschaft im Novgoroder Gebiet für diese Zeit untersucht wurde, erschien 1928. 9 Die in der Votcina jener Zeit zu beobachtende Tendenz, über den Eigenbedarf hinaus für den Verkauf zu produzieren, sah Grekov im Gesamtzusammenhang der allgemeinen historischen Entwicklung. In den methodologischen Diskussionen über die gesellschaftliche Struktur der Alten Rus' ergriff B . D . G r e k o v 1932 erstmals das W o r t . In seinem Vortrag „Sklaverei und Feudalismus in der Alten R u s ' " legte er eine neue Interpretation des russischen Mittelalters vor. Als Schlußfolgerung formulierte er die These, daß in der Kiever Rus' die dominierenden Produktionsverhältnisse feudalen Charakter getragen hätten: „Der Antagonismus dieser Gesellschaft bestand in erster Linie nicht zwischen Sklavenhaltern und Sklaven, sondern er bestand zwischen den feudalen Grundbesitzern auf der einen Seite und den leibeigenen und hörigen Bauern sowie den städtischen Massen auf der anderen Seite." 1 0 In diesem Vortrag hatte er erstmals versucht, die Stände und Schichten der altrussischen Gesellschaft in ihren sozialökonomischen Beziehungen zueinander zu analysieren. Die anschließende Diskussion veranlaßte ihn, verschiedene Probleme in den folgenden Jahren eingehender zu erforschen. Ausführlich hat G r e k o v seine Auffassungen über die Genesis feudaler Verhältnisse in Rußland 1934 in einem Aufsatz dargelegt. Nach seiner Meinung hatte sich bei den Ostslawen im 9. /10. J h . eine Klassengesellschaft herausgebildet mit der für frühe Formen charakteristischen gleichzeitigen Existenz sowohl von Sklavenhaltern (vor allem Sklavenhändlern) als auch von Grundbesitzern, die in feudale Abhängigkeit geratene Bauern ihrer Herrschaft unterworfen hatten. 1 1 Den weiteren Entwicklungsweg der Feudalverhältnisse in Rußland verfolgte er in einer anderen fast gleichzeitig veröffentlichten größeren Arbeit, in der das Entstehen der feudalen Votcina im 11. bis 13. J h .
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B. D. Grekov, Ocerki po istorii chozjajstva N o v g o r o d s k o g o Sofijskogo doma X V I — X V I I vv., in: Letopis' zanjatij Archeograficeskoj komissii, Bd. 33 und 34, 1926 und 1 9 2 7 ; Neudruck: Grekov, Izbr. trudy, Bd. III, Moskau 1960, Zitat S. 87.
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Vgl. B.D. Grekov, Pomescic'e chozjajstvo v X V I — X V I I vv. v N o v g o r o d s k o j oblasti, in: Uc. zap. in-ta istorii R A N I O N , Bd. 6, 1928, S. 75ff. B. D. Grekov, Rabstvo ifeodalizm v drevnej Rusi. Doklad i zakljucitel'noe slovo, in: Izvestija G A I M K , Bd. 86, 1934, S. 63. B. D. Grekov, Problema genezisa feodalizma v Rossii, in: Istoriceskij sbornik, Bd. 1, Leningrad 1934, S. 39ff.
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das Hauptthema bildete. Hier entwickelte er die These, daß sich der Feudalismus bei den Ostslawen direkt aus der Gentilgesellschaft entwickelt habe, ohne daß es zur vollen Ausbildung von Verhältnissen der Sklavenhalterordnung gekommen sei. 12 Als zusammenfassende Zwischenbilanz im Klärungsprozeß der Vorstellungen Grekovs über die Alte Rus' ist seine Publikation über die Feudalverhältnisse im Kiever Staat anzusehen 1 ^; er versuchte, die in der altrussischen Rechtsüberlieferung genannten Kategorien der Bevölkerung in ihrer sozialen Stellung zu definieren und damit zu einer exakteren Differenzierung und Zuordnung der sozialen Schichten und Klassen in der altrussischen Gesellschaft zu gelangen. Diese Analyse der alten schriftlichen Denkmäler führte Grekov zu wichtigen Schlußfolgerungen, die die bisherigen Vorstellungen von der allgemeinen historischen Entwicklung der Rus' grundlegend veränderten. 1 4 Man muß beachten, daß bis zu dieser Zeit in der sowjetischen Historiographie noch die Vorstellungen von V. O. Kljucevskij, N. A. Rozkov und anderen vorherrschten, nach denen in der Alten Rus' die Landwirtschaft nur eine untergeordnete Rolle gespielt habe. Grekov analysierte nicht nur die schriftlichen und mündlichen Überlieferungen, sondern zog auch in breitem Umfange archäologische Angaben heran, so Funde von landwirtschaftlichen Geräten, Form der Siedlungen und einzelner Wohnbauten. Auf dieser Grundlage gelangte er zu der Schlußfolgerung, daß bereits vor Entstehen des Kiever Staates auf dem Territorium der Rus' der Ackerbau vorherrschend war. 1 5 Es überrascht also nicht, daß Grekovs Schrift immer wieder in erweiterter und überarbeiteter Form neu aufgelegt wurde. Der Erstauflage 1935 folgen 1936 und 1937 weitere Ausgaben unter dem gleichen Titel, seit 1939 erschien diese Arbeit mit fast verdoppeltem Umfang unter dem neuen Titel.„Kiever Rus'", weitere Auflagen folgten 1944,1949, 1953 und zuletzt 1959 im zweiten Band der ausgewählten Werke Grekovs. 1 0 Aus diesem Themenkreis entstand auch die auf hohem wissenschaftlichen Niveau stehende, für breite Leserkreise geschriebene Arbeit zur Kulturgeschichte der Kiever Rus', die 1947 auch in deutscher Übersetzung vorgelegt wurde. 1 7 Mit diesen Forschungen hatte Grekov eine Richtung eingeschlagen, die sich in der Folgezeit als grundsätzlich richtig erweisen sollte. Die damals erstmalig formulierten Thesen sind in ihren Grundzügen von der marxistischen Forschung voll bestätigt worden; Korrekturen im Detail aufgrund der durch die neue Konzeption angeregten eingehenderen Untersuchung von Einzelfragen hat Grekov selbst in den späteren Auflagen und besonders in seinem grundlegenden 1946 erstmals erschienenen Werk über die Bauern in der Rus' eingearbeitet. 1 8 Seitdem hat die Forschung zwar verschiedene 12 B. D. Grekov, Ocerki po istorii feodalizma v Rossii. Sistema gösudarstva i podcinenija v feodal'noj derevne, Moskau/Leningrad 1934 (=Izvestija GAIMK, Bd. 72). 13 B. D. Grekov, Feodal'nye otnosenija v Kievskom gosudarstve, Moskau/Leningrad 1935. 14 Vgl. N. M. Dru^imn, K 90-letija so dnja rozdenija akademika B. D. Grekova. Vospominanija, in: Istorija SSSR 1972, Heft 5, S. 105. 1 5 Vgl. V. V. Mavrodin, Sovetskaja istoriografija dtevnerusskogo gösudarstva (k 50-letiju izucenija sovetskimi istorikami Kievskoj Rusi), in: Voprosy istorii 1967, Heft 12, S. 56f. 1 6 Vgl. Spisok naucnych trudov, S. 25ff.; Grekov, Izbr. trudy, Bd. II, S. l l f f . ; vgl. redaktionelle Vorbemerkungen, S. 8ff. 17 B. D. Grekov, Kul'tura Kievskoj Rusi, Moskau/Leningrad 1944; ders., Die russische Kultur der Kiever Periode, Moskau 1947 (gleichzeitig auch Ausgaben in spanisch, englisch und französisch). 18 B. D. Grekov, Die Bauern in der Rus von den ältesten Zeiten bis zum 17. Jh., Bd. I, II, Berlin 1958,1959 (Übersetzung der zweiten überarbeiteten russischen Auflage von 1952). 1 9 Vgl. u.a. I. Ja. Frojanov, Kievskaja Rus'. Ocerki social'no-ekonomiceskoj istorii, Leningrad 1974; ders., Kievskaja Rus'. Ocerki social'no-politiceskoj istorii, Leningrad 1980.
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Fragen aufgeworfen 1 9 , das Grundanliegen B. D. Grekovs, die Anerkennung der Alten Rus' als feudaler Staat, wurde dabei aber nicht in Zweifel gezogen. Zusammenfassend hat Grekov selbst die Geschichte der Kiever Rus' im ersten Hochschullehrbuch zur Geschichte der U d S S R dargelegt, das 1939 unter seiner Mitredaktion erschienen ist. 20 In der ersten wissenschaftlichen Gesamtdarstellung der Geschichte der U d S S R verfaßte er wesentliche Teile über das 9.—13. J h . ; der betreffende Band dieses Werkes liegt auch in deutscher Ubersetzung vor. 2 1 Im Zusammenhang mit der Geschichte der Alten Rus' insgesatnt sind die Probleme der Genesis des Staates seit dem 18. Jh. immer wieder diskutiert worden. Die adlige und bürgerliche Geschichtsschreibung betrachtete das "Entstehen des Staates vorwiegend als einen einmaligen Schöpfungsakt. J e nachdem, ob man hierbei normannischen Kriegern eine hervorragende Rolle beimaß oder aber die Gründer des Staates in anderen Gebieten suchte, unterschieden sich zwei "einander heftig befehdende Parteien: die „Normannisten" und die „Antinormannisten". Die strittigen Fragen veranlaßten eine systematische Durchforschung der gesamten einschlägigen Überlieferung, nicht nur der russischen Quellen; es wurden viele kluge und richtige Gedanken in diesen Auseinandersetzungen geäußert, zugleich spielten aber auch häufig nationale Emotion und politische Polemik eine recht unangenehme Rolle. Eine prinzipielle Lösung der aufgeworfenen Problematik ist nur auf marxistischer Grundlage möglich — dabei verliert die ursprünglich in den Vordergrund gerückte Frage nach der Herkunft der „Gründer" des altrussischen Staates ihre Bedeutung; die marxistische Geschichtswissenschaft faßt das Entstehen des Staates nicht als einen einmaligen Schöpfungsakt, sondern als einen langwierigen sozialökonomischen Prozeß auf. 22 Ausführlich hat Grekov seine Auffassungen zu diesen Fragen in der kleinen, auch in deutscher Fassung vorliegenden Monographie über den Kampf Rußlands um die Entstehung seines Staates 23 sowie in zwei, 1947 bzw. 1950 erschienenen Rezensionen 2/1 dargelegt. In der erstgenannten Rezension hat er die Grundhaltung herausgearbeitet, die auch heute von der sowjetischen Forschung zu dieser Problematik vertreten wird. Grekov schrieb: „Die Rolle der Waräger in Europa im 9. Jh. ist gut bekannt . . . Aber von der Anerkennung dieser Tatsache ist es ein weiter Schritt zu der Behauptung, daß angeblich Rurik 832 den russischen Staat gegründet habe. Die staatliche Entwicklung Rußlands begann in der Rus' wie auch'bei anderen Völkern auf'einer bestimmten Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung. Rurik traf in Novgorod eine bereits bestehende staatliche Organisation an." 25 Vgl. Istorija SSSR, Bd. I: S drevnejsich vremen do konca XVIII v., Moskau 1939, über den Anteil Grekovs vgl. Spisok naucnych trudov, S. 27. 21 Vgl. Ocerki istorii SSSR. Period feodalizma IX—XV vv. v dvuch castjach, Teil I, Moskau 1953; deutsche Ausgabe: Geschichte der UdSSR I, Feudalismus 9.—13. Jh., Erster Halbband, Berlin 1957, vgl. S. 23. -- Vgl. P. Hoff mann, Deutsch-russische Beziehungen auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaft im 18. Jh. und ihre Bedeutung für die Gegenwart, in: Verbündete in der Forschung, Berlin 1976, S. 89ff.; I. P. Sashol'skij, Die Normannentheorie in der sowjetischen Geschichtsschreibung, in: Jahrbuch für Geschichte der sozialistischen Länder Europas, Bd. 21/2, Berlin 1977, S. 150ff. 23 B. D. Grekov, Der Kampf Rußlands um die Entstehung seines Staates, Leipzig 1948 (russische Ausgabe 1945). 24 Vgl. B. D. Grekov, O roli varjagov v istorii Rusi (po povodu stat'i svedskogo professora Tura Arne), in: Novoe vremja 1947, Nr. 30, S. 12ff.; ders., Antinaucnye izmyslenija finskogo professora, in: Literaturnaja gazeta 1950, Nr. 46 (Nachdruck in: Grekov, Izbr. trudy, Bd. II, S. 554ff., S. 559ff.). 25 Grekov, O roli varjagov, Izbr. trudy, Bd. II, S. 558.
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In seiner letzten Schaffensphase beschäftigte sich Grekov überwiegend mit einer vergleichenden Erforschung der alten slawischen Rechte. 1948 legte er als erste Arbeit in dieser Richtung seine Untersuchung über das Statut des kleinen chorvatischen Fürstentums Vinodol vor, das im 13. Jh. aufgezeichnet worden war. 26 1951 folgte die (1961 auch in deutscher Fassung erschienene) Monographie über die gesellschaftlichen Verhältnisse in der altkroatischen Republik Poljica. 27 Seine letzte Monographie zu diesem Themenkreis, die Untersuchung zum Polnischen Recht des 13. Jh., wurde 1957 aus dem Nachlaß im ersten Band seiner ausgewählten Werke veröffentlicht. 28 Die vergleichende Erforschung der alten slawischen Rechte war für Grekov ein wesentlicher Schritt zur Aufhellung der gesellschaftlichen Verhältnisse bei den Slawen in der Frühzeit. Gleichartige juristische Institutionen und gleichartige Formen des Gewohnheitsrechtes bei verschiedenen, räumlich recht weit auseinander lebenden slawischen Völkerschaften lassen nicht nur Schlüsse auf die gemeinsame Herkunft, sondern auch auf gleichartige historische Bedingungen der sozialökonomischen Entwicklung zu. Von seinem umfassenden Arbeitsprogramm hat Grekov nur einen Teil verwirklichen können. 29 Wenn wir in der DDR das Wirken Grekovs würdigen, dann nicht zuletzt deshalb, weil seine in deutscher Übersetzung erschienenen Schriften bei der Herausbildung einer marxistischen Mediävistik in der DDR eine wichtige Rolle spielten. Die komplexe Erforschung von Problemen der mittelalterlichen Geschichte unter Einbeziehung von Archäologie, Kunstgeschichte, Ethnographie und Volkskunde, Sprachwissenschaft, Rechtsgeschichte usw., wie sie Grekov in seinen Werken demonstrierte, gab wesentliche Anregungen zur Überwindung der traditionellen, für die bürgerliche deutsche Forschung charakteristischen Grenzen. Grekov hatte am Beispiel der Geschichte der Alten Rus' die neuen Probleme sichtbar gemacht, die die marxistische Forschung bei der Untersuchung der Genesis und Entwicklung des Feudalismus für jede Region, für jedes Land gesondert herausarbeiten und lösen muß. Damit wurden auch für die Erforschung des deutschen Mittelalters neue Fragen aufgeworfen, die über den bisherigen Horizont mediävistischer Forschung hinausgriffen. Für die deutsche Mittelalterforschung bedeutete es deshalb eine zu beachtende Zäsur, als 1964 auf einer Konferenz erstmals von Müller-Mertens Forderungen an die Archäologie zur Unterstützung der mediävistischen Forschung formuliert wurden. 30 Mit seinen bahnbrechenden Leistungen bei der Erforschung von Genesis und Ent" wicklung feudaler Verhältnisse bei den slawischen Völkern hat sich Grekov bleibende Verdienste erworben. Zugleich teilt sein Werk das Schicksal aller Bahnbrecher: Seine 211
B. D. Grekov, V i n o d o l ' s k i j Statut o b o b s c e s t v e n n o m i p o l i t i c e s k o m s t r o e V i n o d o l a , Moskau/Leningrad 1 9 4 8 , N a c h d r u c k i n : Grekov, Izbr. t r u d y , B d . I, S. 3 1 f f . B. D. Grekov, Polica. O p y t izucenija o b s c e s t v e n n y c h o t n o s e n i j v Police X V — X V I I v v . , M o s k a u 1 9 5 1 , N a c h d r u c k i n : Grekov, Izbt. t r u d y , Bd. I, S. 1 0 9 f f . ; B. D. Grekov, D i e altkroatische R e p u b l i k Poljica. Studien zur Geschichte der gesellschaftlichen V e r h ä l t n i s s e der Poljica v o m 1 5 . bis 1 7 . J h . , Berlin 1 9 6 1 .
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Grekov, Izbr. t r u d y , B d . I, S. 2 6 5 f f . V g l . r e d a k t i o n e l l e B e m e r k u n g e n i n : Grekov,
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Izbr. t r u d y , B d . I, S. 1 7 .
V g l . E. Müller-Mertens, D i e Genesis der Feudalgesellschaft im Lichte schriftlicher Q u e l l e n . Fragen an die A r c h ä o l o g i e , i n : Zeitschrift f ü r G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t 1 2 ( 1 9 6 4 ) , H. 8, S. 1 3 8 4 f f .
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Gesamtkonzeption und wesentliche Details seiner Forschungen behalten ihre volle Gültigkeit; einzelne Schlußfolgerungen erwiesen sich als nicht genügend begründet, manches Detail muß eingehender erforscht werden. In den fast drei Jahrzehnten seit seinem Tode sind viele neue Angaben zusammengetragen worden, neue Fragestellungen haben zu neuen Forschungen geführt, manches in Grekovs Schriften ist ergänzt oder berichtigt, einzelnes auch als überholt oder verfehlt ausgeschieden worden; insgesamt hat aber sein Werk die Prüfungen der Zeit bestanden.
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Die Petersburger Akademie der Wissenschaften in den interakademischen Beziehungen 1899 bis 1915 CONRAD GRAU
Die Auslandsbeziehungen der Petersburger Akademie der Wissenschaften datieren seit deren Begründung im Jahre 1724. 1 Sie sind stets integraler Bestandteil sowohl der Geschichte dieser Institution als auch der wissenschaftlichen Auslandskontakte Rußlands gewesen. Darüber hinaus ordneten sie sich immer in den Kontext der interakademischen Beziehungen und damit in den zwischenstaatlichen Austausch der Wissenschaftler ein, dessen weitere Erforschung im Rahmen der vergleichenden Akademiegeschichte ein fruchtbares Arbeitsfeld bietet. Bereits vorliegende materialreiche Publikationen über die bilateralen Akademie- und Wissenschaftsbeziehungen Rußlands, von denen die zu England 2 , Frankreich 3 und zur Berliner Akademie 4 nur als Beispiele herausgegriffen werden sollen, erweisen mit aller Deutlichkeit, daß Arbeiten auf diesem Gebiet der Beziehungsgeschichte zugleich Beiträge zum besseren Verständnis der Entwicklung in den beteiligten Ländern zu leisten vermögen. Seit dem 19. Jh. läßt sich deutlich die Tendenz beobachten, institutionalisierte Formen der internationalen Zusammenarbeit der Wissenschaftler zu schaffen. Sie lösten ältere Formen wie den Briefwechsel, die wechselseitigen Wahlen zu Mitgliedern wissenschaftlicher Institutionen und die Publikation bzw. die Rezeption erzielter Forschungsergebnisse des einen Landes in anderen Ländern nicht ab, sondern ergänzten sie. Dem persönlichen Meinungsaustausch der Wissenschaftler dienten beispielsweise die seit 1822 stattfindenden Versammlungen deutscher Naturforscher und Ärzte und die seit 1831 durchgeführten Kongresse der British Association for the advancement of science, an denen auch ausländische Gäste teilnahmen. In der Folgezeit kam es dann zur Durchführung erster internationaler Kongresse, etwa der Geographen 1871 in Antwerpen und der Orientalisten 1873 in Paris. Es wurden aber auch schon internationale Gemeinschaftsunternehmen in Angriff genommen, so die seit 1864 betriebene zunächst mitteleuropäische Gradmessung, deren Leitung bei dem 1870 gegründeten Geodätischen Institut in Potsdam lag. 1882/83 wurde das 1. Internationale Polarjahr durchgeführt, an dem sich Belgien, Dänemark, Deutschland, England, Frankreich, Holland, Norwegen, Österreich1
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Vgl. Istorija Akademii nauk SSSR, Bd. I, II, Moskau/Leningrad 1958,1964; G. D. Komkov/B. V. Levsmj L. K. Semeaov, Geschichte der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, hg. u. bearb. v. C. Grau, Berlin 1981. Vgl. M. I. Kadovskij, Iz istorii anglo-russkich naucnych svjazej, Moskau/Leningrad 1961. Russko-francuzskie naucnye svjazi, Leningrad 1968. Vgl. Russko-germanskie naucnye svjazi mezdu Akademiej nauk SSSR i Akaderaiej nauk GDR 1700— 1974, Moskau 1975.
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Ungarn, Rußland, Schweden und die USA — also elf Länder — beteiligten. Die Wissenschaft wurde damit zu einem Faktor der zwischenstaatlichen Beziehungen. 5 Den sozialökonomischen Hintergrund für diese am Ausgang des Jahrhunderts an Intensität gewinnende Tendenz bildete die bürgerliche Gesellschaftsordnung. Bereits Marx und Engels hatten im „Manifest der Kommunistischen Partei" festgestellt: „An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich . . ." 6 Es handelte sich dabei um einen objektiven gesellschaftlichen Prozeß, „denn das gesamte wirtschaftliche, politische und geistige Leben der Menschheit wird schon im Kapitalismus immer mehr internationalisiert", wie W. I. Lenin formuliert hat. 7 Auch das Streben nach wissenschaftlicher Zusammenarbeit der Akademien der Wissenschaften in neuen, über die traditionellen Formen wissenschaftlicher Einzelkontakte hinausgehenden Formen trat nicht zufällig in der Übergangsperiode zum Imperialismus verstärkt hervor. Der Kapitalismus hatte den Weltmarkt hervorgebracht;Lenin wies in seiner Imperialismus-Analyse auf die „ Schaffung des internationalen Netzes der Abhängigkeiten und der Verbindungen des Finanzkapitals" hin, auf die „Bildung von internationalen Kartellen". 8 In diesen Internationalisierungsprozeß 9 , der zugleich eine Form des Konkurrenzkampfes unter den imperialistischen Staaten war, wurden zunehmend auch die Wissenschaft und ihre Organisationen einbezogen, wenngleich den geistigen Vätern einer Vereinigung der Akademien, an die sie große Hoffnungen knüpften 10 , die genannten objektiven gesellschaftlichen Hintergründe verborgen bleiben mußten. Bereits 1893 hatten sich die Akademien und Gesellschaften der Wissenschaften in Göttingen, Leipzig, München und Wien zum „Verband der wissenschaftlichen Körperschaften", dem sogenannten Kartell, zusammengeschlossen. Von diesem ging in Gemeinschaft mit der Royal Society in London 1898 die Anregung aus, eine umfassendere Organisation zu schaffen, insbesondere durch die zusätzliche Einbeziehung der Akademien in Berlin, Paris, Petersburg und Rom. Bereits am 6. März 1899 konnte die Royal Society der Wiener Akademie als Ergebnis ihrer Erkundungen mitteilen, daß die Akademien in Paris, Petersburg und Rom den Vorschlag zur Bildung einer Assoziation der wichtigsten wissenschaftlichen Akademien der Welt gebilligt hätten. Auch Amerika hätte Interesse bekundet. 11 E. D. Lebedkina, Mezdunarodnyj sovet naucnych sojuzov i Akademija nauk SSSR, Moskau 1974, bietet einen gedrängten Überblick über die Herausbildung der internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit seit dem 19. Jh. 7 W. I. Lenin, Werke, Bd. 19, S. 237. ß K. MarxjF. Engels, Werke, Bd. 4, S. 466. 8 IV. I. Lenin, Werke, Bd. 22, S. 244, 250. 9 Vgl. Wissenschaft im Klassenkampf, Berlin 1968, S. 217f. 1 0 So formulierte z.B. der englische Astronom Arthur Schuster, Mitglied der Royal Society: „Nature itself has rendered such an Organization necessary." The Manchester Guardian, 17. 10. 1899, S. 12. Der russische Botaniker A. S. Famincyn schrieb: „Ich will hoffen, daß unsere Sache glücklich in Erfüllung geht und daß die in Wiesbaden im Interesse der Wissenschaft angeknüpften Bekanntschaften uns einander immer näher bringen werden." A. S. Famincyn an Berliner Akademie, 23. 10. 1899. Zentrales Archiv der-Akademie der Wissenschaften der DDR ( A A W ) II: VI a 17 Bd. 1, Bl. 1 6 5 - 1 6 5 r. « A A W II: VI 17 Bd. 1, Bl 10: Royal Society an Wiener Akademie, 6. 3. 1899 (Abschrift): „have all expressed their approval of the suggestion for the formation of an Association between the principal scientific Academies of the world". 5
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Die Vorbereitungen für die Gründung einer solchen Organisation wurden im Mai 1899 der Preußischen Akademie in Berlin übertragen und die Gründungsversammlung für Oktober 1899 nach Wiesbaden einberufen. Seitens der Berliner Akademie, die insgesamt starken Einfluß auf die Arbeit der Assoziation nahm, waren der Altertumswissenschaftler Hermann Diels (1848—1922) und der Mediziner Wilhelm von WaldeyerHartz (1836—1921) die ständigen Vertreter in der IAA. Beide waren seit 1896 bzw. seit 1894 Korrespondierende Mitglieder der Petersburger Akademie. Der Historiker und Ständige Sekretär der Petersburger Akademie, Nikolaj Fedorovic Dubrovin (1837— 1904), teilte der Berliner Akademie im September 1899 mit, daß die von ihm vertretene Akademie ihre Mitglieder A. S. Famincyn und K. G. Zaleman als Vertreter entsenden würde. Bereits im Juni 1899 hatte er vorbehaltlich der erst nach der Wiederaufnahme der Akademiesitzungen nach den Semesterferien im September endgültig zu treffenden Entscheidung die voraussichtliche Unterstützung der Akademie in Petersburg zugesagt. 1 2 Die Geschichte der 1899 gegründeten Internationalen Assoziation der Akademien (IAA) ist noch nicht geschrieben. 1 3 Die Assoziation ist niemals formal aufgelöst worden, sie hörte während des ersten imperialistischen Weltkrieges de facto zu bestehen auf. Sie gilt als Vorgängerin des 1918 gegründeten Internationalen Forschungsrates (International Research Council — IRC), der 1931 die Bezeichnung Internationaler Rat wissenschaftlicher Unionen (International Council of Scientific Unions — ICSU) annahm und gegenwärtig als eine der umfassendsten internationalen Wissenschaftsorganisationen wirkt. In der neuesten sowjetischen Monographie über den ICSU wird die Assoziation deshalb folgerichtig auch mehrfach erwähnt. 1 4 Das Wirken der IAA ist Bestandteil der Geschichte der internationalen Wissenschaftsorganisation im Imperialismus; der spezifische Anteil der Petersburger Akademie muß sehr stark unter dem Gesichtspunkt der Wirkungsgeschichte der russischen Wissenschaft im Ausland gesehen werden. Die folgenden Ausführungen stützen sich im wesentlichen auf"Archivalien und auf Druckschriften der Assoziation. Nach der Gründungsversammlung im Oktober 1899 in Wiesbaden 1 5 fanden insgesamt fünf Generalversammlungen statt, die in einem dreijährigen Turnus einberufen wurden, und zwar 1901 in Paris 16 , 1904 in London 1 7 , 1907 in 12 13
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Ebenda, Bl. 53, 1 0 3 : N. F. D u b r o v i n an Berliner Akademie, 10. 6. 1899, 9. 9 . 1 8 9 9 . V g l . H. His, Zur Vorgeschichte des Deutschen Kartells und der Internationalen Assoziation der A k a demien, in: Berichte über die Verhandlungen der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig. Mathematisch-physische Klasse, Bd. 54, Leipzig 1902, S. l f f . der 2. Paginierung; K. Tb. v. Heige/, Die A n f ä n g e des Weltbundes der Akademien, München 1907 ; E. Suess, Erinnerungen, Leipzig 1916,' S. 4 1 8 f f . ; W.v. Waldeyer-HartLebenserinnerungen, 2. A u f l . , Bonn 1921, S. 2 2 3 f f . ; über die Arbeit der Berliner Akademie in der Assoziation vgl. Die Berliner Akademie der Wissenschaften in der Zeit des Imperialismus, T. 1, veti. v. C. Grau. Leitung der Arbeiten und Gesamtred. L. Stern, Berlin 1975, S. 9 9 f f „ 1 9 9 f f . Lebedkina, Mezdunarodnyj sovet, S. 24, 32f., 54. Vgl. Protokoll über die Konferenz in Wiesbaden behufs Gründung einer Internationalen Assoziation der Akademien. 9. und 10. Oktober 1 8 9 9 = A A W II: V I a 17 Bd. 1. Ass. Int. des Académies. Première Assemblée Générale, tenue à Paris du 16 au 20 avril 1 9 0 1 , sous la direction de l'Académie des Sciences de l'Institut de France. Compte rendu. Procès-Verbeaux des séances, Paris 1901, 66 S. = A A W II : V I a 17 Bd. 2. Zit.: Compte rendu, 1 9 0 1 . Vgl. auch H. Diels, Internationale Assoziation der Akademien zu Paris, in: Deutsche Revue, 26, 1903, Bd. 3, S. 3 4 4 f f . ; A. S. Famincyn, Pervyj S-ezd Mezdunarodnoj Associacii Akademij, in: Mir bozij, 11, 1902, Nr. 1, S. 158 f f . Int. Ass. of Academies. Second General Assembly, held in London, May 25—27, 1904, under the Direction of the Royal Society of London. Report of the Proceedings, London 1904, 80 S. = A A W II : V I a 17 Bd. 3. Zit.: Report, 1904.
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Wien 1 8 ,1910 in Rom 1 9 und'1913 in Petersburg 20 . Die für 1916 in Berlin vorgesehene Ver-. Sammlung trat unter denBedingungen des imperialistischen Krieges nicht mehr zusammen. Zwischen den Generalversammlungen tagten nach Bedarf Beratungen (Komitee- oder Ausschußsitzungen) von Vertretern interessierter Akademien, die auch regelmäßigen schriftlichen Kontakt untereinander über die Angelegenheiten der Assoziation hielten. Gründungsmitglieder der Assoziation waren die zehn Akademien und Gesellschaften der Wissenschaften in Berlin, Göttingen, Leipzig, London (Royal Society), München, Paris (Académie des Sciences), Petersburg, Rom, Washington und Wien. Zur Beteiligung an den Arbeiten wurden von der Gründungsversammlung weitere neun Akademien eingeladen, die nach ihrer wissenschaftlichen Bedeutung ausgewählt wurden und die der Assoziation auch beitraten. Es handelte sich um die Akademien in Amsterdam, Brüssel, Budapest, Christiania (Oslo), Kopenhagen, Madrid, Paris (Académie des Inscriptiofas et Belles-Lettres und Académie des Sciences morales et politiques) und Stockholm. Weiterhin wurden in der Folgezeit noch fünf Akademien aufgenommen, wofür entsprechend den Statuten eine Zweidrittelmehrheit erforderlich war. Das waren 1904 die British Academy in London, 1907 die Akademie in Tokio, 1910 die Société Helvétique des Sciences naturelles (Schweizerische Naturforschende Gesellschaft) in Genf sowie 1913 die Royal Society in Edinburgh und die Societas Scientiarum Fennicae in Helsingfors (Helsinki). Damit gehörten der IAA zuletzt 24 Akademien an, davon nur zwei außereuropäische. Die Assoziation war folglich vorrangig eine europäische Vereinigung. Ihre Geschäftsführung lag für jeweils drei Jahre bei derjenigen Akademie, die mit der Vorbereitung der kommenden Generalversammlung beauftragt worden war. Die Arbeiten der Assoziation erfolgten in den Sektionen für Naturwissenschaften (Sciences) und für Gesellschaftswissenschaften (Lettres). In Abhängigkeit von den Arbeitsbereichen der einzelnen Akademien wurden die meisten in beiden Sektionen tätig. Das betraf die Akademien in Amsterdam, Berlin, Brüssel, Budapest, Christiania, Göttingen, Kopenhagen, Leipzig, München, Petersburg, Rom, Tokio und Wien. Ausschließlich im naturwissenschaftlichen Bereich arbeiteten die Akademien und Gesellschaften in Genf, London (Royal Society), Madrid, Paris (Académie des Sciences), Stockholm und Washington. Nur an den gesellschaftswissenschaftlichen Arbeiten beteiligten sich die Akademien in London (British Academy) und Paris (Académie des Inscriptions, Académie des Sciences morales et politiques). Die Akademien in Edinburgh und Helsingfors wurden in der Assoziation nicht mehr wirksam. Entsprechend Paragraph 3 des Statuts stellte sich die Assoziation die folgende Aufgabe: „Die Assoziation hat den Zweck, wissenschaftliche Unternehmungen von allgemeinem Interesse, welche von einer der vereinigten Akademien vorgeschlagen werden, vorzubereiten und zu fördern, und sich über Einrichtungen zur Erleichterung des wissenschaftlichen Verkehrs zu verständigen." 21 Int. Ass. der Akademien 29. Mai bis 2. Juni 1907. Dritte Generalversammlung in Wieji v o m 29. Mai bis 2. Juni 1907 unter dem Vorsitze der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien. Bericht über die Verhandlungen, W i e n 1907, 50 u. I X S. = A A W II : V I a 17 Bd. 4. Zit. : Bericht, 1907. 1 9 Ass. Int. delle Accademie. Relazione delle adunanze tenute in Roma dall'Associazione internazionale delle Accademie nei giorni 9—15 maggio 1 9 1 0 nella sede della R. Accademia dei Lincei, Roma 1 9 1 1 , 70 S . = A A W II : V I a 1 7 Bd. 5. Zit.: Relazione, 1 9 1 0 . 2 0 Actes de la cinquième session de 1'Association internationale des Académies, St. Pétersbourg, 1 9 1 3 , St. Pétersbourg 1914, 156 S. = A A W II : V I a 17 Bd. 6. Zit.: Actes, 1 9 1 3 . 21 A A W II : V I a 17 Bd. 1, Bl. 1 3 4 - 1 3 4 r. 18
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An den einzelnen Unternehmen der IAA, die durch entsprechende Beschlüsse der Generalversammlung in den Arbeitsplan aufgenommen wurden, waren jeweils nur die interessierten Akademien beteiligt, also in keinem Falle alle 24 Mitgliedsakademien. Keiner der Sektionen zugeordnet war die bereits seit 1901 von der Académie des Sciences und der Académie des Sciences morales et politiques in Paris sowie der Berliner Akademie in Angriff genommene Ausgabe der Werke und Briefe von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646—1716), des Gründers und ersten Präsidenten der Berliner Akademie und Mitglieds der Académie des Sciences. 22 Von 1901 bis 1913 hat die IAA weitere 19 Unternehmen auf natur- und 11 auf gesellschaftswissenschaftlichem Gebiet betrieben oder unterstützt. Das waren insgesamt 31 Arbeitsgebiete, denen sich die Assoziation mit allerdings unterschiedlicher Intensität gewidmet hat. Freilich muß festgestellt werden, daß nur ein Unternehmen, die 1904 begonnene Magnetische Messung eines Breitenkreises, als einziges Vorhaben bedingt zum Abschluß gebracht werden konnte, vor allem auch dank der intensiven Mitarbeit der Petersburger Akademie. Einige Unternehmen sind nach dem Ende des ersten Weltkrieges in veränderter Form weitergeführt worden. Die Akademie der Wissenschaften in Petersburg gehörte nicht nur zu den Gründungsmitgliedern der Assoziation, sondern auch von Anfang an zu den aktivsten Mitwirkenden. Wie die anderen Akademien war auch die Petersburger nicht an allen Unternehmen der IAA direkt beteiligt. In einigen arbeitete sie intensiv mit, andere hat sie mehr indirekt gefördert. Von den Mitgliedern der Petersburger Akademie waren etwa 20 unmittelbar an den Arbeiten der IAA beteiligt 23 , davon allerdings acht nur als Mitglieder der Delegation zur Generalversammlung 1913 in Petersburg, auf der die russische Delegation natürlich die größte war. Diese acht Mitglieder waren der Astronom Aristarch Appollonovic Belopol'skj (1854-1934), der Physiker Boris Borisovic Golicyn (1862-1916), der Zoologe Nikolaj Viktorovic Nasonov (1855—1939) und der Chemiker Paul Waiden (Pavel Ivanovic Val'den, 1863—1957), der Slawist Filipp Fedorovic Fortunatov (1848—1914), der Orientalist Pavel Konstantinovic Kokovcov (1861—1942), der Historiker und Philologe Vasilij Vasil'evic Latysev (1855—1921) und der klassische Philologe Petr Vasil'evic Nikitin (1849—1916). Zur Delegation von 1913 gehörten weitere sechs Akademiemitglieder, die gesondert genannt werden müssen, da sie wie A. S. Famincyn, der 1913 nicht teilnahm, über mehrere Jahre mit der Arbeit der IAA verbunden waren. Der Begründer der Pflanzenphysiologie in Rußland, Andrej Sergeevic Famincyn (1835—1918), war von 1899 bis 1904 offizieller Vertreter seiner Akademie in der naturwissenschaftlichen Sektion der IAA. Sein Nachfolger ab 1907 wurde der Astronom Oskar (Andreevic) Backlund (1846—1916), bedeutender Forscher auf dem Gebiet der Himmelsmechanik und der Geodäsie und Direktor der Sternwarte Pulkovo. Er hatte schon 1901 an der Generalversammlung in Paris teilgenommen. Als weitere Naturwissenschaftler wirkten in der IAA der bedeutende Geologe und Paläontologe Feodosij 22
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Die Angaben über die Unternehmen erfolgen nach den gedruckten Berichten über die Generalversammlungen, wobei in der Regel die deutschen Bezeichnungen verwendet werden. V g l . über diese und weitere noch zu nennende Mitglieder: Akademija nauk S S S R . Personal'nyj sostav, Bd. 1, 2, Moskau 1974, sowie Istorija Akademija nauk SSSR, Bd. II, passim nach dem Namensregister. Über die Arbeit der Petersburger Akademie als Institution in der Assoziation die kurzen Hinweise ebenda, S. 4 7 0 f . Der Berliner Akademie hat die Petersburger Akademie ihren Beitritt offiziell am 3. 2. und am 3. 3. 1900 mitgeteilt und Famincyn und Zaleman als Vertreter benannt. A A W II : V I a 17 Bd. 1, Bl. 271, 283.
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Nikolaevic Cernysev (1856—1914), der 1910 und 1913 an den Generalversammlungen teilnahm, und vor allem der hervorragende Physiker und Meteorologe Michail Aleksandrovic Rykacev (1840—1919), der in dem Unternehmen der IAA „Magnetische Messung eines Breitengrades" mitarbeitete und seit 1907 — in der Nachfolge des deutschen Physikers und Meteorologen Wilhelm von Bezold (1837—1907) — deren Leitung übernahm. Der offÌ2Ìelle Vertreter der Petersburger Akademie für die Gesellschaftswissenschaften in der IAA war der Orientalist Karl Germanovic Zaleman (1849—1916), der Bedeutendes auf dem Gebiet der iranischen Philologie geleistet hat. Er nahm außer im Jahre 1901 aktiv an allen Generalversammlungen teil. Im Jahre 1901 trat an seine Stelle der hervorragende Orientalist Sergej Fedorovic Ol'denburg (1863—1934), der auch als Wissenschaftsorganisator in der russischen und der sowjetischen Akademie wirksam gewesen ist: er war von 1904 bis 1929 Ständiger Sekretär der Akademie. Zweimal — 1910 und 1913 — war der Historiker Aleksandr Sergeevic Lappo-Danilevskij (1863—1919) einer der Vertreter der Petersburger Akademie in der Assoziation. Schon dieses große personelle Aufgebot führender Wissenschaftler für die Arbeit in der IAA zeigt, welchen hohen Stellenwert die Akademie in Petersburg der Assoziation beimaß. Noch deutlicher offenbart er sich im direkten Mitwirken dieser Akademie in den Unternehmen der Assoziation, wobei auch die naturwissenschaftlichen erwähnt werden müssen, um die Breite der Zusammenarbeit zu dokumentieren. Dabei ist zugleich zu berücksichtigen, daß über die Assoziation nur ein Teil der wissenschaftlichen Auslandsbeziehungen Rußlands dieser Zeit realisiert wurde. Die veröffentlichten Protokolle der Akademiesitzungen in Petersburg und die recht regelmäßig publizierten Reiseberichte russischer Akademiemitglieder vermitteln zusätzlich wesentliche Einblicke in die Füile ihrer internationalen Kontakte. Besonders hingewiesen werden muß auf den Anteil der Akademie am „Internationalen Katalog der wissenschaftlichen Literatur" 2/>, den die Assoziation, obwohl er ein selbständiges Unternehmen war, seit 1904 förderte. Die Arbeiten an der Ausgabe der Werke von G. W. Leibniz, der durch seine Überlegungen und Pläne den Akademiegedanken stark gefördert hatte, wollte die Petersburger Akademie durch die Sammlung von Leibnitiana in Rußland, biographische Arbeiten und Forschungen über den Einfluß von Leibniz und seiner Philosophie in Rußland unterstützen. In der Begründung der Akademie für diese geplanten Bemühungen hieß es, wobei der Hinweis auf Aleksandr Nikolaevic Radiscev (1749—1802) besonders kennzeichnend ist: „Es ist nicht allein die große Rolle, die Leibniz im Jahrhundert der Aufklärung' in Westeuropa gespielt hat, es sind auch die Beziehungen des Philosophen zu Peter dem Großen, sein Einfluß auf dessen Reformen und auf die Gründung der Akademie in Petersburg sowie die Einwirkung der Leibnizschen Philosophie auf einige der ausgezeichnetsten russischen Schriftsteller des 18. Jh. (Radiscev), die das Interesse der Akademie in Petersburg an dem Unternehmen der Akademie in Berlin und der Akademien des Institut de France wecken." 25 Große Aktivität entfaltete die Petersburger Akademie im Bereich der naturwissen24
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A. M. Sorkin, Zur Entstehungsgeschichte des „International Catalogue of Scientific Literature", in: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Naturwissenschaften, Technik und Medizin, 1, o. J., H. 4, S. 67ff. A A W II : VI a 17 Bd. 3, Bl. 56ff.=Académie Impériale des Sciences à St. Pétersbourg. Propositions présentées à l'Assemblée Générale de l'Association Internationale des Académies à Londres le 23—24 Mai en 1904, S. 1 : „Ce n'est pas seulement le grand rôle, qu'a joué Leibniz au ,siècle des lumières' dans l'Europe occidentale, ce sont aussi les relations du philosophe avec Pierre le Grand, son influence sur
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schaftlichen Unternehmen der Assoziation, auf die hier allerdings nur kurz eingegangen werden kann. Die 1901 gegründete Kommission für Gehirnforschung (Brain Commission) unter ihrem langjährigen Leiter Waldeyer sah als eine ihrer Hauptaufgaben an, auf die Gründung von Instituten für die Erforschung des Zentralnervensystems in den in der Assoziation vertretenen Ländern hinzuwirken. In ihr waren von russischer Seite u. a. der Neurologe, Psychiater, Psychologe und Physiologe Vladimir Michajlovic Bechterev (1857-1927) und der Histologe Aleksandr Stanislavovic Dogel' (1852-1922) tätig. Beide waren Professoren in Petersburg; Dogel', seit 1894 Korrespondierendes Mitglied der Petersburger Akademie, wurde 1912 Vizepräsident der Kommission. 2ii Weiterhin setzten sich der Neuropathologe und Neurohistologe Liverij Osipovic Darksevic (1858—1925) in Kazan' und der Neuropathologe Vladimir KarlovicRot (1848— 1916) in Moskau als führende Fachleute auf ihrem Spezialgebiet für die Kommission ein. 27 In der Akademie vertrat der berühmte Physiologe Ivan Petrovic Pavlov (1849— 1936) deren Anliegen. 28 Das vonBechterev 1908 in Petersburg auf Initiative der Akademie gegründete Psychoneurologische Institut, dessen Direktor er war, wurde bereits 1909 von der Assoziation neben anderen Instituten als internationales Hirnforschungsinstitut anerkannt. 29 Die Arbeiten der russischen Wissenschaftler auf dem Gebiet der höheren Nerventätigkeit wurden somit auch über die IAA international wirksam. 30 In noch höherem Maße galt das für die Arbeiten, die die Kommission für die Magnetische Messung eines Breitenkreises durchführte. Sie hatte im Zusammenhang mit der Gaußschen Theorie des Erdmagnetismus vor allem die Aufgabe, zu untersuchen, „welches die besten Methoden sind, um magnetische Beobachtungen auf der See mit der erforderlichen Genauigkeit anzustellen, in der Absicht, eine magnetische Aufnahme längs eines ganzen Breitengrades durchzuführen". 31 Nachdem der Initiator der Arbeiten, W. v. Bezold, 1907 gestorben war, übernahm M. A. Rykacev die Leitung der Kommission. 32 Er wirkte eng mit dem Potsdamer Geodäten Robert Helmert (1843—1917) zusammen, der die Berliner Akademie seit 1907 in der Kommission vertrat. 33 Die außerordentliche Aktivität Rykacevs macht nicht nur sein Bericht an die Beratung der Assoziation 1909 in Rom deutlich, in dem er über die magnetischen Beobachtungen in Rußland informierte 34 , sondern auch der folgende Hinweis von Helmert 1910: „Das ses réformes et l'institution de l'Académie de St. Pétersbourg, de même que l'ascendant de la philosophie leibnizienne sur quelques écrivains russes des plus distingués, du X V I I I siècle (Radichtchev), qui intéressent l'Académie des Sciences de St. Pétersbourg à l'entreprise de l'Académie de Berlin et des Académies de l'Institut de France." — Über Leibniz-Materialien in Rußland vgl. Katalog pisem i drugich materialov zapadnoevropejskich ucenych i pisatelej X V I — X V I I I v v . iz sobranija P. P. D u brovskogo, Leningrad 1963. 2 6 Arbeiten aus dem Neurologischen Institut an der Wiener Universität, X X , 1913, S. 4. 2 7 A A W II : V i a 17 Bd. 4, Bl. 1 1 1 = Int. Ass. der Akademien. Zweiter Vorbericht enthaltend die Darstel 7 lung des Standes der Verhandlungen der Int. Ass. der Akademien v o m 1. Juni 1906 bis zum 15. April 1907, W i e n 1907, S. 9. ( 2 8 Izvestija imp. Akademiinauk. V I serija'(Izvestija), 3, 1909, S. 222. 2 9 Arbeiten aus dem Neurologischen Institut, XVIII, 1910, S. 4 0 2 f . 30 Vgl. Izvestija, 6, 1912, S. 494. 31 Report, 1904, S. 18. 3 2 Izvestija, 1, 1907, S. 6 1 7 f . , vgl. auch ebenda, 2, 1908, S. 973. 33 A A W II : V I a 1 7 Bd. 4, Bl. 1 3 7 - 1 4 6 . 3 4 Ass. Int. delle Accademie. Relazione delle adunanze tenute in Roma dal Comitato nei giorni 1—3 giugno 1909 nelle sede della R. Accademia deiLincei, Roma 1909, S. 29 = A A W II : V I a 17 Bd. 5. Zit.: Relatione, 1909. Vgl. auch Izvestija, 3, 1909, S. 1 0 7 5 f .
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magnetische Unternehmen ist durch russische und nordamerikanische Arbeiten im beobachteten [beobachtenden!] Teile zu einem gewissen Abschluß gelangt, hat also bereits einen gewissen Erfolg zu verzeichnen." 35 Diese Aussage deckt sich vollständig mit einem russischen Bericht, in dem es hieß: „Für die Ausführung des internationalen Unternehmens, betreffend die magnetischen Messungen längs einem Parallelkreise um die Erde, kann der auf Rußland fallende Anteil als ausgeführt betrachtet werden." 3 6 In diesem Sinne berichtete Rykacev auch der Akademie in Petersburg.3? In seinem Abschlußbericht von 1912 konnte er der Assoziation vorschlagen, die Arbeiten der Kommission als vorerst beendet zu betrachten. 1913 wurde daher die Aufhebung der Kommission mit dem Hinweis beschlossen, die Arbeiten in dieser Richtung insgesamt weiterzuführen. 38 Diese Kommission war die einzige der Assoziation, die einen solchen Erfolg ihrer Arbeiten verbuchen konnte. Große Unterstützung erwies die Petersburger Akademie bei der von der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft angeregten Herausgabe der Werke des Mathematikers Leonhard Euler, der von 1741 bis 1766 an der Berliner sowie von 1727 bis 1741 und von 1766 bis 1783 an der Petersburger Akademie gewirkt hatte. Bereits zu Beginn des 20. Jh., seit 1902, bestand bei der Petersburger Akademie eine Kommission zur Herausgabe der Werke Eulers unter der Leitung von Famincyn, die allerdings 1907 ihre Tätigkeit einstellte. Der unmittelbare Anlaß dafür war ein Brief vom 7. Februar 1907, in dem Arthur Auwers (1838-1915) namens der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin deren Beteiligung, die für notwendig gehalten worden wär, abgelehnt hatte. 39 Obwohl die im Hinblick auf den 200. Geburtstag Eulers (1907) ins Auge gefaßte Ausgabe damit gescheitert war, blieb das Unternehmen doch gerade wegen des genannten Jubiläums weiterhin im Gespräch. Als der Gedanke der Euler-Ausgabe im Zusammenhang mit der Werkausgabe von Leibniz 1907 in der IAA zum ersten Male erörtert wurde, sprach sich O. Backlund für die Petersburger Akademie zustimmend aus.4« 1909 äußerte sich Rykacev ausführlich zu den geplanten Ausgaben und sagte die Förderung durch die von ihm vertretene Akademie z u . « Und als 1910 endgültig der Beschluß über die Förderung der EulerAusgabe durch die IAA gefaßt wurde, war es erneut Backlund, der mitteilte, „daß die Petersburger Akademie eine besondere Kommission eingesetzt habe, um ihre Archive zu durchforschen; sie stellt der Euler-Kommission alles zur Verfügung, was sich an gedruckten und ungedruckten Arbeiten Eulers vorfindet". 42 Die veröffentlichten Protokolle der Petersburger Akademie für die Jahre 1909 bis 1911 bestätigen die dortige intensive Beschäftigung mit der geplanten Eulerausgabe hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung, der Bereitstellung des in Rußland vorhandenen Materials und der finanziellen Unterstützung der Edition. 43 A A W II: VI a 17 Bd. 5, Bl. 152: R. Helmert an Sekretariat der Berliner Akademie, 16. 8 . 1 9 1 0 . D. A. Smirnov, Die magnetischen Elemente auf der Linie von Warschau bis Vladivostok nach den Beobachtungen von 1 9 0 1 , 1 9 0 4 und 1909, in: Izvestija, 4 , 1 9 1 0 , S. 841. 3 ? Ebenda, S. 1 2 1 9 f f . ; 5, 1911, S. 157 . 38 A c t e S j 1 9 1 3 > s . 4 1 f f . ( 1 1 4 f < > 1 3 0 f 3 9 Izvestija, 2, 1908, S. 3 f f . «0 Bericht, 1907, S. 47. 4 1 Relazione, 1909, S. 7f. « Ebenda, 1910, S. 14. « Izvestija, 3, 1909, S. 7 9 8 f f „ 929f., 1020f., 1070f„ 1075; 4, 1910, S. 245f., 583, 960; 5, 1911, S. 157, 853. „L. Euleri Opera omnia" erscheinen seit 1911 bis heute mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. 35
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Einigen weiteren naturwissenschaftlichen Unternehmen der IAA schenkte die Petersburger Akademie große Aufmerksamkeit. Das galt für die seit 1901 betriebene Messung des Bogens des 30. Meridians'*4 und für die Mitarbeit im Institut Marey in Paris. 45 Für die 1907 aufgenommene Erarbeitung einer einheitlichen lunaren Nomenklatur setzte sich Backlund 1906 ein 4G ; Belopol'skij war seit 1910 Mitglied des Exekutivkomitees für die Sonnenforschung, die ebenfalls 1907 begonnen wurde. 47 Im Zusammenhang mit der 1907 beschlossenen Errichtung meteorologischer Stationen informierte Rykacev 1909 über entsprechende Arbeiten seiner Akademie. 48 In der Kommission für die physikalisch-chemischen Tafeln, über die die IAA 1910 das Patronat übernahm, arbeitete von russischer Seite das Korrespondierende Mitglied der Akademie Orest Danilovic Chvol'son (1852—1934). Ihr Ziel war, Ergebnisse der physikalischen, chemischen und physikalisch-chemischen Forschungen in Mehrjahresberichten zu publizieren. Für die Mitarbeit Rußlands setzten sich die Akademiemitglieder Nikolaj Nikolaevic Beketov (1826-1911), P. Waiden und Vladimir Aleksandrovic Kistjakovskij (1865—1952) ein. 1913 konnte Waiden der Akademie in Petersburg den zweiten Teil dieser Edition vorlegen. 49 Auf einen direkten Antrag der Petersburger Akademie, den der Botaniker Ivan Parfen'evic Borodin (1847—1930) vorlegte, ging 1913 die Begründung der Kommission für die Chromotaxie zurück. Im Antrag hieß es: „Im Bereich mancher Wissenschaften wie der Chemie, der Mineralogie und besonders in den biologischen Wissenschaften ist es unerläßlich, die Färbung der Objekte, die wissenschaftlich untersucht werden, exakt beschreiben zu können." Deshalb wurden internationale Festlegungen erstrebt. Unter den sieben Mitgliedern der Kommission waren vier Mitglieder der Petersburger Akademie: außer Borodin selbst der Physiker B. B. Golicyn, der Zoologe N. V. Nasonov und der Chemiker P. Waiden. 50 Dem Antrag der Berliner Akademie für die Organisation der internationalen Vulkanforschung schloß sich die Akademie in Petersburg sofort an. Der Mineraloge und Kristallograph Vladimir Ivanovic Vernadskij (1863—1945), einer der Begründer der Geochemie und Biogeochemie, wurde zu einem der fünf Mitglieder der „Geschäftskommission" berufen, während F. N. Cernysev, der Geologe Aleksandr Petrovic Karpinskij (1847—1936) sowie der Geologe und Petrograph Franc Jul'evic LevinsonLessing (1861—1939) Kommissionsmitglieder wurden. 51 Eine mit den Arbeiten auf naturwissenschaftlichem Gebiet vergleichbare Aktivität der Petersburger Akademie läßt sich in der Section des Lettres nicht beobachten, zumal auf gesellschaftswissenschaftlichem Gebiet ohnehin weniger Unternehmen in Angriff 4 4 Report, 1904, S. 2 0 f . « Bericht, 1907, S. II; Izvestija, 8, 1 9 1 4 , S. 1 0 6 9 ; 9, 1 9 1 5 , S. 490. Das v o n Etienne Jules Marey ( 1 8 3 0 1904) geschaffene Institut führte die v o n diesem wesentlich geförderten Forschungen über physiologische Phänomene auf der Grundlage internationaler Zusammenarbeit weiter. 4 6 A A W I I : V I a 1 7 Bd. 4, Bl. 5 8 = Int. Ass. der Akademien. Bericht über die Tagung des Ausschusses der Int. Ass. der Akademien v o m 30. Mai bis 1. Juni 1906 in Wien, W i e n 1906, S. 9. « Actes, 1 9 1 3 , S. 4 7 ; Izvestija, 4 , 1 9 1 0 , S. 1 2 1 3 f f . ; 7 , 1 9 1 3 , S. 7 7 1 f f . , 7 9 5 f . « Relazione, 1909, S. 7.
« Izvestija, 4, 1 9 1 0 , S. 589, 5 9 2 f . ; 7, 1913, S. 882. •50 Actes, 1913, S. 17, 2 7 f f . , 1 0 8 f . , 112, 123, 1 2 8 f . Zitat S. 2 7 : „dans le domaine de certaines sciences, telles que la chimie, la minéralogie et surtout les sciences biologiques, il est indispensable de pouvoir décrire exactement la coloration des objets soumis ä une étude scientifique." 5 1 Actes, 1913, S. 1 0 6 f f „ 122, 1 2 7 f . , 1 4 1 f.
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genommen wurden, die außerdem teilweise russische wissenschaftliche Interessen weniger berührten. Dem internationalen Handschriftenleihverkehr hat sich Rußland nicht angeschlossen. Die Ausleihe von Handschriften und Büchern durch die direkt interessierten wissenschaftlichen Institutionen wurde in Rußland für ungeeignet gehalten. Der Leihverkehr sollte weiterhin über die diplomatischen' V.ertretungen abgewickelt werden, wie es in einer Festlegung vom Dezember 1906 hieß. 53 Auch als der Internationale HistorikerKongreß in Berlin 1908 eine Resolution über den internationalen Handschriften- und Büchertausch faßte, änderte sich russischerseits in dieser Hinsicht nichts, obwohl man sich in der Akademie in Petersburg erneut mit diesem Problem befaßte. 5 ' 1 In die Kommission für die Enzyklopädie des Islam hat die Petersburger Akademie zunächst ihr Mitglied Viktor Romanovic Rozen (Viktor Baron von Rosen, 1849—1908) entsandt, nach dessen Tod dann K. G. Zaleman. 55 Außerdem wurde das Unternehmen von 1903 bis 1910 mit insgesamt 10000 Mark unterstützt. Diese Summe wurde von der Akademie in Petersburg als ausreichend angesehen, zumal sie dem Beitrag anderer Akademien entsprach und die Ausgabe in deutscher, französischer und englischer, nicht aber in russischer Sprache erschien. 50 Der erste Band der Enzyklopädie, die den Untertitel „Geographisches, ethnographisches und biographisches Wörterbuch der muhammedanischen Völker" trug, konnte mit „Unterstützung der Internationalen Vereinigung der Akademien der Wissenschaften" — wie es auf dem Titelblatt hieß — bis 1913 erarbeitet werden. 57 Russische Wissenschaftler haben eine größere Zahl von Artikeln darin verfaßt. Die politische Relevanz eines solchen Unternehmens zeigen die Auseinandersetzungen über die deutsche Beteiligung in der Berliner Akademie zwischen zwei Wissenschaftlergruppen; beide erkannten zwar die wissenschaftliche und die politische Bedeutung der Arbeiten an, nur glaubte die eine, sie als „Bedürfnis für die Orientund Kolonialpolitik", wegen der „Interessen in der islamischen Welt" und „wegen der praktischen Wichtigkeit für unsere Verwaltung in den Kolonien" stark fördern zu müssen, während die andere sich gegen die internationale und damit dem durchgreifenden deutschen Einfluß entzogene Leitung des Unternehmens wandte und das aufgewandte Geld lieber für die direkte Erforschung der eigenen Kolonien verwendet hätte. Letztlich ging es also um taktische Varianten imperialistischer Kolonialpolitik. 58 In die Kommission für die griechischen Urkunden wurde schon 1901 S. F. Ol'denburg berufen, der sich bereit erklärte, eine entsprechende Publikation der Petersburger Akademie nach den Editionsgrundsätzen der IAA zu veranlassen. 59 An der Ausgabe des 52 AAW II : VI a 17 Bd. 4, Bl. 107 (Stand vom 23. 3. 1907). 53 Izvestija, 1, 1907, S . l f. M Ebenda, 2, 1908, S. 1113f. 55 AAW II : VI a 17 Bd. 2, Bl. 216-216 r ; Relazione 1909, S. 18; Izvestija, 2, 1908, S. 1244. 56 Relazione, 1910, S. 53; Actes, 1913, S. 62, 71 ; Izvestija, 2,1908, S. 629f. 57 Er umfaßt die Buchstaben A bis D und erschien 1913 in Leiden und Leipzig. Die weiteren Bände wurden — ohne Mitarbeit einer internationalen Organisation — in den zwanziger und dreißiger Jahren herausgegeben. 58 Die Berliner Akademie der Wissenschaften in der Zeit des Imperialismus, S. 205 f. Die hier behauptete Nichtbeteiligung Rußlands muß korrigiert werden. 59 Compte rendu, 1901, S. 49: « M. d'Oldenburg annonce que l'Académie de Saint Pétersbourg publiera les diplômes grecs recueillis au mont Athos, mais qu'elle est prête à soumettre cette publication aux règles générales adoptées par l'Association.
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indischen Nationalepos Mahäbhärata wollte sich die Petersburger Akademie ab 1905 für sechs Jahre mit jeweils 500 Mark beteiligen; sie entsandte ebenfalls S. F. Ol'denburg in diese Kommission. 60 Auch im Hinblick auf die Ausgabe der Septuaginta, der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, kam es unmittelbar vor dem ersten Weltkrieg noch zu einem Ansatz russischer Mitarbeit. Der klassische Philologe Eduard Schwartz (1858—1940) in Göttingen, der 1912 zum Korrespondierenden Mitglied der Petersburger Akademie gewählt worden war und unter dessen Leitung die von der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften angeregte Septuaginta-Ausgabe stand, wandte sich nach der Tagung der Assoziation in der russischen Hauptstadt 1913 mit der Bitte an die Akademie in Petersburg, ein in russischer Sprache vorbereitetes „Inventar der slawischen Bibelhandschriften" bereits als Manuskript zu erhalten. Zugleich erbat er Exemplare des späteren Drucks und das Recht für dessen deutsche Übersetzung. Die Akademie in Petersburg beschloß die Edition .des „Inventars", das Ivan Evseevic Evseev (1868—1921) erarbeitet hatte. 61 Der Slawist Evseev, ein bedeutender Spezialist für die Textologie der slawischen und der griechischen Bibel, wurde 1914 Korrespondierendes Mitglied der Petersburger Akademie und hat große Verdienste um die wissenschaftliche Erforschung des slawischen Bibeltextes im Zusammenhang mit der Gesellschafts- und der Kulturgeschichte der slawischen Völker. 62 Ganz am Rande wurde also in der Endphase der Existenz der Assoziation auch die slawistische Problematik noch in deren Arbeit einbezogen. Damit war aber ein Gebiet ins Blickfeld gerückt, dem natürlich die besondere Aufmerksamkeit der Petersburger Akademie galt. Das wissenschaftliche Ansehen Evseevs hatte einen der bedeutendsten Slawisten an der Wende vom 19. zum 20. Jh., Vatroslav Jagic, schon 1911 zu der Überlegung veranlaßt, ihm die Darstellung der kirchenslawischen Literatur in dem unter seiner Leitung erarbeiteten „Grundriß der slawischen Philologie" zu übertragen. 63 Das Wirken von Jagic wiederum beeinflußte unmittelbar die Auslandsbeziehungen der Petersburger Akademie in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg. Der Kroate Vatroslav Jagic (1838—1923) war 1880 nach seiner Berufung als Professor nach Rußland Außerordentliches und 1881 Ordentliches Mitglied der Petersburger Akademie geworden. Diesen Rang behielt er auch, als er 1886 an die Wiener Universität ging. Das war eine Sonderregelung, da die Ordentlichen Akademiker sonst ihren ständigen Wohnsitz in Petersburg hatten. Sie resultierte aus der überragenden Stellung Jagics in der slawistischen Forschung. Diese bewog natürlich auch die Wiener Akademie der Wissenschaften, Jagic schon 1887 zu ihrem Korrespondierenden und 1888 zum Wirklichen Mitglied zu wählen. In dieser Funktion wiederum hatte er Einblick in deren internationale Tätigkeit im Rahmen der Internationalen Assoziation. Er betrachtete diese sehr kritisch unter dem Gesichtspunkt, daß die Wiener Akademie wohl die Belange der Deutsch-Österreicher, kaum aber die der slawischen Völker beachtete, die ganz oder teilweise in den Grenzen der österreichisch-ungarischen Monarchie lebten.
«o A A W II: VI a 17 Bd. 3, Bl. 292: Wiener Akademie an Berliner Akademie, 1 9 . 5 . 1 9 0 5 , Vgl. auch Actes, 1913, S. 1 4 2 - 1 4 4 . Izvestija, 8, 1914, S. 10. Slavjanovedenie v dorevoljucionnoj Rossii, Moskau 1979, S. 154; M. I. Ri^skij, Istorija perevodov, biblii V Rossii, Novosibirsk 1978, S. 173ff. 6 3 Dokumenty k istorii slavjanovedenija v Rossii (1850—1912), Moskau/Leningrad 1948, S. 328. 61
So schrieb Jagic bereits am 10. Oktober 1904 an den Sorben Arnost Muka, „daß bei uns, infolge der gespannten Nationalitätsfragen, die Akademie, wenn sie auch oesterreichisch sein sollte, mit jedem Jahr stärker im deutsch-nationalistischen, Fahrwasser schwimmt. Wir haben z.,B. Kartellverbindungen mit München, Göttingen, Leipzig und Berlin, aber keine Beziehungen zu Prag oder Krakau." 64 Fast_ gleichlautend äußerte sich Jagic am 10. Juni 1910, also fast sechs Jahre später, gegenüber dem russischen Slawisten und Akademiemitglied Vladimir Ivanovic Lamanskij (1833—1914), indem er die Wiener Akademie „als rein deutsche Einrichtung" bezeichnete. „Bei uns besteht ein Kartell mit Berlin, München, Leipzig und Göttingen, aber zur tschechischen Akademie in Prag und zur polnischen in Krakow haben \yir keine Verbindung. Desto wünschenswerter wäre ein etwas näherer Umgang zwischen der Petersburger Akademie und den süd- und yestslawischeri Akademien." 65 Da Jagic Mitglied aller damals bestehenden Akademien der Wissenschaften in slawischen Ländern war, wurde er verständlicherweise zu einer der Schlüsselgestalten in den Bestrebungen, eine institutionalisierte Zusammenarbeit dieser Akademien vor allem in der Zeit in Gang zu setzen, in der die Petersburger Akademie Vorort der IAA war. Eine interslawische Zusammenarbeit mußte, da nur eine der slawischen Akademien, eben die in Petersburg, Mitglied der Assoziation war, über diese Organisation hinausgehen. Im Zusammenhang mit der immer sichtbarer werdenden Rolle der slawischen Völker in Europa und deren Ringen um nationale Identität im nationalen Unabhängigkeitskampf erreichten notwendigerweise auch die Bemühungen um die interslawischen Beziehungen eine neüe Stufe. Sie waren freilich wie alle Beziehungen unter imperialistischen Bedingungen auch auf dem Gebiet der Wissenschaft durch vielfache Widersprüchlichkeiten geprägt. Da viele der slawischen Völker, darunter die politisch noch nicht selbständigen, bereits über teils recht rührige Akademien der Wissenschaften verfügten, drängte sich im Rahmen der immer weitere Kreise ziehenden internationalen Institutionalisierung der Wissefnschaftsbeziehungen auch ein organisatorischer Zusammenschluß der Akademien in den slawischen Ländern geradezu auf. Zugleich macht das jahrelange Ringen um die Organisation einer solchen Zusammenarbeit deutlich, wie schwierig es war, angesichts der komplizierten Ausgangssituation eine einheitliche Arbeitsgrundlage zu schaffen. Die Probleme lagen nicht im Wissenschaftlichen, sondern im Politischen. Im Vergleich zu der einzigen slawischen Großmacht Rußland, dessen auswärtige Wissenschaftspolitik wie die jedes anderen Landes seiner auf internationalen Einfluß zielenden Gesamtaußenpolitik untergeordnet war, spielten die anderen slawischen Völker keine so entscheidende Rolle. Ihre staatliche Unabhängigkeit hatten bis dahin lediglich Serbien und Bulgarien errungen. In beiden Ländern, die insgesamt enge ökonomisch-politische Beziehungen zu Rußland unterhielten, die ihre Unabhängigkeit nicht zuletzt tatkräftiger russischer Hilfe verdankten und die zudem durch ihre Zugehörigkeit zur orthodoxen Kirche seit einem Jahrtausend geistig-kulturell verbunden waren, bestanden Akademien der Wissenschaften als Zentren der gesellschafts- und der naturwissenschaftlichen Forschung.
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L. Hajnec, Arnost Muka a Vatroslav Jagic. Njewozjewjene listowanje mjez Muku a Jagicom w letach 1891—1919, in: Letopis Instituta za serbski ludospyt, Reihe A, Jg. 5,1958, S. 39. V. N. Korablev, Pamjati akademika I. V. Jagica. K desjatiletnej godovscine so dnja smerti (1838—1923), in: Trudy Instituta slavjanovedenija Akademii nauk SSSR, Bd. II, Leningrad 1934, S. 337.
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Die Bülgarska Akademija na naukite 6 6 , die diese Bezeichnung seit 1911 trug, war bereits 1869 als Bülgarsko Knizovno Druzestvo gegründet worden, also noch vor der 1878 errungenen staatlichen Unabhängigkeit. Sie hatte seit ihrer Gründung den Charakter einer Akademie, obwohl erst seit 1908 die Namensänderung betrieben wurde. Kennzeichnenderweise wandte sich die Sofioter Gesellschaft in diesem Zusammenhang am 28. August 1908 an die Akademien in Berlin, Brüssel, Budapest, Krakow, London, Paris, Petersburg und Wien mit der Bitte um Übersendung von deren Statuten und Reglements. 67 Im unabhängigen Serbien wurde 1886 in Beograd die Kraljevskosrpska Akademija gegründet, deren Vorläufer seit 1864 das Srpsko Uceno Drustvo war. Als dritte südslawische Akademie ist die 1866 in Zagreb unter aktiver Mitwirkung von Jagic entstandene Jugoslavenska Akademija znanosti i umjetnosti zu nennen. 68 Sie war, da Kroatien damals ein Teil Ungarns war, nicht wie die bulgarische und die serbische Akademie eine staatliche Institution. Es ist daher wohl kein Zufall gewesen, daß schon 1883 von Zagreb der Vorschlag ausging, einen Kongreß der südslawischen Akademien und gelehrten Gesellschaften einzuberufen. 69 Neben der Jugoslawischen Akademie wirkten drei weitere Akademien in slawischen Gebieten der Habsburger-Monarchie. Die älteste von ihnen war die Königlich Böhmische Gesellschaft der Wissenschaften in Prag, die Královská Ceská Spolecnost nauk, die zunächst seit 1771 als Privatgesellschaft bestand und 1784 offiziell bestätigt wurde. Sie spielte eine bedeutende Rolle in der Entwicklung der tschechischen Wissenschaft, war aber an der ins Auge gefaßten interslawischen Zusammenarbeit der Akademien nicht beteiligt. Diese Rolle übernahm die 1890 dank einer Stiftung des Architekten Josef Hlávka in Prag gegründete Ceská Akademie cisafe Frantiska Josefa I. pro védy, slovesnost a uméní, die ihren slawischen Charakter bewußt betonte.™ Eine polnische Akademie der Wissenschaften, die Akademia Umiej^tnosci, bestand seit 1872 in Krakow. 7 1 Zwischen der Akademija nauk in Petersburg, der Bülgarska Akademija in Sofia, der Srpska Akademija in Beograd, der Jugoslavenska Akademija in Zagreb, der Ceská 66
Vgl. S. BozJkov/V. VasilevjV. Paskaleva¡C. Todorova, Istorija na Bülgarskata Akademija na naukite 1869—1969, Sofia 1 9 7 1 ; M. Armuiov, Bülgarskoto K n i z o v n o druzestvo v Braila 1869—1876, Sofia 1966.
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Dokument! za istorijata na Bülgarskoto KniiSovno DruZestvo, Bd. II,
1878—1911, Sofia 1968,
S. 313. 6 8 Vgl. The Academies of Science in the Federative People's Republic of Yugoslavia, Belgrad 1958 ; Tugoslovenske naucne institucije, Belgrad 1969, S. 2 5 6 f f . 69 Dokument!, S. 5 0 f f . 70 L. Novj/J. Mandlerovájj. Folta, The Main Stages of the Organization of Science in Bohemian Lands since the Middle of the 18th Centrury, in: Acta histórica rerum naturalium necnon technicarum. Special issue 5, Prag 1 9 7 1 , S. l l f f . ; J. Beran, The Royal Bohemian Society of Sciences and the Czech Academy of Sciences and Arts (Founding of an National Academy within the-Habsburg Monarchy), i n : ebenda, 7, Prag 1974, S. 1 2 8 f f . ; ders., Foreign Relation of the Royal Bohemian Society of Science and the Czech Academy of Science and Arts f r o m 1851 to 1914, in: ebenda, 9, Prag 1977, S . 4 9 f f . ; ders., I. a III. trida Ceské akademie véd a uméní v letech 1891—1914, in: Ceskoslovensky Casopis historicky, 20, 1972, S. 4 5 7 f f . ; ders., II. trida C A V U v letech 1 8 9 1 - 1 9 1 4 , i n : Déjiny véd a techniky, 4, 1971, S. 1 9 3 f f . 7 1 Vgl. S. Czarnieckij}. Wiltowski, W stulecie utworzenia Akademii Umiejstnosci, Warschau/Kraków 1 9 7 2 ; D. Rederowa, Formy wspólpracy Polskiej Akademii Umi?jetnosci z zagranic^ (1873—1952), i n : Studia i materialy z dziejów nauki polskiej. Seria A, Heft 10, Warschau 1966, S. 77 f f .
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Akademie in Prag und der Akademia Umiej^tnosci in Krakow wurden Verhandlungen über einen engeren Zusammenschluß eingeleitet, in denen — wie gesagt — Vatroslav Jagic eine Schlüsselrolle spielte. 72 J a g i c wurde 1908 zu seinem 70. Geburtstag von der Petersburger Akademie auch als i,Initiator und Leiter eines gesamtslawischen Unternehmens" 7 3 gewürdigt, eben der erwähnten „Enzyklopädie der slawischen Philologie", wie der „Grundriß" auch genannt wurde. Dieses Unternehmen, an dem sich nach Jagics Wunsch „die bedeutendsten gegenwärtigen Vertreter der slawischen Wissenschaft einmütig" 7 i beteiligen sollten, plante Jagic bereits seit den neunziger Jahren des 19. Jh. Zunächst sollten der einleitende Teil und der Teil über die slawischen Sprachen in Angriff genommen werden, später dann die Teile über die Literatur und die Ethnographie der slawischen Völker. 7 3 Beschlossen wurde das Unternehmen im April 1903 vom Vorbereitenden Kongreß der russischen Slawisten, die Ausführung übernahm die Klasse für russische Sprache und Literatur der Petersburger Akademie, die Jagic mit der Leitung beauftragte. 7 6 Die Bände des einleitenden und des ersten Teils begannen in interslawischer Zusammenarbeit seit 1908 zu erscheinen. Im Rahmen dieser Edition legte J a g i c 1910 seine „Istorija slavjanskoj filologii" vor, die ihre wissenschaftliche Bedeutung als Grundlagenwerk bis in die Gegenwart nicht verloren hat. Als Organisator, Redakteur und Autor widmete Jagic die letzten drei Jahrzehnte seines Lebens in hohem Maße der „Enzyklopädie", die — obwohl Torso geblieben — zu den großen, genial konzipierten internationalen Gemeinschaftsarbeiten gehört. Parallel zu diesem Unternehmen und teilweise in enger Verflechtung mit ihm lassen sich seit dem Ausgang des 19. Jh. vielfältige Bestrebungen zur Durchführung von Slawistenkongressen verfolgen. Bekanntlich führten die Bemühungen zu keinem Erfolg — der erste Internationale Slawistenkongreß fand erst 1929 statt. Es waren also im wesentlichen drei — hier nur angedeutete — Tendenzen, die neben dem allgemein verbreiteten Streben nach internationaler Institutionalisierung der wissenschaftlichen Forschung am Ausgang des ersten Jahrzehnts des 20. Jh. den Gedanken eines Verbandes der slawischen Akademien auf die Tagesordnung setzten: erstens die Unterrepräsentation der slawischen Akademien in der Internationalen Assoziation angesichts der wachsenden Bedeutung dieser Akademien; zweitens die Bemühungen um gemeinsame Forschungen zur Slawistik, die im „Grundriß" ihren deutlichsten Ausdruck fanden; drittens — untrennbar mit beiden Tendenzen verbunden — die Bestrebungen nach Schaffung eines zwischenstaatlichen Gremiums zur Erörterung slawistischer Probleme in Form der geplanten Slawistenkongresse mit internationaler, wenngleich überwiegend interslawischer Beteiligung. Als eine vierte Tendenz wird man die nicht vorrangig wissenschaftlich begründete, sondern mehr von einer bestimmten Intellektuellenschicht getragene proslawische Denkhaltung im Kontext des Neoslawismus 7 7 nicht übersehen dürfen, die zwar in sich nicht einEin großer Teil der Dokumente und Schriftstücke über die Vor- und Gründungsgeschichte des Verbandes ist veröffentlicht in: Dokumenty. Sie ermöglichen im Zusammenhang mit weiteren Materialien eine detailliertere Darstellung, als sie hier aus Raumgründen gegeben werden kann. Vgl. auch M. Kudelka, Ceskä slavistika a Svaz slovanskych akademii, in: Slovansky prehled, 1975, H. 6, S. 482ff. 7-5 Dokumenty, S. 285. 7 4 Ebenda, S. 171. '5 Ebenda, S. 189ff., 260ff. '6 Ebenda, S. 259. 7 7 Vgl. auch W. Zeil, Der Neoslawismus, in: Jahrbuch für Geschichte der sozialistischen Länder Europas, Bd. 19/2, Berlin 1975, S. 29ff.
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heitlich und durch gewisse, sic^ gegenseitig ausschließende Vorherrschaftsansprüche einzelner Slawengruppen geprägt war, die aber insgesamt fördernd auf die interslawische Zusammenarbeit wirkte. Die Bestrebungen nach internationaler wissenschaftlicher Zusammenarbeit basierten auf objektiven Voraussetzungen, die sich einerseits aus der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung und andererseits aus spezifischen wissenschaftlichen Bedürfnissen ergaben. Gerade auf dieser internationalen Ebene zeigte sich aber auch njit besonderer Deutlichkeit die Verflechtung wissenschaftsexterner und wissenschaftsinterner Faktoren der Wissenschaftsentwicklung, die unter imperialistischen Bedingungen letztlich den Antagonismen der bürgerlichen Klassengesellschaft unterworfen ist. Tatsächliche Erfolge sind daher immer nur partiell möglich gewesen. Das erweisen die Leistungen und Grenzen der Internationalen Assoziation der Akademien ebenso wie die Gründungsgeschichte des Verbandes slawischer Akademien und gelehrter Gesellschaften. Im Jahrd 1909 begann der Plan eines slawischen Akademieverbandes unter der Federführung der Petersburger Akademie Gestalt anzunehmen. Im Februar 1911 nahm die Klasse für russische Sprache und Literatur, die das Unternehmen betrieb, zur Kenntnis, daß Beograd, Zagreb und Sofia ihre grundsätzliche Bereitschaft zur Mitarbeit erklärt, Prag und Krakow dagegen auf eine Beteiligung verzichtet hatten. 78 Hinter diesen Ablehnungen standen ebenso wie hinter den Zusagen politische Gründe. Zwei imperialistische Machtblöcke — die Entente und die Mittelmächte — standen sich gegenüber, beide betrieben sie die für den Imperialismus kennzeichnende expansive Politik. Deutschland und Österreich-Ungarn repräsentierten die aggressivste imperialistische Gruppe; da in beiden Staaten west- und südslawische Völker oder Teile von ihnen lebten, erlangte der Gegensatz zu Rußland besonderes Gewicht. Unmittelbar betraf das die österreichisch-russischen Beziehungen. Zusätzlich kompliziert war die Situation durch die Dreiteilung Polens zwischen Österreich, Deutschland und Rußland. Daraus erklärt sich auch die Nichtbeteiligung der polnischen Akademie an der institutionalisierten interslawischen Zusammenarbeit. Für die tschechische Seite hat sich Jiri Polivka (1858—1933) zu diesem Problem in einem Privatschreiben vom 20. Dezember 1910 recht eindeutig geäußert; er bezog sich auf eine Aussage des Prager Akademiepräsidenten A. Randa, der „aus politischen Erwägungen, besonders unter den jetzigen Umständen, selbst den Gedanken an einen mehr oder weniger festgelegten Verband slawischer Akademien für nicht realisierbar hält". 7 9 Trotz der sich deutlich abzeichnenden Schwierigkeiten wurde die Gründung weiter verfolgt. Ende April/Anfang Mai 1911 bestätigte die Klasse für russische Sprache und Literatur der Petersburger Akademie einen „Statutenentwurf des Verbandes slawischer Akademien und gelehrter Gesellschaften" auf der Grundlage einer Ausarbeitung des Slawisten und Akademiemitglieds Aleksej Ivanovic Sobolevskij (1856—1929). Der Entwurf, in dem die führende Rolle der Petersburger Akademie überdeutlich betont wurde, ist im Mai 1911 an die genannten fünf slawischen Akademien versandt worden. Im Laufe des Jahres 1911 stimmten Beograd, Zagreb und Sofia wiederum zu, die Akademien in Prag und Krakow lehnten mit formalen Begründungen ab. 8 0 Mit welcher Aufmerksamkeit auch auf diplomatischer Ebene die Bemühungen um den Verband verfolgt wurden, zeigt schlaglichtartig der frühe Bericht des deutschen Dokumeaty, S. 312; Korabkv, Pamjati, S. 338. Dokumenty, S. 309; Korablev, Pamjati, S. 338. 80 Izvestija, 6, 1912, S. 116. 78
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Jahrbuch 25/2
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Botschafters in Petersburg vom 16. Mai 1911, der vom Auswärtigen Amt sofort abschriftlich an die Berliner Akademie weitergeleitet wurde. 8 1 Zu denjenigen, die das mit dem Statutenentwurf und damit dem Gesamtkonzept des Verbandes aufgeworfene Problem am deutlichsten erkannten, gehörte J a g i c : E r „fand darin überhaupt nicht das, was ich erwartet hatte" und „stimmte prinzipiell nicht überein" mit dem Entwurf. Seine recht ausführliche Stellungnahme lief letztlich auf Einwände gegen dieBeschränkung auf die Slawistik und gegen den „Verdacht" hinaus, daß die Klasse für russische Sprache und Literatur im Verband „herrschen und an erster Stelle stehen will". E r verwies demgegenüber auf die Internationale Assoziation und das Kartell, in denen auch die Naturwissenschaften bearbeitet würden und in denen „die Akademien mit dem Gesamtbereich ihres Wirkens" vertreten wären. 8 2 Den Gedanken, daß jeweils die Gesamtakademien und nicht nur einzelne ihrer Klassen hinter dem Verband stehen müßten, hat J a g i c auch später nachdrücklich betont, selbst wenn vorerst nur einzelne Disziplinen in die gemeinsame Arbeit einzubeziehen wären. 8 3 Die Überlegung, in der Arbeit des Verbandes auch die Naturwissenschaften zu berücksichtigen, lag auch anderen Wissenschaftlern nicht fern. So hatte der serbische Slawist Ljubomir Stojanovic (1860—1930) in Beograd bereits im November 1910 angeregt, „Naturwissenschaftler, Geographen, Mathematiker u. a." ebenfalls einzubeziehen 8 4 , und J . P o l i v k a i n P r a g , der sich im Unterschied zur Leitung der Ceska Akademie bereits damals für denVerband einsetzte, schrieb im Dezember 1911: „ . . . mir scheint die Organisierung slawischer gelehrter Arbeiten auf dem Gebiet der Naturwissenschaften sogar wichtiger". 8 5 Bevor im Mai 1912 in Petersburg die Beratungen über den Statutenentwurf begannen, hatte sich Jagic unter Ausnutzung seiner vielfältigen persönlichen interslawischen Kontakte erfolgreich dafür eingesetzt, die Tschechische Akademie für die Teilnahme zu gewinnen. Für die von ihm durchaus gewünschte Mitwirkung der Akademie in Krakow sah er angesichts der gespannten russisch-polnischen Beziehungen wenig Aussichten. V o m 7./20. Mai bis zum 9./22. Mai 1912 berieten schließlich die Vertreter der Akademien in Petersburg, Sofia, Beograd, Zagreb und Prag in der russischen Hauptstadt unter dem Vorsitz von Jagic über den Statutenentwurf. 80 D a s Ergebnis war ein neuer Entwurf, der sich von dem älteren besonders dadurch unterschied, daß auf die gleichberechtigte Mitgliedschaft aller beteiligten slawischen Akademien gegenüber der ursprünglich stark betonten führenden Rolle der Petersburger Akademie größeres Gewicht gelegt wurde. Der neue Entwurf wurde von der Klasse für russische Sprache und Literatur der Petersburger Akademie im Oktober 1912 gebilligt. Auf Anregung des Plenums der Akademie wurde danach im November und Dezember 1912 entschieden, daß die Petersburger Akademie im Verband außer durch die genannte Klasse auch durch die Historisch-philologische Klasse vertreten sein würde. Die Mathematischnaturwissenschaftliche Klasse wurde nicht einbezogen. Die Tschechische Akademie war 81 AAW II.VI a 17 Bd. 5, Bl. 180.
82 Dokumenty, S. 321 f. 83 Ebenda, S. 341 f. « Ebenda, S. 306.
85 Ebenda, S. 335. 86 Ebenda, S. 3 5 3 f f . : „ D o k u m e n t y sovescanija delegatov slavjanskich Akademij 7—9 (20—22) maja 1912. Peterburg".
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ebenfalls durch zwei ihrer insgesamt drei Klassen — also ebenfalls ohne die Naturwissenschaften — im Verband vertreten, die Bulgarische, die Serbische und die Jugoslawische Akademie dagegen als Gesamtinstitutionen. Die Aufgaben des Verbandes wurden im Paragraphen 3 formuliert: „1. Ausführung hinsichtlich ihres Ausmaßes bedeutender wissenschaftlicher Unternehmen auf dem Gebiet der Slawistik (Slawenkunde) mit gemeinsamen Kräften und Mitteln; 2. Zusammenwirken bei der Lösung wissenschaftlicher Probleme auf diesem Gebiet, die von einem Mitglied des Verbandes vorgeschlagen werden." 8 7 Es war also nicht gelungen, einen Verband ins Leben zu rufen, in dem slawische Wissenschaftler aller Disziplinen zusammenarbeiteten. Dennoch war die Gründung des Verbandes und die formale Bestätigung der Statuten durch alle fünf beteiligten Akademien bis zum Jahre 1913 ein bedeutendes Ergebnis der interslawischen Zusammenarbeit, das nicht zuletzt dank des aktiven Einsatzes der Petersburger Akademie erzielt wurde. Zu einer Wirksamkeit des Verbandes ist es allerdings infolge der Balkankriege und des ersten Weltkrieges nicht mehr gekommen. Die Gründung des Verbandes slawischer Akademien fiel in jene Jahre, in denen die Petersburger Akademie der Wissenschaften die Internationale Assoziation der Akademien leitete. Angesichts ihrer Aktivität in der internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit war ihr Angebot, die Generalversammlung der Assoziation 1913 in Petersburg stattfinden zu lassen, einstimmig gebilligt worden. 88 Die Vorbereitungen für die Tagung in Petersburg wurden sehr umfassend betrieben. Obwohl die zaristischen Behörden die Akademie finanziell nicht gerade verwöhnten, wurden für die internationale Zusammenkunft 10350 Rubel bewilligt. 89 Die Zahl der Akademiemitglieder aus Rußland, die an den Beratungen beteiligt waren, war beachtlich. Die Beschlüsse der Tagung der IAA wurden von der Petersburger Akademie nach Berichten von B. B. Golicyn und A. S. Lappo-Danilevskij am 2. November 1913 gebilligt. 90 Am 8. Februar 1914 wurden O. Backlund und K. G. Zaleman erneut als russische Vertreter in der IAA gewählt. 91 Eine mittelbare Nachwirkung der Petersburger Tagung war der Vorschlag ^jvon sechs Berliner Ordentlichen Akademiemitgliedern vom 14. Mai 1914, B. B. Golicyn zum Korrespondierenden Mitglied der Berliner Akademie zu wählen. Dieser Antrag wurde am 16. Juni von der Physikalischmathematischen Klasse der Akademie gebilligt. Auf der Gesamtversammlung der Akademie, die die Wahl hätte bestätigen müssen, wurde der Antrag am 17. Oktober 1914 wegen des Kriegsausbruchs jedoch zurückgezogen. 92 Auf der Tagung in Petersburg 1913 war die Geschäftsführung der Assoziation der Berliner Akademie übertragen worden, da die Generalversammlung für 1916 nach Berlin einberufen war. 93 Nach dem Ausbruch des Weltkrieges erwog die Berliner Akademie, den Vorsitz in der IAA an die Akademie der neutralen Niederlande abzutreten. H. Diels wandte sich daher als offizieller Vertreter der Preußischen Akademie an 87 Zit. nach: Istorija Akademii nauk SSSR, Bd. II, S. 4 7 1 . 88 Relazione, 1 9 1 0 , S. 39. 89 Izvestija, 7, 1 9 1 3 , S. 7 4 1 . » Ebenda, 8, 1 9 1 4 , S. 1, 3 f f . 91 Ebenda, S. 436. 92 V g l . den Wahlantrag in: Russko-germanskie naucnye svjazi, S. 1 1 3 f f . ; weiterhin C.Grau, Wahlen russischer und sowjetischer Wissenschaftler zu Mitgliedern der Berliner Akademie und ihre Bedeutung f ü r die Wissenschaftsbeziehungen (Ende des 19. Jh. bis 1974), in: Verbündete in der Forschung, Berlin 1976, S. 161 f f . 93 Actes, 1 9 1 3 , S. 1 3 4 .
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den niederländischen Astronomen Hendrikiiis Gerardus van de Sande Bakhuyzen ( 1 8 3 8 1923) mit einer entsprechenden Bitte. Bakhuyzen erklärte die prinzipielle Bereitschaft seiner Akademie, müßte aber selbstverständlich vorher Kontakt mit den Akademien in Paris, London und Petersburg aufnehmen. Während es in London Zustimmung gab, verhielt Paris sich ablehnend. Die Situation führender Wissenschaftler in den imperialistischen Ländern charakterisierte Bakhuyzen in diesem Zusammenhang treffend mit der Feststellung: „das Gehirn mancher sonst vernünftiger Leute ist durch den Krieg ganz in Unordnung geraten". 9 ' 1 A m 29. November 1914 informierte Backlund im Plenum der Petersburger Akademie über den Vorschlag der Akademie in Amsterdam, an Stelle der Berliner Akademie die Geschäfte der Internationalen Assoziation zu übernehmen. Am 10. Januar 1915 billigte das Plenum den Amsterdamer Vorschlag. 9 5 Bis zum Frühjahr 1915 hatte sich die Situation also geklärt. Bakhuyzen schrieb näch Berlin: „Inzwischen habe ich auch geschrieben an die Petersburger Akademie, welche in demselben Sinne wie die Royal Society antwortete; daß sie es wünschenswert fand, daß unsere Akademie unter den jetzigen Umständen als Vorort an die Stelle der Berliner Akademie träte." Da Frankreich jedoch-abgelehnt hätte, sähe sich die Amsterdamer Akademie nicht in der Lage, die Leitung der IAA zu übernehmen. 9 6 Diels hat sich 1915 weiterhin für die IAA eingesetzt, wobei er seine Hoffnungen auf den Astronomen George Haie (1868-1938) aus den damals noch neutralen U S A setzte. Auch hier mußte es freilich bei Absichtserklärungen bleiben, die die tatsächlichen Widersprüche zwischen den imperialistischen Staaten nicht zu überdecken vermochten. 9 7 Interessant bleibt jedoch das in Nuancen unterschiedliche Reagieren der einzelnen Akademien. Als im Mai 1915 in einer Pressemeldung über die Bereitschaft der Petersburger Akademie informiért wurde, den Vorsitz in der I A A von der Berliner auf die Amsterdamer Akademie zu übertragen, glaubte man» beispielsweise in München darin einen „Akt von befremdlicher Unfreundlichkeit" Hollands sehen zu müssen. 98 Die Internationale Assoziation der Akademien war damit ebenso wie der Verband der slawischen Akademien gescheitert. Der institutionalisierten internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit, in der die Petersburger Akademie eine führende Rolle spielte, war zunächst ein Ende gesetzt. Die Widersprüche zwischen den imperialistischen Staaten waren stärker als das Streben der Wissenschaftler nach gemeinsamer Arbeit. 94 A A W II :VI a 17 Bd. 6, Bl. 104: Bakhuyzen an Diels, Leiden, 2 2 . 1 2 . 1 9 1 4 . Zum Gesamtvorgang ebenda, Bl. 9 9 - 1 0 1 . 95 Izvestija, 9, 1915, S. 162, 469. 96 A A W II :VI a 17, Bd. 6, Bl. 1 0 8 - 1 0 9 : Bakhuyzen an Diels, Leiden 16. 3. 1915. Vgl. auch Lebedhna, Mezdunarodnyj sovet, S. 54, die mit Recht darauf verweist, daß den Akademien in Petersburg, Paris und London die Schlüsselstellung in dieser Frage zukam. 97 A A W II:VI a 17 Bd. 6, Bl. 95, 1 1 2 - 1 1 2 r, 116, 1 1 7 - 1 2 0 , 121, 122-123, 205-205 r: Korrespondenz Hale-Diels 1 9 1 4 - 1 9 1 5 . 98 Ebenda, Bl. 1 1 4 - 1 1 4 r.
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Zum Anteil der Slawistik in Deutschland an der Information über russische Kultur und Wissenschaft Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des ersten Weltkrieges WILHELM ZEIL
Das seit dem ausgehenden 19. Jh. zunehmende, vorwiegend politisch und wirtschaftlich motivierte Interesse einflußreicher Kreise in Deutschland für Rußland ynd andere slawische Länder sowie der sichtbare wissenschaftliche Erkenntnisfortschritt in verschiedenen Geisteswissenschaften, der zu einer stärkeren Berücksichtigung der Kultur und Wissenschaft der slawischen Völker zwang, führten dazu, daß auch in Deutschland die slawistische Forschung und Lehre einen gewissen Aufschwung erlebte. An ihm wirkten in ihrer politisch-ideologischen Haltung sehr unterschiedliche Vertreter des Geisteslebens mit. Die Slawistik wurde in Deutschland vor allem an deutschen Universitäten und Hochschulen betrieben. 1 Sie hat in besonderem Maße dazu beigetragen, den Erkenntnisfortschritt der internationalen Wissenschaft zu befördern und in Deutschland das Wissen über die Kultur und Wissenschaft der slawischen Völker zu vermehren. Mit der Herausbildung des Imperialismus entstand für die Slawistik in Deutschland eine neue Situation. Trotz ihrer Außenseiterstellung war sie, wie alle Geisteswissenschaften, eingebunden in das Gesamtsystem der bürgerlichen Wissenschaft. Ihre Disziplinen waren Bestandteil der Gesamtentwicklung der bürgerlichen Wissenschaft und Kultur in Deutschland. Sie müssen auf dem Hintergrund der jeweiligen Haltung der herrschenden Klasse zum zaristischen Rußland und zu seinen unterdrückten Bevölkerungsschichten sowie zur Ideologie und zum Kampf der russischen revolutionären Bewegung untersucht werden. Andererseits darf nicht außer acht gelassen werden, daß seit der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49, insbesondere aber seit 1870/71, die Arbeiterklasse in Deutschland in zunehmendem Maße die Rezeption und Interpretation der Errungenschaften der fortschrittlichen russischen Kultur beeinflußte. 2 Von ihr gingen zunehmend wichtige Impulse für die Erkenntnis und Aneignung des gesellschaftlichen Anliegens der russischen Kultur aus. 3 Wie alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wurde die Slawistik in Deutschland in dieser Zeit weitgehend durch den junkerlich-bourgeoisen Charakter des deutschen Imperialismus, durch seine Aggressivität nach innen und nach außen bestimmt. Eine besondere Funktion kam ihr bei der Verwirklichung der aggressiven Zielstellungen des 1
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Vgl. W. Zeil, Positionen und Leistungen der Slawistik in Deutschland 1871—1917, in: Jahrbuch für Geschichte der sozialistischen Länder Europas 24/1, 1980, S. 1 1 7 f f . ; ders., Slavjanovedenie v Germanii (s konca XVII v. do 1945 g.), in: Sovetskoe slavjanovedenie 1979, 4, S. 67ff. Vgl. E. HexelscbneiderlM. Wegner, Deutsche Arbeiterbewegung und russische Literatur (bis 1917), in: Zeitschrift für Slawistik (ZfSl), 10, 1965, H. 1, S. l f f . ; AT. Wegner, Deutsche Arbeiterbewegung und russische Klassik 1 9 0 0 - 1 9 1 8 , Berlin 1971. Vgl. Hexelscbneiderj Wegner, Deutsche Arbeiterbewegung, S. 6.
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deutschen Imperialismus in bezug auf Ost- und Südosteuropa zu. Angesichts des Übergangs der herrschenden Klasse zur „Weltpolitik" wurde sie zur „wissenschaftlichen Begründung" des imperialistischen Expansionsstrebens und zur Manipulierung der Volksmassen im Sinne dieser Ambitionen mit herangezogen. Dabei spielten der „Nachweis" einer angeblich geringeren kulturellen Wertigkeit der slawischen Völker und die Rechtfertigung der vermeintlichen Kulturmission Deutschlands eine Rolle. In Anbetracht der Verlagerung des revolutionären Zentrums von Deutschland nach Rußland wurde die Slawistik außerdem als Kampfmittel gegen die Festigung des proletarischen Internationalismus zwischen der deutschen und der russischen Arbeiterklasse und als „Instrument zur Feinderkundung" eingesetzt/ 1 Die Mehrheit der Slawisten Deutschlands in dieser Zeit war nicht nur in die bürgerliche Hochschulintelligenz integriert, sondern infolge ihrer sozialen Herkunft sowie ihrer wirtschaftlichen und geistigen Abhängigkeit von der herrschenden Klasse mit dieser und ihrem imperialistischen Herrschaftssystem verbunden. Sie mußte sich einfügen und fügte sich in der Regel ein in den politisch-ideologischen Rahmen, den der Imperialismus dem gesamten bürgerlichen Denken oktroyierte. 5 Es unterliegt keinem Zweifel, daß bei mehreren Slawisten die Unterordnung unter imperialistische Denk- und Handlungsschemata gegen ihr Gewissen erfolgte. Außerdem wurde ihre Stellung innerhalb der Hochschulintelligenz dadurch kompliziert, daß die Behandlung des Gegenstandes ihrer Forschung und Lehre von den übergeordneten Instanzen mit politischem Mißtrauen beobachtet wurde. Es ist kein Zufall, daß die Berufung eines Ordinarius für slawische Philologie an eine deutsche Universität mit der Forderung nach Loyalität dem Deutschen Reich gegenüber und Verzicht auf jedwede nicht im Interesse des Reiches liegende politische Betätigung zugunsten der slawischen Völker verbunden wurde. 6 Die in ihrer Mehrheit liberal-konservativ eingestellten Slawisten Deutschlands standen, soweit den wenigen Anhaltspunkten zu entnehmen ist, in den politisch-ideologischen und geistigen Auseinandersetzungen grundsätzlich auf Seiten der herrschenden Klasse. International anerkannte Fachkenntnisse, die in bleibenden wissenschaftlichen Leistungen ihren Niederschlag fanden, verbanden sich mit liberal-konservativen politischen Anschauungen, mit ungenügendem Verständnis für die Grundfragen der Zeit oder noch öfter mit Anfälligkeit gegenüber der herrschenden reaktionären Ideologie und Politik und Zugeständnissen an das bestehende Herrschaftssystem. Es gab auch Slawisten in Deutschland, die Anteil hatten an „der Ausarbeitung neuer taktischer Konzeptionen der herrschenden Klasse sowie an der Realisierung neuer Methoden der imperialistischen Massenbeeinflussung" 7 Bei aller Bindung der „slawischen Philologie" an deutschen Universitäten und Hochschulen, die im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht, an die Interessen der herrschenden Klasse waren in ihrer Forschung und Lehre auch Kräfte wirksam, die, trotz der objektiven und subjektiven Schranken der bürgerlichen Gelehrten, einen realistischen Standpunkt in der Wertung russischer Kultur und Wissenschaft und deutsch-russischer 4
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Vgl. „Drang nach Osten" i narody Central'noj, Vostocnoj i Jugo-Vostocnoj Evropy 1871—1918 gg., Moskau 1977; G. Voigt, Otto Hoetzsch 1876—1946. Wissenschaft und Politik im Leben eines deutschen Historikers, Berlin 1978, S. 5. Vgl. W. Heise, Aufbruch in die Illusion, Berlin 1964. Vgl. H. Pobrt, Beiträge zum Wirken des Slawisten Aleksander Brückner in Berlin 1881—1939, in: ZfSl, 10, 1970, H. 1, S. 96. Vgl. Klassenkampf, Tradition, Sozialismus, Berlin 1974, S. 333.
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Zusammenarbeit bezogen. Sie trugen nicht zuletzt unter dem Einfluß ihrer Kontakte zu bürgerlichen russischen Forschern zum Erkenntnisfortschritt der internationalen Wissenschaft und zugleich zu einer sachlichen, wenn auch recht eng umgrenzten Information über Rußland und dessen Geistesleben bei. Darüber hinaus versuchten sie, der in Kreisen des deutschen Bürgertums und seiner Intelligenz weit verbreiteten Unterschätzung oder Ignorierung kultureller Leistungen des russischen Volkes entgegenzuwirken und die unterschiedlich motivierte Feindschaft gegen das russische Volk abzubauen. Diese Versuche bedeuteten subjektiv und objektiv zugleich Bemühungen um eine gewisse Abgrenzung von Erscheinungsformen der herrschenden Politik und Ideologie, vor allem vom Chauvinismus und Militarismus,-sowie von darauf begründeten Grundtendenzen imperialistischer Wissenschaftspolitik und -entwicklung. Damit waren Ansatzpunkte gegeben für eine progressive Alternative der bürgerlichen Slawistik in Deutschland im Rahmen der von den jeweils herrschenden Klassenverhältnissen bestimmten deutsch-slawischen Wissenschafts- und Kulturbeziehungen. 8 Die bewußte Abgrenzung der Mehrheit der bürgerlichen Slawisten Deutschlands von der Theorie und der Praxis der revolutionären Arbeiterbewegung und ihr Bemühen, einer Auseinandersetzung mit der herrschenden Politik und Ideologie auszuweichen, verstärkten die von ihrer bürgerlichen Weltanschauung ohnehin gezogenen Erkenntnisund Wirkungsgrenzen. Das zeigt sich zum einen in ihren Hoffnungen auf ein starkes bürgerliches Rußland als wissenschaftlichen Partner und in ihrer Ignorierung der in die Zukunft weisenden proletarischen Alternative, in ihrem Unverständnis für die Entwicklung und Zusammenarbeit der revolutionären deutschen und russischen Arbeiterbewegung. Zum anderen fand es seinen Ausdruck in bewußter Beschränkung auf politisch weniger brisante Teilgebiete der Linguistik und der Philologie, in der vorsichtigen Wahl und Eingrenzung ihrer Themen und in ihrem objektivistischen Herangehen an ihren Forschungsgegenstand, d. h. in der subjektiven Auswahl und passiven Registrierung von Fakten und Ansichten und in der weitgehenden Ausklammerung wesentlicher gesellschaftlicher und politischer Zusammenhänge. Wertvollen, zum Teil bahnbrechenden wissenschaftlichen, vor allem sprachwissenschaftlichen und philologischen Einsichten und Leistungen, die die internationale Wissenschaft bereichert und zu weiteren Forschungen angeregt haben, stehen somit, trotz aller Unterschiede zwischen den einzelnen Forschern, in ihrer Aussage und in ihrer W i r k u n g begrenzte, objektivistische Informationen über Rußland und seine Kultur und Wissenschaft gegenüber. Um das hier zu behandelnde Thema zu erfassen, muß man sich vergegenwärtigen, daß in dem genannten Zeitraum nur an einigen wenigen allgemeinbildenden, Schulen Deutschlands die russische Sprache gelehrt w u r d e ; die Vermittlung von Kenntnissen über Rußland befand sich im deutschen Schulwesen .auf einem sehr niedrigen Stand. Es war daher durchaus die Regel, daß der Slawistik-Student an der Universität erstmals mit russischer Kultur und Wissenschaft in nähere Berührung kam. Vor diesem- Hintergrund erhalten die Informationen über Kultur und Wissenschaft Rußlands, die die bürgerliche Slawistik zu bieten vermochte, einen besonderen Stellenwert. Die Slawistik wurde in Deutschland an den vier Lehrstühlen für slawische Philologie in Breslau, Leipzig, 8
Vgl. L. K. Goetz, Das Kiever Höhlenkloster als Kulturzentrum des vormongolischen Rußlands, Passau 1904, S. X X V f f . ; K. Krumbacber, Der Kulturwert des Slawischen und die slawische Philologie in Deutschland, in: K. Krumbacber, Populäre Aufsätze, Leipzig 1909, S. 337ff.
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Berlin und München gelehrt; außerdem bestanden mehrere Russischlektorate an deutschen Universitäten und Hochschulen. Zudem gab es einige Lehrstühle für Indoeuropäistik sowie für Weltgeschichte. Einen breiteren Interessentenkreis erreichten Buchpublikationen, Zeitschriftenaufsätze, publizistische und populärwissenschaftliche Beiträge sowie Übersetzungen von gesammelten oder einzelnen Werken russischer Schriftsteller, Aktivitäten, in die auch zahlreiche Initiativen von Geistesschaffenden einflössen, die nicht zur Hochschulslawistik gehörten. Der Vermittlung der russischen Sprache der Gegenwart wurde innerhalb der „slawischen Philologie" von jeher eine besondere Bedeutung beigemessen. Man ging von der richtigen Erkenntnis aus, daß sie ein wichtiges Glied in der Erschließung kultureller Werte und wissenschaftlicher Errungenschaften Rußlands sowie der Geschichte des russischen Volkes darstellte und die Möglichkeit bot, den russischen Beitrag zur Weltkultur besser zu verstehen und zu würdigen. 9 Der Aufschwung des Studiums der russischen Sprache in Deutschland, auf den V. Jagic 1908 besonders hinwies und der unterschiedlichen Ausdruck fand 10 , stand im engen Zusammenhang mit der Wissenschaftspolitik und -entwicklung in der Epoche des Imperialismus, mit dessen reaktionären politischen und wirtschaftlichen Zielstellungen.! 1 Vor allem aus Briefen und veröffentlichten Bemerkungen deutscher Slawisten wissen wir aber auch, daß einige Russischlektoren versuchten, mit der Vermittlung der Sprache zugleich Kenntnisse über Vertreter der russischen Kultur und Wissenschaft zu verbreiten und damit das Interesse für Rußland zu vertiefen. Dies geschah durch die theoretische Fundierung des Unterrichts und durch seine literarische und historische Durchdringung. Zwei Briefe aus einer etwas späteren Zeit verdeutlichen dieses. H. F. Schmid, der 1927 mit R. Trautmann ein progressives Programm für die Slawistik in Deutschland vorlegte 12 , schrieb im November 1919 vonBerlin aus, wo er zu slawistischen Studien weilte, an seinen Lehrer M. Murko in Leipzig: „Glücklicherweise ist auch der Sprachunterricht am Orientalischen Seminar, wenigstens in der Russischen Klasse, viel anregender und auch wissenschaftlich eindringender, als ich erwarten zu dürfen geglaubt hatte . . . Sehr lehrreich und fördernd ist eine Vorlesung des Herrn Dr. [Anton] Palme an der Handelshochschule über Sprachstudium und Nationenwissenschaft', mit besonders eingehender Berücksichtigung der slawischen Philologie. Mit ihr ist jetzt auch eine Art Seminar in Gestalt zwanglos aneinandergereihter Referate verbunden worden." 1 3 Im Dezember 1919 vertraute Schmid seinem Lehrer an: „Außerdem freue ich mich auf die russischen Übungen, die der mir ja wohlbekannte Dozent am Orientalischen 9 10
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Vgl. K. Krumbacber, Der Kulturwert, S. 340f. Vgl. V. Jagic, Die slavischen Sprachen,' in: Die osteuropäischen Literaturen und die slavischen Sprachen, Berlin/Leipzig 1908, S. 17; Vossische Zeitung, 1 4 . 6 . 1 9 1 4 , Nr. 296, Morgenausgabe; O. Hoetzicb, Die Frage des russischen Unterrichts an höheren Schulen, in: Deutsches Philologenblatt, 1914, H. 21, S. 376; H. Baumann, Zur Geschichte der für Deutsche gedruckten Lehrmittel des Russischen (1731—1945), Phil. Habil., Jena 1969; E.Mai/J. Mai, Die deutsch-russischen und russisch-deutschen Fachwörterbücher aus derZeit von 1850 bis 1917 in ihrer ökonomisch-politischen Bedingtheit, in: Slawisch-deutsche Wechselbeziehungen in Sprache, Literatur und Kultur, Berlin 1969, S. llOff. Vgl. G. Voigt, Otto Hoetzsch, S. 12; F. Immanuel, Fremde Sprachen — Kriegsakademie, in: E. S. Mittler und Sohn. Königliche Hofbuchhandlung und Hofdruckerei Berlin. Zum 3. März 1914, dem Gedenktage ihres 125jährigen Bestehens . . ., Berlin 1914, S. 199. Vgl. H. F. Scbmid/R. Trautmann, Wesen und Aufgaben der deutschen Slavistik. Ein Programm, Leipzig 1927. Schmid an Murko, 16. 11. 1919, Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Ljubljana.
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Seminar, Herr [Adolf] Lane, an der Hand der Lektüre von Turgenevs ,Dym' und ausgewählter Stücke aus A. Herzens Werken abhalten wird." 14 Beide Bemerkungen zeigen, daß im Russischunterricht an deutschen Universitäten und Hochschulen Möglichkeiten genutzt wurden, um Kenntnisse über ausgewählte Bereiche der russischen Kultur, besonders über die klassische und die neuere russische Literatur, zu vermitteln. Auch Hinweise Jagics bestätigen dies. Der Gelehrte hatte bereits Ende der siebziger Jahre sogar in seinem Russischunterricht an der Kriegsakademie in Berlin mit seinen Hörern Werke Turgenevs gelesen. „Noch jetzt ist mir e i s lebhafte Interesse meiner damaligen Schüler an dem Gegenstand, das große Verständnis vieler derselben für die Feinheiten der russischen Diction eines stilistisch so hervorragenden Schriftstellers, wie Turgenjev, in angenehmer Erinnerung", schrieb er 1893. 15 Neben Herzen und Turgenev gehörten Gogol' undCechov zu den bevorzugten russischen Schriftstellern, die dem Sprachunterricht zugrunde gelegt wurden. Der Russischunterricht war somit in vielen Fällen mehr als nur wertneutrale Sprachvermittlung. Einen Beitrag zur Kenntnis von Zusammenhängen und Einzelerscheinungen der historischen und geistig-kulturellen Entwicklung Rußlands leisteten auch die slawistische Sprachwissenschaft und Philologie in Deutschland. Beide Disziplinen stießen in der hier behandelten Zeit vor allem mit Werken Leskiens, Bernekers und Jagics sowie ihrer Schüler und Mitarbeiter zu bleibenden Ergebnissen vor, auf denen die internationale Forschung in der Folgezeit aufbauen konnte. 1 6 Aus einigen grundsätzlichen Bemerkungen der internationalen slawistischen Kritik über Werke von L. K. Goetz geht hervor, welche Bedeutung dem Studium der russischen Sprache sowie des Altkirchenslawischen und des Altrussischen einerseits und den slawistisch-linguistischen und slawistischphilologischen Forschungen und der Kenntnis ihrer Ergebnisse andererseits für die Klärung von Details und Zusammenhängen der Geschichte Rußlands zukam. 1 7 „Unkenntnis des Slavischen" und „ungenügende Bekanntschaft mit den slavischen Quellen bloß auf Grund von (lateinischen) Übersetzungen" wurden als Ursache dafür erkannt, daß einige deutsche Gelehrte noch nicht darauf vorbereitet waren, „die slavischen Quellen nach ihrem wahren, ihnen zukommenden Werthe zu würdigen". 1 8 Mit dieser Kritik wurde die berechtigte Forderung verknüpft, daß über Geschichte und Kulturgeschichte der slawischen Völker nur derjenige schreiben sollte, „der auch-das Slavische so weit beherrscht, daß er die slavischen Quellen benutzen kann". 1 9 Damit war auf die gegenseitige Ergänzung und Bereicherung der sprachwissenschaftlichen und philologischen sowie historischen und kulturgeschichtlichen Forschungen hingewiesen worden. Mehrere Slawisten Deutschlands haben mit den Ergebnissen ihrer gewissenhaften 14
Schmid an Murko, 20. 12. 1919, ebenda. L. Tolstoj's Werke in deutscher Übersetzung, unter der Redaktion von R. Löwenfeld, Bd. 1 - 2 , Berlin 1891-1892, in: Archiv für slavische Philologie (Archiv) 15, 1893, S. 103. Vgl. W. Zei//H. Pobrt, Etapy razvitija slavistiki v Germanii do 1945 g., in: Metodologiceskie problemy istorii slavistiki, Moskau 1978, S. 146ff. Vgl. R. Nachtigall, Rez. zu L. K. Goetz, Geschichte der Slavenapostel Konstantinus (Kyrillus) und Methodius, Gotha 1897, in: Archiv 20, 1898, S. 124ff.; W. Vondräk, Einige Bedenken gegen die Echtheit des Briefes von Papst Hadrian II. in der Vita S. Methodii c. VIII, ebenda, 20, ' 398, S. 141 ff.; K. Kadlec, Neue Ansichten über Russkaja Pravda, ebenda, 36, 1916, S. 282ff.; V-Jigic, Anmerkung dazu, ebenda, S. 282f. R. Nachtigall, Rezension, S. 126. W. Vondräk, Einige Bedenken, S. 146; M. Murko, Die slawische Philologie in Deutschland, in: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 12, 1918, Sp. 313ff.
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sprachwissenschaftlichen und philologischen Kleinarbeit, die ein fundiertes Wissen voraussetzte, bahnbrechende Beiträge zu internationalen wissenschaftlichen Forschungen und Diskussionen beigesteuert und dabei Fragen aufgeworfen oder geklärt, die auch für die Geschichte des russischen Volkes und seiner Kultur Bedeutung hatten. Erwähnung verdienen in diesem Zusammenhang vor allem die gründlichen Forschungen und Editionen Leskiens und Jagics und mehrerer ihrer Schüler zu dem Gesamtkomplex der Entstehungsgeschichte und des Charakters des Altkirchenslawischen sowie Bernekers zu einem slawischen etymologischen Wörterbuch. 2 0 Neben den grundlegenden sprachwissenschaftlichen und philologischen Werken Leskiens, Jagics und Bernekers 2 1 legen zahlreiche kleinere und größere Beiträge im „Archiv für slawische Philologie", das J a g i c seit 1876 als wichtigstes Organ der internationalen Slawistik in deutscher Sprache in Deutschland herausgab 2 2 , sowie in deutschen sprachwissenschaftlichen Fachzeitschriften Zeugnis davon ab. Der Schwerpunktbildung in der slawistischen Sprachwissenschaft und Philologie lagen neben den persönlichen Interessen der einzelnen Gelehrten durchaus auch Einsichten in wissenschaftliche Notwendigkeiten zugrunde. Von einer systematischen Forschung indes konnte deshalb keine Rede sein, weil die Zahl der sich mit slawistischen Fragen befassenden vergleichenden Sprachwissenschaftler und Philologen dafür zu gering war. Verschiedene Probleme wurden auch von der bürgerlichen Wissenschaft nicht gesehen und konnten nicht gesehen werden. Wichtig waren in diesem Zusammenhang auch die in den in Deutschland erschienenen sprachwissenschaftlichen und philologischen Untersuchungen und Rezensionen in- und ausländischer Gelehrter enthaltenen Hinweise auf Arbeiten und Forschungsergebnisse der russischen Wissenschaft. Sie gaben vor allem den der russischen Sprache nicht mächtigen, aber an slawistischen Fragestellungen interessierten deutschen Gelehrten Kenntnis vom Forschungsstand und von den Entwicklungstendenzen der slawistischen Sprachwissenschaft und Philologie in Rußland, die in deutschen Fachzeitschriften eine kritische W ü r d i g u n g fanden. Namentlich im „Archiv", einem Zentrum des deutsch-slawischen wissenschaftlichen Meinungsaustausches, zeichnete sich deutlich ab, daß mehrere Slawisten Deutschlands und Rußlands sich um wissenschaftliche Objektivität bemühten und sich damit weitgehend herauszuhalten versuchten aus den wissenschaftlich verbrämten aktuellen politischen Auseinandersetzungen und aus der Manipulation der Wissenschaft im Klasseninteresse der imperialistischen Bourgeoisie. Bopp, Schleicher und Leskien hatten auf die Notwendigkeit einer stärkeren Berücksichtigung der slawischen Sprachen in der vergleichenden Sprachwissenschaft hingewiesen, ehe Krumbacher 1908 neuerlich darauf aufmerksam machte. 23 In dieser Traditionslinie stand neben anderen Indoeuropäisten auch Felix Solmsen, Schüler bedeutender deutscher und russischer Sprachwissenschaftler wie J . Schmidt, G. Curtius, K. Brugmann, A. Leskien, R. Scholvin und F. Fortunatov. Neben den klassischen Sprachen interessierten Solmsen auch die slawischen Sprachen, namentlich das Russische. Vgl. W. Zeil/H. Pobrt, Zur Entwicklung der Slawistik in Deutschland von ihren Anfängen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, in: ZfSl 22, 1977, H. 2, S. 170ff. 2 1 Vgl. neben zahlreichen Quelleneditionen namentlich A. 'Leskiert, Grammatik der altbulgarischen (altkirchenslavischen) Sprache, Heidelberg 1909; Handbuch der altbulgarischen (altkirchenslavischen) Sprache, Heidelberg 1871; V. jagic, Entstehungsgeschichte der kirchenslavischen Sprache, 2. Aufl., Berlin 1913; E.Berneker, Slavisches etymologisches Wörterbuch I, Heidelberg 1913. 2 2 Vgl. Archiv für slavische Philologie. Gesamtinhaltsverzeichnis. Bearbeitet v. K. Günther, Berlin 1962. 23 K, Krumbacher, Der Kulturwert, S. 351 ff.
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1893 habilitierte er sich in Bonn für vergleichende Sprachwissenschaft mit besonderer Berücksichtigung der klassischen und der baltisch-slawischen Sprachen. In seiner Lehrtätigkeit an der Universität B o n n setzte er von Anfang an die seinerzeit von Schmidt eingeführten Vorlesungen über die altkirchenslawische Grammatik mit den zugehörigen Übungen fort, „die vereinzelt auch . . . altrussischen Texten galten".- 4 Stärker besucht waren Solmsens praktische Russischkurse an der Universität Bonn und an der Handelshochschule K ö l n , in denen er es verstand, den Sprachunterricht mit Informationen über die russische Kultur, insbesondere über die neuere russische Literatur zu verbinden, wie aus seinen Briefen an J . Schmidt hervorgeht. 2 5 E i n längerer Studienaufenthalt in Rußland 1895 — befürwortet von Schmidt und durch die finanzielle Unterstützung des preußischen Unterrichtsministeriums ermöglicht — vermittelte ihm dafür zusätzlich Wissen und Anregungen. Aufschlußreich ist der Brief Solmsens an Schmidt vom 19. Oktober 1895, in dem er „des freundlichen Entgegenkommens", das er'überall gefunden hatte, dankbar gedachte und schrieb: „ V o n den 5 1 /., Monaten, die ich im ganzen mich in Rußland aufgehalten habe, habe ich so ziemlich die ersten 3 1 /-j in und bei Moskau zugebracht. Diese Zeit hat ausgereicht, um mir die ersehnte Sprachfertigkeit zu verschaffen . . . — Dann habe ich etwa 5 Wochen auf dem Lande unter den Bauern gelebt, und zwar in einem D o r f e etwa 30 Meilen nordöstlich von Moskau, im Kreise Jaroslavl', und habe den dortigen Dialekt etwas genauer kennengelernt. Durch einen .günstigen Zufall konnte ich mich auch mit den Grundzügen einer sehr abweichenden Mundart aus dem Gouvernement Vologda bekannt machen . . . Endlich die letzten 14 Tage, die mir noch blieben, benutzte ich . . . zu einer Wolgatour von Jaroslavl' über Niznij Novgorod und Kazan' bis Saratov und zur Rückreise und einem kurzen Aufenthalt in Petersburg. So bin ich mit dem, was ich in der mir zu G e b o t e stehenden Zeit erreicht habe, zufrieden und fühle, daß ich für Wissenschaft und Leben eine Fülle von neuen Anregungen bekommen h a b e . " 2 6 Solmsen kehrte aus Rußland mit großen Plänen zurück. Besonderen Anteil daran hatten seine Beziehungen zu Fortunatov, die sich in der Folgezeit als nützlich erwiesen. 2 7 Dieser bedeutende, schulebildende russische Gelehrte 2 8 , der \yie vor ihm beispielsweise Aleksandr Pypin und Aleksandr Veselovkij 2 I ) , in den siebziger Jahren in Deutschland seine Studien fortgesetzt hatte, wurde später von mehreren deutschen Sprachwissenschaftlern sehr hoch geschätzt. 3 0 Solmsen hat mehrere Arbeiten Fortunatovs ins Deutsche übersetzt und damit neben anderen deutschen Gelehrten dazu beigeträgen, dessen wissenschaftliche Ansichten im deutschen Sprachgebiet zu verbreiten. 3 1 Auch
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E. Schay^er, Das sprachwissenschaftliche Seminar,, in: Geschichte der Rheinischen Friedrich-WilhelmUniversität zu Bonn am Rhein, Bd. 2 : Institute und Seminare 1818—1933, Bonn 1933, S. 161. Archiv der Akademie der Wissenschaften der D D R , Schmidt-Nachlaß, Nr. 240 (Schmidt-Nachlaß). Ebenda. Vgl. die Briefe Solmsens an Fortunatov, Archiv Akademii Nauk SSSR Leningrad (AANL), f. 90, op. 3, e. ch. 77; F.M.Bere^in, Russkoe jazykoznanie konca X I X — nacala X X veka, Moskau 1976, S. 73f., 105f.
Vgl. F. M. herein, Russkoe jazykoznanie, S. 72ff., 304ff. Vgl. P. A. Nikolaev/A. S.'KurilovjA. L. Grismtn, Istorija russkogo literaturövedenija, Moskau 1980, S. 130 ff., 166ff. . - 30 Vgl. F. M. Bere^in, Russkoe jazykoznanie, S. 74f. -31 Vgl. Solmsen an Schmidt, 1 9 . 1 0 . 1 8 9 5 , 25. 2. 1897, 20. 3. 1897, 5. 4. 1897, Schmidt-Nachlaß; die Briefe Solmsens an Fortunatov, AANL, f. 90, op. 3, e. ch. 77; F . M . B e r l i n , Russkoe jazykoznanie, S. 73f., 105 f. 28
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die Erläuterungen, die Solmsen zu den sprachwissenschaftlichen Theorien Fortunatovs 1895 auf dem Philologenkongreß in Köln gab 3 2 , dienten diesem Ziele. Nach seiner Rückkehr aus Rußland informierte Solmsen, wie aus seinem Brief an Schmidt zu entnehmen ist, vor allem in Vorlesungen und Seminaren ausführlich über das zeitgenössische Rußland und über die Hauptvertreter der russischen Literatur des 19. Jh. Angeregt durch seine Studien in Rußland arbeitete er mehrere Jahre an einem für breitere Kreise bestimmten Werk über die neuere russische Novelle 3 3 , das er aber nicht mehr vollenden konnte. Es gehört zu den Besonderheiten der bürgerlichen Slawistik in Deutschland, daß in ihrem Forschungs- und Lehrbetrieb die Sprachwissenschaft und Philologie auf Kosten tieferlotender und umfassenderer wissenschaftlicher Analysen des progressiven, realistischen literarischen Schaffens der slawischen Völker, vor allem des russischen Volkes, dominierten. 3 ''' Auf die Ursachen kann hier nicht näher eingegangen werden. Die sich auf konservative oder reaktionäre Geisteshaltungen gründende Ignorierung der Orientierung der russischen Realisten auf soziale und politische Veränderungen sowie die aus gleichen Positionen erwachsene Geringschätzung der künstlerischen Gestaltung der gesellschaftlichen Bewegung Rußlands in der realistischen russischen Literatur gehörten sicher ebenso dazu wie persönliche Neigungen der bürgerlichen Slawisten. Es lag freilich auch nicht im Interesse des allem Slawischen gegenüber sehr mißtrauischen preußisch-deutschen Herrschaftssystems, das eigentliche Anliegen dieser Literatur in Deutschland zu propagieren. Von der Ignorierung bedeutender Erscheinungen und Vertreter der russischen Literatur war es nur ein kleiner Sprung zu den zahlreichen zielgerichteten Entstellungen und Verfälschungen nach reaktionären weltanschaulichen und politisch-ideologischen Leitbildern. Der Verfall der bürgerlichen Kultur bewirkte, daß sich die deutsche Bourgeoisie im Interesse ihrer weltanschaulichen Bedürfnisse immer stärker von der Rezeption der kritisch-realistischen russischen Literatur distanzierte, daß sie die Werke Tolstojs, Dostoevskijs, Cechovs und anderer Realisten subjektiv kritisch-reaktionär interpretierte, das Werk Gor'kijs nicht verstand oder nicht verstehen wollte und die Propagierung antirealistischer Werke russischer Autoren in den Vordergrund rückte. Die gesellschaftliche Problematik der besten Werke der russischen Literatur wurde zugunsten abstrakt psychologischer, religiös-moralischer Fragestellungen eliminiert. 3 5 In dieser Situation wurde das Proletariat, vor allem durch seine marxistischen Kräfte, „zum rechtmäßigen und kritischen Anwalt der russischen Literatur in Deutschland". 30 Die Bedeutung der russischen Literatur für die Arbeiterbewegung in Deutschland wuchs in dem Maße, wie sich das Zentrum der revolutionären Bewegung nach Rußland verlagerte und die Partei der Bolschewiki sich zu einer Partei neuen Typus entwickelte. Das marxistische Verständnis der russischen Literatur durch die deutsche Arbeiterbewegung, das in den Arbeiten von F. Mehring, R. Luxemburg, C. Zetkin, K. und H. Duncker sichtbar wurde, war trotz aller Widersprüchlichkeit der ihnen zugrunde Solmsen an Fortunatov(1895 oder 1896), zit. nach F. M. Bere^in, Russkoe jazykoznanie, S. 74; vgl. auch Verhandlungen der dreiundvierzigsten Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Köln vom 24. bis 28. September 1895, Leipzig 1896, S. 154f. 33 Vgl. W. Cbristiani, Prof. Felix Solmsen (Nekrolog), in: Archiv 33, 1912, S. 626. 3 4 Vgl. V.Jagic, Istorija slavjanskoj filologii, Petersburg 1910. 35 E. Hexelscbneider/M. Wegner, Deutsche Arbeiterbewegung, S. 7. 36 Ebenda, S. 3 f. 32
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liegenden literatischen Auffassungen und trotz aller politisch-ideologischen Unklarheiten die in die Zukunft weisende Alternative nicht nur zur vulgär-marxistischen, zur revisionistisch-liberalistischen und zur progressiv-demokratisch-bürgerlichen E b e n e 3 ' , sondern auch zur Beschäftigung mit der russischen Literatur innerhalb der bürgerlichen Slawistik in Deutschland. Im Vergleich zur Rezeption und Interpretation der fortschrittlichen russischen Literatur durch die marxistischen Kräfte der revolutionären Arbeiterbewegung Deutschlands, die darum rangen, vor allem deren sozialkritischen und sozialoptimistischen Ideengehalt für die Kämpfe der Arbeiterklasse nutzbar zu machen, nimmt sich der von anderen Klassenpositionen ausgehende Anteil der bürgerlichen Slawistik an der Vermittlung von Kenntnissen über die realistische russische Literatur und an deren sachlicher Interpretation bescheiden aus. Die Vorlesungen und Seminare an Universitäten und Hochschulen, die der russischen Literatur und Volksdichtung gewidmet waren, entziehen sich heute weitgehend einer inhaltlichen Wertung. Anhand der gedrückten Verzeichnisse der einzelnen Universitäten und Hochschulen Deutschlands können wir nur die Tatsache registrieren, daß eine ganze Anzahl von Lehrveranstaltungen zu diesen Gegenständen nicht nur angekündigt wurde, sondern auch stattfand. Dies läßt sich auch aus mehreren Gelehrtenbriefen entnehmen. 3 8 Daraus ist zu ersehen, daß die V o r lesungen und Seminare positivistisch an den Stoff herangingen und grundlegende Zusammenhänge in der Regel ausklammerten. Dennoch haben sie Studierende der Slawistik und einen engeren Kreis weiterer Interessenten mit bedeutenden Vertretern und wichtigen Aussagen der russischen Literatur bekannt gemacht. Aus der zum Teil versteckten Polemik gegen die „Abendlandideologie" in wissenschaftlichen Untersuchungen kann man schlußfolgern, daß einige bürgerliche Gelehrte auch ihren Hörern deutlich gemacht haben, daß Rußland und seine Kultur ?u Europa gehören und nicht dem im Vergleich zum „Abendland" kulturell angeblich zurückgebliebenen Asien zugewiesen werden dürfen. Die Vorlesungen stützten sich, wie aus archivalischen Quellen hervorgeht 3 9 , auf eigene Forschungen an dem damals in Deutschland zugänglichen literarischen Material und auf Forschungsergebnisse russischer Gelehrter. Sie machten somit zugleich auf Resultate der russischen Literaturgeschichtsschreibung aufmerksam. 4 0 Die relativ kleine Zahl wissenschaftlicher Publikationen zur Geschichte der russischen Literatur, die jedoch einen breiteren Interessentenkreis ansprechen konnte, zeigt, daß dieser stärker bewußtseins- und ideologiebildendeBereich der slawischen Philologie innerhalb der slawistischen Forschung nicht den ihm gebührenden Platz einnahm. D e r Appell Krumbachers von 1908, sich intensiver mit der russischen Literatur zu beschäftigen, fand in der bürgerlichen deutschen Slawistik nur wenig Resonanz. Mit seiner öffentlichen Erklärung, die Werke Puskins, Gogol's, Goncarovs, Turgenevs, Dostoevskijs, Tolstojs undCechovs, aber auch Gor'kijs gehörten „zum unveräußerlichen Bestände der geistigen Bildung unserer Z e i t " , hat Krumbacher der literaturgeschichtlichen Forschung 37
Ebenda, S. 32, auch S. 27 f f . ; M. Wegner, Deutsche Arbeiterbewegung.
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Vgl. Leskien an O . F. Miller, 2 6 . 1. 1872, Institut istorii russkoj literatury, tenabteilung, f. 156, op. 1, e. ch. 13.
Leningrad,
Handschrif-
' Vgl. Nacionalna Sveucilisna Biblioteka Zagreb, Handschriftenabteilung, Jagic-Nachlaß; Narodna in
:i J
Univerzitetna knjiznicaLjubljana, Murko-Nachlaß; Literärni archiv Pamätniku närodniho pisemnictvi Praha, Murko-Nachlaß. 40 Vgl. p . Nikolaiv u. a., Istorija, passim.
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und Lehre der bürgerlichen Slawistik in Deutschland Maßstäbe gesetzt. Mit Recht hob er den „gedanklichen und sittlichen Inhalt, die haarscharfe psychologische Analyse, die überraschende Neuheit der Beobachtung, besonders die hingebende Beschäftigung mit den Kleinbürger-, Bauern- und Arbeiterklassen, endlich die erste, oft düstere, aber doch immer wieder optimistische Lebensanschauung und die fast ausnahmslose Lauterkeit der Gesinnung" hervor, durch die sich die russische Literatur „einen gesicherten Platz in der Weltliteratur" erobert und „auch die unverbesserlichsten Anhänger der Legende von der intellektuellen und moralischen Minderwertigkeit des Slawentums Lügen gestraft" hätte/'1 Eine deutliche Schwerpunktbildung in der literaturgeschichtlichen Forschung der Slawistik läßt sich nicht erkennen. Sporadische Beiträge vor allem über die großen Schriftsteller Rußlands im 19. Jh. und über verschiedene Themen der russischen Volksdichtung lassen vermuten, daß eine systematische Beschäftigung auf Grund tiefergreifender Analysen im allgemeinen nicht angestrebt wurde oder werden konnte. Von den Slawisten hat der polnische Ordinarius für slawische Philologie an der Universität Berlin, Aleksander Brückner, das meiste zur Kenntnis der russischen Literatur in Deutschland beigetragen. In seiner 1905 in Leipzig erschienenen Gesamtdarstellung der Geschichte der russischen Literatur, die, obwohl sie der positivistischen Methode verhaftet ist, durchaus eigene Akzente setzte sowie auf kulturhistorische Zusammenhänge und auf bestimmte gesellschaftliche Bezüge aufmerksam machte, stellte er u. a. fest: Die Geschichte dieser Literatur müßte die Aufmerksamkeit fesseln „durch ihre Eigenart, durch ihren hohen, humanen Gehalt, durch ihre Natürlichkeit und Lauterkeit, durch ihren idealen Flug, durch das Tiefe und Erschütternde ihrer Wirkungen, durch die Bedeutung endlich, die sie im geistigen Leben ihrer Nation beansprucht". Der denkende Russe „erwartete und verlangte von der Literatur seines Landes keinen ästhetischen Zeitvertreib nur; er stellte sie in den Dienst alles Edlen und Guten, der Tendenz, der Aufklärung und Befreiung der Geister". 42 Dieser treffende Hinweis Brückners auf Grundpositionen der russischen Literatur schließt Unklarheiten und Inkonsequenzen in ihrer gesellschaftlichen Einordnung und Fehleinschätzungen einzelner Schriftsteller und Dichter keineswegs aus. Vor allem dem Werk Gor'kijs, das in der Arbeiterklasse Deutschlands eine so wesentliche Rolle spielte, wurde Brückner in keiner seiner Arbeiten gerecht. An dem Verhältnis zu den revolutionären Traditionen innerhalb des russischen Realismus und namentlich zu dem Werk Gor'kijs zeigt sich die Widersprüchlichkeit der bürgerlichen Positionen zur russischen Literatur. Das Urteil bürgerlicher Gelehrter und Kritiker über Gor'kij und seine revolutionären Vorläufer in der russischen Literatur wurde maßgeblich bestimmt von ihren Beziehungen zur revolutionären Bewegung in Deutschland und von ihrer Haltung zum eigenen Proletariat/' 3 Brückner blieb der Kampf der deutschen und der internationalen Arbeiterklasse gegen Imperialismus und Krieg zeit seines Lebens fremd. Der Dichtung Gor'kijs konnte er somit nur Unverständnis, nach der Revolution von 1905/07 sogar Aversion entgegenbringen. 44 Die polemisch-ablehnende Haltung des 41
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i K r u m b a c b e r , Der Kulturwert, S. 349; Geschichte der klassischen russischen Literatur, Berlin/ Weimar 1965, S. 9. A. Brückner, Geschichte der russischen Literatur, Leipzig 1905, S. 1. M. Wegner, Deutsche Arbeiterbewegung, S. 83. Vgl. A. Brückner, Rußlands geistige Entwicklung im Spiegel seiner schönen Literatur, Tübingen 1908, S. 137ff.; ders., Russische Literatur, Breslau 1922, S. 84f.
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polnischen Slawisten zu Gor'kij verdichtete sich nach 1905/07. Dennoch hat Brückner durch seinen Hinweis auf Vorstellungen der russischen Realisten des 19. Jh. von sozialer Gerechtigkeit dem deutschen Leser wichtige Seiten der russischen Literatur deutlich zu machen verstanden. Insbesondere hob er hervor, sie wäre „zu einer Dienerin der Wahrheit und Aufklärung, zu einer Gewissensmahnerin geworden . . . Die zähe Ausdauer und der hohe Flug des russischen Geistes haben eine Weltliteratur geschaffen", deren Bedeutung weit über Rußlands Grenzen hinausreichte. 45 Kein anderer Gelehrter Deutschlands war so tief in die russische Literatur eingedrungen wie Brückner. W. Wollner in Leipzig, der die Begabung dazu hatte'»6, wie auch seine 1879 in Leipzig erschienenen „Untersuchungen über die Volksepik der Großrussen" zeigen, konnte seine Gesamtdarstellung der Geschichte der russischen Literatur nicht mehr vollenden/*7 In den Hintergrund gedrängt von den Gesamtdarstellungen'' 8 sowie von zahlreichen literaturkritischen und populärwissenschaftlichen Arbeiten 49 wurde die relativ kleine Zahl von Buchpublikationen und Aufsätzen der bürgerlichen Slawistik zu Problemen der Geschichte der russischen Literatur, einschließlich der Volksliteratur. Auch sie zeigt, daß sich die Mehrheit ihrer Verfasser im Rahmen der damals üblichen Denkgewohnheiten und Interpretationsschemata bewegte. Im allgemeinen wurden die Fakten in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt, grundlegende gesellschaftliche Zusammenhänge indes weitgehend ausgespart. Manch wertvolle Information über die Geschichte der russischen Volksdichtung war der Arbeit R. Abichts über die russische Heldensage zu entnehmen 50 , die von ihm auf der Grundlage damaliger historischer und literarhistorischer Erkenntnisse analysiert worden war. E. Berneker veröffentlichte eine interessante Untersuchung über „Das russische Volk in seinen Sprichwörtern", der ein Vortrag zugrunde lag, den der Verfasser 1902 im Berliner Verein für Volkskunde gehalten hatte. 51 In ihr versuchte er, den des Russischen nicht mächtigen Freunden der Volkskunde „eine Vorstellung von dem in Deutschland so wenig bekannten Sprichwörterreichtum der Russen" zu geben und Anregungen zu vermitteln, „sich dem unerschöpflichen Original selbst zuzuwenden". Nach Auffassung Bernekers enthalten „diese anspruchslosen Schöpfungen der Volksweisheit" nicht nur „allgemein moralische und psychologische Wahrheiten", sondern gestatten auch einen tiefen Einblick „in die russische Volksseele mit ihrem ganzen Denken und Empfinden". Das russische Sprichwort gäbe „ein treues Bild von der Kultur, der Denkweise, der Weltanschauung und Lebensauffassung des russischen Volkes". 52 Sicher waren manche Schlußfolgerungen Bernekers idealistisch überhöht, dennoch gebührt dem Gelehrten das Verdienst, auf Ders., Geschichte der russischen Literatur, S. 505. 16 Vgl. A. Leskien, Wilhelm Wollner (f), in: Archiv 25, 1903, S. 500; W. Zeil, Wilhelm Wollner ein verdienstvoller deutscher Slawist, in: ZfSl, 22, 1977, H. 2, S. 227ff. « Vgl. A. Leskien, Wilhelm Wollner. 48 Vgl. A. Reinbold, Geschichte der russischen Literatur, Leipzig 1886; G. Polonskj, Geschichte der russischen Literatur, Leipzig 1902; A. Brückner, Geschichte der russischen Litteratur; ders., Rußlands geistige Entwicklung; auch S. A. Vengerov, Grundzüge der Geschichte der neuesten russischen • Literatur, Berlin 1899; A. Veselovskij, Die russische Literatur, in: Die osteuropäischen Literaturen und Sprachen, S. 40 ff. 49 Vgl. Geschichte der klassischen russischen Literatur, passim. 50 R. Abicht, Die russische Heldensage, Leipzig 1907. 51 E. Berneker, Das russische Volk in seinen Sprichwörtern, in: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde, 14, Berlin 1904, S. 75ff., 179ff. 52 Ebenda S. 191, 77. /,r>
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volksliterarische Reflexe sozialer Entwicklungen und Erscheinungen in, Rußland aufmerksam gemacht zu haben. Eine große Zahl der im „Archiv" erschienenen literaturgeschichtlichen Beiträge sind Besprechungen vor allem von literargeschichtlichen und volkskundlichen Arbeiten russischer Gelehrter sowie Anzeigen deutscher Übersetzungen bzw. deutscher Gesamtausgaben von Werken einzelner Vertreter der russischen Literatur. 53 Die zum Teil sehr ausführlichen Inhaltsangaben zu wissenschaftlichen Arbeiten bürgerlicher russischer Gelehrter über die russische Literatur informieren gleichzeitig über bedeutende Erscheinungen der russischen Kultur sowie über Stand und Schwerpunkte der russischen Literaturwissenschaft, ferner über in Rußland herausgegebene Gesamtausgaben von Werken russischer Schriftsteller und Dichter. Aus vielen Beiträgen läßt sich in diesem Zusammenhang deutlich ablesen, daß die Slawisten Deutschlands der Mittlerfunktion ihrer Wissenschaft eine große Bedeutung beimaßen. Von besonderem Wert für die Heranführung breiterer Interessentenkreise in Deutschland an Höhepunkte und Spitzenleistungen in der Entwicklung der progressiven russischen Kultur waren die in Deutschland in deutscher Sprache erschienenen Gesamtund Einzelausgaben von Werken russischer Dichter und Schriftsteller 54 , auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Nicht weniger wichtig waren einige sich von reaktionären Deutungen abgrenzenden Analysen der Gedankenwelt Dostoevskijs und vor allem Tolstojs. Das zunehmende deutsche Interesse für das Werk beider Schriftsteller hat nicht nur Literaturkritiker, sondern auch Gelehrte bewogen, sich diesen Autoren zuzuwenden. Brückner bemerkte 1908, Tolstoj und Dostoevskij hätten sich „an keine europäischen Schablonen und Patronen, Muster und Vorlagen" gehalten, „sie schöpften aus sich selbst und aus ihrem Boden, aus ihrem Volke; . . . diesmal konnte von ihneh Europa lernen". 55 1901 veröffentlichte Berneker eine „kurze, aber nicht flüchtige, lebendige Darstellung" 56 über Tolstoj, den er während eines Studienaufenthaltes in Rußland persönlich kennengelernt hatte. 57 Aus guter Kenntnis der Persönlichkeit und des Werkes führte Berneker seine Leser in die reiche, widersprüchliche Ideenwelt des Schriftstellers, Pädagogen und Philosophen Tolstoj ein. Ausführliche Inhaltsangaben zu den großen Romanen und kritische Bemerkungen zu mancher Auffassung Tolstojs boten gute Informationsquellen und regten zugleich zu aufmerksamer Lektüre an. Plastisch schilderte Berneker die qualvolle Suche Tolstojs nach dem Sinn des menschlichen Lebens. „Liebe zur Wahrheit, zur Nation, zu den Mitmenschen", stellte er fest, wären „die Grundzüge von Tolstojs Wesen". 58 Mit seiner Tolstoj-Interpretation verband Berneker auch aktuelle eigene Gedankengänge, die ihn als Gegner des Nationalismus und des Militarismus auswiesen. „Die Weltgeschichte geht ihren eigenen, unerbittlichen Gang. Mehr als je kehrt die heutige Menschheit das Nationalitätsbewußtsein hervor, und trotz des Friedensmanifestes des Zaren, auf das die Ideen Tolstojs wohl nicht ohne Einfluß gewesen sind, trotz der Friedenskonferenz im Haag ist in Afrika und in Asien die Kriegsfackel aufgelodert, und der ewige Friede scheint wieder in die weiteste Ferne entrückt." 59 Vgl. Archiv für slavische Philologie, Gesatntinhaltsverzeichnis. 51 Ebenda; Geschichte der klassischen russischen Literatur, passim. 55 A. Brückner, Rußlands geistige Entwicklung, S. 121. 56 H. Halm, Wechselbeziehungen zwischen L. N. Tolstoj und der deutschen Literatur, in: Archiv 35, 1914, S. 476. 5' E. Berneker, Graf Leo Tolstoj, Leipzig 1901. 58 Ebenda, S. 114. 59 Ebenda, S. 96. 53
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Von gleicher Gesinnung und gleichem Streben ist auch die aus gründlicher Kenntnis der Werke sowie der Briefe und änderer Bekenntnisse Tolstojs schöpfende Studie K. Stählins gekennzeichnet. 6 0 Stählin hat sich vor dem ersten Weltkrieg intensiver mit Fragen der russischen Kulturgeschichte befaßt und im Rahmen seiner Lehrtätigkeit an der Universität Heidelberg, wo er seit 1910 als a. o. Professor für Weltgeschichte mit besonderer Berücksichtigung der osteuropäischen Geschichte wirkte, Seminare zu dieser Thematik abgehalten. 6 1 Seine 1913 erschienenen Studien zur russischen Kulturgeschichte 6 2 lassen erkennen, daß er sich von bürgerlich-fortschrittlichen Positionen mit Fragen der russischen Kunst- und Literaturgeschichte beschäftigte. In seinem Tolstoj-Essay versuchte Stählin, dem deutschen Leser angesichts zunehmender Konfrontation der Völker Gedanken des Künstlers, Volksbildners und Philosophen Tolstoj über das menschliche Leben und Zusammenleben nahezubringen. In einer Zeit fieberhafter Vorbereitung des ersten Weltkrieges durch die imperialistischen Großmächte sah Stählin vor allem „in der Mehrung der internationalen Verbindungen, dem Bestreben wenigstens, die Kriegsmöglichkeiten einzuschränken . . . bleibende Zusammenhänge zwischen Tolstoj mit der Gegenwart wie der Zukunft" Und er fragte, „ob nicht schon in einer vielleicht nahen Zukunft ,der im Erwerbs- und Machtsinn erschöpfte Optimismus' trotz aller niemals zu verwirklichenden und niemals anzuerkennenden Utopie und radikalen Einseitigkeiten eine Läuterung erfahren werde aus den Kraftströmen des rücksichtslosen Wahrheitssinnes und der elementaren Liebesgewalt und Liebessehnsucht" Tolstojs. 6 ' 1 Generell kann festgestellt werden, daß bürgerliche Intellektuelle dann Vorstellungen von der Bedeutung und der W i r k u n g der russischen Literatur und Kunst entwickelt haben, die bei aller Widersprüchlichkeit zum Verständnis des russischen Realismus beigetragen haben, wenn sie sich nicht von der ansteigenden W o g e der nationalistischen Propaganda überrollen und in den Sog des Kunstverfalls der spätbürgerlichen Gesellschaft ziehen ließen. 65 Erwähnt werden müssen gerade in diesem Zusammenhang auch Stählins Essays über die russische Kunst, in denen er mit viel Verständnis und Einfühlungsvermögen ein Bild von der kulturellen Bedeutung Petersburgs und Moskaus zeichnete und einen Überblick gab über Entwicklung und Inhalt der russischen Kunst in den „Kulturzusammenhängen", „aus denen heraus sie entstand". 6 6 Stählin gehörte zu jenen Gelehrten Deutschlands, die die Verbreitung von Kenntnissen über die russische Kultur und Wissenschaft in den Dienst einer Verständigung der Völker auf bürgerlicher Klassengrundlage stellten. Ein ähnliches Ziel verfolgte auch L. K. Goetz, der an der Universität Bonn, w o er seit 1902 a. o. Professor für philosophische Propädeutik der Altkatholischen Theologie war, unter anderem Vorlesungen über die Geschichte der slawischen Völker hielt. Neben seinen Arbeiten über Kyrill und Method und die Russkaja Pravda 6 7 soll hier noch K. Stählin, Leo Tolstoj, in: Stäb/in, Über Rußland, die russische Kunst und den großen Dichter der russischen Erde, Heidelberg 1913, S. 209ff. 61 Ders., Über Rußland, S. VII. 62 Ders., St. Petersburg und seine Umgebung, ebenda, S. 1 ff.; ders., Die Galerien Petersburgs und Moskaus und die russische Kunst, ebenda, S. 51 ff.; ders.. Im Herzen Rußlands, ebenda, S. 153ff. 63 Ders., Leo Tolstoj, S. 253. 64 Ebenda, S. 254. 6 5 Vgl. M. Wegner, Deutsche Arbeiterbewegung, S. 94. 66 K. Stäblin, Über Rußland, S. VI. 67 L. K. Goet%, Geschichte der Slavenapostel Konstantinus (Kyrillus) und Methodius, Gotha 1897; ders., Das Russische Recht, 4 Bde., Stuttgart 1 9 1 0 - 1 9 1 3 . 60
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auf sein 1904 in Passau erschienenes Buch „Das Kiever Höhlenkloster als Kulturzentrum des vorrhongolischen Rußlands" hingewiesen werden. Goetz legte mit dieser Arbeit, f ü r die er auch wissenschaftliche Studien in Rußland getrieben hatte 68 , eine auf breiter Quellen- und Literaturbasis stehende Untersuchung vor, die dem deutschen Leser einen Einblick in wichtige Zusammenhänge der Geschichte der russischen Kultur und in ihre Erforschung durch die russische Wissenschaft bieten konnte. Goetz selbst betrachtete dieses Buch nur als eine Vorarbeit zu einem größeren Werk „Christentum und Kultur im Kiever Rußland". Weitere Vorstudien dazu hat er noch verwirklichen können 69 , das Werk selbst wurde nicht vollendet. Mehrere bürgerliche Gelehrte Deutschlands hatten die Notwendigkeit erkannt, der russischen Kultur und Wissenschaft in der deutschen Forschung und Lehre sowie im deutschen Bildungswesen Beachtung zu schenken, statt sie „leichtherzig zu ignorieren" . 70 Die entsprechend dem bürgerlichen Klassenstandpunkt der Gelehrten eng umgrenzten, ungenügenden und widerspruchsvollen Informationen, die aus dieser Erkenntnis erwuchsen, waren dennoch ein bescheidener Beitrag zur besseren Kenntnis Rußlands und der künftigen Möglichkeiten deutsch-russischer Zusammenarbeit. Krumbacher hat 1908 mit Recht konstatiert: „Wer Rußland nicht kennt, weiß nichts von einem hochbedeutenden Ausschnitt des allgemeinen Kulturwesens unserer Zeit." 71 Die hier vorgeführten Einzelbeispiele von Versuchen einer Information über russische Kultur und Wissenschaft sowie eines deutsch-russischen wissenschaftlichen Zusammenwirkens zeigen, daß Krumbacher mit seinen Einsichten und Forderungen keine Einzelerscheinung war. 68 Den., Das Kiever Höhlenkloster, S. X X V I . Kirchenrechtliche und kulturgeschichtliche Denkmäler Altrußlands, nebst Geschichte des russischen Kirchenrechts, eingeleitet, übersetzt und erklärt v o n L. K. Goet\, Stuttgart 1905; ders., Staat und Kirche in Altrußland. Kiever Periode 9 8 8 - 1 2 4 0 , Berlin 1908. 70 K. Dietericb, D i e osteuropäischen Literaturen in ihren Hauptströmungen vergleichend dargestellt, Tübingen 1911, S. VII. 'l K. Krumbacber, Der Kulturwert, S. 367 f. ,
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Zu den deutsch-russischen Beziehungen von 1861 bis 1917 im Lichte der Buchgeschichte Die Berliner Druckhilfe für die russische Opposition im Zarenreich. Ein geschichtlicher Überblick OTHMAR FEYL
Es gehört noch zu den chronischen Gebrechen der Erforschung und Darstellung der internationalen Beziehungen bilateraler Art durch Literaturwissenschaftler und Historiker, daß sie in der Regel nur unter Berücksichtigung der Nationalgeschichte der einzelnen Völker und ohne Einbeziehung der Buchgeschichte und ohne Beteiligung der Buchhistoriker betrieben werden. Diese mangelnde Integration führt noch immer dazu, daß die spezifischen Rezeptions- und Kontaktbegriffe der Literaturwissenschaftler und Historiker auch wesentlich unsere Kenntnisse und Vorstellungen von den deutschrussischen Beziehungen in der zweiten Hälfte des 19. Jh. bestimmen und begrenzen. Unter ihrem Einfluß denken wir dabei in erster Linie, wenn nicht allein, an die reichen, beiderseitigen Übersetzungen bedeutender Werke der dichterischen und wissenschaftlichen Literatur und an die Geschichte der ökonomischen, politischen, wissenschaftlichen und ideologischen Beziehungen. ' Doch es gibt noch eine andere Ebene der deutsch-russischen Beziehungen in den Jahren von 1861 bis 1917, zu der sich auf der Grundlage des literaturhistorischen Rezeptionsbegriffs kein Zugang finden läßt, sofern für die meisten sein'er Vertreter hochwertige Übersetzungen aus der russischen Belletristik in die Sprache deutscher Leser und damit der literarische Import allein im Mittelpunkt stehen. Es gilt dagegen, auch die reiche Drucktätigkeit in russischer Sprache auf deutschem Boden für Leser im russischen Heimatland und vdamit den Druckexport zu würdigen. Dazu ist der druckgeschichtlich und bibliographisch orientierte Buchhistoriker besonders berufen; kann er doch damit den Literaturhistoriker und den politischen Historiker ergänzen. Während die Literaturhistoriker, die seit dem Erlöschen der alten universalen „Litterärgeschichte" nationalsprachlich orientiert sind, der russischen (und anderen ausländischen) Drucktätigkeit in Deutschland eine rezeptive Bedeutung nur für das Heimatland der russischen (und anderen ausländischen) Autoren zuerkennen, nicht aber für das Herstellungsland und sie daher aus der Literaturgeschichte Deutschlands weglassen, haben für den Buchhistoriker die auf deutschem Territorium hergestellten Drucke in nichtdeutschen Sprachen auch eine Bedeutung für das Herstellungsland. Sie bilden einen würdigungswerten Bestandteil der Druck- und Literaturgeschichte Deutschlands und — in unserem Falle — einen spezifischen buchgewerblichen Faktor des deutsch-russischen Kontakts in der zweiten Hälfte des 19. Jh. Er büßt nicht dadurch an Bedeutung ein, daß er in sämtlichen deutschen Darstellungen der Literaturgeschichte Rußlands und Deutschlands fehlt. Deutschland als Land, in dem der Buchdruck in nichtdeutschen, vornehmlich slawischen Sprachen seit dem 16. Jh. gepflegt wurde, war auf deutscher Seite nur in engen Fach6»
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kreisen bekannt, in der literaturgeschichtlichen Allgemeinbildung unseres Volkes dagegen weithin unbekannt. Den politischen Historikern, für die die Buchgeschichte in der Regel nur ein Randgebiet darstellt, wird man sagen müssen, daß die ausländische Druckgeschichte der einzelnen Völker nicht nur einenBestandteil ihrer nationalenBuch-undLiteraturgeschichte, sondern auch ihrer gesellschaftlich-politischen Geschichte bildet, da diese die besonderen Bedingungen bestimmte, die viele Autoren zum Buchdruck im Ausland bewegt oder genötigt haben. Die Forschungen des Buchhistorikers ergeben erstens, daß die heute einigermaßen bekannte russische Drucklegung bedeutender Frühschriften Lenins in Deutschland während der Jahre von 1900 bis 1902 1 nur einen besonderen Gipfelpunkt in der lange vorausgehenden russischen Exil-Druckgeschichte der vormarxistischen, überwiegend nichtsozialistischen Opposition Rußlands auf deutschem Boden darstellt. Die publizistische Hilfe vornehmlich Berliner und Leipziger Verlage für politische und literarische Interessen zahlreicher, häufig anonymer Autoren Rußlands, die in jenen Jahren im Ausland weilten oder in ihrem Heimatland unter dem Druck der Zensur, die für Autoren außerhalb Petersburgs und Moskaus besonders empfindlich war, nur verstümmelt oder gar nicht publizieren konnten oder wollten, macht diese Forschung erstmals deutlich. Während in der Schweiz und in England der sozialistische und marxistische und damit der revolutionäre Exildruck dominierte, überwog in Deutschland der-russische Exildruck dichterisch-belletristischer, von Zensurlücken befreiter Werkausgaben sowie konservativer, liberaler, demokratischer und slawophiler Vertreter der russischen Opposition und damit die nichtsozialistische, reformerische und antirevolutionäre Richtung der russischen Opposition. In dem „Hochverrats- und Geheimbündelei"-Prozeß vor dem Landgericht in Königsberg im Juli 1904 wurde diese Stellung Deutschlands deutlich. Er war gegen die Berliner „Vorwärts"-Buchhandlung und gegen ostpreußische Sozialdemokraten gerichtet, die russische (und lettische) revolutionäre Auslandsliteratur in getarnter Form und bereits mehrere Jahre hindurch über die deutsche Grenze in Memel und Tilsit nach Rußland expedierten. Unter der beschlagnahmten und vor Gericht durch Sachverständige ausführlich behandelten Literatur befanden sich nur in der Schweiz und in England, keine in Deutschland hergestellten russischen (und lettischen) Drucke. Damit wurde die russische Exildrucktätigkeit in der Schweiz und in England weithin bekannt, während die gleiche Tätigkeit in Deutschland abseits der Öffentlichkeit verlief und daher bis heute unverdient in Vergessenheit geraten ist. Zugleich liefert die buchgeschichtliche Forschung auch Bausteine zu der reichen Geschichte des slawischen Buchdrucks in Deutschland während des 19. Jh., die auf deutscher Seite leider weniger erforscht und bekannt ist als z. B. die von den Romanisten längst erhellte Rolle Hollands als des bedeutendsten Drucklandes für die französische Oppositionsliteratur des 18. Jh. Die deutsch-russischen Beziehungen im Lichte der Buchgeschichte während der Jahre von 1861 bis 1917 umfassen zwei Hauptgebiete: 1
W i e arg es aber mit dieser Bekanntschaft noch heute, lange nach 1945 und trotz aller leichten Zugänglichkeit der Schriften Lenins steht, bezeugt der Almanach zum 125. Geburtstag des Stuttgarter Verlegers der deutschen Sozialdemokratie, Johann Heinrich Wilhelm Dietz: Ein Leben f ü r das politische Buch, Hannover 1963, 69 S., nicht minder die Bibliographie des Verlages J. H. W . Dietz in Stuttgart f ü r die Jahre 1882 bis 1922, die Peter Läuter in der Leipziger Reihe Beiträge zur Geschichte des Buchwesens, Bd. III, 1968, S. 223—253, veiöffentlicht hat. Beide Publikationen gehen im W e r k verzeichnis des Dietz Verlages über Lenin und die russischen Schriften aller anderen russischen Autoren des Stuttgarter Verlages v o r und nach 1 9 0 0 hinweg.
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1. Die Geschichte des Verlags und Drucks (sowie die Rezeption und Wirkung) russischer, im Heimatland verbotener und nichtverbotener Literatur in Deutschland, vornehmlich in den zwei bedeutendsten Verlags- und Druckzentren Berlin und Leipzig. 2. Das Wirken bedeutender Verleger-Immigranten deutscher Herkunft in Rußland. Die meisten der im Folgenden angeführten und beleuchteten russischen Drucke Berliner Verlage, deren große Mehrzahl im zaristischen Rußland verboten war 2 und die bis heute auf deutscher Seite einer zusammenhängenden Überschau entbehrten, konnten nur durch bibliographische Hilfsmittel festgestellt und durch Sekundärliteratur einigermaßen erkundet werden. Ihre Behandlung beruht mehrheitlich auf Sekundärquellen, da sie in der Deutschen Staatsbibliothek Berlin nicht mehr und in der Universitätsbibliothek Berlin nur in kleiner Zahl vorhanden sind. Wie jedoch der alphabetische Zettelkatalog der Deutschen Staatsbibliothek für die bis 1909 erschienene Literatur nachweist, waren die meisten der Berliner russischen Drucke aus der zweiten Hälfte des 19. Jh. einst im Besitz der früheren Kgl. Bibliothek Berlin. Das wichtigste und zuverlässigste Hilfsmittel für die Ermittlung der Drucke war der gründliche sowjetische Sammelkatalog der im Rußland des 19. Jh. illegalen und verbotenen Druckwerke, den mehrere wissenschaftliche Universalbibliotheken der UdSSR unter Führung der Lenin-Bibliothek Moskau auf der Grundlage eigener Bestände erarbeitet und 1971 in neun Bänden veröffentlicht haben. 3 Im Vordergrund der folgenden Ausführungen stehen die in historisch-politischer und literaturgeschichtlicher Hinsicht wichtigsten russischen Drucke Berliner Verlage. Russischsprachige Gebrauchsliteratur, wie Wörterbücher, Reiseführer, Sprachlehrbücher usw., konnte aus räumlichen Gründen nur am Rande berücksichtigt werden. Die wenigen, im zaristischen Rußland nicht verbotenen Drucke der Berliner Verlage werden durch ein hochgestelltes Sternchen gekennzeichnet. Eine übersichtliche und zusammenfassende, chronologische Liste aller angeführten russischen Drucke am Ende der Darstellung muß aus Platzmangel leider unterbleiben. Die buchgewerblichen Hauptvertreter des gesellschaftlich-politischen und belletristischen russischen Buchdrucks in Berlin von 1861 bis 1917 waren fünf Verlage: 1. Die Verlagsbuchhandlung Bernhard Behr (E. Bock), begründet 1835. 2
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Über Ausmaß und inhaltlichen Charakter der in der Zeit vor der ersten russischen Revolution in Rußland ganz oder teilweise verbotenen deutschsprachigen, monographischen Literatur vgl. die umfangreichen alphabetischen Listen, die das Leipziger Börsenblatt für den deutschen Buchhandel seit den 90er Jahren veröffentlicht hat. Auf der Grundlage des umfangreichen Artikels über die Zensur im Lexikon: Enciklopediceskij Slovar' von Efron-Brockhaus (Petersburg, Bd. 37, 1903) hat der Leipziger sorbische Verlagsbuchhändler Traugott Pech die Geschichte der Zensur in Rußland von den Anfängen bis zum Ende des 19. Jh. in deutscher Sprache im Leipziger Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, Jg. 70, 1903, IV. Quartal, Nr. 233ff., dargestellt. — Für zahlreiche verlagsgeschichtliche Auskünfte und die Xerokopien mehrerer Kataloge Berliner Verlage aus den Beständen der ehemaligen Bibliothek des Börsenvereins der deutschen Buchhändler im Deutschen Buch- und Schriftenmuseum an der Deutschen Bücherei irr Leipzig habe ich seinem Direktor, BRDr. Fritz Funke, sehr zu danken. Svodnyj katalog russkoj nelegal'noj i zaprescennoj pecati XIX veka, Bd. 1—9, Moskau 1971, (zitiert: SK). Eine weitere Hilfe bot die systematische, zv/eiteilige, häufig annotierende Fachbibliographie des hervorragenden russischen Bibliographen V. I. Me^ov, Krest'janskij vopros v Rossii. Polnoe sobranie materialov dlja istorii krest'janskago voprosa na jazykach russkom i inostrannych, napecatannych v Rossii i za graniceju. 1764—1864, Petersburg 1865, 421 S. Unveränderter Neudruck Leipzig: Zentralantiquariat der DDR 1973. (Zitiert: Me^ov', Krest'janskij vopros). AlleBerliner(undLeipziger) russischen Drucke, die der Bauernreform in Rußland gewidmet waren und bis 1864 erschienen sind, haben hier eine der ersten Verzeichnungen innerhalb der Geschichte der russischen landwirtschaftlichen Fachbibliopraphie gefunden.
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2. Die Verlagsbuchhandlung Ferdinand Schneider, begründet 1847. 3. Die Verlagsbuchhandlung Stuhr und ihre Besitzer Siegmund Gerstmann, Carl Malcomes und Johannes Rüde, seit 1865. 4. Der Verlag Hugo Steinitbegründet 1879. 5. Der Bühnen- und Buchverlag russischer Autoren Ivan Pavlovic Ladysnikov (gest. 1945), begründet 1905. Aus räumlichen Gründen können wir uns an dieser Stelle nur mit den beiden frühesten Berliner Verlegern, mit Schneider und Behr, befassen. Den vier erstgenannten Berliner Verlagen dienten bei der Herstellung ihrer russischen Verlagswerke vornehmlich folgende Druckereien innerhalb und außerhalb Berlins: P. StankiewicBerlin (Beuthstr. 5), Druckerei und Verlag, begründet 1828; Carl Schnitte, Berlin (Neue Friedrichstr. 47, später Kommandantenstr. 72), Inhaber der 1806 begründeten, speziell auf Drucke in russischer und griechischer Sprache eingerichteten Druckerei seit 1845; Kosenthai & Co., Berlin (Berlin N, Johannisstr. 20, später Berlin SO, Rungestr. 20), begründet 1860 als Spezialdruckerei für russische und andere fremdsprachige Texte. Neben Stankiewicz war sie die bedeutendste Russisch-Druckerei Berlins bis zum ersten Weltkrieg; Gottfried Pätz, Naumburg/Saale, begründet 1857, einer der bedeutendsten SlawischDrucker Deutschlands in der zweiten Hälfte des 19. Jh., da er neben den russischen Aufträgen Berliner Verlage zugleich russische Aufträge der Leipziger Verlage Wolfgang Gerhard und E. L. Kasprowicz sowie polnische Aufträge kongreßpolnischer Verlage besorgte. In der Verbotsliste der zaristischen Zensur nehmen seine russischen Drucke innerhalb der in Deutschland erschienenen den größten Umfang ein (SK, Bd. 8, S. 1033). Das Verbotsausmaß der Drucke der Firma Pätz wird nur noch durch die Verbotsquantität der russischen revolutionären Drucke übertroffen, die die Genfer Verlagsbuchhandlung M. K. Elpidine von 1879 bis 1900 herausgebracht hat; Gustav JJschmann, Weimar. Inhaber der 1833 von Johann Tanz begründeten Druckerei in den Jahren vonl871 bis 1905. Auch er hat eine große, bis heute viel zu wenig erforschte Bedeutung als Russisch- (und Polnisch-) Drucker Berliner und Leipziger Verlage. In den Jahren 1884—1890 druckte er u. a. die erste polnische Auggabe des Marxschen Haupt-1 werkes „Das Kapital" (Bd. 1) für den polnischen Verleger E. L. Kasprowicz in Leipzig; Gustav Bär & Hermann, Leipzig. Über die 1860 begründete Spezialdruckerei für fremdsprachige, namentlich russische Schriften, die frühzeitig den Maschinensatz eingeführt hat, konnte nichts Näheres ermittelt werden. Die zuerst genannten vier Berliner Verlage waren junge und universelle Verlage. Sie unterstützten mit ihren russischen gesellschaftlich-politischen und literarischen Drukken vornehmlich die russischen Leser,-die um das Jahr 1861, d. h. vor und nach der Aufhebung der Leibeigenschaft, in Bewegung geraten waren. Von ihnen hebt sich der alte und berühmte, sprach- und geschichtswissenschaftliche Verlag „ Weidmannsche Buchhandlung" ab, der bereits im 17. Jh. in Leipzig begonnen hatte und seit 1854 in Berlin tätig war. Er spielte eine besondere Rolle in der Geschichte des slawischen Buchdrucks in Berlin. Er verlegte die im Besitz von Hans Reimer befindliche, vom kroatischen, in den Jahren von 1874 bis 1880 an der Universität Berlin wirkenden Slawisten Vatroslav Jagic begründete und geleitete Zeitschrift „Archiv für slawische Philologie" (1876 ff.). Innerhalb der slawischen Verlags- und Druckgeschichte Berlins stellen die russischen Drucke in den Jahren zwischen 1861 und 1917 ein Novum dar. In Berlin hatte es um die 86
Mitte des 18. Jh. erstmals einen regen tschechischen kirchlichen Buchdruck für die tschechischen protestantischen Exulanten Berlins in den Offizinen Christian Friedrich Henning (gest. 1765) und Christian Ludwig Kunst (gest. 1783) gegeben. Nach den Teilungen Polens im letzten Drittel des 18. Jh. stieg allmählich der polnische Buchdruck, namentlich polnischer Sprachlehrbücher, der im letzten Jahrzehnt des 18. Jh. in der Verlagsbuchhandlung Friedrich Maurer konzentriert war. In der ersten Hälfte des 19. Jh. war die Verlegung bedeutender Schriften des Begründers der serbischen Schriftsprache und engen Freundes der Gebrüder Grimm, Vuk Karadzic (gest. 1864), durch den hervorragenden Berliner Verleger und Patrioten Georg Reimer (gest. 1842) besonders bemerkenswert. Das gilt auch für die das ganze 19. Jh. hindurch anhaltendenpolnischenBibeldruckefür die protestantischen Polen durch die von Frankfurt/Oder nach Berlin übergesiedelte Druckerei des Verlages Trowitzsch & Sohn, Doch einen nennenswerten russischen Buchdruck gab es in Berlin während der Zeit der feudalabsolutistischen Herrschaft in Rußland nicht; Erst die Auswirkungen ihres Niederganges nach dem Krimkrieg von 1853 bis 1856 und der Beginn einer mächtigen inneren, gesellschaftlich-politischen, revolutionären Bewegung in Rußland, die erstmals zu einer gewissen Lockerung der Zensur, zu öffentlichen Richtungs- und Meinungskämpfen führte und das politische Leserinteresse förderte, hatten ihn ermöglicht und seine Funktion als ausländisches Berliner Druckexil oppositioneller Kräfte des gärenden Zarenreichs bestimmt. > Drei allgemeine Merkmale sind den Berliner russischen Drucken eigen: Erstens: In den politischen Drucken dominieren innenpolitische Fragen Rußlands. Der russische Exildruck bestätigt damit die bekannte Tatsache, daß in der politischen Presse des zaristischen Rußland bis 1905 vornehmlich nur außenpolitische Themen ohne besondere Behinderung durch die Zensur behandelt werden konnten. Zweitens: Alle russischen Drucke erschienen in kleinen und jungen Verlagen Berlins, die in der deutschen Buch- und Literaturgeschichte keinen besonderen Namen hatten und weithin unbekannt oder vergessen sind. Darüber, ob für diese Erscheinung mehr politische oder finanzielle Gründe ausschlaggebend waren, konnten wir nichts ermitteln. Drittens : Die Verschiebung im Lesepüblikum der Berliner Russisch-Drucke. Während die Drucke in den Jahrzehnten von 1860 bis 1890 fast ausschließlich für das russische Heimatland und seine Leser bestimmt waren, wandten sie sich seit 1890 auch und vornehmlich an die russischen Reisenden, Kurgäste und Studenten in Deutschland oder unterstützten zunehmend das Erlernen der russischen Sprache durch die Deutschen. Für diesen Wandel geben die Verlagsanzeigen der Russisch-Drucke im Leipziger „Börsenblatt für den deutschen Buchhandel" ein deutliches Zeugnis. Zu den russischen Drucken des
Schneider-Verlages
Diese Verlagsbuchhandlung 4 wurde am 1. Januar 1847 von Ferdinand Schneider (gest. 3. Oktober 1893 in Berlin) und Dr. H. Lössel begründet (Unter den Linden 19). 1862 traten Georg Stilke und Dr. Gustav van Muyden als Kompagnons bei. 1871 ging die Buchhandlung an andere Besitzer über und fusionierte 1910 mit der Amelang'schen Buchhandlung in Berlin, während der Verlag 1868 von W.Weber, 1881 von Richard Wilhelmi und 1885 von Hermann Klinsmann erworben wurde. Die slawischsprachigen 4
Hauptquelle ist der Verlagskatalog: Verzeichnis der Bücher, welche im Verlag v o n Ferdinand Schneider in Berlin (Viktoriastr. 1 1 ) erschienen sind, Berlin: Schneider 1861, 20 S.
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Verlagswerke Schneiders verkaufte W. Weber an die Berliner Verlagsbuchhandlung Bernhard Beh.r (E. Bock). Die Firma Schneider ist heute leider so gut wie vergessen, war aber seinerzeit eine der bedeutendsten, reich frequentierten SortimentsbuchhandlungenBerlins und besonders auf qualitätsvolle politische Literatur der verschiedensten Richtungen orientiert. Neben Schriften eines liberalen Wortführers wie David Hansemann hat Schneider die frühen, großenteils anonymen politischen Broschüren von Constantin Frantz, dem Theoretiker des Föderalismus und späteren Kritiker des preußisch-deutschen Reiches, verlegt. Von 1858 bis 1861 erschien bei Schneider auch die 1855 begründete, gesellschaftlich-politische Wochenzeitschrift der preußischen Konservativen „Berliner Revue", die vor 1861 einige bemerkenswerte Beiträge anonymer russischer Autoren über die Bauernfrage in Rußland in deutscher Übersetzung gebracht und heftige Kritik an der russischen, antizaristischen Drucktätigkeit in Berlin geübt hatte. Die fast 100 kleineren Broschüren, die Schneider in den Jahren von 1847 bis 1852 verlegte, sind in seinem Katalog von 1861 leijder weggelassen worden, unter ihnen die Broschüre des polnisch-jüdischen Publizisten und Preußen-Kritikers Julian Klaczko, „Die deutschen Hegemonen. Offenes Sendschreiben an Herrn Gervinus" (1849, 52 S.). Über die Biographie Ferdinand Schneiders war nur wenig zu ermitteln. Einen wertvollen Hinweis gab N. P. Ogarev, ein enger Mitarbeiter von Aleksandr Gercen in London. In einem Brief, den er am 2. April 1856 aus Berlin nach Rußland sandte, schrieb er, nach einer Begegnung mit Schneider, daß dieser in der Berliner Verlagsbuchhandlung Eduard Heinrich Schroeder (gest. 1849) gelernt habe und jetzt eine eigene Verlagsbuchhandlung in Berlin besitze. 5 Dürftig ist die Gedenknotiz' zum 50jährigen Jubiläum der Sortimentsbuch- und Kunsthandlung F. Schneider & Co. 6 Hier wird auf die russische Verlagstätigkeit Schneiders überhaupt nicht eingegangen und nur hervorgehoben, daß „einer der ältesten Kunden der Buchhandlung • Schneiders, die stet? eine große xind vornehme Kundschaft bedient hat, Fürst Bismarck ist". Einige wertvolle Aussagen enthält der Aufsatz von Richard Schmidt-Cabanis 7 , der seit 1855 seine Lehrlingszeit bei Schneider absolviert hatte. Er hebt den reichen internationalen Kundenverkehr in der Buchhandlung Schneiders hervor, in der auch oft Polnisch und Russisch zu hören war. Der „reisende Rubel" sei damals in Berlin überall mit offenen Armen angenommen worden. Schneider kennzeichnet er als einen kleinen, brünetten, zierlichen und überaus beweglichen Mann, dem ein so phänomenales Gedächtnis für Buchtitel und Physiognomien eigen gewesen sei, wie es dem Verfasser in seinem späteren Leben niemals mehr begegnet ist. Der erste Gehilfe der Verlagsbuchhandlung Ferdinand Schneiders, Carl Roesteil, der 1859 zusammen mit Raimund Mitscher einen eigenen Verlag in Berlin begründet hat, führte Schmidt-Cabanis zur Freimaurerei. Hervorhebung verdient der Hinweis des Verfassers, daß in den fünfziger Jahren Ferdinand Schneider und sein einstiger buchhändlerischer Lehrmeister Eduard Heinrich Schroeder die damals bedeutendsten Sortimentsbuchhandlungen Berlins unterhalten hätten. Der Verlag Mitscher und 5 A. S. Gercen, Sobranie socinenij, Bd. XXVI, Moskau 1962, S. 348. 6 Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, 64, 1897, I. Quartalband, Nr. 9 v. 9.1. 1897, S. 173. 7 R. Schmidt-Cabanis, Lose Tagebuchblätter aus meinen Buchhändler-Wanderjahren, in: Beiträge zur Kulturgeschichte Berlins. Festschrift zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens der Korporation der Berliner Buchhändler (1. November 1898), Berlin 1898, S. 120ff.
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Roestell hatte gleich zu Beginn seiner Tätigkeit im Jahre 1860 zwei anonyme russische Broschüren über die gesetzliche Vorbereitung der Bauernreform in Rußland (durch die vom Zaren am 30. März 1859 als Reichsbehörde eingesetzte Redaktionskommission) herausgebracht. Die eine erschien unter dem Titel „O socialisme redakcionnych komissij. Pis'ma k predsedatelju ich gen. Rostovcevu" (63 S.). Ihr Verfasser war der konservative Gutsbesitzer N. B. Gersevanov im Gouvernement Ekaterinoslav (SK, Bd. 1, Nr. 343; Me\ov', Krest'janskij vopros, I, Nr. 918). Die andere, nicht verbotene russische Broschüre von 1860 enthielt eine Denkschrift über die Vorschläge zur ökonomischen Aufstellung der Redaktionskommission (52 S., kl. 8°). Nimmt man diese beiden Broschüren zu den gleichzeitigen und etwas späteren Drucken des Berliner Behr-Verlages hinzu, so ergibt sich, daß insgesamt 21 russische Exildrucke auf Berliner Boden erschienen waren, die sich mit der Bauernreform Rußlands vor und nach 1861 befaßten. Das große, Ende 1881 eingestellte Verlagsunternehmen Schroeders wurde 1832 begründet und verlegte bereits während der Lernzeit Schneiders in den vierziger Jahren einige bedeutende slawen- und rußlandkundliche Schriften. Seit 1852 im Besitz von Hermann Kaiser (gest. 1881), brachte es 1855 das bemerkenswerte Buch von Jegor v. Sivers, Deutsche Dichter in Rußland (LXIII, 680 S.), heraus. Die russischen Publikationen des Berliner Schneider-Verlages waren — zusammen mit denen des Berliner-Behr-Verlages und des Leipziger Verlages Wolfgang Gerhard — die ersten auf deutschem Boden hergestellten russischen Drucke, beginnend in der zweiten Hälfte des 19. Jh. Das betraf vor allem die Jahre von 1857 bis 1864, d. h. die Zeit des mächtigen Aufschwungs der gesellschaftlich-politischen, revolutionären Bewegung in Rußland nach dem Krimkrieg, des Niedergangs des alten, feudalabsolutistischen Systems und die Zeit des neuen Reform-Zaren Alexander II. (1855—1881). Ein Merkmal seines Regimes war die anfängliche Erleichterung der Zensur, die in den letzten Jahren der Herrschaft seines Vaters, Zar Nikolaus' I., mit brutaler Strenge gehandhabt worden war. Gleichzeitig wurde jedoch' die öffentliche Erörterung der Bauernreform in Rußland in der Zeit vor und nach dem Wendejahr 1861 unterbunden. Diese konkret-historischen Bedingungen in Rußland selbst und das erstmalige Wirken einiger kontinuierlich publizierender russischer Emigranten in London seit 1854 unter Führung der revolutionären Demokraten Aleksandr Gercen (gest. 1870 in Paris) und Nikolaj P. Ogarev (gest. 1877 in Greenwich bei London) förderten einen sprunghaften Aufstieg der erstmals vornehmlich politisch orientierten russischen Exil-Drucktätigkeit in Deutschland, die es bis dahin nicht gegeben hatte. Die russische Druck- und Kommissionstätigkeit des Berliner Schneider-Verlages erfolgte in enger, aber nicht ausschließlicher Verbindung mit der im Kreise der polnischen-demokratischen Emigration begründeten „Freien russischen Typographie" Gercens und Ogarevs in London und ihrem hervorragenden deutsch-englischen, aus Heidelberg stammenden Londoner Verleger Nicolas Trübner (gest. 1884). Schneiders Verbindungen gingen auch zur russischen Emigration in Frankreich und ihren beiden liberalen Adelsvertretern, zu Nikolaj I. Turgenev (gest. 1871), dem bedeutenden Vertreter der russischen Adelsopposition, Ökonomen, Schüler der Universität Göttingen und Dekabristen, der seit 1833 in Paris lebte, sowie zu dem Fürsten Petr V. Dolgorukov (gest. 1868 in Bern). Diese Verbindungen wurden hauptsächlich von Dr. Albert Franck vermittelt, Schneiders zeitweiligem Verlagskompagnon während der Revolutionsjahre 1848/49 in Paris, der beiden russischen Emigranten als Verleger diente. Franck war seit 1844 Besitzer der 1837 gegründeten Buchhandlung für deutsche und 89
ausländische Literatur „Brockhaus & Avenarius" in Paris; 1861 entstand eine Filiale seines Pariser Verlages in Leipzig. Franck und Schneider verlegten 1848 gemeinsam die anonyme Schrift „La Pologne. Trilogie politique" (IV, 72 S.). Die bei Schnéider in Berlin 1858 erschienene anonyme Schrift „La cour de Russie, il y a cent ans. 1725—1783. Extraits des dépêches des ambassadeurs anglais et français" (422 S. ; 3., unv. Aufl. 1860) hatte N. I. Turgenev verfaßt.8 Im gleichen Jahr 1858 brachte Schneider eine neue Auflage der bereits 1843 in Paris unter dem Pseudonym Graf d'Almagro veröffentlichten Schrift von Petr Dolgorukov heraus: „Notice sur les principales familles de la Russie" (1858, 144 S.).9 Die russischen Autoren des Schneider-Verlages verkehrten mit dem Londoner russischen Emigrationszentrum und machten auf ihrem Wege nach oder von London bei Schneider in Berlin Station. Er vermittelte auch die aus Rußland kommende Literatur von Berlin nach London an den Verleger Trübner und damit indirekt an Gercen und Ogarev 10 und wirkte zugleich als Kommissionär der Londoner Schriften und Periodica Gercens und Ogarevs in Berlin und Deutschland. Der erste russische Druck des Schneider-Verlages in Berlin erschien in demselben Jahre 1857, in dem in London Gercens einflußreiche Zeitschrift „Kolokol" zu erscheinen begann. Über die praktischen Verbindungen Schneiders mit den russischen Emigrationsführern in London enthält die sowjetische, 30bändige Gercen-Ausgabe (1954—1965) eine Reihe konkreter, von der deutschen buchgeschichtlichen und slawistischen Forschung bis heute nicht beachteter wertvoller Angaben, wenngleich sie im ganzen auch nur ein lückenhaftes Bild von der Zeit und Art des Zustandekommens der Verbindung Schneiders mit den Londoner russischen Emigranten ergeben. Diese und andere Unkenntnisse und Unterlassungen haben wesentlich dazu beigetragen, daß die buchgewerbliche Hilfsposition Deutschlands (namentlich Berlins und Leipzigs) für die russische Emigration und für die antizaristische Opposition neben England, Frankreich, Belgien und der Schweiz bis heute sehr unterschätzt wurde. Die russischen Publikationen des Schneider-Verlages, die insgesamt 22 selbständige Schriften umfassen, wurden bis heute noch völlig ungenügend als Zeugnisse der politischen und literarischen ausländischen Publikationstätigkeit der russischen Emigration und der Opposition in Rußland selbst gewürdigt. Aus ihnen seien hervorgehoben: 1. Vier russische Veröffentlichungen der Dichtungen des Dekabristen Kondratij F. Ryleev (gest. 1826). Sie sind kennzeichnend für die Pflege des Erbes der Dekabristen durch die russischen revolutionären Demokraten. Unter ihnen ragt der Druck der „Dumy" (82 S., 12°), der historischen Gedichte Ryleevs, besonders hervor. Schneider brachte diesen Druck 1859 mit einem Vorwort des seit 1856 in London tätigen und mit Schneider in Berlin gut bekannten Freundes und Kampfgefährten Aleksandr Gercens, N. P. Ogarev, heraus (SK, Bd. 4, Nr. 1516). Das im Vorwort enthaltene Gedicht Ogarevs „Pamjati Ryleeva" wurde eines der populärsten Gedichte der russischen revolutionären Poesie in der zweiten Hälfte des 19. Jh. 11 In demselben Jahr 1859 erschien bei Schneider 8
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Hinweis auf die Verfasserschaft N. I. Turgenevs in: Gercen i Ogarev, Bd. II, Moskau 1955, S. 3 7 3 (=Literaturnoe nasledstvo. 62). Vgl. die Heranziehung dieser v o n Schneider neu aufgelegten Schrift D o l g o r u k o v s in dem anonymen Artikel „Der russische Adel", der in der v o n Schneider verlegten Zeitschrift der preußischen Konservativen erschienen ist: Berliner Revue, Bd. 18, 1859, S. 1 8 1 f f . Vgl. A. S. Gercen, Sobranie socinenij, Bd. X X V I , S. 18. In der sowjetischen Literatur wird als Druckort der „Dumy" Ryleevs v o n 1859 Berlin genannt, doch
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die Tragödie in zwei Akten „Triumf" des russischen Fabeldichters Ivan A. Krylov (gest. 1844), die in Rußland erst 1871 erstmals veröffentlicht wurde (SK, Bd. 2, Nr. 801). Im Jahre 1860 folgten bei Schneider die „Socinenija" K. F. Ryleevs (179 S.), die reichen Absatz im. russischen Heimatland fanden und bald vergriffen waren (SK, Bd. 4, Nr. 1508). Diese Berliner Auswahl-Ausgabe von Werken Ryleevs durch den von den Londoner Emigrationsführern unterstützten Schneider-Verlag und die bereits 18Ó1 im Leipziger Verlag F. A. Brockhaus vom polnischen Mitarbeiter des Brockhaus-Verlages, E. L. Kasprowicz, herausgebrachte vollständige Ausgabe Ryleevs (XX, 393 S. = Biblioteka russkich avtorov. I.) haben ihren gesicherten Platz in der russischen und sowjetischen Ryleev-Bibliographie. Beide Ausgaben sind nicht nur in Privatbibliotheken, sondern auch in den Besitz öffentlicher Bibliotheken Rußlands eingegangen. 12 2. Die in politischer Hinsicht bemerkenswerte Broschüre revolutionär-demokratischen Inhalts „Okoncatel'noe resenie krest'janskogo voprosa" (1861, III, 84 S., 80)13 (SK, Bd. 4, Nr. 1604; Mezov', Krest'janskij vopros, I, Nr. 1745). In dieser von der Berliner Druckerei Rosenthal & Co. hergestellten Schrift wurde die Befreiung der Gutsbauern Rußlands bereits als eine Teilfrage der russischen Volksrevolution aufgefaßt und das Manifest des Zaren Alexander II. vom 19. Februar 1861 über die Bauernreform scharf kritisiert. Als Verfasser zeichnete der 27jährige Nikolaj A. Serno-Solovevic (1834—1866)1/;, ein Begründer und Führer des revolutionären Geheimbundes „Zemlja i Volja", enger Gefährte N. G. Cernysevskijs, Begründer der ersten Volksbücherei Petersburgs von 1862 und namhafter Bucheditor. Er weilte seit 1859 im westlichen Ausland und nahm bei Gercen in London im Sommer 1861 an der für die Gründung des Geheimbundes entscheidenden Beratung teil. Auf dem Wege zu ihm oder von ihm machte er in Berlin Station, wo er den Schneider-Verlag für die Veröffentlichung seiner politischen Broschüre gewinnen konnte. Im Jahre 1862 brachte Serno-Solovevic bei Schneiders Kompagnon Georg Stilke in Berlin auch die „Stichotvorenija" (326 S. In Kommission der Aachener Verlagsbuchhandlung J. A. Mayer) seines nach Sibirien verbannten Freundes und revolutionärdemokratischen Gesinnungsgenossen Michail L. Michajlov (gest. 1865)15 heraus, der u. a. als russischer Heine-Übersetzer Hervorragendes geleistet hatte und seit Beginn des Jahres 1862 in seiner Heimat einem Publikationsverbot unterlag (SK, Bd. 3, Nr. 1077). Michajlov machte auf dem Wege nach London, wo er mit Gercen die Drucklegung des von ihm und N. M. Selgunov im September 1861 verfaßten Aufrufes „An die junge noch ohne Anführung des Verlages Ferdinand Schneider. Ogarevs Gedicht „Pamjati Ryleeva" ist wiedergegeben in: N. P. Ogarev, Stichotvorenija i poemy, Leningrad 1961, S. 254f., sein ganzes Vorwort zu den „Dumy" in: N. P. Ogarev, Izbrannye proizvedenija v dvueh tomach, Bd. II, Moskau 1956, S. 446ff. 1 2 Die Leipziger Ausgabe von 1861 war 1901 in der Städtischen Öffentlichen Bücherei Odessas vorhanden. Vgl. Katalog Odesskoj gorodskoj publicnoj biblioteki, Bd. I, Odessa 1901, S. 347. 1 3 Neudruck der vollständigen Publikation mit Wiedergabe ihres Titelblattes in : N. si. Serno-Solovevic, Publicistika. Pis'ma, Moskau 1963, S. 92ff. 1 4 Über N. A. Serno-Solovevic vgl. Bolsaja Sovetskaja Énciklopedija, 3. Ausg., Bd. 23, Moskau 1976, Sp. 906ff. (im Folgenden zitiert: BSE); J. Kowalski, Die russische revolutionäre Demokratie und der polnische Aufstand 1863, Berlin 1954, S. 82ff. ; L. Kulcxycki, Geschichte der russischen Revolution, Bd. 1, Gotha 1910, S. 347ff. 1 5 Über M. L. Michajlov vgl. BSÉ, Bd. 16, Moskau 1974, S. 346; Kowalski, Die russische revolutionäre Demokratie, S. 59ff. Wiedergabe der ersten Seite des Aufrufs „An die junge Generation" und Bild von N. A. Serno-Solovevic in: 400 let russkogo knigopecatanija. 1564—1964, Bd. I, Moskau 1964, S. 349 u. 385.
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Generation" Rußlands zu besprechen hatte, in Berlin Station. Hier kam es zu einer Begegnung mit dem Dichter Berthold Auerbach, über die er auch berichtete. 10 Nach der Rückkehr in die Heimat wurde Serno-Solovevic ins Gefängnis geworfen» 1865 nach Sibirien verbannt; 1866 starb er in Irkutsk, dem einstigen Verbannungsort der Dekabristen. Während seine Schrift über die L ö s u n g der Bauernfrage in Berlin und in Deutschland wenig Beachtung fand, schrieb Gercen am 1. Januar 1865 in seiner nun in Genf erscheinenden Zeitschrift „ K o l o k o l " : „ E i n Publizist, der angesichts unserer launischen Zensur nicht die Möglichkeit hatte, seine Meinung über die Bauernfrage auszusprechen, ließ unter seinem Namen eine Broschüre in Deutschland drucken, wobei er im Vorwort davon spricht, daß die Zeit zu offenen Aktionen gekommen sei . . . Dieser Publizist wartet bereits das dritte Jahr in der Kasematte auf seine Verurteilung zur Zwangsarbeit." 17 3. Die ersten acht Hefte der revolutionär-demokratischen Zeitschrift „ S v o b o d n o e Slovo" ( J g . 1,1862, 590 S., kl. 8°), die von der Berliner Firma Rosenthal & Co. gedruckt wurden ( S K , Bd. 6, Nr. 2351). Sie wurden bei Schneider von Leonid P.Bljummer (Blümmer; 1840—1883) 18 herausgebracht, einem aus dem Kaukasus stammenden und von 1861 bis 1865 in Deutschland und Belgien weilenden Publizisten, der Rußland nach den Petersburger Studentenunruhen verlassen hatte und dessen Schwester in der Heimat ebenfalls in der revolutionären Bewegung tätig war. E r trat als Vertreter der „jungen Generation" noch revolutionärer als Gercen und Ogarev auf. Nach seiner Rückkehr in die v Heimat im Jahre 1865 wurde er ins Gefängnis geworfen, doch bald wieder auf freien Fuß gesetzt; zuletzt lebte er in Saratov als Advokat und belletristischer Schriftsteller. Seine Berliner Zeitschrift brachte mehrere radikale politische Aufrufe, die im russischen Heimatland illegal kursierten. Sie führte auch eine Rubrik „ K o p o t ' otecestva", die enthüllende Nachrichten aus der Petersburger Gesellschaft vermittelte. Den zweiten Band seiner Zeitschrift brachte Blümmer 1863 in der damaligen Brüsseler,, später Berliner Verlagsbuchhandlung Siegmund Gerstmann heraus. E r wurde in der kurzlebigen Brüsseler Druckerei des russischen Adelsemigranten Petr D o l g o r u k o v hergestellt, dessen vorübergehender Mitarbeiter Blümmer in Brüssel war. Doch ein Artikel über Blümmer als (angeblichen) Agenten der russischen Geheimpolizei, den D o l g o r u k o v in seinem Brüsseler Organ „Listok" veröffentlichte, brachte den Bruch zwischen beiden russischen Emigranten. Blümmers russische politische Zeitung „Vest'", mit der er im August 1862 im Berliner Schneider-Verlag begonnen hatte, kam über die erste Nummer nicht hinaus ( S K , Bd. 6, 16 M. L. Micbajlov, Socinenija v trech tomach, Bd. III, Moskau 1958, S. 431 ff., 682, 695. 17 A. Herfen, Ausgewählte philosophische Schriften, Moskau 1949, S. 582. 18 Zur Biographie Blümmers vgl. Bol'saja finciklopedija, Bd. III, Petersburg 1901, S. 338. Blümmer hat unter stiefmütterlicher Behandlung in der älteren russischen und neueren sowjetischen Forschung zu leiden. Seine Zeitschriften fehlen in der Bibliographie der russischen Periodica von N. M. Lisovskijr Russkaja periodiceskaja pecat'. 1703—1900 gg., Petrograd 1915. E b e n s o übergangen wurde er im Beitrag v o n V. A. D'jakov über die russische Untergrundpresse der sechziger Jahre des 19. Jh. im großen Jubiläumswerk „400 let russkogo knigopecatanija", S. 345ff., so auch im Lehrbuch für Journalistik-Fernstudenten der Universität Leningrad von V. A. Alekseev, Istorija russkoj zurnalistiki (1860—1880 gody), Leningrad 1963, 107 S. Blümmers Zeitschrift „ S v o b o d n o e S l o v o " fehlt auch im Handbuch „Russkaja periodiceskaja pecat'" (1702—1894), hg. v. A. G. Dement'eva u. a., Moskau 1959. Angeführt werden dagegen seine Zeitschriften in der Bibliographie v o n A. Vengerov, Russkija knigi, B d . II, Petersburg 1898, S. 447.
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Nr. 2267). Auch seine Dresdner Wochenzeitung „Evropeec", die vom Februar bis zum Juni 1864 im Verlag Bruno Wienecke erschien, hatte nur zehn Nummern erreicht. In Dresden erklärte sich Blümmer offen mit dem Kongreß emigrierter Polen solidarisch und nahm damit die gleiche Haltung zum polnisch-litauischen Januaraufstand von 1863 ein wie A. Gercen in London. Während Blümmer in den wenigen Jahren seines' Auslandsaufenthalts keine größere W i r k u n g in der russischen Emigration erzielen konnte, war sein Einfluß auf deutscher Seite erheblich. Seine Berliner politische Zeitschrift war der erste russische Druck, der in der deutschen Öffentlichkeit und in der deutschsprachigen Rußlandliteratur Resonanz gefunden hatte und der erstmals der breiteten Öffentlichkeit die bisher unbekannte Existenz einer russischen politischen Drucktätigkeit in Berlin signalisierte. Dafür sorgten heftige politische Invektiven, die die „Berliner Revue", die Zeitschrift der preußischen Konservativen, 1862 und 1864 gegen Blümmer und die Tätigkeit der russischen revolutionär-demokratischen Emigration in West- und Mitteleuropa vortrug. 1 9 Aus ihnen ist zu entnehmen, daß das Heft 4 der Berliner Zeitschrift Blümmers von der Berliner Polizei beschlagnahmt worden war und die „Wiener Zeitung" sich scharf gegen die Fortsetzung der Zeitschrift ausgesprochen hatte. Blümmer wurde nach Gercen und Dolgorukov als der dritte journalistische Fixstern und Hauptfeind der russischen Regierung bezeichnet, der die Absicht verfolge, in Berlin ein „politisches Agentur- und Hilfsbüro" für Gercen, Ogarev, Dolgorukov und Bakunin zu etablieren und von der Hauptstadt Preußens aus, das mit Rußland in freundschaftlicher Beziehung steht, den Aufstand in Rußland zu predigen. Besonders scharf wurde der Artikel Blümmers „Schreibende Gendarmen" im Heft 6 seiner Zeitschrift attackiert, in dem Blümmer den deutschbaltischen liberalen Publizisten Baron Theodor von Fircks (Pseudonym: D. K. Schedo-Ferroti) und seinen Berliner Verleger, die Verlagsbuchhandlung Bernhard Behr (E. Bock), als Gehilfen der russischen Regierung hinstellte. In geschickter Kundenwerbung hat die Buchhandlung des Behr-Verlags die Zeitschrift Blümmers mit dem aufgeschlagenen Artikel in ihrem Schaufenster ausgestellt. Der Unterschied zwischen dem Schneider-Verlag als Berliner Exil-Druckstätte der vornehmlich revolutionärdemokratischen Richtung der russischen Emigration und dem Behr-Verlag als Berliner Exil-Druckstätte des vornehmlich liberalen und slawophilen, antirevolutionären Flügels der innerrussischen Opposition zeichnete sich hier deutlich ab. Die Attacke gegen Blümmer als Berliner Helfer des Londoner Emigrationszentrums um Gercen wiederholte später der konservative Publizist Nicolai Karlowitsch (Pseudonym für Karl Nikolaus von Gerbel-Embach) in seiner Schrift „Die Entwicklung des Nihilismus", Berlin, B. Behr's Buchhandlung (E. Bock). 3., stark verm. A u f l . 1880, S. 61. Ein anderes Zeugnis für die Resonanz Blümmers und seiner Zeitschrift bildet die kleine Schrift des Berliner Gymnasiallehrers Ignaz Wachtel „Die polnischen Ereignisse im Jahre 1862. Nach einem Artikel der russischen Zeitschrift Swobodnoe Slowo des Herrn L. v. Blumer", Berlin, Akademische Buchhandlung in Commission 1862 (19 S., 8°). Noch wichtiger ist das Zeugnis des seinerzeitigen deutschen (auch ins Russische übersetzten) Erstlingsbuches über die revolutionäre Bewegung in Rußland von Alphons 10
Vgl. die ungezeichneten Artikel „Russische Zustände und Urteile" und „Zur Berliner Fortschrittsliteratur" in: Berliner Revue, Bd. 30, 3. Quartal, 1862, S. 4 8 f f . u. S. 8 4 f f . ; Bd. 31, 4. Quartal, 1862, S. 4 8 f f . Dem offenen K o n f l i k t zwischen D o l g o r u k o v und Blümmer widmete dieses Organ einen besonders scharfen, hämischen Artikel unter dem Titel: „Sie schlagen sich — sie vertragen sich", in: ebenda, Bd. 38, 3. Quartal, 1864, S. 35 f f .
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Thun „Geschichte der revolutionären Bewegungen in Rußland", Leipzig, Duncker & Humblot 1883, S. 20 (Anmerkung) und S. 363. Auch der konservative deutschbaltische Publizist Erwin Bauer (gest. 1901) führte Blümmers Berliner Zeitschrift im pressegeschichtlichen Teil seiner Schrift „Naturalismus — Nihilismus — Idealismus in der russischen Dichtung", Berlin, Verlag Hans Lüstenöder 1890, S. 315, als Beispiel für die von ihm im denunziatorischen Sinne als „nihilistisch" bezeichnete revolutionärdemokratische russische Auslandspresse an. Eine der letzten Erwähnungen der Zeitschrift Blümmers in der deutschsprachigen Fachliteratur erfolgte im Buche des Schweizer Pressehistorikers Ernfried Eduard Kluge „Die russische revolutionäre Presse in der zweiten Hälfte des 19. Jh.", Zürich, Artemis-Verlag 1948, S. 48. Leider bilden nicht nur diese erwähnten Schriften keine Ausnahme von der allgemeinen Regel bibliographischer Unachtsamkeit und Nachlässigkeit, die sich für die Erforschung und breitere Kenntnis der ausländischen Druckgeschichte besonders schädlich auswirken: Sie führen den Berliner Verleger der Zeitschrift Blümmers nicht an und begnügen sich mit der bloßen Angabe ihres Berliner Verlagsortes. Dieser Mangel hat wesentlich dazu beigetragen, daß die Bedeutung des Berliner Schneider-Verlages für die Berliner Druckgeschichte russischer revolutionär-demokratischer Exilliteratur auf deutscher Seite weithin unbekannt geblieben ist. 4. Das dreibändige, anonyme Quellenwerk über die Vorgeschichte der Aufhebung der Leibeigenschaft der Gutsbauern in Rußland in den Jahren von 1855 bis 1861 „Materialy dljaistorii uprazdnenija krepostnago sostojanijapomescicichkrest'janvRossii v carstvovanie Imp. Aleksandra II.", Bd. 1 - 3 , 1860-1862. Bd. 1: 1855-1858, 1860, V, 416 S.„ 8»; Bd. 2: 1859-1860, 1861, 479 S., 8°; Bd. 3: 1860-1861, 1862, 269 S., 8°2° (SK, Bd. 3, Nr. 1035; Me^ov', Krest'janskij vopros, I, Nr. 88. Mit ausführlicher Erschließung des Hauptinhalts des 1. Bandes). Diese bedeutende, von der Firma Gottfried Pätz in Naumburg a. d. Saale gedruckte Publikation des Schneider-Verlages beruhte auf Materialien des Zentralen statistischen Komitees Rußlands und brachte ausgesprochen staatspolitische Interna auch im Ausland zur Kenntnis; sie wurde von Gercen in London aufmerksam verfolgt, er besprach sie in seiner Zeitschrift „Kolokol" und wertete sie sehr hoch. Erließ auch Erkundigungen über ihre anonymen Verfasser anstellen. 21 Die Autoren des Gemeinschaftswerkes waren die hochgestellten und verdienten Reformer und Slawophilen Fürst Vladimir A. Cerkasskij (gest. 1878), der Staatssekretär im Innenministerium Graf Nikolaj A. Miljutin (gest. 1872), Bruder des Militärreformers und Kriegsministers Dmitrij A. Miljutin, und das Mitglied des Senats und Mitarbeiter des Ministeriums für Staatseigentümer Dmitrij P. Chruscev (gest. 1864). Ursache für die Publikation des großen Quellenwerkes in Berlin war vor allem die Unterdrückung jeglicher öffentlicher Erörterung der Bauernreform in Rußland vor und nach 1861 durch die zaristische Zensur. Mit der Veröffentlichung im Ausland wollten vermutlich die Slawophilen zugleich der Durchführung der Bauernreform stärkeren Nachdruck verleihen. 22 20
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Für Kopien der Titelblätter aller drei Bände habe ich der Bayerischen Staatsbibliothek München zu danken, die das kostbare und rare Werk besitzt. A. S. Gercen, Sobranie socinenij, Bd. XV, Moskau 1958, S. 424. Zur Unterdrückung der öffentlichen Behandlung der Bauernreform vgl. T. Pech, Die Zensur in Rußland, in: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, 70, 1903, IV. Quartal, Nr. 238 v. 13. X., S. 8033ff. Über die Rezeption und die gemeinschaftliche Abfassung des Werkes, das auch in der Universitäts-
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Für die buchgeschichtliche Unkenntnis und bibliographische Achtlosigkeit, mit der diese russische, ausländische Publikation in der deutschen Forschung behandelt wurde, ist die Arbeit des deutschen Osteuropahistorikers Robert Stupperich über die Anfänge der Bauernreform in Rußland bemerkenswert. Der deutsche Leser dieser Untersuchung erfährt nichts vom besonderen, politischen Charakter dieses russischen, im Ausland gedruckten Werkes und auch nichts über seinen Berliner Verlagsort und Verleger, obwohl es der Verfasser einmal erwähnte (S. 130) und im Quellenverzeichnis verstümmelt anführte (S. 210), d. h. einmal mit und dann wieder ohne Nennung seines anonymen, vermeiritlichen Alleinverfassers D. P. Chruscev.2-1 Im Buche des einstigen Dorpater Rechtshistorikers J. Engelmann 2/j, der die dreibändigen „Materialy" bei der Behandlung der Geschichte der Aufhebung der Leibeigenschaft (S. 228 ff.) auswertete und sie in einer Fußnote zitierte (S. 227), wird doch wenigstens der Berliner Erscheinungsort angeführt. Wie sehr Berlin bereits gegen Ende der fünfziger Jahre als rüssischer Druck- und Kommissionsort wachsende Bedeutung erlangte, bezeugen wiederholte briefliche Hinweise Gercens und Ogarevs in den Jahren von 1856 bis 1865. 25 Sie hoben hervor, daß die Bedingungen für den russischen Buchdruck in Berlin und Leipzig sich zunehmend besserten und die Verlagsbuchhandlungen Schneider und Behr in Berlin ständig die Schriften und Periodica der Freien russischen Typographie in London führten und verkauften. Dafür spricht noch ein anderer Umstand: Auch die Petersburger Ämter nutzten für den publizistischen Kampf gegen Gercen und die russische Emigration in London die Möglichkeiten in Berlin. Die gleiche Berliner, auf russische und griechische Texte spezialisierte Druckerei Carl Schultze, in der der Schneider-Verlag einige seiner russischen Drucke herstellen ließ 26 , wurde vom Petersburger Zensor Nikolaj V. Elagin für den ideologischen Kampf gegen Gercen benutzt. 1859 brachte Elagin, der sich nur im Vorwort als Verfasser nannte, in dieser Berliner Druckerei seine vierteilige polemische Schrift „Iskander Gercen" (261 S., kl 8°)* heraus, die wenige Jahre später vom Berliner Behr-Verlag übernommen und in seinen Katalogen seit 1867 geführt wurde. Sie ist von einem konservativ aufgefaßten, christlichen Denken erfüllt und läßt den Einfluß eines hohen kirchlichen Würdenträgers in Petersburg 1 vermuten. Die Schrift wandte sich in erster Linie gegen die „Philosophie der Revolution und den Sozialismus der Herzen-§chule", deren politisch-gesellschaftliche Konsequenz sie mit dem Scharfblick des Feindes klar erkannte. Die mehr theologisch als politisch-ideologisch angelegte Schrift wurde im russischen Heimatland für den Verkauf freigegeben, soll aber keinen besonderen Absatzerfolg erzielt haben. 27 bibliothek Moskau erhalten ist, vgl. das Tagebuch des liberalen russischen Innenministers (seit 1861} P. A. Vahev, Dnevnik, Bd. I, II, Moskau 1961. Valuev hat am 20. III. 1861 den 2. Bd. des inBerlin veröffentlichten Werkes gelesen und notiert, daß viele der in ihm angeführten Fakten „absichtlich entstellt" seien und hatte für den Band Miljutin als Hauptverantwortlichen gehalten. Auf dem in der UB Moskau vorhandenen Exemplar des Werkes trägt der 1. Bd. einen handschriftlichen Vermerk, der die gemeinschaftliche Abfassung des Werkes unter Führung Fürst Cerkasskijs hervorhebt (Bd. I, S. 90, 369). 23 R. Stupperich, Die Anfänge der Bauernbefreiung in Rußland, Berlin, Junker & Dünnhaupt 1939, 214 S. (=Neue deutsche Forschungen. Abteilung Slawische Philologie u. Kulturgeschichte. 2). 24 J. Engelmann, Die Leibeigenschaft in Rußland. Eine rechtshistorische Studie, Leipzig, Duncker& Humblot 1884, 375 S. 25 A. S. Gercen, Sobranie socinenija, Bd. XVIII, Moskau 1959, S. 389. 26 Ebenda, Bd. XIII, Moskau 1958, S. 600 (Anmerkung). 2 7 Ebenda, Bd. XXVI, S. 447. Hohes Lob empfing Elagin dagegen in der von der deutschen konservativen Presse beifällig aufgenommenen und von der liberalen Presse Rußlands kritisierten, konservativen Streitschrift des bereits genannten Nikolai Karlowitsch, Die Entwicklung des Nihilismus, S. 59.
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Wie kein anderer Buchunternehmer Berlins nutzte Schultze die sich bietende Konjunktur, indem er Werke der neuen revolutionär-demokratischen und liberalen, antiabsolutistischen Bewegung inner- und außerhalb Rußlands herausbrachte und zugleich, seit 1851/52, z. B. Schriften des Russisch-Dozenten an der kgl. Kriegsschule in Berlin, August Boltz, so dessen russisches Sprachlehrbuch, das dem Generaladjutanten des Zaren Nikolaus I. und obersten Chef der russischen Militärerziehungsanstalten, Jakob von Rostovcev, gewidmet war, veröffentlichte. 28 Bald danach nahm er auch vom Londoner Verlag des revolutionär-demokratischen Lagers um A. Gercen und von Leipziger Verlagen des liberalen Emigranten Ivan Golovin Aufträge entgegen. Es ist wohl kaum bekannt, daß sich unter den sieben, in Rußland verbotenen russischen Publikationen, die Schultze in den Jahren von 1858 bis 1867 hergestellt hat, auch die russische Übersetzung des einflußreichen Buches von Ludwig Feuerbach „Das Wesen des Christentums" (nach der 2., verb. deutschen Auflage) befand, das der Londoner Verleger Gercens, Nicolas Trübner, im Jahre 1861 herausbrachte und das Schultze in Berlin gedruckt hatte (Suscnost' christjanstva, XLIV, 448 S. ; SK, Bd. 5, Nr. 2047). Schultze war auch der Drucker der Leipziger Reihe Ivan Golovins „Blagonamerennyj" (Nr. 1—12, 1859—1862) und der kurzlebigen Leipziger Zeitschrift Golovins „Strela" (Nr. 1, 2, 1859; SK, Bd. 6, 2259). 5. Michail Ju .~Lermontov, Stichotvorenija, ne vosedsija vposledneeizdanieego socinenij, 1862, VIII, 163 S„ kl 8« (SK, Bd. 2, Nr. 925). Die 2. Auflage erschien 1875 im Berliner Verlag Bernhard Behr (E. Bock).29 Dieser Berliner Lermontov-Band enthielt 10 Gedichte des russischen Klassikers, die in der 18^0 im Petersburger Glazunov-Verlag erschienenen Gesamtausgabe nicht enthalten waren. Der russische Buchdruck in Deutschland erfüllte während der zweiten Hälfte des 19. Jh. eine besondere Aufgabe, nämlich die Edition von Texten, die durch die Zensur im russischen Heimatland verstümmelt wurden und erst im Ausland ohne Zensurlücken erscheinen konnten. 6. Nikolaj A. Nekrasov, Stichotvorenija. Izdanie dopolnennoe, 1862, VI, 312 S. (SK, Bd. 3, Nr. 1131). Die 2. Auflage erschien 1874 im Berliner Verlag Bernhard Behr (E. Bock). Diese Berliner Ausgabe enthielt die Gedichte, die der Zensor aus der 1861 in Petersburg erschienenen Sammlung der Gedichte Nekrasovs gestrichen hatte. 7. Aleksandr S. Vuskin, „Evgenij Onegin. Roman v stichach", 1863, 280 S., kl 8° (neue Auflage 1874 im Berliner Verlag Bernhard Behr [E. Bock]).* Auf andere russische Verlagswerke des Schneider-Verlages können wir hier aus räumlichen Gründen nicht eingehen. Wir müssen uns mit dem Hinweis auf die vollständige Ausgabe des satirischen Lustspiels von A. S. Griboedov (gest. 1829), „Gore ot uma", 1858, 205 S., kl 8°, und die Satire des Petersburger Redakteurs Aleksandr F.
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Vgl. Schultzes Anzeigen der 2. Auflage des „Lehrgang der russischen Sprache" von Boltz (1855) in: Berliner Revue, Bd. 3, 1855, 4. Quartal, S. 112 u. passim. Es ist kennzeichnend für die literaturgeschichtliche, vor allem von der Übersetzungs-Rezeption beherrschte Betrachtungsweise der russisch-deutschen Beziehungen, daß im Unterschied zum buchgeschichtlichen Herangehen dieser wie alle späteren russischen Lermontov-Drucke Berliner und Leipziger Verlage im Verzeichnis des einstigen Berliner Bibliothekars Friedrich Dukmeyer und in Seinjen beiden Arbeiten über die deutsche Lermontov-Rezeption völlig fehlen. Vgl. Fr. Dukmeyer, M. Ju. Lermonto-^u nemcev, St. Peterburg 1913, 16 S. ( = S A aus: Pol'noe sobranie socinenij M. Ju. Lermontova, Bd. 5', Peterburg 1913, S. 102 f.); ders., Die Einführung Lermontows in Deutschland und des Dichters Persönlichkeit, Berlin 1925, 68 S. ( = Historische Studien. 164).
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Voejkov (gest. 1839) auf das Literatenleben „Dom sumassedsich", 1858, 31 S., 2., verm. Aufl. noch im gleichen Jahr, begnügen (SK, Bd. 1, Nr. 286). Mit Ausnahme von Puskins „Evgenij Onegin" waren die insgesamt 22 russischen Drucke (= bibliographische Einheiten) des Schneider-Verlages alle im zaristischen Rußland verboten. Zu den russischen Drucken des
Bebr-Verlages
Der Erbe der slawischen Drucke des Schneider-Verlages und sein in quantitativer Hinsicht bedeutenderer Fortsetzer war der Berliner Behr-Verlag. 30 Alle russischen (und polnischen) Verlagswerke des in den Jahren 1870 und 1871 seinen Besitzer wechselnden Schneider-Verlages erwarb die am 1. Oktober 1835 begründete Berliner Verlagsbuchhandlung Bernhard Behr (E. Bock) bereits in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre. In seinen gedruckten Werkkatalogen hat Behr jedoch die vom Schneider-Verlag übernommenen Slavica nicht näher gekennzeichnet, so daß für Unkundige der Eindruck entstehen kann, daß sie zu Behrs eigenen Verlagswerken zählen. Dennoch ist es Behrs hohes Verdienst, daß er sie erworben, z. T. in neuen Auflagen weitergeführt und mit seinen eigenen russischen (und polnischen) Verlagswerken vereinigt hat. Vermehrt durch die von Behr 1855 erworbenen Bestände des Breslauer polonistischen Verlages Siegmund Schletter, wurde der Behr-Verlag zum bedeutendsten polnischen und russischen Verlags- und Kommissionszentrum Berlins in der Zeit von 1856 bis 1885. Kein deutscher Verlag spiegelt in seinen russischen Drucken die inneren Kämpfe Rußlands seit 1861, seit seinem Übergang in die stürmische, bürgerlich-kapitalistische Entwicklungsphase, so lebendig wider wie der Behr-Verlag mit seinen knapp 100 (über 70 eigenen und 22 vom Schneider-Verlag übernommenen) russischen Drucken. Kein deutscher Verlag hatte in einem solchen Ausmaß in der zweiten Hälfte des 19. Jh. bedeutenden russischen Autoren aus politischen und Zensurgründen als Exil-Druckstätte gedient. Seine bedeutendsten russischen Autoren verfaßten ihre russischen Schriften zumeist auch in Deutschland selbst, vielfach während ihrer Durchreisen oder in den Kurorten wie Bad Kissingen, Bad Ems und anderen. Der Begründer des Verlages wurde von den deutschen Buchhistorikern und Slawisten fast völlig vergessen — die vorherrschende Zitierungsweise, die den Verlegernamen nicht erwähnt, ist daran nicht zuletzt schuld. Im Unterschied zum Schneider-Verlag liegt jedoch wenigstens eine erste, kurze Werkbiographie vor. Er wurde 1810 als Sohn eines deutsch-jüdischen Kaufmanns im mecklenburgischen Strelitz geboren. 1832 promovierte Bernhard Behr an der Universität Berlin zum Doktor der Medizin. Am 15. Juni 1856, im Endjahr des Krimkrieges, schied er überraschend aus seinem Berliner Verlag wegen „anderweitiger Unternehmungen" aus, die seine Anwesenheit in Frankreich und Eng30
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Vgl. als Hauptquellen die acht gedruckten Werkkataloge des Verlages f ü r die Zeit von 1835 bis 1 9 1 7 : 1. v o n 1843, 8 S . ; 2 . v o n 1858, 24 S . ; 3 . v o m 1. I. 1867, 31 S . ; 4 . v o m 1 . 1 . 1878, 67 S . ; 5 . v o n 1883 (als Nachtrag zum vorausgehenden), 8 S. ; 6. : Katalog russkim knigam, 1883, 8 S.; 7. v o m 1. V . 1906 für 1 9 0 1 - 1 9 0 6 , 32 S.; 8. v o m 1. X. 1 9 1 7 (vollständiges Verzeichnis der vorrätigen Werke), 160 S. V o m Anfang an führten die Kataloge die polnischen Verlags- und Kommissionswerke Behrs gesondert und geschlossen an, später auch die russischen. — Bibliographische Selbstdarstellung des Verlages in: Russeis Gesamt-Verlags-Katalog des deutschen Buchhandels, Bd. 2 , 1 . Halbbd., Münster 1 8 8 1 , Sp. 47 f f . ; Ergänzungsband X V I (I, 1) 1893, Sp. 3 7 8 ; W. Braeuer, 1 8 3 5 - 1 9 6 0 . B. Behr's Verlag GmbH. HamburgBerlin-Düsseldorf. 125 Jahre Verlagsarbeit. Ein Kapitel deutscher Zeit- und Kulturgeschichte, Hamburg/(West-)Berlin/Düsseldorf 1960, 47 S. Jahrbuch 25/2
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land erforderten; er überließ das Unternehmen seinem bisherigen Kompagnon und Schwager Emil Bock. Seither fehlt jede Spur vonBehr. Bis heute gilt er — gewissermaßen ein Unikum in der deutschen Verlegergeschichte — als ein Verschollener, über dessen Todesart und -ort nichts bekannt ist. Die von ihm eröffnete Berliner Verlagsbuchhandlung ging unter Führung seiner Verwandten und Nachfolger Emil Bock (gest. 1871) und Edmund Bock (gest. 1873) und deren Erben Dr. Adalbert Bloch (seit 7. Mai 1873) und später Friedrich Feddersen gegen Ende des 19. Jh. auf ein vornehmlich germanistisches Publikationsprogramm über; sie bestand bis zum Ende des zweiten Weltkrieges in Berlin und ist seither mit einem völlig veränderten (ernährungswissenschaftlichen) Verlagsprogramm in Hamburg tätig. A m 1. Oktober 1881, nach dem Verkauf der Buchhandlung Behrs an Richard Wilhelmi, der gleichzeitig den Verlag Ferdinand Schneider & Co. und den langjährigen Mitarbeiter der Behrschen Verlagsbuchhandlung Otto Lehmann übernahm, wurde die bisherige Firmenbezeichnung „B. Behr's Buchhandlung (E. Bock)" umgewandelt in „B. Behr's Verlag (E. Bock)". 1894 ging die Buchhandlung Behrs von Wilhelmi an Friedrich Gottheiner über. Gleich dem Schneider-Verlag wurde auch Behrs russische Verlagsproduktion von der mächtigen gesellschaftlich-politischen, revolutionären Bewegung in Rußland und ihren inneren Kämpfen in den Jahren vor und nach 1861 bestimmt. Während jedoch der Schneider-Verlag vornehmlich russische Exilliteratur der revolutionär-demokratischen Richtung publizierte, dominierten in den russischen Drucken des Behr-Verlages dagegen Vertreter der slawophilen und der liberalen Richtung und Opposition Rußlands. Beide rivalisierenden und z. T. feindlichen Lager haben den Berliner Behr-Verlag als ausländisches Druckexil, als deutsche Ausweich- und Hilfsstation benutzt, und beiden Lagern hat der Behr-Verlag gedient. Bereits 1852 ist bei Behr der dritte und letzte Band des für die Slawophilen Rußlands wichtigen deutschen Werkes von August von Haxthausen „Studien über die inneren Zustände, das Volksleben und insbesondere die ländlichen Einrichtungen Rußlands" erschienen. 1853 edierte derselbe Verlag die französische Übersetzung des Bandes. Für die engagierte Geschäftstüchtigkeit des Verlages ist weniges kennzeichnender als der Umstand, daß er 1862 eine besondere Niederlassung an der damaligen deutsch-russischen Staatsgrenze im ostpreußischen Eydtkuhnen (heute Cernysevskoe), dem Knotenpunkt de& preußisch-russischen Eisenbahnverkehrs, einrichtete. Die 1860 erfolgte Eröffnung des Nordexpresses B e r l i n Petersburg bot günstige Speditionsmöglichkeiten für den Transport der russischen Schriften des Verlages in die damalige Hauptstadt Rußlands. Diese Tatsache macht deutlich, daß bereits viel früher, als bisher angenommen, d. h. nicht erst mit den in Westeuropa hergestellten russischen sozialistischen Drucken, sondern schon seit Ende der fünfziger und in den sechziger Jahren des 19. Jh., eine rege illegale Verbreitung v o n Literatur, ja eine „Schleichweg-Expedition" an der Grenze stattgefunden hatte. 31 Von den knapp 100, in der Mehrzahl anonymen, russischen (eigenen und erworbenen) Drucken, die der Behr-Verlag von 1860 bis 1906 herausgab, waren 60 im zaristischen Rußland verboten. Ein noch größeres Verbotsquantum haben nur die russischen Drucke des polnischen Verlegers E. L. Kasprowicz in Leipzig aufzuweisen. Behrs russische Drucke wurden vornehmlich von den Berliner Druckereien P. Stankiewicz, Rosenthal & 31
Der Aufsatz von H. Fehst, „Schleichwege illegaler Literatur im Zarenreich", in: Deutsche Presse. Organ des Reichsverbandes der deutschen Presse e. V. Berlin, 22, 1932, S. 317 f., ist noch auf die Herstellung und Einschleusung illegaler marxistischer Literatur in und aus Genf und London seit 1896 beschränkt.
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Co. und A. Lewent sowie von der Naumburger Druckerei Gottfried Pätz und der Leipziger Druckerei Bär & Hermann hergestellt. Sie trugen auf dem Titelblatt oder auf dem Umschlag in der Regel auch verkürzte deutsche Titel. Fast 20 Broschüren des Behr-Verlages beschäftigten sich allein mit der Problematik der Bauernemanzipation, mit den inneren Reformen in Rußland vor und nach 1861. Sie stammen sowohl von anonymen als auch von genannten Autoren Rußlands, die in ihrem Heimatland mit einem Verbot oder mit einer verstümmelten Veröffentlichung ihrer politischen Schriften rechnen mußten. Eine bedeutende Ergänzung zu diesen Broschüren und zu dem dreibändigen Werk über die Geschichte der Vorbereitung der Bauernreform, das 1860/61 im Berliner Schneider-Verlag erschienen ist, bildete das ebenfalls anonyme Werk, das Behr 1872 unter dem Titel herausbrachte „Materialy dlja istorii krepostnogo prava v Rossii. Izvlecenija iz sekretnych otcetov ministerstva vnutrennych del za 1836—1856 g.", 1872, XII, 299 S. 80 (SK, Bd. 3, Nr. 1033). 1. Drucke russischer
Slawophiler
Unter ihnen stehen die Publikationen des bedeutenden slawophilen Reformers Aleksandr 1. Koselev (gest. 1883)32 an vorderer Stelle. Es sind aber auch vier Schriften des konservativen Wortführers der Moskauer Adelsopposition gegen die Aufhebung der Leibeigenschaft, Nikolaj A. Be%pbra%ov (gest. 1887)33, vertreten. Am bedeutendsten sind die Memoiren Koselevs, die seine Frau Olga nach seinem Tode aus Zensurgründen 1884 im Berliner Behr-Verlag unter dem Titel „Zapisky (1812—1883 gody)", 232 S. 8°, veröffentlicht hat (SK, Bd. 2, Nr. 764). Sie enthalten ein Moskauer Vorwort der Herausgeberin und sieben Beilagen, Aufzeichnungen, Memoranda, Briefe und Artikel Koselevs. Bedauerlicherweise enthält das Buch kein Register. 34 Koselevs Memoiren — der kostbarste Druck unter den in der Berliner Universitätsbibliothek erhaltenen Russisch-Drucken des Berliner Behr-Verlages — sind als Quelle für die Geschichte der russischen Slawophilie sehr ergiebig. Sie charakterisieren auch die engen Beziehungen des häufig in Deutschland zur Kur weilenden Koselev zum Berliner Behr-Verlag sowie die russische Drucktätigkeit dieses Verlages. 35 Sie geben gute Auskunft über die sieben politischen, in Rußland verbotenen Broschüren, die Koselev zwischen 1875 und 1882 im Berliner Behr-Verlag veröffentlichte und in denen er gegen die konstitutionelle Beschränkung der Zarenautokratie und für gesellschaftliche Reformen auf der Grundlage der Entfaltung der Zemstvo-Selbstverwaltung eintrat. Erwähnt Über Koselev vgl. BSÉ, Bd. 13, 1973, S. 302, und den ausführlichen Artikel in: Ènciklopediceskij Slovar' von Efron-Brockhaus, Bd. XVI, Petersburg 1895, S. 468f., mit Anführung seiner Berliner Drucke. 3 3 Über Bezobrazov als Kurgast in Bad Kissingen im Sommer 1864 vgl. K. v. Golovin, Meine Erinnerungen. Aus dem Russischen. Leipzig, Dieterichsche Verlagsbuchhandlung 1911, S. 71. Anführung seiner vier Schriften bei M e f y v , Krest'janskij vopros, I, Nr. 806, 818, 932 u. 934. 3'* Deutsche Übersetzungen zahlreicher Passagen aus Koselevs Memoiren brachte der deutschbaltische Publizist E. Bauer in seinem nationalistischen Buche „Die Gefahr im Osten. Beitrag zur neuesten Geschichte Rußlands und zur Beurteilung der russischen Politik", Berlin, Johannes Räde 1895, S. 75ff. 3 5 Im bibliographischen Teil der Arbeit von N. V. Kiasanovsky, „Rußland und der Westen. Die Lehre der Slawophilen. Studie über eine romantische Ideologie", München, Isar-Verlag 1954, S. 230, hebt der Vf. die große Bedeutung der Memoiren Koselevs für die Geschichte der russischen Slawophilie hervor, führt jedoch nur ihren Berliner Verlagsort, nicht aber den Berliner Verleger an. Dies geschieht dagegen bei H. Kohn „Die Slawen und der Westen. Die Geschichte des Panslawismus", Wien/München, Herold 1956, S. 314.
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7"
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sei die Broschüre „Nase polozenie", 1875, 189 S. 80 (SK, Bd. 2, Nr. 7(57), die die Leipziger Firma Gustav Bär & Hermann gedruckt und noch im gleichen Jahr der Berliner Verlag Ferdinand Dümmler in deutscher Übersetzung herausgebracht hatte. In seinen Memoiren hob Koselev den besonderen Anteil des HauptgehiFfen des Behr-Verlages, Otto Lehmann, bei der Herstellung und Verlegung dieser Schrift von 1875 hervor. Bemerkenswert für die Bedeutung Berlins und seiner Buchhandlungen als Kommissionsstätten der in den westeuropäischen Ländern erscheinenden „nihilistisch-anarchistischen", illegal nach Rußland geschleusten Literatur der siebziger Jahre sind Koselevs wiederholte Hinweise, daß er diese ihm verhaßte Literatur in Berlin ständig verfolgt und hier besonders gut studiert hätte. V o r seiner Edition bei Behr in Berlin hatte Koselev bereits in dem am 1. J u n i 1853 begründeten Verlag Franz W a g n e r in Leipzig drei politische Broschüren veröffentlicht (1860—1862), so die für die Durchführung der Bauernreform wichtige Schrift „Deputaty i redakcionnyja komissii po krest'janskomu delu", 1860, 62 S. 8° (Nachdruck als 6. Beilage der Zapisky von 1884)36 u n d die politisch bedeutsame Broschüre „Konstitucija, sa 7 moderzavie i zemskaja duma", 1862, 59 S. gr. 8° ( S K , B d . 2, Nr. 763, Nr. 766).:« Derselbe junge Leipziger Verlag hatte ja bereits die letzte Schrift des geistigen Begründers der russischen Slawophilie, das „Testament der Slawophilie", das Moskauer, von Koselev mitunterzeichnete russisch-serbische Sendschreiben von Alexej St. Chomjakov „K Serbam. Poslanie iz M o s k v y " , 1860, IV, 100 S., veröffentlicht. Der bedeutendste und wirkungsreichste slawoohile Autor des Behr-Verlages war der hervorragende Publizist Jurij F. Samarin (gest. 1876 in Berlin-Schöneberg). 3 8 W i r können uns an dieser Stelle nur mit Samarins politisch wirkungsreichster Publikation bei Behr in Berlin befassen, d. h. mit seinem unvollendeten, dennoch Aufsehen erregenden, nationalistischen W e r k über die Grenzmarken Rußlands „Okrainy Rossii", Serie I : Russkoe baltijskoe pomorie, Bd. 1 - 6 , 1 8 6 8 - 1 8 7 6 (SK, Bd. 4, Nr. 1564, 1565). Dieses W e r k stand bis 1894 in den öffentlichen Bibliotheken Rußlands unter Verbot und brachte seinem Verfasser bereits nach dem ersten Band einen scharfen Verweis des Zaren Alexander II. ein. Der Autor befaßte sich hierin mit dem Verhältnis der baltischen Küstenländer zu Rußland; es enthielt - eine Kritik an der alten landesrechtlichen Eigenstellung dieser Gebiete und tadelte die nationale Lässigkeit der russischen Regierungen. Es fand trotz des Verbotes rasche und reiche Verbreitung in Rußland (die Bände 1 und 2 von 1868 kamen bereits 1869 in 3. A u f l a g e heraus) und rief deutschbaltische Gegenschriften hervor, die 1869 in den Leipziger Verlagen Duncker & Humblot sowie F. A. Brockhaus erschienen, unter ihnen die große Streitschrift des Dorpater Historikers Carl Schirren „Livländische A n t w o r t " . Die f ü r den beginnenden Nationalismus in Rußland kennzeichnenden historisch-poliÜber. Charakter und Bedeutung dieser Leipziger Broschüre Koselevs vgl. /. Engelmann, Die Leibeigenschaft in Rußland, S. 339 f. 3 7 Zur kritischen Behandlung dieser Broschüre Koselevs durch Lenin in der Stuttgarter russischen Zeitschrift „Zarja" von 1901 vgl. W. I. Lenin, Werke, Bd. 5, S. 32f. 38 Über Samarin: BSE, Bd. 22, 1975, S.527f.;Enciklopediceskij SlovarVBd. 56, Petersburg 1900, S. 176f. ; Russkij biograficeskij slovar', Bd. XVIII, Petersburg 1904, S. 1 3 3 f f . ; BolsajaEnciklopedija, Bd. XVII, Petersburg 1904, S. 9f. Weiterhin: B. E. No/'de, Jurij Samarin i ego vremja, Paris, Imprimerie de Navarra 1926, 245 S. (mit reichem Verzeichnis der Literatur von und über Samarin, S. 234ff.; R. Stuppericb, Die Anfänge der Bauernbefreiung; G. Hucke, Jurij Feodorovic Samarin. Seine geistesgeschichtliche Position und politische Bedeutung, München, Otto Sagner 1970, 263 S. ( = Slavistische Beiträge. 45). 36
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tischen Dispute wurden auf diese Weise auch in Verlagswerken Deutschlands ausgetragen. Da die beiden ersten Bände des Samarinschen Werkes von 1868, mit denen sich die deutschbaltischen Kritiker auseinandersetzten, in Prag gedruckt wurden, hat sich auf deutscher Seite der z. T. bis heute nicht korrigierte, den Anteil des Berliner Behr-Verlages verkennende Irrtum ausgebreitet, daß das ganze Werk Samarins in Prag verlegt worden sei. Doch dies trifft nur teilweise, wenn überhauptzu. In Prag wurden die beiden ersten Bände gedruckt, der erste Band — mit dem demonstrativen slawophilen Vorwort Samarins vom Dezember 1867 — von der eben begründeten Druckerei des tschechischen slawophilen Politikers, Publizisten und Zeitungsverlegers Jan Stanislav Skrejsovsky und der zweite Band von der Druckerei des Politikers Dr. Edvard Grégr. Die Bände 3 bis 6 (1871-1876) dagegen wurden von Behr in Berlin verlegt und in Deutschland hergestellt: Band 3 von der Druckerei Bär & Hermann in Leipzig, die Bände 4 und 5 von der Naumburger Druckerei Gottfried Pätz und der Band 6 von der Berliner Druckerei P. Stankiewicz. Behr in Berlin hat daher nach den unmittelbaren typographischen Zeugnissen zumindest für die Bände 3 bis 6 als Verleger des Werkes zu gelten. 39 Auf dem in der Bibliothek des Herder-Instituts in Marburg/Lahn erhaltenen Band 2 von 1868 ist bereits auf dem Umschlag der Firmenname der Prager Druckerei Grégr durch den Text „B. Behr's Buchhandlung (E. Bock) Berlin, Unter den Linden 27" überklebt/' 0 Die Verzeichnung des Werkes in den Leipziger nationalbibliographischen Bücher-Lexika von Heinsius und von Kayser weist es insgesamt als Verlagswerk Behrs in Berlin aus, und auch die russischen und tschechischen Lexika aus der Zeit um die Jahrhundertwende führen für das ganze Werk Berlin und nicht Prag als Verlagsort an. Ist doch auch Samarins russische Replik gegen die deutschbaltischen Kritiker der ersten beiden Bände seiner Schrift, gegen den Historiker der Universität Dorpat, Carl Schirren, und den Vizepräsidenten des livländischen Hofgerichts, Woldemar von Bock, ein eindeutiges Verlagswerk Behrs in Berlin, das 1870 unter dem Titel „Otvet gg. f. Bokku i Sirrenu po povodu ,Okrainy Rossii'", VI, 114 S. 8» (SK, Bd. 4, Nr. 1567) erschien. Dazu kommt, daß Samarin in demselben Jahr 1868, in dem der erste Band seines Werkes erschien, bereits an einer russischen Verlagsschrift Behrs in Berlin beteiligt war, die er mit Vorwort, Anmerkungen und Nachwort versehen hatte, „Russkij administrator novejsej skoly. Zapiska pskovskogo gubernatora B. Obuchova i otvet na nee pskovskogo pomescika A. I. Vasil cikova", 1868, VIII, 78 S. 8» (SK, Bd. 4, Nr. 1502).« Wie eng der Behr-Verlag und die Exildrucke seiner slawophilen Autoren mit den Richtungs- und Machtkämpfen in Rußland verbunden waren, bezeugt die dortige Aufnahme des Werkes von Samarin über die Grenzmarken. Es rief in Rußland den entschiedenen Widerstand des bedeutenden Reformers und liberalen Innenministers Rußlands seit 1861, Graf Petr A. Valuev (gest. 1890), hervor. Er suchte die Verbreitung des mit scharfer, slawophiler Kritik an der russischen Regierung und ihrer baltischen 39 So wurde das Werk bereits in richtiger Weise in der großen, systematischen Bibliographie zur Geschichte Estlands, Livlands und Kurlands „Bibliotheca Livoniae histórica" von E. Winkelmann, 2. verb. u. verm. Aufl., Berlin, Weidmannsche Buchhandlung 1877. S. 283, Nr. 6329, angeführt, so Für sachdienliche Auskünfte über Samarins Werk „Okrainy Rossii" habe ich der Bibliothek des Herder-Instituts in Marburg/Lahn zu danken, die die beiden ersten Bände des Samarinschen Werkes besitzt, ebenso der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, in der die letzten vier Bände des Werkes vorhanden sind. Hinweis auf Samarin als Verfasser der kritischen Kommentierung der anonymen Schrift bei Nol'de, Jurij Samarin, S. 234.
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Politik verbundenen Werkes wie auch einen auszugsweisen Abdruck in Katkovs mächtiger slawophiler Zeitung „Moskovskie Vedomosti" zu verhindern, doch ohne Erfolg, da er 1867 von den Slawophilen gestürzt wurde. 42 Obwohl Samarins im Ausland gedrucktes Werk offiziell verboten war (es erschien erstmals in Rußland 1890 bis 1898 in den Bänden 8 bis 10 der gesammelten Werke Samarins), wurde zugleich Samarins Kritiker, Carl Schirren, 1869 seines Amtes an der Universität Dorpat enthoben; er wanderte nach Kiel aus (gest. 1910)/'3 Klar ist das Verhältnis zwischen Prager tschechischem Druck und Berliner deutschem Verlag bei einem anderen großen russischen Verlagswerk Behrs: Bei den Memoiren des konservativen Regierungsmitgliedes unter den Zaren Alexander I. und Nikolaus I., des bedeutenden russischen Linguisten Aleksandr S. Siskov (gest. 1841), die 1870 in zwei Bänden bei Behr erschienen und von N. Kiselev und Jurij F. Samarin unter dem Titel „Zapiski, mnenija i perepiska", 485 S., 467 S., gr. 8°, in 1 Band gebunden) herausgegeben wurden. Hier wird im Impressum die Prager Druckerei des tschechischen, slawophil orientierten Politikers und Zeitungsverlegers Jan Stanislav Skrejsovsky unter dem Namen der Berliner Verlagsfirma Behr genannt. Die slawophilen Vertreter der Russen und Tschechen unterhielten ja enge Beziehungen zueinander, die hier auch im Lichte der Buchgeschichte deutlich werden. Wie die beiden Herausgeber im Vorwort betonten, sollte der vollständige Nachlaß Siskovs auf Wunsch Zar Nikolaus I. nicht vor dem Tode des Moskauer Metropoliten Filaret (gest. 1867) veröffentlicht werden. Ein klassischer politischer Exildruck des Behr-Verlages aus der Reihe der führenden Slawophilen stammt von Ivan S.Aksakov (gest. 1886), dem Moskauer kirchlich-orthodoxen Slawophilen, der als Zeitungsherausgeber von den Petersburger liberalen Behörden sehr bedrängt wurde. Seine im Juni 1878 vor der Slawischen Wohltätigkeitsgesellschaft in Moskau gehaltene Rede über die enttäuschende Regelung der Balkan-Frage durch den Berliner Kongreß unter Leitung Bismarcks hatte neben der behördlichen Schließung der Moskauer Slawen-Gesellschaft auch die Ausweisung Aksakovs aus Moskau zur Folge, ein Vorgang, der seinerzeit auch internationales Aufsehen erregte. Unbekannt geblieben ist aber, daß Aksakovs Gesinnungsfreund Koselev auf dessen Bitten den Text der mit heftiger Kritik an Bismarck verbundenen Rede persönlich nach Berlin zum Behr-Verlag brachte 44 , der sie noch im Sommer 1878 bei Stankiewicz drucken ließ und veröffentlichte. Sie erschien als „Ree I. S. Aksakova, proiznesennaja 22-go ijunja 1878 g. v Moskovskom Slavjanskom Blagotvoritel'nom Obscestve", 24 S. (SK, Bd. 1, Nr. 10). 2. Drucke rußländischer
Liberaler
Unter ihnen steht der historische und philosophische Publizist Konstantin D. Kavelin (gest. 1885) an vorderer Stelle. 45 Aus seinen vom Behr-Verlag veröffentlichten vier J. v. Eckardt, Lebenserinnerungen, Bd. 1, Leipzig, S. Hirzel 1910, S. 158. Zur distanzierten und kritischen Behandlung des Konflikts vgl. R. Wittram, Carl Schirrens „Livländische A n t w o r t " (1869), in: ders., Das Nationale als europäisches Problem. Beiträge zur Geschichte des Nationalitätenprinzips vornehmlich im 19. Jh., Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 1954, S. 161 f f . 44 A. I. Koselev, Zapisky, Berlin, Behr 1884, S. 234. « Über Kavelin vgl. BSE, Bd. 1 1 , 1973, S. 1 0 9 f . , Enciklopediceskij Slovar' v o n Efron-Brockhaus, Bd. XIII, Petersburg 1884, S. 8 0 3 f f . , der auch Kavelins Berliner anonyme Drucke erwähnt, K.-D. Grotbusen, Die historische Rechtsschule Rußlands. Ein Beitrag zur russischen Geistesgeschichte in der 2. 42
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Schriften seien hervorgehoben: Die zuerst anonym erschienene, dann auf Drängen des Verlegers mit dem Verfassernamen versehene Broschüre von 1862 „Dvorjanstvo i osvobozdenie krestjan", 68 S. (SK, Bd. 2, Nr. 645) /,e und seine anonyme Schrift von 1880 „Razgovor s socialistom-revoljucionerom. Revoljucija ili reformacija?", 52 S. (SK, Bd. 2, Nr. 647). Ein anderer früher und wirkungsreicher Vertreter der liberalen, vom Großfürsten und Zarenbruder Konstantin Nikolaevic (gest. 1892) geschützter und geförderter Reformer, den Behr in Berlin verlegte, war der deutschbaltische Ingenieur, Wirtschafts- und Finanzexperte Baron Theodor von Fircks (gest. 1872 in Dresden), der unter dem Pseudonym D. K. Schedo-Ferroti publizierte/*7 Seine zehnteilige, seinerzeit Aufsehen erregende Schrift „Etudes sur l'avenir de la Russie", Berlin, Behr, 1858-1868, deren erster Teil die Bauernbefreiung behandelte und 1859 bereits die 4. Auflage erreichte, war ebenso gegen das demokratisch-revolutionäre wie gegen das konservative Lager gerichtet. Im achten Teil, der der polnischen Frage gewidmet war, trat Fircks im Sinne seines Gönners, des Großfürsten Konstantin, der Statthalter in Polen war, für eine gemäßigte und schonende Polenpolitik ein. Die Schrift wurde vom russischen Unterrichtsminister, A. V. Golovnin, an den höheren Lehranstalten und Universitäten offiziell verteilt und empfohlen. Sie traf jedoch auf die heftige Gegnerschaft des Publizisten Michail N. Katkov, den der polnisch-litauische Januaraufstand von 1863 zum Wortführer nationalistischer Reaktionen der Slawophilen werden ließ. In der Abberufung des Großfürsten aus Polen und seiner Ersetzung durch einen General siegte zugleich Katkov über Fircks und seine hochgestellten liberalen Freunde. Eine vom Berliner Behr-Verlag 1863 veröffentlichte polonophile Schrift Fircks' in französischer Sprache kostete ihn auch seine diplomatische Stellung als Handelsattache an der Brüsseler Gesandtschaft Rußlands. Zugleich hat sich Fircks auch gegen das revolutionär-demokratische Zentrum der russischen Emigration um Gercen und Ogarev in London gewandt. Seine 1861 bei Behr in Berlin in russischer und französischer Sprache erschienene Schrift „Pis'mo A. I. Gercena k russkomu poslu v Londone. S otvetom i nekotorymi primecanijami D. K. Schedo-Ferroti" (5. Aufl. 1862)*, die Gercen im Zusammenhang mit einem von ihm an den russischen Botschafter in London gerichteten Brief in Dingen seiner persönlichen Sicherheit bloßzustellen versuchte, kam Fircks' liberalen Freunden in Petersburg im verschärften Kampf gegen Gercen sehr gelegen. Auf ihre besondere Bestellung sandte der Berliner Behr-Verlag 1862 daher 600 Exemplare der ursprünglich nur für das Ausland und nicht für das russische Heimatland bestimmten Broschüre von Fircks nach Hälfte des 19. Jh., Gießen, Wilhelm Schmitz 1962, S. 9 0 f f . ( = Gießener Abhandlungen zur Agrar- und Wirtschaftsforschung des europäischen Ostens. 18). Die vierbändige Ausgabe der Schriften Kavelins (eines engen Freundes des Dichters Turgenev) konnte ich nicht benutzen (Petersburg 1897—1900). Der Mitarbeiter der deutschen „St. Petersburger Zeitung" und der Kaiserlich-Öffentlichen Bibliothek in Petersburg, Rudolf Minsjoff, „Beiträge zur Kenntnis der poetischen und wissenschaftlichen Literatur Rußlands", Berlin (E. S. Mittler u. Sohn 1854, 204 S.), hat bereits die Abhandlung Kavelins „Blick auf den Rechtszustand des alten Rußland" (S. 1 5 4 f f . ) in deutscher Übersetzung veröffentlicht. In einer seiner kommentierenden Fußnoten gab Minzloff seiner Sympathie f ü r die antislawophile, westlerische Geschichtsauffassung Kavelins Ausdruck. 46
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Über diese Berliner Broschüre Kavelins, deren Manuskript ein Freund Kavelins dem Behr-Verlag übergeben hat, vgl. „Konstantin Kawelins und Iwan Turgenjews social-politischer Briefwechsel mit Alexander Herzen", Stuttgart, Cotta 1894, S. 47—49 (=Bibliothek russischer Denkwürdigkeiten, 4). Über Fircks vgl. Deutsch-baltisches biographisches Lexikon. 1710—1960. Hg. v. Wilhelm Lenz, Köln/ Wien, Böhlau 1970, S. 2 1 6 .
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Petersburg, die raschen Absatz fanden und eine neue Etappe in der offiziellen Bekämpfung Gercens in Rußland einleiteten.48 Der Berliner Verlag hatte auch durch die anonyme russische Broschüre von 1862 „Nynesnee sostojanie Rossii i zagrannycnye russkie dejateli" Anteil am Kampf gegen Gercen. Ein klassischer politischer Exildruck des Berliner Behr-Verlages aus der Reihe der führenden Liberalen, Rußlands stammt von dem bedeutenden Philosophen, Rechts- und Staatswissenschaftler Boris N. Cicerin (gest. 1904)4